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German Pages 244 Year 2014
Anne Kwaschik, Mario Wimmer (Hg.) Von der Arbeit des Historikers
H i s t o i r e | Band 19
»Geschichte ist eine Wissenschaft im Werden, und genau deshalb ist sie auch lebendig.« Marc Bloch, Aus der Werkstatt des Historikers Für Peter Schöttler zum 60. Geburtstag
Anne Kwaschik, Mario Wimmer (Hg.) Von der Arbeit des Historikers. Ein Wörterbuch zu Theorie und Praxis der Geschichtswissenschaft
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Inhalt
Das Werkzeug des Historikers – Ein Vorwort..................... 9 Archivar | Astrid M. Eckert ...................................................... 21 Bibliothek | Jörn Leonhard ....................................................... 27 Bielefelder Schule | Thomas Welskopp ................................... 31 Biografie | Christiane Coester............................................................37 Buchhandlung, kleine | Josef Ehmer ...................................... 41 Diagramme | Lionel Gossman .................................................. 47 Diskursanalyse | Philipp Sarasin ............................................. 53 Ereignis | Jean-Louis Fabiani ............................................... 59 Erinnerungsorte | Etienne François ......................................... 65 Essay | Anne Kwaschik ............................................................ 71 Fußboden | Klaus-Michael Bogdal ........................................... 75 Gedächtnis | Marie-Claire Lavabre ........................................... 79 Geschichtlichkeitsregime | François Hartog .......................... 85 Gutachten | Alf Lüdtke ............................................................ 91 Historiografie | Massimo Mastrogregori ................................... 97 Historische Epistemologie | Hans-Jörg Rheinberger ............ 103
Imagination | Natalie Zemon Davis ......................................... 107 Internationale Bibliografie | John L. Harvey ......................... 111 Kliometrie | Michael Pammer .................................................. 117 Kontrafakten | Pierre-Michel Menger...................................... 123 Kunst | Bernhard Jussen ........................................................... 129 Materialistische Geschichtsschreibung | Frieder Otto Wolf... 135 Mittlere Dauer | Karl Heinz Roth ............................................ 139 Museum | Rudolf Kania .......................................................... 145 Nationalgeschichte | Stefan Berger ....................................... 151 Peer review | Christoph Conrad .............................................. 155 Quelle | Anselm Haverkamp/Barbara Vinken ............................ 161 Raum | Mechtild Rössler.......................................................... 165 Realexperiment | Hans Medick .............................................. 169 Realismus | Bertrand Müller ................................................... 173 Schreibwerkzeuge | Michael G. Esch .................................... 177 Sinne | Daniel Morat ............................................................... 183 Stichprobe | Christian Fleck ................................................... 187 Strukturelle Gewalt | Heide Gerstenberger ............................. 193 Subjekt | Reinhard Sieder ........................................................ 197
Tunnelblick | Jakob Tanner .................................................... 203 Vorlesung | Michael Wildt ..................................................... 209 Wahrheit | Enrico Castelli Gattinara ........................................ 215 Weiterführende Literatur ................................................. 219 Autorinnen und Autoren ................................................. 229 Personenregister ........................................................... 237
Das Werkzeug des Historikers – Ein Vorwort
Wie arbeiten die Historiker? Die Frage ist nicht neu. Verschieden gestellt, hat sie verschiedene Antworten herausgefordert – sie ist und bleibt in höchstem Grade kontextabhängig. Auf philosophische Antworten im Zeichen des deutschen Idealismus folgte der Schulterschluss mit den Sozialwissenschaften, dann die Rückbesinnung auf die Erzählung. Weit davon entfernt, lediglich auf eine epistemologische Verunsicherung zu reagieren, dienten die Antworten unverhohlen strategisch auch der disziplinären Selbstverortung und -versicherung. Verschieden gestellt, hat die Frage Antworten herausgefordert, die an verschiedene Orte geführt haben. Selten aber in das Arbeitszimmer des Historikers. »Eine sitzende Tätigkeit, am Schreibtisch und hinter Papier, bei geschlossenen und verhängten Fenstern« – distanziert sich Lucien Febvre in seiner Antrittsvorlesung am Collège de France 1933 von einer überholten Arbeitsweise des Historikers. Abgeschlossen vom Leben brütet dieser vor sich hin und stellt die falschen Fragen an sein Material, wenn er denn überhaupt Fragen stellt bzw. Hypothesen formuliert. Dieser Historiker ist Febvres Kandidat für eine lebensferne Geschichte, für eine Geschichte, die nicht Wissenschaft vom Menschen ist, sondern von der Vergangenheit; die glaubt, von Texten zu Tatsachen zu gelangen, und dabei verkennt, dass das, was sie für Vergangenheit hält, nur die Vergottung der Gegenwart ist. Ganz anders der interdisziplinäre Historiker der Zukunft, der bei Febvre aufgrund einer anderen Ausbildung seine Fragen in der Auseinandersetzung mit Wis-
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senschaftlern anderer Disziplinen neu formulieren kann und sich als Teamplayer erweisen muss. (Febvre 1988: 11) »Interdisziplinarität« und »Teamarbeit« kennzeichnen in der Tat auf die eine oder andere Weise heute die Arbeit des Historikers. Zwar sind schon in den 1980er Jahren berechtigte Zweifel am Leitparadigma der Interdisziplinarität und seiner »komplementären Epistemologie« geäußert worden – nicht zuletzt im Ergebnis der gelebten Erfahrung, dass bereits die Inkompatibilität in den Grundbegrifflichkeiten, ganz zu schweigen von Fragen der Diskussionskultur und des Habitus, den hehren Zielen der disziplinübergreifenden Verständigung entgegenstehe. (Kocka 1987; Morin 1994) Aber einer strikt monodisziplinären Arbeitsweise möchte wohl kaum jemand das Wort reden. So finden sich in diesem Band zur Arbeit des Historikers selbstverständlich auch »Stichworte« von Literaturwissenschaftlern, Geografen, Soziologen und Philosophen. Immer noch darf gelten, dass das Bild von der Arbeit des Historikers in seiner Werkstatt gewonnen werden muss. Es muss nach einem Arbeitszimmer riechen, wie Marc Bloch in seiner Apologie der Geschichtswissenschaft formulierte: »Denn die gewöhnlichen Verächter der Geschichte scheinen eine Vorsichtsmaßnahme außer acht gelassen zu haben. Das, was sie sagen, klingt zwar durchaus eloquent und geistvoll, in den meisten Fällen haben sie aber versäumt, sich genau über das zu informieren, wozu sie sich äußern. Das Bild, das sie sich von unserer Arbeit machen, haben sie nicht in der Werkstatt gewonnen. Es riecht eher nach Kanzelrede oder Akademie als nach einem Arbeitszimmer.« (Bloch 2002: 13)
Stattdessen soll, interessiert man sich für die Arbeit des Historikers, dessen Handwerk untersucht werden: die Arbeit des Handwerkers in seiner Werkstatt. Diese ist nicht allein eine theoretische Angelegenheit der Erkenntnisfindung, sondern ebenso eine des praktischen Vorgehens sowie der Verfasstheit der Wissenschaft, ihrer impliziten und expliziten Zwänge. Der Wissenschaftshandwerker, dessen Ablösung Febvre in den 1930er Jahren durch einen moderneren Wissenschaftlertypus voraussagte, kann noch immer als solides Bild für die Arbeit des Historikers gelten. Denn auch moderne wissenschaftliche
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Laboratorien gleichen in ihrer Organisation den älteren Werkstätten. Die Größe des Unternehmens, Anzahl und Ausbildung der Arbeiter allein sagen noch nichts über die Organisation der Arbeitsbedingungen aus. Im Bild der Werkstatt finden sich die verschiedenen Komponenten wissenschaftlichen Arbeitens. Denn die Werkstatt ist, nimmt man das Bild ernst – und diese Kritik an einem allzu romantischen Bild der Historiker-Werkstatt mag erlaubt sein – viel weniger ein Ort der Intimität, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Und schon gar nicht handelt es sich bei einer Werkstatt um ein individuelles Refugium. Vor allen Dingen ist die Werkstatt ein Ort der Auseinandersetzung von Autonomie und Autoritäten. Mit Richard Sennett ist eine »Werkstatt« ein »der Produktion dienender Raum, in dem Menschen sich unmittelbar mit Fragen der Autorität auseinandersetzen.« (Sennett 2008: 78) Folgt man dem Bild weiter, ergeben sich sprechende Parallelen. Die Werkstatt wird beschrieben als ein hochritualisierter Ort, an dem handwerkliche Fertigkeiten vermittelt werden, die als Legitimation zur Ausübung eines bestimmten Berufs zunächst in einer Gesellen- dann in einer Meisterprüfung unter Beweis gestellt werden müssen. Gelernt werden diese Fertigkeiten durch Kopieren der Arbeiten des Meisters. Der Erfolg der Werkstatt und ihrer Gesellen hängt nicht zuletzt von der Fähigkeit des Meisters ab, sein Wissen weiterzugeben. Und dieser Wissenstransfer ist gekennzeichnet durch die Trias von Nachahmung, Ritual und Ersatzelternschaft. (Sennett 2008: 92) Natürlich kann man eine Wissenschaft nicht nur nach ihrer »faktischen Ausübung« beschreiben. Kein Zweifel besteht daran, dass es sich bei der Werkstatt des heutigen Historikers weder um die Werkstatt des Geigenbauers Stradivari noch um die des Renaissance-Goldschmieds Benvenuto Cellini, die Sennett beschreibt, handeln kann. Aber im Bild der Werkstatt verbindet sich doch vieles, was die Arbeit des Historikers bestimmt. Es unterstellt, dass Geschichte »gemacht« wird – und der Prozess ihrer Herstellung von bestimmten Faktoren und Verhaltensdispositionen beeinflusst wird, von Werkzeugen, die ihrerseits beschrieben und historisiert werden können. Insbesondere aber verbindet das Bild der Werkstatt den Verweis auf die Materialität der Geschichte, die Ritualisierung ihrer Produktion zwischen Auto-
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nomiestreben des Subjekts und Autoritätsanspruch der Zunft mit einer kaum zu überbietenden Offenheit im Blick auf die Arbeitsweise des Historikers. Das Bild der Werkstatt sagt – und dies ist sein Vorteil – zunächst nichts über Inhalte aus. Vielmehr richtet sich der Blick von diesem Ort aus auf Praktiken und Konzepte. Die Konzepte, die das Endprodukt formen, sind von Veränderungen in den Sichtweisen geprägt. Kaum etwas kann mehr Aufschluss über die Arbeitsweise der Historiker geben als die Untersuchung der verschiedenen von ihnen eingenommenen Standpunkte. Auch diese Einsicht folgt der Selbstbeschreibung des Historikers als Handwerker. Als Marc Bloch Anfang der 1930er Jahre ein kleineres Buch mit methodischen und theoretischen Aufsätzen zu Theorie und Praxis der Geschichtsschreibung im Gallimard-Verlag unterbringen wollte, begründete er sein Vorhaben mit dem großen Interesse, auf das eine solche »Werkstatt-Besichtigung« stoßen würde: »Man glaubt immer, daß sich die Leser nur für die fertige Geschichtsschreibung interessieren. Aber Geschichte ist eine Wissenschaft im Werden, und genau deshalb ist sie auch lebendig. Nichts ist spannender und verdiente mehr, publik gemacht zu werden, als Geschichte, wie sie geschrieben wird. Ihre aufeinanderfolgenden Standpunkte vermitteln oft eine weit genauere Vorstellung von der Wirklichkeit der Methode als jedes didaktische Lehrbuch.« (Bloch 2000: 318)
In Blochs Werkstatt sollte man dem Historiker bei der Arbeit zusehen. Es galt, einen Einblick in den Arbeitsalltag eines Historikers und die Bedingungen seines Forschens und Schreibens zu geben. Vorgestellt wurden historische Rohstoffe, die Werkzeuge, mit denen sie bearbeitet wurden, sowie Denkmuster und -voraussetzungen. Das vorliegende Wörterbuch geht von dieser Einsicht aus und ergänzt die Frage nach den »aufeinanderfolgenden Standpunkten« um ihre materielle und materiale Komponente. Die Suche nach der »Geschichte, wie sie geschrieben wird« führt in die Werkstätten der Historiker und rückt Fragen nach den Bedingungen des historischen Forschens und Lehrens gleichberechtigt neben historiografische Probleme. Im Ausgang vom Bild des Historikers in seiner Werkstatt will das vorliegende Wörterbuch seine Werkzeuge inventarisieren. Neben
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praktischen Aspekten der historischen Arbeit werden Theorien und Methoden, Paradigmen und Bedingungen der Herstellung von historischen Objekten als »mentale Werkzeuge« verstanden. »Werkzeug« soll dabei zum einen als materielle Ressource der historischen Arbeit, zum anderen als Voraussetzung des Denkens und Empfindens verstanden werden – und als grundsätzlich häretisches Vokabular der Geschichtsschreibung wie der Geschichte selbst. »Häretisch«, weil das Werkzeug, im Ausgang von der Erkenntnis, dass Geschichte gemacht wird, auf den konkreten Zusammenhängen der Produktion von Geschichte besteht und den Blick auf ihre unausgesprochenen Voraussetzungen wendet. Das Etikett »häretisch« bezieht sich dabei auf das kritische Bewusstsein für die sich ständig erneuernden Regeln des Historikerberufs. Ausgangspunkt für diese Überlegung ist die bekannte Vorliebe Lucien Febvres für den Satz aus dem ersten Korintherbrief »Oportet haereses esse« (11,19), der um 1900 durch ein Gedicht Verlaines bekannt wurde und als grundlegend für seine Geschichtsauffassung – und im Sinne eines radikalen Objektivismus auch für diejenige Marc Blochs – interpretiert wurde. (Schöttler 2007) Das Wörterbuch schlägt Stichworte zur aktuellen Situation der Geschichtswissenschaft vor, die entweder ironisch auf Gewohntes blicken, kritisch Anfragen formulieren oder ungewohnte Alternativen andenken. Im Ergebnis sollte weder ein historiografiegeschichtliches Panorama entstehen noch ein Handbuch akademischer Umgangsformen unter besonderer Berücksichtigung der Geschichte. Vielmehr versteht sich das Wörterbuch als Forum des gemeinsamen Nachdenkens über »Geschichte als Beruf«. Die Artikel favorisieren dabei eher Abseitig-Entlegenes, stellen das Bekannte in ein ungewohntes Licht oder befragen im Sinne der Bestandsaufnahme altbekannte Werkzeuge des Historikers. Als Beispiel sei die »Quelle« genannt, die wohl wie kaum ein anderes Werkzeug zur Arbeit des Historikers gehört und hier in Bezug zum Mythos gesetzt wird. In den Texten finden sich zahlreiche Vorschläge zu vielversprechenden Projekten und Perspektiven, wie einer Sozial- und Alltagsgeschichte des Gutachtens (»Gutachten«) oder dem Rückgriff auf die Überlegungen des zu wenig gelesenen Durkheim-Schülers François Simiand zur Erklärung der Weltwirtschaftskrise (»Mittlere Dauer«). Auch die Frage nach der Zukunft der Geschichtswissenschaft
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und ihrer Produktionsbedingungen im Jahr 2062 wird gestellt (»Historiografie«). Theoretische Herausforderungen der Geschichtswissenschaft wie das »Kontrafaktische« werden benannt, Risiken wie der »Tunnelblick« der professional deformation konzeptualisiert und internationale zeitgenössische Konzepte wie die Theorie des französischen Historikers François Hartog zu den »Geschichtlichkeitsregimen« erstmals in deutscher Sprache vorgestellt. Gemäß dem Bild der Werkstatt zielt der Band auf die Selbstreflexionen der Historiker: Etienne François blickt auf die Karriere der »Erinnerungsorte« zurück, Hans Medick stellt unter dem Stichwort »Realexperiment« sein digitales Editionsprojekt vor und fragt nach den damit einhergehenden Veränderungen für die Arbeit des Historikers. Philipp Sarasins Eintrag zur »Diskursanalyse« ist ebenso ein Beitrag zur eigenen Arbeit wie Natalie Zemon Davis’ »Imagination«, Frieder Otto Wolfs »Materialistische Geschichtsschreibung« oder Christiane Coesters »Biografie«. Aber auch Alf Lüdtkes »Gutachten«, Josef Ehmers »Buchhandlung«, Michael Eschs »Schreibwerkzeuge« oder Jakob Tanners »Tunnelblick« folgen dieser Blickrichtung. Ein solches Nachdenken ist in seiner Form offen. Und aus diesem Grund ist ein solches Wörterbuch eine riskante Angelegenheit. Seine Vorläufigkeit ist Programm. Die versammelten Beiträge zu Theorie und Praxis der Geschichtswissenschaft erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit, noch können die einzelnen Artikel einen allgemeinen Gültigkeitsanspruch formulieren. Die vorgeschlagenen Stichworte verstehen sich als erweiterungswürdige Grundüberlegungen. Schon ein erster Blick auf die Liste der Einträge wird neue Einträge nahelegen und damit die Produktivität der Ausgangsfrage zeigen. Die Unabgeschlossenheit des Unterfangens gehört zum Charakter dieses Projekts, an dessen Anfang die Überlegung steht, dass ein solches Inventar interdisziplinär, international und nicht ohne Rücksicht auf die Forschersubjektivität gestaltet sein muss. Auch in der Wahl des Textgestus zeigt sich die Forschersubjektivität, und so finden sich neben wissenschaftlich gehaltenen Kurzeinträgen auch persönliche und hochironische, nachdenkliche und grundsätzlich formulierte Texte bis hin zur Fiktion der Historiografie im Jahr 2062.
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Dennoch sind der grundsätzlichen Offenheit in der Ausgangsfrage nach den Werkzeugen der Historiker Richtungen vorgegeben. Unterschieden wird der Werkzeug-Begriff nach drei Grunddimensionen der Arbeit des Historikers: Orte, Praktiken und Konzepte der historischen Arbeit. Theoretisches und Praktisches fließen in diesen drei Kategorien zusammen. Die Grenzen sind nicht markant zu ziehen, und in dieser Mehrdimensionalität liegt die Attraktivität der drei Blickrichtungen für ein solches Wörterbuch. Orte sind zunächst in materiellem Sinn als Orte, an denen die Arbeit des Historikers erfolgt, zu verstehen. Diese Frage nach dem Beruf des Historikers führt von den Schreibtischen und Fußböden in Bielefelder Arbeitszimmern (»Fußboden«) über die Hörsäle der Berliner Universitäten (»Vorlesung«), große französische Bibliotheken (»Bibliothek«), internationale Archive (»Archiv«) bis in kleine Buchhandlungen Niederösterreichs, in denen Unerwartetes wartet (»Buchhandlung, kleine«). Orte sind nicht nur Arbeits- und Forschungsorte, sondern ebenso Orte der Vermittlung und Darstellung von Geschichte (»Museum«) sowie Orte in der Geschichtsschreibung, in der konzeptuellen Arbeit des Historikers (»Erinnerungsorte«). Darüber hinaus verweist die Kategorie auf die aktuelle Debatte über den spatial turn (»Raum«). Praktiken bezeichnen Aspekte der Darstellung und Vermittlung von Geschichte (»Biografie«), Einträge zur Arbeitsweise und -organisation des Historikers (»Internationale Bibliografie«), Stichworte aus dem modernen Wissenschaftsalltag im Zeitalter der Exzellenzforschung (»Gutachten«, »Peer review«), aber auch grundlegend Theoretisch-Konzeptionelles, das als Praktik definiert wird (»Wahrheit«). Ein wichtiger Schwerpunkt im Bereich der Praktiken ist die Frage der Darstellbarkeit von Geschichte zwischen Essay (»Essay«) und Diagramm (»Diagramm«) in enger Verbindung mit der Frage nach ihrem disziplinären Status zwischen Statistik (»Kliometrie«, »Mittlere Dauer«, »Stichprobe«) und Literatur (»Kunst«). Zu den Instrumenten der wissenschaftlichen Arbeit können neben Arbeitsweisen (»Stichprobe«) und Einstellungen oder Grundhaltungen der Historiker (»Imagination«) auch geschichtswissenschaftliche Strömungen (»Bielefelder Schule«) gehören. Ebenso aber lassen sich auch Einträge zur Vermittlung von Geschichte (»Museum«, »Vorlesung«) als Praktiken auffas-
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sen. Auch die mit dem Arbeitsort »Fußboden« verbundene Frage nach dem Ordnen des Papiers und den damit verbundenen verschiedenen Stufen der Archivierung wäre als Praktik zu beschreiben. Konzepte meint eine theoretische Kategorie der Arbeit des Historikers. Diese subsumiert Denkinstrumente in Form von grundlegenden Konstanten der historischen Erkenntnis. Sie bezieht sich aber auch in historiografiegeschichtlicher Hinsicht auf die wechselnden Standpunkte der Geschichtsschreibung. Gleichzeitig bietet diese Kategorie Raum, theoretische Probleme der historischen Arbeit und Erkenntnisgewinnung zu konzeptualisieren (»Tunnelblick«). Das Bild von der Arbeit des Historikers soll nicht nur in seinem Arbeitszimmer gewonnen werden, sondern auch die Probleme behandeln, vor die er täglich von seinem Material gestellt wird. In dieser Grunddimension historischer Arbeit inventarisiert der Band klassische Konzepte der Geschichte (»Raum«, »Ereignis«, »Subjekt«, »Gedächtnis«) und bietet mit dem Verständnis des Verhältnisses von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in den »Geschichtlichkeitsregimen« einen alternativen Blick auf das bekannte Thema von Geschichtlichkeit und historischer Zeit. Als Konzepte werden Perspektiven auf die Geschichte (»Materialistische Geschichtsschreibung«, »Nationalgeschichte«, »Strukturelle Gewalt«) und Möglichkeiten der Erkenntnisgewinnung verstanden (»Historische Epistemologie«, »Historiografie«, »Kontrafakten«, »Realismus«, »Diskursanalyse«). Viele dieser Konzepte lassen sich ebenfalls als Praktiken des Historikers verstehen, angefangen von »Realismus« und »Diskursanalyse« bis hin zu »Historiografie«. Andere werden als Praktik (»Wahrheit«) vorgestellt oder sind in erweitertem Sinne den Orten zugerechnet worden (»Erinnerungsorte«), können aber gleichwohl als konzeptueller Vorschlag verstanden werden. Die Texte partizipieren an mehreren Perspektiven. Der Mehrdimensionalität der Einträge wird in der klassischen alphabetischen Anordnung der Texte Rechnung getragen. So stellt das Wörterbuch Theoretisches und Praktisches gleichberechtigt nebeneinander und unterstützt das Gespräch der Texte untereinander durch Querverweise. Im Ausgang von den einzelnen »Stichworten« können so Gesamteindrücke beabsichtigt werden, Überraschungseffekte sind dabei nicht unbeabsichtigt.
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Entstanden ist ein Kollektivprodukt, das zwischen den Genres changiert: Ein Wörterbuch, das Stichworte zur aktuellen Situation der Geschichtswissenschaft anbietet, dabei Herkömmliches inventarisiert und Neues vorschlägt. Ein Einführungsbuch, das einen anderen Blick auf »Geschichte als Beruf« richtet und die Frage nach dem Ordnen des Materials auf dem Fußboden neben die Frage nach der Zeitlichkeit in der Geschichte und den Möglichkeiten einer materialistischen Geschichtsschreibung heute stellt. Ein Lesebuch, das anregen will, über so verschiedene Dinge nachzudenken, wie die Frage, ob die Schreibwerkzeuge den Charakter eines Werks determinieren, wie Fortschritt in der Gesellschaft bestimmt werden kann und ob die Evaluierung unter Gleichrangigen zur Qualitätssicherung in der Wissenschaft beitragen kann und will. Mit Marc Bloch könnte man sagen: Es kann nur als das bezeichnet werden, was es ist: das Notizbuch von Handwerkern, die stets gerne über ihre tägliche Arbeit nachgedacht haben. (Bloch 2000: 21) Ein solches Notizbuch enthält kurze Texte mit wenigen Literaturangaben. Weiterführende Literatur findet sich in einem allgemeinen Literaturverzeichnis am Ende des Bands. Dieses Literaturverzeichnis soll die in den Beiträgen vorgeschlagenen Perspektiven verstärken und bündeln. Es versteht sich nicht als allgemeine Bibliografie zu Theorie und Praxis der Geschichtswissenschaft, sondern als bewusst selektiv gehaltene Lese- und Nachschlageliste, wie sie sich in der Verlängerung der Beiträge ergibt. Ein solches Notizbuch – insbesondere, wenn es Notizen aus vier Sprachen versammelt – lebt von dem Wohlwollen seiner Beiträger und Übersetzer, denen an dieser Stelle der größte Dank gebührt. Alle Beiträge sind Originalbeiträge und eigens für diesen Band geschrieben. Der Artikel »Historiografie« von Massimo Mastrogregori enthält einige Überlegungen, die bereits in dem Artikel »Storiografia A.D. 2062« in der Zeitschrift Belfagor – Rassegna di varia humanità publiziert worden sind (1999: 611-616). So sei den Beiträgern für die gute Zusammenarbeit ebenso wie für so manche Idee und Anregung gedankt, den Übersetzern für ihre sprachlich präzise Kreativität und ihre belastbare Begeisterungsfähigkeit, Mario Wimmer darüber hinaus in grundlegender Hinsicht für die Zusammenarbeit an dem Buch-Projekt. Dorit Gesa Engelhardt hat das
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Buch nicht nur mit den gemeinsamen Diskussionen über Möglichkeiten und Grenzen der Übersetzung sozialwissenschaftlicher und philosophischer Termini ins Deutsche im Allgemeinen und die Frage der Übersetzung von »régimes d’historicité« im Besonderen entscheidend verbessert. Michael Werner danke ich für die aus Paris eintreffenden Ratschläge und Überlegungen. Ohne die redaktionelle Unterstützung von Andreas Wiedermann und Melanie Aufenvenne und die zuverlässige und schnelle Korrektur von Nina Wöstmann wäre aus dem Projekt nicht so bald ein Buch geworden. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des transcript Verlags haben Idee, Projekt und Buch in so vielfältiger und enthusiastischer Weise unterstützt und betreut, wie es kaum selbstverständlich zur Arbeit der Historiker gehört. Auch ihnen sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Ein letztes Wort zur Vereinheitlichungspraxis des Buchs: Fremdsprachige Werke wurden mit Rücksicht auf die Leser sowohl in den Artikeln als auch in den Literaturangaben in ihrer deutschen Übersetzung angegeben. In begründeten Einzelfällen, in denen die Angaben zum Originalband Teil der Argumentation waren, wurden diese im Text in Klammern hinzugefügt. Alle in diesem Buch verwendeten männlichen Formen von Berufsbezeichnungen sind ausschließlich stilistischen Gründen geschuldet. Anne Kwaschik
L ITERATUR Bloch, Marc (2002): Apologie der Geschichtswissenschaft oder Der Beruf des Historikers, Stuttgart: Klett-Cotta. Ders. (2000): »Konzept für eine Aufsatzsammlung«, in: Marc Bloch, Aus der Werkstatt des Historikers. Zur Theorie und Praxis der Geschichtswissenschaft, hg. u. mit einem Nachwort v. Peter Schöttler, Frankfurt a.M./New York: Campus, S. 316-318. Febvre, Lucien (1988): »Ein Historiker prüft sein Gewissen«, in: Ders., Das Gewissen des Historikers, hg. v. Ulrich Raulff, Berlin: Wagenbach, S. 9-22.
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Foucault, Michel (1991): Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch. Kocka, Jürgen (Hg.) (1987): Interdisziplinarität. Praxis – Herausforderung – Ideologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Morin, Edgar (1994): »Sur l’interdisciplinarité«, in: Bulletin Interactif du Centre International de Recherches et Études transdisciplinaires 2. Schöttler, Peter (2007): »Von der Schwierigkeit häretischer Wissenschaft. Für Karl Heinz Roth, den Historiker«, in: Sozial.Geschichte. Zeitschrift für historische Analyse des 20. und 21. Jahrhunderts 22, 2, S. 121–124. Ders. (Hg.) (1997): Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft. 1918-1945, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Sennett, Richard (2008): Handwerk, Berlin: Berlin Verlag.
Archivar A STRID M. E CKERT
Der Archivar ist seit dem frühen 19. Jahrhundert unerlässlicher Partner des forschenden Historikers; meist selbst Historiker; vor Archivkarriere zeitweise arbeitsloser Historiker; gern im Archiv anzutreffen; oft genannt in Danksagungen; heutzutage eher mit anderen Dingen als der Geschichtswissenschaft beschäftigt. Das Berufsbild des Archivars nahm in der Frühen Neuzeit Konturen an. Für den Stuttgarter Jakob von Rammingen (1510-1582) musste der Archivwalter nicht nur »hochgelehrt in Recht und in rebus Politicis«, von gestandenem Alter (denn »vitz kommt vor Jaren nicht«) und aus ehrbarem Hause sein. Er sollte zudem seinem Dienstherrn Treue und Verschwiegenheit entgegenbringen »biß in seinen todt«. Damit war unmittelbar einsichtig, dass »daher kein vilschwetzende … und gesellige Person zu einem Registrator nicht taugen will. Er muß sich mehr bey seiner Registratur dann bey guten gesellen und Zechbrüdern, denn bey den schönen Fräwlin, dann bey zechen, spilen, tantzen, singen und springen finden lassen, er muß der Registratur den rücken nit vil noch offt kehren oder zeigen, dann die Registratur kanns nicht leiden.« (Ottnad 1986: 6) Und war die Registratur erst einmal unleidlich, war Unordnung nicht fern. Als sich die Welt im 19. Jahrhundert dann verwandelte, trat das Archiv als einer der zentralen Erinnerungshorte in der medialen Verewigung des Saeculums immer stärker in Erscheinung. Die Sammlung von Verwaltungsakten nach dem Provenienzprinzip garantierte die Abbildung der Staatsverwaltung in seinen Archiven. Diese Abbildung
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wurde in der Archivlehre bis weit ins folgende Jahrhundert gern mit organologischen Bildern beschrieben – »Blutströme« für Datenlagen in den Schriften von Johannes Papritz beispielsweise –, in der auch die »organische« Verzahnung des Archivs mit der Verwaltung impliziert war. Denn dort, im Staatsarchiv, sedimentierte sich im Idealfall die Gesamtschau der Geschichte des Staates, wurde die Verwaltung weiter verwaltet. Mit solcherart Archiven entstand der Berufstypus des modernen Archivars als Weiterentwicklung des archivierenden Staatsbeamten oder Kanzlei-Sekretärs. (Osterhammel 2009: 32f.; Vismann 2000: 228f., 232, 242-252). Als die Geschichte sich anschickte, Wissenschaft werden zu wollen, umarmte sie das Archiv. Diese Annäherung wird allgemeinhin Leopold von Ranke zugeschrieben; oder angekreidet – je nachdem, wie man es hält mit den Akten. Ranke fuhr in das Archiv ein wie in ein Bergwerk. Von Archivfieber geschüttelt, vernachlässigte er seine Lehrtätigkeit in Berlin ( Vorlesung) und trotzte seinem preußischen Dienstherrn eine stete Verlängerung des Auslandsaufenthalts ab. Dem Archivar allerdings war Ranke ein Störfall. Schließlich war der Archivar, befand schon Lessing, nicht dazu da, »jedem Esel das Heu auf die Raufe zu stecken«. (Ottnad 1986: 9) Ebensowenig waren diplomatische Memoranden zu dem Zweck verfasst worden, peripatetische Historiker zu beglücken. Deshalb sei, wie von Metternich 1818 verfügt, »ohne ausdrücklichen Allerhöchsten Befehl […] nicht das Mindeste aus dem Archive hinauszugeben, […] auch wenn [der] Inhalt ganz unbedenklich erscheint«. ( Realexperiment) Wo die Archivare ihn bremsten, musste Ranke sie über ihre Dienstherrn packen. Friedrich von Gentz ebnete dem Historiker in Wien so manchen Weg. Die Faszination mit den schriftlichen Hinterlassenschaften der politisch Mächtigen hatte allerdings ihren Preis. Denn wenn diese Unterlagen das Signum von Wissenschaftlichkeit der Geschichtsschreibung hermachen sollten, musste der Historiker sich in ein Abhängigkeitsverhältnis von der Archivpolitik eben dieser Mächtigen begeben, deren sichtbare Fassade der Archivar war (Eskildsen 2008: 425-453). Das Zweigespann von Historiker und Archivar verschmolz dennoch zum symbiotischen »Historikerarchivar«, jener wirkungsmächtigen Image-Formel vom Archivarsberuf, die bis heute vorhält, mit dem
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tatsächlichen Berufsalltag aber immer weniger zu tun hat. Eine geschichtswissenschaftliche Ausbildung mit Promotion wurde zur Zugangsvoraussetzung für die höhere Archivlaufbahn. Der Besuch einer Archivschule – seit 1821 in München, seit 1854 in Wien, seit 1929 in Berlin – rundete das Geschichtsstudium ab und polte den ohnehin schon auf Empirie gerichteten Archivar-werdenden Historiker zum Kenner der Verwaltung und des Registraturwesens sowie der Heraldik, Diplomatik, Schrift-, Siegel- und Münzkunde. Latein konnte er sowieso, Französisch am besten auch. Eigene Forschungsarbeit mit regem Publikationsausstoß war Teil des Berufs. Und Archivar zu werden hatte cachet. Die Position des Generaldirektors der Preußischen Archivverwaltung war auch wissenschaftlich renommierten Geschichtsprofessoren eine Anstrengung wert. Allerdings, Fridolin Kehr, der es 1915 zu diesem Posten gebracht hatte, hielt die Archivleitung schon längst der Professur überlegen: »Zum Ordinarius mag es bei Herrn X ja reichen«, soll er gesagt haben, »zum Archivar nicht«. (Ottnad 1986: 12, 14) Hatte im Verlauf des 19. Jahrhunderts vielleicht die Hochzeit zwischen Archivaren und Historikern stattgefunden, zeichnete sich im letzten Drittel des 20. so etwas wie eine Scheidung ab. Welche Seite die Verbindung aufkündigte, ist zweitrangig; es reicht aus, eine wachsende Entfernung der Partner zu konstatieren, in diesem Falle den archival divide. Der Archivtheoretiker Francis X. Blouin datiert die Anfänge dieser Auseinanderentwicklung zwischen der Geschichts- und Archivwissenschaft auf die 1970er Jahre. Die Geschichtswissenschaft experimentiert mit neuen Zugriffen. Was die einen als Fragmentierung beklagten, war den anderen eine Befreiung aus der selbstverschuldeten Monothematik. Die Vorstellung dessen, was fortan legitime historische Quellen seien, ging immer öfter an den etablierten staatlichen Archiven vorbei und griff stattdessen auf nichtstaatliche Zeugnisse, Ego-Dokumente, Artefakte oder literarische Arbeiten zurück. ( Quelle) Ja, sogar das Archiv selbst rückte in Reaktion auf Jacques Derridas Dem Archiv verschrieben (1997; frz. 1995) als Forschungsgegenstand in den Fokus der Kulturgeschichte, deren bewegliche Definitionen von »Archiv« Archivare nervös macht. Denn »von hier aus ist es nur noch ein Schritt, so ungefähr alles für ein ›Archiv‹ zu halten, was der Vergangenheit zuzuordnen ist und
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mehr als zwei Stücke umfasst, zum Beispiel den Korpus der Werke einer Bildhauerin oder die Familienbilder im Fotoalbum – manchen ist die ganze Welt ein Archiv«. (Burckhardt 2006: 11) Während die Geschichtswissenschaft sich neuen Ansätzen öffnete, quälte die Archivare eine Schriftgutexplosion. Was den 1920er Jahren die Einführung der Schreibmaschine mit Kohlepapier, war den 1970er Jahren der Kopierer. Ein »Massenproblem«. Die Verbreitung des Zwischenarchivs, in England treffend Limbo genannt, war die kurzfristigpragmatische Antwort. Die erneute Erkenntnis, dass nicht alles aufbewahrt werden kann, war die langfristig-archivtheoretische Antwort. Der Archivar-Bewahrer wurde zum Archivar-Bewerter. Die Archivtheorie bekam einen Schub und suchte nach wahrhaft wissenschaftlichen Kriterien für die archivarische Bewertung. Etwa 5-10 Prozent des anfallenden Schriftguts bewahren deutsche Archivare auf, ihre englischsprachigen Kollegen sogar nur 1-2 Prozent. (Franz 2007: 83) Historiker denken nur selten darüber nach, welchen Zipfel sie im Archiv eigentlich noch zu fassen kriegen. An dieser Stelle wird der archival divide allerdings handgreiflich. Für eine erweiterte Geschichtswissenschaft, für die jeder Aspekt menschlichen Lebens relevant geworden ist; die den Pool legitimer Forschungsfragen signifikant erweitert; die die Vorstellung dessen, was überhaupt als »Geschichte« firmieren kann, neu definiert hat – für eine solche Geschichtswissenschaft ist plötzlich jedes Stück Papier potenziell von Interesse. Der Archivar kann solche Begehrlichkeiten nicht befriedigen. Stattdessen muss er aus dem archivreifen Material das archivwürdige herausfiltern: bewerten und kassieren. Nach wissenschaftlichen Kritierien. Den Kriterien einer Archivwissenschaft. Eigenständig von einer Geschichtswissenschaft. Historiker und Archivare, so Blouin, bewohnen schon längst getrennte konzeptionelle Räume. ( Historiografie) Die auf Liebe zur Empirie basierende Verbindung hat sich aufgelöst, auf beiden Seiten. Der Archivar ist schon längst Dienstleister, IT-Spezialist, Behördenberater, Kulturmanager, Öffentlichkeitsarbeiter, Ausstellungsmacher, Budget-Jongleur, ABM-Arbeitgeber, mithin ein Tausendsassa. Das Augenmerk liegt auf der Verwaltung, der Öffentlichkeit, der Politik, der eigenen Zunft, den Familienforschern – der Historiker ist nur noch ein »Kunde« unter vielen.
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L ITERATUR Blouin, Francis X. (2004): The Evolution of Archival Practice and the Origins of the Archival Divide in the Late Twentieth Century, Paper presented at the Quadrennial Congress of The International Council on Archives, Vienna. http://www.wien2004.ica.org/ima gesUpload/pres_40_BLOUIN_C_USABEN03.pdf?PHPSESSID= bwsdneacjmlywzcf, vom 15.10. 2009. Burckhardt, Martin (2006): Arbeiten im Archiv, Paderborn: Schöningh/UTB. Eskildsen, Kasper Risbjerg (2008): »Leopold Ranke’s Archival Turn: Location and Evidence in Modern Historiography«, in: Modern Intellectual History 5:3, S. 425-453. Franz, Eckhart G. (2007): Einführung in die Archivkunde, 7. Auflage, Darmstadt: WBG. Osterhammel, Jürgen (2009): Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München: Beck. Ottnad, Bernd (1986): »Das Berufsbild des Archivars vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart«, in: Gregor Richter (Hg.), Aus der Arbeit des Archivars. Festschrift für Eberhard Gönner, Stuttgart: Kohlhammer, S. 1-22. Vismann, Cornelia (2000): Akten. Medientechnik und Recht. Frankfurt: Fischer.
Bibliothek J ÖRN L EONHARD
»Die Ruchlosen behaupten, daß in der Bibliothek die Sinnlosigkeit normal ist, und daß das Vernunftgemäße (ja selbst das schlecht und recht Zusammenhängende) eine fast wundersame Ausnahme bildet.« (Borges 1981: 470) Was Jorge Luis Borges Abbild des Universums und Möglichkeit des Glücks war, ist dem Historiker Teil seiner Werkstatt: In der Bibliothek gibt er sich der Illusion hin, dem aufgezeichneten Wissen folgen und den ersten Grundsatz seiner Wissenschaft, die Nachprüfbarkeit gemachter Aussagen, jederzeit bestätigen zu können. ( Kontrafakten) Doch sind die wenigsten Bibliotheken, die der Historiker in der Lebenswelt seiner wissenschaftlichen Arbeit erleidet, Orte auffindbarer Wissensbestände. Eher ähneln sie einem Eco’schen Modell, in dem der Bibliothekar sein Glück findet, weil er seine Schätze mit niemandem teilen muss, schon gar nicht mit dem Leser. Die Modellbibliothek des Bibliothekars also sieht wie folgt aus: Der Ausstellung eines Leseausweises geht ein mehrstufiges, mehrsprachiges und mehrtägiges Prüfungsverfahren voraus, in dem der potenzielle Leser lange Zeit nicht sicher sein kann, ob er jemals Zugang zu der Bibliothek erhält; im Leser erkennt der Bibliothekar einen feindlichen Eindringling; mit großer Sorgfalt werden in der Bibliothek die unterschiedlichen Kataloge für Bücher, Zeitschriften, Schlagwortund Sachkarteien weit voneinander entfernt aufgestellt, um die Benutzung zu erschweren; Signaturen müssen möglichst unleserlich oder doch so lang und kompliziert sein, dass sich beim Abschreiben mög-
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lichst viele Fehler einstellen; zwischen Bestellung und Lieferung muss so lange Zeit wie nur irgend möglich vergehen; ausgehändigte Bücher dürfen nur an möglichst vielen, unterschiedlichen und entlegenen Orten der Bibliothek gelesen werden; es gibt keine Kopierer oder nur solche, die nach Einwurf des Geldes sofort versagen; die Auskunft spricht überhaupt nicht oder in Gebärdensprache oder ist auf unbestimmte Zeit erkrankt; Öffnungszeiten nehmen auf eine Vielzahl lokaler Festtage Rücksicht und werden wegen unbestimmter Baumaßnahmen andauernd und ohne Vorwarnung verändert; das Ausleihverfahren ist mysteriös und durchläuft eine Vielzahl unerreichbarer Hierarchien; die Frage nach einer möglichen Fernleihe ist eine Beleidigung des Personals und kann zum Verlust des Leseausweises führen; einmal ausgeliehene Bücher werden abends von den Tischen abgeräumt und tauchen nie wieder auf; Leser dürfen Brillen nur zu bestimmten Zeiten und innerhalb abgesperrter Bereiche tragen; nur in wenigen Bereichen der Bibliotheken darf man schreiben, und die Vorgaben über zu verwendendes Schreibmaterial wechseln täglich ( Schreibwerkzeuge); es gibt stets weniger Stühle als Tische; jeder vierte Tisch hat nur drei Beine und nur jede dritte Lampe enthält eine schwache Leuchte; der Kaffee der Automaten ist vergiftet; Toiletten haben keine Türen. Doch beginnt das eigentliche Erschrecken über dieses fiktionale Gemälde da, wo der Historiker die Nähe zu seinen ureigensten Erfahrungen spürt: Wer in die Bücheruniversen eindringt, um seine Wissenschaft zu bereichern, findet nichts oder mindestens nicht, wonach er gesucht hat. In seinem Roman Austerlitz schickt der deutsch-britische Schriftsteller W. G. Sebald seinen Titelhelden in die neuerbaute Bibliothèque nationale in Paris, in dem sich die höchste Erwartung an das Pantheon des Wissens an der Realität der Hindernisse, Verbauungen, Mysteriositäten und Abgründe bricht. Wer im Winter die glitschigen Schiffsplanken der bibliothekarischen Außenbezirke des Tolbiac ohne größere Blessuren und Knochenbrüche hinter sich gelassen hat und nach dem strengen Lebensexamen der Ausweisausstellung in das Bergwerk des Wissens hinabfährt, der wird – nachdem er sich auch im Hochsommer mit Winterkleidung gegen die Arbeitstemperatur von 5 Grad Celsius ausgestattet hat – nur wenige Monate brauchen, um das
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Labyrinth aus Bestellung, Platzreservierung, Kontingentierung und Fehlverweisen zu durchschauen. Dabei ist es denkbar einfach: Die Bibliothekare sind damit beauftragt, das Wissen durch höchste Komplexität der Formen vor den Lesern zu schützen, und die Oberbibliothekare sehen aus den gläsernen Türmen zu, wie die Zahl der Leser jeden Tag abnimmt, die der schwatzenden und fernkommunizierenden Besucher aber exponentiell zunimmt. Auch der Botanische Garten mit Zoobewohnern im tiefergelegten Innenhof der Bibliothek entspricht dieser gezielten und doch gut getarnten Ablenkungsstrategie: Wer das einmal sehnsüchtig gesuchte und bestellte Buch niemals erhält, der wird sich irgendwann den Vögeln widmen, die er von seinem Tisch aus sieht, wie sie unrettbar von den künstlich angepflanzten Wäldern gegen die Glasscheiben der Bibliothek fliegen, um im stündlichen Rhythmus von einem Angestellten der Bibliothek aufgesammelt zu werden. Sein Lächeln allein ist wissend. In einer Mischung aus Erschrecken und Faszination registriert auch Jacques Austerlitz das Missverhältnis zwischen den »in dem elektronischen Informationsapparat immer wieder auftretenden Lähmungserscheinungen« und dem »cartesischen Gesamtplan der Nationalbibliothek« in Paris. Austerlitz räsoniert, »daß in jedem von uns entworfenen und entwickelten Projekt die Größendimensionierung und der Grad der Komplexität der ihm einbeschriebenen Informationsund Steuersysteme die ausschlaggebenden Faktoren sind und daß demzufolge die allumfassende, absolute Perfektion des Konzepts in der Praxis durchaus zusammenfallen kann, ja letztlich zusammenfallen muß mit einer chronischen Dysfunktion und mit konstitutioneller Labilität«. Die neue »Riesenbibliothek, die nach einem jetzt ständig verwendeten, häßlichen Begriff das Schatzhaus unseres gesamten Schrifterbes sein soll«, erweist sich denn auch folgerichtig bei der Suche nach Spuren seines in Paris verschollenen Vaters als völlig unbrauchbar. (Sebald 2001: 394f.) Hinter der Inkarnation einer Nationalbibliothek mit ihrem universellen Anspruch auf vollständige und systematische Sammlung von Wissensbeständen steht der möglichst weitgehende Schutz des Lesers vor dem Buch. Die Bibliothek mutiert vom rationalen Speicher zum undurchdringlichen Universum, das sei-
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ne höchste Perfektion allein in der Tarnung durch immer kompliziertere Ordnungen und Klassifizierungen erreicht. In einem Flüstergespräch zwischen dem Bibliothekar Henri Lemoine und Jacques Austerlitz im Lesesaal Haut de Jardin der neuen Pariser Bibliothèque nationale räsoniert der Bibliothekar am Schluss des Romans »über die im Gleichmaß mit der Proliferation des Informationswesens fortschreitende Auflösung unserer Erinnerungsfähigkeit und über den bereits sich vollziehenden Zusammenbruch, l’effondrement ... de la Bibliothèque Nationale«. Denn das neue Bibliotheksgebäude, »das durch seine ganze Anlage ebenso wie durch seine ans Absurde grenzende innere Regulierung den Leser als einen potentiellen Feind auszuschließen suche«, sei kaum mehr als »die offizielle Manifestation des immer dringender sich anmeldenden Bedürfnisses, mit all dem ein Ende zu machen, was noch ein Leben habe an der Vergangenheit«. (Sebald 2001: 400) Und auch die Vorstellung, mit der Digitalisierung der Wissensspeicher die Raum- und Zeitgrenzen des Lesers technisch zu überwinden, ist nur eine Fortsetzung der alten Strategie der Bibliothekare, die Historiker durch die Illusion purer Verfügbarkeit von ihren Zielen abzubringen. ( Realexperiment) Wo der Leser sich das Wissen über die Vergangenheit zu erschließen hofft, erfährt er auf immer neuen Wegen die Ablenkung von den Zugängen zur individuellen und kollektiven Erinnerung. Das imaginierte Zentrum der Gelehrsamkeit: Es kann nur ein Labyrinth ohne Zugänge zu den gesuchten Texten sein.
L ITERATUR Borges, Jorge Luis (1981): Die Bibliothek von Babel, in: Ders., Gesammelte Werke, Band 3/I, I, München: Hanser. Eco, Umberto (2005): »Die Bibliothek«, in: Candida Höfer, Bibliotheken, München: Schirmer/Mosel, S. 5-13. Leonhard, Jörn (2009): »Bücher der Nation – Die Entstehung europäischer Nationalbibliotheken als Orte lokalisierter Erinnerung«, in: Kirstin Buchinger/Claire Gantet/Jakob Vogel (Hg.), Europäische Erinnerungsräume, Frankfurt: Campus, S. 72-87. Sebald, W. G. (2001): Austerlitz, München: Hanser.
Bielefelder Schule T HOMAS W ELSKOPP
Bellizistische Strömung der bundesdeutschen Sozialgeschichte nach 1945, deren Hochphase ihre zentralen Führungsgestalten auf die Zeit zwischen 1969 (Gründung der Universität Bielefeld) und 1989 (Wechsel Jürgen Kockas an die Freie Universität Berlin, Mauerfall und Überwindung der deutschen Teilung) datieren. Die Bezeichnung »Bielefelder Schule« verdankte sich der bewundernden Hochschätzung amerikanischer Fachkollegen (Gerald Feldman, Georg Iggers), verbreitete sich dann aber schnell als halbironische Selbstbezeichnung, bevor sie sich als Feindtitulierung durch gegnerische Strömungen (zuerst David Blackbourn und Geoff Eley) in der deutschen Geschichtswissenschaft verselbständigte und zu einer dämonisierten Chimäre verdüsterte. Die Kollektivbenennung meinte eine an den Rändern ausfasernde, großenteils tatsächlich in (und über) Ostwestfalen forschende und lehrende Gruppe von Historikern (erst in der zweiten Generation auch: Historikerinnen) unter der Wortführung von Hans-Ulrich Wehler, Jürgen Kocka und Reinhart Koselleck. So sehr sich auch die Ansätze Wehlers und Kockas auf der einen, Kosellecks auf der anderen Seite unterschieden – die Ersteren prägte eine entschlossen antihermeneutisch-ideologikritische Haltung, während Letzterer auf dem Gebiet der Historischen Semantik, die ohne Hermeneutik nicht denkbar ist, Pionierleistungen erbrachte –, so deutlich einte dieses Trio der Grundansatz einer Sozialgeschichte als Zugang zur allgemeinen Geschichte und das Beharren auf der »Theoriebedürftigkeit« der Geschichte,
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wenn sich auch das Verständnis von »Theorie« im Einzelnen markant unterschied. Wehler und mit leichten Abstrichen auch Kocka fassten Geschichte programmatisch als »Historische Sozialwissenschaft« auf. Damit war in erster Linie an eine Anlehnung an die Theorien und Methoden der angrenzenden systematischen Wissenschaften: der Soziologie, der Politikwissenschaften, innerhalb bestimmter Limits der Ökonomie, gedacht. Theorie in diesem Sinne konnte vieles heißen. Sie diente auf der darstellerischen Ebene zumindest rhetorisch als Alternative zur gefälligen, aber vermeintlich »naiven« Narration. Theoretische Versatzstücke strukturierten demnach eine ansonsten wie selbstverständlich weitergeführte Erzählung, die trotzdem ohne ein chronologisches Gerüst nicht auskam. Aber auffällig war, dass die allermeisten Theoreme im Umfeld der »Bielefelder Schule« prozesshaft gefasst waren, das Bewegungsprinzip der Geschichte also schon von vornherein in sich trugen, ganz gleich, ob es sich um Konjunkturtheorien handelte, um die »Klassenbildung«, die »Säkularisierung« oder die »Professionalisierung«. Auf einer höheren Ebene hielt Theorie in der konkreten Gestalt der »Modernisierungstheorie« als eine Art Bielefelder Metanarrative die einzelnen begrifflichen Bemühungen und empirischen Erträge zusammen. Dennoch geht man fehl, die Bielefelder Geschichtswissenschaft als theoretisch durchdrungen oder, negativ gewendet, als theoriefixiert verstehen zu wollen. Immer betonte man das Eigengewicht des empirischen Geschichtsverlaufs gegenüber theoretischen Setzungen, die man rein »instrumentell« zu handhaben vorgab und deren Distanz zu den Befunden die »Historische Sozialwissenschaft« gerade bevorzugt zu bestimmen habe. Auf der Ebene der Großerzählung kam dieses Verhältnis in der Dialektik von »Modernisierungstheorie« und »Deutschem Sonderweg« zum Ausdruck. Während Erstere die theoretischen Standards für die Analyse in ihrem Arsenal bereitstellte, fungierte Letzterer als formelhafte Kurzinterpretation des substanziellen Geschichtsprozesses im neuzeitlichen Deutschland. Gerade die Abweichungen vom Modernisierungspfad der Gesellschaften eines imaginierten »Westens« sollten die deutsche Geschichte – und dort vor allem das Abgleiten in die völkermordende Barbarei des Nationalsozialismus – erklären. ( Nationalgeschichte)
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Die Denkfigur des »Deutschen Sonderwegs« drängte die »Bielefelder Schule« zu einer vergleichenden Argumentation, die sich vorerst der Nationalstaaten als Vergleichseinheiten bediente. Diese Spielart der Sozialgeschichte hat unstreitig Entscheidendes zur Verankerung der Komparatistik in der deutschen Geschichtswissenschaft beigetragen, wenn man sich auch entschieden weigerte, von etwas anders akzentuierten Parallelanstrengungen wie etwa denen der französischen Annales zu lernen. Überhaupt richtete der Bielefelder Leuchtturm seine Scheinwerfer trotz des benachbarten Hermannsdenkmals weniger in den nahen Westen nach Frankreich als in den idealisierten Musterwesten eines anglo-amerikanischen Kompositums. Die komparativen Argumente bestritt man dabei in einer ersten Phase bis weit in die 1980er Jahre auf der Basis eher spekulativer vergleichender Vorannahmen, ehe eine erste Generation von Schülern mit einer Reihe empirischer Vergleichsstudien, die überdies allmählich den nationalstaatlichen Vergleichsrahmen sprengten, zentrale Elemente der »Sonderwegs«-Interpretation entkräfteten. Im Bereich der Komparatistik ließ sich die konzeptionelle Strategie der »Bielefelder Schule« – und hier vor allem Jürgen Kockas – besonders gut beobachten, neue Forschungsfelder zu besetzen, indem man mittels theoretischer »Vorerschließungen« empirische Forschungsprogramme vorwegnahm und diesen zugleich die Bahnen bereitete. Das konnte gelingen, weil dieses überaus selbstbewusste Verfahren in wichtigen historischen Forschungsfeldern – erinnert sei nur an die damals in Marxauslegungen erschöpfte Arbeiter- und Arbeiterbewegungsgeschichte – auf wenig schlagkräftige theoretische Konkurrenz stieß. So füllten Bielefelder Begriffsanstrengungen, wie im Fall des »Organisierten Kapitalismus«, mühelos das konzeptionelle Vakuum, das die hermetischen »Imperialismus«-Debatten einschließlich der neomarxistischen »Stamokap«-Theorie hinterlassen hatten. ( Materialistische Geschichtsschreibung) Diese Strategie des theoretischen Vorpreschens konnte Ähnlichkeiten zur bewaffneten Fernaufklärung im militärischen Bereich nicht ganz verhehlen. Und tatsächlich sind entscheidende Merkmale, Leistungen und Defizite der »Bielefelder Schule« weniger im theoretischen oder methodischen oder gar inhaltlichen als im habituellen Bereich aufzuspüren. Die »Bielefelder Schule« gab sich offensiv und
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wettbewerbsorientiert. Ihr Bekenntnis zur »Theorieorientierung« beinhaltete schon die Gewissheit, über den »richtigen« Theoriehaushalt längst zu verfügen, und von dieser Selbsteinschätzung aus verwies man andere Bemühungen um »Theorie« schroff in stahlharte Schranken. Das ging nicht ganz ohne eigene Verdauungsprobleme ab, weist doch das geflügelte Bielefelder Adjektiv für das Lob einer historischen Arbeit – »theoriegesättigt« – auf die für das protestantischpietistische Ostwestfalen geradezu typische Haltung der fleißigen aber freudlosen Aufnahme ohne Genuss hin. Askese betrieb die »Bielefelder Schule« auch in Sachen Ironie oder Humor. ( Imagination) Gegner – wirkliche wie vermeintliche – wurden umso schärfer benannt und in übersichtlichen Lagebeurteilungen lagerweise zusammengefasst. So diente ein reichlich locker gefasster »Historismus« lange als Klassenfeind, den sogar noch die in einem Atemzug genannte Alltagsgeschichte gemeinsam mit den revisionistischen Beiträgen zu einem imaginierten bundesrepublikanischen Nationalismus (Andreas Hillgruber, Ernst Nolte, Michael Stürmer) – siehe der »Historikerstreit« von 1986 – als »Neohistorismus« beerbten. Unübersichtlicher wurde die Lage mit dem Aufkommen der »neuen Kulturgeschichte«, die sich schlecht den Einteilungen der »Kalten Kriegs«-Periode in der deutschen Geschichtswissenschaft fügte und zudem dem theoretischen Arsenal der Bielefelder eigene Wunderwaffen entgegenzustellen vermochte. Die Figur des »Konstruktivismus« nagte schmerzhaft an dem »Strukturrealismus«, dessen die »Bielefelder Schule« so wesentlich bedurfte. ( Realismus) Darüber hinaus sollten die künftigen Schülergenerationen unbotmäßig in alle Richtungen auseinanderstreben und sich kaum noch als geschlossener Stoßtrupp für die Invasion in neue Forschungsfelder einsetzen lassen – oder sie lieferten bei entsprechenden Versuchen überaus subversive Ergebnisse ab. Die »Bielefelder Schule« scheint heute altersmilde geworden. Jedoch hat sie sich bereits während ihres gesamten Aufstiegs immer zeitnah wohlwollend selbst historisiert und wehrt heute Historisierungen aus der Distanz nach wie vor gern ab. Die Selbsthistorisierung hat mit dem fünften Band von Hans-Ulrich Wehlers Deutscher Gesellschaftsgeschichte im Jahr 2008 ihren Abschluss gefunden, in dem sich die Bielefelder Zeitgenossen als eigentlich produktivste
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Nachkriegsgeneration in die sehr bundesrepublikanische deutsche Nationalgeschichte seit 1945 eingeschrieben haben.
L ITERATUR Becker, Frank (2009): »Mit dem Fahrstuhl in die Sattelzeit? Koselleck und Wehler in Bielefeld«, in: Sonja Asal/Stephan Schlak (Hg.), Was war Bielefeld? Eine ideengeschichtliche Nachfrage (= marbacher schriften neue folge 4), Göttingen: Wallstein, S. 89-110. Groebner, Valentin (2009): »Theoriegesättigt. Ankommen in Bielefeld 1989«, in: Ebd., S. 179-189. Welskopp, Thomas (1999): »Westbindung auf dem ›Sonderweg‹. Die deutsche Sozialgeschichte vom Appendix der Wirtschaftsgeschichte zur Historischen Sozialwissenschaft«, in: Wolfgang Küttler/Jörn Rüsen/Ernst Schulin (Hg.), Geschichtsdiskurs, Band 5: Globale Konflikte, Erinnerungsarbeit und Neuorientierungen seit 1945, Frankfurt a.M.: Fischer TB Verlag, S. 191-237. Ders. (1998): »Die Sozialgeschichte der Väter. Grenzen und Perspektiven der Historischen Sozialwissenschaft«, in: Geschichte und Gesellschaft 24, S. 169-94.
Biografie C HRISTIANE C OESTER
Die Biografie gehört zu den ältesten literarischen Genres, zumindest wenn man ihre Anfänge bei Xenophon sehen möchte. Gleichwohl tun sich die Historiker schwer mit ihr. Während spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts Schriftsteller wie Robert Musil und James Joyce die Protagonisten ihrer Werke nicht mehr als kohärente Individuen und selbstbestimmende Lenker des eigenen Schicksals schilderten, widmete sich die Geschichtswissenschaft weiterhin der Darstellung stringenter Lebenswege großer Männer, die, meist unabhängig vom historischen Kontext und abgehoben von den gesellschaftlichen Gegebenheiten ihrer Zeit, den Lauf der Dinge veränderten. Und dies, obwohl es an kritischen Überlegungen zur Biografik nie gemangelt hat, wie etwa die von Siegfried Kracauer geäußerte These zeigt, die Biografie als literarisches Erzeugnis sei eine typisch »neubürgerliche Kunstform«, da sie aufgrund der historischen Thematik und der Behandlung großer Persönlichkeiten die Möglichkeit biete, eine Auseinandersetzung mit den Problemen der Gegenwart zu vermeiden. (Kracauer 1963) ( Subjekt) Etwas anders gelagert sind die Schwierigkeiten, mit denen sich die Frauenbiografieforschung konfrontiert sieht. Quellen zu Frauen sind oft weniger gut überliefert, gingen häufiger verloren und wurden eher zerstört als die zu Männern, nicht zuletzt, weil es oft die Töchter, Schwestern und Ehefrauen waren, die das Andenken der Väter, Brüder und Ehemänner pflegten und das eigene darüber vergaßen. ( Quelle)
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Hinzu kommt eine Tendenz zur Verallgemeinerung von männlichen (und bürgerlichen) Lebenskonstruktionen und Lebenswegen, der sich auch viele gründlich recherchierte und eingehend reflektierte Frauenbiografien nicht entziehen können. So ist die wissenschaftliche Biografik zu Frauen, man könnte hinzufügen: die Frauengeschichtsschreibung überhaupt, auf der einen Seite zwar meist reflektierter und theoretisch fundierter als ein Großteil der allgemeinen Geschichtswissenschaft, und sie hat der theoretischen Diskussion über das Genre Biografie eine Reihe von Anstößen gegeben. Doch weisen auf der anderen Seite viele Biografien zu Frauen die gleichen Nachteile auf wie die zu Männern: Während sich Literaten das Experimentieren erlauben und damit das Genre weiterbringen, wie etwa Stefan Zweig, der sich in seiner Maria-Stuart-Biografie der »ausschließlichen Wahrheit über alle Lebensumstände« verweigert (Zweig 1992: 9), bleibt die wissenschaftliche Biografik über Frauen, nicht anders als die über Männer, oftmals konservativ. ( Imagination) Man könnte einwenden, dass der Verfasser einer wissenschaftlichen Biografie ungleich stärker gebunden sei als sein Kollege aus der Belletristik, der die Zwänge der »historischen Realität« abschütteln könne, während der Historiker die »Wahrheit« über seinen Protagonisten erzählen und dessen Lebensphasen in einen sinnvollen Zusammenhang bringen müsse. ( Realismus) Doch das folgende Zitat aus einem Brief Sigmund Freuds an Arnold Zweig vom 31. Mai 1936 ist nicht nur für Psychologen und Literaten von Interesse, sondern für jeden gültig, der das Leben einer Person in Form einer Biografie zu schildern versucht: »Wer Biograph wird, verpflichtet sich zur Lüge, zur Verheimlichung, Heuchelei, Schönfärberei und selbst zur Verhehlung seines Unverständnisses, denn die biographische Wahrheit ist nicht zu haben, und wenn man sie hätte, wäre sie nicht zu brauchen.« (Freud 1960: 445) ( Wahrheit) Und die Linearität und Stringenz eines sogenannten »Lebensweges«, der sich vorgeblich aus einzelnen Phasen zusammensetzt, die von einem kohärenten Individuum durchlaufen werden und sich am Ende zu einer sinnvollen Erzählung zusammenfügen, ist nicht zuletzt von Pierre Bourdieu zur »biographischen Illusion« erklärt worden. Was also können Historiker lernen von ihren Kollegen aus den belles lettres? Dass der Biograf in der Lage sein muss, ein klares Bild
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der zeithistorischen Zwänge zu zeichnen, die auf seinem Protagonisten lasteten (Bulgakow: Das Leben des Herrn de Molière). Dass die Fiktionalität der Geschichte, die den Erzähler zu mehr als nur einem Nacherzähler seiner Quellen macht, nie aus den Augen verloren werden darf (Enzensberger: Der kurze Sommer der Anarchie. Buenaventura Durrutis Leben und Tod). Dass die narrative Form der Biografie Muster schafft, denen zu folgen und Glauben zu schenken sich weder Autor noch Leser entziehen können (Hildesheimer: Marbot. Eine Biographie). ( Kunst) Dass der Biograf immer auch Abstand zu seinem Protagonisten halten und sich ein gesundes Maß an Ironie nicht versagen sollte (Ionesco: Das groteske und tragische Leben des Victor Hugo). Tatsächlich kann die wissenschaftliche Biografie diese Erkenntnisse nutzen, ohne an Glaubwürdigkeit zu verlieren. Carlo Ginzburgs Menocchio und Alain Corbins Pinagot haben gezeigt, dass es nicht nur die Biografien der »großen Männer« sind, die uns die Geschichte besser verstehen lassen. Und die Erkenntnis, dass selbst der verhältnismäßig gut dokumentierte und anscheinend eine gewisse Kohärenz aufweisende Lebensweg eines mittelalterlichen Königs bei genauer Untersuchung von Inszenierung und Selbstinszenierung wie Sand zwischen den Fingern zerrinnt, ist am provokantesten von Jacques Le Goff formuliert worden, der seine Biografie Ludwigs des Heiligen nach rund 800 Seiten mit der Frage enden lässt: »Hat Ludwig der Heilige überhaupt existiert?« (Le Goff 2000: 788) Einiges ist also vollbracht, doch viel bleibt noch zu tun, um die »cradle-to-grave«-Phase der wissenschaftlichen Biografik zu überwinden.
L ITERATUR Bödeker, Hans Erich (2003): »Biographie. Annäherungen an den gegenwärtigen Forschungs- und Diskussionsstand«, in: Ders. (Hg.), Biographie schreiben, Göttingen: Wallstein, S. 9-63. Bourdieu, Pierre (1990): »Die biographische Illusion«, in: Bios 3, S. 75-81. Freud, Sigmund (1960): Briefe 1873-1939, hg. v. Ernst Freud/Lucie Freud, 2. Auflage, Frankfurt a.M.: S. Fischer.
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Kracauer, Siegfried (1963): »Die Biographie als neubürgerliche Kunstform«, in: Ders., Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 75-80. Le Goff, Jacques (2000): Ludwig der Heilige, Stuttgart: Klett-Cotta. Schaser, Angelika (2001): »Bedeutende Männer und wahre Frauen. Biographien in der Geschichtswissenschaft«, in: Irmela von der Lühe/Anita Runge (Hg.), Biographisches Erzählen (= Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung, Band 6), Stuttgart/Weimar: Metzler, S. 137-152. Zweig, Stefan (1992): Maria Stuart, Frankfurt a.M.: Fischer.
Buchhandlung, kleine J OSEF E HMER
Der gute Historiker gleiche dem Menschenfresser im Märchen, lautet eine oft zitierte und vielfältig variierte Bemerkung Marc Blochs. »Wo er menschliches Fleisch wittert, weiß er seine Beute nicht weit.« Mir scheint dagegen, dass die Historiker eher trockene Nahrung verschlingen, Papier in den verschiedensten Formen, am häufigsten Bücher. Viele Orte stehen ihnen als Nahrungsquelle zur Verfügung, Archive und Bibliotheken vor allem ( Bibliothek), aber die Buchhandlung stillt den Hunger auf besondere Weise. Hier kann man die gewitterte Beute an Ort und Stelle an sich reißen, sie in Taschen und Rücksäcke stopfen, so viel das Portemonnaie oder die Kreditkarten zulassen. Man trägt die Beute mit einem Gefühl der Wollust nach Hause, und man verstaut sie in den häuslichen Vorratskammern des Geistes, auch wenn diese schon aus allen Nähten platzen. ( Fußboden) Hier soll der Blick auf die kleine Buchhandlung als Werkzeug des Historikers gelenkt werden. Gibt es sie überhaupt noch? In den 1950er und 1960er Jahren gab es in allen Kleinstädten der österreichischen Provinz eine Buchhandlung, oft auch deren zwei, die eine eher rot, die andere eher schwarz. Die Buchhändler bemühten sich nach Kräften, den örtlichen Gymnasiasten einige Grundpfeiler des bürgerlichen Bildungskanons zugänglich zu machen, mit Kochbüchern und Bildbänden die Suche nach Geschenken für Muttertage und Weihnachtsfeiern zu erleichtern, und mit aktuellen Romanen vielleicht sogar ein bisschen Geschäft zu machen. Überall in Europa sind viele dieser kleinen Buchhandlungen – vielleicht die meisten – untergegangen, und nicht
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bei allen ist Grund zur Trauer. Es gibt sie aber immer noch an erstaunlich vielen, oft entlegenen Orten, mitunter in merkwürdigen Verbindungen mit Warenhandlungen anderer Art. Kein Historiker, der – aus welchen Gründen auch immer – durch solche Orte flaniert, sollte an ihnen vorbeigehen. Warum? Die großen Buchhandlungen in den Metropolen sind die Orte des Standards, des Mainstreams, der Angebote der großen Verlage, der bekannten oder auf Bekanntheit hoffenden Autoren. Die kleinen Buchhandlungen, die es noch gibt, sind oft Orte des Unerwarteten und des Randständigen, vor allem des Lokalen. Man kann in ihren Regalen auf Werke lokaler Geschichtsschreibung stoßen, die nie den Weg in überregionale Medien gefunden – vielleicht auch nicht gesucht – haben. Oft werden die letzten kleinen Buchhandlungen von Menschen betrieben, die die Geschichte ihrer Stadt oder Region als wichtig ansehen und an ihr Freude haben. Mit etwas Glück findet dort der witternde Historiker Beute verschiedenster Art. Mitunter stößt man auf Kuriosa, auf kleine Fußnoten der Weltgeschichte; oder erhält man unerwartete Anregungen; mitunter findet man sogar Mikrogeschichten, die diesen Namen verdienen: sorgfältige Studien von exzellenten, wenn auch erfolglosen Historikern, auf deren Namen und Werke man in den gängigen Katalogen nicht stoßen würde. Ich lasse meinen Blick über meine Bücherregale schweifen und bleibe bei einigen Beispielen hängen. In den Regalen, in die ich alles zum Thema Faschismus und Nationalsozialismus stopfe, stehen zwei Bändchen von Lebenserinnerungen eines Weinbauern aus dem burgenländischen Seewinkel, knapp an der ungarischen Grenze, das erste mittels Kopierer vervielfältigt und geheftet, das zweite schon gedruckt und im Selbstverlag publiziert. Das Dorf ist bis heute dominant evangelisch, was im katholischen Österreich oft mit Sympathien für die Nazis einhergegangen war. Der Weinbauer schildert bis ins Detail die Machtübernahme der örtlichen Nazis am 11. und 12. März 1938; das Burgenland war in den Händen der Nationalsozialisten, bevor die Truppen der Deutschen Wehrmacht am Morgen des 12. März die österreichische Grenze überschritten hatten. ( Ereignis) Der Autor, damals noch nicht ganz 14 Jahre alt, schildert, wie die Gemeindefunktionäre seines Dorfs, allesamt Angehörige der »Vaterländischen Front«, am Mittag des 12. März von örtlichen SA-Männern verhaftet
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und durch eine Menge von neugierigen Zuschauern zum Gemeindeamt geführt wurden. Er hörte, wie andere SA-Männer die Zuschauer zuvor instruierten: »Jetzt müsst ihr gleich alle Pfui schreien und spucken! … Und tatsächlich begann die versammelte Menge ›Pfui‹ zu rufen und tobte. Für mich war dieser Tag kein Jubeltag, denn der zweite Mann, den man vorführte, war mein Vater, der Vizebürgermeister. Ich ging mit Tränen in den Augen heim. Ehrenwerte Männer wurden nun ausgebuht und bespuckt von Leuten, mit denen man nie Streit hatte und immer in Freundschaft verkehrte«. (Nittnaus 2007: 78)
Daneben steht in meinem Regal eine ausgezeichnete, professionellen Standards entsprechende Studie über die jüdische Gemeinde von Frauenkirchen, dem Nachbarort, die aus derselben kleinen Buchhandlung stammt. Der Autor ist Lehrer am Gymnasium der Bezirkshauptstadt und auch er hat sein Buch selbst produziert. Sein Anliegen ist es, auf die Entstehung und das gewaltsame Ende der zahlreichen jüdischen Gemeinden Westungarns – des späteren Burgenlandes – aufmerksam zu machen, »die eine eigenständige Kultur und ausgeprägte Gemeindestrukturen entfalteten, wie sie sich sonst nur in Osteuropa in den berühmten ›Stettln‹ befanden.« (Brettl 2003) In Frauenkirchen lebten um 1890 rund 800 Juden, ein Drittel der Gesamtbevölkerung. Zu Ende kam ihr Gemeindeleben schon in den ersten Monaten nach dem »Anschluss«, als die burgenländischen Juden gewaltsam aus ihrer Heimat vertrieben oder behördlich abgeschoben wurden, lange bevor die systematischen Deportationen in Konzentrations- und Vernichtungslager einsetzten. »Nirgendwo in Österreich und auch nicht in Deutschland wurden die Judenverfolgungen so rasch und hart durchgeführt wie im Burgenland«, liest man in diesem Buch. Gauleiter Portschy habe seinen Ehrgeiz darein gesetzt, das Burgenland als ersten Gau »judenfrei« zu machen, und schon im August 1938 konnte das Gendarmeriekommando Frauenkirchen der Bezirkshauptmannschaft melden, dass nur mehr drei Judenfamilien und eine Jüdin im Ort lebten. (Brettl 2003: 118, 121) Mein Blick schweift weiter zu meinen Büchern zur Migrationsgeschichte, von denen einige aus kleinen Buchhandlungen stammen. Eine von ihnen liegt im Zentrum von Varezzo und scheint überwie-
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gend vom Verkauf von Ansichtskarten und kolorierten Stichen zu leben. Aber in einem kleinen Regal mit lokalgeschichtlicher Literatur stieß ich, als ich das letzte Mal dort war, auf ein Buch eines mir unbekannten Historikers, das in einem mir ebenfalls unbekannten Verlag erschienen war, und die Transhumanz vom toskanischen Apennin, vor allem aus dem Casentino, in die Maremma beschreibt. (Massaini 2005) Das Buch behandelt also eine der traditionellen Migrationsbeziehungen zwischen den Gebirgen und den Küstenebenen des Mittelmeers, die schon für Fernand Braudel den Inbegriff von Strukturen langer Dauer bildeten. ( Mittlere Dauer) Der Autor untersucht die »Geschichte der Menschen und Herden« von der Antike bis in das 20. Jahrhundert. Es gelingt ihm, das Leben der Hirten und ihrer Tiere auf der Wanderung, am Zielort und in der Heimat in großer Dichte und mit einer erstaunlichen Fülle und Vielfalt historischer Quellen, u.a. aus den Registern der toskanischen Zollbehörden, zu beschreiben: die genaueste und konkreteste Darstellung der Transhumanz, die ich jemals gelesen habe. ( Quelle) Auf die andere kleine Buchhandlung, der ich Einsichten in die Migrationsgeschichte verdanke, bin ich in Locarno gestoßen. Der Tessin war über Jahrhunderte hinweg von einer außerordentlich starken saisonalen Arbeitsmigration geprägt, und auch hier ging es um das Verhältnis von Gebirgen und Ebenen, aber auf ganz andere Weise, als sich das Braudel dachte. Die »Geschichte des Kantons Tessin«, auf die ich dort zufällig stieß, macht das ungeheure Ausmaß und die überraschende Vielfalt vor- und frühmoderner Arbeitsmigration auf das Anschaulichste sichtbar. Mein Lieblingszitat aus diesem Buch, das ich gerne in meine einschlägigen Vorträge und Vorlesungen einfließen lasse, stammt von dem Schweizer Naturforscher Lavizzari, der im Jahr 1850 die Tessiner Berge durchstreifte. Auf einer hochgelegenen Alm an der Grenze zu Graubünden traf er einen Schäfer aus dem Bleniotal, der ihm Folgendes erzählte: »Seit Jahren bin ich an die Stille der Berge wie an den Lärm der großen Städte gewöhnt. Im Sommer bin ich Hirt der Herde, die Sie da sehen, und die mich in Unruhe versetzt, wenn ich sie einen Augenblick aus den Augen verliere. Wenn der Winter naht, reise ich nach Paris und verkaufe Kastanien. Ich kenne auch Marseille, Nimes und Fontainebleau, wo ich viele Winter verbracht und mei-
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nen Beruf ausgeübt habe. Und doch bin ich immer so arm, wie Sie mich hier sehen. Nicht eines dieser Schafe gehört mir, und meine Mühsale werden nur kläglich entschädigt.« (Ceschi 2003: 109f.)
Der Autor beschreibt die Arbeitsmigranten des Winters, wie den gerade zitierten Schäfer oder die Kaminfeger, in der Hauptsache Kinder, die gegen Anfang November in die großen Städte Norditaliens und Nordeuropas aufbrachen. Er behandelt aber auch die Arbeitsmigranten des Sommers, die sich als Bauarbeiter in den großen europäischen Städten verdingten oder als Messerschleifer unterwegs waren. Nicht zuletzt lenkt er unseren Blick auf diejenigen Täler, die das ganze Jahr hindurch junge Männer, vor allem als Träger, nach Genua, Florenz, Livorno oder Pisa entsandten, oder deren Bewohner überall in Europa Vogelkäfige, Mausefallen, Perlenketten, Würste und viele andere Waren verkauften. In manchen Orten des Tessin waren im frühen 19. Jahrhundert bis zu 80 Prozent der 18- bis 40-jährigen Männer zeitweilig als Wanderarbeiter abwesend, und ihre verlassenen heimatlichen Arbeitsplätze nahmen saisonale Zuwanderer aus der Poebene ein. Im 19. Jahrhundert dehnten die Tessiner ihre Wanderrouten aus. Aus manchen Tälern zog es die Migranten nach Kalifornien, aus anderen nach Argentinien, aus wieder anderen nach Australien. Was findet man also in den kleinen Buchhandlungen? Sind es lokale Geschichten? Ohne Zweifel, aber viele dieser lokalen Geschichten können allgemeine Erkenntnisse fördern. Die burgenländischen Beispiele, die ich oben zitiere, tragen zum Verständnis der nationalsozialistischen Herrschaft wie zur Erklärung der unheilvollen Dynamik der Judenverfolgung bei, an deren Ende der Holocaust stand. Das toskanische Beispiel macht ökonomische und soziale Strukturen (be-) greifbar, die von der Antike bis in das 20. Jahrhundert, an die drei Jahrtausende lang, »das Mittelmeer und die mediterrane Welt« (Fernand Braudel) geprägt hatten. In den kleinen Buchhandlungen kann man verborgene Schätze finden. Wenn deren Autoren ausgebildete Historiker sind, dann wissen sie auch, mit welchen Themen sich die aktuelle internationale Forschung beschäftigt, und im glücklichen Fall verbinden sie die Liebe zum lokalen Besonderen, ja zur Anekdote, mit allgemeinen Fragen.
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Der Historiker von außen, der ebenfalls allgemeine Fragen im Kopf hat, profitiert vom Enthusiasmus und vom Fleiß der örtlichen Geschichtsschreiber, wenn er denn auf sie neugierig ist und sie sucht. Oft gleichen Lokalgeschichten den fehlenden Steinen eines Puzzles, die notwendig sind, um das Gesamtbild zu vollenden. Oft wollen sich lokale Fallstudien aber auch nicht in vertraute Gesamtbilder einfügen und zwingen dazu, etabliertes Wissen zu hinterfragen und neu zu durchdenken. Im Fundus der kleinen Buchhandlungen kann man auf überraschende große Zusammenhänge stoßen wie auf viele kleine Details, die geeignet sein können, bisherige Kenntnisse zu erweitern oder zu illustrieren, zu modifizieren oder zu korrigieren. Wenn die Historiker eher Bücherfresser sind als Menschenfresser, dann finden sie in den kleinen Buchhandlungen zwar nicht die grande cuisine der Geschichtswissenschaft, aber wohlschmeckende Nahrung mit viel Fleisch und Blut.
L ITERATUR Brettl, Herbert (2003): Die jüdische Gemeinde von Frauenkirchen, Oberwart: edition lex liszt 12. Ceschi, Raffaello (2003): Geschichte des Kantons Tessin, Frauenfeld: Huber & Co. AG. Massaini, Moreno (2005): Transumanza dal Casentino alla Maremma. Storie di uomini ed armenti lungo le antiche dogane, Rom: Aldo Sara Editore. Nittnaus, Johann (2007): Geschichten aus Gols. Wie ich es sah und erlebte, Gols: Selbstverlag des Autors.
Diagramme L IONEL G OSSMAN
In den vergangenen Jahrzehnten sind grafische Darstellungen zu einem wichtigen Kennzeichen historischer Fachliteratur geworden. Die uns heute so vertrauten Fluss-, Balken- und Tortendiagramme gehen auf William Playfair (1759-1823) zurück, den jüngsten Sohn eines presbyterianischen Priesters in einem Dorf im nordöstlichen Schottland. Playfair wurde nach einer Lehre bei dem berühmten schottischen Ingenieur James Watt Journalist und Publizist mit prononcierten Ansichten zu ökonomischen Fragen. Er war ebenfalls in einige erfolglose und eher dubiose Geschäfte verwickelt. Seine Karriere war zwar wechselhaft, seine Grafiken aber waren, wie sich herausstellen sollte, visionär, zumal sie dem zunehmenden Interesse an Statistik und statistischen Darstellungen in der Moderne entsprachen. Dieses Interesse mag zunächst die Versuche der Herrschenden reflektiert haben, Kontrolle über ihre Territorien und Untertanen zu erlangen. Playfair und seinen Zeitgenossen dagegen war klar, dass die Statistik als Teil des Projekts der Aufklärung eine wichtige Rolle bei der »Verbesserung« der Gesellschaft spielen konnte, genauso wie sie die Forderungen einer aufgeklärten Geschichtsschreibung erfüllte. Diese neue Geschichtsschreibung sollte sich nicht mehr nur für den Staat und die dramatischen Taten der Krieger und Eroberer interessieren, sondern sich vielmehr Phänomenen der Gesellschaft zuwenden. Das englische Wort statistics war aus dem Deutschen übernommen worden, bekam allerdings eine etwas andere Bedeutung. So erklärte der Begründer und Herausgeber des berühmten 21 Bände um-
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fassenden Statistical Account of Scotland (Edinburgh 1791), Sir John Sinclair, in Deutschland untersuche die Statistik vor allem die politischen Kräfteverhältnisse im Staat, wohingegen sein Verständnis des Begriffs den gesamten Zustand der Gesellschaft umfasse, so etwa auch die Zufriedenheit der Einwohner des Staates und die Möglichkeiten der Verbesserung des Zusammenlebens. ( Kliometrie) In der Aufklärungsgeschichtsschreibung lassen sich mit der Veröffentlichung einiger Werke zur Finanzgeschichte und Preisentwicklung Beispiele einer auf Statistik basierenden Geschichtsschreibung finden. Die aus historiografischer Perspektive vielleicht wichtigste Studie war Sir Frederick Morton Edens The State of the Poor (3 Bände, 1797). In einem mehr als 100 Quartseiten umfassenden Anhang gab Eden eine erschöpfende, 60-seitige tabellarische Darstellung, in der er für die Zeit von 1125 bis 1619 im Abstand von je drei bis vier Jahren die Preise für Nahrungsmittel auflistete, also für verschiedene Getreide, Milch und Fleischprodukte, Gewürze, Getränke usw.; zudem gab er in drei parallelen Spalten die Einkommen für verschiedene Formen von Arbeit und typische Tätigkeiten an. Vervollständigt wurde diese Darstellung durch zusätzliche Tabellen, die Preise und Einkommen von 1229 bis 1796 gegenüberstellten. Indirekt nahm er damit Bezug auf die Debatten zwischen David Hume und Robert Wallace, in denen es um einen Vergleich historischer und gegenwärtiger Gesellschaften ging und damit letztlich um Fragen nach dem Fortschritt. In diesem intellektuellen Kontext veröffentlichte Playfair seinen bahnbrechenden Commercial and Political Atlas (1786). Dieser Atlas beinhaltete keine Karten, sondern Flussdiagramme (und die Tabellen mit den dazugehörigen Daten), in denen die Entwicklung von Englands Exporten und Importen dargestellt wurde, sowie die Handelsbilanz mit den wichtigsten Europäischen Staaten, Russland, Afrika und Ost- und Westindien, den Bermudas, Nordamerika, Grönland, Irland und den Kanalinseln seit 1700. Der Großteil der Diagramme zeigte auf einer Achse den Geldwert (Pfund Sterling) und auf der anderen Achse die Zeit an. Ein Diagramm, das die schottische Import-Export-Bilanz des Jahres 1780/81 mit den Bilanzen von 17 europäischen und außereuropäischen Ländern verglich, verfügte über keine Zeitachse. Dieser erste bekannte Fall des heute so geläufigen Balkendiagramms wurde deshalb von
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seinem Erfinder als »weitaus weniger nützlich« bewertet. (Playfair 1786/2000: 101) Nichtsdestotrotz können, wie wir heute wissen und wie Playfair wenige Jahre später selbst in einem gefeierten Werk demonstrierte, Balkendiagramme auch Zeitachsen abbilden. In der Soziologie, Ökonomie und schließlich auch der Geschichtswissenschaft gelten sie als eine zweckmäßige und effiziente Form, um eine synchrone Darstellung verschiedener Datensätze, die miteinander in Beziehung stehen, zu ermöglichen. Tortendiagramme verwendete Playfair erstmals in seinem Buch The Statistical Breviary (1801). Diese sollten durch ihre ähnliche Struktur Vergleiche anschaulich machen, die sonst schwer wahrnehmbar geblieben wären, schlossen aber bei der Darstellung der »Wichtigsten Europäischen Staaten« keine zeitliche Dimension ein. Diese könnte lediglich durch die Gegenüberstellung zweier Diagramme, die zeitlich voneinander unterschiedliche Situationen darstellen, erreicht werden. Die Grafiken in den drei Ausgaben von Playfairs Atlas sind den heute gebräuchlichen erstaunlich ähnlich. Sie enthalten Schraffierung, Schatten, Farbkodierung und Netze mit größeren und kleineren Skalen. Tatsächliche, fehlende und hypothetische Daten werden dargestellt, die Form der Linie, durchgehend oder unterbrochen, differenziert unterschiedliche Kurven. Alle haben einen beschreibenden Titel, die Achsen sind bezeichnet und nummeriert, Netze strukturieren die Grafiken. Es dauerte einige Zeit, bis man das Erklärungspotenzial von Playfairs Grafiken erfasste. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurden jedoch Grafiken gebräuchlich. Allerdings nicht durch Historiker – gewiss nicht durch jene, die Geschichte immer noch für eine Form von Literatur hielten ( Kunst), und auch nicht durch die Vertreter der traditionellen politischen Geschichte, die zu einer der Gründungserzählungen der Nationalstaaten geworden war ( Nationalgeschichte). Die Pioniere der grafischen Darstellung im 19. und frühen 20. Jahrhundert waren Soziologen (André-Michel Guerry), Demografen (Emile Levasseur), Statistiker (Michael G. Mulhall), eine berühmte Krankenschwester (Florence Nightingale), ein Ingenieur (CharlesJoseph Minard) und schließlich eine Reihe von Ökonomen (Henry
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Ludwell Moore, Arthur Bowley, N. D. Kondratieff, Wesley C. Mitchell, Michal Kalecki und Joseph Schumpeter). Die ersten, die Diagramme für die Darstellung historischer Argumente verwendeten, waren Ökonomen, Soziologen und Demografen. Mit der fundamentalen Neuorientierung der Historiografie in Frankreich in Reaktion auf die Herausforderung durch die neugegründeten Disziplinen der Soziologie und Ökonomie wurde die Verwendung von Diagrammen in historischen Texten zur Normalität. Entscheidend war der Artikel des Durkheim-Schülers François Simiands »Historische Methode und Sozialwissenschaft«, der im Jahr 1903 in Henri Berrs kurz zuvor gegründeter innovativer Revue de synthèse erschien: Simiand kritisierte die drei »Idole« des traditionellen narrativen Historikers: das »Idol des Politischen« – die Fixierung auf den Staat und die politische Geschichte und das Desinteresse an der Gesellschaft; das »Idol der Einzelpersönlichkeit« – die eingefleischte Angewohnheit, Geschichte als die Geschichte von Individuen zu verstehen; und das »Idol der Chronologie« – die Angewohnheit, sich in der Suche nach und der Untersuchung der Ursprünge zu verlieren. (Simiand 1994) Im Anschluss an Simiand schuf dessen Schüler Ernest Labrousse mit seinem zweibändigen Werk Esquisse du mouvement des prix et des revenus en France au XVIIIe siècle (2 Bände, Paris 1933) und der zehn Jahre später folgenden Studie La crise de l’économie française à la fin de l’Ancien Régime et au début de la Révolution (Paris 1944) die Voraussetzungen dafür, dass Diagramme und Grafiken sich als legitimer und wertvoller Teil des Schreibens von »Geschichte« etablierten. Er war es, der »den Übergang von der ›Qualität‹ zur ›Quantität‹ in der Geschichtswissenschaft vollzog«, wie Emmanuel Le Roy Ladurie seinen Kollegen bei dem jährlichen Treffen der American Historical Association 1967 erklärte. Dank seiner Forschungen zu Preisen und Einkünften gelang es Labrousse, »die lange Dauer, die Entwicklung von Strukturen und die Erforschung von Ereignissen in ein einheitliches Ganzes zu integrieren«. (Le Roy Ladurie 1973) Schon bald galt er als »der Initiator einer auf Statistiken, Quantifizierungen und Lang- und Kurzzeitzyklen gegründeten Wirtschaftsgeschichte«. (Dosse 1987) ( Mittlere Dauer) Seit Labrousse führte die quantitative Geschichtsschreibung und ihre Anwendung zu einer weiten Verbreitung von grafischen Darstel-
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lungen auch in der Geschichtswissenschaft (Pierre Chaunu, Louis Dermigny, Henri-Jean Martin, Lawrence Stone, Michel Vovelle). Das möglicherweise aussagekräftigste Beispiel für diese Verschiebung mag ein Vergleich der ersten und zweiten Ausgabe von Fernand Braudels Das Mittelmeer und die mediterrane Welt geben. Die erste Auflage, die im Jahr 1949 bei Armand in Paris erschien, enthielt keine Grafiken und lediglich zwei oder drei kleine Tabellen – sei es aufgrund der Druckkosten in den Nachkriegsjahren oder weil der Autor sie nicht beabsichtigt hatte. Die zweite revidierte und korrigierte Auflage von 1966 jedenfalls war gespickt mit Grafiken und Bildern. Und Braudels spätere Arbeiten folgten dem Muster der zweiten Auflage. Diagramme und grafische Darstellungen sind natürlich nicht in jedem Zweig historischer Forschung notwendig, aber in weiten Bereichen der modernen Geschichtswissenschaft wurden sie zu einem geläufigen und unentbehrlichen Werkzeug der Analyse und Darstellung. Aus dem Amerikanischen von Mario Wimmer
L ITERATUR Dosse, François (1987): L’histoire en miettes: des Annales à la »nouvelle histoire«, Paris: La Découverte. Funkhauser, H. G. (1937): »Historical development of the graphical representation of statistical data«, in: Osiris, 3, S. 269-404. Le Roy Ladurie, Emmanuel (1973): »Du quantitative en histoire: la VIème section de l’Ecole pratique des Hautes Etudes«, in: Ders., Le Territoire de l’historien, Paris: Gallimard. Playfair, William (1801): The Statistical Breviary; Shewing, on a Principle Entirely New, the Resources of every State and Kingdom in Europe; Illustrated with Stained Copper-Plate Charts, representing the Principal Powers of Each Distinct Nation with Ease and Perspicuity. London: Wallis. Ders. (1797): The State of the Poor, or a history of the labouring classes in England, from the Conquest to the present period; in which are particularly considered, their domestic economy, with respect to diet, dress, fuel, and habitation; and the various plans
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which, from time to time, have been proposed and adopted for the relief of the poor (3 Bände). Ders. (1786/2000): The Commercial and Political Atlas and Statistical Breviary, hg. v. Howard Wainer/Ian Spence, Cambridge: Cambridge University Press. Simiand, François (1994): »Historische Methode und Sozialwissenschaft«, in: Matthias Middell/Steffen Sammler (Hg.), Alles Gewordene hat Geschichte. Die Schule der Annales in ihren Texten 1929-1992, Leipzig: Reclam, S. 168-232. Spence, Ian (2005): »No Humble Pie: The Origin and Use of a Statistical Chart«, Journal of Educational and Behavioral Statistics, 30, S. 353-68.
Diskursanalyse P HILIPP S ARASIN
Es ist still geworden um die Diskursanalyse. Zwar gilt nach wie vor alles und jedes als »Diskurs«, was doch schlicht eine Diskussion oder eine Debatte ist. Aber der Anspruch, in Foucault’scher Manier die Regelmäßigkeiten von Aussagen analytisch einzukreisen und historiografisch zum Sprechen zu bringen, erscheint als ziemlich démodé. Der iconic turn, der practical turn, die actor-network-theory und die Rekonstruktion von Experimentalsystemen haben der Diskursanalyse in den letzten beiden Jahrzehnten auf dem Marktplatz der hippen Theorieangebote erkennbar das Wasser abgegraben. Oder täuscht dieser Eindruck, ja ist die Stille, die die Diskursanalyse gegenwärtig umgibt, nicht vielmehr das Zeichen ihres Erfolgs? Denn die diskursanalytische Annahme, dass Aussagen in einem speziellen »thematischen« Feld und während einer bestimmten Epoche nicht jedes Mal von besonders geistbegabten Autoren neu erfunden werden, sondern vorgegebenen Schemata und Mustern einer bestimmten Art und zeitlicher Begrenztheit folgen, scheint sich, wenn auch meist ohne große methodische oder systematisierende Ansprüche, im weiten und zerklüfteten Feld der heutigen Geschichtswissenschaft doch vielfach durchgesetzt zu haben. Obwohl die treuherzige Frage nach den tiefen, »eigentlichen« Absichten und »wahren« Überzeugungen der historischen Schreibenden und Handelnden nicht gänzlich verstummt ist, wirkt eine solche Suche nach den »Intentionen« des Autors heute erst recht veraltet. ( Subjekt)
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Enfin!, möchte man ausrufen. Da haben die beharrlichen Hinweise auf die Tatsache, dass Menschen sich im Raum einer Sprache bewegen und dass diskursive Muster ihr Denken engen Schranken unterwerfen, die sie im Moment des Aussagens nicht zu durchschauen vermögen, also doch Wirkung gezeigt. Offenbar war es nicht ohne Effekt, dass speziell in den 1980er Jahren den Historikerinnen und Historikern in Deutschland gezeigt wurde (auch wenn man sich damit bei den Leittieren der Zunft unbeliebt machte), wie sehr die französische Geschichtswissenschaft ihre Scheu vor der Sprachanalyse schon seit langem abgelegt hatte, und dass histoire et linguistique ein aufregendes neues Projekt einer theorieorientierten Geschichtswissenschaft werden könnte. Dieser deutsch-französische Theorietransfer war allerdings ein Transport vermischter Handelswaren. Denn die spezifisch linguistischen Projekte und Fragen wiesen trotz gleichlautender Zolldeklarationen und Einreisepapiere nur sehr beschränkte Gemeinsamkeiten mit Michel Foucaults historischer Diskursanalyse auf. Diese beschäftigt sich weit weniger mit der Sprache denn mit der genuin historischen Frage, warum aus der schier unendlichen Vielzahl aller denkbaren Sätze, die eine Sprache − und die Regeln der Logik − zu formulieren erlauben, in einer bestimmten Epoche und in einem bestimmten Feld de facto nur ein paar wenige tatsächlich gesagt wurden, und welches die »Existenzbedingungen« (Foucault) dieses beschränkten, historisch singulären Sprechens gewesen sind. ( Tunnelblick) Das heißt nicht, dass es keine Überschneidungen gibt. Sowohl der historischen Diskursanalyse wie auch den verschiedenen linguistischen oder auch semiotischen Ansätzen, die im Feld historischer Untersuchungen verwendet werden können, ist die Annahme gemeinsam, dass dem Sprechen als Sprache ebenso wie als Diskurs eine eigentümliche »Dichte«, ja »Materialität« zukommt, die verhindert, wie Roland Barthes dies einmal formuliert hat, dass man durch die Quellen hindurch wie durch ein Glas auf die vergangene Wirklichkeit schauen könne. ( Quelle) Linguisten und Semiotiker wissen von der Eigengesetzlichkeit der Sprache und Zeichen. Foucault seinerseits hat davon gesprochen, dass die historischen Texte, unsere »Quellen« (von denen wir berufsbedingt hoffen, dass sie wasserhell sprudeln mögen) weniger als »Dokumente« zu verwenden seien, die nur insofern von Belang sind, als
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sie auf vergangene Realitäten verweisen ( Realismus), sondern als »Monumente«, die in ihrer Materialität, ihrer Medialität und ihrer diskursiven Ordnungsleistung empirisch erfasst und beschrieben werden müssen. Erst dann könne man sich daran machen, »verstehen« zu wollen, »wovon« sie sprechen. Aber dieses Verstehen verdankt sich keiner gelehrten Intuition und keiner »Horizontverschmelzung« im Stile der Gadamer’schen Hermeneutik, sondern einer die vertraute Gestalt von Texten, so Foucault, »zerschneidenden« Analyse. Es ist ein doppeltes caveat vor dem schnellen Verstehen, das man als Foucaults Beitrag zur Methode historischer Untersuchungen bezeichnen könnte: Texte nicht als jene unverfälscht eigenen Äußerungen zu nehmen, als die sie ihr Autor uns zu verstehen geben will, bevor wir nicht analysieren, welchen diskursiven Ordnungen sich die Logik ihrer Aussagen und Argumente verdanken; sowie, Texte nicht zu verstehen versuchen, bevor wir nicht schon rekonstruiert haben, von welchen Materialitäten und sozialen Bedingungen sie abhängen, von welchen Konstellationen der Macht und von welchen Medien. ( Materialistische Geschichtsschreibung) Kulturhistoriker wie Roger Chartier haben diesen Gedanken aufgegriffen, um insbesondere das Konzept der »Mentalität«, wie es die ältere Tradition der Schule der Annales vertreten hat, zurückzuweisen: Gegen diesen als diffus empfundenen Begriff mit seinen unklaren historischen Kontinuitätsannahmen stützte sich Chartier neben einem elaborierten medienhistorischen, buchgeschichtlichen Ansatz nicht zuletzt auf das Foucault’sche Diskurskonzept, um die Begrenztheit diskursiver Felder mitsamt ihren medialen Prozessen und den darin involvierten Autoren, Verlegern und Lesern empirisch beschreiben zu können. In einer trotz aller Unterschiede vergleichbaren Weise wurde auch eine Verbindung der historischen Diskursanalyse mit der neuen, stark historisch orientierten neuen deutschen Medientheorie im Anschluss an die Arbeiten von Friedrich Kittler hergestellt. Doch diese gleichsam medientechnisch erneuerte Diskursanalyse wird zwar in den Kulturwissenschaften vielfältig verwendet, hat aber im Mainstream der Geschichtswissenschaft bislang wenig Freunde gefunden. Ihr Potenzial bleibt für Historiker immer noch auszuschöpfen. Doch die Rede vom »Diskurs« hat neben dieser eben skizzierten eher methodischen Relevanz auch vielfältige philosophische Bedeu-
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tungen. Unter anderem impliziert sie erstens den Zweifel an der »Stifterfunktion« (Foucault) des Subjekts und seines Bewusstseins: Bedeutung und Sinn können aus diskurstheoretischer Sicht ebenso wenig auf Intentionalität und Bewusstseinsphänomene zurückgeführt werden, wie Subjekte länger als einheitlich und souverän zu denken sind. Zweitens ist mit der historischen Diskursanalyse ein Bild von Geschichte verbunden, in dem die Einheitlichkeit und Kontinuität – letztlich die Kontinuität eines Geistes – durch Brüche und Schwellen ersetzt wird, die zwischen Diskursen und epistemischen Formationen sich auftun. Drittens unterstellt Diskursanalyse den Diskursen Realitätsmächtigkeit, das heißt deren Fähigkeit, die Dinge, von denen Diskurse »sprechen«, als epistemische Dinge selbst hervorzubringen. Viertens erlaubt die Metapher der »Archäologie«, mit der Foucault die Arbeit des Diskursanalytikers umschreibt, die Bestimmung von Diskursen als Kopiermaschinen, die über gleichsam festeingestellte Strukturierungsmuster eine Zeit lang – und entsprechend in einer »Schicht« archäologisch freizulegen – Aussagen-Material ähnlicher Art produzieren, dessen Streuung historischer Splitter der Analytiker beschreibt. Foucault hat fünftens diese diskursiven Kopiermaschinen in Die Ordnung des Diskurses unüberhörbar in Beziehung zur Molekulargenetik François Jacobs gesetzt. Auch die genetischen Programmcodes von Jacobs Bakterien, so erläuterte Foucault in einer kurz vor der Inaugural-Vorlesung vom Dezember 1970 erschienenen Buchbesprechung, erzeugen ihre Objekte ohne Rekurs auf einen »Sinn«, verbreiten sich als Kopien und verändern sich durch Kopierfehler und Rekombinationen bei ihrem »Gebrauch«, das heißt bei ihrer Reproduktion. Daher sei die Haltung sowohl des Bakteriengenetikers wie des Archäologen bzw. des Diskursanalytikers dieselbe: die »Ungeniertheit«, mit der die Prätentionen des »Lebens«, der »Bedeutung« und des »Sinns« unterlaufen werden.
L ITERATUR Barthes, Roland (1968): »Historie und ihr Diskurs«, in: alternative 62/63, S. 171-180.
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Chartier, Roger (1994): »Die Welt als Repräsentation«, in: Matthias Middell/Steffen Sammler (Hg.), Alles Gewordene hat Geschichte. Die Schule der Annales in ihren Texten 1929-1992, Leipzig: Reclam, S. 320-347. Foucault, Michel (2002): »Wachsen und vermehren«, in: Ders., Schriften, Band 2: 1970-1975, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 123128. Ders. (2001): »Antwort auf eine Frage«, in: Ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Band 1: 1954-1969, hg. v. Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 859-886. Ders. (1991): Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch. Kittler, Friedrich A. (1995): Aufschreibesysteme 1800-1900, 3. vollst. überarb. Auflage, München: Fink. Sarasin, Philipp (2003): Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Schöttler, Peter (1997): »Wer hat Angst vor dem ›linguistic turn‹?«, in: Geschichte und Gesellschaft 23, 1, S. 134-151.
Ereignis J EAN -L OUIS F ABIANI
In einem 1995 veröffentlichten Text (»Sequence analysis: New Methods for old ideas«) verkündet Andrew Abbott, dass in den Sozialwissenschaften eine »stille Revolution« im Gange sei: Von den Einheiten wenden wir uns den Kontexten, von den Attributen den Verbindungen, von den Ursachen den Ereignissen zu. Man kann diesen Wandel anhand der Definition von Fall illustrieren. Der standardisierte soziologische Ansatz behandelt die Fälle, als wären sie voneinander unabhängig und meistens auch unabhängig von ihrer Vergangenheit. Gleichzeitig plädiert William Sewell Jr. in einem Buch, das von dem aufkommenden Interesse der anglofonen Welt an der historischen Soziologie zeugt, für eine Ereignissoziologie (eventful sociology). Diese definiert Ereignis als eine Kategorie von Vorfall, die die Strukturen signifikant verändert, im Gegensatz zu Interaktionen oder Interaktionssequenzen, die die Strukturen festigen. Die historische Ereigniskonzeption steht einer Konzeption entgegen, die man als nomologisch bezeichnen könnte und die die Uniformität der Kausalgesetze zu allen Zeiten und die Unabhängigkeit jeder zeitlichen Sequenz voraussetzt. Die neuen Formen des soziologischen Interesses am Ereignis werden sehr schön durch die berühmt gewordene Analyse des Sturms auf die Bastille von William Sewell Jr. verdeutlicht. Man kann das historische Ereignis charakterisieren mit dem Begriff des kulturellen Wandels: Der Sturm auf die Bastille, seine Interpretation und seine Umwandlung in Erinnerung können als symbolische Handlungen be-
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zeichnet werden. Das Ereignis setzt die Existenz von lokalen Bedingungen und von einer besonderen emotionalen Intensität voraus, aber es stützt sich auch auf die kollektive Kreativität der Akteure: Es situiert sich dort, wo Improvisation und Ritual aufeinandertreffen, und verweist so auf den Begriff der Erregung, den Durkheim in Die elementaren Formen des religiösen Lebens entwickelt hat, um die Produktivität des religiösen Ereignisses auf eine andere Weise zu beschreiben. Für Sewell ist das Ereignis selbst Produzent von Ereignissen, die nicht nur mit dem Gedenken oder der Wiederholung zu tun haben: Bei sozialen Prozessen größerer Dimension muss man immer davon ausgehen, dass sie dauerhaft von Mikroveränderungen beeinflusst werden, die in lokalen und flüchtigen Situationen entstehen. (Sewell 1999) Man könnte sagen, dass die eventful sociology eine Intensivierung der Weber’schen Epistemologie betreibt: Wie der Begriff des Kontrafaktischen, der heute in den Geisteswissenschaften reaktiviert wird, zeugt das Interesse für das Ereignis von der Aktualität und Produktivität des Denkens von Max Weber. ( Kontrafakten) Das Ereignis geschieht. Es kann lokalisiert und datiert werden. ( Realismus) Es ist ein kleines Puzzleteil vom Lauf der Welt. Die mediterrane Welt ist kein Ereignis. Die Schlacht bei Marathon ist eins. Das Mittelmeer von Fernand Braudel auch. Das Ereignis kann als pure Singularität behandelt werden, als etwas, das man kein zweites Mal sehen wird. Genauso gut kann es als Serie betrachtet werden: Dann enthält der Seriencharakter den Schlüssel zur Interpretation. Da es geschieht, kann das Ereignis erwartet werden: Die Tour de France ist ein paradigmatisches Ereignis, dessen saisonale Wiederkehr ein wichtiger gesellschaftlicher Orientierungspunkt ist. Seit einigen Jahren, infolge der Zunahme der Dopingskandale, rückt ein anderes Ereignis in den Bereich des Möglichen, das früher unvorstellbar gewesen wäre: das Ende der Tour. Es gibt auch Ereignisse im Ereignis. Das Festival von Cannes ist der Inbegriff einer wiederkehrenden Veranstaltung, aber es ist auch der Ort ganz erstaunlicher Ereignisse. Wenn zum Beispiel der Regisseur Maurice Pialat, dessen Film Die Sonne Satans im Mai 1987 das Festival aufgewühlt und das Publikum gespalten hat, während der Preisverleihung dem ihn ausbuhenden Publikum zuruft: »Wenn ihr
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mich nicht liebt, kann ich euch sagen, ich liebe euch auch nicht« und die Worte mit einer nach oben gereckten Faust unterstreicht. Das unvorhergesehene Ereignis geschieht mit einer Brutalität, die die gewohnten Interpretationsrahmen erschüttert. Man muss noch einmal unterscheiden zwischen dem, was geschieht, und dem, was unerwartet eintritt. Nach einer Minimaldefinition wäre das Ereignis etwas, das sich, zumindest durch ein paar charakteristische Züge, vom normalen Lauf der Dinge unterscheidet. Deshalb ist dieser Artikel kein Ereignis: Er fügt sich ein in eine Mischung, von der man hofft, dass sie nicht explosiv ist. Aber kann man sich dessen sicher sein? Ein marxistischer oder strukturalistischer Historiker könnte sich verwahren gegen ein solches Interesse am Ereignis. Er könnte darin die Rückkehr einer sehr alten Art der Geschichtsschreibung sehen, die Wahl einer vorwissenschaftlichen Erzählweise. Man könnte ihn damit beruhigen, dass der 18. Brumaire des Louis Bonaparte ein großes Beispiel der historischen Ereignissoziologie ist, auch wenn er den Zwängen der Monografie und der deskriptiven Singularität entgeht. ( Materialistische Geschichtsschreibung) Voraussetzung für das Einfügen eines Ereignisses in die Geschichte ist das Identifizieren einer Gedächtnisspur, deren Status natürlich wiederum davon abhängt, woraus sie sich zusammensetzt und wie sie erzählt wird. ( Gedächtnis) Stellt Fabrice in Waterloo fest, dass ein Ereignis stattfindet? Man kann es bezweifeln. Und was die Bastille angeht, so weiß man, dass Ludwig XVI. nichts bemerkt hat. Dieser Befund wird aber sofort eingeschränkt, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass das Tagebuch des Königs den Schlüssellochaffären den größten Platz eingeräumt hat. Das »Nichts«, das so oft dazu gedient hat, die mangelnde politische Intelligenz des Königs zu stigmatisieren, bezieht sich vielleicht nur auf eine Frage des Schlüssels. Das vom König ignorierte Ereignis ist im Übrigen nur für denjenigen ein Ereignis, der den Fortgang der Ereignisse kennt. Die klassische Soziologie, insbesondere in ihrer Durkheim’schen Form, hat immer gewisse Schwierigkeiten mit dem Begriff des Ereignisses gehabt. Im Bestreben, sich ihrer Daseinsberechtigung als Wissenschaft zu versichern, bekräftigt die Soziologie, sie beschäftige sich nicht mit dem, was geschieht oder unerwartet eintritt, sondern viel-
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mehr mit dem, was wiederkehrt: den Gesetzmäßigkeiten, Frequenzen und Intensitäten. So betrachtet, kann es keine Ereignissoziologie geben. Durkheims Selbstmord hat zum Tod von Marilyn Monroe nichts zu sagen: Handelt es sich um einen altruistischen Selbstmord oder um einen anomischen Selbstmord? ( Subjekt) In Durkheims Buch gibt es keine Eigennamen. Norma Jean ist dort von Anfang an aufgelöst in eine suizidogene Strömung: Sie wird in Serie gegeben, bevor man überhaupt bemerkt hat, dass sich eine wasserstoffblonde Frau in einem konkreten Raum-Zeit-Kontext das Leben genommen hat. Wenn die energische Mae West noch unter uns weilte, würde sie unverblümt sagen: »Aber Marilyn hat sich doch nicht das Leben genommen, so ein hübsches Mädchen nimmt sich nicht das Leben. Sie ist ganz einfach umgebracht worden.« Seit Ende der 1960er Jahre wirft man Durkheim oft vor, sich diese Frage nie gestellt zu haben: Die Selbstmörder Ihrer grauen Statistiken, Herr Professor, waren sie wirklich Selbstmörder? Und haben einige der gemütlichen Toten, derjenigen, die eines natürlichen Todes gestorben sind, sich nicht vielleicht umgebracht? Die ereignishafte Singularität ist das Sandkorn, das das nomologische Gebäude der aufkommenden Soziologie ins Wanken bringt. Um von Selbstmordtypen oder suizidogenen Strömungen sprechen zu können, muss man alle Mikroereignisse vergessen, die ein Individuum zum Selbstmord führen. Im Großen und Ganzen hat Durkheims Analyse allerdings ihre Solidität bewiesen, wenn man nicht zu genau auf die Konstitutionsweisen und Vergleichbarkeit der Daten schaut. ( Stichprobe) In dieser Hinsicht ist das Ereignis ein mächtiger Störfaktor für die Sozialwissenschaften: Man weiß sowohl, dass diese keinen Zugang zu einem rein nomologischen Universum haben, als auch, dass das Sammeln singulärer Ereignisse schnell zur absurden Leidenschaft wird. In der Soziologie entwickeln wir unsere typischsten Aussagen, indem wir unsere Objekte standardisieren, und wir charakterisieren die Fälle durch Eigenschaften (Klasse, Rasse, Gender, Bürokratisierung, Rationalisierung, etc.), die wir mit Hilfe von Kausalketten miteinander verbinden. Dieses Modell, das das klassische Zeitalter der Soziologie repräsentiert, wird heute in Frage gestellt, weil es von einem Ertragsrück-
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gang betroffen zu sein scheint. Andrew Abbott hat gezeigt, dass ein zunehmendes Gefälle besteht zwischen den verführerischsten zeitgenössischen Theorien unserer Disziplinen, die den Akzent auf die Interaktionen und Prozesse legen, und den soziologischen Standardpraktiken, die sich auf Korrelationsberechnungen gründen. Dies ändert jedoch nichts daran, dass wir noch keine überzeugende Theorie oder Methodologie für eine auf ein geeignetes statistisches Modell gestützte sequentielle Analyse haben. Die Rückkehr zum Ereignis ist zugleich ein Versprechen (eines neuen Zeitalters der Modellbildung) und eine mögliche Regression (die Beschränkung auf die Singularität, auf das Mikrologische, auf die Chronik). Es bleibt noch etwas zu tun für die Adepten der historischen Soziologie. Aus dem Französischen von Dorit Gesa Engelhardt
L ITERATUR Abbott, Andrew (1995): »Sequence analysis: New Methods for old ideas«, in: Annual Review of Sociology 21, S. 93-113. Braudel, Fernand (1990): Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II., Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Durkheim, Emile (1981): Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Ders. (1973): Der Selbstmord, Neuwied/Berlin: Luchterhand. Nora, Pierre (1974): »Le retour de l’événement«, in: Jacques le Goff/Pierre Nora (Hg.), Faire l’histoire, nouveaux problèmes, Paris: Gallimard, S. 210-228. Revel Jacques (2001): »Retour sur l’événement: un itinéraire historiographique«, in Jean-Louis Fabiani (Hg.), Le goût de l’enquête, Paris: L’Harmattan, S. 95-118. Sewell Jr., William (1999): »Three Temporalities. Toward an Eventful Sociology«, in: Terrence J. McDonald (Hg.),The Historic Turn in the Human Sciences, Ann Arbor: The University of Michigan Press, S. 245-280.
Erinnerungsorte E TIENNE F RANÇOIS
Auf den ersten Blick scheinen die von Pierre Nora erfundenen lieux de mémoire zu den erfolgreichsten Werkzeugen der heutigen Historiker zu gehören. Kaum war das große Unternehmen abgeschlossen, stürzten sich unzählige Publizisten und Kulturwissenschaftler darauf und übernahmen das französische Beispiel in der ganzen Welt: Italien hat jetzt seine luoghi della memoria (Isnenghi 1996-1997), Deutschland seine Erinnerungsorte (François/Schulze 2001), Österreich seine Orte des Gedächtnisses (Brix/Bruckmüller/Stekl 2004-2005), die Niederlande ihre plaatsen van herinnering (Wesseling 2005-2007), Tschechien seine místa paměti (Marès 2009), Polen seine miejsca pamięci (Historie, 2008-2009) – um nur einige Beispiele zu nennen. ( Nationalgeschichte) Woran liegt diese Erfolgsstory sondergleichen? Ist sie der Beweis für die besondere Tauglichkeit des Werkzeugs? So ketzerisch es klingen mag: Das Gegenteil ist der Fall, hängt doch der beispiellose Erfolg der lieux de mémoire damit zusammen, dass man es hier nicht mit einem Werkzeug im herkömmlichen Sinne des Wortes zu tun hat, sondern vielmehr mit einer unscharfen, schillernden und vor allem sehr offenen Metapher. Weit davon entfernt, ein Begriff, ein Konzept, eine Theorie, oder sogar ein neues Paradigma zu sein, sind die lieux de mémoire viel eher ein scheinbar alternativer Blick auf die Vergangenheit, dessen Erfolg zunächst darauf beruht, dass seine postmoderne Formulierung über seine Anknüpfung an viel ältere Ansätze hinwegtäuscht, den Ansatz
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der loci memoriae, der Gedächtnis- und Rhetorikkunst der Antike auf der einen Seite und den Ansatz der Untersuchung des Geschichtsbewusstseins und des politischen Umgangs mit der Vergangenheit auf der anderen Seite. ( Gedächtnis) Ein zweiter Vorteil des Ansatzes der lieux de mémoire ist in der Tatsache zu suchen, dass er Historikern und Sozialwissenschaftlern eine Möglichkeit gibt, der doppelten Herausforderung des »Eintritts in das Zeitalter des Gedenkens« (P. Nora) wie auch des Wandels des Geschichtlichkeitsregimes (gekennzeichnet durch den von François Hartog diagnostizierten »Präsentismus« unserer Zeit) aktiv und offensiv entgegenzutreten. ( Geschichtlichkeitsregime) An Stelle des allgemeinen Verdachts, den die Befürworter des Gedächtnisses gegen die Einseitigkeit und Parteilichkeit der Geschichtsforschung aussprechen, wird es auf einmal möglich, mit Hilfe der lieux de mémoire das Verhältnis zwischen Geschichte und Gedächtnis umzukehren: Weit davon entfernt, als Richter über die Geschichte zu fungieren, wird mit den Erinnerungsorten das Gedächtnis zum Objekt der historischen Forschung. Dass der Ansatz der lieux de mémoire sich jedem Versuch einer klaren Definition entzieht, wird schon aus dem Perspektivwandel ersichtlich, den Pierre Nora selber zwischen dem Beginn und dem Ende seines Projekts vollzog. Während er zu Beginn eine Art nostalgische Ehrenrettung der verschwindenden Gedächtniskultur der III. Republik durchführen wollte, entdeckte er allmählich, je mehr sich die von ihm initiierten Forschungen entwickelten, dass man mit Hilfe der lieux de mémoire zu einer ganz anderen Form der Geschichtsschreibung gelangen konnte, nämlich zu einer »symbolischen Geschichte« bzw. zu einer »Geschichte zweiten Grades«. Und als es später darum ging, den Begriff lieux de mémoire in andere Sprachen zu übertragen, wurden die Übersetzer in den Sprachen, die über einen größeren und differenzierteren Wortschatz als das angeblich so klare Französisch verfügen, mit unlösbaren Fragen konfrontiert: Soll man von sites, places oder von realms of memory sprechen, von Gedächtnisorten oder von Erinnerungsorten? Bis jetzt hat sich aber diese konstitutive Unschärfe als Vorteil erwiesen: Sie eröffnet neue Perspektiven, regt zum Experimentieren an, ermuntert zur Erprobung von zuvor eher verdächtigen Schreibformen
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(Essay, Assoziationen, Collagen), lädt dazu ein, der Subjektivität einen breiteren Platz einzuräumen, fördert schließlich die Inter- und Transdisziplinarität. Um es mit anderen Worten auszudrücken: Ein wichtiger Aspekt des Reizes und der Produktivität der lieux de mémoire liegt darin, dass sie zu einer Art Selbstbefreiung der historischen Schreibweise aufrufen und dadurch mehr als die klassischen Formen der Geschichtsschreibung dem Bedürfnis unserer durch den Zusammenbruch der großen Meistererzählungen gekennzeichneten Gegenwart zu entsprechen scheinen. Nicht zuletzt verdanken die lieux de mémoire ihren Erfolg der Tatsache, dass sie sich insbesondere für solche kollektiven Unternehmungen eignen, die aus ihrer Heterogenität einen zusätzlichen Vorteil machen. Durch ihre der Konjunktur des Gedächtnisses entsprechende Thematik, ihre Experimentierfreudigkeit wie auch ihre Zurückhaltung gegenüber einer das größere Publikum abschreckenden Wissenschaftlichkeit sind sie gleichermaßen in der Lage, eine breitere Öffentlichkeit anzusprechen. Daher der erstaunliche Erfolg, der allen in- und außerhalb Europas unter der Ägide der lieux de mémoire unternommenen Publikationen zuteilwurde. Dass die konstitutive Unschärfe der lieux de mémoire wie auch die Missverständnisse, auf welchen sie beruhen, nicht nur Innovativität zur Konsequenz haben, wird niemand bestreiten können. Diese Kehrseiten sind schon vielfach analysiert worden. Sie heißen Vorläufigkeit, Beliebigkeit, Heterogenität, Essayismus, methodologischer Rückfall und mangelnde Wissenschaftlichkeit, um nur die häufigsten Kritikpunkte zu erwähnen. ( Essay) Anstatt zu einer Historisierung und Dekonstruktion der Gedächtniskulturen beizutragen, so wird den Erinnerungsorten weiterhin vorgeworfen, leisten sie nur zu oft dem Kult des Gedächtnisses Vorschub. Da schließlich alle bis heute durchgeführten Projekte über die lieux de mémoire in einem nationalen Rahmen entstanden sind, tragen sie zu dessen Verfestigung bei, anstatt ihn zu relativieren, so eine weitere Kritik, die durch die Unvergleichbarkeit der Ergebnisse der verschiedenen nationalen Projekte bestätigt wird. (Englund 1992) Soll man daraus den Schluss ziehen, diese Kehrseiten seien so gravierend, dass es zwingend notwendig sei, auf den Ansatz der lieux de mémoire zu verzichten? Ein solcher Schluss hieße, das Kind mit
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dem Bade auszuschütten. Ein Vergleich mit zwei weiteren Metaphern, die eine Zeit lang auch Furore machten, kann in der Hinsicht hilfreich sein. Die longue durée und die histoire des mentalités, die in den 1970er und 1980er Jahren von der Mehrheit der französischen Historiker beschworen wurden, waren genauso unscharf und vieldeutig, und nicht wenige Historiker haben ihnen vorgeworfen, »Gummibegriffe« zu sein. Gleichwohl haben sie deswegen so viele Anregungen gegeben und Perspektiven geöffnet, dass sie zu Wahrzeichen der sogenannte nouvelle histoire geworden sind. Mehr noch: In dem Maße, wo sie unscharf und in fast alle Richtungen dehnbar sind, haben die lieux de mémoire nicht wenige Historiker und Sozialwissenschaftler angeregt, sich kritisch und produktiv mit ihnen auseinanderzusetzen, um die Strukturen und Prozesse der Gedächtniskulturen präziser und differenzierter zu analysieren. Hätten wir das in Form eines Vermächtnisses geschriebene letzte Buch von Paul Ricœur über das Gedächtnis, das Vergessen und die Geschichte, wie auch die bahnbrechenden Untersuchungen von Jan und Aleida Assmann gehabt, wenn es nicht vorher die Provokation der lieux de mémoire gegeben hätte? Nicht selten wird in Deutschland gesagt, der Erfolg der Wortschöpfung lieux de mémoire sei nichts anderes als ein weiterer Ausdruck der Tatsache, dass die französische Geschichtsschreibung ihre frühere Verbindung zur Literatur nur ungenügend aufgegeben habe. Jene sei deswegen weniger »wissenschaftlich« als die sich stärker an Philosophie und Soziologie orientierende deutsche Geschichtsschreibung, die ihre Begriffe viel präziser und genauer definieren würde. Wenn es aber der Fall wäre, wie sollte man dann den gleichermaßen fulminanten Erfolg der zwei Wortschöpfungen Sonderweg und Sattelzeit erklären, deren schillernde Unschärfe und grenzenlose Offenheit der der lieux de mémoire in nichts nachsteht? ( Bielefelder Schule) Wie jede kreative Wortschöpfung sind die lieux de mémoire auch eine Modeerscheinung und ihr Erfolg wird von immer deutlicher werdenden Abnutzungseffekten begleitet. Dies aber bedeutet nicht, dass sie im Abstieg begriffen sind und ihr baldiges Ende abzusehen wäre. Nicht nur lässt die Nachfrage von Seiten der Öffentlichkeit nicht nach, sondern es tun sich auch viele neue Felder auf, die sich auf fruchtbare Art und Weise mit dem Ansatz der lieux de mémoire untersuchen las-
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sen – in epochaler, regionaler oder transnationaler Hinsicht. Gerade weil sie kein historisches Werkzeug im eigentlichen Sinne des Wortes sind, dürfen die lieux de mémoire noch mit einer interessanten Zukunft rechnen.
L ITERATUR Brix, Emil/Bruckmüller, Ernst/Stekl, Hannes (Hg.) (2004-2005): Memoria Austriae, Band 1: Menschen, Mythen, Zeiten; Band 2: Bauten, Orte, Regionen; Band 3: Unternehmer, Firmen, Produkte, Wien/München: Oldenbourg. Englund, Steven (1992): »The Ghost of Nation Past«, in: Journal of Modern History 64, S. 299-320. François, Etienne/Schulze, Hagen (Hg.) (2001): Deutsche Erinnerungsorte, 3 Bände, München: Beck. Historie, Jahrbuch des Zentrums für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften, Folge 2, 2008/2009: »Historie erinnern, Historie erzählen«. Isnenghi, Mario (Hg.) (1996-1997): I luoghi della memoria, Band 1: Simboli e miti dell’Italia unita; Band 2: Personaggi e date dell’ Italia unita; Band 3: Strutture e eventi dell’Italia unita Rom/Bari: Laterza. Marès, Antoine (Hg.) (2009): Lieux de mémoire en Europe centrale, Paris: Institut d’Etudes Slaves. Sabrow, Martin (Hg.) (2009): Erinnerungsorte der DDR, München: Beck. Wesseling, Henk (Hg.) (2005-2007): Plaatsen van herinnering, Band 1: Wim van den Doel (Hg.), Nederland in de twintigste eeuw; Band 2: Jan Bank/Marita Mathijsen (Hg.), Nederland in de negentiende eeuw; Band 3: Maarten Prak (Hg.), Nederland in de zeventiende en achttiende eeuw; Band 4: Herman Pleij/Wim Blockmans, Nederland van prehistorie tot beeldenstorm, Amsterdam: Bert Bakker.
Essay A NNE K WASCHIK
Der Essay ist eine Darstellung von Geschichte, die gelesen werden will. Aus diesem Grund erlaubt er sich Dinge, derer eine streng wissenschaftliche Darstellung sich aus verschiedenen Gründen enthält. ( Peer review) Regelmäßig beobachten die Kritiker des Essays in der Wissenschaft neben einer gewissen Scharlatanerie im Umgang mit den Fakten, falschen Jahreszahlen, Ungenauigkeiten in Fußnoten und Literaturnachweisen insbesondere gewagte Analogien, die historistisch gesinnten Spezialisten die Haare zu Berge stehen lassen. Seit seinem Einzug in den deutschen Sprachraum ist der Essay in Frontstellung zur Wissenschaft wahrgenommen worden. Die Bezeichnung eines historischen Werks als »Essay« hat sich als Strategie disziplinärer Selbstreinigung erwiesen, mit der Autor und Werk aus der Geschichtswissenschaft ausgesondert oder später posthum »gerettet« werden konnten. Mit dem nachträglichen Hinweis auf den EssayStatus einer Schrift kann dieses zu einem verkannten Werk und sein Autor zu einem Wegbereiter oder Erneuerer werden. Instinktiv wurde der Essay als publizistische Popularisierungsgattung abgelehnt, die, um dem Leser zu gefallen, in unzulässiger Weise historische Komplexität reduziere. Bevor das Zeitalter der Postmoderne anbrach und jeder locker-flapsig dahingeworfene Text sich als »Essay« bezeichnen konnte, war dieser eine »unzünftige Darstellungsform« von Geschichte. Und er galt als Ausweis von stilistischer Eleganz. Inzwischen wird die Abwehr gegen das Halbseidene literari-
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scher Diskursivität stellenweise bereits für überwunden erklärt. (Schärf 1999: 15) Aber entspricht das der Realität? ( Kunst) Vergleicht man den Essay mit der wissenschaftlichen Abhandlung, müssen beide natürlich zumindest als »benachbart« gelten. Aber nach wie vor wird Wissenschaft nicht allein im Essay gemacht. Der Essayismus-Vorwurf ist auch im 21. Jahrhundert noch zu hören, und zumeist bedeutet er nach wie vor nichts anderes als die Unterstellung einer gewissen Unwissenschaftlichkeit in Arbeits- und Darstellungsweise. Diese Unterstellung beruht auf drei signifikanten Missverständnissen: Erstens ist die Lesbarkeit eines Textes nicht unbedingt das Ergebnis mangelnder Recherche. Mit dem Schreiben eines Essays mag eine eindeutigere Publikumsorientierung verbunden sein als mit der Produktion wissenschaftlicher Texte. Aber nur weil der wissenschaftliche Prozess nicht im Text sichtbar gemacht wird, heißt das nicht, dass er nicht existiert. Essayismus ist keine Strategie geistiger Bequemlichkeit, sondern eine Frage der Vermittlung von Lektüreergebnissen und Recherchen. Der Essayist will seinem Leser, im Unterschied zum Wissenschaftler, die Anstrengung ersparen, sich an seiner Seite durch Stoffmassen, Begriffsdiskussionen und Forschungsdebatten hindurchwühlen zu müssen. Zweitens spiegelt der Einwand gegen den Essay, er sei stückhaft und argumentiere mit dem Zufall – der im Übrigen so alt ist wie der Essay selbst – nur dessen selbstformulierten Anspruch. (Adorno 1981: 18) Der Vorwurf mangelnder Stringenz und die Kritik an den sogenannten »Abschweifungen« und Fiktionen werden hervorgerufen durch das rationalistische Misstrauen gegenüber Bildern. Suggestive Bilder können zu spontanen Einsichten führen, denen man sich schwer entziehen kann. So manches Mal scheint es gerade die von ihnen ausgehende Faszination zu sein, die gute essayistische Texte verdächtig macht. ( Imagination) Und drittens beruht der Vorwurf auf einem grundsätzlichen Irrtum in Bezug auf die Rolle, die der Sprache in der Bildung und Ausformulierung von Erkenntnissen zukommt. Die Sprache ist nicht die Magd, sondern die Mutter des Gedankens, könnte man mit Karl Kraus auf die hinter dem Essayismus-Vorwurf aufscheinende Unterstellung antworten, der Gedanke eines Essays hätte bei besserer Gelegenheit auch an-
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ders, will heißen, wissenschaftlicher formuliert werden können. Hat der wissenschaftliche Gedanke eine eigene Form? Essayismus kann mehr und anderes meinen als die belletristische Vulgarisierung wissenschaftlicher Erkenntnis. Der entscheidende Unterschied zwischen einem Essay und einem wissenschaftlichen Text liegt, wenn man von der grundsätzlichen Verweigerungshaltung der Texte gegenüber wissenschaftlichen Codes ausgeht, im Zusammenhang von Inhalt und Form. Auch ein wissenschaftlicher Gedanke habe eine eigene Form, gab Robert Musil zu bedenken, diese aber trete hinter den Inhalt zurück: »Schon im Essay aber, in der ›Betrachtung‹, im ›Sinnen‹, ist der Gedanke ganz von seiner Form abhängig und es wurde bereits darauf hingewiesen, daß dies mit dem Inhalt zusammenhänge, der in einem echten Essay, der nicht bloß Wissenschaft in Pantoffeln ist, zur Darstellung gelangt.« (Musil 1978: 1222 f.)
Der »echte Essay« ist eine mystisch-aufklärerische Darstellungsform, innerhalb derer ein Programm formuliert werden kann, das sich nicht in das System wissenschaftlicher Axiomatik einfügt. Der Essay formuliert eigene Erkenntnisprobleme, die zunächst in der Korrespondenz von Form und Inhalt herausgearbeitet werden müssen und erst in einem zweiten Schritt auf andere Denkformen bezogen werden können. Er setzt seine eigenen Spielregeln fest. Nun wiegt die Darstellung schwerer als die Methode oder die Sache, und »das Wie des Ausdrucks soll an Präzision retten, was der Verzicht aufs Umreißen opfert«. (Adorno 1981: 20) Der Essay kann ein Depot sein für das sich entwickelnde Neue ( Erinnerungsorte), aber auch seine Darstellungsmöglichkeiten sind begrenzt. Hinzu kommt, dass der Essay »seine Affinität zur offenen geistigen Erfahrung« mit dem »Mangel an jener Sicherheit zu zahlen [hat], welchen die Norm des etablierten Denkens wie den Tod fürchtet«. (Adorno 1981: 21) Der Verzicht darauf, einen Gegenstand erschöpfend zu behandeln, birgt Risiken. Wer visionär denkt und unter dem Eindruck eigener Ideen schreibt, folgt immer auch einem inneren Zwang. Deutliches Zeichen dieser inneren Zwangslage sind die zumeist gegen Ende einer Laufbahn zu beobachtenden Manierismen, gegen die selbst ausgewiesene Essayisten nicht gefeit sind. Das Den-
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ken im eigenen System kennt kaum Korrektive ( Tunnelblick), und die besondere Situation des Essayisten, der »nicht mit Adam und Eva« anfangen muss und abbrechen darf, wo er sich am Ende fühlt, fordert besondere gedankliche Strenge. (Adorno 1981: 10) Vielleicht erklärt sich so, dass Essayisten, wie Robert Musil beobachtet hat, manchmal Heilige sind – mit und ohne Religion –, manchmal aber auch einfach Männer, die sich in einem Abenteuer verirrt haben. (Musil 1997, 1: 254)
L ITERATUR Adorno, Theodor W. (1981): »Der Essay als Form«, in: Ders., Noten zur Literatur, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 9-33. Kwaschik, Anne (2008): »Von Nutzen und Nachteil des Essays für Historiker oder der ›taghelle Mystizismus‹ des Friedrich Heer«, in: Sigurd Scheichl/Richard Faber (Hg.), Die geistige Welt des Friedrich Heer (1916-1983), Wien: Böhlau, S. 193-212. Musil, Robert (1997): Der Mann ohne Eigenschaften, 2 Bände, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Ders. (1978): »Literat und Literatur«, in: Ders., Essays und Reden (Gesammelte Werke, Band 8), Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 1203-1225. Schärf, Christian (1999): Geschichte des Essays. Von Montaigne bis Adorno, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Fußboden K LAUS -M ICHAEL B OGDAL
Der Fußboden bildet eine geistig und materiell niedere Ebene wissenschaftlichen Arbeitens. Die neuere Wissenschaftsgeschichte unterscheidet in ihrer Gelehrtentypologie zwischen Leertischlern und Volltischlern. Die Fußbodennutzer bilden eine Untergruppe der Volltischler, die sich wiederum in eine messi-anische und eine pedantische Fraktion teilt. Die Untersuchungen darüber, ob der Typus des Volltischlers oder des Leertischlers die bedeutenderen Forschungsleistungen erbracht hat, stehen noch in den Anfängen, so dass Wissenschaftler bei Forschungsanträgen bis auf weiteres keine Auskunft über diesen Aspekt ihrer Arbeitsweise geben müssen. Ebenso führte die internationale Theoriedebatte, ob es sich bei der wissenschaftlichen Fußbodennutzung (Solumnismus) um ein alltags- oder ein mentalitätsgeschichtliches Phänomen handle, bisher zu keinen befriedigenden Ergebnissen. Ein Positionspapier des Wissenschaftsrats ist in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Einig ist man sich jedoch darin, dass die Fußbodennutzung – trotz einer wie alles bis an die Schwelle der Moderne zurückreichenden Vorgeschichte – als ein Ergebnis der Verwilderung des akademischen Lebensstils um Achtundsechzig anzusehen ist. Die neue, vor allem in Wohngemeinschaften praktizierte kulturrevolutionäre Einheit von Leben und Arbeiten habe der Liberalisierung der Fußbodennutzung Tür und Tor geöffnet und, wie bei anderen grundlegenden Dingen auch, zu einem postmodernen »anything goes« geführt. Fotografische Auf-
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nahmen von Arbeitszimmern berühmter Gelehrter dieser Zeit wie Michel Foucault belegen dies auf erschreckende Weise. Durch die Verstreuung sei, so die Wissenschaftsgeschichte, ein Ort entstanden, den man mit Foucault als Heterotopie bezeichnen kann. Der Fußboden stelle einen Ort »gehäufter Platzierungen« dar, »die an sich unvereinbar sind« (Foucault 1990: 42), und zerstöre auf kreative Weise den »normalisierten« Raum. Zeitzeugen haben gegen diese Deutung den Einwand erhoben, dass eine Arbeitsweise, die zum gebückten Gang und in die Knie zwinge, der um 1968 weit verbreiteten antiautoritären Grundeinstellung widerspreche und das Ansammeln von Papieren vielmehr in die Frühgeschichte der Ökologiebewegungen gehöre. Überzeugender sind die Argumente der Mediengeschichte, die darauf hingewiesen hat, dass mit der Vervielfältigung im Selbstdruck, nicht nur von politischen Flugschriften der Achtundsechziger, sondern auch sogenannter Reader von Universitätsdozenten und studentischer Paper, dem Fußboden eine wichtige Funktion als Sortier- und Ordnungsraum zugefallen sei. Durch die medientechnische Revolution des Kopierens seien schließlich in den 1970er Jahren jene Mengen an Gedrucktem hergestellt worden, die vom vollen Tisch über die Besetzungen von Stuhl und Sofa zur dauerhaften flächendeckenden Nutzung des Fußbodens geführt hätten. An diesem Zustand habe auch die Informationstechnologie mit ihren nahezu unbegrenzten Speicherkapazitäten nichts geändert. Im Gegenteil würde die wachsende Möglichkeit von Downloads dazu verleiten, auch andere Fußböden als den des Arbeitszimmers in die wissenschaftliche Tätigkeit einzubeziehen. ( Schreibwerkzeuge) Aus institutionssoziologischer Perspektive bildet der Fußboden eine elementare Vorstufe des Privatarchivs. Wie empirische Erhebungen gezeigt haben, gelangt diese Einrichtung in den seltensten Fällen zu ausdifferenzierten, für die Moderne charakteristischen Organisationsstrukturen. Während Erhebung und Aufstieg in horizontale Ordnungsstrukturen (Regal, Ordner, Register) die Ausnahme bilden und den Typuswandel zum Leertischler signalisieren, ist der Abstieg des Materials um eine weitere Stufe zur Kellerlagerung die normale Weise zu veralten.
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Was dem Laien als einfache Anhäufung von Druckerzeugnissen aller Art erscheint, bedeutet dem durch die Literalität sozialisierten Volltischler mehr als nur ein verstaubtes Archiv, das es vor der unsachgemäßen Behandlung durch Unberufene zu schützen gilt. Es ist sein zentraler Erinnerungsort, dessen moralische Funktion darin besteht, den Forscher an seine ungeschriebenen Aufsätze und Bücher zu gemahnen. Aus der Sicht der historischen Gedächtnisforschung stellt der Fußboden einen Ort der memoria dar ( Erinnerungsort), und zwar auf eine primitive, zweidimensionale Weise, die nur der einfachen Memorialtechnik unmittelbarer Anschauung eines nebeneinander Abgelegten und des taktilen Reizes bedarf. ( Sinne) Gedächtnistheoretisch lässt er sich mit einem Teppich vergleichen, auch wenn ihm im Blick auf textile Erinnerungen wie dem Wandbehang von Bayeux die narrativen Strukturen fehlen. Michel Foucault hat aus diskursanalytischem Blickwinkel diese Existenzweise von Dokumenten als »spontane oder organisierte Form von Remanenz« (Foucault 1973: 15) bezeichnet, die es erlaube, sie jederzeit wieder in die Hand zu nehmen (Re-Manenz). Der Fußboden wäre nach Foucault ein Archiv des Remanenztyps. ( Diskursanalyse) Durch Anlage von Stapeln können allerdings jederzeit komplexere Systeme entstehen und die memorialtechnischen Schwierigkeitsgrade erhöht werden. Nehmen die Überlagerungen von Dokumenten eine Dimension an, die jede Gedächtnisleistung übersteigt, wird der Fußboden zu einem Schauplatz »stummer Monumente, [...] bewegungsloser Spuren, [...] kontextloser Gegenstände« (ebd.). Sie hören auf, »die unsrigen zu sein« (ebd.: 189f.), wie Foucault scharfsichtig konstatiert. Dann ist eine Archäologie des Wissens erforderlich, um die Schichten, die den Fußboden bedecken, wieder freizulegen und lesbar zu machen. Die neuere Kulturgeschichte hat mit Nachdruck daran erinnert, dass die ästhetischen Dimensionen des Fußbodenarchivs nicht vernachlässigt werden dürfen. Mehr noch als die Geschichtsschreibung, deren literarische Seite inzwischen trotz der künstlerisch meist konventionellen Ausführung auch innerdisziplinäre Anerkennung gefunden habe, sei die Fußbodennutzung eine moderne und innovative Ausdrucksform kreativer Grenzgänger zwischen Wissenschaft und Kunst, als deren bekannteste Vertreter Arno Schmidt (Zettels Traum) und Niklas Luhmann (»Zettels Kasten«) zu gelten hätten. ( Kunst)
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Im Spannungsfeld zwischen Chaos und Ordnung, Realem und Imaginärem, Vergangenem und Gegenwärtigem und Bewusstem und Unbewussten, ja bisweilen zwischen Wahn und Vernunft, würden sie, darin der Monomanie der großen Künstler der Nachkriegsmoderne folgend, raumumgreifende fragile Gesamtkunstwerke und singuläre Environments schaffen, die von der Vergeblichkeit menschlichen Strebens zeugen.
L ITERATUR Foucault, Michel (1990): »Andere Räume«, in: Karlheinz Barck (Hg.), Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Essais. Leipzig: Reclam, S. 34-46. Ders. (1973): Archäologie des Wissens. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Krajewski, Markus (2002): Zettelwirtschaft. Die Geburt der Kartei aus dem Geiste der Bibliothek, Berlin: Kulturverlag Kadmos. Luhmann, Niklas (1992): Kommunikation mit Zettelkästen. Ein Erfahrungsbericht, in: Ders./André Kieserling (Hg.), Universität als Milieu. Kleine Schriften, Bielefeld: Haux, S. 53-61. Schmidt, Arno (1970): Zettels Traum, Karlsruhe: Stahlberg Verlag.
Gedächtnis M ARIE -C LAIRE L AVABRE
Die Frage nach dem Verhältnis von Geschichte und Gedächtnis ist für den Historiker zentral geworden. Kaum eine Tagung, insbesondere im Bereich der Zeitgeschichte, verzichtet auf eine Sektion oder eine Podiumsdiskussion zum Fortleben der Vergangenheit, zu Vorstellungs- und Erinnerungswelten. Und doch ist »das Gedächtnis« erst seit einigen Jahrzehnten ein Werkzeug der Geschichtswissenschaft – wenn man darunter die Arbeit mit dem Gedächtnis versteht – und ein Gegenstand der Geschichtswissenschaft – wenn man darunter die Arbeit über das Gedächtnis versteht –, abgesehen vielleicht von dem frühen Interesse Marc Blochs an den Phänomenen von Zeugenschaft und Überlieferung und, grundlegender noch, an den bahnbrechenden Überlegungen Maurice Halbwachs’ zum Gedächtnis und seinen sozialen Bedingungen. (Bloch 2000) Die Frage nach dem Gedächtnis, so wie sie sich in den Sozialwissenschaften und speziell in der Geschichtswissenschaft entwickelt hat, schreibt sich zweifellos ein in »diese intensive Introspektionsarbeit, die bei den Historikern (und in Bezug auf die Historiker) im Gange ist«, wie sie Moses Finley zu Beginn der 1970er Jahre ausgemacht hat, als er die Repräsentation der Vergangenheit zu einem legitimen Untersuchungsgegenstand der Historiker erklärte. (Finley 1975) Aber sie hängt auch mit einer sich in jenen Jahren vollziehenden sozialen oder militanten Sensibilisierung zusammen und mit dem Bedürfnis, den vergessenen Akteuren der Geschichte – Frauen, Bauern, Arbeitern – eine Stimme zu verleihen. In den 1970er Jahren machte es sich die
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Oral History in Großbritannien, Deutschland und Frankreich zur Aufgabe, mit dem Gedächtnis zu arbeiten, Zeitzeugnisse und Lebensgeschichten zu sammeln, bzw. gemeinsam mit den Zeitzeugen und Akteuren ein Wissen von der Vergangenheit zu erarbeiten. ( Subjekt) Zweifelsohne ist es jedoch die von Pierre Nora verkündete »befreiende Scheidung« von Geschichte und Gedächtnis (Nora 1978), die es der Geschichte auf lange Sicht erlaubt hat, das Gedächtnis als wissenschaftlichen Gegenstand zu begreifen und sogar zur Speerspitze einer neuen historiografischen Strategie zu machen. Das Projekt der lieux de mémoire hat unbestreitbar die historische Selbstreflexion gestärkt, auf die Relativität von historischem Wissen hingewiesen, und die Politik als Gegenstand der Geschichtswissenschaft rehabilitiert. Darüber hinaus haben die lieux de mémoire eine neue Art der Geschichtsschreibung formuliert, die man als potenzierte Geschichtsschreibung bezeichnen könnte. ( Erinnerungsorte) Doch der Themenkomplex »Geschichte und Gedächtnis« – das heißt das Problem der Differenz oder Konkurrenz zwischen Geschichte und Gedächtnis bzw. sogar ihres Gegensatzes (wenn man Geschichte als Gedächtniskritik auffasst) – wurde bald zu einem Fixpunkt im Nachdenken der Historiker über ihre Praktiken und ihre Produktion, wenn nicht zu einer fixen Idee, betrachtet man die zeitgenössische Inflation der Zeitzeugen (Wieviorka 1998), die Formulierung von Gedenkansprüchen oder grundlegend die Formen des öffentlichen Gedenkens und die Strategien der Vergangenheitspolitik. (Johnston 1992) Die Argumente ähneln sich in den meisten Fällen. Aus Sicht der Historiker sind sie zweifellos solide. Allerdings könnte man, insbesondere für Frankreich, daran erinnern, dass der öffentliche Erfolg dieser Idee der antikommemorativen Zielsetzung der lieux de mémoire zuwiderläuft oder dass, in ganz ähnlicher Weise, die Zustimmung zu den Thesen seines Buchs Le syndrome de Vichy (1987) Henry Rousso schließlich dazu veranlasst hat, von einer »Obsession von der Vergangenheit« zu sprechen und diese kritisch zu bewerten. (Rousso 1998) ( Geschichtlichkeitsregime) Man könnte aber auch betonen, dass die Historiker dieser Leidenschaft für die Vergangenheit, die zahlreiche politische und soziale Akteure erfasst zu haben scheint, in allen ihren Varianten (Musei-
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fizierung, Denkmalschutz, Gedenkfeiern, öffentliche Debatten) häufig eine Form gegeben, sie sich angeeignet und sie begleitet haben. ( Museum) Dennoch: Die öffentliche, soziale und politische Inanspruchnahme der Vergangenheit ist kein neues Phänomen, und ihre Befürworter oder Strategen haben wenig Interesse an den Warnungen der Historiker, auch wenn sie sie nicht ignorieren. (Bertrand 2005) Für unsere Betrachtung ist es zweckdienlicher, die Inszenierung des Duells sowie des Duetts von Geschichte und Gedächtnis zu hinterfragen. In den Sozialwissenschaften ist das »Gedächtnis« ein Paradigma geworden. In öffentlichen Debatten beruft man sich auf ein Recht oder eine »Pflicht« zur Erinnerung, und das Gedächtnis verleiht als Wertvorstellung der Gegenwart einen Sinn. Das Gedächtnis hat eine politische und staatsbürgerliche Bedeutung erhalten, seit man Gesellschaften, denen man nachsagt, sie seien in unterschiedlichem Maße krank in Bezug auf ihre Vergangenheit, eine Notwendigkeit zur »Erinnerungsarbeit« unterstellt. (Ricœur 2004) Aber was verbirgt die Unterscheidung von Geschichte und Gedächtnis? Natürlich sind Geschichte und Gedächtnis, insbesondere im öffentlichen Raum, zwei verschiedene, wenn nicht konkurrierende Formen der Gegenwart der Vergangenheit. Maurice Halbwachs hatte, als er den Begriff des »kollektiven Gedächtnisses« einführte (Halbwachs 1985), einige knappe Unterscheidungen formuliert, die im Großen und Ganzen, trotz der Weiterentwicklung der historischen Disziplin, immer noch gelten. Die Geschichte ist ein »Bild der Wandlungen«, deshalb betont sie die Unterschiede zwischen Vergangenheit und Gegenwart, das Gedächtnis ist ein »Bild der Ähnlichkeiten«, deshalb ist es, per definitionem, anachronistisch. Die Geschichte fügt sich problemlos in eine einzige, homogene und »chronologische« Zeit ein, das Gedächtnis oder, gerechter gesagt, die Gedächtnisse wurzeln in der Multiplizität der sozialen Zeiten. Ein »universelles Gedächtnis« oder auch nur ein gemeinsames Gedächtnis, unter dem man nicht die gemeinsame Erzählung einer konfliktreichen Vergangenheit versteht, wie die Geschichte sie für sich in Anspruch nehmen kann, sondern die von den Trägern der vergangenen Erfahrung geteilten Erinnerungen, Spuren und Evozierungen, wäre nicht denkbar. (Lefranc 2006) Das Gedächtnis behält von der Vergangenheit nur das, »was von ihr noch lebendig und fähig ist, im Bewusstsein der Gruppe, die es unterhält,
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fortzuleben«, deshalb ist es selektiv, unvollständig, parteiisch und erstreckt sich per definitionem »nicht über die Grenzen dieser Gruppe hinaus«. Schließlich stützt sich unser Gedächtnis »nicht auf die gelernte, sondern auf die gelebte Geschichte«, und es gibt »neben der geschriebenen Geschichte eine lebendige Geschichte, die durch die Epochen hindurch fortbesteht oder sich erneuert und innerhalb der es möglich ist, eine ganze Anzahl jener Strömungen wiederzufinden, die nur scheinbar verschwunden waren«. (Halbwachs 1985) Diese Attribute, die bei Maurice Halbwachs die Unterscheidung zwischen Geschichte und Gedächtnis begründen, erinnern an einige Begründungen der Historiker für den Gegensatz zwischen den beiden Formen der Gegenwart der Vergangenheit, wobei Halbwachs andererseits auch betont, dass diese nicht greifen, wenn es darum geht, die Phänomene des »Gedächtnisses« zu verstehen und nicht zu werten. Die Unterscheidung zwischen Geschichte und Gedächtnis, die ganz zweifellos die zutreffendste allgemeine Definition von Gedächtnis ermöglicht, die des gesellschaftlich geteilten Gedächtnisses, tendiert dazu, eine alles in allem überraschende Hierarchie zwischen zwei von Natur aus radikal unterschiedlichen Realitäten zu begründen, nämlich auf der einen Seite einer akademischen Disziplin, eines nach Regeln organisierten Wissens, der Forderung nach Beweisen, wenn nicht sogar nach »Wahrheit«, auf der anderen Seite eines sozialen Phänomens, von geteilten Praktiken und Repräsentationen der Vergangenheit, manchmal von Strategien, immer von Affekten. ( Wahrheit) In dieser Perspektive ist das Gedächtnis viel mehr das Ergebnis der Gegenwart, als es das Ergebnis der Vergangenheit ist. Indem aber die Debatte auf die notwendige Kritik des Gedächtnisses durch die Geschichtswissenschaft reduziert wird, wird mit der Unterscheidung zwischen Geschichte und Gedächtnis das Phänomen des Gedächtnisses zumeist auf das reduziert, was es in gewisser Hinsicht der Geschichte annähert, nämlich auf die öffentliche Vergangenheitserzählung, die nicht der Geschichte im engeren Sinne angehört. Die dem Phänomen eigene soziale Dynamik gerät so nicht in das Blickfeld. Dabei ist es nicht neu – die Arbeiten der Gedächtnishistoriker haben es deutlich gezeigt –, dass das »Gedächtnis« eine politische Ressource unter anderen darstellt. Es ist heute auch eine politische Ressource in
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Ermangelung anderer, und es ist, manchmal, die politische Ressource der Armen. Das Gedächtnis unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten, bedeutet nicht, auf seine Desakralisierung zu verzichten – ebenso wenig wie es bedeutet, auf ein Urteil oder eine Verurteilung zu verzichten –, sondern es ist lediglich ein Erklärungsversuch. Zudem können in der Dechiffrierung dieses sozialen Phänomens die Gedächtnisgeschichte als Kritik an den öffentlichen Vergangenheitserzählungen und die Gedächtnissoziologie eine Verbindung eingehen, eben weil die Gedächtnissoziologie sich weniger für den Wahrheitsgehalt der Aussagen oder für ihre Sedimentierungen als für die Beweggründe und Glaubensinhalte der Akteure, für ihre Biografien und Erfahrungen, für die Einflüsse der »Erinnerungspolitiken« auf die gemeinsamen Vorstellungen und insbesondere auch für das Misslingen von Gedächtnisstrategien und die Widerstandsfähigkeit der Erinnerungen interessiert. Aus dem Französischen von Dorit Gesa Engelhardt
L ITERATUR Bertrand, Romain (2005): Mémoires d’empire: la controverse autour du fait colonial, Bellecombe: Editions du Croquant. Bloch, Marc (2000): »Kollektives Gedächtnis, Tradition und Brauchtum. Anmerkungen zu einer Neuerscheinung«, in: Ders., Aus der Werkstatt des Historikers. Zur Theorie und Praxis der Geschichtswissenschaft, hg. u. mit einem Nachwort v. Peter Schöttler, Frankfurt a.M./New York: Campus, S. 241-251. Finley, Moses (1975): The Use and Abuse of History, London: Chatto & Windus. Halbwachs, Maurice (1985): Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch. Johnston, William (1992): Post-modernisme et bimillénaire. Le culte des anniversaires dans la culture contemporaine, Paris: PUF. Lefranc, Sandrine (Hg.) (2006): Après le conflit, la réconciliation? Actes révisés des journées d’étude organisées par l’Institut des sciences sociales du politique, Paris: Michel Houdiard.
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Nora, Pierre (1978): »La mémoire collective«, in: Jacques Le Goff (Hg.), La nouvelle histoire, Paris, Retz-CEPL, S. 398-401. Ricœur, Paul (2004): Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, München: Fink. Rousso, Henry (1998): La Hantise du passé, Paris: Textuel. Wieviorka, Annette (1998): L’ère du témoin, Paris: Plon.
Geschichtlichkeitsregime F RANÇOIS H ARTOG
Woher kommt dieser Begriff und was bedeutet er? Zunächst einmal ergibt er sich aus der (auf breite Zustimmung stoßenden) Diagnose in Bezug auf die zeitgenössische Welt, dass in der heutigen Zeiterfahrung die Gegenwart eine wichtige bzw. vorherrschende Rolle spielt. Daneben ist das Geschichtlichkeitsregime (régime d’historicité) auch ein Instrument, mit dem man die diversen Zeiterfahrungen und sogar Zeitkrisen untersuchen kann, also die Momente, die Hannah Arendt »Lücken« genannt hat und in denen die Evidenz des Laufs der Zeit zu verschwimmen beginnt. Man versteht also unter Geschichtlichkeitsregimen die Anordnungsmodalitäten der Kategorien der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Mit Hilfe dieses Instruments kann man die Zeitkrisen in der Vergangenheit mit denen in der Gegenwart vergleichen, in der wir leben. Unterscheidet sich die zeitgenössische Gegenwart von anderen, vergangenen Gegenwarten, und wenn ja inwiefern? Hat diese Krise spezifische Merkmale? Trägt es zum Verständnis der heutigen Zeiterfahrungen bei, wenn man die Hypothese wagt, man habe es mit einem neuen Geschichtlichkeits-regime zu tun? So war das Vorgehen. Zur Beschreibung der zeitgenössischen Zeiterfahrung, das heißt einer omnipräsenten Gegenwart, soll der Begriff Präsentismus (présentisme) vorgeschlagen werden. Warum Regime und nicht einfach Formen (der Geschichtlichkeit)? Und warum Geschichtlichkeitsregime und nicht Zeitlichkeitsregime? Regime: Das Wort verweist auf das politische Regime (politeia), aber im Französischen auch auf Begriffe wie Diät (regimen auf Latein,
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diaita auf Griechisch), Windstärke (régime des vents) oder die Drehzahl eines Motors (régime d’un moteur). Dies sind Metaphern aus sehr verschiedenen Bereichen, die allerdings zumindest eines gemeinsam haben: Sie bezeichnen Mischungsverhältnisse, beziehen sich auf Abstufungen von Mehr und Weniger oder Grade, meinen eine Komposition und ein Gleichgewicht. So ist ein Geschichtlichkeitsregime nur eine Art, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aneinanderzureihen oder eine Mischung aus diesen drei Kategorien herzustellen, genau wie man in der griechischen Politiktheorie von »Mischverfassung« sprach (in der Aristokratie, Oligarchie und Demokratie vermischt waren, wobei jeweils eine der drei Komponenten dominierte). Es gibt ein altes Regime (régime ancien), in dem die Vergangenheit die vorherrschende Kategorie ist: Um zu verstehen, was geschieht, und darauf zu reagieren, richtet man den Blick zunächst in die Vergangenheit, und die Geschichte folgt dem alten und lange Zeit maßgeblichen Modell der historia magistra vitae. Die Vergangenheit ermöglicht in diesem Fall das Verständnis. Das moderne Regime stellt einen Wendepunkt dar: Es ist futuristisch. Von nun an kommt das Licht aus der Zukunft, die Zeiterfahrung wird vom Fortschritt getragen, die Geschichte wird zum Prozess. Sie wird geschrieben, indem man von der Zukunft in die Vergangenheit zurückgeht: Die Nation, das Volk, der Proletarier ist ihr telos, ihr Ziel und ihr Zweck, aber auch ihr Beweggrund. Wenn aber, wie es sich im Augenblick abzeichnet, die Zukunft uns nichts mehr lehren kann und vom Horizont verschwindet, tendiert die Gegenwart dazu, sich selbst ihr eigener oder einziger Horizont zu werden. Dann etabliert sich ein (bisher ungekanntes) Regime: das Regime des Präsentismus (le régime du présentisme). Von Hegel über Dilthey und Ricœur bis hin zu Heidegger verweist der Begriff Geschichtlichkeit auf eine lange und schwere philosophische Tradition. Der Akzent kann entweder auf die Gegenwart des Menschen bei sich selbst als Geschichte gelegt werden oder auf seine Endlichkeit oder auf seine Öffnung gegenüber der Zukunft (wie das Sein zum Tode bei Heidegger). Halten wir hier fest, dass er die Form der historischen Bedingungen ausdrückt, die Art, in der ein Individuum oder ein Kollektiv »sich in der Zeit einrichtet und entwickelt« (Marcel Gauchet). Ist es legitim, wird man einwenden, vor der Herausbildung des modernen Geschichtskonzepts zwischen dem Ende
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des 18. und dem Beginn des 19. Jahrhunderts von Geschichtlichkeit zu sprechen? Die Frage kann bejaht werden, wenn man unter Geschichtlichkeit diese erste Erfahrung von Entfremdung, von Distanz des Selbst zu sich selbst versteht, die die Kategorien von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu erfassen und auszudrücken erlauben, indem sie sie ordnen und mit Sinn versehen. Da ist, um sehr weit, nämlich bis zu Homer, zurückzugehen, die Erfahrung, die Odysseus gegenüber dem Sänger der Phäaken macht, welcher seine Heldentaten besingt: Er sieht sich plötzlich konfrontiert mit der Unfähigkeit, den ruhmreichen Odysseus (den Eroberer von Troja), der er war, mit dem Schiffbrüchigen in Verbindung zu bringen, der er gegenwärtig ist, einem, der alles verloren hat, bis hin zu seinem Namen. Es fehlt ihm genau jene Kategorie der Vergangenheit, die es ihm erlaubt, sich in dem anderen wiederzuerkennen, der jedoch auch er ist. Hier haben wir es mit einer Inauguralszene der Entdeckung von Geschichtlichkeit zu tun: einer Vorgeschichte oder einer Möglichkeitsbedingung von Geschichtlichkeit. Da ist auch, im 5. Jahrhundert, die (anders geartete) Erfahrung, die Augustinus überliefert. Mitten in seiner großen Meditation über die Zeit, im Buch XI der Bekenntnisse, sieht er sich zunächst nicht in der Lage, statt einer abstrakten Zeit jene Zeit zu sagen, die er selbst ist, in ihren drei Modi Erinnerung (Gegenwart von Vergangenheit), Anschauen (Gegenwart von Gegenwärtigkeit) und Erwartung (Gegenwart von Zukunft). Man kann daher den Begriff der Geschichtlichkeitsregime vor oder unabhängig von der vorhergehenden Formulierung des modernen Geschichtskonzepts, wie es Reinhart Koselleck so überzeugend dargestellt hat, verwenden. Ein Geschichtlichkeitsregime ist ein idealtypischer Artefakt, der durch sein heuristisches Potenzial legitimiert wird. Am Werk sind jedoch lokale, spezifische Formen von Zeitlichkeit (beispielsweise eine menschliche Gruppe, eine Institution, eine Disziplin oder eine technische Entwicklung). In einem bestimmten Moment wird ein Typ der Zeiterfahrung, eine Form der Zeitlichkeit vorherrschend, und man kann diese unter dem Begriff Geschichtlichkeitsregime fassen. Das Geschichtlichkeitsregime ist weder direkt in den Almanachen oder den Annalen der Zeitgenossen verzeichnet, noch ist es direkt zu beobachten, es existiert nicht im Reinzustand. Es ist ein Konstrukt des Historikers. Es lässt sich beispielsweise nicht auf die früheren Vorstellun-
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gen reduzieren: ein Regime, das mechanisch auf das andere folgt, ob man es nun vom Himmel herunterfallen oder aus der Erde aufsteigen lässt. Es koinzidiert nicht mit den Epochen (im Sinne von Bossuet oder Condorcet), vermischt sich nicht mit den Periodisierungsproblemen und passt sich in keiner Weise an die großen unsicheren und vagen Entitäten an, die wir Zivilisationen nennen. Nichts beschränkt es allein auf die europäische und die westliche Welt. Es ist, im Gegenteil, ein Vergleichsinstrument: und zwar qua seiner Beschaffenheit (denn die Kategorien der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft sind universell). Je nachdem, ob die Kategorie der Vergangenheit, der Zukunft oder der Gegenwart dominiert, ist natürlich die Zeitordnung, die daraus hervorgeht, eine andere. Deshalb sind bestimmte Verhaltensweisen, bestimmte Denk- und Handlungsmuster, bestimmte Kunst-, Architektur- und Schreibformen, bestimmte Rechtfertigungsweisen – gleichzeitige oder zeitversetzte, genau im Zeitgeist befindliche oder nicht aktuelle – eher möglich als andere. Die Arten, Geschichte zu schreiben, die Fragen, die gestellt werden, die Themen, die bevorzugt behandelt werden, sind direkt davon geprägt. ( Historiografie) Das Geschichtlichkeitsregime erklärt bei weitem nicht alles, aber es eröffnet einen Fragehorizont, leuchtet etwas aus mit dem Ziel, die Zeiterfahrungen von gestern und heute intelligibler zu machen. Man kann von ihm größeren oder begrenzteren Gebrauch machen: einen makro- oder einen mikrohistorischen. Es kann die Biografie einer historischen Persönlichkeit beleuchten (wie die von Napoleon, der zwischen dem modernen, von der Revolution getragenen Regime und dem alten, durch die Entscheidung für das Empire und die Heirat mit Marie-Louise von Österreich symbolisierten Regime befangen war) oder die eines normalen Menschen ( Biografie); man kann mit ihm ein großes (literarisches oder anderes) Werk durcharbeiten, wie die Erinnerungen von jenseits des Grabes von Chateaubriand (in denen sich dieser als Schwimmer darstellt, der zwischen den zwei Zeitflüssen, dem der Vergangenheit und dem der Zukunft, hindurchgetaucht ist) man kann die Architektur einer alten oder neuen Stadt untersuchen ( Kunst) oder auch die unterschiedlichen Skandierungen des Zeitbezugs verschiedener, naher oder ferner, Gesellschaften vergleichen. Und jedes Mal zielt man darauf ab, durch die besondere Aufmerksam-
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keit, die man den Momenten der Zeitkrisen und ihrem Ausdruck widmet, etwas mehr Intelligibilität zum Vorschein zu bringen. Wenn sich die These als richtig herausstellt, dass heute das Geschichtlichkeitsregime der Gegenwart dominiert und sozusagen die anderen Zeiten kannibalisiert, stellt sich eine letzte Frage. Handelt es sich um einen Verlegenheitspräsentismus, weil man im Moment nichts Besseres hat und auf etwas anderes wartet, insbesondere darauf, dass die Zukunft ihre Rolle als Motor wiederfindet, wenn nicht die Vorherrschaftsrolle, die sie bis vor kurzem innehatte? Haben wir es mit einem provisorischen Anhalten der historischen Zeit zu tun? Oder handelt es sich, im Gegenteil, um Züge eines vollgültigen Präsentismus, das heißt um ein neues Geschichtlichkeitsregime, in dem die Gegenwart sich dauerhaft in der dominanten Position etabliert? Gedächtnis, Denkmäler, Gedenken, Identität, diese Schlüsselworte unserer Zeit haben, um es so zu formulieren, zu einem Nebeneinander von Vergangenheit und Gegenwart geführt. ( Gedächtnis, Museum) Es gibt eine Vergangenheit, die nicht vergeht, und eine geschlossene Zukunft. Das moderne Geschichtskonzept hingegen, das einer Prozess- und Entwicklungsgeschichte, trug die Dimension der Zukunft in sich und sorgte gleichzeitig dafür, dass die Vergangenheit Vergangenheit war. Es war dynamisch, zukunftsorientiert und korrespondierte mit dem modernen Geschichtlichkeitsregime. Die Infragestellung der Geschichte, ihr (momentanes) Zurückweichen vor dem Gedächtnis, das zum allumfassendsten Begriff geworden ist, geht einher mit Zeiterfahrungen, bei denen die Gegenwart sich gleichzeitig im Augenblick auflöst und unvergänglich erscheint. Aus dem Französischen von Dorit Gesa Engelhardt
L ITERATUR Gauchet, Marcel (2007): L’avènement de la démocratie, Band 1: La révolution moderne; Band 2: La crise du libéralisme, Paris: Gallimard.
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»Sur la notion de régime d’historicité. Entretien avec François Hartog«, in: Christian Delacroix/François Dosse/Patrick Garcia (Hg.) (2009), Historicités, Paris: La Découverte, S. 133-149. Hartog, François (2003): Régimes d’historicité, présentisme et expériences du temps, Paris: Seuil. Koselleck, Reinhart (1975): »Die Herausbildung des modernen Geschichtsbegriffs«, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Band 2, Stuttgart: Klett-Cotta, S. 647-717. Ricœur, Paul (2004): Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, München: Fink. Rosa, Hartmut (2005): Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Gutachten A LF L ÜDTKE
Es muss Ende der 1960er Jahre gewesen sein, als ich die dtv-Taschenbuchausgabe der Anatomie des SS-Staates in die Hand bekam. Die beiden Bände enthielten Analysen der Institutionen und Praktiken der nationalsozialistischen Ermordung der Juden Europas, verfasst von Historikern des Münchener Instituts für Zeitgeschichte. Dabei bezogen sich die Beiträge auf einen bestimmten Anlass: den Frankfurter Auschwitz-Prozess. Dort hatten die Verfasser im Frühjahr und Frühsommer 1964 als Sachverständige gegutachtet. – Die Texte packten mich, gerade auch in ihrer lakonischen Präzision. Ob ich die jeweils beigegebene Fußnote beachtete, dies sei die Vortragsfassung des Gutachtens, weiß ich nicht mehr. Und wenn doch: Bestenfalls werde ich mit den Achseln gezuckt gehabt haben; Gutachten von jeweiligen »Sachverständigen« wurden ja allenthalben erstattet, zumal vor Gericht. In den Geschichtswissenschaften, aber auch in den benachbarten Sozialwissenschaften, die ich als Student damals mehr und mehr vorzog, gehörten Gutachten zu jenen Materialien und Textsorten, die als »Quellen« galten. ( Quelle) Ein solcher Text war aber auch unter den ersten historischen Fachbüchern, die ich kaufte: das 1967 soeben erstveröffentlichte Gutachten des Rechtshistorikers Hermann Kantorowicz zur »Kriegsschuldfrage 1914« von 1925 – eine schneidende Kritik, nicht nur an den damaligen politischen Führungen, sondern mindestens ebenso an den deutschen Historikern nach 1918. In seinen zugespitzten Formulierungen, die entschiedenes Urteil mit Differen-
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zierung verbanden, unterschied es sich vom vorherrschenden Reinwasch-Duktus der Zeitgenossen. Darüber hinaus gab es für mich als Studenten keinen Kontakt mit Gutachten oder gar mit Gutachtern. Das änderte sich, als es an die Examina ging. Mitte der 1970er Jahre war es meine Magisterarbeit, die »begutachtet« wurde. Einige Jahre später erstatteten wiederum zwei fachlich zuständige Professoren ihre Gutachten zu meiner Dissertation (einige Jahre später, bei der Habilitation, gutachteten dann drei, einer von einer auswärtigen Universität). Diese Gutachten unterschieden sich in einem zentralen Punkt von den eingangs erwähnten Gutachten: Während diese für eine möglichst breite Öffentlichkeit bestimmt waren, sollten Prüfungsgutachten vertraulich sein (und bleiben). Jedenfalls war es seinerzeit noch nicht Brauch, die Gutachten in ganzer Länge (mitunter auch Kürze) dem Begutachteten oder der Verfasserin der entsprechenden Arbeit mitzuteilen. Zu erfahren war natürlich die Note. Aber diese Note enthielt eben gerade nicht das, was das Gutachten – dem Vernehmen nach – kennzeichnete: referierende Einzelbetrachtung ebenso wie detailliertgewichtende Einzelkritik, aber auch Gesamtbewertung. Genau das wurde jedoch ganz unvermittelt und ohne jede Vorwarnung erfordert, als ich zum ersten Mal selbst ein Gutachten zu erstatten hatte. Ich kann mich weder an den genauen Zeitpunkt noch an das Thema erinnern. Es ging zunächst um Prüfungsarbeiten an der Universität Hannover, die mir mit der Habilitation die Lehrbefähigung wie die Lehrberechtigung zuerkannt hatte. Bald wurden aber auch Gutachten zu Projektanträgen oder Festanstellungen angefordert – genauer: Sie wurden mit Deadlines von zwei bis drei Monaten, mitunter auch sechs oder gar nur vier Wochen »erbeten«. ( Biografie) Diese freundlich-nachdrückliche Mischung aus Einladung und Aufforderung kam von deutschen Stiftungen oder Einrichtungen der Forschungsförderung, bald auch aus den USA, der Schweiz, Österreich, seltener aus Frankreich oder Großbritannien. Ab und an gehörten dazu auch Bitten von Verlagslektoren, die Publikationswürdigkeit eines Manuskripts zu begutachten. Ein Gutachten nicht zu übernehmen, ist gewiss möglich, allerdings ist eine solche Ablehnung tückisch; sie gilt nur zu leicht als besonders negatives Gutachten. All das hatte man zu wissen oder wusste man, wenn man aufgefordert oder verpflichtet war, ein Gutachten zu erstatten – mir wurde
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das auch klar. Aber dafür wie für anderes im akademischen Betrieb, zum Beispiel das Lehren ( Vorlesung), gab es nirgendwo eine Instruktion – bestenfalls gab es diskrete Hinweise oder spitze Nachfragen (wo denn nun das Gutachten bliebe, es sei doch fällig, wenn nicht überfällig). Die Projektanträge, aber auch die tenure-Gutachten zeigten mir immer wieder, wie selten die Situation war, in der ich selbst seit Mitte der 1970er Jahre arbeiten konnte: auf einer unbefristeten Stelle an einem Forschungsinstitut. Die allermeisten, die in meinem Alter waren, mehr noch die Jüngeren, mussten sich alle drei bis fünf Jahre – oder: fortwährend – mit dem Verfassen des Nachfolge-Antrages beschäftigen, wollten sie weiterhin wissenschaftlich erwerbstätig sein. Mit anderen Worten: Diese Gutachten verkörperten Macht. Zumindest konnten sie weitreichende Folgen haben. Gewiss, es gab in aller Regel zumindest zwei Gutachten; überdies trafen Dritte die Entscheidung, waren also die »Richter«. – An dieser Konstellation änderte sich auch nichts, wenn es nicht direkt um Geldmittel, sondern z.B. um die Beurteilung eines Abstracts für die Teilnahme an einer Konferenz ging oder bei einem Manuskript um seine Tauglichkeit für eine Veröffentlichung in dieser Zeitschrift oder jenem Sammelband. ( Peer review) Auch die Versuche, den etablierten Hierarchien mit alternativegalitären Formen wissenschaftlichen Austausches zu begegnen, erforderten gutachterliche Bewertungen. Selbst wenn die Mitteilung an die Autorin, den Autoren ausdrücklich vorgesehen war: Der Machtvorsprung dessen, die oder der gutachtete, blieb erhalten. Dabei erforderte diese Selbstbindung auch Mehrarbeit – wenn etwa bei selbstoder mitbegründeten Zeitschriften der Grundsatz galt, für alle Empfehlungen oder Entscheidungen zu Manuskripten plausible Gründe für eine Ablehnung oder für Überarbeitungen in einer Form schriftlich zu fixieren, die an die Autorin, den Autoren mitteilbar war. Klar war hingegen, dass man in den jährlichen Arbeitsberichten, in denen für die beaufsichtigenden Beiratsgremien über die jeweiligen Tätigkeiten und deren (erhoffte) Erfolge zu berichten war, die Arbeit an oder für Gutachten keine Rolle spielen durfte. Das hatte man nebenbei zu erledigen, im Rahmen jener hagestolzen Bescheidenheit, wie sie zumal jüngeren »Gelehrten« zukomme. In dieser Hinsicht wa-
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ren Rezensionen den Gutachten gleichgestellt. Und in vielem ähneln sich ja auch die Genres. Hier wie dort sind knappe, aber informative Darlegungen der Hauptpunkte und Argumentationsschritte erforderlich. Dem sollten Einordnung und Bewertung folgen – ob und welche neue Sichtweisen, neue Fragestellungen, neue Einsichten oder Erkenntnisse vorliegen oder zu erwarten sind. Übrigens war etwa bei Treffen von Kollegen, bei denen im Rahmen der Max-Planck-Gesellschaft immer eine Reihe von Juristen dabei waren, schon zu erkennen, wie groß gerade auch bei den Gutachten bzw. der Gutachterei die Differenzen waren. Juristenkollegen wussten von stattlichen Honoraren zu berichten, die weniger von ihnen als von jeweiligen Chefs und anderen ordinarialen Kollegen erwartet oder gefordert, aber offenbar auch von den jeweiligen Auftraggebern gezahlt wurden. Erst nach einigen Jahren habe ich mit einem Gran Freude, aber auch einer Dosis Bitterkeit notiert, dass zumindest Verlage aus Großbritannien und den USA entweder einen kleinen Cash-Betrag oder einige Titel aus der jeweiligen Produktion zum freien Bezug anboten – dass letztere Praxis auch hierzulande zumindest gelegentlich üblich ist, wurde mir dann freilich auch durch den einen oder anderen Fall vermittelt. Es scheint eine eigene »List der Vernunft« zu sein, dass Anfragen, für dieses Projekt oder jenen Kandidaten zu gutachten, und dies doch innerhalb von sechs bis maximal acht Wochen, immer dann eintreffen, wenn man gerade das letzte Gutachten auf den Weg gebracht hat. Mit der Zeit gibt es nur zwei Möglichkeiten, damit umzugehen – das »Abarbeiten« mit starker oder mit möglichst wenig Emotion. Es erfordert freilich ebenfalls einiges an Emotion, Gefühle des Grimms, des Zorns, der Verbitterung nicht zuzulassen. Die dritte Alternative – abzulehnen – gibt es kaum, denn das wäre die Verschärfung eines ablehnenden Gutachtens: Wer mag das verantworten oder riskieren? Oder sind Skrupel fehl am Platze? Wer liest die seit 10, 15 Jahren inflationär gestiegene Zahl der Gutachten – und nimmt sie tatsächlich in Betracht? Ist nicht die immer weiter um sich greifende Sucht, selbst für die kleinste Nach-Bewilligung ein, zwei Gutachten anzufordern, Ausdruck vermehrter Unsicherheit – gegen die dann die Reputation bzw. der Briefkopf der Gutachter in Stellung gebracht werden?
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Die Gründe sind vielfältig und in ermüdender Ausführlichkeit längst traktiert: Sie reichen von den Folgen der Verrechtlichung und den daraus resultierenden Haftungsrisiken bis zur offenbar vermehrten Komplexität der »Sachen«, um die es inhaltlich wie methodisch geht. Was aber ist das für eine Absicherung? Ich selbst lege Gutachten bei Bewerbungen oder anderen Entscheidungen, an denen ich beteiligt bin, ungelesen zur Seite, und beachte sie auch bei Zweifelsfällen bestenfalls mit einem Auge. Bei Kolleginnen und Kollegen beobachte ich Ähnliches. Es geht dabei kaum je darum, dass die Seriosität der Gutachten bezweifelt wird. Ist man denn nicht selbst in der Lage, den Fall, die Person angemessen zu erfassen und zu beurteilen? Gäbe man nicht sich selbst auf, wenn Gutachten die Entscheidungen oder doch ihre Kriterien bestimmten oder doch beeinflussten? Ist also auch die Macht von Gutachten wie Gutachtern ein Mythos? Gutachten werden zwar vielfach erwähnt; aber offenbar niemand hat bisher Genre und Praxis des Gutachtens intensiver untersucht. Nur hier und da sind sie detaillierter ausgewertet. (Dietze 2006) Eine Zufalls-Durchsicht von Lebenserinnerungen förderte nur wenige Hinweise zu Tage. Der Altphilologe von Wilamowitz-Moellendorff berichtet etwa aus den 1890er Jahren, dass er in Göttingen die SchreibBlockade eines Kandidaten durch die »List« einer mündlichen »Besprechung« (und Benotung) umgangen habe (Wilamowitz-Moellendorff 1928: 207) – ein Topos, der auch von anderen berichtet wird. Oder: Ralf Dahrendorf beschränkt sich auf den Satz, dass »Professor [René] König nicht lange brauchte«, im Frühjahr 1952 seine Dissertation (»Marx in Perspektive«) »zu lesen und zu begutachten: opus eximium […] eine höhere Note konnte es […] nicht geben«. Entscheidend ist also auch hier nicht das Gutachten, sondern die Note. (Dahrendorf 2002: 145) Das Wie der Gutachterei, aber auch die Begründungen der Bewertung bleiben unerwähnt. Briefe scheinen ergiebiger. Sie enthalten immer wieder ausführliche gutachterliche Äußerungen (Max Weber; Siegfried A. Kaehler) – oder die Briefe sind selbst die Gutachten. Letztere finden sich über Jahrzehnte bei Alexander von Humboldt und offenbar vielfach mit Erfolg. Dass Humboldt auch hier eine geradezu unglaubliche Kenntnis von Situationen und Personen zu ebenso eleganten wie präzisen Analysen verband, sei nur am Rande bemerkt. Da gibt es im Rahmen eines
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Briefes vom Januar 1800 ein Gutachten von knapp einer Druckseite. (Moheit 1999: 53f.) Darin beleuchtet Humboldt den »Fortschritt der Wissenschaften« und zumal den Stand von Mathematik und Chemie in der Provinz Caracas (Venezuela). Er benennt aber auch aus Spanien die drei Fachkollegen, die für eine Universitätsstelle am besten geeignet seien. Freilich: Auch bei einem so weithin respektierten Gelehrten wie Humboldt blieben die Grenzen der Wirksamkeit fließend. Der Zugang zum jeweiligen Minister wie zum Monarchen wechselte. Vor allem hat an diesen Zugangsschwellen zu den »Kommandohöhen« auch die Durchsetzung von Öffentlichkeit wenig geändert. Planungen zu Personen, Programmen und Finanzen erfordern bzw. nutzen jedenfalls weiterhin Vertraulichkeit. Diese Sphäre des Arkanen aber taugt für vieles: als Schutzraum für experimentelle Ansätze wie als Chance für entgrenzten Machtgebrauch.
L ITERATUR Dahrendorf, Ralf (2002): Über Grenzen. Lebenserinnerungen. München: Beck. Dietze, Carola (2006): Nachgeholtes Leben. Helmuth Plessner 18921985, Göttingen: Wallstein. Humboldt, Alexander von (1985): Vier Jahrzehnte Wissenschaftsförderung. Briefe an das preußische Kultusministerium 1818-1859, hg. v. Kurt-Reinhard Biermann (= Beiträge zur Alexander-vonHumboldt-Forschung, Band 14) Berlin: Akademie-Verlag. Markov, Walter (1989): Zwiesprache mit dem Jahrhundert, dokumentiert von Thomas Grimm, Berlin/Weimar: Aufbau. Moheit, Ulrike (Hg.) (1999): Das Gute und Große wollen. Alexander von Humboldts amerikanische Briefe, Berlin: Rohrwall. Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von (1928): Erinnerungen, 18481914, Leipzig: Koehler.
Historiografie M ASSIMO M ASTROGREGORI
romalandpark (nordmittelmeerregion) 25/ocktober/2062 liber macedonio/auf deine bitte um mittarbeit bei der fonn der elecktronischen zeitschrift »tempus« iniziirten rueckschau auf die entwicklung der »historischen disziplin« (wi mann si seinerzeit nannte) fomm fall der berliner mauer bis heute sende ich dir 1 acktualisirte fassung des 1trax »Historiographie« den ich 1996 fuer 1 enzueklopaedi geschriben habe (und der glaube ich mittlerweile nur noch auf 1 wirtuellen festplatte der weltbibliotek in washington zugenglich ist)/erst wollte ich 1 kurzen seer polemischen essej ueber di missgeschicke der geschichtswissenschaft im letsden jarhundert schreiben/aber dann zog ich es vor vorsichtich zu sein (als hundertjeriger muss man das nicht meer aber du kennst mich)/und ausserdem sind nicht immer di alten dinge gut und di neuen schlecht/massimo mastrogregori p/s/wann gebt ir alten geleerten fonn »tempus« endlich 1 schoene studje ueber di zukunft der historiografie in auftrak? kuemmere du dich bitte um di uebersetsung/danke!1
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Anmerkung 2010. Vor einiger Zeit hatte einer der Herausgeber der mexikanischen Zeitschrift »Tempus«, Macedonio Fernandez, mich für eine Sondernummer, die dann doch nicht zustande kam, um eine »Bilanz« der Geschichtswissenschaft der letzten hundert Jahre gebeten. Mir kam die Idee, mir, wenn man so will, dieselbe Situation für die Zukunft vorzustellen: für das Jahr 2062. Die Enzyklopädie, auf die der auf das Jahr 2062 da-
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Historiografie meint die Erzählung von Tatsachen, die sich wirklich ereignet haben und nach einer Methode überprüft und interpretiert wurden (der historischen Methode). Der Begriff ist gelehrten Ursprungs, war überwiegend im Laufe des 20. Jahrhunderts gebräuchlich und ist abgeleitet vom griechischen historiographia. Die Griechen unterschieden zwischen dem syngraphéus, wie Tukydides, der über ihm persönlich geschehene Tatsachen berichtet, und dem historiogràphos, wie Herodot, der weiter gefächerte, universellere Interessen hat. Den Humanisten war daran gelegen, die annali, gelehrte Chroniken von lokaler Bedeutung, von den rhetorisch ausgefeilten historiae zu trennen. Historiografie, Geschichten, Chroniken, Annalen: In dem Labyrinth der Termini die Unterschiede zu suchen, ist eine anspruchsvolle, aber unnütze Aufgabe. Die Diversität der Begriffe reflektiert nur die Unterschiedlichkeit der Perspektiven auf eine einzige Aktivität: auf das Schreiben von wirklich geschehenen, methodisch rekonstruierten Tatsachen. Unterschieden werden sollte hingegen zwischen dem Schreiben (der historischen Erzählung) auf der einen Seite und der Forschung, der Überprüfung, der Interpretation auf der anderen Seite. Das Ideal der Historiografie ist die perfekte Synthese von Forschung und Erzählung. Eine Historiografie ohne Erzählung gibt es nicht. Der Historiker kann nicht auf eine Rhetorik verzichten, auf eine Strategie, mit der er das kommuniziert, was er weiß, und dies nähert die Historiografie oft der Fiktion an (auch wenn nicht selten die Rhetorik der Naturwissenschaften, der unzweideutigen Sprache der Ziffern und Grafiken übernommen wird). Die zu erzählenden Ereignisse (das, was man wissen lassen möchte) (Ereignis) und die zugänglichen Quellen beeinflussen die Wahl der Rhetorik (Quelle), bei der der Historiker nicht so frei ist wie der Autor von Romanen. Der Historiker ist der Vergangenheit verpflichtet (Paul Ricœur). Auf die postmoderne These, nach der das Universum aus Zeichen und nicht aus Dingen besteht und es unmöglich ist, die Wirklichkeit der historischen Phänomene zu über-
tierte Brief anspielt, ist das »Dizionario di storiografia« (Mailand: Bruno Mondadori, 1996); die Transkription des Briefes ist inspiriert von der (für das Jahr 1997!) in der Erzählung »Enoch Soames« erdachten Orthografie von Max Beerbohm (Seven Men, London: Heinemann, 1926, S. 42).
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prüfen (linguistic turn), muss man antworten, dass die Tradition dieser Zeichen nur existiert, weil die realen Phänomene existiert haben, und dass eine solche Tradition analysiert werden muss, damit überprüft werden kann, worin ihre Autorität besteht: nämlich darin, dass sie die Autorität der Gesellschaft der Vergangenheit ist. (Kunst) Doch warum werden Geschichten über die Vergangenheit erforscht und geschrieben? Die Position, in der sich der Historiker befindet, ist die Ausgangssituation, von der aus die Liebe zum Wissen und der Durst nach Wahrheit, die sich zu Unrecht für über die Jahrhunderte hinweg unveränderlich halten, die Form der Historiografie annehmen. Es ist schwer zu glauben, dass es dieselbe Kraft gewesen sein soll, die Tukydides dazu veranlasste, den Soldaten mit der Mitgift seiner Frau Informationen über den Peloponnesischen Krieg abzukaufen, die Ludovico Antonio Muratori bewog, die Notizen Sul dominio temporale della Sede apostolica sopra la città di Comacchio (1708) zu sammeln, und die, schließlich, Fernand Braudel dazu trieb, im Kriegsgefangenenlager ohne Notizen und aus dem Gedächtnis die erste Version von Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II. (1949) zu verfassen. Es bleibt eine fundamentale Eigenheit des historischen Denkens, dass »nur ein lebendiges gegenwärtiges Interesse uns dazu bewegen [kann], eine vergangene Tatsache kennen zu lernen.« (Benedetto Croce). In unterschiedlicher Weise haben die Historiker immer die eigene Arbeit an der politischen Macht ausgerichtet. Manchmal hat nur die Nähe zur Macht den Zugang zu Informationen und Dokumenten ermöglicht. Die politische Erfahrung befähigt den Historiker dazu, die politischen und militärischen Zusammenhänge zu verstehen; nicht zu Unrecht lachte Hannibal, wie sich Croce erinnert, über jenen griechischen Philosophen, der, obwohl er nie ein Militärlager von nahem gesehen hatte, über de imperatoris officio et de omni re militari räsonierte. Darüber hinaus leisten die Historiker einen Beitrag bei der Konservierung der Dokumente und Schriftstücke nach den Kriterien, die die Macht ihnen diktiert, manchmal auch in leitender Position, wie Platina, der Historiker der Päpste, der gleichzeitig Erster Bibliothekar der Bibliothek des Vatikans war. In der kaiserlichen chinesischen Tradition war das Verfassen geheimer kurzer Erzählungen, die als authenti-
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sche Quellen für die in der Zukunft zu schreibende Geschichte konserviert wurden, die einzige Aufgabe des offiziellen Historikers. Der Beruf des Historikers kann im Gegensatz dazu aber auch als Kritik an der Macht ausgeübt werden. Lang und voller illustrer Namen ist die Liste der exilierten, deportierten, gefangengenommenen Historiker: Herodot, Tukydides, Xenophon, Timaios, Polybios, Flavius Josephus in der Antike oder in jüngerer Zeit Pietro Giannone, Henri Pirenne, Michail I. Rostovtzeff. Im 17. und 18. Jahrhundert (in Deutschland ab dem 16. Jahrhundert) nahm diese Beziehung zur Macht eine neue Form an, die sich durchsetzte: Die Arbeit des Historikers wurde in immer stärkerem Maße mit dem Lehren der Geschichte identifiziert. Im 19. Jahrhundert, in einer Zeit, als »die Geschichte die Nationen erklärte und die Nationen, oder besser der nationale Gedanke, die Geschichte erklärten« (Arnaldo Momigliano), wurde der Historiker zum Geschichtsprofessor, manchmal zum »Lehrer der Nation«, andere Male zum Unterstützer der politischen und ideologischen Legitimation des Staates. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts war die Professionalisierung des Historikers vollendet: Von nun an ist der Historiker in der Regel Mitglied in einem historischen Verband. Er nimmt an internationalen Tagungen teil und publiziert seine Artikel in Fachzeitschriften, die zunächst national, dann vor allem disziplinär waren. (Internationale Bibliografie) Die Tätigkeit des Historikers vollzieht sich vor allen Dingen in den Universitäten. Seine Arbeit ist aufgeteilt in spezialisierte Forschung und Lehre, die entweder in einem schwierigen, aber fruchtbaren Gleichgewicht zueinander stehen oder auch in offenem Gegensatz. Der erreichte Grad der Spezialisierung (der der historischen Forschung beachtliche Fortschritte erlaubt) hat jedoch in vielen Fällen den Bezug des akademischen Historikers – der oft »Geschichten erzählt, die nicht mehr interessieren«, wie ein amerikanischer Forscher es ausdrückte – zu der Gesellschaft gekappt, in der er lebt. Dennoch hat es in unserem Jahrhundert nicht an Historikern gemangelt, die über eine direkte Verbindung von rekonstruierter und gelebter Geschichte nachgedacht (Benedetto Croce) oder mit ihr experimentiert haben, auch außerhalb der offiziellen Lehrstühle. So vertrat Marc Bloch in seiner Apologie der Geschichtswissenschaft die Idee, dass ein Histori-
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ker sich nicht langweilen kann: Weil er sich, von Berufs wegen, für die Spektakel der Welt interessiert. Als ich dies 1996 schrieb, endete ich hier. Inzwischen hat der Niedergang und schließlich der Zusammenbruch des Systems der westlichen Nationalstaaten mit der Gründung der politischen Weltunion (2045) – einem Phänomen, das in Zusammenhang steht mit multinationalen Produktions- und Finanzstrukturen – eine tiefgreifende Krise in der Vermittlung von Geschichte herbeigeführt. Die »professionellen« Gelehrten der Geschichte, die im allgemeinen Professoren waren und von denen es gegen Ende des 20. Jahrhunderts viele Tausende gab, sind immer weniger geworden, heute gibt es wenig mehr als 2000 von ihnen, die in den vereinzelten akademischen Zentren oder den lokalen Forschungszentren und in der Weltbibliothek in Washington arbeiten. Das Lehren der Geschichte wurde absorbiert von den Kursen zu Kommunikation und Propaganda, broadcasting, information science und Kino (man denke nur an die von Oliver Stone gegründete Schule). Die Anzahl der Tagungen und Kongresse hat sich reduziert; dasselbe lässt sich über die Zahl der historischen Zeitschriften sagen. Heute gibt es nur noch einige Dutzend lokale Newsletter und digitale Zeitschriften im Worldnet. Aber man sollte nicht denken, dass mit dem Ende der Lehre jede Forschungstätigkeit und jedes Erzählen der Vergangenheit aufgehört hätte. In gewisser Hinsicht hat es eine Befreiung gegeben: Die Werke, die nur die Geschichtsprofessoren interessierten, werden nicht mehr produziert. Natürlich werden in den wenigen akademischen Zentren noch wissenschaftliche Arbeiten geschrieben, über die Antike, über die Nationalgeschichten (Nationalgeschichte) oder auch »soziologische« Untersuchungen. Aber außerhalb der Laboratorien hat die Universalgeschichte an Terrain zurückgewonnen, die oft von Experten für das jeweilige Thema geschrieben wird: Menschen der Tat, Ökonomen, Militärs, Spionen, Journalisten; nur teilweise im Untergrund überleben die wieder in Erinnerung gerufenen Geschichten und die nicht autorisierten Überlieferungen zu den Protagonisten der gegen das System gerichteten Gegenbewegung (Rebellen, Guerilleros, Söldner, die in den Kriegen im mittleren Osten und in Osteuropa aktiv sind, Hacker) und zu den Helden der neuen Religionen. Vor allem ist die Geschichte aber auch wieder unterhaltsam geworden: Seit dreißig Jahren werden
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nicht mehr nur Bücher produziert, die Schrift hat quasi überall den Bildern das Feld überlassen. (Sinne) Die Manipulierbarkeit dieses Materials und das Verschwinden von schriftlichen Dokumenten und unabsichtlich hinterlassenen Spuren (den sogenannten Quellen der Historiker, bis zum 20. Jahrhundert) hat ebenso wie der Verzicht auf das Archivieren von Gegenständen eine kritische, auf »Dokumente« gestützte Geschichtsschreibung undenkbar gemacht. (Quelle) Was bleibt, ist das historische Denken, das die Vergangenheit in Abhängigkeit von den aktuellen Interessen wiederaufleben lässt. Man findet es nicht in den offiziellen Rekonstruktionen der Geschichte oder in den Biografien der Medienfiguren. Das historische Denken lebt in den unabhängigen Überlieferungen fort, in Werken, in denen die Macht der Bilder die geduldige und vorsichtige Textkritik ersetzt hat, in Werken, die das Publikum begeistern können und es durch Wahrheit und Schönheit berühren. Sicherlich hat sich etwas originär Neues ergeben, etwas, das schwer zu verstehen ist für jemanden, der inmitten von schriftlichen Dokumenten und Spuren aufgewachsen ist. Man sollte jedoch vor dieser Veränderung keine Angst haben. Die Welt gehört denjenigen, die die neuen Dinge lieben, wie unser alter Meister Marc Bloch sagte. Aus dem Italienischen von Dorit Gesa Engelhardt
L ITERATUR Bloch, Marc (2002): Apologie der Geschichtswissenschaft oder Der Beruf des Historikers, Stuttgart: Klett-Cotta. Croce, Benedetto (1915): Zur Theorie und Geschichte der Historiographie, Tübingen: Mohr. Mastrogregori, Massimo (2008): I due prigionieri. Gramsci, Moro e la storia del Novecento italiano, Genua u.a.: Marietti.
Historische Epistemologie H ANS -J ÖRG R HEINBERGER
Der Begriff der »Historischen Epistemologie« geht meines Wissens auf Dominique Lecourt zurück, der ihn in den späten 1960er Jahren prägte, um mit ihm die wissenschaftsphilosophische Position von Gaston Bachelard zu charakterisieren. Bachelard hielt die Entwicklung der Wissenschaften geradezu für den Modellfall eines genuin historischen Prozesses. Heute ist der Begriff der historischen Epistemologie geläufig geworden, um die vielfältigen Versuche zu benennen, die im Laufe des 20. Jahrhunderts unternommen wurden, die Philosophie der Wissenschaften auf eine geschichtliche Basis zu stellen, mithin sie zu historisieren. Die historische Epistemologie geht davon aus, dass nicht nur die wissenschaftlichen Grundbegriffe einem historischen Wandel unterliegen, sondern auch die Kategorien, unter denen gedacht und verstanden wird, was wissenschaftliches Wissen ausmacht. Charakteristisch für die historische Epistemologie ist, dass sie nicht mehr an der Subjekt-ObjektRelation der klassischen Erkenntnistheorie ansetzt, sondern den Vorgang des Wissensgewinns als Prozess sui generis auffasst. Die Frage gilt den historischen Bedingungen und Formen, unter denen Gegenstände zu Gegenständen des Wissens werden. Damit ist noch nichts über die konkrete Gestalt und die temporale Struktur dieses Prozesses ausgesagt. Traditionell wurde der Fortschritt der Wissenschaften als eine Kumulation von Wissen verstanden. Für historische Epistemologen wie Bachelard ist dieses Modell für den historischen Entwicklungsprozess der Wissenschaften kontra-indiziert. Die
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Wissenschaften entwickeln sich in der Form einer Serie von mehr oder weniger radikalen Brüchen. Im Gefolge solcher Rupturen wird altes Wissen durch neues ersetzt. Im Einzelnen muss hier jedoch differenziert werden. Bachelard sieht es für das moderne Wissen zum einen als charakteristisch, dass es mit Alltagsvorstellungen bricht. Zum anderen ist aber auch der weitere Entwicklungsverlauf wissenschaftlichen Wissens durch Brüche skandiert, die das jeweils vorgängige Wissen als obsolet erscheinen lassen. Alexandre Koyré hat die Durchsetzung der frühneuzeitlichen Wissenschaftsauffassung als Revolution betrachtet, an deren Ende nicht einmal mehr verstanden werden konnte, wie man vorher dachte. Thomas Kuhn hat daran angesetzt und die Entwicklung der Wissenschaften als eine Abfolge von Paradigmen dargestellt, die mit ihren Vorgängern jeweils inkommensurabel sind. Georges Canguilhem hat die Entwicklung wissenschaftlicher Begriffe eingebettet gesehen in ein komplexes Gefüge von Konjunkturen, das sich der negativen Teleologie des Vorläufer-Konzepts radikal entzieht. Die Wissenschaft entwickelt sich aber auch nicht im Sinne einer positiven Teleologie auf etwas hin, sondern vielmehr immer nur von etwas weg. Michel Foucault hat dem Wissen einer Zeit jeweils ein Dispositiv unterstellt, das zeitgenössisch nicht explizierbaren Diskursregeln unterliegt. (Diskursanalyse) Canguilhem hat dagegen darauf bestanden, dass die Entwicklung von Wissensbereichen einer Epoche durchaus unterschiedlichen Zeitregimes unterliegen kann. Sowohl Ian Hacking als auch Peter Galison haben ebenfalls betont, dass Ungleichzeitigkeiten zwischen Theorie-, Technologie- und Experimentaldynamik eher die Regel als die Ausnahme darstellen. Dieser Liste könnten viele weitere Nuancen angefügt werden. Historische Epistemologie setzt voraus, dass im Wissensgewinnungsprozess qualitativ Neues entsteht. Sie versucht, die Bedingungen zu verstehen, unter denen dies geschieht und die Beziehungen zu klären, die das Neue mit dem Alten unterhält. Die Einheiten, an denen sie ansetzt und mit denen sie operiert, können unterschiedlich weit gefasst sein. Bei Foucault ist es die episteme einer ganzen Epoche. Kuhn operiert im Wesentlichen auf der Ebene von Disziplinen. Für Canguilhem sind Begriffe der zentrale Ansatzpunkt zur Darstellung von Trajektorien. Für Ludwik Fleck sind es Tatsachen, ihre Entstehung und Entwick-
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lung. ( Realismus) Imre Lakatos hat Forschungsprogramme als grundlegende Einheiten der Untersuchung ins Spiel gebracht. Meine eigenen Arbeiten basieren auf der Annahme, dass die Dynamik der empirischen Wissenschaften seit der Mitte des 19. Jahrhunderts auf der Ausbildung, der Differenzierung und der Verknüpfung von Experimentalsystemen und der in ihnen verhandelten epistemischen Dinge beruht. Für die historische Epistemologie, wie sie im Verlauf des 20. Jahrhunderts Gestalt annahm, erscheinen zwei Momente als besonders charakteristisch. Erstens wird die Wissenserzeugung als ein Prozess gesehen, der in seiner wechselnden materiellen und instrumentellen Verfasstheit untersucht werden muss. Zweitens wird sie als ein Prozess gesehen, der wesentlich kollektiv und damit sozial verfasst ist.
L ITERATUR Bachelard, Gaston (1988): Der neue wissenschaftliche Geist, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Canguilhem, Georges (1968): Etudes d’histoire et de philosophie des sciences, Paris: Vrin. Fleck, Ludwik (1935): Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, Basel: Schwabe. Galison, Peter (1988): »History, philosophy, and the central metaphor«, in: Science in Context 2, S. 197-212. Hacking, Ian (1983): Representing and Intervening, Cambridge, MA: Cambridge University Press. Koyré, Alexandre (1957): From the Closed World to the Infinite Universe, Baltimore: Johns Hopkins University Press. Kuhn, Thomas S. (1981): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Mit einem Postskriptum von 1969, 5. Auflage, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Lecourt, Dominique (1969): L’épistémologie de Gaston Bachelard, Paris: Vrin. Lakatos, Imre (1977): The Methodology of Scientific Research Programmes, Cambridge, MA: Cambridge University Press. Rheinberger, Hans-Jörg (2001): Experimentalsysteme und epistemische Dinge, Göttingen: Wallstein.
Imagination N ATALIE Z EMON D AVIS
Imagination oder Vorstellungskraft ist ein wichtiges Werkzeug für jeden Historiker; das gilt auch für jene, die sich mit gut dokumentierten, materialreichen Fällen beschäftigen, wie den Bilderstürmen, Getreidepreisen oder dem Heiratsverhalten von Unterschichten, oder beispielsweise mit umfassenden Tagebuchaufzeichnungen und Briefwechseln von Politikern arbeiten. An einem gewissen Punkt muss jeder Historiker einen Schritt zurücktreten, um die Quellen zu interpretieren. Warum gab es zu dieser Zeit Bilderstürme und weshalb haben sie diese Form angenommen oder jenes Ziel gewählt? Warum hat sich der Präsident ausgerechnet in diesem Moment dafür entschieden, in den Krieg einzutreten? Er oder sie stellt sich dann Situationen vor, zieht Vergleiche oder denkt über kontrafaktische Ereignisse nach ( Kontrafakten), die eine argumentative Verbindung von den Quellen zu einer Interpretation erlauben. ( Quelle) Manchmal bemüht er dabei die Vorstellungskraft mehr, da der Historiker sich für bestimmte Fragen an die Geschichte entschieden hat, neue oder besonders schwierige Fragen, während die Quellen plötzlich versiegen oder einer eindeutigen Interpretation widerstreben. Denken wir etwa an Alain Corbins Buch Auf den Spuren eines Unbekannten. Ein Historiker rekonstruiert ein ganz gewöhnliches Leben. Corbin wählte Pinagots Namen zufällig aus dem Findbuch eines Département-Archivs. In den Archiven gab es allerdings kaum Hinweise auf Pinagot selbst. Um seine Welt zu rekonstruieren und seinen Lebensweg zu beschreiben, musste Corbin sowohl auf seine Vorstel-
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lungskraft als auch auf sein Wissen aus früheren Arbeiten zurückgreifen, um nach Quellen zu suchen, die Informationen über Pinagots Leben und seine Welt geben konnten. ( Biografie) In ähnlicher Weise wollte Stephen Nadler in seiner intellektuellen Biografie Spinozas ausdrücklich wissen, wie es zur »Verwandlung des jungen Mannes […] von einem gewöhnlichen jüdischen Jungen […] zu einem so radikal skeptischen Philosophen« kommen konnte. Es gab sehr wenig gesicherte Informationen über Spinozas frühe Jahre, nahezu nichts aus dieser Zeit war überliefert, sieht man von dem kolossalen Dokument seiner Exkommunikation ab. Nadler verwendete nicht nur all sein Wissen, sondern auch seine Vorstellungskraft, um jene andersdenkenden Kreise in Amsterdam zu ermitteln, mit denen Spinoza in Austausch gestanden haben konnte. Indem er Anhaltspunkte, die aus späteren Freundschaften bekannt waren, mit Themen kombinierte, die für seine Fragestellung wichtig waren, stellte sich Nadler mögliche Beziehungen zwischen Spinoza und anderen Kollegiaten vor. Als ich selbst für die Zeit um 1540 keinen direkten Beleg für den Umgang der jungen Bertrande de Rols mit der Impotenz ihres Mannes Martin Guerre finden konnte, ließ ich in meiner Vorstellung die Quellen Revue passieren, die ich kannte, um schließlich aus dem Malleus Maleficarum (Hexenhammer) zu zitieren. Der Historiker muss diesen imaginativen und spekulativen Gebrauch von Belegen stets ausweisen. Um den Wahrheitsgehalt unserer Aussagen für andere erkennbar zu machen, verwenden wir Worte wie »mutmaßlich« oder »wir können uns vorstellen« oder versehen unsere Verben mit Wendungen wie »könnte«, »möglicherweise«, »sicherlich« oder »zweifellos« (!). Nadler eröffnete seine Erwägungen über den intellektuellen Austausch des jungen Spinoza mit der Formulierung »es ist keinesfalls unwahrscheinlich, dass …«. Ich bemerkte zur Beobachtung Bertrandes und des Inquisitors: »Bertrande mag es nicht genau mit diesen Worten gesagt haben …«, ehe ich über deren mögliche Bedeutung für sie spekulierte. Manchmal sind Historiker durch ein Schweigen in den Quellen gezwungen, ihre Vorstellungskraft zu verwenden. In ihrem Leben und Schicksale der Elizabeth Marsh: eine Frau zwischen den Welten des 18. Jahrhunderts wollte Linda Colley zeigen, wie Marshs Leben und Schreiben die Welt des 18. Jahrhunderts von der Karibik über London
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und Nordafrika bis nach Indien illustrierte. Inmitten des umfangreichen Quellenmaterials gab es eine »auffallende Lücke« bezüglich Elisabeths Mutter. Die Geburt der Mutter war nicht in den Kirchenbüchern verzeichnet; die auf ihren Namen folgende Beschreibung im Familienbuch der Marshs war ausgestrichen; ihr Grabstein blieb ohne Aufschrift, was ebenfalls von den Gepflogenheiten der Familie abwich. Anhand zusätzlicher Quellen skizzierte Colley ein Bild von Elisabeth Marshs Mutter als Mulattin aus dem Sklavenmilieu und überlegte, welche Konsequenzen das für Elisabeths Selbstwahrnehmung haben mochte, zumal sie sich gerne »jenseits einfacher Kategorisierungen« beschrieb. Bei all diesen Überlegungen achtete Colley stets darauf, Worte wie »könnte« und »möglicherweise« zu verwenden. Wenn Historiker ihre Imagination einsetzen, so sollten sie sich dabei stets auf Anhaltspunkte aus der Vergangenheit stützen und außerdem die Stelle deutlich kennzeichnen. Dann kann die Vorstellungskraft unser Bild der Vergangenheit um noch zu entdeckende Bereiche erweitern. Aus dem Amerikanischen von Mario Wimmer
L ITERATUR Colley, Linda (2009): Leben und Schicksale der Elizabeth Marsh. Eine Frau zwischen den Welten des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a.M.: Zweitausendeins. Corbin, Alain (1999): Auf den Spuren eines Unbekannten. Ein Historiker rekonstruiert ein ganz gewöhnliches Leben, Frankfurt a.M.: Campus. Davis, Natalie Zemon (1984): Die wahrhaftige Geschichte von der Wiederkehr des Martin Guerre, München: Piper. Nadler, Steven (1999): Spinoza: A Life, Cambridge, NY: Cambridge University Press.
Internationale Bibliografie J OHN L. H ARVEY
Seit dem 17. Jahrhundert gibt es in der westlichen bibliografischen Tradition aus praktischen und ethischen Erwägungen heraus Versuche, durch Verbreitung von Informationen über Veröffentlichungen jenseits der sprachlichen und staatlichen Grenzen die Forschungszusammenarbeit zu internationalisieren. Generell wurden dabei zwei Formen der Bibliografie unterschieden: »Analytische Bibliografien« beschäftigen sich mit der äußeren Erscheinungsform von Büchern, wie etwa Papierart oder Bindung; weiter verbreitet sind demgegenüber »kumulative Bibliografien«, in denen Veröffentlichungen der verschiedensten Felder gesammelt, kategorisiert und verzeichnet werden. Seit dem 19. Jahrhundert standen kumulative Bibliografien für die internationale Verbreitung von Sachkenntnis, die jeder ausgebildete Wissenschaftler besitzen und nutzen sollte. Zumal Historiker den Zugang zu fremdsprachiger Literatur als sine qua non ihres professionellen Selbstverständnisses auffassten, wurden gedruckte Bibliografien wichtige methodische Werkzeuge, die den immer umfassenderen Forschungsvorhaben nicht nur ihre Richtung gaben, sondern auch dabei halfen, den Umfang zu bemessen. Gestützt auf standardisierte Zitierregeln und auf Kriterien der Kategorisierung wurden ab Mitte des 19. Jahrhunderts Bibliografien ein Instrument, um einerseits die »Wissenschaftlichkeit« zu kontrollieren und (implizit) zu legitimieren, andererseits aber auch, um einzelne Studien oder ganze Kategorien in der Anonymität verschwinden zu lassen. ( Peer review)
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Der Erste Weltkrieg zwang die Historiker, der Entprofessionalisierung entgegenzutreten und die Zersplitterung der europäischen Forschungslandschaft aufgrund staatsbürgerlicher Loyalitäten zu verhindern. Deshalb bemühten sich nach 1918 liberale Wissenschaftler auf beiden Seiten des Atlantiks, durch neue, stärker formalisierte internationale Bibliografien die Forschungszusammenarbeit sowie gemeinsame Publikationen zu unterstützen. Sie versuchten mit der wachsenden Menge historischer Publikationen Schritt zu halten, während sie gleichzeitig daran arbeiteten, die nationalen Gräben, die durch den Weltkrieg entscheidend vertieft worden waren, durch Kosmopolitismus zu überbrücken. Umgekehrt war eine bestimmte Gruppe nationalistischer Historiker, vornehmlich aus Zentraleuropa, an der internationalen Zusammenarbeit nur als einer »Spionage«-Wissenschaft interessiert, um ihr jeweiliges Nationalprestige zu verteidigen, selbst dann noch, als sie aggressive politische Ziele gegen ihre ausländischen Partner verfolgten. ( Nationalgeschichte) Ein Hauptschauplatz dieser Spannungen war die Internationale Bibliografie der Historischen Wissenschaften, die 1926 durch das Internationale Komitee der Historischen Wissenschaft (ICHS) als Aushängeschild gegründet wurde. Die Unterstützung für die Bibliografie war bemerkenswert, sowohl als praktisches Forschungswerkzeug als auch als Symbol für die »technische Expertise«, die untrennbar mit der fortschreitenden Spezialisierung innerhalb der akademischen Disziplinen verbunden war. Die jährlich erscheinenden Bände der Internationalen Bibliografie sollten alle Teilnehmer als gleichberechtigte Partner in einer Reihe von Forschungsgebieten vereinen, die von den national ausgerichteten Forschungsinstitutionen oft ignoriert worden waren. Ähnlich wie kleinere Unternehmungen vor 1914 war die Internationale Bibliografie von einer hinderlichen Unpünktlichkeit gekennzeichnet. Die Kontrolle der »Informationshoheit« ließ unvermeidlich Fragen nach den Machtverhältnissen zwischen den maßgeblichen politischen und finanziellen Mitgliedstaaten aufkommen. Ihre Kritiker zeigten die Grenzen der Zusammenarbeit auf: Die Beiträger aus 25 verschiedenen Ländern hätten nichts anderes als einen babylonischen Turm errichtet, der unpraktische Unterteilungen aufweise, die nicht zu einheitlichen Themen zusammengefasst würden, wichtige Publikatio-
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nen würden übersehen, zudem erschienen die Bände häufig zu spät, um den Spezialisten als Hilfsmittel zu dienen. Die stärksten Spannungen innerhalb der Internationalen Bibliografie gab es aufgrund der deutschen Forschungspolitik. Selbst als US-amerikanische Behörden zustimmten, das Projekt innerhalb der ICHS zu finanzieren, planten deutsche Historiker, ihre Jahresberichte wieder aufleben zu lassen, die bereits vor dem Krieg Literaturüberblicke über die Geschichtsschreibung im Reich mit ergänzenden Berichten von ausländischen Spezialisten über internationale Themen kombiniert hatten. Unterstützt durch das Innenministerium der Weimarer Republik versprachen die deutschen Vertreter, die jährlichen Bände mit einem neuen Schwerpunkt auf »der Vereinigung des deutschen Volkes« einschließlich der deutschsprachigen Minderheiten in Europa wiederzubeleben. Deutsch-österreichische Historiker beteiligten sich an der ICHS, fürchteten allerdings, die Bibliografie werde sich zum weltweit maßgeblichen Instrument wissenschaftlicher Forschung entwickeln und dadurch den Status Deutschlands verringern. Noch bedenklicher aus ihrer Sicht war die Vorstellung, Vertreter der neuen Mitgliedstaaten des Historischen Komitees würden die Territorialaufteilungen von Versailles in einem Chor »nationaler« Geschichtsschreibung der neuen osteuropäischen Staaten anerkennen. Die deutschen Historiker erklärten sich daher einverstanden, an der Bibliografie des Komitees mitzuarbeiten, um ihren Einfluss zu behalten, verlangten aber gleichzeitig die Anerkennung ihrer eigenen, autonomen Jahresberichte. Auch noch nach der Machtübernahme der Nazis akzeptierten westeuropäische Historiker die deutsche Teilnahme an der Bibliografie und stimmten ab dem Band von 1936 einer Abteilung über »Rassen- und Volkskunde« stillschweigend zu. Nach dauernden Unstimmigkeiten akzeptierten sie selbst die umstrittene »Sektion Q« zur Zeitgeschichte unter dem Vorbehalt, dass die schlimmsten polemischen und populistischen Schriften nicht aufgenommen würden. Erst als sich 1938 die Anzeichen für kriegerische Auseinandersetzungen mehrten, entschieden sich die neuen britischen Direktoren, die Forderungen der deutschen Vertreter zurückzuweisen, die es daraufhin vorzogen, die Zusammenarbeit aufzukündigen. Bei den Jahresberichten verstärkte sich die internationale Ausrichtung nach 1933 sogar. Die seit den 1920er Jahren das Projekt leiten-
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den Herausgeber wussten, dass es die Voraussetzung für internationale Anerkennung war, nationale Ziele in positivistische Wissenschaftsnormen zu kleiden. Sie versuchten internationale Gelehrte dadurch zu beeindrucken, dass sie möglichst viele Titel über Themen wie etwa Auslandsdeutschtum herausbrachten. Die wissenschaftliche Anerkennung von westlichen und neutralen Staaten für derlei Publikationen wollte sich jedoch nur zögerlich einstellen; selbst vermeintlich »natürliche« Verbündete wie die Schweiz oder Skandinavien begegneten den Jahresberichten mit einer »Mauer des Schweigens«. Nach 1930 planten sie stärkere westliche Zusammenarbeit mit Frankreich und den Niederlanden, um Arbeiten im Bereich der Grenzforschung zu verzeichnen. Deutsche Historiker schlugen eine neue Internationale Austauschaktion mit belgischen und französischen Kollegen vor, die zur »Normalisierung« der Beziehungen mit Zentraleuropa bereit waren. Die Franzosen stimmten nach einigem Zögern der Schaffung einer offiziellen Kommission mit der Begründung zu, ein Mangel an Wissen über die deutschen Forschungen zur Geschichte West- und Zentraleuropas wäre »fatal« für die französische Geschichtswissenschaft. Mit dem Zusammenbruch der Weimarer Republik und den darauffolgenden Krisenjahren verlangsamten sich die Fortschritte, bis zum August 1934 hatten jedoch zwei Büros für Informationsaustausch ihre Arbeit aufgenommen, die den deutsch-französischen Kontakt unterstützen sollten. Inzwischen war durch den Hanseatischen Geschichtsverein eine weitere jährliche Bibliografie gegründet worden, die Hansische Umschau, die Forschungen zur nordeuropäischen Stadt- und Handelsgeschichte »von Gibraltar bis Novgorod« katalogisieren sollte. Erneut waren niederländische und belgische Historiker bereit, frühere professionelle Kontakte speziell im Bereich der Verfassungs-, Agrar-, und Politikgeschichte fortzusetzen. Einige französischsprachige Spezialisten, wie Marc Bloch, traten gegen diese Zusammenarbeit auf, vor allem in Hinblick auf das Rassendenken der Nazis und die Ausgrenzung von Arbeiten jüdischer Autoren. Dennoch behielten die deutschen Direktoren die oberflächliche Verpflichtung zur »unpolitischen Objektivität« bei, weil sie hofften, ihre Unterstützung von Themen wie regionaler Unabhängigkeit könnten belgische Historiker dazu bringen, einen neutralen politischen Standpunkt in der Gegenwart einzunehmen. Ihre Versuche waren bemerkenswert erfolgreich, wenn
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man bedenkt, dass sie etwa den flämischen Mittelalterhistoriker François-Louis Ganshof zur Zusammenarbeit gewinnen konnten. Französische Wissenschaftler zögerten so lange, die letzten Verbindungen zu beenden, bis Ende der 1930er Jahre selbst oberflächliche professionelle Standards aufgegeben wurden. Die Internationale Bibliografie nahm nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Arbeit wieder auf. Jetzt, da die transnationalen Beziehungen innerhalb der Geistes- und Sozialwissenschaften nicht mehr durch nationale Fesseln behindert wurden, erfüllte sie ihre eigentliche Aufgabe, Wissen zu verbreiten und zu vertiefen. Die methodologischen Debatten wurden selbstverständlich fortgesetzt, doch die vielleicht größte praktische Herausforderung für die Bibliografie ist nicht länger die Abschottung oder die Informationskontrolle. Gegenwärtig scheint es angesichts einer unbändigen, weltumspannenden Informationsflut – vom Internet bis zum I-Pod – die größte Herausforderung für den Einzelnen geworden zu sein, die internationalen Forschungsergebnisse zu destillieren und für sich nutzbar zu machen. ( Historiografie) Erkennt man die Souveränität über die Forschungsliteratur als Kriterium professioneller Autorität weiterhin an, wird dieses Jahrhundert der Vernetzung es möglicherweise nötig machen, grundsätzlich zu überdenken, wie bibliografische Werkzeuge uns dabei helfen können, die weltweite Produktion von Wissen in unserem Fach zu verfolgen und in die eigene Arbeit einzubeziehen. Aus dem Amerikanischen von Mario Wimmer
L ITERATUR Balsamo, Luigi (1990): Bibliography: History of a Tradition, Berkeley: B.M. Rosenthal. Charle, Christophe/Schriewer, Jürgen/Wagner, Peter (Hg.) (2004): Transnational Intellectual Networks: Forms of Academic Knowledge and the Search for Cultural Identities, Frankfurt a.M.: Campus. Erdmann, Karl D. (1987): Die Ökumene der Historiker: Geschichte der Internationalen Historikerkongresse und des Comité Interna-
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tional des Sciences Historiques, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. International Bibliography of Historical Sciences. Internationale Bibliographie der Geschichtswissenschaften, Paris: de Colin [u.a.] 1.1926(1930)-14.1939(1942); 15.1940/46(2005); 16.1947(1949)-. Schneider, Georg/Nestler, Friedrich (1999): Handbuch der Bibliographie, 6. Vollst. überarb. Auflage, Stuttgart: Hiersemann.
Kliometrie M ICHAEL P AMMER
Historische Ökonometrie, das ist die historische Analyse mit Mitteln der Ökonometrie, der theoriegeleiteten Messung wirtschaftlicher Vorgänge mit statistischen Mitteln. Kliometrie spezifiziert nach Hypothesen über historische Sachverhalte Gleichungen. Diese Gleichungen werden inferenzstatistisch getestet, das heißt man benutzt eine begrenzte Zahl von Beobachtungen, um auf die zugrundeliegende Gesamtheit zu schließen, aus der die beobachteten Fälle stammen; der Test gibt Auskunft darüber, wie genau die Gleichungen über die Gesamtheit informieren. Alle drei Schritte (hypothesengeleitete Forschung, Spezifikation von Schätzgleichungen, inferenzstatistischer Test) sind essentiell. Die Formulierung von Hypothesen erfolgt durchweg in der Weise, dass Variationen in einer Größe kausal auf Variationen in anderen Größen zurückgeführt werden. Es werden also mindestens eine abhängige Größe und eine unabhängige Größe angenommen; wenn sich die unabhängige Größe verändert, verändert sich dadurch auch die abhängige Größe in einem bestimmten Ausmaß. Darstellbar sind diese Zusammenhänge in Diagrammen. ( Diagramme) In der Regel verbleibt es nicht bei einer Unabhängigen, sondern mehrere Unabhängige wirken zugleich auf die Abhängige ein; hypothetisch nimmt man dann eine bestimmte verhältnismäßige Stärke all dieser Einflüsse an. Die Kliometrie nimmt also funktionale Beziehungen an, die kausaler und nicht bloß korrelativer Art sind (korrelativ ist eine Beziehung, bei der sich eine Größe immer dann in einer bestimmten Weise verändert,
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wenn sich auch die andere verändert, was aber nicht auf direkte Einflüsse zwischen den beiden Größen, sondern in der Regel auf Einflüsse dritter Größen zurückgeht); selbstverständlich hat die Kausalität eine spezifizierte Richtung. Im Übrigen besteht kein verbindlicher Standard, in welchem Ausmaß die Hypothesen auf die Theorien der jeweils tangierten Wissenschaft (Ökonomie, Demografie und andere) zurückgreifen müssen. Dementsprechend ist hier die Variation groß. Die Bandbreite reicht von Arbeiten, die elaborierte wirtschaftstheoretische Ansätze auf historische Fragestellungen anwenden, über Arbeiten mit eher ad hoc formulierten Hypothesen oft trivialen Zuschnitts bis zu Arbeiten, die ihre Hypothesen überhaupt erst sekundär als Ergebnis blinder Datenverarbeitung gewinnen, was man dann entweder verschweigt oder euphemistisch als »explorative« Datenanalyse bezeichnet. ( Mittlere Dauer) Eindeutig ist die Anforderung, auf der Grundlage der Hypothesen Gleichungen zu spezifizieren. Eine Gleichung enthält in der einfachsten Form eine abhängige Variable auf der linken Seite und eine unabhängige Variable auf der rechten; die unabhängige Variable ist mit einem Koeffizienten versehen, der die Stärke des Einflusses auf die Abhängige angibt. Die abhängige Variable ist somit eine Funktion der unabhängigen Variablen; wie diese Funktion zu spezifizieren ist, hängt von den theoretischen Vorannahmen ab. Die Möglichkeiten sind vielfältig. Zum Beispiel kann der Zusammenhang linear sein, etwa bei der Schätzung des Wachstumstrends des österreichischen Bruttoinlandsprodukts von 1946 bis 2002: bip = –6319,75 + 3,25 * jahr
Unter Einbeziehung des statistischen Fehlers bedeutet das, dass das österreichische BIP in jener Zeit jedes Jahr um 3,2-3,3 Milliarden Euro (zum Wert von 1995) gestiegen ist, das heißt der gesuchte Wert liegt mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent in diesem Intervall. Das Ergebnis impliziert, dass die Wachstumsraten im Wirtschaftswunder atypisch hoch waren und dann nach und nach geringer wurden. Eine andere Variante wäre ein exponentieller Zusammenhang (der Logarithmus der Abhängigen ist ein bestimmtes Vielfaches der Unab-
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hängigen), dem etwa die Entwicklung vor dem Ersten Weltkrieg viel eher entspricht als einem linearen Zusammenhang: bip = e
–43,23 + 0,0244 * jahr
Dies bedeutet, dass das österreichische BIP in jener Zeit jedes Jahr real um 2,4-2,5 Prozent gestiegen ist. Die Wachstumsraten blieben in dieser Periode also ziemlich konstant und die jährlichen absoluten Zuwächse wurden somit größer. Es gibt viele weitere Möglichkeiten. Diese einfachste Form einer Gleichung spielt außer in Berechnungen von zeitlichen Trends in der Wirtschaftsgeschichte praktisch kaum eine Rolle. In der komplexeren Form enthält die Gleichung auf der rechten Seite mehrere Unabhängige, die zusammen, aber jeweils mit spezifischer Stärke, auf die Abhängige einwirken. Noch komplexere Modelle sehen mehrere Abhängige, mehrere Unabhängige und neben kausalen Beziehungen auch korrelative Beziehungen vor. Das am häufigsten verwendete Verfahren ist die lineare Regression, bei der die zuvor allenfalls in bestimmter Weise umgeformten Unabhängigen (samt Koeffizienten) durch das Pluszeichen miteinander verbunden sind. Für gewisse Arten von Daten sind andere Verfahren erforderlich. Essenziell ist schließlich der statistische Test. Dabei wird die Varianz in der abhängigen Größe in zwei Teile geteilt: in jene Varianz, die durch die Varianz in den unabhängigen Größen erklärt werden kann (Veränderungen in den Unabhängigen rufen Veränderungen in der Abhängigen hervor), und jene Varianz, die durch die Unabhängigen nicht erklärt wird. Die Inferenzstatistik schließt von den Fällen der untersuchten Stichprobe auf die Grundgesamtheit und gibt an, wie groß der Fehler in den Schätzwerten wahrscheinlich ist. ( Stichprobe) Das Ergebnis der Rechnung ist also nicht ein punktgenauer Wert, der die Stärke des Einflusses einer jeden Unabhängigen auf die Abhängige angibt; vielmehr liegt der Wert, der diesen Einfluss bemisst, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit (zum Beispiel mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent, das heißt einer Irrtumswahrscheinlichkeit von 5 Prozent) innerhalb eines Bandes, dessen oberer und unterer Endpunkt genau angegeben werden können. Je geringer die Irrtumswahrscheinlichkeit sein soll, desto weiter müssen diese Endpunkte
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auseinandergezogen werden. Wenn sie unendlich weit voneinander entfernt sind, ist ein Irrtum ausgeschlossen (allerdings wird ein solches Ergebnis nicht zur Publikation angenommen). ( Peer review) Das Hauptanwendungsgebiet der Kliometrie sind Wirtschaftsgeschichte und historische Demografie, es gibt aber auch Arbeiten aus verschiedenen anderen Gebieten der Sozialgeschichte sowie der politischen, der Kultur- und Mentalitätengeschichte, die dem Muster der Kliometrie folgen und auch auf einschlägigen Tagungen und in den einschlägigen Publikationen einen Platz haben. Grundsätzlich können alle historischen Fachgebiete mit Mitteln der Kliometrie bearbeitet werden. Die Kliometrie wurde als Forschungsrichtung in den 1950er Jahren in die Wirtschaftsgeschichte eingeführt und wurde lange Zeit methodologisch intensiv diskutiert. Die Auseinandersetzungen wurden auch durch die Hereinnahme politisch sensibler Themen in das Forschungsgeschehen härter. Insbesondere sind hier die Forschungen zur Geschichte der Sklaverei in den Vereinigten Staaten zu nennen, in denen die besondere Institution eher unbefangen auf ihre Effizienz und andere Fragen hin untersucht wurde; manche argwöhnten in solchen Forschungen eine Legitimation der Sklaverei. Als Vertreter der Klio-metrie erhielten Robert W. Fogel und Douglass C. North 1993 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften, Fogel für seine historischen Forschungen über Eisenbahnen und Wirtschaftswachstum (nicht für seine Studien zur Sklaverei), North für seine institutionenökonomi-schen Ansätze in der Wirtschaftsgeschichte. Heute spielt sich die gesamte angelsächsische wirtschaftshistorische Forschung im Bereich der Kliometrie ab, auch auf dem europäischen Kontinent hat sich die Kliometrie etabliert. Es existieren zwei gelehrte Gesellschaften, die sich der Kliometrie verschrieben haben, nämlich die Cliometric Society in den Vereinigten Staaten von Amerika und die European Historical Economics Society. Es bestehen drei einschlägige Fachzeitschriften, die Explorations in Economic History, die European Review of Economic History sowie Cliometrica; die beiden anderen führenden wirtschaftshistorischen Zeitschriften (neben den Explorations), das Journal of Economic History und die Economic History Review, folgen denselben Prinzipien. Bereits um 1990 gehörten etwa vier Fünftel der Aufsätze im Journal of Economic History
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zur Kliometrie. Die methodologische Diskussion hat mittlerweile aufgehört. Außenstehende schließen manchmal daraus, dass die Kliometrie wieder aus der Mode gekommen sei; sie ist aber nur so selbstverständlich geworden, dass man nicht mehr darüber diskutiert. Für die Ausbreitung der Kliometrie war der Umstand wichtig, dass sie, entgegen der Tradition der Wirtschaftsgeschichte im deutschsprachigen Raum, nicht an historischen, sondern an wirtschaftswissenschaftlichen Instituten entstanden ist. Die meisten Vertreter der Kliometrie sind ausgebildete Ökonomen, was ihnen sowohl den Zugang zur ökonomischen Theorie als auch die Anwendung des statistischen Instrumentariums erleichtert. Im deutschsprachigen Raum waren Wirtschaftshistoriker selbst an sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten die längste Zeit meist ausgebildete Historiker, eventuell auch Betriebswirte oder Juristen, aber nur in Ausnahmefällen Ökonomen. Ihre Ansätze kamen daher in der Regel nicht aus der ökonomischen Theorie. Entsprechend ihrer Ausbildung und den unter Studenten jener Fächer vorherrschenden Neigungen waren sie auch keine ausgesprochenen Kenner des statistischen Instrumentariums. In den letzten Jahrzehnten hat sich durch die Berufung mehrerer Kliometriker auf wirtschaftshistorische Professuren in Deutschland und der Schweiz ein gewisser Wandel vollzogen.
L ITERATUR Baten, Jörg (2004): »Die Zukunft der kliometrischen Wirtschaftsgeschichte im deutschsprachigen Raum«, in: Günther Schulz u.a. (Hg.), Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Arbeitsgebiete – Probleme – Perspektiven. 100 Jahre Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Stuttgart: Steiner, S. 639-653. Carlos, Ann M. (2010): »Reflection on reflections: review essay on reflections on the cliometric revolution: conversations with economic historians«, in: Cliometrica 4, S. 97-111. Dumke, Rolf (1986): »Clio’s Climacteric? Betrachtungen über Stand und Entwicklungstendenzen der Cliometrischen Wirtschaftsgeschichte«, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 73, S. 457-487.
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McCloskey, Deirdre (1987): Econometric History, Basingstoke: Macmillan Education. Temin, Peter (1972): »Introduction«, in: Ders. (Hg.), New Economic History. Selected Readings, Harmondsworth: Penguin, S. 7-16. Whaples, Robert (1991): »A Quantitative History of the Journal of Economic History and the Cliometric Revolution«, in: Journal of Economic History 51/2, S. 289-301.
Kontrafakten P IERRE -M ICHEL M ENGER
Wie können wir uns das, was wir beobachten – historische Tatsachen, soziale und ökonomische Prozesse, individuelle Handlungen, kollektive Verhaltensweisen –, erklären und wie können wir daraus Voraussagen und Prognosen ableiten? Mit anderen Worten, wie stellen die Sozial- und Geschichtswissenschaften Inferenzen her? Die einfachste Antwort auf diese Frage ist, dass der Forscher Tatsachen und deterministische Kausalverbindungen darauf untersucht, inwiefern diese Tatsachen das Ergebnis von identifizierbaren Ursachen sind. Aber wie sollen wir die Ursachen auswählen und ihre jeweilige Wirkung bewerten? ( Materialistische Geschichtsschreibung) Für eine solche Untersuchung bedarf es der Fähigkeit, Hypothesen, Urteilsbildungsprozesse, inferentielle Regeln und probabilistische Instrumente zur Messung der Stärke von Kausalverbindungen zu entwickeln. Eine historische Tatsache in ihrer ereignishaften Singularität beugt sich diesem Analysevorgehen nur, wenn bei der Suche nach einer historischen Erklärung der Möglichkeitscharakter der zu bildenden Urteile als gewinnbringend und nicht als einschränkend aufgefasst wird: Hier kommt die Produktivität der kontrafaktischen Argumentation ins Spiel. Max Weber hat in einem berühmten Essay über die Analyse der historischen Kausalität als Erster das heuristische Potenzial dieser Methode erkannt. ( Essay) Ein historisches Ereignis lässt sich nicht durch eine vollständige, alle entscheidenden Elemente lückenlos rekonstruierende Aufstellung der Kausalitäten erklären. Deshalb müssen wir auf Abstraktionen und
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hypothetische Überlegungen zurückgreifen, indem wir uns »von den tatsächlichen kausalen Komponenten des Verlaufs eine oder einige in bestimmter Richtung abgeändert denken und uns fragen, ob unter den dergestalt abgeänderten Bedingungen des Hergangs der (in den ›wesentlichen‹ Punkten) gleiche Erfolg oder welcher andere ›zu erwarten gewesen‹ wäre«. Die Bedeutung des Ereignisses (beispielsweise die historische Tragweite des Siegs der Griechen über die persische Flotte bei Salamis um 480 v.Chr.) ist nur zugänglich um den Preis der kontrafaktischen Argumentation: Indem sie der Tatsache eine Gegentatsache gegenüberstellt, eine nicht realisierte Möglichkeit, macht die Gedankenerfahrung aus dem Ereignis eine Entscheidung zwischen zwei Möglichkeiten, deren Tragweite messbar wird. ( Ereignis) Ist die Gedankenerfahrung ein zulässiges Verfahren? Drängt sie nicht den Historiker in einen kausalen Indeterminismus, der den historischen Lauf der Welt in eine kontingente Aktualisierung von Virtualitäten und eine chaotische Dynamik von Brüchen, Irrwegen und radikal unvorhersehbaren Wendepunkten verwandelt? Webers Antwort ist einfach und überzeugend: Der Lauf der Welt ist determiniert, aber er ist nur intelligibel durch wissenschaftliche Urteile, durch Konzepte und kausale Inferenzen und durch Modelle, die das Gegebene analytisch in eine Summe von elementaren Bestandteilen zerlegen und daraus die möglichen Kausalverbindungen ableiten. Wenn man die Tatsachen erklären möchte, bedeutet der Rückgriff auf Möglichkeitsurteile, das heißt auf »die Aussage über das, was bei Ausschaltung oder Abänderung gewisser Bedingungen geworden ›wäre‹«, kein Eingeständnis von Ohnmacht, von ungenauer oder mangelnder Kenntnis, die zwischen verschiedenen plausiblen Hypothesen schwankt, ohne deren Erklärungspotenzial gewichten zu können. Die exploratorische Produktion von Möglichkeitsurteilen ist ein kreativer Akt: »Was heißt es denn nun aber, wenn wir von mehreren ›Möglichkeiten‹ sprechen, zwischen denen jene Kämpfe ›entschieden‹ haben sollen? Es bedeutet zunächst die Schaffung von – sagen wir ruhig: – Phantasiebildern durch Absehen von einem oder mehreren der in der Realität faktisch vorhanden gewesenen Bestandteile der ›Wirklichkeit‹ und durch die denkende Konstruktion
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eines in bezug auf eine oder einige ›Bedingungen‹ abgeänderten Hergangs. Schon der erste Schritt zum historischen Urteil ist also – darauf liegt hier der Nachdruck – ein Abstraktionsprozeß, der durch Analyse und gedankliche Isolierung der Bestandteile des unmittelbar Gegebenen, – welches eben als ein Komplex möglicher ursächlicher Beziehungen angesehen wird, – verläuft und in eine Synthese des ›wirklichen‹ ursächlichen Zusammenhanges ausmünden soll. Schon dieser erste Schritt verwandelt mithin die gegebene ›Wirklichkeit‹, um sie zur historischen ›Tatsache‹ zu machen, in ein Gedankengebilde: in der ›Tatsache‹ steckt eben, mit Goethe zu reden, ›Theorie‹.« (Weber 1922: 275)
Die Gedankenerfahrung ist zu einem der bevorzugten Werkzeuge der konstruktivistischen Analysen in den Sozialwissenschaften geworden. Daraus, dass die »Tatsachen« Theorie enthalten und Konstrukte sind, können mehr oder weniger radikale Konsequenzen gezogen werden. Die konstruktionistische Analyse geht, wie uns Ian Hacking in Erinnerung ruft, von dem Postulat aus, dass das Ergebnis x kein unvermeidliches Ergebnis war. Mit der Gedankenerfahrung kann man verschiedene mögliche Szenarien entwerfen, indem man mit Hilfe von kontrafaktischen Hypothesen des Typs »Was wäre geschehen, wenn …?« vor die beobachtete Realität zurückgeht. Dieses Durchspielen von Alternativszenarien ist eine Art Experiment mit imaginären Variationen des realen Laufs der Dinge: Ein zu erklärendes Ereignis oder ein zu erklärender Fall sind gegeben, nun muss erforscht werden, welche Ursache, falls sie sich anders verhalten hätte, am direktesten dazu beigetragen hätte, dass das Ergebnis anders ausfällt. Paul Ricœur nennt dieses auf Einzelfälle angewendete Vorgehen »die einzelne Kausalzurechnung«: Diese weist »eine zweifache Affinität einerseits zu der Fabelkomposition, die auch eine wahrscheinliche Konstruktion durch die Einbildungskraft ist, andererseits zu der Erklärung nach Gesetzen« auf. (Ricœur 1988: 257) Die zweifache Affinität erklärt die Attraktivität des Vorgehens: halb Fantasieübung, halb Protokoll mentaler Experimente, lädt es uns ein, in der Zeit und in der Kausalkette zurückzugehen, um kühn das Reale unter die Möglichkeiten zu mischen, aus denen es hervorgegangen ist und aus denen auch ein anderes Reales hätte hervorgehen können. ( Realismus)
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Hacking zeigt auch, dass die sinnvolle konstruktionistische Suspendierung der Evidenz der Tatsachen sich leicht in eine sehr viel radikalere Form sozialer Kritik verwandeln kann, wenn die kontrafaktische Argumentation von normativen Erwägungen geleitet ist: x war nicht nur nicht unvermeidlich, sondern es war auch schlecht, und der Welt ginge es besser, wenn sie sich davon befreien könnte. Ist man zum Beispiel so sicher, dass Neukomm kein ebenso guter Komponist gewesen wäre wie Beethoven, wenn er, wie dieser, die Unterstützung der einflussreichen Mäzene der Wiener Aristokratie genossen hätte? Und ist nicht die Eigenschaft »großer Komponist« selbst, die die Wettbewerbsmaschinerie in eine ästhetische Sakralisierung der Rangordnung verwandelt, ein unvermeidlicher Mechanismus? Die Natur der konstruktionistischen Abweichungen muss präzise bestimmt werden, bis in ihre anfechtbarsten Sophismen hinein, wenn man die Effizienz der kontrafaktischen Experimente bewahren und ihren falschen Gebrauch verhindern will. Doch wie lässt sich garantieren, dass die kontrafaktische Manipulation der Komponenten der historischen Kausalität (Spezifizitäten des Kontexts, Vorhandensein und Wirksamkeit der Variablen, von denen angenommen wird, dass sie kausal zur Entstehung der untersuchten Tatsache oder des untersuchten Prozesses beigetragen haben) nicht zur puren Fiktion gerät? Die kontrafaktische Rekonstruktion der Geschichte ist zu einer Mode geworden (der der »What if?« history) und zur Quelle lukrativer Bestseller, sowohl im Bereich der Politik- und Militärgeschichte als auch im Bereich der Erforschung internationaler Beziehungen. Und sie hat sich stark der Faszination der großen historischen Persönlichkeiten bedient, um eine antideterministische Konzeption zu begründen: Die heroische (oder diabolische) Individualität löst eine entscheidende Richtungsänderung im Lauf der Dinge aus, auch wenn zu Beginn ihr Handeln nur eine kleine Abweichung hervorruft. ( Subjekt) Man kann, wie Randall Collins, daran erinnern, was alles falsch ist an der kontrafaktischen Überbetonung der Bedeutung der historischen turning points. Aber man kann auch, wie Richard Ned Lebow, zeigen, dass die kontrafaktische Argumentation wertvolles Experimentierpotenzial für die Fallanalyse bietet und bei der Prozessanalyse kausale Inferenzen herzustellen erlaubt. Alles in allem muss, wie es zum Bei-
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spiel Gary King vorschlägt, die kontrafaktische Analyse ihre Heuristik präzise bestimmen, indem sie versucht, die Distanz zwischen den Tatsachen und den kontrafaktischen Inferenzen zu messen, die Empfänglichkeit dieser für die angenommenen Hypothesen zu testen und die Gefahren der kontrafaktischen Extreme zu meiden. Die Methode und das Modell müssen in den Dienst der Imagination gestellt werden, wie es bereits Max Weber gefordert hatte. ( Imagination) Aus dem Französischen von Dorit Gesa Engelhardt
L ITERATUR Collins, Randall (2007): »Turning Points, Bottlenecks, and the Fallacies of Counterfactual History«, in: Sociological Forum 22, 3, S. 247-269. Hacking, Ian (1999): Was heißt »soziale Konstruktion«? Zur Konjunktur einer Kampfvokabel in den Wissenschaften, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch. Hume, David (1993): Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Hamburg: Meiner. King, Gary/Zeng, Langche (2007): »When Can History Be Our Guide? The Pitfalls of Counterfactual Inference«, in: International Studies Quarterly 51, S. 183-210. Lebow, Richard Ned (2010): Forbidden Fruit: Counterfactuals and International Relations, Princeton: Princeton University Press. Ders./Tetlock, Philip/Parker, Geoffrey (Hg.) (2007): Unmaking the West: »What-If« Scenarios that Rewrite World History, Ann Arbor: University of Michigan Press. Menger, Pierre-Michel (2009): Le travail créateur, Paris: Seuil /Gallimard. Ricoeur, Paul (1988): Zeit und Erzählung, Band 1: Zeit und historische Erzählung, Paderborn/München: Wilhelm Fink. Weber, Max (1922): »Objektive Möglichkeit und adäquate Verursachung in der historischen Kausalbetrachtung«, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen: Mohr, S. 266290.
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Kenntnis der Gegenwartskunst gehört nicht zum erwarteten Wissensbestand von Historikern. Die documenta ist kein Erkenntniswerkzeug der Geschichtswissenschaft, und Gegenwartskunst selbstredend keine ihrer Hilfswissenschaften. Obgleich eine Nähe zur Kunst die Geschichtswissenschaft seit ihren Anfängen (mit gutem Grund) begleitet hat, hält sich die geschichtswissenschaftliche Diskussion völlig fern von dem, was Gegenwartskünstler beschäftigt. Diese Abstinenz ist in verschiedener Hinsicht ein Verlust – in epistemologischer etwa, in politischer oder in darstellerischer. Geschichtswissenschaft ist grundsätzlich und unausweichlich politische Wissenschaft, sie argumentiert politisch im Medium des Vergangenheitsentwurfs. Auch Künstler machen in ihren Arbeiten politische Haltungen geltend, und dies nicht selten im Feld historischer Imagination; dies gilt für Komponisten wie für bildende Künstler, ebenso für Journalisten oder Film- und Theaterproduzenten. All diese Metiers konkurrieren um die historische Vorstellungskraft des gleichen Publikums. Sie agieren auf dem gleichen Terrain wie die Geschichtswissenschaft, wenn auch mit deutlich anderen Mitteln. ( Tunnelblick) So ist die wissenschaftliche Historie zwar die für die Moderne kennzeichnende Organisationsform historischen Wissens, zugleich aber sind andere Arten des Wissens über Geschichte und Geschichtlichkeit wirksam. Die bildende Kunst ist dabei nur eine von mehreren. Um sich ihres eigenen Status in der Gesellschaft zu vergewissern,
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muss die wissenschaftliche Art, Geschichte zu entwerfen, fortwährend neu formulieren, wie sich Nutzen und Nachteil ihres Arbeitens zu anderen Arbeitsweisen am historischen Bewusstsein verhalten. Epistemologische und kulturelle Selbstvergewisserung ist zentraler Bestandteil des Metiers, und wann immer Geschichtswissenschaft ihren Status reflektiert, vergleicht sie. Sie markiert gegenüber ihren Konkurrenten um historisch-politische Deutungen das, was sie mit ihnen teilen möchte oder muss, aber auch, wo Grenzen gezogen werden müssen. Erst im Vergleich mit nicht-akademischen Eingriffen in die kollektiven historischen Imaginarien zeigt sich der Status der akademischen Intervention. Dies gilt insbesondere in Bezug auf Gegenwartskunst. Was leistet historische Wissenschaft, was historisch operierende Kunst, wo sind jeweils Eigenheiten und Mehrwerte? Geschichtswissenschaft ist – ganz gleich, wie intensiv und qualitätsvoll sie forscht – am Ende Literatur. Als Theodor Mommsen im Jahr 1902 für seine Römische Geschichte den Nobelpreis für Literatur erhielt, war das Kriterium ein ästhetisches, weniger eines über die Valenz seiner Forschung. Mommsens Nobelpreis ist nur ein exponiertes Beispiel für einen unausweichlichen Aspekt geschichtswissenschaftlichen Arbeitens. Geschichtsforschung mündet zwingend ins Schreiben von Geschichte. Seit jeher widmen sich Historiker neben Sachproblemen des Forschens auch Formproblemen des Schreibens – des Verknüpfens von Material, des Alternierens zwischen Detail und Zusammenhang, und besonders: der Artikulation des labilen Gleichgewichts zwischen Empiriebindung und Entwurfsdenken. Diese fundamentalen Probleme geschichtswissenschaftlicher Praxis sind nicht ausschließlich ästhetischer Natur, ihr Reiz mag gerade in der Vermengung liegen von forschungspraktischen und sachlogischen Reflexionen einerseits und ästhetischen Entscheidungen andererseits. ( Historiografie) Das Formproblem hat nicht einfach damit zu tun, historisches Wissen in gute Worte zu fassen. In der Form des Schreibens wird die grundsätzliche Frage transportiert, wie Historiker überhaupt Erkenntnis erlangen, was die Grundlagen ihres Wissens sind und welchen Status dieses Wissen hat. ( Essay) Ist es Hypothesenwissen? Ist es Tatsachenwissen, ist es Konstruktion, vielleicht letztlich Fiktion? Historiker, die in Theoriediskussionen aktiv sind, bestreiten in der Regel, dass es historische Phänomene als etwas, das unabhängig vom histori-
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schen Entwurfsdenken existiert, überhaupt gibt. Historische Phänomene, soviel ist weitgehend unumstritten, existieren nur als retrospektiv Entworfene, und sie verändern sich mit jenen, die zurückschauen. ( Realismus) Der Schreibakt ist der Ort, an dem Historiker das Gleichgewicht halten müssen: Sie müssen auf der einen Seite die Vorstellung von historischem Wissen als Tatsachenwissen zurückweisen, auf der anderen Seite die Sensibilität für die Grenze zur Fiktion wachhalten. Gerade da, wo die Fakten an das Imaginäre heranreichen sind die historischen Wissenschaften immer wieder herausgefordert ( Imagination), aber auch immer wieder verlockt, diese Grenze zu überschreiten und irgendwie »künstlerisch« zu werden. Die Grenze zur Fiktion wird immer wieder neu getestet und ist der Grund, immer wieder neu über die spezifischen Leistungen und Qualitätsstandards wissenschaftlicher und künstlerischer Produktion von Geschichte zu diskutieren. Im Wissen um den fragilen Status historischer Erkenntnis zwischen Empirie, etwa durch das »Vetorecht der Quellen« (Reinhart Koselleck), und der Vorstellungskraft des historischen Entwurfs steckt das Formproblem historischen Schreibens. ( Quelle) Es wird nicht wissenschaftlich, sondern ästhetisch gelöst. Ernst Robert Curtius’ Buch Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter von 1948 ist seit langem Proseminar-Lehrstück für diese Problematik. Curtius hat erklärt, dass wissenschaftliche Versuche wie der seine als Literatur aufgefasst werden müssten und ästhetischen Normen folgten. Sie seien nicht »logische Disposition«, sondern »literarische Komposition«, thematisches Gruppieren, Verweben, Verketten. Das Darstellungsproblem reduziere sich »auf eine ästhetische Norm«, obgleich Wissenschaftler »auf strenge Demonstration nicht verzichten« könnten. Ein wissenschaftliches Buch sei deshalb immer eine Rechnung, »die nie rein aufgeht«. Wo Historiker vom Forschen zum Schreiben schreiten, betreten sie notgedrungen das Feld der Ästhetik, mithin einer Disziplin, in der Historiker nicht trainiert werden. Vergleichsweise spärlich ist der Strom wissenschaftlicher Produkte, die geschichtswissenschaftliche Erkenntnisprobleme in literarische Form zu übersetzen trachten, in vernetzende, nicht-lineare literarische Formen. Sie bewegen sich stets im Experimentellen, wenn nicht explizit im Kunstdiskurs: Aby Warburgs (unvollendeter) Mnemosyne-Atlas (1923 ff.), Erich Auer-
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bachs Mimesis (1946), Oskar Negts und Alexander Kluges Geschichte und Eigensinn (1981), Hans Ulrich Gumbrechts 1926. Ein Jahr am Rand der Zeit (2001) oder Catherine Davids Politics – Poetics (1997). Es geht bei diesen Versuchen – wie generell bei Formdiskussionen in der Geschichtswissenschaft – darum, die Aleatorik des wissenschaftlichen Verknüpfens in der Darstellungsweise sichtbar zu machen, Formen des Nicht-Kommentierens einzubauen; es geht um Auflösung chronologischer und argumentativer Linearität, um das Verweben der gegenwärtigen mit der vergegenwärtigten Zeit, um das Anschaulichmachen dessen, was methodisch vermittelt werden soll; schließlich geht es darum, das Alternieren zwischen der Beobachtung des Details und dem Blick auf das Ganze einerseits zu leisten, andererseits als problematischen Akt kenntlich zu machen. Hermetische Angebote – wie im Bereich der Wissenschaft von Aby Warburg oder im Bereich der Kunst von Hanne Darboven – dürften eine gute Medizin sein, wenn man Walter Benjamins sechste These über den Begriff der Geschichte ins Arbeitspraktische wenden will: »In jeder Epoche muss versucht werden, die Überlieferung von Neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriffe steht, sie zu überwältigen.« Nicht zu vernachlässigen ist in diesem Zusammenhang das Eingeständnis der Wissenschaftsgeschichte, dass sie über die Genese von wissenschaftlichen Entdeckungen noch recht wenig weiß. Die Science-in-Context-Forschung lässt jedenfalls wenig Zweifel daran, »dass Inspirationen aus außerwissenschaftlichen Quellen durchaus von kognitivem Nutzen sein können«, ja, dass sie »manchmal sogar essentiell sind« (Lorraine Daston). Es mag sein, dass der wissenschaftsexterne impulsgebende Raum beliebig ist, ein Fußballspiel nicht unergiebiger als die Auseinandersetzung mit historisch intervenierender Kunst (Egon Flaig). ( Historische Epistemologie) Wenn Künstler auf historische Argumentationen zurückgreifen, befassen sie sich in der Regel nicht damit, historische Narrative zu entwickeln, um auf drängende Fragen der Gegenwart Antwort zu geben. Es geht eher um Form und Duktus, um die Geste des historischen Arguments, eher um den Modus als um den Inhalt. Sie verzichten auf das Erklären im Sinne der Geschichtsforschung ebenso wie auf das Beschreiben oder Erzählen im Sinne der Geschichtsschreibung. Und wenn sie erzählen, geht es zumeist weniger um einen historischen
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Entwurf als um das Problematische solcher Entwürfe. Zwar reflektiert auch die Wissenschaft oft genug das Problematische historischer Entwürfe. Im zeitgenössischen Kunstdiskurs ist aber der Fokus vertauscht. Die Geschichtswissenschaft zielt – trotz aller erkenntnistheoretischer Brechungen – darauf, mit plausiblen historischen Erklärungen in gegenwärtige Problemlagen einzugreifen. Künstler hingegen interessieren sich in der Regel für den prekären Charakter historischer Entwürfe und drängen an die Schwelle, an der das Historische sich dem Fiktionalen nähert. In den 1980er und 1990er Jahren, als in der Folge von Hayden White nochmals intensiv der Status von historischer Erkenntnis, von Fakten, Tatsachen und Objektivität diskutiert wurde, waren nicht wenige Historiker von der Vorstellung angezogen, dass die Grenzen fließend seien und der Historiker eine besondere Art des Romanciers wäre. Nicht zuletzt die Beschäftigung mit Gegenwartskunst hätte helfen können, die Grenzlinien deutlich zu ziehen, ohne dadurch zu naiven Faktenverteidigern zu werden. Egon Flaig und Jan Assmann zum Beispiel haben das in der Auseinandersetzung mit Anne und Patrick Poirier deutlich gemacht. In der Auseinandersetzung mit Gegenwartskunst geht es für die Historiker weniger darum, die Grenzen zwischen Wissenschaft und Fiktion fließend zu machen, als darum, die verschiedenen Leistungsfähigkeiten abzuwägen. Zwar kann man sich theoretisch leicht darauf einigen, dass die Geschichtswissenschaft Gefangene der eigenen Zeit ist – etwa wenn nach 1989 den Mittelalterentwürfen in einer neuen Feudalismusdiskussion die Spuren des Kalten Krieges ausgetrieben werden, wenn auf dem Handbuchmarkt zunehmend Europa statt die Nation zum Normalformat der historischen Narrative wird, oder wenn gegenwärtig beim Überdenken des lateineuropäischen Mittelalters der Vergleich mit den islamischen und semitischen Kulturen die früher dominierende Gegenüberstellung von Mittelalter und Moderne überlagert (vgl. die makrohistorischen Entwürfe von Michael Borgolte und Michael Mitterauer). Es ist schwierig, dieser Gefangenschaft in der Zeitgenossenschaft gewahr zu werden. Für die Selbstreflexion sind Seismografen nützlich, die, so gut es geht, die eigene Beteiligung sichtbar machen. Dazu ist die Beobachtung parallel stattfindender Diskussionen in anderen Feldern besonders geeignet. Sicher nicht zufällig verlaufen die Meta-
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phernkonjunkturen (Archäologie, Archiv usw.) im akademischen wie im künstlerischen und kunstkritischen Diskurs sehr ähnlich. Als sich im geschichtswissenschaftlichen Betrieb zunächst Archäologie und dann Archiv als Leitmetapher historischer Tätigkeit durchsetzten, waren diese Metaphern als Schlagworte der Kunstkritik und der künstlerischen Ausdrucksweisen schon etabliert – vielleicht, weil die Geschichtswissenschaft erst mit gewisser Verzögerung die Bücher der großen Theoretiker der Gegenwart integriert, vielleicht auch weil künstlerische und wissenschaftliche Produktion von Geschichte Voraussetzungen miteinander teilen, die sie einander in ihrer komplizierten Zeitgenossenschaft spiegeln können.
L ITERATUR Assmann, Jan (1999): »Krypta. Bewahrte und verdrängte Vergangenheit. Künstlerische und wissenschaftliche Explorationen des kulturellen Gedächtnisses«, in: Ebd., Band 2, S. 83-99. Curtius, Ernst Robert (1948): Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern: Francke. Flaig, Egon (1999): »Spuren des Ungeschehenen. Warum die bildende Kunst der Geschichtswissenschaft nicht helfen kann«, in: Ebd., Band 2, S. 16-50. Jussen, Bernhard (Hg.): Von der künstlerischen Produktion der Geschichte, Band 1 (1997): Jochen Gerz; Band 2 (1999): Archäologie zwischen Imagination und Wissenschaft. Anne und Patrick Poirier; Band 3 (2000): Hanne Darboven – Schreibzeit; Band 4 (2003): Ferne Zwecke – Ulrike Grossarth, Band 5 (2004): Signal – Christian Boltanski, Göttingen: Wallstein.
Materialistische Geschichtsschreibung F RIEDER O TTO W OLF
Materialistische Geschichtsschreibung könnte als Trivialität erscheinen: Seit es überhaupt Historiker gibt, geht es darum, zu erzählen, »wie es wirklich gewesen«, anstatt etwa über Geister zu bramarbasieren oder sich auf bloße Ideen zu beziehen, die sich in keinerlei Weise historisch »verkörpert« haben. ( Realismus) In diesem Sinne verfährt jede ernst zu nehmende Geschichtsschreibung materialistisch. Umgekehrt könnte eine »materialistische Geschichtsschreibung« aber auch barer Unsinn sein: Eine Geschichtsschreibung etwa, die grundsätzlich darauf verzichten würde, überhaupt »Geschichten zu erzählen«, weil alle Narration unvermeidlich imaginär wäre, bloß weil sie überhaupt diachronisch und nicht systematisch strukturbeschreibend verfährt (Materialismus als Strukturalismus) oder auch weil sie solchen sinnlosen Ereignisfolgen einen erzählbaren Sinn unterstellen würde (Materialismus als Sinn-Nihilismus), müsste sich selbst aufgeben. Ähnliches würde für eine Geschichtsschreibung gelten, die in dem strengen Sinne deterministisch verfährt, dass sie keinen Spielraum für historische Entscheidungen zwischen alternativen »Entwicklungspfaden« mehr kennt oder keinerlei Initiativen im Sinne neu ansetzender »Entwicklungslinien« mehr zulassen wollte (Materialismus als historischer Determinismus). Kontrovers und erörterungsbedürftig ist ein zwischen diesen beiden Polen liegendes Problemfeld, in dem die Frage aufgeworfen und immer wieder neu beantwortet wird, was an historischen Ereignissen ( Ereignis), Aktionen und Prozessen in seiner Wirklichkeit erst da-
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durch zu erfassen ist, dass über die ausdrücklich erklärten oder auch plausibel zu unterstellenden Motive und Zwecke der jeweils Handelnden hinaus danach gefragt wird, was zu erklären vermag, warum sich nicht nur aus dem Geflecht der vielfältigen Handlungen – getragen von Individuen, von Kollektiven oder von Institutionen – bestimmte Handlungseffekte ergeben, sondern auch warum diese Motive und Zwecke, aber auch die in ihrer Verfolgung zugrunde gelegten Muster überhaupt als solche aufgetreten sind. Das schließt immer auch die kritische Frage mit ein, ob die erklärten Motive und Zwecke auch wirklich das Handeln der Beteiligten getragen und vorangetrieben haben bzw. ob und in welchem Maße dabei individuelle oder auch kulturelle (Selbst-)Täuschung im Spiel gewesen ist. Materialismus stünde an dieser Stelle für die Tendenz, das Ausmaß derartiger Täuschungen relativ hoch anzusetzen – während Idealismus in dieser Hinsicht bedeuten würde, von einem hohen Grad der Selbstdurchsichtigkeit und gegenseitigen Transparenz der historisch Handelnden auszugehen. Ebenso führt eine derartige Untersuchung historischer Entscheidungen und Ereignisse unvermeidlich auf die Frage, wie das Verhältnis zwischen der Ebene des Geflechts der Aktionen, in der explizite Initiativen und Aktivierungen möglich sind, und der Ebene der Hintergrundprozesse zu beurteilen ist, die sich einer direkten menschlichen Intervention entziehen. ( Strukturelle Gewalt) Das ist insofern eine zugespitzt offene Frage, als zum einen inzwischen erdgeschichtliche, biosphärische Prozesse auftreten, die auf menschliches »Eingreifen« im weitesten Sinne zurückgehen (wie etwa der Klimawandel) und zum anderen für immer mehr ökonomische, soziale und kulturelle Prozesse eine »relativ autonome« Eigenlogik in Anspruch genommen wird, die sich der unmittelbaren »Tatbeherrschung« durch die handelnden Menschen entziehen, also auch nicht unmittelbar in ihre Motive und Zwecke eingehen können. An dieser Stelle wird es wichtig, die omnihistorische Ebene der Betrachtung zu verlassen und sich eindeutig auf die ›bisherige Geschichte‹ zu beschränken. Eine materialistische Auffassung dieser Geschichte bis zur Gegenwart könnte sich dahingehend definieren, dass in ihrem Zentrum die Untersuchung von Macht und Herrschaft von Menschen, vor deren Hintergrund sich erst die Fragen klären lassen, die sich auf das Verhältnis von Handlungsmotiven und Prozessfakto-
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ren oder auf den Zusammenhang von Handlungsgeflecht und Hintergrundprozessen beziehen – insbesondere das Verhältnis von Ereignissen, wie sie irreduzibel perspektivisch im Geflecht der handelnden Subjektivitäten erlebt werden, zu den vorausgesetzten Prozessen, durch die immer wieder neu die Bedingungen des Handelns bestimmt werden. Diese könnten grundsätzlich auch gesellschaftswissenschaftlich durchdrungen und theoretisiert werden. Angesichts des gegenwärtigen vor diesen Fragen versagenden Zustandes der Gesellschaftswissenschaften ist eine ernsthafte materialistische Geschichtsbeschreibung aber vorerst darauf angewiesen, dicht deskriptiv zu verfahren bzw. sich an einzelnen paradigmatischen Theoremen wie der Marx’schen Analyse der sozialen Formen der kapitalistischen Akkumulation (vgl. Elbe 2008) zu orientieren. Von diesem Ausgangspunkt wird es dann auch möglich, sich genauer auf die Erträge der marxistischen Traditionen der Geschichtsschreibung (vgl. Robin/Grenon 1975; McLennan 1981; Küttler 1983), der Annales-Schule und auch der neueren deutschen Sozialgeschichte bzw. einer wirklich historisch verfahrenden Begriffsgeschichte zu beziehen. ( Bielefelder Schule) Inzwischen haben die eine Generation lang geführten Debatten um History from Below, Alltagsgeschichte und Microstoria indirekt die Frage aufgeworfen, auf welchen Grundlagen und wie weit sich Geschichtsschreibung überhaupt auf die Herausforderung der »großen Erzählungen« einlassen kann, ohne argumentativ der postmodernen Kritik an derartigen »abgehobenen« Konstruktionen zu erliegen. Damit wird indirekt die Problematik einer tragfähigen Anknüpfung an die einschlägigen Wissenschaften von Gesellschaft und Geschichte für die Historiografie relevant: Denn die postmoderne, »dekonstruktivistische« Ablehnung jeglicher begrifflichen Artikulation und theoretischen Erklärung hat sich als ein Hemmschuh für die wissenschaftliche Entwicklung erwiesen. ( Kunst) Eine vorrangige Aufgabe einer »materialistischen Geschichtsschreibung« dürfte heute immer noch darin liegen, sich auf das Niveau eines »Materialismus der Materialitäten« (vgl. Wolf 2008) zu erheben, indem sie zum einen die Untersuchungsergebnisse eines feministischen und (anti-)subalternen Materialismus aufgreift und zum anderen die unterschiedlichen historischen Schwellen- und Übergangsprobleme in einer Perspektive beschreibt, die ernsthaft die »Emergenz des
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Neuen« und die Durchsetzung historischer »Bifurkationen« zu ergründen versucht. Eine derart erneuerte materialistische Geschichtsschreibung wird nicht länger im Namen der Materialität des historischen Seins von einer kontinuierlichen und linearen Entwicklung ausgehen, die keine Brüche und keine Sprünge kennt. Und sie wird nicht mehr in den Denkfehler verfallen, die »eigene Materialität und Widersprüchlichkeit« etwa kultureller Prozesse oder sprachlicher Strukturen wegen der – im Allgemeinen durchaus zutreffenden – Feststellung zu übersehen, dass andere, etwa ökologische oder politisch-ökonomische Prozesse jedenfalls unter normalen Voraussetzungen eine ungleich größere Durchschlagskraft haben (vgl. Wood/Foster 1997). Sie wird vielmehr daran zu arbeiten haben, das relative Gewicht dieser sich überdeterminierenden Prozesse in historischen Ereignissen und Lagen jeweils so weit konkret zu bestimmen, dass wir innerhalb der Dynamik der historischen Gegensätze Fortschritt und Rückschritt unterscheiden können.
L ITERATUR Elbe, Ingo (2008): Marx im Westen. Die neue Marxlektüre in der Bundesrepublik seit 1965, Berlin: Akademie-Verlag. Küttler, Wolfgang (Hg.) (1983): Das geschichtswissenschaftliche Erbe von Karl Marx, Berlin: Akademie-Verlag. McLennan, Gregor (1981): Marxism and the Methodologies of History, London: Verso. Robin, Régine/Grenon, Michel (1975): »Pour la déconstruction d’une pratique historique«, in: Dialectiques 10/11, S. 5-32. Wolf, Frieder Otto (2008): Ein Materialismus für das 21. Jahrhundert. Warum und mit welchen Perspektiven diskutieren wir heute über ›Materialismus‹?, in: Alex Demirović (Hg.), Kritik und Materialität, Münster: Westfälisches Dampfboot. Wood, Ellen Meiksins/Foster, John Bellamy (1997, 2. Auflage 2006): In Defense of History: Marxism and the Postmodern Agenda, New York: Monthly Review Press.
Mittlere Dauer K ARL H EINZ R OTH
Unter dem Begriff mittlere Dauer können wir ein Phänomen der Wirtschaftsgeschichte zusammenfassen, das von den Gewährsleuten und Exponenten der Annales-Schule recht unterschiedlich umschrieben wurde. François Simiand sprach von langen periodischen Fluktuationen (»fluctuations à longue période«), Ernest Labrousse verwies auf ein rhythmisches Wechselspiel von Zyklen und Interzyklen, und Fernand Braudel verortete die mittleren Dauern zwischen der langen Dauer der säkularen Trends und den kurzfristigen Konjunkturschwankungen, wobei er sie zugleich als Vermittlungsebene zwischen Struktur und Ereignis ( Ereignis) einstufte. Alle Autoren waren sich jedoch hinsichtlich der wesentlichen Charakteristika des Phänomens einig: Es handelte sich um 50- bis 60jährige Perioden des wirtschaftlichen Auf- und Abschwungs, die in einer rhythmischen Eigendynamik wiederkehrten und die kurzfristigen, innerhalb von zehn Jahren ablaufenden Konjunkturzyklen des Wirtschaftsprozesses überlagerten. Der entscheidende Gewährsmann dieses Modells war der Durkheim-Schüler François Simiand (1873-1935), der die wirtschaftssoziologische Sektion der Année sociologique leitete und mit seiner Hilfe in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts parallel zu anderen Ökonomen – insbesondere Jacob van Gelderen und Nikolai Kondratieff – umfangreiche empirische Erhebungen über die Entwicklung der Löhne, der Preise und des Geldvolumens im Verlauf des 19. Jahrhunderts auf den Begriff brachte. Dabei unterschied er zwischen Perioden des Preisanstiegs (Phase A) und des Preisverfalls (Phase B), die streng
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aufeinander folgten und eine funktionelle Einheit bildeten. (Simiand 1911 u.a.) In der Phase A führte die Preisinflation zu einer Ausweitung der Produktion und zur allgemeinen Steigerung der Geldeinkommen (Löhne und Profite), während die Preisdeflation der Phase B durch sinkende Geldeinkommen und verstärkte Rationalisierungsanstrengungen charakterisiert war. Auf diese Weise folgten extensive und intensive Perioden der wirtschaftlichen Entwicklung aufeinander, und daraus zog Simiand den Schluss, dass der periodische Wechsel von Inflation – Prosperität und Deflation – Depression den Schlüssel zur Erklärung des wirtschaftlichen Fortschritts darstellte, der das 19. Jahrhundert so entscheidend geprägt hatte. Zugleich konnte diese Dynamik empirisch-statistisch auf eine Zeitachse verteilt werden ( Diagramme), in der die inflationären Expansions- und die deflationären Rationalisierungsperioden einander ablösten: 1790-1815 Phase A (Inflation), 1815-1850 Phase B (Deflation), 1850-1873 Phase A (Inflation), 1873-1895 Phase B (Deflation), und 1896-1929 Phase A (Inflation). Die 1929/30 einsetzende Weltwirtschaftskrise hielt Simiand für einen normalen Wechsel der mittelfristigen Preisperiodik von Phase A nach Phase B, der allerdings durch das Zusammentreffen mit dem Ensemble zyklusbedingter deflationärer Faktoren verstärkt wurde und die Virulenz der Großen Depression erklärte. Als wesentliche Ursachen der mittelfristig alternierenden Preisperioden betrachtete Simiand die Schwankungen der Produktion von Edelmetallen, dem Weltgeld der Ära des Goldstandards, sowie des wechselnden Umfangs der Papiergeldschöpfung, der vor allem zu Beginn des 19. Jahrhunderts und seit dem Ersten Weltkrieg große Bedeutung zukam. Simiand zufolge konnten diese streng empirisch erarbeiteten Phänomene alternierender wirtschaftlicher Ungleichgewichte jedoch nur erklärt werden, wenn sie mit den Verhaltensweisen der ökonomischen Akteure verknüpft wurden. Hier brachte er eine zweite Beobachtungsebene ins Spiel: Die Wirtschaftspsychologie. Im Gegensatz zur klassischen politischen Ökonomie waren für ihn dabei jedoch nicht die Verhaltensdispositive des atomisierten homo oeconomicus maßgebend, sondern vielmehr die kollektiven sozialen Akteure der wirtschaftlichen Entwicklung, die Unternehmer und die Arbeiterklasse. Bei ihnen dominierte zwar ein gemeinsames Grundbedürfnis, nämlich das Stre-
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ben nach steigenden Geldeinkommen bei möglichst minimaler Anstrengung, aber es geriet im Ablauf der alternierenden Preisperioden immer wieder in einen typischen Prioritätenkonflikt. Zu Beginn der Phase B suchten die Unternehmer die Löhne zu senken, um ihre Einkommensinteressen zu wahren. Dies provozierte den Widerstand der Arbeiter, und schließlich kam es zu einer Kompromisslösung, die einen neuen Entwicklungsschub auslöste: Um ihre Nominaleinkommen zu stabilisieren, waren die Arbeiter zu intensiveren Arbeitsleistungen bereit, und die Unternehmer führten kostensenkende Innovationen ein. Auf dieser Basis kam es zu einer Verdichtung der wirtschaftlichen Aktivitäten, die sich in einer Steigerung der Arbeitsproduktivität und der Geldeinkommen niederschlug und den Weg zum Aufschwung (Phase A) freimachte. Sobald jedoch in der Prosperitätsphase die Anstrengungen der Akteure wieder nachließen, kam es zum Wechsel der Preisperiode, und der durch die widerstreitenden Interessen der kollektiven Akteure vorangetriebene wirtschaftliche Fortschritt trat in eine neue Phase ein. Das im Ergebnis jahrzehntelanger empirischer Studien entstandene ökonomische Theoriegebäude Simiands hat die wirtschaftshistorische Linie der Annales-Schule entscheidend geprägt. Simiand war nicht nur der wichtigste Gewährsmann für die Abkehr von der traditionellen Geschichtsschreibung und ihre Überwindung durch den empirischrationalistischen Ansatz der Durkheim-Schule, sondern er lieferte den Historikerinnen und Historikern der Annales bis zu ihrer dritten Generation auch wesentliche Anregungen für ihre wirtschaftshistorischen Problemstellungen. Hatte sich bei den Vertretern der ersten Generation sein Einfluss nur beiläufig gezeigt, entwickelte die zweite Generation die methodischen Vorgaben Simiands entscheidend weiter, so dass das Konzept der mittleren Dauer erheblich an Tiefenschärfe gewann und auch zur Erforschung der vorindustriellen Phasen des Kapitalismus genutzt wurde. Im Kontext der zweiten Generation der Annales-Schule trat vor allem Ernest Labrousse (1895-1988) für die Adaption und Weiterentwicklung der Anregungen Simiands ein. Wie Simiand verknüpfte er die quantitative Beschreibung ökonomischer Teilphänomene mit induktiver Methodenbildung, weitete aber ihr Instrumentarium in seiner Untersuchung über die Preise und Einkommen im Frankreich des 18.
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Jahrhunderts Esquisse du mouvement des prix et revenus en France au XVIIIe siècle (2 Bände, Paris 1933) und seiner Studie über die zyklische Krisenentwicklung am Vorabend der französischen Revolution La crise de l’économie française à la fin de l’Ancien Régime et au debut de la Révolution (Paris 1944) erheblich aus. Den Ausgangspunkt bildete die statistische Auswertung serieller Quellen über Getreide- und gewerbliche Güterpreise sowie Löhne und Grundrenten, die Auskunft über sich teilweise überlagernde und teilweise gegenläufige lang-, mittel- und kurzfristige zyklische Schwankungen gaben; dieses Vorgehen verdichtete Labrousse im ersten Teil seiner Veröffentlichung von 1944 zu einem Modell der histoire quantitative. Davon ausgehend gelangte er zu einer neuartigen Analyse der zyklischen Agrarkrisen des ancien régime économique, die häufig mit Missernten einhergingen, auf die übrigen Gewerbe ausstrahlten und sich zu massiven Unterproduktionskrisen weiterentwickelten, die durch zusätzliche Umverteilungen zugunsten der Großpächter und Grundherren in soziale Katastrophen mündeten – unter bestimmten Voraussetzungen aber auch in revolutionäre Prozesse umschlagen konnten. Mit diesem Vorgehen avancierte Labrousse zum Begründer einer neuen wirtschaftshistorischen Strömung innerhalb der Annales, die trotz der Weiterentwicklung ihres handwerklichen Instrumentariums und der Ausweitung ihrer Forschungsthemen auf die vorindustrielle Epoche des Kapitalismus dem Paradigma verhaftet blieb, dass die periodischen Schwankungen der ökonomischen Aktivitäten in ihren zeitlichen Abstufungen wesentliche Bestimmungsfaktoren der historischen Prozesse darstellen. Im Gegensatz zu Labrousse nutzte Fernand Braudel (1902-1986) die methodischen und geschichtspraktischen Vorgaben Simiands eher selektiv. Das hatte mehrere Gründe. Erstens interessierten ihn die mittleren Dauern nur insoweit, als sie in ihren vielfältigen Verschränkungen mit den kurzen Konjunkturzyklen die säkularen Trends der langen Dauern unterfütterten, umgekehrt aber auch durch die strukturellen Tiefenströmungen geprägt wurden. (Braudel 1992) Zweitens war Braudel seit den 1960er Jahren bestrebt, die wirtschaftshistorische Methodendebatte zu internationalisieren und vor allem den angelsächsischen Einflüssen zu öffnen, und das hatte zur Folge, dass er hinsichtlich der mittleren Dauern dem multikausalen Ansatz des Kondratieff-
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Zyklus eine Vorrangstellung einräumte. Entscheidend aber war drittens, dass Braudel nach dem Abschluss einer systematisierenden Studie über die Preiszyklen in Europa von 1450 bis 1750 sein Forschungsterrain globalisierte und sich dabei den neuen Koordinaten einer vor allem raum- und machtgeschichtlich orientierten Wirtschaftsgeschichtsschreibung zuwandte. (Braudel 1993) Dessen ungeachtet griff er im dritten Band seiner monumentalen Studie über die globale Wirtschaftsgeschichte der frühen Neuzeit Die Sozialgeschichte des 15. bis 18. Jahrhunderts die Problemlagen der periodischen Wirtschaftsungleichgewichte wieder auf und bereicherte das Konzept der mittleren Dauer durch ein Modell des Generationswechsels: Nun wurde es möglich, bei der Analyse der 50- bis 60jährigen großen Zyklen (Kondratieff) auch die Bedeutung des Transfers von Produktionsfähigkeiten, Wissen, kulturellen Normen und Bedürfnissen zu berücksichtigen. (Braudel 1990) Im Umfeld von Labrousse und Braudel profilierten sich zahlreiche Schülerinnen und Schüler, die die wirtschaftshistoriografischen Entwicklungslinien der Annales nochmals ausdifferenzierten und in der internationalen scientific community verankerten. Aus der Retrospektive können wir dabei zwei unterschiedliche Tendenzen unterscheiden, die in nicht wenigen Fällen von ein und derselben Forscherpersönlichkeit verfolgt wurden. Den ersten Schwerpunkt bildeten Fallstudien über die Preis-, Handels- und Agrarzyklen der Mittelmeerregion unter Einschluss Frankreichs (Pierre Chaunu, Pierre Vilar, Pierre Goubert, Frédéric Mauro). Zu dieser Kategorie sind auch einige schulbildende »Ausflüge« ins Frankreich des 19. Jahrhunderts zu zählen (Michelle Perrot, Jean Bouvier, François Furet, Michel Gillet). Parallel dazu entwickelte sich eine lebhafte Debatte über die Erweiterung und Synthese des zyklustheoretischen Ansatzes, die nicht zuletzt auch gegen die sich seit den 1970er Jahren entwickelnden strukturalistischen und rein ökonometrischen Regressionserscheinungen der Wirtschaftshistorie gerichtet waren (Pierre Vilar, Pierre Chaunu, Jean Bouvier). Gegen Ende der 1970er Jahre kam die zyklusorientierte wirtschaftshistorische Strömung der Annales-Schule weitgehend zum Stillstand. Die heranreifende vierte Generation wusste sich anderen Paradigmen verpflichtet. Hinzu kam, dass die sich auf Simiand und Labrousse berufende Strömung in vielen Teilbereichen von der quan-
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titativen Wirtschaftshistorie adaptiert wurde und damit den Reiz des Innovativen verlor. Gleichwohl war dieses Phänomen erstaunlich, denn die dramatischen zyklischen Umbrüche dieser Jahre – 1971/73, 1982, 1990, 1997/98 und 2007/08 – hätten an sich eine Historie herausfordern müssen, die seit Marc Bloch bestrebt ist, sich durch die wissenschaftlich adäquate Analyse des Vergangenen in den komplexen Umbrüchen der Gegenwart besser zurechtzufinden. Gerade diese Leerstelle der vergangenen Jahrzehnte lässt aber die Errungenschaften der zyklusorientierten Wirtschaftsgeschichtsschreibung der Annales besonders deutlich hervortreten. Wer sich um ein kritisches Verständnis der aktuellen Weltwirtschaftskrise bemüht, wird um die Kenntnisnahme dieses gewaltigen Steinbruchs nicht herumkommen.
L ITERATUR Braudel, Fernand/Spooner, Frank (1993): »Die Preise in Europa von 1450 bis 1750«, in: Fernand Braudel, Schriften zur Geschichte 2: Menschen und Zeitalter, Stuttgart: Klett-Cotta, S. 11-161. Braudel, Fernand (1992): »Geschichte und Sozialwissenschaft. Die lange Dauer«, in: Ders., Schriften zur Geschichte 1: Gesellschaften und Zeitstrukturen, Stuttgart, Klett-Cotta, S. 49-87. Ders. (1990): Der Aufbruch zur Weltwirtschaft (Sozialgeschichte des 15. bis 18. Jahrhunderts, Band 3, Sonderausgabe), München: Kindler. Charle, Christophe (1980): »Entretien avec Ernest Labrousse«, in: Actes de la recherche en sciences sociales, 32-33, S. 111-127. Simiand, François (1932): Cours de l’économie politique, 3 Bände (Typoskript), Paris: F. Loviton. Ders. (1932): Recherches anciennes et nouvelles sur le mouvement général des prix au XVIe au XIXe siècle (Typoskript), Paris: Domat-Montchrestien. Ders. (1932): Le salaire, l’évolution sociale et la monnaie. Essai de théorie experimentale du salaire, 3 Bände, Paris: Alcan. Ders. (1911): »La méthode positive en science économique«, in: Critique sociologique de l’économie, Paris: Alcan.
Museum R UDOLF K ANIA
Es gibt bei Museen eine so große Vielfalt unterschiedlicher Ausrichtungen, Inhalte und Formen, dass gerne umschreibend von »Museumslandschaften« gesprochen wird – Museen für Kunst, für Kulturgeschichte oder Geschichte, naturwissenschaftliche Museen oder Technikmuseen, die Schwerpunkte können sich überschneiden. Museen können jedes denkbare Thema besetzen und jeder kann ein Museum betreiben. Alle Museen sind jedoch – in herkömmlicher Beschreibung – Einrichtungen, die materielle Zeugnisse aus der Kultur des Menschen und seiner Umwelt sammeln und zeigen. Die Definitionen des internationalen Museumsrates (ICOM) wie des Deutschen Museumsbundes machen ergänzend zum Standard: Museen sollen der Öffentlichkeit zugänglich, gemeinnützig sein. Sie sollen dem Studium, der Bildung wie der Unterhaltung dienen. Ihre Kernaufgaben sind Sammeln, Bewahren, Forschen, Ausstellen und Vermitteln. Immer geht es um Erhalt, Ordnung und Überlieferung eines Sacharchivs ( Archivar) sowie eines damit verbundenen entsprechenden Sachwissens – hing doch die Ablösung älterer religiöser wie profaner Sammelpraktiken und die Entstehung des Museums in der Zeit der Aufklärung und Säkularisierung selbst eng mit der Ausdifferenzierung von Wissenschaft und Wissensdisziplinen zusammen. Für das Publikum organisiert das Museum Schauräume. Der Besucher geht dorthin, um Dinge zu sehen, nur zu sehen. Berühren oder gar Ausprobieren ist tabu. Museumsdinge sind in der Regel selten, wenn nicht einzigartig, und schon darum kostbar. Die ihnen zugeschriebene
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Ursprünglichkeit und Zeugniskraft muss unangetastet bleiben. Dem Betrachter stehen sie trotz der körperlichen Nähe äußerlich gegenüber, behalten allem erklärenden Beiwerk zum Trotz eine Ferne und Fremdheit, die sie aus ihrer Vergangenheit mitbringen. Dies lässt sie auf eine alchemistisch zu nennende Art (Gottfried Korff) das Offenbare mit Verborgenen kombinieren. Die Lust am Schauen ist dem Menschen vermeintlich angeboren. Alles sehen zu wollen ist Teil der Sexualität, die im kindlichen Spiegelstadium ihren freudigsten Impuls und in der Urszene ihren stärksten Dämpfer erhält. Mit der ersten Wiedererkennung des »Das bin ich« konstruiert der – narzisstische – Blick das Bild eines Ich-Ideals und erhält es lebenslang. Er verteidigt dieses Bild gegen alle Widersprüche, vor allem gegen den des eigenen Todes. Fortan versichert sich das Ich lustvoll seiner selbst, wenn sein Blick wiedererkennt. Mit jeder Wahrnehmung von Dingen, die das »Bild vom Selbst« anstrahlen und verstärken, ist Identifikation wie Verkennung verbunden. Dieser Grundeffekt ist auch für das Funktionieren des Museums konstitutiv, für das Sammeln und Besitzenwollen wie für das Anschauen. Er liegt im Kern all dessen, was Erinnerung genannt wird. ( Gedächtnis) Er macht, dass das Museum noch vor seiner Funktion als Wissens- und Gedächtnisinstitution zu einem Generator sozialer Identitäts- wie Differenzprozesse wird. Er ist ein, wenn nicht der Hauptnerv des Mediums Museum, über den Signale laufen, die nicht zuletzt zur Bildung von Kollektivvorstellungen beitragen, wie es Geschlecht, »Rasse«, Klasse, Volk, Nation sind, aber auch Wirtschaft, Technik, Kunst etc. ( Erinnerungsort) Ähnlich dem Kino und dem Theater gehört das Museum zu den großen Sinnagenturen der Moderne. Auf die Frage, was das Museum »eigentlich« ist, gibt es jedoch neben seiner Standarddefinition viele Antworten. Die aktuellen kulturwissenschaftlichen Positionen beschreiben das Museum als einen Hybrid (Sabine Offe), in dem sich vielfältige komplexe soziale und kulturelle Vorgänge mischen. Die Aspekte dieses Mischphänomens sind Gegenstand einer breit gefächerten Museumsforschung geworden, die alle Ansätze einer integrierten Museologie hinter sich gelassen hat. An erster Stelle meinen wir mit Museum sein Gebäude. Es ist Architektur, gebauter Raum mit städtebaulichen und zeichenhaften
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Eigenschaften. Wir meinen weiter den Ort einer Sammlung – als seine Ausstellung wie als Speicher. Darüber hinaus ist das Museum ein Ort, der nicht in erster Linie Wissenserwerb leistet, vielmehr eher als Ort eines »anderen Wissens« (Gottfried Fliedl) anzusehen ist – ein »heterotopischer« Raum aller Zeiten (Michel Foucault) und vielfältiger Erfahrungsmöglichkeiten. Diskurse der Macht und der kollektiven Identität sind hier anschaubar und verhandelbar. Soziale Praxen, Riten, Verhaltensweisen und Interessen werden artikuliert und Anlässe für Selbstauslegungen und Symbolisierungen gesucht, ohne dass dies bewusst wird oder reflektiert werden muss. Es ist ein Ort der Zusammenkunft oder des Alleinseins, ein Ort des Betrachtens wie des Gesprächs, ein Ort der Bildung wie des genießenden Müßiggangs. Es ist ein Hypermedium, das nicht nur Objekte ausstellt, sondern Sprache, Bilder, Klänge, Aktionsformen etc. in jeglicher Darstellungsform einsetzten kann. Schließlich ist es ein Arbeitsplatz, eine betrieblich organisierte Institution, die meist in öffentlicher Trägerschaft steht und einen Mitarbeiterstab beschäftigen kann, der spezialisierte Arbeitsteilungen zwischen wissenschaftlichem und technischem Fachpersonal, Marketing- und Bildungsverantwortlichen sowie einer im Museumsmanagement vertrauten Verwaltung aufweist. Museen genießen eine hohe Wertschätzung. Im internationalen Vergleich weist Europa, die alte Welt, vergleichsweise die größte Dichte an Museen auf. Deutschland liegt hier mit über 6100 Museen und über 100 Millionen Besuchen jährlich an der Spitze der Statistik. Der Boom der Museen in den letzten Jahrzehnten hat nicht nur die Zahl der Museen wie ihrer Besuche steigen lassen, sondern auch – nach Zahl und Art – die Relikte, die der musealen Überlieferung für Wert befunden werden. Der Trend zunehmender Historisierung kultureller Lebenswelten wird als Symptom des gestiegenen sozialen Veränderungstempos angesehen und seit den 1980er Jahren als Musealisierung bezeichnet. Gemeint ist damit auch eine »Vergangenheitszugewandtheit« (Hermann Lübbe) mit nostalgischem Einschlag, die als Verlustkompensation des Vertrautheitsschwundes verstanden wird. Als Belege der Vergangenheit erhalten alltägliche Objekte neue Erinnerungs- und Bedeutungszuweisungen.
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In diesem Sinne erzeugt Musealisierung nicht nur neues Sammlungsgut für Museen, sondern wertet auch kulturlandschaftliche Ensembles in städtischen, altindustriellen oder agrarischen Umgebungen zu »Erbe« um. Andererseits stellt sich die Museumsgeschichte auch insgesamt als eine Folge von Musealisierungsschüben aus jeweils eigenen Beweggründen dar, ablesbar schon an der Welle von Museumsgründungen im 19. Jahrhundert, die im Gefolge des Louvre als Nationalmuseen von der Idee eines nicht mehr absolutistischen, sondern kollektiven kulturellen Besitzes getragen waren. Die Präsentationssprache des Museums, das Verhältnis von Ausstellung und dargestellter Wirklichkeit hat sich in der Museumsgeschichte ebenfalls immer wieder verändert. Sie reicht von der Konstruktion mikrokosmischer Weltvorstellungen bei den Museumsvorläufern der Renaissance und enzyklopädisch-semantisch geordneten Überblicksvorstößen der Aufklärungszeit bis hin zu naturalistischen und didaktischen Inszenierungsausführungen des 19. und 20. Jahrhunderts und mündet in immergierenden Montagen und Ausstellungsessays der Postmoderne (Bettina Habsburg-Lothringen). Die Reproduktionstechniken des 20. Jahrhunderts sind – da sie den Verlust der Aura (Walter Benjamin) einschließen – als verschiebende Kraft registriert worden, die das Museum nicht unberührt lassen. Andererseits wurden sie als Chance einer, aus dem profanen Zusammenhang herausgenommenen, gleichwohl allen erschlossenen und überall verbreiteten autonomen Kunst-Welt verstanden, die als Imaginäres Museum (André Malraux) bezeichnet wurde. Beide Positionen haben sich an einer gesteigerten Bildkultur festgemacht, die durch die Fotografie eine bis dahin nicht gekannte Dimension erreichte. ( Sinne) Virtualität, die Eigenschaft, nicht in einer Form zu existieren, in der sie zu existieren scheinen, erreichen Dinge jedoch erst durch das Internet. Auch vor dem Museum, das geradezu als Gralshüter des physischen Objekts anzusehen ist, macht die Virtualisierung nicht halt. Digitale Speicherung und vernetzte Kommunikation machen es möglich, kulturelle Inhalte in nie gekanntem Umfang aufzuzeichnen und zu überliefern. Unter dem Aspekt, dass Museen normalerweise nicht mehr als fünf Prozent ihrer Bestände in Ausstellungen präsentieren, eröffnen sich zum ersten Mal Möglichkeiten, das gesamte in Museen geborgene Wissen der Forschung und einer interessierten Öffentlich-
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keit zu erschließen und relevante Spuren der Vergangenheit, die in einer Vielzahl disparater Informationsquellen verstreut sind, vergleichbar zu machen. Virtuelle Metamuseen werden im 21. Jahrhundert reale Museen nicht kopieren, sondern funktional und inhaltlich erweitern, indem sie große Mengen an Verknüpfungen zwischen digitalen Objekten herstellen und Zugangsbeschränkungen verringern (z.B. http://www.europeana.eu). In gewisser Weise kehrt das Museum damit zu seinen enzyklopädischen Anfängen zurück, greift vielleicht sogar noch tiefer. Denn den Strom pilgernder Museumstouristen, die das echte Museumsstück weiterhin wie eine Reliquie verehren, wird diese Entwicklung vermutlich nicht mindern, sondern noch wachsen lassen.
L ITERATUR Erll, Astrid (2005): Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, Stuttgart: Metzler. Fliedl, Gottfried (2005): Do not cross … Museum, Fiktion, Wahn – eine Skizze, in: Karl Josef Pazzini/Marianne Schuller/Michael Wimmer (Hg.), Wahn – Wissen – Institution. Undisziplinierbare Näherungen, Bielefeld: transcript, S. 249-258. Habsburg-Lothringen, Bettina (2007): »Was dem ›bain des Risen‹ folgte. Ausstellungswirklichkeiten als Weltbilder«, in: ÖZG 18/1, S. 62-90. Korff, Gottfried (2002): Museumsdinge. deponieren – exponieren, Köln u.a.: Böhlau. Wittlin, Alma S. (1970): Museums: In search of a usable Future, Cambridge, Mass.: MIT Press.
Nationalgeschichte S TEFAN B ERGER
In Europa ist die Nationalgeschichte zwischen 1850 und 1950 die wohl beliebteste Form der Geschichtsschreibung, und auch in der Gegenwart ist sie in vielen Ländern der Erde der sicherste Weg zu einer akademischen Karriere: Älteste Formen der Nationalgeschichte finden sich wohl im China der Han-Zeit. Die Erfindung der Nationalgeschichte in China passt ausgezeichnet zum dort auch weiterhin vorherrschenden sinozentrischen Weltbild. Sehr früh zeigen sich auch Verbindungen von Familienchroniken zu Nationalgeschichte auf dem indischen Subkontinent. Die Verbindung von Nation mit den Interessen spezifischer Familien ist aber auch andernorts sehr beliebt, nicht zuletzt in Europa, wo Dynastien dies nicht ungern zur Legitimation noch so inkompetenter Herrschaft zu nutzen versuchten. Da Nation etymologisch betrachtet lateinischen Ursprungs ist, wären die ersten Nationalhistoriker unter den alten Römern zu vermuten. Tatsächlich aber waren schon die bärtigen Altväter der Geschichtsschreibung, die Griechen Herodot und Thukydides, recht patriotisch gesinnt, zumal wenn es gegen die Perser ging. Probleme der Abgrenzung zu anderen territorialen Einheiten finden sich bereits hier, aber in verschärfter Form unter den Römern: Stadtgeschichte, Nationalgeschichte und Imperiumsgeschichte mischten sich in einer Art, die auch späteren Versuchen, Nationalgeschichte zu schreiben, noch viel Kopfzerbrechen bereiten würde. Das lag auch daran, dass die Nationalgeschichte die unglückliche Tendenz hatte, sich zu erweitern – zu pan-
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Geschichten (pan-arabische, pan-slawische, pan-germanische Nation) bzw. zu Imperien. ( Raum) Als die Völker in Europa zu wandern begannen, hatte man ziemlich wenig Zeit für Geschichte, zumal Nationalgeschichte. DiasporaErfahrungen produzieren hier bekanntlich einschlägige Traumata. Mit der Nationalgeschichte weiter ging es erst im Mittelalter, als sich so mancher Mönch in seiner kalten Klosterzelle zu langweilen begann und manchmal gegen Holz- und Kohlelieferung den Mächtigen im Staat »die Nation machte«. Besonders die Mönche in St. Denis taten sich hier hervor, und auch auf der Insel am äußersten Rande Europas gab es so einige, die versuchten, den Angelsachsen die Normannen schmackhaft zu machen. Den eigentlichen Anfang aber machten die ersten Intellektuellen Europas, die Humanisten. Ihre italienischen Vertreter lobten ihre zivilisierten Vorfahren, die sich angenehm von den rohen germanischen Barbaren des Nordens abhoben, während die Nachfahren der Befellten die Mannhaftigkeit der Knüppelträger positiv herausstellten gegenüber den verweichlichten Togaträgern. Bis ins 18. Jahrhundert hinein blieb Nationalgeschichte allerdings das Interesse kleiner Minderheiten von Adel, Klerus und Verbildeten; der europäische Bauer, eindeutig in der Mehrzahl, blieb »von hier« und hielt Nation für eine Variante des Kartoffelkäfers. Das änderte sich dann mit denen »ohne Hosen« und dem zu klein geratenen Korsen, die Europa so ziemlich durcheinanderbrachten und mit dem Revolutionsexport auch Nationsexport betrieben. Leider blieb letzterer Artikel ein viel erfolgreicherer Exportartikel als Ersterer. Im 19. Jahrhundert drängte alles zur Nation; selbst Imperien nationalisierten sich, und Kaiser Franz Josef kam zunehmend in Schwierigkeiten, da er sich die vielen Nationalkostüme, die er an verschiedenen Orten seines Imperiums zu tragen hatte, nicht mehr merken konnte. Als sich an den Universitäten die Historiker aus der Vormundschaft der Theologen und Juristen befreiten, fiel ihnen auch nichts Besseres ein, als Nationalgeschichte zu betreiben. Man erfand Ursprünge, glorifizierte Goldene Zeiten, lobte auch das übermäßige Leiden der Nation, sang Heldenlieder – vorzugsweise auf große Männer ( Subjekt) – und suchte Verbündete unter den einstmals mächtigen
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Kirchen. Später unterfütterte man auch in einigen Gegenden Europas die Schädelvermessung noch nationalhistorisch. ( Tunnelblick) Insgesamt erfreute sich die Nationalgeschichte in Europa großer Beliebtheit, waren sie und ihre Vertreter doch allzeit bereit, kollektive Gewalt, besonders ethnische Säuberungen, Genozide und Kriege, inklusive Klassen- und Bürgerkriege, zu rechtfertigen. Auch um europäische nationale Kulturen in alle Welt zu tragen und dort Wilde zu zivilisieren, eignete sich die Nationalgeschichte gut. Nicht vorhergesehen hatte man allerdings dabei in Europa, dass die Wilden Gefallen am Konzept finden würden und als gelehrige Schüler die Nationalgeschichte nun gegen die Imperien wenden würden. In Lateinamerika haute man die Nationalgeschichte schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf die Konquistadorenhelme. Andernorts tat man das erst seit den 1920er Jahren und auf dem dunklen Kontinent erst nach 1945. Zu all den anderen Kriegen kamen nun noch die Befreiungskriege, die meist allerdings nur die Diktatoren und ihre engsten Freunde befreiten. Als Meisterschüler der Nationalgeschichte erwiesen sich allerdings weltweit die Deutschen, die zudem noch behaupten konnten, die moderne Nationalgeschichte sei überhaupt made in Germany. Aber wie so viele Meisterschüler schossen sie über das Ziel hinaus. Als sie dabei vorübergehend ganz Europa in Schutt und Asche legten und eine jahrtausendealte jüdische Vergangenheit in Europa (fast) beendeten, fiel den Historikern nach 1945 nichts Besseres ein, als die alten Nationalgeschichten aus der Schublade zu holen, abzustauben und leicht zu europäisieren. Zu einer Krise der Nationalgeschichte kam es erst seit den späten 1950er Jahren in Europa, unter tätiger Einflussnahme jugendlicher Revoluzzer, die die Nationalgeschichte zu den Hauptfetischen ihrer Hauptgegner, der »Scheißliberalen«, zählten. Einige der Revoluzzer marschierten dann durch die Universitätsinstitutionen, so manche mutierten selbst zu »Scheißliberalen«, und einige kritisierten auch die tradierten Geschichten von der Nation. Mit Nationalgeschichte beschäftigten sie sich allerdings nach wie vor vornehmlich. Wie tiefgreifend sie zu einer Entnationalisierung der Geschichtsschreibung beitrugen, muss fraglich bleiben, denn in den 1980er Jahren kam es vieler-
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orts wieder zu einer Renaissance einer identitär unterfütterten Nationalgeschichtsschreibung. Übrigens herrschte auch in Osteuropa eine rot angestrichene Nationalgeschichte weitgehend vor. Nach dem Zusammenbruch des real existierenden nationalen Sozialismus wurden dann die tradierten Geschichten von der Nation klassenmäßig abgestaubt und wieder ihrer alten Bestimmung übergeben. In der Gegenwart erfreut sich Nationalgeschichte großer Beliebtheit, auch wenn einige ihrer Vertreter sich postklassisch gerieren: Sie ist ein hervorragendes Mittel, um Euroskepsis zu nähren, Territorien einzufordern und »Fremde« auszugrenzen oder auch nur, um endlich wieder national »normal« zu werden.
L ITERATUR Berger, Stefan/Conrad, Christoph/Marchal, Guy (Hg.) (2008-2010): Writing the Nation: National Histories and National Identities in 19th and 20th Century Europe, 6 Bände, Houndmills: Palgrave MacMillan. Berger, Stefan (Hg.) (2008): Narrating the Nation: History, Media and the Arts, Oxford: Berghahn. Ders. (Hg.) (2007): Writing the Nation: a Global Perspective, Houndmills: Palgrave MacMillan. Carvalho, Susana/Gemenne, François (Hg.) (2009): Nations and their Histories: Constructions and Representations, Houndmills: Palgrave MacMillan.
Peer review C HRISTOPH C ONRAD
Während die Beurteilung unter Ungleichen im akademischen Leben generell hingenommen wird, hat die »peer review« immer wieder zu Debatten Anlass gegeben. Dieses Paradox berührt zentrale Punkte des universitären »Feldes«, in dem ja Notengebung, Be- und Verurteilung und Ranking die Maßsysteme sind, mit der die verschiedenen in den Hochschulen erstellten Produkte (Prüfungen, Diplome, Titel, Stellen, Publikationen, Forschungsgelder) äquivalent gestellt und verglichen werden. ( Internationale Bibliografie) Da man es im Allgemeinen als normal bis schicksalhaft akzeptiert, dass Lehrende die Studierenden benoten, dass Professoren die Doktoranden prüfen oder dass »Großordinarien« als gatekeeper für Publikationen oder Stellen wirken, kann die Erregung über vermehrte Formen der »Evaluation« – ein noch kontroverserer Begriff – durch die »Gleichrangigen« durchaus erstaunen. Noch mehr mag es auf den ersten Blick überraschen, wenn etwa in Frankreich sich Vertreter eines im hohen Maße auf die Selektion durch Wettbewerbe und Aufnahmeprüfungen vertrauenden Systems, nun über das »Evaluations-Fieber« echauffieren (Revue d’histoire 2008). Dabei soll hier davon abgesehen werden, dass zum Teil offenbar ungeeignete und oberflächliche Verfahren des Rankings, etwa von Zeitschriften, den Hauptteil des Unmuts auf sich gezogen haben. (Fridenson 2009) Woher kommt eigentlich die Auffassung, dass es sich lohnt, die Meinung der »Gleichen« einzuholen? Vielleicht nicht der Ursprung, aber auf jeden Fall eine systematische Praxis scheint in den wissen-
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schaftlichen Akademien des 17. Jahrhunderts zunächst für die Lizenzierung von Büchern entstanden zu sein (Biagioli 2003); dann folgten die Zeitschriften dieser Institutionen während des 18. Jahrhunderts. Insbesondere wird auf die Philosophical Transactions der Royal Society in London verwiesen, die die Herausgeberschaft für diese schon 1685 gegründete Publikation 1752 vollständig selbst übernahm und sich dabei auf die Begutachtung der Manuskripte durch im jeweiligen Gebiet kundige Mitglieder verließ. Ähnliche Verfahren werden aus Sozietäten in Edinburgh und Manchester berichtet. (Spier 2002: 357) Interessant ist der Hinweis von Spier, dass seit der Mitte des 19. Jahrhunderts für etwa ein Jahrhundert mehr Platz in Zeitschriften zur Verfügung stand, als Artikel angeboten wurden, so dass sich die Funktion der Herausgeber weniger auf Selektion als auf Anwerbung konzentrierte. Nicht selten mussten sie selbst zur Feder greifen. Trotz des ehrwürdigen Stammbaums dieser Praxis verbreitet sich der spezifische Begriff »peer review« erst in der jüngsten Vergangenheit: das Oxford English Dictionary verzeichnet die frühesten Fundstellen 1967 und 1971; im Harvard Online-Katalog Hollis findet sich ebenfalls 1971 das erste Peer review manual der American Medical Association (Chicago); in den 1970er Jahren häufen sich bereits Publikationen, in denen die Review-Verfahren selbst Gegenstand der Prüfung geworden sind. Sodann trifft man in Google Books bereits in den 1960er Jahren auf eine ganze Reihe – v.a. medizinischer und juristischer – Verweise auf Peer review als übliche Praxis, allerdings weniger für Veröffentlichungen oder Forschungsgelder, sondern zur Beurteilung neuer Therapien, Operationstechniken und Betreuungsqualitäten. Die in der Datenbank JSTOR enthaltenen Zeitschriften bestätigen sowohl diesen Befund als auch den zeitlichen »take off« in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre, mit dem frühesten Beleg 1965. (Alle Abfragen am 6.12.2009: http://dictionary.oed.com, http://discovery. lib.harvard.edu, http://books.google.ch, http://www.jstor.org.) Unmut wird heutzutage aber besonders von wissenschaftspolitischer Seite provoziert. Es scheint ebenfalls paradox, wie mit Peer review gegenwärtig – v.a. gegenüber den Humanwissenschaften – als einem Element der neuen Gouvernementalität der Forschung umgegangen wird. Auf der einen Seite stehen Wissenschaftsförderinstitutionen auf nationaler und europäischer Ebene, die recht rigide Varian-
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ten der Evaluation und Auswahl, v.a. die quasi magische Verehrung der »double blind peer review«, auf ihre Fahnen geschrieben haben. Auf der anderen Seite zeigt sich eine erstaunlich pluralistische und skeptische Nutzung dieser Instrumente in den Naturwissenschaften und insbesondere der biomedizinischen Forschung. Den Szientokraten jeglicher Provenienz sei z.B. das Aperçu des langjährigen Chefredakteurs von The Lancet, einer der weltweit anerkanntesten Zeitschriften für medizinische Wissenschaften, als Gegengift empfohlen: »The mistake, of course, is to have thought that peer review was any more than a crude means of discovering the acceptability – not the validity – of a new finding. […] We portray peer review to the public as a quasi-sacred process that helps to make science our most objective truth teller. But we know that the system of peer review is biased, unjust, unaccountable, incomplete, easily fixed, often insulting, usually ignorant, occasionally foolish, and frequently wrong.« (Horton 2000: 148)
Die Vehemenz dieses Urteils wird man noch ernster nehmen müssen, wenn man sich vor Augen hält, dass es in den biomedizinischen Wissenschaften nicht um die eine oder andere Methode oder Interpretation, sondern um die Bewährung, Gefährlichkeit oder den künftigen Nutzen von Erfindungen, Verfahren und Medikamenten geht. Die Beurteilung durch Gleichrangige spielt auch dort eine entscheidende Rolle, wo Institutionen neue Mitglieder durch Kooptation gewinnen. Es fehlt hier der Platz, um diese Wurzel von »peer groups« zu eruieren. Nicht übergehen kann man dagegen die Beurteilung von Anträgen auf Stipendien und Forschungsprojekte. Diese »grant review« ist selten (außer in der Vorsortierung der Bewerbungen) »blind«, da der Lebenslauf der Kandidatinnen und Kandidaten ein wichtige Rolle spielt. Während z.B. bei der Vergabe von Nachwuchsstipendien noch die Asymmetrie von Stellung und Fachautorität unübersehbar ist, sind die Verfahren der verschiedenen nationalen Geldgeber mit ihren – wie bei DFG und CNRS gewählten – Gutachtern ein Musterbeispiel von Gegenseitigkeit und Gleichrangigkeit. ( Gutachten) Die in Harvard lehrende Kultursoziologin Michèle Lamont hat sich der Frage angenommen, »wie Professoren denken«, wenn sie solche Tätigkeiten ausüben. (Lamont 2009) Den Gegenstand ihrer teilnehmenden Untersuchung bilden »grant review panels« öffentlicher
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Institutionen und privater Stiftungen in den USA, d.h. weder die anonymisierte Beurteilung von Zeitschriftenartikeln noch die »Evaluation« ganzer Institute. Gewissermaßen hat sich Lamont also die beste der Review-Welten ausgesucht, in der kompetente, interdisziplinär zusammengesetzte Kommissionen sich der vergleichenden Beurteilung bereits vorgefilterter Forschungsprojekte im gemeinsamen Gespräch widmen. Trotz aller bekannten Schwächen des Verfahrens kommt sie deshalb unter dem Strich zu einer Ehrenrettung der »Peer review« in den Sozial- und Kulturwissenschaften. »Within practical constraints, panelists aim to ›produce the sacred‹ of fair evaluation, while respecting institutional, disciplinary, and other diversities.« (Lamont 2009: 240) Im Vergleich von Anthropologie, Literaturwissenschaft, Geschichte, Ökonomie, Philosophie und Politologie zeigen sich ausgeprägte Disziplinkulturen, die bei den wirtschaftswissenschaftlichen Panelmitgliedern schon leicht autistische Züge annehmen und bei den Historikern den Bezug auf einen soliden Rahmen unausgesprochener, aber geteilter Qualitätskriterien erlauben, während die tendenziell in Auflösung befindlichen Literaturwissenschaften eher für Richtungsstreitigkeiten und Modetendenzen anfällig sind. Zu denken gibt jedoch die Tatsache, dass die Geldgeber kaum an einer retrospektiven Beurteilung der bewilligten Projekte oder der geförderten Personen interessiert sind. Sicher sind Abschlussberichte fällig, aber die Erfolgskontrolle der eigenen Auswahl vorzunehmen, hieße ja, gewissermaßen eine Review der Review anzustrengen. Dies könnte bedeuten, dass man nachweisen müsste, mit größerer Treffsicherheit als eine Zufallsauswahl oder eine – nach welchen Kriterien auch immer vorgenommene – Quotenauswahl vorgegangen zu sein. Obwohl ähnliche Überlegungen immer wieder einmal in der Wissenschaftsforschung vorgetragen wurden, vertrauen die Spitzenorganisationen der Wissenschaftsförderung eher auf die performative Kraft ihrer eigenen Taten: Exzellent ist (oder wird), wer von uns Geld bekommt. ( Tunnelblick) Manches in dem Diskurs von deutschen oder französischen Wissenschaftsplanern mag zu Widerspruch Anlass geben, aber ein Problem behindert eine realistische Haltung zu den verschiedenen Beurteilungsverfahren in besonderem Maße: die politisch vorgegebene Verknüpfung von Evaluation mit Exzellenz. Anstatt zu akzeptieren,
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dass die Normalwissenschaft und ihre Produkte im Allgemeinen Mittelmaß benötigen und ihrerseits erzeugen, herrscht allseits die Erwartung vor, dass Spitzenleistungen gewissermaßen auf Kommando erzeugt werden könnten. Nur so lässt sich etwa die rhetorische Jagd nach »Leuchttürmen« oder »Alleinstellungsmerkmalen« verstehen. Dabei wird selten beachtet, dass dies dazu führen muss, dass einem die Gleichrangigen und damit auch die Gesprächspartner abhanden kommen. Ein zunehmendes Folgeproblem ist der Mangel an geeigneten Experten; der Schweizerische Nationalfonds warnte kürzlich vor einer Überlastung im »internationalen ›Gutachtermarkt‹« (SNF Info Nr. 7 [Juni 2009], S. 2). Aber folgenschwerer ist vermutlich eine andere Tendenz: Zwar vermag ein anderer Leuchtturm seinen aus der Ferne blinkenden »Peer« als solchen zu erkennen. Steht man aber mit seinen Methoden oder Ergebnissen ganz alleine da, ist man nicht unbedingt »peerless«, sondern vielleicht einfach isoliert.
L ITERATUR Biagoli, Mario (2003): »Peer review« in: J. L. Heilbron (Hg.), The Oxford Companion to the History of Modern Science, Oxford. (Oxford Reference Online, Oxford University Press, Zugang 22. Januar 2010) Fridenson, Patrick (2009): »La multiplication des classements de revues de sciences sociales«, in: Le Mouvement Social Nr. 226, S. 5-14. Horton, Richard (2000): »Editorial: Genetically modified food: consternation, confusion, and crack-up«, in: MJA. The Medical Journal of Australia 172, S. 148-149. Lamont, Michèle (2009): How Professors Think. Inside the Curious World of Academic Judgment, Cambridge, MA/London: Harvard University Press. Osterloh, Margit/Frey, Bruno S. (2009): »Das Peer-Review-System auf dem ökonomischen Prüfstand«, in: Jürgen Kaube (Hg.), Die Illusion der Exzellenz. Lebenslügen der Wissenschaftspolitik, Berlin: Wagenbach, S. 65-73.
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Revue d’histoire moderne et contemporaine 55 (2008), supplément: »La fièvre de l’évaluation«. Spier, Ray (2002): »The history of the peer-review process«, in: Trends in Biotechnology 20, S. 357-358.
Quelle A NSELM H AVERKAMP /B ARBARA V INKEN
Keine historische Quelle könnte trüber sein in den Augen des Historikers als die der ihm vorangehenden historischen Formation, die hinter sich zu lassen Anlass aller historischen Anstrengungen war: Befreiung von unbegriffenen Mächten. Indessen liegt auf der Hand, so sehr diese Anstrengung nötig ist, so wenig ist durch sie der Mangel an Begreifen aus der Geschichte zu vertreiben, ja umso noch weniger ist das Fortwirken dieses Mangels zu begreifen. Tatsächlich ist dieser Begriff des Mythischen ja ein Produkt von Mythenkritik, und es ist denkbar, dass es sich bei ihm um die Quellen eines anderen Geschichtsbegriffs und – heißt das – eines anderen Begreifens der Geschichte von sich selbst handeln könnte als des bei fortschreitender Moderne entwickelten und dann abgenutzten. Denn schon das Aufgeben des Historia magistra vitae-Motivs war in sich so doppeldeutig wie der darin benutzte, nun abgelebte und abgelehnte Begriff des Lebens als einer traditionsbezogenen Lebensform. Die in der Vorstellung von der magistra vitae enthaltene Exemplarität des Historischen als Erkenntnisziel des Historikers ist mit dieser alten Lebensform und ihrem Lebensbegriff nicht etwa überholt, sondern nur unabsehbar radikalisiert worden. ( Historiografie) Nirgends kommt diese aus verflossenen Quellen weiter fließende Provokation besser zum Ausdruck als in jener anderen getrübten Quelle, die viele deshalb für die Fortsetzung der mythischen Quellen im Stande der ideologischen Verblendung moderner Umstände und Zeiten halten, der Literatur. Die literarische Metapher der Quelle bleibt
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ihrer Quelle, der Literatur, nahe. Herders philologische Schwäche für diese Nähe hatte gute Gründe, denn die Philologie muss es in ihrer Liebe zum Wort auf dessen Quellenqualitäten abgesehen haben. Die Qualquelle, Valérys Muse nach Derrida, ist der Name für den primären literarischen, nein, genauer den primären historischen Narzissmus, der in der literarischen Bearbeitung sich verkleidet findet und in der Verkleidung sein originäres Spiegelstadium verlässt. Die etymologische Qual des Quellens, auf die Derrida durch Hegels feines Ohr aufmerksam wurde, zeugt nicht von einem lautern Ursprung, der um seine frühe Trübung besorgt sein müsste; sie begleitet unter Stöhnen ein permanentes Aufquellen, »das Treiben eines Dinges« (kann Derrida Hegel zitieren), dessen literarische Aufhebung nur einen paradoxen Schein hervorrufen kann. So dass die ganze Quellenkunde eine der Stadien und Aggregatzustände des Ausquellens sein oder werden kann, in denen von Johann Gustav Droysen bis Ahasver von Brandt das Werkzeug des Historikers den Quellenwert der Überreste vorfindet und von Traditionen bearbeitet weiß in Urkunden aller Art und Verfasstheit. Brandts Quellentypologie verkennt die Schwellen-Funktion des Überlieferungsstands der Urkunde; sie ist der integrale Quell-Name, denn sie markiert die Schwelle der Quelle ins Schriftliche, ja sie erweist – umgekehrt – Schrift als den Überlieferungs-entscheidenden Schwellzustand des Quellens. Sorgten sich Snell und Blumenberg und Koselleck auf ihre Weise, die mythische Trübung kritisch zu sichten, so betrieb doch der Mythos das »Treiben« der Dinge, und trieb es die Literatur auf die Spitze, so wusste die Geschichte es kaum noch zu lesen. Noch das Ansinnen der Trübung, die eine der historischen Nutzung ist, zeugt von der Freud’schen Kränkung des modernen Narziss, der sich vom eigenen Bild nicht losreißen kann und will. Während die ungeschriebene – als eine Geschichte unschreibbare – Geschichte des Auf- und Weiter-Quellens die Spuren einer mythischen Präsenz – einer Latenz und Akutheit – weiterträgt. Will man sie, diese Spuren, lesen lernen, muss man sie sich aus den sprachlichen Resten der Bearbeitung zusammenlesen wie Dumézil oder Benveniste und als ana-grammatische oder ana-semische Materie re-grammatisieren. ( Realismus)
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Eine Grammato-logie im weitesten Sinne mag die paradigmatischen, geschichtsträchtigen Muster all dieses unter Qualen aufgetriebenen Quellens beibringen, dessen Kunde zum technischen Werkzeug und zur Disziplinierung einer Wissenschaft von Geschichte taugt, die nicht dem Spiegel ihres fotogenen Selbstbilds erliegt. Der Mythos bot mehr als den dunklen Spiegel einer Quelle, denn er trug und trägt den Kern des Begreifens in sich, der historisches Begreifen nach sich zieht. Die Quelle ist kein Ursprung, aber ihr entspringt die Latenz in der Geschichte als Vexierspiel unvordenklicher Wirkungen. Das Archiv, das sie verwaltet, hütet, dosiert, wird sie nicht ausschöpfen, aber ihre Quellzustände ohne Ansehung der Verquollenheit bewahren, bevor – oder auch ohne dass – ihr Quellen sie bewahrheitet. ( Wahrheit)
L ITERATUR Benveniste, Emile (1969): Le Vocabulaire des institutions indoeuropéennes, Paris: Minuit. Blumenberg, Hans (1971): »Beobachtungen an Metaphern«, in: Archiv für Begriffsgeschichte 15, S. 195-199. Brandt, Ahasver von (1958): Werkzeug des Historikers, Stuttgart: Kohlhammer. Derrida, Jacques (1972): Randgänge der Philosophie, Wien: Passagen. Droysen, Johann Gustav (1972): Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, Darmstadt: WBG. Dumézil, Georges (1941): Jupiter, Mars, Quirinus, Paris: Gallimard. Koselleck, Reinhart (1979): Vergangene Zukunft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Snell, Bruno (1946): Die Entdeckung des Geistes, Hamburg: Claaßen & Goverts.
Raum M ECHTILD R ÖSSLER
Der Begriff »Raum«, ähnlich wie »Landschaft«, hat eine Vielfalt von Konnotationen in unterschiedlichen Kontexten. Er reicht vom Begriff »Weltraum« bis zu »Wohnraum«, d.h. von der größtmöglichen Ausdehnung, die sich ein Mensch vorstellen kann, bis hin zu dem, was ihn täglich im kleinen Bereich des privaten Alltags umgibt – inklusive des virtuellen Chatroom. Für den Historiker mag zwar die Geschichte der Erforschung des Weltraums, oder die Geschichte des Alltags und seiner Räume, sinnvoll sein, im Vordergrund des Gebrauchs des Begriffs steht jedoch meist ein größerer Ausschnitt der Erdoberfläche, wie er in der Zusammensetzung von »Sprachraum«, »Wirtschaftsraum« oder »Kulturraum« auftaucht. Für den Historiker sind »Raum« und »Zeit« untrennbar miteinander verbunden, denn alle historischen Ereignisse finden zwangsläufig in einer räumlichen Dimension statt, durch die sie auch mit geprägt sind. ( Ereignis) Doch während die Historiker ihre Ereignisse und Prozesse zumeist selbst in der Zeit verorten, sind sie für die räumliche Dimension auf das Werkzeug ihrer ältesten Nachbarwissenschaft angewiesen. Nicht zufällig ist in einigen Ländern der Geografie-Unterricht eng mit dem Geschichtsunterricht verknüpft, wie in Frankreich in Form der Géohistoire. In der Soziologie wurde der Begriff von »sozialem Raum« geprägt, in dem sich soziale Gruppen verhalten. Die Analyse sozialer Strukturen im Raum ist auch von Bedeutung für den Historiker und Geografen und wurde im Konzept der »räumlichen
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Praxis« (Henri Lefebvre) und des »Handlungsraums« (Benno Werlen) weiterentwickelt. In Deutschland begann die »Rückkehr des Raums« in den letzten dreißig Jahren. Der Nationalsozialismus hatte das Vokabular »verdächtig« gemacht und in den 80er und 90er Jahren begann eine kritische Erforschung der Rolle von Historikern, Anthropologen und Geografen und deren »Kulturraumforschung« im Dritten Reich. Insbesondere standen dabei die Funktion der Wissenschaftler und ihrer Beiträge zur Lebensraumpolitik der Nationalsozialisten zur Debatte. Neue Forschungen untersuchten die Texte des deutschen Geografen Friedrich Ratzel (1844-1904), der den Begriff »Lebensraum« 1897 prägte und davon ausgegangen war, dass alle Lebewesen, der Mensch eingeschlossen, von geografischen Bedingungen abhängig seien und sich anpassen müssten. Die Ursprünge des Begriffs »Lebensraum« und der nationalsozialistischen Expansionspolitik, die den Begriff für sich einnahm, gehen auf das 19. Jahrhundert zurück. Der Begriff hatte sich schnell verbreitet und das Konzept schnell Anhänger in der Geschichtswissenschaft gefunden, nicht zuletzt bei dem Historiker Fritz Fischer und in der Idee der deutschen Ostkolonisation im Falle eines Sieges im Ersten Weltkrieg. Das Konzept fand auch Niederschlag in der Geopolitik von Karl Haushofer und in der Literatur, etwa in dem Band von Hans Grimm Volk ohne Raum aus dem Jahr 1926. Auch der in den 1920er Jahren sich formierenden französischen Annales-Historiografie liegt die intensive Betrachtung geografischer Räume zugrunde, wenngleich in anderer Hinsicht. Die französischen Historiker wie Lucien Febvre, Marc Bloch oder Fernand Braudel haben sich im Ausgang von der Humangeografie Paul Vidal de la Blaches mit der engen Verbindung von Geschichte und Geografie befasst. Man denke an das grundlegende Buch von Lucien Febvre La terre et l’évolution humaine. Introduction de géographie a l’histoire (1922) oder eine Generation später an Fernand Braudels Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II. (1949). Braudels Ansatz hat aus dem Mittelmeer einen klassischen maritimen »Interaktionsraum« gemacht, einen Kontakt- und Spannungsraum verschiedener Zivilisationen, der den Nationalstaat als räumliche Untersuchungseinheit ersetzt. ( Nationalgeschichte) Der Blick auf Räume scheint eine umfassendere Perspektive als die Auseinanderset-
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zung mit dem Ereignis zu bieten. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang der interdisziplinäre, historisch-anthropologische, aber auch geografische Ansatz, mit dem die Annales ihre histoire totale umsetzen und wovon bereits Lucien Febvres Rhein-Buch aus den 1930er Jahren zeugt. Noch in den Debatten des 21. Jahrhunderts im Umkreis der »Wiedereinführung« des Raums in die Human- und Sozialwissenschaften ist an Braudels Forderung anzuschließen: »Folglich sind die Geographen zu verpflichten (was relativ leicht sein dürfte), der Zeit größere Aufmerksamkeit zu schenken, und die Historiker (was schon schwieriger sein dürfte) zu veranlassen, sich intensiver mit dem Raum auseinanderzusetzen und mit dem, was er trägt, was er hervorbringt, was er den Menschen erleichtert und wo er ihre Pläne durchkreuzt – mit einem Wort, sie dazu zu bringen, seiner beeindruckenden Permanenz in ausreichendem Maße Rechnung zu tragen«. (Braudel 1994: 234)
Ob der spatial turn zu einem neuen innovativen Ansatz führen wird und den Geschichts- und Sozialwissenschaften, Geografie und Historie neue Anregungen gibt, werden wir wohl erst in ein paar Jahren schlüssig feststellen können. Derzeit wird Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften ausführlich debattiert (Döring/Thielmann 2008). Dieser spatial turn, oder das new spatial paradigm, ist umso erstaunlicher, als sich die Sozialwissenschaften bereits seit Jahren intensiv mit dem Raum befasst haben. Sei es in der Soziologie, wo u.a. in den 1980er und 1990er Jahren geschlechtsspezifische Verhaltensweisen im Raum erforscht wurden, oder in der Geschichtswissenschaft: bereits der Historikertag von 1986 hatte das Thema: »Raum und Geschichte«. So ist es nicht verwunderlich, wenn der Geograf Gerhard Hard »semantische Schwindelgefühle« erlebt: »Der Signifikant Raum und seine Derivate schienen von irreduzibler Polysemie, ja Homonymie befallen zu sein, wobei doch alle Autoren vorgaben, mehr oder weniger von der gleichen Sache, nämlich über den Raum zu reden.« (Hard 2008: 263) Angesichts der Vielschichtigkeit der aktuellen Diskussionen wäre eine inhaltliche Reflexion zu den jeweils verwendeten Raumbegriffen
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zu wünschen. Nur unter dieser Voraussetzung ist ein produktives Gespräch zwischen den Disziplinen möglich. ( Tunnelblick) Denn allzu oft bleibt der Raum in der Geistes- und Kulturwissenschaft eine Metapher.
L ITERATUR Braudel, Fernand (1994): »Géohistoire und geographischer Determinismus«, in: Matthias Middell/Steffen Sammler (Hg.), Alles Gewordene hat Geschichte. Die Schule der Annales in ihren Texten 1929-1992, Leipzig: Reclam, S. 233-246. Döring, Jörg/Thielmann, Tristan (Hg.) (2008): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld: transcript. Dünne, Jörg/Günzel, Stephan (Hg.) (2006): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Hard, Gerhard (2008): »Der Spatial Turn von der Geographie her betrachtet«, in: Jörg Döring/Tristan Thielmann (Hg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld: transcript, S. 263-315. Lefebvre, Henri (1974): La production de l’espace, Paris: Anthropos. Piltz, Eric (2008): »Trägheit des Raums. Fernand Braudel und die Spatial Stories in der Geschichtswissenschaft«, in: Ebd., S. 75102. Rössler, Mechtild (1991): Der andere Diskurs zu Raum und Geschichte: Wechselbeziehungen zwischen deutscher Sozialgeographie und französischer Annales-Schule 1920-1950, in: Geographische Zeitschrift 79, Heft 3, S. 153-167. Warf, Barney/Santa, Arias (Hg.) (2009): The Spatial Turn: Interdisciplinary Perspectives, New York: Routledge Studies in Human Geography. Werlen, Benno (2007): Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen, Band 2: Globalisierung, Region und Regionalisierung, Stuttgart: Steiner.
Realexperiment H ANS M EDICK
Im vergangenen Jahrzehnt richtete die geschichts- und kulturwissenschaftliche Forschung ihre Aufmerksamkeit verstärkt auf Selbstzeugnisse. Autobiografische Texte und Schriften wie Chroniken, Tagebücher und Briefe stoßen aber auch auf das zunehmende Interesse einer breiteren Öffentlichkeit. Dies ist vor allem deshalb der Fall, weil diese Texte einen persönlichen Zugang zur Geschichte jenseits der trockenen staatlich-behördlichen Aktenüberlieferungen eröffnen. Selbstzeugnisse sind immer auch Zeitzeugnisse und haben eine besondere Nähe zu historischen Ereignissen und jeweils zeitgenössischen Vorgängen. ( Ereignis) In diesem Kontext ist ein neues elektronisches Text- und Forschungsportal entstanden: »Mitteldeutsche Selbstzeugnisse der Zeit des Dreißigjährigen Krieges« (MDSZ) (vgl. http://www.thulb.unijena.de). Das Portal stellt vier bisher unpublizierte Selbstzeugnisse aus Mitteldeutschland vor. Alle Texte sind in sprachlich leicht modernisierter Form digital abrufbar und mit einer ausführlichen Sach-, Personen- und Ortskommentierung versehen. Daneben finden sich die Faksimiles aller Originalquellen. Die Kommentierung erfolgt in Form von Hyperlinks über ein neuartiges elektronisches Verweissystem. Per Mausklick lassen sich auf insgesamt 2636 Textseiten Erläuterungen zu 1982 zeitgenössischen Sachbegriffen, 2603 Personen und 985 Ortsnennungen, zudem 2276 Übersetzungen lateinischer Textabschnitte und 993 Einzelerläuterungen in Fußnoten erreichen. Initiiert und durchgeführt wurde das Pro-
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jekt von mir (H. Me.) und dem historischen Fachinformatiker Norbert Winnige unter Mitarbeit von Andreas Bähr (Berlin), Holger Berg (Kopenhagen), Thomas Rokahr (Göttingen) und Bernd Warlich (Volkach). Angesichts der zu erschließenden großen Informationsmengen wäre ein solches Text-Werk als konventionelle Edition im Buchdruck kaum zu realisieren, geschweige denn benutzbar gewesen. Es hätte als ein herkömmliches Textwerkzeug in der Werkstatt des Historikers kaum mehr Platz gefunden. Die im Online-Portal elektronisch veröffentlichten Texte und Hypertexte enthalten hingegen zahlreiche Recherchetools, wie z.B. eine Lupenfunktion, personen-, begriffs-, ortsund textorientierte Suchprogramme und kartografische Darstellungen, welche die Benutzung erleichtern. Das Portal versteht sich somit als ein benutzerfreundliches elektronisches Labor zur Geschichte des Dreißigjährigen Krieges. In Weiterführung der von Marc Bloch für die Werkstatt des Historikers formulierten Prämissen und Desiderate geht es hier darum, ein text- und sprachnahes historisches Erkennen und Interpretieren als ein neuartiges »Realexperiment« (Schöttler 2002: 260) im elektronischen Zeitalter möglich zu machen. Doch die Reise per Mausklick durch den Dreißigjährigen Krieg, die diese besondere Art der Dokumentation mit ihrer reichen Suchund Recherche-Umgebung möglich macht, ist keineswegs eine technologische Spielerei. Allein schon angesichts der gewaltträchtigen Inhalte entsteht ein deutliches Spannungsverhältnis zur Leichtigkeit des Mausklicks. Gerade indem diese Inhalte aus der Perspektive persönlichen Erlebens präsentiert werden, wird die Ebene der großen Geschichtsereignisse, wie etwa der Schlacht von Lützen 1632 oder der Ermordung Wallensteins 1634 aus der Multiperspektive mehrerer Zeugnisse in durchaus unterschiedlicher Weise angesprochen, aber zugleich wird sie auch über- bzw. unterschritten. In den Blick kommt vielmehr der Alltag des Krieges in seinen vielen tausend kleinen Ereignissen alltäglicher Gewalt, von Plünderung, Flucht, Vergewaltigung, Tötung und finanzieller Auspressung. Besonders wichtig erscheinen auch die durchaus unterschiedlichen Grade der Distanz und Nähe zu den großen und kleinen Kriegsereignissen und die unterschiedlichen Grade der Betroffenheit, die in den Zeugnissen der sozial
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und religiös durchaus verschieden positionierten Autoren sichtbar werden. ( Biografie) Alle im Portal erstmals editierten und veröffentlichten Texte wurden in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) oder unmittelbar danach verfasst. Sie stammen aus derselben Region: den Thüringischen Gebieten Mitteldeutschlands mit ihrem Hauptort Erfurt. Diese Gebiete standen lange im Zentrum der Gewalthandlungen des Dreißigjährigen Krieges. Erstmals werden hier publiziert: 1) das äußerst umfangreiche und detaillierte Chronicon Thuringiae des Volkmar Happe, ein akribisch geführtes Tagebuch und Register selbst erlebter oder zumindest wahrgenommener Gewalthandlungen eines Verwaltungsbeamten und Hofrats, 2) die Chronik des Erfurter Blaufärbermeisters Hans Krafft, 3) das Diarium Actorum des katholischen Erfurter Domherrn und Professors der Theologie, Caspar Heinrich Marx – eine Art autobiografisches Archiv erfahrener Gewalt überwiegend von Seiten der Protestanten, 4) die Anmerkungen … einiger von 1620 an sich ereigneter Begebenheiten des Rudolstädter Kriegskommissars und Landrichters Michael Heubel, der sich als Vermittler zwischen den Fronten des Krieges hervortat. ( Subjekt) Die Erarbeitung dieses Online-Portals trägt der steigenden Bedeutung elektronischer Medien auch in der geschichtswissenschaftlichen Forschung Rechnung. ( Historiografie) In der Diskussion über die digitale Repräsentation von Quellenmaterial und der dazugehörigen Informationen wird zu häufig übersehen, dass es dabei nicht nur um Fragen der technischen Erleichterung des Informationszugriffs und -austausches geht, sondern auch um neue Formen der Forschung, der wissenschaftlichen Arbeit und der Erkenntnisgewinnung. Die reflektierte Anwendung elektronischer Medien in den Geschichts- und Kulturwissenschaften überschreitet bisherige Grenzen der Forschung. Die Veränderung der Organisation und der Verfügbarkeit von Wissen durch digitale Editionen, wie sie in MDSZ publiziert werden, hat heuristische und epistemologische Implikationen: Über die Repräsentation von historischen Quellen als digitale Faksimiles wird eine jederzeitige Einseh- und Verfügbarkeit historischer Originaldokumente erreicht. Dies ermöglicht eine permanente Durchsichtigkeit der Transkription und Edition in Bezug auf das Original. Sie stellt damit auch die editorischen Erschließungs- und inhaltlichen Interpretationsvor-
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schläge in neuer Weise auf den Prüfstand. Denn über die bewegliche Handhabbarkeit des Forschungsinstruments digitaler Editionen generiert sie neue Auswertungs- und Verknüpfungsmöglichkeiten. Damit macht sie in verschärfter Weise die Fiktion der Endgültigkeit von Editionen wie auch jeder Interpretation deutlich. Was Marc Bloch bereits als Grundelement jeder wissenschaftlichen Historik im 20. Jahrhundert hervorhob, dass »in vielerlei Hinsicht […] die Gewissheit durch das unendlich Wahrscheinliche ersetzt [wurde]« und »Gewissheit und universelle Gültigkeit [von daher] als etwas Graduelles zu betrachten [sind]« (Bloch 2002: 18f.), tritt hier besonders deutlich hervor. Dies bedeutet jedoch keineswegs eine Relativierung des wissenschaftlichen Wahrheitsanspruchs historischer Erkenntnis. ( Wahrheit) Die digitale Edition bietet vielmehr neue, jederzeit überprüfbare wissenschaftliche Erkenntnischancen. Diese freilich sind nicht mehr nur dem kleinen Kreis von Fachhistorikerinnen und Fachhistorikern zugänglich, sondern einer geschichtsinteressierten Öffentlichkeit weltweit.
L ITERATUR Bloch, Marc (2002): Apologie der Geschichtswissenschaft oder Der Beruf des Historikers, hg. v. Peter Schöttler, Stuttgart: Klett-Cotta. Medick, Hans: »Sondershausen als ›Schindershausen‹. Selbstverortungen und Wahrnehmungshorizonte der Gewalt in Volkmar Happes Chronicon Thuringiae aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges«, http://www.mdsz.thulb.uni-jena.de/happe/analysebeispiel.php Ders. (2010): »Der Dreißigjährige Krieg als Erfahrung und Memoria. Zeitgenössische Wahrnehmungen eines Ereigniszusammenhangs«, in: Peter C. Hartmann/Florian Schuller (Hg.), Der Dreißigjährige Krieg. Facetten einer folgenreichen Epoche, Regensburg: Friedrich Pustet, S. 158-172. Schöttler, Peter, »Marc Blochs Testament«, in: Bloch (2002), S. 215280.
Realismus B ERTRAND M ÜLLER
Die Frage nach dem Realismus in der Geschichte hat in den letzten Jahrzehnten eine paradoxe Wendung genommen. Der Skeptizismus der Postmoderne gegenüber dem Fortschritt, der Wissenschaft, dem Rationalismus hat auch vor der Geschichtswissenschaft nicht haltgemacht, die ebenfalls die subjektivistischen und relativistischen Positionen bevorzugt. ( Subjekt) Gravierender ist, dass die Wiederkehr des Unglaubens oder der Irrationalität den zahlreichen fundamentalistischen und obskurantistischen Dogmatismen den Weg geebnet hat, die die falsifikationistischen und negationistischen Diskurse mit Argumenten versorgen. Gegen die zunehmenden Manipulationen der gegenwärtigen und vergangenen Wirklichkeit erscheint der Realismus als mögliche und wirkungsvolle Rettung. Und gegen die Skeptiker, die bewusst oder aus Ignoranz seine Evidenz verleugnen, muss das Reale sicherlich seine Existenz verteidigen. Aber muss man deshalb gar so leicht den Sophismen der Negationisten und Kreationisten aller Richtungen nachgeben und einen naiven, wenn nicht dogmatischen Realismus etablieren, der an den Historismus des 19. Jahrhunderts erinnert, als man davon besessen war, die Realität zu beschreiben, wie die Wahrheit der Quellen sie überlieferte? Man sollte auch den Gegensatz von Realismus und Fälschung nicht mit dem Unterschied zwischen Realismus und Fiktion verwechseln. ( Kunst)
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Noch vor den Philosophen hatten die Historiker erkannt, welche Fehlannahmen dieser methodologische Naturalismus barg, der die Analyse von der Synthese, die Beschreibung von der Interpretation der Fakten trennen wollte. Die Fakten sind nicht gegeben und die Wirklichkeit ist nicht in den Quellen ( Quellen ), vielmehr ist das historische Wissen das Produkt einer langen Kette komplexer Gedankengänge, die nicht notwendigerweise »Realitätseffekte« (»effets de réel«) sind, sondern darauf abzielen, ein möglichst treffendes und den angewandten kognitiven Mechanismen adäquates Verständnis des Realen zu vermitteln. Die Mikrogeschichte und der linguistic turn haben, jeder auf seine Weise, die wissenschaftlichen Fundamente dieses kritischen und reflexiven Realismus erschüttert. ( Diskursanalyse) Als notwendige Vermittlerin zwischen Wirklichkeit und Erkenntnis war die Sprache ein Argument, das zunehmend das Verständnis dieser Wirklichkeit verhinderte und in einen »Antirealismus« und vor allem einen problematischen Relativismus mündete, der sich selbst widerlegte. Die Mikrogeschichte hingegen ging von einer ganz anderen Perspektive aus und machte es sich zur Aufgabe, in den Zwischenräumen einer überdeterminierten Wirklichkeit die Akteure wiederzufinden. Deshalb richtete sie den Fokus so nah auf die Individuen und ihre konkreten Handlungen, dass darüber manchmal die Bedeutung des Beobachteten unscharf zu werden drohte. Während so auf der einen Seite die Textanalyse auf eine selbstreferenzielle Wirklichkeit zurückverwies und sich in einem relativistischen Konstruktionismus verlor, erschien auf der anderen Seite die Wirklichkeit direkt und unvermittelt zugänglich, unabhängig von den Kategorien, mit denen der Historiker sie zu erfassen sucht. Die Mikrohistoriker teilen sich ihrerseits wiederum in »Fundamentalisten«, die gerade die Mikroanalyse als einen Schlüssel zum privilegierten Zugang zur Makrorealität betrachten, und in andere, eher »relativistische«, die aus Maßstäben und Untersuchungsebenen (»jeux d’échelle«) passgenaue Instrumente machen, die besonders geeignet sind, die Mannigfaltigkeit und Vielfalt des Sozialen zu erfassen. Die immer wiederkehrende Debatte über den Realismus oder – in etwas anderer Form – über den Naturalismus ist nicht zuerst und nicht hauptsächlich in der Geschichte aufgetreten, sie hat auch den »Krieg
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der Wissenschaften« geprägt. Die Radikalisierung der Standpunkte und die Heftigkeit der Auseinandersetzung haben allerdings die Positionen verdunkelt, die kurioserweise jenseits der donnernden Proklamationen zwischen den beiden entgegengesetzten Lagern manchmal weniger inkompatibel erscheinen, als sie es zwischen jenen sind, die sich unter demselben Etikett wähnen. Es wäre nicht uninteressant, die Argumente und Gründe zu hinterfragen, die die Dramaturgie der Dauerkontroversen bestimmen, doch vielleicht sollte man einer Debatte, die im Ergebnis die entscheidende Bedeutung der Geschichte und der Praxis für das soziale Leben verschleiert, weniger Aufmerksamkeit widmen. Bachelard hatte bereits darauf hingewiesen, dass die Wahrheiten und dadurch die wissenschaftliche Erkenntnis eine Geschichte haben, die im Übrigen notwendigerweise auch sozial ist, weil sie immer das mehr oder weniger gefestigte Ergebnis von Praktiken ist. ( Historische Epistemologie) Wenn die »Wirklichkeit« genauso wie die Wahrheit auch nicht in der Natur sind, so sind sie doch wiederum auch keine willkürlichen Repräsentationen, metaphysischen Konstruktionen oder simplen Sprachspiele. Eine »realistische« Sicht auf die Geschichte müsste daher auch die Frage untersuchen, wie und unter welchen historischen Umständen man der Geschichte Wahrheiten entreißen kann, die jedoch nicht mit dieser identisch sind. Aber wenn die Wirklichkeit wirklich existiert, so existiert sie nur durch die Erklärungen und Beschreibungen, die wir aus einer bestimmten Perspektive von ihr machen. Wenn auch »die Sprache, die wir sprechen, immer die einer bestimmten Epoche und Region ist; […] so gilt doch die Richtigkeit und die Falschheit dessen, was wir sagen, nicht nur für eine Epoche und für eine Region« (Putnam 1990). ( Wahrheit) Doch was ist die historische Wirklichkeit? Die Vergangenheit ist uns heute nur zugänglich durch ihre – aktive oder passive – Gegenwärtigkeit in der Gegenwart, und dies unvollkommen und lückenhaft, vor allem aber auf so komplexe Weise, wie es für die Quellen charakteristisch ist: Als zufällige oder organisierte Sedimentationen, Überlagerungen unzusammenhängender oder unterbrochener Schichten, konservierende Traditionen, absichtliche Überlieferungen oder unabsichtliches Erbe sind sie untrennbar sowohl Wirklichkeiten als auch mate-
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rielle, intellektuelle, soziale und sogar politische, alles in allem also ihrerseits historische Konstruktionen. Aus dem Französischen von Dorit Gesa Engelhardt
L ITERATUR Bourdieu, Pierre (1997): Meditation. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bouveresse, Jacques (1985): Rationalité et cynisme, Paris: Minuit. Lorenz, Chris (2004): »Historisches Wissen und historische Wirklichkeit: Für einen ›internen Realismus‹«, in: Jens Schröter/Antje Eddelbüttel (Hg.), Konstruktion von Wirklichkeit. Beiträge aus geschichtstheoretischer, philosophischer und theologischer Perspektive, Berlin/New York: de Gruyter, S. 65-106. Putnam, Henry (1990): Realism with a Human Face, Cambridge: Harvard University Press. Scott, Joan W. (2009): Théorie critique de l’histoire, Paris: Fayard.
Schreibwerkzeuge M ICHAEL G. E SCH
Am Ende der Einleitung zu den Grundrissen der politischen Ökonomie stellt Karl Marx die Frage, ob Achilles mit Pulver und Blei, ob die Ilias zeitgleich mit der Druckerpresse möglich sei, und wieso trotz der unterschiedlichen gesellschaftlichen und damit mentalen Disposition der Gesellschaft, in der die Illias produziert, und der, in der sie rezipiert werde, diese gleichwohl einen Kunstgenuss gewähre und als unerreichbares Muster literarischer Perfektion gelte. ( Materialistische Geschichtsschreibung) Damit berührt Marx eine ganze Reihe von Problemen, die Historiografie und Kulturwissenschaft beschäftigen: Die Frage der Produktion eines literarischen Kanons und seiner gesellschaftlichen Funktion und den Einfluss der Technologie auf die formalen, kognitiven und kreativen Aspekte literarischer Produktion. Beides betrifft auch die Historiografie: Die Produktion, Darstellung und Rezeption historischen Wissens hängt ab vom Zustand der Gesellschaft und insbesondere der Technologie des Schreibens (de Certeau 1975: 13). Die Historiografie, auf die wir uns beziehen, mag ihre Vorformen in den epischen Gedichten der Antike, dann in der mittelalterlichen Chronistik haben. So, wie wir sie betreiben, ist sie sicherlich nicht ohne Druckerpresse denkbar: Als Frucht der Rationalisierung und Nationalisierung staatlich verfasster Gesellschaften unter den Bedingungen eines verwissenschaftlichten Erkenntnis- und Legitimationsdiskurses waren und sind ihre Erträge einem zunächst zwar kleinen, potenziell jedoch unbegrenzten Publikum vorzulegen. Immerhin diente die wis-
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senschaftliche Geschichtsschreibung zunächst einer objektivierten Herleitung und Legitimation des Staates und seiner Ansprüche gegenüber den Untertanen einerseits, seinen Gebiets- und Expansionsansprüchen gegenüber den Nachbarn andererseits. (Iggers 1997; Schöttler 1997) Gleichwohl haben sich seit Beginn einer sich wissenschaftlich gebärdenden Geschichtsschreibung, nicht nur die Paradigmen und Methoden unserer Disziplin verändert, sondern auch die Techniken und Werkzeuge des Schreibens: Während die Väter der Geschichtswissenschaft noch mit der Feder arbeiteten und ihre Manuskripte, nach Durchsicht durch den Zensor, an äußerst gebildete und gut organisierte Setzer übergaben, ist es heute üblich, die letzte Textfassung am eigenen Rechner zu erstellen und in druckfertiger (≠ druckwürdiger) Form an Verlag oder Redaktion zu senden. Die Produktion geschichtswissenschaftlicher Großwerke wie Theodor Mommsens Römischer Geschichte oder Karl Lamprechts Deutscher Geschichte hatte zwei Voraussetzungen: Ihre Autoren mussten der Sorge um die materiellen Aspekte bürgerlichen Daseins befreit sein, und sie mussten ihr Material – Quellen, Exzerpte, Thesen, Gliederung – äußerst penibel geordnet halten, sowohl materiell als auch gedanklich. Die Exzerpthefte Marx’ zeugen davon, in wie vielen Arbeitsschritten ein solches Werk vonstatten ging. Mit der Verwissenschaftlichung und Mechanisierung des gelehrten Schreibens setzte zwischen 1870 und 1930 eine Standardisierung des Schreibprozesses ein, bei der das Notizbuch als Medium zur Systematisierung des Materials getrennt vom eigentlich zu produzierenden Text eine zentrale Rolle spielte. (Fenzel 2008) Der wissenschaftliche Produktionsprozess war weitgehend monologisch und individuelles Ergebnis eines mehrstufigen Aneignungsprozesses des Materials. Die Darstellung des jeweiligen Ergebnisses bedurfte subordinierter Hilfskräfte – Sekretärinnen, Lektoren, Setzer, Drucker – und war relativ zeitaufwendig. In gewissem Sinne entsprach daher die Fortentwicklung der Schreibwerkzeuge – über Füller, mechanische und elektrische Schreibmaschinen zum Computer – jener Beschleunigung der Zeit, die mit der Industrialisierung einherging, welche die Mittel bereitstellte, die für diese Entwicklung nötig waren. Besonders seit der inzwischen standardmäßigen Ausstattung gelehrter Werkstätten mit leistungsfähigen Computern und der allgemeinen Verbreitung grafischer Benutzerober-
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flächen reduzierte sich die Zahl notwendiger Hilfskräfte, ganz wie die Zahl der Arbeiter in den Fabriken. Die Computerisierung könnte somit als eine reine technologische Autonomisierung der gelehrten Tätigkeit von den technischen, physikalischen Voraussetzungen des Lesens und Schreibens verstanden werden: Die Wissenschaft im Reich der Freiheit. Bleiben wir beim Notizbuch: Dessen Verwendung wurde im Zeitalter der elektronischen Datenspeicherung in Notizzettelprogrammen und ähnlichen Softwareerzeugnissen fortgesetzt. Verwendung und Wirkung virtueller und realer Zettelkästen unterscheiden sich jedoch, und der Zuwachs an Geschwindigkeit als einer der Hauptvorteile ist ambivalent: Selbst in Zeiten tragbarer Computer ist der Zugriff auf Zettel und Stift in der Tasche rascher als der auf Betriebssystem und Programm. Hinzu kommt, dass das Programm seine Bedienbarkeit in höherem Maße vorschreibt, d.h. stärker zur Einhaltung bestimmter, externer Konventionen zwingt als die klassischen Materialien. Papier und Stift sind gerade für Ungewöhnliches, Unerwartetes, für unzweckmäßig erscheinende Verwendungsformen weitaus offener als Computer. Eine Rolle Packpapier und einige Stifte und Klebstoff erlauben beim Entwurf eines größeren Forschungsvorhabens schon flächenmäßig ganz andere Visualisierungen als ein 24-Zoll-Bildschirm. ( Sinne) Selbst da, wo die Utopie eines Vilém Flusser – die intuitive, schriftlose Oberflächlichkeit des Computers als Voraussetzung für reine Kreativität – verwirklicht wäre (Flusser 1999), müsste zudem eine Reflexion darüber einsetzen, in welchem Maße die Verdopplung der Geisteskräfte in den elektronischen Speicher- und Bearbeitungsmedien gleichzeitig eine handwerkliche Dequalifizierung derer bedeutet, die mit ihnen arbeiten. Während das Anspitzen einer Schreibfeder noch von jedermann und -frau zu bewerkstelligen war oder das Anspitzen eines Bleistiftes sicherlich keines naturwissenschaftlichen Studiums bedurfte; während zur Zeit der mechanischen Schreibmaschine zwar nicht mehr deren Reparatur, aber immerhin noch das Ölen der Mechanik und das vorsichtige Geradebiegen einzelner Typen den meisten möglich waren, scheiterten manche Schreibende bereits am Austausch des Typenkopfes bei der IBM-Kugelkopf-Schreibmaschine. Beim Computer liegt schon eine Neueinrichtung beschädigter
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Anwendungsprogramme außerhalb der Möglichkeiten der durchschnittlichen Nutzerinnen und Nutzer, ganz zu schweigen von Eingriffen in die elektronischen Innereien des täglich verwendeten Geräts. Die Entfremdung, die den Industriearbeiter gegenüber der Maschine auszeichnet, setzt sich also in der scheinbaren Autonomie der Geistesarbeit fort. (Negt/Kluge 1981: 950) Dass dieses Werkzeug selbst Fetisch des Modernen, Kreativen, Mobilen sein will, ändert daran gar nichts. ( Realexperiment) Die modernen Technologien erlauben und erzwingen drittens eine ganz andere Umgehensweise mit dem Material: Technisch ist es heute üblich, in den Archiven Fotokopien von Quellen herstellen zu lassen oder Dokumente abzufotografieren und erst am eigenen Schreibtisch auszuwerten. Das ermöglicht kürzere Archivaufenthalte bei höherer Materialaufnahme. Die konzentrierte Arbeit mit Archivmaterialien verwandelt sich dadurch aber in ein hektisches Sammeln und zerstört nicht nur die Aura des Objekts, sondern auch – typischer Effekt von Rationalisierung und Taylorisierung – den Genuss dieser Tätigkeit. Inhaltlich ermöglicht die elektronische Datenverarbeitung die Verarbeitung größerer Materialmengen und damit auch von Schriftstücken, denen über lange Zeit gar nicht der Status einer geschichtswissenschaftlichen Quelle zukam. ( Quelle) Auch das ist nicht unproblematisch: Trotz ihres trennenden und exkludierenden Charakters tendiert die Historiografie dazu, das historische Material mit den je modernsten Methoden und Werkzeugen auszuschöpfen (de Certeau 1975: 13). Es stellt sich also die Frage, inwiefern die Multiplizierung der bearbeitbaren Mengen dazu dient, jene Ränder des herrschenden Diskurses, in denen sich das Nichtrepräsentierbare, Widerständige sammelt (Ginzburg 2001: 32-34; 93f.), den Produktionsgesetzen der Historiografie zugänglich zu machen und sie auf diese Weise endgültig auszutrocknen. ( Historiografie) Elektronische Werkzeuge haben den Forschungsprozess vereinfacht und ihn zugleich auch komplexer gemacht. Sie haben quantitative Verfahren vereinfacht, die wesentlich waren für eine integrative historische Sozialwissenschaft; in der Quantifizierung ermöglichen sie einen Komplexitätsgrad, der den grundsätzlichen Reduktionismus quantitativer Verfahren zumindest mathematisch aufzuheben scheint. Die in den Geschichtswissenschaften übliche anwenderfreundliche
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Software erlaubt aber beispielsweise keine grafische Darstellung komplexer Datenstrukturen, die sich hinsichtlich Differenziertheit und ästhetischem Genuss mit den Möglichkeiten kundiger Handarbeit messen könnte. Im Kontrast zu vorgefertigten, standardisierten GrafikTemplates galt die Karte Minards über die Verluste auf Napoleons Russlandfeldzug aus dem Jahre 1869 dem Designtheoretiker Tufte noch 2006 als vermutlich beste (multivariate) Infografik aller Zeiten. (Tufte 2006) ( Diagramme) Immerhin erlauben es Textverarbeitungsprogramme unsystemischen Geistern, mit einer nur gering ausgearbeiteten Gliederung Texte zu produzieren, die in mehreren Überarbeitungs- und Umgruppierungsschritten einen Reifegrad erreichen, der als wissenschaftlich valide anerkannt wird. Die Wiederverwendung bereits formulierter Texte oder -passagen lässt sich äußerst rasch und bequem bewerkstelligen. Und schließlich sind Möglichkeiten zu kollektiver Textproduktion und -publikation zwar nicht mit PCs und Internet entstanden. Diese ermöglichen aber gemeinsame Textarbeit ohne persönlichen Kontakt; sie verändern damit Form und Inhalt gelehrter Auseinandersetzung grundlegend und ermöglichen es, Arbeitsgruppen und Individuen, Forderungen von Arbeitseffizienz zu erfüllen, die ohne diese Medien gar nicht erhoben werden könnten. Fortentwickelte Schreibwerkzeuge bedienen nicht einfach einen sich ändernden Bedarf, sie helfen nicht einfach, den gestiegenen Anforderungen eines beschleunigten und intensivierten Wissenschaftsbetriebs gerecht zu werden. Vielleicht ist es gerade umgekehrt: Diese Beschleunigung wäre nicht möglich gewesen ohne die Entwicklung genau jener Werkzeuge, die zur Bewältigung dieser Beschleunigung erforderlich sind. Diese wiederum hat eine Reihe von Leuten arbeitslos gemacht – Setzer, Drucker, Lektorinnen – und damit bestimmte Instanzen äußerer Kritik und Kontrolle abgeschafft. Die Vereinfachung des Produktionsprozesses fügt dem Ergebnis der wissenschaftlichen Praxis neben dem Erfordernis der Geschwindigkeit gleichzeitig den Makel der Kurzlebigkeit hinzu. Die darin inhärente Gefahr liegt natürlich nicht in erster Linie in den erwähnten Werkzeugen: Die Schreibwerkzeuge, die wir verwenden, sind aber eben als Ausdruck und Medium gesellschaftlicher Diskurse und Struk-
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turen nicht wertfrei, sondern müssen Gegenstand eingehender Reflexion sein.
L ITERATUR Certeau, Michel de (1975): L’Ecriture de l’histoire, Paris: Gallimard. Fenzel, Birgit (2008): Wissenschaft in Skizzen, in: Max Planck Forschung 4, S. 60-64. Flusser, Vilém (1996): Ins Universum der technischen Bilder, Göttingen: European Photography. Ginzburg, Carlo (2001): Die Wahrheit der Geschichte. Rhetorik und Beweis, Berlin: Wagenbach. Iggers, Georg G. (1997): Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart, Wien/Köln/Weimar: Böhlau. Negt, Oskar/Kluge, Alexander (1981): Geschichte und Eigensinn, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Schöttler, Peter (Hg.) (1997): Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft, 1918-1945, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Tufte, Edward (2006): Beautiful Evidence, o.O.
Sinne D ANIEL M ORAT
Fragt man nach den Sinnen, Sinnlichkeit und Sinneswahrnehmung in der Geschichtswissenschaft, so führt der Weg schnell zu den Gründungsfiguren der Annales-Schule Lucien Febvre und Marc Bloch. Während Bloch in seiner Apologie der Geschichtswissenschaft eine »Erziehung zu historischer Sensibilität« (Bloch 2002: 52) forderte, veröffentlichte Febvre etwa zeitgleich, nämlich 1941, einen wegweisenden Aufsatz über »Sensibilität und Geschichte« (Febvre 1988: 91107). Unter sensibilité verstand er dabei in erster Linie »das affektive Leben und seine Ausdrucksformen« (ebd.: 92). Er wies damit auf die Geschichte der Gefühle voraus, die erst in jüngster Zeit eine breitere Beachtung innerhalb der Geschichtswissenschaft gefunden hat. Doch standen für Febvre die Gefühle in enger Verbindung mit der Sinneswahrnehmung. So hatte er schon 1938 darauf hingewiesen, dass die »geistigen Gewohnheiten« der historischen Akteure, ihre »Weisen des Denkens, Fühlens, Wollens, Agierens und Reagierens« (Febvre 1988: 87) nicht zuletzt durch ihre Sinnesumwelt und damit durch die Bedingungen ihrer sinnlichen Wahrnehmung, durch die Gegensätze von Helligkeit und Dunkel, Lärm und Stille, Kälte und Wärme geprägt würden. ( Biografie) In späteren Jahren hat vor allen Dingen Alain Corbin diese Anregungen Febvres aufgegriffen und für eine historische Anthropologie der Sinneswahrnehmung plädiert, verstanden als eine Rekonstruktion der »besondere[n] Art des In-der-Welt-Seins der Menschen der Vergangenheit«. (Corbin 1993: 198) Diese Rekonstruktion könne sich je-
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doch nicht darauf beschränken, für eine bestimmte historische Situation lediglich ein »Inventar der Sinneseindrücke« (ebd.: 199) zu erstellen, also zu bestimmen, was in ihr gehört und gesehen, gerochen und geschmeckt werden konnte. Vielmehr fragt Corbin nach dem System der Sinneskultur, also nach den »Einübungs- und Gebrauchsweisen der Sinne« (ebd.: 203), nach den Arten und Weisen, in denen sie hierarchisiert und in eine Wertordnung gebracht, in denen soziale Konflikte und Machtkämpfe durch sie ausgetragen wurden. In seinen zwei wegweisenden Studien Pesthauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs von 1984 und Die Sprache der Glocken. Ländliche Gefühlskultur und symbolische Ordnung im Frankreich des 19. Jahrhunderts von 1995 hat Corbin dieses Forschungsprogramm eingelöst und dabei wie Febvre die Veränderungen der Affektsysteme in den Blick genommen, die in den Veränderungen der Sinneskultur zum Ausdruck kamen. Bereits Febvres Frage nach den »geistigen Gewohnheiten« macht die Zugehörigkeit dieser Art der Sinnesgeschichte zur Mentalitätsgeschichte deutlich. Ebenso wie diese fragt sie nach »Phänomenen der longue durée«. (Jütte 2000: 24) An Prozesse von langer Dauer dachte auch Walter Benjamin bei seiner Beobachtung zur Historizität der Sinneswahrnehmung: »Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume«, so Benjamin in seinem berühmten Aufsatz über das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, »verändert sich mit der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva auch die Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmung. Die Art und Weise, in der die menschliche Sinneswahrnehmung sich organisiert – das Medium, in dem sie erfolgt – ist nicht nur natürlich sondern auch geschichtlich bedingt.« (Benjamin 2002: 439) ( Kunst) In der Nachfolge Benjamins ist diese Ausgangsüberlegung besonders in der Mediengeschichte fruchtbar gemacht worden, in der nach dem Wandel der Sinneswahrnehmung durch mediale Umbrüche gefragt wurde. Berühmtestes Beispiel hierfür ist wahrscheinlich die Medientheorie Marshall McLuhans, der die Geschichte in vier Epochen einteilte: die orale Stammeskultur, die literale Manuskriptkultur, die Gutenberg-Galaxis und das elektronische Zeitalter. Jede dieser Epochen sei durch ein bestimmtes Mediensetting geprägt worden, das wiederum einzelne Sinne privilegiert habe. Während McLuhan die orale Kultur etwa als »Welt des
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Ohres« beschreibt und die Gutenberg-Galaxis als visuelles Zeitalter, habe die Manuskriptkultur »die Beteiligung aller Sinne« (McLuhan 1995: 34) verlangt, da Manuskripte einen taktilen Umgang erforderten und häufig laut vorgelesen wurden. ( Schreibwerkzeuge) Im Anschluss an McLuhan und mit Verweis nicht nur auf die Buchkultur, sondern auch auf die Entdeckung der Perspektive in der Renaissance, die Konstruktion des wissenschaftlichen Beobachtersubjekts und später auf die Bedeutung der optischen Medien der Fotografie und des Films ist häufig von einer Vorherrschaft des Sehsinns in der Moderne gesprochen worden. Diese Vorstellung von einer modernen Hegemonie des Visuellen korrespondiert mit anderen Annahmen über die Zurückdrängung der Nahsinne, etwa des Geruchs, in der Neuzeit und über die Disziplinierung der Affekte im »Prozeß der Zivilisation« (Norbert Elias). Der amerikanische Sinneshistoriker Mark M. Smith plädiert jedoch für eine Problematisierung dieser »great divide theory« (Smith 2007: 8), denn auch in der Moderne sind nach wie vor alle Sinne des Menschen an dessen Weltdeutung und Sinnproduktion beteiligt. Während in mentalitätshistorischen und historisch-anthropologischen Studien zur Frühen Neuzeit vergangene Sinneskulturen bereits mehrfach untersucht worden sind, steht die Sinnesgeschichte gegenwärtig vor allen Dingen vor der Aufgabe, diese Forschungsansätze auch auf die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zu übertragen und das Zusammenspiel aller Sinne in modernen Wahrnehmungskulturen zu untersuchen. Denn nicht zuletzt Industrialisierung und Urbanisierung brachten ein neues Regime der Sinne hervor, das nicht allein durch visuelle Reizüberflutung, sondern auch durch die Produktion neuer Geruchs- und Klangreize gekennzeichnet war und das der genaueren historischen Analyse harrt. Bei der Rekonstruktion vergangener Sinneskulturen steht die Geschichtswissenschaft allerdings vor besonderen methodischen Problemen, da der Historiker, wie Corbin schreibt, weitgehend ein »Gefangener der Sprache« (Corbin 1993: 209) ist und vergangene Sinneseindrücke zumeist nur auf dem Umweg ihrer sprachlichen und bildlichen Überlieferung studieren kann (was mit ein Grund für die Privilegierung des Sehsinns in der Geschichtswissenschaft ist). Die Sinnesgeschichte fordert ihn jedoch auf, auch auf andere Quellen, auf ma-
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terielle Überlieferungen oder Klangkonserven, wie sie seit Erfindung der Phonographie vorliegen, zurückzugreifen. ( Quelle) Dabei ist er nicht zuletzt auf den Gebrauch der eigenen Sinne angewiesen. Marc Bloch vergleicht den »guten Historiker« in seiner Apologie der Geschichtswissenschaft mit dem »Menschenfresser im Märchen«: »Seine Beute weiß er dort, wo er Menschenfleisch wittert.« (Bloch 2002: 30) Dieser Vergleich erinnert nicht nur an die Verbindungen der Sinnesgeschichte zur Körpergeschichte. Dass der Historiker seine Beute »wittert«, verweist auch auf die Bedeutung des Spürsinns und der Intuition in der historiografischen Arbeit. Mit Bloch könnte man sagen, dass der gute Historiker mit allen Sinnen bei der Arbeit sein sollte. Deshalb gehören auch scharfe Augen und Ohren, gehören auch die gute Nase und das »Fingerspitzengefühl der Hände« (ebd.: 31) zum Werkzeug des Historikers.
L ITERATUR Benjamin, Walter (2002): Medienästhetische Schriften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bloch, Marc (2002): Apologie der Geschichtswissenschaft oder Der Beruf des Historikers, hg. v. Peter Schöttler, Stuttgart: Klett-Cotta. Corbin, Alain (1993): Wunde Sinne. Über die Begierde, den Schrecken und die Ordnung der Zeit im 19. Jahrhundert, Stuttgart: Klett-Cotta. Febvre, Lucien (1988): Das Gewissen des Historikers, Berlin: Wagenbach. Jütte, Robert (2000): Geschichte der Sinne. Von der Antike bis zum Cyberspace, München: Beck. McLuhan, Marshall (1995): Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters, Neuauflage, Bonn u.a.: Addison-Wesley. Smith, Mark M. (2007): Sensing the Past. Seeing, Hearing, Smelling, Tasting, and Touching in History, Berkeley/Los Angeles: University of California Press.
Stichprobe C HRISTIAN F LECK
Eine Stichprobe ist ein verkleinertes Abbild der Grundgesamtheit oder Population. Wenn jedes Element der Grundgesamtheit die gleiche Chance hat, in die Stichprobe aufgenommen zu werden, spricht man von einer Zufallsauswahl bei der Stichprobenziehung. Bei Zufallsauswahlen kann man den Stichprobenfehler berechnen, bei willkürlichen Auswahlverfahren ist das hingegen nicht möglich. Die Größe der Stichprobe und die Art der Verteilung der interessierenden Merkmale in der Grundgesamtheit bestimmen gemeinsam die Wahrscheinlichkeit, dass Schlüsse von der Stichprobe auf die Grundgesamtheit richtig sind. Aussagen, die auf Stichproben beruhen sind also immer mit einer (im Idealfall berechenbaren) Unsicherheit verbunden, weshalb diese Aussagen auch als probabilistisch (für: wahrscheinlich) bezeichnet werden und sich von kausalen Aussagen unterscheiden. ( Kontrafakten) Die Menschen bedienten sich der Technik der Stichprobenziehung vermutlich seit den frühesten Tagen, ohne die Logik der Stichprobe verstanden zu haben. Wer von etwas kostet, zieht beispielsweise eine Stichprobe und entscheidet aufgrund des Eindrucks, den das Probehäppchen bei ihm hinterlassen hat, ob er weiter zulangen soll oder es doch besser bleiben lässt. In analoger Weise stellen Bauern fest, ob Früchte reif genug sind, um geerntet zu werden, ob ein Vergärungsprozess so weit vorangeschritten ist, dass das Produkt kredenzt werden kann usw. ( Sinne)
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Angesichts der langen Geschichte des alltäglichen Umgangs mit Stichproben und Stichprobenziehung verwundert es, dass die Stichprobe erst relativ spät Eingang in die Wissenschaften fand. Während ihre mathematischen Grundlagen relativ früh gelegt wurden, dauerte es bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, bis Verfahren der Stichprobenziehung in Teilen der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften Verbreitung fanden. Den Anfang machte die Statistik. ( Diagramme) Sie sollte für den Staat Informationen sammeln und aufbereiten und tat dies unter verschiedenen Titeln: Moralstatistik, Polizeywissenschaft, politische Arithmetik, Staatswissenschaft. In den großen Flächen-Nationalstaaten war die Zahl der Bevölkerung, die der Regent zur Steuerleistung und zum Wehrdienst heranziehen konnte, nur sehr ungenau bekannt. Aus den seit alters her geführten Aufzeichnungen über Geburten und Todesfälle, die man im Prinzip für größere Gebiete addieren hätte können, ergab sich ja noch nicht die Zahl der zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem gegebenen Territorium Lebenden. In Frankreich erfand man dafür den Bevölkerungsmultiplikator: In einem ausgewählten Gebiet wurde die Zahl der dort lebenden Bevölkerung gezählt und mit den Zahlen der Geburten und Todesfällen rechnerisch in Beziehung gesetzt. Der daraus resultierende Multiplikator wurde danach auf andere Gebiete angewandt, um die Gesamtbevölkerung zu errechnen. Die Einführung von Volkszählungen, wofür alsbald eigene Ämter errichtet wurden, verdrängte die Stichprobe zugunsten der Totalerhebung. Seit 1790 führt das United States Census Bureau im Zehnjahresintervall Volkszählungen durch und die meisten anderen Staaten folgten diesem Beispiel. Internationale Kongresse der Statistiker trugen zur Vereinheitlichung und Normierung bei. Stichproben kamen danach nur noch in entlegenen Gebieten wie beispielsweise Norwegen zur Anwendung. Die Weiterentwicklung der Stichprobentheorie verlagerte sich in andere Wissenschaften. Die Wahrscheinlichkeitstheorie, die seit Bernoulli und Laplace zum Korpus mathematischen Wissens zählte und in Quételet und anderen Statistikern Anwender fand, wurde seit den 1880er Jahren auf zunehmend mehr und neue Felder angewandt. Beim Bemühen, Genies zu identifizieren, kam es zu fruchtbaren Kooperationen von Vertretern der mathematischen Statistik und Psychologen. Fundamentale kognitive Durchbrüche wie die Korrelation, Regres-
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sion, Assoziations- und Kontingenzmaße führten zu einer Blüte der Statistik. Zu einer Anwendung dieser Erkenntnisse im Feld der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften (GSK) kam es allerdings erst viel später. Die amtliche Statistik, die Kooperation der statistischen Ämter und der statistischen Experten hatten sich gegenüber den GSK abgeschottet und setzten ganz auf die Totalerhebung. Experimente mit Stichprobenerhebungen blieben für lange Zeit in der amtlichen Statistik ein Randphänomen. Psychologen, Eugeniker und Vertreter weiterer neu entstehender Wissenschaftsgebiete verfeinerten ihre auf Stichproben beruhenden Erhebungen und entwickelten die Rechenverfahren weiter. Historiker blieben von den Innovationen der Statistik lange Zeit unberührt, ja verschlossen sich deren Möglichkeiten geradezu. Positivismus und Historismus kultivierten Denkgewohnheiten, die dem Wahrscheinlichkeitskalkül abhold waren und blockierten das Eindringen probabilistischer Erklärungen in den wissenschaftlichen Alltag von Historikern. Die Bevölkerungswissenschaft hätte jenes Feld sein können, das sich dem statistischen Denken öffnen hätte können, doch in Deutschland und Österreich nahm diese Disziplin bekanntermaßen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine andere Richtung. Die Wirtschaftsgeschichte griff auf amtliche Statistiken zurück, unternahm aber selbst keine Versuche Erkenntnisse aus Stichproben zu gewinnen. Erst die Kliometriker und die New Urban History nutzen Stichproben und dachten über deren Logik nach. ( Kliometrie) Im Zuge der Hinwendung der deutschen Historiker zu den Sozialwissenschaften hätte es auch zu einer methodischen Öffnung in Richtung der Logik der Stichprobe und des Probabilismus kommen können. Doch gegenüber dem quantitativen Paradigma der Sozialwissenschaften blieb man verschlossen, inkorporiert wurden die großen Theorien und die soziologische Begrifflichkeit, nicht aber die methodische Praxis der empirischen Sozialwissenschaften. In der Soziologie, Demoskopie, Politikwissenschaft und Kommunikationswissenschaft stand die Stichprobe seit dem spektakulären Erfolg George Gallups, der 1936 den Ausgang der US-amerikanischen Präsidentenwahl richtig vorhergesagt hatte und den seit 1916 erfolgreichen und weithin respektierten Literary Digest mit seinen »straw polls« zum Verlierer
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stempelte, in hohem Ansehen. Marktforscher und andere kommerzielle Anwender machten Stichproben zu einem Teil der Alltagskultur und die Massenmedien erweiterten ihr Unterhaltungsportfolio durch die regelmäßige Veröffentlichung mehr oder weniger spektakulärer Resultate von Meinungsumfragen. Quételets homme moyen wurde zum »Mann von der Straße«, der vor seinen Nachbarn nichts mehr verbergen konnte. Sich diesem Populismus anzuschließen, verbot sich den sich kritisch dünkenden Geistern der 1960er Jahre, die sich selbstverständlich auch von den Fliegenbeinzählern zu distanzieren wussten. Während die Kulturrevolutionäre der 1960er Jahre Theorien bevorzugten, öffnete der daran anschließende Pendelausschlag die Geschichtswissenschaft für allerhand, zuletzt dachten deren Proponenten aber wohl, dass die Logik der Stichprobe ihr professionelles Tun wenn schon nicht grundlegend zu verbessern, so doch zu rationalisieren vermocht hätte. Die Alltagsgeschichte und ihre diversen Seitenarme wandten sich begeistert den gewöhnlichen, den kleinen Leuten zu, doch dass unter diesen auszuwählen gewesen wäre, wollte man deren Selbstselektion nicht zum Auswahl- und damit auch zum Stichprobenkriterium machen, ignorierte man geflissentlich. ( Subjekt) Die immer noch geringe Verbreitung der Stichprobe in den historischen Wissenschaften hat schmeichelhafte und weniger ehrenvolle Ursachen. Die weniger schmeichelhaften kann man unter der Überschrift »die Scheu der Historiker vor der Stichprobe« zusammenfassen, die aus der Unkenntnis der mathematische-statistischen Grundlagen resultiert. Diese Scheu manifestiert sich beispielsweise in Urteilen wie dem folgenden: »Wenn ich nicht alle Akten des Bestandes X durchsehe, könnte mir ja gerade der eine entgehen, der den ganzen Fall …« Während diesfalls die Ehre des Historikers gerettet werden kann, scheint die Lage bei dem folgenden Ablehnungsgrund eher hoffnungslos: »Die Würde der xy gebietet es, keinen unerwähnt zu lassen.« Man setze für xy beispielsweise aus Afrika verschleppte Sklaven, Zwangssterilisierte, österreichische Kriegsgefangene etc. ein, um zu sehen, dass Bemühungen von Historikern manchmal darauf gerichtet sind, Steinmetzen und anderen Denkmalerrichtern zuzuarbeiten und die Erklärung vergangenen Geschehens anderen zu überlassen. Als drittes Beispiel einer wenig schmeichelhaften Verachtung der Stichprobe sei
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schließlich auf die Praktiken der Historiker verwiesen: Weil wir es immer schon soundso machten, weil wir Geisteswissenschaftler sind, weil mir ja dann ein anderer vorhalten könnte, das Aktenstück Zahl 1234 … in meiner Interpretation nicht berücksichtigt zu haben – Argumente wie diese machen deutlich, dass jemand die Logik der Stichprobe (noch) nicht verstanden hat. Alle schmeichelhafteren Zurückweisungen der Stichprobe als praktikabler Technik der einfacheren Erzielung ausreichend gesicherter Erkenntnisse können dahingehend zusammengefasst werden, dass die Ablehnung mit der Art der Verteilung der interessierenden Merkmale in der Grundgesamtheit begründet werden kann. Die bekannteste Form der Verteilung eines beliebigen Merkmals in einer Population ist die Normalverteilung, auch Gauss-Verteilung oder Glockenkurve. In den meisten Fällen tatsächlicher Normalverteilungen weichen diese Kurven immer ein wenig vom Ideal ab, aber das spielt für die Frage, ob man eine Stichprobe ziehen soll bzw. kann überhaupt keine Rolle, da sehr viele Merkmale in sehr vielen Populationen normal verteilt sind. Deswegen wird den Rechenoperationen, die auf Stichproben angewandt werden (können), in der Regel die Annahme der Normalverteilung der interessierenden (und zu analysierenden) Merkmale zugrunde gelegt. Technisch spricht nichts dagegen, auch ganz andere Kurven der Verteilung des jeweils interessierenden Merkmals in Erwägung zu ziehen. Unangenehm ist es nur, wenn man die Verteilung, d.h. den Kurvenverlauf, nicht kennt und bloß unterstellt, dass das interessierende Merkmal in der Grundgesamtheit normalverteilt vorkommt. Vermögen sind bekanntermaßen in den meisten Gesellschaften schief verteilt. Würde man eine derartige Population mittels einer Zufallsstichprobe der Wohnbevölkerung untersuchen, um beispielsweise nicht nur feststellen zu wollen, wer die Superreichen sind, sondern auch hinsichtlich welcher Merkmale diese sich vom Rest der anderen unterscheiden, dann zappelte im Fall der üblichen Stichprobengrößen (500 bis 2000) mit angebbarer Wahrscheinlichkeit kein Superreicher im Erkenntnisnetz der Forscher. Beim Vermögen wissen wir über die Schiefe der Verteilung, weshalb wir auch eine korrekte Stichprobe ziehen können; in Fällen, wo wir fälschlicherweise von einer Normalverteilung ausgehen, könnten wir hingegen blaue Wunder erleben.
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Wann immer die Annahme der Normalverteilung unplausibel ist und wann immer man die andersgestaltete Verteilungskurve nicht kennt, macht es daher guten Sinn, sich von der Verwendung einer Stichprobe nicht allzu viel Gewinn an Erkenntnissen zu erwarten. Der im Forschungsalltag allerdings häufigere Fall wird wohl der sein, dass man eine ziemlich genaue Vorstellung von der Verteilung des interessierenden Merkmals in der Grundgesamtheit hat und die Ziehung einer Stichprobe eine ressourcensparende Vorgangsweise wäre. Mir will scheinen, dass das eben Beschriebene in der Geschichtswissenschaft häufig genug der Fall ist, um den Historikern zuzurufen: »Lernt doch ein wenig Statistik!« Der Gewinner wäre die Geschichtswissenschaft, doch jeder Sieg hat auch Verlierer.
L ITERATUR Desrosières, Alain (2005): Die Politik der großen Zahlen. Eine Geschichte der statistischen Denkweise. Berlin: Springer Verlag. Gigerenzer, Gerd u.a. (1999): Das Reich des Zufalls. Wissen zwischen Wahrscheinlichkeiten, Häufigkeiten und Unschärfen. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag. Kennedy, Gavin (1993): Einladung zur Statistik. Frankfurt a.M.: Campus. Porter, Theodore (2003): »Statistics and Statistical Methods«, in: Theodore Porter/Dorothy Ross (Hg.), The Cambridge History of Science, Band 7: The Modern Social Sciences, Cambridge: Cambridge University Press, S. 238-250. Ders. (1995): Trust in Numbers: The Pursuit of Objectivity in Science and Public Life. Princeton: Princeton University Press.
Strukturelle Gewalt H EIDE G ERSTENBERGER
Ende der 1960er Jahre provozierte Johann Galtung die Friedensforschung mit der These, das bislang übliche Verständnis von Frieden als Abwesenheit von Krieg sei unzulänglich. Denn Gewalt könne Menschen auf vielerlei Weise angetan werden. Nicht nur die intentionalen Handlungen konkreter Akteure, sondern auch die Strukturen könnten das Leben von Menschen beschränken und womöglich sogar vernichten. Diese Wirkung der Verhältnisse könne als »strukturelle Gewalt« bezeichnet werden. Auf diese Weise lasse sich auch die fortdauernde Unterdrückung zuvor kolonial beherrschter Bevölkerungen beschreiben und erklären. Inzwischen hat das analytische Konzept der »strukturellen Gewalt« eine schier unglaubliche Erfolgsgeschichte erlebt. Heute begegnet es uns in nahezu allen politischen Debatten, in denen die Benachteiligung einer Personengruppe, die Beschränkung von Aktionsmöglichkeiten oder administrative Kontrollpraktiken zur Debatte stehen. Derartige Kritik zielt immer darauf ab, die Handlungsweise einzelner Akteure als Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse zu verstehen. ( Subjekt) Der Terminus »strukturelle Gewalt« lädt dazu ein, ihn als Zusammenfassung jener Phänomene der Institutionalisierung und Organisierung zu verstehen, die von Max Weber über Pierre Bourdieu, Anthony Giddens oder Michel Crozier als besondere Charakteristika der westlichen Moderne analysiert wurden. Derartige analytische Konzeptionen finden sich auch in jenen Arbeiten über den Nationalsozialismus, die
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dazu beigetragen haben, dass der politisch organisierte massenhafte Mord nicht länger als historische Abweichung vom Gang der deutschen und europäischen Geschichte und nicht als das Werk einzelner Verbrecher interpretiert wird, sondern als die mögliche Wirkung durchaus typischer moderner Institutionen. Bei Hannah Arendt, Raul Hilberg und – besonders deutlich – bei Zygmunt Bauman werden die Möglichkeiten des nationalsozialistischen Terrorsystems in den Formen der Organisation des modernen Lebens aufgesucht: in den Strukturen der Administration. Während die Frage nach der historischen Bedeutung individueller Praxis in all diesen Arbeiten weiterhin als Herausforderung an die Analyse präsent bleibt, ist sie ausgeklammert, wenn Michael Hardt und Toni Negri Ausbeutung als »strukturelle Gewalt des Kapitals« bezeichnen (Hardt/Negri 2004: 170) und damit zugleich vorschlagen, den Galtung’schen Terminus als adäquate Zusammenfassung Marx’scher Analyse zu verstehen. Tatsächlich hat Karl Marx das Elend vieler Kinder, Frauen und Männer in kapitalistischen Gesellschaften auf Intentionen von Kapitaleignern zurückgeführt, diese Intentionen aber aus der Situation der Konkurrenz erklärt, in welcher Kapitaleigner – als »Charaktermasken« – agieren. ( Materialistische Geschichtsschreibung) Bei Galtung aber findet sich keine Analyse der Funktionsweise des Kapitalismus. Nicht nur spielt die Warenform menschlicher Arbeitskraft in seiner Analyse keine Rolle, auch von Konkurrenz ist bei Galtung nie die Rede, also auch nicht von jenen Bedingungen auf dem Weltmarkt, die weiterhin Unterentwicklung reproduzieren. Strukturelle Gewalt ist für Galtung – politisch einprägsam, theoretisch jedoch inhaltsleer – soziale Ungerechtigkeit. Sie herrscht in einer Gesellschaft insbesondere dann, wenn eine stabile, erstarrte hierarchische Struktur etabliert ist. Liegen derartige Strukturen vor, so spricht Galtung – in grandioser Unbekümmertheit gegenüber konkreten historischen Ausprägungen – von »Feudalismus«. Entsprechend formal konstruiert ist sein Begriff des »Imperialismus«. Vor allem aber: Die Analyse der internen Dynamik von »Strukturen« kommt ebenso wenig in den Blick wie die Frage nach dem Maß ihrer unausweichlichen – oder eben auch nicht unausweichlichen – Prägung konkreter politischer, ökonomischer und
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kultureller Praxis. »Strukturelle Gewalt« im Sinne von Galtung erweist sich damit als ein Konzept, das vornehmlich zur politischen Kritik zu gebrauchen ist. Einer Nutzung zur theoretisch fundierten Analyse steht aber nicht nur sein konkreter Entstehungszusammenhang im Wege. ( Tunnelblick) Denn die Kopplung der beiden Begriffe »Struktur« und »Gewalt« klammert den Unterschied zwischen »Macht« und »Gewalt« ebenso aus wie den historisch ständig veränderten Unterschied zwischen legitimierter staatlicher Gewalt und nicht legitimierter Gewalt. Vor allem aber ist zu fragen, welche Erkenntnisse über die Funktionsweise des Kapitalismus möglich – oder womöglich sogar eher verstellt – werden, wenn nicht mehr gesondert gefragt wird, was die Gewaltförmigkeit einer Verhaltensweise von Verhaltensweisen unterscheidet, deren Wirkung die Entfaltungsmöglichkeiten, die Gesundheit und womöglich das Leben von Menschen bedrohen, die sich jedoch nicht direkt auf die Körper von Menschen richten. Es ist nicht nur Spitzfindigkeit der theoretischen Analyse, sondern die Entwicklung des Kapitalismus selbst, die solche Differenzierung anmahnt. Als Johan Galtung den Terminus »strukturelle Gewalt« in die Debatte warf, schien es angebracht, die Kritik der potenziell verheerenden Wirkung vertraglich – ergo »friedlich« – ausgehandelter Abhängigkeit als zentrale Problematik des neuen Weltgefüges zu behandeln. Diese Problematik besteht fort, doch ist an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert zunehmend deutlich geworden, dass Profite auch durch die Anwendung unmittelbarer direkter körperlicher Gewalt gegen Menschen erzielt werden. Moderne Formen der Sklaverei, Zwangsprostitution, Organhandel, Piraterie – dies alles und vieles mehr ist als Möglichkeit in den Strukturen des globalisierten Kapitalismus angelegt, aber keine notwendige Wirkung dieser Strukturen. »Strukturelle Gewalt« war ein catchword für die Kritik an der herkömmlichen Friedenstheorie und es ist auch weiterhin ein catchword für die politische Kritik des Kapitalismus. Für eine Analyse der Funktionsweisen des Kapitalismus aber kann es nicht hinreichen, weil das Konzept der »strukturellen Gewalt« die Grundfrage moderner Sozialwissenschaften, die Frage nach dem Verhältnis von Struktur und Praxis, gar nicht erst stellt.
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L ITERATUR Bourdieu, Pierre (1979): Entwurf einer Theorie der Praxis, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Crozier, Michel/Friedberg, Erhard (Hg.) (1977): L’acteur et le système: les contraintes de l’action collective, Paris: Seuil. Galtung, Johan (1975): Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedensund Konfliktforschung, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Ders. (1973): Eine strukturelle Theorie des Imperialismus; in: Dieter Senghaas (Hg.), Imperialismus und strukturelle Gewalt. Analysen über abhängige Reproduktion, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 29104. Ders. (1970): Feudal Systems, Structural Violence and the Structural Theory of Revolutions; in: Proceedings of the International Peace Research Association. Third General Conference, Band 1, Assen: Van Gorkum & Comp., S. 110-188. Hardt, Michael/Negri, Antonio (Hg.) (2004): Multitude. Krieg und Demokratie im Empire, Frankfurt/New York: Campus Verlag. Weber, Max (1976): Wirtschaft und Gesellschaft, Studienausgabe, Tübingen: Mohr/Siebeck.
Subjekt R EINHARD S IEDER
Lange Zeit haben die Geschichtswissenschaften aller Geschichtsschreibung ein universales Subjekt vorausgesetzt, statt die Herausbildung epochenspezifischer Subjektformen in gesellschaftlichen Subjektivierungsweisen zu untersuchen. Erst Michel Foucault schlug vor zu klären, wie sich das Subjekt »innerhalb der Geschichte konstituiert«, ein Subjekt, das »immer wieder neu von der Geschichte begründet wird.« (Foucault 2002: 672) Über einige Grundzüge des Subjekts der westlichen Moderne besteht Einigkeit: Seine Ausbildung setzte im 16. und 17. Jahrhundert ein und erfasste soziale Praktiken und Wissensordnungen, körperliche Bewegungen und Emotionen. Es orientierte sich an den Diskursen überschaubarer lokaler Gesellschaften, denen es mit normierten Rechten und Pflichten angehörte. Erste Bürgerschaften setzten sich aus städtischen Handwerkern, Kaufleuten und Akademikern zusammen. An den Universitäten der Renaissance fand (erstmals seit der Antike) die Untersuchung (enquête) und das Studium der Schriften als Strategie der Selbst-Bildung statt und brachte eine longue durée der Individualisierung in Gang. Wo immer möglich, befreite sich das Subjekt aus beengenden Zwängen und Mängeln seiner Natur: durch die Entwicklung von Werkzeugen, Maschinen, Techniken und Wissenschaften, von denen es einige auf sich selber bezog. (Stadt)Bürger sahen sich verpflichtet, ihre Talente zu entfalten und ihre Lebensführung zu kontrollieren. Das zunehmend heterosexuell normierte Subjekt setzte sich im 17. und 18. Jahrhundert von der spielerischfreizügigen Geschlechterkultur des höfischen Adels ab. (Butler 1990)
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Besitzende und gebildete Bürger folgten dem Ideal eines rechenhaften und planvoll investierenden Mannes (homo oeconomicus), der das Erreichte nicht durch Launen und Leidenschaften gefährdet und das Erworbene an seine Kinder weitergibt. Die patriarchalen, abrahamitischen Religionen lieferten dazu moralisch-ethische Anweisungen und legitimierten das reproduktive Regime des Mannes als »Familienoberhaupt« und die Einschließung der Frau in sein Haus. Bürger finanzierten und beherrschten ihre Frauen. Das bürgerlich-moderne Subjekt wurde in seiner dominanten Form männlich und in seiner dominierten Form weiblich. Zugleich wurden beide doppelt verfasst: selbst unterworfen und unterwerfend. Die vergeschlechtlichten Subjekte, qua Erziehung und Sozialisation immer aufs Neue hervorgebracht, gewannen den Anschein der Natürlichkeit. Literatur und Theater lieferten Modelle für die Lebensentwürfe und -geschichten der Männer und Frauen. Sie lehrten auf geschlechtsspezifische Weise zu lieben und führten vor Augen, dass sich die Liebe letztlich doch der ökonomischen Logik des Hauses unterwirft. Das radikale Liebeskonzept stürmischer Literaten versagte vor der Macht der Besitzsicherung. Brachen Frauen aus dem Regime des Bürgerhauses aus, wurden sie verstoßen wie Ibsens Nora oder Fontanes Effi Briest. Die bürgerliche Subjektivierung förderte Zweckrationalität: An die Stelle von Affekten, Gewohnheiten und unbefragten Traditionen traten reflektierte, ausdrücklich verhandelte und legitimierte Zwecke. Ab dem 18. Jahrhundert erfasste dies nicht nur die kapitalistischen Arbeitsverhältnisse, sondern auch das Erleben, Fühlen und Denken. So wurden komplementäre bürgerlich-männliche und bürgerlich-weibliche Subjekte hergestellt, die über eine vorläufig schließbare Erzählung ihres Lebens als zu verantwortende Entwicklungsgeschichte verfügten. Krise und Verfall des klassisch-bürgerlichen Subjekts setzten im 19. Jahrhundert ein. Krisen-Generator war v.a. das Geschlechterverhältnis: In seiner bürgerlichen Form behinderte es die weitere Entfaltung der kapitalistischen Produktionsweise. Nur schmale Avantgarden setzten in den 1820er Jahren und neuerlich in den 1910er und 1920er Jahren auf die Überwindbarkeit des binären Geschlechtermodells (etwa durch Androgynität wie im Typus der intellektuellen garçonne).
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Einen zweiten Einbruch erlitt das bürgerlich-moderne Subjektmodell hinsichtlich seiner Geschlossenheit. Der enormen Beschleunigung und Vervielfachung des Personen- und Warenverkehrs erschienen Plastizität und verkürzte Geltung der Selbst-Entwürfe angemessen. Der Wechsel der Moden und die lebensgeschichtlichen Brüche verlangten vom Subjekt dessen wiederholte Neuinszenierung. Die Psychoanalyse theoretisierte (zeitspezifische) Pathologien und brachte Träume, Sehnsüchte und Unbewusstes an den Tag, die das Subjekt zumindest ebenso antrieben wie seine bewussten Entwürfe. Nationalsozialismus, Faschismus, klerikal-autoritäre Diktaturen inszenierten einen letzten Aufmarsch bürgerlich-moderner Geschlechterstereotype. Nach einiger »Verwirrung« der Geschlechterordnung im Zusammenbruch der westund mitteluropäischen Welt um 1918 und in den »wilden« 1920ern betrieben faschistische Bewegungen eine Art Rück-Ordnung der Subjekte mit dem Mann-Modell des asketischen Soldaten und der ihm unterworfenen Frau: keusch, modisch, tüchtig und treu. Nach dem Ende der faschistischen Regime und angesichts ihrer Verbrechen schien v.a. ihr Mann-Modell nachhaltig diskreditiert, tauchte aber in den 1990er Jahren in neo-nationalistischen Kriegen und Konflikten wieder auf. In rechtsextremen Milieus hatte es immer Konjunktur. In den 1950er Jahren trat das Konsum-Subjekt des »neuen Mittelstandes« auf den Markt. Es konsumierte, was es massenhaft produzierte und entwickelte eine Moral, die erstmals ebenso durch den Anspruch auf Konsum und Genuss wie durch Pflicht und Leistung bestimmt war. Ab den 1960er Jahren wurde es aufwändiger instruiert, um die neuen Technologien des Wissens und der Verwaltung bedienen zu können. Mädchen und Frauen zogen nach und überholten Jungen und Männer schon Ende der 1970er Jahre in den Abschlüssen höherer Bildung (»Bildungsexpansion«). Je weiter die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise vorankam und schließlich neoliberale Züge annahm, desto »überholter« wirkte die patriarchale Geschlechterordnung. Nun waren Erwerbsarbeit und Konsum für jeden leistungsfähigen Menschen vorgesehen, unabhängig von seinem Geschlecht. Deshalb auch konnte die zweite oder neue Frauenbewegung ab den frühen 1970er Jahren einen geschlechterpolitischen Diskurs initiieren, der die Gleichberechtigung von Mann und Frau, aber auch ihre gleiche Verpflichtung zu beruflichen Leistungen geltend machte.
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Das politische Postulat der »Geschlechterdemokratie« erforderte die Prüfung des Handelns und der Verhältnisse nach der vagen Kategorie der Partnerschaft. In jeder intimen Beziehung wurde dieser Diskurs thematisch; die Praktiken hinkten hinterher. ( Materialistische Geschichtsschreibung) Mobilität, Markt und Kaufkraft lockerten die Bindung des Subjekts an angestammte Sozietäten (Betrieb, Amt, Partei, Gewerkschaft, Religion, Familie, Verwandtschaft). Überall schrumpfte die Legitimität patriarchaler und paternalistischer Rede- und Umgangsformen; sie wich diskursiv und oft auch praktisch der auf Zeit vereinbarten »Partnerschaft«. Männer und Frauen nahmen gleichzeitig an zunehmend disparaten Lebenswelten teil und kamen mit einer einzigen Gestalt ihrer Subjektivität nicht mehr aus: Sie lernten Polyphrenie. (Gergen 1996) Ihre Arbeitsbeziehungen wurden noch rollendistanter und noch zweckrationaler. Unternehmer und Manager legten klassisch-bürgerliche Tugenden des homo oeconomicus, langfristig zu planen und Verantwortung für nachhaltige Entwicklungen zu übernehmen, ab. Kurzfristige, spielerisch-experimentelle, hochriskante Strategien kennzeichnen das neoliberale Wirtschaftssubjekt und verursachen wiederkehrende systemische Krisen. Das polyphrene Subjekt (hart und phantasievoll, durchsetzungsstark und zärtlich, hochkonzentriert und entspannt usw.) wurde zum Objekt seiner eigenen Märkte: selbstästhetisiert und jeweils passend gedresst, juvenalisiert und sportlich, sich den Mühen der Fitness, Wellness, Kosmetik und Schönheitschirurgie unterwerfend. Auch seine intimen Beziehungen nahmen leistungs- und qualitätsbestimmte, transitorische Formen an, verbunden mit dem arbeitsmoralischen Imperativ, sich körperlich, psychisch und sexuell bis ins höhere Alter konsumfähig zu halten. Sozial- und Kulturwissenschaften beschreiben dies nicht nur aus der Distanz. Sie sind selber Produktivkräfte in den skizzierten Prozessen. Die idealistische und romantische Subjektphilosophie der frühen Moderne verkündete die Autonomie des Subjekts. Es schien seine Grundlage in sich selber zu haben, war Instanz seines Denkens und Handelns im Privatleben, in Wirtschaft und Politik. Diese Subjektphilosophie wirkte bis ins 20. Jahrhundert und prägte die bürgerliche Erzählung vom Subjekt als unteilbarem und selbstverantwortlichem Individuum: Es emanzipierte sich aus nicht mehr notwendiger Herr-
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schaft und Abhängigkeit. Daran setzte zunächst philosophische, dann auch strukturalistische und poststrukturalistische Kritik an und verkündete etwas pathetisch »den Tod des Subjekts«. Soziologie, Sozialund Kulturpsychologie und Psychoanalyse formulierten das Modell des interagierenden Selbst. Ich-Identität schien nur noch in Interaktionen mit anderen flüchtig zu existieren. Frühe Linguistik, Semiotik und Strukturalismus zeigten, dass das Subjekt nur im System der langue denken und sprechen kann. Die Grenzen der Sprache seien die Grenzen seines Denkens. Die Kultursoziologie bestimmte Habitus und Hexis des Subjekts aus der Akkumulation seiner wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Kapitalien und jener Felder, in denen es sich handelnd bewegt. Diskurse regeln, was das Subjekt denken und sagen kann, wie es als Mann männlich und als Frau weiblich denkt, fühlt und spricht, wie es politisch empfindet und handelt. ( Diskurs) Drei Anläufe zur Dezentrierung des Subjekts können unterschieden werden: Erstens: Dezentrierung des Subjekts in den »klassischen« Sozialwissenschaften: Bei Marx, Durkheim, Simmel, Weber, Parsons u.a. stand das Subjekt der Gesellschaft vis-à-vis und sah sich gezwungen, hegemoniale Werte, Normen und Bedeutungen anzuerkennen und ihm zugedachte Rollen zu übernehmen. Es sei nicht »frei« (im Sinn der klassischen Subjektphilosophie, s.o.), sondern gesellschaftlich determiniert. Bis zur condition postmoderne nahmen Sozialwissenschaften maßgeblich an der großen Erzählung von der Emanzipation des Subjekts teil. Diese erfolge durch Prozesse der Autonomisierung und Individualisierung, aufgeklärte Kommunikation und Diskursethik (Habermas) und die Expansion der »Optionen« auf Kosten der »Ligaturen« (Dahrendorf). Zweitens: Dezentrierung des Subjekts in den »verstehenden« Sozialwissenschaften: Gegen die Opposition von Subjekt und Gesellschaft in der klassischen Sozialwissenschaft wandten sich früh schon phänomenologische Philosophen und Soziologen, strukturalistische, dann poststrukturalistische Soziologen, Ethnologen und Historiker (m/w). Das Subjekt stehe der Gesellschaft nicht apart gegenüber, sondern sei sozialer und reflexiver Konstrukteur von Gesellschaft. Zugleich sei es durch die Dynamik des Kapitalismus aus mächtigen Traditionen der Moderne »entbettet« worden und dazu verurteilt, seine
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Deutungen und Handlungsorientierungen – bei wachsender Abhängigkeit von staatlichen, kommunalen, massenmedialen, kulturindustriellen Kommunikationssystemen – vorzunehmen. ( Sinne) Drittens: Dezentrierung des Subjekts in den »neuen« Kulturwissenschaften: Diese haben keine eigenen Subjektheorien hervorgebracht, sondern rezipieren jene der »verstehenden« Sozialwissenschaften, um darauf ein multidisziplinäres Programm zu begründen. Typische Fragen: »In welchen sozialen Praktiken und Technologien des Selbst zieht der Einzelne einen ›reflexiven Habitus‹ in sich heran (z.B. Routinen der beruflichen oder partnerschaftlichen Selbstbefragung)? Was ist der kulturelle ›Andere‹ des reflexiven Subjekts [...]? Inwiefern überschneiden sich in diesem kulturell verbindlichen Subjektmodell unterschiedliche, widersprechende kulturelle Codes [...]? Statt das reflexive Subjekt vorauszusetzen, wird es dann als Produkt hochspezifischer kultureller Subjektivierungsweisen sichtbar.« (Reckwitz 2008: 16)
Die neuen Kulturwissenschaften beanspruchen also, den verstehendsozialwissenschaftlichen Subjekttheorien die empirische Rekonstruktion kultureller Produktion von Subjektivität hinzuzufügen.
L ITERATUR Butler, Judith (1990): Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (2002): »Die Wahrheit und die juristische Form«, in: Ders.: Dits et Ecrits. Schriften. Band 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 669-792. Gergen, Kenneth J.(1996): Das übersättigte Selbst. Identitätsprobleme im heutigen Leben, Heidelberg: Carl-Auer-Systeme-Verlag. Reckwitz, Andreas (2008): Subjekt, Bielefeld: transcript. Sieder, Reinhard (2004): Die Rückkehr des Subjekts in den Kulturwissenschaften, Wien: Turia & Kant.
Tunnelblick J AKOB T ANNER
»Tunnel« ist ein travelling concept, das weite Reisen kreuz und quer durch Kontinente, diskursive Dispositive und Forschungslandschaften hinter sich hat. In Frankreich bezeichnet tonnelle traditionell ein Tonnengewölbe, funktional ein riesengrosses Fass, das sich auch als metaphorisches Reservoir erwies: Wer ein Fest veranstaltet, macht ein Fass auf. Oder es schlägt dem Fass den Boden heraus, wodurch ein Fass ohne Boden entsteht. Im 19. Jahrhundert wandert die »Tonnelle« über das Englische ins Deutsche ein und findet hier neue Resonanzbedingungen vor. In der technischen Ausfertigung des Eisenbahnzeitalters sieht sich die »Tonnelle« zur bergdurchquerenden Röhre gestreckt, durch die nun Dampflokomotiven donnern. Der mittels moderner Technik geschaffene Tunnel ist ein starkes Symbol der Industrialisierung von Raum und Zeit. Menschen, die erfahren haben, was Fortschritt ist, sehen nun erstmals Licht am Ende des Tunnels – was auch heißt, dass sich die Metaphorik ins Visuelle verschiebt. Die Dominanz der kinematografischen Schaulust und einer »Kultur des Auges« schaffen die imaginäre Brücke zwischen Tunnel und Blick. Der »Tunnelblick« ist geboren. Er bringt eine brisante Verbindung von Verengung und Hoffnung metaphorisch auf den Punkt. Je mehr der Raumhorizont auf eine enge, röhrenförmige Passage schrumpft, desto stärker wird die Erwartung, dass sich nach einer dunklen Zeit wieder Licht einstellt. Den Tunnel hält man aus, weil er ein Zukunftsversprechen bereithält. ( Sinne)
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Der Tunnel liefert aber auch den Stoff für Geschichten einer katastrophalen Unterbrechung. Eine solche Erzählung stammt von Friedrich Dürrenmatt: »Mein Herr […], wie wir in den Tunnel geraten sind, weiss ich nicht, ich besitze dafür keine Erklärung. Doch bitte ich Sie zu bedenken: Wir bewegen uns auf Schienen, der Tunnel muss also irgendwohin führen. Nichts beweist, dass am Tunnel etwas nicht in Ordnung ist, ausser natürlich, dass er nicht aufhört.« (Dürrenmatt 1996: 224) Das sagt der Zugführer zum 24-jährigen, der wissen will, wieso die Zugkomposition, mit der er auf einer sehr bekannten schweizerischen Normalstrecke nach Zürich unterwegs ist, in einen Tunnel gerät, »der ihm länger als sonst zu dauern schien«. (Ebd.: 218) In Erinnerung an die schöne Herbstabendlandschaft, die er noch vor der Einfahrt in den Tunnel, vor vielleicht 20 Minuten, durchquert hat, ist er nun verunsichert, und will wissen, was los ist. Nachdem er sich zusammen mit dem ratlosen Zugführer auf gefährliche Weise in den menschenleeren Maschinenraum der Lokomotive hervorgearbeitet hat, werden ihm inmitten der »sinnlosen Instrumente« die »Alltäglichkeit« und die »immergleichen Tage und Jahre« gewahr, die bisher sein Leben prägten – und er realisiert, dass der »abenteuerliche Sturz ins Erdinnere« bereits eingetreten ist. (Ebd.: 226) Der Tunnel wird hier metaphorisch zum lebensweltlichen Schrecken und gleichzeitig zur Erfüllung einer Ahnung. Er schärft die Sinne und verdüstert die Perspektive. Er endet in der definitiven Unterbrechung des immergleichen Schon-Bekannten. Auch in der Katastrophe setzt der Lichtblick nicht aus. Für Hans Blumenberg, den Philosophen der Divergenz von Lebenszeit und Weltzeit, stellt der »Tunnel« ein fundamentales Problem für den Menschen dar. Menschliches Leben entfaltet sich in einer unüberbrückbaren, und trotz Techniken der Beschleunigung zunehmenden, Kluft zwischen dem, was als »Welt« imaginiert, und dem, was davon erfahren und erlebt werden kann. Angesichts des »konstitutiven Zeitmangels seines Organismus« drängt der Mensch »auf die bloßen Zeichen hin«, die es ihm ermöglichen, diese Spannung zu reflektieren und auszuhalten. (Blumenberg 1986: 269) In Auseinandersetzung mit dem theoretischen Biologen Jacob von Uexküll (Uexküll 1928) versucht Blumenberg die Weltsicht von Organismen nachzuvollziehen, die von ihren Sinnen und ihrer Lebenszeit her äußerst begrenzt sind.
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Für sie ist Zeit der Effekt einer »untermerklichen Aneinanderreihung« voneinander getrennter Momente, in denen die Welt »stillsteht«. Da verschiedene Typen von Organismen über eigens strukturierte Sinnesorgane verfügen, leben alle in unterschiedlichen Welten. So entstünden Tunnel der Weltwahrnehmung, sogenannte »Merkwelttunnel«, die »zum Umwelttunnel erweitert gedacht werden«. Diese Tunnel bestehen aus diskreten »runden Scheiben«, von denen jede einen »Moment« ausmacht. Uexküll zufolge konstruiert jeder Organismus seine eigene blasenhafte oder röhrenförmige Welt. Blumenberg kommentiert: »Bleibt man bei dieser Metaphorik, verwandelt sich die Weltzeit, gedacht als die der Gesamtheit von Organismen, in ein Röhrensystem von Lebenszeiten, das sich etwa wie eine Packung Makkaroni ausnehmen könnte«. (Blumenberg 1986: 285) Er erschrickt dann leicht ob der Trivialität dieses Resultats und kommt zu dem Schluss: Aufgrund seiner Weltoffenheit ist der Mensch keine Makkaroni in der Packung, sondern er sieht diese und das damit zusammenhängende Problem von außen, was ihm aber die sich öffnende Schere von Lebenszeit und Weltzeit nur umso schmerzhafter, nämlich als unlösbares kognitives und emotionales Problem, bewusst macht. Blumenbergs Tunnel sind konstitutiv für lebende Organismen. Mit diesem Verständnis kontrastiert eine pejorative Lesart des Tunnels. Eine negativ gewendete Metaphorik des »Tunnelblicks« zielt auf ein sozialpathologisches Phänomen ab. Dieses ist der Diagnose eines »Röhrengesichtsfeldes« in der Augenheilkunde nachgebildet. Bekannt ist auch die Limitierung des Sehradius, verursacht durch die Alkoholeinwirkung auf das Gehirn, das zu defizienter Reaktionsfähigkeit führt. Im übertragenen Sinne meint »Tunnelblick« institutionalisierte Dummheit. Die Liste der Vorwürfe ist lang: Manager begegnen dem komplexen Umfeld von Unternehmen mit einem Tunnelblick und sind dann nicht mehr in der Lage, Chancen zu erkennen und Risiken angemessen einzuschätzen. Journalisten flüchten sich angesichts der unüberblickbaren und widersprüchlichen Flut von Nachrichten in robuste Wahrnehmungsröhren und schützen sich so vor Überforderung, ruinieren aber gleichzeitig die Grundlagen einer kritischen Öffentlichkeit. »Tunnelblick« steht in diesen Beispielen für kontraproduktive
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Komplexitätsreduktion und für die Unfähigkeit zu vernetztem Denken. In der Wissenschaft steht die Metapher des »Tunnelblicks« vor allem für eine einprägsame Charakterisierung einer déformation professionelle. Je mehr das fachliche Handwerk durch eine disziplinäre Matrix strukturiert und innerhalb der einzelnen Disziplinen durch spezifische Methoden und Forschungsansätze beherrscht wird, desto größer erscheint die Gefahr, dass am Ende der Experte als »Fachidiot« dasteht. So sehr sich dieser in seinem Gebiet auskennt, so wenig vermag er noch etwas Relevantes zu sagen. Menschen werden so immer tüchtiger und – als Kehrseite davon – immer dümmer. Das Schon-Gedachte und Schon-Gekonnte triumphiert über das Noch-nicht-Bekannte. Die wissenschaftliche Innovationskraft schrumpft mit steigender Gelehrsamkeit. Professionalität vollstreckt sich in der virtuosen Handhabung von Schablonen, die Arbeitseffizienz steigt im Gleichschritt mit dem Sinken der Originalität. Diese Abschottung des Geistes kann – worauf Gregory Bateson in seiner Ökologie des Geistes hinweist – auf die Rolle der Wissenschaft in der Gesellschaft insgesamt bezogen werden. Bateson kritisiert die »Zunahme wissenschaftlicher Arroganz« in politischen und intellektuellen Auseinandersetzungen, die er bei den eng kausaldeterministisch argumentierenden Naturwissenschaften im Zeitalter der industriellen Revolution feststellt. Dieser Vorwurf eines »Tunnelblicks« schlägt allerdings auf sich selber zurück, weil er als metaphorisches Surrogat meistens die Erklärung des Phänomens ersetzt. Denn wer in einen Tunnel gerät, leidet möglicherweise nicht an einer progressiven Schwindsucht an Problembewusstsein, sondern steigert gerade umgekehrt die Sensibilität für Unbekanntes und erhöht das Sensorium für Unerwartetes. Solches geschieht 1891 dem Theologiestudenten Paul Göhre. Fernab vom Bekannten will dieser drei Monate in einer Werkzeugmaschinenfabrik verbringen. An seinen Freund, den Pfarrer Max Rabe, schreibt er kurz vorher von seiner bevorstehenden »Fahrt ins Dunkle«. Alf Lüdtke kommentiert diese ungewöhnliche Form teilnehmender Beobachtung in seinen historischen Studien zum »Eigensinn« im »Fabrikalltag« und schreibt, diese Reise in eine fremde Welt, die den Theologen aus seinem bildungsbürgerlichen Zusammenhang reißt, sei notwendigerweise mit Unsicherheit, mit Sorge und Angst verbunden gewesen. Er stellt
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die Frage, ob diese Erfahrung des »Dunklen«, diese Auseinandersetzung mit dem »Anderen« im eigenen Land »seine Wahrnehmungsfähigkeit erweitert oder auch beeinträchtigt, seinen Blick reduziert oder besonders geschärft« habe. (Lüdtke 1993: 27) Der »Tunnelblick« kann das Wahrnehmungsfeld einschränken, gleichzeitig aber die Sehschärfe verbessern. Der Tunnel weist auch andere positive semantische Ladungen auf. Er steht als Metapher für Effizienz. Der Eisenbahntunnel ist eine schnelle Verbindung und als solche Teil der Beschleunigung der Welt. Er stellt die technische Materialisierung eines Zeitspareffekts dar. Der Tunnel garantiert generell hohe Leistung um den Preis einer temporären Konzentration und Vereinfachung. Er schützt vor unnötigen Umwegen und Ablenkungen. Er verstetigt den Einsatz dadurch, dass er den Blick auf den hellen Punkt am Ende des Tunnels möglich macht. In psychoanalytischen Deutungen wird die disperse Triebenergie der Menschen kulturell gebündelt und dient dann als Treibsatz eines Sublimationsaggregates, welches das Gesellschaftsprojekt durch den langen Tunnel der Zivilisationsentwicklung jagt. Tunnel finden sich auch in Narrativen, die vom Kampf gegen Herrschaft und von Befreiung handeln. Im politisch Imaginären öffnet sich mit dem Tunnelsystem unter der beherrsch- und verfügbaren Welt ein unsichtbarer Raum von Gegenmacht, im dem sich Verbindungswege rhizomartig ausbreiten. Im Wechselspiel von Fiktion und Faktizität bieten labyrinthisch angelegte Tunnels geheime Fluchtwege, ermöglichen klandestine Operationen, versprechen Rettung und nähren Hoffnung auf eine andere Welt. Von unerwarteten Verbindungen – allerdings der anderen Art – handelt auch der physikalische Begriff des Tunneleffekts, der für das paradoxe Phänomen der Tunnelung steht. Es kommt eine nicht-lineare Dynamik ins Spiel, die auch für den wissenschaftlichen Spezialisten als magische Synchronizität erscheinen mag. In der populären Lesart geht es um das »Beamen«. Die seltsame Interaktion zwischen physisch getrennten Räumen und das instantane Auftreten an verschiedenen Orten wird in der Physik quantum tunneling genannt und mit der These eines Zero time space, in dem die Lichtgeschwindigkeitsschranke aufgehoben ist, verbunden. Die experimentelle Forschung im Labor studiert den Vorgang, in dem sie atomare Teilchen beim Durchqueren eines sogenannten Potenzial-
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walls beobachtet. In dieser Zone ist die potenzielle Energie weit höher als die kinetische. Die Wahrscheinlichkeit, dass Partikel diese Barriere überwinden können, wurde früher mit Null angegeben. Das Phänomen wurde nichtsdestotrotz »erzeugt« und registriert. Die Quantenmechanik lieferte eine Begründung dafür. Sie spricht von einem »Tunneleffekt«. Damit entstand eine neue, suggestive Metapher für unwahrscheinliche Verbindungen, deren analytisches Potenzial in der Geschichtsschreibung noch kaum erprobt ist.
L ITERATUR Bateson, Gregory (1996): Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Blumenberg, Hans (1986): Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Dürrenmatt, Friedrich (1996): »Der Tunnel«, in: Ders.: Gesammelte Werke, Band 5 (Erzählungen), Zürich: Diogenes, S. 215-230. Lüdtke, Alf (1993): Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitserfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Hamburg: Ergebnisse-Verlag. Neumann, Ria (2009): Tunnelblick, Bremen: Donat. Nimtz, Günther/Haibel, Astrid (2008): Zero time space: how quantum tunneling broke the light speed barrier, Weinheim: Wiley-VCH. Solomon-Godeau, Abigail (2002): »Tunnelblick«, in: Herta Wolf (Hg.), Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Band 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 334-348. Uexküll, Jakob Johann von (1928): Theoretische Biologie, 2. gänzlich neu bearbeitete Auflage, Berlin: J. Springer.
Vorlesung M ICHAEL W ILDT
»Abgespannt und grämlich sitzt er auf seinem Lehrstuhl mit niedergebücktem Kopf: in sich zusammengefallen. Immerfort sprechend blättert und sucht er in den langen Folioheften vorwärts und rückwärts, unten und oben, das stete Räuspern und Husten stört allen Fluss der Rede; jeder Satz steht vereinzelt da und kömmt mit Anstrengung zerstückt und durcheinander geworfen heraus; jedes Wort, jede Sylbe löst sich nur widerwillig los, um von der metalleeren Stimme in schwäbisch breitem Dialekt, als sei jedes das Wichtigste, einen wundersam gründlichen Nachdruck zu erhalten.« (Apel 1999: 27)
Die Rede ist von Georg Wilhelm Hegel, wie ihn ein Zuhörer seiner Berliner Vorlesungen erlebte. In der Tat, Form und Inhalt müssen nicht übereinstimmen: Wer kennt nicht spannende Vorlesungen, bei denen man jedes Wort verfolgt, obwohl der Dozent schwäbelt oder näselt, hüstelt oder nuschelt, oder Vorlesungen, in denen man sich, obwohl an keinem Instrument multimedialer Vortragstechnik gespart wurde, zu Tode langweilt? Auf der Vorlesung lastet die Tradition von Jahrhunderten. Keine andere akademische Lehrform wird so eng mit der althergebrachten Universität verbunden wie jene Veranstaltung, auf der der dozierende Professor – seit wenigen Jahrzehnten auch die Professorin – vom Katheder herab in einem mehr oder weniger voll besetzten Hörsaal einen Vortrag hält. Und keine andere Lehrform steht bei jeder Universitätsreform stärker in der Kritik als die altehrwürdige Vorlesung. Antiquiert sei sie und autokratisch, einschüchternd der Gestus des Profes-
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sors, die Zuhörer zu passiven Empfängern autoritärer Lehrmeinungen degradiert. Dabei sollte ehedem gerade von ihr ein aufklärerischer Bildungsimpuls ausgehen. Johann Gottlieb Fichte verurteilte in seinem »Deducirten Plan einer zu Berlin zu errichtenden höheren Lehranstalt« 1807 ausdrücklich jene Veranstaltungen, die aus dem Vorlesen gedruckter Bücher bestünden, die viel besser von den Studierenden eigenständig gelesen werden könnten. Vielmehr sollte die Kunst des Vortrags darin bestehen, die Zuhörenden zu selbständig Mitdenkenden zu entwickeln. Und Wilhelm von Humboldt sekundierte wenig später, dass die neue Lehre sich durch die Erkenntnis auszeichne, dass sie »ein freier Vortrag vor Zuhörern [sei], unter denen doch immer eine bedeutende Zahl mitdenkender Köpfe« sei. (Apel 1999: 22) Bekanntlich konnte sich die Humboldt’sche Universität nur der Form nach durchsetzen, und auch die Vorlesung verkümmerte zu einer autoritären Veranstaltung und nur in seltenen Fällen setzten Dozierende ihren Vorlesungen Glanzlichter auf. In den bewegten 60er Jahren des 20. Jahrhunderts gingen Studenten auf die Barrikaden gegen den »Muff unter den Talaren«. Statt autokratischer Vortragsform samt professoraler Einschüchterungsgebärde forderten sie die Demokratisierung des Lehrbetriebs einschließlich der Vorlesung. »Teach-In« hieß die Zauberformel, die den monologisierenden Professor am Stehpult zugunsten von streitbaren, debattierenden Veranstaltungen ablösen sollte. Die Studenten auf den Sitzbänken im Hörsaal seien ebenso autonome, vernunftbegabte Subjekte wie der Dozent, ergo könne eine Vorlesung nur als kollektive Lernveranstaltung gedacht und organisiert werden. Von diesem Schreckgespenst studentischer Emanzipation ist die zeitgenössische Universität weit entfernt. Zwar sind die Zeiten vorbei, in denen der Dozent kanonische Wissensinhalte aus eigenen Texten vorlas und die Studierenden ehrfürchtig mitschrieben. »Es ist ein gar beschränkter Raum«, klagte seinerzeit der berühmteste Student der Weltliteratur. »Man sieht nichts Grünes, keinen Baum, und in den Sälen auf den Bänken vergeht mir Hören, Sehn und Denken.« ( Imagination) Aber intellektuell lebendiger und gehaltvoller sind Vorlesungen deswegen nicht geworden. Vielmehr werden technokratisch Vorlesungen in Lectures verwandelt, Didaktik und Methodik aufgeputzt und
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die Kunst der freien, argumentativen Rede mit multimedialen Effekten zum Verschwinden gebracht – der Dozent als Sprechpuppe seiner PowerPoint-Präsentation. ( Sinne) So stöhnen in der Regel auch die Professorinnen und Professoren über die Vorlesung, die so viel Vorbereitungszeit und Mühen beanspruche. Anderthalb Stunden zu füllen, sei gar nicht einfach, die Studierenden würden immer anspruchsvoller. Man käme mit dem gesprochenen Wort nicht mehr aus und in der Welt des Fernsehens und des Internets verblasse die Form des Vortrags sowieso zu einem ungeliebten Relikt. In Wirklichkeit jedoch lieben die Professoren die Vorlesung, bietet sie doch in der eiligen Kommunikationsgesellschaft die seltene Gelegenheit, Menschen über eine Stunde lang zum Zuhören zu verpflichten. Während SMS, Blogs und Twitter Formen der Alltagskommunikation geworden sind und Wortbeiträge im Radio und Fernsehen nicht länger als neunzig Sekunden dauern dürfen, haben Hochschullehrer die heute schier unglaubliche Möglichkeit, ungestört mindestens eine Stunde und dreißig Minuten ihre Sicht der Welt auszubreiten – ein narzisstischer Genuss ohnegleichen. Dementsprechend gibt es viele lustvolle Rollen, die im Hörsaal eingenommen werden können. Richard Kämmerlings unterschied vor mehreren Jahren in einem Artikel für die Frankfurter Allgemeine Zeitung den Beamten, der das Ritual der Vorlesung korrekt und geplant-kontrolliert absolviert. Dann gibt es den Stegreifspieler, der seinen Selbstgewinn daraus zieht, sich in der Lage zu dünken, Gedanken aus dem bloßen Fundus seines Wissens und seiner Erfahrungen zu verfertigen, oder den Clown, dessen Launigkeit und Esprit improvisiert erscheinen soll, in Wirklichkeit jedoch sorgsam einstudiert ist. Eine andere Figur ist der Diktator, der vom Katheder als Feldherrenhügel aus den Hörsaal beherrscht und Fragen oder gar Widerspruch nicht duldet. Als Letztes jene Dozenten, die sich als Medium der großen Meister verstehen, selbstredend mit dem wohligen Gefühl, nicht bloß deren Interpret, sondern gewissermaßen damit auch deren Inkarnation zu sein. ( Subjekt) Und staunend auf das Schauspiel starrend, das sich ihnen darbietet, sollen nun die jungen Menschen zuhören und lernen – oder auch nicht. Denn selbstverständlich erliegen die Liebhaber der Vorlesung der üblichen Illusion von Missionaren und Propagandisten, dass ihr Wort ebenso rein rezipiert wird wie gesendet. Mit dem Blick auf den Stapel
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beschriebenen Papiers vor ihnen sehen sie nicht den gelangweilten, tagträumenden Blick ihrer Zuhörer zur Decke oder aus dem Fenster hinaus. Welch ein Schock könnte es sein, wenn sich Dozenten zweiteilen und sich selbst von den hinteren Reihen des Hörsaals aus vortragen sehen. Es würde ihnen kaum entgehen, wie viele des scheinbar lauschenden Publikums in Wirklichkeit damit beschäftigt sind, zu simsen, Sudoku-Rätsel zu lösen oder schlicht Zeitung zu lesen. Nein, die Vorlesung ist alles andere als eine monologische Veranstaltung, sondern weitaus kommunikativer, als viele ihrer LiebhaberKollegen annehmen. Im Hörsaal wird unmittelbar über die Vorlesung abgestimmt, ob sie gefällt oder nicht, ob sie spannend und hörenswert oder nicht. Während man im Seminar ins kommunikative Abseits treten und andere sprechen lassen kann, steht man in der Vorlesung auf dem ständigen Prüfstand. Was ist eine Vorlesung? »Un plebiscite de tous les jours!« Die wahren Helden des Hörsaals sind daher diejenigen, die die Herausforderung annehmen, und ihr Publikum zu erreichen suchen, nicht allein mit multimedialen Mätzchen als vielmehr mit Argumenten, Engagement, Lebendigkeit. Nicht von ungefähr hat Aristoteles Pathos, Logos und Ethos als die drei Formen des Überzeugens genannt. Eigentlich ist die Vorlesung eine Mitlesung, denn nur, wer überzeugt ist, dass das Publikum aus selbständig denkenden Individuen besteht, wird die Sprache finden, die ihre Zuhörer findet. Und wird mitunter damit belohnt werden, Überraschendes zu erleben – und sei es, dass jemand in der vierzehnten Reihe plötzlich unerwartet aufschaut und eine Frage stellt, die den eigenen Gedanken, den man gerade vorgetragen, in eine ganz neue Richtung lenkt. Wissenschaft, so Wilhelm von Humboldt, dem gebührend der Schluss dieses Beitrags gehört, lasse sich nicht als Wissenschaft vortragen, ohne sie jedes Mal wieder selbsttätig aufzufassen. »Und es wäre unbegreiflich, wenn man nicht hier, sogar oft, auf Entdeckungen stoßen sollte.« (Apel 1999: 24)
L ITERATUR Apel, Hans Jürgen (1999): Die Vorlesung. Einführung in eine akademische Lehrform. Böhlau: Köln.
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Kämmerlings, Richard: Zumindest einer muss im Hörsaal sprechen. Eine kleine Typologie des Vortragsstils, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14.4.1999.
Wahrheit E NRICO C ASTELLI G ATTINARA
»Was ist Wahrheit?« Niemand kann heute eine eindeutige Antwort auf diese scheinbar einfache Frage geben. Es hat in ihrem Namen zu viele Tote gegeben, als dass man noch ohne allergrößte Vorsicht definieren könnte, was sie ist, wozu sie dient und was sie impliziert. Es hat aber auch im Namen ihrer Negation zu viele Tote gegeben, als dass man schlicht auf die Frage verzichten, sie vernachlässigen oder ignorieren könnte. Die Wahrheit zu definieren bedeutet immer eine epistemologische, ideologische, ethische, politische oder ästhetische Stellungnahme: Wahrheit ist das, was man erkennen will, sie ist der Sinn der Wissenschaft, sie ist das, wofür viele bereit sind, sich zu opfern, woran geglaubt wird, worüber die größtmögliche Einigkeit bestehen soll. Es gibt zahlreiche mögliche allgemeine Definitionen von Wahrheit. Noch keine hat jedoch einen einhelligen Konsens gefunden, obwohl das Problem in den letzten Jahrzehnten allein im Bereich der wissenschaftlichen Erkenntnis oft beschrieben und die Frage nach der Wahrheit bei der Beschreibung und Beurteilung der Realität und der Natur gestellt wurde. ( Realismus) Doch das Wesen der Dinge – so ein berühmtes Diktum von Heraklit – versteckt sich gern. Vielleicht ist die Suche nach der Wahrheit, von der der unstillbare Wissensdurst des Menschen beherrscht wird, diesem Naturzustand geschuldet: Es wäre dann nicht das Wesen der Dinge, das sich gern versteckt, sondern die Wahrheiten, die man darüber sagen kann. Und sie tun dies in zweifacher Hinsicht: Sie verste-
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cken sich als Wahrheiten und machen das Verstehen des Wesens der Dinge schwer und oft trügerisch; und sie verstecken sich in der Sprache, mit der man sie ausdrückt, weil sich die Wahrheit von etwas immer »sagen« lassen muss – und oft ist die »Art«, sie zu sagen, selbst eine Wahrheit. (Arten, die Wahrheit zu sagen, sind die verschiedenen Sprachen, mittels derer die Menschen versucht haben, die Natur zu erkennen, von den narrativeren bis hin zu den abstrakteren und symbolischeren, von den religiösen bis hin zu den mathematischen.) Heidegger hat deshalb die Wahrheit mit dem griechischen Terminus aletheia bezeichnet und betont, wie entscheidend das Verbergen für das Problem ist. Ausnahmsweise kann eine Fälschung die Wahrheit sagen, schrieb Marc Bloch. Insofern, als Erstere Letztere in sich verbirgt. Jeder Historiker weiß jedoch, dass umgekehrt das Wahre oft das Falsche sagt und dass sich selbst die sichersten Gewissheiten und Glaubensinhalte mit der Zeit ändern. Er weiß, dass im Namen der »reinen« Wahrheit die furchtbarsten Verbrechen begangen wurden. Er weiß weiterhin – oder er sollte es zumindest wissen –, dass das Übermaß an Wahrheit suspekt ist, insbesondere wenn es in all seiner epistemologischen und exklusiven Entschiedenheit Wahrheit von Unwahrheit abgrenzt: Dies nennt man Dogmatismus, und er verwandelt sich in Totalitarismus. Die Philosophie hingegen ist oft zwischen zwei Reduktionismen hin und hergerissen worden, die hinter der Definition von Wahrheit als Repräsentation der (natürlichen oder künstlichen) Realität verborgen waren. Der traditionelle Dualismus, den die analytische Philosophie zwischen Realismus und Antirealismus aufmacht, konnte das Problem nicht lösen. Man kann in der Tat den Akzent eher auf die Frage der Repräsentation setzen und damit auch auf die Frage der Interpretation, des sprachlichen Ausdrucks oder der logischen Form, oder aber man kann die Realität, die abgebildet werden soll, in den Vordergrund rücken und damit die Frage der Zuverlässigkeit, der Genauigkeit, der Übereinstimmung. Es gibt jedoch andere philosophische Strömungen, die es für möglich halten, auf jeglichen Bezug zur Realität und deren Repräsentation zu verzichten: Für den Pragmatismus ist die Wahrheit nur ein nützliches und zu einer bestimmten Zeit kollektiv gültiges Urteil, für den
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Deflationismus kommt man ganz ohne den Terminus Wahrheit aus, für die Hermeneutik ist er eine Frage der Position. Gegenüber all diesen Schwierigkeiten ist es gerade die Geschichtswissenschaft, die lehrt, die Frage der Wahrheit mit Vorsicht zu behandeln und sie in ihren Bezügen zu all den verschiedenen Bereichen zu betrachten, die sie berührt: Denn die Geschichte weiß, dass der epistemologische Aspekt der Wahrheit untrennbar mit anderen Aspekten verbunden ist. Die Wahrheit ist, abgesehen davon, dass sie ein Problem der Logik und der Epistemologie ist (man könnte auch sagen ein Problem der Erkenntnis), auch eine Frage der Sprache (des Sagens), eine Frage des Glaubens (und damit der Religion und des religiösen Glaubens, der Ideologien, wie sie es über viele Jahrhunderte vor der wissenschaftlichen Revolution der Moderne gewesen ist), eine Frage des Ästhetik und der Perzeption, also ganz offensichtlich ein Problem der Geschichte. Nietzsche schrieb, dass die Wahrheit nicht mehr Wahrheit ist, wenn man ihr die Schleier abzieht: Die »nackte Wahrheit« ist für die wissenschaftliche und menschliche Erkenntnis das, was Bachelard ein »Erkenntnishindernis« genannt hätte. ( Historische Epistemologie) Die Wahrheit, die sich gern hinter dem Schleier versteckt, existiert nicht und könnte nicht bestehen ohne Schleier: Oft sind es die Schleier selbst, die die Wahrheit sind. Dies macht jede Definition sinnlos oder aber so komplex und kleinteilig und durchlässig, dass sie unbrauchbar wird: Aber es macht auch die Suche nach ihr unverzichtbar. Man könnte daher sagen, dass die Wahrheit ein zu einer bestimmten Zeit kollektiv geteilter Kohärenzhorizont ist. Es handelt sich eher um eine Praxis als um eine Definition. Aus dem Italienischen von Dorit Gesa Engelhardt
L ITERATUR Bachelard, Gaston (1978): Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes. Beitrag zu einer Psychoanalyse der objektiven Erkenntnis, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
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Autorinnen und Autoren
Berger, Stefan, geb. 1964, Promotion an der Universität Oxford 1990. Er ist Professor für deutsche und vergleichende europäische Geschichte an der Universität Manchester, wo er noch manchmal nostalgisch an dem Tisch sitzt, an dem Friedrich Engels Karl Marx zu Besuchen in der Geburtsstadt des Kapitalismus empfing. Bogdal, Klaus-Michael, geb. 1948, Professor für Germanistische Literaturwissenschaft an der Universität Bielefeld. Direktoriumsmitglied der Graduiertenschule der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts; Literaturtheorie und Wissenschaftsgeschichte; Kulturelle Gewalt; Kulturtransfer; Historische Diskursanalyse. Castelli Gattinara, Enrico, geb. 1959, lehrt Theorie der Geschichte an der Università di Roma, La Sapienza. Herausgeber der Zeitschrift für Kultur, Kunst und Philosophie »APERTURE. Punti di vista a tema«. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Theorie der Geschichte, Verhältnis der Humanwissenschaften/Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften und der Philosophie. Coester, Christiane, geb. 1971, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Historischen Institut Paris. Promovierte 2007 mit einer Biografie über Anna d’Este an der Technischen Universität Berlin. Derzeit forscht sie über den Literatur- und Kulturbetrieb im nachrevolutionären Paris am Beispiel der französischen Schriftstellerin, salonnière und Verfasserin Hunderter von Briefen, Constance de Salm.
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Conrad, Christoph, geb. 1956, lehrt nach Etappen in Berlin, Bonn, Paris und den USA neueste Geschichte an der Universität Genf. Seine Forschungsinteressen betreffen u.a. die Geschichte und Theorie von Geschichtsschreibung, den Vergleich von Wohlfahrtsstaaten sowie lokale Praxen der Gastronomie. Davis, Natalie Zemon, geb. 1928, emeritierte Professorin der Universität Princeton, USA, und Professorin an der Universität Toronto, Kanada. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Sozial- und Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, insbesondere Frankreichs. Eckert, Astrid M., Assistant Professor für Moderne Europäische Geschichte an der Emory University in Atlanta, USA. Von 2002-2005 war sie Research Fellow am German Historical Institute in Washington, D.C. Ihr Forchungsschwerpunkt ist deutsche Geschichte nach 1945. Ehmer, Josef, geb. 1948, Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Geschichte der Arbeit und des Alters, der Arbeiter und Handwerker, der Migrations- und Bevölkerungsgeschichte in einer europäisch vergleichenden Perspektive von der Frühneuzeit bis zur Gegenwart. Esch, Michael G., geb. 1959, Historiker. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte Ost- und Mitteleuropas im 19. und 20. Jahrhundert sowie die Migrationsgeschichte Europas. 2004 hat er als Gastdozent an der Ecole des hautes études en sciences sociales in Paris gelehrt. Fabiani, Jean-Louis, geb. 1951, Philosoph und Soziologe, Directeur d’études an der Ecole des hautes études en sciences sociales in Paris und Professor am Institut für Soziologie und Ethnologie der Central European University in Budapest. Er arbeitet zu kultursoziologischen Fragen und zur historischen Soziologie der Denkformen des Wissens.
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AUTOREN | 231
Fleck, Christian, geb. 1954, seit 1997 außerordentlicher Professor für Soziologie an der Karl-Franzens-Universität Graz. Habilitation 1989 an der Universität Wien. 1993/94 Schumpeter Fellow an der HarvardUniversität (USA). Seit 2003 Mitglied des Vorstands des Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie in Wien. Von 2005 bis 2009 Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie (ÖGS). François, Etienne, geb. 1943, emeritierter Professor für Geschichte an der Universität Paris-I (Panthéon-Sorbonne) und an der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte sind die deutsche Geschichte seit dem Beginn der Frühen Neuzeit, die Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen wie insbesondere die Geschichte der Gedächtniskulturen im europäischen Kontext. Gerstenberger, Heide, geb. 1940, Professorin für Theorie des bürgerlichen Staates und der Gesellschaft an der Universität Bremen (von 1974 bis 2005). Schwerpunkte ihrer Forschungen waren und sind: die Entwicklung moderner Staatsgewalt sowie die Entwicklung der Seeschifffahrt. Derzeit arbeitet sie über »Markt und Gewalt«. Gossman, Lionel, geb. 1929, M. Taylor Pyne Professor Emeritus für Romanische Sprachen an der Universität Princeton, USA. Neben seinen literaturwissenschaftlichen Studien hat er zahlreiche Texte über Historiker (Gibbon, Thierry, Michelet, Bachofen, Burckhardt) und allgemeine Probleme der Geschichtsschreibung veröffenlicht. Derzeit arbeitet er an einem Essay über Illustration in Geschichtsbüchern. Hartog, François, geb. 1946, Historiker und Directeur d’études an der Ecole des hautes études en sciences sociales in Paris. Er arbeitet zur Geschichte der Geschichtsschreibung und Formen der Zeiterfahrung in Vergangenheit und Gegenwart. Harvey, John L., Associate Professor für Europäische Geschichte an der St. Cloud State University in Minnesota, USA. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf vergleichender Historiografie- und transnationaler Geistesgeschichte.
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Haverkamp, Anselm, geb. 1943, Professor für Literatur und Philosophie an der New York University, USA, der Universität Frankfurt/Oder und der LMU München. Seine Forschungsschwerpunkte sind Rhetorik und Recht, Literatur und Philosophie und die Metaphorologie. Jussen, Bernhard, geb. 1959, Professor für die Geschichte des Mittelalters an der Universität Frankfurt/Main. Seit 2008 zwei LeibnizProjekte: zur Verwandtschaftsforschung und zur Politischen Semantik. Ein weiterer Forschungsschwerpunkt ist das Verhältnis von Kunst und Geschichte. Kania, Rudolf, geb. 1948, Studium der Geschichte, Sozialwissenschaften und Slavistik an der Ruhr-Universität Bochum, Tätigkeiten in der Erwachsenenbildung und als Antiquariatsbuchhändler, 1983-1991 wissenschaftlicher Referent beim Ruhrlandmuseum Essen, seit 1991 beim Landschaftsverband Rheinland, LVR Industriemuseum, mit Tätigkeitsschwerpunkten in der Bestandserschließung und digitalen Langzeitarchivierung. Kwaschik, Anne, geb. 1976, Juniorprofessorin für Westeuropäische Geschichte an der Freien Universität Berlin (Friedrich-MeineckeInstitut/Frankreich-Zentrum), Assoziiertes Mitglied CRIA-EHESS. 2006 Promotion an der FU Berlin mit einer Arbeit zur Mentalitätengeschichte bei Robert Minder. Aktuelles Forschungsprojekt: Globalisierte Wissenschaft. Area Studies und Wissenschaftsmanagement in Europa. Lavabre, Marie-Claire, Soziologin und Directrice de recherche am Centre national de la recherche scientifique und am Centre d’études européennes (Sciences Po, Paris). Seit der Veröffentlichung des Werkes Le fil rouge, sociologie de la mémoire communiste (1994) befasst sie sich mit der Geschichte des Kommunismus und Themen der Gedächtnissoziologie und Erinnerungspolitik. Leonhard, Jörn, geb. 1967, studierte Geschichte, Politische Wissenschaften und Germanistik in Heidelberg und Oxford. Promotion 1998,
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Fellow in Modern History an der Universität Oxford 1998-2004, Habilitation 2004 in Heidelberg, 2004-2006 Hochschuldozentur in Jena, seit 2006 Lehrstuhl für Westeuropäische Geschichte an der Universität Freiburg, seit 2007 Direktor der School of History am Freiburg Institute of Advanced Study (FRIAS). Lüdtke, Alf, geb. 1943, studierte Geschichte, Philosophie und Soziologie an der Universität Tübingen. Bis 2008 Professor für Historische Anthropologie an der Universität Erfurt sowie Mitarbeiter am (ehemaligen) Max-Planck-Institut für Geschichte, Göttingen. Zahlreiche Gastprofessuren im In- und Ausland, z.Zt. mehrjährig in Seoul/Korea; Mit-Antragsteller des Graduiertenkollegs »Mediale Historiographien« (bis 2013 bewilligt). Laufende Forschungen zu ost-/westlichen Grenzpassagen und zu »Kriegführen als Arbeit im 20. Jahrhundert«. Mastrogregori, Massimo, geb. 1962, lehrt Geschichte an der Università di Roma, La Sapienza. Herausgeber der internationalen Zeitschrift »Storiografia« und der »International bibliography of historical sciences«. Arbeitsschwerpunkt ist die Politik- und Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts, insbesondere die Historiografiegeschichte. Medick, Hans, geb. 1939, studierte Geschichte, Philosophie und Politikwissenschaft an den Universitäten Köln, Heidelberg und Erlangen. Bis 2004 Professor für Neuere Geschichte und Historische Anthropologie an der Universität Erfurt und Mitarbeiter am (ehemaligen) MaxPlanck-Institut für Geschichte, Göttingen. Zahlreiche Gastdozenturen im In- und Ausland. Bis 2010 Mitglied der Forschergruppe »Selbstzeugnisse in transkultureller Perspektive«. Er arbeitet an einer Monografie zum Dreißigjährigen Krieg. Menger, Pierre-Michel, geb. 1953, Soziologe, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Centre national de la recherche scientifique und Directeur d’études an der Ecole des hautes études en sciences sociales, wo er Soziologie der Arbeit sowie Kunst- und Kultursoziologie unterrichtet. Er ist ständiger Gastprofessor an der Université du Quebec à Montréal, Kanada, und assoziiertes Mitglied des Instituts für Soziologie der Columbia University in New York.
234 | VON DER A RBEIT DES HISTORIKERS
Morat, Daniel, geb. 1973, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin. Promovierte 2006 in Göttingen mit einer Arbeit über Martin Heidegger und die Brüder Ernst und Friedrich Georg Jünger. Habilitationsprojekt: »Die Klanglandschaft der Großstadt. Kulturen des Auditiven in Berlin und New York 1880-1930«. Müller, Bertrand, geb. 1955, Historiker, Directeur de recherche am Centre national de la recherche scientifique, Lehrbeauftragter an den Universitäten von Genf und Neuchâtel. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Geschichtswissenschaft und der Archive, Geschichte der Sozialwissenschaften und des enzyklopädischen Wissens im 20. Jahrhundert. Pammer, Michael, geb. 1962, Universitätsdozent am Institut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Johannes Kepler Universität Linz. Studierte Rechtswissenschaften, Geschichte und Germanistik an der Universität Salzburg. Er forscht über die Wirtschafts- und Sozialgeschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts, sein aktueller Schwerpunkt liegt auf der Finanzgeschichte. Rheinberger, Hans-Jörg, geb. 1946, Studium der Philosophie und anschließend Biologie in Tübingen und Berlin, 1987 Habilitation im Fach Molekularbiologie. Seit 1997 Direktor am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte der Molekularbiologie und die Geschichte und Epistemologie des Experiments. Rössler, Mechtild, geb. 1960, Studium der Geographie und Germanistik in Freiburg. Promotion mit einer Arbeit über die Geographische Ostforschung im Nationalsozialismus. Gastprofessorin an der University of California in Berkeley, USA. Seit 1991 arbeitet sie bei der UNESCO in Paris, wo sie derzeit das Zentrum für das europäische Weltkulturerbe leitet. Ihre Forschungsinteressen reichen von der Geographiegeschichte über Heritage Studies bis zur Geschichte der Vereinten Nationen und internationaler Konventionen.
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Roth, Karl Heinz, geb. 1942, Mediziner (Promotion 1984) und Historiker (Promotion 1992). Vorstandsmitglied der Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts in Bremen. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Sozial-, Wissenschafts- und Wirtschaftsgeschichte. Sarasin, Philipp, geb. 1956, Professor für Neuere Allgemeine und Schweizer Geschichte an der Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Universität Zürich sowie Gründungsmitglied des Zentrums »Geschichte des Wissens« (Universität und ETH Zürich). Seine Forschungsgebiete sind die Geschichte des Körpers, die Geschichte der Stadt, die Kulturgeschichte des Wissens sowie theoretische Fragen der Geschichtswissenschaft. Sieder, Reinhard, geb. 1950, Promotion in Geschichte 1975 an der Universität Wien; Professor am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien; Gründer und Herausgeber der Österreichischen Zeitschrift für Geschichtswissenschaften (ÖZG). Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Sozial- und Kulturgeschichte der Familie, der Oral History und der Geschichte und Theorie des Subjekts in der Moderne. Tanner, Jakob, geb. 1950, Professor für Geschichte der Neuzeit an der Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte und am Historischen Seminar der Universität Zürich. Von 1996 bis 2001 Mitglied der »Unabhängigen Expertenkommission Schweiz-Zweiter Weltkrieg«. Seit Oktober 2004 Fellow am Collegium Helveticum. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: europäische vergleichende Wirtschafts- und Finanzgeschichte, Wissenschafts-, Medizin- sowie Körpergeschichte. Vinken, Barbara, geb. 1960, Professorin für Allgemeine und Französische Literaturwissenschaft an der LMU München. Promotion 1989 in Konstanz und 1991 in Yale, Habilitation 1996 in Jena. Gastprofessuren an der New York University, der Ecole des hautes études en sciences sociales in Paris und der Johns Hopkins University in Baltimore. Sie arbeitet zu Religion und Literatur mit einem Schwerpunkt auf Gustave Flaubert.
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Welskopp, Thomas, geb. 1961, Professor für die Geschichte moderner Gesellschaften an der Universität Bielefeld. 2008/2009 war er Forschungsstipendiat am Historischen Kolleg in München. Seine Forschungsinteressen umfassen vergleichende Arbeiter- und Unternehmensgeschichte, die Geschichte politischer Kulturen und sozialer Bewegungen, Medien- und Konsumgeschichte sowie die Historiografiegeschichte und theoretische Fragen der Geschichtswissenschaft. Wildt, Michael, geb. 1954, war viele Jahre wissenschaftlicher Mitarbeiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung und ist nun Professor für Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert mit Schwerpunkt im Nationalsozialismus an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Nationalsozialismus, Antisemitismus, Gewaltgeschichte Europas im 20. Jahrhundert, Konzeptionen politischer Ordnungen in der Moderne. Wimmer, Mario, geb. 1978, Visiting Scholar am Department of History der University of California in Berkeley, USA. Zuletzt war er Visiting Assistant Professor an der ECNU in Shanghai, China. Er arbeitet über europäische Kultur- und Wissenschaftsgeschichte seit dem 18. Jahrhundert; derzeit interessiert er sich insbesondere für die Geschichte von Archiven und eine historische Poetologie der Zeitlosigkeit. Wolf, Frieder Otto, geb. 1943, seit 1966 Tätigkeiten als Philosoph und Politiker, 1994-1999 MdEP, seit November 2006 Honorarprofessor für Philosophie an der Freien Universität Berlin; Forschung und Lehre in den Bereichen der politischen Philosophie, der Epistemologie der Gesellschaftswissenschaften und der angewandten Philosophie.
Personenregister
Abbott, Andrew 59, 63
Bossuet, Jacques Bénigne 88
Adorno, Theodor W. 72-74
Bourdieu, Pierre 38, 193
Arendt, Hannah 5, 194
Bouvier, Jean 143
Aristoteles 212
Bowley, Arthur 50
Assmann, Aleida 68
Brandt, Ahasver von 162
Assmann, Jan 133
Braudel, Fernand 44-45, 51, 60,
Auerbach, Erich 131 Augustinus 87
99, 139, 142-43, 166-67 Brix, Emil 65 Bruckmüller, Ernst 65
Bachelard, Gaston 103-4, 175, 217 Barthes, Roland 54
Bulgakow, Michail Afanasjewitsch 39 Butler, Judith 197
Bateson, Gregory 206 Bauman, Zygmunt 194
Canguilhem, Georges 104
Benjamin, Walter 132, 148, 184
Chartier, Roger 55
Benveniste, Emile 162
Chateaubriand, François-René
Bernoulli, Jakob 188
de 88
Berr, Henri 50
Chaunu, Pierre 51, 143
Blackbourn, David 31
Colley, Linda 108-9
Bloch, Marc 10, 12-13, 17, 41,
Collins, Randall 126
79, 100, 102, 114, 140, 166,
Condorcet, Marquis de 88
170, 172, 184, 186, 216
Corbin, Alain 39, 107, 183-85
Blouin, Francis X. 23-24
Croce, Benedetto 99-100
Blumenberg, Hans 162, 204-5
Crozier, Michel 193
Borges, Jorge Luis 27
Curtius, Ernst Robert 131
Borgolte, Michael 133
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Dahrendorf, Ralf 95, 201
Gadamer, Hans-Georg 55
Darboven, Hanne 132
Galison, Peter 104
Daston, Lorraine 132
Gallup, George Horace 189
David, Catherine 132
Galtung, Johan 193-95
Dermigny, Louis 51
Ganshof, François-Louis 115
Derrida, Jacques 23, 162
Gauchet, Marcel 86
Dilthey, Wilhelm 86
Gelderen, Jacob van 139
Dosse, François 50
Gentz, Friedrich von 22
Droysen, Johann Gustav 162
Giannone, Pietro 100
Dumézil, Georges 162
Giddens, Anthony 193
Durkheim, Emile 13, 15, 60-62,
Gillet, Michel 143
139, 141, 201 Dürrenmatt, Friedrich 204
Ginzburg, Carlo 39, 180 Goubert, Pierre 143 Grimm, Hans 166
Eco, Umberto 23
Guerry, André-Michel 49
Eden, Sir Frederick Morton 48
Gumbrecht, Hans Ulrich 132
Eley, Geoff 31 Elias, Norbert 185
Habermas, Jürgen 201
Enzensberger, Hans Magnus 39
Habsburg-Lothringen, Bettina 148 Hacking, Ian 104, 125-26
Febvre, Lucien 9-10, 13, 166-67, 183-84
Halbwachs, Maurice 79, 81-82 Hardt, Michael 194
Feldman, Gerald D. 31
Hartog, François 14, 66
Fichte, Johann Gottlieb 210
Haushofer, Karl 166
Finley, Moses I. 79
Hegel, Georg Wilhelm Fried-
Fischer, Fritz 166
rich 86, 162, 209
Flaig, Egon 132-33
Heidegger, Martin 86, 216
Fleck, Ludwik 104
Heraklit 215
Fliedl, Gottfried 147
Herodot 98, 100, 151
Flusser, Vilém 179
Heubel, Michael 171
Fogel, Robert W. 120
Hilberg, Raul 194
Fontane, Theodor 198
Hildesheimer, Wolfgang 39
Foucault, Michel 53-56, 76-77,
Hillgruber, Andreas 34
104, 147, 197
Humboldt, Alexander von 95-96
François, Etienne 14, 61
Humboldt, Wilhelm von 210, 212
Freud, Sigmund 38, 162
Hume, David 48
Furet, François 143
P ERSONENREGISTER | 239
Ibsen, Henrik 198
Lefebvre, Henri 166
Iggers, Georg G. 31, 178
Levasseur, Pierre Emile 49
Ionesco, Eugène 39
Lübbe, Hermann 147
Isnenghi, Mario 65
Lüdtke, Alf 14, 206-7 Ludwig XVI. 61
Jacob, François 56
Luhmann, Niklas 77
Josephus, Flavius 100 Joyce, James 37
Malraux, André 148 Marès, Antoine 65
Kaehler, Siegfried A. 95
Martin, Henri-Jean 51
Kalecki, Michael 50
Marx, Caspar Heinrich 171
Kantorowicz, Hermann 91
Marx, Karl 95, 137, 177-78, 194,
Kehr, Fridolin 23
201
Kittler, Friedrich Adolf 55
Mauro, Frédéric 143
Kluge, Alexander 132, 180
McLuhan, Marshall 184-85
Kocka, Jürgen 10, 31-33
Minard, Charles Joseph 49
Kondratieff, Nikolai Dmitrije-
Mitchell, Wesley C. 50
witsch 50, 139, 142-43
Mitterauer, Michael 133
Korff, Gottfried 146
Momigliano, Arnaldo 100
Koselleck, Reinhart 31, 87, 131,
Monroe, Marilyn 62
162
Mommsen, Theodor 130, 178
Koyré, Alexandre 104
Moore, Henry Ludwell 50
Kracauer, Siegfried 37
Mulhall, Michael G. 49
Krafft, Hans 171
Muratori, Ludovico Antonio 99
Kraus, Karl 72
Musil, Robert 37, 73-74
Kuhn, Thomas S. 104, 125 Nadler, Stephen 108 Labrousse, Ernest 50, 139, 14143
Napoleon I. 88, 181 Negri, Antonio 194
Lakatos, Imre 105
Negt, Oskar 132, 180
Lamont, Michèle 157-58
Nietzsche, Friedrich 217
Lamprecht, Karl 178
Nightingale, Florence 49
Laplace, Pierre-Simon 188
Nolte, Ernst 34
Lavizzari, Luigi 44
Nora, Pierre 65-66, 80
Le Goff, Jacques 39
North, Douglass C. 120
Le Roy Ladurie, Emmanuel 50 Lecourt, Dominique 103
Offe, Sabine 146
240 | VON DER A RBEIT DES HISTORIKERS
Papritz, Johannes 22
Timaios 100
Parsons, Talcott 201
Thukydides 151
Perrot, Michelle 143
Uexküll, Jakob von 204-5
Pialat, Maurice 60 Pirenne, Henri 100
Valéry, Paul 162
Platina, Bartolomeo 99
Vidal de la Blache, Paul 166
Playfair, William 47-49
Vilar, Pierre 143
Poirier, Anne 133
Vovelle, Michel 51
Poirier, Patrick 133 Polybios 100
Wallace, Robert 48 Warburg, Aby 131-32
Quételet, Adolphe 188, 190
Watt, James 47 Weber, Max 60, 95, 123-25, 127,
Rammingen, Jakob von 21
193, 201
Ranke, Leopold von 22
Wehler, Hans-Ulrich 31-32, 34
Ratzel, Friedrich 166
Werlen, Benno 166
Ricœur, Paul 68, 81, 86, 98, 125
Wesseling, Hank 65
Rostovtzeff, Michail I. 100
West, Mae 62
Rousso, Henry 80
White, Hayden 133 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich
Schmidt, Arno 77
von 95
Schöttler, Peter 13, 170, 178 Schulze, Hagen 66
Xenophon 37, 100
Schumpeter, Joseph Alois 50 Sebald, W(infried) G(eorg) 28-30
Zweig, Arnold 38
Sennett, Richard 11
Zweig, Stefan 38
Sewell, William Jr. 59-60 Simiand, François 13, 50, 139-43 Simmel, Georg 201 Sinclair, Sir John 48 Smith, Mark M. 185 Spinoza, Baruch de 108 Stekl, Hannes 65 Stone, Lawrence 51, 101 Stuart, Maria 38 Stürmer, Michael 34
Histoire Thomas Etzemüller Die Romantik der Rationalität Alva & Gunnar Myrdal – Social Engineering in Schweden Juni 2010, 502 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1270-7
Torben Fischer, Matthias N. Lorenz (Hg.) Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945 (2., unveränderte Auflage 2009) 2007, 398 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-773-8
Bettina Hitzer, Thomas Welskopp (Hg.) Die Bielefelder Sozialgeschichte Klassische Texte zu einem geschichtswissenschaftlichen Programm und seinen Kontroversen September 2010, ca. 460 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1521-0
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Histoire Jürgen Martschukat, Olaf Stieglitz (Hg.) Väter, Soldaten, Liebhaber Männer und Männlichkeiten in der Geschichte Nordamerikas. Ein Reader 2007, 432 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-89942-664-9
Alexander Meschnig Der Wille zur Bewegung Militärischer Traum und totalitäres Programm. Eine Mentalitätsgeschichte vom Ersten Weltkrieg zum Nationalsozialismus 2008, 352 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-955-8
Achim Saupe Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker Historik, Kriminalistik und der Nationalsozialismus als Kriminalroman 2009, 542 Seiten, kart., 44,80 €, ISBN 978-3-8376-1108-3
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Histoire Anna Ananieva Russisch Grün Eine Kulturpoetik des Gartens im Russland des langen 18. Jahrhunderts Juli 2010, 442 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 46,80 €, ISBN 978-3-8376-1479-4
Nicole Colin, Beatrice de Graaf, Jacco Pekelder, Joachim Umlauf (Hg.) Der »Deutsche Herbst« und die RAF in Politik, Medien und Kunst Nationale und internationale Perspektiven 2008, 232 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN 978-3-89942-963-3
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Alexandra Klei, Katrin Stoll, Annika Wienert (Hg.) Die Transformation der Lager Annäherungen an die Orte nationalsozialistischer Verbrechen Oktober 2010, ca. 250 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1179-3
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Stefanie Michels Schwarze deutsche Kolonialsoldaten Mehrdeutige Repräsentationsräume und früher Kosmopolitismus in Afrika 2009, 266 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1054-3
Nina Möllers Kreolische Identität Eine amerikanische ›Rassengeschichte‹ zwischen Schwarz und Weiß. Die Free People of Color in New Orleans 2008, 378 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1036-9
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