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German Pages 548 [552] Year 1950
WALTER H Ü B N E R
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DIE STIMMEN
DER
MEISTER
DIE STIMMEN DER MEISTER EINE EINFÜHRUNG IN MEISTERWERKE DES ENGLISCHEN DICHTENS UND DENKENS
VON
WALTER HÜBNER
B E R L I N 1950
WALTER DE GRUYTER & CO. VORM. G. J. G Ö S C H E N ' S C H E VERLAGSHANDLUNG • J. GUTTENTAG, VERLAGSB U C H H A N D L U N G • G E O R G R E I M E R • K A R L J . T R Ü B N E R • V E I T & COMP.
Printed in Germany — Archiv-Nummer 432350 Gedruckt im Druckhaus Tempelhof, Berlin
Die Zukunft decket Schmerzen und Glücke. Schrittweis dem Blicke, Doch ungeschrecket Dringen wir vorwärts,
Betracht' sie genauer Und siehe, so melden Im Busen der Helden Sich wandelnde Schauer Und ernste Gefühle.
Und schwer und schwerer Hängt eine Hülle Mit Ehrfurcht. Stille Ruhn oben die Sterne Und unten die Gräber.
Doch rufen von drüben Die Stimmen der Geister, Die Stimmen der Meister: „Versäumt nicht zu üben Die Kräfte des Guten.
Hier winden sich Kronen In ewiger Stille, Die sollen mit Fülle Die Tätigen lohnen! Wir heißen euch hoffen." Goethe, 'Symbolum'
Vorwort Die Hamletfrage gilt heute dem Sein oder Nichtsein der geistigen Existenz. Die Wertung der Dichtung als Pfeiler des Wiederaufbaus bei allen Völkern, die am Kriege teilgenommen haben, ist das hoffnungsvollste Zeichen für den Lebenswillen der abendländischen Kultur. H. G. Wells, Julian Huxley und viele andre haben nachdrücklich darauf hingewiesen, daß der gesellschaftliche Fortschritt im vergangenen und gegenwärtigen Jahrhundert mit Riesenschritten eine Lebensform erreicht hat, auf die die Menschen innerlich nicht vorbereitet waren und die damit die sozialen, wirtschaftlichen und moralischen Krisen hervorrufen mußte, die uns schließlich vor die letzten Fragen des Daseins gestellt haben. Die Wiederaufrichtung der Welt, in der wir leben, erfordert gewiß gewaltige materielle Anstrengungen; die seelische Wiedereinrenkung ist aber von noch entscheidenderer Bedeutung. Eine neue Ordnung, eine Gruppenbildung der Völker zu friedlicher Entfaltung ihrer Energien, setzt ein weites und freies, ein planetarisches Denken, einen Glauben an Menschheitsideale voraus. Das Wort vom gegenseitigen Verständnis der Völker ist ein Gemeinplatz, mit dessen oberflächlicher Anwendung gegenüber den Mächten der Welt nichts getan ist, wie wir es schmerzvoll erlebt haben. Es gewinnt seinen Sinn erst, wenn wir bedenken, daß es zwar nur eine Wahrheit, aber verschiedene Wege zu ihr gibt, die es zu erkennen und zu achten gilt. André Gide hat einmal gesagt, daß das Individuelle die beste Stimme im Konzert des Menschlichen und das Nationale im Übernationalen ist. Ein Konzert aber verlangt Harmonie, das Miteinander der Stimmen und nicht ihr Gegeneinander, die Kenntnis und Abstimmung der Klangfarben und nicht ein Übertönen. Der Hauptgrund für die geistigen Nöte der Gegenwart liegt in dem schroffen Bruch mit der Überlieferung; Organisches und Dauerhaftes kann nur werden, wenn das Neue nicht Improvisation des Augenblicks bleibt, sondern sich den wahren Werten des Ererbten anfügt. Das ist der ewige große Kreislauf des Stirb und Werde! In tausend Bächlein ergießt sich das gemeinsame Denken und Fühlen in alle Verzweigungen des nationalen Lebens, und nur Völker, die sich ihrer Geschichte bewußt waren, haben Entscheidendes zu der übernationalen Gemeinschaft beigetragen; die europäische Kulturgemeinschaft, auf deren Festigung alles ankommt, beweist dies deutlich genug. Die Mutter der Musen ist Mnemosyne, die Erinnerung. Die Mutter der Musen! Was wir als Erinnerung, wenn auch unbewußt, mit uns herumtragen, sind Gedanken, Empfindungen, sittliche und ästhetische Wertungen, die eine europäische und darüber hinaus eine menschliche Gesittung erzeugt haben, die aber aus verschiedenen Kanälen zusammengeflossen sind. Diese Kanäle sind neben dem Christentum die Denkformen der Kulturvölker alter und neuer Zeit. Die kultursoziologische Bedeutung der Dichtung beruht auf iher beispielhaften Stellvertretung, also wesentlich auf ihrer formalen Seite. Ihre Sprache, ihr innerer Rhythmus, ihre Bildhaftigkeit sind eine einmalige, nicht wiederholbare Gestaltung; die Form selbst ist nach einem Wort Goethes nie ohne Gehalt. Die Dichtung legt, wie R. W. Emerson sagt, die Fülle des Lebens, die den gewöhnlichen Sterblichen siebenzig Jahre beschäftigt, in den Augenblick und aktiviert durch jedes Wort und Bild. Sie stellt die Idee des Lebens nicht durch abstrakte Begriffe, sondern durch Sinnbilder dar, sie ist das Auge, durch das wir uns die Wirklichkeit der Natur und Geschichte als seelischen Besitz aneignen. Francis Bacon, dessen Philosophie der grundlegenden Denkhaltung seines Volkes die spezifische Ausprägung gegeben hat, forderte als erster eine Geschichte der Literatur und Kunst, lange bevor eine solche unternommen wurde, ja man kann nach der Begründung, die er dieser Forderung in seinem Werk „De Augmentis Scientiarum" gibt, geradezu sagen: eine Geistesgeschichte in dem Sinne, den wir heute mit diesem Begriff verbinden. „Wenn eine Geschichte der Welt", so sagt er, „in diesem Teil versäumt wird, so gleicht sie einem Standbild des Polyphem mit ausgerissenem Auge." Die Literatur
VIII
Vorwort
ist nichts andres als ein Bild der Weltzustände im menschlichen Geist; ihre Werke geben dadurch, daß sie ihren Gegenstand isolieren und in der Gestaltung den Erlebnisvorgang zur stellvertretenden Bedeutsamkeit erheben, den Zusammenhang eines Zeitalters und in der Folge der Zeitalter einen pragmatischen Zusammenhang. „Die Wissenschaften wandern ebenso wie die Völker." Klingt das nicht schon wie Goethes Beobachtung, daß die Wissenschaften eine große Fuge seien, in der die Stimmen der Völker nach und nach zum Vorschein kommen? Beide Aussagen meinen mit dem Ausdruck Wissenschaften die abendländische Bildungsgeschichte überhaupt, und Bacons erstaunlicher Tiefblick begreift das, was wir in unserm Jahrhundert Geistesgeschichte nennen, im richtigen Sinne, wenn er den ursächlichen Zusammenhang des literarisch-philosophischen und des politischen Lebens erkennt und nicht eine Geschichte des Denkens von einer angeblich konstanten Wirklichkeit abtrennt. Der Mensch denkt eben in den verschiedenen Zeitaltern nicht nur anders, sondern er ist anders, sieht und spricht anders. Macaulay sagt einmal, daß Völker wie Einzelwesen zuerst sehen und dann abstrahieren, daß sie von Einzelbildern zu allgemeinen Folgerungen schreiten und daß deswegen die Sprache der Poesie das Volksnahe, die Sprache der Wissenschaft das Gelehrte darstelle. Die Dichtung will nicht verstandesmäßige Begrifflichkeit bringen, sondern Anschaulichkeit, den Lebensvorgang selbst, der als konkretisiertes Gefühl das gleiche Gefühl in dem Aufnehmenden erzeugt, ein Sicheinfügen in das dichterisch Gegebene, einen Beitrag zu dem eigenen Lebensstil. Sie hat in dieser Wirkung der Identifizierung eine einigende und, wenn es sich um fremde Dichtung handelt, eine völkerverbindende Kraft, die mehr und Tieferes ist als das, was man gemeinhin ein gegenseitiges Verständnis nennt. Nie war für uns deshalb Dichtung notwendiger als heute. Der führende englische Dichter der Gegenwart, T. S. Eliot, hat in einem schönen Aufsatz über die gesellschaftliche Aufgabe der Dichtkunst fein herausgearbeitet, wie man gerade durch die Poesie und nur durch sie „in ein andres Land eindringen kann, ohne daß sozusagen der Paß ausgestellt oder die Fahrkarte gelöst ist." Hiermit ist die Absicht des vorliegenden Buches angedeutet. Es will an Werken von überzeitlichem Stellvertretungswert die englische Art des Erlebens der Welt und der ewigen Menschheitsfragen veranschaulichen. Bei einem so stark im eigenen Boden verwurzelten Schrifttum, das ebenso wie die englische Sprache stets Weltoffenheit mit der Stärke der nationalen Einschmelzungskraft verbunden hat, ist das Beispiel wirkungsvoller als jede verallgemeinernde Formulierung von „Wesenszügen." Denken wir nur an die soziologische Gemeinschaft von Theater und Publikum bei den Anfängen und dem Aufschwung des Dramas, an die religiösen Wandlungen in dem puritanischen Widerspruch, an die utopischen Gesellschaftsbilder, an den bürgerlichen Familienroman, besonders an die intimen Heimatwirkungen und das tiefe Naturerleben in der Lyrik, aber auch an die dem Konkreten und Humanen so nahe philosophische Erkenntnis-, Moral-, Gesellschafts- und Staatslehre. Die Auswahl der behandelten Einzelwerke war natürlich bei einer der reichsten europäischen Literaturen nicht leicht und muß oft als subjektiv gelten, wobei dies Subjektive aber gerade die Persönlichkeit und Stellungnahme des Verfassers durchscheinen läßt. Wenn auch philosophische, soziologische Themen und sogar ein naturwissenschaftlicher Gegenstand wie Darwins Hauptwerk mit eingeschlossen wurden, so geschah es natürlich nicht unter fachlichen Gesichtspunkten, sondern um des allgemeinen Repräsentationswertes für die Geistesgeschichte und um des Formwertes willen, die diese Abhandlungen zu dem Rang literarischer Kunstwerke erheben. Die Literaturgeschichte schildert die Fülle der Erscheinungen, Daten, Motive, Strömungen, kann aber dem, der nicht unmittelbare Anschauung aus der Kenntnis der Einzelwerke zur Verfügung hat — zumal bei dem heutigen Mangel an Originaltexten —, oft nicht viel mehr als fertige Urteile darbieten; die Philosophiegeschichte geht dem übernationalen Fortschritt der Ideen nach und ist an der nationalen Ausprägung und ihrer Wirkung auf eine Volkshaltung nicht interessiert. Gerade in England, dem Lande des Empirismus, der Konkretisierung, der Abneigung gegen Systeme und Theorien, steckt ein gut Teil des eigentlichen Denkens in der Dichtung; das meint Coleridge mit seiner Bemerkung, ein großer Dichter müsse immer auch ein großer Philosoph sein. Was hier geboten wird, will nicht Literaturgeschichte sein, sondern Veranschaulichung am Beispiel, am Text im vollen Bezug seines „Werk"-Charakters, also eine Art Begleit- oder Bilderbuch zur Literaturgeschichte. Es wendet sich nicht nur an die Jünger der Fachwissenschaft, denen eine Einführung willkommen sein mag, sondern namentlich auch an den weiteren Kreis der um eine tiefere Begegnung mit englischer Geistigkeit bemühten Literatur-
Vorwort
IX
freunde. Die Textbeispiele werden deshalb fast durchweg neben den Originalfassungen auch in deutschen Nachdichtungen bzw. in deutscher Prosa geboten. Die Nachdichter sind im Anhang genannt. „Meisterwerke" sind ausgewählt worden. Kant nennt einmal das Genie „die angeborene Gemütslage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt", und nach Matthew Arnold müssen zwei Kräfte zusammenwirken, um das bildungsträchtige literarische Meisterwerk zu erzeugen: die Kraft des menschlichen Geistes und die Kraft des Augenblicks. Eine am Text gewonnene Einsicht in den Gehalt und eine Ausweitung auf die geistesgeschichdiche Bedeutung war überall die Absicht, also eine Hinführung zum Verständnis des Werkes, seines Autors und seines Zeitalters; nicht kritische Wertung im literarhistorischen Sinne, sondern Weckung der Freude und Ehrfurcht, vor allem des Verlangens nach eigener Lektüre des Originals, die durch keine Erläuterung ersetzt werden kann. Bei einigen Interpretationen habe ich mich an frühere Veröffentlichungen, in denen ich die methodischen Grundfragen der Schrifttumsdeutung behandelt habe, zum Teil textlich angelehnt. Für seine verständnisvolle Hilfe beim Lesen der Fahnenkorrekturen bin ich Herrn Lektor Dr. Günther Scherer, meinem Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin, zu großem Dank verpflichtet. Berlin-Charlottenburg, im November 1949 W. H ü b n e r
Inhaltsverzeichnis I. Germanentum Das Beowulfepos
i i
II. Vorspiel der Renaissance
21
1. Chaucers Canterbury-Geschichten
21
2. Die alten Balladen
43
Edward 45 • Die zwei Raben 47 • Die grausame Schwester 47 • Herr Patrick Spence 49 • Die Jagd von Chyviat 51 • Robin Hood und der Bischof von Herford 54 • Die Bettlerstochter von Bednall-Green 57 • Das nußbraune Madchen 58
3. Thomas Mores Utopia
61
III. Shakespeare und seine Welt Marlowes Faust Richard II Heinrich IV Der Kaufmann von Venedig Was ihr wollt Julius Cäsar Hamlet König Lear Der Sturm
73 79 89 98 110 120 125 133 148 155
IV. Barock und A u f k l ä r u n g
160
1. Francis Bacons Essays
160
2. Miltons Verlorenes Paradies
170
3. Die Weltbücher von Robinson und Gulliver Daniel Defoes Robinson Crusoe Jonathan Swift, Gullivers Reisen
187 187 199
4. Die Staats-und Gesellschaftslehre: Hobbes, Locke, Burke Hobbes' Leviathan Lockes Abhandlungen über die Regierung Burkes Betrachtungen über die französische Revolution 5. Die Erkenntnis- und Morallehre: David Hume Untersuchung über den menschlichen Verstand Untersuchung über die Prinzipien der Moral
215 : . . . . 217 228 234 242 244 253
6. Die Volkswirtschaftslehre: Adam Smith 257 Untersuchung über das Wesen und den Ursprung des Reichtums der Nationen 261
Inhaltsverzeichnis
V. D i e W i e d e r e n t d e c k u n g der Seele
XI 267
1. Lösung vom Klassizismus Grays Kirchhofselegie Goldsmiths Landprediger von Wakefield Volkslyrik: Robert Burns
267 270 276 283
2. Ältere Romantik: Wordsworth, Coleridge, Scott William Wordsworth
294 295
Verse aus dem Frühlingsanfang 297 • Tintern Abbey 298 • Die einsame Schnitterin 301 • Regenbogengedicht 302 • Unsterblichkeitsode 303 • Narzissen 307 • Westminsterbrücke 308 • A n den Kuckuck 308 • Yarrow 309
Samuel Taylor Coleridge
311
Der alte Matrose 312
Sir Walter Scott
317
Das Herz von Midlothian 318 • Ivanhoe 320 • Kenilworth 322
3. Jüngere Romantik: Byron, Shelley, Keats George Gordon Lord Byron
325 325
Junker Harolds Pilgerfahrt 326 • Manfred 334 • Don Juan 339
Percy Bysshe Shelley
343
A n eine Lerche 345 • Anden Westwind 347 • Wechsel 350 • Der entfesselte Prometheus 352
John Keats
355
Die Grille und das Heimchen 355- Ode auf eine griechische Urne 3 5 6 - Ode an den Herbst 358 • St.-Agnes-Abend 360
Vt. S t r e b e n nach A u s g l e i c h : das „ v i k t o r i a n i s c h e K o m p r o m i ß " 363 1. Lehren und Gegenlehren: Darwin, J . St. Mill, Carlyle, Ruskin . . Charles Darwins Entstehung der Arten John Stuart Mills Abhandlung über die Freiheit Thomas Carlyles Vorlesungen über Helden und Heldenverehrung John Ruskins soziale Botschaft: Diesem Letzten
363 3 67 375 384 397
2. Der Roman: Dickens, Thackeray, Kingsley, George Eliot Charles Dickens
407 408
Ein Weihnachtslied in Prosa 421 • Nicholas Nickleby 429 • Martin Chuzzlewit 432 • Dombey und Sohn 436 • David Copperfield 439
William Makepeace Thackeray
443
Markt der Eitelkeit 444
Charles Kingsley
446
Hypatia 447
George Eliot
449
Silas Marner 450 • Middlemarch 453
3. Die Dichtung: Tennyson, Robert und Elizabeth Browning, die Präraffaeliten 458 Alfred Lord Tennyson 458 Letzte Fahrt 459 • Sacht und lind 460 • Der Reiterangriff von Balaklava 460 • Die Lotosesser 462 • Ulysses 464 • Die Dame von Shalott 464 • In Memoriam A . H. H. 465
XII
Inhaltsverzeichnis
Robert Browning
468
Elizabeth Barrett Browning
473
My Last Duchess 468 • Evelyn Hope 469 • Love among the Ruins 470 • Abt Vogler 471 Inclusions 474 • Sonnets from the Portuguese 474
Dante Gabriel Rossetti
476
The Blessed Damozel 476 • Sister Helen 477
Christina Rossetti
480
Song 480 • Sonette 480
William Morris
481
The Earthly Paradise 482
Algernon Charles Swinburne
485
Eine Ballade vomTraumland 485 • A Child's Laughter 487 • Ein verlassener Garten 487 • By the North Sea 488
VII. N e u e K r ä f t e
489
1. Viktorianischer Ausklang
489
2. Neuaufbau im Roman Das „Lesen der Erde": George Meredith
491 491
Richard Feverels Feuerprobe 493
Heimatkunst: Thomas Hardy
496
Tess of the d'Urbervilles 496
Rückkehr zur Natur: Robert Louis Stevenson
499
Die Schatzinsel 500
Gesellschaftsumschichtung: H. G. Wells und John Galsworthy.. 502 Herbert George Wells 502 Tono-Bungay 503
John Galsworthy
506
Die Forsyte-Saga 507
3. Das Problemdrama: J . Galsworthy und B. Shaw John Galsworthy Kampf 513
Bernard Shaw
511 512 515
Die heilige Johanna j i 6
4. Neurealismus in der Dichtung Francis Thompson
521 521
Der Jagdhund des Himmels 522
John Masefield
523
Die ewige Gnade 523
Die Modernisten
526
Bibliographischer Anhang
529
Namenverzeichnis
533
I. Germanentum Das Beowulfepos Der Eintritt der britischen Inseln in das Licht der Geschichte erfolgte um den Beginn der christlichen Zeitrechnung. Wohl hatten die Mittelmeervölker schon im Altertum eine unbestimmte Kenntnis von ihnen; aber erst seit Cäsars Landung im Jahre 5 5 v. Chr. gibt es Zeugnisse, die ein gesichertes Geschichtsbild ermöglichen. Kelten hatte Cäsar in Gallien unterworfen, und keltische Stämme bewohnten Britannien und hatten den Galliern in ihrem Kampf gegen Rom wohl mancherlei Unterstützung gesandt, so daß hierin der Hauptgrund für die Sicherung liegt, die die Römer bei ihrer Besetzung des Südens der Insel Großbritannien für nötig hielten. Die Kelten selbst waren etwa von 600 bis 400 v. Chr. von Westeuropa aus in die Insel eingedrungen und hatten noch frühere Eindringlinge verdrängt. Sie verloren den wertvollsten Teil des Landes endgültig, als die Römer zu Beginn des 5. Jahrhunderts n. Chr. abzogen und die germanischen Stämme der Angeln, Sachsen und Jüten einfielen. Nur Reste der keltischen Stämme konnten sich in den Berggegenden der Westküste und auf Irland halten, wo sie heute noch sitzen. Die Herrschaft der Angelsachsen dauerte bis 1066, als der Normannenherzog Wilhelm der Eroberer seinem vorgeblichen Thronanspruch durch den Sieg über Harold, den letzten König der Angelsachsen, Geltung verschaffte. Ein paar tausend Jahre lang war also das südliche Großbritannien der Schauplatz einer Reihe von Wellen einander ablösender Völker. Das gemäßigte Klima, die saftigen Weiden und fruchtbaren Felder, die wildreichen Wälder und fischreichen Flüsse, die wertvollen Bodenschätze lockten immer wieder wagemutige Stämme aus dem Norden und Nordosten des Festlandes an. In drei großen nordischen Wellen formte sich schließlich die Uranlage des Volkes: Kelten, Angelsachsen und Normannen. Zur Entfaltung einer Literatur kam es erst ein paar Jahrhunderte nach der ersten Ansiedlung der germanischen Stämme. Ein Schrifttum, das für die Nachwelt greifbar bleibt, setzt die schriftliche Aufzeichnung voraus; was uns aus der vorliterarischen Zeit an mündlich weitergetragenen Kunstübungen bekannt ist — Zauber- und Heilsegen —, sind spärliche Reste. Die Kunst des Schreibens wurde aber erst mit der Einführung des Christentums (597) vermittelt; literarische Zeugnisse besitzen wir seit dem Ende des 7. Jahrhunderts n. Chr. Die Geistlichkeit hatte Verständnis für die heimische Dichtung, weit mehr als im Frankenreich, bediente sich ihrer Sprache und Formkunst für die kirchlichen Stoffe, die sie dem bekehrten Volke zu bieten hatte, und zeichnete auch die im Volke lebendigen weltlichen Stoffe auf. So kam England sehr bald nach der Bekehrung zu seinem Schrifttum, weit früher als die übrigen europäischen Völker; in Deutschland wurden die weltlichen Stoffe und Formen, von der Kirche unterdrückt und durch biblische Gegenstände ersetzt, erst im 12. Jahrhundert buchfähig, also in einer Zeit, die schon einen bewußten Abstand von den altgermanischen Vorstellungen und Gefühlen hatte. In erster Linie waren es die nordenglischen Klöster, in denen die kirchliche und die heimisch-germanische Bildung in einer auf dem Festlande unbekannten Weise zusammenwuchsen. Zwar gingen die Handschriften des Nordens bei dem frühen Untergang des nordhumbrischen Königreichs verloren, das aus innerer Schwäche 1 Die Stimmen der Meister
2
I. Germanentum
in den beständigen Kämpfen gegen die das Land oft heimsuchenden Wikinger zerfiel; sie wurden aber später im Süden neu geschrieben. Alles, was an früher Dichtung germanischen Charakters auf uns gekommen ist, stammt also bis auf ein paar Reste in Runeninschriften aus christlicher Aufzeichnung. Was bedeutet das? Sind damit alle Spuren heidnischen Denkens und Empfindens getilgt oder verfälscht? Der gelehrte Kirchenmann Beda, der in seiner Kirchengeschichte die Bekehrung der Angelsachsen dargestellt hat, berichtet uns, der Papst Gregor der Große habe seinen ersten Missionaren aufgetragen, den Übergang vom Heidentum zum Christentum so leicht wie möglich zu gestalten. Das Alte sollte also nicht zerstört, sondern neu gedeutet werden, damit das Neue als eine natürliche Weiterentwicklung zu Höherem und Besserem erscheinen konnte. Natürlich gab es Eiferer und Bilderstürmer, aber doch auch kluge und maßvolle Hüter der Tradition. Gerade der für das altenglische Schrifttum so bezeichnenden Mischung altheimischer und christlicher Bestandteile verdanken wir den Reichtum an Quellen für die Erkenntnis germanischen Wesens, der insbesondere durch die Bewahrung der alten Versformen und Stilmittel so eindrucksvoll ist. Man hat auch die Frage aufgeworfen, ob wir eine solche Dichtung schon als national, also als den Beginn der englischen Literatur ansprechen dürfen. Sind es nicht im wesentlichen Gegenstände und Empfindungen allgemein-germanischer Art, die die Eroberer vom Kontinent mitbrachten? Spricht nicht die Tatsache, daß bei dem Aufblühen der englischen Literatur im 14. Jahrhundert die angelsächsische Vergangenheit verschüttet und unbekannt war, auch für die Annahme eines völligen Bruches und für Chaucer im wahrsten Sinne als den Vater der englischen Poesie? Steht also das Dichten und Denken der Angelsachsen nicht in demselben Maße als gemeingermanisch noch außerhalb des nationalen Stromes wie etwa die lateinische Literatur in ihrem Verhältnis zu den späteren romanischen Ausprägungen? Gerade dieser Vergleich führt uns zu der richtigen Antwort. Im Gegensatz zu der altrömischen Literatur und ihrer Verwurzelung in der Geschichte des Volkes kennen wir eine einigermaßen einheitliche germanische Dichtkunst nicht. Wenn der skandinavische Norden als ihr eigentlicher Bewahrer angesehen wird, so zeigen uns die buchmäßigen Aufzeichnungen in Deutschland und England, sobald sie auftreten, so entscheidende Besonderheiten, daß der gestaltende Volksgeist sofort greifbar wird. Die germanischen Sprachen waren ja lange vor ihrer buchmäßigen Aufzeichnung weit auseinandergewachsen, und wenn man sich in der Aufhellung der sprachgeschichtlichen Entwicklung längst daran gewöhnt hat, den Ausdruck altenglisch an die Stelle von angelsächsisch zu setzen, so ist das gleiche für das Schrifttum berechtigt; in England fällt für alle Zeitalter die sprachgeschichtliche Periodenbildung viel genauer mit der literarischen zusammen als bei uns. Die Behutsamkeit der Kleriker bei der Aufzeichnung der altenglischen Überlieferung hat uns die Haltung und Stimmung bewahrt, die der Volksgeist in dieser Landschaft geschaffen hat. Die künstlerisch sehr bedeutenden weltlich-lyrischen Klagelieder oder Elegien offenbaren eine schwermütige, grüblerische Stimmung und eine Naturnähe, die der übrigen germanischen Welt fremd ist, wohl aber in der so überaus reichen späteren englischen Naturdichtung weiterlebt. Wenn schon der alte französische Chronist Froissart von den Engländern sagt, sie genössen alle ihre Vergnügungen ernst, so wird uns noch aus dem ersten der großen Weltkriege unsrer Zeit gemeldet, die Franzosen hätten mit Verwunderung die melancholische Note der englischen Soldatenlieder bemerkt. Rauhe Landschaftsbilder bilden in den altenglischen Elegien den Hintergrund für das Leid des Klagenden, der nicht in rein lyrischem Erguß die Stimmung eines Augenblicks wiedergibt, sondern auf die Ganzheit verlorenen Glücks zurückschaut und in diesem Verlust das Walten des Schicksals fühlt. Die Frau klagt
Das Beowulfepos
3
über die Trennung vom Manne, der durch den Tod seines Herrn aus Heimat und Besitz verdrängte Gefolgsmann klagt über entschwundenes Glück, der Seefahrer über die Nöte und Gefahren des wilden Meeres, auf das es ihn doch immer wieder hinaustreibt. Die Hinwendung zu dem Trost in Gott ist die erbauliche Zutat des christlichen Nachdichters; Stoffe und Stimmungen aber sind altes weltliches Gut, das den Gedanken an Nachwirkungen eines weichen, empfindsamen Keltentums nahelegt und von der mythusgefüllten, in Stoffen und Formen oft primitiv-wilden nordischen Edda weitab steht. Die unwirtliche Natur, besonders das Meer, ist dem Angelsachsen Bestimmung und Leidensquelle zugleich, die Entfernung von Gefolgsgenossen und Sippe Anlaß zu sehnsuchtsvoller Rückerinnerung. Diese stimmunggefüllten Stücke rücken die Elegien weit weg von der übrigen germanischen Dichtung, und aus anderen Gattungen wären leicht weitere Beispiele für die von Anfang an erkennbare Eigenart beizubringen, wobei die noch überzeugendere Geschlossenheit der Formkunst nicht einmal eingerechnet ist. Eine durch Herkunft, Volksschicksal und Landschaft geprägte Haltung fühlen wir überall durch die erbauliche Wendung hindurch, die die Geistlichkeit den Stoffen gibt; es ist englisches Gut, der Anfang einer nationalen Literatur mit dem auch später so oft wiederkehrenden Thema von Seefahrt und rauher Meeresstimmung. Die dumpfe Wehmut und Neigung zu klagenden Betrachtungen kennzeichnen auch das Beowulfepos, das größte und eindrucksvollste Beispiel dieser frühen Dichtung. Es ist das einzige uns erhaltene weltliche Heldenepos der gesamten germanischen Welt und schon deshalb von so hoher Bedeutung auch für uns. Im Anfang des 8. Jahrhunderts durch einen Geistlichen an einem Königshof des Nordens aufgezeichnet, ist die umfangreiche Dichtung in einer einzigen, später in dem südlichen Lande der Westsachsen neu gefertigten Handschrift auf uns gekommen. Ein geschichtliches Ereignis steht im Hintergrund, der im Epos wiederholt erwähnte Einfall der in der heutigen südschwedischen Landschaft Götland ansässigen Gauten unter ihrem König Hygelac in das Frankenreich an der Rheinmündung im Anfang des 6. Jahrhunderts, bei dem die Eindringlinge zurückgeworfen wurden. Ein junger Krieger, der Königsneffe Beowulf, soll sich in dem besiegten Heere durch Kraft und Mut ausgezeichnet haben. Diese dunkle Erinnerung übertrug in der Volkssage den Namen auf den Helden, der als der stärkste unter den Männern galt und als entsagungsvoller Kämpfer gegen Teufelsspuk und Trollenwesen dem geistlichen Nacherzähler genehm war. Schauplatz der Handlung ist im ersten Teil des Epos die dänische Insel Seeland, im zweiten das Gautenland. Die Sage ist also offenbar von den Angeln, die, aus der Gegend zwischen Flensburg und Schleswig kommend, den Norden und das nördliche Mittelland von England besiedelten, mitgebracht und dann auf englischem Boden zum Heldenepos gestaltet worden. L Teil. Der Kampf gegen die Moor dämonen HWiET, WE GÄR-DEna in geardagum, Denkwürdiger Taten von Dänenhelden {jgodcyninga Jjrym gefrünon, Ward uns viel fürwahr aus der Vorzeit hü da aefcelingas eilen fremedon I berichtet, (i—3) Wie Könige kühn ihre Kraft erprobten. So beginnt der Dichter, der den Königsmannen seiner Zeit von beispielhaftem Heldentum erzählen will. Ruhmbedeckt ist das dänische Königsgeschlecht der Scyldinge seit seiner Begründung durch den mythischen Scyld, der einst als Knabe aus unbekanntem Lande in einem Boot dem Dänenvolk durch das Meer geschenkt und nach ehrenvoller Regierung, als die Schicksalsstunde kam, in einem reich mit Schätzen beladenen Schiff dem Element zurückgegeben wurde. Ruhmbedeckt war
4
I. Germanentum
auch die Regierung seines Sohnes, der wie der spätere Held des Epos den Namen Beowulf trug. Jetzt lenkt König Hrothgar die Geschicke des Dänenvolkes, ein Sieger in vielen Kämpfen. Er krönt den Glanz seines Hofes durch den Bau einer Halle, der größten, von der die Menschen je gehört haben — der Hirsch, Heorot, wird sie genannt nach dem geweihgeschmückten Giebelzeichen —, in der er mit seinen Mannen beim Klang der Harfe und dem Lied des Sängers festliche Gelage hält und Gaben verteilt. Der tägliche Jubel aber weckt den Zorn eines höllischen Unholds aus Kains verfluchtem Geschlecht, der in den Mooren und Sümpfen der Nachbarschaft haust, Grendel geheißen. In der Nacht schleicht er in die Halle, in der die Krieger nach dem Gelage sorglos ruhen, packt frohlockend dreißig der Degen und schleppt sie in seine Einöde. Wehklagend verfolgen die Kampfgenossen seine Spur, ohne helfen zu können. Die Untat wiederholt sich in jeder Nacht, so daß schließlich die Mannen nach dem Festmahl eine andre Ruhestätte aufsuchen müssen und die Halle zum Schmerz des greisen Königs leer steht. Zwölf Jahre dauert das Leid, die Weisen des Reiches wissen keine Hilfe. Die Kunde von dem Leid der Dänen dringt bis in das Land des Gautenkönigs Hygelac, zu dessen Gefolgsleuten Beowulf gehört. Er entschließt sich zur Hilfe. Dem Vogel gleich streicht das gute Schiff, auf dem er mit vierzehn Gefährten nach Dänemark eilt, durch die Wellen und erreicht die Küste am folgenden Tage. Der Strandwart der Dänen reitet ans Ufer und fragt die Fremdlinge nach Herkunft und Ziel. Als er von ihrer freundlichen Absicht hört, läßt er das Schiff in der Obhut seiner Gefährten und führt die Fremden auf den Weg zur Königshalle. Der Herold Wulfgar meldet dem Herrscher die Ankunft der Gauten. Hrothgar hat ihren Führer Beowulf schon als Knaben gekannt und gehört, er besitze die Kraft von dreißig Männern. Gott hat ihm endlich Hilfe gesandt. Auf des Königs Geheiß betreten die Gäste nach Ablegung der Speere den Festsaal. Beowulf tritt an den Hochsitz, stellt sich vor und erbittet ehrerbietig die Erlaubnis, die Halle Heorot zu säubern. Er habe gehört, daß der Unhold keine Waffen trage; so wolle auch er Schwert und Schild ablegen und nur mit der Faust kämpfen. Solle er aber im Kampfe fallen, so möge Hrothgar den trefflichen Brustharnisch, ein Werk Welands, dem König Hygelac senden. „Man wehrt nicht dem Schicksal." In gnädiger Antwortrede spricht der König von seinem Gram und lädt die Gäste ein, sich zum Gelage niederzusetzen. Festlicher Jubel erfüllt die Halle, hell erklingt des Sängers Lied. Nur Unferth — der „Unfriedenstifter" — bringt einen Mißklang in die Freude des Mahles. Aus Neid auf Beowulfs Ruhm fragt er ihn höhnisch, ob er wohl der Mann dieses Namens sei, der als junger Bursche von Breca, des Beanstan Sohn, in einem siebentägigen Wettschwimmen im Meere geschlagen worden sei; wenn das zuträfe, so verspreche er sich wenig von dem Kampf mit Grendel. Beowulf berichtet ausführlich von dem Abenteuer, bei dem er fünf Nächte lang schwimmend sich der Seeungeheuer mit dem Schwerte habe erwehren müssen. Wohl habe Breca ihn überholt; er aber habe den Gefährten nicht verlassen wollen, sondern sei im Kampf gegen die Untiere, deren neun er töten konnte, weitergeschwommen, bis die wallende Flut die Schwimmer getrennt und ihn selbst an das Gestade der Finnen geworfen habe. Von Unferth habe er nur gehört, daß er seinen eigenen Bruder erschlagen habe; wäre er ein wahrer Held, so hätte der Sumpfunhold wohl nicht so viele Frevel begehen können. Jetzt aber solle er die größere Kraft der Gauten zu spüren bekommen. Das Fest nimmt nach diesem Zwischenfall seinen Fortgang. Des Königs Gemahlin Wealhtheow betritt den Saal, begrüßt die Mannen, reicht dem Gatten den Becher und teilt dann die gefüllten Pokale an die Krieger aus. Sie gibt Beowulf die Ehre einer besonderen Begrüßung und nimmt an der Seite des Königs Platz, froh über das baldige Ende der Not. Das hereinbrechende Dunkel macht dem Festmahl ein Ende.
Das Beowulfepos
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Hrothgar bricht mit seinen Dänen auf, überantwortet dem Gautenführer die Halle u n d sagt ihm reichen Lohn zu, wenn er den Kampf bestehe. Hylde hine t>ä heaf>odèor,
hlèorbolster onfèng eorles andwlitan, ond hine ymb monig snellic sErinc selereste gebeah. Nienig heora f>öhte, f>ast he fcanon scolde eft eardlufan sefre gesecean, fole oJ>öe frèoburh, Jjär he äfeded wses ; ac hie haefdon gefrünen, Jjjet hie ser tö fela mieles in t>iem winsele wseldeaö fornam, Denigea lèode. Ac him Dryhten forgeaf wìgspeda gewiofu, Wedera leodum, fröfor ond fultum,
f>aet hie feond heora
öurh änes craft selfes mihtum.
ealle ofercömon, Söö is gecyfred,
J>aet mihtig God
manna cynnes
wéold wideferhö. — scridan sceadugenga.
Com on wanre niht Sceotend swEfon,
J>ä t>aet hornreced healdan scoldon, ealle büton änum. f>aet waes yldum cül>, l>set hie ne moste, f>ä metod nolde, se s[c]ynsca{>a under sceadu bregdan; —• ac he wraeccende wräfjum on andan bad bolgenmöd beadwa geringes. Da com of more under misthleofmm Grendel gongan, Godes yrre baer; mynte se mänscaöa manna cynnes sumne besyrwan in sele |>äm hean. Wöd under wolcnum tö f>aes t>e he winreced, goldsele gúmena gearwost wisse fsettum fähne. Ne wies f>aet forma slö, I>aet he Hröftgäres häm gesöhte; näifre he on aldordagum ìer ne sijjdan heardran hHe, healdegnas fandl Com i>ä tö recede rinc slöian drèamum bedxled. Duru söna onarn fyrbendum fest, syfjöan he hire folmum (xthr)än ; onbrsed |)ä bealohydig, öä (he ge)bolgen recedes mü{)an. Rafie sefter ¿on [wses, on fägne flör fèond treddode, eode yrremöd; him ligge gelicost leoht Geseah he in recede swefan sibbegedriht
of eagum stöd unfeger. rinca manige, samod setgaedere,
Nun legt sich der Kühne —
das Kissen umfing Des Edlen Antlitz — und um ihn streckte Manch rüstiger Seemann zur Ruhe sich nieZu hoffen wagte der Helden keiner, [der. Daß er wieder schaue die wonnige Heimat, SeinVolk, sein Geburtshaus: erfahren hatten Die Männer ja längst, wie manchen der Dänen Im Weinsaale gewaltsamer Tod Dahingerafft. Doch der Herrgott verlieh Das Gewebe des Kampfglücks den Wettermärkern, Seinen Schirm und Schutz, daß dem schlimmen Feinde Durch des einen Kraft sie alle entrannen Mit des Waltenden Beistand; die Wahrheit ward kund, Daß der mächtige Gott der Menschen Geschlecht Dauernd behütet. — Im Dunkel nahte Der Schattenwandler. Es schliefen die Krieger, Die die Hornhalle behüten sollten, Alle bis auf einen. Den Edlen durfte Der grause Feind, da es Gott nicht zuließ, Nimmer senden ins Nebelreich; Der harrte wachend, dem Wütrich zum Schreck, Voll kühnen Muts dem Kampfe entgegen. Es nahte also, vom Nebel verhüllt, Grendel vom Moore her, der gottverfluchte. Zu würgen dachte der wilde Frevler Die Helden sämtlich im hohen Saale; Unterm Wolkendach schritt er dem Weinhause zu, Bis entgegen ihm glänzte die goldene Halle Mit den bunten Schindeln. Zum Bau des Hrothgar Kam der Elende nicht zum ersten Male, Doch fand er nie in früheren Tagen, Der höllische Wicht, so wackere Helden! So kam zum Hause der heillose Frevler heran. Seinem Faustgriffe wich Die schwere Tür trotz geschmiedeter Riegel; Böses sinnend erbrach er zornig Des Hauses Eingang. Hurtig alsdann Trat der Feind in den Flur, den farbiggemalten, Grimmigen Sinnes; wie glühende Flamme Schoß aus den Augen ein scheußliches Licht. Im Hause sah er der Helden viele Friedlich schlafen, der Freunde Schar,
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I. Germanentum
magorinca hëap. frâ his möd ählög; mynte t>aet hê gedxlde, sèi json dasg atol äglSca änra gehwylces [cwöme, llf wiö lice, {)ä him älumpen waes wistfylle wen. Ne was f>œt wyrd {>ä gen, fcast hë mä moste
manna cynnes
öicgean ofer {>ä niht. fcryöswyö behëold msEg Higeläces, hü se mänscaöa under fergripum gefaran wolde. Në ì>xt se äglSca yldan Jiöhte, ac hë gefëng hraöe forman siöe sliëpendne rinc, slät unwearnum, bät bänlocan, blöd ëdrum dranc, synsnâêdum swealh; sona hxfde unlyfigendes eal gefeormod, fët ond folma. Forö nëar aetstöp, nam fcä mid handa
higei>ïhtigne
rinc on rxste, rxhte togëan[es] fëond mid folme; hê onfëng hrafie inwitfjancum ond wiö earm gesaet. Sona fwet onfunde fyrena hyrde, t>xt hë ne mette middangeardes, eorf>an scëata on eIran men mundgripe märan; hë on möde wearö forht on ferhöe; nò \>y xr fram meahte. Hyge wxs him hinfüs,
wolde on heolster flëon, sëcan dëofla gedrasg ; ne was his drohtoö Jjür swylce hê on ealderdagum iër gemëtte. Gemunde Jm se göda, mœg Higeläces, xfensprxce, üplang ästöd ond him feste wiôfëng; fingras burston; eoten waes ütweard, eorl furfmr stöp. Mynte se miêra, (I>)xr hë meahte swä, widre gewindan ond on weg f>anon flëon on fenhopu ; wiste his fingra geweald on grames gräpum. t>aet se hearmscafja
t>aet wies gëocor siö, tô Heorote âtëahl
Dryhtsele dynede; Denum eallum wearö, ceasterbüendum, cënra gehwylcum, eorlum ealuscerwen. Yrre wiëron bëgen, rëfce renweardas. Reced hlynsode. f>â wscs wundor micel, {>ast se winsele wiöhxfde heafiodëorum, f>xt hë on hrüsan ne fëol,
fëger f o l d b o l d ; innan ond ütan
ac hë f>ass feste wass Irenbendum
Die erlesenen Krieger: da lachte sein Herz. Vor Tag noch hoffte der teuflische Wicht Das Leben aller vom Leibe zu trennen, Da Fülle zum Fraß ihm zu finden glückte. Doch beschlossen war's in des Schicksals Rat, Daß er Menschen nicht wieder morden sollte Nach der heutigen Nacht. Hygelacs Neffe Gab Obacht scharf, wie der arge Schäd'ger Seine bösen Krallen gebrauchen würde. Der Unhold dachte an Aufschub nicht: Mit schnellem Griff einen Schläfer packt' er Als ersten Raub, zerriß ihn eiligst, Biß in den Körper, das Blut in Strömen Schlürfte er ein und schlang gewaltig, Bis des Leblosen Leib verzehrt war Samt Füßen und Armen. Der Feind schritt weiter Und griff mit der Hand nach dem heldenmüt'gen Kämpfer im Bett, seine Klauen spreizend. Doch der Edle war rasch: auf den Arm gestützt Packt' er des tückischen Teufels Rechte. Da merkte der Molch, daß im Mittelgarten Er vormals nimmer gefunden hatte, Im Erdenrunde, bei anderem Manne Eine festere Faust; nun befiel sein Herz Beklemmende Furcht, doch er konnte nicht fort; Er strebte hinaus, sein Versteck zu suchen Bei den üblen Teufeln: die Arbeit heute War anderer Art als in alten Tagen. Uneingedenk nicht der Abendrede War Hygelacs Neffe, er hob sich vom Lager In voller Länge, und fester packt' er, Daß die rauhen Finger des Riesen brachen. Der drängte hinaus, doch dicht auf den Fersen Folgt' ihm der Jüte. Gefloh'n wär' er gerne Zu der Klause im Sumpf, doch die Krallen wüßt' er In des Helden Gewalt. Der Weg war harmvoll, Den der Höllenwicht diesmal nach Heorot gingl Es dröhnte der Saal, die Dänen gerieten, Die Burgbewohner, in bangen Schrecken, Die Recken alle. In rasender Wut Waren beide Kämpfer. Der Bau erkrachte; EinWunder war's, daß die Weinhalle trotzte Dem Toben der Streiter, in Trümmer nicht stürzte, Das funkelnde Haus; doch zu fest war es Innen und außen mit eisernen Klammern
Das Beowulfepos
searofroncum besmifrod. frier fram sylle äbeag medubenc monig mine gefrxge golde geregnad, frier fra graman wunnon. fraes ne wéndon Er witan Scyldinga, fraet hit ä mid gemete manna senig betlic ond bänfäg töbrecan meahte, listum tölücan, nymfre liges fefrm swulge on swafrule. Sweg üp ästäg niwe geneahhe: Norö-Denum stöd atelic egesa, änra gehwylcum frärafreof wealle wöp gehyrdon, gryreleoö galan Godes andsacan, sigelèasne sang, sär wänigean helle hsefton. Heold hine feste se fre manna wses maegene strengest onfrsemdaege frysseslifes. (688—790)
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Geschickt umspannt;
von der Schwelle freilich Wich manche Metbank — melden hört' ich's —, Geziert mit Gold, wo die Zornigen stritten. — So hatten's erwartet die Weisen des Hofes, Daß die herrliche Halle, die horngeschmückte, Kein Sterblicher je zerstören könnte Durch List oder Kraft, wenn nicht qualmender Lohe Umarmung es täte. Ein unerhörtes Lärmen erscholl, und lähmender Schrecken Drang in das Herz den Dänen allen, Die vom Hügel her das Geheul vernahmen, Das grausige Lied, das der Gottesfeind, Der sieglose, sang, beseufzend sein Unheil, Der Hölle Häftling. Es hielt ihn fest Der Mann, der damals die meiste Stärke Von allen besaß im Erdenrunde.
Die Gefährten dringen, um Beowulfs Leben zu schützen, mit den Klingen auf den Erzschelm ein; sie wissen nicht, daß kein Eisen ihm etwas anhaben kann. Beowulf aber hält den Feind, der sich zur Flucht wendet, fest gepackt und reißt ihm den Arm aus der Achsel. Z u Tode verwundet, entflieht der Unhold in seinen Schlupfwinkel. So ist das Werk gelungen, der Festsaal gereinigt, die Trübsal beendet. Als Zeichen seines Sieges legt der Gautenfürst die Klaue Grendels von der Hand bis zur Achsel an der Eingangstür unter dem breiten Dach nieder. Fürsten und Mannen von fern und nah eilen am Morgen herbei, um das Wunderwerk zu sehen und die blutige Spur des Schädlings zu verfolgen bis an den Sumpfsee, der vom Blut des Sterbenden wallt. Sie preisen den Helden und Sieger, ohne aber, wie der Dichter hinzuzufügen nicht linterläßt, den trefflichen Hrothgar herabzusetzen. Als sie auf dem Rückweg vom Grendelmoor nach fröhlichem Wettritt ihre Rosse in ruhige Gangart bringen, stimmt ein Hofsänger ein improvisiertes Preislied auf Beowulf an, in dem er ihn dem berühmtesten Drachenbezwinger Sigemund an die Seite stellt und über Heremod erhebt, der eine große Hoffnung des Volkes gewesen sei, sich aber als grausamer Tyrann verhaßt gemacht habe. Hrothgar begibt sich mit seinen Mannen, die Königin mit ihren Frauen zur Halle. Als der König Grendels Klaue erblickt, dankt er zuerst Gott, dann dem Retter, den er an Sohnes Statt annimmt und reich zu beschenken verspricht. Nun ist Unferth, der Spötter, schweigsam geworden. Die Halle wird gereinigt und geschmückt, das Siegesmahl beginnt. Der König schenkt dem Sieger ein goldgesticktes Wams, einen Helm, eine Brünne, ein kostbares Schwert und dazu acht Rosse mit goldverziertem Geschirr, deren eines den kunstvollen Kriegssattel des Herrschers trägt. Auch Beowulfs Gefährten erhalten Gaben. Der Hofsänger des Dänenkönigs stimmt ein Lied an. Es ist der Sang von dem Überfall der Dänen in der Burg des Friesenkönigs Finn, der im Zusammenhang mit dem uns erhaltenen Bruchstück einer selbständigen Dichtung das vollendetste Beispiel eines germanischen Heldenliedes abgibt, ein Bild des Treueverhältnisses von Gefolgsherr und Gefolgsmann, des blutigen Kampfes zwischen Stammesführern, die durch Heirat Verwandte geworden sind, des tragischen Konflikts zwischen Rachepflicht und geschworenen Eiden, der Freude am Lärm der Schlachten und an herausfordernden Kampfreden, des Drängens einer kampfbereiten Jugend, der
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I. Germanentum
Klagen um die Gefallenen am Scheiterhaufen — alles mit dem Unterton wehmütiger Trauer in der Überzeugung, daß Freude sich immer in Sorge wandeln muß. Ist das Finnbruchstück neben unserm Hildebrandslied das einzige Beispiel des rhapsodischen kurzen Heldenliedes der Germanen, ein Sang voll Lebhaftigkeit und drängender Eile, zur Hälfte aus Reden bestehend, so stimmt der Sänger Hrothgars seine Leier mehr auf weiche Töne, auf malerische Beschreibung und allgemeine Betrachtung über die tragischen Konflikte der Hauptgestalten Hildeburh und Hengest, die uns an die Situation der wichtigsten Handlungsträger im zweiten Teil des Nibelungenliedes gemahnt ; sein Vortrag ist „literarischer" als das wilde alte Lied. Nach dem Vortrag des Sängers nimmt der Festjubel seinen Fortgang. „ . . . Beim herrlichen Mahle floß in Fülle der Wein . . . " Wealhtheow beglückwünscht ihren Gemahl mit Darreichung des Bechers und zeichnet Beowulf durch die Schenkung zweier Armspangen, eines Gewandes und eines kostbaren Halsreifs aus. So geht es mit Jubel und Ehrungen bis zur einbrechenden Nacht, zu der die dänischen Krieger nun wieder sorglos wie früher ihre Ruhestätte in der Halle bereiten, das Unheil nicht ahnend, das ihnen bevorsteht. Denn noch lebt ein Wesen, lifde sefter läjjum, lange I>räge, aefter güöceare; Grendles mödor, ides ägläEcwif yrmfre gemunde, se |>e waeteregesan wunian scolde, cealde streamas, sifcöan Cäin wearö tö ecgbanan ängan brewer, fsederenmiEge. (1257—1263)
Den blutigen Fall des Bösen zu rächen, Den grimmigen Ausgang, Grendels Mutter. Es wurmte die Schmach das scheußliche Weib, Das die Wasserwüste bewohnen mußte, Die kalte Flut, seit Kain verübte Die arge Tat an dem einzigen Bruder, Dem Vatersippen.
Sie bricht in die Halle ein, wird aber entdeckt und von den Kriegern angegriffen. Flüchtend ergreift sie noch den alten Ratgeber und vertrauten Freund des Königs, Aeschere, tötet ihn auf seiner Lagerstätte, packt den ausgerissenen Arm ihres Sohnes und entkommt im Dunkel der Nacht. Der greise König ist außer sich vor Schmerz über den Verlust des treuen Höflings, läßt Beowulf, dem man ein besonderes Nachtquartier angewiesen hatte, zu sich entbieten und setzt ihn von dem leidvollen Nachtgeschehen in Kenntnis. Eine Rächerin in höllischer Gestalt sei da, Grendels Mutter, von der nun neue Fehde drohe. Schon oft hätten Landleute berichtet, es seien zwei gewaltige Wesen durch die Marken geschlichen, ein Mann und ein Weib von übermenschlicher Größe. Die schauerlich-unwirtliche Gegend, in der der Schlupfwinkel des Unholdpaares liegt, weiß der Dichter mit großer Eindruckskraft zu schildern. Hie dygel lond warigead wulfhleofm, windige naessas, frecne fengelad, •flierfyrgenstream under nsessa genipu nijjer gewitefl, flod under foldan. Nis J>£et feor heonon milgemearces, frast se mere standee); ofer l>sem hongiafl hrinde bearwas, wudu wyrtum faest waster oferhelmad. l>ser maeg nihta gehwiem nlflwundor seon, fyr on flode. Nofcsesfrod leofad gumena bearna, I>ast Jjone grund wite. Beah f>e hxdstapa hundum geswenced, heorot hornum trum holdwudu sece, feorran geflymed,
ser he feorh selefl,
Die beiden bewohnten verborgene Winkel, Wo die Wölfe hausen, windige Klippen, das gräuliche Moor, wo des Gießbachs Unterfinsterumnebelten Felsen [Strom verschwindet, In der Erde Schlund. Nur einige Meilen Entfernt von hier ist der furchtbare Sumpf: Darüber hangen bereifte Haine, Die wurzelgefestet das Wasser beschatten. Dort sieht man allnächtlich ein seltsames Wunder. In der Flut ein Feuer; erforscht hat nie Ein Menschenkind dieses Moores Tiefe. Selbst der hornbewehrte Heidebewohner, Der Hirsch, der gehetzt vor den Hunden sich flüchtet Ins belaubte Gehölz, gibt sein Leben eher
Das Beowulfepos
aldor on öfre, xr he in wille, hafelan [beorgan]; nis Jjaet heoru stow! l>onon yögeblond üp ästigeö won tö wolcnum, tonne wind styrejj lad gewidru, roderas reotaö.
od f>a;t lyft drysmafr, (1357—1376)
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Dahin am Gestad', eh sein Haupt er berge Im See, denn dort ist's selten geheuer. In Wirbeln steigt zu den Wolken oft Das Wasser empor, wenn der Wind herantreibt Die leid'gen Gewitter, die Luft sich verdunkelt, Und der Himmel weint.
N u r Beowulf kann helfen, und er ist sofort bereit: „ N e sorga, snotor guma!
Selre biö äEghwsem, |>ast he his freond wrece, f>onne he fela Ore äEghylc sceal ende gebidan [murne. worolde lifes; wyrce se f>e möte dömes Er deaj>e; {»st biö drihtguman unlifgendum aefter seiest. Äris, rices weard, uton hrafje feran, Grendles mägan gang sceawigan. ic hit t>e gehäte: nö he on heim losaf), ne on folman fasern, ne on fyrgenholt, ne on gyfenes grund, gä frier he wille! Dys dögor f>ü gefryld hafa weana gehwylces, swä ic J>e wene tö." (1384—1396)
„Laß fahren den Kummer,
mein kluger Fürst! Würdiger ist's für den wackeren Mann, Den Freund zu rächen, als viel zu klagen. Das Ende des Lebens ist allen gewiß, Drum leiste jeder, solange er kann, Tapfere Tat, daß den toten Helden Der nie verwelkende Nachruhm kröne. Auf, auf, mein Gebieter! Laß eilig uns folgen Der Spur des Weibs; ich verspreche dir's: Nicht im Schlünde der Flut, noch im Schoß der Erde, Noch im Waldesdickicht entwischt sie mir, Wohin sie auch flüchte. Ich hoffe, geduldig Trägst du den Harm noch am heutigen
A n der Spitze seiner Krieger reitet der K ö n i g hinaus in die Wildnis, der Spur der Unholdin folgend, über steile Abhänge, durch enge Pfade, an Behausungen der Wassertiere vorbei bis in das freudlose Gehölz, w o die Bäume über dem grauen Felsgestein hängen und das Wasser unter ihnen trübe und blutig steht. Entsetzen ergreift die Dänen, als sie Aescheres Haupt auf einer Klippe erblicken. Man läßt sich am Rande des Sees nieder, auf dem Schlangen und Drachen ihr Wesen treiben. D i e riesigen Robben am Ufer stürzen wütend davon, als des Schlachthorns gellender T o n erschallt und Held Beowulf eine v o n ihnen mit einem Bogenschuß erlegt. Mit zwei hakenbesetzten Eberspießen ziehen die Mannen das Tier ans Land und bestaunen den grausigen Wicht. N u n legt Beowulf seine Rüstung an. Unferth kennt keinen Hohn mehr wie am Tage zuvor; da er selbst den K a m p f nicht wagt, leiht er dem Gauten sein treffliches Schwert Hrunting. Beowulf empfiehlt seine treuen Gefährten der Huld des Königs, falls der K a m p f ihn dahinraffe; die kostbaren Gaben möge man dem Hygelac senden, sein altes Schwert dem Unferth überlassen. Ohne die Gegenrede des Herrschers abzuwarten, taucht Beowulf tief hinab in die Flut, bis er den Grund erreicht. Das Meerweib stürzt ihm entgegen, packt ihn mit schrecklichem Griff und schleppt den wehrlosen, aber durch den guten Panzer geschützten Kämpfer, der von Wasserungetümen belästigt wird, in ihre Behausung, ein durch ein Feuer erhelltes Gewölbe, in das das Wasser nicht dringt. N u n erkennt er das scheußliche Moorweib, die Wölfin des Sumpfes, mit der er sich sofort auf Leben und T o d messen muß. E i n kraftvoller Schwertschlag gegen ihr Haupt versagt, er wirft das Schwert weg, packt sie bei der Schulter und wirft sie zu Boden. E s gelingt ihr aber, sich aufzurichten und Beowulf zu Fall zu bringen. D e m Stoß des Messers widersteht sein guter Panzer. In höchster N o t erblickt er an der Wand ein altes Riesenschwert. E r ergreift es und erschlägt die unheimliche
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I. Germanentum
Gegnerin mit mächtigem Streiche. Froh seines Sieges, hält er in der Höhle Umschau; er sieht den toten Grendel, dem er mit dem Riesenschwert das Haupt vom Rumpfe trennt. Inzwischen haben Hrothgar und seine Mannen bemerkt, daß das Wasser des Sees sich vom Blute färbt. Sie fürchten, daß der Held erschlagen sei, und am Nachmittag kehrt der König mit seinen Dänen bekümmert nach Hause zurück. Nur die Gauten bleiben, selbst kaum noch auf die Rückkehr des Tapferen rechnend. Der aber vollendet noch schnell sein Werk: das Schwert schmilzt von dem heißen Blut des dämonischen Wesens wie ein Eiszapfen dahin. Er nimmt Grendels Haupt und den Griff des Riesenschwertes an sich und taucht wieder auf an die Wasseroberfläche. Jubelnd eilen ihm die Genossen entgegen, danken Gott, nehmen dem Sieggekrönten Helm und Panzer ab und machen sich mit ihm auf den Heimweg. Vier Männer können nur mit Mühe Grendels Haupt auf dem Speere bis in die Königshalle tragen, ein grausiger Anblick für die Krieger und die Königin. Beowulf erstattet dem Herrscher Bericht über seine Erlebnisse und überreicht den goldenen Schwertgriff, auf dem der Kampf der Giganten mit Gott dargestellt und der Name des ersten Besitzers in Runenschrift eingegraben ist. Hrothgar nimmt das Wort zu einer langen Rede voller Mahnungen und moralischer Betrachtungen. Der junge Held solle stets Kraft und Weisheit vereinen, seinen Leuten ein treuer Helfer sein und nicht dem Beispiel Heremods folgen, den Gott über alle Menschen erhöhte, der sich aber dann als blutdürstiger Tyrann erwies und schließlich durch Vereinsamung und Verbannung seinen Lohn erhielt. Gottes Gnade macht gar oft einen Menschen zum Mächtigsten der Erde. Das bringt Segen und Erfolg, bis schließlich der Übermut wächst und der Mensch unter den Lockungen des Teufels habgierig wird, die schuldige Freigebigkeit vergißt, alt und gebrochen stirbt und nicht mehr erlebt, wie ein leichtsinniger Erbe die von dem Vater gesammelten Schätze vergeudet. Vor Übermut solle sich Beowulf immer hüten. Noch stehe er in der Fülle der Kraft; die Zeit aber werde kommen, wo Krankheit und Altersschwäche schließlich das Ende bringen. Er selbst, der König, habe in langer Regierungszeit sein Volk kraftvoll schützen können und gemeint, keinen Gegner zu haben, bis dann durch Grendel die Leidenszeit anbrach. Nun aber könne er beim Anblick des vor ihm liegenden blutigen Hauptes nur sein Dankgebet zum Himmel senden. Die Freuden des Mahles vereinen Dänen und Gauten bis zur sinkenden Nacht. Bei Tagesanbruch rüsten sich die Gauten zur Heimfahrt. Beowulf gibt dem Unferth das Schwert Hrunting mit Dankworten zurück und macht dem König seinen Abschiedsbesuch. Er dankt für die ehrenvolle Aufnahme und bietet seine Hilfe für jede künftige Not der Bedrohung an; auch sein König Hygelac werde zu Rat und Tat immer bereit sein. Sollte Hrothgars Sohn Hrethric an den Hof der Gauten kommen, so werde er dort Freunde finden. Wohlwollend lobt der König die bei einem jungen Mann nicht alltägliche Klugheit solcher Worte; Hygelac könne sich keinen besseren Thronerben wünschen, wenn er einmal aus dem Leben scheiden müsse. Der Herrscher überreicht dem Scheidenden Kleinodien, wünscht ihm Glück für die Fahrt, umarmt und küßt ihn unter Tränen; er kann seine Bewegung nicht mehr meistern. Das weitbauchige Schiff, beladen mit den reichen Gaben des Dänenfürsten, gelangt in flotter Fahrt in das heimatliche Gautenland, wo die Ankömmlinge nach kurzer Begrüßung durch den Hafenwart sogleich die Nähe der Königsburg aufsuchen, in der Hygelac mit seiner jugendlichen, klugen, hochsinnigen Gemahlin Hygd thront. Wie ganz anders war doch die stolze Modthryth einstmals, wie tückisch und gewalttätig! Kein Tapferer wagte das Auge auf sie zu werfen, weil es ihm sogleich Fesseln und Tod gebracht hätte. Es ist gegen alle Sitte, wenn eine Frau, und sei sie noch so schön, wegen vermeintlicher Kränkung einem ehrlichen Manne das Leben nimmt. Als die edel-
Das Beowulfepos
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geborene Frau dann aber die Gattin des Angelnkönigs Offa wurde, ließ sie ab von ihren Gewalttaten, übte Wohltätigkeit und konnte sich eines langen, zufriedenen Lebens an der Seite des weisen und kampferprobten Fürsten erfreuen. Es ist Nachmittag, als die Heimgekehrten über das weite, sandige Gestade zur Burg schreiten, wo Beowulf den König ehrerbietig begrüßt und neben ihm Platz nimmt. Die junge Königin reicht den Leuten mit freudigem Zuspruch den Metbecher. Hygelac erbittet Bericht. Lange genug habe er gebangt, oft genug habe er von dem Unternehmen abgeraten. Nun aber freue er sich, den jungen Helden gesund vor sich zu sehen. Dieser erwähnt nur ganz kurz den Sieg über Grendel und die Befreiung der Dänen, nennt aber ausdrücklich die Ehrungen durch den Dänenkönig und seine Gattin. Auch die Königstochter Freawaru habe Trank und Kostbarkeiten gespendet. Durch ihr Verlöbnis mit Ingeld, dem heiteren Sohn des Heathobardenherrschers Froda, wünschte Hrothgar die endlosen Feindseligkeiten zu beenden. Aber kann, so fragt Beowulf, wirklich eine solche alte Fehde durch Verlöbnis und Heirat zur Ruhe kommen? Die Freundschaft zwischen den Heathobarden und Dänen dürfte kaum aufrichtig, der Friede kaum von langer Dauer sein. Nach dieser Abschweifung kehrt der Berichterstatter zu seinem Gegenstand zurück; mit breiter Ausführlichkeit wird uns der Kampf gegen die beiden Sumpfungeheuer noch einmal vorgeführt Auf das Geheiß des Helden werden nun die Gaben in den Saal gebracht: Banner, Helm, Brustpanzer, das stattliche Schwert, vier apfelgraue Rosse. Das alles überreicht der Grendelsieger seinem König als Geschenk. Der Königin Hygd bietet er den prächtigen Halsreif, Wealhtheows Gabe, und drei schlanke Rosse mit kostbaren Sätteln. So krönt Beowulf seine Tapferkeit durch menschliche Tugenden, anders als jener jähzornige Heremod. König Hygelac lohnt es seinem treuen Gefolgsmann durch Überreichung des schönsten Schwertes im Gautenland und durch die Schenkung eines Hauses mit Hochsitz und 7000 Hufen Land. II. T e i l . D e r D r a c h e n k a m p f . Hygelac und sein Sohn Heardred sind in Friesland im Kampf mit den Schweden gefallen, Beowulf ist Herrscher der Gauten geworden. Fünfzig Jahre lang hat er glücklich regiert, als plötzlich Unheil in das Reich einbricht. Ein flüchtiger Knecht suchte einmal Schutz in einer Höhle, in der ein Drache einen kostbaren Schatz hütete. Der Sprößling einer edlen Sippe hatte in grauer Vorzeit diesen Schatz in die Höhle gebracht, um ihn für den eigenen Genuß zu sichern. Als er vereinsamt und ohne Nachkommen starb, fand ein feuerspeiender Drache Zugang zu der Höhle; er blieb als Hüter des gewaltigen Hortes, ohne von seinem Besitz einen Nutzen zu haben. 3000 Jahre sind schon vergangen, und jetzt wird er während des Schlafes beraubt 1 Er entdeckt die Fußspur des Eindringlings, kann ihn selbst, als er wütend hinausstürzt, nicht finden. In der Nacht beginnt er das Rachewerk, das er sich ausgesonnen hat. Feuerspeiend entfacht er Brand ringsumher in den Gehöften der Landbewohner. Vor Tagesanbruch kehrt er in seine Höhle zurück, in den Nächten wütet er weiter. Auch Beowulfs herrlicher Wohnsitz wird ein Opfer der Flammen. Trauernd fragt der alte Fürst, ob er etwa den Zorn des Himmels durch Übertretung göttlicher Gebote auf sich gezogen habe. Dann aber beschließt er den Kampf gegen den Unhold. Allein, ohne die Hilfe seiner Mannen, will er den Drachen angreifen, nur durch einen eigens hierzu gefertigten eisernen Schild gedeckt, da ja der hölzerne gegen das Feuer des Untiers nicht schützen kann. Mit elf Gefährten zieht er zum Drachenkampf aus. Der unglückselige Knecht, der Urheber des Unheils, der ihm den geraubten Becher überbracht hat, muß jetzt gegen seinen Willen mit hinaus, um den Weg zu zeigen. Am Meeresstrand wird haltge-
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I. Germanentum
macht. Der greise Fürst, düsterer Ahnungen voll, entbietet seinen Getreuen einen Scheidegruß und läßt sein Leben noch einmal an seinem Auge vorüberziehen. Seiner Kindheit gedenkt er, die ihn mit sieben Jahren an den Hof seines königlichen Großvaters Hrethel führte, ebenso geliebt wie die Königsöhne selbst, Herebald, Haethcyn und Hygelac. Haethcyn tötete aus Ungeschick durch einen Pfeil den ältesten Bruder; der Gram brach dem Vater das Herz. Der neue König fiel durch das Schwert des Schwedenkönigs Ongentheow, der das Gautenland durch seine Söhne heimsuchen ließ, auf einem Rachezug der Gauten dann selbst kämpfen mußte und schließlich den Tod fand. Nach diesen Fehden war Hygelac Herrscher der Gauten, und nunmehr ist es schon seit mehr als fünfzig Jahren Beowulf. Immer hat er im Kampf in vorderster Linie gestanden; so will er nun als alter Kämpfer die Fehde für sein Volk bestehen. Keinen Fußbreit will er weichen, sondern bis zum letzten Hauch seinen Mann stehen, wie es das Schicksal bestimmt. Die Gefährten sollen zurückbleiben und abwarten. Aus der Höhle, der der König sich nähert, flutet feurige Lohe, die den Eintritt verwehrt. Mit lauter Stimme ruft er hinein. Der Drache stürzt wutentbrannt heraus, heißen Atem ausströmend, die Erde erzittert, Schrecken erfaßt beide Gegner, als sie sich mit den Augen messen. Aber mutig steht der Gautenfürst mit gezücktem Schwert und erhobenem Schild, als das Untier sich zusammenringelt, um feuerspeiend heranzuschießen. Ein kräftiger Schwertschlag gegen die harten Knochen versagt, reizt aber den Drachen zu verstärktem Feuer. Der erste Angriff Beowulfs ist mißlungen. Bald beginnt der neue Gang. Das Feuer läßt den mutigen Kämpfer schwer leiden; die Begleitmannen flüchten vor so gefährlicher Glut in den Wald. Nur einer bleibt zurück, von banger Sorge um den bedrängten Herrn erfüllt: Wiglaf, Weohstans Sohn, aus dem Fürstengeschlecht der Waegmundinge. Er ergreift Schild und Schwert, macht den Genossen, die doch beim Biergelage im Festsaal stets ihrem Herrn zum Dank für seine Gaben Beistand in Gefahr gelobt hätten und nun versagten, ernste Vorwürfe und eilt allein durch den tödlichen Qualm an die Seite des Kämpfenden, dem er aufmunternde Worte zuruft. Schon holt der Drache zum neuen Angriff" aus. Der Schild des Jünglings verbrennt. Ein starker Schlag Beowulfs auf den Kopf des Drachen läßt Naegling, das gute Schwert, zersplittern; den wuchtigen Schwung seiner starken Hand hält auch das beste Schwert nicht aus. Zum dritten Mal greift das Untier an, packt den Helden am Hals, bis das Blut in Strömen herausstürzt. Jetzt ist Wiglafs Augenblick gekommen. Seine Hand ist in der Feuerglut verbrannt. Aber er kann dem Drachen an einer tieferen Körperstelle das Schwert in den Leib stoßen, so daß die Glut erlischt. Beowulf kann wieder Atem schöpfen und zerteilt den Wurm in der Mitte mit einem Dolch. Wiglaf hat den entscheidenden Streich geführt, der König gibt den Fangstoß, den letzten Schlag gegen den unheimlichen Gegner. Es sollte aber der letzte Sieg des alten Königs sein. Die Halswunde brennt und schwillt, in der Brust wirkt das Gift, er fühlt das Ende nahen. Der treue Wiglaf löst ihm den Helm und labt ihn mit Wasser. Den Sterbenden schmerzt der Gedanke, keinen Sohn und Erben zu haben. Er bittet den Gefährten, das goldene Geschmeide und die kostbaren Waffen aus der Höhle zu holen, altes Werk der Riesen, dessen Glanzstück ein wunderbares goldenes Banner ist. Der Todwunde schaut auf die Schätze, dankt Gott für diese letzte Freude und empfiehlt den Überlebenden die Sorge für sein Volk. Man solle seinen Leichnam verbrennen und auf einem Hügel ein ragendes Denkmal errichten, auf einem Vorgebirge am Walfischkap, das die Schiffer dann Beowulfsberg nennen werden. Ein letztes Wort noch an Wiglaf, eine Erinnerung an ihre gemeinsamen Ahnen; dann entweicht die Seele der Brust des Helden, um die Herrlichkeit der Gerechten aufzusuchen.
Das Beowulfepos
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Schamerfüllt nahen sich jetzt die zehn pflichtvergessenen Gefährten der Stätte, wo Wiglaf sich vergeblich bemüht, den Herrn durch Besprengen mit Wasser ins Leben zurückzurufen. Er hält gramvoll den Feiglingen ihren Undank vor. Sie werden ihre Güter verlieren, wenn den Edlingen daheim ihr Verhalten bekannt wird; denn „dem Edelgeborenen ist lieber der Tod als ein Leben voll Schande". Ein Bote wird in die Burg gesandt. Er meldet den Ausgang des Kampfes in langer Ansprache. Man müsse auf kriegerische Zeiten gefaßt sein, sobald die Franken und Friesen Beowulfs Ende erführen, da ja beide Stämme seit Hygelacs Zug an den Niederrhein Haß und Feindschaft gegen die Gauten nährten. Auch von den Schweden sei nichts Gutes zu erwarten. Was Beowulf in seiner Abschiedsrede schon angedeutet hat, wird nun ausführlicher erzählt: die Kämpfe zur Zeit des alten Schwedenkönigs Ongentheow, die Schlacht am Rabenholze. Bisher habe der Ruf des toten Herrschers die Gefahren gebannt, jetzt aber müsse man der Zukunft mit Sorge entgegensehen. Noch einmal sollen die Mannen den toten Helden sehen und ihn dann mit dem so teuer erkauften Schatz dem Scheiterhaufen übergeben. Künftig aber wird Trauer sein. Gar mancher wird ins fremde Land, ins Elend wandern, gar mancher wird den kalten Speer ergreifen müssen; nicht der Harfe Klang wird die Degen erwecken, „nur der dunkle Rabe krächzt über Leichen und kündet dem Adler vom erwünschten Fraß, den der Wolf mit ihm teilte". Man zieht hinaus zur Adlerklippe, wo der tote König und der versengte Leichnam des Drachen liegen inmitten der Krüge, Becher, Schwerter und Schüsseln, die tausend Winter im Schoß der Erde ruhten. Der Fluch an dem Hort hat sich erfüllt. Wiglaf entbietet die letzten Grüße des Gefallenen, läßt die Bahre bereiten und Brandholz herbeischaffen. Er selbst holt mit zwei Helfern den Rest der Kostbarkeiten aus der Höhle. Der Drachenleib wird über die Klippe ins Wasser gestoßen, der tote Herrscher zur Walfischklippe getragen. Dort richtet man den Scheiterhaufen, der mit Schilden, Panzern und Helmen behängt wird. Alegdon öä tömiddes mäErne fieoden hasleö hlofende, hläford leofne. Ongunnon f>ä on beorge bSlfyra miest wigend weccan;
wud(u)rec ästäh
sweart ofer swioöole, swögende leg wöpe bewunden — windblond gelseg —, od f>aet he öä bänhüs gebrocen hasfde hat on hredre. Higum unröte mödceare msendon, mondryhtnes cw(e)alm; swylce giömorgyd (s)io g(eö)meowle (aefter Biowulfe b)undenheorde (song) sorgcearig, siede geneahhe, t>aet hlo hyre (hearmda)gas hearde (ondre)de, wselfylla worn, (wigen)des egesan, hy[n]öo (ond) h(seftny)d. Geworhton da hl(sew) on [h]lide,
Heofon rece swe(a)lg. Wedra leode se waes heah ond bräd,
Dann legten sie trauernd den teuren Herrn In des Holzes Mitte, den herrlichen König. Nun ward von den Männern ein mächtiges Feuer Auf dem Berge entfacht, und brauner Qualm, Vom Klagegeschrei der Krieger begleitet, Stieg gekräuselt empor aus der knisternden Lohe In den stillen Äther —, die sterbliche Hülle War hurtig verzehrt von den heißen Gluten. Dann erhoben aufs neu' ob des Herrschers Verlust Ihren Wehruf die Männer; die Witwe auch, Der geschlungene Flechten die Schläfe umkränzten, Beklagte den Gatten, die kummervolle: Ihr schwan' es, sprach sie, von schweren Zeiten, Von Gemetzel und Mord, von mächtiger Feinde Schrecklichem Wüten, von Schmach und Gefängnis. — Nun verflog der Rauch in die Fernen des Himmels. Es wölbten nun der Wettermark Leute
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I. Germanentum
(wi)gliöendum wlde g(e)syne, ond betimbredon on tyn dagum beaduröfes bécn, broncia läfe wealle beworhton,
swä hyt weorölicost
foresnotre men findan mihton. Hi on beorg dydon bég ond siglu, eall swylce hyrsta, swylce on horde xr niöhedige men genumen hasfdon; forleton eorla gestreon eoröan healdan, gold on greote, pxr hit nü gen lifad eldum swä unnyt, swä hi(t 5ro)r wses. {>a ymbe hläw riodan
hildedeore,
sej>elinga bearn, ealra twelfe, woldon (care) cwiöan, [ond] kyning msenan, wordgyd wrecan, ond ymb w(er) sprecan ; eahtodan eorlscipe ond his ellenweorc dugudum démdon, swä hit gede(fe) biö, frset mon his winedryhten wordum herge, ferhöum freoge, f>onne he forò scile of 1 ¡chaman (lEded) weoröan. Swä begnorndon Geata léode hläfordes (hry)re, heorögeneatas ; cwiedon f>set he wie re manna mildust léodum liöost
wyruldcyning[a]
ond mon(dw)ierust, ond lofgeornost. (3141—3182)
Den Hügel am Abhang, gar hoch und breit Und weithin sichtbar den Wogenfahrern. In der Frist von zehn Tagen war fertig das Werk, Des Ruhmreichen Mal. Die Reste des Brandes Umschloß der Wall, so schien es würdig Den weisen Männern. Das weite Grab Nahm auch Ringe und Schmuck und Rüstungen auf, Den ganzen Schatz, den gierige Krieger Dereinst erbeutet: die Erde empfing Das rote Gold — dort ruht es noch jetzt, So unnütz den Menschen, wie's immer gewesen. Dann umritten den Hügel die rüstigen Helden, Der Edlinge zwölf, die nach altem Brauch In Liedern sangen die Leichenklage Und den König priesen. Die kühnen Taten Rühmten sie laut und sein ritterlich Wesen, In Wort und Spruch sein Wirken ehrend In geziemender Weise. Das ziert den Mann, Den geliebten Herrn durch Lob zu erhöh'n In treuem Sinn, wenn des Todes Hand Aus des Leibes Hülle erlöst die Seele. — So klagten jammernd die Krieger der Jüten Um des Brotherrn Heimgang, die Bankgenossen, Der am höchsten stand von den Herrschern der Erde Als gütiger Geber, als gnädigster Fürst, Seinen Recken ein Freund und auf Ruhm nur sinnend'
In fast 3200 Versen wird diese Märe vor uns entrollt, ein Buchepos, nicht mehr wie in den Anfängen v o m Hofdichter — dem Skop oder Schöpfer — frei vorgetragen oder zur Harfe gesungen, sondern von dem Kleriker gelesen; kein echtes Volksepos weltlicher Spielleute wie unser Nibelungen- oder Gudrunlied, wie das französische Rolandslied, keine reichbewegte und in kunstvoller Geschlossenheit zusammengehaltene Fülle wie in den Epen Homers. Der A u f b a u erscheint lose und wenig gegliedert : die beiden A k t e des Dramas, der Grendelkampf des jungen und der Drachenkampf des alten Helden, stehen auf den ersten Blick unverbunden nebeneinander, sind aber doch geeint durch die Person des Helden und die beständigen Rück- oder Ausblicke auf die germanische Welt. Die Erzählung der Haupttaten verrät eine durchaus beabsichtigte Ökonomie des A u f b a u s : zuerst der knapp beschriebene Grendelkampf, dann die eingehendere Schauplatzschilderung des Kampfes mit der Grendelin, schließlich die breit entfaltete Darstellung der Überwindung des übermenschlichen Fabeltieres, das den Hort hütet. Das mehr als die Hälfte der Verse füllende Rankenwerk der Anspielungen und Episoden bringt eine stoffliche Fülle und die immer lebendige Erinnerung an die Heldentaten der Vorfahren, der schlichte und übersichtliche A u f b a u gibt die Ordnung ab. In diesem Rankenwerk erleben wir die Stimmungen und Konflikte der alten Recken und Sippen noch mehr als in der Haupthandlung, die
Das Beowulfepos
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ja um das Abenteuer zweier Trollengeschichten kreist und damit von menschlich erschütternder Tragik nichts zu melden hat. Der geistliche Dichter wollte eben einen Landbefreier, einen Kämpfer gegen Teufelsspuk verherrlichen und damit das Wesen des christlichen Streiters, des Kampfes des Lichtes gegen die Finsternis,leichter unterbauen. Aber er mindert nicht den Wert der sittlichen Ideale des alten Heidentums: Tapferkeit, kalte Begegnung mit dem Tode, Gefolgschaftstreue, Pflicht des Herrschers zu Belohnung und Freigebigkeit, Sippenbewußtsein und Blutrache. Es sind einfache, klar umrissene Charaktere, deren Seelenleben keiner psychologischen Feinkunst bedarf, aber Menschen von erhabenem sittlichem Pathos. Heldentum ist sittliches Ideal. Sein Preis im Liede des Sängers ist nicht schöner Zeitvertreib, sondern immer wiederholte Erinnerung an Beispiele männlicher Tugenden, eines Menschentums von fast übermenschlichen Ausmaßen. Wir hören nichts vom Alltagsleben der Bauern und Fischer, wie so oft in den isländischen Sagas; es ist eine rein aristokratische Welt, von der dies entsagungsvolle Heldentum gefordert wird. Kampf ist die höchste Bewährung des Mannes, der Herrscher ist der Beste; seine Stärke und Gewandtheit des Körpers, sein hoher Sinn und seine Klugheit, seine freigebige Belohnung der Leistung sind Entgelt für Treue und Einsatz. Ic t>ä leode wät ge wiö feond ge wiö freond feste geworhte, seghwies untsele ealde wisan. (1863—1865)
. . . Der schwankende Sinn Ist fremd meinem Volk; in der Freundschaft beständig Und im Hasse zäh, das ist Heldenweise.
Die Frage von Schuld und Sühne beschwert den heidnischen Menschen nicht. Ein übermächtiges Schicksal waltet über ihm, dem er sich zu fügen hat: „Man wehrt nicht dem Schicksal!" Wyrd, die Schicksalsgöttin — das Wort hängt mit dem lateinischen ,verterec, wenden, drehen zusammen —, steht vor dem Drachenkampf schon dräuend hinter Beowulf, Wyrd läßt den ersten Schwertstreich gegen das Untier versagen. Das Leben des Menschen steht unter einem harten Gesetz, das dem einzelnen durch überpersönliche Mächte vorgeschrieben wird. Es ist aber nicht ein blindwaltendes Schicksal, nicht Zufall oder orientalisches Fatum; es ist die Gesetzmäßigkeit der Anlage — „So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen", wie es bei Goethe heißt — und steht im Einklang mit der Persönlichkeit, die aus ihrem Wesen heraus Glück oder Unglück wirken kann. Dem germanischen Schicksalsgedanken haftet nichts von stumpfer Hingabe an das Unabänderliche, nichts von Fatalismus an; die spätere Frage nach der Freiheit oder Unfreiheit des Willens besteht nicht. Der Mensch kann nur seiner Art gemäß handeln, nur nach höchster Entfaltung seiner Veranlagung streben, es gibt kein Entweder-Oder. Deshalb bejaht er sein Schicksal, auch wenn es ihm schwer auf der Seele liegt. Er weiß, daß er seinem persönlichen Gesetz gehorchen muß, also seinem eigenen, nicht jedermanns Schicksal, nicht einem Einmaligen, sondern einem ewigen Werden, das von dem einzelnen dann in das große Weltschicksal — die Wyrd — einmündet. Das ist der letzte Sinn des germanischen Heldenideals: eine nie aufhörende Entfaltung der anlagemäßigen Kräfte in einer sinnvoll angelegten Welt, Untergang im Siege, Durchgang zu einem reicheren, höheren Leben im bewundernden und dankbaren Gedenken späterer Geschlechter. Dies ist der Sinn des Nachruhmes, der des Kämpfers höchstes Ziel ist. So kündet es ein berühmtes Wort der Edda: Besitz stirbt, Sippen sterben, du selbst stirbst wie sie; eins weiß ich, das ewig lebt: des Toten Tatenruhm.
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I. Germanentum
Und ebenso in unserm Epos: Ore seghwylc sceal ende gebidan worolde llfes; wyrce se |>e möte dömes Er deat>e; i>aet biö drihtguman unlifgendum sefter seiest. (1386—1389)
Das Ende des Lebens ist allen gewiß, Drum leiste jeder, solange er kann, Tapfere Tat, daß den toten Helden Der nie verwelkende Nachruhm kröne.
Die feigen Gefährten, die Beowulf in der letzten Not im Stich lassen, haben ihre Ehre und Bestimmung verwirkt, weil ihr Andenken in Schande fortleben wird. Nicht weltliche Ruhmsucht ist gemeint, sondern die Zuversicht eines Weiterlebens des Namens bei späteren Geschlechtern. Das Sippengefühl gipfelt im Ahnendienst, aus dem die Urkräfte quellen. Das Grab soll ein Hügel sein, von dem aus der in eine andre Welt Entrückte Ausschau halten und die Lebenden mahnen kann als kraftspendender Mittelpunkt. Das verpflichtet die Sippe auch zur Rache. Aus diesen Gefühlen werden in der Seele des Helden vor einem gefährlichen Kampf immer wieder die verpflichtenden Bilder der Vorfahren wach, darum hütet er treu das ererbte und kostbar verzierte Schwert. Die Tat allein wird für oder gegen ihn zeugen. Wer sein Leben einsetzt für Dienst und Treue, besiegelt es mit der Seinsgewißheit; Ichbewußtsein und Gemeinschaftsgefühl gehen einen Bund ein, die Person des Fürsten insbesondere ist die zusammenhaltende Kraft. Ein Staatsbewußtsein im Sinne der organisierten Rechtsgemeinschaft, wie es für Rom und die neulateinischen Völker bezeichnend ist, kannte der Germane nicht. Die römische Welt geht vom Staat aus, die germanische von dem freien, führenden Mann; „Sippen-Mann" bedeutet ja das Wort König, englisch ,king', im Gegensatz zu dem lateinischen ,rex', dem „Lenker" einer organisierten Gemeinschaft. Das Ideal der Volksführung war also ganz persönlich empfunden. Diese hohe Ethik hat der christliche Nachdichter unberührt gelassen. Wir hören von dem allgewaltigen Schöpfer und Lenker, von Satan und der Hölle, von Kain, von dem Tage des Gerichts. Der Dichter meldet aber nichts von Christus, dem Kreuz des Erlösers, von Heiligen und ewiger Seligkeit, von Kirche und Messe; kein „Liebet eure Feinde", sondern Wiedervergeltung, die als Recht selbst der Grendelmutter zugestanden wird: er beschränkt sich auf den Gegensatz Gott und Teufel. Grendels Sippe ist aus Kains Geschlecht, neidisch auf das fröhliche Treiben in Heorot, seine grausige Behausung strahlt höllischen Schrecken aus, und auch der feuerspeiende und durch die Luft fliegende Drache zeigt teuflische Eigenschaften. Der seine Mission erfüllende Überwinder des Bösen wird durch Opferbereitschaft Befreier seines Volkes und Vollstrecker des göttlichen Willens. Der Dichter mildert gewiß in den moralisierenden Reden oft genug die Härte der Urgefühle; aber er ist ein Freund des heidnischen Reckentums und läßt den Grundempfindungen ihre sittliche Größe. Darum nimmt er auch keinen Anstoß an den heidnischen Gebräuchen. Die Zerstörung des Leibes durch Leichenverbrennung war gegen das christliche Gebot. Unser geistücher Verfasser aber rührt nicht an der aus neolithischer Zeit stammenden, im Bronzezeitalter ausgebreiteten, ihrem Sinne nach aber bereits verblaßten Sitte, nach der der Leib zerstört werden muß, damit die Seele schneller für Walhall frei werden und mit den in das Grab gelegten Schätzen in das Totenreich enteilen kann. Er malt mit der Freude des Gestalters das Bild aus, den geschmückten Scheiterhaufen, die mächtig lodernde Flamme und den braunen Qualm, die klagende Gattin mit dem Kranz geschlungener Flechten an den Schläfen, die wehklagenden Krieger. Er kennt die zur Vorbereitung auf die Stunde der Bewährung dienende Jagd- und Waffenübung, das Wettrennen und Wettschwimmen, er verweilt mit Behagen bei der Schilderung des Trinkgelages mit seinem feinen Zeremoniell, mit edler Frauensitte, mit Harfenklang und Liedvortrag. Die skandinavische Überlieferung altgermanischen Brauchtums weicht in vielen Einzelzügen ab. Es ist national-angelsächsische Kultur, wie ja auch die melan-
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Das Beowulfepos
cholische, bisweilen geradezu rührselige und moralisierende Grundstimmung englisch und nicht gemeingermanisch ist, englisch wie die Elegien, die Stimmung einer Landschaft des Nebels und der Schwere. Für einen Vortrag von solcher Länge und Massigkeit entwickelten die englischen Buchepiker auch eine andre Form als die nordischen Skalden in den getragenen, oft sangbaren Strophen der eddischen Lieder. Die rhythmisch in zwei Halbversen aufgebaute Langzeile entspricht dem stattlichen Fluß der epischen Beredsamkeit, wobei das Übergreifen des Satzes über die Zeilengrenze die Gefahr der Eintönigkeit bannt und ein wogendes Strömen der Rede ermöglicht. Man spricht von Bogen- oder Hakenstiltechnik. Sie läßt keinen Ruhepunkt, sondern drängt unaufhörlich weiter. Die altenglische Formkunst hebt sich hierdurch deutlich von der unsres Hildebrandsliedes ab, in dem Vers- und Satzbau parallel laufen. Man mag daran denken, daß auch in der ornamentalen Kunst der Bronzezeit die Bewegungsmotive des Kreises und der Spirale den germanischen Formwillen bestimmen und daß Bodenfunde aus späterer Zeit die fortlaufende Wellenlinie, also eine sich immer wieder antreibende Bewegung, als Ausdruck der Dynamik zeigen. Der Charakter des germanischen Verses ist durch die Zahl der Hebungen bestimmt, um die sich die schwachtonigen Silben willkürlich verteilen. Er kennt kein Silbenzählen und ist deshalb auch nicht sangbar im modernen Sinne, sondern von abwechselndem, bald schnellerem, bald langsamerem Gang. Der Stabreim hält die Langzeile als metrische Einheit zusammen, also der Gleichklang des Anfanges der herausgehobenen Worte; völliger Gleichklang bei konsonantischem Anlaut, während die Vokale im Anlaut untereinander staben oder richtiger das in der alten Sprache noch vorhandene, auch der heutigen Sprache des Norddeutschen eigentümliche „Knackgeräusch" bei vokalischem Wortbeginn: Hwast, we Gär-Dena in geardagum I>eodcyninga J>rym gefrünon, hü öä aejjelingas
eilen fremedon!
(1—3)
Denkwürdiger Taten von Dänenhelden Ward uns viel fürwahr aus~der Vorzeit berichtet, Wie Könige kühn ihre Kraft erprobten.
Der Halbvers hat das Grundmaß von zwei langen Takten, die gemäß dem musikalischen Schema der ganzen, halben, Viertel-, Achtel- oder Sechzehntelnote eine schwere, wuchtige oder eine unruhig stürmende Wortfüllung, dazu auch Auftakt haben können; die Silbenzahl, also die Art der Taktfüllung, spielt keine Rolle, die Taktdauer allein gibt Maß und Freiheit:
»1
0
1 r r r1 r r ' 1 r r * i
leof leodcyning (der liebeVolkskönig
longe lange
i>räge Zeit)
- r 1 r r r r 1 r *r 1 r r r r i r » 1 1 gewiton him J)ä feran, (nun brachen sie auf.
flota stille bäd, Das Boot blieb liegen)
- r if r Li* 1 r r * «ir r r i f r ne
sorga snotor guma! (Laß fahren den Kummer,
2 Die Stimmen der Meister
selre biö aeghwsem mein kluger Fürst I)
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I. Germanentum
- r r n ° ir r » » i r r ri r r* *ir r " fcaet he his freond wrece, (Den Freund zu rächen
fjonne he fela als viel zu klagen)
murne
Das ist kein Plauderton, kein harmonisches Gleichmaß, kein Formgefühl der Ruhe und Bändigung wie in romanischer oder mittellateinischer Poesie mit ihren gleichmäßig gezählten Silben, der beherrschten Ruhe, dem gemessenen Dahinströmen; das ist großer Atem, Rhythmus, Steigerung und Erweiterung der Kontraste, Leidenschaft, Unruhe, Pathos. Diese Nachdrucksform kennzeichnet auch die übrigen Stilmittel. Das germanische Epos kennt keine ausführlichen und kunstvollen Gleichnisse, die dem Vortragenden mitten in der Bewegung der Handlung die ruhige Freiheit zu bildhafter Gestaltung belassen, wie es in den homerischen Epen der Fall ist; nur gelegentlich einmal kommt ein ganz kurzer, in ein Wort gedrängter Vergleich vor: Gewät f>ä ofer wsegholm winde gefysed flota fämiheals fugle gelicost. (217—218)
Vom Winde beflügelt durchflog seinen Weg Das Schiff wie ein Vogel, das schaumhalsige.
Also nicht Anschaulichkeit ist das Ziel der Wirkungsmittel, sondern Nachdruck, Nachgestellte Appositionen lassen uns bei dem Schwerpunkt der Aussage verweilen: . . . Ic |>aes wine Deniga, frean Scildinga frinan wille beaga bryttan, swä £>ü bena eart, fieoden mSrne
ymb f>inne siö. (350—353)
Jjier me wiö läöum llcsyrce min heard hondlocen helpe gefremede, beadohrsegl bröden, on breostum lieg golde gegyrwed.
(550—5 5 3)
. . . Den König der Dänen, Den Fürsten der Scyldinge, fragen will ich, Den Brecher der Range, die Bitte erfüllend, Dem edlen Herrscher dein Anliegen meldend. Doch wehrte dem Angriff der Ungeheuer Der harte Harnisch, der handgefügte, Der die Brust umfing, die geflochtene Brünne, Die goldverzierte . . .
Edel, männlich und echt klingt die Klage König Hrothgars um den alten Freund Aeschere, den die Mutter Grendels getötet hat: Hröögär mafrelode, heim Scyldinga: „Ne frin J>ü sefter sieluml Sorh is geniwod Denigea leodum. Dead is iEschere, Yrmenläfes yldra bröf)or, min rünwita ond min riedbora, eaxlgestealla, öonne we on orlege hafelan weredon,
J>onne hniton fef>an,
eoferas cnysedan. Swy(lc) scolde eorl wesen, [sefreling] sergöd, swylc iEschere waes! Wearö him on Heorote tö handbanan wxlgüst wiefre; ic ne wät hwaeder atol jese wlanc eftsidas teah,
\
Der Hüter der Scyldinge, Hrothgar, sagte: „Nicht frage nach Wohlsein, denn frischer Kummer Betraf die Dänen: tot ist Aeschere, Der älteste Bruder des Yrmenlaf, Mein vertrauter Freund, mein treuer Rat, Der stets in der Schlacht an der Schulter mir stand, Wenn's ums Leben ging, die Lanzen sich kreuzten, Die Helme barsten: solch Held sollte sein Der Edlinge jeder, wie Aeschere war! Nun zerriß in Heort ihn ein höllischer Unhold In Weibes Gestalt; ich weiß nicht, wohin Des Fraßes froh sie die Flucht gewendet,
Das Beowulfepos
fylle gefaegnod.
Heo t>ä fashde wrasc,
I>e f>ü gystran niht Grendel cwealdest {mrh hsestne häd heardum clammum, fortan he tö lange leode mine wanode ond wyrde." (1321—1337)
Des Raubes sich rühmend.
Sie rächte blutig, Daß du gestern Nacht Grendel getötet In heißem Kampfe mit hartem Faustgriff, Weil er gar zu lang meiner Leute Schar Mordend gemindert."
Der herbe Staccato-Ton der konkreten, bilderlosen Sprache wirkt überzeugend und erschütternd in dem Munde des alten Herrschers, dem kaum mehr als ein schmerzvolles Stöhnen über die Lippen kommt und dem sofort die Erinnerung an Gespräche mit dem getöteten Berater und an Kampferlebnisse vor die Seele tritt. Es ist ein völlig anderer Bereich der Poesie als der, in dem Homer lebt. Man vergleiche etwa die Szene aus dem 24. Gesang der „Ilias" (469—5 06), in der der Troerkönig Priamus den Achilleus aufsucht, um die Leiche Hektors loszukaufen, und die Hand küßt, die seinen Sohn erschlagen hat: . . . Priamos sprang vom Rossegeschirr auf die Erde, Und den Idaios ließ er daselbst, daß bleibend der Herold Roß und Mäuler bewahrt'; er wandelte grad' in die Wohnung, Dort, wo Achilleus saß, der Göttliche. Jenen daheim nun Fand er; es saßen getrennt die Seinigen; aber allein zween, Held Automedon nur und Alkimos, Sprößling des Ares, Dieneten jenem, gesellt; er ruhete kaum von der Mahlzeit, Satt der Speis und des Tranks, und vor ihm stand noch die Tafel. Jetzo trat unbemerkt der erhabene Greis in die Wohnung, Naht' und umschlang dem Peleiden die Knie' und küßte die Hände, Ach, die entsetzlichen Würger, die viel' der Söhn' ihm gemordet! Wie wenn ein Mann, belastet mit Blutschuld, der in der Heimat Einen Bürger erschlug, zum anderen Volke sich rettet In des Begüterten Haus, und erstaunt ihn jeder betrachtet: Also staunt' Achilleus, den göttlichen Priamos schauend. Auch die anderen staunten und sahn einander ins Antlitz. Aber flehend begann der erhabene Priamos also: .Deines Vaters gedenk, o göttergleicher Achilleus, Sein, des Bejahrten, wie ich, an der traurigen Schwelle des Alters! Und vielleicht, daß jenen auch rings umwohnende Völker Drängen, und niemand ist, ihm Jammer und Weh zu entfernen. Jener indes, so oft er von dir, dem Lebenden, höret, Freut er sich innig im Geist und hofft von Tage zu Tage, Daß er den trautesten Sohn noch seh' heimkehren von Troja. Ich unseliger Mann I die tapfersten Söhn' erzeugt' ich Weit im Troergebiet, und nun ist keiner mir übrig I Fünfzig hatt' ich der Söhn', als Argos' Menge daherzog; Ihrer neunzehn wurden aus einem Schoß mir geboren, Aber die anderen zeugt' ich mit Nebenfrau'n in der Wohnung. Vielen davon zwar löste der stürmende Ares die Glieder; Doch der mein einziger war, der die Stadt und uns alle beschirmte, Den jüngst tötetest au, da er kämpfte den Kampf für die Heimat, Hektor. Drum nun komm' ich herab zu den Schiffen Achaias, Ihn zu erkaufen von dir, und bring' unendliche Lösung. Scheue die Götter demnach, o Peleid', und erbarme dich meiner. Denkend des eigenen Vaters! Ich bin noch werter des Mitleids; Duld' ich doch, was sonst kein sterblicher Erdebewohner: Ach, die die Kinder getötet, die Hand an die Lippe zu drücken 1' 2*
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I. Germanentum
Homer erzählt in epischer Breite den Vorgang mit allen Nebenumständen, mit verdeutlichendem und die Situation steigerndem Gleichnis, mit Schilderung der erhabenen Gestalten, mit Ausmalung der Gefühle des um das Glück seines Alters betrogenen Greises. Es ist ein weicherer, melodischer Legato-Ton, der mehr anschaulich als nachdrucksstark wirkt und die rauhe Herbheit des die Gefühle nach innen drängenden Germanen nicht kennt. Der angelsächsische Dichter ist erfüllt von seinem Gegenstand; er kommt nicht los von ihm, sondern sucht immer eine neue Seite zu beleuchten, drängend und abschwellend wie die Woge des Meeres. Es sind immer die Haupt- und Eigenschaftswörter, nicht die Zeitwörter, ein Zeichen für das gegenständliche, der Sache oder Person und nicht dem Vorgang zugewandte Denken der Germanen. Der französische Literarhistoriker Jusserand hat einmal gesagt, die angelsächsische Dichtung im allgemeinen sei wie die Saone, bei deren Anblick man nicht wisse, nach welcher Richtung sie fließe. Das Urteil ist richtig, wenn nicht die oft drängende Handlung, sondern die schwerblütige, durch Kunstmittel des Verweilens geschilderte Stimmung gemeint ist. Das Hauptformelement der Dichtersprache ist die sogenannte Kenning, die den Hörer zu tätiger Mitarbeit aufruft. Wenn wir Gerstensaft, Rebenblut, Dampfroß sagen, so haben wir die germanische Stilform bewahrt; keine Ablösung des Bildes von der Sache, sondern ein Ineinanderfließen der immer im Bereich des Sinnlich-Konkreten bleibenden Vorstellungen, aus dem der Begriff als Auflösung eines Rätsels gewonnen werden muß: Wogenroß, Seeroß, Wogenhengst für Schiff, Walfischstraße, Schwanenstraße, Segelstraße für Meer, Glutschild Gottes für Sonne, Brusthort für Gemüt, Bierberaubung für Trübsal, den Hort der Rede erschließen für: das Wort ergreifen, die Streitrune lösen für: den Streit beginnen. Der Dichter glaubt dem wichtigen Eindruck nicht genug tun zu können und verweilt bei ihm, um dann an anderen Stellen wieder sprunghaft weiterschreiten zu können und das Dazwischenliegende erraten zu lassen. Grendels unheimliche Annäherung ist erregend, dreimal kurz hintereinander müssen wir sie hören: . . . Com on wanre niht scriöan sceadugenga. Sceotend swsefon. (702) Bä com of möre under misthleofjum Grendel gongan, Godes yrre bser. (710) Com J)ä to recede rinc siöian dreamum bedseled. . . . (720)
. . . Im Dunkel nahte Der Schattenwandler.
Es schliefen die Krieger. Es nahte also, vom Nebel verhüllt, Grendel vom Moore her, der gottverfluchte. So kam zum Hause der heillose Frevler heran.. . .
Grelle Schlaglichter, hastig hingeworfene drastische Züge begleiten das Getümmel der Kämpfe, eine Erinnerung an frühere Vorgänge wird lückenhaft erzählt und dann später verknüpfend ergänzt, Abschweifungen und allgemeine Betrachtungen unterbrechen die Handlung, die dann mit neu aufrüttelnder Wucht wieder einsetzt. Das alles ist ein Stil des Nachdrucks, der Unruhe und Erregung, die sich dem Hörer mitteilt, es ist Leben in den Gestalten und Begebenheiten, eine erhabene Poesie eigener Prägung. Das große Pathos der Vortragsform, in dem glühende Leidenschaft und eine gewisse Schwerfälligkeit sich paaren, entspricht dem stofflichen Gehalt, dem ernstsinnigen heldischen Einsatz, und die dahinter fühlbare Weichheit des altenglischen Gemüts läßt das zunehmende Erlahmen der kriegerischen und politischen Widerstandsfähigkeit ahnen, an dem schließlich das Angelsachsentum gegenüber dem normannischen Ansturm zerbrach.
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II. Vorspiel der Renaissance i. C h a u c e r s
Canterbury-Geschichten
Die Schlacht bei Hastings (1066), in der ihr letzter König fiel, zog den Schlußstrich unter die Herrschaft der Angelsachsen. Die Geschichte der abendländischen Völker bietet kein zweites Beispiel eines so vollständigen Bruches mit der staatlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Vergangenheit. Ein französischer Herzog wurde König, London seine Hauptstadt an Stelle der alten Residenz Winchester, französische Adlige übernahmen den Grundbesitz als Kronlehnsträger, während „sächsische" Herren nur als Aftervasallen zugelassen wurden, alle höheren Berufe kamen in die Hände der Fremden. Das Französische in der Form der normannischen Mundart wurde die Sprache der höheren Kreise, das selbständige alte Kulturleben hörte auf. Die Eroberer brachten eine sich gerade zur Blüte entfaltende ritterliche Dichtung mit, die unter der anfeuernden Wirkung der großen Waffentat um so lebhafter zu blühen begann. An den Hof Heinrichs II. (1154—89), der die geschiedene Gemahlin des französischen Königs geheiratet hatte, kamen nicht nur französische, sondern auch provenzalische Dichter. Eine heimische Volkspoesie lebte zwar weiter, kam aber erst langsam und auch dann nur in Resten wieder ans Tageslicht. Die Eroberung war nicht nur politisch, sondern auch kulturell vollständig; eine ritterliche Kultur trat an die Stelle der altgermanischen. In den Klöstern wurden nur das Lateinische und Französische als Unterrichtssprachen und nur normannische Lehrer zugelassen; das war der heftigste Schlag gegen die Träger der alten Bildung. Es spricht aber für die Gründlichkeit und Tiefe dieser alten Bildung, wenn sie diesen Schlag letzthin doch überwand und ihre Sinnesart in eine spätere Zeit hinüberretten konnte. Aus der Verbindung der normannischen Herzogs- und der englischen Königswürde erwuchs eine natürliche Gegnerschaft; daß einer seiner Vasallen mächtiger wurde als er selbst, konnte dem König von Frankreich nicht gleichgültig bleiben. Auseinandersetzungen waren die Folge. Eine Erweiterung der Herrschaft auf der Insel, etwa eine Ausdehnung auf Schottland, Wales und Irland, konnte vorläufig nicht Ziel der neuen Dynastie sein. In Schottland bildete sich im 11. Jahrhundert ein eigenes Königtum als Zusammenfassung der Stämme, ein Zufluchtsort zahlreicher flüchtiger Angelsachsen nach der Eroberung. Ein kluger Gesellschaftsaufbau beugte in England einer kastenmäßigen Abschüeßung des Adels vor: nur die „Barones majores" gehörten zu dem wichtigsten Regierungsorgan, der „Curia regis", die mit dem Anspruch einer Vertretung der Nation das Erbe des altenglischen Rates der Weisen (Witena gemöt) antrat, während die „Barones minores" an die Seite des städtischen Bürgertums rückten, das aus der Verbindung mit dem Festland wirtschaftlichen Nutzen zog und neben der Feudalgesellschaft an Bedeutung zunahm. Die spätere soziale Scheidung von ,nobility' und ,gentry* wird hier bereits sichtbar. Die Nachfolger Wilhelms des Eroberers verstanden es mit dem staatsbildenden Geschick, das die Normannen auszeichnete, längere Zeit, den Ausgleich der Interessen zwischen dem Inselland und Frankreich sowie zwischen der Krone und den Baronen zu finden, und Heinrich II., der erste Herrscher aus dem Hause Anjou-Plantagenet, betrieb energisch eine Art Imperiumspolitik, bis die Ermordung des Erzbischofs Thomas Becket durch einige Barone einen großen Sieg der Kirche und eine Demütigung des Königs brachte. Seine Söhne zerstörten vollends, was er begonnen hatte. Richard I. Löwenherz, mehr fahrender Ritter als König und in England nur zu kurzen Besuchen anwesend, war nach Sprache und Denkart französisch. Die Willkürherrschaft seines Bruders Johann ohne Land brachte den Streit mit Frankreich zum Austrag, er endete mit dem Verlust der Normandie. Nach einem bald danach erlassenen Gesetz,
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II. Vorspiel der Renaissance
das den gleichzeitigen Grundbesitz in Frankreich und England verbot, mußte sich jeder Adlige entscheiden, ob er Engländer oder Franzose sein wollte. Die führenden Kreise wurden also zu einem ihnen bisher fremden Heimatgefühl in England und an die Seite der eingesessenen Bevölkerung gedrängt. Macaulay hat deshalb die charakterliche und staatsmännische Schwäche Johannes als Segen für England gedeutet, das durch ihn vor dem Schicksal bewahrt blieb, lediglich ein Teil des großen französischen Reiches zu werden, und nun seiner eigentlichen Entfaltung leben konnte. „Hier beginnt", so sagt Macaulay, „die Geschichte der englischen Nation. . . . Zur Zeit Richards I. war das übliche Fluchwort eines normannischen Edelmannes: Daß ich doch ein Engländer würde I Und eine Ablehnung unterstrich er gerne mit der unwilligen Frage: Hältst du mich etwa für einen Engländer? Schon ein Jahrhundert später aber war sein Nachkomme stolz auf den englischen Namen." Walter Scotts Roman „Ivanhoe" (vgl. S. 320) vermittelt ein farbenreiches Bild des Gegensatzes zwischen dem selbstbewußten, grollenden Angelsachsentum und den fremden Herren, zwischen fast feindlichen Völkern auf dem heimischen Boden. Die stärkste Wirkung der nunmehr beginnenden Insularität offenbart sich in der Formung der Sprache, die in ihrem Aufbau und Beziehungsausdruck bis heute germanisch geblieben ist, durch den ungeheuren Zuwachs im Wortschatz aus romanischem Bestand aber einen Mischcharakter gewonnen hat und zu einem Reichtum gelangt ist, der alle uns nahestehenden Sprachen weit übertrifft. Der Verlust der Beugungen und gleichzeitig damit die streng logische Wortordnung scheiden diese neue Sprache von der klanglich farbenreicheren und dynamisch vielgestaltigeren alten. Das anglisierte Französisch war mehr und mehr Schul- und Gesellschaftssprache ohne Zusammenhang mit der Rede des Volkes geworden; es war kein Französisch von Paris mehr, wie es von der Priörin in Chaucers Canterbury-Geschichten heißt. Sprachmischung, Volkwerdung, Erwachen des Nationalgefühls gehen Hand in Hand als wichtigster Vorgang der drei auf die normannische Eroberung folgenden Jahrhunderte. Das Französische verlor an Reinheit, gab aber dafür in der Begriffssphäre sehr viel an das Englische ab. Im 14. Jahrhundert trugen Edwards III. glänzende Siege im ersten Stadium des Hundertjährigen Krieges viel zur Steigerung des Nationalgefühls bei. In den Lateinschulen trat das Englische an die Stelle des Französischen als Unterrichtssprache. Im Jahre 1362 wurde das Englische als Verhandlungssprache vor Gericht eingeführt — das Französische galt bereits als „zu wenig bekannt" — und in demselben Jahre das Parlament mit einer englischen Rede eröffnet. Das war also in der Zeit, als Chaucer auftrat; zur Zeit seines Todes (1400) ist der Kampf der beiden Sprachen im wesentlichen entschieden zugunsten der in ihrer Gestalt gewandelten einheimischen Zunge, die jetzt wieder die Sprache des ganzen Volkes ist. Daß das Anglo-Französische sich daneben noch ein Jahrhundert lang als Umgangssprache der höheren Kreise hielt, ist ohne tiefere Bedeutung. Das Dichten und Denken der Angelsachsen war ernst und schwerblütig, wie uns der Beowulf gezeigt hat. Die Normannen stimmten das Rolandslied an, als sie bei Hastings in die Schlacht zogen; „Der Taillefer sang und schürte das Feuer gut", heißt es in Uhlands bekannter Ballade. Damit ist symbolhaft der Einzug einer neuen Geistigkeit bezeichnet: England wird mit der romanischen Welt verknüpft, südliche Helle und Anmut kommt in die ernste nördliche Düsternis. Nüchterne Klarheit atmet die schmuckarme Sprache des altfranzösischen Rolandsliedes. Die Wortstellung ist trotz noch vorhandener Freiheiten gebunden, die Beiworte und die wenig zahlreichen Metaphern sind einfach-sinnlich wie in der Alltagsrede und nicht rätselhaft wie die germanischen Kenninge, das strahlende Sonnenlicht veranschaulicht die im Kampf funkelnden Waffen wie etwa Rolands gutes Schwert Durandal. Lachend strahlt das Antlitz des kampfbereiten Roland, goldglänzend sind die Sporen und Schilde der
Chaucers Canterbury-Geschichtcn
Ritter, hell fließt das Blut aus den Wunden des sterbenden Olivier. Das Wort hell (altfranzösisch ,cler', englisch ,clear') spielt eine große Rolle im Rolandslied, bei Chrestien de Troyes und dann später bei Chaucer. Ein Mangel an Bildhaftigkeit und rhetorischem Schmuck zeichnet die altfranzösische Dichtersprache aus und offenbart Ruhe und Sachlichkeit des gleichmäßigen epischen Vortrags gegenüber der Sprunghaftigkeit, Episodenfreude und leidenschaftlichen Dynamik des Beowulfdichters. Für das Wesen und den stimmungsmäßigen Hintergrund des großen Geschehens in seiner schweren nordischen Landschaft findet der angelsächsische Dichter zweifellos gewaltigere und packendere Töne als der altfranzösische, etwa bei den bösen Vorzeichen für Rolands Tod. Die Sprache erscheint hier ärmer, schlichter, alltäglicher, dabei aber heiterer und leichter. So tritt uns dann auch das Englisch entgegen, das sich in siegreichem Ringen mit der Sprache der Eroberer neu geformt hat. Es ist eine junge Sprache, die das Angelsächsische ebenso wie das Französische hinter sich gelassen hat und eine reichere Entwicklung vor sich sieht. Der stilformende Einfluß ist wichtiger als die stoffliche Fülle, die aus der romanischen Welt einströmte. Sie erstreckt sich auf epische Stoffe aus der Antike und der keltischen Frühzeit, auf höfische Romane, Versnovellen, auf französisch-provenzalische Lyrik. Es ist für die Verschiedenartigkeit der gesellschaftlichen Struktur sehr bezeichnend, daß in England, wo seit dem 13. Jahrhundert das parlamentarisch mündig werdende Bürgertum mehr und mehr in den Vordergrund rückte, eine lyrische Kunstschule nicht zur Entwicklung kam und daß man auch von einer eigenen höfischen Epik nicht sprechen kann. In einem Streitgedicht aus dem frühen 13. Jahrhundert, das man wohl auf den Gegensatz zwischen der ererbten Kunst und der den französischen Kreisen eigenen Minnedichtung beziehen darf, verfechten die Eule und die Nachtigall die Vorzüge ihres Gesanges: die Eule die ernste Sangesweise, das verantwortungsbewußte Alter, die Beschaulichkeit, die sittliche Schönheit, die Nachtigall demgegenüber den Frohsinn der Welt, die Jugend und Lebenslust. Der Dichter vermag die Frage nicht zu lösen, man will einen Meister Nikolas in Dorset anrufen. Eine Übergangszeit mit spannungsreichen geschichtlichen und geistigen Mächten ringt um die Entscheidung, die in der Wirklichkeit des Lebensgefühls und seines künstlerischen Ausdrucks zugunsten der Jugend ausfällt, wenn sich auch der altgermanische Geist nicht verleugnet. Die Mannigfaltigkeit des Lebens war mit der realistischen Fülle der Motive und der neuen Formen, namentlich der lyrischen Vers- und Strophenformen, auch mit gelegentlich hervorbrechendem Humor, aus der romanischen Welt eingedrungen und mußte eingeschmolzen werden. Mannigfaltigkeit und Fülle aber hat der englische Geist noch auf jedem Gebiet gemeistert; er übernimmt sie nicht einfach mit Preisgabe des Gewesenen, sondern richtet sich selbst neu ein, fügt das ihm Gemäße dem alten Besitz an und gewinnt Kraft zu neuer Größe. Chaucers Jahrhundert, die mittelenglische Blütezeit, bringt Erfüllung und Beginn. Wenn die Engländer ihn selbst den Vater ihrer Dichtkunst nennen, so wird damit die von ihm ausgehende, unmeßbare Wirkung auf die folgenden Jahrhunderte richtig getroffen, wenn auch die Prägung des Ausdrucks aus einer Zeit stammt, die die altenglische Grundlage noch nicht hinreichend zu würdigen vermochte und sie als angelsächsisch von der englischen Literatur abtrennte. Die neue Sprache, die sich nach dem Absterben der schriftsprachlichen Tradition aus altwestsächsischer Zeit in den Mundarten entfaltet hatte, fügte sich im 14. Jahrhundert zu einer Schrift- und Gemeinsprache zusammen, deren Heimat London war, die Hauptstadt mit dem tonangebenden Einfluß des Hofes, der Regierung, des Handels und Verkehrs. Das Englisch der höheren Londoner Kreise galt als vornehm gegenüber der Provinz, es gewann Eingang an den Universitäten Oxford und Cambridge, und es sollte seine
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größte Stütze durch das Werk des Londoners Chaucer finden. Die mit der Abbröckelung der alten französischen Besitzungen immer stärker werdende nationalenglische Gesinnung war der geeignete Boden für eine sich frei entfaltende Literatur. Bei dem ganzen Prozeß der nationalen Einheitsbildung spielte das aufstrebende freie Bürgertum eine entscheidende Rolle, und zwar ein Bürgertum, das nicht nur auf die Städte beschränkt blieb. Ein hinreichender Besitz gewährte den Söhnen bürgerlicher Eltern die Zugehörigkeit zum ritterlichen Stande, und die Abtrennung der Ritterschaft von den Meistbelehnten, den Peers, brachte die jüngeren Söhne in die bürgerlichen Erwerbskreise hinein. So wuchsen in England frühzeitig Besitz und Würde in eigenartiger Weise zusammen zum Vorteil einer einflußreichen und anspruchsvollen Mittelschicht. Die städtischen Gilden, vom Klein- zum Großhandel aufsteigend, wurden eine Macht, die in der wachsenden Bedeutung des Parlaments zum Ausdruck kam und die auch für das geistige Leben tonangebend wurde. Für das Bauerntum war das Wüten des Schwarzen Todes — 1348, mit drei Unterbrechungen bis 1369 — von einschneidender Bedeutung. Das große Sterben verringerte das Arbeitsangebot, die Grundherren gingen vom Ackerbau zu der weniger Arbeiter erfordernden Weidewirtschaft über, es entstand ein Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital, zwischen vagabundierender Armut und Reichtum. In allen Bevölkerungsschichten aber wuchs die Kritik an der römischen Kirche, die sich mit dem in Avignon residierenden Papst im Kriege gegen Frankreich auf die Seite des französischen Königshauses gestellt hatte, in England durch einen anspruchsvollen und üppigen Klerus zum Widerspruch reizte und in ihrem Einfluß mehr und mehr ausgeschaltet wurde. Dabei darf man auch die mit Überwindung der internationalen Scholastik sich herausbildende Verselbständigung nationaler Philosophien nicht übersehen, die in England mit den Denksystemen der drei großen Franziskaner des frühen 14. Jahrhunderts, Duns Scotus, Roger Bacon und William von Occam, zu einer Trennung der Gebiete des Glaubens und Wissens, einer Hinlenkung des Forschens auf die Einzeltatsache, den Gegenstand, und auf der anderen Seite zu einem vertieften religiösen Bedürfnis führte. So war das Jahrhundert ein Zeitalter tiefgreifender Neuerungen und Umschichtungen, energiegeladen, spannungsreich in gesellschaftlicher und geistiger Hinsicht, geeignet für eine Steigerung des Individuums und für die Betätigung schöpferischer Geister. Es war ein Höhepunkt des englischen Mittelalters, der im bürgerlichen Wohlstand, in dem Gepräge eines kunstsinnigen Hofes und in der politischen Geltung Ausdruck fand. London mit seinen engen, aber schon gepflasterten Straßen hatte nach einem großen Brande schon mehrstöckige Steinhäuser mit Dächern aus Ziegeln oder Bleiplatten, hatte sein Kneipenviertel in dem verkehrsreichen Eastcheap, sein wohlhabendes Wohnviertel in dem gesunden Westen, den Stahlhof als Hauptkontor der Hansa, das lebendige Schiffahrtsleben auf der Themse, im April und Mai die Scharen von Pilgern, die am Grabe des heiligen Thomas von Becket in Canterbury beten wollten, seine Geflügel- und Wechselstuben, seine Trödlerläden und Buchhandlungen, Schenken und Eßbuden, geistliche Spiele, Bärenhetzen und auch Stiergefechte; Modeprunk und Wohlleben auf der einen Seite, die Landplage der Taschendiebe, Bettelmönche und Wunderdoktoren auf der anderen. Das Ganze ein buntes, lärmendes Getriebe voller Lebensmut und grober Sinnlichkeit, in das ein realistischer, lebenzugewandter Gestalter wie Chaucer nur hineinzugreifen brauchte. John Wiclif nahm den Kampf gegen das verweltlichte Priestertum auf und wirkte in seiner vorreformatorischen Bewegung mit kommunistisch-christlichen Ideen nachhaltig auf die unteren Volkskreise ein, und Bauernaufstände radikaler Art blieben nicht aus. William Langland griff" in seiner großen Dichtung, den Visionen über Peter den Pflüger, mit tiefem Ernst die Not der Bedrückten auf, besonders der haupt-
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städtischen Armen. Er teilt mit Wiclif die Entrüstung über die Zerrüttung der Kirche und des Klerus, er predigt werktätige Liebe als sichersten Weg zu Gott, er erhöht den geistig armen Menschen und erscheint mit seiner Verinnerlichung des Glaubens und seiner sozialreformerischen Lehre als ein Vorläufer des Puritanismus. Das sind große Ausdrucksformen für wichtige Strömungen. Chaucer aber umfaßt nicht einzelnes, sondern die ganze Fülle seiner Zeit, dringt zu den ewigen Wurzeln des menschlichen Fühlens und Handelns vor und erhebt damit sein Werk zu überzeitlicher, großer Kunst. Er ist uns heute noch viel näher als etwa der sehr viel spätere Pope. G e o f f r e y Chaucer, geboren 1340 oder wenig später, gestorben 1400, gehörte als Sohn eines Weingroßhändlers durch seine Abkunft dem aufsteigenden Bürgertum an. Sein Bildungsgang brachte ihn mit den verschiedensten Volksklassen in Berührung, führte aber mehr und mehr in eine aristokratische Richtung: Besuch einer kostspieligen Schule, Kriegsdienst, Gefangenschaft und Loskauf in Frankreich, Pagendienst bei einer Gräfin und dadurch Berührung mit den Hofkreisen, Heirat mit der Tochter eines flämischen Edelmanns und Ehrendame der Königin, deren Schwester die Gemahlin des einflußreichen Herzogs John of Gaunt wurde, Amt als Oberaufseher der Londoner Hafenzölle und Friedensrichter von Kent, Forstaufseher für einen königlichen Park, sieben diplomatische Missionen in Frankreich, Flandern und Italien, unter Richard II. Verlust der Ämter und Beschränkung auf eine kleine Pension, die unter dem Nachfolger des Königs zu einem größeren Jahresgehalt aufgebessert wurde. Aus dem geschäftigen London stammend, kam er also in nahe Berührung mit den unteren Volksschichten, mit den Handelskreisen, Soldaten, Klerikern, mit der Aristokratie bis zu den eigentlichen Hof kreisen: eine vielseitige Betätigung und Erfahrung, die den unermüdlichen Leser und Beobachter zwischen Bürgertum und Adel stellte und in seltener Weise zu einem Umgang mit den verschiedensten Typen, zu einer Zeichnung und Kritik der Stände, zu einer humorvoll-gütigen Einschätzung der Menschheit und Menschlichkeit befähigte. Seine dichterische Betätigung ist reich an Stoffen und Formen. Er lernte von den Franzosen und Italienern — mit Petrarca wurde er aller Wahrscheinlichkeit nach in Italien persönlich bekannt —, er mischte romanische und antike Stilelemente mit überlegener Leichtigkeit, er spielte souverän mit Anspielungen, Motiven und Sentenzen, er schuf neue Versformen nach dem Muster fremder und wurde damit der Hauptschöpfer der englischen Metrik. Eine kräftige Individualität vereinigt sich mit feinster Empfänglichkeit für fremde Einflüsse und macht die Grazie französischer Sprach- und Verskunst für die englische Dichtersprache nutzbar, ohne die echt englische Wesensart des Dichters zu gefährden. Er unternahm eine Übersetzung des altfranzösischen Rosenromans, des klassischen Werkes der Allegorien und der höfischen Redeweise; die Allegorie wurde die Einkleidung der Jugendwerke. Traumvisionen antik-mittelalterlicher Art sind der Rahmen für das „Buch der Herzogin", ein Trauergedicht auf die Gattin des Herzogs John of Gaunt, für das der jungvermählten Königin dargebrachte „Vogelparlament", für das gedankenreiche, eine geistige Selbstbefreiung kunstvoll gestaltende „Haus der Fama". Die Troilusepisode aus dem trojanischen Krieg, aus der Shakespeare später eine große Liebesparodie mit tragischem Ausgang schuf, gestaltete er nach einem Werk von Boccaccio zu dem durch wirklichkeitsnahe, kontrastreiche und geradezu dramatische Charakterschilderung ausgezeichneten Epos „Troilus und Criseyde", und mit einer letzten Verwendung der allegorischen Traumvision entschädigte er die Freunde oder mehr noch die Freundinnen der höfischen Stilkunst, die ihm das Frauenbild der Criseyde verargten, durch eine Sammlung von Beispielen weiblichen Liebesmärtyrertums, die „Legende von den guten Frauen." Eine große Anzahl kleinerer Werke, die uns bei weitem nicht alle erhalten sind, legt Zeugnis ab von einer nie versiegenden Schöpferkraft. Der krönende Abschluß dieses Lebens voll
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gütig verstehender Menschendeutung ist die großartige Weltdarstellung der „Canterbury-Geschichten" ( C a n t e r b u r y Tales, 1387-1400), eines Rahmenwerkes, das die bedeutendste Erscheinung des englischen Schrifttums vor Shakespeare darstellt und den Dichter zu dem größten Europas am Ende des 14. Jahrhunderts erhob. Wallfahrten zu dem Grabe des heiligen Thomas von Becket, dem Tausende von Gläubigen ihren Dank für Hilfe in Krankheit und Not darbringen wollten, führten in jedem April Scharen von Angehörigen aller Stände nach Chaucers London, und der Dichter mag wohl selbst an einer solchen Wallfahrt teilgenommen haben. Die Stadt lag auf dem nördlichen Themseufer. Das andre Ufer, zu dem die bis tief in das 18. Jahrhundert einzige Brücke hinüberführte, die breite, mit flankierenden Häusern bebaute Londoner Brücke, bot nur vereinzelte und unverbundene Wohnblocks. Nur am Ende der Brücke war eine größere Siedlung entstanden, das sogenannte Südwerk, englisch Southwark, heute noch als Stadtteil so benannt. Von der Brücke ausgehend, zog sich die große Verkehrsstraße nach den Häfen der englischen Südküste, und auf ihr bewegten sich die Pilgerzüge nach Canterbury. Der geräumige Gasthof zum Heroldsrock (Tabard), noch Jahrhunderte später als „Talbot Inn" weit und breit bekannt, war der beliebte Sammelpunkt der Wallfahrer, deren bunte Zusammensetzung nicht bloß das Bild demütiger Frömmigkeit, sondern auch fröhlicher Unterhaltungslust zeigte; boten doch solche Fahrten, deren Anlaß religiös und gesellschaftlich zugleich war, trotz ihrer Beschwerlichkeit und Gefährdung auf der Landstraße vielen eine Art Ersatz für die heutigen Badereisen. Wirtshaus- und Fahrtgemeinschaft ließ alle gesellschaftlichen Rangunterschiede fallen und war so recht geeignet, die Menschen selbst nach Erscheinung, Haltung und Sinnesart hervortreten zu lassen, Würdiges und Lächerliches, Erhabenes und Niedriges nebeneinanderzustellen. Eine solche Gesellschaft, Canterbury-Pilger und Pilger des Lebens zugleich, war Chaucers Vorwurf. Das ist lebens- und kunstvoller als die Gruppe in Boccaccios berühmtem Rahmenwerk „Decamerone", in dem Menschen der gleichen Gesellschaftsklasse auftreten und Geschichten ziemlich gleichmäßigen Charakters erzählen; der Rahmen gehört hier nicht organisch zu der Novellenreihe. Heiter und natürlich, vom Frühlingsduft und von sehnsuchtsvoller Wanderlust durchweht, versetzen uns Chaucers lebendig strömende fünfhebige Reimpaare, die der Dichter in der englischen Poesie heimisch gemacht hat, gleich zu Anfang in die Situation: Whan that Apiille with his shoures soote The droghte of March hath perced to the roote, And bathed every veyne in swich licour Of which vertu engendred is the flour; Whan Zephirus eek with his swete breeth Inspired hath in every holt and heeth The tendre croppes, and the yonge sonne Hath in the Ram his halfe cours y-ronne, And smale foweles maken melodye, That slepen al the nyght with open eye, — So priketh hem Nature in hir corages, — Thanne longen folk to goon on pilgrimages, And palmeres for to seken straunge strondes, To feme halwes, kowthe in sondry londes; And specially, from every shires ende Of Engelond, to Caunturbury they wende, The hooly blisful martir for to seke,
Wenn vom Aprillenregen mild durchdrungen Der Staub des März recht gründlich ist bezwungen Und so von Säften jede Ader schwillt, Daß aus dem Boden Blum' an Blume quillt, Wenn Zephyr dann mit seinem süßen Hauch In Wald und Haide jeden zarten Strauch Durchwehet; wenn der Strahl der jungen Sonnen Zur Hälfte schon dem Widder ist entronnen, Wenn lust'ge Melodie das Vöglein macht, Das offnen Auges schläft die ganze Nacht — So stachelt die Natur es in der Brust — : Dann treibt die Menschen auch die Wanderlust; Wallfahrer ziehen hin zu fernem Strande Zu Heiligen, berühmt in manchem Lande. Besonders sieht man aus den Gauen allen Von England sie nach Canterbury wallen, Dem segensreichen Märtyrer zum Dank,
Chaucers Canterbury-Geschichten
That hem hath holpen whan that they were seeke. Bifil that in that seson on a day, In Southwerk at the Tabard as I lay, Redy to wenden on my pilgrimage To Caunterbury with ful devout corage, At nyght were come into that hostelrye Wei nyne-and-twenty in a compaignye, Of sondry folk, by aventure y-falle In felaweshipe, and pilgrimes were they alle, That toward Caunterbury wolden ryde. The chambres and the stables weren wyde, And wel we weren esed atte beste. And shortly, whan the sonne was to reste, So hadde I spoken with hem everychon, That I was of hir felaweship anon, And made forward erly for to ryse, To take oure way, ther as I yow devyse. (i-34)
Der sie errettet, als sie siech und krank. Da traf sich's um die Zeit an einem Tag, Als ich im ,Heroldsrock' zu Southwark lag, Mit frohem Mut und Gottergebenheit Nach Canterbury hinzuziehn bereit, Daß abends in dasselbe Nachtquartier Verschiedne Leute — neunundzwanzig schier — Einkehrten; Zufall hatte sie gesellt, Auf Pilgerfahrt war aller Sinn gestellt. Zu ziehn gen Canterbury war ihr Wille. Zimmer und Ställe boten Raum die Fülle; Wir konnten beßre Pflege nicht verlangen. Kaum daß die Sonne war zur Rast gegangen, Hatt' ich gesprochen schon mit jedermann: Ich schlösse gern an ihren Zug mich an, Und- morgen früh war' ich bei guter Zeit Zur Reise (die ihr gleich vernehmt) bereit.
Neunundzwanzig Wallfahrer sind also im Wirtshaus eingekehrt. Der Dichter schließt sich ihnen an, und dem fürsorglichen und heitern Wirt — „. . . nahm stattlich gnug sich aus Für einen Marschall im vornehmsten Haus, Von breitem Wuchs, mit steifem Augenpaar; Kein schmuckrer Bürger ist in Chepe fürwahr" — gefällt gerade diese „Kompanei" so gut, daß er die Fahrt mitmachen und sozusagen den Führer spielen will. Sein Vorschlag, es solle jeder auf dem Wege nach Canterbury zur Unterhaltung der anderen zwei Geschichten und auf der Rückreise zwei weitere erzählen, wird gern angenommen. Wer die beste dargeboten hat, soll bei der Heimkehr im „Heroldsrock" mit einem festlichen Abendessen auf Kosten aller Teilnehmer belohnt werden. Den weitschichtigen Plan, der für jeden Fahrtgenossen vier Geschichten vorsah, empfand Chaucer im Laufe der Zeit als undurchführbar. Er scheint sich dann mit der Hälfte begnügt zu haben, und auch hiervon ist nur knapp die Hälfte wirklich ausgeführt worden. Der Dichter hat offenbar sprunghaft gearbeitet, diese oder jene Geschichte sogar schon früher selbständig verfaßt, je nach Neigung diese oder jene Gestalt sprechen, einige gar nicht zu Worte kommen lassen, ein paar Geschichten abgebrochen. So ist uns das große Werk als ein gewaltiger Torso überliefert, in mehreren Handschriftengruppen, die das hohe Interesse der Zeitgenossen bezeugen, aber nicht letztlich geordnet von des Dichters eigener Hand. Die künstlerische Einheit jedoch liegt gar nicht in epischer Glätte und Gliederung, sondern in der Bewegtheit der Typenbilder, die gerade durch Buntartigkeit und Kontrastwirkung der Ermüdung des Lesers vorbeugt; jeder kann etwas nach seinem Geschmack finden, es herrscht dramatische Bewegung. Chaucer selbst ist nicht etwa objektiver Berichterstatter, sondern Mithandelnder, den die Menschen noch mehr interessieren als ihre Berichte; man hört in der ganzen Gesellschaft nicht nur zu, sondern nimmt Stellung zu dem Vorgetragenen. Der Wirt leitet das Ganze und verbindet die Erzählungen durch Kritik und Weisungen. E r ist der Regisseur des Schauspiels — Schauspiel natürlich nur im Hinblick auf die Bewegtheit der Situationen und Charaktere; im Vortrag selbst ist unser Dichter nicht Dramatiker, der nur die Handlung zu bieten hat und in ihr Motive und Wesensanlagen erkennen lassen muß, sondern Erzähler und Schilderer, dem alle Einzelheiten der Erscheinung und Umgebung erwähnenswert sind, wenn sie die Situation beleuchten.
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Der Prolog, ein Glanzstück realistisch-epischer Kunst, führt uns die Gestalten und Motive vor. Alle Gesellschaftsschichten sind vertreten mit Ausnahme der hohen Adelskreise und des niedersten Pöbels. Ein demokratischer Zug unterscheidet Chaucer von Shakespeare. Da ist die Gentry, vertreten durch den standesbewußten Ritter, ein Muster altritterlichen Fühlens, seinen höfisch erzogenen, beständig singenden oder pfeifenden Sohn, der vor Liebesdrang die Nächte mit den Nachtigallen durchwacht, und den behäbigen Gutsherrn, an dessen wohlgedecktem Tisch jeder Gast willkommen ist und der seine Grafschaft als einflußreichster Mann würdig vertritt. Da sind weiter die besonders zahlreichen Angehörigen des geistlichen Standes: die gutherzige, empfindsame Priorin Frau Eglantine, die in ihrer Geziertheit höchst lieblich durch die Nase singt, feine Tafelsitten kennt, gerne Französisch spricht, obwohl sie nur Schulfranzösisch und nicht das Französisch von Paris versteht, und deren Betschnur ein Schloß mit der Aufschrift „Amor vincit omnia" ziert; ihre Begleiter, die zweite Nonne mit ihrem Kaplan und der feiste Mönch, dem Jagd und Schmaus mehr liegen als Klosterregel und Studieren; der muntere Bettelmönch, ein starker Pfeiler seines Ordens, weil er schön reden kann, bei jungen Weibern in Gunst steht, Schenken und Küfer besser als Krüppel und Bettler kennt und bei geringer Pönitenz hohe Spenden einsackt; ein würdiger, kärglich besoldeter, aber mit frommem Christensinn seine Kirchspielherde hütender Landpfarrer; ein eben aus Rom eingetroffener Ablaßkrämer, der sein Gewerbe schwungvoll betreibt, aus einem Stück alten Bettbezuges den Schleier der Maria oder das Segeltuch St. Petri macht und mit Reliquien aus Schweineknochen und anderen Schwindeleien den Leuten das Geld aus der Tasche lockt; sein Freund und Kumpan, der Büttel des geistlichen Gerichts, stets betrunken, mit feuerrotem, krätzigem Gesicht und ungepflegtem Bart, der bei lustigen Burschen für ein Fläschlein Wein fünf gerade sein läßt. Die gelehrten Berufe: auf dürrem Klepper der hohläugige, hagere Oxforder Scholar in fadenscheinigem Rockelor, wißbegierig und moralpredigend; der in den Praktiken seiner Wissenschaft heimische Arzt, der sein an der Pest verdientes Geld liebt und spart; der angesehene, schlaue, in den Rechtsstatuten und Präzedenzfällen bis zu Wilhelm dem Eroberer wohlbewanderte Rechtsanwalt. Die bürgerlichen Vertreter aus Handel, Gewerbe, Handwerk: der wichtigtuende Kaufmann mit Zwickelbart und flämischem Biberhut; der geschäftstüchtige Stiftsschaffner; der cholerische, vertrocknete, nach oben katzbuckelnde und nach unten tretende Verwalter; der kecke, sonnenverbrannte, nicht gerade tugendhafte, aber erfahrene Seemann; der arme Pflüger, redlich sich plackend und hilfsbereit wie sein Bruder, der Pfarrer; der tüchtige und vielseitige Koch; der grobe, schwadronierende, zotenreißende Müller, der mit seinem unaufhörlichen Dudelsackblasen die anderen zum Rasen bringt; ein Weidmann, ein Zimmermann, Hutmacher, Weber, Färber, Tapezier, alles ehrsame, tüchtige Handwerker und würdige Bürger. Und schließlich das humoristische Meisterbild der lebenstüchtigen Frau aus Bath: A good Wif was there of biside Bathe, But she was som-del deef, and that was scathe. Of clooth-making she hadde swich an haunt, She passed hem of Ypres and of Gaunt. In al the parisshe wif ne was ther noon That to the offrynge bifore hire sholde goon; And if ther dide, certeyn so wrooth was she, That she was out of alle charitee. Hir coverchiefs ful fyne weren of ground, — I dorste swere they weyeden ten pound, — That on a Sonday weren upon hir heed.
Ein gutes Weib war da; sie war nicht weit Von Bath; doch etwas taub, das tat mir leid. Als Tuchfabrik war so berühmt ihr Haus, Sie stach am Markte Gent und Cypern aus. Kein Weib im Kirchspiel, die sich unterfing, Daß sie vor ihr zum Messehören ging. Und tat es eine, wurde sie so schlimm, Daß sie der Andacht ganz vergaß vor Grimm. Höchst prächtig saß ihr auf dem Kopf der Bund, Ich schwöre traun, erwog beinahzehn Pfund, Zum mindesten, wie sie ihn sonntags trug.
Chaucers Canterbuty-Geschichten
Hir hosen weren o£ fyn scarlet reed, Ful streite y-teyd, and shoes ful moyste and newe; Boold was hir face, and fair, and reed of hewe. She was a worthy womman al hir lyve, Housbondes at chirche dore she hadde fyve, Withouten oother compaignye in youthe, — But ther-of nedeth nat to speke as nowthe, — And thries hadde she been at Jerusalem; She hadde passed many a straurige strem. At Rome she hadde been, and at Boloigne, In Galice at Seint Jame, and at Coloigne. She koude muchel of wandrynge by the weye. Gat-tothed was she, soothly for to seye. Upon an amblere esily she sat, Y-wympled wel, and on hir heed an hat As brood as is a bokeler or a targe; A foot mantel aboute hir hipes large, And on hire feet a paire of spores sharpe, In felaweshipe wel koude she laughe and carpe; Of remedies of love she knew per chaunce, For she koude of that art the olde daunce.
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Die Strümpfe waren Scharlach, fein genug, Und saßen stramm, die Schuhe neu und dicht. Rotbäckig, frisch und keck war ihr Gesicht. Ein wackres Weib ihr Lebelang sie war. Sie führte schon fünf Männer zum Altar; Wie sie sich sonst ergetzt in jüngern Tagen, Davon will ich für jetzt nichts weiter sagen. Dreimal ist sie zum heil'gen Grab gezogen, Durchschiffte manches fremden Stromes Wogen, War in Bologna, war im heil'gen Rom, War in St. Jago und im Kölner Dom. Sie hatte viel erlebt auf Wanderschaft; Doch wahr zu reden, sie war leckerhaft. Sie ritt auf einem Zelter leicht und gut Mit hübschemSchleier. Auf dem Kopf ihr Hut War wie ein Schild, wie eine Tartsche breit; Um ihre Hüften lag der Mantel weit, 'nen scharfen Sporn trug sie an jedem Fuß. Sie lacht' und schwatzte nach dem ersten Gruß. Mit Liebestränken wußte sie Bescheid; Denn sie verstand den Spaß aus frührer Zeit.
(445—476)
Das ist die Galerie der Pilger; fein abgetönte, realistische Bilder, trotz des Wechsels von Ernst, Schalkheit, Ironie und Satire immer mit liebenswürdiger Sympathie gezeichnet. Die Gruppen der Standes- und Berufsgenossen werden nicht nacheinander vorgeführt, sondern um der Kontrastwirkung willen durcheinander gemischt. Ein anschaulicher Einzelzug zaubert blitzartig den Eindruck hervor: A monk ther was, a fair for the maistrie, An outridere, that lovede venerie; A manly man, to been an abbot able. Ful many a deyntee hors hadde he in stable, And whan he rood men myghte his brydei heere Gynglen in a whistlynge wynd als cleere, And eek as loude, as dooth the chapel belle, Ther as this lord was kepere of the celle. (165—173)
Ein Mönch war auch dabei, schon wie kein zweiter, Ein Waidmann von Passion und flotter Reiter; Männlich von Ansehn, eines Abtes wert. Er hatt' in seinem Stall manch nettes Pferd, Und wenn er ritt, so hörte man die Schellen An seinem Zügel hell im Winde gellen, Als wären es die Glöcklein der Kapelle, Wo dieser Herr Hausmeister war der Zelle.
Der Junker: Embrouded was he, as it were a meede Al ful of fresshe floures whyte and reede; Syngynge he was, or floytynge, al the day; He was as fressh as is the monthe of May. Short was his gowne, with sleves longe and wyde; Wel koude he sitte on hors and faire ryde; He koude songes make and wel endite, Juste and eek daunce and wel purtreye and write. (89—96)
Er war geputzt gleich einem Wiesengrund Mit rot und weißen Blumen, frisch und bunt. Er pfiff und sang, wo er nur mochte gehn; Frisch wie der Maimond war er anzusehn, Trug kurz den Rock, die Ärmel lang und weit, Saß schön zu Roß und ritt mit Sicherheit, Verstand sich wohl auf Dichten, Deklamieren, Auf Schreiben, Malen, Tanzen und Turnieren.
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D i e empfindsame, gezierte Priorin: She was so charitable and so pitous, She wolde wepe, if that she saugh a mous Kaught in a trappe, if it were deed or bledde. O f smale houndes hadde she that she fedde With rosted flessh, or milk and wastel breed; But soore wepte she if oon of hem were deed, Or if men smoot it with a yerde smerte; And al was conscience and tendre herte. Ful semyly hir wympul pynched was, Hir nose tretys, hir eyen greye as glas, Hir mouth ful smal and ther-to softe and reed, But sikerly she hadde a fair forheed; It was almoost a spanne brood I trowe, For, hardily, she was nat undergrowe. (143—156)
Mitleidig war sie, mild und sanft durchaus. Sie konnte weinen, wenn sie eine Maus Wund in der Falle oder tot gefunden. Man sah sie oft, wie ihren kleinen Hunden Sie Braten gab und Milch und Krümchen Brot; Und bitter weinte sie, war einer tot, Ja, schuf man nur durch einen Hieb ihm Schmerz. Sie war ein gar empfindlich sanftes Herz. Höchst zierlich war ihr Schleier aufgesteckt, Hellgrau ihr A u g ' , ihr Näs'chen fein gestreckt, Ihr Mund sehr klein und sanft und rot dabei, Und ihre Stirn vor allem schön und frei; Sie mochte breit fast eine Spanne sein; Denn überhaupt war sie von Wuchs nicht klein.
D e r redegewandte Bettelmönch, den man gerne 211 Schiedsgerichten heranzieht: For there he was nat lyk a cloysterer With a thredbare cope, as is a poure scoler, But he was lyk a maister, or a pope; O f double worstede was his semycope, That rounded as a belle out of the presse. Somwhat he lipsed for his wantownesse, T o make his Englissh sweet upon his tonge, And in his harpyng.whan that he hadde songe, His eyen twynkled in his heed aryght A s doon the sterres in the frosty nyght. (259—268)
Da sah ihm denn kein Mensch den Klostermann, Den armen Tropf mit schäb'ger Kutte an. Nein, wie ein Domherr, wie der Papst selbst Er auf in dickem, wolligem Ornat. [trat Steif wie 'ne Glocke stand um ihn das Kleid, Auch lispelt er etwas aus Lüsternheit, So daß besonders süß sein Englisch klang, Wenn er die Harfe griff nach dem Gesang. So pflegt' er mit den Augen so zu zwinkern, Wie in der Winternacht die Sterne blinkern.
D e r geschickte K o c h , dem offenbar sein bestes Gericht, das reichliche K a p a u n frikassee, geschadet hat: He koude rooste and sethe and boille and frye, Maken mortreux and wel bake a pye. But greet harm was it, as it thoughte me, That on his shyne a mormal hadde he. (383-386)
Er konnte rösten, schmoren, sieden, hacken Und Suppe kochen und Pasteten backen. Doch dünkte das mich um den Mann recht schade, Er hatt' ein Krebsgeschwür an seiner Wade.
D e r klobige Miiller: He was short-sholdred, brood, a thikke knarre, Ther nas no dore that he nolde heve of harre, O r breke it at a rennyng with his heed. His berd, as any sowe or fox, was reed, And therto brood, as though it were a spade. Upon the cope right of his nose he hade A werte, and theron stood a toft of herys, Reed as the brustles of a sowes erys,
Ein dicker Knorr, kurz, in den Schultern breit, Hob jede Tür aus und mit Leichtigkeit, Ja rannte sie wohl mit dem Schädel ein. 'nen Bart hat er, ganz fuchsrot, wie ein Schwein, Breit wie ein Spaten unten abgeschnitten, Und recht auf seiner Nasenspitze Mitten Stand eine Warze, Haare drauf, genau Wie Borsten an den Ohren einer Sau.
Chaucers Canterbury-Geschichten
His nosethirles blake were and wyde; A swerd and a bokeler bar he by his syde; His mouth as wyde was as a greet forneys, He was a janglere and a goliardeys, And that was moost of synne and harlotries. Wei koude he stelen corn and tollen thries, And yet he hadde a thombe of gold, pardee. (549—563)
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Die Nasenlöcher waren schwarz und wild, Und an der Seite trug er Schwert und Schild. Weit wie ein Ofen tat sich auf sein Mund, Und schwadronieren könnt' er aus dem Grund. An Schmutz und Zoten hatt' er sein Ergetzen; Er stahl das Korn und nahm dreimal die Metzen.
Der gaunerische Ablaßkrämer: . . . That streight was comen fro the court of Rome. Ful loude he soong, 'com hider, love, to me!' This Somonour bar to hym a stif burdoun, Was never trompe of half so greet a soun. This Pardoner hadde heer as yelow as wex But smoothe it heeng as dooth a strike of flex; By ounces henge his lokkes that he hadde, And therwith he his shuldres overspradde. But thynne it lay by colpons oon and oon; But hood, for jolitee, ne wered he noon, For it was trussed up in his walet. Hym thoughte he rood al of the newe jet; Dischevelee, save his cappe, he rood al bare, Swich glarynge eyen hadde he as an hare, A vernycle hadde he sowed upon his cappe; His walet lay biforn hym in his lappe Bret-ful of pardon, comen from Rome al hoot. A voys he hadde as smal as hath a goot; No berd hadde he, ne never sholde have, As smothe it was as it were late shave; I trowe he were a geldyng or a mare. (671—691)
Er war aus Rom gekommen noch nicht lange Und sang: ,Komm, Liebe, daß ich dich umfange!' Der Büttel ließ dazu den Brummbaß brummen, Dagegen jede Orgel muß verstummen. Des Krämers Haar — es war so gelb wie Wachs — Hing schlaff in Streifen wie gekämmter Flachs. Lotweise ließ er es von beiden Seiten Sich über seine Schultern hin verbreiten. Dünn lag es, hie und da ein kleiner Zopf; Aus Eitelkeit blieb unverhüllt sein Kopf. Die Schaube lag verpackt im Mantelsack. Er meint', er ritt' im neuesten Geschmack. Auf losem Haar nur saß die Mütze trotzig; Er hatte Hasenaugen, starr und glotzig. Ein heil'ges Schweißtuch hatt' er angesteckt. Sein Mantelsack lag vor ihm ausgestreckt Randvoll von röm'schem Ablaß, frisch und heiß. Ein feines Stimmchen hatt' er wie 'ne Geiß. Von seinem Barte wurd' er nicht geniert; Er war so glatt, als wär' er erst rasiert. Ein Wallach war er oder eine Stute.
Der Dichter bekennt sich am Schluß ausdrücklich zu seinem Realismus und entschuldigt ihn; wer nacherzählen wolle, müsse es wortgetreu tun, den Ton treffen und auch vor Derbheiten nicht zurückschrecken: Or ellis he moot telle his tale untrewe, Or feyne thyng, or fynde wordes newe. He may nat spare, althogh he were his brother; He moot as wel seye o word as another. Crist spak hymself ful brode in hooly writ, And wel ye woot no vileynye is it. Eek Plato seith, whoso that kan hym rede, 'The wordes moote be cosyn to the dede.' (735—742)
Sonst müßte man die Wahrheit ja verhehlen Vieles erfinden oder neu erzählen. Auch nicht dem eignen Bruder zu gefallen Verschweige man ein einzig Wort von allen. Selbst Christus in der heil'gen Schrift sprach Und sicher nicht aus Unbeholfenheit, [breit Auch Plato sagt (für die, so ihn verstehn): Verschwistert müssen Wort und Taten gehn.
II. Vorspiel der Renaissance
Ebenso verschieden wie die Menschen sind nun ihre Erzählungen nach Stoffwahl, Form und Vortrag, v o m höfischen Ritterroman, von der frommen Legende und Märtyrergeschichte, den Verherrlichungen weiblicher Tugend — Griseldis, Konstanze, Dorigena, Virginia — , dem launigen Artusmärchen, von kurzen „Tragödien" im Sinne der Danteschen Ugolino-Episode, von der Tiersage, der Ovidischen Verwandlungsgeschichte, der schlichten Predigt bis zur kunstgerechten Parodie der Ritterromanzen, der Novelle delikaten Inhalts und dem derb-sinnlichen, für heutige Ohren sogar unflätigen Schwank. Der Ritter eröffnet den Reigen mit der umfangreichen höfischen Erzählung von den treuen Freunden Palamon und Arcitas, die die Liebe zu einem Mädchen zu erbitterten Feinden macht. Das Turnier entscheidet für Arcitas, der aber, tödlich verwundet, sich vor dem Hinscheiden mit Palamon aussöhnt und ihm die Geliebte überläßt. „ H e r z o g " Theseus von Athen leitet die würdige Totenfeier und führt dem „Ritter" Palamon die Braut zu: Thanne seyde he thus to Palamon ful right: 'I trowe ther nedeth litel sermonyng To make yow assente to this thyng; Com rieer, and taak youre lady by the hond.' Bitwixen hem was maad anon the bond That highte matrimoigne, or mariage, By al the conseil and the baronage; And thus with alle blisse and melodye Hath Palamon y-wedded Emelye, And God, that al this wyde world hath wroght, Sende him his love that it hath deere aboght, For now is Palamon in alle wele, Lyvynge in blisse, in richesse, and in heele; And Emelye hym loveth so tendrely, And he hire serveth al-so gentilly, That never was ther no word hem bitwene Of jalousie, or any oother tene. Thus endeth Palamon and Emelye; And God save al this faire compaignye. (A 3089—5118)
Zu Palamon, dem Ritter, sprach er dann: ,Bei dir braucht's kurzer Rede, sollt' ich denken. Du wirst gar leicht dem Vorschlag Beifall schenken. Tritt herl Nimm deine Dame bei der Handl' Und zwischen ihnen ward alsbald das Band Geknüpft, das Ehe heißet oder Heirat, Mit sämtlicher Barone hohem Beirat. Und mit Musik und aller Festlichkeit Hat Palamon Emilien gefreit. O Gott, der du die weite Welt erbaut, Gib jedem die so schwer erkaufte Braut. Denn jetzt ist Palamon voll Seligkeit, Lebt in Gesundheit, Reichtum, Fröhlichkeit. Emilia liebt ihn so herzinniglich, Er dienet ihr so zart und minniglich, Daß weder Eifersucht noch andrer Streit Sie jemals auch nur durch ein Wort entzweit. So schließt die Mär' von Palamon aus Theben. Gott mög' uns allen seinen Frieden geben.
Eine Geschichte, die den feinen Leuten unter den Pilgern sehr gefällt. Gleich aber folgt das Satyrspiel. Der schwer betrunkene Müller läßt sich nicht zurückhalten und bringt seinen derben Schwank von dem Zimmermann, der durch seine hübsche Frau und ihren Geliebten, einen Oxforder Studenten, geprellt wurde, wobei der Liebhaber aber auch eine tüchtige Lektion erhielt. Der Verwalter, früher selbst Zimmermann, fühlt sich herausgefordert und trägt eine nicht minder anstößige Begebenheit vor, in der ein Müller durch zwei Studenten betrogen wurde. Beide Stücke sind Meisterwerke der komischen Kunst, mit lebendiger Handlung, anschaulicher Ortsschilderung, naturgetreuer Sprechart, sogar mit Verwendung der Mundart v o n Yorkshire, mit geschicktem Aufbau, so daß uns die Katastrophe laut mitlachen läßt. Die natürliche, frohe Sinnlichkeit läßt jedes gesunde Empfinden über die Anstößigkeit der Situation hinwegsehen. Einen weiteren Schwank, den der K o c h beginnt, bricht der Dichter plötzlich ab, um wieder zu würdigeren Gegenständen zu kommen. Der Rechtsgelehrte erzählt von den wundersamen Schicksalen der römischen Kaisertochter Konstanze, die ihre Unschuld gegen Verleumdung, Haß, rohe Lust behauptet und
Chaucers Canterbury-Geschichtert
durch höhere Mächte aus Gefahren und Prüfungen gerettet wird. So geht es weiter in bunter Abwechslung, in einer Reihenfolge, die in der Überlieferung der vorhandenen Handschriften nicht ganz einheitlich ist. Der Schiffer hat eine beim Volke beliebte Verführungsgeschichte auf Lager, die Priorin löst ihn ab durch eine Marienlegende in schönen siebenzeiligen Stanzen, in der die Mutter Gottes die Ermordung eines frommen Christenknaben durch Juden aufdeckt. Ernste Stimmung herrscht unter den Pilgern. Der Wirt greift ein, um sie zu lösen, und wendet sich an Chaucer: . . . 'What man artow?' quod he; 'Thou lookest as thou woldest fynde an hare ; For ever upon the ground I se thee stare. Approche neer, and looke up murily. Now war yow, sires, and lat this man have place; He in the waast is shape as wel as I ; This were a popet in an arm tenbrace For any womman, smal and fair of face. He semeth elvyssh by his countenaunce, For unto no wight dooth he daliaunce. Sey now somwhat, syn oother folk han sayd ; Telle us a tale of myrthe, and that anon.' 'Hooste,' quod I, 'ne beth nat yvele apayd, For oother tale certes kan I noon, But of a rym I lerned longe agoon.' 'Ye, that is good', quod he, 'now shul we heere Sum deyntee thyng, me thynketh by his cheerel' (B 1885—1901)
. . . „Wer bist denn du, mein Mann? Du siehst ja aus, als wollt'st du Hasen jagen, Ich seh' dich stets den Blick zur Erde schlagen. Rück näher her, blick auf, erheitre dich, Habt acht, ihr Herrn, und gönnt dem Mann ein Plätzchen. Er ist so fein im Wuchs beinah' wie ich. Solch eine Puppe hielte gern als Schätzchen Manch Weib im Arm — ein schmales, saubres Frätzchen. Nach seinen Mienen muß er elfisch sein; Er läßt mit niemand sich in Späße ein. Sprich auch jetzt etwas wie die andern hier. Gib uns von recht was Lustigem Bericht Und gleich." Ich sprach: „Herr Wirt, vergebet mir. Vor Jahren hab' ich mal ein Reimgedicht Gelernt. Andre Geschichten weiß ich nicht." „ J a " , sprach er, „gut. Mich dünkt nach deinen Mienen, Du wirst mit etwas Nettem uns bedienen."
Chaucer war keineswegs eine schüchterne, ungesellige Natur; wir hörten ja, wie er als Gast in dem Wirtshaus sofort die einkehrenden Pilger begrüßt und sogleich in ihre Tafelrunde aufgenommen wird. Der stille, in sich versunkene Mann, den der Wirt anruft, ist Chaucer der Beobachter, der an dem allgemeinen Gespräch nicht teilnimmt, um nur ja kein Wort zu überhören, die Menschen und ihre Rede in sich aufzunehmen und für sein Gedicht zu bewahren. Seine Miene zeigt aber dem Wirt doch an, daß von ihm eine Aufheiterung zu erwarten ist. Der Dichter löst also die heikle Aufgabe, sich selbst in die Reihe seiner Gestalten einzufügen, mit einem feinen Kunstgriff: er spielt den Schalk, und so wird auch sein Vortrag — andere Geschichten wisse er nicht, ist seine ironische Entschuldigung —, eine im Bänkelsängerton mit Schweifreimstrophe ausgewalzte ergötzliche Parodie auf die Ritterdichtung. Chaucer war sich seiner bahnbrechenden Aufgabe gegenüber der handwerksmäßigen Reimerei einer abgedroschenen Spielmannspoesie bewußt. E r beginnt sein Reimgedicht von Herrn TTiopas: Listeth, lordes, in good entent, And I wol telle verrayment
O f myrthe and of solas ; A 1 of a knyght was fair and gent I n bataille and in tourneyment, H i s name was sire Thopas. 3 Die Stimmen der Meister
Herrschaften, leiht mir euer Ohr, Ein wahres Lied trag' ich euch vor Von Kurzweil und von Spaß; Es tat vor allem Ritterchor Sich in Turnei und Schlacht hervor Der edle Herr Thopas.
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IL Vorspiel der Renaissance
Y-born he was in fer contree, In Flaundres, al biyonde the see, At Poperyng, in the place; His fader was a man ful free, And lord he was of that contree, As it was Godes grace.
Er war geboren an fernem Strand, Jenseits des Meers im fläm'schen Land, Zu Popering am Gestade. Sein Vater war von gutem Stand, Er war der Herr in diesem Land, So wollt' es Gottes Gnade.
Sire Thopas wax a doghty swayn; Whit was his face as payndemavn, His lippes rede as rose; His rode is lyk scarlet in grayn, And I yow teile in good certayn He hadde a semely nose.
Herr Thopas war von tücht'gem Schrot, Weiß sein Gesicht wie Semmelbrot, Sein Mund wie Rosenblätter, Wie Scharlach seiner Wangen Rot, Auch mit der Nase hatt's nicht Not; Wohl keiner hat sie netter.
His heer, his berd, was lyk saffroun, That to his girdel raughte adoun; His shoon of cordewane. Of Brügges were his hosen broun, His robe was of syklatoun That coste many a jane.
Wie Saffran war sein Bart und Haar, Das lang bis an den Gürtel war, Von Corduan die Galoschen. Von Brügge war sein Hosenpaar Und von Drap d'or sein Rock; fürwahr Der kost'te manchen Groschen.
He koude hunte at wilde deer, And ride an haukyng for river With grey goshauk on honde; Ther-to he was a good archeer; Of wrastlyng was ther noon his peer, Ther any ram shal stonde. (B 1902—1931)
Den wilden Rehen setzt' er nach, Den Sperber auf der Faust, zum Bach Ritt oft er aus und beizte; Er war ein Schütz von bestem Schlag, Im Ringen kam ihm keiner nach, Wenn ihn ein Hammel reizte.
In diesem geschwätzigen Reimgebimmel plätschert es weiter: Loo, lordes myne, heere is a Fit; If ye wol any moore of it To teile it wol I fonde.
Hier ist ein Abschnitt, meine Herrn, Doch hörtet ihr noch weiter gern, Wohlan, so sollt ihr's haben.
Now holde youre mouth, par charitee, Bothe knyght and lady free,
Nun haltet gnädigst euern Mund, Herren und Damen hier im Rund, Und horcht, was ich berichte. Von Rittertum, von Kampf und Streit, Von Minnedienst und Höflichkeit Vermeldet die Geschichte.
A n d herkneth to my Spelle; O f batailles and of chivalry, A n d of ladyes love-drury,
Anon I wol yow teile. (B 2078—2086)
Sir Thopas hat im Traume die Elfenkönigin gesehen, verliebt sich in sie, reitet nach dem Erwachen ins Feenland und kämpft mit dem Riesen Oliphant. Da unterbricht der Wirt den Erzähler. Die Satire ist gar zu dick aufgetragen, die „gemeine Dudelei", das „leer Gedrösche" nicht anzuhören. Nun gut, erwidert unser Dichter, der überlegen mit seiner Umgebung zu spielen weiß; dann will ich euch ein schönes Moraltraktätlein darbieten, mit Zitaten, Sentenzen, Nutzanwendungen wohl durchsetzt, und er erzählt in Prosa die nach einem recht langweiligen französischen Traktat übersetzte Fabel von Meliböus und Prudentia, das Lob verzeihender Langmut und gütiger Weiblichkeit, die sich in langatmigen Trostreden an den Gatten ergeht. Die „Tragödien" des Mönches, d. h. seine kurzen Berichte von Menschen, die seit Luzifer und Adam bis auf Ugolino von Pisa von der Höhe eines Glücks in den Abgrund des Unglücks gestürzt wurden, passen gut in die elegisch gewordene Stimmung, bis der Ritter mahnt, der Gesellschaft nicht noch mehr so traurige Dinge, sondern lieber etwas Aufmunterndes, also den Aufstieg aus der Tiefe zu Glück und Wohlstand
Chaucers Canterbury-Geschichten
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zu bieten. Eine mit ironischem Pathos glänzend ausgefeilte launige Tierfabel von dem Fuchs, der den Hahn Kanteklär überlistet und dann durch dessen Schlauheit wieder überspielt wird, hört man von dem Nonnenpriester, die tragische Geschichte von der römischen Virginia, die der eigene Vater zur Rettung ihrer Keuschheit tötet, von dem Arzt. So viel Tragik wie die der unschuldigen Römerin ist selbst dem Wirt zu viel, und er ruft den Ablaßkrämer zu einem „Schnurren" auf. Der stärkt sich mit Bier, produziert seine moralgespickte Moritat von drei Gesellen, die den Tod aufsuchen und ihn durch eigene Hand finden, und preist marktschreierisch seine Reliquien und seinen Ablaß an, wird aber von Harry Baillie, unserm gestrengen Wirt, so grob zurechtgewiesen, daß der Ritter sich ins Mittel legen muß. Der Mittelpunkt in dem bunten Gewimmel ist die dralle, kecke Frau aus Bath mit ihrem flinken Mundwerk. Erfahrung in den Mühseligkeiten des Ehestandes hat sie wahrlich genug nach ihren fünf Männern: Y-blessed be God, that I have wedded fyve! Welcome the sixte, whan that ever he shal, For sothe I wol nat kepe me chaast in al. Whan myn housbonde is fro the world y-gon, Som cristen man shal wedde me anon. (D 44—4»)
Ich segne Gott, daß er mir fünf beschieden, Und auch der sechste soll willkommen sein. Ich will nicht gänzlich mich der Keuschheit weihn. Drum, wenn mein jetziger einmal begraben, Soll gleich ein andrer Christenmensch mich haben.
Wo steht denn geschrieben, man solle nur einmal freien? Abraham und Jakob hatten mehr als zwei Frauen und stehen doch in heiligem Ansehen. Das Zölibat ist etwas Erhabenes für Heilige; ich aber, so bekennt die weltzugewandte Frau, bleibe bei den Menschlichkeiten der Natur. Sie weiß ihren Standpunkt so geschickt aus der Heiligen Schrift zu belegen, daß der Ablaßkrämer sie in einem lustigen Intermezzo als „exzellenten Prediger" lobt; aber seine Absicht, selbst ein Weib zu nehmen, möchte er nach allem, was er gehört, doch lieber aufgeben. Warte nur, du vorwitziges Bürschlein, ist die Antwort, du sollst mich erst genauer hören! Und nun folgt der flotte, köstliche, pikante Bericht, wie sie ihre Männer zu nehmen wußte, bald einschüchternd, bald schmeichelnd, immer überlegen spielend als die Klügere. Und so muß es sein: die Frau muß kommandieren, dann sind die Ehen glücklich. Sie ist aber auch wirklich klug, diese erstaunlich scharf und lebenswahr hingestellte Erzählerin, sie ist sich ihrer Lebensweisheit bewußt und kann räsonieren: But, Lord Cristi whan it remembreth me Upon my yowthe, and on my jolitee, It tikleth me aboute myn herte roote ! Unto this day it dooth myn herte boote That I have had my world, as in my tyme. But Age, alias 1 that al wole envenyme, Hath me biraft my beautee and my pith, — Lat go, fare wel, the devel go therwith! The flour is goon, ther is namoore to telle, The bren, as I best kan, now moste I selle; But yet to be right myrie wol I fonde. (D 469—479)
Ei du mein Heiland, wenn ich daran denke, An meine Jugend und an all die Schwanke, So kitzelt um mein Herz mich noch das Blut. Noch heute tut es meinem Herzen gut, Daß ich in meiner Zeit genoß der Welt. Das Alter, ach, das alles nun vergällt, Hat mich um Schönheit auch und Mark bestohlen. Fahrt hin, adel mag euch der Teufel holen! Fort ist das Kraftmehl, da hilft kein Gebet. Mit Kleie handl' ich nun, so gut es geht. Ich seh' die Sachen möglichst lustig an.
Die eigentliche Erzählung ist nur eine Bestätigung der drastisch entwickelten Lebenserfahrung: König Arthur läßt durch einen Ritter erkunden, welches der höchste Wunsch der Frauen sei, und muß erfahren, daß es die Herrschaft über die Männer ist. Das alles hört die Pilgerschar aufmerksam an, die zimperliche Priorin, 3»
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II. Vorspiel der Renaissance
das genaue Gegenstück so weltlicher Fraulichkeit, der würdige Pfarrer, der Oxforder Scholar, der den Seitenhieb einstecken muß: For, trusteth wel, it is impossible That any clerk wol speke good of wyves, But if it be of hooly Seintes lyves. (D 688—690)
Unmöglich ist's — ihr könnt mir darin trauen — Daß ein Gelehrter gut von Frauen spricht, Sind just es Heiligenlegenden nicht.
Der Bettelmönch, der seinem Gewerbe gemäß die Nase in alles stecken muß, hat schon vorher einmal den Zorn des Büttels hervorgerufen, seines Konkurrenten in der Aussaugung der Menschen, und als die kecke Frau geendet hat, blickt er „bös und lauernd wie ein grimmer Kater stets auf den Büttel" und fordert ihn erneut heraus, so daß der Wirt sich beschwichtigend einmischt und ihm gebietet, lieber seine Erzählung zu beginnen. Diese hackt auch wieder auf einem Büttel herum, der von einer armen Frau zum Teufel gewünscht und von diesem auch wirklich geholt wird. Natürlich bleibt der Büttel, hoch in seinen Bügeln stehend und vor Wut zitternd, die Antwort nicht schuldig. Ein zotig gewürztes Beispiel von der Erbschleicherei der Bettelmönche zahlt die Hiebe heim. So wird die ganze Lebhaftigkeit, die das Auftreten der saftigen Frau aus Bath umgibt, zum dramatischen Höhepunkt der Reise. Beruhigung und feineren Ton stellt die Geschichte von der edlen Dulderin Griseldis wieder her, die der treffliche Oxforder Student vorträgt. Auch ihm aber, dem schüchtern-träumerischen Gelehrten, fehlt nicht die Dosis Schalkheit, die Chaucer bei einer Verkörperung seines eigenen Wesens nicht missen möchte. Es geschieht etwas Seltsames : der Lobpreiser einer über das Menschliche fast hinausgehenden Seelengröße bekennt am Schluß, daß solche Griselden im Leben kaum zu finden seien. „Deswegen und dem Weib von Bath zuliebe" hat er ein munteres Lied verfaßt, das er gleich anfügt, ein Lied auf die Frauen, die nur ja ihr Regiment üben sollten nach dem Vorbild der wackeren Lebenskünstlerin aus Bath — so ginge es am besten im Lauf der Welt: Ye archiwyves stondeth at defense, Syn ye be strong as is a greet camaille, Ne suffreth nat that men yow doon offense; And sklendre wyves, fieble, as in bataille, Beth egre as is a tygre yond in Ynde; Ay clappeth as a mille, I yow consaille; Ne dreed hem nat, doth hem no reverence, For though thyn housbonde armed be in maille, The arwes of thy crabbed eloquence Shal perce his brest, and eek his aventaille. In jalousie I rede eek thou hym bynde, And thou shalt make hym couche as dooth a quaille. (E 1195—1206)
Kernweiber, stehet immer kampfbereit; Man sieht euch stark ja gleich Kamelen ragen. Erduldet nicht vom Manne Herzeleid. Ihr Schmächt'gen aber, die zu schwach zum Schlagen, Seid wütend wie ein Tiger bei den Inden! Stets klappert wie ein Mühlrad, laßt's euch sagen. Fürchtet sie nicht, zeigt nicht Ergebenheit! Mag auch der Hausherr einen Harnisch tragen, Die Pfeile keifender Beredsamkeit Durchbohren Bruststück ihm und Panzerkragen. Auch rat ich, ihn mit Eifersucht zu binden, Und wie 'ne Wachtel wird geduckt er zagen.
Ein wahrhaft genialer und dramatischer Zug. Ernst und erbaulich hat der Student seine Griseldisgeschichte vorgetragen, in der schönen siebenzeiligen Lieblings Strophe Chaucers und mit Berufung auf den gekrönten Poeten Petrarca als Quelle, „der Dichtkunst liebliche Beredsamkeit", und nun entwaffnet er sich scheinbar selbst mit feiner Ironie, wie sie nur der geschulte Rhetoriker formen konnte; eine nicht unmittel-
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bar an sie gerichtete, aber für die feineren Leute der Umgebung durchsichtige Antwort des überlegenen Geistes auf die Anzapfungen der mundfertigen Witwe, die dem Gelehrten eins auszuwischen gedachte; nicht eine allgemeine Lösung der Frauenund Ehefrage, noch viel weniger etwa des Dichters Stellungnahme gegen Sittenpredigten, sondern ganz persönlich eine geistvolle Replik an die Adresse der lockeren Fahrtgenossin, aus der die Denkenden schon das Richtige entnehmen werden. Der von der eigenen Frau gequälte Kaufmann hat ihn verstanden und gibt eine zynische Satire auf die Ehe zum besten von einem kindischen, blinden Alten, der von seinem jungen Weibe hintergangen wird, also eine zweite Replik auf die Selbstsicherheit der Frau aus Bath, die mit einer Art Selbstkasteiung des Erzählers nun einmal die Lage der Männer beleuchtet. Der selbst glücklich verheiratete Wirt hat schließlich genug von dem Ehegerede und will lieber etwas von treuer Liebe hören. Der Junker als der Erfahrenste auf diesem Gebiet soll davon erzählen. Es wird ein Zaubermärchen aus dem fernen Orient mit Motiven aus Tausendundeiner Nacht, von dem Tatarenkönig Cambuscan, dem ehernen Roß, einem Spiegel, Ring und Schwert mit Zauberkraft, vorgetragen im echtesten, die Phantasie anregenden Romanzenton, aber unvollendet. Spenser hat einen Teil der Fabel in seiner „Feenkönigin" ausgeführt, unser Platen die anklingende arabische Erzählung in seine „Abassiden" verwoben. Vielleicht war dieser vom Duft echter Poesie durchwehten Geschichte des Junkers der Preis zugedacht. Dem Gutsherrn entlockt sie hohes Lob. Mit einem Anflug von Neid erkennt der Vertreter des hochgekommenen bürgerlichen Grundbesitzes, daß Reichtum allein doch nicht die ererbte feine Sitte des Adels aufwiegen kann; er gäbe etwas darum, wenn sein eigener grobschlächtiger Sohn dem ritterbürtigen an Tugend und Bildung gleichkäme — ein bezeichnendes Streiflicht auf die beginnende gesellschaftliche Umschichtung. Der Gutsbesitzer ist keineswegs ungebildet; er hat mancherlei von den Sagen und Liedern der Vorfahren gelesen; Rhetorik habe er zwar nicht gelernt, auch Cicero nicht studiert, aber er wolle es in seiner schlichten Sprache doch mit den feinen Mitbewerbern aufnehmen. Die junge Rittersgattin Dorigena in der Bretagne, so berichtet er aus seinen Lesefrüchten, ist von ihrem auf Waffenruhm ausziehenden Gemahl für einige Zeit allein gelassen worden. Dem Minnedienst eines fremden Ritters verschließt sie sich, seinem leidenschaftlichen Werben um ihre Hingabe begegnet sie mit der Bedingung, er solle zuerst die bretonische Küste von ihren Felsen befreien. Was ihr unmöglich erschien, wird aber mit Hilfe eines zauberkundigen Klerikers getan. Dorigena will ihrem Leben ein Ende machen und ihre Keuschheit retten. In dieser Gefahr kehrt ihr Gatte zurück. Er bekämpft seinen Schmerz und verlangt, daß sie dem Gewinner des Vertrages ihr Wort hält. Dieser aber, von der Not der geliebten Frau ergriffen, erläßt ihr die Erfüllung, selbst der Zauberer übt Großmut und verzichtet auf seine Belohnung. Liebe und Treue siegen und lösen Edelmut aus. So behandelt ein vornehm empfindender Mann ein heikles Thema im Gegensatz zu den früher gehörten Derbheiten. „Gentilesse" ist der schöne alte Ausdruck für Wohlerzogenheit, Feingefühl, Edelmut. Treue Liebe, verständnisvolles Verzeihen, kein Vorrecht des einen Gatten vor dem anderen: das ist jetzt die das Glück verbürgende Lösung der von der Frau von Bath angeschnittenen und so vielfältig abgehandelten Ehefrage. Love wol nat be constreyned by maistrye. Whan maistrie comth, the god of love, anon, Beteth his wynges and, farewel, he is gon! Love is a thyng as any spirit free. Wommen of kynde desiren libertee,
Die Liebe fügt sich nicht der Herrschaft Zwange. Tritt Herrschaft ein, gleich lüftet Venus' Sohn Die Schwingen, und ade! er ist entflohn. Die Liebe ist so frei wie jeder Geist. Freiheit begehrt ein edles Weib zumeist
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II. Vorspiel der Renaissance
And nat to been constreyned as a thral; And so doon men, if I sooth seyen shal. Looke, who that is moost paclent in love, He is at his avantage al above. Pacience is an heigh vertu, certeyn, For it venquysseth, as thise Clerkes seyn, Thynges that rigour sholde never atteyne; For every word men may nat chide or pleyne. Lerneth to suffre, or elles so moot I goon, Ye shul it lerne, wher-so ye wole or noon. (F 764-778)
Und mag das Joch der Sklaverei nicht tragen; Der Mann gleichfalls, soll ich die Wahrheit sagen. Den meisten Vorteil hat zu jeder Frist, Wer der Geduldigste im Lieben ist. Geduld fürwahr ist hohen Lobes wert; Sie siegt, wie uns das Wort der Weisen lehrt, Auch da, wo strenge Mittel nichts verschlagen. Man muß um jedes Wort nicht schmähn und klagen. Lernt dulden! Sonst — so wahr ich steh' und gehe — Lernt ihr es doch zuletzt — wohl oder wehe.
Das trägt der Mann des praktischen Lebens vor, der Grafschaftsvogt, Richter und Politiker, nach all den gelehrten Theoretikern oder grobschlächtigen Sinnenmenschen. Als Erzählung der zweiten Nonne wird nun unvermittelt die metrisch kunstvolle, sprachschöne Legende von der heiligen Cäcilie eingefügt, ein von Chaucer bereits früher selbständig geformtes Gedicht. Kaum hat die Nonne geendet, da galoppiert ein Reiter auf den Pilgerzug zu, um sich ihm mit seinem Diener anzuschließen. Er ist ein Stiftsherr. Der redselige Diener verrät dem Wirt so viel von dem gaunerischen Treiben seines Herrn, eines den Stein der Weisen suchenden Adepten, daß dieser sich schleunigst wieder aus dem Staube macht. Der Diener bleibt zurück und führt sich mit einer Geschichte aus eigener Lebenserfahrung ein, von einem Londoner Adepten, der einen Priester übertölpelt. Dann ein komisches Intermezzo: der schwer betrunkene Koch wird von dem Stiftsschaffner gehänselt, aber wieder versöhnt, bevor der Stiftsschaffner seine Geschichte von Phoebus Apollo vorträgt, dem eine Krähe den Treubruch seiner Gattin Koronis verrät. Als letzten Vortragenden ruft der immer die Reihenfolge bestimmende Harry Baillie den Landpfarrer auf; die Fahrt müsse doch wohl, so meint die Gesellschaft, mit einem tugendhaften Spruch enden. In Fabeln und Reimen zu reden lehnt der ehrwürdige Geistliche ab; wohl aber sei er bereit, fromme Betrachtungen in Prosa zu bieten. So hält er eine Predigt über Sünde, Buße und Erlösung, über den rechten Weg zum himmlischen Jerusalem. Von der Wallfahrt nach Canterbury lenkt sich so zum Schluß der Blick auf die große Pilgerfahrt des Menschen in die Ewigkeit. Das vieltönige Werk klingt in verklärendem Ernst aus. — Honoré de Balzac hat das Gesamtwerk seiner Romane mit Erneuerung eines mittelalterlichen Begriffs eine menschliche Komödie genannt. Chaucers Werk ist auch eine menschliche Komödie, eine Symphonie der ernsten und heiteren Klänge des Lebens, mitempfunden und zur Einheit gestaltet durch eine verstehende, gütige Seele. „Greift nur hinein ins volle Menschenleben!" Wer nur den berühmten allgemeinen Prolog liest, könnte meinen, der Dichter habe uns eine Reihe von Typen des Lebens oder besser seiner Zeit vorführen wollen. Erst das Gesamtwerk, trotz seines Torso-Charakters ein geschlossenes Bild, gibt einen Eindruck von der Lebendigkeit der zusammengewürfelten Reisegesellschaft und der Individualisierung der Handelnden, in die der Dichter sich mit schalkhafter Selbstironie einreiht. Da wird in verbindenden Zwischengesprächen Stellung genommen zu den vorgetragenen Geschichten, da werden Wünsche geäußert und Meinungen ausgetauscht, da wird auch gezankt und geschimpft. Die Erzählungen sind das Hauptmittel zur Charakterisierung der Erzähler, verschieden nach Stoffen und Formen, bald kunstvoll ge-
Chaucers Canterbury-Geschichten
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bändigt, bald reich an Abschweifungen und Seitenhieben, nicht in irgendeiner Rangfolge geordnet, sondern in immer erneuter Mischung von Ernst, Humor, Burleske, Feinheit und Derbheit. Das ist ganz anders als in Boccaccios „Decamerone", dem klassischen Vorbild aller Rahmenerzählungen, in dem das durch die Flucht vor der Pest veranlaßte Zusammentreffen nur den äußeren Anlaß für gleichförmige Berichte und keinerlei innere Verbindung bildet. Chaucer stellt die lange, formal abgerundete Erzählung neben die abschweifungsfrohe Redseligkeit oder neben kurze Fragmente, er läßt eine aufgeworfene Frage von verschiedenen Seiten beleuchten: ein geradezu dramatischer Aufbau, dessen Mitte und Höhepunkt sich um die Erzählung der Frau aus Bath lagert. Dramatisch bewegt sind die Zwischengespräche und viele der Einzelprologe zu den Geschichten, dramatisch abgestuft die Personen, eingehend ausgearbeitete Hauptcharaktere neben flüchtig eingefügten Nebengestalten, die niederen Figuren oft gepaart wie in dem späteren Lustspiel — Müller und Verwalter, Koch und Stiftsschaffner, Bettelmönch und Büttel, alles Menschen von Fleisch und Blut, keine Abstraktionen. Bildhaft dramatisch sieht der Dichter seine Menschen in höchster Spannung vor sich wie etwa Konstanze in ihrer Todesangst in der Erzählung des Rechtsgelehrten: Have ye nat seyn som tyme a pale face Among a prees, of hym that hath be lad Toward his deeth, wher-as hym gat no grace? And swich a colour in his face hath had, Men myghte knowe his face that was bistad, Amonges alle the faces in that route; So stant Custance, and looketh hire aboute. (B 645-651)
Saht jemals ihr ein bleiches Angesicht Im Volksgedränge, wenn ein Mann hinaus Geführt wird, gnadenlos, zum Hochgericht? So zeichnet sein Gesicht der kalte Graus. Man kennt ihn aus der ganzen Meng' heraus. So stand jetzt in der Schar Konstanze da, Wie sie mit bleichem Antlitz um sich sah.
Der Wirt ist der Leiter des bunten Gewimmels. Er bestellt sich selbst nach der Art so manches gewandten Politikers zu diesem Amt und wird nach den Erfahrungen, die man bei dem guten Abendessen gemacht hat, gern anerkannt. Dieser Harry Baillie, stattlich, jovial, redselig und diskret zugleich, angesehener Bürger, hat in seinem Gewerbe gelernt, die Menschen richtig zu nehmen und mit hoch und niedrig umzugehen, hier die Stimmung zu beleben, dort laute Maßlosigkeit abzubiegen und die Menschen taktvoll zu behandeln. Wie überlegt ordnet er die Reihenfolge der Vortragenden, wie gewandt weiß er die gefährlich werdende Ehedebatte durch die Auswahl der Redner wieder ins rechte Gleis zu bringen, wie bestimmt schneidet er dem gar zu toll parodierenden Dichter das Wort ab, wie grob fertigt er den Ablaßkrämer ab, der sein Gewerbe an ihm und den anderen erproben willl Und wie höflich redet er zu dem Ritter und dem Junker, den Vertretern der „gentilesse", wie ganz nach ihrem Geschmack und in übertriebener Ehrerbietung versteht er die übervornehme Priorin zu nehmen: 'My lady Prioresse, by youre leve, So that I wiste I sholde you nat greve, I wolde demen that ye teilen sholde A tale next, if so were that ye wolde. Now wol ye vouchesauf, may lady deere?' (B 1637—1641)
,,Mit Gunsten, gnädigste Frau Priorin, Wüßt' ich, daß ich euch nicht beschwerlich bin, Würd' ich bestimmen, wenn ihr anders wolltet, Daß ihr zunächst etwas erzählen solltet; Wollt ihr euch, gnäd'ge Frau, dazu bequemen?"
Harry Baillie, der Wirt zum Heroldsrock, ist der Ahnherr zahlreicher Berufsgenossen in der englischen Literatur, aber würde- und taktvoller als die meisten unter ihnen; der Wirt der Hosenbandschenke in Shakespeares „Lustigen Weibern von Windsor", wohl die bekannteste Wirtsfigur, reicht hierin nicht an ihn heran.
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II. Vorspie] der Renaissance
Ahnherr einer bedeutenden literarischen Nachkommenschaft ist auch der ehrwürdige Pfarrer, gelehrt in der Theologie, ohne dogmatische Skrupel nur die schlichte Lehre des Heilands und seiner Apostel kündend, hilfsbereit und gut. Er will die Reuigen durch gutes Beispiel für den Himmel gewinnen, er scheut Regen und Sturm nicht, wenn Kranke seinen Besuch brauchen, er sorgt treulich für sein Haus und gibt nicht die Pfründe auf Pacht aus, um in die große Hauptstadt zu gehen. Er ist „arm, doch reich an Werken und Gedanken", anspruchslos für sich selbst. Der Dichter macht ihn zum Bruder des gleichfalls armen, sich plackenden Pflügers; denken wir daran, daß Chaucers Zeitgenosse Langland in seinem großen Gedicht den Pflüger Peter erhöht und mit dem Heiland eins werden läßt. So ist unser Pfarrer so recht das Gegenbild des wohlgenährten, den Freuden der Welt ergebenen Mönchs. Wenn der Pfarrer, zu seiner Erzählung aufgefordert, den alten Stabreim — das Rum, Ram, Ruff, wie er sagt — und die neue Reimschmiederei als Tändeleien ablehnt, so fühlen wir etwas von der Kunstfeindlichkeit der späteren Puritaner. Wir stehen ja in der Zeit des weitgreifenden wiclifitischen Widerspruchs gegen die Verweltlichung des Klerus, und Chaucers Landpfarrer trägt die Züge eines Priesters nach Wiclifs Lehre, wenn es auch ungerecht ist, daß der Wirt ihn einmal höchst unsanft als Lollarden anfährt, wie man die zügellosen Horden im Gefolge Wiclifs nannte. Das 18. Jahrhundert griff das Bild vom guten Pfarrer in bedeutenden Schöpfungen auf. Fieldings gutmütiger Adams in dem Roman „Joseph Andrews" ist eine der geschlossensten Zeichnungen dieser Art. Goldsmith hat dem Dorfpfarrer seines Gedichts „Das verlassene Dorf", der mit vierzig Pfund jährlichen Einkommens sich reich fühlt und damit noch den Armen hilft, deutliche Züge des vergessenen Chaucerschen Vorbildes geliehen, und sein ebenso gearteter „Landprediger von Wakefield" ist wohl die populärste Verkörperung des Typus. Welch ein Reichtum der Farben steht unserm Nachzeichner des Lebens zu Gebote, wenn wir noch an die Frau aus Bath denken, das großartigste und einprägsamste seiner Charakterbilder! Wir haben sie schon hinreichend kennengelernt, diese geschäfts- und lebenstüchtige Tuchfabrikantin — „etwas taub, das tat mir leid" —, die beim Messegang den Vortritt beansprucht und willig erhält, rotbäckig und keck, kokett gekleidet und „leckerhaft", die mit fünf Männern fertig geworden ist und den sechsten herausfordert. Da ist kein falscher Zug: eine saftige Gestalt, echt in ihrer Art wie die andere große triebgebundene Gestalt der englischen Literatur, Sir John Falstaff. Dies glänzende Bild versöhnenden Humors war schon bei des Dichters Zeitgenossen zu sprichwörtlicher Bedeutung gelangt. Chaucers Charakterbilder sind individuell und typisch zugleich. Das ist höchste Kunst, die den Dichter hierin nur hinter den einen Shakespeare zurücktreten läßt. Die Natur ist eine immer wieder spendende Quelle der Freude. Der frische Morgen eines Maientages, das Grün der Blätter, das Zwitschern der Vögel, der Duft der Blumen, der Sonnenschein, das kletternde Eichhörnchen mit seinem Perlenauge, Bock und Hindin, in der Ferne Ausschau haltend — das alles ist mit persönlicher Wärme empfunden, realistisch geschaut und weitab von den konventionellen Formen der Troubadours oder der kunstvollen Gebundenheit des späteren Spenser. Natürlichkeit und Echtheit erfüllt auch die Sprache. Chaucer hat keine Sondersprache der Verse gegenüber der Prosa — sein Sir Thopas macht die Geschraubtheit lächerlich genug —, keine „poetische Diktion", er spricht überall schlicht und verständlich und weiß dabei alle Stufen von der banalen Derbheit bis zur höchsten Formschönheit zu treffen, auch hierin Shakespeare gleichstehend. Und Natürlichkeit ist es ja auch, wenn er die Grundstimmung seines Gemüts überall durchklingen läßt, seine Heiterkeit und Lebensfreude. Die etwas unfertigen, gemischten Menschen interessieren ihn vor allem, die das Leben so bunt machen und einen Spaß ver-
Chaucers Cantetbury-Geschichten
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tragen. E r lacht mit ihnen und über sie, er liebt sie dabei. Der Müller darf seine unschicklichen Situationen ungehindert ausmalen, der Verwalter grobes Salz servieren, der betrunkene Koch gehänselt werden. Burlesker Humor umgibt köstlich den Hahn in der Erzählung des Nonnenpriesters: In which she hadde a cok, heet Chauntecleer. In al the land of crowyng nas his peer. His voys was murier than the murie orgon On messe dayes that in the chirche gon; Wei sikerer was his crowyng in his logge Than is a clokke, or an abbey orlogge. By nature knew he eche ascencioun Of the equynoxial in thilke toun; For whan degrees fiftene weren ascended, Thanne crew he that it myghte nat been amended. His coomb was redder than the fyn coral, And batailled as it were a castel wal; His byle was blak, and as the jet it shoon; Lyk asure were his legges and his toon; His nayles whiter than the lylye flour, And lyk the burned gold was his colour. (B 4039—4054)
Es war ein Hahn drin, der hieß Kanteklär; Kein andrer kräht' im ganzen Land wie der, Und listiger war seiner Stimme Klang, Als wenn die Orgel dröhnt zum Meßgesang. Viel sichrer konnte man nach seinem Krähn Als nach der Kirchen- und Abteiuhr gehn. Er kannte von Natur in der Umgebung Der Stadt der Sonne Senkung und Erhebung. Denn wenn die Neigung fünfzehn Grade zählte, Dann kräht' er, daß kein Tüttelchen dran fehlte. Sein Kamm war röter als die Seekoralle, Gezackt gleich eines Schlosses Mauerwalle, Sein Schnabel schwarz mit des Gagates Scheine, Blau wie Azur die Zehen und die Beine; Die Nägel weißer als der Lilie Blüten, Und gleich poliertem Gold die Federn glühten.
Feine Ironie begleitet das Bild der Priorin, Ful weel she soong the service dyvyne, Entuned in hir nose ful semely, (Prolog 122—123)
Die wohl sich auf den Messedienst verstand Und stets höchst lieblich durch die Nase sang,
die sich in Ton, Haltung und Gebärde gar nicht vornehm und geziert genug geben kann. E s wäre leicht, die Beispiele zu häufen. Alle Formen des Humors vom lauten Lachen über die beißende Satire bis zu dem kaum merklichen Lächeln der Ironie stehen dem Dichter zu Gebote. Anmaßung und Heuchelei trifft er mit scharfen Hieben; die kleine Torheit, das kleine menschliche Gebrechen straft er lächelnd und verstehend. Man fühlt den Vorklang der sympathisch verbogenen Menschen eines Fielding, Charles Lamb und Dickens. Chaucer ist der erste Humorist und hierin unbestritten der Vater eines der bezeichnendsten Züge der englischen Literatur. Man muß seine Verse natürlich in der mittelenglischen Aussprache und Betonung lesen, um das schmunzelnde Behagen und die Schalkhaftigkeit des Erzähltons in den scheinbar so lässig dahinplätschernden, beständig übergreifenden und damit prosanahen, in Wahrheit aber von einem feinen inneren Rhythmus getragenen paarweis gereimten iambischen Fünftaktern, die er in die englische Verskunst eingeführt hat, voll zu genießen; die heutige Aussprache würde Klang und Silbenmaß völlig zerstören. Eine phonetische Umschreibung der Anfangsverse (vgl. S. 26) mag dies verdeutlichen : hwàn 6at aprile wlö his Jüires só:ta 6e drü:xt of mart/ haö pé:rsad tò: 6e ró:ta, and bäiöad é-vri vàin in switj liku:r of hwitj vertü endgéndrad Is 6e fluir, hwan zéfirùs £e:k wlö his sweita brsè:9 inspired hàe in é-vri hdlt and hé :6 6e téndra króppas, ànd 0e jügga süna
hàe in 0e räm his hälva kürs irüna, and smä:la füiles ma:kan mèlodi:e, 0at slé:pan ài 9e nixt wi9 d:pan f:a, — so: prikaö hèm natü:r in hlr kurä:d3as, — 0an ldogan fdlk to gö:n on pilgrimäidjas, and palmers fàr to sé:kan sträundja ströndas to férne hälwas kü:0 in sündri landas.
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II. Vorspiel der Renaissance
Die Stoffe für seine Erzählungen hat der Dichter durchweg aus fremden Quellen übernommen. Das Mittelalter kannte die Forderung einer Originalität der Erfindung noch nicht, man berief sich vielmehr geflissentlich auf die berühmte Quelle. Aber er schaltete frei mit seinen Stoffen, änderte sie, so wie er es brauchte, kürzte und verlebendigte, wenn die dramatische Situation es erforderte, mischte Einzelzüge aus verschiedenen Quellen miteinander. Realismus, Lebendigkeit oder zarte Stimmung sind sein eigenes Werk und Wesen ebenso wie die vielgestaltige Kunst von schlichter Prosa bis zur streng gebauten Stanze. Ein oft behandelter literarischer Gegenstand mag als Beispiel genügen, um die Absicht und Art zweier Großer der Dichtkunst zu verdeutlichen. Dante zeichnet im 33. Gesang der „Hölle" das Bild in Ugolinos Hungerturm in den grausigsten Farben. Ergreifend das Entsetzen des als Vaterlandsverräter verurteilten Grafen und der mit ihm duldenden vier unschuldigen Kinder, schauerlich die Höllenqual des Alten, der die unglückseligen Schädel mit den Zähnen packt und wie mit einem Hundegebiß zermalmt. Die Kraft einer gedrängten Grauenschilderung hat dies Stück zu einem der berühmtesten aus Dantes großer Dichtung gemacht. Chaucer (B 35 97 ff.) übergeht die aufwühlende einleitende Schilderung der höllischen Situation, bleibt ganz bei dem Leiden des Vaters und der Kinder und schließt kurz mit einer pathetisch rührenden Gebärde. Dantes „Göttliche Komödie" ist die Pilgerfahrt der Seele vom Naturzustand zum Zustand der Gnade; Chaucers menschliche Komödie ist die Pilgerfahrt des Lebens hienieden mit all dem bunten Durcheinander des äußeren und inneren Aussehens der Menschen. In Dante hat die Seele des Mittelalters Gestalt gewonnen; Chaucer ist einer der vornehmsten Herolde des herannahenden geistigen Völkerfrühlings. In seiner Gesellschaft muß man heiter sein und diese unvollkommene Welt lieben. Bei Dante geht es um die Rettung der Seele, bei Chaucer um die Haltung zur Welt. Man hat mit Recht gesagt, daß Dantes Anliegen das tiefste Wesen der Welt sei, Chaucers dagegen das Bild der Welt, und daß Dante aus diesem Grunde der universale, Chaucer der im besten Sinne nationale Dichter ist, Vorläufer Shakespeares, der mit noch umfassenderem, tieferem Blick das Getriebe und Gepränge der Welt und die Weisheit des Miteinanderseins als echten Humanismus des Lebens deutet. Dantes Inschrift über dem Höllentor klingt schauerlich warnend und ernst: Per me si va nella città dolente, Per me si va nell' eterno dolore, Per me si va tra la perduta gente. Giustizia mosse il mio alto fattore: Fecemi la divina potestate, La somma sapienza e il primo amore. Dinanzi a me non fur cose create, Se non eterne, ed io eterna duro : Lasciate ogni speranza, voi ch'entrate!
Der Eingang bin ich zu der Stadt der Trauer, Der Eingang bin ich zu dem ew'gen Schmerze, Der Eingang bin ich zum verlornen Volke! Gerechtigkeit trieb meinen hohen Schöpfer: Die Allmacht hat der Gottheit mich gegründet, Die höchste Weisheit und die erste Liebe. Vor mir ist nichts Erschaffenes gewesen Als Ewiges, und auch ich daure ewig. Laßt, die ihr eingeht, jede Hoffnung fahren I
Über Chaucers Gesamtwerk könnte man als Motto die freundlich einladenden Verse aus dem „Vogelparlament" setzen, die er in äußerlichem Anklang an Dante über die Pforte seines grünummauerten Parks schreibt: Thurgh me men goon in-to that blisful place Of hertes hele and dedly woundes eure; Thurgh me men gon un-to the welle of Grace
Durch mich gehst ein du in das Land der Wonnen, Der Herzen Heil, die sich in Schmerz verzehren, Durch mich gehst ein du zu dem Gnadenbronnen,
Die alten Balladen
Ther grene and lusty May shal ever endure; This is the wey to al good aventure; Be glad, thow reder, and thy sorwe of-caste. AI open am I, pas in and sped the faste I
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Da grüner, lust'ger Mai soll ewig währen. Dies ist der Weg, beim Glücke einzukehren 1 Sei, Leser, froh, wirf deine Sorg' beiseite: Sieh offen mich: hinein du munter schreite 1
2. Die alten Balladen Der Ausgang des Mittelalters ist gekennzeichnet durch eine gesellschaftliche Umschichtung großen Stils. Der Hundertjährige Krieg gegen Frankreich (1339—1453) hatte das öffentliche Interesse in Anspruch genommen und die Blüte der Nation gefesselt. Als er zu Ende war, setzten die uns aus Shakespeares Königsdramen vertrauten blutigen Fehden der Häuser Lancaster und York, der roten und der weißen Rose, ein, die den Adel dahinrafften. An die Stelle der Feudalaristokratie trat mehr und mehr das städtische Bürgertum, das nach der erfolgreichen Bekämpfung der Hansa durch weitreichenden Handel wohlhabend geworden und eine eigene Kultur zu entwickeln bestrebt war. Eine ungebrochene Fortsetzung der bisherigen literarischen Stoffe und Formen war nicht zu erwarten; der Höhepunkt, den Chaucer darstellt, blieb für zwei Jahrhunderte unerreicht. Das neue Bildungsbedürfnis fand Befriedigung in der Umgießung alter Themen in gefällige, leichtverständliche Formen, Prosa-Nacherzählungen der Artussagen und vieler Epen aus dem Schatz der Antike. Volkskundliches Gut an Sagen und Aberglauben war in der mündlichen Überlieferung der niederen Volkskreise lebendig geblieben, das Erzählen und Anhören von wundersamen Begebenheiten bildete das Feiertagsvergnügen der werktätigen Bürger und Bauern. In diesen breiten Massen gedieh nun auch ein Schatz, dessen eigenartige Köstlichkeit erst spätere Zeiten erkennen sollten. Gewiß stellte der geistvolle Franzose Montaigne bereits im 16. Jahrhundert die naturhafte Volkspoesie auf die gleiche Stufe wie die vollkommenste Kunstdichtung, gewiß rühmte sein englischer Zeitgenosse Sir Philip Sidney ebenso wie der etwas jüngere Dichter Ben Jonson bereits die Schönheiten der ältesten Ballade aus den Grenzkämpfen der Schotten und Engländer, der dann Addison zu Anfang des 18. Jahrhunderts eine eingehende Analyse widmete. Die Renaissance war in England volksnäher als in der gänzlich aristokratischen geistigen Luft Frankreichs, sie ließ den Liedern und den theatralischen Belustigungen ihr Recht. Aber es bedurfte doch später erst der aus Rousseaus Sehnsucht nach der „Natur" genährten Versenkung in die nationale Vergangenheit, um die bis dahin als literaturunwürdig angesehenen Schätze zu heben. Herder beklagt es in seinem Aufsatz über die Ähnlichkeit der mittleren englischen und deutschen Dichtkunst immer wieder, daß die Deutschen die besten Köpfe älterer Zeiten vergessen und dichterische Erzeugnisse verkümmern lassen, während andre Nationen „mit den Jahrhunderten fortgegangen sind und sich auf eigenem Grunde aus Nationalprodukten, auf dem Glauben und Geschmack des Volks, aus Resten alter Zeiten gebildet haben. Dadurch ist ihre Dichtkunst und Sprache national worden, die Stimme des Volks ist genutzet und geschätzt, sie haben in diesen Dingen weit mehr ein Publikum bekommen als wir. Wir armen Deutschen sind von jeher bestimmt gewesen nie unser zu bleiben: immer die Gesetzgeber und Diener fremder Nationen, ihre Schicksalsentscheider und ihre verkauften, ausgesogenen Sklaven." Insulare Lebensformen bewahren das Überkommene und der Umgestaltung Fähige stärker als kontinentale. 1765 veröffentlichte der Bischof Percy die berühmteste Sammlung seines Jahrhunderts als „Reste altenglischer Poesie" und gab damit den Anstoß zu einem über die Grenzen seines Landes reichenden Interesse an den alten Gedichten. Macpherson hob in Nachdichtungen in eindrucksvoller rhythmischer Prosa einen Schatz aus gaelischer Volksüberlieferung, den er in dem unkritischen Überschwang der Zeit einem Dichter Ossian zuschrieb und der uns in wesentlichen Proben durch Goethes
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II. Vorspiel der Renaissance
„Werther" nahegerückt ist. Den wichtigsten Einfluß auf unsre eigene Literatur bedeuten Herders „Volkslieder" (1788/89), in denen der feinfühlige Nachdichter und geniale Pfadfinder für neue Bereiche des dichterischen Schaffens dem liedhaften Stimmungsausdruck alter Naturpoesie bei den verschiedensten Völkern nachspürte und damit den Anstoß zu dichterischen Nachahmungen und weiteren Sammlungen gab. Die schöne Bezeichnung Volkslied, dem mehr lyrischen als erzählenden Charakter der deutschen Volksgesänge entsprechend, ist von Herder geprägt worden. Die englisch-schottischen Dichtungen werden Balladen genannt. Das Wort kam aus Frankreich als Ableitung von dem spätlateinischen und italienischen ,ballare' tanzen (Hauptwort ,ballata'), bezeichnete also ursprünglich ein Tanzlied, ein von rhythmischer Körperbewegung getragenes Begleitlied, wie wir es noch bei gewissen Kinderspielen und beim Surren der Spindeln in schlichten Bauernstuben kennen oder wie es die Cowboys in Nordamerika zum Rhythmus ihres Rittes gerne sangen. Nicht alle alten Balladen freilich entsprechen diesem Wortsinn. Der Begriff wurde erweitert und in England lange Zeit hindurch lose verwendet; in der eüsabethanischen Zeit werden oft alle möglichen Formen lyrischer, lehrhafter, satirischer, religiöser Gedichte mit ihm bezeichnet. Erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts festigt sich der Begriff der Ballade als eines strophischen, sangbaren Gedichts mit Handlung, also mit einem epischen Kern. Die V o l k s b a l l a d e steht nach Alter und Wert obenan. Die Ansichten über ihre Ursprünge spiegeln die ganze Entwicklung von der ersten romantischen Begeisterung für das Einfach-Naturhafte in Sitte und Fühlen bis zur kritisch-positivistischen Erforschung des Feststellbaren wider. Herder und die Brüder Grimm nährten die Meinung von dem in gemeinsamem Gefühlsrausch geformten Stimmungsausdruck einer tanzenden oder singenden Gruppe, in der der Kehrreim des Chors den Anfang und den Anlaß für die verbindenden erzählenden Worte eines oder mehrerer Sprecher bildete, die einzelne Zeilen beitrugen. Der Glaube an eine solche spontane Gemeinschaftsdichtung ist längst aufgegeben, wenn auch die individuelle Schöpfung eines begnadeten Sängers auf Grund einer gemeinsamen Erlebnis- oder Stimmungsgrundlage, wie sie Freiligrath in dem von Loewe genial vertonten Gedicht „Prinz Eugen" so packend schildert, oft der Wahrheit entsprochen haben mag. Anlaß und Art der Entstehung haben gewechselt. Auf jeden Fall haben wir den Einzeldichter aus höheren Kreisen anzunehmen, der alte, noch lebendige Gegenstände aufgriff und in einer dem Volke gemäßen Form darbot. In diesem Sinne handelt es sich doch um echte Volkskunst. Der Name des Dichters wurde schnell vergessen und ist in keinem Falle bewahrt worden. Sein Gedicht blieb im Munde der Generationen lebendig, bei dieser Form der Weitergabe naturgemäß oft verändert — zersungen, wie man sagt — , so daß die anonyme alte Ballade in der Regel in vielen Fassungen auf uns gekommen ist, ein Zeichen für ihre Lebenskraft und Verbreitung. Die Wirkung dieses Zweiges der mittelalterlichen Dichtung auf die neuzeitliche war außerordentlich. Was für uns Deutsche das Volkslied ist, bedeutet die Ballade für England und Schottland. Volksdichtungen der geschilderten Art dürfen wir bereits im 13. und 14. Jahrhundert annehmen; einige, die sich an bestimmte geschichtliche Ereignisse anlehnen, sind mit größerer Genauigkeit dem 14. und 15. Jahrhundert zuzurechnen. Die Einführung der Buchdruckerkunst in England (1477) zeitigte eine große Verbreitung der gesungenen Balladen; die Mehrzahl der uns erhaltenen Texte stammt aus dem 16., 17. und 18. Jahrhundert. Wovon sang das Volk oder der oft als Vortragender anzunehmende wandernde Minstrel? Wir hören, oft in ungenauer Geschichtserinnerung, von dem dämonischen Kämpferdrang und hohen Mut der alten Heldensage, von elementarem Opfersinn, von Ehre und Ruhm, von grausigen Tragödien bei den Großen und im Alltag der
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Kleinen. Wir hören von dem tyrannischen Vater, der die Tochter zur nichtgewollten Ehe zwingt, von einem grausamen Geliebten gegen ein rührend anhängliches Mädchen, von hartem Gericht und königlicher Gnade, nicht aber von höfischer Etikette, Standesgefühl oder Preis einer Berufsgruppe, weil immer die Gesamtheit Publikum und Empfindungsträger ist. Die Welt pocht vielfältig an die Pforten und ist immer da, ob wir nun trotzen oder zagen. Über dieser Wirklichkeit baut sich dann auch das Reich des Zaubers und der Wunder auf mit Alben, Wichtelmännchen und Riesen, mit beseelten Gestalten des Erdinneren und der Luft, so daß die Volksballade nicht selten an die Seite des Märchens rückt. Das stark Gefühlsmäßige herrscht vor wie in aller echten Volkspoesie, die Gefühle sind wichtiger als die Begebenheiten, nicht geschilderte, sondern in atemloser Vortragsart mitschwingende Gefühle. Es ist Eindruckskunst, unpersönlich, objektiv und nicht persönlich-subjektiv. Aufbau und Vortragsart verdeutlicht am besten die mächtige Ballade Edward, die von vielen unsrerTonschöpfer,am eindrucksvollstenwohl von CarlLöwe,vertontwordenist. Edward "Why dois your brand sae drap wi bluid, Edward, Edward? Why dois your brand sae drap wi bliud, And why sae sad gang yee O?" "O I hae killed my hauke sae guid, Mither, mither, O I hae killed my hauke sae guid, And I had nae mair bot hee O." 2
"Your haukis bluid was nevir sae reid, Edward, Edward, Your haukis bluid was nevir sae reid, My deir son I tell thee O." "O I hae killed my reid-roan steid, Mither, mither, O I hae killed my reid-roan steid, That erst was sae fair and frie O." 3
"Your steid was auld, and ye hae gat mair, Edward, Edward, Your steid was auld, and ye hae gat mair; Sum other dule ye drie O." "O I hae killed my fadir deir, Mither, mither, O I hae killed my fadir deir, Alas, and wae is mee O." 4
"And whatten penance wul ye drie for that, Edward, Edward? And whatten penance wul ye drie for that? My deir son, now tell me O." "lie set my feit in yonder boat, Mither, mither, lie set my feit in yonder boat, And lie fare ovir the sea O."
Edward i „Dein Schwert, was träuft es so von Blut? Edward, Edward! Dein Schwert, was träuft es so von Blut Und gehst so trüb einher? — Oh —" „Oh, ich erschlug meinen Falken gut, Mutter, Mutter, Oh, ich erschlug meinen Falken gut, War keiner mir lieber als er — Oh —" 2
„Deines Falken Blut war nie so rot, Edward, Edward I Deines Falken Blut war nie so rot, Mein Sohn, das sag' ich dir — Oh —" „Oh, ich schlug mein Roß, meinen RotMutter, Mutter, [scheck tot, Oh, ich schlug mein Roß, meinen Rotscheck tot, Das schmucke, das stolze Tier—Oh —" 3
„Dein Roß war alt — dir steh'n mehr zu Edward, Edward 1 [Gebot, Dein Roß war alt — dir steh'n mehr zu Gebot, Du trägst wohl anderes Leid — Oh —" „Oh, den Vater, den teuren, schlug ich tot, Mutter, Mutter, Oh, den Vater, den teuren, schlug ich tot, Weh mir in Ewigkeit! — Oh —" 4
„Und wie willst du büßen für seinen Tod, Edward, Edward! Und wie willst du büßen für seinen Tod? Mein Sohn, das sage du mir! — Oh —" „Will setzen die Füße in jenes Boot, Mutter, Mutter, Will setzen die Füße in jenes Boot, Über See fahren weit von hier—Oh —"
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II. Vorspiel der Renaissance 5
"And what wul ye doe wi your towirs and Edward, Edward? [your ha, And what wul ye doe wi your towirs and your ha, That were sae fair to see O?" "lie let thame stand tul they doun fa, Mither, mither, lie let thame stand tul they doun fa, For here nevir mair maun I bee O." 6
"And what wul ye leive to your bairns and Edward, Edward? [your wife, And what wul ye leive to your bairns and your wife, Whan ye gang ovir the sea O?" "The warldis room, late them beg thrae life, Mither, mither, The warld is room, late them beg thrae life, For thame nevir mair wul I see O." 7
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„Und was tust du mit Schloß und Türmen [und Saal, Edward, Edward? Und was tust du mit Schloß und Türmen und Saal? — Sie waren so stattlich zu schau'n! — Oh — " „Ich laß sie steh'n, bis sie fallen zu Tal, Mutter, Mutter, Ich laß sie steh'n, bis sie fallen zu Tal, Hier leidet mich nimmer das Grau'n 6 - O h - " „Und was wird mit Weib und Kindern Edward, Edward? [geschehn, Und was wird mit Weib und Kindern geschehn, Wenn du fortziehst über die See? — Oh —" „Die Welt ist weit — laß sie betteln gehn, Mutter, Mutter, Die Welt ist weit — laß sie betteln gehn, Nie schau' ich ins Aug' ihnen je — Oh —"
"And what wul ye leive to your ain mither Edward, Edward? [deir, And what wul ye leive to your ain mither My deir son, now tell me O." [deir? "The curse of hell frae me sail ye beir, Mither, mither, The curse of hell frae me sail ye beir, Sic counseils ye gave to me O."
„Und was hast du für deine Mutter, für mich, Edward, Edward? Was hast du für deine Mutter, für mich? Mein lieber Sohn, sag an — Oh —" „Den Fluch der Hölle lad' ich auf dich, Mutter, Mutter, Den Fluch der Hölle lad' ich auf dich — — Du wolltest ja, was ich getan I — Oh — " Eine grausige Familientragödie, nicht erzählt, sondern nur in einem durch kein berichtendes Dichterwort, durch kein beschreibendes Beiwerk unterbrochenen dramatischen Zwiegespräch von Mutter und Sohn langsam enthüllt. Bewegung erkennt Herder in seinem Aufsatz über Ossian als das Wesen der natürlichen alten Volkskunst, „Würfe und Sprünge" für den sinnlichen Verstand, „also für die Seele des Volks, die doch fast nur sinnlicher Verstand und Einbildung ist" und die „mit Aufwallung und Feuer" singt. Erst am Schluß unsrer Ballade erfahren wir alles, den Vatermord und die Anstiftung durch die Mutter. Motive und Hintergründe bleiben unerwähnt, die ruchlose Tat ist vollbracht, der Vatermörder kehrt zurück und wird von der Mutter, die doch selbst alles weiß, zur Rede genötigt. Der Gemütszustand des Täters, der in einer Bußfahrt über See Ruhe zu finden hofft, ist der alleinige Gegenstand des schauerlichen Dialogs. Dreistufig ist der motivische Aufbau: ich habe meinen Falken, mein Roß, meinen Vater erschlagen; und in dem Vermächtnis: Schloß und Türme und Saal mögen zerfallen, Weib und Kinder mögen betteln gehen, die Mutter soll dem Fluch der Hölle verfallen. Jede Strophe, aus wiederholter Frage und Antwort bestehend, wird von dreifachem Kehrreim umklammert, einmal von dem erregt wiederholten Namen des Sohnes und dem Worte Mutter, zweimal von dem vielfältig abgetönten schmerzvollen „ O " . Die Entstehung aus dem rhythmischen Gemeinschaftslied wird hier sichtbar: Solosänger: „Dein Schwert..." Chor: „Edward, Edward, dein Schwert. . ."
Solist: „Und gehst so trüb einher?" Chor: „Oh."
Die aJten Balladen
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Und entsprechend in dem Antwort-Abgesang. Da ist kein Raum für ruhige Aussprache, für bildhafte Beschreibung und Betrachtung; höchste Erregung, in knappen Sätzen, hastigen Fragen, Wiederholung von Wortgruppen und stöhnendem Ausruf geformt, trägt das atemlose Zwiegespräch mit seinem dramatischen Aufbau. Alle Stilmerkmale echt volksverbundener, in der Stärke primitiver Urgefühle wurzelnder, in Aufbau und Vortrag vollendeter Kunst sind in dieser seit Herder hochberühmten Meisterballade vereinigt. Von noch gedrängterer Kürze und Innerlichkeit ist die Enthüllungstechnik in der packenden Ballade The Twa Corbies i As I was walking all alane, I heard twa corbies making a mane; The tane unto the t'other say, "Where sail we gang and dine today?" 2
"In behint yon auld fail dyke, I wot there lies a new slain knight; And naebody kens that he lies there But his hawk, his hound, and lady fair. 3
"His hound is to the hunting gane, His hawk to fetch the wild-fowl hame, His lady's ta'en another mate, So we may make our dinner sweet. 4
"Ye'll sit on his white hause-bane, And I'll pike out his bonny blue een; Wi ae lock o his gowden hair, We'll theeck our nest when it grows bare. 5
"Mony a one for him makes mane, But nane sail ken where he is gane; Oer his white banes, when they are bare, The wind sail blaw for evermair."
Die ywei Raben i Ich ging im Walde für mich allein, Da hört ich zwei Raben krächzen und Schrein. Es rief der eine dem andern zu: „Wo können wir Mittag halten in Ruh?" 2
,,Dort hinter der Mauer, verfallen und alt, Liegt ein Ritter, erschlagen durch List und Gewalt, Und nur seine Liebste weiß, daß er dort liegt, Und sein Hund und sein Falke, der drüber fliegt. 3
Sein Hund jagt die Hasen im Wald und am Bach, Sein Falke stellt dem wilden Gevögel nach, Sein Lieb führt ein andrer als Buhle nachHaus, So stört uns keiner beim Mittagsschmaus. 4
Du magst sitzen auf seinem Schlüsselbein, Und ich hack' in die blauen Augen hinein, Eine Locke von ihm, goldglänzend und licht, Macht im Winter das Nest uns warm und dicht. 5
So mancher wird noch trauern um ihn Und fragen und sinnen:, Wo zog er wohl hin ?' Wenn über sein weißes, entblößtes Gebein Die Winde schon wehen jahraus, jahrein 1"
Auch hier das in der echten Volksballade typische Reimpaar, auch hier die auf bildhafte Eigenschaftswörter verzichtende Nachdruckskunst des harten Gespräches mit Stabreim — im Original noch stärker sichtbar als in der Nachdichtung —, Hund und Falke als typische Begleitung des jagenden Ritters. Auch hier erschüttert uns das schauerliche Geschehen von Treulosigkeit und Untat, das die mitschaffende Phantasie des Hörers hinter dem heiseren Krächzen der gefühllosen Raben aufbaut. Die Ballade war weit verbreitet, auch als „Die drei Raben" in einer abgewandelten Form. Oder das Lied von der Grausamen Schwester (The Twa Sisters), bei dem durch den empfindungsstark mitschwingenden Kehrreim die Entstehung aus dem Tanz- oder Gemeinschaftslied fühlbar wird:
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II. Vorspiel der Renaissance
There was twa sisters in a bowr, Edinburgh, Edinburgh, There was twa sisters in a bowr, Stirling for ay; There was twa sisters in a bowr, There came a knight to be their wooer; Bonny Saint Johnston stands upon Tay. He courted the eldest wi glove an ring, But he lovd the youngest above a' thing. He courted the eldest wi brotch an knife, But he lovd the youngest as his life. The eldest she was vexed sair, An much envied her sister fair. Into her bowr she could not rest; Wi grief an spite she almost brast. Upon a morning fair an clear, She cried upon her sister dear: „O sister, come to yon sea stran, An see our father's ships come to lan."
i
Es saßen zwei Schwestern in einem Gemach, (Binnorie, o Binnorie!)
Ein Rittersmann kam, der von Minne sprach am lieblichen Mühldamm von Binnorie. 2
Er schenkte der Ältesten Handschuh und Ring, Doch sein Herz in Lieb an der Jüngsten hing. 3
Er schenkte der Ältesten Nadeln von Gold Und liebt mehr als sein Leben die Jüngste so hold. 4 Das schuf der Ältesten Ärger und Leid, Und sie haßte die liebliche Schwester voll Neid. 5
Sie sprach zu der Jüngsten: „ Willst du mit mir geh'n Und des Vaters Schiffe heimkehren seh'n?" 6
She's taen her by the milk-white han, An led her down to yon sea stran.
Sie faßt ihre lilienweiße Hand Und führt sie hinab an des Flusses Strand;
The youngest stood upon a stane; The eldest came an threw her in.
Die Jüngste steht auf einem Stein, Die Älteste kommt und stößt sie hinein.
7
Schauerlich knapp der Vorgang selbst, breit dagegen das Jammern der Versinkenden, die ihre ganze Habe in ihrem Flehen um Rettung anbietet, ohne die unerbittliche Schwester zu rühren. Am Mühlendamm treibt der Leichnam ans Land. Ein vorbeiziehender Harfner macht aus dem weißen Gebein eine Harfe, auf die er das goldgelbe Haar spannt. Sie erklingt von selbst vor dem königlichen Elternpaar: zum Vater will ich hin, zur Mutter, zum Bruder, zum Geliebtem, und dann in mächtiger Steigerung die Entlarvung der unseligen Schwester: . 27 The lasten tune that he playd then Doch das letzte Lied, das die Harfe sang, (Binnorie, o Binnorie I) Was, "Wae to my sister, fair Ellen." War: „Weh über dich Schwester, dein Leben lang!" O lieblicher Mühldamm von Binnorie! So klingt es geheimnisvoll und schauerlich aus der wundersamen Harfe, das harte Lied von Eifersucht und Haß, mit primitiver Kontrastwirkung von Unschuld und Grausamkeit. Was König und Königin empfinden, was aus der Mörderin wird, hören wir nicht. Die Klagen der Ertrinkenden und der aus ihrem Gebein geformten Harfe
Die alten Balladen
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hämmern auf unser G e f ü h l und überlassen uns die Nachzeichnung des V o r g a n g s und seiner Sühne. A u c h diese Ballade zeigt den für die Volksdichtung bezeichnenden Verzicht auf anschauliche Eigenschaftsbezeichnung, kennt nur das stereotype schön, hold, lieblich, die lilienweiße Hand, das weiße Gebein, das goldgelbe Haar. D i e Volkspoesie hat nur typische, nicht aber individualisierende Beiwörter. In der Welt des Übernatürlichen erscheint die geisterhafte Rückkehr aus dem Reich der T o t e n häufig als Volksmotiv, wie wir es aus Bürgers „ L e n o r e " kennen, daneben die meist siebenjährige Bindung eines Sterblichen an eine Fee wie in der von L ö w e vertonten Ballade „ T o m der R e i m e r " . D a s sind einige Proben aus einer großen Zahl v o n Sittenbildern mit krassem Geschehen und ergreifender Gemütserregung. D e n Übergang zu einem undeutlich fühlbaren geschichtlichen Ereignis mit einer Ortsanspielung i m A n f a n g verdeutlicht uns der Sang v o n Herrn Patrick Spence, der in zahlreich überlieferten Fassungen weit verbreitet war.
Sir Patrick
Spens
Herr Patrick Spence
i The king sits in Dumferling toune, Drinking the blude-reid wine: " O whar will I get guid sailor, T o sail this schip of mine?"
i Der König sitzt im Dumferling-Schloß Und trinkt den blutroten Wein: „Der beste Seemann für dies mein Schiff, Wo mag er zu finden sein?"
2 Up and spak an eldern knicht, Sat at the kings richt kne: "Sir Patrick Spens is the best sailor, That sails upon the se."
2 . . . Von dem Platz an des Königs rechtem Hub der Alte sich, der da saß. [Knie „ D e r beste Segler ist Patrick Spence, Der je die See durchmaß."
3
The king has written a braid letter, And signd it wi his hand, And sent it to Sir Patrick Spens, Was walking on the sand. 4
The first line that Sir Patrick red, A loud lauch lauched he, The next line that Sir Patrick red, The teir blinded his ee. 5
i Der König schrieb einen großen Brief, Den er siegelt' mit eigener Hand, Und sandte ihn Herrn Patrick Spence, Der wandelnd ging am Strand. 4
Als Herr Patrick die erste Zeile las, D a lacht' er hinaus in den Wind, Doch als er die nächste Zeile las, Ward sein Auge vor Tränen blind: 5
" O wha is this has don this deid, This ill deid don to me, T o send me out this time o' the yeir, T o sail upon the sel
„Wer ist's, der mir so übel will, Daß er solches mir tat zuleid, Zu schicken mich hinaus auf die See In dieser Jahreszeit?
6 "Mak hast, mak haste, my mirry men all, Our guid schip sails the morne." " O say na sae, my master deir, For I feir a deadlie storme.
6 Nun sputet euch, meine wackeren Leut', Wir segeln beim Morgenrot!" „ O sagt nicht so, mein teurer Herr, Uns brächte der Sturm den Todl
7
"Late, late yestreen I saw the new moon, Wi the auld moone in hir arme, And I feir, I feir, my deir master, That we will cum to harme." 4 Die Stimmen der Meister
7
Spät abends sah ich den neuen Mond Mit dem alten Mond im Arm, Ich fürchte, ich fürchte, mein lieber Herr, Das bringt uns Not und Harm."
II. Vorspiel der Renaissance
5° 8
O our Scots nobles were rieht laith To weet their cork-heild schoone; Bot lang owre a' the play wer playd, Thair hats they swam aboone. 9
O lang, lang may their ladies sit, Wi thair fans into their hand, Or eir they se Sir Patrick Spens Cum sailing to the land. 10 O lang, lang may the ladies stand, Wi thair gold kems in their hair, Waiting for thair ain deir lords, For they'll se thame na mair. 11 Haf owre, haf owre to Aberdour, It's fiftie fadom deip, And thair lies guid Sir Patrick Spens, Wi the Scots lords at his feit.
8
Nicht gerne netzten die schottischen Herrn Die korkbesohlten Schuh — Ach, bald schaukelten ihre Federhüt' Auf den Wellen dem Strande zu. 9
O lang mögen sitzen ihre Frau'n Mit dem Fächer in der Hand, Bevor sie sehen Herrn Patrick Spence Heimsegeln an den Strand. 10 Lang mögen stehen ihre Frau'n Mit den goldenen Kämmen im Haar Und warten auf ihre lieben Herrn — — Sie werden sie nimmer gewahr. 11 Dort halbwegs von Aberdour ist es tief, — — Wohl fünfzig Faden gar — Und dort liegt zu Füßen Herrn Patrick Spence Der schottischen Edlen Schar.
Wer der Alte ist, der auf die übermütige Frage des Königs den Namen des Seefahrers nennt, hören wir nicht, auch nichts von den Beweggründen des unseligen Rates. Sir Patrick Spence erkennt schnell die Tücke. Aber es gibt keine Gegenvorstellungen des treuen Gefolgsmanns, kein Zögern trotz der sicheren Todesahnung. Ausfahrt, Kampf mit dem Sturm, Untergang des Schiffes werden weder berichtet noch angedeutet; nur aus knappen, bildhaften Klageworten ahnen wir, was geschehen ist: Ach, bald schaukelten ihre Federhüt' Auf den Wellen dem Strande zu. Dagegen wird die Situation ausgemalt: die bang wartenden Frauen mit den goldenen Kämmen im Haar und dem Fächer in der Hand, schließlich das traurige Bild der ertrunkenen Herren. Wiederum ein hoch dramatischer Vorgang, in knappsten Vortrag gedrängt, aufrüttelnd zu mitschaffender Ausmalung durch den Hörer. Die Verskunst der sogenannten Balladenstrophe bewahrt die Eigentümlichkeiten altgermanischer Dichtung. Sie ist akzentuierend und nicht silbenzählend; in der Senkung können zwei oder noch mehr Silben stehen. Erst die spätere, romanisch beeinflußte Metrik hat den regelmäßigen Wechsel von Hebung und Senkung gebracht. Die betonten Silben des vierhebigen, also des ersten und dritten Verses haben nicht die gleiche Stärke; zwei Hebungen tragen Haupt-, die beiden anderen Nebenton: / Der König sitzt im Dumferling-Schlöß Der beste Seemann für dies mein Schiff Dieser „dipodische" Rhythmus ist stets ein Kennzeichen des Volkstones. So bei Goethe: Habe nun, ächl Philosophie . . . In seiner Werkstatt Sonntags früh . . .
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Die alten Balladen
Dagegen kunstmäßig: Was hör ich draußen vor dem Tor, Was auf der Brücke schallen? Nur zwei Verse der aus vier abwechselnd vier- und dreihebigen Zeilen bestehenden Strophe werden in der echten Volksballade durch Reim gebunden. Die Strophe ist inhaltlich geschlossen, ein neuer Handlungsabschnitt erfordert eine neue Strophe. Dadurch ergibt sich von selbst ein gewisser Singsang, eine Melodie, während die höfische Kunst der Lese- oder Sprechdichtung lieber die Monotonie des Verses durch Wechsel des Inhalts bricht. An der Spitze der Geschichtsballaden, die in lebendiger, aber ungenauer Erinnerung mehr die Stimmimg der Zeit als die Tatsachen selbst bewahren, steht die berühmte, gegen das Ende des 15. Jahrhunderts entstandene Dichtung von der Cheviotjagd, von der der Elisabethaner Sir Philip Sidney sagte, sie habe ihn immer mehr als Trompetenstöße erregt, und deren Verfasserschaft Ben Jonson gerne gegen sein gesamtes dichterisches Werk eintauschen wollte. Seit den Tagen ihres Heldenkönigs Robert Bruce im 14. Jahrhundert kämpften die Schotten um ihre Unabhängigkeit. Dauernde Gegnerschaft gegen England war das Ergebnis, ein gestärktes Gefühl für den Heimatboden und die heimische Sitte, ein volksverbundener Adel. Das starke Überwiegen der schottischen Balladen in der ganzen Überlieferung geht auf diese patriotischen und sangesfrohen Zeiten zurück. Das Grenzgebiet der Cheviotberge ist Schauplatz zahlloser Fehden zwischen den Geschlechtern des Nordens und Südens. Die Schotten erkannten schließlich die innere Zerrüttung und Schwächung Englands unter Richard II. und benutzten sie zu einem großen Einfall in Northumberland, wo 1388 bei Otterburn die Entscheidung zugunsten der Schotten fiel. Der blutige Kampf lebte in einer eigenen Ballade über die Schlacht bei Otterburn fort, gleichzeitig aber auch in verschwommener Geschichtserinnerung in der eigentlichen Ballade über die Cheviot-Jagd, die einen mehr episodischen Vorgang zum Gegenstand hat, den herausfordernden, einem alten Jagdgesetz der Grenzmarken trotzenden Einfall des Grafen Percy von Northumberland — es ist der aus Shakespeares „Heinrich I V . " bekannte Percy Heißsporn — in die Jagdgründe des schottischen Grafen Douglas. Die Ähnlichkeit der beiden Dichtungen hat oft zu falschen Schlüssen und Verwechslungen Anlaß gegeben; sie müssen aber als selbständige Stücke gelten, wobei die dichterisch bedeutendere Cheviot-Jagd-Ballade in stofflicher Anlehnung an die Otterburn-Überlieferung steht, in undeutlicher Erinnerung freilich — Erfindung ist die aus Übermut unternommene Hirschjagd, Jakob von Schottland und Heinrich IV. erscheinen an Stelle der für das Datum von Otterburn richtigen Robert und Richard II., Percy Heißsporn wurde in Wirklichkeit gefangengenommen und nicht getötet —, aber mit mächtiger Wucht und Nachzeichnung der Stimmungen. The Hunting of the Cheviot 1 The Perse owt off Northombarlonde, and avowe to God mayd he That he wold hunte in the mowntayns off Chyviat within days thre, In the magger of doughte Dogles, and all that ever with him be. 4*
Die Jagd von Chyviat 1 Der Percy aus dem Nord-Humberland Schwor zu Gott einen teuren Eid, Er wollt' halten in den Bergen von Chyviat Drei Tag lang ein großes Gejaid Zum Trotz dem gewaltigen Douglas Und allen, die jetzo ihm geben Geleit.
5*
II. Vorspiel der Renaissance
The fattiste hartes in all Cheviat he sayd he wold kyll, and cary them away; "Be my feth," sayd the doughty Doglas agayn, " I wyll let that hontyng yf I may." 3 Then the Perse owt off Branborowe cam, with him a myghtee meany, With fifteen hondrith archares bold off blood and bone; the wear chosen owt of shyars thre.
Die feistesten Hirsche im Chyviatstal Wollt' er töten und schleppen hindann; „Beim ewigen Gott!" sprach der Douglas darauf, „Ich verhindre dies Jagen, wenn irgend ich kann!" Von Banborowe kam der Percy heran Und mit ihm eine mächtige Schar Von fünfzehnhundert Schützen so kühn, Die aus drei Grafschaften auserwählt war.
Die Jagd beginnt, Wolfshunde scheuchen, die Hirsche, von denen hundert zur Strecke gebracht werden. Da naht „der gewaltige Douglas" mit seiner Kämpferschar. 14 The dougheti Dogglas on a stede, he rode alle his men beforne; His armor glytteryde as did a glede; a boldar barne was never born.
14 Der furchtbare Douglas zog hoch zu Roß Als Führer vor seinen Mannen einher, Nie ward geboren ein kühnerer Held, Wie glühendes Erz strahlt' im Licht seine Wehr.
Als Percy sich offen zu seinem Raubzug bekennt, fordert Douglas ritterlichen Kampf und Tod eines der beiden Führer; er will allein ehrlich mit Percy kämpfen und das Blut schuldloser Männer schonen. Percy nimmt die Herausforderung an, aber einer seiner Unterführer widerspricht: die Gefolgsleute wollen dem Streit ihres Führers nicht müßig zusehen. So entbrennt der allgemeine Kampf, „der Tag, o der Tag, der schreckliche T a g ! " In gewaltigem Ansturm fallen die Engländer zuerst mit dem Bogen, dann mit dem Schwert über die Schotten her. Douglas fällt, von einem Speerwurf getroffen, aber auch der um ihn klagende Percy muß sein Leben lassen, ein schottischer Ritter sprengt durch die Reihen, stößt ihm den Speer durch den Leib und fällt selbst, vom Bogenschuß eines rächenden Engländers getroffen. Bis in den späten Abend dauert das blutige Ringen, dessen Erbitterung in Einzelzügen beleuchtet wird; von 1500 Engländern ziehen schließlich nur 53 ab, von 2000 Schotten nur 55. 51 But all wear slayne Cheviat within; the hade no strengthe to stand on hy; The chylde may rue that ys unborne, it was the more pitte.
51 Alle anderen lagen auf Chyviats Gefild Und hatten nicht Kraft mehr zum Streit, Selbst über das ungeborene Kind Brachte Jammer der Tag und Leid.
König Jakob von Schottland klagt laut über den Verlust des tapferen Douglas. Der englische König Heinrich IV. nimmt die Kunde männlicher und entschlossener auf. E r gelobt Rache und nimmt sie auch in einer Schlacht bei Humbledon. 65 This was the hontynge off the Cheviat, that tear begane this spurn; Old men that knowen the grownde well yenoughe call it the battell of Otterburn.
65 . . . Das war die Jagd im Chyviatstal, Aus Trotz und Schimpf ward viel Leid; Das Schlachtfeld von Otterborn nennen's die Leut, Die da wohnen seit langer Zeit.
Die alten Balladen
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At Otterburn begane this spume, uppone a Monnynday; Ther was the doughte Doglas slean, the Perse never went away. 67 Ther was never a tym on the Marche-partes sen the Doglas and the Perse met, But yt ys mervele and the rede blude ronne not, as the reane doys in the stret. 68
Ihesue Crist our balys bete, and to the blys us brynge! Thus was the hountynge of the Chivyat: God send us alle good endyng!
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In Otterborn am Montag früh Dieser Streit und dies Ringen begann, Erschlagen der furchtbare Douglas ward, Und auch der Percy ging nimmer hindann. 67 Und im Grenzland fürder zu jeder Frist, Seit die zwei sich begegnet sind, War's ein Wunder, wenn rotes Blut nicht floß, Wie der Regen auf den Straßen rinnt. 68
Jesus Christus, heil' du unsre Übel, Unser Herz nach der Seligkeit wend' I — Das war das Jagen in Chyviat — Gott schenk' uns allen ein gutes End'!
So kündet diese Lieblingsballäde des Volkes, wie Addison sie nennt, den furchtbaren Kampf aus den Tagen der streitbaren Barone, der in Froissarts Chronik als die grausigste und erbittertste Schlacht bezeichnet wird, die je geschlagen wurde. Das Volk will Frieden, wie die Schlußwendung bezeugt, es kennt das durch Geschlechter gehende Leid, das vernehmen wir aus den mitgeteilten Strophen 4 und 51. Nichts als Jammern und Klagen ist das Ergebnis, weinend tragen die Witwen die gefallenen Krieger fort, Haß und blutiger Streit der einzelnen Schotten und Engländer, die sich im Grenzland begegnen, ist fürderhin das Ergebnis des großen Ringens. Eindringlich beschreiben die Beiworte die Stimmung: das bittere Leid, der schreckliche Schwur, der furchtbare und gewaltige Douglas, der schreckliche Tag, das grausige Krachen der Klingen, das rote Herzblut, die tödlichen Streiche, die jammernden Grafschaften, der klagende König usw. Germanischer Heldensinn ist lebendig, ritterlich denken die einander achtenden Führer, treuer Opfersinn beseelt die Gefolgsleute: eine typische Ritterlichkeit ohne individuelle Gestaltung der Haupthandelnden. Eine Charakterisierungskunst ist überhaupt nicht beabsichtigt; das Geschehen als solches steht im Mittelpunkt, nicht der Held. Die Sympathien des Dichters gelten den Engländern. Ihre Kämpferzahl ist geringer — 1500 gegen 2000 Schotten —, ihr König, „unser edler König, ein Fürst von Ansehen und Macht", nimmt die traurige Nachricht gefaßter und würdiger auf und übt wirksame Rache. Wir dürfen also einen Engländer aus dem Grenzgebiet als Dichter annehmen. Lebendig und nachdrücklich ist auch hier wieder der Vortrag mit den vielen direkten Reden und Gegenreden, die wie im germanischen Epos den Kampf verzögern, mit typischen Eigenschaftsbezeichnungen — der furchtbare Douglas, der gute Herr Percy, genau wie etwa der grimme Hagen, die minnigliche Kriemhild in unserm Nibelungenlied —, mit Appositionen, ohne jeden veranschaulichenden Vergleich. Ein erregender, mitreißender Vortrag von dramatischer Wucht. Ganz anders als diese Geschichtserinnerung der blutgetränkten Grenzlande ist die des Südens. In ihr lebt undeutlich das Gedächtnis des Sachsenfürsten Hereward fort, der als Geächteter in den Sümpfen von Ely den normannischen Eroberern trotzte. Die erfundene Gestalt des beim Volke beliebten „Geächteten" Robin Hood mit seinen fröhlichen Begleitern Bruder Tuck, Klein Johann, Will Scarlet, Allen a Dale u. a. ist Träger dieser Erinnerungen an eine Zeit, in der strenge Jagdgesetze zum Schutz des Wildes erlassen waren und so mancher Freisasse im Walde von Jagd und Raub lebte. Robin war der typische Name des Helden französischer Pastorale, Hood bezeichnet
II. Vorspiel der Renaissance
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einen Waldgeist. Als Freisasse (yeoman) tritt uns Robin Hood in den Balladen entgegen, wenn auch eine reichlich unklare Uberlieferung in ihm einen Earl of Huntington sehen will. Im Wald von Sherwood in Nottinghamshire leben die fröhlichen Gesellen. Die Zeit verlegt der Volksglaube in die Jahre des romantisch-ritterlichen Richard Löwenherz ( 1 1 8 9 — 1 1 9 9 ) , wie der Leser von Scotts Roman „ I v a n h o e " weiß. Die Balladen spiegeln die sozialen Bewegungen des 13. und 14. Jahrhunderts wider, Langlands Interessengebiet, als die armen Bauern und Landarbeiter gegen den Adel Front machten. Ihr Held ist dem König treu ergeben, aber ein Gegner der Grafschaftsvögte, der reichen Kaufherren, der anmaßenden Pfaffen und aller anderen Bedrücker der armen Leute, denen er nach Kräften hilft. E s herrscht also im Gegensatz zu den Volksdichtungen des Nordens ein anti-ritterlicher Geist. Der „edle Räuber" plündert die Reichen und beschenkt die Armen. Die sehr große Zahl der Robin-Hood-Balladen — wir besitzen etwa vierzig — enthält viele seichte Schwanke, wie sie von witzlosen Reimern auf den Märkten und in den Dorfschenken gesungen wurden. Viele der wertvollen Stücke aber sind lebendig geblieben mit ihrer bewegten Handlung und ihrem Humor, ihrem behaglich-einfachen Vortragston, dem Spott über zur Schau getragene Würde, der Freude über den Geprellten, wie es der kleine Mann liebte. Der T o n mag durch ein Stück aus dieser Gruppe verdeutlicht werden. Robin Hood and the Bishop of Hereford
Robin Hood und der Bischof von Herford
1 Some they will talk of bold Robin Hood, And some of barons bold, But I'll tell you how he served the Bishop of Hereford, When he robbed him of his gold.
1 Man singt von so manchem kühnen Baron Und besonders von Robin Hood, Und ich sag euch, wie dem Bischof von Herford er tat, Ihm raubte sein Gold und sein Gut.
2
As it befel in merry Barnsdale, And under the greenwood tree, The Bishop of Hereford was to come by, With all his company. 3
"Come, kill a venson," said bold Robin Hood, "Come, kill me a good fat deer. The Bishop of Hereford's to dine with me to-day, And he shall pay well for his cheer. 4
"We'll kill a fat venson," said bold Robin Hood, "And dress it by the highway-side; And we will watch the Bishop narrowly, Lest some other way he should ride." 5
Robin Hood dressed himself in shepherd's With six of his men also; [attire, And when the Bishop of Hereford came by, They about the fire did go.
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Das geschah im lustigen Barnestal, Im Walde so grün und weit, Der Bischof, der sollte vorüberziehn Mit prächtigem Geleit. 3
Sprach Robin der Kühne: „Erlegt mir ein Wild, Ein feistes, stattliches Tier; Der Bischof von Herford speist heute mit uns Und zahlt die Zeche allhier. 4
Wir erlegen ein Wild und bereiten es zu An der Straße im Graben geschwind, Und ich acht' auf den Bischof, daß er uns nicht Auf andern Wegen entrinnt." 5
Nun kleidet sich Robin mit sechs Gesell'n In schlichte Schäfertracht, Und sie gehn, als der Bischof vorüberzieht, Ums Feuer herum mit Bedacht.
Die alten Balladen
6 " O , what is the matter?" then said the Bishop, " O r for whom do you make this ado? Or why do you kill the king's venson, When your company is so f e w ? " 7
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„Was begibt sich denn hier?" der Bischof spricht, „Welch Getu' voller Wichtigkeit! Und warum raubt ihr des Königs Wild, Da ihr nur ein paar Esser seid?" 7
" W e are shepherds," said bold Robin Hood, "And we keep sheep all the year, And we are disposed to make merry this day, And to kill the king's fat deer."
„Wir sind Schäfer", sagt Robin, „und hüten Das Jahr lang in Mühe und Plag'; [hier Heut' machen wir uns mit des Königs Wild Einmal einen lustigen T a g ! "
8 „ Y o u are brave fellows I" said the Bishop, „ A n d the king of your doings shall know. Therefore make haste and come along with me, For before the king you shall go."
Spricht der Bischof: „Ihr seid ja wackre Gesell'n, Und der König soll hören davon; Drum sputet euch und ziehet mit mir, Denn ihr müßt vor des Königs Thron!"
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" O pardon, o pardon," said bold Robin "Pardon, I thee pray! [Hood, For it becomes not your lordship's coat To take so many lives away."
„ O Gnade!" der kühne Robin fleht, „Ich hätt' euch milder geglaubt! Zum geistlichen Kleide paßt es gar schlecht, Wenn so vielen das Leben ihr raubt."
10 " N o pardon, no pardon," says the Bishop, " N o pardon I thee owe; Therefore make haste, and come along with me, For before the king you shall go."
10 „Nein, keine Gnade!" der Bischof ruft, „Dir schulde ich Gnade nicht! Macht schnell euch bereit und kommt mit mir Vor des Königs Angesicht."
11 Then Robin set his back against a tree, And his foot against a thorn, And from underneath his shepherd's coat He pull'd out a bugle-horn.
11 Da stemmt Robin den Rücken an einen Baum Und den Fuß an den Schlehendorn Und 2ieht aus dem schlichten Schäferrock Hervor sein Jägerhorn.
12 He put the little end to his mouth, And a loud blast did he blow, Till threescore and ten of bold Robin's men Came running all on a row;
12 Und er setzt das schmale End an den Mund Und bläst so frisch und frei, Da kommen siebzig von seiner Schar In eilendem Laufe herbei.
ij All making obeysance to bold Robin Hood; ' T was a comely sight to see: "What is the matter, master," said Little John,
13 Und als alle nun beugen das Knie vor ihm, Ist's ein prächtiger Anblick fürwahr, Und der lange Hans Klein sagt: „Was gibt es denn, Herr, Daß dein Hornruf so dringlich war?"
"That you blow so hastily?" i4 " O here is the Bishop of Hereford, And no pardon we shall have." "Cut off his head, master," said Little John, " A n d throw him into his grave."
14 „ J a seht, der Bischof von Herford ist hier, Der nicht Gnad' noch Verzeihung uns gab." — „ S o schlag ihm den Kopf ab, Herr", sagt Hans Klein, „Und wirf ihn schnell in sein Grab."
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II. Vorspiel der Renaissance
15 " O pardon, O pardon," said the Bishop, " O pardon, I thee pray I For if I have known it had been you, I'd have gone some other way."
15 „ O Gnade, Gnade!" der Bischof fleht, „Laß Gnade mir geschehn! Hätt' ich gewußt, daß du hier bist, Tät andere Wege ich gehn!"
16 " N o pardon, no pardon!" said Robin Hood, " N o pardon I thee owe; Therefore make haste and come along with me, For to merry Barnsdale you shall go."
16 „Nein, keine Gnade", sagt Robin Hood, „Dir schulde ich Gnade nicht! Drum spute dich und komm mit mir,
17 Then Robin he took the Bishop by the hand, And led him to merry Barnsdale. He made him to stay and sup with him that night, And to drink wine, beer, and ale.
17 Nun führt Robin den Bischof an der Hand Bis ins lustige Barnstal hinein, Und er muß bleiben und essen 2ur Nacht
18 "Call in the reckoning," said the Bishop, "For methinks it grows wondrous high!" "Lend me your purse, Bishop," said Little John, "And I'll tell you bye and bye."
18 „Laß die Rechnung kommen", der Bischof spricht, „Mich dünkt, sie wird gar zu hoch!" — „So leih deine Börse mir, Bischof", ruft Hans, „Und ich sag dir's beizeiten noch!"
Then Little John took the Bishop's cloak,
20 „Here's money enough, master," said Little John, "And a comely sight't is to see. It makes me in charity with the Bishop, Tho he heartily loveth not me."
Und Hans Klein nimmt dem Bischof den Mantel ab Und breitet ihn aus auf dem Grund Und zählt aus des Bischofs Mantelsack Heraus wohl dreihundert Pfund. 20 „Geld genug", sagt Hans, „und es macht sich gar gut, Was es hier zu sehen gibt; Das söhnt mich fast mit dem Bischof aus, Ob er mich auch von Herzen nicht liebt."
21 Robin Hood took the Bishop by the hand, And he caused the music to play, And he made the Bishop to dance in his boots, And glad he could so get away.
21 — Da rief Robin die Spielleut, nahm den Bischof sich her, Zog die eigenen Stiefel ihm an, Und der mußte tanzen drin auf sein Geheiß Und war froh, daß er so noch entrann.
And spread it upon the ground, And out of the Bishop's portmantau He told three hundred pound.
Wir halten in Barnstal Gericht."
Und mittrinken viel Bier und Wein.
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In ähnlichen Stücken wird Erlebnis an Erlebnis gereiht bis zum Tode Robin Hoods, so daß eine Art Lebensbild dieses erdichteten Nationalhelden aus der Zeit der Auflehnung des selbstbewußten Angelsachsentums gegen die landfremden Unterdrücker weiterlebt, ein Idealbild des mittelalterlichen Engländers, ein Stück englischer Seele. A u c h in dramatischer Form haben wir Schwänke mit Robin Hood und seinen Getreuen als Mittelpunkt. Neben der echten, unpersönlichen, an typischen Empfindungen und typischen Stilmitteln haftenden Volksballade steht die S t r a ß e n - oder B ä n k e l s ä n g e r b a l l a d e ,
Die alten Balladen
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ebenfalls strophisch-sangbar aufgebaut, aber nicht „zurechtgesungen", niedriger im Ton, breit gesprächig und moralisierend. Fahrende Leute leierten auf Straßen und Märkten ihre Texte herunter und verkauften sie nach dem Aufkommen der Buchdruckerkunst auf Flugblättern. Daher stammt die englische Bezeichnung „broad-sheet" oder „broadside ballad". Sie gehört eigentlich mehr zu den Anfängen des Journalismus als zur Volksdichtung. Belehrung und Sensation sind ihre Absicht, eine breit auswalzende, die Vorgänge sorgsam nachzeichnende Vortragsart, ihre Form im Gegensatz zu der gedrungenen, nur bei den Empfindungen verweilenden Volksballade. Wie ein gelehrtes Geschichtswissen spannungsreich und farbig erzählt wird, zeigt uns etwa die Ballade The Beggar's Daughter of Bednall-Green i Itt was a blind beggar, had long lost his sight, He had a faire daughter of bewty most bright; And many a gallant brave suiter had shee, For none was soe comelye as pretty Bessee. 2
And though shee was of favor most faire, Yett seeing shee was but a poor beggar's heyre, Of ancyent housekeepers despised was shee, Whose sonnes came as suitors to prettye Bessee.
Die Bettlerstochter von Bednall-Green i War einstmals ein Bettler, seit Jahren schon blind, Der hatt' eine Tochter, das lieblichste Kind; Die tapfersten Ritter, in Minne entbrannt, Umwarben Schön-Bessy, die Schönste im Land. 2 Und weil ihr vor andern war Liebreiz geschenkt, Ward hämisch die „Erbin des Bettlers" gekränkt, Und geizige Weiber vergingen vor Wut, Wenn die Söhne Schön-Bessy verehrten voll Glut.
Mit dem behaglichen Märchenanfang des „ E s war einmal" also setzt es ein, und der erste Teil schließt: 34
But of their sumpuous marriage and feast, What brave lords and knights thither were prest, The SECOND FITT shall set forth to your sight With marveilous pleasure, and wished delight.
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Doch wollt ihr noch hören vom Hochzeitsfest, Wo Ritter sich drängten von Ost und aus West, So wird euch erzählen das folgende Stück Gar wunderbar fein von Ergötzen und Glück.
So geht es durch 67 Strophen bis zu dem Schluß: 67 Thus was the feast ended with joye and delighte, A bridegroome most happy then was the young knighte, In joy and felicitie long lived hee, All with his faire ladye, the pretty Bessee.
67 So endet' das Fest dem beseligten Paar, Der glücklichste Bräut'gam der Rittersmann war. — In Frieden und Freude ward alt er und grau Schön-Bessy zur Seite, der lieblichsten Frau.
Schön-Bessy wandert ärmlich hinaus in die Welt, um ihr Glück zu suchen, bis sie Arbeit und Unterkunft im Haushalt der Königin findet. Bürger und Ritter verlieben sich in sie und werben um sie. Als sie aber ihre Abkunft enthüllt, ziehen sich alle zurück. Nur ein Ritter bleibt der Schönheit treu. Er entflieht mit der Geliebten und er-
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II. Vorspiel der Renaissance
wehrt sich der Verfolger ebenso wie der Sippe der Bettlerin. Da hilft der Bettlervater. Er entpuppt sich als reich und wirft dreitausend Pfund in Michaelstalern unter die Leute, doppelt so viel, als die feinen Herren spenden können. Nun kann Hochzeit gefeiei l werden, prunkvoll im schönsten Palast, mit Gästen aus dem ganzen Lande. Der Bettlervater ist nicht dabei. Unerkannt jedoch betritt er in der würdigen Kleidung eines Sängers den Saal und kündet das Los von Schön-Bessy. Die Braut gibt ihn als den Vater zu erkennen, und der blinde Sänger singt von Simon von Montfort und seinem Kampf gegen den König. An seiner Seite hat der ritterliche Sänger bei Evesham gekämpft — er ist der Sohn des berühmten Führers der Barone, der selbst in der Schlacht fiel —, bis ein Schwertstreich ihn niederstreckte und ihm das Augenlicht raubte. Unter den Leichen fand ein Fräulein den jungen Kämpfer; sie pflegte ihn, ward seine Gattin und nach Jahren Schön-Bessys Mutter. Um vor den Feinden sicher zu sein, hüllten sie sich in Bettlerkleider und lebten vierzig Jahre lang in Armut, gesegnet und glücklich in ihrer Demut. Goethe hat den Stoff in seiner „Ballade vom vertriebenen und zurückkehrenden Grafen" zusammengedrängt. 65 Now when the faire companye everye one, Had heard the strange tale in the song he had showne, They all were amazed, as well they might bee, Both at the blinde beggar, and pretty Bessee.
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Und als nun die Gäste die seltsame Mär Im Liede vernommen, da staunten sie sehr, Bewundernd den Bettler, den würdigen Greis, Der also gesungen, der Tochter zum Preis.
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With that the faire bride they all did embrace, Saying, Sure thou art come of an honourable race, Thy father likewise is of noble degree, And thou art well worthy a lady to bee.
Und alle umarmten die Braut gar erfreut Und sprachen: ,,So ward es bewiesen uns heut, Daß du und dein Vater von edlem Geschlecht, Du heißt eine Dame mit doppeltem Recht 1"
In dieser vornehm erzählenden, wenn auch mit Überraschungs- und Schlagermotiven arbeitenden Dichtung ist die banale Lehrhaftigkeit des Bänkelsängertones nicht so ausgeprägt wie in den meisten Straßenballaden, die gerne mit Ermahnungen für das eigene Leben, mit einer Anrufung des Heilandes oder einer Fürbitte für das Königspaar schließen; alles reichlich marktschreierisch ausgewalzt, oft bis ins Unglaubhafte übertriebene Moritaten, ohne die dramatische, erregende Wucht der echten Volksballade. Man mag an Bürgers „Lied vom braven Mann" denken, dessen großartiges Situationsbild durch die bänkelsängerische Eingangs- und Schlußstrophe voll Orgelton und Glockenklang und voll prahlerischen Preises verunziert wird. Dem Dichter des großen Kunstwerks „Lenore" und des „Wilden Jägers" wird damit in seiner Bedeutung für die volksnahe deutsche Ballade nicht zu nahe getreten. Sehr bald wurde die alte anonyme Ballade durch Sänger aus den höfischen Lebenskreisen nachgeahmt. Die schönste K u n s t b a l l a d e dieser Art stammt aus dem Ende des 15. Jahrhunderts:
The Not-Browne Mayd 1 AUTHOR: Be it ryght, or wrong, these men among On women do complayne; Affyrmynge this, how that it is A labour spent in vayne,
Das nußbraune Mädchen Der Sänger: Ob falsch, ob wahr, der Männer Schar Klagt gern die Frauen an, Behauptet frei, die Mühe sei Verschwendet und vertan,
Die alten Baliaden
To love them wele; for never a dele They love a man agayne: For late a man do what he can, Theyr favour to attayne, Yet, yf a newe do them persue, Theyr first true lover than Laboureth for nought; for from her thoght He is a banyshed man.
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Wenn man sie liebt; denn keine gibt Ein gleiches Glück dem Mann. Und wenn er auch nach Recht und Brauch Die Gunst der Frau gewann, Sie liebt aufs neu stets ohne Scheu, Verrät ihn, wo sie kann; Er schwindet hin aus ihrem Sinn Als ein verbannter Mann.
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2
I say nat nay, but that all day It is both writ and sayd That women's faith is, as who sayth, All utterly decayd; But, neverthelesse, ryght good wytnesse In this case might be layd, That they love true, and continue Recorde the Not-browne Mayde: Which, when her love came her to prove, To her did make his mone, Wolde nat depart; for in her hart She loved but hym alone.
Ich sag' nicht nein, jedoch ich mein', Daß, wenn in Schrift und Wort Man Frauentreu' schmäht stets aufs neu', Soll man sie preisen dort, Wo Zeugenschaft der Treue Kraft Bewährt an manchem Ort. — So war zur Zeit die braune Maid Der wahren Liebe Hort. Ihr Liebster kam und heuchelt' Gram Und prüfte sie in Pein; Sie ließ ihn nicht, — des Herzens Pflicht Galt ihm, nur ihm allein.
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Than betwaine us late us dyscus What was all the manere Betwayne them two; we wyll also Tell all the payne, and fere, That she was in. Nowe I begyn, So that ye me answere; Wherfore, all ye, that present be, I pray you, gyve an ere. "I am the knyght, I come by nyght, As secret as I can; Saying, Alas I thus standeth the case, I am a banyshed man."
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So wollen wir vertraulich hier Erzählen, wie es stand Mit diesen zwei'n. — Auch alle Pein, Die jene Maid bestand, Sei kundgetan 1 — Nun fang ich an, Gib Antwort kurzerhand. Und ihr ringsum seid uns darum Jetzt freundlich zugewandt: Der Ritter — ich — herein sich schlich, So heimlich man nur kann, Und spricht nun: „Achl so steht die Sach', Bin ein verbannter Mann!"
Dann folgt die eigentliche Geschichte, in Wechselrede zwischen dem geächteten Ritter und seiner aus freiherrlichem Geblüt stammenden „braunen" Geliebten. Allein will er in den Wald ziehen als ein verbannter Mann, allein mit seinem Bogen das Wild erlegen und sich der Feinde erwehren. Sie aber will mit ihm gehen trotz seines Abwehrens : man würde schlecht von ihr reden und sie der Schande zeihen, Gefahr, Entbehrung, Mühsal und Kampf würden ihr Los sein, sie würde ihr schönes nußbraunes Haar opfern und ihre Frauenkleider kürzen und gehetzt mit ihm in Schlupfwinkeln hausen müssen. Alle diese Bilder aber können sie in ihrer Liebe und ihrem Pflichtgefühl nicht beirren: „Weil in der Welt mich doch nichts hält Als du, nur du allein." Da spielt der Ritter den stärksten Trumpf aus: im Walde erwarte ihn ein Mädchen, das er mehr liebe als die hochgeborene Freiherrntochter. Diese aber will in Demut der anderen dienen und nur still entsagend dem Geliebten nahe sein. Jetzt enthüllt der Ritter sein Inneres: was er gesagt, war nur eine grausame Probe auf ihre Liebe und Treue. Er selbst ist nicht der bescheidene Ritter, der geächtet ins Elend ziehen muß, sondern ein mächtiger Graf in Westmoreland, der beglückt eine so tief liebende Braut heimführen will. Und so kann der Sänger, der schon im Eingang den geheuchelten Gram des Mannes und die Liebesprobe angedeutet hat, mit dem Preis der zum Dulden bereiten Frau schließen:
3° AUTHOR:
30 Der Sänger:
Here may ye se, that women be In love, meke, kynde, and stable. Late never man reprove them than, Or call them variable; But, rather, pray God, that we may To them be comfortable, Which sometyme proveth such, as he loveth, Yf they be charytable. For syth men wolde that women sholde Be meke to them each one; Moche more ought they to God obey, And serve but hym alone.
Hier seht ihr klar, wie treu und wahr Die Frau'n in Liebe sind. Nennt sie der Mann noch treulos dann, Stets wechselnd wie der Wind? Zeig' er vielmehr zu Gottes Ehr' Sich liebreich und gelind, Dann wird wohl Heil ihm auch zuteil, Und er wird recht geminnt. Drum, wenn ihr wollt, daß treu und hold Euch jede Frau soll sein, Müßt Gottes Will'n ihr treu erfüll'n Und dienen ihm allein!
Überaus kunstvoll ist der Bau der in dieser Gattung nicht sangbaren. Strophe. Das zwölfzeilige Gebilde wird durch den in Vers 2, 4, 6, 8 gleichen Reim zusammengehalten, Binnenreime (in Strophe 1 : wahr — Schar, frei — sei, liebt — gibt usw.) erhöhen die Klangwirkungen, ein Kehrreim („Als ein verbannter Mann" . . . „Als du, nur du allein") rundet die Reden ab, romanische Worte verraten die gebildete Herkunft. Eine verfeinerte Rhetorik setzt das klingende und schwierige metrische Gebilde an die Stelle der alten nachdrücklichen Wiederholungen. Die mit schlichten Mitteln arbeitende alte Volkskunst wird in die Sphäre einer gebildeteren Vortragskunst gehoben. Die mitgeteilten Beispiele mögen genügen, um einen Eindruck von dem Reichtum und Wert der alten Balladen zu geben. Goethe hat ihn hoch eingeschätzt: Die Ballade hat etwas Mysteriöses, ohne mystisch zu sein; diese letzte Eigenschaft eines Gedichts liegt im Stoff, jene in der Behandlung. Das Geheimnisvolle der Ballade entspringt aus der Vortragsweise. Der Sänger nämlich hat seinen prägnanten Gegenstand, seine Figuren, deren Taten und Bewegung so tief im Sinne, daß er nicht weiß, wie er ihn ans Tageslicht fördern soll. Er bedient sich daher aller drei Grundarten der Poesie, um zunächst auszudrücken, was die Einbildungskraft erregen, den Geist beschäftigen soll; er kann lyrisch, episch, dramatisch beginnen und, nach Belieben die Form wechselnd, fortfahren, zum Ende hineilen oder es weit hinausschieben. Der Refrain, das Wiederkehren ebendesselben Schlußklanges, gibt dieser Dichtart den entschieden lyrischen Charakter. — Hat man sich mit ihr vollkommen befreundet, wie es bei uns Deutschen wohl der Fall ist, so sind die Balladen aller Völker verständlich, weil die Geister in gewissen Zeitaltern, entweder contemporan oder successiv, bei gleichem Geschäft immer gleichartig verfahren. Übrigens ließe sich an einer Auswahl solcher Gedichte die ganze Poetik gar wohl vortragen, weil hier die Elemente noch nicht getrennt, sondern wie in einem lebendigen Urei zusammen sind, das nur bebrütet werden darf, um als herrlichstes Phänomen auf Goldflügeln in die Lüfte zu steigen. (Über die Ballade vom vertriebenen und zurückkehrenden Grafen.) Auf diesem Grunde erwuchsen seit der Zeit eines wiedererwachten Gefühls für das Ursprüngliche und Volksmäßige in England und Deutschland die zahlreichen Sammlungen des alten Gutes und die eigenen Dichtungen eines Goldsmith, Coleridge, Wordsworth, Scott, Tennyson, Browning, Rossetti, Swinburne, eines Bürger, Goethe, Schiller, Uhland, Fontane, Liliencron bis zu Agnes Miegel und anderen Modernen unserer Literatur. Kein Zweig des Singens und Sagens aus dem englischen Mittelalter hat so stark befruchtend in der Neuzeit weitergewirkt wie die Ballade. Das Volksnahe erweist sich als ein nie versiegender Urquell künstlerischen Schaffens.
6i 3. T h o m a s Mores
Utopia
Geschichtliche Periodenbezeichnungen tragen die Gefahr in sich, der überragenden Einzelleistung nicht voll gerecht zu werden, sie durch Einzwängung in ein Schema zu verengen und gerade das, was über die Zeit hinaus zu wirken berufen ist, zu übersehen. Es ist für unser von so starken Erschütterungen in der Gesamtheit des physischen und geistigen Seins erfülltes Zeitalter bezeichnend, daß schon seit einigen Jahrzehnten die überkommenen Epochenbezeichnungen zum Problem geworden, daß selbst Ausdrücke wie Mittelalter und Neuzeit angefochten worden sind. Gewiß sind die Grenzen überall fließend, nicht durch eindeutige Ereignisse abgesteckt und vor allem nicht bei allen abendländischen Völkern die gleichen. Geistesgeschichtliche und gesellschaftliche Umschichtungen und Lebensanschauungen vollziehen sich in langsamer Entwicklung, wenn auch starke politische Erschütterungen, die ihrerseits wieder in ihnen begründet sind, das Tempo beschleunigen können. Das durchgehende Lebens- und Weltgefühl ist entscheidend für die Berechtigung der begrifflichen Kennzeichnung. Mittelalter ist ein Sachbegriff und nicht bloß das Wort für eine äußerlich gesehene zeitliche Mittelstellung. Es hat eine innere Geschlossenheit der Weltsicht, die es vom Altertum und der Neuzeit abhebt. Wir glauben nicht mehr an das „dunkle" Mittelalter, wie es die „Aufklärung" sah; Carlyle glaubte in dem pathetischen Überschwang seines Denkens gerade auf dem Gebiet der sozialen Ordnungen das Mittelalter den mechanistischen Theorien seiner Zeit als überlegen gegenüberstellen zu können. Die ganze Welt als der unteilbare mystische Leib Christi: aus dieser ursprünglichen, christlich-transzendenten Anschauung ergab sich die alte Aufteilung eines organischen Ganzen in Stände, Gewalten und Bereiche, ergab sich die Wohn- und Bauweise mit Burgen, Türmen, Straßen, Stadtmauern, ergab sich die Einheit von Natur und Ubernatur, der nur in der Erscheinung, nicht aber in seinem Sinn und Ziel vorhandene Dualismus von Diesseits und Jenseits, von Staat und Kirche. Der Mensch war ein Wanderer auf dem Wege zur ewigen Seligkeit von der Tiefe zur Höhe, gebunden durch die Lehre der Kirche und durch einen alle umfassenden Geist der Subordination, die gerne hingenommen wurde, weil der einzelne sich als Abglanz einer höheren Ordnung fühlte und den Blick nach oben richtete, wo das Licht winkt. Dantes große Wanderung durch Hölle und Fegefeuer zum Paradies ist der vollkommenste Ausdruck der mittelalterlichen Haltung. Es ist eine an sich großartige Geschlossenheit der Weltsicht und Zuversicht, Mannigfaltigkeit in der Begrenzung, die nicht nur das private Leben, sondern auch die Wissenschaft, Erziehung, das Recht und die Politik umfaßt. Die Welt ist der irdische Mikrokosmus, der menschliche Geist ein mikrokosmisches Abbild des göttlichen Geistes, seine wissenschaftliche Bemühung sucht durch tiefes Eindringen in den Sachverhalt die Verbindung mit dem im Bereich des Glaubens vorgeschauten Bilde herzustellen. „Credo, ut intelligam": ich glaube, um zu erkennen; objektive Gewißheit an Stelle des subjektiven Fürwahrhaltens, Vermittlung zwischen Wissen und Glauben ist die Bemühung der Scholastik. Gerade dadurch aber legt sie den Keim zu der Auflösung der mittelalterlichen Einheit, zu der Ausbildung nationaler Denkformen: in Deutschland die Mystik eines Meister Eckart, die Versenkung der Seele in das All-Eine, in England die bei den Franziskanern Duns Scotus, Roger Bacon und William von Occam beginnende Trennung von Wissen und Glauben, die Hinwendung zum Gegenstand, zur Naturbeobachtung und Empirie, zum Nominalismus, der nur das meiner Beobachtung und Erfahrung zugängliche Einzelding als wirklich existierend gelten und die Allgemeinvorstellungen lediglich an den sprachlichen Bezeichnungen, den „Namen", nomina, haften läßt. Weltoffenheit, Praxisbezogenheit, unmetaphysische Erkenntnis und Dienstbarmachung der natürlichen Gegebenheiten, reinliche Abtrennung des unerforschbaren Gebiets des Glaubens
6z
II. Vorspiel der Renaissance
werden mehr und mehr die Richtung des englischen Geistes. Hegel faßt die Menschheitsgeschichte als das Fortschreiten im Bewußtsein der Freiheit auf. Als Befreiung wird die allmähliche Ablösung von der Einheit des mittelalterlichen Weltbildes dann empfunden. „Es ist eine Lust zu leben; die Studien blühen, die Geister regen sich; Barbarei, knüpf' dich auf!" So jubelt Ulrich von Hutten über den Sieg des Geistes. Man pflegt die Geburt der modernen Welt mit dem Begriff Renaissance, dem französischen Wort für Wiedergeburt, zu bezeichnen. Er ist für unsere heutige Erkenntnis komplizierter geworden als für eine frühere Zeit, die in der Wiedererweckung des klassischen Altertums sein Wesen und den Ausgangspunkt für die europäische Kulturgemeinschaft sah, für die Geburtsstunde des modernen Geistes. Wir erkennen immer mehr, daß die europäische Gemeinschaft nicht am Anfang, sondern am Ende des großen Ringens steht, daß jene Wiedererweckung nur eines der Lebenselemente eines großen Lebensdranges ist. Es handelt sich um einen durch Jahrhunderte gehenden Prozeß, um eine Reihe von Wellen, die von der Gebundenheit — Dogma, Normierung, Geborgensein — zur Freiheit — individueller Entfaltung und Selbstbesinnung — führen und für die erst die Aufklärungszeit mit dem neuen Einheitsprinzip der Vernunft den Abschluß bildet. Wir glauben nicht mehr an die innere Einheitlichkeit der Renaissance, sondern sehen sie erfüllt von fruchtbaren Spannungen und Unruhen, die bei den einzelnen Völkern verschiedenartige Gebiete ergreifen und zu dem späteren europäischen Ausgleich beitragen. Die Bewegung beginnt bei den südlichen Völkern früher als im Norden und beginnt dort in der bildenden Kunst. Gewiß ist Chaucers Weltfreudigkeit ein frühes Beispiel echten Renaissancegeistes, das aber keine Fortsetzung fand. In England, wo fremde Einflüsse immer langsam aufgenommen und zu einer Kräftigung der bodenständigen Entwicklung verarbeitet worden sind, wirkt sich die Bewegung erst im 16. Jahrhundert in der Literatur, Philosophie und dem allgemeinen Lebensgefühl voll aus. Sie kam spät in ein Land, in dem eine Malerei und Plastik nicht selbständig entwickelt, sondern nur in eingeführten Bildern und Statuen vorhanden war, gegen die bereits ein bilderstürmerischer Reformationseifer zu Felde zog. Sie wurde also, anders als in den Ländern des europäischen Südens, mehr in das Innere, in die Bereiche des Moralischen gedrängt, hatte Hemmungen durch die Auseinandersetzung mit dem puritanischen Geist und triumphierte eigentlich erst nach der Festigung der anglikanischen Kirche. Ein wesentlicher Zug der englischen Renaissance ist ihre größere Volksnähe gegenüber Frankreich, wo sie ganz aristokratisch blieb. Sie ließ das alte Volksgut der Balladen leben und weiterblühen, sie stand dem sich zu der größten geistigen Breite und Wirkung entfaltenden Volkstheater nicht im Wege, sie war mit ihrer Freude am Leben, an der Leib-Seele-Einheit, an der starken Persönlichkeit, am drängenden Individualismus, am Schaffensdrang der rechte Nährboden für das national und bald auch kirchlich geeinte, patriotisch aufstrebende Volk dieses „Merry Old England". Den wesentlichsten Anteil an der großen Erneuerungsbewegung hatte der klarer zu definierende und zeitlich greifbarere Humanismus, die wissenschaftliche Richtung der Renaissance, die gegenüber der scholastisch-theokratischen Enge eine allgemeinmenschliche, „humane" Bildung erstrebte und in der literarischen, politischen und sozialen Welt der mit Begeisterung studierten und erklärten Griechen und Römer das Muster der Vollkommenheit erblickte. Sein Ursprungsland ist das Italien des 14. Jahrhunderts, in dem Dante und Petrarca die großen Bahnbrecher wurden. An England tastete sich diese mächtige Kulturbewegung erst im 15. Jahrhundert ganz allmählich heran, noch lange als fremdes Gut kenntlich und ohne Anknüpfung an eine eigene Vergangenheit. England hatte sein langes Ringen um die Einigung und Festigung der Sprache, seinen Hundertjährigen Krieg, seine blutigen Rosenkriege und schließlich die
Thomas Mores Utopia
matte Zeit unter dem ersten Tudor, Heinrich VII., in der Epoche, die dem übrigen Abendland ein grundlegend neues Weltbild vermittelte. Kopernikus enthüllte das Geheimnis des Universums, Kolumbus stellte der alten Welt eine neue an die Seite, portugiesische Seefahrer umschifften Afrika und setzten Kaufleute in indischen Häfen ab, Sebastian Cabot wagte sich durch den Eisbergbereich Labradors hindurch. Neue Länder, neue Menschenrassen, neue Religionen traten in das Bewußtsein des alten Europas. Die Reisebeschreibungen, die Amerigo Vespucci nach seinen Fahrten in die Neue Welt veröffentlichte, wurden so populär, daß der Name ihres Verfassers an Stelle des bereits vergessenen Kolumbus die Bezeichnung für den neuen Kontinent abgab. In diese Zeit eines beginnenden Ausdehnungs- und Unternehmungsdranges, neuer Erfindungen und Entdeckungen fiel der mächtige europäische Kulturimpuls aus dem Studium des Altertums. Die Eroberung Konstantinopels durch die Türken (1453), 0
Und dann zum Scheine schmälen. Dadurch wird Notwendig unser Werk und nicht gehässig; Und wenn es so dem Aug' des Volks erscheint, Wird man uns Reiniger, nicht Mörder nennen.
Es geht nicht um den Menschen Cäsar, sondern um die Cäsaridee, um das Prinzip des Selbstherrschers, für das der Name der Welt die Bezeichnung geliefert hat: Cäsar = Kaiser oder Zar. Es geht um die Frage von Führertum und Volk, es geht nur um Politik, und die private Sphäre tritt völlig zurück. Ein paar große Szenen der Masse auf der Straße, dem Forum, dem Kapitol, dem Schlachtfeld sind die Knotenpunkte der Handlung, Führer und Geführte stets gegenwärtig und Gegenstand des Geschehens. Über den englischen Königsdramen steht das dynastische, über den Römerdramen das republikanische Prinzip. Die unheilschwangere Stimmung der Essexrevolution gegen das Ende der Regierungszeit Elisabeths ist der zeitgeschichtliche Hintergrund für das Problem des Führers und Retters. Es handelt sich also nicht um eine spezifisch römische Frage, sondern um den Typ des rechten Volksführers überhaupt. Shakespeare geht immer auf das Grundwesen des Menschen zurück, oder mit Dr. S. Johnsons Worten: bei anderen Dichtern ist der Charakter meist ein Individuum, bei Shakespeare vertritt er gewöhnlich eine Gattung. Und doch wird durch diese Verabsolutierung wieder eine tiefe Beziehung zu Rom hergestellt, eine Psychologisierung großer Geschichtsgestalten. Cäsar wird in dieser Individualisierungskunst nicht als die festumrissene geschichtliche Größe gezeigt, sondern als lebendiger Mensch in einem kritischen Augenblick seines Lebens. Er hat seine Schwächen wie jeder Mensch, die freilich nicht in den psychologischen Realismus von Bernard Shaws „Cäsar und Cleopatra" eingefügt und in ihm gewertet werden, und doch empfinden wir ihn als den Herrscher, den gerade das Rom seiner Zeit brauchte. Als er ermordet ist, wendet sein Geist die Schwerter gegen die Mörder selbst: ein unentrinnbares Schicksal trotz der Freiheit der Charaktere. In dem berechtigten Titel „Julius Cäsar" liegt somit eine Art grandioser tragischer Ironie. Eine meisterhafte Exposition führt uns in drei Szenen die drei Kreise vor, auf denen die Handlung beruht: das Volk, den Imperator, die Verschwörer. Sie zeichnet gleichzeitig die unheilschwangere Stimmung, die unsre Erwartung spannt: ein Wahrsager warnt vor den Iden des März, die Natur erzittert mit unerklärbaren Wunderzeichen, die Patrizier sind in Parteien gespalten, die Volksgunst ist wetterwendisch, das Gefüge des Staats scheint zu wanken. Das Volk ist eine haltlose Masse, die ihre Sympathien schnell von Pompeius zu Cäsar umstellt, ihm zujubelt, wenn er sich anzuschicken scheint, die Krone anzunehmen, und noch lauter, wenn er sie ausschlägt; es ist ein Spielball in der Hand gerissener Tribunen. In großartiger Weise wird der Imperator selbst eingeführt, pomphaft als Mittelpunkt eines großen Aufzuges, gebieterisch in Haltung und Ton, seiner Herrschaft über das Volk gewiß, dann aber sichtlich verstimmt über die UnZuverlässigkeit der Masse und das Mißlingen der Generalprobe für den beabsichtigten Staatsstreich. Die Sorge um Nachkommenschaft, die Sorge um eine Dynastie erfüllt ihn gerade an diesem Tage, der die Krönung seines politischen Daseins bringen sollte; seine Gattin soll sich den Fluch der Unfruchtbarkeit durch die Wundergebräuche des Luperkalienfestes nehmen lassen. In deutlichen Umrissen lernen wir auch die Gegenspieler und Verschwörer kennen, in erster Linie Cassius, den Mann mit dem „hohlen Blick", den „großen Prüfer", der die Menschen durchschaut, Spiel und Musik nicht liebt, in dessen Gemüt Neid und Unabhängigkeitssinn eine Feindschaft gegen den Imperator erzeugt haben. Er
Julius Cäsar
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ist politischer Realist, für den die Notwendigkeit der Ermordung Cäsars feststeht. Er braucht aber die Bundesgenossenschaft des Idealisten Brutus, damit die Tat in den Augen der Römer als eine politische Notwendigkeit und nicht als gemeiner Mord erscheint. Er kennt die reine Gesinnung des Brutus, der in seinem Volk das abstrakte, stolze Römertum der Väter und nicht die heruntergekommene, selbstsüchtige und wankelmütige Masse sieht. Diese Römer des alten Schlages fühlen sich eins mit ihrem Idealbild, sie reden von sich in der dritten Person, der Imperator in seinem Gefühl unnahbarer Hoheit ebenso wie der von einer Verpflichtung erfüllte Brutus: „Sprich! Cäsar neigt sein Ohr" (I, 2); „Cäsar tut kein Unrecht (III, 1); „Ich gehe dennoch aus; denn diese Zeichen, so gut wie Cäsarn, gelten sie der Welt"; „Geht, Decius! Sagt nur, Cäsar will nicht kommen" (II, 2); „Als daß, mit sich im Krieg, der arme Brutus Den andern Liebe kund zu tun vergißt" (II, 2); „Brutus wär' lieber eines Dorfs Bewohner Als sich zu zählen zu den Söhnen Roms" (I, 2); „Des Brutus Liebe war nicht geringer als seine"; „Ich tat Cäsarn nichts, als was ihr dem Brutus tun würdet" (III, 2) usw. Cassius weiß, wo er anzusetzen hat, um den überall geachteten Freund zu gewinnen. Er wirft ihm gefälschte Zettel durch das Fenster, um den Anschein zu erwecken, daß das Volk seine Hilfe verlange. Der Fanatiker schrickt vor keinem Mittel zurück. Er gewinnt einen nach dem andern und bringt die Verschwörer zusammen. Schwer ringt Brutus mit seinem Entschluß. Das Gift, das Cassius ihm einträufelt, wirkt allmählich. Sein in der Idee wurzelndes Denken wägt den Charakter Cäsars ab, nicht die politischen Realitäten, und kommt zu der Schlußfolgerung, daß dieser Charakter den Bestand der Freiheit bedrohe. Cassius' Appell an die Pflicht hat es dann nicht mehr schwer, ihn vollends zu gewinnen. Der Gegensatz zwischen dem nüchternen Beurteiler der Lage und dem an den Sieg der Idee glaubenden Philosophen tritt sofort hervor, als es sich um die Frage handelt, ob Antonius mit Cäsar fallen müsse. Brutus widerspricht, weil er nur einen Kampf gegen den Geist, gegen den Kopf und nicht gegen die Glieder führen will; der spätere Ausgang gibt ihm Unrecht. Zu diesem nur der Idee hingegebenen, niemals an sich selbst denkenden Idealisten bildet auch Cäsar eine Gegensatzfigur. Er ist abergläubisch, Schmeichlern zugänglich, schwankend in seinem Entschluß, zu der Senatssitzung zu gehen, obgleich er mit Worten seinen unbeugsamen Willen betont: Cowards die many times before their deaths; The valiant never taste of death but once. Of all the wonders that I yet have heard, It seems to me most strange that men should fear, Seeing that death, a necessary end, Will come when it will come. (11,2) But I am constant as the northern star, Of whose true-fix'd and resting quality There is no fellow in the firmament; The skies are painted with unnumber'd sparks, They all are fire and every one doth shine; But there's but one in all doth hold his place. So in the world; 'tis furnish'd well with men, And men are flesh and blood, and apprehensive; Yet in the number do I know but one
Der Feige stirbt schon vielmal, eh' er stirbt, Die Tapfern kosten einmal nur den Tod. Von allen Wundern, die ich je gehört, Scheint mir das größte, daß sich Menschen fürchten, Da sie doch sehn, der Tod, das Schicksal aller, Kommt, wann er kommen soll. Doch ich bin standhaft, wie des Nordens Stern, Dess' unverrückte, ewig stete Art Nicht ihresgleichen hat am Firmament. Der Himmel prangt mit Funken ohne Zahl, Und Feuer sind sie all', und jeder leuchtet; Doch einer nur behauptet seinen Stand. So in der Welt auch, sie ist voll von Menschen, Und Menschen sind empfindlich, Fleisch und Blut. Doch in der Menge weiß ich einen nur,
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III. Shakespeare und seine Welt
That unassailable holds on his rank, Unshak'd of motion; and that I am he, Let me a little show it, even in this: That I was constant Cimber should be banish'd, And constant do remain to keep him so.
an,I)
Der unbesiegbar seinen Platz bewahrt, Vom Andrang unbewegt; daß ich der bin Auch hierin laßt es mich ein wenig zeigen, Daß ich auf Cimbers Banne fest bestand Und drauf besteh', daß er im Banne bleibe.
Er ist geachtet und gefürchtet, der Vollbringer großer Taten, der Vertreter einer tausendjährigen Idee, als Mensch aber doch nur das gebrechliche Gefäß einer Idee, ein mit körperlichen und seelischen Schwächen behaftetes Wesen, nicht ohne einen Anflug v o n Theatralik. A u c h hierin wieder der deutliche Hinweis darauf, daß es nur um die Cäsarenidee geht, um den Glauben an das Römertum und seinen Heroismus nach der Vorstellung der Renaissance. Wir erleben nicht die Geschichte selbst, nichts von den wirklichen Zuständen im Rom des Jahres 44 v. Chr.; das philosophische Problem des Cäsarismus oder Republikanertums ist Gegenstand. Im Augenblick vollendeter Hybris fällt der Gewaltige; eben noch vergleicht er sich mit dem unverrückbaren Polarstern, eben noch vermißt er sich den Olymp zu versetzen, da zucken die Verschwörer den Dolch. Das Schicksal des Trägers eines verhängnisvollen Sinns hat sich erfüllt — so beteuern es die Verschwörer noch einmal laut: Fates, we will know your pleasures. That we shall die, we know; 'tis but the time And drawing days out, that men stand upon. (Ill,1) . . . How many ages hence Shall this our lofty scene be acted over In states unborn and accents yet unknown I (HI,1) How many times shall Caesar bleed in sport, That now on Pompey's basis lies along No worthier than the dust I (III, 1) . . . Yet see you but our hands And this the bleeding business they have done. Our hearts you see not; they are pitiful; And pity to the general wrong of Rome — As fire drives out fire, so pity pity — Hath done this deed on Caesar. (III,i)
Schicksal! wir wollen sehn, was dir geliebt. — Wir wissen, daß wir sterben werden; Frist Und Zeitgewinn ist nur der Menschen Trachten. . . . In entfernter Zeit Wird man dies hohe Schauspiel wiederholen, In neuen Zungen und mit fremden Pomp. Wie oft wird Cäsar noch zum Spiele bluten, Der jetzt am Fußgestell Pompejus liegt, Dem Staube gleich geachtet. . . . Ihr seht die Hände nur Und dieses blut'ge Werk, so sie vollbracht, Nicht unsre Herzen: sie sind mitleidsvoll, Und Mitleid gegen Roms gesamte Not (Wie Feuer Feuer löscht, so Mitleid Verübt' an Cäsarn dies. [Mitleid)
Antonius aber, der mit einer sein Wesen kennzeichnenden A r t in einer Mischung von echtem Seelenschmerz und Verstellung an Cäsars Leiche niederkniet, läßt uns auf dem Höhepunkt des Geschehens den Umschwung, das Verhängnis ahnen: Over thy wounds now do I prophesy, (Which, like dumb mouths, do ope their ruby lips, To beg the voice and utterance of my tongue) A curse shall light upon the limbs of men; Domestic fury and fierce civil strife Shall cumber all the parts of Italy; Blood and destruction shall be so in use
Jetzt prophezei' ich über deinen Wunden, Die ihre Purpurlippen öffnen, stumm Von meiner Zunge Stimm' und Wort erflehend: Ein Fluch wird fallen auf der Menschen Glieder, Und innre Wut und wilder Bürgerzwist Wird ängsten alle Teil' Italiens; Verheerung, Mord wird so zur Sitte werden
Julius Cäsar
And dreadful objects so familiar That mothers shall but smile when they behold Their infants quartered with the hands of war; All pity chok'd with custom of fell deeds, Ana Caesar's spirit, ranging for revenge, With Ate by his side come hot from hell, Shall in these confines with a monarch's voice Cry „Havoc", and let slip the dogs of war; That this foul deed shall smell above the earth With carrion men, groaning for burial.
an,I)
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Und so gemein das Furchtbarste, daß Mütter Nur lächeln, wenn sie ihre zarten Kinder Gevierteilt von des Krieges Händen sehn. Die Fertigkeit in Greueln würgt das Mitleid; Und Cäsars Geist, nach Rache jagend, wird, Zur Seit' ihm Ate, heiß der Holl' entsteigen, In diesen Grenzen mit des Herrschers Ton Mord rufen und des Krieges Hund' entfesseln, Daß diese Schandtat auf der Erde stinke Von Menschenaas, das um Bestattung ächzt.
Das berühmte Wunderwerk der großen Volksrede auf dem Forum,, die der Dichter nicht in den Quellen vorgezeichnet fand, sondern die ganz sein Eigentum ist, bringt nach der genialen Geschlossenheit und Steigerung der drei ersten Akte rasch den Umschwung. Sie enthüllt die Spielarten des Führertypus, also das Kernproblem der Tragödie, in klarster Weise. Brutus, von dem sein Gegenspieler Antonius am Schluß bekennt, er sei der beste Römer unter allen gewesen, lebt beglückt in der Idee von diesem Römertum; beglückt — deshalb kann er auch ein glücklich-harmonisches Familienleben führen — und nicht die Welt durchschauend wie Hamlet, der mit witziger Schärfe und Polemik gegen sie steht. Er vertraut den Menschen, er träumt aktiv, er glaubt noch immer, daß mit Cäsars Tod alle Gefahren gebannt seien. So stellt er sich dem Volk, mit reinen Händen, wie er meint, mit der stolzen Überzeugung, nur einen Dienst am Volke geleistet zu haben. Mit Absicht gibt der Dichter seine Rede in Prosa, um die knappe, nicht durch funkelnde Rhetorik gefährlich werdende und berechnende Sprech- und Sinnesart zu unterstreichen. Aber diese Prosa hat Form, hat den Stil des Mannes der Sachlichkeit, sie läßt die Inbrunst hindurchfühlen, aber auch die menschliche Tragik, die alles Persönliche der großen Idee opfern muß. Die kurzen, schmucklosen Sätze, die scharfen Gegensatzpaare — Not that I loved Caesar less, but that I loved Rome more. Had you rather Caesar were living and die all as slaves, than that Caesar were dead, to live all freemen? As Caesar loved me, I weep for him, as he was fortunate, I rejoice at it, as he was valiant, I honour him; but as he was ambitious, I slew him. There is tears for his love, joy for his fortune; honour for his valour; and death for his ambition (III,2) —
Nicht, weil ich Cäsar weniger liebte, sondern weil ich Rom mehr liebte. Wollt ihr Heber, Cäsar lebte und ihr stürbet alle als Sklaven, als daß Cäsar tot ist, damit ihr alle lebet wie freie Männer? Weil Cäsar mich liebte, wein' ich um ihn; weil er glücklich war, freue ich mich; weil er tapfer war, ehr' ich ihn; aber weil er herrschsüchtig war, erschlug ich ihn. Also Tränen für sein Glück, Ehre für seine Tapferkeit, und Tod für seine Herrschsucht —
sind die Sprechform des nüchternen Denkers, der Gründe und Gegengründe abwägt, des lauteren Idealisten, der sich auf das auf dem Kapitol ruhende Protokoll mit dem Untersuchungsergebnis berufen kann. Der innerlich saubere, aber tragische Volksführer! Dann setzt Antonius ein, der „sentimentale" Freund des Ermordeten, wie ihn Brutus bezeichnet hatte, mit echtem Schmerz, aber auch mit kluger Berechnung. Die bewundernswürdige Verbindving von Schmerzenspathos und Demagogie größten Stils ist die Eigenart dieser Rede. Absichtlich pathetisch beginnt er, auch den Unsinn in klangvoller Form nicht scheuend: 9 Die Stimmen der Meister
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III. Shakespeare und seine Welt
„Was Menschen Übles tun, das überlebt sie, das Gute wird mit ihnen oft begraben." Eine liebedienerische Unwahrhaftigkeit kennzeichnet den berechnenden Demagogen: I come to bury Caesar, not to praise him.
Begraben will ich Cäsarn, nicht ihn preisen.
0 masters, if I were dispos'd to stir Your hearts and minds to mutiny and rage, 1 should do Brutus wrong, and Cassius wrong.
O Bürgerl strebt ich, Herz und Mut in euch Zur Wut und zur Empörung zu entflammen, So tat ich Cassius und Brutus Unrecht.
Have patience, gentle friends, I must not read it; It is not meet you know how Caesar lov'd you. You are not wood, you are not stones, but men.
Seid ruhig, lieben Freund I Ich darf's nicht lesen, Ihr mü t nicht wissen, wie euch Cäsar liebte.
'Tis good you know not that you are his heirs.
Ihr dürft nicht wissen, daß ihr ihn beerbt.
You will compel me then to read the will?
So zwingt ihr mich, das Testament zu lesen?
Shall I descend? and will you give me leave?
Erlaubt ihr mir's? Soll ich hinuntersteigen?
I come not, friends, to-steal away yourhearts.
Nicht euer Herz zu stehlen komm' ich, Freunde: Ich bin kein Redner, wie es Brutus ist, Nur, wie ihr alle wißt, ein schlichter Mann, Dem Freund ergeben, und das wußten die
I am no orator, as Brutus is; But, as you know me all, a plain blunt man That love my friend; and that they know full well That gave me public leave to speak of him; For I have neither wit,-nor words, norworth, Action, nor utterance, nor the power of speech To stir men's blood; I only speak right on. (Ill,z)
Ihr seid nicht Holz, nicht Stein, ihr seid ja Menschen.
Gar wohl, die mir gestattet, hier zu reden. Ich habe weder Schriftliches noch Worte, Noch Würd' und Vortrag, noch die Macht der Rede, Der Menschen Blut zu reizen; nein, ich spreche Nur gradezu und sag' euch, was ihr wißt.
Nicht Vernunftgründe trägt er vor wie sein philosophischer Vorredner, sondern er weiß, daß das sichtbare Schauspiel die primitiven Zuhörer weit mehr packt. Mit dem Finger weist er wiederholt auf die vor ihm stehende Bahre hin, und als er die Menge so weit hat, daß er durch Enthüllen der Leiche den Haupttrumpf ausspielen kann, scheut er die Unwahrheit nicht: er, der gar nicht dabei gewesen ist, bezeichnet die einzelnen Dolchstiche der Mörder! Ein sentimentales Gleichnis muß den seelisch angreifendsten Stich unterstreichen, den des Brutus: Through this the well-beloved Brutus stabb'd, And as he pluck'd his cursed steel away, Mark how the blood of Caesar followed it, As rushing out of doors, to be resolv'd If Brutus so unkindly knock'd, or no; For Brutus, as you know, was Caesar's angel. Judge, O you gods, how dearly Caesar lov'd him! This was the most unkindest cut of all;
Hier stieß der vielgeliebte Brutus durch, Und als er den verfluchten Stahl hinwegriß, Schaut her, wie ihm das Blut des Cäsar folgte, Als stürzt' es vor die Tür, um zu erfahren, Ob wirklich Brutus so unfreundlich klopfte. Denn Brutus, wie ihr wißt, war Cäsars Engel. Ihr Götter, urteilt, wie ihn Cäsar liebte! Kein Stich von allen schmerzte so wie der.
Julius Cäsar
For when the noble Caesar saw him stab, Ingratitude, more strong than traitors' arms, Quite vanquish'd him: then burst his mighty heart; And, in his mantle muffling up his face, Even at the base of Pompey's statue, Which all the while ran blood, great Caesar fell. O, what a fall was there, my countrymen I Then I, and you, and all of us fell down, Whilst bloody treason flourish'd over us. O, now you weep, and I perceive you feel The dint of pity; these are gracious drops. Kind souls, what, weep you when you but behold Our Caesar's vesture wounded? Look you here: Here is himself, marr'd, as you see, with traitors. (111,2)
Denn als der edle Cäsar Brutus sah, Warf Undank, stärker als Verräterwaffen, Ganz nieder ihn: da brach sein großes Herz, Und in den Mantel sein Gesicht verhüllend, Grad am Gestell der Säule des Pompejus, Von der das Blut rann, fiel der große Cäsar. O meine Bürger, welch ein Fall war dasl Da fielet ihr und ich; wir alle fielen, Und über uns frohlockte blut'ge Tücke. O jal nun weint ihr, gute Herzen, seht ihr gleich Nur unsers Cäsars Kleid verletzt? Schaut her! Hier ist er selbst, geschändet von Verrätern!
Und damit gibt er den blutbesudelten Körper den entsetzten Blicken preis. Das ist der gewiegte Rhetoriker, der Kenner des Pöbels und seiner primitiven Instinkte. Er beginnt auch fein psychologisch da, wo Brutus aufgehört hat, gerade als wäre er ein Mitverschwörer, anfangs noch ganz ohne Ironie, ruhig im Ton, mit kurzen Sätzen, mit ganz konkreten Hinweisen, die den kleinen Mann mehr aufhorchen lassen als die abstrakten Formulierungen des Brutus: Cäsar hat durch das Lösegeld seiner vielen Gefangenen Geld nach Rom gebracht; er weinte, wenn die Armen ihn anschrien; er hat die Krone zurückgewiesen. Dann, als das Schlagwort „Herrschsucht" sich durch die Wiederholung eingeprägt hat, als das noch häufigere „ehrenwert" allmählich seinen ironischen Klang bekommt, wird er kühner und wagt eine eigene Meinung, um gleich wieder in die Rolle des Klageredners zurückzufallen. Er macht seine erste Kunstpause, in der das Volk sich gegenseitig aufzupeitschen beginnt. Man möchte meinen, daß er über das Taschentuch, das seine Tränen trocknen soll, hinweglugt, um die Wirkung seiner Worte zu beobachten. Dann hebt er mit ganz weicher Stimme wieder an, die rhythmischen Perioden fließen länger dahin, er appelliert an das Mitleid und erwähnt zum erstenmal das Testament, nicht um es zu verlesen, sondern um die Hörer zunächst begierig zu machen. Es folgt die zweite Kunstpause: der gerissene Demagoge bittet das Volk um die Erlaubnis, herabsteigen zu dürfen. In dem dritten Stück der mit berechnender Kunst aufgebauten Rede kann die vorher zurückgedämmte Empfindung jetzt voll ausströmen. Interjektionen werden eingestreut, Racheinstinkte und wilde Gefühle aufgerührt, das Wort Aufstand wird eingestreut. Jetzt ist es der richtige Augenblick, das von der Masse bereits vergessene Testament noch daranzugeben; vorher hätte vielleicht der recht karge Anteil des einzelnen Bürgers nicht gewirkt, vielleicht sogar Enttäuschung wachgerufen. Hoch schwingt der Aufwiegler das Testament, damit jeder das Blatt sehen kann; das zündet mehr als die das Volk wenig interessierenden Untersuchungsakten, auf die Brutus sich berufen hatte. Wie eine mächtige Sturzwelle, die den Damm überspült, bricht es nun los — der erste beste daherkommende Patrizier, der schuldlose Cinna, wird sogleich ermordet. So tobt eine Revolte, die von der ungeistigen Demagogie geführt wird, nicht eine echte Volkserhebung aus dem Geist. Dem Erreger des Sturmes aber liegt nur an dem Sturm selbst, nicht an seiner Richtung und seinem Ziel: Now let it work. Mischief, thou art afoot, Take thou what course thou wiltl (III,2) 9*
Nun wirk' es fort, Unheil, du bist im Zuge: Nimm, welchen Lauf du willst!
132
III. Shakespeare und seine Welt
Welch Unterschied zwischen dieser Gesinnung und der Reinheit des Zieles bei Brutus, aber auch welch Unterschied zwischen der bohrenden psychologischen Realistik des Volkskenners und der enggeistigen Wirklichkeitsferne des Idealisten! Die Triumvirn übernehmen die Führung, der Bürgerkrieg ist bald im vollen Gange, wir sehen die Führer der gegnerischen Truppen gleich im Lager bei Sardes wieder, wo Brutus das Kommando hat. Eine empfindungsstarke, elegisch gestimmte Szene (IV, 3) fuhrt Brutus und Cassius zusammen, ein Gespräch voll des zartesten Schwingens der Gefühle, eine innerliche Seelenzwiesprache nach dem lauten und rohen Sturm, den wir vorher erlebt haben. Theaterfachleute, selbst ein so feinsinniger Dramaturg wie Heinrich Bulthaupt, haben dem Gespräch in Brutus' Zelt den Mangel an äußerem Anlaß und an dramatischer Notwendigkeit vorgeworfen: Sie verkennen damit nicht nur die psychologische Bedeutung für die Motivierung des weiteren Handlungsverlaufs, sondern auch die bei Shakespeare immer wichtige Dynamik der Stimmungskurve. Die herrliche Szene hat in ihrer geheimnisvoll schwingenden Seelenmusik in der ganzen dramatischen Literatur, ja bei Shakespeare selbst kaum ihresgleichen. Wir sehen Brutus zum erstenmal aufgebracht, ja ungerecht in seinem Zorn. Er zeiht Cassius, der ihm eine Geldforderung abgeschlagen hatte, der Bestechlichkeit, so daß der affektvolle, cholerische Cassius aufbegehrt und gegen den Freund, der ihn in edlem Zorn ausschilt, seine Entrüstung kaum zurückhalten kann und schließlich seine Brust dem Schwerte darbietet. Der Zwist wird so laut, daß andere sich ins Mittel legen. Brutus findet allmählich das dem Philosophen geziemende Maß wieder; er beruhigt sich, seine Seele entspannt sich nach allem, was er durchgemacht hat, es kommt fast ein Schimmer von Heiterkeit in die schwere Atmosphäre. In diesem Augenblick hören wir von Portias, seiner Gattin, Freitod. Wir haben nichts von ihr erfahren, seit sie an den Iden des März fiebernd auf der Straße wartete. Nun wirft Brutus wie beiläufig sein „Portia starb" in das Gespräch. Er preßt als Stoiker alle Gefühle gewaltsam nach innen, in das Schweigen. So verstehen wir es, daß es auch einmal in ihm platzen kann, wie es eben Cassius gegenüber geschah. Ein wunderbarer, schwermütiger Szenenaufbau! Zuerst der Streit der Freunde, die bisher ihr Schicksal gemeinsam getragen haben; dann die mit mächtigem Eindruck hineingeworfene Nachricht von Portias Tod als Erklärung für Brutus' Gemütsverfassung, zuletzt der Kriegsrat, nicht mehr in so heiliger Stimmung wie bisher, aber dramatisch gerade an dieser Stelle von größter Bedeutung. Die beiden Freunde sind jetzt zuvorkommend zueinander; Cassius hat gegen den Plan, auf Philippi zu marschieren, gewichtige Einwände, gibt aber aus Rücksichtnahme dem innerlich erregten, auf Entscheidung drängenden Brutus nach. So wird der große strategische Fehler motiviert. Nach dem warmen Abschied von den Heerführern ist Brutus mit seinen inneren Stimmen allein. Er verlangt nach Musik, um — ähnlich wie Richard II. im Kerker — die gestörte Seelenharmonie wiederzufinden. Aber die Musik des einschlafenden Knaben verstummt; es kommt ein Mißklang in die Stimmung, Cäsars Geist erscheint: „Dein böser Engel, Brutus." Der schwergeprüfte Feldherr weckt den Knaben; aber die Saiten sind verstimmt, was beziehungsvoll gedeutet wird. Brutus fühlt, daß er umsonst für die Freiheit gekämpft hat. In fast bilderloser Sprache wird dies große Seelengemälde entrollt, in dem zwei Römer und Soldaten in ihrem Inneren beleuchtet werden. Die Schlacht geht verloren. Der Epikureer Cassius bleibt in der Lehre seiner Weltanschauung, die den Selbstmord erlaubt. Brutus verwirft als Stoiker den Freitod als feiges Ausweichen vor dem „Willen hoher Mächte" (V, 1), stürzt sich aber, als alles verloren ist, doch in sein Schwert, um nicht gebunden im Triumphzug durch die Straßen Roms geführt zu werden. Das Beispiel Catos, auf das er sich beruft, fand der Dichter schon bei Plutarch, und zwar nicht ohne fühlbare Bezugnahme auf Piatos „Phaidon". Plato verwirft den Selbstmord entschieden, nimmt aber doch den Fall aus,
Hamlet
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daß es sich um eine von den Göttern verhängte Notwendigkeit handle; das sei der Fall, wenn die Ehre das Scheiden aus dem Leben fordere. Dies ist Brutus' Philosophie. Der siegreiche Gegner Antonius ruft ihm in gerechter Würdigung seiner menschlichen Größe den letzten Gruß nach: This was the noblest Roman of them all. All the conspirators, save only he, Did that they did in envy of great Caesar; He only, in a general honest thought And common good to all, made one of them. His life was gentle, and the elements So mix'd in him that Nature might stand up And say to all the world, "This was a man!" (V,5)
Dies war der beste Römer unter allen: Denn jeder der Verschwornen, bis auf ihn, Tat, was er tat, aus Mißgunst gegen Cäsar. Nur er verband aus reinem Biedersinn Und zum gemeinen Wohl sich mit den andern. Sanft war sein Leben, und so mischten sich Die Element' in ihm, daß die Natur Aufstehen durfte und der Welt verkünden: Dies war ein Mannl
"His life was gentle": das Original enthält den Doppelsinn von „gentle", sanft und adlig, so etwa wie Ben Jonson den Dichter selbst „gentle" nennt. Es ist untergehender Adel des Repubükanertums. Demokratie setzt den sittlichen Volkswillen voraus; das verdorbene Volk, wie es hier gezeichnet wird, bahnt dem Selbstherrscher den Weg, die Würde altrepublikanischer Gesinnung, die in Brutus herrlich verkörpert ist, findet keinen Boden mehr. Das edlere Prinzip muß weichen, entschlossene Männer bilden eine Oligarchie, Cäsars Geist, der racheheischend sich noch einmal meldet, hat gesiegt. Cassius stirbt mit dem Ruf: „Cäsar, du bist gerächt." Die Charakterzeichnung ist in „Julius Cäsar" klar und objektiv, nicht widerspruchsvoll und subjektiv wie in „Hamlet", die Sprache abgeklärt und klassisch, nicht leidenschaftlich aufgewühlt wie in der Tragödie des Dänenprinzen. Abstand eines großen Wollens von der gültigen Welt, mangelnde Berührung mit der Wirklichkeit: das wird von diesem Werk an der Vorwurf der großen Tragödien unsres Dichters. In den Jugendwerken handelte es sich um ein Steigen, Ringen und Fallen in einer geschlossenen Welt: Romeo, Prinz Heinz, Heinrich IV., Richard II. Jetzt, in der Reifezeit des Dichters, sehen wir Stolz und Abstand in „Coriolan", Mißverstehen in „König Lear", innere Wesensfremdheit in „Othello" und „Hamlet". Mangel an Kontakt mit der umgebenden Welt erlebten wir schon bei Brutus in der Forumszene; Fremdlinge, Grüblerhelden, eine gespaltene Welt beschäftigen den Dichter fortan mit deutlichen Anzeichen einer verdüsterten Stimmung. Hamlet ist die größte und am tiefsten durchgearbeitete dieser Problemnaturen.
Hamlet Wenn Goethe zu Eckermann einmal sagt, über Shakespeare könne man überhaupt nicht reden, es sei alles unzulänglich, so gilt dies besonders für das tiefsinnigste Drama der Weltliteratur, den „Hamlet", zu dessen Deutung der Verfasser des „Wilhelm Meister" doch selbst einen so entscheidenden Anstoß gegeben hat. Es ist immer das Zeichen eines ganz großen Kunstwerks, wenn die verschiedenen Zeitalter und auch die menschlichen Lebensalter etwas von ihrem Geist in ihm finden, Weltverständnis aus ihm schöpfen. Außer dem ragenden Gipfel unserer eigenen Literatur, dem „Faust", dürfte es wohl kein Dichtwerk geben, um dessen innerste Erfassung so viel gerungen worden ist, wie den „Hamlet". Die tiefe Magie des Seelenvorganges, die Folgerichtigkeit von Charakteranlage und Handlung, die Erhöhung des Besonderen in das Allgemeine, in unser Menschenschicksal überhaupt, macht das nie nachlassende Interesse an dem unergründlichen Werk begreiflich. Das tut auch schon die Atmosphäre,
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III. Shakespeare und seine Welt
die alles umgibt; sie ist schwül, gewitter schwanger, drückend. In eisigkalter Nacht erscheint der Geist, im Fackellicht der Nacht wird das Schauspiel aufgeführt, in der Nacht trifft Hamlet den betenden König und hält er das furchtbare Gespräch mit der Mutter; zwischen Gräbern erfüllt sich das Schicksal; Nebel und Seeluft sind beständig fühlbar. Ein brütendes Geheimnis lastet auf dem ganzen Umkreis, ein gespenstisches Etwas, das zur Entladung drängt. „Etwas ist faul im Staate Dänemark"; für den Prinzen noch mehr: „Die Zeit ist aus den Fugen." Man geht lauernd umeinander herum, man spielt einander ein Scheinwesen vor, man lebt in einer dumpfen Schwüle, bis endlich die Entladung mit Blitz und Donner kommt. Shakespeare ist in allen Werken der Meister der atmosphärischen Stimmung, der Dichter des Elementaren. Denken wir nur an den Naturzauber und die Musikalität der romantischen Komödien, an das Mondscheinweben im Walde, an Elfen und Kobolde, an die äußere und innere Nebel- und Spukwelt des „Macbeth", an die nicht nur die Menschen, sondern den ganzen Kosmos hineinreißende Erschütterung der Ehrfurcht im „König Lear", an die Zauberstimmungen der sogenannten Romanzen und auf der anderen Seite an Werke mit dem reinen Geistgehalt eines Problems wie etwa „Richard II." oder „Coriolan". Wir verstehen, daß das Hamletbild in der Luft der erregten Sinne jeden, der es miterlebt, verschiedenartig anpacken muß. Dazu kommt, daß uns Shakespeare hier mehr als in irgendeinem seiner Dramen von seiner eigenen Seele mitgeteilt hat; es ist sein persönlichstes Werk, aus der Mitte seines Lebens und Schaffens empfunden. Je klarer wir das Zeitgebundene erkennen, um so größer wird die überzeitliche Bedeutung. Es ist deshalb hier mehr als sonst nötig, die Hauptstufen der Stoffgeschichte zu nennen. Der dänische Geistliche Saxo Grammaticus verarbeitete um das Jahr 1200 in seiner umfangreichen dänischen Geschichte alte Volkstraditionen zu einer Vorgeschichte nach römischem Vorbild. Dabei erzählt er auch die Sage von Amleth, dessen Vater, ein gewaltiger Seeheld, Statthalter von Jütland und glücklicher Gatte der Tochter des Königs, von seinem neidischen Bruder ermordet wurde; der Mörder heiratete die Witwe des Erschlagenen und wurde selbst Statthalter. Amleth, der sich vor seinem Oheim nicht sicher fühlt, stellt sich wahnsinnig, um seine Rachepflicht erfüllen zu können. Um ihn zu ergründen, stiftet man ein schönes Mädchen an, ihm im Sinnenrausch sein Geheimnis zu entreißen. Der Plan mißlingt aber, da Amleth gewarnt worden ist und das Mädchen echte Liebe zu ihm empfindet. Die Helfer des verbrecherischen Oheims machen einen zweiten Versuch: man veranstaltet ein Gespräch der Mutter mit ihrem Sohne, bei dem ein Lauscher sich unter der Decke eines Bettes verborgen hält. Der Jüngling entdeckt die List und ersticht den Lauscher unter der Decke; seiner Mutter hält er eine Strafrede voll bitterster Vorwürfe über ihre Heirat, die sie zur inneren Umkehr und zu dem Versprechen der Mithilfe bei dem Racheplan veranlaßt. Der Oheim versucht nunmehr, den Neffen mit Hilfe des Königs von England umbringen zu lassen. Dieser aber entdeckt den Befehl, den seine zwei Begleiter mitbekommen haben, und ändert ihn in ein Todesurteil für sie selbst um. Er heiratet die englische Königstochter und kehrt nach einem Jahr nach Dänemark zurück, wo er den Oheim und seinen Hofstaat in wildem Festtaumel aus Anlaß seiner vermeintlichen Beseitigung findet. Er spielt wieder den Wahnsinnigen, spannt ein von der Mutter gewebtes großes Netz über die berauschten Schläfer, zündet den Saal an, in dem alle umkommen, und erschlägt den Oheim mit eigener Hand. Dem Volk erklärt er in langer Rede die Zusammenhänge. Er wird zum König von Jütland ausgerufen, regiert lange und glücklich und fällt schließlich in einer Schlacht gegen den dänischen König. Dies sind die wichtigsten Handlungsbestandteile der nordisch-rauhen Blutrachefabel. Sie ging durch die „Tragischen Geschichten" des Franzosen Belieferest in Shake-
Hamlet
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speares Lebenszeit in die Erzählliteratur ein, nicht mehr wortkarg-streng wie bei Saxo, sondern novellistisch-plaudernd. Im Jahre 1589 wird bereits ein offenbar nicht viel vorher aufgeführtes Drama erwähnt, der sogenannte Urhamlet. Er stammt, wie mit Sicherheit angenommen werden darf, von Thomas Kyd und paßt die alte Sage dem antikisierenden Kunstgeschmack der Renaissance an: der Rache fordernde Geist des ermordeten Königs kommt hinein; die Königin, bei Saxo das Opfer tückischen Betruges durch den Mörder, nimmt Züge der Klytämnestragestalt an, Hamlet selbst Züge des rächenden Orestes mit seiner strengen Auffassung der zweiten Heirat; das Schauspiel im Schauspiel wird eingeführt; der Ausgang wird ins Tragische gewendet, die kunstgerechtere Auffassung der Renaissance konnte einen solchen Vorwurf nur mit dem Untergang des Helden und des ganzen verbrecherischen Hofes ausgehen lassen, wozu auch die Gestalt des Laertes und der Zweikampf mit vergifteter Waffe eingeführt werden. Den Urhamlet besitzen wir leider nicht, können also auch nicht genau feststellen, was Shakespeare zur Handlung und Motivierung hinzufügte. Die Hauptmomente der äußeren Handlung waren gegeben: die Ermordung des alten Königs und die Heirat der Witwe mit dem Mörder, die Erscheinung des Geistes, der angenommene Wahnsinn des Prinzen, das Schauspiel im Schauspiel, die Strafpredigt im Gemach der Mutter und die Ermordung des lauschenden Höflings, die Fahrt nach England und die Umkehrung des Mordanschlages zur Vernichtung der Begleiter, die wahrscheinlich auch schon die Namen Rosenkranz und Güldenstern trugen, die Laerteshandlung, das Duell und der tragische Untergang des Helden und seiner Gegenspieler. Wir können aus Kyds bekanntestem und damals hochberühmtem Werk, der „Spanischen Tragödie", aber vermuten, wie ein solcher Stoff in dem Urhamlet ausgesehen haben mag: eine wilde und grausige Rachetragödie mit lebendigem äußerem Geschehen, ohne gedankliche Tiefe und feinere Ausarbeitung der Charaktere. Eine Rachetragödie muß mit dem Ruf nach Sühne der Mordtat beginnen und mit dem Vollzug enden. Was dazwischen liegt, wird entweder lebhaftes Geschehen mit erregendem Intrigenspiel oder retardierende Handlung mit gedankenreicher Motivierung und gründlicher Charakterentfaltung sein. Kyd wählte den ersten, Shakespeare den zweiten Weg; der Charakter des Helden ist ganz seine Schöpfung. So verfuhr der Dichter regelmäßig bei Stoffen, die bereits auf der Bühne und seinem Publikum vertraut waren. Das treffendste Beispiel ist vielleicht König Lears Reichsteilung und die Behandlung der drei Töchter, die auf den ersten Blick so befremdlich erscheint, von unserm Dichter aber in neuer psychologischer Deutung zu einem überzeugenden Ausgangspunkt für die Charakterstudie gemacht wird. Es sind also müßige Fragen, die von Hamleterklärern bisweilen aufgeworfen worden sind: ob der angenommene Wahnsinn zweckmäßig sei, ob es sich nicht etwa um wirklichen Wahnsinn handle, ob das Schauspiel mit der vorangehenden Pantomime notwendig und mit seiner Wirkung auf den Mörder richtig aufgebaut sei — der König sieht ja die Pantomime ruhig an und bricht erst bei der gesprochenen Szene zusammen —, ob die Tötung des Polonius und die Behandlung der Leiche mit dem Wesen des humanistisch-feinen Prinzen vereinbar seien, ob die schnell und wie durch einen Zufall herbeigeführte Katastrophe, bei der Hamlet mehr getrieben wird als selbst treibt, nicht dem künstlerischen Aufbau abträglich sei. Das sind alles Handlungsteile, die der bekannte und beliebte Gegenstand enthielt und die ein großer Dichter ebensowenig zu ändern sich bemühte wie etwa Goethe den Hokuspokus der TeufelverSchreibung Fausts. Shakespeare ging es um das innere Bild, um den Bereich der Gedanken und weiten Ausblicke, um das also, was den Tiefsinn und die für immer gültige Lebensbezogenheit dieses größten aller Dramen ausmacht. Und hier ist alles sein eigenstes Werk. Mit einer Mitternachtsszene auf der Schloßterrasse werden wir sogleich in die unheilschwangere Luft eingeführt, „'s ist bitter kalt, und mir ist schlimm zumut."
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III. Shakespeare und seine Welt
Der Geist von Hamlets Vater erscheint; wir sind vielleicht zu Anfang noch ungläubig wie Horatio und erleben nun mit ihm die Wahrheit des Berichtes der Schildwachen. Dunkel ist zunächst der Sinn der Erscheinung; wir ahnen aber, daß Geheimnisvolles und wahrscheinlich Furchtbares über Hamlet schwebt. Damit ist kurz und bestimmt der Grundton angeschlagen. Die weitere Exposition bringt die Welt des Hofes. Der neue König hat einen Staatsrat gehalten und begrüßt nun in wohlgesetzter Thronrede den weiteren Hofstaat. Er gewährt zunächst dem zur Krönungsfeier aus Paris herbeigeeilten Laertes eine kurze Audienz und wendet sich dann dem von seinen Studien in Wittenberg zur Totenfeier für den Vater eingetroffenen Neffen und Stiefsohn zu, der bisher in seinem „düstren Mantel" — inky, tintenschwarz heißt es im englischen Text — teilnahmslos und in sich gekehrt dagestanden hat. Nicht ein „geflickter Lumpenkönig", wie Hamlet ihn nachher nennt, sondern ein kluger, das furchtbare Verbrechen mit keiner Miene der Verlegenheit verratender Fürst spricht in wohl vorbereiteter und gegliederter Rede von den Staatsgeschäften und der Ordnung seines Hauses: Though yet of Hamlet our dear brother's death The memory be green, and that it us befitted To bear our hearts in grief, and our whole kingdom To be contracted in one brow of woe, Yet so far hath discretion fought with nature That we with wisest sorrow think on him Together with remembrance of ourselves: Therefore our sometimes sister, now our queen, Th' imperial jointress to this warlike state, Have we, as 't were with a defeated joy, — With an auspicious and a dropping eye, With mirth in funeral and with dirge in marriage, In equal scale weighing delight and dole, — Taken to wife; nor have we herein barr'd Your better wisdoms, which have freely gone With this affair along. (1,2)
Wiewohl von Hamlets Tod, des werten Bruders, Noch das Gedächtnis frisch, und ob es unserm Herzen Zu trauern ziemte und dem ganzen Reich, In eine Stirn des Grames sich zu falten: So weit hat Urteil die Natur bekämpft, Daß wir mit weisem Kummer sein gedenken, Zugleich mit der Erinnrung an uns selbst. Wir haben also unsre weiland Schwester, Jetzt unsre Königin, die hohe Witwe Und Erbin dieses kriegerischen Staats, Mit unterdrückter Freude, sozusagen, Mit einem heitern, einem nassen Aug', Mit Leichenjubel und mit Hochzeitsklage, In gleichen Schalen wägend Leid und Lust, Zur Eh' genommen; haben auch hierin Nicht eurer bessern Weisheit widerstrebt, Die frei uns beigestimmt. Für alles Dank!
Alles wohlgeformt und würdig deklamiert, nicht frei von auffallenden geistreichen Phrasen: „Mit Leichenjubel und mit Hochzeitsklage." Er hat etwas zu verbergen, das Thema von Sein und Schein kündigt sich an. Zunächst aber klingt alles klug und der Situation entsprechend. Klar und energisch werden die erforderlichen Anordnungen für die von Norwegen drohende Gefahr getroffen, taktvoll und gnädig wird die Bitte des Laertes gewährt und wird der trauernde Stiefsohn behandelt. Eine spitze und scharfe Entgegnung Hamlets überhört der König, und auch als der Prinz, ohne die Rede des Königs zu beachten, nur der Mutter die gehorsame Antwort erteilt, bleibt er freundlich und schließt mit einer liebenswürdigen Wendung. An dem Verbleiben des Prinzen am Hofe liegt ihm sehr, und Hamlet entspricht der Bitte offenbar aus dem gleichen Grunde: beide wollen sich im Auge behalten. Das Stichwort aber, das den ablehnend-wortkargen Sohn zum Reden bringt, ist der angebliche „Schein" der alten Wahrheit, daß alles Ledendige sterben und in die Ewigkeit eingehen muß. „Scheint, gnäd'ge Frau? nein, ist; mir gilt kein ,scheint' . . . Was über allen Schein, trag' ich in mir." Wir hören ja nachher, daß sein prophetisches Gemüt
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bereits von einem dunklen Argwohn gegen den Oheim gemartert wird. Während der Hof sich zum Festmahl entfernt, bei dem jedes Hoch vom Donner der Kanonen begleitet sein soll, bleibt er in tiefem Schmerz zurück; ein nach innen gekehrter Mensch, der die Dinge viel tiefer nimmt als die anderen, der mit seinen Zweifeln, seiner Erregung nicht ins reine kommen kann. Der Melancholikertyp war in der Zeit der Entstehung unsres Dramas eine Art Modefigur auf der Bühne: schwarz gekleidet, mit in sich gekehrtem Blick, von erregten Stimmungen geschüttelt, beständig sinnend und nie zum Handeln kommend, einsilbig, einsam, reizbar, grüblerisch. Hamlet gehört diesem Bühnentypus an, wächst aber in der Entfaltung seines Charakters hoch über das Schema hinaus. Das erste Gefühl ist grenzenlose Empörung über das nach der Moral seiner Zeit unsittliche Verhalten seiner Mutter, die kurz nach dem Tode des edlen Gatten in ein „blutschänderisches Bett stürzen" mußte. Das arbeitet und glimmt in ihm, und der Grübler ahnt sofort die Schlechtigkeit der Welt überhaupt, er verallgemeinert das einzelne: How weary, stale, flat, and unprofitable, Seem to me all the uses of this worldl Fie on 't, ah fie! 'Tis an unweeded garden, That grows to seed; things rank and gross in nature Possess it merely. That it should come thus!
Wie ekel, schal undflachund unersprießlich Scheint mir das ganze Treiben dieser Welt! Pfui, pfui darüber 1 's ist ein wüster Garten, Der auf in Samen schießt; verworfnes Unkraut Erfüllt ihn gänzlich. Dazu mußt' es kommen!
Let me not think on 'tl Frailty, thy name is woman! (1,2)
Laßt mich's nicht denken! Schwachheit, dein Nam' ist Weib!
Nach Art der Melancholiker denkt er an Selbstmord, an Selbstvernichtung, nicht an Vernichtung des Urhebers der Gemeinheit — wenn nicht der Ewige sein Gebot gegen die Selbstzerstörung gerichtet hätte. Es bleibt aber der Eindruck eines Vulkans, in dem es zunächst noch brodelt, es bleibt die Ahnung, daß das Ende schlimm sein wird: „Es ist nicht, und es wird auch nimmer gut." Hamlet selbst kennt seine vulkanische Natur: For though I am not splenetive and rash, Yet have I something in me dangerous, Which let thy wiseness fear. (V,i)
Denn ob ich schon nicht jäh und heftig bin, So ist doch was Gefährliches in mir, Das ich zu scheun dir rate.
Bald genug wird sein Ahnen zum Wissen. Schneidende Kälte muß wiederum die Atmosphäre erfüllen, als der Geist des Vaters dem Sohne das Mordgeheimnis enthüllt und ihn zur Rache aufruft. In grausiger Kontrastwirkung zu dem eben in langgeformtem Satz gesprochenen Abscheu gegen die viehische Völlerei entfahren dem Erschreckten nur kurz herausgestoßene Anrufe und Fragen, in die wieder die Bildhaftigkeit des dem Allgemeinen zugewendeten Denkens hineinklingt: Narren der Natur sind wir, die sich mit der Seele nicht erreichbaren Gedanken schütteln. Er fühlt aber, daß nunmehr sein Weg bestimmt ist: „Mein Schicksal ruft." „Mein Leben acht' ich keine Nadel wert." Aber auch die Zeugen der Vorgänge ahnen, daß es um eine Frage der Weltordnung geht, daß ein höheres Gesetz eingreift: „Der Himmel wird es lenken." Goethe hat die Zweiseitigkeit des „Hamlet" als Charakter- und als Schicksalstragödie — oder sagen wir besser Vorsehungstragödie — wohl erkannt. In dieser Zweiseitigkeit liegt der Tiefsinn, der so immer wieder zur Auseinandersetzung und Deutung aufruft und die letzten Gründe nur ahnen läßt. Der Geist verlangt von dem Sohne Rache an dem König, zugleich aber Schonung für die Mutter, die er als die Schwache und Verführte ansieht. Jetzt ist Hamlets Weg klar. Der Idealist steht fassungslos vor einer Welt des Niedrigen, die er als edle
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III. Shakespeare und seine Welt
Natur bisher nicht gekannt hat. Gegenständlich muß er es immer bei sich haben, daß es so etwas gibt, er, der doch schon in seiner pessimistischen Anlage zum Schwarznehmen geneigt ist; darum die Schreibtafel, in die er eintragen muß, „daß einer lächeln kann und immer lächeln und doch ein Schurke sein". Auslöschen will er alles, was ihn sonst an die Welt bindet, alle Gefühle und Gedanken, alle Erfahrungen und Träume der Jugend, nur noch der Losung „Ade, ade, gedenke mein" will er leben, der Aufgabe, die ihm gestellt ist. Ein „wunderliches Wesen", also den verstellten Wahnsinn, will er als Maske annehmen, und die Freunde müssen ihm schwören, nie durch Andeutungen zu erkennen zu geben, was sie wissen. Wenn wir noch die Einführung in das Haus des Hofmanns Polonius und seine Menschen hinzunehmen, so haben wir in diesem ersten Akt das vollendete Muster einer Exposition, in der alle Keime der Handlung und Stimmung sowie die Anlage der Charaktere enthalten sind. Der gläubige Idealist und fanatische Wahrheitsfreund kommt von der hohen Schule der reinen Ideen an den heimatlichen Hof und findet als die Wirklichkeit des Lebens muffiges Scheinwesen, ja sinnliche Niedrigkeit und Verbrechertum. Er kann mit der Kluft zwischen seiner gedachten und der wirklichen Welt nicht ins reine kommen und muß sich quälen, daran zu denken, wie schlecht die Welt ist, muß es symbolisch aufgeschrieben mit sich herumtragen, um immer daran erinnert zu werden. Der Mann hoher geistiger Begabung, der Mann des Denkens und der Phantasie sieht durch das einzelne Begebnis hindurch die Brüchigkeit des Ganzen. Das humanistische Bildungserlebnis ist zutiefst mit dem Ordnungsgedanken verbunden. Das Schicksal versetzt den, dessen Glaube und Daseinsinhalt bisher die kosmische und menschliche Ordnung war, plötzlich in eine Welt der Brüchigkeit und Unechtheit, und von dem Mann des Denkens fordert es eine Tat. Die Mahnung des Geistes empfindet er als einen Ruf der Vorsehung zur Wiederherstellung der zerstörten Ordnung, zur Rettung der geschändeten Natur: The time is out of joint; O cursed spite, That ever I was born to set it rightl
(I,j)
Die Zeit ist aus den Fugen: Schmach und Gram, Daß ich zur Welt, sie einzurichten, kam!
Oder, wie es genauer nach dem Original heißen müßte: die Zeit ist ausgerenkt wie ein Glied des Körpers; o verfluchter Verdruß, daß gerade ich geboren wurde, sie wieder einzurenken. Er hört den Ruf des Schicksals und will ihm auch folgen; aber der Humanist hat nicht die unmittelbare Kraft eines Triebmenschen wie Richard III., der Denker erlebt die Freude an der raschen Tat ebensowenig wie die Freuden des Augenblicks. Er muß sich erst bereiten, er muß seiner Natur nach zaudern, und dazu nimmt er zunächst das „wunderliche Wesen" an, das im Verlaufe des Dramas die wunderbare dichterische Möglichkeit bietet, ihn nach Art der „weisen Narren" die tiefsten Wahrheiten sagen zu lassen und die gewaltige Zerrissenheit seiner innersten Natur zu enthüllen. Es ist tiefer Gram, mit dem er die Lösung von allen irdischen Bindungen beginnt: Abschied von Ophelia. Was sie selbst darüber berichtet, hat mit verstelltem Wahnsinn nichts zu tun: He took me by the wrist and held me hard; Er griff mich bei der Hand und hielt mich fest; Then goes he to the length of all his arm, Dann lehnt' er sich zurück, so lang sein Arm, And, with his other hand thus o'er his brow, Und mit der andern Hand so überm Auge, He falls on such perusal of my face Betrachtet' er so prüfend mein Gesicht, As 'a would draw it. Long stay'd he so. Als wollt' er's zeichnen. Lange stand er so; At last, a little shaking of mine arm, Zuletzt, ein wenig schüttelnd meine Hand And thrice his head thus waving up and Und dreimal hin und her den Kopf so down, wägend,
Hamlet
He rais'd a sigh so piteous and profound That it did seem to shatter all his bulk And end his being; that done, he lets me go; And, with his head over his shoulder turn'd, He seem'd to find his way without his eyes, For out o' doors he went without their help, And, to the last, bended their light on me. (11,0
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Holt' er solch einen bangen, tiefen Seufzer, Als sollt' er seinen ganzen Bau zertrümmern Und endigen sein Dasein. Dies getan, Läßt er mich gehn; und über seine Schultern Den Kopf zurückgedreht, schien er den Weg Zu finden ohne seine Augen; denn Er ging zur Tür hinaus ohn' ihre Hilfe Und wandte bis zuletzt ihr Licht auf mich.
Wir hören in der Schlußszene den Aufschrei des Prinzen, der aus dem Grabe der Unglücklichen steigt: I lov'd Ophelia: forty thousand brothers Could not, with all their quantity of love, Make up my sum. (V,i)
Ich liebt' Ophelien; vierzigtausend Brüder Mit ihrem ganzen Maß von Liebe hätten Nicht meine Summ' erreicht.
Wozu bei dem Abschied von dieser Liebe der lange, prüfende Blick? Die Mutter hat durch ihre Heirat seine Meinung vom Weibe enttäuscht, Ophelia hat als gehorsame Tochter ihm abgeschrieben, obwohl blutenden Herzens. Muß er an der Tiefe ihrer Liebe zweifeln, auch an ihr irre werden, soll auch für sie gelten: Schwachheit, dein Name ist Weib? Seine Neigung zum Verallgemeinern bringt ihn dazu. Er hat sie wahrhaft geliebt, der Abschied bedeutet Schmerz. Und doch muß es sein, er gehört nur noch dem Geist und seiner Aufgabe. Seine sich immer mehr verdichtende Meinung, die Geliebte werde von ihrem Vater als Aushorcherin benutzt, gehört zu den Ungerechtigkeiten eines zerrütteten seelischen Gleichmaßes. Seine Ausfälle gegen Polonius erklären sich zum Teil damit. Und auch in dem Gespräch mit den Schulfreunden Rosenkranz und Güldenstern erkennt er, daß man Spione zu ihm schickt. Da aber wirft er die Wahnsinnsmaske ab und offenbart ihnen sein Inneres, seine Melancholie, seine ideale Meinung vom Menschen, dem Wunderwerk der Natur, der Zierde der Welt, dem Vorbild der Lebendigen. In dem Durchbruch eines Gefühlsstromes erblicken wir noch einmal den Urgrund seiner furchtbaren Erschütterung, die Schändung der Quintessenz alles Geschaffenen. Wahrhaftig, die Zeit ist aus den Fugen! Der Dichter unterläßt es nicht, die Veranlagung des Helden, über das Einzelne hinaus den Blick stets auf das Große und Allgemeine zu richten, stark zu betonen, die Gefilde des Denkens und der schweifenden Phantasie als sein eigentliches Element herauszustellen. Die Schauspieler kommen, freundlich empfangen, wie solche Wandertruppen der Elizabethzeit sich regelmäßig der Protektion eines hohen Gönners erfreuten. Hamlets humane Natur hat an der Kunst mehr Freude als an der Wirklichkeit und besonders wohl in diesem Augenblick, in dem er die Wirklichkeit so furchtbar erlebt. Das alte Drama nach einem Thema aus Vergils Aeneis, aus dem sich der Prinz eine Probe vordeklamieren läßt, ist an dieser Stelle mehr als ein Bravourstück bombastisch tönender Verse. Man hat auf den Symbolwert der Deklamation des ersten Schauspielers hingewiesen, und in unserem Drama, in dem alles bis in die feinsten Stilschattierungen gedanklich geladen ist, zweifellos mit Recht. Es ist von dem rauhen Pyrrhus die Rede, der, zornig und im Blute watend, den greisen Priamus töten will. Der alteTroerkönig ist zu schwach, um das Schwert noch zu führen, und fällt schon vor der hoch geschwungenen Waffe des Gegners zu Boden. In demselben Augenblick stürzt auch das brennende Ilium zusammen. Pyrrhus stutzt einen Augenblick, er fühlt das Walten einer überirdischen Schicksalsmacht:
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III. Shakespeare und seine Welt
. . . For, lo! his sword, Which was declining on the milky head Of reverend Priam, seem'd i' th' air to stick; So, as a painted tyrant, Pyrrhus stood And like a neutral to his will and matter, Did nothing. (11,2)
. . . denn seht, sein Schwert, Das schon sich senkt' auf des ehrwürdigen Priam Milchweißes Haupt, schien in der Luft gehemmt. So stand er, ein gemalter Wütrich, da, Und, wie parteilos zwischenKraft und Willen, Tat nichts. . . .
Bis dann die Racheschläge um so grausiger herniedersausen. Der Schluß der angeführten Verse lautet im englischen Text: „And like a neutral to his will and matter, did nothing." Schlegels „parteilos zwischen Kraft und Willen" trifft den Sinn nicht voll; Pyrrhus, der in blitzartiger Eingebung das Hineinleuchten eines größeren Zusammenhanges in sein persönliches Rachewerk empfindet, steht plötzlich wie ein Unbeteiligter, ein Neutraler, zwischen seinem Vorsatz und dem Gegenstand. So steht auch Hamlet zwischen seiner Aufgabe und der Ausführung, auch ein „Neutraler", mehr Betrachter als Täter. Wir fühlen auch hier, an einer leicht unbeachteten Stelle, die innere Dynamik und den sinnbildreichen Gehalt der Sprache. Die Deklamation des Komödianten, der im bloßen Spiel der Leidenschaft Tränen der inneren Aufgewühltheit vergießen konnte — über Hekubal —, weckt in Hamlet Schuldbewußtsein und Beschämung: „Und ich . . . kann nichts s a g e n ! " An das Sagen denkt er zuerst, und allmählich erst kommt ihm der Ruf zum Handeln. Die Geistererscheinung mag ein Teufelsspuk gewesen sein: „Vielleicht, bei meiner Schwachheit und Melancholie, täuscht er mich zum Verderben." Melancholie hemmt planmäßiges Handeln und drängt immer wieder in die Reflexion. Der Gedanke, der Geist könne der Teufel gewesen sein, muß als ein Vorwand zum Hinausschieben und zu weiterem Grübeln gewertet werden. Es soll zunächst erprobt werden, ob sich der König bei dem Schauspiel, das eine der eigenen Mordtat ähnliche Szene bringen wird, durch Haltung und Gesichtsausdruck verrät. Hamlet will selbst eine Rede von einem Dutzend Zeilen, die die Mausefalle sein soll, in das alte Stück der Komödianten einfügen. Das ist die Form seiner Aktivität: Neues ersinnen, immer wieder prüfen, den Sinn ergründen. Daß Hamlet wirklich einen Augenblick an seiner Aufgabe irre wird und den Geist, der doch so klar zu ihm gesprochen hat, in Zweifel zieht, ist schwer einzusehen. Der weltmüde Wanderer zwischen den beiden Bereichen des Vorgestellten und des Wirklichen wird aber immer wieder aufgehalten durch sein Ringen um die volle Sinnhaftigkeit. Ein triebhaft schnelles Handeln, die Tötung des Verbrechers, wäre fraglos die rechte Sühne des Familiengeschehens; aber auch die Erfüllung des größeren Auftrages der Vorsehung? So kann die hohe Gabe des Denkens, die unser Glück bedeutet, auch Quelle dauernder Qual, kann auch Fluch des Denkens sein. Mephistopheles sagt im „Prolog im Himmel" von dem wunderlichen Menschen, der sich immer nur plagt: Ein wenig besser würd' er leben, Hätt'st du ihm nicht den Schein des Himmelslichts gegeben; Er nennt's Vernunft und braucht's allein, Nur tierischer als jedes Tier zu sein. Gegen einen solchen Zynismus des Teufels stellt Hamlet den Heroismus des Denkens : . . . Was ist der Mensch, . . . What is a man, Wenn seiner Zeit Gewinn, sein höchstes Gut If his chief good and market of his time Nur Schlaf und Essen ist? Ein Vieh, nichts Be but to sleep and feed? A beast, no more. weiter.
Hamlet
Sure He that made us with such large discourse, Looking before and after, gave us not That capability and god-like reason To fust in us unus'd. (IV,4)
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Gewiß, der uns mit solcher Denkkraft schuf, Vorauszuschaun und rückwärts, gab uns nicht Die Fähigkeit und göttliche Vernunft, Um ungebraucht in uns zu schimmeln.
In welchem Maße Hamlet, der sich eben noch einen energischen Anstoß zur Ausführung seiner Rächeraufgabe gegeben hat, gleich wieder in das Allgemeine verfällt, zeigt der berühmte Monolog „Sein oder Nichtsein." Er ist so losgelöst von dem persönlichen Vorhaben, so ganz in das Abstrakt-Philosophische entrückt, daß er gewiß an jeder beliebigen Stelle der Mitte des Dramas stehen könnte. Da, wo wir ihn in unseren Ausgaben lesen, also gleich nach dem Entschluß zur endgültigen Entlarvung des Königs, hat er aber seinen richtigsten Platz: der Entschluß ist gefaßt, es schiebt sich aber bei diesem Phantasiemenschen und Denker zunächst wieder eine Zusammenballung der seelischen Gesamtlage ein. Nichts bezieht sich in dieser Betrachtung auf die besonderen Umstände. Der Unmut über den Übermut und die Unterdrückung der Tyrannen wird nicht auf den König Claudius bezogen, die Pein verschmähter Liebe nicht auf Ophelia, das unerforschte Land, aus dem kein Wanderer zurückkehrt, nicht auf den Geist des Vaters, dessen Wiederkehr der Sohn doch schaudernd erlebt hat. Es ist ein Selbstgespräch des Philosophen Hamlet über den Sinn und Wert des Lebens und die Bedeutung des Todes. Er leidet an der Welt, deren Treiben ihm ekel, schal und wertlos erscheint und von der befreit zu werden höchst erwünscht wäre (I, 2). Was hält denn den Menschen zurück, sich von diesem Leben zu befreien, dessen Plagen doch größer sind als die Freuden? Ist denn der Tod nicht ein schöner Schlaf? Jawohl, wenn er traumlos wäre. Wie aber, wenn er uns nur einen Schlaf mit schrecklichen Traumbildern bringt, die die Nöte des Lebens nur verewigen? Was erwartet uns denn nach dem Tode? Niemand kann es sagen, wir alle aber bangen vor der Tiefe des Dunkels. Nicht mehr Gottes Gebot, von dem der Prinz in der ersten Äußerung seines Weltüberdrusses spricht, hält ihn von dem letzten Schritt zurück, sondern ein rein philosophisches Denken, die „conscientia", ein im Renaissancedenken in tiefe Schichten reichender Begriff, der Denken oder besser Bewußtsein, Wissen und gleichzeitig Gewissen in sich faßt. Des Gedankens Blässe macht die natürliche Farbe der Entschließung kränklich; wir nehmen ein Leben auf uns, „das Elend läßt zu hohen Jahren kommen", wir bleiben den dämonischen Urkräften ausgeliefert, die als Pfeile und Schleudern des wütenden Geschicks, als Stöße der Natur, als der Zeiten Spott und Geißel das menschliche Dasein bedrohen. Und das ist nicht feiges Ausweichen, sondern das Heldentum des Lebens. Die letzte Verknüpfung von Denken und Nichthandeln ist bejahend, ist schließlich unser Leben und Schicksal. Hamlet lebt und stirbt uns dies in mystischen Tiefen wurzelnde Geheimnis vor. Die Aufführung des Schauspiels übertrifft alle Erwartungen. Der König ist vernichtet und steht auf. Der Augenblick der Rache wäre gegeben, ein Ausweichen für den Verbrecher nicht möglich. Was aber tut Hamlet? Er denkt nicht daran, die Gelegenheit zu nützen, er freut sich seines geistigen Sieges, die moralische Vernichtung des Königs tut ihm wohl, sie soll mit Musik gefeiert werden; der humanistisch-innerliche Mensch genießt den durch Kunst errungenen Erfolg, ein wilder Jubel kommt über ihn. Das scharfe Spiel des Geistes liegt ihm jetzt nahe — Rosenkranz und Güldenstern sowie Polonius müssen die beißende Schneide des Wortes erfahren, als sie ihm den Wunsch der Mutter nach einer sofortigen Unterredung überbringen. Hamlet fühlt jedoch, daß zu dem Triumph noch etwas fehlt, die Tat selbst I Es ist ja „die wahre Spükezeit der Nacht, Wo Grüfte gähnen und die Hölle selbst Pest haucht in diese Welt." Jetzt wäre die rechte Zeit, es zu tun — aber er tut es nicht, der Ausdruck bleibt
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hypothetisch: „Nun tränk' ich wohl heiß' Blut und täte Dinge, die der bittre Tag mit Schaudern säh'." Der rechte Augenblick versäumt? Die Erregung ist um so größer, und in dieser Stimmung begibt er sich zur Mutter. Er ist gerade aufgelegt zu der mitternächtlichen Unterredung, er will Dolche reden, aber keine brauchen. Da trifft er den überführten Mörder und Blutschänder, der zu beten versucht. Der König weiß von der Kraft echter Reue, die Gnade herbeizuziehen. Aber er kann nicht das tun, was echte Reue verlangt, er kann nicht zurückgeben und wiedergutmachen; eben schmiedet er ja einen Plan zur Vernichtung Hamlets. Er kann also gar nicht bereuen und deshalb nicht Seelenfrieden im Gebet finden: O limed soul, that, struggling to be free, Art more engag'd I Help, angels! Make assay I
O Seele, die, sich freizumachen ringend, Noch mehr verstrickt wird! — Engel, helft! versucht! Bow, stubborn knees, and, heart with strings Beugt euch, ihr starren Knie! Gestähltes Herz, of steel, Be soft as sinews of the new-born babe! Sei weich wie Sehnen neugeborner Kinder. All may be well. (111,3) Vielleicht wird alles gut. Hamlet zieht den Degen aus der Scheide — aber er steht gebannt wie der rauhe Pyrrhus in der Deklamation des Komödianten, er steckt das Schwert wieder ein. Der Vater ist „in seiner Sünden Maienblüte" getötet worden, und dieser hier, dessen Gebet er für ernst und fruchtbar hält, soll in den Himmel geschickt werden? So redet er es sich vor. In Wahrheit jedoch liegt eine tiefe Weltironie in dem mit den Mitteln des Verstandes nicht begreifbaren Widerspiel von Trieb und Geist. Der Denker und Phantasiemensch, der alles in eine vorgestellte Welt projiziert, der immer die höhere Sittlichkeit sucht, findet die Rache, die er jetzt üben könnte, nicht hart genug, nicht ausreichend für den großen Vorsehungsauftrag. Er legt sich als Ziel zurecht, was aus Abscheu geboren ist; er will eine größere Gelegenheit abwarten, will also wiederum warten. Wir fühlen, wie sich gerade über dieser Charakteranlage die Wolken zusammenziehen. In dem Helden lebt das große sittliche Pathos, er eilt dem Gemach der Mutter zu und ruft sie schon vor der Tür; denn eine Tat des Geistes steht bevor, ein Gericht der Worte, und da ist er in seinem Element, jetzt ist er schnell und fest. Die nächtliche Unterredung mit der Mutter, die er liebt und die er nach dem Auftrag des Geistes schonen soll, gehört zu den erschütterndsten Szenen, die Shakespeare geschrieben hat, erregt und sprachgewaltig, hineinleuchtend in die Urgründe der Gefühle. Hier schwinden alle Hemmungen des zum Kampf mit den Waffen des Geistes aufgelegten Streiters für die Ordnungen der Natur, hier findet der gesammelte Mensch die rasche Tat in der Tötung des Lauschers hinter dem Wandteppich, des Polonius, in dem er den König vermutet; eine triebhaft-natürliche Reaktion, die den Strom der geredeten Dolche kaum unterbricht. Der säumende Melancholiker wird plötzlich, erfüllt von einer heiligen Aufgabe, zum unbedachten Sanguiniker und tötet — den Falschen! Aber es geht ja im Augenblick um anderes, um die Mutter, die ihm Vorhaltungen machen will, deren haltlos schwaches Gemüt nun aber zur Erkenntnis geführt werden soll. Der Geist erscheint wieder, nur dem Sohne sichtbar als Mahner und Warner, nicht mehr in der Rüstung, sondern im Hauskleide; ein intimes Gespräch der engsten Familie soll Gefühle und Motive klären. Mit welcher Kunst und Gewalt der Sprache zeichnet Hamlet die kontrastierenden Bilder des alten und des neuen Königs und Gatten — Verklärung gegen Karikatur —, wie mächtig greift sein Ethos der Mutter ans Herz, so daß Reue und Weh die Schwache und Leichtverführte beinahe zur Größe erheben! Hier ist kein Orest, der die Mutter tötet, sondern ein christlicher Humanist, der durch Liebe entsühnt. Die Führung der Handlung geht jetzt mehr auf den König über, während Hamlet nach den beiden großen Leistungen seines Geistes, der Entlarvung des Mörders und
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der Wendung des Herzens der Mutter, der Getriebene wird. Er läßt sich willig in die Verbannung nach England schicken, angeblich zu seinem Schutz vor der Volkswut nach der Tötung des Polonius, in Wahrheit mit einem Uriasbrief an den englischen König. Die Begegnung mit den Truppen des norwegischen Prinzen Fortinbras bringt ihm mit besonderer Eindringlichkeit den Gegensatz zwischen Männern der Tat, die ihr Leben für ein Fleckchen Erde, „für eine Nußschale" einsetzen, und seinem eigenen Fall zum Bewußtsein: . . . Some craven scruple Of thinking too precisely on th' event, — A thought which, quarter'd, hath but one part wisdom And ever three parts coward, — I do not know Why yet I live to say, This thing's to do, Sith I have cause and will and strength and means To do 't. (IV,4)
Ein banger Zweifel, welcher zu genau Bedenkt den Ausgang •— ein Gedanke, der, Zerlegt man ihn, ein Viertel Weisheit nur Und stets drei Viertel Feigheit hat — ich weiß nicht, Weswegen ich noch lebe, um zu sagen: Dies muß gescheh'n; da ich doch Grund und Willen Und Kraft und Mittel hab', um es zu tun.
Er findet den großartigen Lebensgrundsatz: . . . Rightly to be great Is not to stir without great argument, But greatly to find quarrel in a straw When honour's at the stake.
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. . . Wahrhaft groß sein heißt, Nicht ohne großen Gegenstand sich regen; Doch einen Strohhalm selber groß verfechten, Wenn Ehre auf dem Spiel.
In dieser Erkenntnis spornt er sich zur Tat. Er kann den teuflischen Anschlag des Königs in einen Mordplan für die Bedientenseelen Rosenkranz und Güldenstern umwandeln, beweist höchste Tapferkeit im Kampf mit den Korsaren, deren Schiff geentert wird, und gelangt nach Dänemark zurück. Dort hat inzwischen die Ermordung des Polonius Früchte getragen: Ophelias reines Gemüt ist dem Wahnsinn verfallen, der zurückgekehrte Laertes stürmt mit dem Racheruf das Schloß, der König findet in ihm, dessen Ingrimm gegen Hamlet er geschickt zu schüren versteht, ein Werkzeug zur Vernichtung des gefährlichen Stiefsohnes. Wiederum ein Gegensatz der Naturen: Laertes, der wie Hamlet einen Vater zu rächen hat, schreitet sofort zur Tat, der zurückgekehrte Prinz unternimmt nichts gegen den König, dessen Mordanschlag in dem nach England mitgegebenen Brief er doch kennt. Laertes läßt sich für das Duell mit vergifteter Waffe, das doch nichts als Mord bedeutet, schnell gewinnen. Ophelia, so hören wir, ist ertrunken; traumhaft wehmütig erlischt ihr zartes Leben. Ein wunderbares, stimmungsvolles Adagio ist der Bericht der Königin über ihr Dahinscheiden, die ruhige Schönheit eines sanften Todes unmittelbar vor dem Presto mit der krassen Dissonanz, in der ein sündiges Geschlecht ausgelöscht wird. Die milde Schwermut des Weidenbaums, von der Desdemona ihr ahnungsvolles Schwanenlied singt, legt sich als zarter Flor auf die unvergleichliche Poesie dieses Todes: There is a willow grows askant the brook, That shows his hoar leaves in the glassy stream, Therewith fantastic garlands she did make Of crow-flowers, nettles, daisies, and long purples That liberal shepherds give a grosser name, But our cold maids do dead men's fingers call them;
Es neigt ein Weidenbaum sich übern Bach Und zeigt im klaren Strom sein graues Laub, Mit welchem sie phantastisch Kränze wand Von Hahnfuß, Nesseln, Maßlieb, Kuckucksblumen. Dort, als sie aufklomm, um ihr Laubgewinde An den gesenkten Ästen aufzuhängen,
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There, on the pendent boughs her cronet weeds Clamb'ring to hang, an envious sliver broke, When down her weedy trophies and herself Fell in the weeping brook. Her clothes spread wide, And, mermaid-like, awhile they bore her up; Which time she chanted snatches of old lauds, As one incapable of her own distress, Or like a creature native and indued Unto that element. But long it could not be Till that her garments, heavy with their drink, Pull'd the poor wretch from her melodious lay To muddy death. (IV,7)
Zerbrach ein falscher Zweig, und nieder fielen Die rankenden Trophäen und sie selbst Ins weinende Gewässer. Ihre Kleider Verbreiteten sich weit und trugen sie Sirenengleich ein Weilchen noch empor, Indes sie Stellen alter Weisen sang, Als ob sie nicht die eigne Not begriffe, Wie ein Geschöpf geboren und begabt Für dieses Element. Doch lange währt' es nicht, Bis ihre Kleider, die sich schwer getrunken, Das arme Kind von ihren Melodien Hinunterzogen in den schlamm'gen Tod.
Mit einem Ritardando geistvoller Komik, das uns einen Augenblick der Entspannung vor den dann um so grausiger rüttelnden Schlägen der tragischen Erfüllung verstattet, setzt der Schlußakt ein. Aber auch diese Komik der Totengräber mit ihren derben Witzen dreht sich um das ernste Thema, das Hamlets Geist nie losläßt, um Leben und Tod, um den Sinn des Todes als entscheidende Frage der menschlichen Existenz. Was ist denn das Ergebnis alles irdischen Tuns? Vergänglichkeit, Würmerfraß, sonst nichts. In abstoßender Anschaulichkeit malt sich Hamlets Bitterkeit den Schauder vor dieser Vergänglichkeit aus, der an die Stelle des Bangens vor der unerforschbaren Ewigkeit getreten ist. Es ist der letzte Anlaß zu Reflexion und schweifender Phantasie, jetzt geradezu mit krankhaft-grotesken Bildern, die Erkenntnis des höhnischen Ernstes der Welt. Dann sorgt das Schicksal selbst für Handeln und Erfüllung. Wo keine Wahl mehr ist, stürmt das „Gefährliche" in ihm los; nur bei einer Wahl der Möglichkeiten hatte der Grübler Bedenken. Der Übergang vom Denken zum Tun erfolgt unvermittelt aus lange zurückgepreßten Gefühlen, zunächst aus tiefer Liebe zu der, die man jetzt zu Grabe trägt. Der Zweikampf mit Laertes im Grabe Ophelias offenbart Hamlets Rückkehr dem ganzen Hofe und liefert den Todgeweihten und Todbereiten dem Henker aus. Es folgt die Annahme des vom König angeordneten Fechtspiels, die mit höchster dramatischer Intensität geladene Duellszene mit dem Waffentausch, der Gifttod der Königin, die Sühne an dem mörderischen König, Hamlets letzte Bitte an den Freund Horatio, er möge sich noch eine Zeitlang von der Seligkeit des Sterbens verbannen, mit Mühe in dieser herben Welt weiteratmen und der Welt das ganze Geschehen erklären. Dann stirbt der Weltmüde — der Rest ist Schweigen. Sterbend noch gibt er dem jungen Fortinbras seine Stimme, der realistisch und klar handelt und eine bessere Welt heraufbringen wird: I have some rights of memory in this kingdom, Which now to claim, my vantage doth invite me. (V,2)
Ich habe alte Recht' an dieses Reich, Die anzusprechen mich mein Vorteil heißt.
Die große Aufgabe ist erfüllt, nicht nur eine private Familienrache, und das konnte nur mit tragischem Selbsteinsatz geschehen. Hamlet hatte es bei der Annahme des Fechterspiels selbst gefühlt und dem Freunde Horatio bekannt. Sein Zögern vor der Tat war niemals Schwäche, sein Denken war selbst Heldentum. Gibt es denn irgendeinen Anlaß, den Tod zu fürchten?
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Not a whit; we defy augury, there is special providence in the fall of a sparrow. If it be now, 't is not to come, if it be not to come, it will be now; if it be not now, yet it will come; the readiness is all. Since no man of aught he leaves knows, what is 't to leave betimes? (V,2)
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Nicht im geringsten. Ich trotze allen Vorbedeutungen : es waltet eine besondere Vorsehung über den Fall eines Sperlings. Geschieht es jetzt, so geschieht es nicht in Zukunft; geschieht es nicht in Zukunft, so geschieht es jetzt; geschieht es jetzt nicht, so geschieht es doch einmal in Zukunft. In Bereitschaft sein ist alles. Da kein Mensch weiß, was er verläßt, was kommt es darauf an, frühzeitig zu verlassen?
Sein Vorsehungsglaube ist also nicht fatalistisch-untätig, sondern tatbereit, wenn es so weit ist, mit stoischer Standhaftigkeit dem Schweren entgegensehend, das da kommen mag. Das ist die germanische Bereitschaft, das eigene Schicksal, das eigene Lebensgesetz zu erfüllen und einzugehen in das große Weltschicksal. „Wer ist Herr seines Schicksals?" ruft auch Othello nach seiner Bluttat aus (V, 2). Von der hohen Ethik des Beowulfepos spannt sich ein weiter Bogen hierher für den, der den Unterschied der Zeitalter und die Urgründe eines Heldentums des modernen Geistmenschen zu sehen vermag. „In Bereitschaft sein ist alles", nämlich für die Stunde der Bewährung, oder, wie es im „ K ö n i g Lear" heißt: „Reif sein ist alles." Das ist die tiefe Weisheit; so hatte es der Dichter schon bei Montaigne lesen können: „ E s ist ungewiß, wo der Tod uns erwartet, darum wollen wir ihn überall erwarten" (Essais I, 19). Es wurde schon darauf hingewiesen, daß keines der Werke Shakespeares ihm so persönlich zugehört, so viel von seinem eigenen Wesen in sich trägt wie „Hamlet". Der Sentenzenreichtum dieses gedanklichen Dramas, der selbst für unsere Sprache nur von Goethes „Faust" übertroffen wird, deutet schon an, wie viel der Dichter uns von seinen eigenen Ansichten über die Welt und die Menschen, über Kunst und Politik mitzuteilen hat. Die Anweisungen, die der prinzliche Kunstmäzen den Schauspielern gibt, sind so eingehende, sachkundige und über den Anlaß hinausgehende Lehren und Beobachtungen, daß wir hier deutlich den Dichter über seinen Theaterberuf sprechen hören. Dahin gehören auch die Klagen über erschwerende Neuerungen für die Theater — gemeint sind Zensurbestimmungen — und über die Konkurrenz der Kinderbühnen. Besonders fühlbar wird die persönliche Note in dem Monolog „Sein oder Nichtsein", wo unter den Gebrechen der Welt, die die Sehnsucht nach dem Tode wecken, Dinge aufgezählt werden wie des Mächtigen Druck, des Stolzen Mißhandlung, des Rechtes Aufschub, der Übermut der Ämter, also Kränkungen, die der Königssohn schwerlich selbst erfahren haben kann, wohl aber der Angehörige des mißachteten und mit täglichen Sorgen sich herumschlagenden Schauspielerstandes, der in seinem 66. Sonett klagt: Tir'd with all these, for restful death I cry: As, to behold desert a beggar born, And needy nothing trimm'd in jollity, And purest faith unhappily forsworn, And gilded honour shamefully misplac'd, And maiden virtue rudely strumpeted, And right perfection wrongfully disgrac'd, And strength by limping sway disabled, And art made tongue-tied by authority, And folly, doctor-like, controlling skill, And simple truth miscall'd simplicity, 10 Die Stimmen der Meister
Nach Todesfrieden ruf' ich angeekelt, Seh' ich, wie sich Verdienst als Bettler quält Und dürftig Nichts herausgeputzt sich räkelt Und reinste Treu' den rechten Bund verfehlt, Seh' lautre Ehr' an falschen Platz gestellt Und jungfräuliche Tugend roh geschändet Und echte Mannheit schnöd um Gunst geprellt Und Kraft durch lahmes Herrschertum verschwendet Und Wissens Zunge durch dieMacht gebannt Und Geist von Narrheit doktorhaft bemängelt Und schlichte Wahrheit Einfalt zubenannt
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And captive good attending captain ill: Tir'd with all these, from these would I be gone, Save that to die, I leave my love alone.
Und Häftling Gut vom Häuptling Bös gegängelt: All dessen müd möcht' ich im Tod erblassen,
Müßt' ich nicht sterbend meinen Freund verlassen. Weiterhin spricht die bei keinem anderen seiner Werke nachzuweisende Sorge um den Text und seine Veröffentlichung deutlich dafür, daß der Dichter diesem Kind seiner Muse einen besonderen Platz in seinem Herzen anwies. Mehr aber als äußere Zeichen macht das Wortkunstwerk selbst uns dies fühlbar. Die Personen sind so lebensvoll und in Rede und Handlung so von ihrem eigenen Gesetz bewegt, daß wir bei der Nennung ihrer Namen sofort Menschen bestimmter Prägung vor uns sehen. In dem Aufbau der einzelnen Szenen bewundern wir eine Gestaltungskraft von großartiger Vielseitigkeit. Niemals, auch in Goethes „Faust" nicht, sind seelische Vorgänge mit so vollendeter Kunst in Handlung umgesetzt worden. Besonders aber ist es die Sprache, die so vollendet dem Wort Goethes gerecht wird: „Denn das ist der Natur Gehalt, daß außen gilt, was innen galt." Um das Geistige an sich, seine Bereiche, seine Hoheit und seine Tragik geht es in diesem Drama, und die Fülle des Geistigen überstrahlt die Sprache. Charakteristische Stilformen wechseln in Vers und Prosa, ruhige Reflexion mit gestoßener Erregung, breite Deklamation mit spritziger Dialektik, Rhetorik der Verstellung oder Verhüllung mit persönlichster Seelenanalyse, bissiger Witz mit strömender Melodik des lyrischen Gefühlsausdrucks. Marlowe liebt die große und schöne Verallgemeinerung, Shakespeare das konkrete, sichtbar machende Bild. Die Bildkraft der Worte ist in hohem Maße anschaulich und schöpferisch: die Dämme und Schanzen der Vernunft; Marmorkiefern der Gruft; das Gedächtnis haust in dem zerstörten Ball; die Pfeile und Schleudern des wütenden Geschicks, die See der Plagen; der Mensch als Pfeife der orgelspielenden Fortuna; die vergoldete Hand der Missetat; die Freveltat nimmt von unschuldsvoller Liebe schöner Stirn die Rosen weg und setzt Beulen hin; Schmeichelsalbe auf die Seele legen; ein nach innen aufbrechendes Geschwür bringt den Tod, ohne daß man einen äußeren Anlaß sieht — ein Sinnbild der Männer, die an dem inneren Geschwür des Wohlergehens und Friedens leiden und wegen einer Lappalie ihr Leben hingeben; die Leiden kommen nie wie einzelne Späher, sondern stets in Geschwadern; kein Lüftchen soll Tadel um den wohlverschleierten Mord wehen; das Salz höchst frevelhafter Tränen verläßt der wunden Augen Röte; Hamlet will Dolche reden, und wie Dolche dringen auch seine Worte der Mutter ins Ohr. Solche Beispiele für eine das Geistige konkretisierende Phantasie könnte man beliebig vermehren. Nach der kurzen Begegnung mit den marschierenden Truppen des Fortinbras fordert ihn Rosenkranz zum Weitergehen auf; Hamlet antwortet: „Ich komme gleich euch nach. Geht nur voran." Es klingt fast so, als wollte er sagen: geht nur voran, ich muß erst noch einen Monolog halten, mir erneut Rechenschaft über die seelische Lage geben. Der Reichtum der ins Allgemeine vorstoßenden Gedanken hemmt oft scheinbar den Fortgang von Dialog und Handlung, in Wahrheit aber doch nicht, weil er selbst das innerste Wesen dieser Handlung ausmacht und in der satten Sinnbildhaftigkeit des sprachlichen Ausdrucks wurzelt. Die Hintergründigkeit der inneren Vorgänge und die Bildkraft der wie aus neuem Material formenden Sprache geben uns immer neue Rätsel auf und enthüllen immer neue Tiefen. Es ist der vollendetste Gedankenausdruck des humanistischen Zeitalters. Shakespeares Welterlebnis wurzelte in der Renaissance, in der er aufwuchs und reifte. Harmonischer Ausgleich war das Lebensideal, Adel der Erscheinung, des Geistes und des Gemüts. Hamlet ist seiner Anlage nach eine Verkörperung dieses Ideals; Ophelia nennt ihn
Hamlet
The courtier's, soldier's, scholar's, eye, tongue, sword, Th' expectancy and rose of the fair state, The glass of fashion and the mould of form, The observ'd of all observers,.. . . . . that noble and most sovereign reason, (III.i)
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Des Hofmanns Auge, des Gelehrten Zunge, Des Kriegers Arm, des Staates Blum' und Hoffnung, Der Sitte Spiegel und der Bildung Muster, Das Merkziel der Betrachter . . . Die edle hochgebietende Vernunft,
und der ritterliche Gegner Fortinbras ist von seinen echt königlichen Eigenschaften überzeugt: For he was likely, had he been put on, To have prov'd most royal. (V,*)
. . . Denn er hätte, War' er hinaufgelangt, unfehlbar sich Höchst königlich bewährt.
Der Ordnungsgedanke, der den Menschen in die große Harmonie des Kosmos einbezieht und dem Ulysses in seiner großen Rede im Kriegsrat von „Troilus und Cressida" den beredtesten Ausdruck verleiht, ist der Angelpunkt der Wertwelt, die den Dichter erfüllt und die er verteidigt. Das ist der Symbolgehalt der märchenhaften Kästchenwahl im „Kaufmann von Venedig"; Bassanio gewinnt den hohen Preis, weil er nicht den Schein, sondern den äußerlich unscheinbaren echten Wert wählt. Der zu Anfang so abweisende Dänenprinz fährt bei dem Stichwort „scheint" auf: Seems, madam I Nay, it is; I know not „seems".
Scheint, gnäd'ge Frau? Nein ist; mir gilt kein „Schein".
But I have that within which passeth show. (!>*)
Was über allen Schein, trag' ich in mir.
Er ist der Zögling der hohen Schule in Wittenberg, der die Bücher liebt, des Gelehrten Neigung zum Moralisieren und Verabsolutieren besitzt und der da weiß, daß es mehr Dinge in Himmel und Erde gibt, als unsere Schulweisheit sich träumen läßt; der Idealist, der ein hohes und reines Bild vom Menschen in seiner Brust trägt: What a piece of work is man! How noble in reason! How infinite in faculties! In form and moving how express and admirable! In action how like an angel! In apprehension how like a god! The beauty of the world I The paragon of animals. (11,2)
Welch ein Meisterwerk ist der Mensch! wie edel durch Vernunft! wie unbegrenzt an Fähigkeiten! in Gestalt und Bewegung wie bedeutend und wunderwürdig! im Handeln wie ähnlich einem Engel! im Begreifen wie ähnlich einem Gott! die Zierde der Welt! das Vorbild der Lebendigen!
Das hohe Motiv der Blutrache findet in dieser Renaissance-Erhöhung des Menschen keinen Raum. Laertes, die Folie für den Prinzen, bleibt der Barbar unter dem dünnen Firnis der oberflächlichen Renaissancekultur. Aus dieser Wertwelt der Ordnung und Sicherheit leben die ungespaltenen Menschen, bei denen das Seelische naturhaft in das Sinnliche einbezogen ist: die triebsichere Liebe auf den ersten Blick als sinnlichgeistige Natureinheit in „Romeo und Julia", die sieghafte Einheit von Herrscher und Volk in „Heinrich V.", das instinktgetriebene, ungehemmte Verbrechertum eines Richard III., ebenso aber auch die triebgebundene Erdhaftigkeit eines Falstaff und eines Junkers Tobias in „Was ihr wollt" und vor allem die überlegene innere und äußere Anmut der Frauengestalten in den Komödien wie Portia von Belmont oder Rosalinde („Wie es euch gefällt"). Eine idealisierte, frohe Sinnenhaftigkeit als beglückende Weltsicherheit umschwebt diese Gestalten. Dann aber kommt der Wandel, das Zerbrechen der schönen Einheit und Ordnung, das Drohen des Chaos. Ein Riß geht durch die Welt, durch Hamlets Seele, seit etwa 10*
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III. Shakespeare und seine Welt
1600 deutlich erkennbar auch durch das Erleben des Dichters. Im politischen Bereich geht die Einheitlichkeit des öffentlichen Lebens verloren, das aufkommende Puritanertum, der gefährliche Essexaufstand, die Entfremdung zwischen Krone und Volk seit der Thronbesteigung der Stuarts bringen den Staat ins Wanken. Es beginnt bei unserm Dichter die Zeit der ernsten Komödien und der schweren Tragödien. Der Kampf zwischen Schein und Sein steht im Mittelpunkt von „Ende gut, alles gut" und von „Maß für Maß", die männliche Persönlichkeit wird problematisch, Zwiespalt und Lösung aus organischen Zusammenhängen bringen Auflösung und Tragik im „Coriolan", „Macbeth", „König Lear", „Othello", in „Troilus und Cressida", „Antonius und Cleopatra", „Timon von Athen". Die Verdüsterung der Seele des Dichters offenbart sich in dieser inneren Biographie der Werke viel sicherer als in äußeren Erlebnissen. Eine Welt ist ihm zerbrochen, der Zusammenprall der Werte führt zum Pessimismus und zur Abkehr. Das beginnende Zeitalter des Barocks kündigt sich an, die Zeit der Auflösung der harmonischen Formen, der Herausbildung selbständiger Kräftekomponenten, der Übersteigerung des einzelnen, des Dualismus. Der Kosmos folgt weiter seinen ewigen Gesetzen, aber der Mensch wird aus ihm gelöst und fühlt vereinsamt die Vanitas vanitatum und den eigenen Unwert. Das Scheinherrschertum eines Richard II. hatte die ersten Töne dieser Tragik gebracht, das philosophisch gehemmte Führertum eines Brutus die Fortführung, und der Melancholiker Hamlet wird die vollendetste Gestaltung des gespaltenen Menschen. Das Vernunftdenken löst sich stürmisch aus der Leib-Seele-Einheit ab. Bacon stellt sich reflektierend der Welt gegenüber, um sich ihrer zu bemächtigen. Es ist die Zeit, in der mit Descartes' „Cogito, ergo sum" das verselbständigte Denken Ausgangspunkt und Mittelpunkt des neuzeitlichen geistigen Menschen wird: nur weil ich meines Denkens sicher bin, kann ich sagen, daß ich existiere. „Da kein Mensch weiß, was er verläßt, was kommt es darauf an, frühzeitig zu verlassen?" sagt Hamlet zu Horatio. Was wir im Grunde nie besessen haben, können wir auch nicht verlieren; nur den Geist besitze ich als Einheit; in ihm haben wir uns zum jederzeitigen Entsagen zu rüsten: „In Bereitschaft sein ist alles."„Hamlet" ist das erste Drama des barocken Weltgefühls, die erste Verkörperung des modernen Menschen, das große geistige Spiegelbild einer Zeitenwende des Abendlandes. Hamlets Ringen mit seiner Aufgabe ist ausgeweitet zu dem Kampf des Geistmenschen gegen die Welt, die ihn zerdrücken will. Darin liegt die geistesgeschichtliche Bedeutung. Die wahrhaft Tiefsinnigen und Echten sind nicht für den äußeren Erfolg in dieser Welt bestimmt. Das Wissen wird ihnen zum Gewissen. Sie nehmen das Leben ernster als die, die es nur nützen und genießen wollen, sie werden Märtyrer des Lebens in ihrem Ringen um das Vollkommene und erfüllen damit seinen Sinn um so tiefer; denn der Einsatz für das Gute schlechthin ist die höchste Form der Tragik und Bewährung. In dem Geschick des Dänenprinzen erfüllt sich ein allgemeinmenschliches Schicksal, unser Schicksal.
König Lear „König Lear" ist mit „Hamlet" ein Drama der abgrundtiefen Enttäuschung am Leben, ein Drama der Zerrüttung einer Welt, in der die Grundpfeiler des Zusammenlebens zerstört sind — die Pietät gegen den Vater, den Greis, den König, Geschwisterund Gattenliebe •—, ein Bild zagender, stilvoller Figuren nach Art der Tragödien eines Aeschylus oder Sophokles, die germanische Gestaltung der Urgefühle von Liebe und Haß. Hamlets Wesen und Verhalten wird tief psychologisch aus dem Geist des humanistischen Zeitalters gedeutet; hier fühlen wir uns in die grandiose, unerbittliche Einfachheit mythischer Plastik versetzt oder in die einfache Schwarz-Weiß-Technik des Märchens — auf den Märchencharakter hat schon Coleridge hingewiesen — , das
König Lear
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beginnen könnte: E s war einmal ein alter König, der hatte drei Töchter, von denen zwei böse Unholdinnen waren, die dritte aber liebevoll und rein wie ein Engel. Das Grausen türmt sich schonungslos vor unseren Augen, das Wilde und Böse der menschlichen Natur wirkt sich wie in den Urzeiten vor aller Gesittung bis zur völligen Zerstörung aus. E s ist die gewaltige Tragödie, die über die zitternde Menschheit hereinbricht und die die Natur erstarren läßt, es ist wie in der Weltuntergangsstimmung der Edda: Nun würgen sich Brüder und werden zu Mördern, Geschwister sinnen auf Sittenverderb, die Gründe erschallen, der Giergeist fliegt; kein einziger Mann will des anderen schonen. Fern seh ich im voraus, und viel kann ich sagen, vom Sinken der Götter, der Siegasen Fall: schrecklicher Ehebruch schaltet auf Erden,
Beilzeit und Schwertzeit, brechende Schilde, Sturmzeit und Wolfzeit vom Sturze der Welt. Alle Wesen müssen die Walstatt räumen: die Sonne wird schwarz, in die See sinkt die Erde, vom Himmel stürzen die heiteren Sterne, zum lichtlosen Hochsitze lecket die Hitze, die lodernd den Nährer des Lebens verzehrt.
Ein Blick auf die Stoff- und Motivgeschichte lehrt uns, was Shakespeare gewollt hat. In seinem Lieblingsbuch, der Chronik des Holinshed, fand er die alte Fabel von Lear und seinen drei Töchtern, die Geoflrey von Monmouth im 12. Jahrhundert aus märchenhaften Bestandteilen geformt hatte, als Bestandteil der wirklichen britannischen Urgeschichte aufgezeichnet. Sie fand Eingang in verschiedene Werke der englischen Renaissance und erschien auf der Bühne als „König Leir und seine drei Töchter". Die Hauptgestalten waren in diesen Bearbeitungen vorgezeichnet: der greise König und seine drei Töchter, der treue Kent, der falsche Haushofmeister Oswald, die beiden Schwiegersöhne, die sich gegen ihn erhoben, dazu mancher Einzelzug der Handlung. E s fehlt aber das Wahnsinnsmotiv, es fehlt vor allem der tragische Ausgang; die Tugend wird in hausbackener Melodramatik belohnt, Cordelia und ihr Gatte besiegen das feindliche Heer und setzen den Vater wieder auf den Thron. E r stirbt friedlich nach glücklicher Regierung. Die wichtigste Zutat Shakespeares ist die Familientragödie des Hauses Gloster, zu der Sir Philip Sidneys höfischer Roman „Arcadia" das Motiv lieferte, also eine Nebenhandlung, wie sie in der Technik der Komödie mehrfach, in der Tragödie aber nur hier erscheint. Auch hier sehen wir einen alten Vater, der den Schein, der ihm schmeichelt, für das Wesen nimmt. Durch die Gleichartigkeit der Fälle wird Lears Schicksal über das Individuelle in die allgemeine Gültigkeit erhoben, die Familientragödie wird zum Weltbild. Von entscheidender Bedeutung für die Deutung des Learthemas ist die Behandlung des in der Tradition überall bewahrten Fragemotivs. Der unbekannte Dichter des alten Leirdramas beginnt mit einer Leichenfeier für die eben gestorbene Gattin des Königs und mit dem Entschluß des Trauernden, abzudanken und seine Töchter zu verheiraten. Cordelia hat Bedenken gegen diese Absicht. Den geheimen Plan des Vaters, die Töchter zu überrumpeln und ihre Liebe zu erproben, teilt der Schleicher und Verräter Skalliger den beiden älteren Töchtern mit. Haß und Intrige bringen es dazu, daß die Frage der nicht eingeweihten Cordelia zur Falle wird. Shakespeare verschmäht eine so oberflächliche Motivierung. E r bleibt bei der Einfachheit des dem Publikum vertrauten Märchens, deutet es aber vertiefend um. E r bleibt also hier wie so oft bei dem alten Volksgut, bringt für den Aufbau seiner Charaktere ein spezifisches Moment hinein und bleibt dadurch wieder echt volkstümlich. Die beiden Einleitungsszenen exponieren die beiden Handlungen, die eine doppelt so lang wie die andre, entsprechend der Bedeutung von Haupt- und Nebenhandlung.
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III. Shakespeare und seine Welt
Gleich in den ersten Worten werden die beiden Grundakkorde angeschlagen: die Reichsteilung und die Rolle des Bastards Edmund. Sehr zu beachten ist, daß der Teilungsplan bereits feststeht und bei Hofe besprochen wird; was der König nachher vorzutragen hat, ist also keine Überraschung. Nicht eine Bekanntgabe seiner eigenen Abdankung und der beabsichtigten Dreiteilung des Reiches ist ihm die Hauptsache, sondern die Enthüllung eines „verschwiegenen Vorsatzes", also eines Vorhabens, das er vorläufig noch nicht nennt, das erst nachher in der Frage an die Töchter zum Ausdruck kommt. Lear macht ja auch die Abmessung der einzelnen Reichsanteile nicht von den Antworten auf seine Frage abhängig, sondern er verleiht die Anteile, ohne die Antworten abzuwarten; die beiden älteren Töchter erhalten reichliche, an Wert gleiche Gebiete, für die jüngste, die ihm die liebste ist, hat er „ein reicheres Drittel" vorbehalten. Damit ist deutlich gesagt, daß der König in seiner vorbereiteten Ansprache die Art der Teilung nicht von dem Ausfall der Antworten abhängig machen will, sondern daß sein „verschwiegener Vorsatz" nach einer andren Richtung ging: er wollte die Reichsteilung in öffentlicher Staatssitzung als gerecht erscheinen lassen und erwartete, daß dies vor dem ganzen Hofe durch ein öffentliches Bekenntnis der Liebe dargetan würde. Die richtige Teilung und ihre Anerkennung sind ihm Herzenssache. Schon die Art, wie er die Töchter anredet, ist bei dem sensitiven König beachtlich: „Goneril, du Erstgeborene", „die teure Regan"; viel wärmer aber zu Cordelia: „Nun unsre Freude, Du jüngste, nicht geringste, deren Liebe Die Weine Frankreichs und die Milch Burgunds Nachstreben . . . " Es ist also abwegig, sich darüber zu wundern, daß der alte Vater sein eigenes Kind mißversteht und falsch beurteilt; der Grund für seinen Zorn liegt darin, daß die jüngste Tochter seinen Plan vor dem versammelten Hofstaat zuschanden gemacht hat. Die tönenden Phrasen der älteren Töchter überraschen den durch Schmeichelei verwöhnten Herrscher nicht; Cordelia aber spricht zwar die Wahrheit, kann aber nicht die pathetischen Worte machen, die der Vater in dem theatralischen Aufbau seines Planes erwartet hatte. Die Resonanz, die dieser König zu seiner inneren Festigkeit braucht und gerade bei diesem hochwichtigen Akt haben will, wird ihm durch die schlichte Wahrhaftigkeit der liebsten Tochter vereitelt. Der Sturm bricht vollends los, als sie durch ihre Weigerung, einen Gatten zu nehmen, den letzten Rest des Planes zustört. Die natürliche Kindesliebe hatte er in öffentlichem Triumph herausstellen wollen, seine reichste Gabe da spenden, „wo Verdienst sie und Natur heischt". Was er nun erlebt, sieht der Verblendete als Unnatur an, den Schein als Wahrheit. Er verstößt die Tochter und tut damit den ersten Schritt zur Katastrophe. Man kann in Lear einen alt gewordenen Richard II. sehen. In beiden lebt ein starkes Königsbewußtsein, das sich gern umschmeicheln läßt, dem niemand entgegentritt, das den theatralischen Aufzug und Pomp braucht. Seine Umgebung hat in Lear den Glauben an die Befehlsgewalt der angeborenen Majestät gestärkt. Zum erstenmal erlebt er mit der Lieblingstochter Widerstand, dessen Wahrheitsgehalt er, der bis in das Greisenalter hinein in der Welt der Täuschung gelebt hat, nicht mehr erkennen kann. Auf dem Wege zu der zweiten Tochter sagt der Narr zu ihm: „ D u hätt'st nicht alt werden sollen, eh' du klug geworden wärst" (V,5). Lear ist aber zu alt geworden, um noch im gewöhnlichen Sinne umzulernen, um Begriffe zu scheiden; er muß aber in seiner Altersschwäche um so grausamer in der Schule des Lebens die für ihn neue Wirklichkeit erkennen. „Bist du meine Tochter?" ruft er Goneril entgegen, die ihm die erste Enttäuschung bereitet (I, 4). Wirklichkeit und Sinnestäuschung verschwimmen ineinander, das alte Selbstvertrauen und Selbstbewußtsein schwindet, er verliert sich mehr und mehr und taumelt unbestimmt an der Grenze zwischen Klarheit und Wahnsinn, zwischen Wut und Verzweiflung. Der Charakter
König Lear
dieses Königs ist auf Leidenschaftlichkeit, auf unerhörten Jähzorn und „armseliges Urteil" abgestellt. You see how full of changes his age is . . . The best and soundest of his time hath been but rash; then we must look to receive from his age not alone the imperfections of longengraffed condition, but therewithal the unruly waywardness that infirm and choleric years bring with them. (I,i)
Du siehst, wie launisch sein Alter ist. . . Schon in seiner besten und kräftigsten Zeit war er zu hastig: wir müssen also von seinen Jahren nicht nur die Unvollkommenheiten längst eingewurzelter Gewohnheiten erwarten, sondern außerdem noch den störrischen Eigensinn, den gebrechliches und reizbares Alter mit sich bringt.
Das alte Leirdrama spricht von einer langsam wachsenden Entfremdung zwischen dem Vater und Cordelia und von einer letzten Prüfung für sie. Bei Shakespeare ist der Charakter so angelegt, daß gerade die Plötzlichkeit des Entschlusses in der Hofstaatszene das Entscheidende ist. Das Übererregte und Überspannte entspricht seinem Wesen. E r ist maßlos gegen Kent, den er verbannt und mit Todesstrafe bedroht. E r ist auch nach der Abdankung noch voll Ungeduld, Unbeherrschtheit und Anmaßung. Der Narr erscheint nicht schnell genug auf einen Wink: Lear schilt, die ganze Welt liege im Schlaf. Wiederholt droht er dem Narren mit der Peitsche. E r mißhandelt den Hofherrn der Goneril (I, 3), er schilt den Haushofmeister Hurensohn, Hund, Lump, Bestie und billigt es schadenfroh, daß Kent den armen Kerl durch Beinstellen zu Falle bringt. E r will keinen Augenblick auf sein Mittagessen warten (I, 4), er wird immer wieder ausfallend gegen die Töchter. Wir hören den furchtbarsten Fluch über Goneril, den ein Vater ausstoßen kann: Hear, Nature! hear, dear goddess, hear! Suspend thy purpose, if thou didst intend To make this creature fruitful! Into her womb convey sterility! Dry up in her the organs of increase, And from her derogate body never spring A babe to honour her! If she must teem, Create her child of spleen, that it may live And be a thwart disnatur'd torment to her! Let it stamp wrinkles in her brow of youth, With cadent tears fret channels in her cheeks, Turn all her mother's pains and benefits To laughter and contempt, that she may feel How sharper than a serpent's tooth it is To have a thankless child! (1,4)
Hör' mich, Natur, hör', teure Göttin, hör' mich! Hemm' deinen Vorsatz, wenn's dein Wille war, Ein Kind zu schenken dieser Kreatur. — Unfruchtbarkeit sei ihres Leibes Fluch! Vertrockn' ihr die Organe der Vermehrung; Aus ihrem entarteten Blut erwachse nie Ein Säugling, sie zu ehren! Muß die kreisen, So schaff' ihr Kind aus Zorn, auf daß es lebe Als widrig quälend Mißgeschick für siel — Es grab' ihr Runzeln in die junge Stirn, Mit unversiegten Tränen ätz' es Furchen In ihre Wangen; alle Muttersorg' und Wohltat Erwidr' es ihr mit Spott und Hohngelächter; Daß sie empfinde, wie es schärfer nage, Als Schlangenzahn, ein undankbares Kind Zu h a b e n ! . . .
Regan entschuldigt die Schwester, als sie von der Verfluchung hört: O, sir, you are old; Nature in you stands on the very verge Of her confine. You should be rul'd and led By some discretion that discerns your state Better than you yourself. (11,4)
O Mylord, ihr seid alt, Natur in Euch steht auf der letzten Neige Ihres Bezirks; Euch sollt' ein kluger Sinn, Der Euren Zustand besser kennt als Ihr, Zügeln und lenken.
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III. Shakespeare und seine Welt
Er aber kennt keine Mäßigung: All the stor'd vergeances of heaven fall On her ingrateful top I strike her young bones, boi You taking airs, with lameness I (11,4)
Des Himmels aufgehäufte Rache fall' Auf ihr undankbar Haupt; du fah'nde Luft, Schlage mit Lähmung ihre jungen Glieder!
Bis dann die „jähe Hitze" auch gegen die zweite Tochter losbricht, bei der er die letzte Enttäuschung erlebt (II, 4). Maßlosigkeit und Unbeherrschtheit sind also das Kennzeichen des alten Königs. So ist schon seine Redeweise mit den erregten Ausrufen, Wiederholungen, atemlos gestoßenen Kurzsätzen und oft ungeheuerlichen Bildern: „Hör' mich, Natur, hör', teure Göttin, hör' mich!" (I, 4) „Sie durften's nicht; Sie konnten's, wagten's nicht." „O wie der Krampf mir auf zum Himmel schwillt! — Hinab, aufsteigend Weh! Dein Element ist unten!" „Pest, Rache, Tod, Vernichtung! Was feurig? Was Gemüt? — Ha, Gloster, Gloster!" „Ihr denkt, ich werde weinen? Nein, weinen will ich nicht! Wohl hab' ich Fug zu weinen; doch dies Herz Soll eh' in hunderttausend Scherben splittern, Bevor ich weine." (II, 4.) „Blast, Wind', und sprengt die Backen! Wütet! Blast! —Ihr Katarakt' und Wolkenbrüche, speit, Bis ihr dieTürm' ersäuft, die Hähn' ertränkt! Ihr schweflichten, gedankenschnellen Blitze, Vortrab dem Donnerkeil, der Eichen spaltet, Versengt mein weißes Haupt! Du Donner, schmetternd, Schlag' flach das mächt'ge Rund der Welt . . . " „Raßle nach Herzenslust! Spei' Feuer, flute Regen; Nicht Regen, Wind, Blitz, Donner sind meine Töchter: Euch schelt' ich grausam nicht, ihr Elemente . . . O, o, 's ist schändlich!" (III, 2) „Spannt mir eine volle Tuchmacherelle, — sieh, sieh, eine Maus — still, still, dies Stück gerösteter Käse wird gut dazu sein. — Da ist mein Panzerhandschuh; gegen einen Riesen verfecht ich's. Die Hellebarden her! — O schön geflogen, Vogel. Ins Schwarze, ins Schwarze! Hui! Gebt die Parole!" „ . . . ich will's versuchen, Und überschleich' ich so die Schwiegersöhne, Dann schlagt sie tot, tot, tot! — Tot, tot! — " (IV, 6.) Hierin liegt seine Leidenschaft, der keine Gesetze der Vernunft Schranken setzen, wie es Sir Philip Sidney in seiner „Verteidigung der Dichtkunst" als Ideal des ausgeglichenen Menschen gefordert hatte, und darin liegt bei Shakespeare das Wesen des Tragischen. Unbeherrschtheit gehört ja auch bereits zu den Todsünden des Mittelalters. Hier werden fast alle handelnden Personen Opfer maßloser Gemütsbewegungen oder Begierden; es geht sozusagen um die Leidenschaft an sich, und damit wird das Werk zur Tragödie in ihrer reinsten und erhabensten Form. — Lear verfällt nicht ganz dem Wahnsinn. In seinem Taumeln auf dem schmalen Grat zwischen Sinn und Wahn verfällt er der Tollheit, die aber wieder vergeht; wütender Schmerz und tiefste Enttäuschung, eine unklare Mischung von Selbstgefühl, Rechtsbewußtsein und Reue erzeugen bei diesem von „hysterischer Leidenschaft" geschüttelten Greis diesen Zwischen- und Wechselzustand, in dem sich ihm unter Qualen der Sinn öffnet, die Ichsucht mit ihrer Hohlheit hinwegschmilzt und mit der Einsicht die echte Liebe kommt. Aber Lear soll dem Zuschauer imponieren — jeder Zoll ein König! Nicht ein König mit dem klaren Verstand des überlegenen Herrschers, sondern ein König des aus dem Herzen kommenden großen Wollens ist er in seinem Herrschergefühl. Bezeichnend ist seine Selbstbemitleidung; niemand redet so viel von seinem ehrwürdigen weißen Haupt wie er selber. Das große Unrecht der Pietätlosigkeit soll der vorherrschende Eindruck sein, der dem Schwergeprüften selbst im Irrsinn und im Bettlerkleide seine Würde nicht raubt. Als die Parallelgestalt, der alte Gloster, der als blinder Greis noch mit in den Krieg gezogen ist und die Niederlage der guten Sache erlebt, sich still und lebenssatt zum Sterben rüstet, ermuntert ihn der noch immer unerkannte Sohn Edgar mit den Worten:
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What, in ill thoughts again ? Men must endure Their going hence, even as their coming hither; Ripeness is all. (V,2)
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Was? Wieder Schwermut? Dulden muß der Mensch Sein Scheiden aus der Welt wie seine Ankunft. Reif sein ist alles.
Man hat vielfach das ganze Drama im Hinblick auf dies tiefe und schöne Wort als die Darstellung eines Läuterungsprozesses gedeutet, als eine Befreiung von den Schlacken der Eitelkeit und Selbstsucht. Die Worte des in regnerischer Sturmnacht auf der Heide Obdach suchenden Lear könnten eine solche Auslegung nahelegen: Poor naked wretches, wheresoe'er you are, That bide the pelting of this pitiless storm, How shall your houseless heads and unfed sides, Your loop'd and window'd raggedness, defend you From seasons such as these? O, I have ta'en Too little care of this! Take physic, pomp; Expose thyself to feel what wretches feel, That thou mayst shake the superflux to them, And show the heavens more just. (111,4)
Ihr armen Nackten, wo ihr immer seid, Die ihr des tück'schen Wetters Schläge duldet, Wie soll eu'r schirmlos Haupt, hungernder Leib, Der Lumpen off'ne Bloß' euch Schutz verleihn Vor Stürmen, so wie der ? Oh, daran dacht' ich Zu wenig sonst! — Nimm Arzenei, o Pomp I Gib preis dich, fühl' einmal, was Armut fühlt, Daß du hinschütt'st für sie dein Überflüss'ges Und rettest die Gerechtigkeit des Himmels I
Und dazu der wunderbare Ausdruck verinnerlichten Glücksgefühls in dem Kerkergespräch mit Cordelia: No, no, no, no I Come, let's away to prison; We two alone will sing like birds i' th' cage. When thou dost ask me blessing, I'll kneel down And ask of thee forgiveness. So we'll live, And pray, and sing, and tell old tales, and laugh At gilded butterflies, and hear poor rogues Talk of court news; and we'll talk with them too, Who loses and who wins; who's in, who's out; And take upon's the mystery of things As if we were god's spies; and we'll wear out, In a wall'd prison, packs and sects of great ones, That ebb and flow by the moon. (V,3)
Nein, nein, nein, neinl Komm fort! Zum Kerker fort! — Da laß uns singen wie Vögel in dem Käfig. Bitt'st du um meinen Segen, will ich knie'n Und dein Verzeihn erflehn; so woll'n wir leben, Beten und singen, Märchen uns erzählen Und über goldne Schmetterlinge lachen. Wir hören armes Volk vom Hofe plaudern Und schwatzen mit; wer da gewinnt, verliert; Wer in, wer aus der Gunst; und tun so tief Geheimnisvoll, als wären wir Propheten Der Gottheit: und so überdauern wir Im Kerker Ränk' und Spaltungen der Großen, Die ebben mit dem Mond und fluten.
Es geht aber nicht an, bei der Interpretation ein soziales Gefühl, eine sittliche Wertstufe vorauszusetzen, die dem Dichter der Renaissance fernlag. Gewiß hat Lear die Liebe der Cordelia erkannt, seine Herrschergedanken aufgegeben und keine Rachegefühle mehr; dies alles aber nur nach dem Abklingen der Wahnsinnszeit, als eine Müdigkeit über ihn kommt, nicht aus dem Gefühl neu erwachender Kraft zum Leben. Er ist körperlich gebrochen, er begreift die Dinge nicht mehr: „Ich bin ein schwacher, kind'scher, alter Mann." (IV, 7.) Er drängt zum Weg in den Kerker (V, 3), grenzenlose Hilflosigkeit zeigt an, daß sein Leben erlischt. Wir erleben das Bild eines gleichzeitig körperlichen und geistigen Verfalls; nicht Entwicklung, sondern
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III. Shakespeare und seine Welt
Zerrüttung. Aus diesem Grunde mußte der Dichter das Drama im Gegensatz zu seinen Quellen tragisch ausgehen lassen. Wie sein König, so hat auch Gloster den Schein, der ihm schmeichelte, für das Wesen genommen und muß erst in furchtbarer Lebensschule die Wahrheit sehen. Der Mensch muß dulden — das ist der Weisheit letzter Schluß. Untergang und Zerrüttung durch Untergrabung der Grundfesten des Zusammenlebens: so erfüllt es sich in einer Familie, so muß es überall gehen. Es ist ein Grundgesetz des Weltalls. Darum durchzieht kosmischer Gedankengehalt das ungeheure Geschehen. Lear ruft die Blitze an, sie mögen ihn und mit ihm die ganze Welt erschlagen; er verlangt von der Natur, sie solle der mißratenen Tochter die Organe des Gebärens verschrumpfen lassen; der Blitz soll sein blendendes Feuer ins Auge flammen, die von der Sonne bebrüteten Sumpfnebel sollen ihre Schönheit verpesten, Sturm und Regen auf der nächtlichen Heide nur ja recht toll wüten, weil er mit perverser Wollust sein Leid auskosten will: „Der Sturm im Geist raubt meinem Sinn jegliches Gefühl" (III, 4). Nicht ewige Harmonie ist das Wesen der Natur, sondern ewiger Kampf. Es fehlt dieser Dichtung auch der bei Shakespeare sonst übliche heitere Ausblick in die Zukunft. Das Dasein ist ernster Kampf, ewiges Ringen von Werden und Vergehen; das ist die germanische Grundstimmung, die das Beowulfepos lehrt. Hier erleben wir das große germanische Dichtwerk bis zur Menschheitsauflösung und zum sittlichen Chaos. Nicht die deutsche Klassik mit Iphigenie, Tasso, Wallenstein verkörpert diesen germanischen Geist, auch nicht das romanisch beeinflußte ritterliche Mittelalter mit Parcival und Tristan, sondern Hamlet, Macbeth und in erster Linie Lear. Nebenvorgänge treten mit zunehmender Verdichtung der überreichen Handlung, die den Rahmen eines Dramas fast zu sprengen droht, mehr und mehr zurück: des Narren Ausgang wird nicht mehr erwähnt, Gonerils, Regans und Glosters Ende nur kurz erzählt. Die Schwerpunkte der Handlung werden unsymmetrisch über das ganze Stück verteilt. Die gewaltige Symbolik des Hauptgeschehens beherrscht den Platz. Diese Aufbauform und das hohe Pathos der Leidenschaften sind barocke Züge, und barock ist auch die Ausdrucksform. Die Sprachgewalt scheint oft geradezu in urtümlicher Sprachschöpfung mit den elementaren Gefühlen zu ringen, sie braust bei Lear selbst bisweilen in Sprachkatarakten, wie sie der Dichter später seinem Timon von Athen, der ja auch aus dem Wahn jäh in die Wirklichkeit gerissen wird, in den Mund legt. Zu dem Symbolgehalt dieser Sprache gehört weiterhin das Hervortreten des Sentenziösen, der spruchartigen Prägung, die das Einmalige zum Allgemeingültigen erhebt. In seiner Rede „Shakespeare und kein Ende" (1813) macht Goethe eine allgemeine Beiherkung, die den Sinn unseres Dramas am besten erhellt: Alles, was bei einer großen Weltbegebenheit heimlich durch die Lüfte säuselt, was in Momenten ungeheurer Ereignisse sich in dem Herzen der Menschen verbirgt, wird ausgesprochen; was ein Gemüt ängstlich verschließt und versteckt, wird hier frei und flüssig an den T a g gefördert; wir erfahren die Wahrheit des Lebens und wissen nicht wie. •— Shakespeare gesellt sich zum Weltgeist: er durchdringt die Welt wie jener; beiden ist nichts verborgen. Aber wenn des Weltgeists Geschäft ist, Geheimnisse vor, ja oft nach der Tat zu bewahren, so ist es der Sinn des Dichters, das Geheimnis zu verschwätzen und uns v o r oder doch gewiß in der Tat zu Vertrauten zu machen. Der lasterhafte Mächtige, der wohldenkende Beschränkte, der leidenschaftlich Hingerissene, der ruhig Betrachtende, alle tragen ihr Herz in der Hand, oft gegen alle Wahrscheinlichkeit; jedermann ist redsam und redselig. Genug, das Geheimnis muß heraus, und sollten es die Steine verkünden. Selbst das Unbelebte drängt sich hinzu; alles Untergeordnete spricht mit; die Elemente, Himmel-, Erd- und Meerphänomene, Donner und Blitz, wilde Tiere erheben ihre Stimme, oft scheinbar als Gleichnis, aber ein wie das andre Mal mithandelnd.
155 Der Sturm Ein vorgeschichtliches Britannien, ein sagenhaftes Böhmerland an der Meeresküste, eine fern von menschlichen Wohnsitzen gelegene wüste Insel: das sind die Schauplätze der letzten Bühnenwerke Shakespeares — „Cymbeline", „Das Wintermärchen", „Der Sturm" -—, die man gerne Romanzen nennt, in denen sein magischer Stab wundersame Figuren und Begebenheiten hervorzaubert. Nicht mehr das geschichtliche mittelalterliche England, die britische oder dänische Frühgeschichte, Alt-Rom mit seinem geschichtlichen Kern, auch nicht mehr das romantische, sonnige Italien oder Illyrien oder der Ardennerwald bilden den Raum, in den fühlende und irrende Menschen unseres Blutes hineingestellt werden, sondern erdachte Gegenden, in denen das luftige Reich der Elementargeister sich mit dem Treiben der Irdischen verwebt, in denen die Menschen nur durch Trübsal gehen, um durch eine wundersame Fügung des Himmels zu um so beseligenderer Vereinigung geführt zu werden. Selbst das Böse ist nicht mehr die furchtbar waltende Macht wie in den Tragödien, sondern nur ein gruseliges Schreckbild, dem gegenüber sich die Tugend um so besser bewähren kann. Die Zeit, in der diese Werke entstanden, glaubte an Zauberkunst und Hexerei, König Jakob I. schrieb selbst eine Dämonologie mit allerlei gelehrten Beweisen für Magie und Geisterwelt. Die Zeit war aber auch erfüllt von den Berichten der ersten Weltumsegler und Entdecker, die mit phantastischen Erzählungen die unsichtbaren Wunder um die angeblich geschauten vermehrten. Auf der Bühne gab es genug Zauberkomödien; Shakespeare erhob die Gattung in eine gehaltvollere Sphäre. Die Märchenwelt der Romanzen bringt für ihn die Lösung von der Resignation, die düstere Stimmung der schweren Tragödien weicht. Die Lösung kann aber nicht in einer Rückkehr zu der Wirklichkeit der Jugendwerke, der verlorenen schönen Harmonie des Renaissancegefühls bestehen; sie schafft aus dem Urquell der frei waltenden Phantasie erträumte Bilder von Wahrheit, Einfachheit, Natürlichkeit. Da wohnen die Gedanken leicht beieinander, da kann der Bildner selbst mit überlegenem Humor die Elementarkräfte gegeneinander hetzen und wieder versöhnen, da kann der optimistische Glaube an die Menschheit den Pessimismus der erdenschweren Geschichtlichkeit überwinden und die Seele ihre Ruhe und ihr Gleichmaß wiederfinden. Die bessere Welt ist nicht auf der Erde, sondern nur in den zauberhaften, zeitlosen Gefilden des Märchens, in der Dichtung zu finden. Der von der Welt enttäuschte Dichter schaut seherisch in die Zukunft. Eine rousseauhafte Naturverklärung läßt eine Wiedergeburt des Verlorenen erhoffen. So rundet sich dies ebenso schnell ab- wie aufsteigende Dichterleben zu einem Abschluß, überall mit einer irrationalen, tiefen Verbundenheit von Individuum und Welt. Und so ist das eigentliche Grunderlebnis dieses Zeitendeuters eine innere Wesensverbundenheit mit dem Naturhaft-Einheitlichen und ein Miterleben der tragischen Spaltung, die das 17. Jahrhundert heraufbeschwört. „Der Sturm", 1 6 1 1 — 1 2 geschrieben, darf als Ausklang der dichterischen Tätigkeit Shakespeares angesehen werden. Die phantastische Insel, auf der die Handlung spielt, liegt irgendwo im Weltmeer, das erwähnte Tunis unermeßlich weit von Neapel entfernt : She that is Queen of Tunis; she that dwells Ten leagues beyond man's life; she that from Naples Can have no note, unless the sun were post — The man i' th' moon's too slow — till newborn chins Be rough and razorable. (II, 1)
Sie, Königin von Tunis? Die am Ende Der Welt wohnt? Die von Napel keine Zeitung Erhalten kann, wofern die Sonne nicht Als Bote liefe (denn zu langsam ist Der Mann im Mond), bis neugeborne Kinne Bebartet sind?
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III. Shakespeare und seine Welt
Die geographischen Begriffe werden hier wie in den anderen Romanzen ganz willkürlich verwendet. Die Fabel selbst ist einfach. Der Herzog Prospero von Mailand hat, in seine Studien vertieft, die Leitung des Staats seinem Bruder Antonio überlassen, der in seiner Herrschsucht mit Hilfe des Königs von Neapel und des königlichen Bruders Sebastian den eigenen Bruder stürzte und mit seiner dreijährigen Tochter in einem seeuntüchtigen Boot den Winden und Wellen preisgab. Das Boot wurde auf eine entlegene Insel verschlagen, auf der als einziges Wesen Caliban, ein schmutziges, gnomenhaftes Geschöpf, halb Mensch halb Tier, lebte, dazu ein anmutiger Luftgeist Ariel, den die verstorbene Mutter Calibans, die wegen ihrer Untaten von Algier auf diese Insel geflohene .Hexe Sycorax, zur Strafe für die Ablehnung ihrer scheußlichen Befehle in einen Fichtenstamm geklemmt hatte. Prospero nahm dem Tiermenschen die Herrschaft über die Insel und hält das schimpfende und zitternde Geschöpf streng bei niederen Sklavendiensten. Den zarten und schnellen Luftgeist befreite er aus zwölfjähriger Haft, und aus Dankbarkeit für die wiedergegebene Freiheit dient Ariel dem neuen Herrn. So lebt Prospero viele Jahre auf seiner Insel als Herrscher über Caliban und über das Geisterheer, blinden Gehorsam fordernd, nur von der Sorge um seine inzwischen zur schönen Jungfrau erblühten Tochter erfüllt. Hatten seine Studien ihm in Mailand Unglück gebracht, so will er nun seine Herrschaft über die Geisterschar benutzen, um Gutes zu stiften und schließlich das Verlorene wiedereinzubringen. Die Gelegenheit kommt, als der König von Neapel mit seinem Bruder Sebastian, seinem Sohn Ferdinand, mit Prosperos heimtückischem Bruder Antonio und anderen von Tunis heimreist, wo er seine Tochter verheiratet hat. Durch Prosperos magische Kunst wird ein heftiger Sturm erregt, der das Schiff zerschmettert. Die Zauberei bewirkt weiterhin, daß die Schiffbrüchigen voneinander getrennt werden und daß der Königssohn Ferdinand, den Prospero als Gatten für seine Tochter Miranda ausersehen hat, allein die Wohnung des Inselfürsten entdeckt. Die jungen Menschenkinder finden sich schnell in einer Liebe voll paradiesischer Unschuld. Prospero aber legt zunächst dem Königssohn Sklavenarbeit auf, um seine Liebe zu prüfen; Ferdinand trägt alles willig um Mirandas willen. Inzwischen irren die übrigen Geretteten elend und müde auf der Insel umher. König Alonso, erschöpft von den Anstrengungen und verzweifelt über das Schicksal des totgeglaubten Sohnes, verfällt in einen Starrkrampf. Antonio, der von der selbst übernommenen Tributpflicht gegen Neapel loskommen möchte, faßt in Gemeinschaft mit dem ebenso falschen Sebastian den Plan, den schlafenden König und den treuen alten Ratgeber Gonzalo zu töten. Im rechten Augenblick aber weckt Ariel den schlafenden Gonzalo und verhindert die böse Tat. Der flinke Luftgeist schreckt sie mit allerlei Zaubereien, die ihr Schuldbewußtsein wecken, und geleitet sie zu Prospero. Unter Prosperos strengem Urteil fühlen sie alle tief ihre Schuld. Mit diesem Schuldbekenntnis aber hat der überlegene Geist des weisen Prospero sein Ziel erreicht; er kann nun Güte üben und vergeben. König Alonso sieht seinen Sohn wieder und hört von der Verbindung mit Miranda, von Glück und Großmut. Daneben hören wir von den Schicksalen der Bedienten des königlichen Hofes, von dem betrunkenen Kellner Stephano, dem Spaßmacher Trinculo und den Matrosen. Caliban wird von dem Trunkenbold Stephano mit Wein traktiert und gewinnt den neuen Freund für seinen Plan, Prospero, der ihm ja die Herrschaft über die Insel geraubt hat, zu ermorden. Der Magier durchschaut aber ihren Plan und gebietet Ariel, die wüsten Gesellen kreuz und quer durch die Insel zu hetzen, durch stinkende Tümpel und stachlige Büsche, bis sie schließlich vor sein Angesicht geführt werden sollen. So stehen am Ende die großen und kleinen Bösewichter vor dem geistigen Sieger, kleinmütig und kümmerlich in ihrer Zerknirschung. Damit hat Prospero sein Werk getan, das gütige Verzeihen hat Menschlichkeit und Liebe geweckt:
Der Sturm
How many goodly creatures are there herel How beauteous mankind isl O brave new world, That has such people in 't! (V,i)
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Was gibt's für herrliche Geschöpfe hier! Wie schön der Mensch istl Wackre neue Welt, Die solche Bürger trägt!
Selbst ein Caüban muß eingestehn, was für ein Esel er gewesen ist. Prospero zerbricht seinen Zauberstab und sagt der Magie Lebewohl; den treuen Luftgeist Ariel gibt er befreit seinem Element zurück, den König und die übrigen Fürsten und Adligen geleitet er zu dem Schiff, das alle in die Heimat bringen soll, wo man die Hochzeit der Kinder Ferdinand und Miranda feiern will: And thence retire me to my Milan, where Every third thought shall be my grave. (V,i)
Dann zieh' ich in mein Mailand, wo mein dritter Gedanke soll das Grab sein.
Diese märchenhafte Handlung hat des Dichters Kunst zu einem Werk von reifster Sprachgewalt gestaltet, mit Zartheit und Derbheit, mit inniger Lyrik und plumper Prosarede, mit Bildern von paradiesischer Unschuld und niedrigster Triebhaftigkeit, mit weihevoller Erhöhung des Erlösungs- und Vergebungsgedankens. Der reine Geist siegt über alle Qualen des Daseins; aus Hamlet ist ein Prospero geworden, aus den Übermenschen des Renaissancetypus der Übermensch des Geistes. Das Werk ist oft mit dem „Faust" verglichen worden. August Strindberg hat daran erinnert, daß Prospero und Faustus Namen von derselben Bedeutung sind: der Begünstigte, der Götterliebling. Auch andere Namen sind beziehungsreich: Miranda bedeutet die Bewundernswerte, Caliban ist eine Verdrehung aus Kannibale; Miranda die reine, erblühende Knospe, die in dem Verlobten den ersten Mann erblickt, der der Vater erst spät in einem schönen Zwiegespräch Herkunft und Schicksal enthüllt und in der er ein Geschlecht höheren Menschentums begründen will. Das Drama steht dem „Faust" nahe wegen der Erlösung des Grüblers durch gütige und vergebende Haltung und durch ein Wirken für die anderen. Nicht durch Gewalt — so belehrt der Lebenserfahrene die Tochter (I, 2) — soll Schuld wieder gutgemacht werden, sondern durch die Macht des Geistes. Ariel ist dabei der Helfer, aber auch Caliban muß Dienste leisten, die kriechende Kröte, das Sinnbild der gemeinen Materie des tierischen Lebens und der Freßgier, eine der genialsten Schöpfungen Shakespeares. Die großartige Szene II, 2 zeigt uns die Burschen Caliban und Trinculo in ihrer ganzen Grobschlächtigkeit. Caliban ist entzückt über die Entdeckung des Alkohols, der Wahn und Verwandlung spendet; „Geist", spiritus, imponiert ihm in ganz anderem Sinne, als Prospero die Macht des Geistes besitzt. Er predigt Auflehnung gegen Zwang, Verlangen nach Freiheit, wie es die Elementargeister wollen, auch Ariel, das bewegte Stück Natur, der luftige Charakter, der den Geist der Schwere überwindet. Ein entzückendes Kosen zwischen ihm und dem Meister, ein freundliches Schmollen und Vergeben umspielt die schöne innere Musikalität dieses Verhältnisses. In diesen Formen erleben wir jetzt die Polymythie der Jugendkomödien, die drei Welten des „Sommernachtstraums": die vornehme Welt, die der niederen Kumpane und die der Geister, die symbolische Verbindung der Menschenwelt mit den Elementargeistern; nicht mehr in ungestörter Natureinheit, sondern um ein im Denken und Fühlen vor sich gehendes Suchen nach der Einheit. Prospero gebietet über die Menschen und Geister; die Überlegenheit des Geistes über die Triebe ist seine Genugtuung. Nur die absolut Gemeinen kann er nicht ändern. Caliban bleibt Caliban. So wird es im Leben immer sein. Wunderbar fein erleben wir das Sinnen des geläuterten Menschen in der Szene V, x. Ariel berichtet von der Geistesverstörung, die er über die drei armen Sünder verhängt hat, und bittet um Milde, die Gutes wirken würde. Auf Prosperos nachdenk-
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III. Shakespeare und seine Welt
liehe Frage „Glaubst du wirklich?" gibt er die tiefernste Antwort, daß sein eigenes Gemüt sich erweichen würde, und löst damit Ergriffenheit in dem Herrn und Meister aus. Im Menschen lebt beides, Trieb und Vernunft. Der Luftgeist mahnt zur Milde und Verzeihung. Wir erleben den Triumph der Beherrschung aller Triebe, eine Weiterführung der tiefen Predigt Portias von der Gottesgabe der Gnade. Die holde Anmut in uns, „fancy" in des Dichters Sprache, ist in dem Geist der frei schwebenden Anmut verkörpert und kann den strafenden Herrn zum Verzicht auf die Strafe bringen. Warum auch strafen? fragt sich Prospero; das Leben ist ein unbegreifliches Spiel, das mit uns getrieben wird, und geht vorbei wie Geister-Hokuspokus. Die niederen, erdgebundenen Wesen tragen die Strafe in sich, sie leiden an ihrem Gefühl und verdienen eher unser Mitleid. Welt und Leben sind nur Traum und Spiel. Als das Maskenspiel (IV, i) zu Ende ist, in dem ja auch bräutliche Beherrschung des Geschlechtstriebes, Überwindung des Triebes durch den Geist gepredigt wird, zieht Prosperos aus Lebensmüdigkeit und Menschenkenntnis geborene Resignation die Folgerung: Our revels are now ended. These our actors, As I foretold you, were all spirits, and Are melted into air, into thin air; And, like the baseless fabric of this vision, The cloud-clapp'd towers, the gorgeous palaces, The solemn temples, the great globe itself, Yea, all which it inherit, shall dissolve And, like this insubstantial pageant faded, Leave not a rack behind. We are such stuff As dreams are made on, and our little life Is rounded with a sleep. (IV, i)
Das Fest ist jetzt zu Ende; unsre Spieler, Wie ich euch sagte, waren Geister und Sind aufgelöst in Luft, in dünne Luft. Wie dieses Scheines lockrer Bau, so werden Die wolkenhohen Türme, die Paläste, Die hehren Tempel, selbst der große Ball, Ja, was daran nur teil hat, untergehn; Und, wie dies leere Schaugepräng' erblaßt, Spurlos verschwinden. Wir sind solcher Zeug Wie der zu Träumen, und dies kleine Leben Umfaßt ein Schlaf.
Die letzten Worte dieser milden Resignation stehen im Sockel von Shakespeares Denkmal in der Westminster-Abtei. Des Dichters letztes Wort: das Leben ist ein luftiges Spiel von Traum und Schlaf. Darum ist das Werk in Musik getaucht; auch in den Spätwerken ist die Musik die wunderwirkende, lösende Harmonie, der Ausdruck des Unaussprechbaren. Beim Klang der Töne vollendet sich ein geläuterter Mensch in den letzten Schlaf. Macbeth läßt sich mit den Hexen, die das im Menschen schlummernde Dämonische verkörpern, ein und sinkt in das Höllische hinab; Faust und Prospero aber haben Gewalt über die zu ihrem Dienst verpflichteten Geister — Faust nur eine Zeitlang auf Grund des Paktes, Prospero in völliger Freiheit, die durch keine Verpflichtung begrenzt ist. Er hat eingefangen, was droben und drunten lebt, er zähmt die Naturkräfte als Mann des überlegenen Denkens, und er übt seine Macht nur, um seinem Kinde das Leben zu sichern, das er verwirkt hat. Hamlet leidet noch tragisch unter dem Zwiespalt Welt und Geist; der Märchenfürst Prospero wird ganz Geist, ganz frei entfaltete Persönlichkeit, und deshalb kann ihm die Welt der dämonischen Elemente nichts anhaben. Das ist die letzte Erhöhung der Renaissance, eine Art Persönlichkeitsentfaltung im Sinne des verinnerüchten Menschen, der Natur und Haß bezwingt und die vergehende Liebe erlebt. Eine Vorahnung rousseauscher Gedanken von der Rückkehr in die Urkraft des Natürlichen knüpft hier an das Persönlichkeitsideal an und läßt uns in kühner Schau über das kommende Jahrhundert hinweg in romantisches Fühlen hineinschauen. Im Märchentraum sieht der Dichter nach den Jahren trüber Bilder diesen Geistmenschen, und damit tritt er ab von der Bühne seines Schaffens. Mit großem, sprachgewaltigem Pathos dieser hohen Gedanken entsagt er der Magie:
Der Sturm
Ye elves of hills, brooks, standing lakes, and groves, And ye that on the sands with printless foot Do chase the ebbing Neptune, and do fly him When he comes back; you demi-puppets that By moonshine do the green sour ringlets make, Whereof the ewe not bites; and you whose pastime Is to make midnight mushrooms, that rejoice To hear the solemn curfew; by whose aid, Weak masters though ye be, I have bedimm'd The noontide sun, call'd forth the mutinous winds, And 'twixt the green sea and the azur'd vault Set roaring war; to the dread rattling thunder Have I given fire, and rifted Jove's stout oak With his own bolt; the strong-bas'd promontory Have I made shake, and by the spurs pluck'd up The pine and cedar; graves at my command Have wak'd their sleepers, op'd, and let them forth By my so-potent art. But this rough magic I here abjure, and, when I have requir'd Some heavenly music, which even now I do, To work mine end upon their senses that This airy charm is for, I'll break my staff, Bury it certain fathoms in the earth, And deeper than did ever plummet sound I'll drown my book. (V,i)
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Ihr Elfen von den Hügeln, Bächen, Hainen, Und ihr, die ihr am Strand, spurlosen Fußes, Den ebbenden Neptunus jagt und flieht, Wann er zurückkehrt; halbe Zwerge, die ihr Bei Mondschein grüne saure Ringlein macht, Wovon das Schaf nicht frißt; die ihr zur Kurzweil Die nächt'gen Pilze macht; die ihr am Klang Der Abendglock' euch freut; mit deren Hilfe (Seid ihr gleich schwache Fäntchen) ich am Mittag Die Sonn' umhüllt, aufrühr'sche Wind' entboten, Die grüne See mit der azurnen Wölbung In lauten Kampf gesetzt, den furchtbar'n Donner MitFeu'r bewehrt, und Jovis Baum gespalten Mit seinem eignen Keil, des Vorgebirgs Grundfest' erschüttert, ausgerauft am Knorren Die Ficht' und Zeder: — Grüft', auf mein Geheiß, Erweckten ihre Toten, sprangen auf Und ließen sie heraus durch meiner Kunst Gewalt'gen Zwang. Doch dieses grause Zaubern Schwör' ich hier ab; und hab' ich erst, wie jetzt Ich's tue, himmlische Musik gefordert, Zu wandeln ihre Sinne, wie die luft'ge Magie vermag: so brech' ich meinen Stab, Begrab' ihn manche Klafter in der Erde, Und tiefer, als ein Senkblei je geforscht, Will ich mein Buch ertränken.
E r ist am Ziel, als schlichter Mensch will er sterben, die Geister sind entlassen, Ariel mit einem freundlich-schmerzlichen Abschiedsgefühl. Des Dichters Abschied von der Bühne und der Magie seiner hohen Kunst? Eine solche autobiographische Beziehung auf den müde gewordenen Dichter und auf Ariel als den Geist, mit dem er zwei Jahrzehnte hindurch die Welt bezwungen hat, ist wissenschaftlich umstritten. Man geht aber unwillkürlich einer solchen Deutung nach, wenn man den Aufbau des Shakespeareschen Welterlebnisses durchdenkt. Prospero erlebt die Wahrheit des 146. Sonetts, in dem die gequälte Seele aufgefordert wird, das vielleicht prächtige, aber vergängliche Körperliche hinzugeben und damit inneren Reichtum zu mehren — eine Trennung der Werte, die aus der Schönheit der Leib-Seele-Harmonie, also aus dem Geist der Renaissance herausgewachsen ist zu der Erhöhung des Geistig-Innerlichen: Why so large cost, having so short a lease Dost thou upon thy fading mansion spend? Shall worms, inheritors of this excess,
Wozu die Kosten bei so kurzer Pacht An dein vergänglich Wohnhaus noch verschwenden? Willst du, daß Würmer, Erben dieser Pracht,
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IV. Barock und Aufklärung
Eat up thy charge? Is this thy body's end? Then, soul, live thou upon thy servant's loss, And let that pine to aggravate thy store; Buy terms divine in selling hours of dross, Within be fed, without be rich no more: So shalt thou feed on Death, that feeds on men, And Death once dead, there's no more dying then.
Den Aufwand fressen? soll dein Leib so enden? Drum, Seele, zehr' vom Darben deiner Knechte; Von ihrem Welken mehre deinen Hort; Fürs taube Erz der Zeit kauf' ew'ge Rechte, Werd' innen satt; gib äußern Reichtum fort. Den Tod verzehrst du dann, wie Menschen er, Und wann der Tod stirbt, gibt's kein Sterben mehr.
IV. Barock und Aufklärung i. F r a n c i s B a c o n s
Essays
Im Jahre 1597 veröffentlichte der Philosoph und Staatsmann Francis Bacon, der spätere oberste Kronanwalt, Großsiegelbewahrer, Großkanzler Baron von Verulam und Viscount von St. Albans, die erste Ausgabe seiner „Essays". Es waren zehn kurze Stücke über den Menschen und seinen Geist, den Menschen im Verkehr mit anderen, den Menschen und das Leben, den Menschen und die große Welt. Betrachtungen dieser Art begleiteten den 'Denker das ganze Leben hindurch und fielen als Gedankensplitter von seinen philosophischen Hauptwerken ab. Die Zahl der Abhandlungen wurde in einer Ausgabe von 1612 auf 38 erweitert, dann in der letzten Ausgabe von 1625 auf 58. In dieser endgültigen Form lesen wir die „Essays" heute. Sie bringt nicht nur Erweiterungen der ersten knappen Entwürfe, sondern eine Ausdehnung der Gegenstände auf die verschiedensten praktischen und geistigen Betätigungen, auf Beobachtungen des persönlichen Lebens und der öffentlichen Vorgänge. Die Überschriften zeigen den Umkreis des Interesses eines scharfen, der Welt zugewandten Intellekts: 1. Von der Wahrheit. 2. Vom Tode. 3. Von der Einheit der Religion. 4. Von der Rache 5. Von der Not. 6. Von Verstellung und Heuchelei. 7. Von Eltern und Kindern. 8. Von der Ehe und Ehelosigkeit. 9. Vom Neid. 10. Von der Liebe. 11. Von Hoher Stellung. 12. Von der Kühnheit. 13. Von der Güte als Gewohnheit und Anlage. 14. Vom Adel. 15. Von Unruhen und Aufruhr. 16. Vom Unglauben. 17. Vom Aberglauben. 18. Vom Reisen. 19. Von der Reichsherrschaft. 20. Vom Raterteilen. 21. Vom Aufschub. 22. Von der Schlauheit. 23. Von der Rücksicht auf das eigene Selbst. 24. Von Neuerungen. 25. Von eiliger Erledigung. 26. Vom Schein der Klugheit. 27. Von der Freundschaft. 28. Vom Geldausgeben. 29. Von der echten Größe der Staaten und Reiche. 30. Von gesunder Lebensführung. 31. Vom Argwohn. 32. Von der Unterhaltung. 33. Von Ansiedlungen. 34. Vom Reichtum. 35. Vom Prophezeien. 36. Vom Ehrgeiz. 37. Von Maskenspielen und Triumphzügen. 38. Von der menschlichen Naturanlage. 39. Von Sitte und Erziehung. 40. Vom Glück. 41. Vom Wucher. 42. Von der Jugend und dem Alter. 43. Von der Schönheit. 44. Von der Mißgestalt. 45. Vom Bauen. 46. Vom Gartenbau. 47. Vom Verhandeln. 48. Von Gefolgsleuten und Freunden. 49. Von Bittstellern. 50. Vom Studieren. 51. Vom Parteigeist. 52. Von Förmlichkeit und Achtung. 53. Vom Lobe. 54. Von der Großtuerei. 55. Von Ehre und Ruhm. 56. Vom Rechtswesen. 57. Vom Ärger. 58. Vom Wandel der Dinge. Eine bunte Folge von Gegenständen, wie sie dem Philosophen und Moralisten, dem Politiker und Lord, dem Mann der großen Welt gerade entgegenkamen. Der Mensch muß mit der Welt fertig werden und Klarheit über sich und seine Umgebung ge-
Francis Bacons Essays
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winnen. Die Natur berät uns am besten zur Gesunderhaltung des Körpers; wir brauchen nur zu prüfen, was uns an Nahrung, Schlaf, körperlicher Übung am besten bekommt, und sollten Arzneien nur im Notfall nehmen. Zweckmäßigkeit und Bekömmlichkeit sind auch Richtschnur für Gefühle und moralisches Verhalten. Ärger muß man meiden, Neid ist niedrig, Rache eine Art wilder Justiz, Aberglaube ein Glaube der Unwissenden und Narren, der Schein der Klugheit auf die Dauer nicht wirksam, Ehrgeiz ein Antrieb zum Handeln, aber bei hemmender Gegenwirkung ein gefährliches Gift, Kühnheit fast immer mit Unklugheit gepaart, das Glück nur wertvoll, wenn es eigenem Verdienst entspringt; es ist niemals Schicksalsgunst, sondern immer das Ergebnis hartnäckiger Arbeit. Der Tod ist Erfüllung, Eingangstor zum guten Ruf, Tilgen des Neides; die unverständliche Furcht vor ihm entspringt nur aus der schwarzen Feierlichkeit, mit der man ihn umgibt. Der Tod ist unser Freund. Im Umgang mit anderen Menschen ist Verhüllung der Gefühle angebracht, Schweigen meistens wichtiger als Reden, Fragen wertvoller als Belehren. Suche dir erfolgreiche Menschen zum Umgang, einfache und gerade, nicht gerissene Geschäftemacher, und achte auf den Rat der wenigen echten Freunde. Die dauerhaftesten Freundschaften bestehen zwischen höher und tiefer Stehenden, weil sie für ihr Glück aufeinander angewiesen sind. Aktive Menschen sind in Notzeiten wertvoller als tugendhafte. Die Erziehung soll sich den natürlichen Ehrgeiz zunutze machen und ihr Ziel mehr in den allgemeinen Gewohnheiten sehen als in der persönlichen Neigung. Reisen sind ein hervorragendes Bildungsmittel, aber nur, wenn eine ausreichende Kenntnis der Landessprache den Zugang öffnet. Man soll jedes Volk bei seinen Geschäften und Vergnügungen beobachten, seinen Verkehr aber in erster Linie in den Kreisen der Diplomaten und andrer Leute von Rang und Einfluß suchen, deren Bekanntschaft nachher durch Briefaustausch erhalten und vertieft werden kann. Reichtum ist ein gefährlicher Ballast für die Tugend; sein Wert kann nur an der Art der Erwerbung und der Freigebigkeit der Verwendung gemessen werden. Die Grundfrage der damaligen Geldwirtschaft, die Lösung von der mittelalterlich-kirchlichen Strenge gegenüber dem sogenannten Wucher, wird klug und mit Anpassung an die gewordene Praxis im Sinne moderner, staatlich kontrollierter Zinsregelung behandelt. Daß den Staatsmann Bacon die Fragen des Gesellschaftsaufbaus und der Politik lebhaft beschäftigten, liegt nahe. Wege zur echten Größe eines Reiches, die Gründe der Unzufriedenheit des Volkes und damit die Anlässe der Rebellionen, die Formen der Machtausdehnung und Kolonisation, die Bedeutung und Lenkung des Parteigeistes, die Rolle des Adels in Monarchien und Demokratien, der Krieg: das alles sind Gegenstände, die sich mit größerer Systematik zu einem Gesamtbild schließen als die verstreuten Gedanken über die persönliche Lebensführung. Der Staat beruht auf Macht und kann anders nicht begründet werden. Er strebt wie jedes Einzelwesen nach Erhaltung und Vermehrung seiner Macht, nach Erweiterung seiner Grenzen. Dazu braucht er Kriegstüchtigkeit seiner Bürger, ein schlagkräftiges stehendes Heer, gerechte und nicht drückende Steuern, einen freien Bauernstand, einen beschränkten Kreis des Adels, eine liberale Aufnahme Fremder, einen Ehrenplatz für den Wehrstand, eine Ertüchtigung des Volkes durch beständige körperliche Übungen. Das wichtigste Mittel zur Weltstellung ist die Herrschaft zur See, wie sie England erkannt und erreicht hat. Das Kolonisieren gleicht der Pflanzung eines Waldes; ein jungfräulicher Boden, die tüchtigsten Männer, eine pflegliche Behandlung der Ureinwohner gewähren die spätere Kraft, deren Auswirkung man ruhig durch ein paar unergiebige Jahrzehnte abwarten soll. Dem Rechtswesen, das seine Normen aus beständiger Verbindung mit dem Wohl und den Absichten der Staatslenkung zu schöpfen hat, kommt eine besondere Bedeutung zu, aber ebenso auch der Religion als dem wichtigsten Band der inneren Einigkeit und des Gemeinschaftsgefühls, womit 11 Die Stimmen der Meister
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IV. Barock und Aufklärung
eine Gewähr des inneren Friedens gegeben ist. Die Gewißheit einer ordnenden Vernunft ist wissenschaftlich nötig, Atheismus unmöglich; es bedürfte zu seiner Widerlegung keiner Wunder Gottes, weil die gewöhnlichen Naturvorgänge dazu ausreichen. „Wissenschaftliche Halbbildung führt zur Gottesleugnung, tiefe wissenschaftliche Bildung aber zur Religion." Der Glaube verleiht dem Menschen die Kraft, sich über seine eigene Schwachheit zu erheben. Es ist nicht ein Gefühl aus der Fülle des Herzens, das den Philosophen zur Gläubigkeit drängt, sondern die überlegte Haltung zum gesellschaftlichen Ganzen und zum Vorteil der Person. Die Bereiche des Wissens und des Glaubens werden streng geschieden, wie es schon im spätmittelalterlichen englischen Denken angebahnt war und auch später Richtschnur blieb. Abwägende Klugheit überall bei Gegenständen, die an sich den Gefühlen angehören. Die Liebe ist tief in der menschlichen Natur angelegt; sie ist aber eine Schwäche, die der großen Leistung und dem Erfolg im Wege steht. Der Weise läßt sich nicht von Liebe leiten, und die großen Förderer des menschlichen Fortschritts kannten sie nicht. Unverheiratete und kinderlose Männer haben mehr geleistet als Gatten und Väter. Schönheit ist eine bald welkende Sommerblüte, die einen goldenen Schimmer über den Menschen und sein Handeln gießt, aber mit Geist und Können nichts zu tun hat. Für das Empfinden der aus einer tiefen Sehnsucht nach Harmonie lebenden Renaissance war äußeres und inneres Ebenmaß, also Schönheit und Tugend dasselbe. Bacon aber sagt, man habe nie beobachtet, daß schöne Menschen auch tugendhaft sein müßten. Ein die barocke Auffassung der geistigseelischen Kräfte einleitendes Denken offenbart hier eine Überhöhung des Verstandes auf Kosten der Gefühle. Ein kühles Prüfen und Abwägen ordnet die sittlichen Fragen, die praktische Lebensgestaltung, die gut funktionierende Gesellschaftsordnung; Zweckmäßigkeit und Nützlichkeit sind Maßstäbe der Weltordnung. Wenn der Mensch der Renaissance sich beglückt als Teil der allumfassenden Harmonie, des in der geahnten Sphärenmusik geeinten Kosmos empfand, so tritt jetzt der Verstand als die prüfende und begreifende Kraft der Welt und den Dingen gegenüber. Es ist die Zeit, in der das berühmte „Cogito, ergo sum" des französischen Philosophen Descartes den Neueinsatz der Philosophie besonders greifbar macht. Der Mensch zerlegt die Welt. Zerlegen beruht auf Abstand, auf dem ordnungstiftenden Vermögen des Subjekts, das sich vermittelst des als Zwischenglied eingeschobenen Verstandes über die Objekte und nicht mehr in sie hinein setzt. Das ist Neuzeit gegenüber den alten Ordnungen des Alls, wie sie Antike, Scholastik, Mystik und Renaissance in verschiedenen, immer aber auf Totalität gerichteten Ausprägungen empfunden hatten. Der analytische Verstand tritt an die Stelle der synthetischen Vernunft. Das Begreifen oder Ergreifen ist der Sinn des Strebens nach Macht, das alles menschliche Sinnen und Tun leitet. Macht will der Mensch über die Dinge gewinnen, und dazu braucht er Abstand von ihnen, Selbständigkeit; und Macht ist der Sinn der größeren menschlichen Ordnungen, der Gesellschaftskreise und der Staatsgebilde. Die Essays stehen neben den philosophischen Hauptwerken — dem „Neuen Organon" und der „Vermehrung der Wissenschaften"—als selbständige Ergänzung aus dem gleichen Geist. Was in den systematischen Werken als Theorie begründet wird, findet in den Essays die aus der Beobachtung geschöpfte Illustration; nicht freilich erlebte Situationen oder Vorgänge, wie sie die spätere Essaykunst eines Addison, Steele, Goldsmith, Lamb u. a. liebt, sondern allgemeine Begriffe des Vernunftdenkens. Das induktive, vom Einzelnen zur Gattung und zum Gesetz aufsteigende, von allen hemmenden Trugbildern befreite Denken kann uns allein, wie im „Neuen Organon" in Überwindung scholastischer Bindungen ausgeführt wird, Klarheit und geistige Eroberung verschaffen. Die Prüfung der Einzelzüge des menschlichen Wollens und Handelns in den Essays gelangt induktiv, beobachtend und verallgemeinernd, zu Maßstäben und
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Werten. Sie dient also dem zu Anfang des „Neuen Organon" aufgestellten Grundsatz, daß der Mensch der Diener und Deuter der Natur zu sein habe; über die Erforschung der Dinge und Vorgänge hinaus gibt es keine Erkenntnis. Wir kennen drei Formen des Ehrgeizes: erstens den Ehrgeiz derer, die ihre Macht und Stellung im Lande erweitern wollen; zweitens den Ehrgeiz derer, die die Macht und den Einfluß ihres Volkes auf die Menschheit vergrößern wollen, eine würdigere und weniger habsüchtige Art; wer aber Macht und Herrschaft der Menschheit überhaupt für das Weltall wieder aufzurichten und zu mehren bestrebt ist, dessen Ehrgeiz — wenn man das so nennen darf — ist gesünder und edler als jene beiden Formen. Die Herrschaft des Menschen über die Dinge ruht allein auf den Künsten und Wissenschaften, denn „die Natur beherrscht man nur, wenn man ihr gehorcht". Oder, wie es im „Neuen Organon" heißt: „Menschliches Wissen und menschliche Macht sind ein und dasselbe; denn wo man die Macht nicht kennt, kann keine Wirkung entstehen." In dem Inselstaat Neu-Atlantis, den uns Bacon in einer unvollendeten utopischen Schrift schildert, bildet ein den Naturstudien gewidmetes „Haus Salomons" den stolzen Mittelpunkt. Der Zweck der dort arbeitenden Gesellschaft ist „die Erkenntnis der Ursachen und inneren Bewegungen der Dinge sowie die Ausdehnung des Machtbereichs des Menschen bis an die Grenzen des Möglichen". So könnte es als Motto über dem Gesamtwerk von Bacons Leben und Philosophieren stehen. Der Natur und den praktischen Lebensvorgängen muß also gehorchen, wer sie beherrschen will, und menschliches Wissen bedeutet menschliche Macht. Die berühmte, der späteren lateinischen Fassung der Essays eingefügte Formulierung hierfür lautet: Wissen ist Macht. Der Richtung des englischen Denkens aufKlarheit und Tatsächlichkeit ist hiermit ein gewaltiger Anstoß gegeben. Man beschäftigt sich mit den konkreten Dingen und Tatsachen, mit dem Leben, von dem man lernen will. Das englische Philosophieren ist hauptsächlich mit dem Menschen befaßt, und die Zeichnung von Charakterbildern ist das Hauptanliegen der englischen Dichtung. Das Eintreten Bacons für das induktive Verfahren in allen Bezirken geistiger Tätigkeit macht ihn zu dem klarsten Vertreter englischer Denkhaltung, die seit dem mittelalterlichen Nominalismus oder besser Konkretismus ihr Gepräge erhalten hat. Der Machtgedanke im politischen Sinne zeigt die Denkrichtung der in der Renaissance so stark wirkenden Staatslehre Machiavellis; er gibt aber auch die Grundsätze für das Privatleben ab. Vergewissere dich immer deines Vorteils, tue nichts ohne den Hintergedanken der eigenen Geltung, behandle andre Menschen nur als Mittel für deine Zwecke. Sorge zwar auch für andre, aber verhehle nicht, daß es absichtlich und mit Entsagung geschieht. Zeige dich nicht, wie du wirklich bist, sondern wie du vor der Welt erscheinen möchtest. In den zehn Stücken der ersten Ausgabe (1597) tritt uns der kalte Zynismus des Lebenskünstlers in seiner ganzen Schärfe entgegen. Die späteren Ausgaben aus der Zeit der Gedankenarbeit an den wissenschaftlichen Hauptwerken bringen nicht nur eine vollere, mehr durchgearbeitete Form, sondern auch eine Einbeziehung weiterer Bereiche des Geistes und des Herzens. Auf ihnen, insonderheit auf der letzten Ausgabe, beruht der Ruhm der Essays. Wie Denkhaltung und Ausdruck bei einem wirklich eigengewachsenen Sprachwerk einander durchdringen und bedingen, wie also die Persönlichkeit in der Art der Rede sichtbar wird, ist hier besonders klar zu beobachten. „Essay" bedeutet Versuch, im Gegensatz zur erschöpfenden und durchgegliederten Abhandlung. Darin liegt der Gesichtspunkt des Subjektiven beschlossen, das den Essay geradezu zu einem Gegenstück des lyrischen Gedichts macht; eine Einzelfrage wird so abgehandelt, wie eine Persönlichkeit sie sieht oder erlebt. Eine bestimmte Seite des Gegenstandes wird beleuchtet, oft in überraschender, paradoxer Form. Die Behandlung ist also bruchstück11*
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haft, einseitig, improvisiert, elastisch — man spricht von der „offenen" Form —, immer aber in stärkerem Maße ein Spiegelbild der redenden Persönlichkeit als bei einer das Thema ausschöpfenden Abhandlung. Es ist nicht ein den Gegenstand ergründendes Systemdenken, das uns in diesen kurzen Stücken entgegentritt, sondern eine aus Bausteinen mit unbegrenztem Stoffgebiet zusammengesetzte Lebensphilosophie und Selbstenthüllving. Michel de Montaigne hat als erster seine Selbstbeobachtungen als Versuche, „Essays", veröffentlicht (1580). Nicht an den Gehalt dieses klassischen Werks eines heiter-überlegenen Lebenskünstlers, wohl aber an die hiermit geschaffenen literarische Form knüpfte Bacon an, wenn er die Gattungsbezeichnung übernahm und damit für die geistige Geschichte seines Volkes eine große, überaus bezeichnende Tradition begründete. Humanistischen Ursprungs ist nicht nur die inhaltliche Wendung dieses Denkens» sondern auch die Form. Schon Erasmus hatte in zwei Sammlungen spruchartiger Sätze — „Adagia" und „Apophthegmata" — die Weisheit der Alten in einen neuen Stil gegossen. Ihm und Bacon bedeutete der Aphorismus, also die kurze, sentenzartige Prägung, Loslösung von scholastisch-deduktiver Systematik und literarische Neuschöpfung. Der Satz soll frei leben und nicht durch andere vorbestimmt sein oder andere vorbestimmen. Dazu muß er anders geformt sein als der Satz in einer fortlaufenden Abhandlung. Er muß den Leser packen und zum Weiterdenken reizen, er muß andeuten und verschweigen können wie ein Orakelspruch der Götter. Die innere Verwandtschaft mit Paradoxie, Ironie, Satire leuchtet ein. Jeder Ausspruch ist ein neuer „Versuch", die isolierte glückliche Eingebung des Augenblicks. Das „Neue Organon" ist eine Sammlung von Aphorismen von der Art der Werke Nietzsches. In den „Essays" erscheint der Aphorismus eingebettet in einen Zusammenhang wie später — wenn auch geschmeidiger und weniger hart — bei Swift. Es klingt, als sei es geradezu auf Bacons „Essays" gemünzt, wenn wir bei Nietzsche lesen: „Eine Sentenz ist im Nachteil, wenn sie für sich selbst steht, im Buche dagegen hat sie in der Umgebung ein Sprungbrett, von welchem man sich zu ihr erhebt. Man muß verstehen, unbedeutendere Gedanken um bedeutendere her umzustellen, sie damit einzufassen. Das verstehen die meisten nicht, und deshalb darf man Bedenkliches unbedenklich in Sentenzen aussprechen." In beiden Formen dient die sprachliche Zusammenballung der Verallgemeinerung, der Steigerung zu absoluter Gültigkeit, der schillernden Fülle und magisch schöpferischen Macht des Wortes, das geheimnisvolle Beziehungen mehr ahnen lassen als klar aussprechen will. Das ist Geist des Barocks. Die Renaissance hatte das Bewußtsein von der Ausdrucksfähigkeit der Sprache überhaupt gezeitigt und gefördert; das Barock brachte die Überzeugung von der Macht des Wortes. Es sucht die Einheit von Inhalt und Ausdruck, die Formulierung, eben das Wort; der Ausdrucksgehalt, das Schillernde ist dabei wichtiger als Klarheit und Prägnanz. Das Schlagwort kommt auf. Es ist die Zeit großer Kanzelredner und des Beginns der großen politischen Beredsamkeit. Bacon analysiert, ja seziert beständig seine Umwelt, die ganz überwiegend die Welt der Hochgestellten ist. Er sucht nach prägnanten Formulierungen, um in Wort und Satz den geistigen Besitz abzugrenzen und zu besitzen. Sein ganzes Denken neigt zum Aphorismus, auch in den philosophischen Werken. Die Essays zeigen einen ausgesprochenen Tagebuchcharakter: knappe Notizen der Gedanken, schlagend und bestimmt formuliert, ganz überwiegend Hauptsätze, kein kunstvoller Periodenbau, Gliederung mit eingefügtem „erstens, zweitens, drittens" und mit dem Semikolon als vorherrschendem Satzzeichen. DieserNotizbuchcharakter kennzeichnet besonders die zehn kurzen Aufsätze der ersten Aufgabe. Das erste Stück mag diesen Stil verdeutlichen:
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Of Studies
Vom Studieren
Studies serve for pastimes, for ornaments, for abilities; their chief use for pastimes is in privateness and retiring; for ornaments in discourse; and for ability in judgment; for expert men can execute, but learned men are more fit to judge and censure. To spend too much time in them is sloth; to use them too much for ornament is affectation; to make judgment wholly by their rules is the humour of a scholar; they perfect nature, and are themselves perfected by experience; crafty men condemn them, wise men use them, simple men admire them; for they teach not their own use, but that there is a wisdom without them and above them won by observation. Read not to contradict nor to believe, but to weigh and consider. Some books are to be tasted, others to be swallowed, and some few to be chewed and digested: that is, some are to be read only in parts, others to be read but curiously, and some few to be read wholly with diligence and attention. Reading maketh a full man, conference a ready, and writing an exact man; therefore, if a man write little, he had need of a great memory; if he confer little, he had need of a present wit; and if he read little, he had need have much cunning to seem to know that he doth not know. Histories make wise men; poets witty; the mathematics subtile; natural philosophy deep; moral grave; logic and rhetoric able to contend.
Das Studieren dient dem Zeitvertreib, der Zierde, dem Können; sein Hauptzweck als Zeitvertreib liegt in der privaten Sphäre und Zurückgezogenheit; als Zierde im Gespräch; als Können im Urteil; denn Männer der Praxis können wohl etwas ausführen, Gelehrte aber sind mehr zum Urteilen und Kritisieren geeignet. Dem Bücherstudium allzuviel Zeit zu widmen ist Trägheit; es allzusehr zur Zierdezu verwenden istGeziertheit; sein Urteil völlig von ihm leiten zu lassen ist die Gemütsart eines Stubengelehrten; es vervollkommnet die Natur und wird selbst durch Erfahrung vervollkommnet; die Schlauen verachten es, die Weisen benutzen es, die einfachen Leute bewundern es; denn das Studieren lehrt, daß es allein nicht genügt, sondern daß es daneben und darüber hinaus eine durch Beobachtung gewonnene Weisheit gibt. Lies nicht, um bloß zu widersprechen oder zu glauben, sondern um abzuwägen und zu bedenken. Manche Bücher muß man kosten, andere verschlingen, und einige wenige kauen und verdauen: das heißt, manche sollte man nur teilweise lesen, andere aus bloßer Neugierde, und einige wenige ganz, mit Fleiß und Aufmerksamkeit. Das Lesen füllt den Menschen mit Wissen, die Aussprache über das Gelesene macht ihn schlagfertig, das Schreiben macht ihn gewissenhaft; wer deshalb wenig schreibt, braucht ein gutes Gedächtnis; wer sich wenig unterhält, ermangelt der Geistesegenwart; und wer wenig liest, hat viel chlauheit nötig, damit er glauben machen kann, er wüßte das, was er in Wirklichkeit nicht weiß. Geschichtswissen macht weise; Poesie geistreich; Mathematik scharfsinnig; Naturwissenschaft tief; Sittenlehre ernst; Logik und Rhetorik streitbar.
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Das ist die knapp formulierende, zusammendrängende Form der ersten Entwürfe, ohne Nebensätze, ohne die in den späteren Umarbeitungen und Hinzufügungen wuchernden lateinischen Zitate, ohne Schmuckmittel, ohne Beispiele, mit scharfen Antithesen in den mit Hammerschlägen kommenden, durch ein Semikolon getrennten Gedankensplittern. Nur der Zweck und Nutzen des Studierens geht den kühl analysierenden, die Dinge mehr von außen als von innen sehenden Weltmann und Gelehrten an, nicht der aus dem Herzen kommende Drang zum Wissen, die Hingabe, die Begeisterung. Das schöne Zitat „Abeunt studia in mores" — das Studieren formt den Charakter — findet sich erst in der erweiterten späteren Fassung. Das kurze Bändchen von 1597 fand sofort weite Verbreitung, wurde in andere Sprachen übersetzt und begründete den schriftstellerischen Ruhm des Verfassers. Die späteren Ausgaben bringen eine größere Durcharbeitung der Stoffe und einen rhetorisch gefüllteren Stil: Parallelen aus der Antike werden angeführt, die Sätze kunst-
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voller ausgefeilt mit Perioden, Konjunktionalsätzen, Wärme des Ausdrucks, wenn auch immer noch mit loser Aneinanderreihung der Gedanken. Der Verfasser ist ein Meister der treffenden und überraschenden Vergleiche, die blitzartig eindringlich wirken. Hierfür ein paar Beispiele: die Menschen fürchten den Tod wie die Kinder das Gehen in der Dunkelheit; die zu Hütern des Staatswesens bestellten Männer müssen den Kalender der drohenden Stürme kennen wie die Hüter einer Herde, denn wie die Zeit der Tag- und Nachtgleiche die Zeit der Stürme ist, so bringt die wachsende Gleichheit der Lebensumstände die größte Gefahr eines gewaltsamen Umsturzes; Argwohn ist im Reiche der Gedanken, was die Fledermaus unter den Vögeln ist, denn beide fliegen im abendlichen Zwielicht aus; Reichtum ist das Gepäck — die Römer sagten noch besser „impedimenta", also das Behindernde — der Tugend; die Tugend selbst ist ein schön gefaßter Edelstein und gefällt wie dieser am meisten an einem schönen Körper, wenn auch dies gefällige Bild trügerisch sein kann; das Benehmen mancher Menschen gleicht dem Vers, in dem jede Silbe mit Vorbedacht gezählt ist; der Ruhm gleicht dem Fluß, der leichte und hohl aufgeschwollene Dinge trägt, die schweren und massiven aber untergehen läßt; Ehre fällt am ehesten auf den, der schnell zurückstrahlt, wie der Lichtglanz der geschliffenen Seiten eines Diamanten. — Man muß dabei bedenken, daß die englische Sprache mit ihrer starken Einsilbigkeit im Wortschatz und den vielen Möglichkeiten einer syntaktischen Zusammendrängung die plakatartige Schlagkraft noch nachdrücklicher herausbringt, hierin dem Lateinischen ähnlich, z. B.: Geld gleicht dem Mist; beide sind wertlos, wenn sie nicht ausgebreitet werden — in der englischen Form, die sogar die in der englischen Prosa noch so stark übliche Alliterationsbindung der Hauptbegriffe aufweist: „Money is like muck, not good unless it be spread." Die Ablösung des selbständigen, die Dinge begreifenden und damit ergreifenden Verstandes kommt am klarsten in dem Bestreben zum Ausdruck, Definitionen, also Abgrenzungen zu finden. Mit solchen begrifflichen Definitionen beginnt der Philosoph gerne: Was ist Wahrheit? . . . Rache ist . . . Verstellung ist . . . Reisen bedeutet . . . Das Glück ist . . . Reichtum ist . . . usw. Gegensatzpaare werden formuliert, um die Grenzen der Begriffe schärfer zu machen: Der Drang nach Wissen brachte die Engel zu Fall, der übermäßige Drang nach Wissen auch die Menschen. Argwohn, den der Geist von sich aus zusammenträgt, ist nur ein Geflüster; Argwohn aber, der künstlich genährt und dem Reden und Flüstern anderer zugetragen wird, hat Stacheln. Der Mensch denkt in erster Linie nach seiner Neigung, er redet nach seinem Wissen und nach übernommenen Ansichten, aber er handelt nach seiner Gewohnheit. — Dazu gehört dann auch die beständig unterstrichene Gliederung mit erstens, zweitens, drittens . . . Aufsätze wie die über die Einheit der Religion (Nr. 3), über Verstellung und Heuchelei (6), über den Neid (9), über den Adel (14), über Unruhen und Aufruhr (15), über die Reichsherrschaft (19), über die Freundschaft (27) und viele andere sind sorgsam und betont gegliedert wie eine Dispositionsübung. Eine Besonderheit des Baconschen Stils ist die Dreigliederung einer Aussage: „Eheliche Liebe schafft die Menschheit; Freundesliebe erhöht sie; aber wollüstige Liebe verdirbt und erniedrigt sie". „Hochgestellte Männer sind dreifach Sklaven: des Herrschers oder Staates, des Ruhmes und der Geschäfte." „Alle Arbeit besteht aus drei Teilen: Vorbereitung, Erörterung und Prüfung, Ausführung." „Argwohn verleitet Könige zur Tyrannei, Ehemänner zur Eifersucht, weise Männer zu Unentschlossenheit und Trübsinn." „Die Naturanlage bleibt oft verborgen, wird bisweilen überwunden, selten getilgt." „Die Ehre enthält dreierlei; den geeigneten Nährboden für gute Taten, den Zugang zu Königen und mächtigen Männern, die Erhöhung der eigenen Glücksumstände." Dieser Redeform begegnet man auf Schritt und Tritt, der mitgeteilte Essay über das Studieren ist voll von Beispielen.
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Eine so scharf beobachtende und zerlegende Denkform, ein so zusammengeballter, gliedernder Stil drängt naturgemäß zur Sentenz, zur sprichwortähnlichen Prägung. Die Kunst der Maxime fand später ihre Meister bei den Franzosen; Larochefoucauld und Vauvenargues sind die bekanntesten Namen. Bacon steht etwa in der Mitte zwischen dem gefälligen Plauderton Montaignes und der knappen Maximenform Larochefoucaulds. Auf den glänzenden, leicht zitierbaren Formulierungen beruht im eigentlichen Sinne der Ruhm und die lebendige Wirkung der Essays. Ein paar Beispiele : A little philosophy inclineth Man's mind to atheism; but depth in philosophy bringeth men's minds about to religion.
Ein wenig Wissenschaft verleitet den Menschen zum Unglauben; aber tiefe wissenschaftliche Bildung führt zur Religion.
Death openeth the gate to good fame, and extinguished! envy.
Der Tod öffnet das Tor zum guten Nachruhm und löscht den Neid aus.
Boldness is seldom without some absurdity.
Kühnheit ist selten ohne eine gewisse Albernheit.
Nakedness is uncomely as well in mind as in body; and it addeth no small reverence to men's manners and actions, if they are not altogether open.
Nacktheit ist im Geistigen so unziemlich wie im Körperlichen, und es verleiht den Gewohnheiten und Handlungen der Menschen keine geringere Achtung, wenn sie nicht allzu offenherzig sind.
It is impossible to love and be wise.
Es ist unmöglich, zu lieben und weise zu sein.
Suspicions amongst thoughts are like bats amongst birds, — they fly by twilight.
Argwohn ist im Reiche der Gedanken, was die Fledermäuse unter den Vögeln sind — beide fliegen im Dämmerlicht aus.
Children sweeten labours, but they make misfortunes more bitter; they increase the cares of life, but they mitigate the remembrance of death.
Kinder machen alle Mühen leicht, aber das Unglück größer; sie mehren die Sorgen des Lebens, aber sie mildern den Gedanken an den Tod.
Wives are young men's mistresses, companions for middle life, and old men's nurses.
Gattinnen sind junger Männer Geliebte, Lebensgefährten für das mittlere Alter, Pflegerinnen für alte Männer.
Wife and children are a kind of discipline of humanity.
Frau und Kinder sind eine Art Zuchtmittel der Menschlichkeit.
He that travelleth into a country, before he hath some entrance into the language, goeth to school, and not to travel.
Wer in ein fremdes Land reist, ohne sich Zugang zu seiner Sprache verschafft zu haben, geht nicht auf Reisen, sondern in die Schule.
Time is the greatest innovator.
Die Zeit ist der größte Neuerer.
Whosoever is delighted in solitude, is either a wild beast or a god.
Wer Freude an der Einsamkeit empfindet, ist entweder ein wildes Tier oder ein Gott.
To be master of the sea is an abridgment of monarchy.
Seeherrschaft bedeutet Herrschaft überhaupt, auf eine kurze Formel gebracht.
IV. Barock und Aufklärung
Young men are fitter to invent than to judge, fitter for execution than for counsel, and fitter for new projects than for settled business, for the experience of age, in things that fall within the compass of it, directeth them, but in new things abuseth them. The errors of young men are the ruins of business, but the errors of aged men amount but to this—that more might have been done, or sooner.
Junge Menschen sind geeigneter zum Erfinden als zum Urteilen, geeigneter zum Handeln als zum Ratgeben, geeigneter zum Planen als zur ruhigen Erledigung von Geschäften; denn die Erfahrung des Alters leitet die Dinge, die in seinen Bereich fallen, führt aber bei neuen Dingen auf Irrwege. Fehlgriffe der Jugend richten das Vorhaben zugrunde; aber Fehlgriffe des Alters führen dazu, daß mehr hätte geleistet und schneller hätte gehandelt werden können.
Read not to contradict and confute, nor to believe and take for granted, nor to find talk and discourse, but to weigh and consider.
Lies Bücher nicht, um ihnen zu widersprechen oder blindlings zu glauben, sondern um ihren Gehalt abzuwägen und über ihn nachzudenken.
Some men's behaviour is like a verse, wherein every syllable is measured. How can a man comprehend great matters, that breaketh his mind too much to small observations ?
Das Verhalten mancher Menschen gleicht einem Vers, dessen Silben genau abgemessen sind. Wie kann ein Mensch große Dinge begreifen, der seinen Geist immer nur an kleinen Beobachtungen abnutzt?
Fame is like a river, that beareth up things light and swollen, and drowns things weighty and solid.
Der Ruhm ist wie ein Fluß, der leichte und aufgeblähte Gegenstände trägt, aber Schweres und Solides untergehen läßt.
Why should a man be in love with his fetters, though of gold?
Warum sollte der Mensch seine Fesseln lieben, auch wenn sie aus Gold wären?
Virtue is like a rich stone, best plain set.
Die Tugend gleicht einem Edelstein: die einfachste Fassung ist die beste.
I cannot call riches better than the Baggage of Virtue. The Roman word is better, „Impedimenta". For as baggage is to an army, so is riches to Virtue. It cannot be spared or left behind, but it hindereth too much. Yea, and the care of it sometimes loseth or disturbeth the victory.
Den Reichtum nenne ich am treffendsten das Gepäck der Tugend. Das lateinische Wort paßt noch besser: „impedimenta". Denn was das große Gepäck für ein Heer ist, das bedeutet Reichtum für die Tugend: man kann ihn nicht entbehren oder liegen lassen, aber er behindert den Marsch. Ja, die Sorge um solch ein Gepäck verursacht manchmal den Verlust oder wenigstens die Leichtigkeit des Sieges.
A man's nature runs either to herbs or weeds; therefore let him seasonably water the one, and destroy the other.
Die menschliche Natur hat etwas vom Gras und Unkraut in sich; man muß das eine angemessen begießen und das andere ausrotten.
Auch bei solchen sentenziösen Prägungen ist die englische F o r m mit ihrer Neigung zur Einsilbigkeit, zur unvermittelten Nebeneinanderstellung von Akzentsilben u n d zur bei-, nicht unterordnenden Satzfügung oft noch viel eindringlicher als die Übersetzung. Man nehme etwa Anfangssätze wie die folgenden: Men fear death as children fear to gö in the dark. — Revenge is a kind of wild justice, which the more man's nature runs to, the more ought law to weed it out. — What is truth? said jesting Pilate; and would not stay for an answer. — Riches are for spending, and spending for honour and good actions. — Houses are built to live in, and not to look on.
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Das fällt sicher und bestimmt wie mit Hammerschlägen, wie ein musikalisches Martellato auf uns nieder und duldet keinen Widerspruch. Walter Savage Landor läßt in seinen „Erfundenen Gesprächen" den großen Staatsmann Chatham den Ausspruch tun, der kleine Essayband Bacons offenbare mehr Geistesstärke, mehr wahre Philosophie, mehr Originalität und schöpferische Phantasie als alle Bände Piatos. So redet der Staatsmann, der Lenker praktischer Lebensordnungen, der Mann der Aufklärung, der die Philosophie wieder in ihre Urrechte als Helferin und Ordnerin im Alltag einsetzen will. Das überspitzte Urteil ist bezeichnend für den, der es ausspricht. Ähnlich denkt T. B. Macaulay, wenn er das Ergebnis jahrhundertelangen Philosophierens im bloßen Streit um Begriffe sieht; Bacon, der das Wissen will, um die Herrschaft des Menschen über die Dinge zu erweitern, bedeute mit seiner engeren, aber fruchtbareren Zielsetzung — Nützlichkeit, Fortschritt, Wohlfahrt als Zweck alles Wissens — einen Neubeginn. „Ein Morgen Land in Middlesex ist besser als ein Fürstentum in Utopia . . . Nicht das Glänzende und Überraschende sollte man nach des Philosophen eigener Mahnung bei ihm suchen, sondern das Nützliche und Wahre, nicht die trügerischen Träume, die durch das strahlende Elfenbeinportal ins Weite hinausziehen, sondern die bescheideneren Realitäten des Tores aus Horn." Bacon ist nicht der Erfinder des induktiven Verfahrens, wohl aber sein starker Apostel im Kampf gegen die aristotelisch-scholastische Wortgläubigkeit des Mittelalters. Die neuere Philosophie beginnt mit dem Problem der Methode, weil man die methodische Denkarbeit als das Wesen alles wissenschaftlichen Fortschreitens erkennt. Hier ist Bacons Platz als Begründer eines neuen Zeitabschnitts in England. Die große Zeit der Renaissance mit ihren Entdeckungen und Erfindungen, mit dem erweiterten Weltbild, mit der beginnenden politischen Ausbreitung, mit dem Hochgefühl des aus allen Fesseln befreiten Menschen hatte das Selbstgefühl und den Glauben an den Fortschritt des menschlichen Geistes gewaltig erhöht. Der Philosoph Bacon setzte sich zwei Ziele: die enzyklopädische Zusammenfassung der bereits erzielten menschlichen Erkenntnisse und die strenge Begründung der für alle neue Erkenntnis notwendigen Methode. So steht er an der Grenze der Zeitalter, zugleich ein Sohn der großen Elisabethzeit und der erste Kämpe der Herrschaft des Verstandes, der Ordnung und Systematisierung, der beginnenden „Aufklärung". Die Essays gehören als selbständige Frucht und praktische Ergänzung der theoretischen Schriften in das Gesamtwerk. Ihr Ruf als klassisches Werk der englischen Literatur, das eine neue und fruchtbare Gattung begründete, beruht auf der zwar einseitigen, in ihrem Umkreis aber überlegenen Weltschau und auf den Persönlichkeitswerten einer neuartigen, funkelnden Sprachform. Sache und Inhalt fließen in höchstem Sinne mit Form und Schriftstellerpersönlichkeit zu einer organischen Einheit zusammen. Goethe kennzeichnet in seiner „Geschichte der Farbenlehre" den Wandel des Lebensgefühls mit folgenden Worten: Sollten wir nun nochmals einen Blick auf das 16. Jahrhundert zurückwerfen, so würden wir seine beiden Hälften voneinander deutlich unterschieden finden. In der ersten zeigt sich eine hohe Bildung, die aus Gründlichkeit, Gewissenhaftigkeit, Gebundenheit und Ernst hervortritt. Sie ruht auf der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Was in dieser geboren und erzogen ward, glänzt nunmehr in seinem ganzen Wert, in seiner vollen Würde, und die Welt erlebt nicht leicht wieder eine solche Erscheinung. Hier zeigt sich zwar ein Konflikt zwischen Autorität und Selbsttätigkeit, aber noch mit einem gewissen Maße. Beide sind noch nicht voneinander getrennt, beide wirken aufeinander, tragen und erheben sich. In der zweiten Hälfte wird das Streben der Individuen nach Freiheit schon viel stärker. Schon ist es jedem bequem, sich an dem Entstandenen zu bilden, das Gewonnene zu
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genießen, die freigemachten Räume zu durchlaufen; die Abneigung vor Autorität wird immer stärker, und wie einmal in der Religion protestiert worden, so wird durchaus und auch in den Wissenschaften protestiert, so daß Baco von Verulam zuletzt wagen darf, mit dem Schwamm über alles hinzufahren, was bisher auf die Tafel der Menschheit verzeichnet worden war.
2. Miltons Verlorenes Paradies In Geibels „Spätherbstblättern" lesen wir das Distichon: Milton deucht mir der Briten Poet; der gewaltige Shakespeare Ist der germanischen Welt eigen, so weit sie sich dehnt. Shakespeare ist der Dichter der Impulse und Stimmungen, nach Carlyles Worten der Gestalter des äußeren Lebens des alten Europas mit seinem höfischen und ritterlichen Geist, seinem bewegten Leben, dem in das Große und Kühne gehenden Streben der Renaissance. Milton ist einförmig, ernst, schwerblütig, mit den Gedanken einer von Stürmen gerüttelten Zeit ringend. Shakespeare ist der reine Dichter, der uns durch seine Kunst entzücken und erheben will. Milton scheut sich wie sein späterer Geistesverwandter Wordsworth nicht zu bekennen, „sein Denken zwölf Stunden hindurch der Lage und den Aussichten der Gesellschaft und nur eine Stunde lang der Poesie zu widmen". Shakespeare gibt uns die Fülle der Gestalten und Motive in der abwechslungsreichsten sprachlichen Instrumentation. Miltons Stärke liegt in der Beschränkung auf ein großes Thema; seine Tonart ist einheitlich, immer pathetisch und ohne Humor. Ein starkes inneres Ethos trägt die Gedanken und den Ausdruck. Politik und Religion, Freiheits- und Wahrheitssuche sind die Pole, um die sein Sinnen kreist. Damit ist er wirklich „der Briten Poet". Sein Ernst, seine Unerbittlichkeit in dem, was er für wahr erkannt hat, seine tief sittliche Auffassung von Volk und Staat, sein verpflichtender Freiheitsbegriff haben uns heute viel zu sagen. Er veredelt den Glauben an irdische Gerechtigkeit, an den sittlichen Gehalt der Volksherrschaft, und darum ist er uns der Ausdruck des Engländertums in seinem edlen Wollen, männlich und eigenwillig. Er steht nicht abseits vom Getriebe des Tages, sondern mitten darin. Sein Werk ist Tendenzdichtung im guten Sinne, so wie Matthew Arnold und R. W. Emerson nicht müde werden sie zu deuten, die Begründung der moralisierenden Haltung der englischen Dichtung, die das Schöne durch das Sittliche rettet. Was sein Denken und Kämpfen in Fragen der Sittlichkeit, der Religion, der Politik, der Erziehung, des Eherechts usw. der Welt gegeben hat, gehört bereits der Geschichte an oder harrt noch der Verwirklichung. Auf Milton geht der Durchbruch des deutschen Geistes gegenüber dem französischen Einfluß im 18. Jahrhundert zurück. Die bereits 1682 erschienene Übersetzung des „Verlorenen Paradieses" ist die erste Verdeutschung einer englischen Dichtung überhaupt, und mit Bodmers Nachdichtung von 1732 begann der Siegeszug des englischen Dichters in Deutschland, also noch vor der Schilderhebung Shakespeares durch Lessing und Herder. An Miltons heldischem Pathos, an seiner religiösen Inbrunst und seinem Naturgefühl fand der junge Klopstock in einer lateinischen Schulrede das, was den Deutschen frommt; hier und nicht bei den Franzosen erkannte die deutsche Seele die Innerlichkeit, als die zugespitzte Schärfe der französischen Aufklärung abgelehnt wurde. Wenn wir heute das 17. Jahrhundert — Goethe nennt es eine der prägnantesten Zeiten in der englischen, ja in der Weltgeschichte überhaupt — als die Geburtszeit der spezifisch neuenglischen Lebenshaltung erkennen, als die moralische Neugeburt nach der intellektuellen im 16. Jahrhundert, so wird in Miltons Persönlichkeit und seinem
Milton« Verlorenes Paradies
Werk die Vielfalt der Strömungen sichtbar. Wir lesen das „Verlorene Paradies" nicht mehr wie Goethes Zeit lediglich als die Gestaltung eines großen religiösen Vorwurfs, sondern als eine Zeit- und Lebensdeutung, Satan und den Gottessohn als Sinnbilder der großen widerstreitenden Mächte, die in ihrer Polarität den neuzeitlichen Menschen geformt haben. Man fühlt die Abkehr von alten Werten, die Schaffung neuer Ideale und Setzung neuer Ziele. Dienst für sein Volk, das er immer wieder als das von Gott erlesene und erhöhte Volk preist, als den moralischen Gesetzgeber und Richter der Welt, fühlt der Dichter und Streiter als seine Aufgabe: That what the greatest and choicest wits of Athens, Rome, or modern Italy, and those Hebrews of old did for their country, I, in my proportion, with this over and above, of being a Christian, might do for mine; not caring to be once named abroad, though perhaps I could attain to that, but content with these British islands as my world; whose fortune hath hitherto been, that if the Athenians, as some say, made their small deeds great and renowned by their eloquent writers, England hath had her noble achievements made small by the unskilful handling of monks and mechanics. (The Reason of Church Government, 2nd Book, Preface)
Was die größten und erlesensten Geister von Athen, Rom oder dem modernen Italien, was jene alten Hebräer für ihr Land taten, das möchte ich im Rahmen meiner Möglichkeiten und vor allem als Christ für das meinige leisten. Dabei kümmert es mich nicht, ob ich dereinst im Ausland genannt werde, wenn ich vielleicht auch das erreiche; ich begnüge mich aber mit diesen britischen Inseln als meiner Welt. Ihr Schicksal ist es bisher gewesen, daß, wenn die Athener, wie manchmal gesagt wird, ihre geringfügigen Taten durch beredte Schriftsteller groß und berühmt gemacht haben, England seine edlen Leistungen in der ungeschickten Behandlung durch Mönche und Handlanger verkleinert sehen mußte.
Die Renaissance hatte in einer idealisierenden kosmischen Schau den harmonischen Ausgleich für die Spannungen und Widersprüche des Lebens gesucht und gefunden. Das spätere Aufklärungszeitalter erfaßt das Leben gleichfalls einheitlich aus der Wurzel der Vernunft. Das dazwischen liegende Barock gelangt nicht zu einer solchen Einheit in den polaren Spannungen auf religiösem, ethischem und politischem Gebiet. Es ist eine Zeit der Unruhe, der Auseinandersetzungen, wobei die zeitgebundenen Einzelfragen pathetisch verallgemeinert und in das Grundsätzliche erhoben werden. Drängende Kräfte werden entbunden und schaffen Ansätze zu neuem Aufbau und neuen Lebensregeln. John Milton (1608—1674), der als zentrale Gestalt diese ganze Zeit des schweren Ringens zwischen Zerstörung und Aufbau durchlebt, spricht selbst von seinem Zeitalter als der Zeit der Unruhe, des verwirrten Gemeinwesens, der aufgerührten See heiserer Dispute und Lärme, des Zankens und Scheltens. Das politische Einheitsgefühl bekam mit der Thronbesteigung Jakobs I., des landfremden Königs mit mittelalterlich-mystischen Anschauungen vom Gottesgnadentum, den stärksten Riß. Die puritanischen Presbyterianer, die sich von dem selbst im schottischen Presbyterianismus erzogenen König enttäuscht fühlten, wurden in die Opposition gegen die von der Krone unterstützte hochkirchliche Richtung gedrängt, der offene Bruch zwischen Anglikanismus und Puritanismus war da, als 300 Priester wegen Gefolgschaftsverweigerung ihr Amt verloren. Aus der religiösen Gegensätzlichkeit wurde eine politische, die Puritaner und das Parlament wurden die Verteidiger der Volksrechte gegen die Ansprüche und Übergriffe der Krone, Oliver Cromwell der erfolgreiche Führer des Volks in den Kämpfen. Wie geistesgeschichtlich ein Zerfall des Einheitsgefühls der Elisabethzeit in die Spaltungen König und Volk, Trieb und Geist, Naturinstinkt und geistiger Mensch erfolgte, konnte schon an den späteren Dramen Shakespeares gezeigt werden. An Stelle der nationalen Krafteinheit bildeten sich die drei großen Kraftzentren der modernen Welt heraus: Politik, Wirt-
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Schaft und Religion. Milton hat an allen dreien teil; er steht ganz in seiner Zeit und seinem Volk. Als Sprößling eines wohlhabenden und kultivierten Londoner Bürgerhauses konnte der zarte, frühreife und ernste Knabe und Jüngling sich auf Schule und Universität ganz den leidenschaftlich geliebten Büchern und der Musik hingeben. Er erwarb sich eine überragende Beherrschung der alten und mehrerer moderner Sprachen, eine umfassende Kenntnis der Literaturen, eine in systematischen Übungen vervollkommnete Meisterung der poetischen Formen in lateinischer, italienischer und englischer Sprache. Seine Erholung fand er im Orgelspiel, das dem hochgespannten, pathetischen Wesen seines Denkens und Fühlens am besten entsprach. Nach Abschluß der Universitätsstudien genoß er das Glück, sechs Jahre lang in der Stille eines väterlichen Landgutes seine Studien erweitern und vertiefen zu können. Der Gedanke, Dichter zu werden und seinem Volk ein großes Werk schenken zu müssen, war schon seit den Knabenjahren in ihm lebendig; er fühlte eine innere Berufung und faßte seine geistige und menschliche Ausbildung als Vorbereitung auf die hohe Aufgabe auf. Die Worte, die er im „Wiedergewonnenen Paradies" dem Heiland in den Mund legt, sind zugleich ein Selbstbekenntnis: When I was yet a child, no childish play To me was pleasing; all my mind was set Serious to learn and know, and thence to do What might be public good; Myself I thought Born to that end, born to promote all truth. (1,201)
Als ich ein Kind noch war, ergötzte mich Kein kindisch Spiel; mein Geist rang nur nach Bildung, Um einst der Welt zu nützen durch mein Tun. Ich hielt es stets für meines Daseins Zweck, Gerechtigkeit und Wahrheit auszubreiten.
Die bei jungen Engländern aus vornehmem Hause übliche Reise nach Italien, dem gelobten Land der Renaissance, bildete den Abschluß der Bildungsjahre. Sie wurde aber vorzeitig unterbrochen durch die Nachrichten von politischen Wirren in der Heimat. Milton riß sich aus den wertvollsten persönlichen Beziehungen mit Gelehrten und Dichtern los, eilte in die Heimat und wurde bald in den Strom des politischen Lebens gerissen. „Ich hielt es für unwürdig", so berichtet er selbst, „zu meinem Vergnügen im Ausland herumzureisen, während meine Landsleute daheim für die Freiheit kämpften." Beinahe zwanzig Jahre lang entsagte er, der doch nur der Vorbereitung auf sein Dichtertum gelebt hatte, der poetischen Produktion aus dem Gefühl der Pflicht gegen sein um Freiheit und Gerechtigkeit ringendes Volk so gut wie ganz und stellte seine Gelehrsamkeit und Sprachgewalt in den Dienst der gerechten Sache der Puritaner. Der hinreißende Kämpfer und Freiheitsapostel verfaßte persönlich oder in seiner amtlichen Stellung als „lateinischer Sekretär", d. h. Staatssekretär, des Lord-Protektors Cromwell Schriften politischen, kirchenpolitischen, pädagogischen und sozialen Inhalts, die zu den Meisterwerken der englischen Prosa gehören und von einer lauteren, mutigen, männlichen Persönlichkeit zeugen. Als nach dem Tode Cromwells die Republik zusammenbrach und die Stuarts im Jahre 1660 zurückkehrten, bewährte sich die menschliche Größe des verarmten, verlassenen, mit 43 Jahren völlig erblindeten und durch eheliches Mißgeschick noch mehr vereinsamten Dichters in höchster Form. Er ließ sich in seinem Glauben an den Sieg der Idee nicht beirren. Seine Hauptwerke, die beiden großen Epen vom verlorenen und wiedergewonnenen Paradies sowie das antikisierende Drama von Samson dem Kämpfer, sind der vollendetste Ausdruck seines hohen Ethos und des Glaubens an sein Volk und an den Sieg des Guten: „das Bild eines der reinsten und tapfersten Männer aller Zeiten", wie Heinrich von Treitschke gesagt hat. Der Dichter Milton begann als Epigone der Renaissance. Seine feinen Naturbilder der Jugend stellen ihn klar in eine aus dem 16. Jahrhundert kommende Linie hinein,
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und die Totcnklage auf einen ertrunkenen Studienfreund, „Lycidas", eins der vollendetsten und erhabensten Gedichte der englischen Literatur, ist eine pastorale Elegie im Stile Spensers. Aber schon die große Jugendode auf die Geburt des Heilands schlägt neue und eigene Töne an. Christus ist der germanisch empfundene Lichtbringer und Sieger, der die alten Mächte vor sich hertreibt; von Verworfenheit der Menschen und Erlösung ist nicht die Rede. Und wenn in dem Maskenspiel „Comus" eine besondere Gattung der Renaissance aufgegriffen wird, das mit Lyrik und Musik gefüllte Fest- und Weihespiel, so entkleidet es der ernste Dichter nicht nur des komischen Zwischenstücks der sogenannten Antimaske, sondern gibt ihm durch die Sieghaftigkeit des Keuschheitsgedankens auch einen Ideengehalt, der den großen Werken der letzten Periode vorarbeitet. Der ewige Kampf des Guten und des Bösen, der Vernunft und der Leidenschaften, wird das Zentralthema seines Denkens und Dichtens. Milton wurzelt in der Renaissance und begründet die Aufklärung, läßt uns also den Übergang von einem alten zu einem neuen Lebensgefühl in der eigenen Aufgewühltheit am tiefsten empfinden. Er ist der Schöpfer von Kunstformen, Motiven und Sprachgestaltungen, die die ganze folgende Literatur befruchteten, vielleicht überhaupt der größte Stilkünstler Englands. Alles, was folgt, knüpft an ihn an, in erster Linie die romantische Dichtung, ein Zeichen für die Universalität seines dichterischen Genies. Das Verlorene Paradies ist die große Erfüllung seiner Muse, gleich erhaben in Thema, Haltung und Stil. Schon in Knabenpoesien, einem lateinischen Huldigungsgedicht an den Vater und einer englischen Ferienübung, spricht er den Willen aus, sich im Gegensatz zu dem gefälligen Reimgeklingel der Lyrik heiterer Lebensfreude einem würdigen, großen Gegenstand zu widmen, und das Wort von dem erhabenen Auftraggeber in einem der Sonette mahnt immer wieder an die innere Berufung. 40 Jahre hindurch sucht er nach Thema und Bereitschaft, lange zwischen einem historischen und biblischen Stoff, zwischen dramatischer und epischer Form schwankend. Die Zurückgezogenheit nach dem Scheitern der Republik gibt ihm endlich die Muße und Ruhe zum Schaffen. Das Werk entstand in den Jahren 165 8—63 und wurde 1667 in zehn, später (1674) nach Teilung der langen Bücher VII und X in zwölf Büchern veröffentlicht. I . B u c h . Eine große Anrufung der Himmelsmuse im Stil Homers eröffnet das Werk, das von dem ersten Ungehorsam und Fall des Menschen künden und Gottes Wege rechtfertigen soll (Vers 1—26). Es ist neun Tage nach der Vertreibung des Aufrührers Satan und seiner Gefolgschaft aus dem Himmel (50). Satan findet sich nach dem furchtbaren Sturz als erster wieder, erweckt Beelzebub und erörtert mit ihm die Lage. Man geht ans trockene Land, Satan spricht zu seinen in Schlachtfront aufgestellten Anhängern. Mit dem kundigen Blick des Feldherrn überschaut er seine Schar, die göttergleichen Mienen und Gestalten; und Hochmut und Trotz verhärten sein Herz. Die gewaltigsten Streitscharen der Geschichte erlauben keinen Vergleich mit diesem starken Heer: .. . Thus far beyond Compare of mortal prowess, vet observ'd Their dread commander: He, above the rest In shape and gesture proudly eminent, Stood like a tower; his form had not yet lost All her original brightness; nor appeared Less than Archangel ruined, and the excess Of glory obscured: as when the sun, new risen, Looks through the horizontal misty air
. . . Und doch, so weit Erhaben über menschlichen Vergleich, Ihr großer Führer überragte sie An Wuchs und Haltung alle wie ein Turm; Noch hatt' er seinen angebornen Glanz Nicht völlig eingebüßt, ein Engelsfürst Erschien er noch; des Glanzes Übermaß War nur getrübt, so wie die Sonne wohl Beim Aufgang strahlenlos durch Nebel blickt
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Shorn of his beams; or from behind the moon, In dim eclipse, disastrous twilight sheds On half the nations, and with fear of change Perplexes monarchs. Darkened so, yet shone Above them all the Archangel: but his face Deep scars of thunder had intrenched; and care Sat on his faded cheek, but under brows Of dauntless courage, and considerate pride Waiting revenge. Cruel his eye, but cast Signs of remorse and passion, to behold The fellows of his crime, the followers rather (Far other once beheld in bliss), condemned For ever now to have their lot in pain, Millions of spirits for his fault amerced OfHeaven, and from eternal splendours flung For his revolt, yet faithful how they stood, Their glory withered; as when heaven's fire Hath scath'd the forest oaks, or mountain pines, With singed top theirstatelygrowth, though bare, Stands on the blasted heath. (587—615)
Und, wenn vom Mond gedeckt, bei Finsternissen Unheimlich Zwielicht auf den halben Teil Der Erde breitet, das Tyrannenherzen Mit Furcht und Angst erfüllt. Verdunkelt so, Strahlt' er am hellsten doch; sein Antlitz war Vom Donner zwar genarbt, und Kummer zehrte An seinen Wangen, unter Brauen aber Voll Kühnheit, kalter Überlegung, Stolz Und lau'rnder Rache. Grimmig war sein Aug', Und doch verriet es Reu' und tiefen Gram, Die Schuldgenossen, die von ihm verführten, Die er weit anders, selig einst geschaut, Durch seine Schuld verdammt zu ew'ger Qual, Millionen Geister wegen seines Aufruhrs Vom Himmel ausgestoßen, aus dem Reich Des Lichts verbannt — und dennoch treu zu sehn, Noch treu ihm nach geschwund'ner Herrlichkeit: So ragt wohl, ob vom Blitz getroffen, doch Der Stamm der Waldeseich' und Bergestanne, Zwar kahl und angesengten Haupts, noch stattlich.
Man sei wohl stark genug, so meint der Trotzige, den Himmel zurückzuerobern; man könne aber auch ein anderes, neues Gebiet unterwerfen, das jetzt v o n merkwürdigen Wesen bewohnt sei, die Erde. Eine Ratsversammlung der Teufel, das Pandämonium soll zur E r ö r t e r u n g der Frage sofort zusammentreten. Von Anfang an erscheint Satan als die trotzige, innerlich ungebrochene Kämpfernatur, der die Kleinmütigen aufrüttelt: "For who can think submission? War then, war, Open or understood, must be resolved". He spake; and, to confirm his words, out-flew Millions of flaming swords, drawn from the thighs Of mighty Cherubim; the sudden blaze Far round illumined hell; highly they raged Against the Highest, and fierce with grasped arms Clashed on their sounding shields the din of war, Hurling defiance toward the vault of Heaven. (661—669)
„Wer denkt an Unterwerfung? Krieg denn, Krieg, Versteckter oder offner, sei die Losung 1" Er sprach's, und zur Bekräft'gung seines Worts Erhoben flugs die mächt'gen Cherubim Millionen Flammenschwerter, deren Blitz Die Hölle jäh durchzuckte. Wut ergriff Sie wider Gott; sie schlugen mit den Waffen Auf die metallnen Schilde Kriegsgetös' Und brüllten Ausfordrung zum Himmel auf.
II. B u c h . Das Pandämonium unter dem Vorsitz Satans, der den Rat der anderen erbittet. Der politisch erfahrene Dichter gibt uns hier ein bis in Einzelheiten durchgearbeitetes Bild einer parlamentarischen Verhandlung, wie sie seinem hohen Begriff echter Demokratie nicht entspricht, einer scheinbar freien Meinungsbildung, die in
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Wahrheit von dem gewiegten Demagogen von hinten herum dirigiert wird; es ist ja eben der Teufel! Zuerst kommen die kleineren Geister zu Wort. König Moloch tritt für offenen Krieg ein, für klaren, mutigen Angriff (43). Ganz wie ein in höflicher Form geschulter Parlamentarier — „ O Peers" heißt im englischen Text die Form der Anrede an die Versammlung! —beginnt der geschmeidigere, feiner geartete Belial seine Rede mit einer scheinbaren Zustimmung zu der Ansicht des Vorredners (119), um dann das Gegenteil anzuraten. Die Kräfte seien auf beiden Seiten gleich, die Vernunft gebiete, nichts unnötig aufs Spiel zu setzen. Warten wir ab — vielleicht wird das Dunkel und Elend, in dem wir jetzt sind, lichter und für ein Weiterleben ganz annehmbar. Mammon (229) gibt diesem Rat zu „feiger Ruh', Untätigkeit, nicht Frieden" eine etwas männlichere Begründung. Entthronen könne man den Höchsten nicht, und seine Verzeihung zu erbitten wären der Anfang ewigen Sklavendienstes. „Heter Freiheit steh' Uns höher als des Diensts bequemes Joch!" Suchen wir doch lieber aus dem Boden, der uns jetzt trägt, in eigener Arbeit herauszuholen, was er geben kann, um mutig eine neue Existenz aufzubauen. Die einen neuen Kampf scheuende Versammlung stimmt begeistert zu. Die Sache wird also für Satans geheimen Plan gefährlich, die Stimmung droht nach der falschen Seite zu gehen. Da muß Beelzebub vorgeschickt werden, der Zweithöchste nach Satan, der der Vertraute seiner Absicht ist: . . . With grave Aspect he rose, and in his rising seemed A pillar of state; deep on his front engraven Deliberation sat, ana public care; And princely counsel in his face yet shone, Majestic, though in ruin: sage he stood With Atlantean shoulders, fit to bear The weight of mightiest monarchies. (joo—307)
. . . Mit Ernst erhob er sich. Aufrecht, erschien ein Pfeiler er des Staats; Tief eingeprägt auf seiner hohen Stirn Saß Urteilskraft und sorgender Gemeinsinn, Und fürstliche Begabung strahlte noch Von des Gefallnen Antlitz; er stand da, Ein Weiser mit Atlantenschultern, stark, Der größten Reiche Last darauf zu tragen.
Beelzebub weist auf die Möglichkeit hin, den großen Herrn des Himmels empfindlich zu treffen, ohne einen offenen Krieg zu riskieren. Es gebe ja eine neue Welt und neu geschaffene Wesen, Menschen genannt. Diese Geschöpfe könne man ohne Gefahr angreifen und Gottes Lieblingswerk damit zerstören. Der Dichter unterläßt es nicht, darauf hinzuweisen, daß dieser Gedanke dem Redner von Satan selbst eingegeben worden ist und nicht von ihm selbst stammt; „denn von wem als ihm, dem Stifter alles Bösen, konnte so tiefe Bosheit stammen: das Geschlecht der Menschen in der Wurzel zu verderben, in eins zu mischen Holl' und Erdenwelt ?" (380). Jetzt strahlt Freude aus den Augen der Zuhörer, man stimmt dem Redner laut zu. Einen Trumpf aber muß der Regie gemäß dieser noch ausspielen, nämlich die Frage, wer die Fahrt nach der neuen Erde unternehmen soll. Das erweckt Bangigkeit und Stillschweigen, alle sitzen in sich gekehrt und denken an die Gefahren eines so schreckensvollen Unternehmens. Damit ist die rechte Stimmung für das Eingreifen des Führers und Drahtziehers der ganzen Sitzung geschaffen. Satan, „über die Genossen jetzt weit erhöht, mit königlichem Stolz und seines höchsten Wertes sich bewußt" (426), erhebt sich und spricht zu den Fürsten („Peers"). Wie Mark Anton, Shakespeares Demagogentyp im „Julius Cäsar", erbittet er von seinem Publikum als Gunst das, was er längst beschlossen hat. Man solle ihm erlauben, die gefährliche Fahrt ganz allein zu unternehmen; er habe das Königsamt mit seiner Macht und seinem Glanz getragen, und da gehöre es sich auch, daß er die größten Gefahren auf sich nehme. Er steht schnell auf und schneidet jede Antwort „klüglich" ab (467), damit nicht etwa ein andrer, der das Wagnis gern unternommen hätte, Satans Haltung aber als Verbot empfindet, sich noch melden kann. Satan ist eben „der gefürchtete Monarch der Hölle" (511). Das Ergebnis der Beratung wird den anderen gefallenen Engeln mit-
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geteilt. Man geht auf verschiedenen Wegen auseinander, die einen in die Hölle, die uns jetzt näher beschrieben wird (643 ff.), andre in das Chaos. Satan macht sich auf den Weg zu der neu erschaffenen Welt (629ff., 1030). III. Buch. Nach den grausigen Bildern aus den höllischen Gefilden des Dunkels werden wir in den Himmel, das Reich des Hellen, geführt. Eine große Anrufung des Lichts klingt mit den Worten des blinden Dichters, der schon in dem berühmten Sonett auf seine Blindheit eine hoheitsvolle Ergebenheit in sein Schicksal bekundet hat, besonders ergreifend. Der Allmächtige sieht Satan und zeigt ihn dem Sohne (j6ff.). Er weiß, daß der teuflische Anschlag auf den Menschen gelingen wird, aber auch, daß der Mensch gerettet werden kann, wenn sich ein Erlöser findet. Der Sohn erbietet sich zu dem Opferwerk (236), dessen Größe die himmlischen Heerscharen preisen (347). — Dann Szenenwechsel. Satan hat die Oberfläche des Weltalls erreicht (499), steigt in das Innere (540) und gelangt in den Bereich des Sonnensystems. In Gestalt eines Engels erfragt er von dem Sonnengeist Uriel den Weg zur Erde. Arglos, ohne den Heuchler zu erkennen, gibt Uriel Auskunft über die Bahnen der Gestirne und den Standort der Erde. I V . Buch. Auf dem Berg Niphates, schon im Angesicht Edens, rastet Satan, von widerstreitenden Gefühlen geschüttelt; er ist ja die verkörperte Leidenschaft, und jetzt brechen Reue und Zorn über seinen Abfall in ihm los (iyff.). Eine weitgespannte Haßrede gegen das Reich des Hellen (32fr.) bringt eine Art Gegenstück zu dem Preis des Lichtes im Anfang des III. Buches. Die Leidenschaft verzerrt das Gesicht des angeblichen Engels (116), und an diesem Ausbruch erkennt ihn der Sonnenfürst Uriel (124), dessen wachsames Auge ihm gefolgt ist. Satan überschreitet den Bezirk des Paradieses und läßt sich in Gestalt eines Seeraben auf dem höchsten Baum des Paradieses, dem Baum des Lebens, nieder, um den herrlichen Garten zu überschauen. Die edlen Gestalten der Menschen machen starken Eindruck auf ihn (288). Er hört, was sie von dem Baum der Erkenntnis sagen (41 iff.) und schaut mit Neid und Eifersucht auf das Bild der einen, unschuldsvollen Liebe dieser schönen Wesen (502). Neid kann Satan empfinden, denn er hat ja selbst früher den Himmel erlebt, innerlich wie die neuen Geschöpfe Gottes, und trägt seit seinem Abfall die Hölle in sich, ähnlich wie es Mephistopheles bei Marlowe in einem tiefen Zwiegespräch mit Faust bekennt. Der tragische Kern der Satansgestalt wird hier bereits sichtbar. Der scharfe Verstand zeigt dem Verführer aber auch sofort, wo er einsetzen kann: das göttliche Verbot, von dem Baum der Erkenntnis zu essen, gibt den Angriffspunkt (515). Inzwischen ist Uriel auf einem Sonnenstrahl herniedergestiegen, um Gabriel, den Bewacher der Paradiesespforte, vor einem eingedrungenen Höllengeist zu warnen; Gabriel verspricht, ihn bald zu entdecken. Die Nacht senkt sich mit ihrem ganzen Zauber herab. Now came still Evening on, and Twilight gray Had in her sober livery all things clad; Silence accompanied, for beast and bird, They to their grassy couch, these to their nests Were slunk, all but the wakeful nightingale, She all night long her amorous descant sung. Silence was pleased: now glowed the firmament With living sapphires: Hesperus, that led The starry host, rode brightest, till the moon, Rising in clouded majesty, at length Apparent queen, unveiled her peerless light, And o'er the dark her silver mantle threw. (598—610)
Nun kam der stille Abend; falbes Zwielicht Verhüllte rings die Welt mit ernstem Grau; Ihm folgte Schweigen; Tier' und Vögel ruhten, Auf Rasen jene, dies' in ihrem Nest. Die Nachtigall allein blieb wach; sie sang Ihr zärtlich Lied die ganze Nacht hindurch, Und Stille lauscht' ihr gern. Das Firmament Erglühte von Saphiren; Hesperus Schritt vor, des Sternenheeres glänzendster, Bis Luna mit umwölkter Majestät Aufstieg, doch bald, das Angesicht entschleiernd, Ihr Silberkleid dem Dunkel überwarf.
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Adam und E v a gehen zu ihrem Lager und zu echter, reiner, ehelicher Vereinigung, schön in ihrer unschuldsvollen Nacktheit, „noch frei von unsrer lästigen Vermummung" : . . . Nor turned, I ween, Adam from his fair spouse, nor Eve the rites Mysterious of connubial love refused: Whatever hypocrites austerely talk Of purity, and place, and innocence, Defaming as impure what God declares Pure, and commands to some, leaves free to all. Our Maker bids increase; who bids abstain But our destroyer, foe to God and man? Hail, wedded Love, mysterious law, true source Of human offspring, sole propriety In Paradise, of all things common else. By thee adulterous lust was driven from men Among the bestial herds to range; by thee Founded in reason, loyal, just, and pure, Relations dear, and all the charities Of father, son, and brother,firstwere known. Far be it, that I should write thee sin or blame, Or think thee unbefitting holiest place, Perpetual fountain of domestic sweets, Whose bed is undefiled and chaste pronounced, Present, or past, as saints and patriarchs used. These, lulled by nightingales, embracing slept, And on their naked limbs the flowery roof Showered roses, which the morn repaired. Sleep on, Blest pair I and, O! yet happiest, if ye seek No happier state, and know to know no more! (741—775)
. . . Nicht wandte sich, mich dünkt, Von seiner schönen Gattin Adam ab; Noch weigert Eva den Geheimnisdienst Eh'licher Liebe. Denn was Heuchler auch Von Reinheit, Ort und Unschuld pred'gen mögen, Als unrein schmähend, was Gott rein erklärt Und allen zuläßt, ein'gen selbst befiehlt: Fortpflanzung will der Schöpfer; drum ist, wer Enthaltung vorschreibt, Gott und Menschen feind. Heil, Gattenliebe, wunderbar Gesetz, Heil dir, der Menschheit wahrer Born und ihr Alleinig Eigentum im Paradiese I Du banntest von dem Menschen rohe Lust, Die zuchtlos unter Tieren schweift; du hast, Gegründet auf Vernunft und Pflichtgefühl, Zuerst die zärtlichen Verwandtschaftsbande Von Vater, Sohn und Bruder angeknüpft. Fern sei's, daß ich dich Schuld und Sünde nenne Und einen Ort zu heilig acht' für dich, Lebend'ge Quelle häuslich süßen Glücks! Dein Lager galt für keusch und unbefleckt selbst Patriarchen stets und Heiligen. Von Nachtigallen eingesungen, schlief Dies Paar; auf ihre Glieder streute Rosen, Vom Morgen neu ersetzt, das Blütendach. Schlaft sanft, ihr Glücklichen: glückselig noch, Weil ihr kein höh'res Glück und Wissen sucht!
Satan will das Weib im Traume versuchen, die Größe und Reinheit ihres Glücks aber hält den Verführer fern, der von Gabriel verscheucht wird (1013). V. B u c h . Ein andres Bild der ersten Menschen: Arbeit, Anbetung, Gottesdienst. E v a hat einen beunruhigenden Halbtraum gehabt (5of.), in dem die Möglichkeit einer Übertretung des göttlichen Gebotes schon anklingt. Der festere Adam aber beruhigt sie. Die Frage nach dem Wesen und Ursprung des Bösen, also das die Zeit Miltons so stark beschäftigende Problem der Theodizee, klingt an (99); die schweifende Phantasie als eine der „niederen Seelenkräfte" kann den wachen Sinnen gefährliche Bilder und Gelüste zuführen, wenn die Vernunft schläft. Ist sie aber wach, die mit der Natur einhergeht, dann ist keine Gefahr, dann kann uns das Böse nichts anhaben. In voller Ruhe und Ausgeglichenheit erheben Adam und E v a ihre Stimme zu einem herrlichen Gebet, einem sprachgewaltigen Hymnus auf die Allmacht des Schöpfers (153!?.). Auf 12 Die Stimmen der Meister
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Gottes Geheiß kommt der Erzengel Raphael, um jetzt, auf der Höhe ihres Glücks, die dankerfüllten Menschen vor dem Bösen zu warnen (5 20). Der Mensch hat also die Entscheidung; wenn er fällt, so tut er es wissentlich. Adam soll genau über seine Bestimmung und seinen Platz im großen Schöpferplan Bescheid wissen. Deshalb erklärt ihm Raphael jetzt den Zusammenhang aller Dinge und den Abfall Luzifers. Die der Technik der antiken Epik entsprechende nachholende Erzählungsform wird also mit besonderem Bedacht gehandhabt und innerlich begründet. Für die philosophischen Grundlagen der ganzen Dichtung sind Raphaels Lehren von Wichtigkeit. Gott hat alle Wesen aus einem Urstoff geschaffen; Materie und Geist sind nicht wesenhaft getrennt, sondern nur Entwicklungsstufen derselben Substanz, die, je näher sie zu Gott gelangt, das Stoffliche immer mehr in das Geistige erhöhen kann. Des Baumes Wurzel stellt das rein Stoffliche dar, wie der Dichter in einem treffenden Bilde sagt: . . . So from the root Springs lighter the green stalk, from thence the leaves More aery, last the bright consummate flower Spirits odorous breathes. (479—482)
Aus Wurzeln keimt der Stengel lichter schon, Noch luftiger das Blatt, und geist'gen Duft Haucht die gereifte Blüte.
Vernunft und Phantasie sind die Kräfte des Menschen, die ihn über das Tierische erheben, ihr Ausdruck ist die Sprache, bei den Engeln ein innerliches Schauen. Die Zeit mag kommen, wo die Menschen voll durchgeistigt sind und ohne Erdenschwere mit den Engeln durch den Äther schweben. Der Gehorsam gegen Gottes Gebot ist aber die Vorbedingung, unwandelbare Treue und Liebe zu dem, der alles geschenkt hat. Gott hat das Glück geschenkt, vom Menschen selbst hängt es ab, ob es ihm verbleibt, ob er gehorsam und treu bleibt. God made thee perfect, not immutable; And good he made thee; but to persevere He left it in thy power—ordained thy will By nature free, not over-ruled by fate Inextricable, or strict necessity. Our voluntary service he requires, Not our necessitated. Such with him Finds no acceptance, nor can find; for how Can hearts not free be tried whether they serve Willing or no, who will but what they must By destiny, and can no other choose? (524—534)
Gott schuf dich gut, dochnicht unwandelbar; Gut zu verharren überließ er dir, Und deshalb schuf er deinen Willen frei, Nicht streng beherrscht durch die Notwendigkeit Noch durch ein unausweichliches Geschick. Freiwilligen Dienst verlangt er, nicht erzwungnen; Wie könnt' er an erzwungnem Dienste wohl Gefallen finden, und wie läßt ein Herz Sich prüfen, ob es gern ihm dient, ob nicht, Wenn, unfrei, was das Schicksal will, es muß, Wenn ihm nicht eigne Wahl verbleibt?
So lag es in dem Plan dessen, der aus dem Chaos den Kosmos schuf (5 76 ff.), der Grade, Ordnungen und Führerschaften setzte (590), der das neue Gesetz des Gehorsams erließ (679), dem als erster Satan Widerstand leistete. V I . Buch. Fortsetzung der Schilderung des Aufruhrs, den Michael und Gabriel zu bekämpfen haben, der aber erst durch das Eingreifen des Messias, der mit der Macht des Vaters angetan ist, siegreich niedergeschlagen werden kann. Der Gottessohn als Streiter und Triumphator im Kampf gegen das Böse! Schlachtenbilder von gewaltiger Kraft, so wie sie dem das Weltall erschütternden himmlischen Krieg entsprechen, werden entrollt, apokalyptische Mächte sind entfesselt und werden schließlich gebändigt (207fr., 547ff.). Das Warnungsmotiv klingt zum Schluß noch einmal an (893).
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V I I . B u c h. Dann beschreibt Raphael den aufmerksam, verwundert und gedankenvoll lauschenden ersten Menschen das große Werk der Schöpfung (5off., 230ff.). Gott wird der Allbeweger genannt („the great First M o v e r " im englischen Text, 500); von dem „primus motor" sprach die Theologie des Deismus, die die Weisheit und Majestät des Schöpfers und Bewegers aller Dinge außerhalb der Welt thronen und in das Einzelgeschehen nicht eingreifen ließ. Die hohe Sprachgewalt des Schöpfungsberichts ist uns in vielen Einzelbildern aus Haydns „Schöpfung" vertraut, deren Text auf Milton beruht. V I I I . B u c h . Adam will noch mehr erfahren vom Himmel und den Sternen, von den Vorgängen in anderen Welten, erhält aber abweisende Antworten. ' . . The rest From man or Angel the great Architect Did wisely to conceal, and not divulge His secrets, to be scanned by them who ought Rather admire. (71—75)
Vor Mensch und Engel barg das übrige Der große Meister weislich als Geheimnis, Daß er bewundert, nicht bekrittelt werde.
Solicit not thy thoughts with matters hid: Leave them to God above; him serve and fear. Of other creatures as him pleases best, Wherever placed, let him dispose; joy thou In what he gives to thee, this Paradise And thy fair Eve; Heaven is for thee too high To know what passes there. Be lowly wise; Think only what concerns thee and thy being; Dream not of other worlds, what creatures there Live, in what state, condition, or degree— Contented that thus far hath been revealed Not of Earth only, but of highest Heaven. (167-178)
Nach so verborgnen Dingen grüble nicht I Sie stelle Gott anheim und seinem Walten! Ob er, und wo, auch andre Wesen schuf, Gehorch' und dien' ihm und genieße froh, Was er dir zugeteilt: dies Paradies, Mit deiner holden Eva. Himmlisches Steht dir zu hoch und fern; bescheide dichl Denk' über dich nur und dein Dasein nach, Und träume nicht von überird'schen Welten Noch von Geschöpfen dort und ihrer Art, Begnügt mit dem, was von der Erd' ich dir Und selbst vom höchsten Himmel offenbarte.
Adam berichtet dann selbst von seinen ersten Tagen, wie er sich des Lebens bewußt wurde, wie er E v a fand, wie der Herr das Verbot des Baumes der Erkenntnis aussprach. Seit der Erschaffung des Weibes kennt er Freude und starke Gefühle, „kurz, die Stimme der Natur, wiewohl von sündigen Gedanken rein" (502). In der Nähe der Gattin erwachen Freude und Leidenschaft, aber das Weib bändigt sie, denn All higher Knowledge in her presence falls Degraded; Wisdom in discourse with her Loses, discountenanced, and like Folly shows; Authority and Reason on her wait, As one intended first, not after made Occasionally; and, to consummate all, Greatness of mind and nobleness their seat Build in her loveliest, and create an awe About her, as a guard angelic placed. (5 51—559)
Vor ihr wird alles höh're Wissen Schaum; Die Weisheit im Gespräch mit ihr verliert Und weicht beschämt und sieht der Torheit gleich; Ihr huld'gen sowohl Ansehn wie Vernunft, Als sei sie vorbedacht im Schöpfungsplan, Nicht später erst gelegentlich erschaffen; Kurz, Seelengröß' und Adel baun in ihr Den schönsten Thron und gürten sie mit Scheu Gleich einer aufgestellten Engelshut.
Der Engel mahnt nochmals, bevor er Abschied nimmt (561). So stellt Milton das Problem mit der freien Entscheidung des Menschen ganz klar hin. I X . B uch. In prachtvollem Aufbau vollzieht sich das Seelenbild, das den Sündenfall begleitet, in einer ganz unbiblischen, gedanklich sehr vertieften Motivierung. 12"
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Die beiden Menschen gehen an ihre Arbeit, nach Evas Vorschlag an getrennte Plätze (214). Nochmals ertönt das Warnungsmotiv (252), nochmals wird die Freiheit des Willens betont (3 51), damit die nachfolgende Entscheidung in ihrer Bedeutung recht klar wird. Für das Denken des Puritaners war das Weib die geistig unterlegene, der Führung des Mannes überantwortete Gefährtin. Eva empfindet diese Schwäche bei der Trennung von dem Gatten als Waffe; denn welcher stolze Feind wird die Schwächere zuerst angreifen? Die Verführung wird uns in einem psychologisch fein gegliederten Aufbau vorgeführt (380fr.). Satan freut sich, das Weib allein zu finden (423). E r spürt mit Neid den Eindruck ihrer Schönheit, von dem er sich im Gedanken an sein Vorhaben mit Gewalt losreißen muß (45 7 ff.). Mit Absicht meidet er den Mann, dessen größere geistige Kraft er fürchtet (481). Die Versuchungsszene verläuft in klaren Stufen: a) Schmeichelei (5 3 2 ff.), b) Erzählung seines eigenen Erlebnisses mit dem verhängnisvollen Baum der Erkenntnis (5 71 ff.), c) Gang zu dem Baum (626 ff.), d) Spott über die angebliche Macht des Menschen und Appell an seinen Stolz (6 5 6 ff.), schließlich e) die Hauptrede nach Art geschickter Rhetoren des Altertums (664 fr.): Gott wird nicht zürnen, sondern euren Mut loben (693); er hat euch vielleicht nur aus Furcht klein und unwissend halten wollen (703); sind denn Götter wirklich so erhaben? (716), vielleicht nur neidisch I (729 f., 781) Eva ist gewonnen, das Furchtbare geschieht. Mit zwei kurzen Versen, in knapper, hämmernder Einsilbigkeit berichtet es der Dichter, fast den Atem anhaltend, bis dann nach einer deutlich fühlbaren schweren Fermate das Brausen durch das All geht: So saying, her rash hand in evil hour Sie sprach's — und langte hastig nach der Frucht — Forth-reaching to the fruit, she plucked, she Unsel'ger Augenblick I—sie pflückt' und eat. aß. Die Erd' empfand den Riß, und die Natur Earth felt the wound, and Nature from her seat, Sighing through all her works, gave signs of Bezeigte tief erseufzend ihren Schmerz, woe That all was lost. Back to the thicket slunk Daß alles nun verloren war! Zurück The guilty serpent, and well might, for Eve, Ins Dickicht schlich die schuld'ge Schlange; Eva, Intent now on her taste, nought else Ganz im Genuß versenkt, bemerkt' es nicht. Regarded. (780—787) Sie beschwichtigt das sich meldende Gewissen beim Anblick des wundersamen Baumes (79 5 ff.). Gott ist ja so fern (811)! Aber was wird sie Adam sagen (816)? Als sie vor ihm steht, berichtet sie mit der gespielten Harmlosigkeit eines Kindes, das etwas zu verbergen und zu beschönigen hat (856fr.), mit „Fieberglück auf ihren Wangen". E r aber steht tief erschüttert, „bleich und starr vor Schreck" (889), wortlos im Gegensatz zu der wortreichen Sünderin. Seine erste Empfindung ist tiefe und echte Liebe zu der Unseligen (896 fr.). E r sieht als der Überlegene das kommende Unheil und schaut ihm frei in die Augen, weil er seiner Liebe jedes Opfer zu bringen bereit ist. Eva empfindet das Glück dieser Liebe noch höher als die Süße der genossenen Frucht: O glorious trial of exceeding love, Illustrious evidence, example high I Engaging me to emulate; but short Of thy perfection, how shall I attain, Adam? from whose dear side I boast me sprung, And gladly of our union hear thee speak,
Glorreiche Probe, glänzender Beweis, Erhabnes Vorbild höchster Liebestreu'! Nacheif'rung heischt dies; aber, Adam, wie Schwing' ich zu deiner Größe mich empor? Vereint mit dir zu bleiben, meine Wonne 1
Miltons Verlorenes Paradies
One heart, one soul in both; whereof good proof This day affords, declaring thee resolved, Rather than death, or aught than death more dread, Shall separate us, linked in love so dear, To undergo with me one guilt, one crime, If any be, of tasting this fair fruit; Whose virtue (for of good still good proceeds, Direct, or by occasion) hath presented This happy trial of thy love, which else So eminently never had been known. (961—976)
Ein Herz und eine Seele sind wir ja; Wie schön bezeugt dies heute dein Entschluß: Eh' Tod, wohl gar noch Schrecklichere als Tod Uns, so beglückt durch Liebe, scheiden soll, Dich eher auch mit Sünde zu beladen — Wenn's sündhaft ist, zu essen diese Frucht, Durch deren Kraft (denn Gutes zeugt, sei's bald, Sei's mittelbar, stets Gutes I) ein Beweis Von deiner Liebe mir geboten ward, Wie sonst es nie so herrlich war' geschehen.
Mit Bedacht malt der Dichter die schöne Empfindung breit aus, um Adams Fall trotz aller Warnungen des Engels zu begründen. Adam verstößt gegen Gottes Gebot im vollen Bewußtsein der Sünde: . . . He scrupled not to eat, Against his better knowledge, not deceived, But fondly overcome with female charm. Earth trembled from her entrails, as again In pangs, and Nature gave a second groan; Sky loured, muttering thunder, some sad drops Wept at completing of the mortal Sin Original; while Adam took no thought, Eating his fill, nor Eve to iterate Her formal trespass feared, the more to soothe Him with her loved society; that now, As with new wine intoxicated both, They swim in mirth, and fancy that they feel Divinity within them breeding wings Wherewith to scorn the Earth. But that false fruit Far other operation first displayed, Carnal desire inflaming. He on Eve Began to cast lascivious eyes; she him As want only repaid; in lust they burn. (997—1015)
Und er, obgleich des Unrechts sich bewußt, Er aß, nicht hintergangen, nicht getäuscht, Nein, Weibesreizen töricht unterliegend! Der Erde Schoß erbebte wiederum, In neuen Ängsten stöhnte die Natur, Dumpfdonnernd weinte der betrübte Himmel — Der Todessünden erste war vollbracht. Doch Adam achtet's nicht; er aß mit Gier. Auch Eva wiederholte das Vergehn, Um durch gesell'gen Mitgenuß noch mehr Ihn zu gewinnen. Beide schwammen bald In Jubel, wie von neuem Weine trunken; Schon wähnend, es erzeuge Göttlichkeit In ihnen Flügel und sie schwebten leicht, Der Erde Schranken spottend, himmelan. Doch andre Wirkung tat die falsche Frucht! Sie weckte brünstige Sinnenlust; begehrlich Flammt Adams Blick auf Eva, den ihr Aug' Gleich lüstern wiedergab; sie tauschten Glut.
Die Sinnlichkeit siegt über die Vernunft, die beiden Menschen vereinigen sich jetzt in sinnlicher, schuldiger Liebeslust, „bis dumpfer Schlaf die vom Genuß Erschöpften überfiel", ein Schlaf, aus dem sie unerquickt erwachen (io34ff.). Wie anders ist das alles gegenüber dem früheren Liebesglück und dem Erwachen am Morgen, als „Vernunft und Pflichtgefühl" die rohe Lust bändigten und die keusche Gattenliebe jubelnd herrschte (IV, 751 ff., V , 3). Milton empfindet eine religiöse Ehrfurcht vor dem Wunder der ehelichen Quellen des Lebens. E r hat keine Liebesgedichte geschrieben, das Mysterium der Gattenliebe aber herrlich gefeiert. Das Weib ist dem Manne geistig unterlegen, das Mal der Herrschaft über andere ist ihm schwächer aufgeprägt; und doch fühlt der Mann die Sieghaftigkeit der Anmut als Schutz und Waffe, als Seelengröße und Adel: „Ihr huld'gen sowohl Ansehn wie Vernunft" (VIII, J 4 4 f f ) . Nur wenn diese Kraft ihre Grenzen überschreitet und die Vernunft betäubt, wird Natur
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IV. Barock und Aufklärung
zum unseligen Trieb, zur Schuld (IX, 1075fr., 1088, 1100, 1114, 1122ff.). Z u spät kommt die Reue (1180), ewige und nutzlose Unruhe zieht in die Herzen der früher so Friedfertigen ein (1189). Mit großartigem Wurf ist Satan gezeichnet, der Kenner der Seelen, der wohl überlegt und den Ansatzpunkt für sein Werk schnell entdeckt. Er ist ein Kämpfer, ein Gefäß der Leidenschaften — Zorn, Reue, Bewunderung, Neid, Haß in schnellem Wechselspiel — , ein Bild des überlegenen Verstandes, der seine Rede abzutönen weiß bis zum virtuosen Spiel der Verstandeskräfte (75off.). Er ist stärker vermenschlicht als der geradlinig schlichte Adam. Der neue Satanismus, den wir schon bei Marlowes Mephistopheles aufkommen sahen, hat ein Gefühl für die tragische Verstrickung des gefallenen früheren Engels. Miltons Sprachgewalt hat eine Fülle der Töne zur Verfügung: die kalte Doppelzüngigkeit des Verführers, Evas nervöse Selbstbeschwichtigung und Schmeichelei, Adams tiefe Liebe, die wuchtige Einsilbigkeit der entscheidenden Tat (781). Nachdrückliche Worthäufungen, erregte Reden, Retardierungen bei Höhepunkten (782fr., 888, 1001 ff.), Lautwirkungen durch Stabreim und Vokalklänge, die nur in der Originalsprache wahrnehmbar sind, zeugen von der inneren Beteiligung des schaffenden Dichters. X . B u c h . Gott steigt herab und verkündet das Strafgericht (1090"., 157, 175fr.). Satan glaubt dem Pandämonium seinen Triumph verkünden zu können. D a aber werden alle gefallenen Engel plötzlich in niedere Reptilien verwandelt (5 04 f.). Sünde und Tod ergreifen Besitz von der Erde (272 fr.), so wie Gott es vorausgesagt hatte (IV, 427). Adam und Eva verzehren sich in reumütigem Gebet (720fr., 914fr.). Sie finden Trost in der Arbeit (1055); Arbeit und Fleiß als Segen — eine puritanische Umdeutung der biblischen Uberlieferung, nach der die Arbeit Fluch und Strafe für den Sündenfall ist. X I . B u c h . Der Sohn Gottes bittet für die reumütigen Menschen. Gott erkennt die Fürbitte an, kann die Gefallenen aber nicht im Paradies belassen. Michael wird ausgesandt, um die Ausweisung zu bewirken, zugleich aber Adam die Zukunft zu enthüllen und die Erlösung zu verheißen. V o n der Höhe eines Berges aus sieht Adam in einem lang aufgerollten Bild die Geschichte der Menschheit bis zu der großen Flut (466fr.), Bilder des Elends, der Not, des Todes. Miltons Kritik der Zustände seiner Zeit findet hier starken Ausdruck. Mit der Haltung des ernsten Anklägers und Warners zeichnet er die Hauptetappen einer verhängnisvollen Kulturentwicklung: die Entstehung der Stände (557fr.), Sittenverderbnis (620) und Krieg (638), namentlich Bürgerkrieg (661, 713, 787fr.). X I I . B u c h . Weiterer Bericht Michaels: die Ereignisse nach der großen Flut bis zum Kommen des Gottessohnes. Durch Adams Fall ist die Freiheit verloren (8off., 285). Wir hören aber die hohe und tröstende Lehre: reinige, veredle dein Selbst, dann wirst du ein Paradies, ja ein schöneres als das erste, in dir selbst finden; es ist die puritanische Lehre von der Pflicht der Verinnerlichung durch gute Werke. In der Liebe finden die aus dem Paradies vertriebenen Menschen Trost und Glück (615 f.). Der Erzengel führt sie hinaus. Durch die unendlichen Räume des Himmels, der Hölle, des Weltalls sind wir geschritten. Jetzt sind wir wieder auf der Erde, aber auf einer veränderten Erde. Wir sind bei zwei kleinen Menschen, die geirrt haben, wie Menschen fortan immer irren werden, und die nun Hand in Hand hinausschreiten in die vor ihnen ausgebreitete Welt, um dort nach eigener Wahl zu leben und zu handeln. Der Weg der Menschheit beginnt. In der ruhigen Schönheit Miltonscher Resignation, die gemischt ist mit innerer Sicherheit, klingen die ergreifenden letzten Verse aus:
Miltons Verlorenes Paradies
. . . From the other hill To their fixed station, all in bright array, The Cherubim descended, on the ground Gliding meteorous, as evening mist Risen from a river o'er the marish glides, And gathers ground fast at the labourer's heel Homeward returning. High in front advanced, The brandished sword of God before them blazed, Fierce as a comet; which with torrid heat, And vapour as the Libyan air adust, Began to parch that temperate clime; whereat In either hand the hastening Angel caught Our lingering parents, and to the eastern gate Led them direct, and down the cliff as fast To the subjected plain — then disappeared. They, looking back, all the eastern side beheld Of Paradise, so late their happy seat, Waved over by that flaming Drand; the gate With dreadful faces thronged and fiery arms. Some natural tears they dropped, but wiped them soon; The world was all before them, where to choose Their place of rest, and Providence their guide. They, hand in hand, with wandering steps, and slow, Through Eden took their solitary way. (626—649)
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. . . von dem Hügel, Wo sie gelagert waren, zogen jetzt In lichten Reih'n die Cherubim herab, Als flüchtig Luftgebild' den Boden streifend, So wie dem Fluß entstieg'ner Abendnebel Sich übersMoor dehnt und demAckersmann, Der heimwärts geht, sich an die Fersen hängt. Hoch loderte, ein grimmiger Komet, Vor ihrem Zuge Gottes Flammenschwert, Und sengend heiß wie Libyens Wüstendunst Begann die milde Luft zu glühn. Der Engel Nahm eiligst unser zögernd Elternpaar An seine Hand, geleitete sie schnell Durchs Tor im Osten, dann den Fels hinab Bis unten an die Eb'ne, und verschwand. Umschauend sah'n sie, ach, das Paradies — Ihr Wonnesitz noch eben — überwogt Von Glut und Flammen, und das Tor umdrängt Von feur'gen Schreckgestalten. Unwillkürlich Vergossen sie da Tränen, die jedoch Bald wieder trockneten. Der Erde Raum Bot sich zur Wahl des neuen Wohnorts dar, Und Gottes Vorsehung war ihr Geleit. So nahmen, Hand in Hand, mit Wanderschritten Durch Eden langsam, still sie ihren Weg.
Die Übersetzung trifft hier nicht ganz die melodische, durch Stabreime, Vokalklänge und durch elegisch gleitende Worte am Schluß erhöhte Schönheit des Originals. Des Menschen erster Ungehorsam (I, 1) ist das Gesamtthema der Dichtung, der grundlegende Verstoß gegen Gottes Gebot und Ordnung. Dazu mußte der Wille des Menschen als frei angenommen werden, denn sonst könnte er nicht falsch wählen. In den Prosaschriften unsres Dichters kehrt das Thema von der Freiheit immer wieder, Freiheit des sittlich erhöhten Menschen im Gegensatz zu bloß triebhafter Zügellosigkeit. In einer für das Verständnis des großen Epos hochwichtigen lateinischen Prosaschrift über die christliche Lehre bringt der Dichter seinen ethischreligiös fundierten FreiheitsbegrifF in Verbindung mit der calvinistisch-puritanischen Prädestinationslehre; Gottes Gnadenwahl wird den Menschen zuteil, die in richtiger Erfassung und Übung ihrer Freiheit den guten Weg gehen. Milton weicht in diesem entscheidenden Punkt von der puritanischen Auffassung ab, die die Vorherbestimmung ganz im Sinne Calvins versteht und dann folgerichtig die Willensfreiheit leugnet. Im „Verlorenen Paradies" vertieft sich das sittliche Ideal zu einer Gemeinsamkeit von Freiheit und Bindung an das große Gesetz der Welt (V, 512, 679). Der Mensch fühlt die geheimen Gesetze der Weltordnung kraft seiner Vernunft lebendig in sich und empfindet sie als Richtschnur seines Wollens. Erst damit gelangt er zur echten Freiheit, die eine verpflichtende, innere Freiheit ist, die gern geübte freie Ein-
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Ordnung in die Gesetzmäßigkeiten. Adam steht unter Gottes Gebot, Eva unter dem des Gatten. Darin liegt die Schönheit und das Glück ihres Daseins, auch die Ruhe und Sicherheit. Als Satan sie zur Nichtachtung dieser Bindungen verfuhrt hat, kommen Unruhe, Friedlosigkeit, Kummer in das Leben. So empfand der ernste Dichter sein eigenes Leben und die Verpflichtung zu seinem Werk für seinen Gott und sein Volk. Hat das Geschehen der Welt, das uns oft so sinnlos erscheint, wirklich einen Sinn? Sind Gottes Wege mit den Menschen, die wir nicht verstehen, wirklich zu rechtfertigen (I, 25)? Das war die Ausgangsfrage, die sich unmittelbar an den Menschen in seinem Lebenskampf wendet; das Epos ist also nicht religiöse Bekenntnisdichtung eines Menschen, der ganz persönlich mit seinem Gott Zwiesprache hält. Das Geschehen hat einen Sinn. Beugung unter Unwürdiges bringt Übel. So hatte es das englische Volk getan — die Dichtung hat einen großen politischen Sinn. Staatsbürgertum ist für Milton die freiwillige Beugung aller unter das von Gott gegebene Gesetz. Das Gesetz der Bräuche ist unvollkommen, ja sogar das Gesetz der Sittlichkeit, weil der Mensch beiden nie voll genügen kann. Wer aber das Bild der Wahrheit in sich trägt, wer vom Fleisch zum Geist, „vom Zwang der Pflicht zu frei erfaßter Gnade, von knecht'scher Furcht zu kindlichem Gehorsam und vom Gesetzes- zu dem Glaubenswerk" aufsteigen kann, wer also aus freier, reiner, von der Vernunft eingegebenen Hingabe Einordnung und Beherrschung üben kann, der dient der Gemeinschaft und findet das eigene Glück. Darum hat nicht der starre Gesetzesmann Moses sein Volk in das gelobte Land führen dürfen, sondern Josua; sein Name bedeutet ja dasselbe wie der des Erlösers Jesus, der die Menschen nach langer Wandrung durch die rauhe Welt zum Eden ewigen Friedens bringt (XII, 297^.). Der Dichter prägt in seinem Traktat über die Ehescheidung (Schluß des VI. Kapitels) das schöne Wort: „Die Liebe ist die Erfüllung aller Gebote." Eine solche Auffassung verbürgt die Reinheit des öffentlichen Lebens. Miltons eigene politische Tätigkeit führt zu dem Gehalt seiner Dichtung; er verkörpert die ethische Seite des Engländertums in der Reinheit des Wollens. Seine Sittlichkeit kommt nicht aus dem Metaphysischen, sie ist praktisch-rational (VIII, 71, 167). Ein großes rationales System liegt auch seiner Auffassving des Alls zugrunde, unchristlich in seinem Aufbau. Gott ist das Allumfassende, die Vollendung, das Absolute, wie ein späteres Denken es gern nannte. Gott ist alles und überall. Wir haben es also mit einer Ontologie zu tun, in der pantheistische Keime stecken. Milton trennt sich, wie der schon erwähnte Traktat über die christliche Lehre noch deutlicher zeigt, in wesentlichen Punkten von dem christlichen Dogma. Das Christentum ist dualistisch in seiner Scheidung des geistigen von der Materie: Geist und Fleisch, Himmel und irdisches Jammertal. Miltons Denken dagegen ist monistisch. Gott ist der Urgrund alles Seins, also auch der Materie, die darum nicht schlecht sein kann. Alles Geschaffene ist nicht nur durch Gott bewirkt, sondern ist seines Wesens, hat an ihm teil. Der Mensch hat nicht einen Körper und dazu eine Seele, sondern er ist Körper und Seele zugleich. Weil alles aus göttlicher Natur stammt, kann auch nichts gänzlich untergehen, auch die Materie nicht, alle Dinge sind unsterblich wie der Mensch. Die allgewaltige Urkraft ist nicht wahrnehmbar, nicht geoffenbart; die in der christlichen Lehre ihr beigelegten Attribute der Allmacht, Allgüte, Allwissenheit usw. gehören dem Sohne, dem Logos. Der eigentliche Schöpfungsakt ist eine Art Selbstausdruck Gottes; er zieht seine Allmacht und Allgüte aus einem Teil der chaotischen Materie zurück und schafft so den geordneten Kosmos, die Welt als Stoff, der sich nun selbst überlassen bleibt und der Weiterentwicklung fähig ist. Gott ist der Urwille der Schöpfung, aber der absolut Ruhende, der dem Menschen unendlich ferne majestätische Herrscher, der in Wollen und Handeln des einzelnen nicht eingreift, der
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auch die sündig gewordene Welt dem Teufel überläßt, Tod und Strafe für Schuld einziehen läßt. Der eigentlich Handelnde in Schöpfung und Sorge für die Welt ist der Sohn, der Logos Gottes; ihn hat der selbst nicht manifestierbare Gott als die manifestierbare Wirkungskraft geschaffen. Den Fall des Menschen aber hat Gott in seinen Heilplan einbezogen. Es besteht die Möglichkeit der Erlösung durch Gnade, aber nur für den, der im Glauben bleibt. (Vgl. VII, 155ff.) Es konnte schon darauf hingewiesen werden, daß Milton sich mit dieser Auffassung von der strengen Prädestinationslehre abhebt und die Verantwortung für sein Schicksal dem Menschen selbst in die Brust legt. Alle Dinge sind also aus Gott, omnia ex Deo: das ist die Grundlage Miltonscher Kosmologie, Politik, Religion, Ethik. Mit Ausdrücken wie Materialismus oder Pantheismus kommt man nicht aus. Die Materie ist der produktive Urgrund, aus dem alles in natürlicher Evolution entsteht, auch das Geistige, wie es in schöner Bildhaftigkeit geschildert wird (V, 47off.). Hier liegen die gedanklichen Keime für den Optimismus und Entwicklungsglauben der späteren Aufklärung. Der Puritanismus mißachtete! das Weltliche und war überzeugt von der Sünde und dem Unwert alles Fleischlichen, von dem unversöhnlichen Gegensatz zwischen Körper und Seele. Milton ist also im Sinne des Dogmatischen kein Puritaner. In seinem System liegt die Verpflichtung der Erhöhung des Materiellen zum Geistigen, die sittliche Aufgabe unsres Lebens, zu der er im Gegensatz zu dem deterministisch denkenden Puritanismus die Vernunft, den Glauben an Entwicklung und die Willensfreiheit voraussetzen mußte. Es ist ein undogmatisches, die Persönlichkeit stark verpflichtendes Denken. Was sich dem Vernunftwillen entzieht, wird Unvernunft, Leidenschaft, Böses. Der Kampf zwischen Vernunft und Leidenschaft macht das ganze menschliche Leben aus; er ist das Grundmotiv des großen Epos. Der Tod ist das Kind der Sünde (Buch II); er ist die schlafende Materie, die den Geist in sich nicht zu erzeugen vermag, die deshalb unproduktiv wieder in das All, also in die Gottheit eingehen muß. Satans Sturz ist Unvernunft, Lösung von Gott, und das gleiche gilt von Adams Fall durch Verführung; der Bruch des Gehorsams durch die ersten Menschen war also die in freier Entscheidung geübte Lösung von Gott, von der Allheit. Der Sohn oder Logos ist die Vernunft, die schöpferische Kraft im Gegensatz zu der zerstörenden der Leidenschaften. Beide Kräfte sind notwendig, müssen aber in dem Menschen — wie es schon die Ethik der Renaissance wollte — harmonisch ausgeglichen sein (XII, 8 3 ff.). Auf dieser Grundlage verstehen wir die im IX. Buch gegebene Psychologie des Sündenfalls völlig. Adam fällt, hingerissen von seiner Leidenschaft zum Weibe, unter Mißachtung der Vernunft (IX, 998). Die Kenntnis von Gut und Böse kommt den beiden Menschen nicht, wie es die biblische Überlieferung will, nach dem Genuß des Apfels, sondern nach der Sinnenkrise (IX, 1051£). Darum legt der Dichter so großen Wert auf die Schilderung des Unterschiedes der normalen, gesunden Sinnlichkeit (IV, 741 f.) und der vernunftlosen, verwerflichen (IX, 1110). Sinnlichkeit ist nicht von Haus aus schlecht, aber Mann und Weib müssen durch geistig-seelische Bande verbunden sein; die Prosaabhandlung über die Ehescheidung beruht ganz auf diesem Gedanken. Das Böse ist nicht Urzustand, sondern wird erst durch den auf freier Wahl beruhenden Ungehorsam des Menschen herbeigeführt. Die Urnatur ist gut wie bei Rousseau, während in der Bibel das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens böse ist von Jugend auf. Auf diesem Wege kommt das Böse in die Welt: das ist Miltons Beitrag zur Frage der Theodizee. Wir haben es also im Grunde mit einem ethischen und nicht mit einem theologisch-dogmatischen Problem zu tun. Der Ausgangspunkt — Monismus, Wert der Materie — ist rationalistisch, heidnisch. Der christliche Erlösungsgedanke wird erst später und etwas unorganisch aufgesetzt. Er ist nicht recht lebendig in Miltons Religon, die mit ihrem heldischen
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Christusbild und ihrer Willensfreiheit im germanischen Bewußtsein wurzelt und dem großen Deutschen des Mittelalters, Meister Eckehart, näher steht als dem finsteren, überall den Teufel neben sich sehenden Puritanismus. Die altgermanische Religion kennt keine Verneinung der Natur, keine Erbsünde, deshalb auch keine Anschwärzung des Geschlechtslebens; sie hat keine demütige, sondern eine aufrechte Haltung gegenüber der Gottheit. Die Liebe zu trotzigem Kämpfertum ist es ja auch, die die Gestalt Satans fast gegen die Absicht des Dichters so reich und wahr ausgestaltet hat und aufragen läßt. Der Puritaner beugt sich in stummer Demut und wartet auf die von außen kommende Erlösung. Er unterwirft sich den Autoritäten, der Bibel, der Obrigkeit, die Frau der Autorität des Mannes. Milton ist, wie sich auch hier zeigt, kein Puritaner. Seine Ethik ist ganz auf Innerlichkeit gestellt; die Rettung des Menschen kann nur aus seinem eigenen Charakter kommen wie in Luthers Lehre von der Freiheit eines Christenmenschen. Wir leben uns selbst als Gesetz, sagt Eva. So wird Milton zum Begründer der modernen sittlichen Grundhaltung, der dem germanischen Geist zugehörigen Erhöhung der tat- und verantwortungsbereiten Persönlichkeit. Er erscheint äußerlich wie ein strenger Puritaner, aber aus anderen Gründen. Der Puritaner haßt die Welt, weil sie des Teufels ist, und verurteilt deshalb auch die künstlerischen Genüsse. Milton hält diese Genüsse hoch. Er mißachtet die materiellen Dinge, weil sie auf der niedrigsten Stufe der ihnen aufgegebenen Entwicklung stehen. Sklaverei ist häßlich in jeder Form, Sklaverei des Geistes, aber auch Sklaverei der Sinne, die nur Vernunft in Zucht und Maß halten kann. Die Guten leben unter dem Gesetz der Vernunft, die Bösen verletzen es. Gehorsam ist mehr wert als Opfer! Nur Selbstzucht entspricht dem Gesetz der Verpflichtung des Menschen, an sich und seiner Vervollkommnung zu arbeiten. Durch äußere Macht kann der menschliche Geist niemals unterjocht werden: dieser neuzeitliche Gedanke ist die große, mit tiefinnerlicher Überzeugung vorgetragene Predigt Miltons, seine Lehre für die Menschheit. In bezug auf den künstlerischen Aufbau zeigt das „Verlorene Paradies" typische Züge barocker Kunst. Die Handlüngsverteilung ist unsymmetrisch. Zu Anfang beherrscht Satan die Handlung. Dann treten die Menschen stark in den Vordergrund; nur ab und zu blitzt Satans Reise auf. Die Schilderung der paradiesischen Vorgänge wechselt mit philosophischen Gesprächen zwischen Raphael und Adam, bis dann gegen den Schluß wieder Satan als Haupthandelnder in den Vordergrund rückt. Wie anders verfährt die klassische Tektonik der homerischen Epen, in denen die Hauptgestalten gleichmäßig im Vordergrund bleiben! Barock wie dieser Aufbau ist auch Miltons Sprache mit ihrer Wucht, ihrem weitgespanntem Atem, ihren Häufungen, ihrem Wechsel zwischen reiner Lyrik und dramatischer Kraft, ihrem Gesetz der Bewegung. Bewegung tritt oft genug an die Stelle ruhiger Beschreibung; Ruhe in Bewegung zu wandeln ist ein Stilmerkmal nordischer Kunst. Es ist kein Zufall, daß dieser Dichter des tiefen Ernstes, der hohen und gespannten Empfindungen, der brausenden Klänge und der zarten, innerlichen Regungen Orgelspieler war; klangund farbenreich wie sein Instrument ist auch seine Sprache, gewiß von einer Gleichmäßigkeit oder Eintönigkeit der Würde und Hoheit, die einen Beiklang des Humors nicht gestatten würde, aber doch so ganz zu dem Menschen und seinem ernsten Denken und Kämpfen passend. Einsam, blind, von der großen Welt verlassen: so war der Abend dieses Dichterlebens; gescheitert im politischen Werk, aber in unverrückbarem Glauben an den endlichen Sieg, an die Revolution. Ein hohes Beispiel idealen Strebens, strenger Selbstzucht, pathetischer Hingabe an das, was sich von innen her als Aufgabe im Dienst Gottes und des eigenen Volkes aufdrängt, und der Überzeugung, daß auch die neu heraufziehende Welt mit ihren Idealen in religiösen Tiefen wurzelt. Das Werk dieses unerbittlichen Kämpfers ist mehr als Dichtung, es ist Tat. Der Mensch
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Daniel Defoes Robinson Crusoe
ist Träger einer Gesinnung, die als verpflichtend erfühlt wird. Die sittlichen Entscheidungen innerhalb der die Welt beherrschenden Kräfte des Guten und Schlechten werden in die Brust des Menschen verlegt; dort will Adam das verlorene Paradies schöner und tiefer wiederfinden. Eine Lebensregel von ungeheurer Verpflichtung, auf die auch das politische Leben gegründet wird, keine bequeme Weisheit, aber eine Lehre der Stärkung und Beglückung. Milton ist ein volksverbundener Dichter tiefster Prägung. Als nach einer langen Zeit des öden Formalismus in der Romantik und ihren Vorstufen wieder eine wirklich schöpferische Poesie heraufkommt, blickt man mit Ehrfurcht auf ihn als den größten Anreger und Lehrmeister; als Wordsworth an den politischen Wirren seines Europas und an den menschlichen Eigenschaften seiner Zeitgenossen fast zu verzagen meint, ruft er den hohen Sinn seines Vorbildes herbei. Milton, du solltest heut leben 1 Unser Land braucht dich; wir sind klein und selbstisch, deine Seele aber war wie ein Stern, der für sich lebte, deine Stimme wie die brausende See, dein Leben rein, hoheitsvoll, frei, von heiterer Göttlichkeit. Seelenruhe, wenn die Leidenschaften verrauscht sind: so heißt es im Schlußvers des Dramas „Samson der Kämpfer". Es könnte als Motto über dem Leben und Werk Miltons stehen.
3. D i e W e l t b ü c h e r v o n R o b i n s o n C r u s o e u n d
Gulliver
D a n i e l D e f o e s Robinson Crusoe Den e r s t e n T e i l seiner Abenteuer eröffnet der erdichtete Berichterstatter schlicht und schmucklos mit Angaben über seine Person. Sein Vater war ein eingewanderter Bremer, der sich in Hull niederließ, durch Handel wohlhabend wurde, nach York übersiedelte und sich seine Frau aus der angesehenen Familie Robinson holte. Nach englischer Sitte setzte der Sohn den Familiennamen der Mutter vor den väterlichen Namen: Robinson Kreutznaer, woraus dann durch die — wie der Autor sagt — in England übliche Namenverdrehung Robinson Crusoe geworden sein soll. Es war das dritte Kind; ein Junge mit schweifenden Gedanken, mit Verlangen nach See und der Ferne, ohne festen Beruf aufwachsend. Der solide Vater hat seine Not mit dieser Veranlagung und empfiehlt dem Sprößling bescheidenes Verharren in dem mittleren Lebenskreise, in den Gott ihn hineingestellt hat; wer seinen Bereich übermütig verlasse, habe Gottes Zorn zu fürchten. Der Sohn aber läßt sich nicht halten. Ein erster Ausfahrtversuch auf einem Küstensegler schlägt fehl; ein Sturm nötigt zur Umkehr, der warnende Vater hat wohl doch recht gehabt. Bald aber probiert es der unruhige Schwärmer noch einmal. Wiederum Sturm und Seenot, Rettung aus höchster Gefahr durch den gnädigen Gott, der das Gebet erhört hat. Um dem Spott zu entgehen, meidet Robinson das Elternhaus und versucht die mißglückte Ausfahrt ein drittes Mal, diesmal nach den Kanarischen Inseln. Jetzt erlebt er neue Bedrängnis: Angriff und Überfall durch türkische Seeräuber, Gefangennahme, Flucht mit Hilfe eines Mauren. Freundliche Neger nehmen die Flüchtigen an der afrikanischen Küste auf, bis neuer Matrosendienst auf einem Schiff endlich die Reise in die Ferne ermöglicht. Vier Jahre lebt Robinson in Brasilien, wo er sich in harter Arbeit eine Pflanzung aufbaut. Hier sollte er, wie er selbst fühlt, bleiben und schaffen; er kann es aber nicht, sein Abenteuersinn muß ihn nun einmal zu seinem eigenen Zerstörer machen und Phantasie gegen Klugheit setzen. Er schließt sich einer Gruppe von Kaufleuten an, die aus Guinea Negersklaven zur Arbeit in Brasilien holen wollen. Seestürme treiben das Schiff von seinem Kurs ab, man muß auf die Karibischen Inseln zuhalten. Als die Seenot am größten ist, wird endlich Land gesichtet. Es ist eine Insel nicht weit
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von der Mündung des Orinoco. Das schwache Schiff aber hält nicht durch: eine ungeheure Welle verschlingt es, die Mannschaft kommt in den Fluten um bis auf Robinson, der an den Inselstrand geworfen wird. Der Gestrandete hat nichts bei sich als ein Messer, eine Pfeife und ein wenig Tabak. Er kann aber doch von dem Wrack noch allerlei herbeischaffen, Gebäck, Trinkwasser, Holzlatten zum Floßbau, verschiedene Geräte, auch etwas Geld. Den ersten Unterschlupf, einen hohlen Baum, kann er bald mit einer Art Wohnhöhle vertauschen, die er sich einigermaßen ausbaut und gegen Angriffe durch Menschen oder wilde Tiere sichert. Ziegen, die er auf der Insel vorfindet, liefern die erste Fleischnahrung. So geht es ein Jahr lang mit Ausbau der Behausung, Jagd und Früchtesuchen; die Zeit mißt der Einsame an seinem Zeitkalender, den er sich durch Einkerben der Tage in Holz geschaffen hat. Als guter Bürger und Rechner zieht er die Bilanz seiner Lage mit Soll und Haben, mit Plus und Minus der nun einmal gegebenen Situation. Das einfachste Hausgerät kann er zusammenzimmern; die Nahrung besteht lange Zeit nur aus Ziegenfleisch. Da aber schüttet er einmal aus einem von dem Schiffswrack mitgebrachten Sack unbekannte Körner auf, gerade vor der Regenzeit. Die Aussaat geht auf, es ist Gerste! Der Schritt vom Jäger zum Bauern wird getan; die neuen Körner werden eingesammelt und zu abermaliger Aussaat benutzt, und ebenso kann mit Reis verfahren werden. Eines Tages läßt ein Erdbeben den Einsamen vor Furcht erschauern; er vermag als Gebet und Trost nur ein äußerliches „Herr, erbarme dich!" hervorzubringen. Der Gedanke an das Erlebnis läßt ihn aber nicht los; es gibt etwas Unnennbares, ein göttliches Walten, eine Vorsehung. Er öffnet die Bibel aufs Geratewohl und stößt auf das Wort: „Rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten, und du sollst mich preisen." Er spricht sein erstes Gebet: „Herr, hilf, denn meine Not ist groß." Er setzt sich selbst den siebenten Tag als Sabbat und Ruhetag, die Güte der Vorsehung ist ihm Gewißheit. In einem Angsttraum sieht er einen Feuermann aus einer Wolke kommen und mit schrecklicher Stimme drohen: du mußt sterben, da du nicht bereuen kannst. Alle Erinnerungen aus der Kindheit sind ja dahin, alles Wissen von Gott und dem Himmel. Er hat zwar Gott für die Rettung aus Seenot gedankt, sich aber nicht gefragt, warum die Vorsehung gerade ihm das Leben erhalten habe; auch das Erdbeben hat ihm die Frage nach der Güte Gottes nicht nahegelegt, und das lastet auf seinem Gewissen. Von nun an liest er jeden Morgen und Abend in dem Neuen Testament — die Verheißung „ . . . so will ich dich erretten" gewinnt einen neuen Sinn: nicht Errettung aus äußerer Not, sondern Rettung aus der Not der Sünden. Die Schriftlektüre hebt ihn zu höherem Denken. Die Arbeiten an der Schaffung äußerlicher Behaglichkeit füllen die Tage aus: Züchtung von Milchziegen, Auffindung von Trauben und Melonen, Aussaat und Ernte, Brotbacken, Anfertigung irdener Gefäße, auch Fang eines Papageien, der ihm abends die Zeit vertreibt. Erkundungsfahrten auf der Insel fördern Waldreichtum und fruchtbare Landstriche zutage. Der Tag wird genau eingeteilt: Zuerst die Pflicht gegen Gott, das Schriftlesen, dann Jagd, Ordnung des Haushalts, Konservierung der Nahrung, Kochen und andre Hausarbeit, alles mit Systematik geordnet und dem Wetter angepaßt. Das bestellte Land muß eingezäunt und gegen Vögel geschützt, Geräte müssen verfeinert, Vorratskammern angelegt und ausgestattet werden. Robinson wird immer mehr ein systematisch denkender Mensch; das Bild der Welt da draußen schwindet mehr und mehr, Robinson lebt zufrieden in seinem eigenen Reich und preist Gottes Güte und die Gnade der Erwählung. Er fertigt sich eine neue Bekleidung, auch einen Regenschirm, und beschreibt mit leisem Humor sein Aussehen. Zwei Pflanzungen stehen ihm zur Verfügung, die Hauptwohnstätte und eine Art Landhaus.
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Da schneit das große, erregende Erlebnis in seine Stille hinein: eine menschliche Fußspur im Sande! Sollte es Satans Spur sein? Die Furcht droht das Gottvertrauen zu betäuben, aber ein Gebet hilft. Zunächst muß die Befestigung der „Burg" verstärkt, müssen Gewehre schußbereit aufgelegt werden. Aber die innere Ruhe, auch die stille Andacht, ist dahin, zumal eine weitere Entdeckung die Erregung steigert: er sieht Körperteile getöteter Menschen, Kannibalen sind in der Nähe — ein Dank an Gott, der ihn vor solchen Gefahren bewahrt hat. Das geschieht 18 Jahre nach der Landung. Der Mensch soll sich dessen freuen, was er besitzt; alle wären zufriedener, wenn sie immer nach unten und nicht nach oben schauten, auf die Bedrückten und nicht auf die Glücklichen und Reichen. Als der Sorgenvolle die Kannibalen an ihrem Feuer- und Lagerplatz erblickt, kämpft das fromme Gefühl in ihm mit dem Gebot der Klugheit. Soll er sie mit seiner Feuerwaffe angreifen? Das wäre Schutz und doch auch Unrecht, denn die Wilden haben ihm nichts angetan. Gottes Allmacht ist ja überall. Gott sendet uns mit Absicht Gefahr und Not; das Böse in der Welt hat seinen Zweck und erweist sich oft genug als Quelle des Heils, auch wenn wir die Wege der Vorsehung nicht verstehen. Jetzt kommt der Einsame von sich aus zu der Erkenntnis dessen, was der Vater ihm vergeblich gepredigt hat: der Mensch soll zufrieden sein mit dem Platz, an den ihn Gott gestellt hat, und nicht fahrlässig hinausund hinaufstreben. 23 Jahre sind verflossen, zwei weitere Papageien beleben das einsame Quartier, Zufriedenheit und Ruhe kehren wieder ein. Aber die Sorge um die Sicherheit steht von nun an der Sorge um die Nahrung voran. Von dem Wrack eines spanischen Seglers, der vor der Insel Schiffbruch erleidet, können ein paar Kisten mit Schuhen, Strümpfen, Schießpulver u. dgl. geholt werden. Die Wilden halten gelegentlich gräßliches Mahl am Lagerplatz, und einmal kann Robinson einen fliehenden Neger vor ihnen retten — Gottes Vorsehung! —, einen scheuen, dann aber zutraulichen und anhänglichen Jüngling, dem er nach dem Tage der Rettung den Namen Freitag gibt. Er verdient Freundlichkeit und Liebe, denn alle Geschöpfe Gottes sind gleich wertvoll. Der Neger erlernt unter der Anweisung seines neuen Herrn Sprechen und Denken; er hört von Gott, von Reue, Buße und Vergebung, von den Grundsätzen einer natürlichen, vernünftigen Religion ohne dogmatische Enge. Auf einer Nachbarinsel werden weiße Schiffbrüchige gefangengehalten. Ein Spanier kann aus den Händen der Kannibalen befreit werden, auch ein gefesselter Neger — Freitags Vater! So bevölkert sich die Insel nach und nach. Robinson schmiedet die kleine Gemeinschaft zusammen. Die verschiedenen Bekenntnisse leben in Harmonie und Gewissensfreiheit, der Herr der Insel selbst fürchtet nichts so sehr wie die spanische Inquisition. Weitere Befreite kommen hinzu, unter ihnen auch ein Engländer, alles mit Kampf und Gefahr und Dank an Gott, den Retter. Im 28. Jahr des Insellebens kommt endlich die Erlösung und Heimkehr. Der alte Vater aber ist nicht mehr am Leben, die Familie ausgelöscht. Aus dem Erlös der brasilianischen Pflanzung erwirbt der Heimgekehrte Reichtum; nach Brasilien will Robinson nicht mehr zurück, weil er nicht katholisch werden möchte. Er bleibt in England, gründet eine Familie, in der zwei Söhne und eine Tochter heranwachsen. Robinson könnte als wohlhabender Mann ruhig und sorglos leben. Der z w e i t e Teil des Berichts hebt aber wieder mit dem unheimlichen Seefahrertrieb an, der als chronische Unruhe an dem Leiderprobten hängt. Seine liebende Frau will ihm seine Sehnsucht erfüllen und selbst mit ihm hinausziehen. Das lehnt er ab, kauft einen kleinen Hof, verläßt jedoch das Landleben nach dem bald erfolgenden Tode der Gattin und geht nach London. Sein Neffe, selbst Seemann, plant eine Fahrt nach Ostindien und China, der Oheim geht gerne mit. Wiederum hören wir von Abenteuern, Seestürmen, von Rettung Schiffbrüchiger.
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Man kommt nach Neufundland, nach Westindien, Robinson kann seine alte Insel besuchen. Der einst von ihm befreite spanische Kapitän ist ihr Gouverneur, andere Spanier und auch ein paar Engländer leben unter ihm, Freitag sieht seinen alten Vater wieder. Es ist eine recht schwierige Gesellschaft, die der Gouverneur zu betreuen hat; ein paar englische Raufbolde lehnen sich beständig gegen die Ordnung auf, der zügellose Atkins ist ein Kapitel für sich, die englischen Männer und Frauen leben in wilder Ehe, Kämpfe mit den Eingeborenen sind an der Tagesordnung. Die kluge und maßvolle Haltung der Spanier hat in der Zivilisierung der Indianer viel erreicht, nur die religiöse Bekehrung fehlt noch. Alles zusammen zeigt uns das Bild und die Aufgabe einer Kolonisation. Unter den geretteten Schiffbrüchigen befand sich auch ein französischer Ordensgeistlicher, mit dem Robinson besser als mit einem anderen die zu lösenden moralischen und religiösen Fragen erörtern kann, insbesondere die Bekehrung der Weißen und Wilden und die Ordnung der Eheschließungen. Der Protestant und der Katholik begegnen sich in der Predigt der Liebe und des in der Natur wirkenden Gottes, in der undogmatischen, uns durch Lessings Nathan vertrauten Religion des Aufklärungszeitalters. An der Bekehrung des ungebärdigen Atkins erleben wir die Form und Wirkung dieser Lehre; Gott ist die Liebe, auf das verständliche Gebot der Liebe, der Güte, des Wohltuns, auf das Anschauen Gottes in den Wundern und der Schönheit der Natur wird alles zurückgeführt, was die Seele braucht und was die Menschen zusammenführt. Die Katechese ist höchst aufschlußreich. Nicht Protestantismus oder Katholizismus, sondern nur Verehrung des einen Gottes, der die Liebe ist und auf dessen Gnade der sündige Mensch hoffen kann. In diesem Sinne werden Ehen geschlossen, werden Heiden zu Christen gemacht, wird die kleine Gemeinschaft auf der Insel gehoben und innerlich zusammengeführt. Robinson läßt bei seiner Abreise die Bibel als den zuverlässigsten Beistand im Leben zurück. Die Weiterfahrt bringt neue Kämpfe, in denen der treue, auf seiner Heimatinsel zurückgelassene Freitag den Tod findet. Das Kap der guten Hoffnung, Madagascar, der Persische Golf sind Etappen der Fahrt. Die rauhe Schiffsmannschaft wird allmählich des alten Oheims ihres Kapitäns, der immer nur Mäßigung, Milde und Liebe predigt, überdrüssig und erzwingt seine Aussetzung auf asiatischem Boden. Da sitzt nun der im Leben gereifte Abenteurer wieder allein in ferner Welt. Er schließt sich einem Kaufmann an zu einer Handelsfahrt nach Sumatra, Siam, Bengalen; von holländischen Seeräubern verfolgt, gelangt man nach Cochinchina, Formosa, China. Die primitive ostasiatische Kultur hebt sich stark von der höheren europäischen, von den englischen Verhältnissen ab. Durch das russische Grenzgebiet mit seinen wilden Tatarenstämmen, durch das winterkalte Sibirien gelangt der müde Wanderer schließlich nach Europa zurück, von Hamburg aus nach England, wo er 72jährig seine Fahrten beschließt, um die größte Fahrt in das Jenseits anzutreten. Der buchhändlerische Erfolg des Werkes veranlaßte Defoe dann noch zu einem dritten T e i l , den „Ernsthaften Betrachtungen des Robinson Crusoe, die er im Laufe seines Lebens und seiner erstaunlichen Abenteuer angestellt hat, nebst seinem Gesicht von der Welt der Engel". Da wird in sechs Kapiteln gehandelt von der Einsamkeit, Rechtschaffenheit, Unsittlichkeit, Religion, dem Zahlenverhältnis der Heiden und Christen, und schließlich von einem bei Defoe wiederholt begegnenden Versuch, Klarheit über die Geister und ihre Welt zu gewinnen. Alles abstrakte, bisweilen abgeschmackte Betrachtungen, von denen nur einige Beziehungen zu dem Inhalt des Romans haben. Von Interesse für die von dem Verfasser gewollte Auffassung des Gesamtwerkes sind die Einführungsworte dieses dritten Teils: „Das vorliegende Werk stellt nicht nur das Ergebnis der beiden ersten Bände dar, sondern die beiden ersten Bände können eher das Ergebnis dieses letzten Teils heißen. Die
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Erzählung ist um der Moral willen geformt worden, nicht die Moral um der Fabel willen. . . . Alle Betrachtungen, religiöse so gut wie moralische, . . . bilden nicht nur die eigentlichen Schönheiten des Werks, sondern sind berechnet für den unendlichen Nutzen des Lesers." Die lehrhafte Absicht wird hiermit also unterstrichen. Der Verfasser dieses Werks, das zu den verbreitetsten der Weltliteratur gehört und uns aus glücklichen Kindertagen vertraut ist, war bereits 5 9 Jahre alt und in einem wechselvollen, selbst einem Entwicklungsroman gleichenden Leben gereift, als er es schrieb. Daniel Defoe, geboren 1659 oder 1660, gestorben 1731, Sohn eines wohlhabenden Londoner Fleischers, war als Abkömmling einer nonkonformistischen, d. h. nicht der anglikanischen Kirche angehörenden Familie von dem Besuch der gewöhnlichen Schulen und der Universitäten ausgeschlossen. Diese Unterdrückung des kleinbürgerlichen Puritanertums, dessen beredtester Vorkämpfer er aus innerster Überzeugung wurde, ist der Schlüssel für alle seine verschiedenartigen Pläne und Unternehmungen. Ein kaufmännischer Beruf führte ihn ins Ausland, nach Spanien, Portugal, Frankreich, Holland und vielleicht auch nach Deutschland, die politischen und religiösen Unruhen der Zeit veranlaßten seinen geschäftlichen Bankrott, machten ihn wieder wohlhabend, trugen ihm, der in Flugschriften lebhaft Partei ergriff, Verfolgungen, einen neuen finanziellen Zusammenbruch, Prangerstehen und Gefängnis ein, bis er sich in bitterer Armut ganz von politischen Betätigungen zurückzog und literarischen Aufgaben widmete. Trübe Erfahrungen in der eigenen Familie, namentlich die Behandlung durch einen hartherzigen und undankbaren Sohn, umdüsterten das Alter dieses durch ein bewegtes Leben gerüttelten Mannes. Aber gerade diese Lebensschule in der Welt des praktisch handelnden Bürgertums hatte seinen Blick für die Wirklichkeit geschult, hatte ihn das Plänemachen und Vergleichen gelehrt und vor jeder Art besinnlichen Stubengelehrtentums bewahrt. Er schrieb viel und schnell zum Broterwerb; die Vielseitigkeit seiner Interessen ist ungeheuer, die sprachliche Form wenig gepflegt und von der Hast der Tagesarbeit bestimmt, aber stets eindrucksvoll durch das kräftige Erfassen der Gegenstände. So ist Defoe mehr der Typus des Journalisten als der des Schriftstellers. Ein gedankenreicher „Versuch über verschiedene Projekte" bringt Vorschläge für Reformen auf Gebieten der öffentlichen Wohlfahrt, die heute noch gelesen zu werden verdienen. Eine zuerst einmal, dann dreimal erscheinende und nur von ihm selbst geschriebene Wochenschrift (The Review, 1704) ist die erste eigentliche Zeitschrift Englands und der Beginn der für das 18. Jahrhundert so bezeichnenden moralischen Wochenschriften, in denen Steele, Addison, Swift, Goldsmith, Dr. Samuel Johnson u. a. die Meisterschaft ihrer Essaykunst entfalteten. Aus der aufreibenden Tagesarbeit des politischen Schriftstellers, der sich selbst gegen Verunglimpfungen seiner Ehre zu verteidigen hatte, wuchs der alternde Kämpfer dann in die Rolle des Lebensbetrachters und Weisen hinein, der Journalist wurde zum Dichter und Schöpfer der ersten englischen Romane. Der große Wurf des seitdem der Weltliteratur angehörenden „Robinson Crusoe" machte den Anfang. Dann folgten weitere Romane und noch ein paar Schriften zu Zeitthemen, alles getragen von einem Drang nach Freiheit, Ehrbarkeit, Sittlichkeit. Das Didaktische war Defoes Lebenselement, belehren, erziehen, mahnen und warnen will er überall. Die Frauengestalten seiner Spätwerke sind weniger empfindungsstarke als vielmehr einfache, klare Zeichnungen der weiblichen Seele, aber eindrucksvoll in ihren Schicksalen und ihrer Haltung. Defoe schreibt für den einfachen Mann und hat dort seine ungemein vielseitige und nachhaltige Wirkung ausgeübt. Der „Robinson Crusoe" steht am Beginn einer geistigen Zeitenwende. An zwei für seine Geschichte entscheidenden Zeitpunkten hat England das Zusammenfallen des politischen mit dem geistesgeschichtlichen Umbruch erlebt: einmal bei der
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normannischen Eroberung im n . Jahrhundert, das andere Mal bei dem Werden des bürgerlichen Zeitalters nach der „glorreichen" Revolution 1688. Nirgends haben wir in der Geschichte unseres Volkes ein solches Nebeneinander des äußeren Geschehens und der geistigen Neuordnung erlebt. Das mittelalterlich-christliche Bild der Weltgeschichte war durch die Reformation kaum erschüttert worden und wurde erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts zu den modernen geschichtlichen Vorstellungen erweitert. Der Schauplatz wurde von den Ländern und Völkern des Alten Testaments, des klassischen Altertums und des nachrömischen Abendlandes ausgeweitet auf außereuropäische Kulturen, wobei die Kenntnis des Orients, insbesondere die Bedeutung Chinas, eine entscheidende Rolle spielte; das 18. Jahrhundert bringt den Beginn der Sinologie, der wissenschaftlichen Chinakunde. In England, wo die kaufmännische und kulturelle Eroberung ferner Länder um 1600 begann, wurde der Blick früher als auf dem Kontinent in die weite Welt gelenkt, nach Indien und nach der Neuen Welt in Amerika, wo die ersten Niederlassungen erfolgten. Die große Literatur aber war trotz der patriotisch-imperialistischen Töne in der Tudorzeit — z. B. bei Spenser — noch lange unberührt von den neuen Stoffen. Das Barockzeitalter lebte geistig in hoher Pathetik von den Fragen des Allgemein-Menschlichen, von den inneren Spannungen, von der Erhöhung des individuellen Erlebens in die Problematik des Menschseins überhaupt. Allmählich erst löste die Gewißheit der sich frei entfaltenden Vernunft das christlichdogmatische Denken ab. Eine „natürliche", nicht durch Lehrvorschriften gebundene Religion, eine „vernünftige" Gesellschafts- und Rechtsordnung, eine ideologisch verallgemeinerte Kulturentwicklung wurden Gegenstände des Nachdenkens und Glaubens. War so das 17. Jahrhundert mit dem Menschen an sich befaßt, so wurde das 18. Jahrhundert der Tummelplatz der soziologischen Fragen, des Interesses an der Ordnung des Menschen im Verkehr mit seinen Mitmenschen. Die „Persischen Briefe" und der „Geist der Gesetze" eines Montesquieu, der „Robinson Crusoe", der „Weltbürger" Goldsmiths, Voltaires „Versuch über die Sitten und den Geist der Völker", Rousseaus „Gesellschaftsvertrag" und viele ähnliche Bücher bis zu Lessings „Entstehung des Menschengeschlechts" und Herders großzügigen „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" sind Marksteine auf diesem Wege. Das rationalistische Denken verfährt unhistorisch. Nicht wie es wirklich gewesen ist, sondern wie man es sich nach den Gesetzen vernunftmäßiger Überlegung vorzustellen hat, will man ergründen. Man konstruiert einen Urzustand, aus dem in geordnetem Aufbau eine Kultur entsteht, einen Gesellschaftsvertrag zur Ordnung der staatlichen Gemeinschaft, ein dem Naturmenschen innewohnendes Verlangen zur Gewinnung der Vorstellung einer Vorsehung. Die Aufklärung, die im 18. Jahrhundert Frankreich und Deutschland mächtig ergriff, dort ihre Weiterbildung bis zu letzten Konsequenzen und bei uns ihre Vertiefung zu einem neuen Humanismus erfuhr, ist ein Erzeugnis eigentümlich englischen Denkens und Fühlens. Kants berühmte Definition nennt sie den „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit Habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen, ist also der Wahlspruch der Aufklärung". Ein pädagogischer Begriff steht also im Mittelpunkt, die geistige Bildung des Menschen durch Erhellung, durch vernunftmäßige Erfassung der Dinge und ihrer Gesetze. So nennt sich das Zeitalter gern das philosophische, nicht im Gefühl großer neuer Systembildungen, sondern aus dem Bestreben, alle Ordnungen des privaten und des Völkerlebens vernünftig, philosophisch zu regeln. Das eigentliche Studium des Menschen ist der Mensch: so heißt es bei Pope, so nimmt es Goethe wieder auf. Das Typische, Gattungsmäßige, Allgemeine steht voran, das Individuelle, Eigenartige tritt zurück. Da das Naturprodukt, die überall gleiche Anlage des Verstandes und des sittlichen Ge-
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fühls in ungestörter Entwicklung zu dem gleichen Ergebnis führen müßte, sucht man die hierbei geltenden natürlichen Gesetze und die Stufen der ungehemmten Entwicklung in der Gesellschaftsbildung, dem Recht, der Sitte, der Religion, der wirtschaftlichen Betätigungen zu ergründen. Man kümmert sich nicht um die geschichtlichen Grundlagen; gedankliche Konstruktionen führen zu dem Glauben an den Singular des Normalmenschen, der vollkommenen Gesellschaft, des Staates, der Moral, zu dem optimistischen Glauben an die Zweckhaftigkeit alles Geschehens, das die göttliche Weisheit aufs beste geordnet hat. War im christlichen Mittelalter Gott der Schöpfer und Lenker der Dinge gewesen, in dessen Reich einzuziehen das alleinige Streben der Menschen zu sein hat, in der Renaissance der das All durchwehende Geist, so wird jetzt die Gewißheit einer „Vorsehving", einer zwecksetzenden, auf den Bereich des Menschen eingeschränkten Allmacht und Allweisheit Kernpunkt des religiösen Gefühls und Stätte menschlicher Erfüllung. „Lies die Natur; sie ist Freundin der Wahrheit, sie ist christlich, sie predigt der Menschheit. . . . Unglauben aus der allgeheiligten Vernunft? Nein! Tu dem Christen nicht unrecht; wahre Vernunft ist der Weg zum Glauben, um wahre Vernunft zu befreien, gab Gottes Sohn sein Blut hin." So hören wir es in den „Nachtgedanken" von Edward Young, und das hymnische Gedicht, mit dem Edmund Halley die erste Ausgabe von Newtons großem Werk über die mathematischen Grundlagen der Naturphilosophie einführte, ist vielleicht der treffendste Ausdruck dieser Gleichsetzung von Vernunft und göttlicher Vorsehung. In diesen Denkbereich gehört das Robinsonbuch mit dem ihm folgenden zahllosen Robinsonaden. Das Didaktische entspricht der geistigen Zeithaltung ebenso wie das Utopische. An Beschreibungen fremder Gegenden und abenteuerlicher Seefahrten fehlte es um die Wende des 17. und 18. Jahrhunderts nicht. Swift läßt seinen Gulliver nach der Errettung aus Brobdingnag sagen, England sei bereits übervoll von Reisebeschreibungen, und nur das Außerordentliche könne noch eine Veröffentlichung wagen. Wir wissen von einem alten Dissenter John Knox, der 19 Jahre als Gefangener auf Ceylon lebte, aus Not die einfachsten Bedingungen des äußeren Lebens schaffen mußte und darüber schon 1681 Aufzeichnungen niederschrieb und später ergänzte. Wir kennen vor allem die Beschreibungen, die der vielerfahrene Kapitän Dampier von seiner Reise um die Welt gegeben hat. Seine Berichte von Freibeuterfahrten, fernen Wundergegenden, wildem Seemannsleben, gefahrvollen Kämpfen, auch von einem auf der Insel Juan Fernandez zurückgelassenen Moskito-Indianer wurden von den Bürgern daheim mit Begeisterung gelesen, und 1717 erschienen sie in sechster Auflage. Ein besonderes Interesse erweckte das Schicksal eines schottischen Seemanns Alexander Selkirk, der sich einer von Dampier geführten Freibeuterfahrt anschloß, 1704 wegen Zwistigkeiten mit dem Kapitän in Juan Fernandez ausgesetzt wurde und dort fast viereinhalb Jahre lang, ganz auf sich gestellt, den Kampf ums Dasein aufnehmen mußte, bis er 1709 erlöst wurde. Seine Erlebnisse wurden durch die Berichte, die seine Befreier veröffentlichten, und durch eine aus persönlicher Bekanntschaft mit Selkirk geschöpfte Schilderung Richard Steeles bald bekannt. Wir dürfen annehmen, daß auch Defoe mit Selkirk, vielleicht auch mit Knox gesprochen hat. Erlebnisberichte der erwähnten Art waren jedenfalls Stadtgespräch, und ein Journalist wie Defoe ist sicherlich schon aus literarisch-beruflichen Gründen allen Informationen nachgegangen, ohne daß man aber über die rein stoffliche Anregung hinaus von einer bestimmten literarischen Quelle sprechen kann. Sein Werk — 1719 erschienen — ist dem ganzen Wurf nach auf eine viel größere gedankliche Bedeutsamkeit angelegt. Dieser lehrhaft-erzieherischen Absicht dient schon die Einleitung mit ihren ausführlichen Angaben über Elternhaus und Verwandte, über örtlichkeiten, über die 13 Die Stimmen der Meister
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Kindheit des Helden. Ein wohlgeordnetes Familienleben, ein vernünftiger Erziehungsplan des tüchtigen Vaters sichern dem Sohn ein ungestörtes Dasein auf der „mittleren Lebensbahn". Der aber ist von dem Drang in die Welt hinaus besessen und nicht zu halten. Ideale eines mittleren Lebens beherrscht dieses puritanische Bürgertum mit seinem auf gutes Fortkommen gerichteten Gewerbe- und Handelssinn, der nichts mehr von dem wagemutigen Kämpfertum der elisabethanischen Seefahrer aufweist. Ein Wochenschriftenessay Defoes über die Unbeständigkeit des irdischen Ruhms zeigt an Beispielen aus Geschichte und Gegenwart, daß alle Leistungen, aller Reichtum, alle Macht den Tod nicht abwenden können; was hat man davon, nach dem Tode gepriesen und besungen zu werden? Was ist Ruhm ohne Tugend? Fromm sein und gut sein: das ist das Ideal der hausbackenen Ethik, die für die Pathetik des Lebens kein Organ mehr hat. Popes Ideal: Meide die Extreme! und die Zufriedenheit seines „Universalgebets'' oder seines Gedichts „Einsamkeit" bestätigen diese Haltung. Robinson weiß von Anfang an, daß sein Taten- und Erlebnisdrang im Widerspruch steht mit der von Gott gewollten bürgerlichen Ordnung, und immer wieder sagt er sich bei seinen schlimmen Erlebnissen, wie gut er es haben könne, wenn er dem Vater gefolgt wäre, und daß er ja nur die gerechte Strafe des Himmels hinzunehmen habe. Also nicht Vorbild, sondern Warnung soll nach Absicht des Verfassers sein Buch bieten. Das romantische Erleben wird gewissermaßen entschuldigt und in eine zahme Nützlichkeitsethik eingebettet. Werkzeuge und die Bibel, also die Symbole der Nützlichkeit und Sittlichkeit, rettet der Schiffbrüchige von dem Wrack des Schiffes, mit beiden baut er seine äußere und innere Welt auf. Auf seiner Insel wird Robinson der Normal- und Urmensch, der für sich die Stufen des Kulturaufbaus zu vollziehen hat. Die Not macht ihn zum Steinmetzen, Jäger, Bauern, Viehzüchter, Gerber, Töpfer, Tischler. Er umgibt sich mit einer Art kleinbürgerlicher Gemütlichkeit, mit Hausgenossen wie Katze, Papagei, Schildkröte, Ziegen, so daß die Zufriedenheit einer behaglichen Umgebung über ihn kommt. Mit dem Auftreten Freitags beginnen die Anfänge einer Gesellschaft; zu dem Ich kommt das Du, die Verpflichtung der Sorge für eine andre Existenz, und nach und nach treten weitere Menschen in diesen Kreis. Ein kaufmännischer Sinn zieht ab und zu die Bilanz aus der Lage mit Gewinn- und Verlust-Rechnung, etwa so: Evil I am cast upon a horrible desolate island, void of all hope of recovery. I am singled out and separated, as it were, from all the world to be miserable. I am divided from mankind, a solitaire, one banished from human society. I have no clothes to cover me. I am without any defence or means to resist any violence of man or beast. I have no soul to speak to, or relieve me.
Good
But I am alive, and not drowned, as all my ship's company was. But I am singled out, too, from all the ship's crew to be spared from death; and He that miraculously saved me from death, can deliver me from this condition. But I am not starved, and perishing on a barren place, affording no sustenance. But I am in a hot climate, where if I had clothes I could hardly wear them. But I am cast on an island, where I see no wild beasts to hurt me, as I saw on the coast of Africa; and what if I had been shipwrecked there? But God wonderfully sent the ship in near enough to the shore, that I have gotten out so many necessary things as will either supply my wants, or enable me to supply myself even as long as I live.
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Übel
Gut
Ich bin auf eine schreckliche, öde Insel geworfen ohne Hoffnung auf Erlösung. Ich bin sozusagen von der ganzen Welt abgetrennt worden, um unglücklich zu werden.
Aber ich lebe und bin nicht wie meine Gefährten ertrunken.
Ich bin von aller Menschheit getrennt worden, ein Ausgestoßener.
Aber ich bin nicht in eine unfruchtbare Gegend verbannt, in der man verhungern müßte.
Ich habe keine Kleider.
Aber hier herrscht ein heißes Klima, in dem ich Kleider gar nicht tragen könnte.
Ich habe nichts, um mich gegen gewalttätige Menschen und wilde Tiere zu verteidigen.
Aber dies ist ja eine Insel, auf der ich keine wilden Tiere sehe. Wie anders, wenn ich an der afrikanischen Küste Schiffbruch erlitten hätte! Aber Gott hat das Schiff so nahe an den Strand geworfen, daß ich mir das Notwendigste holen konnte, um alle meine Bedürfnisse für unabsehbare Zeit zu befriedigen.
Ich habe niemand, mit dem ich sprechen und mein Herz erleichtern könnte.
Aber ich bin auch von der Besatzung abgetrennt worden, um am Leben zu bleiben; und Er, der mich errettet hat, kann mich auch aus der jetzigen Lage befreien.
Robinson trägt alle Charakterzüge eines tüchtigen Kaufmanns: Klugheit, Fleiß, Nüchternheit, vorsorgende Berechnung, Ehrlichkeit, Freude am Wohlstand. Handelsgeist und Puritanersinn haben sich zusammengefunden in diesem Bürgertum des 18. Jahrhunderts. Dann kommt die Heimkehr in die Alltagsexistenz, die Heirat, die Kinder, das erfolgreiche Geschäft. So hätte das Buch nach seiner ersten Anlage ausgehen müssen, und so schließt es in den Jugendausgaben. Die angefügten „Weiteren Abenteuer" unterstreichen allzusehr die lehrhafte Absicht mit der immer wiederholten Beteuerung der eigenen Schuld an allem Unglück, weil die Stimme der Vernunft überhört wurde. Der Dissent und mit ihm die kleinbürgerlich-kaufmännische, moralisierende Denkweise ziehen in die Literatur ein. Das ist zeitgeschichtlich für die beginnende wirtschaftliche Expansion bezeichnend und bedeutungsvoll. . Der GottesbegrifF erwächst aus der Überzeugung von einer sorgenden und ordnenden Allmacht. Furcht ist wie bei Hobbes das Grundgefühl des Menschen; als der Einsame die Spur anderer Menschen entdeckt, verschanzt er sich und seine Behausung. Sobald aber der erste Gefährte aufgetreten ist, wächst das Gefühl einer Verpflichtung für ihn und sein Inneres. Seitdem das Erdbeben den Verlassenen zum Öffnen der Bibel veranlaßt hat, kommt er nicht los von ihr, die tägliche Bibellektüre vertieft die Bindung an die waltende Vorsehung. Robinson hat Gesichte und eine Erweckung wie der puritanische Klassiker Bunyan, wie die Quäker, wie später Wesley, so wie es frommer Puritanersinn kannte und liebte, und das große Religionsgespräch mit dem französischen Pater hält sich in der beständigen Furcht vor katholisch-dogmatischem Zwang ganz in der Form der „natürlichen" Religion und der Mahnung Nathans des Weisen, es sollte jeder seiner unbestochenen, von Vorurteilen freien Liebe nacheifern. Übt Mildtätigkeit und praktische Nächstenliebe 1 Das ist wichtiger als alle Lehre. Es wäre leicht, das Weiterwirken dieses dogmenfeindlichen, praktischen Christentums in England aufzuzeigen 1 George Eliot, Denison Maurice und Charles Kingsley mit ihrem „Muskelchristentum", die Bibelgesellschaften, die Heilsarmee, die Y . M. C. A. und Y. W. C. A. gehören in diese Linie. 13"
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Es gibt sehr wenige Bücher der Weltliteratur, die es mit dem beispiellosen Erfolg des „Robinson Crusoe" aufnehmen können. Es wurde sofort von alt und jung verschlungen, es wurde in fast alle Sprachen der Welt übersetzt, ein Jahr nach seinem Erscheinen bereits ins Deutsche, kurz darauf auch der zweite Teil, und diese Gesamtübersetzung wurde in ihrem Erscheinungsjahr fünfmal aufgelegt. Rousseau will in seinem „fimile", dem klassischen Werk der Aufklärungspädagogik, seinem Zögling als einziges Buch den Robinson in die Hand geben (fimile, Buch III). Auf dieser Empfehlung ruht die Fülle der Jugendbearbeitungen, unter denen die von Campe jahrzehntelang in Deutschland die verbreitetste war, bis man wieder mehr zu der Originalfassung zurückkehrte. Bei einer 1947 in verschiedenen deutschen Städten gezeigten Internationalen Jugendschriften-Ausstellung wurde mit Fragebogen nach den von der Jugend bevorzugten Lesestoffen geforscht. Das eindrucksvolle Ergebnis war, daß die Sehnsucht nach der unbegrenzten Weite und Ferne, nach dem Abenteuerlichen, noch immer alles übertönt. Defoes Robinson stand an zweiter Stelle am Kopf der Lieblingsbücher und wurde nur von Coopers Lederstrumpf übertroffen. Vielleicht kommt als neuer Klang hinzu, daß nach Jahren der Bindung an jugendfremde Aufgaben — Militarisierung, Verstaatlichung, „Ausrichtung" — das Verlangen nach ungehinderter Freiheit der Phantasie, die das instinktive und schöpferische Denken des Kindes darstellt, besonders stark ist. Das ist die ewige Aufgabe solcher Bücher, die vor einer verfrühten Rationalisierung des jugendlichen Denkens warnen, damit die schöpferischen Kräfte nicht erstickt werden; sie können nur in der Freiheit wachsen, die das Element der Phantasie ist. Über das pädagogische Interesse hinaus, das ihm den Eingang in die Weltliteratur verschaffte, kommt dem Meisterwerk Defoes noch seine Bedeutung für die Literaturgeschichte als Beginn oder vielleicht richtiger als Vorstufe des neueren Romans zu. Bücher romanhaften Charakters kannte die eüsabethanische Literatur bereits, Erziehungsromane, staatsphilosophische Erzählungen, Werke vom Schlage der Utopia; das sind lehrhaft-gedankliche Werke, die nicht aus den eigentlichen Bestandteilen des Romans leben. Dann kam aus Spanien der Schelmenroman mit realistischen Erlebnissen, mit Aufregung und Spannung, auch mit geschichtlichen Gestalten. Zum echten Roman im modernen Sinne fehlt aber noch die Verbindung des Abenteuers, das ganz um seiner selbst willen lebt, mit der Seele des Helden, der Einfluß der Erlebnisse auf eine menschliche Entwicklung. Eine Charakterstudie haben wir in dem berühmten Erbauungsbuch „Des Pilgers Wanderschaft" von John Bunyan; eine innere Entwicklung wird aufgezeigt, aber die Menschen sind doch nur leicht verhüllte Allegorien. Der „Robinson" knüpft an die Erbauungsliteratur an. Echte Lebens- und Menschencharakteristik bringen erst die moralischen Wochenschriften mit ihren buntbewegten Gestalten aus dem wirklichen Leben, ihrer feinen, humorvollen Typenzeichnung. Defoes „Rundschau" machte den Anfang, dann folgten die bedeutenden Wochenschriften „Der Plauderer" (1711) und „Der Zuschauer" (1712), die an der Spitze einer großen Nachfolge stehen. Hier fand der Roman Vorstudien in dem Sinn für die kleinen Dinge des Alltags, für den Ernst und Humor des Lebens, für die Freuden und Nöte der Seele. Der „Robinson Crusoe" beginnt die Anwendung solcher Wirklichkeitsnähe und Seelenstudie auf ein Menschenschicksal. Wenn wir das Werk doch noch mehr als eine Vorstufe empfinden, so liegt das an dem Übergewicht der aufklärerisch-philosophischen Absicht; den ersten echten Roman im Sinne einer Seelenstudie brachte erst Samuel Richardson mit seiner „Pamela". Aber die Lebensechtheit, die Fülle der Einzelheiten des Alltags, der persönliche, schlichte Vortragston mußte nach dem zopfigen und gestelzten Wesen des Barockromans wie eine Befreiung wirken.
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Die gewollt kunstlose Berichtsform erhöhte den Eindruck der Glaubwürdigkeit; oft freilich ist sie nichts als journalistische Unbekümmertheit mit Wiederholungen, Wiederaufnahme des abgerissenen Fadens, eingefügten Tagebuchaufzeichnungen nach dem Kalender. Gespräche in Dialogform unterbrechen manchmal den Fluß des Berichts; das Religionsgespräch Robinsons mit dem wilden, lenkbaren Will Atkins und besonders das kindlich-rührende Gespräch dieses Atkins mit seiner eingeborenen Frau über den lieben Gott, seine Werke u n d seine Güte sind Kabinettstücke der Einfühlung in ein schlichtes G e m ü t und eine schlichte Sprache. So etwas verstand der „kleine Mann". N e h m e n wir etwa den Bericht über die Fußspur im Sande: It happened one day, about noon, going towards my boat, I was exceedingly surprised with the print of a man's naked foot on the shore, which was very plain to be seen in the sand. I stood like one thunderstruck, or as if I had seen an apparition. I listened, I looked round me, I could hear nothing, nor see anything. I went up to a rising ground, to look farther. I went up to the shore, but it was all one; I could see no other impression but that one. I went to it again to see if there were any more, and to observe if it might not be my fancy; but there was no room for that, for there was exactly the very print of a foot — toes, heel, and every part of a foot. How it came thither I knew not, nor could in the least imagine. But after innumerable fluttering thoughts, like a man perfectly confused and out of myself, I came home to my fortification, not feeling, as we say, the ground I went on, but terrified to the last degree, looking behind me at every two or three steps, mistaking every bush or tree, and fancying every stump at a distance to be a man; nor is it possible to describe how many various shapes affrighted imagination represented things to me in, how many wild ideas were found every moment in my fancy, and what strange unaccountable whimsies came into my thoughts, by the way.
When I came to my castle, for so I think I called it ever after this, I fled into it like one pursued. Whether I went over by the ladder, as first contrived, or went in at the hole in the rock, which I called a door, I cannot remember; no, nor could I remember the
Eines Tages um die Mittagszeit, als ich gerade auf dem Wege zu meinem Boot war, war ich aufs höchste überrascht über die Spur eines »inbekleideten Männerfußes, die sich ganz deutlich im Küstensande abzeichnete. Ich stand wie vom Donner gerührt oder wie einer, der ein Gespenst gesehen hat. Ich lauschte, blickte um mich, konnte aber weder etwas hören noch sehen. Ich ging etwas weiter auf ansteigendem Boden, um freier Ausschau halten zu können. Ich ging strandaufwärts und strandabwärts, aber es war alles gleich; ich konnte keinen anderen Fußabdruck entdecken außer dem einen. Ich ging nochmal zu diesem hin, um zu sehen, ob nicht doch noch weitere da wären und ob mich nicht meine Einbildung getäuscht hätte; zu dieser Annahme aber war kein Anlaß: da war haargenau der Abdruck eines Fußes — Zehen, Hacken, jeder Teil eines Fußes. Wie er dorthin gekommen sein mochte, wußte ich nicht und konnte ich mir auch in keiner Weise ausmalen. Aber nach vielen erregten Gedanken kam ich schließlich ganz wirr und außer Fassung nach Hause in meineFestung; ich fühlte, wie man zu sagen pflegt, den Grund unter meinen Füßen nicht, blickte, aufs höchste geängstigt, immer nach zwei oder drei Schritten hinter mich, verkannte jeden Busch und Baum und sah in jedem entfernteren Stumpf einen Mann; es ist unmöglich, zu beschreiben, wie viele verschiedene Gestalten die Gegenstände in meiner erschreckten Phantasie annahmen, wie viele wilde Gedanken in jedem Augenblick in meiner Vorstellung auftauchten, was für seltsame und unerklärliche Hirnespinste zu alledem noch mir in den Sinn amen. Als ich in meine Burg kam — so, glaube ich, nannte ich meine Behausung von diesem Augenblick an — floh ich wie ein Verfolgter. Ob ich über die Leiter einstieg, wie ich zuerst plante, oder durch das Loch im Felsen, das ich Tür nannte, ist mir nicht
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next morning, for never frighted hare fled to cover, or fox to earth, with more terror of mind than I to this retreat.
I slept none that night. The farther I was from the occasion of my fright, the greater my apprehensions were; which is something contrary to the nature of such things, and especially to the usual practice of all creatures in fear. But I was so embarrassed with my own frightful ideas of the thing, that I formed nothing but dismal imaginations to myself, even though I was now at a great way off. Sometimes I fancied it must be the devil, and reason joined in with me upon this supposition; for how should any other thing in human shape come into the place? Where was the vessel that brought them? What marks was there of any other footsteps? And how was it possible a man should come there? But then to think that Satan should take human shape upon him in such a place, where there could be no manner of occasion for it, but to leave the print of his foot behind him, and that even for no purpose too, for he could not be sure that I should see it; this was an amusement the other way. I considered that the devil might have found out abundance of other ways to have terrified me than this of the single print of a foot; that as I live quite on the other side of the island, he would never have been so simple to leave a mark in a place where it was ten thousand to one whether I should ever see it or not, and in the sand too, which the first surge of the sea, upon a high wind, would have defaced entirely. All this seemed inconsistent with the thing itself, and with all the notions we usually entertain of the subtility of the devil.
mehr in der Erinnerung; auch am nächsten Morgen konnte ich mich nicht darauf besinnen, denn nie ist ein aufgeschreckter Hase mit größerem Entsetzen in seinen Schlupfwinkel oder ein Fuchs in sein Erdloch geflohen als ich in meine Zufluchtsstätte. Ich tat die ganze Nacht kein Auge zu. Je weiter ich von dem Anlaß meines Schreckens entfernt war, um so größer war meine Besorgnis; das steht gegen alle Natur bei solchen Dingen und besonders gegen das sonstige Verhalten geängstigter Wesen. Aber meine schreckhaften Gedanken an das Erlebnis hatten mich so verwirrt, daß ich von den schaurigen Bildern nicht loskam, obgleich ich doch nun ein ganzes Stück entfernt war. Manchmal bildete ich mir ein, es müsse der Teufel gewesen sein, und die vernünftige Überlegung bestärkte mich darin; wie sollte denn sonst etwas in Menschengestalt dorthin kommen? Wo war denn ein Fahrzeug, das andere Wesen herangebracht hätte? Wo Anzeichen weiterer Fußspuren? Wie sollte sonst ein menschliches Wesen dorthin kommen? Dann aber: sollte Satan an einem solchen Ort Menschengestalt annehmen, wo keinerlei Anlaß dazu war als gerade nur, um eine Fußspur zu hinterlassen, und selbst dies ohne Zweck, da er ja nicht wissen konnte, ob ich sie entdecken würde? Das war doch ein falscher Spaß. Der Teufel, so malte ich mir aus, hätte tausend andre Arten finden können, um mich zu erschrecken, als gerade diesen einen Fußabdruck; da ich ja doch auf der anderen Seite der Insel wohne, wäre er nie so einfältig gewesen, seine Spur an einer Stelle zu hinterlassen, wo man tausend gegen eins wetten konnte, ob ich sie je sehen würde, und noch dazu im Sand, in dem die erste Brandung der im Winde hochgehenden See sie völlig getilgt haben würde. Das alles erschien mir unvereinbar mit der Sache und mit all unseren üblichen Vorstellungen von der Verschlagenheit des Teufels.
Das ist eine Sprache von kunstloser, naiver Einfachheit, mit kurzen Sätzen, häufigen Wiederholungen des Ich, mit Aufzählung aller einzelnen Bewegungen, so wie ein kindlich empfundenes und geschildertes Erstaunen den Vorgang ausmalt; keine schmückenden Beiwörter, kein malerischer Stil. Die kindliche Einfalt Robinsons spricht sich kindlich aus, so wie große Kinderaugen von einem staunenerregenden Bilde nicht loskommen. Die Einfachheit ist Kraft. Dies englischste aller Bücher, wie man es genannt hat, mit seinem D r a n g in die Ferne, seiner Freude am Ungewöhnlichen und am festen Zupacken stellt sich neben die großen Werke der Weltdichtung v o m Schlage des D o n Quijote, des Gargantua, des
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Simplicius Simplicissimus, des Schelmufski, des Gulliver. Es hat inEngland und Amerika eine große Nachfolge gehabt. Die neuere Zeit freilich differenziert den Typus: der Draufgänger, der Schwärmer, der gutherzige arme Pfarrer, der Eigenbrötler, der Heuchler, der Egoist, der vom Erfolg beiseite geschobene Lebenskünstler u. a. m. werden selbständige Figuren, alle aber aus ihrem abenteuerlichen Leben entwickelt. Das Leben als Abenteuer! In dieser Tradition stehen Fielding, Smollett, Dickens, Marryat, R. L. Stevenson, Kipling, G. K. Chesterton, Conrad, Jack London, Masefield, Linklater und die zweitrangige Detektivliteratur ebenso wie die Amerikaner Cooper, Melville, E. A. Poe, Hemingway, Steinbeck, Dos Passos. Es ist höchst bezeichnend, daß die deutsche Literatur der Neuzeit hier fehlt. Der „sentimentalische" deutsche Dichter, dem das Leben Problem und Abenteuer ist, geht den Weg von innen nach außen und sucht die Welt vom Ich aus zu ergründen, während der „naive" Angelsachse in zupackender Unbekümmertheit die bunte Welt von außen, vom „farbigen Abglanz" her zeichnet und sich an einem gesund-kräftigen, mit Humor gesättigten Bestehen des Examens Leben erfreut; Mut des Pioniertums, Freude am Abenteuer und Wagnis, nicht „Sicherheit", sondern Bereitschaft zu neuer Ausfahrt. Ob nicht die in der Welt weithin herrschende Verständnislosigkeit für das Wesen unsrer Literatur, für unsre große, uns so wertvolle Ideendichtung, für die Unergründlichkeit des Gemüts hiermit zusammenhängt? Die meisten Menschen sind doch „naiv" und nicht „sentimentalisch", um Schillers Unterscheidung anzuwenden. Die Gegenüberstellung ist natürlich überspitzt. Die heutige Ausweitung der das Einzelschicksal mitreißenden Welt in ferne Räume und nie gekannte Schicksale sollte aber auch unserer Epik die große Schule des Lebens nicht nur als Horizonterweiterung, sondern auch als Stärkung des Glaubens an das Leben und als Kraftquelle wieder mehr als Thema zuführen. „Am farb'gen Abglanz haben wir das Leben." Jonathan Swift: Gullivers Reisen Das Buch von Gullivers Reisen ist angelegt als Aufzeichnungen eines Lemuel Gulliver aus Nottinghamshire, die von seinem Freunde Richard Sympson herausgegeben werden. Der Dichter versteckt sich also hinter einem Herausgeber, der seine Kenntnis aus erster Quelle hat, der uns mitteilt, er habe mancherlei gestrichen, z. B. allzu eingehende seetechnische Angaben, Bemerkungen über den Stil macht und einen Brief des angeblichen Kapitäns Gulliver an den Redaktor mitteilt, in dem er sich über die Publikation ausspricht. Er legt Wert auf die Feststellung, daß sie gegen seinen Wunsch erfolgt sei, er beanstandet die Landesbezeichnung Brobdingnag, die richtiger Brobgingrag heißen müsse, er verwahrt sich gegen den in der Öffentlichkeit bereits aufgetauchten Vorwurf einer zu ungünstigen Zeichnung der Yahoos (sprich ja'hurz); sie seien in der Tat so abstoßend und minderwertig, wie seine Berichte sie schildern, besonders in Europa, wo es in jedem Lande Tausende von Menschen gebe, die den niedrigsten Yahoos im Lande der weisen Pferde gleichen. Solche Vorbemerkungen im ernsthaft literarischen Stil geben der ganzen Einkleidung und Vortragsart den Charakter der Glaubwürdigkeit. I. T e i l : Eine Reise nach Lilliput. Lemuel Gulliver ist auf einem Gut in Nottinghamshire geboren. Nach Abschluß seiner Allgemeinbildung auf dem Emanuel College in Cambridge lernte er Medizin bei einem Londoner Chirurgen, beschäftigte sich daneben mit Mathematik und Nautik, studierte in Leyden Physik, verheiratete sich und versuchte sich ohne rechten Erfolg als Schiffsarzt und Landarzt. Mit einem nach der Südsee bestimmten Segelschiff tritt er dann am 4. Mai 1699 seine erste große Fahrt als Schiffsarzt an.
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Schwerer Seesturm treibt das Schiff in die Gegend von Van Diemens Land ab, also nach der heutigen Insel Tasmanien südlich von Australien. Das Schiff zerschellt, sechs Seeleute treiben eine Zeitlang in einem Rettungsboot, kommen aber alle in den Fluten um bis auf Gulliver, der sich ans Land retten kann. Er wandert hinein in die fremde Gegend. Als er sich ermattet niederlegt, fühlt er etwas Winziges an seinem Bein kribbeln: ein menschliches Wesen mit Bogen und Pfeilen, nicht sechs Zoll groß. Andre kommen und binden ihn fest, schießen auch Pfeile auf ihn; es macht ihm aber keine Schwierigkeiten, sich zu befreien. Er verlangt zu essen. Man bringt ihm Fleisch und Wein, ungeheure Portionen nach ihren kleinen Maßstäben. Ein hochgestellter Mann eröffnet ihm im kaiserlichen Auftrage, daß er als Staatsgefangener anzusehen sei, er wird mit Ketten gebunden und in dem größten alten Tempel untergebracht, wo man ihm aus 600 Betten ein Lager herrichtet. Der Kaiser in Person besichtigt den riesigen Fremdling, der ihm Frieden schwören muß. Wir hören nun allerlei Erstaunliches über die Gewohnheiten in dem seltsamen Land. Wenn ein Staatsamt frei ist, wird für die Bewerber ein Seiltanz veranstaltet. Wer am höchsten springt, ohne zu fallen, bekommt das Amt. Der höchste Beamte ist Flimnap, der Schatzkanzler — die Satire geht auf den englischen Ersten Lord des Staatsschatzes Sir Robert Walpole. Die Regierung von Lilliput schließt einen Staatsvertrag über Lebensweise und Verhalten des „Menschenberges" ab, worauf er in Freiheit gesetzt wird. Er kann sich jetzt die Hauptstadt Mildendo und den kaiserlichen Hof ansehen. In der Politik spielen zwei Parteien eine Rolle, die Leute mit hohen und die mit niedrigen Absätzen — die Parallele zu den englischen Tories und Whigs. Der Thronfolger trägt einen hohen und einen niedrigen Absatz, so daß sein Gang ein Humpeln wird — der englische Thronfolger und spätere Georg II. lavierte zwischen den Parteien! Die wichtigste politische Streitfrage geht um das Öffnen der Eier. Als der Großvater des regierenden Kaisers sich einmal beim Öffnen eines Eis am breiten Ende den Finger verletzte, erließ sein kaiserlicher Vater eine Verordnung, nach der fortan Eier nur an der spitzen Seite aufgebrochen werden dürfen. Das unzufriedene Volk machte daraufhin sechs Aufstände, in denen ein Kaiser das Leben, ein anderer die Krone verlor. Der Nachbarstaat Blefuscu schürte die allgemeine Unzufriedenheit und Unruhe. Hunderte von Bänden wurden über das strittige Problem geschrieben. Die „Big-endians" und die „Little-endians" — lies: die römischkatholische und die anglikanische Kirche — stehen sich erbittert gegenüber; die Bigendians, lange unterdrückt und von öffentlichen Ämtern ausgeschlossen, gehen in großer Zahl nach Blefuscu in die Opposition. Lilliput ist ein Kontinent, Blefuscu eine Insel. Als wieder einmal Krieg ausbricht, rettet Gulliver das Land dadurch, daß er die feindliche Flotte mit Schnüren zusammenbindet und herüberzieht. Er widersteht jedoch dem ehrgeizigen Machthunger des Kaisers, der die Big-endians vernichten und Blefuscu zu einer unterworfenen Provinz machen möchte; Gulliver will nicht die Hand dazu bieten, freie Männer zu Sklaven zu machen. Als einmal die Gemächer der Kaiserin in Feuer stehen, löscht er den Brand durch Urinieren. Wir hören weiter von dem geistigen Leben, den Gesetzen, den Sitten und Gebräuchen in Lilliput. Moral gilt mehr als Können. Die Erziehung ist ganz in der Hand des Staates und den Eltern gänzlich genommen. Man schreibt nicht von links nach rechts wie die Europäer, nicht von rechts nach links wie die Araber, nicht von oben nach unten wie die Chinesen, sondern quer über das Blatt von einer Ecke zur anderen wie die Damen in England. Der Menschenberg Quinbus Flestrin, also unser Gulliver, hat gewichtige Widersacher. Er wird des Hochverrats beschuldigt, die Anklageschrift wird uns mitgeteilt. Der Kaiser aber will ihm wohl und entscheidet, man solle ihm nur die Augen aus-
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stechen, das Leben aber belassen; ohne die Augen könne er mit seiner Körperkraft immer noch und sogar noch besser gute Dienste leisten. Gulliver aber schätzt so etwas gar nicht; er entweicht nach Blefuscu, findet ein umgeschlagenes Boot, macht es seetüchtig und fährt ab. Ein paar von den kleinen Kühen nimmt er mit, sie werden aber von den Schiffsratten aufgefressen. Ein Schiff nimmt ihn auf, er gelangt nach Hause zu seiner Familie. Dort jedoch hält es ihn nur zwei Monate; dann treibt ihn die Abenteuerlust wieder hinaus. II. T e i l : Eine Reise nach Brobdingnag. Die Fahrt geht um das Kap der guten Hoffnung durch die stürmereiche Straße von Madagascar in die Gegend der Tartarei. Ein Teil der Mannschaft macht einen Abstecher in das Küstenland. Als eine ungeheure menschliche Gestalt auf sie zukommt, fliehen alle in ihrem Boot, nur Gulliver bleibt zurück. Das Gras, in dem er sich nach seiner Wanderung ausruht, ist zwanzig Fuß hoch. Dort findet ihn einer der Riesen; der geängstete Europäer beklagt sein Geschick und seine unselige Abenteuerlust. Ein Landarbeiter trägt ihn zu seinem Herrn, einem wohlhabenden Bauern, der ihm ein Mittagessen vorsetzen läßt und ihn freundlich aufnimmt. Der Zwerg sieht die Amme mit dem Riesenbaby und muß sich zweier Riesenratten in schwerem Kampf erwehren. Er findet aber eine gütige Hüterin in der neunjährigen Tochter des Bauern, Glumdalclitch, die ihn in der Sprache des Landes unterweist. Der Bauer ist ein tüchtiger Geschäftsmann, er fährt mit dem neuen Hausgenossen auf Märkte und in andere Orte, um das Wunderzwerglein für Geld sehen zu lassen. In der Landeshauptstadt Lorbrulgrud kauft die Königin das seltsame Geschöpf, das durch die anstrengenden Schaustellungen schon sehr geschwächt ist, und der Bauer ist froh, den Todeskandidaten für teures Geld losgeworden zu sein. Auf Geheiß des Königs müssen Gelehrte das fremdartige Geschöpf untersuchen. Man stellt fest, daß es sich um einen „lusus naturae" handle, eine Lösung, die auch europäische Philosophen zur Vertuschung ihrer Unwissenheit lieben. Gulliver spricht in hochpatriotischen Tönen von seinem Heimatland. Der auf ihn neidische Zwerg der Königin läßt ihn einmal in eine mit süßem Rahm gefüllte Schüssel fallen, aus der Glumdalclitch ihn rettet. Brobdingnag ist eine Halbinsel mit felsiger Küste. Sie hat keinen Hafen, also keinerlei Verkehr mit der Außenwelt, nur Binnenschiffahrt. Die Einwohner leben in 51 großen Städten, etwa 100 mauergeschützten kleinen Städten und zahlreichenDörfern. Gulliver gibt auf Befragen an, er könne rudern und segeln; man baut ihm ein kleines Boot, mit dem er sich in einem Trog tummeln darf. Dem König muß er eingehend über England berichten: über das Land selbst, das Parlament, die Rechtspflege, das Schatzamt, die Parteien, Sport und Vergnügungen. Der'König hört aufmerksam zu und macht sich Notizen. Auf die mancherlei Fragen und Einwände des Herrschers kann Gulliver nur etwas lahm erwidern; er fühlt, daß an der Kritik viel Wahres sei, und weicht oft geschickt aus. Swifts Satire hat hier ein weites Feld. Wer nur zwei Kornähren oder Grashalme wachsen lassen könnte, so resümiert der kluge König schließlich, täte seinem Lande einen größeren Dienst als die ganze Sippschaft der Politiker zusammen. In Brobdingnag brauche man nur eine geringe Streitmacht; diese aber sei nicht zu entbehren, weil es immer, genau wie in Europa, einen ehrgeizigen und machtgierigen Adel gegeben habe, der im Zaume gehalten werden müsse. Sonst bilden Moral und Geschichte das Hauptinteresse und den Hauptgegenstand der geistigen Beschäftigungen. Auf einer Fahrt des königlichen Paares an die Südküste gelingt schließlich die Befreiung. Gullivers Wohnkasten wird auf kurze Zeit von dem Aufsichtspagen verlassen, als der Insasse schläft. Ein Adler zieht das Gehäuse in die Luft, läßt es aber, als andere Vögel ihn verfolgen, ins Meer fallen. Ein vorbeisegelndes englisches Schiff fischt den Schiffbrüchigen auf und bringt ihn heim zu Weib und Kindern.
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Die ungeschlachten, rohen Brobdingnagier geben dem Satiriker vielfache Gelegenheit zur Anprangerung der Sittenlosigkeit unter Georg I. Zynisch-realistische Bilder gehen bisweilen bis an die Grenze des Geschmacks: wie die menschliche Haut in der ungeheuren Vergrößerung alle Reize verliert, wie unappetitlich die Brust der Amme wirkt oder gar der Brustkrebs der Bettlerin, wie unzüchtig sich die äußerlich so feinen Hofdamen benehmen, wenn sie unter sich allein sind, wie der Berichterstatter seine Notdurft verrichtet — alles Dinge, die in der Erzählung völlig entbehrlich sind und die mit einer auffallenden Absichtlichkeit vorgebracht werden. Den Abschluß dieses Teils bildet ein komisch-pathetisches Gedicht, als Pastorale bezeichnet und geformt, in dem Glumdalclitch den Verlust ihres Schützlings Grildrig beklagt. III. T e i l : Eine Reise nach Laputa, Balnibarbi, Luggnagg, Glubbdubdrib und Japan. Nach zehntägigem Aufenthalt zu Hause folgt Gulliver der Aufforderung eines Kapitäns, als Schiffsarzt mit besonders hervorgehobener Stellung eine Ostasienfahrt mitzumachen. Wieder wird der Drang in die Welt betont. A m 5. August 1706 bricht man auf. Anlaufen in Tonkin, dann Seesturm, Kaperung und Gefangennahme durch zwei Piratenschiffe, Flucht in einem Kanu mit Hilfe eines japanischen Kapitäns, Sichtung einer Inselgruppe, Landung auf der letzten Insel dieser Gruppe: das sind die Etappen der neuen Reise. Auf der Insel findet der Gerettete zum Glück Eier in großer Zahl, von denen er die ersten Tage leben kann. Eines Tages wird die Insel von einem großen, dunklen Körper überflogen, der sich als eine bewohnte Insel entpuppt, abgestuft in eine Reihe übereinanderliegender Galerien. Auf ein Signal wird Gulliver mit Hilfe eines herabgelassenen Seils emporgezogen auf die fliegende Insel Laputa. Da trifft er merkwürdige Menschen: Männer, die ihren Kopf nach rechts oder links neigen, den Blick nach innen oder nach dem Zenith wenden und Kleider tragen, die mit Sonnen, Monden, Sternen oder mit Musikinstrumenten verziert sind. Viele sind begleitet von einem Diener, der ab und zu mit einer Art Fliegenklappe auf ihren Mund oder ihre Ohren schlagen muß, um sie aus ihrem tiefen Sinnen zu erwecken und auf die Straße achten zu lassen. Auch der König ist beständig in Probleme versunken. Beim Mittagessen werden alle Gerichte in mathematische Figuren geschnitten. Der König ordnet einen Beamten mit seinem Klapper — also dem Bedienten mit der Fliegenklappe — ab, um den Fremdling in der Sprache des Landes unterweisen zu lassen. Ein Schneider macht ihm einen Anzug, mathematisch genau gemessen und gefertigt, aber miserabel sitzend. Wo Musikinstrumente gespielt werden, geschieht es mit Ernst und Andacht, aber man hört keinen Ton, die Spieler haben ihre Ohren auf die Sphärenmusik eingestellt. Alle Leute auf Laputa leben in beständiger Angst vor dem Eintritt irgendeiner Weltkatastrophe, die man in tiefem Sinnen errechnet hat. Die Frauen und Töchter so stark beschäftigter Denker sind natürlich einsam und vernachlässigt, so daß sie sich gerne nach einem Liebhaber umsehen und nach weltlichen Freuden verlangen. Die Insel ist genau kreisrund. Ein Leitstein in ihrem Mittelpunkt läßt sie nach Belieben steigen oder fallen. König und Königin können die Insel nie verlassen. Das Interesse der Männer gilt allein der Mathematik und Musik. Gulliver wird auf seinen Wunsch hinabgelassen auf die feststehende Insel Balnibari mit der Hauptstadt Lugado. Da findet er die Leute schlecht gekleidet und ernährt, die Felder öde. Seitdem die Bewohner gelernt haben, den Landbau wissenschaftlich zu betreiben, wächst nichts Ordentliches mehr. Nur ein großer Grundbesitzer hat blühende Felder und reiche Ernten; er läßt seinen Boden nach der guten alten Art der Väter bestellen, hat zwar den größten Erfolg damit, wird aber wegen seiner Rückständigkeit verachtet. Das eindruckvollste Erlebnis des fremden Gastes ist ein Besuch der Laputa-Universität, einer Akademie der Plänemacher für Landbau, Häuserbau und vieles andere. Da
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sitzen die Forscher an ihren Problemen. Der eine will Sonnenstrahlen aus Gurken herstellen, andere Nahrung aus Exkrementen, Schießpulver durch Verbrennen von Eis, Seide aus heimischen Insekten; dieser versucht Häuser vom Dach aus zu bauen, jener Kolik mit einem Blasebalg zu heilen. Dieses alles und noch mancherlei Weiteres zur Verbesserung des menschlichen Daseins — das Ganze eine bissige Satire auf die „Königliche Gesellschaft" (Royal Society) in London, die berühmte naturwissenschaftliche Akademie. Einer der Laputaforscher baut einen Apparat, mit dessen Handgriff man gedruckte Worte durcheinanderwirbeln kann, so daß ein neues Buch entsteht. In der Sprachenschule, in der drei Professoren arbeiten, kürzt man die Sätze durch Reduktion aller Wörter auf Einsilbigkeit sowie durch Weglassung aller Verben und Partikeln, da ja alle vorstellbaren Dinge doch nur Nomina abgeben. Ein weitergehendes Projekt will die Wörter überhaupt abschaffen, weil der Sprechvorgang die Lunge angreift und dadurch unser Leben verkürzt; statt Worte zu sprechen, könne man ja doch Gegenstände tragen und vorzeigen, um die nötigste Verständigung zu bewirken. Die Frauen seien zwar lebhaft gegen eine solche Entziehung der Rede- und Wortschwallmöglichkeit, aber viele der klügsten Männer hätten sich an die Praxis gewöhnt, wenn sie auch bisweilen unter der Last der mitzunehmenden und für die Konversation erforderlichen Gegenstände zusammenbrechen und am Wege liegenbleiben; für die alltägliche Unterhaltung könne man auf jeden Fall in Taschen und Händen die notwendigsten Dinge mitnehmen. Ein nicht zu unterschätzender Vorteil wäre hierbei die Möglichkeit einer internationalen Verständigung, also die Schaffung einer Art Weltsprache, die namentlich den Diplomaten zugute käme. In der mathematischen Sektion unterrichtet der Lehrer mit einer Waffel, in die die Lehrsätze und Beweise eingekerbt sind, die mit einer bestimmten Tinktur bestrichen und dann von dem Schüler verschluckt wird; drei Tage bekommt er nichts als Brot und Wasser, dann ist die Waffel verdaut, die Tinktur steigt ins Gehirn, der Lehrsatz ist apperzipiert. Ganz funktioniert die Sache freilich noch nicht, weil die verständnislosen Schüler sich entweder vor der seltsamen Speise ekeln oder es ablehnen, ein paar Tage so gut wie fasten zu müssen. Politische Pläneschmiede sind bemüht, theoretisch alle Übel und Mißstände des Staates zu kurieren; Körper und Staat seien dasselbe Gebilde — der Hieb auf Hobbes ist ersichtlich —, also kann man beiden mechanisch beikommen. Die Aufgabe ist vordringlich, da ja in der Welt überall nur Gemeinheit und Korruption herrschen. Gulliver selbst muß ja bald darauf in einer anderen Stadt die Speichellecker erleben. Dem Herrscher dieser Gegend darf man sich nur auf dem Bauche kriechend nahen, wobei man den Fußboden abzulecken hat. Für Gulliver selbst wird freilich aus Höflichkeit der Fußboden sauber geputzt, für die einheimischen Höflinge aber nicht, und wenn der König jemand auf humane Art umbringen will, läßt er einfach ein braunes Giftpulver auf den Boden streuen. Unser Weltenbummler verläßt die fliegende Insel und ihre festen irdischen Anhängsel und segelt nach dem kleinen Eiland Glubbdubdrib, wo Zauberer und Magier leben und Geister der alten und neuen Geschichte beschworen werden können. Das Resultat der Gespräche mit ihnen ist auch hier, daß die Welt immer schlechter und korrupter geworden ist. Auf der Insel Luggnagg gibt es einige durch ein besonderes Stirnzeichen von der Natur gekennzeichnete Menschen, die nie sterben, die Struldbrugs. Wie schön muß das sein! denkt Gulliver, und er malt sich seine Wünsche für ein Leben ohne Tod aus. Aber man lächelt über ihn und gibt ihm Einblick in das Dasein der Unsterblichen. Nach 80 Lebensjahren sind die Struldbrugs verfallene, unappetitliche Geschöpfe, deren Anblick jedem die Sehnsucht nach der Unsterblichkeit vergällen muß. Das Bild der körperlich und geistig zu lebenden Leichnamen Gewordenen ist überaus abstoßend; lebte in des Dichters Seele eine Vorahnung des eigenen geistigen Verfalls?
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Die Laputasatire ist sehr gallig. Wir wissen, daß der große Mathematiker und Naturphilosoph Newton, dessen gelegentliche Zerstreutheit oder Geistesabwesenheit sprichwörtlich war, es in einer Frage der Münzpolitik mit Swift verdorben hatte, und daß die Satire auf ihn und die Königliche Gesellschaft hier ihr Hauptziel hatte. Weniger plastisch und treffend sind die Ausfälle des unmusikalischen Verfassers gegen die Musik, die in der Zeit der Händelbegeisterung in England im Schwange war. IV. T e i l : Eine Reise in das Land der Houyhnhnms. Noch ein viertes Mal treibt die Lust am Abenteuer den heimgekehrten Seefahrer hinaus. Er fährt jetzt als Kapitän in die Südsee. Aber ein Mißgeschick zerstört ihm den Reiseplan; rohe Piratenseeleute, die er selbst angeheuert hat, setzen ihn auf Befehl eines neu eingesetzten Kapitäns aus, und der Einsame muß wieder einmal in ein fremdes Gebiet hineinwandern. Da trifft er Tiere von eklem Geruch und Aussehen, aber mit Menschenantlitz; sie werden, wie er bald erfährt, Yahoos genannt. Dann begegnet er anderen Wesen, die ruhig und gesetzt einherschreiten, reinlich und freundlich sind; man nennt sie Houyhnhnms (sprich hu'inamz). Das seltsame Wort bedeutet Pferd und seiner Etymologie nach etwa Vollendung der Natur; klanglich soll es an das Wiehern (englisch ,whinny') erinnern. Ein solches Wesen wird Gullivers Herr. Er erlernt bei ihm die wiehernde Sprache und verfolgt mit Staunen die Lebensformen. Die klugen Pferde leben ganz nach den Regeln der Vernunft, ohne Bedürfnisse, ohne jede Gewalt, ohne Leidenschaften, auch ohne Krankheiten. Mit Verwunderung hört sein Herr, was der Fremdling über die europäischen Zustände zu berichten hat; die Gründe für häufige Kriege, Kleidung und Nahrung, die unwissenden und gaunerischen Ärzte, die Staatsmänner, den Adel, besonders aber das Rechtswesen und die Juristen, gegen die sich die heftigsten Ausfälle des Berichterstatters richten. Er sieht und hört mehr über die Stellung und Lebensweise der Yahoos, die gierigen, schmutzigen, unbelehrbaren Wesen mit Menschenantlitz. Das heruntergekommene, in Elend und Schmutz erstickende Landvolk seiner irischen Heimat steht hinter dieser abstoßenden Zeichnung des Dichters. Wie anders die weisen PferdeI Ihre Maxime ist: Laß dich nur von der Vernunft leiten: die Vernunft wird immer der brutalen Gewalt überlegen sein. Sie werden niemals krank, sie sterben natürlich und friedlich mit 70 bis 80 Jahren an Altersschwäche, unbetrauert, weil dies Ende erwartet ist und der Natur entspricht. Was ist Gulliver nun eigentlich für ein Wesen? So fragt sich der Rat der Houyhnhnms, er müsse doch wohl zu den Yahoos gesperrt und ausgewiesen werden. Sein freundlicher Herr schätzt und behält ihn, solange er kann, vermag aber einen Daueraufenthalt nicht zu garantieren. So baut der Europäer sich ein Kanu und verläßt das glückliche Land. Ein portugiesisches Schiff bringt ihn nach Lissabon und entläßt ihn nach England. Der Vielerfahrene steht nun wieder in der Welt, die er draußen so oft kritisch zu betrachten gelernt hat. Er kann den heimischen „Yahoos", auch seiner eigenen Familie, nur noch Haß und Verachtung entgegenbringen, selbst ihr Geruch ist ihm widerlich. Wie können so gemeine, kleinliche, zänkische und törichte Geschöpfe sich auch noch anmaßen, andren Ländern Zivilisation bringen zu wollen? Woher wollen sie das Recht zu kolonisatorischer Betätigving nehmen, zumal die anderen Länder gar nicht den Wunsch haben, von ihnen etwas zu nehmen oder zu lernen? Zu bedauern sind nur die heimischen Pferde, die offensichtlich nur eine degenerierte Abart ihrer vollkommenen Brüder in dem fernen Gebiet sind. So schließt der Reisebericht in tiefer verneinender Menschenverachtung. Der Erzähler beteuert noch einmal seine Wahrhaftigkeit und seine volle Uneigennützigkeit bei der Abfassung seiner Berichte. In Form eines Anhangs lesen wir noch ein Dankgedicht der unglücklichen, in England gefangengehaltenen Houyhnhnms an Lemuel Gulliver, ihren verständnisvollen Lobredner, und eine klagende Bitte der Frau Gulliver, ihr Gatte möge ihr doch wieder seine Liebe zuwenden.
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Der „Gulliver", ein Werk aus der Reihe der Utopien mit ihren phantastischen Reisen, Abenteuern, seltsamen Ländern und Menschen, steht neben dem nur sieben Jahre früher erschienenen „ R o b i n s o n " als das andere in die Literatur der breitesten Massen eingegangene Erzählbuch. E r wurde wie Defoes Werk in fast alle Sprachen übersetzt und ungezählte Male als Jugendlektüre bearbeitet, und es gibt wohl wenige Menschen, denen die Geschichte aus Lilliput und Brobdingnag nicht frohe Lese- oder Erzählstunden der Kindheit wachrufen. Freilich nur diese beiden ersten Teile; die Kapitel über die fliegende Insel und das Reich der weisen Pferde sind nicht in den Jugendbüchern enthalten und in ihrer immer beißender werdenden, den Realismus manchmal bis an die Grenze des Zulässigen treibenden Satire hierfür auch nicht geeignet. Aber wie versteht dieser vielleicht größte Meister der englischen Prosa zu erzählen! Wir hören von der Spielzeugwelt im Lande Lilliput: The horses of the army, and those of the royal stables, having been daily led before me, were no longer shy, but would come up to my very feet without starting. The riders would leap them over my hand, as I held it on the ground; and one of the emperor's huntsmen, upon a larger courser, took my foot, shoe and all; which was indeed a prodigious leap. I had the good fortune to divert the emperor one day after a very extraordinary manner. I desired he would order several sticks of two feet high, and the thickness of an ordinary cane, to be brought to me; whereupon His Majesty commanded the master of his woods to give directions accordingly; and the next morning six woodmen arrived, with as many carriages, drawn by eight horses to each. I took nine of these sticks, and fixing them firmly in the ground in a quadrangular figure, two feet and a half square, I took four other sticks and tied them parallel at each corner, about two feet from the ground; then I fastened my handkerchief to the nine sticks that stood erect; and extended it on all sides, till it was tight as the top of a drum; and the four parallel sticks, rising about five inches higher than the handkerchief, served as ledges on each side. When I had finished my work, I desired the emperor to let a troop of the best horse, twenty-four in number, come and exercise upon this plain. His Majesty approved of the proposal, and I took them up, one by one, in my hands, ready mounted and armed, with the proper officers to exercise them. As soon as they got into order, they divided into two parties, performed mock skirmishes, discharged blunt arrows, drew their swords, fled and pursued, attacked and retired, and in short, discovered the best military discipline I had ever beheld. The parallel sticks secured them and their
Die Pferde der Armee und die aus dem kaiserlichen Marstall waren, nachdem sie täglich zu mir geführt worden waren, gar nicht mehr scheu; sie kamen dicht an meine Füße heran, ohne zu stutzen. Die Reiter setzten mit ihnen über meine Hand, wenn ich sie auf den Erdboden legte, und ein kaiserlicher Jäger nahm mit einem größeren Renner sogar meinen Fuß mit Schuh — gewiß ein imponierender Sprung. Eines Tages hatte ich das Glück, den Kaiser auf eine ganz besondere Art zu unterhalten. Ich bat ihn, die Beschaffung einiger Stöcke von zwei Fuß Länge und der Dicke eines gewöhnlichen Rohrstocks zu befehlen, und Seine Majestät erteilte dem Oberforstmeister den Auftrag. Am nächsten Morgen fuhren sechs Waldarbeiter mit ebensoviel Wagen, deren jeder von acht Pferden gezogen wurde, bei mir vor. Ich nahm neun der Stöcke, steckte sie in einer viereckigen Figur von zweieinhalb Quadratfuß fest in den Erdboden, nahm vier weitere Stöcke und machte sie parallel zueinander an den vier Ecken fest, etwa zwei Fuß vom Boden entfernt; dann band ich mein Taschentuch an die neun aufrecht stehenden Stöcke und spannte es nach allen Richtungen, bis es straff wie ein Trommelfell war; dabei dienten die parallelen Stäbe, die etwa fünf Zoll in der Höhe über das Taschentuch hinausragten, auf jeder Seite als Leisten. Als ich mein Werk beendet hatte, bat ich den Kaiser, eine Abteilung seiner besten Kavalleristen, im ganzen vierundzwanzig, kommen und auf dieser Ebene exerzieren zu lassen. Seine Majestät war einverstanden. Ich nahm die Reiter aufgesessen und mit allen Waffen einzeln in die Hand, ebenso die zur Leitung der Übungen bestimmten Offiziere. Als sie in Reih und Glied standen, teilten sie sich in zwei Parteien, veranstalteten Schein-
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horses from falling over the stage; and the emperor was so much delighted, that he ordered this entertainment to be repeated several days, and once was pleased to be lifted up, and give the word of command; and, with great difficulty, persuaded even the empress herself to let me hold her in her close chair within two yards of the stage, when she was able to take a full view of the whole performance. It was my good fortune, that no ill accident happened in these entertainments; only once a fierce horse, that belonged to one of the captains, pawing with his hoof, struck a hole in my handkerchief, and his foot slipping, he overthrew his rider and himself; but I immediately relieved them both, and covering the hole with one hand, I set down the troop with the other, in the same manner as I took them up. The horse that fell was strained in the left shoulder, but the rider got no hurt; and I repaired my handkerchief as well as I could; however, I would not trust to the strength of it any more, in such a dangerous enterprise.
About two or three days before I was set at liberty, as I was entertaining the court with this kind of feats, there arrived an express to inform His Majesty that some of his subjects, riding near the place where I was first taken up, had seen a great black substance lying on the ground, very oddly shaped, extending its edges round, as wide as His Majesty's bedchamber, and rising up in the middle as high as a man; that it was no living creature, as they at first apprehended, for it lay on the grass without motion, and some of them walked round it several times; that, by mounting upon each other's shoulders, they had got to the top, which was flat and even, and stamping upon it, they found that it was hollow within, that they humbly conceived it might be something belonging to the Man-mountain; and if His Majesty pleased, they would undertake to bring it with only five horses. I presently knew what they meant, and was glad at heart to receive this intelligence. It seems, upon my first reaching the shore after our shipwreck, I was in such
geplänkel, schössen stumpfe Pfeile ab, zogen die Schwerter, flohen und verfolgten sich, griffen an und zogen sich zurück, kurz, sie entfalteten die beste militärische Disziplin, die ich je beobachtet habe. Die parallelen Stäbe sicherten sie und ihre Pferde gegen ein Herabstürzen von der Bühne. Der Kaiser war so entzückt, daß er eine Wiederholung der Unterhaltung für mehrere Tage anordnete, und einmal machte es ihm Spaß, selber hinaufgehoben zu werden und das Kommando zu übernehmen; er überredete sogar mit erheblicher Mühe die Kaiserin, sich von mir in ihrem Stuhl in einer Entfernung von zwei Ellen von der Bühne halten zu lassen, von wo aus sie die ganze Vorführung schön überschauen konnte. Zu meinem Glück liefen die Spiele ohne bösen Zwischenfall ab. Nur einmal schlug ein feuriges Roß, das einem der Hauptleute gehörte, beim Stampfen mit den Hufen ein Loch in mein Taschentuch; dabei glitt es aus und stürzte mitsamt seinem Reiter. Ich befreite beide sofort aus ihrer Lage, deckte eine Hand auf das Loch und hob mit der anderen den Reitertrupp herunter, so wie ich ihn emporgehoben hatte. Das gestürzte Pferd hatte sich die linke Schulter verrenkt, aber der Reiter war unverletzt, und mein Taschentuch besserte ich aus, so gut es ging. Ich getraute mich aber nicht, seine Haltbarkeit noch einmal für so gefährliche Versuche zu erproben. Etwa zwei oder drei Tage vor meiner Freilassung aus der Haft, die ich durch derartige Unterhaltungen für den Hof erreichte, erhielt der Kaiser durch einen Eilboten die Nachricht, einige seiner Untertanen hätten auf ihrem Ritt in der Nähe der Stätte meiner Auffindung ein großes schwarzes Gebilde von sehr sonderbarer Gestalt gesehen, mit rundum hervorragendem Rand, breit wie das Schlafzimmer Seiner Majestät und in der Mitte von Mannshöhe; es sei aber kein lebendes Wesen, wie zuerst angenommen, denn es liege bewegungslos im Grase, und einige Leute hätten es mehrmals umschritten. Sie seien auch, einander auf die Schultern steigend, auf das flache und ebene Dach gelangt, hätten durch Stampfen mit den Füßen festgestellt, daß es innen hohl sei, und erlaubten sich die Meinung vorzutragen, daß das Ding wohl dem Menschenberg gehören müsse; wenn Seine Majestät es erlaube, wollten sie versuchen, es mit fünf Pferden herbeizuschaffen. Ich merkte sofort, was gemeint war, und freute mich herzlich
Jonathan Swift : Gullivers Reisen
confusion, that before I came to the place where I went to sleep, my hat, which I had fastened with a string to my head while I was rowing, and had stuck on all the time I was swimming, fell off after I came to land; the string, as I conjecture, breaking by some accident, whichl never observed, but thought my hat had been lost at sea. I entreated His Imperial Majesty to give orders it might be brought to me as soon as possible, describing to him the use and the nature of it; and the next day the waggoners arrived with it, but not in a very good condition; they had bored two holes in the brim, within an inch and a half of the edge, and fastened two hooks in the holes; these hooks were tied by a long cord to the harness, and thus my hat was dragged along for above half an English mile; but the ground in that country being extremely smooth and level, it received less damage than I expected.
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über die Nachricht. Anscheinend war ich bei der Landung nach unserm Schiffbruch in solcher Verwirrung gewesen, daß ich vor Erreichen des Platzes, an dem ich mich zum Schlafen niederlegte, meinen Hut, den ich während des Ruderns mit einem Bindfaden an meinen Kopf gebunden hatte, verlor, sobald ich ans Land kam; der Bindfaden muß durch irgendeinen von mir nicht bemerkten Unglücksfall gerissen sein, und ich glaubte den Hut auf dem Meere verloren zu haben. Ich bat Seine Kaiserliche Majestät Befehl zum sofortigen Herbeischaffen des Hutes zu geben, und beschrieb ihm die Art und Verwendung eines solchen Dinges. Am nächsten Tage brachten ihn die Fahrer, wenn auch in böser Verfassung. Sie hatten zwei Löcher in die Krempe gebohrt, eineinhalb Zoll vom Rand entfernt, und zwei Haken durch diese Löcher gesteckt; die Haken wurden mit einem langen Seil an dem Pferdegeschirr befestigt, und so wurde mein Hut mehr als eine englische Meile weit geschleppt. Das Erdreich ist in jenem Lande aber äußerst weich und eben, so daß der Hut geringeren Schaden erlitt, als ich erwartet hatte.
Köstlich die todernste Sorgfalt und Umständlichkeit, mit der alles erzählt wird, die wichtige Übung der Kavalleristen und die Herbeischaffung des Riesenhutes. Wir hören dann, wie die stolze Streitmacht des sich in seiner Macht sonnenden Zwergenkaisers mit Musik und wehenden Fahnen durch den Triumphbogen, den der breitbeinig stehende Koloß bilden muß, hindurchmarschiert und wie einige vorwitzige Leutnants trotz des strengen „Rieht' Euch!" nach oben blinzeln und ihr Lachen über die defekten Beinkleider des lebenden Triumphbogens nicht verkneifen können. Oder nehmen wir als weiteres Beispiel den ersten Eindruck von den weisen Pferden, vor denen die eklen Yahoo-Geschöpfe Reißaus nehmen: In the midst of this distress, I observed them all to run away on a sudden as fast as they could, at which I ventured to leave the tree, and pursue the road, wondering what it was that could put them into this fright. But looking on my left hand, I saw a horse walking softly in the field; which my persecutors having sooner discovered, was the cause of their flight. The horse started a little, when he came near me, but soon recovering himself, looked full in my face with manifest tokens of wonder. He viewed my hands and feet, walking round me several times. I would have pursued my journey, but he placed himself directly in the way, yet looking with a very mild aspect, never offering the least violence. We stood gazing at each other for some time;
Inmitten dieses Ungemachs sah ich, wie sie plötzlich mit Windeseile ausrissen. Daraufhin wagte ich von meinem Baum herunterzusteigen und den Weg weiterzugehen, wobei ich zu erkunden suchte, was sie in diese Flucht versetzt haben möchte. Als ich nach links blickte, sah ich ein Pferd gemächlich über das Feld gehen; sein Anblick war die Ursache der Flucht meiner Verfolger gewesen. Das Pferd stutzte ein wenig, als es in meine Nähe kam, faßte sich aber schnell und schaute mir mit sichtbaren Anzeichen der Verwunderung ins Gesicht. Es beäugte meine Hände und Füße und umschritt mich ein paarmal. Ich hätte gern meinen Weg fortgesetzt, aber es stellte sich mir gerade in den Weg, wobei es mich mit freundlicher Milde anblickte, ohne das
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IV. Barock und Aufklärung
at last I took the boldness to reach my hand towards his neck with a sign to stroke it, using the common style and whistle of jockeys, when they are going to handle a strange horse. But this animal seemed to receive my civilities with disdain, shook his head, and bent his brows, softly raising up his right fore-foot to remove my hand. Then he neighed three or four times, but in so different a cadence, that I almost began to think he was speaking to himself, in some language of his own.
While he and I were thus employed, another horse came up; who applying himself first in a very formal manner, they gently struck each other's right hoof before, neighing several times by turns, and varying the sound, which seemed to be almost articulate. They then went some paces off, as if it were to confer together, walking side by side, backward ana forward, like persons deliberating upon some affair of weight, but often turning their eyes towards me, as it were to watch that I might not escape. I was amazed to see such actions and behaviour in brute beasts; and concluded with myself, that if the inhabitants of this country were endued with a proportionable degree of reason, they must needs be the wisest people upon the earth. This thought gave me so much comfort, that I resolved to go forward, until I could discover some house or village, or meet with any of the natives, leaving the two horses to discourse together as they pleased. But the first, who was a dapple grey, observing me to steal off, neighed after me in so expressive a tone, that I fancied myself to understand what he meant; whereupon I turned back, and came near to him, to expect his farther commands, but concealing my fear as much as I could; for I began to be in some pain how this adventure might terminate; and the reader will easily believe I did not much like my present situation.
The two horses came up close to me, looking with great earnestness upon my face and hands. The grey steed rubbed my hat all round with his right fore-hoof, and
geringste Anzeichen von Gewalt. So standen wir eine Weile und schauten uns an. Ich faßte mir schließlich ein Herz und langte mit der Hand nach seinem Hals, um es zu streicheln, wobei ich nach Art der Jockeys redete und pfiff, wenn sie ein fremdes Pferd in die Hand bekommen. Dies Pferd aber schien alle meine Freundlichkeitsbezeigungen mit Verachtung aufzunehmen, schüttelte den Kopf, zog die Augenbrauen zusammen und hob sachte den rechten Vorderfuß, um meine Hand zu entfernen. Dann wieherte es drei- oder viermal, jedoch mit einem so unterschiedlichen Tonfall, daß ich auf den Gedanken kam, es spreche in irgendeiner eigenen Sprache mit sich selbst. Während wir so beschäftigt waren, kam ein zweites Pferd heran; es benahm sich sehr formell, beide Tiere streckten den rechten Vorderfuß und berührten sich sachte damit, wobei sie abwechselnd mehrmals wieherten in verschiedenen Tönen, die fast wie artikuliertes Sprechen klangen. Sie entfernten sich ein paar Schritte, wie um miteinander zu beraten, gingen Seite an Seite, vorwärts und wieder zurück wie Leute, die etwas Wichtiges zu besprechen haben, wandten dabei aber öfters ihre Blicke zu mir, als wollten sie aufpassen, daß ich nicht entwiche. Ich war höchlich erstaunt, ein solches Tun und Benehmen bei unvernünftigen Tieren zu finden, und folgerte in meinem Inneren, daß, wenn die Bewohner dieses Landes in entsprechendem Maße vernunftbegabt wären, sie die weisesten Menschen der Erde sein müßten. Dieser Gedanke tröstete mich so sehr, daß ich mich zum Weitergehen entschloß, bis ich ein Haus oder Dorf entdecken oder einen der eingesessenen Bewohner treffen würde; die beiden Pferde könnten ja nach Belieben sich weiter unterhalten. Als aber das erste, ein Apfelschimmel, merkte, daß ich mich aus dem Staube machen wollte, wieherte es in so nachdrücklichem Ton hinter mir her, daß ich seine Meinung zu verstehen glaubte. Ich kehrte um und näherte mich ihm, um seine weiteren Befehle abzuwarten, wobei ich meine Angst so gut wie möglich verbarg. Ich fing an, mit einiger Besorgnis dem Ausgang dieses Abenteuers entgegenzusehen, und der Leser wird verstehen, daß mir die Situation nicht sympathisch war. Die beiden Pferde kamen dicht an mich heran und betrachteten mein Gesicht und meine Hände mit großem Ernst. Das graue Streitroß fuhr mit dem Vorderhuf rund um
Jonathan Swift : Gullivers Reisen
discomposed it so much that I was forced to adjust it better by taking it off, and setting it again; whereas, both he and his companion (who was a brown bay) appeared to be much surprised, the latter felt the lappet of my coat, and finding it to hang loose about me, they both looked with new signs of wonder. He stroked my right hand, seeming to admire the softness and colour; but he squeezed it so hard between his hoof and his pastern, that I was forced to roar; after which they both touched me with all possible tenderness. They were under great perplexity about my shoes and stockings, which they felt very often, neighing to each other, and using various gestures, not unlike those of a philosopher, when he would attempt to solve some new and difficult phenomenon. Upon the whole, the behaviour of these animals was so orderly, so acute and judicious, that I at last concluded they must needs be magicians, who had thus metamorphosed themselves upon some design, and seeing a stranger in the way, resolved to divert themselves with him; or, perhaps were really amazed at the sight of a man so very different in habit, feature, and comjlexion, from those who might probably ive in so remote a climate. Upon the strength of this reasoning, I ventured to address them in the following manner: "Gentlemen, if you be conjurors, as I have good cause to believe, you can understand any language; therefore I make bold to let your worships know that I am a poor distressed Englishman, driven by his misfortunes upon your coast; and I entreat one of you to let me ride upon his back, as if he were a real horse, to some house or village where I can be relieved. In return of which favour, I will make you a present of this knife and bracelet"; taking them out of my pocket. The two creatures stood silent while I spoke, seeming to listen with great attention; and when I had ended, they neighed frequently towards each other, as if they were engaged in serious conversation. I plainly observed that their language expressed the passions very well, and the words might, with little pains, be resolved into an alphabet more easily than the Chinese.
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I could frequently distinguish the word 14 Die Stimmen der Meister
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meinen Hut herum und brachte ihn so aus der Form, daß ich ihn abnehmen mußte, um ihn wieder herzurichten, worüber beide Pferde, das Streitroß selbst und sein Genosse, ein Brauner, sehr erstaunt zu sein schienen. Der Braune betastete meinen Rockaufschlag und fand, daß er lose an meinem Körper hing, was beiden neue Zeichen der Verwunderung entlockte. Er streichelte meine rechte Hand und schien ihre Weichheit und ihre Farbe zu bewundern; er drückte sie aber zwischen Huf und Fessel so stark, daß ich laut aufschreien mußte, und darauf berührten sie mich mit aller erdenklichen Zärtlichkeit. Gar sehr bestürzt waren sie über meine Schuhe und Strümpfe, die sie oft unter gegenseitigem Anwiehern befühlten, wobei sie gestikulierten ungefähr wie ein Philosoph, wenn er ein neues und schwieriges Problem zu lösen versucht. Alles in allem war das Benehmen dieser Tiere so ordentlich und vernunftgemäß, so klug und verständig, daß ich zu der Meinung kam, sie müßten Zauberer sein, die sich aus irgendeiner Absicht verwandelt und beim Anblick eines Fremden den Gedanken gefaßt haben, sich mit ihm einen Spaß zu machen; oder etwa, sie wären wirklich verwundert über einen Menschen, der sich von denen, die womöglich in einem so entfernten Klima lebten, durch Gewohnheit, Gesichtszüge und Farbe so völlig unterschied. Auf Grund solcher Überlegung wagte ich schließlich sie folgendermaßen anzureden: „Meine Herren, wenn Sie Zauberer sind, wie ich Grund habe anzunehmen, so können Sie jede Sprache verstehen; darum erlaube ich mir Eure Gnaden wissen zu lassen, daß ich ein in Not geratener Engländer bin, den ein Mißgeschick an Ihre Küste geworfen hat. Ich bitte einen von Ihnen, mich auf seinem Rücken reiten zu lassen, als wäre er ein wirkliches Pferd, damit ich in irgendeinem Haus oder Dorf Schutz finden kann. Zum Entgelt für solche Freundlichkeit will ich ihm dies Messer oder Halsband verehren." Dabei zog ich beides aus der Tasche. Die beiden Geschöpfe standen während meiner Worte still und hörten sehr aufmerksam zu. Als ich geendet hatte, wieherten sie sich wiederholt etwas zu, als seien sie in ernster Unterhaltung begriffen. Ich bemerkte ganz offen, daß ihre Sprache die Empfindungen recht gut ausdrückte und daß die Worte mit geringer Mühe leichter als das Chinesische in ein Alphabet gebracht werden könnten. Ich konnte häufig das Wort Yahoo heraus-
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Yahoo, which was repeated by each of them several times; and although it was impossible for me to conjecture what it meant, yet, while the two horses were busy in conversation, I endeavoured to practise this word upon my tongue; and as soon as they were silent, I boldly pronounced Yahoo, in a loud voice, imitating at the same time, as near as I could, the neighing of a horse; at which they were both visibly surprised, and the grey repeated the same word twice, as if he meant to teach the right accent; wherein I spoke after him as well as I could, and found myself perceivably to improve every time, though very far from any degree of perfection. Then the bay tried me with a second word, much harder to be pronounced; but reducing it to the English orthography, might be spelled thus, — Houyhnhnm. I did not succeed in this so well as in the former; but after two or three trials, I had better fortune, and they both appeared amazed at my capacity. After some further discourse, which I then conjecture might relate to me, the two friends took their leaves with the same compliment of striking each other's hoof, and the grey made me signs that I should walk before him; wherein I thought it prudent to comply, till I could find a better director. When I offered to slacken my pace, he would cry hhuun, hhuun, I guessed his meaning, and gave him to understand, as well as I could, „that I was weary, and not able to walk faster;" upon which he would stand awhile to let me rest.
hören, das jedes Pferd mehrmals aussprach; und wenn ich auch nicht herausbekommen konnte, was es bedeutete, so übte ich doch meine Zunge im Aussprechen des Wortes, während sie in ihrem Gespräch begriffen waren; und als sie schwiegen, sagte ich dreist und laut Yahoo und ahmte dabei, so gut ich konnte, das Wiehern eines Pferdes nach. Darüber waren sie beide sichtlich überrascht, und der Graue wiederholte das Wort zweimal, als wollte er mir den richtigen Akzent vormachen. Ich sprach es ihm nach, so gut ich konnte, und ich merkte, daß es jedesmal besser ging, wenn es auch noch lange nicht vollkommen war. Dann prüfte mich der Braune mit einem zweiten, viel schwerer auszusprechenden Wort; wenn wir es in englischer Schreibung umsetzten, kann man es so buchstabieren: Houyhnhnm. Das verstand ich nicht so gut wie das erste. Ich versuchte es aber noch zwei- oder dreimal, und da ging es schon besser: die beiden waren anscheinend erstaunt über meine Fähigkeit. Nach einer weiteren Unterhaltung, die ich auf mich beziehen konnte, verabschiedeten sich die beiden Freunde wieder mit der gleichen Hufberührung. Der Grauschimmel bedeutete mir, vor ihm herzugehen, was ich auch bereitwilligst tat, bis ich einen besseren Führer finden konnte. Als ich Miene machte, etwas langsamer zu gehen, rief er: hhuun. Ich erriet die Bedeutung und gab ihm, so gut es ging, zu verstehen, daß ich müde wäre und nicht schneller gehen könnte. Darauf blieb er eine Weile stehen und ließ mich ausruhen.
Das ist eine klare, ruhige Sprache ohne Langatmigkeit, ohne schmückende Beiwörter, Gleichnisse oder Antithesen, schlicht und gefällig, in einfachster Wortwahl, ohne gesuchte Neubildungen, von einem inneren Rhythmus getragen, kraftvoll, ohne rhetorische Kunstmittel, eine Sprache der inneren Spannungen, die die lauten Effekte vermeidet und dafür dem Leser die Reaktionen überläßt, eine „klassische" Stilhaltung. Alles ist Vorgang, das ruhige Nacheinander ersetzt die umständliche Schilderung. Mit der ernstesten Miene werden die tollsten Seltsamkeiten als zwingende Wahrheiten erzählt, niemals nimmt der Berichterstatter an unserm Lächeln und Kopfschütteln teil, er bleibt völlig objektiv. Durch diese Ernsthaftigkeit und die liebevolle Umständlichkeit der kleinen Züge wird der Eindruck vertrauenerweckender Zuverlässigkeit erzielt. Alles erscheint natürlich, so haarsträubend die Vorgänge auch sein mögen. Kann es ein besseres Zeugnis für die Wirklichkeitsnähe dieser Erzählkunst geben als die von dem Verfasser einmal berichtete Bemerkung eines irischen Bischofs, das Buch sei so voll von Unwahrscheinlichkeiten und Lügen, daß er kein Wort davon glaube? Oder das uns überlieferte Seemannsgarn eines Zeitgenossen, der vorgab, den Kapitän Gulliver gut zu kennen, nur wohne er nicht in Rotherhithe, sondern in Wapping? Wahrlich ein vortreffliches Zeugnis für die Naturtreue des Hauptcharakters. Swift
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liebte es, seine Bücher anonym oder pseudonym herauszubringen, und hatte seinen Spaß an dem Rätselraten über Verfasserschaft und Wahrheitsgehalt. Ein Lügenbuch, eine Traumwelt mit allen Zeichen der wirklichen Existenz, in die wir uns zu unserer Entspannung in mitschaffender Phantasie gerne hineintragen lassen: das ist diese Kunst. Wie der Robinson das klassische Weltbuch des Abenteueralters wurde, so der Gulliver das Buch der Jugend, die in die Gefilde des Märchens und der phantastischen Seltsamkeiten hinausschweift und sie als Realitäten erlebt. Wie spaßig erscheinen Welt und Leben, wie absurd die Leidenschaften, wenn das ganze Getriebe auf Menschen von sechs Zoll verniedlicht wird wie in Liiliput; wie ungeschlacht und roh aber bei den Brobdingnagiern mit ihrer zwanzig Fuß hohen Körperlichkeit 1 Wie lächeln wir über die Wichtigtuerei, mit der das Zwergengeschlecht das verrichtet und empfindet, was wir doch alle täglich tun und empfinden, wie betroffen sind wir doch über die Plumpheit der Wesen und Erscheinungen, wenn sie vielfach vergrößert werden! Walter Scott hat an die Verzerrungen der Verhältnisse erinnert, wenn wir ein Fernglas je nachdem mit dem Okular oder dem Objektiv vor das Auge halten; das ist ein Spaß für kleine und große Kinder. Es wurde schon erwähnt, daß nur die beiden ersten Teile ein Jugendbuch geworden und auch allein dafür geeignet sind. Diese Geschichten liest man um ihrer selbst willen, sie fesseln auch den, der von dem zeitgenössischen Hintergrund nichts weiß und darum die Ironie nicht bemerkt. Wenn Humor die Schilderung der Wirklichkeit unter dem Schein, sie sei die ideale Welt, und Ironie das Umgekehrte ist, so überschneiden sich hier die beiden Haltungen oft genug, und der echte Humor kommt nicht selten zu seinem Recht. Von der dritten Reise ab, die in den Jahren begonnen wurde, als des Dichters eigenes Glück in dem tragischen Ausgang einer großen Liebe zerfiel und die Schatten der Umnachtung sich ankündigen, überwiegt die Satire; sie wird so deutlich und beißend bis zu dem schneidenden Mißton, der das Ganze beschließt, so daß man sich fragt, wie es denn in der Seele eines so grimmigen und unerschrockenen Neinsagers ausgesehen haben mag. Jonathan Swift (1667—1745), aus einer nordenglischen Familie stammend, ist in Irland geboren. Er studierte in Dublin, kam in London als langjähriger Privatsekretär des alten Staatsmanns Sir William Temple und eine Zeitlang auch in Irland als Sekretär und Kaplan des Vizekönigs Lord Berkeley in eine intime Berührung mit politischen Fragen, die ihm keine Ruhe für das stille Leben eines irischen Landpfarrers ließen, sondern ihn nach London und zu einer Betätigung als politischer Pamphletist und Journalist trieben. Eine übermütige, mit geistvollen Seitenblicken fast allzu reich gefüllte, künstlerisch sehr bedeutsame Satire auf die christlichen Bekenntnisse, das „Tonnenmärchen", stellte ihn sofort in die vorderste Reihe der englischen Schriftsteller, und seine scharfe politische Feder machte ihn einflußreich und gefürchtet, zuerst auf der Seite der Whigs, dann mit plötzlicher Wendung bei den Tories. Er reiste zwischen Irland und England hin und her, war als Berater und Vorkämpfer der Regierung eine politische Macht, erlangte zwar nicht die ersehnte Bischofswürde, aber das Dekanat von St. Patrick in Dublin; als „der Dechant" lebt er noch heute in der Verehrung des irischen Volkes. Der Tod der Königin Anna und die Thronbesteigung eines Königs aus dem Hause Hannover brachten den Sturz der Toryherrschaft und das Ende der glanzvollen Stellung Swifts. Enttäuscht und verbittert zog er sich nach Dublin in das ungeliebte geistliche Amt zurück, noch unglücklicher gemacht durch inneres Erleben in der eigenartigen Doppelliebe zu zwei Frauen, seiner „Stella" und „Vanessa". Das lange, innige Verhältnis zu Hester Johnson (Stella), das sich in Briefen und einem herrlichen Tagebuch offenbart, wurde gestört durch die Liebe zu der leidenschaftlichen Ester Vanomrigh (Vanessa), die ihm gegen seinen Wunsch nach Dublin folgte. Ein Geheimnis umschwebt die Frage, ob Swift seine Stella geheiratet hat. Ein 14*
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zermürbendes Taumeln zwischen den Gefühlen aber, der baldige Tod Vanessas, das stille Dulden und Erliegen Stellas verdüsterten den Dechanten, den ein ihm nahestehender Prälat den unglücklichsten Mann der Welt nannte. Sein revolutionäres Eintreten für das elende und geknechtete irische Volk, das ihn einst als Handlanger der Regierung gehaßt hatte, verschuf ihm die Liebe des einfachen Mannes. Aber die Bemühungen um einen Parlamentssitz und neue Verbindungen mit der hohen Politik scheiterten. Die letzten Lebensjahre, von fast unerträglichen körperlichen und seelischen Schmerzen begleitet, bieten ein Bild des fortschreitenden Verfalls bis zur geistigen Umnachtung. Ein reiches Werk an satirischen Prosadichtungen, politischen Schriften, Kritiken der Menschen in ihrem Verhalten zur Welt und Sittlichkeit, Bemühungen um Sprachreinheit, Gedichten und Briefen war der Ertrag dieses unruhigen und unausgeglichenen, an Widersprüchen sich zerreibenden Lebens. Von der überlegenen Heiterkeit der „Bücherschlacht", einer burlesken Parodie auf den damals lebendigen Streit um den Vorzug der alten oder modernen Schriftsteller, bis zu dem grimmigen, ja zynischen Humor eines „Bescheidenen Vorschlags", zur Linderung der irischen Not die Kinder der Armen zu schlachten, führt eine erkennbare Linie wachsender Bitterkeit. Schonungslos und offen, oft von beißender Schärfe und tötender Preisgabe an das Gelächter ist Swifts Satire, gestaltungsreich, treffsicher in der klaren Sprache. Er ist der Klassiker der Prosasatire, dieser für das kritisch und lehrhaft gerichtete Vernunftzeitalter so bezeichnenden Gattung. Von einem solchen Leben der Widersprüche und des Widersprechens aus wird uns nun das Gulliverbuch mit dem Reichtum seiner Töne vom anmutigen Märchen bis zur schonungslosen Realistik und schneidenden Dissonanz verständlich. Der große Naturforscher und Philosoph Isaac Newton hatte in einer Frage der Münzprägung Swifts Unwillen erregt, und mit ihm wird dann in der Zeichnung der fliegenden Insel Laputa die ganze „Königliche Gesellschaft" der Naturforscher dem Lachen preisgegeben; die sprichwörtliche Geistesabwesenheit Newtons führte zu dem Bild der Laputa-Gelehrten mit ihren Fliegenklappen. Swift stand den Naturwissenschaften ebenso wie der Musik im tieferen Sinne fern. Seine Pläneschmiede in der Laputa-Universität tun gewiß der damaligen Leistung der englischen Natur forschung schweres Unrecht. Ihre parodistische Kraft aber ist grandios, der Angriff auf die Überheblichkeit des Vernunftglaubens treffsicher. Und welcher Ernst, welche Lebenserfahrung steht hinter dem wohl ergreifendsten Bild des ganzen Werks, das an Trostlosigkeit von den Höllenszenen Dantes nicht übertroffen wird, der Schilderung der Struldbrugs, jener mit dem Stigma der Unsterblichkeit Gezeichneten auf der Insel Luggnaggl Herrlich malt sich Gulliver die Möglichkeiten eines Lebens ohne Ende aus; denn wir Menschen lieben das Leben, ohne seine Geheimnisse voll zu kennen, und wir fürchten den Tod, ohne zu wissen, was sich hinter ihm verbirgt. Welch ein Irrtum! Welche Enttäuschung bereiten die körperlich und geistig immer mehr verfallenden alten Struldbrugs, die den tätigen Menschen zur Last und selber zu jedem Wirken unfähig und ohne Verständnis für die sich stets wandelnde Welt, also ohne Zusammenhang mit der Gemeinschaft sind. Swift sagte einmal zu Edward Young, dem Dichter der „Nachtgedanken", als sie an einer vertrockneten Eiche vorbeikamen: „Ich bin wie ein Baum, ich werde von oben her sterben." Ein Vorgefühl des eigenen Altersschicksals macht die auch im Ton von warmer Beteiligung getragene Zeichnung der unglücklichen Unsterblichen noch ergreifender. Ein ewiges Leben wäre kein Glück, der einzelne muß aufhören und abgelöst werden, wenn es ein fortschreitendes Bewußtsein der Völker und der Menschheit geben soll. Tod und Gemeinschaft stehen in Wechselwirkung. Das ewige Gesetz des „Stirb und Werde", des Aufhörens und Neuaufbauens, durchzieht das All und ist das segensreiche Mahnmal menschlicher Vergänglichkeit. Der vorher genannte E. Young preist den Tod als Krönung des
Jonathan Swift : Gullivets Reisen
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Lebens, als Befreiung und Überwindung, als Erfüllung unserer Hoffnungen und Mühen; ein Leben ohne ihn wäre Fluch („Nachtgedanken", III. Nacht). Den Abschluß bildet die gallige, schwarzmalende Satire auf die Menschheit überhaupt im Reiche der weisen Pferde. Zwar fehlt es auch hier nicht an Einzelzügen bezwingenden Humors, etwa in der köstlichen Szene, in der Gulliver von seinem Houyhnhnm-Herrn Abschied nimmt: wie er sich niederwerfen will, um den Huf des Gastherrn zu küssen, wie der Ehrwürdige aber selbst sich herabläßt, den Huf gnädig zu heben und dem Scheidenden an den Mund zu führen, eine ganz unerwartete und seltene Ehrung. Das ist ein Ernst, logisch und absurd zugleich, der alle Verhältnisse auf den Kopf stellt. Der Grundton dieses letzten Buches ist aber ungemein bitter. Die Menschen sind ein rein animalisches Geschlecht, triebhaft, zänkisch, eigennützig, gemein; jedes Tier, das sein Leben ruhig in seinen Grenzen lebt, ist edler und weiser. Alle Illusionen in der Welt sind verderblich, nur die Vernunft hat ihr Recht, und sie wohnt leider nicht bei den Menschen. Der Dichter schreibt einmal in einem Briefe: „Erwartet nichts weiter vom Menschen als das, was ein solches Geschöpf vermag, und ihr werdet meine Schilderung der Yahoos mit jedem Tag ähnlicher finden. Ihr solltet im Denken und Handeln jeden Menschen für einen Schurken halten, ohne ihn so zu nennen, ohne ihn zu fliehen oder geringer einzuschätzen. Das ist eine wahre alte Lehre." Aber in einer anderen Briefstelle heißt es: „Ich hasse und verachte das Geschöpf, das sich Mensch nennt, von Herzen, aber ich liebe ebenso herzlich den Johann, Peter, Thomas usw." Hier liegt der Schlüssel. Große Satire setzt reines, freies Menschentum voraus. Swift glaubte an ein unerreichbares Sittenideal. Die große Seele des am Menschentum als solchem verzweifelnden, von Stürmen gerüttelten Dichters gibt die Gattung auf, liebt aber den einzelnen, der seinen Kampf ums Leben zu bestehen hat, und fühlt mit ihm. Das ist s e i n e Rückkehr zur Natur, nicht die Flucht in ein erträumtes Arkadien, das es ebensowenig gibt wie den „edlen Wilden", den theoretischen Urmenschen vor aller Kultur, sondern die natürliche Fülle des Menschlichen in dem einzelnen. Swift liebte auch sein England. Seine scharfe Kritik galt dem Scheinwesen, das er überall im öffentlichen Leben sah, dem Unechten, Gespreizten, dem bestechlichen Politiker, den heuchlerischen Pfaffen, den Speichelleckern, den käuflichen Rechtsverdrehern, den unwissenden Ärzten, den lüsternen Hofdamen, sein Lebenskampf den Niederträchtigkeiten im Umgang mit Menschen, dem Egoismus, der Lüge, der Haßsucht. Der Romanschriftsteller Maurice Baring nennt ihn einmal einen unvergleichlichen Boxer, der wohlgezielte Knock-out-Schläge auf die Dummköpfe, Betrüger und Schaumschläger der Welt niedersausen läßt. Krieg und Rechtswesen sind in erster Linie Gegenstände seiner Angriffe; denken wir allein an die Definition eines Soldaten: ein Yahoo, der gemietet wird, um kaltblütig so viele Wesen von seiner eigenen Art wie möglich zu töten, Wesen, die ihn nicht gekränkt haben I Und von den Rechtsverdrehern könnte man ähnliche Ungerechtigkeiten zitieren. Dahinter aber steht ein leidenschaftliches Sauberkeitsverlangen. Wenn Humanismus den Kampf für Reinheit und Würde des Menschentums bedeutet, so hat er nie einen aufrichtigeren Anwalt gefunden als in dem reinen Herzen und großen Geist Swifts, den ein unruhiges Temperament und ein zermürbendes eigenes Erleben in der Negation verharren und nicht zur künstlerischen geschlossenen Aufbauleistung gelangen ließ. Man denkt — und daran hat schon Herder in der Adrastea erinnert — an Hamlets Wort: „Welch ein Meisterwerk ist der Mensch! Wie edel durch Vernunft! Wie unbegrenzt an Fähigkeiten ! In Gestalt und Bewegung wie bedeutend und wunderwürdig! Im Handeln wie ähnlich einem Gott! Die Zierde der Welt! Das Vorbild der Lebendigen! Und doch, was ist mir diese Quintessenz von Staube? Ich habe keine Lust am Manne — und am Weibe auch nicht, wiewohl ihr das durch euer Lächeln zu sagen scheint," Shakespeare
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hat zwei große Enttäuschungstragödien geschrieben, für deren eisige Unerbittlichkeit die Lebenserkenntnis unserer harten Gegenwart ein verfeinertes Organ liefern dürfte: den „Hamlet" und den „Timon von Athen". In beiden steht aber das „Und dennoch" des Lebens hinter der Enttäuschung und Menschenverachtung, der Glaube an das Leben, an die Jugend und Zukunft; die jungen Menschen Fortinbras und Alkibiades — und ähnlich das in Liebe verbundene junge Menschenpaar im „ Wintermärchen" — packen gläubig und entschlossen zu, wo das Falsche und Muffige abgewirtschaftet hat. Ein solcher überwindender Glaube an den natürlichen Sieg des Guten fehlt bei Swift; sein Pessimismus stellt sich gegen die optimistische Grundhaltung seiner Zeit, gegen die Überzeugung von der besten aller Welten. Um so stärker fühlen wir die tragische Leidenschaft und die Gläubigkeit der lauteren Seele selbst, die an dieser Welt zerbricht und das Dunkel des eigenen Schicksals unerbittlich heraufziehen sieht. In „grimmigem Unmut" — saeva indignatio, wie es der Dichter in der selbstverfaßten Grabinschrift nennt — versinkt ein kämpferischer Einsamer, und die Nacht schließt sich über ihm. Thackeray beschließt seine Skizze von ihm mit den Worten: „Ein ungeheurer Geist: furchtbar sein Fall, seine Vernichtung. So groß erscheint er mir, daß mir beim Denken an ihn der Gedanke an ein stürzendes Reich kommt." Nicht nur der Inhalt des Gulliverbuches lebt von der Satire, sondern auch seine Form. Der Philosoph Berkeley hatte gerade in seiner Erstlingsschrift über eine neue Theorie des Sehens nachgewiesen, daß die Dinge der Außenwelt nur Erscheinungen unsrer Sehgewohnheiten sind, daß also Begriffe wie groß und klein keinen absoluten Wert besitzen, daß es für uns Menschen nur auf die Perspektive ankommt, unter der wir sehen. Es gibt also im Sinne des absoluten Denkens keinen festen Standpunkt. Daß die Sonne, die bisher an jedem Tage aufgegangen ist, morgen plötzlich nicht aufgehen sollte, oder daß die Bäume im Dezember blühen und im Juni welk dastehen — ein Beispiel von David Hume —, kann ich mir wohl denken und mit den Mitteln der Vernunft ohne Zuhilfenahme der schlichten Erfahrung nicht widerlegen. Das reine kritische Vernunftdenken hebt die Normen auf und führt in letzter Konsequenz zur Relativierung aller Verhältnisse, folgerichtig auch der ethischen Begriffe. „Nichts wird anders groß oder klein als durch das Vergleichen", stellt Gulliver bei den Lilüputanern fest; auch was mir schön oder häßlich vorkommt, hängt nur von den Größenverhältnissen ab, unter denen ich es sehe. Warum soll ich, sagt sich der Satiriker, nicht einmal die Perspektiven verschieben, die Dinge, die Menschen und ihre Begierden nicht einmal unter einem andren Blickwinkel sehen können? So werden alle Verhältnisse umgekehrt: Der Mensch ist ganz klein und macht sich bei den Lilliputanern mit seiner Wichtigtuerei lächerlich; er ist plump und dumm trotz alles Aufblähens im Reiche Brobdingnag; er fordert den Spott heraus durch einseitige Hingabe an etwas an sich so Hohes wie die Wissenschaft in Laputa; er wird ekelhaft in der Gesamtheit des Animalischen, die in ihrem naturgesetzten Bereich verharrenden Pferde sind seine geistigen Beherrscher. Aber es weht eine eisige Luft in diesem Utopia der reinen Vernunft, wo alles so wohl geordnet, aber das Fühlen, Irren und Suchen der Seele unbekannt ist. So ist alles nur relativ, die Illusionen der Welt trügen. Wer nur dem vernunftgemäßen Denken Raum gibt, kann alles umkehren. Das aber wird Unsinn für das praktische Dasein, also geht es mit der bloßen Vernunft nicht. Es bleiben nur Unbefriedigung, Skepsis, Pessimismus, Grabesstimmung, und das findet in der Dichtung von Swifts Zeit auch seine Vertretung. Oder aber ich suche mir einen festen Punkt wiederzugewinnen. Berkeley läßt das Sein nur gelten, soweit es ein Wahrgenommenwerden ist; das aktive Ich stellt sich den passiv gegebenen Inhalten gegenüber, die Ursachen der sinnlichen Wahrnehmungen können nur in einem wollenden und fühlenden Wesen liegen. So wird der Mensch als Gesamtwesen wieder Maß aller Dinge wie bei Protagoras aus Abdera und Ausgangspunkt der Welterfassung; das Ich,
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der menschliche Geist, tritt als die ordnende und herrschende Macht ein, das Ordnungsprinzip der Zeit wendet sich zum Ichbewußtsein. Damit ist der Relativismus überwunden, die Wiedergewinnung eines festen Standpunkts angebahnt, die letzte Konsequenz des Rationalismus ad absurdum geführt. Der weitere Pendelausschlag nach der Seite des Subjektiven wird verständlich, die Herrschaft des Gefühls vorbereitet. Darin liegt die geistesgeschichtliche Schlüsselstellung der Gulliversatire.
4. D i e Staats- und G e s e l l s c h a f t s l e h r e : H o b b e s , L o c k e , B u r k e Mit dem allgemeinen Weltbild waren natürlich beim Heraufziehen der Neuzeit auch die Grundsätze der mittelalterlichen Gesellschafts- und Staatsordnungen dahingeschwunden. Der ganz neu empfundene Staat der Tudorkönige bewirkte rasch und energisch die nationale Geschlossenheit, die in der großen Elisabethzeit vollendet war, und die Stuartperiode mit ihrer letzthin fruchtbaren Aufspaltung der Parteien setzte die Herausbildung neuer Gesellschaftsordnungen fort. Die Anfänge des modernen Staatsdenkens liegen also im Reformationszeitalter, als nach dem Zerbrechen der alten Staatssysteme mit ihren theokratischen und feudalen Grundsätzen neue Autoritäten und Gemeinschaftsformen gefunden werden mußten. Es leuchtet ein, daß das 17. Jahrhundert, also das seinem Wesen nach kämpferische Barock, auch auf diesem Gebiet das dialektische Denken begründen und an das einer abstrakten Ideenbildung zugeneigte Aufklärungszeitalter weitergeben konnte. In der Tat hat das Land, das mehr und mehr das Vorbild der politischen Praxis wurde, in einem breiten Strom politischer Theorien eine Reihe von Systemen hervorgebracht, die als Meisterwerke aufragen und über seine Grenzen hinaus gewirkt haben. Die erfolgreiche Königin, die den zentralistisch gerichteten Tudorstaat beschloß, stand in einem Persönlichkeitsverhältnis zu dem um ihren Thron gescharten Volk, wie es dem Gefühl der Renaissance entsprach. Von Jakob I. an wurde dies anders. Ein volksfremder Monarch kam mit ihm auf den Thron, der sich mehr an seinem anspruchsvollen Gottesgnadentum und mystisch gerichteten Theorien berauschte, der Abhandlungen über die Stellung des Königs schrieb, dem aber die große politische Tat versagt blieb. Die politische Erörterung wurde Mode und ein Kampfmittel der Auffassungen. Thomas Morus ging noch rein humanistisch-idealistisch vor. Sein Utopia-Staat ist rein aus der Theorie gewonnen wie bei Plato, aus dem vorgefaßten Bild einer vollendeten Gemeinschaftsordnung ohne Rücksicht auf die Naturanlage und die Strebungen des Menschen, und stellt damit in der Geschichte der Theorie eine Art zeitgebundener Übergangserscheinung dar. Schon unter Elisabeth, als die Zeit der Aufspaltungen ihre Schatten vorauswarf, gab es vorbereitende Schriften, die eine Art Krönung in der unvollendeten „Neuen Atlantis" Francis Bacons (1627) fanden. Bacon forderte den auf eine starke Militärmacht gestützten, machtvollen Staat, in dem das Parlament zwar das Sprachrohr des Volkes sein, aber keine Regierungsgewalt haben soll; die Entscheidungen liegen nur bei dem König, der durch seinen „Geheimen Rat" beraten wird, aber keiner Instanz verantwortlich ist, eine Lehre so recht nach dem Herzen seines Königs. Bacon wurzelte mit seiner idealistischen Konstruktion in der Elisabethzeit und hatte von da her die Überzeugung von der Wichtigkeit eines starken Staatswillens, ohne die Voraussetzung, die natürliche Einheit von Krone und Volk, klar zu erkennen. Er sah nicht die Gefahr, die in den Spannungen und Strebungen der neuen Zeit, in der Überschätzung des königlichen Rechts und dem nach Freiheit und Selbstentscheidung drängenden Volk lag. In ihm lebt die Tradition der Tudorzeit und der humanistischen Denkform, nicht das neue Jahrhundert. Und doch hatte er in anderer Weise einen ent-
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scheidenden Anteil an der kommenden Entwicklung, nämlich durch seine energische Begründung des Empirismus. Die den praktischen Dingen zugewandte Erfahrungsphilosophie und die ihr weltanschaulich so oft gegensätzliche religiöse Bewegung des Puritanismus — die Eroberung der Welt vom Denken und vom Glauben her — vereinigen sich als Kraftfelder der menschlichen Natur in Polaritätswirkung zu einer für England charakteristischen Grundlage für die Auffassung von Staat und Gesellschaft, zu einer über allen inhaltlichen Unterschieden stehenden Willensrichtung mit Sendungsglauben und Vorbildcharakter. Es galt, die in den Religions- und Parteikämpfen des 17. Jahrhunderts errungenen politischen Überzeugungen aus ihrer Zeitbedingtheit herauszulösen und durch wissenschaftliche Begründung in die Höhe abstrakter Allgemeingültigkeit zu heben. Es ist für dies empirisch gerichtete Volk bezeichnend, daß die Theorie fast immer der Praxis gefolgt ist; so war es bei Hobbes, der den aus Einheitsgefühl, machiavellistischem Fürstenrecht und absolutistischer Praxis geborenen Machtgedanken barock übersteigerte, so bei Locke, der dem 1689 neu geschaffenen, auf Volksrechten, Vertretung und Gewaltenteilung beruhenden Staat die gedankliche Unterbauung gab, so bei Burke, der bei der Ablösung des Vernunftzeitalters durch die romantisch-emphatische Neuwendung zu den Gefühlskräften die irrationalen Anlagen der völkischen Tradition beschwor, wenn auch hier nicht die unmittelbare politische Tat, sondern die geistesgeschichtliche Entwicklung die Dinge reif werden ließ. Mit der Hinwendung auf das praktisch Erfahrbare, auf die Dinge selbst, hatte um 1300 bei den Franziskanermönchen Roger Bacon, Duns Scotus und Wilhelm von Occam die Ablösung der spezifisch englischen Geistesrichtung aus dem internationalen Denksystem der Scholastik eingesetzt; Wilhelm von Occam führte die Auffassung zum Siege, daß nur Einzeldinge Gegenstand der menschlichen Erkenntnis sein können und daß das Allgemeine oder der Begriff keine Entsprechung in der Welt der Objekte hat, sondern nur in seinem Wort oder Namen handelt. Diese „nominalistische" Denkform, die dem reinen Empirismus wesensverwandt ist, blieb fortan ein Grundzug der englischen Denker. Auf die ausschließliche Erkenntnis aus Beobachtung der Einzeldinge und ein induktives Aufsteigen zum allgemeinen Gesetz gründete Francis Bacon seine Erneuerung der Wissenschaften. Die politische Spekulation konnte jetzt nicht mehr von einem erdachten Idealbild der Gesellschaft ausgehen, sondern mußte auch hier, dem empiristisch-nominalistischen Denken gemäß, zunächst das „Objekt", also den einzelnen Menschen, ins Auge fassen. So ist bei Bacons großem Schüler Hobbes der Ansatzpunkt nicht mehr idealistisch wie bei More, sondern anthropologisch oder psychologisch. Das wollende Individuum erst schafft sich nach seinen Interessen den Staat als künstliches Gebilde. T h o m a s H o b b e s (1588—1679), neben dem späteren Herbert Spencer der einzige englische Philosoph, der ein geschlossenes Gesamtsystem ausgebaut hat, wurde der überragende Staatsdenker des so überaus schöpferischen 17. Jahrhunderts. In ihm wohnt eine gewaltige konstruktive Kraft, die unerschrocken bis in die letzten Konsequenzen geht, den Denker bei Ausbruch der puritanischen Revolution auf elf Jahre nach Frankreich ins Exil trieb und später trotz seiner den Stuarts genehmen Befürwortung des Absolutismus als angeblichen Atheisten in Konflikt mit der katholischen Kirche brachte. Sein Hauptwerk erschien in drei organisch zusammengehörenden Schriften über den Körper, den Menschen, den Bürger. Was wir mit den Sinnen wahrnehmen, sind immer nur Körper und Bewegungen. Sie allein sind das Seiende, das Universum enthält nichts anderes. Auch unsere Bewußtseinsvorgänge sind nur Bewegungen von Massenteilchen. So kommt Hobbes zum ausgesprochenen Materialismus, zu einem vollkommenen System des Mechanischen. Unsere Wahrnehmungsbilder sind lediglich „Phänomene", Zeichen des Seienden, das immer materiell ist. Es blieb englische Auffassung, daß wir die Dinge nur so erfassen können,
Thomas Hobbes' Leviathan
wie sie uns erscheinen, nicht wie sie wirklich sind. Auf ethischem Gebiet führt diese naturalistische Grundlage zu der Überzeugung, daß alles menschliche Handeln der Selbstliebe entspringt. Der Mensch hat nur egoistische Triebe; was er tut, geschieht nur aus Eigeninteresse, das immer das für sich Vorteilhafte auswählt. Diese Egoismusmoral führte nach langen und fruchtbaren Auseinandersetzungen in dem folgenden Jahrhundert folgerichtig zu einer Zweckethik, zum Utilitarismus. Die berühmteste Schrift des Philosophen, in der er seine Staats- und Gesellschaftslehre entwickelt, ist der 1651 erschienene Tueviatban Den alten biblischen Namen des gewaltigen, furchterregenden Seeungeheuers, das im Buch Hiob (Kapitel 40—41) beschrieben wird, wählt der Philosoph für das künstliche Gebilde, das Staat genannt wird, dessen Macht alles umklammert und beherrscht. Nach dem an derselben Bibelstelle beschriebenen Land-Ungeheuer Behemot benannte er ein Spätwerk, in dem er seine Auffassung der Revolution darlegte. Der Leviathan ist ein künstlicher Mensch; wie bei dem natürlichen Menschen, so ist auch bei ihm das Leben nichts als Bewegung der Glieder. E r ist nur größer und stärker als der natürliche Mensch, zu dessen Schutz er geschaffen wurde. Eine Untersuchung über sein Wesen muß also vom Menschen ausgehen, der sich eine Gesellschaftsform schafft. I. T e i l . Vom Menschen Alle unsere Vorstellungen stammen aus den Sinnen. Im Universum gibt es nur Körper und Bewegungen; auch die Bewußtseinsvorgänge sind nichts als Bewegungen von Massenteilchen. Wenn das sinnlich Wahrgenommene nach Ausschaltung des vermittelnden Sinnes haften bleibt, nennen wir es Vorstellung (imagination), die nichts ist als abgeschwächter Sinn (decaying sense); auch Erinnerung kann man sie nennen, und mit den Träumen steht es ebenso. Das Vorgestellte ist also immer begrenzt; Unbegrenztes können wir uns nicht vorstellen. Die Sprache ist dazu da, geistige Zwiesprache in Worte umzusetzen. Das vernunftmäßige Überlegen besteht in einer Addition von Teilen, Räsonieren ist gleich Rechnen, ein Fortschreiten geschieht durch Folgern. Alles Sein ist Bewegung: entweder vitale Bewegung wie beim Blutkreislauf, Atmen, bei der Ernährung und Ausscheidung, oder animalische Bewegung wie beim Gehen, Sprechen, bei der Fortbewegung usw. Das Vorstellen ist die erste aller inneren Bewegungen. Aus ihm folgen Anreiz, Begehren, Lust und Unlust, Liebe, Freude, Leidenschaften u. dgl. Das alles hat ein Ende wie einen Anfang. Alles Wissen ist entweder Kenntnis der Tatsachen oder Kenntnis der Folgen. Die ursprüngliche Neigung der Menschen ist auf Macht gerichtet, auf Mehrung der Macht bis zum Tode. Der Mensch verlangt danach, Ursachen zu erkennen. E r fürchtet sich vor dem Unerkannten und Unsichtbaren. Hierauf beruht die Entstehung von Religion und Aberglauben; sie entstehen also aus Furcht, und eine beständige Furcht begleitet den Menschen als Urempfindung durch das ganze Leben. Schon die alten Dichter sagten, die Götter seien aus Furcht entstanden. Die Natur hat alle Menschen gleich als Körper und Geist geschaffen. Alle wollen das gleiche und haben die gleichen Fähigkeiten. Darum stehen sie einander im Wege und werden Feinde. Wettbewerb, Mißtrauen, Ruhmsucht bringen sie dazu. So ist der Urzustand ein Kampf aller gegen alle. Jeder Mensch sucht Ungestörtheit, Frieden, er fürchtet den Tod. Da alle Menschen die gleichen Eigenschaften haben, kann nichts von
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Natur gut oder böse sein. Solange es noch keine Macht des einen über den anderen gibt, besteht kein Gesetz, also kein Recht und Unrecht; jeder hat ein Anrecht auf alles. Das Grundgesetz des natürlichen Rechts lautet: den Frieden suchen und bewahren. Da aber bei mehreren das natürliche Recht Konflikte hervorruft, bleibt nur übrig, sich des Rechts zu entäußern oder es zu übertragen. Die Übertragung freiwillig abgetretener natürlicher Rechte nennen wir Vertrag. Nur so kann der Krieg aller gegen alle vermieden werden. Verträge sind nur zwischen Menschen möglich; sie können nicht mit Tieren abgeschlossen werden, die nicht sprechen können, auch nicht mit Gott, mit dem wir nicht verhandeln können. Verträge werden aus Furcht geschlossen und beruhen immer auf ihr. Die natürlichen Rechte werden auf diese Weise zu Rechtsnormen für das Zusammenleben gemacht. Dadurch entstehen Gesetze, darauf beruht alle Morallehre, also auf Diktaten der Vernunft. II. Teil. Vom Staat Selbsterhaltung ist das Ziel alles menschlichen Strebens. Der Mensch will die Freiheit, d. h. die Abwesenheit von Zwang, und die Herrschaft über andere. Selbsterhaltung bedeutet, sich selbst aus dem Krieg heraushalten, der die Folge der natürlichen Leidenschaften ist. Es müßte also jeder zur Wahrung seines Lebens- und Besitzrechts auf seine eigene Kraft angewiesen sein. Das würde aber nicht zu einer Gemeinschaft führen, die nur ein künstliches Gebilde sein kann. Aus dem Naturzustand muß ein bürgerlicher Zustand werden. Das geschieht durch Übertragung: die einzelnen übertragen ihre Macht und Stärke auf einen Mann oder eine Gruppe von Männern, die damit die Sorge für den Frieden und die Sicherheit aller übernehmen. Die einzelnen unterwerfen sich dem Willen und Urteil dieser Instanz, die Souverän genannt wird. Souveräne Gewalt entsteht auf zwei Arten: entweder durch Rechtsübertragung der gekennzeichneten Weise, also durch Institution, oder durch kriegerische Unterwerfung, also durch Eroberung. Zunächst ist die souveräne Gewalt des Einzelherrschers oder einer Versammlung durch Institution zu betrachten. Der Souverän kann den Vertrag, durch den er geschaffen ist, nicht brechen. Er kann ja seinen Vertrag nicht mit der Gesamtheit machen, die als solche vor dem Vertrag gar nicht besteht, auch nicht mit jedem einzelnen; der einzelne kann nachher nicht von einer Vertragsverletzung sprechen, wenn andre einzelne abweichender Meinung sind. Wer abweichender Meinung ist, muß sich eben nach Abschluß des Vertrages unterwerfen. Der Souverän kann demgemäß nicht zur Rechenschaft gezogen, nicht zum Tode verurteilt werden. Er allein entscheidet, was recht und unrecht ist, er allein ist Rechts Schöpfer, Sittenrichter, er teilt Ehren aus. Seine Macht kann nur unteilbar gedacht werden. — Es gibt drei Staatsformen: die Monarchie, Demokratie, Aristrokatie; die Monarchie ist die beste von ihnen. Neben dem Machtträger kann es keine andre Form der Vertretung geben, seine Gewalt ist unteilbar. Der König ist der Staat, Souverän, Staat und Volk sind identische Begriffe, das öffentliche Interesse ist in der Monarchie identisch mit dem privaten. Eine irgendwie eingeschränkte souveräne Gewalt ist undenkbar. Der Monarch bestimmt seinen Nachfolger. Die durch Eroberung entstandene Souveränität schließt dieselben Rechte in sich wie die institutionelle. Freiheit ist, wie bereits gesagt, Abwesenheit von Gegnerschaft. Frei ist der, der bei der Ausführung der im Bereich seiner Stärke liegenden Dinge nicht behindert wird. Dies bezieht sich aber nur auf Körperliches; denn wo keine Bewegung ist, kann es auch keine Behinderung geben. Willensfreiheit kann sich nur auf das unbehinderte Handeln beziehen. Aber Freiheit und Notwendigkeit sind miteinander verkettet; jede Willensregung beruht auf Ursachen in immer weitergehender Folge, die letzte Ursache ist
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Gottes Wille. So ist letzthin alles determiniert. Wir nennen aber doch mit Recht die natürliche Handlungsentscheidung Freiheit. Der künstlich geschaffene Staat gibt die bürgerlichen Gesetze. Freiheit des Untertans besteht nur für Dinge, die der Staat ihm zugebilligt hat kraft des primär ihm zustehenden Rechts. Eine Verpflichtung des Untertanen gegen den Herrscher besteht nur, solange dieser in der Macht ist; sie ist nicht an die Person gebunden. Bürgerliche Gesetze sind solche, denen die einzelnen gehorchen müssen, weil sie Glieder einer Gemeinschaft sind. Der Souverän steht als alleiniger Gesetzgeber über dem Gesetz. Das Verhältnis des Naturrechts zu dem bürgerlichen Recht haftet an dieser Definition des Wortes Gesetz. Naturgesetze wie Billigkeit, Gerechtigkeit, Dankbarkeit und andere Tugenden sind eigentlich gar keine Gesetze, sondern Eigenschaften. Im Staatswesen werden sie Gesetze, weil der Souverän ihre Befolgung anordnet. Dadurch wird das bürgerliche Recht ein Teil der Naturforderungen. Die Gesetze drücken den Willen der Gemeinschaft aus, nämlich den Willen ihres Vertreters, des Souveräns. Ein Gesetz kann nicht gegen die Vernunft sein. Recht wird immer durch den Souverän oder in seinem Namen gesprochen, es ist Befehl. Die Auslegung des Rechts kann niemals nach moralphilosophischen Grundsätzen erfolgen, sondern nur nach dem Willen der souveränen Macht; erst durch diesen wird es ja „Recht". Der Philosoph legt dann eingehend dar, auf welche Weise Schwächungen der Staatsgewalt erfolgen können. Sie müssen erkannt und abgewehrt werden. Aufgabe des Souveräns ist die Sorge für die Sicherheit des Volkes. Nach dem Naturrecht ist er nur Gott, dem Urheber dieses Rechts, verantwortlich. Werden dem Souverän seine wichtigsten Rechte genommen, so löst sich der Staat auf, und der Naturzustand des Krieges aller gegen alle kehrt wieder. Darum ist es Pflicht des Souveräns, auf die Wahrung seiner Rechte bedacht zu sein. Die Menschen sollten nicht auf andre Nationen blicken und sich in deren Regierungsform verlieben; „du sollst nicht die Götter andrer Nationen haben". Nicht deshalb blüht ein Volk, weil ein Mann zu befehlen hat, sondern weil alle ihm gehorchen. Gerechtigkeit muß unparteiisch allen zuteil werden. Die Untertanen schulden dem Souverän Gehorsam in allen Dingen, die nicht mit den Geboten Gottes in Widerspruch stehen. Woran aber erkenne ich Gottes Gebote? Es gibt drei Wege dazu: die natürliche Vernunft, die Offenbarung und erleuchtete Propheten. Gottes Gewalt über die Menschen auf Grund des Naturrechts beruht nicht auf der Erschaffung der Menschen, sondern auf seiner unbeschränkten Macht. Hier kommt Hobbes auf die in seiner Zeit immer wieder aufgeworfene Frage der Theodizee: warum gedeihen so oft die Bösen, während die Guten leiden? Wie ist das mit Gottes Güte und Allmacht zu vereinbaren? Verteilt er die Gaben ungerecht? Die Antwort kann nur sein: Gottes Macht ist unbegrenzt und unerforschlich. Wir erinnern uns an die Zurechtweisung, die Raphael bei Milton dem fragenden Adam erteilt: sei in deinen Grenzen weise, bescheide dich mit dem, was dem Menschengeist zu wissen möglich ist, und dringe nicht in das Unerforschliche; Gottes Ratschluß in seiner Allweisheit ist dir nicht zugänglich, ihm schuldest du nur verehrenden Gehorsam. Gott ist bei Hobbes wie bei Milton das umfassende All, die Ursache der Welt. Ihm schulden wir private und öffentliche Verehrung. Die Attribute Gottes werden erläutert. III. Teil. Vom christlichen Staat Gottes Offenbarung ist die Hauptquelle unseres Wissens von seinen Wegen. „Die Mysterien unsrer Religion müssen wie Pillen für die Kranken ganz geschluckt werden; sobald sie gekaut werden, geht das meiste wirkungslos verloren." Gott spricht unmittelbar oder durch andre. Die Überlieferung des Alten und Neuen Testaments wird einer eingehenden Kritik unterzogen. Die Kirche ist der christliche Staat und
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ebenso entstanden wie die weltliche Gemeinschaftsordnving. Sind die christlichen Kirchen in ihren Ländern souverän und nur Gott unterworfen, oder gibt es über die Landesgrenzen hinweg einen allen übergeordneten Stellvertreter Christi auf Erden? Hierzu bedarf es einer genaueren Untersuchung über das „Reich Gottes". In diesem Begriff vereinigen sich zwei Auffassungen: die ewige Seligkeit und das irdische Reich der Juden. Der Philosoph erörtert die zugehörigen Begriffe: Wort Gottes, Prophetie, Wunder, ewiges Leben, Erlösung, Himmelreich, Hölle, Satan usw. Die Kirche kann als Machtträgerin und Gesetzgeberin nur in einer Person gedacht werden, genau wie es bei dem weltlichen Souverän der Fall ist. Nun ist aber in dem einzelnen Staat eine Versammlung der Gläubigen, die jene religiöse Gemeinschaft bilden wollen, nicht ohne Genehmigung des Staatsoberhauptes möglich, sie kann demnach nicht übernational sein. Über den Staatsherrschern gibt es keine Autorität auf Erden. „Kirche" ist gleichbedeutend mit dem Staat, der aus Christen besteht, der Souverän ist der Oberhirt der Kirche seines Staates, er darf alle geistlichen Funktionen ausüben. Der ihm nachgeordnete Papst ist lediglich der Lehrer, nicht aber der Herrscher seiner großen Familie. Hieraus ergibt sich das Verhältnis der geistlichen zur weltlichen Macht. Es bleibt also dabei — worauf Hobbes immer wieder den Ton legt —, daß es in dem Staat nur eine höchste Autorität geben kann, den Souverän, der in jedem einzelnen der staatlichen Wirkungsbereiche — und dazu gehört auch die Religion — die alleinige Befehlsgewalt hat; ihm und nur ihm schuldet der Untertan auf jedem Gebiet seines körperlichen und geistigen Lebens Gehorsam. Die Kirche ist also ein Teil des Staatslebens und national, nicht übernational. Christi Reich ist nicht von dieser Welt; seine Diener, die Priester, können also niemals in seinem Namen Gehorsam in dieser Welt beanspruchen, das kann nur der König. Die Diener Christi haben nur das Recht und die Aufgabe, den Glauben zu fördern; der Glaube ist ein Geschenk Gottes und kann von einer weltlichen Obrigkeit nicht verboten werden. Was zur Seligkeit nötig ist, läßt sich in zwei Tugenden ausdrücken: Glaube an den Heiland und Gehorsam gegenüber den Gesetzen. Der Heiland hat uns keine Gesetze gegeben, sondern nur den Rat, den uns vorgeschriebenen Gesetzen zu gehorchen. Gottes Gebote sind die Naturgesetze, deren vornehmstes ist, dem Glauben nicht untreu zu werden und die Gesetze der durch Vertrag geschaffenen Obrigkeit zu befolgen. Dazu gehört auch die Befolgung der Vorschriften der Heiligen Schrift, da wir ja glauben, daß sie das Wort Gottes enthält. IV. Teil. Das Reich der Finsternis Dieser letzte Teil richtet sich gegen die Anmaßungen der katholischen Kirche: die Anmaßung weltlicher Macht, die Unterscheidung zwischen dem bürgerlichen und kanonischen Recht, die Lehre von der Auferstehung auch der Verworfenen mit Fegefeuer und Hölle, die auf der heidnischen Dämonologie beruhende Heiligenverehrung, die These vom Pontifex Maximus, die Bilderanbetung. Die Philosophie ist das durch Vernunft erworbene Wissen von der Entstehung der Dinge bis zu ihren Auswirkungen oder von den Wirkungen bis zu ihrer möglichen Entstehung im Hinblick auf die Erfordernisse des Lebens. Die Kirche hat daraus durch unzulässige Vermischung von Wissenschaft und Bibellehre eine eingehend durchgebildete Lehre gemacht, die Theologie, die in dieser Verselbständigung abzulehnen ist. Ü b e r b l i c k und S c h l u ß Hier werden Nachträge und Erweiterungen gegeben. Für den Stil seiner Abhandlung bemerkt der Verfasser, er mißtraue aller rhetorischen Aufmachung, den Autoritäten, dem Schmuck durch Zitate. Er habe auch nichts geschrieben, was Gottes Wort widerspräche. Er sei sich bewußt, daß seine
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Lehre vom künstlichen Staatskörper vielerorts Anstoß erregen werde; er habe sie aber angesichts der Wirren seiner Zeit sachlich und unparteiisch aufbauen müssen, um die Beziehungen von Schutz und Gehorsam klarzulegen. „Nun kehre ich zu meinen unterbrochenen naturwissenschaftlichen Studien zurück, die, wenn Gott mir die Kraft zu ihrem Abschluß gibt, durch ihre Neuheit ebensosehr Beifall finden, wie die Ausführungen über den künstlichen Staatskörper Anstoß erregen werden. Denn eine Wahrheit, die dem Vorteil oder dem Vergnügen keines Menschen entgegensteht, ist allen willkommen." Die Wissenschaften können nicht gedeihen, so hatte Bacon gelehrt, weil sie entwurzelt sind; ein Fortschritt ist nur zu erhoffen, wenn sie auf die Naturwissenschaft zurückgeführt werden. Das gilt von den physikalischen Erkenntnissen, das gilt aber genau ebenso für humanistische Disziplinen, wie Moral, Politik, Logik. Bacon wollte also die Naturwissenschaft zur Grundlage aller Wissenschaften gemacht wissen. Für die Erklärung der moralischen Welt aus den Naturgesetzen umriß er selbst die Grundlagen, die Religion schloß er von der empirischen Kenntnis aus, über die Politik wollte er sich nicht auslassen. Er stellte aber die Ausgangsfrage: Wie wird aus dem Naturzustand (status naturalis) ein Leben in der bürgerlichen Gemeinschaft (status civilis)? Hier setzte sein großer Schüler Hobbes ein, der die Erschütterungen der Stuartzeit, die parlamentarischen Kämpfe, die Staatsumwälzung durch Cromwell, die Wiederherstellung des Königtums, die Problematik der politischen Freiheit erlebte. Wie muß der Staat beschaffen sein, der eine so gefährliche Rebellion und einen Bürgerkrieg unterdrücken kann? Er muß ein Leviathan sein, der die von der Natur ausgebrütete Drachensaat vernichten kann. Nach der festen Begründung des Empirismus konnte ein aus der Idee gewonnenes Wunschbild des menschlichen Gemeinschaftslebens nicht mehr genügen; es bedurfte eines geschlossenen Systems, einer Prinzipienlehre der menschlichen Natur und der menschlichen Lebensformen. Die Uraniagen des Menschen sind zu erforschen, die Erkenntnisstoffe zu ordnen und zu verbinden, so wie man beim Rechnen durch Addition und Subtraktion zu einem Ergebnis kommt. Denken ist gleichbedeutend mit Rechnen. Diese Empirie arbeitet also nicht mit einer Erforschung der geschichtlichen Stufen und Vorgänge, sondern mit einer Feststellung und Verknüpfung der durch Uberlegung gewonnenen Prinzipien. Das naturrechtliche Denken, das gerade in dieser Zeit durch den Holländer Hugo Grotius begründet worden war, spürt den Naturgesetzen nach, der Uranlage, den logischen Folgerungen, und das allgemeine Streben des Barocks nach Steigerung ins Große und nach Verabsolutierung gab den rechten Nährboden ab. Man konstruiert einen Urmenschen und ursprüngliche, natürliche Verhältnisse. Ein solches ideologisches, unhistorisches Verfahren in Verbindung mit dem optimistischen Glauben an die Entwicklungsfähigkeit der menschlichen Natur wurde zu einem Wesenszug der Aufklärungszeit, wie wir es am ausgeprägtesten bei Rousseau mit seiner Überzeugung von der Güte der menschlichen Naturanlage und ihrer Verderbnis durch die Zivilisation sehen. Hobbes ist sich völlig klar darüber, daß der Urmensch keiner geschichtlichen Wirklichkeit entspricht, sondern lediglich eine Konstruktion ist, die uns hilft, die Verhaltensweisen zu verstehen und Schlußfolgerungen aus ihnen zu ziehen. Darum nennt er seinen Staats-Leviathan einen „künstlichen", über alle natürlichen Verhältnisse vergrößerten Menschen. Mit den Mitteln der Vernunft errechnete sein großer Zeitgenosse Newton die Bahnen der Planeten und ihre Wirkungen und vollendete mit dieser gewaltigen geistigen Eroberung das kühne Werk des Kopernikus, so arbeitete die 1661 gegründete „Königliche Gesellschaft" auf allen Gebieten der Naturerkenntnis, so begründete der söge-
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nannte Deismus selbst eine „natürliche" Religion. Man pries die hohe Macht der Vernunft überschwenglich in Hymnen. Wie das 17. Jahrhundert durch die moralische Befreiung nach der religiösen das Gesamtwerk der Reformation erst vollendet, so gehört es zu dem 16. Jahrhundert auch in der Begründung des modernen Staates, nachdem die Reformation den alten aufgehoben hatte. Dieser hatte völlig auf religiöser Grundlage geruht, Gehorsam gegen die Gesetze war ein Teil des Gott schuldigen Gehorsams. Was als Gottes Wille oder Naturgesetz anzusehen ist, entschied die Kirche, die daraus das Recht ableitete, unter Umständen von der Pflicht des Gehorsams gegen die weltliche Obrigkeit zu entbinden. Ein solches Lehrgebäude konnte funktionieren, solange eine einheitliche Religion vorausgesetzt werden konnte, nicht aber nach der Spaltung der Bekenntnisse und der Befreiung des eigenen Gewissens durch die Reformation. Wenn wir hören, daß selbst Oliver Cromwell sich beklagte, seine extremsten Anhänger, die sogenannten „Gleichmacher" (Levellers) trieben die Auslegung des Naturrechts zu weit, so wird es begreiflich, zu welchen Verwicklungen die neuen Anschauungen führen mußten und daß eine neue Autorität für die Verpflichtung auf moralische und bürgerliche Normen gefunden werden mußte. Das war besonders in England fühlbar, wo das Nebeneinander eines ungeschriebenen Gewohnheitsrechts (Common Law) und eines kodifizierten Rechts (Statute Law) oft den Streit um den Vorrang aufleben ließ. Hobbes begründete fest und klar den Vorrang des Statuten-Rechts, der bis heute Staatsgrundsatz ist. Vier tragende Gedanken kann man als Eckpfeiler seiner Staatslehre herausheben. a) Die Naturrechtslehre nahm an, daß ein natürliches Moralempfinden den einzelnen und die Obrigkeit binde und verpflichte. Hobbes greift diese Lehre an; er läßt ein solches Sittengesetz als Grundlage für die Gemeinschaft nicht zu, sondern behauptet, daß das Moralische erst durch das Gesetz des Staates entsteht. Alle Menschen suchen zwar Ungestörtheit und Frieden und richten ihr ganzes Tun auf Selbsterhaltung ein. Aber ihre Meinungen über die Wege zu diesem Ziel sind verschieden; ich kann nicht wissen, ob mein Nachbar ebenso denkt wie ich und ebenso handeln wird, ich stehe ihm mit Furcht und Mißtrauen gegenüber. Erst die Einsetzung eines Herrschers und Gesetzgebers schafft das Recht auch im moralischen Sinne und sichert damit den Frieden. Nur dasjenige Naturgesetz habe ich zu befolgen, das der Herrscher zum Staatsgesetz erhoben hat. Ein Widerspruch des einzelnen ist nicht möglich, auch wenn er Grund zu der Annahme haben mag, der Herrscher habe ein Naturgesetz verletzt; wäre ein solcher Widerspruch der einzelnen zulässig, so würde das einen Rückfall in den gesetzlosen Zustand des Krieges aller gegen alle bringen. b) Die herkömmliche Vertragstheorie floß aus verschiedenen Quellen. Der Alte Bund der Bibel und die Vertragslehren des römischen Rechts vereinigten sich zu einer Grundlage, auf der der mittelalterliche Feudalismus seine häufigen Rechtsabgrenzungen vornahm. Die Gewalt des Königs ruhte auf einem Vertragsverhältnis mit seinen Untertanen, die im Falle der Vertragsverletzung durch den König ihm keine Gefolgschaft mehr schuldeten. Damit verteidigte auch Milton die Absetzung und Hinrichtung Karls I., wenn auch seine Lehre von der Volksautorität über die mittelalterliche Auffassung hinausgeht. Es waltet also bei dieser alten Vertragslehre eine rein moralische Auffassung ob, nämlich das Gefühl, man sei verpflichtet, ein gegebenes Versprechen zu halten. Hobbes fühlt das Unzulängliche dieser Anschauung, da es ja keine überparteiliche Instanz gibt, die entscheiden kann, ob der Vertrag wirklich verletzt worden ist; der Abfall des Volkes wäre nur die Auslegung einer der beiden Parteien und damit rechtswidrig. Von einem Vertragsverhältnis zwischen König und Volk kann also nicht die Rede sein, sondern nur von einem Vertrag zwischen Individuen, die darin übereinkommen, durch freiwillige Entäußerung und
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Übertragung eigener natürlicher Rechte sich einer Herrschergewalt zu unterwerfen. Der menschliche Urtrieb nach Macht müßte ohne eine gesicherte Ordnung zum Krieg aller gegen alle führen. Aus gegenseitigem Mißtrauen sind die Menschen bereit zu einer Entäußerung subjektiver Rechte und ihrer Übertragung auf eine Instanz, die als Gegenleistung die Sorge für die Sicherheit der Gemeinschaft übernimmt. Sie kann aus einem einzelnen Herrscher oder einer Körperschaft mit Herrschergewalt bestehen. Auf jeden Fall aber steht sie außerhalb der vertragschließenden Parteien und über ihnen, gegen sie gibt es kein Einspruchsrecht. In dieser Neubegründung des Vertragsverhältnisses haben wir den Mittel- und Ausgangspunkt der ganzen Staatslehre unseres Philosophen zu erblicken. c) Die Untersuchung über die menschliche Natur geht von der Überzeugung aus, daß in der Welt nur Körperliches und seine Bewegungen existieren. Alles, was geschieht, folgt mit mathematischer Sicherheit den Gesetzen der Bewegung im politischen wie im Bereich der Naturvorgänge, nichts geschieht ohne natürliche Ursachen. Das ganze Denkgebäude ist also materialistisch und deterministisch. Jeder Mensch strebt nach Selbsterhaltung und Sicherheit. Der Souverän ist dazu da, sie zu schützen; sein Amt währt nur so lange, als er diese Verpflichtung erfüllen kann. Diese These kennt also keine Uneigennützigkeit, keinen heroischen Einsatz, der um eines hohen Zieles willen das eigene Leben nicht achtet, und man kann einwenden, daß es einer vertragsmäßig eingesetzten Obrigkeit eigentlich gar nicht bedürfte, wenn alle Menschen nur nach Frieden und Sicherheit strebten. Und wenn Hobbes die alte Vertragstheorie damit ablehnt, daß keiner da wäre, der die Vertragsverletzung unparteiisch feststellen kann, so kann man dasselbe für den Fall geltend machen, daß der Souverän seine Schutzverpflichtung nicht mehr erfüllt. Wir fragen uns, ob eine Gemeinschaft überhaupt auf die Annahme der Furcht und des Mißtrauens als Urgefühle gegründet werden kann, ob nicht vielmehr ein gegenseitiges Vertrauen, also ein ursprüngliches moralisches Gefühl, den Ausgangspunkt bilden muß. Die rigorose Staatsautorität unseres Denkers ordnet aber das Moralische dem Staatsrecht unter, dessen alleiniger Schöpfer der Souverän ist. Das Baconsche Prinzip der Nützlichkeit entscheidet also über Gut und Böse, nicht ein im Menschen von Haus aus lebendiges Gefühl; die Menschen schaffen sich durch Übereinkunft die Maßstäbe und erzwingen ihre Anerkennung durch die Staatsgewalt. Das ist für die Moralbegriffe ein anthropologischer Nominalismus, dem um und kurz nach 1300 der theologische Nominalismus eines Duns Scotus und Wilhelm von Occam vorausgegangen war. d) Die absolute Staatsgewalt setzt Staat, Souverän und Volk als identisch, so wie Ludwig XIV., dem absolutistischen französischen König zu Hobbes' Zeit, das freilich nicht bezeugte Wort in den Mund gelegt wird: „Der Staat bin ich". Eine Teilung der Gewalten ist nicht möglich, eine Berufung auf das Naturgesetz, das eigene Gewissen oder das Gebot der Kirche nicht zulässig. Wer die souveräne Gewalt irgendwie einschränken will, beschwört die Gefahr des kriegerischen Naturzustandes herauf. Zwischen Anarchie und unbeschränkter Herrschergewalt gibt es keine Zwischenstufe. Der König ist nur Gott verantwortlich; das absolute Königtum „von Gottes Gnaden" freilich, also ein von Gott eingesetztes Königsrecht, wie es die Stuarts beanspruchten, findet hier keine Stütze. Auch im religiösen Bereich kann es keine überstaatliche, also über dem Herrscher stehende Instanz geben, also keinen befehlenden Papst der ganzen Christenheit, keine „katholische", d. h. allgemeine Kirche. Es darf nur eine nationale Kirche geben, wie sie seit Heinrich VIII. in England verwirklicht worden war. Hobbes gilt gemeinhin als Theoretiker des absoluten Königtums. Damit wird man seiner Lehre nicht ganz gerecht, und schon die Tatsache, daß der nachmalige Stuartkönig Karl II. ihn aus seiner Umgebung verbannte und der Schöpfer der Republik,
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Cromwell, ihm einen von dem Philosophen freilich ausgeschlagenen Posten als Staatssekretär anbot, müßte gegen eine so vereinfachende Formel bedenklich machen. Gewiß predigt er unter dem Eindruck der Verheerungen des Bürgerkrieges die uneingeschränkte Allgewalt der Staatshoheit, die ungeteilte Macht des Souveräns, von dem niemand außer Gott Rechenschaft fordern kann. Aber er weiß nichts von einer göttlichen Einsetzung dieser Gewalt, von der unverbrüchlichen Rechtmäßigkeit der Krone, er setzt ja auch den Einzelherrscher und eine Körperschaft als Träger der souveränen Gewalt gleich. Ob der König Karl oder der Volksmann Cromwell den sozusagen Person gewordenen Staat verkörpert, wäre also gleichgültig. Da für den Fall einer Nichterfüllung der Schutzpflicht sogar die Möglichkeit des Abfalls vorgesehen ist, kann man sich auch denken, daß das Volk einmal die Vertragsbedingungen ändern könnte. Absolutismus ist die Lehre gewiß, aber nicht im Sinne einer unbedingten Sicherung des angestammten Königs, sondern im Sinne einer uneingeschränkten obersten Gewalt, eines Primats der Staatsinteressen vor allen anderen. Hierin kann der erzieherische Einfluß auf den politischen Sinn seines Volkes gar nicht überschätzt werden. Das Titelblatt der Originalausgabe trägt ein Bild, dessen obere Hälfte eine durch eine Mauer geschützte Stadt mit ragenden Kirchtürmen auf dem Hintergrund des zu einem Berg ansteigenden Landes zeigt. Aus dem Berg steigt der Oberkörper eines Mannes auf, der auf dem Haupt eine Krone, in der rechten Hand ein Schwert, in der linken einen Bischofsstab trägt und aus dessen Panzer menschliche Gestalten wie flehend zu ihm aufblicken. Die untere Bildhälfte zeigt zu beiden Seiten des Buchtitels eine Burg und eine Kirche, eine Krone und eine Mitra, ein Geschütz und einen Blitz, Kriegswaflen und die Andeutung geistiger Waffen in einer schulmäßigen Debatte. Über dem Ganzen läuft das Spruchband: „Auf Erden ist keine Macht, die ihm verglichen werden könnte (Nulla est potestas super terram quae comparetur ei)." Der mächtige Leviathan, also der zentrale Staatsgedanke, beherrscht alles. John Aubrey, der uns viel über das Leben seiner berühmten Zeitgenossen mitgeteilt hat, erzählt von dem Verfasser des „Leviathan", er habe beim Gehen stets in dem Handgriff seines Spazierstocks Feder und Tintenfäßchen und in der Tasche ein Notizbuch bei sich getragen und auftauchende Gedanken schnell zu Papier gebracht; denn der Gedanke ist schnell, wie Hobbes selbst sagte. Er war beständig erfüllt von seiner Grundkonzeption, formte die Gedanken vor und prägte aus der Eingebung des Augenblicks ihre oft sentenziöse Form. Stilornamente der üblichen Art lehnte er ab; die Sprache ist nüchtern. Er will nicht auf das Gefühl wirken, sondern baut gedanklich auf, Schritt für Schritt fortschreitend. Das gespannte Denken hält hier nicht wie bei andern Schriftstellern der Barockzeit den Atem an zu breit ausladendem Satzbau; er baut vielmehr abstrakt, in geistigen Einheiten, in logisch geordneten Schritten auf. Anschaulichkeit ist nicht das Ziel, schildernde Eigenschaftswörter werden sparsam gebraucht, Gegensatzpaare und gliedernde Satzzeichen häufig. Es ist eine Sprache strenger Sachlichkeit, unpersönlich, objektiv, das Wort ist nur Kleid des Gedankens und nicht sinngefülltes Symbol eines Gefühls. Die unerbittliche Folgerichtigkeit der Gesellschaftslehre mit ihren oft unbequemen Konsequenzen mußte, wie der Denker selbst wußte, vielfach Unbehagen erregen und Widerspruch wachrufen. Sie konnte in einer Zeit, die mit der „glorreichen" Revolution von 1688 neue Ordnungen brachte, keinen praktischen Einfluß auf die Staatsform mehr ausüben, wenn auch die negative Wir!:ung in Gegenschriften als schöpferisch gebucht werden muß. Die liberale Auffassung entschied sich seit der Thronbesteigung Wilhelms von Oranien für Volkssouveränität, Volksvertretung und geteilte Gewalten. Die volkserzieherisch so bedeutsame Lehre von dem Vorrang der Staatsinteressen aber wirkte weiter. Von stärkstem Einfluß dagegen war, wie sich
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noch zeigen wird, die Revolution der Morallehre, die in Zustimmung und Widerspruch das 18. Jahrhundert befruchtete und in einer aus These und Antithese gewonnenen Synthese in den breiten Strom des Volksempfindens eingegangen ist. Die Größe der Gesamtkonzeption, die aus den einfachsten Elementen das ganze Wesen des Menschen und der Gesellschaft ableitet, und die geradezu ästhetisch anziehende Folgerichtigkeit der Gedanken erheben den „Leviathan" in die Reihe der unvergänglichen philosophischen Meisterwerke. Aus der raschen politischen Entwicklung wird es begreiflich, daß der Gegensatz zwischen Gesetz und angeborenem Recht mehr und mehr das zentrale Problem wurde. Milton setzte sein großes Pathos und kämpferisches Dichtertum für Freiheit und Volksrechte ein. Der Staat und die Gesellschaft erschienen in der Zeit der Betonung natürlicher Menschenrechte doch komplizierter, als es die Psychologie eines unhistorischen Rationalismus bisher angenommen hatte. Das Leben spaltete ja von selbst mehr und mehr die mit- und gegeneinander wirkenden Kräfte ab, Politik, Wirtschaft, soziale Lage, Religion. In diesem Vorgang des Barockzeitalters sehen wir heute ja gerade die Geburt der politischen Neuzeit. James Harrington nimmt für seinen Idealstaat, seine „Oceana", die wirtschaftlichen Probleme als Ausgangspunkt. Die für die spätere Zeit so wichtige These vom Gleichgewicht der Kräfte — hier noch ganz innerpolitisch verstanden — stellt sich ein. Das sind die Anfänge eines wirklich historischen Denkens, und insofern ist die „Oceana" eigentlich keine Utopie. Wie bei Milton haben wir hier die Lehre von der Souveränität des Volkes, von der allgemeinen Gleichheit, die bei Harrington bis zu der Wahl für alle, auch die kleineren Ämter, durchgeführt wird. Die Beteiligung großer Geister an der politischen Erörterung war eingeleitet. Es ist für die vor extremen Schlußfolgerungen zurückscheuende englische Wesensart bezeichnend, wie sofort, schon mitten in der Aufklärung, sich Widerspruch gegen die strenge Gleichheits- und Vertragsthese erhob. Robert Filmer stimmte Hobbes in der Überzeugung von der unumschränkten Macht des Königs zu; aber er lehnte die Form ab, in der der König zu seinem Recht gekommen sein soll. Die von den Jesuiten angeregte, erstmalig wohl von Johann von Salisbury im „Polycraticus" (1156) ausgesprochene und dann von Hugo Grotius systematisch begründete Vertragstheorie bezeichnet er als falsch; die Annahme eines primitiven Zustandes der Gesellschaft gleicher Menschen sei ungeschichtlich und könne nur zur Volkssouveränität, nicht aber zum absoluten Königtum führen. Vielmehr habe Gott durch die Einsetzung Adams das monarchische System selbst begründet. Nicht Gleichheit, sondern patriarchalische Gliederung und Ordnung sei das Urgesetz menschlichen Zusammenlebens, der Staat nichts weiter als die Ausdehnung der Familie, das Recht des Herrschers also ebenso natürlich gegeben wie das Recht des Vaters. „Der Patriarch oder die natürliche Macht der Könige" heißt demgemäß Filmers Buch. So ungenügend uns auch die biblische Begründung erscheinen mag, so stellt sie doch den ersten energischen Versuch dar, historisches Denken in die Gesellschaftslehre hineinzutragen. Sie bereitet das organische Denken der späteren Zeit vor. Zunächst freilich rief sie nichts als Abwehr hervor. Algernon Sidney wies jede göttliche Beteiligung an der Verteilung der Rechte ab und trat für Volkssouveränität mit dem Recht der Auflehnung gegen Gewalt ein; der gedankenreiche, originelle Aristokrat Lord Halifax behandelt das Parteiwesen und alles Theoretisieren in seinem tiefen Sinn für politische Realitäten mit skeptischer Ironie. Das alles sind Zeichen der Zeitstimmung, der widerspruchsvollen Strömungen in der Restaurationsperiode. Es bedurfte des bedeutenden Philosophen, der seine politische Lehre aus der Ganzheit einer Weltschau herleiten und damit gegen Hobbes und Filmer einen neuen Ausgangspunkt festlegen konnte. 15 Die Stimmen der Meister
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Dieser Philosoph erstand in J o h n L o c k e (1632—1705), dem typischsten aller englischen Denker, der von größtem Einfluß auf die weltanschauliche Weiterentwicklung gewesen ist und als der philosophische Begründer des eigentlichen Aufklärungszeitalters angesehen werden muß. Seit der „großen Erneuerung", die Bacon eingeleitet hatte, konnte es keinen Widerspruch dagegen geben, daß Wissenschaft im modernen Sinne nur durch das experimentelle Verfahren möglich ist. Bacon hatte aber noch mehr getan; er hatte in seiner Lehre von den Idolen, den Trugbildern des Denkens, die Gefahren und Mängel des auf Erkenntnis gerichteten Geistes aufgezeigt und Mittel zu ihrer Vermeidung empfohlen. Bei Locke rückte die Kritik der Erkenntnisquellen — für immer das Hauptanliegen der Philosophie — in den Mittelpunkt. Er gab damit den entscheidenden Anstoß zu den größten Leistungen der englischen Philosophie und wurde der erste kritische Philosoph überhaupt. Seine Zweifel gegen Ansichten des gemeinen Menschenverstandes und gegen überlieferte Lehrmeinungen haben den Weg für neue Auffassungen, für bessere Begründungen und schärfere Fassungen freigemacht. Darin liegt seine geschichtliche Bedeutung. Wie kommen wir überhaupt zu Erkenntnissen, zur Erfahrung? Der bezeichnendste Zug des englischen Denkens bildet den Ausgangspunkt: die Realität ist unmittelbar gegeben — bei Kant ist sie es erst unter den Bedingungen des Bewußtseins —, die Dinge sind einfach da, und unser Erkennen richtet sich auf die Tatsachen unmittelbar. Alle Metaphysik, die die hinter den Dingen liegenden Ursachen und Kräfte sucht, wird abgelehnt; die empiristische Erkenntnislehre bleibt einfach bei den unmittelbar erfahrbaren Tatsachen. Wie Kant der repräsentative deutsche Denker ist, so Locke ein für allemal der englische. Das Hauptwerk, der Versuch über den menschlichen Verstand (1690), entstand nach einer fruchtlosen Erörterung im Freundeskreise, die dem Philosophen den Gedanken nahelegte, zunächst einmal den Ursprung und die Grenzen des Verstandes zu untersuchen. Das erste Buch enthält eine Polemik gegen die von Descartes vertretene Lehre von angeborenen Ideen; das zweite handelt vom Ursprung der Vorstellungen — das Wort Idee ist bei Lacke die Bezeichnung für alle Vorstellungen und Begriffe — aus der Erfahrung, das dritte von dem Verhältnis von Sprechen und Denken, das vierte von den verschiedenen Arten und den Grenzen der Erkenntnis. Es gibt keine angeborenen Vorstellungen. Selbst so unbestrittene Wahrheiten wie die Sätze „was ist, das ist" und „kein Ding kann zugleich sein und nicht sein" sind nicht angeboren, sondern z. B. Kindern und Idioten unbekannt, also erst erworben. Die Seele ist ein unbeschriebenes Blatt, auf das auf dem Wege über die Sinne Zeichen geschrieben werden, ein leerer Raum, in den die Sinne Vorstellungen eindringen lassen. Auch die Gottesvorstellung ist nicht angeboren. Die Erkenntnisse äußerlich wahrnehmbarer Vorstellungen — gelb, weiß, heiß und kalt, weich und hart usw. — gewinnen wir also durch die Sinne (Sensation). An den so gewonnenen Vorstellungen übt nun der Geist eine Reihe von Operationen aus — Glauben, Schließen, Wollen, Zweifeln —, die aus der inneren Erfahrung oder Reflexion stammen. Sensation und Reflexion sind also die beiden Fenster, durch die die Dunkelkammer unseres Innern erhellt wird. Aus dieser Grundthese entwickelt der Denker dann ausführlich seine Lehre von den primären und sekundären Eigenschaften — Ausdehnung, Gestalt, Festigkeit, Bewegung; Farben, Töne, Wärme u. dgl. —, von den einfachen und gemischten Modi, d. h. der Abwandlungen oder Verbindungen von Sinneseindrücken — Unendlichkeit, Raum, Gestalt, Ort, Zeit u. a.; Lüge, Verpflichtung, Trunkenheit, Heuchelei, Mord, Kirchenraub u. dgl. —, von den einfachen und komplexen Ideen — jene setzen ein wirkliches Sein voraus, diese eine beziehende Tätigkeit des Geistes
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wie etwa die durchaus in der Luft schwebende, unklare Idee der Substanz —, von den Stufen der Gewißheit — klare und einfache Ideen, Intuition usw. Auch die praktischen Wahrheiten der Moral sind nicht angeboren, sondern durch Erfahrung gewonnen, selbst die Gottesvorstellung. Gottes Dasein erkennen wir mit Sicherheit; im übrigen sind wir in religiösen Dingen auf den Glauben angewiesen, der freilich nichts dem Wissen schlechthin Entgegengesetztes ist. Locke hält am positiven Christentum fest, dessen Inhalt die christliche Lehre ist, die frei vom staatlichen Zwang nichts als persönliche Überzeugung darstellt. Der Staat muß tolerant sein; Kirche und Staat sind zu trennen, die Religion darf nicht wie bei Hobbes eine Staatsangelegenheit sein. Das Streben nach Glück ist die tiefste Triebfeder unseres Handelns. Der Eudämonismus des Aufklärungszeitalters, also die später von Kant bekämpfte Lehre, daß das Streben nach Glückseligkeit oder nach lustbetonten Empfindungen der Antrieb zu allem sittlichen Streben sei, wird klar formuliert: „Wenn gefragt wird, was das Verlangen anregt, so antworte ich: das Glück und dies allein. Glück und Unglück sind die Namen für zwei Gegensätze, deren äußerste Grenzen wir nicht kennen . . . In seiner vollen Größe ist demnach das Glück die höchste Freude, deren wir fähig sind, und das Unglück der größte Schmerz; und die niedrigste Stufe dessen, was Glück heißen kann, ist soviel Freiheit von allem Schmerz und soviel gegenwärtige Freude, wie mindestens zur Zufriedenheit erforderlich ist. Weil nun Freude und Schmerz in uns durch die Einwirkung gewisser Objekte auf unsern Geist oder auf unsern Körper hervorgebracht werden, und zwar in verschiedenen Graden, so nennen wir das, was geeignet ist Freude in uns hervorzubringen, gut und, was geeignet ist Schmerz in uns hervorzubringen, übel, aus keinem anderen Grunde, als weil sie dazu geeignet sind, Freude und Schmerz in uns zu erzeugen, worin unser Glück und Unglück besteht" (II 2, § 40—41). Die Willens- und Handlungsfreiheit ist die Voraussetzung alles sittlichen Verhaltens. Diese Skizze der Grundgedanken mußte vorangestellt werden, wenn wir das Wesen der Gesellschaftslehre Lockes, die für die Folgezeit so bedeutungsvolle Auswirkung des Empirismus als Liberalismus, richtig würdigen wollen. Sein ganzes Gedankengebäude ist typisch für sein Volk in folgenden Zügen: Beschränkung der Philosophie auf die Gebiete der Erkenntnis- und Morallehre; Methode des Empirismus; Nominalismus oder genauer Konzeptualismus: Allgemeinvorstellungen wie die Pflanze, das Pferd entstehen so, daß die Erinnerungsbilder verschiedener geschauter Exemplare in meinem Geist zu einem die gemeinsamen Merkmale vereinigenden Gesamtbild verschmelzen, das als Gattungsidee mit einem Wort bezeichnet wird; „Common sense", ein Begriff, in dem gesunder Menschenverstand und allgemein angenommene Überzeugung zusammenfließen; Nützlichkeit, auch im Sinne des Sittlichen; gut ist, was meinem Glück und damit auch der Gemeinschaft dient; das Gesetz der öffentlichen Meinung steht gleichberechtigt neben dem göttlichen und staatlichen Gesetz; Festhalten am Kirchenglauben und an der Offenbarung; menschliches Wissen geht über die sinnliche Erfahrung nicht hinaus; alles andere ist Religion. Locke hat in mehreren Schriften praktische Fragen angepackt: die Gesellschaftslehre, die Erziehung, wirtschaftliche Probleme, die „Vernünftigkeit" des Christentums, die religiöse Toleranz. Alle stehen auf seiner kritischen Erkenntnislehre, die einen grundlegenden Neuanfang für das englische Denken bedeutet. Seine staatsphilosophischen Ansichten sind enthalten in den 1690 veröffentlichten 15«
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Zwei Abhandlungen über die Regierung Die erste dieser beiden Abhandlungen will die „falschen Grundsätze" ausräumen. Sie richtet sich namentlich gegen das bereits erwähnte Werk Robert Filmers, in dem die Idee des patriarchalischen, absoluten Königtums mit der göttlichen Beauftragung Adams und einer Herleitung des königlichen Rechts aus dem väterlichen begründet wurde. Vom rein ideengeschichtlichen Standpunkt fragt man sich, warum nicht der große Begründer der These von der absoluten und ungeteilten obersten Gewalt, Thomas Hobbes, Ziel der Polemik war, sondern der unbedeutende Filmer, dessen Name im wesentlichen durch Lockes Angriff der Nachwelt erhalten worden ist. Filmer hatte mit Hobbes eigentlich nur die Überzeugung von der absoluten, über jedem irdischen Gesetz stehenden souveränen Gewalt gemeinsam, wich aber in der Frage der Herkunft dieser Macht, die bei ihm nur durch eine von Gott eingesetzte Herrscherperson verkörpert sein kann, und in vielen Folgerungen von ihm ab. Diese Lehre entsprach den Wünschen der Stuartkönige „von Gottes Gnaden" weit mehr als die unerbittliche und unbequeme, übrigens auch für Locke selbst unleidliche Konsequenz des Verfassers des „Leviathan". Filmer war der beliebte Staatsphilosoph der royalistischen und kirchlichen Kreise und mußte zuerst beseitigt werden, bevor Locke positiv aufbauen konnte. Die Opposition gegen Hobbes steckt unausgesprochen in der zweiten Abhandlung, die den „falschen Grundsätzen" den „echten Geltungsbereich und das echte Ziel einer Regierung" gegenüberstellt. Die Natur hat die Menschen als in jeder Hinsicht freie und gleiche Wesen geschaffen, nicht in irgendwelchen Unterordnungsverhältnissen. Der Urzustand des Zusammenlebens dieser freien und gleichberechtigten einzelnen ist nun aber nicht wie bei Hobbes ein Krieg aller gegen alle; er steht vielmehr unter dem Vernunftgesetz, das die Natur dem Menschen mitgegeben hat, dem Gesetz, nach dem niemand dem andern Schaden zufügen will. Ein friedliches Miteinanderleben in Familien, Gruppen, Herden ist demnach der Anfang; zum Kriegszustand kommt es erst, wenn das Vernunftgesetz durchbrochen wird, Natur und Kriegszustand sind also Gegensätze und fallen nicht wie bei Hobbes zusammen. Schon in diesem Urzustand gibt es ein erstes natürliches Recht jedes einzelnen, das Recht auf Eigentum. Eigentum ist zunächst mein Körper, dann aber auch das, was ich mit der Arbeit meines Körpers schaffe. He that is nourished by the acorns he picked up under an oak, or the apples he gathered from the trees in the wood, has certainly appropriated them to himself. Nobody can deny but the nourishment is his. I ask, then, when did they begin to be his? when he digested? or when he ate? or when he boiled? or when he brought them home? or when he picked them up? And it is plain, if the first gathering made them not his, nothing else could. That labour put a distinction between them and common. That added something to them more than Nature, the common mother of all, had done, and so they became his private right. And will any one say he had no right to those acorns or apples he thus appropriated because he had not the consent of all mankind to make them his? Was it a robbery thus to assume to himself what belonged to all in common? If such a consent as that was necessary, man
Wer zu seiner Ernährung Eicheln unter einem Eichbaum auflas oder Äpfel von Waldbäumen pflückte, machte diese fraglos zu seinem Besitz. Niemand kann ihm das Recht auf Nahrung streitig machen. Ich frage nun aber: wann wurde diese Nahrung sein Besitz? Als er sie verdaute, als er sie aß, als er sie kochte, als er sie heimtrug, als er sie sammelte? Es ist klar, daß nur das erste Einsammeln und sonst nichts sein Besitzrecht begründen konnte. Diese Arbeit setzte eine Trennung des Einzel- und des Allgemeinbesitzes. Sie fügte der Natur, der gemeinsamen Mutter aller Dinge, etwas hinzu, und damit wurden die Nahrungsmittel Privatbesitz. Wenn jemand sagt, zu der Aneignung jener Eicheln oder Äpfel habe die Einwilligung der Gesamtheit gefehlt, sie sei also nichts als Raub am gemeinsamen Eigentum gewesen, so ist dem entgegenzuhalten: der Mensch wäre gestorben trotz der Fülle, die
John Lockes Abhandlungen über die Regierung
had starved, notwithstanding the plenty God had given him. We see in commons, which remain so by compact, that it is the taking any part of what is common, and removing it out of the state Nature leaves it in, which begins the property, without which the common is of no use. And the taking of this or that part does not depend on the express consent of all the commoners. Thus, the grass my horse has bit, the turfs my servant has cut, and the ore I have digged in any place, where I have a right to them in common with others, become my property without the assignation or consent of anybody. The labour that was mine, removing them out of that common state they were in, hath fixed my property in them. (Buch II, § 27)
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Gott gespendet h a t . . . Die Aneignung dieses oder jenes Teils des Vorhandenen hängt nicht von der ausdrücklichen Zustimmung der Gemeinschaft ab. So wird das Gras, das mein Pferd frißt, der Rasen, den mein Diener schneidet, das Erz, das ich da grabe, wo ich genau so gut wie jeder andre ein Anrecht habe, zu meinem Eigentum ohne die Zustimmung irgendeines andren. Die von mir zur Herausnahme aus dem Allgemeinrecht aufgewandte Arbeitsleistung hat mein Besitzrecht begründet.
Die Arbeit ist also die Grundlage des Eigentums. Wir werden noch sehen, von wie fundamentaler Bedeutung diese Zurückführung aller wirtschaftlichen Werte auf die Arbeit für die Begründung der Nationalökonomie bei Adam Smith und für die modernen sozialistischen Ideen wurde. Bei Locke rechtfertigt der durch Fleiß und Begabung verschiedene Ertrag der individuellen Arbeit die sozialen Unterschiede. Wer durch seine Arbeit mehr Eigentum erwarb, als er zur Befriedigung seiner unmittelbaren Bedürfnisse brauchte, konnte die überschüssigen Güter gegen andere eintauschen oder Geld dafür nehmen, das nichts ist als ein vereinbartes Zeichen für aufgespeicherte Arbeit. Der ganz individualistische Ursprung des ungleich verteilten Besitzes, im puritanischen Denken durch die göttliche Vorsehung gerechtfertigt, wird hier naturrechtlich eingekleidet. Um die natürlichen Rechte des einzelnen zu sichern, in erster Linie also das Leben und das Eigentum, mußte eine Macht geschaffen werden. Die Macht des Staates ist also nicht wie die Ordnung der Familie natürlich geworden, sondern auf dem Wege der Vereinbarung oder des Vertrages geschaffen. Die einzelnen schließen sich freiwillig und einstimmig zu einer Gemeinschaft zusammen, deren Einzelentscheidungen durch die Mehrheit bestimmt werden und für alle verbindlich sind. Der Staat hebt aber durch seine Errichtung nicht die natürlichen Rechte des einzelnen auf. Da dieMenschen sich zu ihm entschlossen haben, um „ein bequemes, sicheres und friedliches Leben und den ungestörten Genuß ihres Eigentums" unter seinem Schutz zu garantieren (II, § 95), so kann der Staat nichts fordern, was dieser Absicht seiner Bürger zuwiderlaufen oder über sie hinausgehen könnte. Er ist also nur ein Zweckverband mit der Aufgabe des Rechtsschutzes, wozu ihm die Befughis des Richtens und Strafens überlassen wird, sonst aber keins der natürlichen Rechte. Er kann demnach keine unumschränkte Macht für sich in Anspruch nehmen, nicht das Recht auf Leben, Freiheit, Eigentum, ungehemmte wirtschaftliche Betätigung schmälern. Nicht der Wille eines Einzelherrschers oder einer Körperschaft entscheidet im Staat, sondern das durch den Willen des souveränen Volkes aufgestellte Gesetz, das über den Trägern der Staatsgewalt steht. Die einzelnen Staatsformen unterscheiden sich also nur danach, in wessen Hand die übertragene Gewalt gelegt ist. Der Zweck des Staates bedingt seinen Aufbau. Obenan steht die gesetzgebende Gewalt, durch die ja die Staatsherrschaft überhaupt erst möglich geworden ist; sie ist die Seele des Staates. Sie kann nicht willkürlich und absolut sein, sondern findet ihre Grenze an den natürlichen Rechten der Bürger, sie muß durch möglichst weitgehende
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Beteiligung der Öffentlichkeit den Weg eines Ausgleichs der Interessen gehen. Ausgeübt wird sie durch das Volk oder praktisch durch hierzu bestellte Vertreter des Volkes, die kraft dieses Auftrages ihre verpflichtende Aufgabe erfüllen. Neben der gesetzgebenden steht als zweiter Faktor die ausübende Gewalt, die eigentliche Staatsleitung. Locke gliedert sie in die eigentliche Exekutive, der die Durchführung der Gesetze, die Gerichtsbarkeit und die Verwaltung des Staates obliegen, und die Föderative, die den Staat nach außen vertritt, sein Verhalten zu andren Staaten regelt und über Krieg und Frieden entscheidet. In der Praxis wird diese Gewalt mit der Exekutive in der Regel zusammenfallen, wie ja in England der König Träger der gesamten vollziehenden Gewalt ist. Er ist die höchste Person im Staat, aber nicht die höchste Gewalt, dem Parlament als dem Organ der Legislative also nicht über-, sondern untergeordnet, wie es seit der Revolution von 1688 in England wirklich der Fall war. Die gesetzgebende Gewalt ist nicht nur die höchste im Staat, sondern heilig und unveränderlich in den Händen derer, die das Volk beauftragt hat; die von ihr erlassenen Gesetze sind bindend, ihre Befolgung kann durch keine Gehorsamsbindung irgendeiner andren Gewalt gegenüber aufgehoben werden (II, § 134). Der König ist also lediglich Vollstrecker der Gesetze und nicht Souverän im eigentlichen Sinne. Die beiden Gewalten, Legislative und Exekutive, sind, wie sich aus ihrer Entstehung ergibt, keine selbständigen Faktoren, sondern nur Organe des souveränen, sich selbst regierenden Volkes. Die Idee der Volkssouveränität war keineswegs neu, sondern spielte schon in den Puritanerkämpfen gegen Krone und Kirche eine wichtige Rolle. Milton betont sie stark und stützt auf sie die Rechtfertigung der Absetzung und Hinrichtung Karls I. Locke betont die Volkssouveränität nicht so pathetisch und gefühlsstark wie Milton. Bei ihm steht der Gedanke der Vertretung viel stärker im Vordergrund, die Beauftragung, das Treuhändertum der vom Volk bestellten Männer; Ausdrücke wie „trust, law of trust, fiduciary power, representation" u. dgl. kehren immer wieder. Es ist für ihn geradezu bezeichnend, daß die Volkssouveränität eigentlich nur den ideologischen Ausgangspunkt bei der Bestellung der Organe bildet, daß dann aber Volkswille und Legislative durchaus getrennt sind; die Volkssouveränität wird in die Parlamentssouveränität umgebildet. Das Parlament ist das handelnde Organ, es handelt im Namen und Auftrag des Volkes, und man kann es an den parlamentarischen Reden, die ja in ihren größten Beispielen als Volks- und Schullektüre weit verbreitet sind, immer wieder sehen, wie die Parlamentarier in der Einleitung oder am Schluß die Verantwortung gegenüber ihrem Auftrag betonen. Gegenüber der barocken Pathetik der gefühlsstarken Erhöhung des souveränen Volkes hatte Locke die praktischen Gegebenheiten der für die Thronbesteigung Wilhelms von Oranien neu geregelten Verfassung im Auge. Das Parlament war aus den Kämpfen gegen den Absolutismus der Stuarts siegreich hervorgegangen. Locke gab ihm die Sanktion auf naturrechtlicher Grundlage. Der gleiche Anlaß, die Anpassung an die im Kampf gegen Despotieansprüche gewordenen tatsächlichen Verhältnisse, führte ja auch zu der Lehre von der Trennung der Gewalten, die den Rechtsstaat gegen Übergriffe und Vergewaltigung zu schützen geeignet war. Locke unterschied zwei Gewalten; sein Schüler in diesem Punkt war der französische Staatsdenker Montesquieu, der durch Abtrennung der juridischen Gewalt zu seiner für die ganze spätere Entwicklung der Demokratie bestimmenden Dreigliederung der staatlichen Organe kam. Die Stärkung der verfassungsmäßigen Volksvertretung hob Locke auch über den von Hobbes gegen die alte Vertragslehre geltend gemachten Einwand hinweg, es gebe keine unparteiische Instanz über den Vertragspartnern Volk und Souverän, die im Notfalle feststellen kann, ob der Urvertrag verletzt worden ist. Das Parlament als
John Lockes Abhandlungen über die Regierung
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Träger der gesetzgebenden Gewalt ist eben die maßgebende Verkörperung des politischen Willens und der eigentlichen Souveränität. Volkswille und Parlamentswille sind keineswegs identisch. Das Parlament ist zwar aus dem Volkswillen hervorgegangen, dann aber selbständiger Willensträger. Locke kennt die alte Frage nach dem höchsten Richter über den Vertrag wohl und beantwortet sie so: There can be no judge on earth. As there can be none between the legislative and the >eople, should either the executive or the egislative, when they have got the power in their hands, design, or go about to enslave or destroy them, the people have no other remedy in this, as in all other cases where they have no judge on earth, but to appeal to Heaven. (II, § 168)
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Es kann keinen Richter auf Erden geben. Wie es keinen Richter zwischen Legislative und Volk gibt für den Fall, daß die Exekutive oder die Legislative die Absicht hätten das Volk zu versklaven oder zu vernichten, so bleibt dem Volk hier wie in allen andren Fällen nur der Appell an den Himmel.
Übertritt der Herrscher oder die gewählte Vertretung das ihnen übertragene Recht, so bleibt der Gesamtheit nur das übrig, was jedem einzelnen zusteht, nämlich die Anrufung Gottes, der das natürliche Recht auf Selbsterhaltung geschaffen hat. Das weiß aber der Herrscher, und er wird sich wohl hüten, seine Grenzen zu überschreiten; denn das würde die Auflösung der staatlichen Ordnung bedeuten. Ein allgemeiner Volkswiderstand wäre demnach kein verfassungsmäßiges Recht, eine Revolution ist der Aufstand einzelner, nicht aber ein Gesamtakt oder ein Recht des Volkes. Der Zusammenhang der soziologischen Begriffsbildung mit der Erkenntnislehre Lockes liegt auf der Hand. Die nominalistische Denkweise, für die ja nur die Einzeldinge wirkliche Existenz haben, konnte nur von den wollenden und handelnden Individuen ausgehen und Staat und Gesellschaft lediglich als ein von diesen einzelnen geschaffenes künstliches Gebilde auffassen, genau so wie die Allgemeinvorstellungen nur aus Bewußtseinsakten hervorgehen und nicht den Dingen immanent sind. Diesem individualistischen und pluralistischen Grundgedanken, für den das Ganze nichts ist als die Summe der einzelnen, lag die alte Lehre vom Gesellschaftsvertrag nahe, die auch bei Locke nicht die Annahme einer einmal gewesenen geschichtlichen Wirklichkeit einschließt, sondern als ein gedankliches Hilfsmittel, um die Gemeinschaft vom Individuum aus zu begreifen. Der Zweck, das Nützlichkeitsprinzip ist die Triebfeder, und dieser Zweck stellt dem Staat die Aufgabe, die natürlichen Rechte des einzelnen zu schützen. Diese individualistische Nützlichkeitslehre bestimmt nicht nur die Funktion des Staates, sondern auch die Wertungen im Bereich der Moral, die sich nach dem Beitrag zu dem Glück oder Unglück der Menschen richten. J . Bentham zieht später die klare Folgerung, wenn er das sittliche Handeln nur nach dem größten Nutzen für die größtmögliche Zahl von Menschen wertet. Das Prinzip des Egoismus, das nur das eigene Wohl und Wehe im Auge hat, übernimmt die Ethik Lockes von Hobbes, wenn auch nicht in der Form, daß erst das staatliche Gesetz die moralische Vorschrift schafft, sondern rein naturrechtlich mit der Annahme einer das Ganze regelnden Vernunft. Diese Vernunft veranlaßt den nach ungestörtem Besitz und Genuß seines Körpers und seines Eigentums strebenden Menschen, schon vor der Organisation der Gemeinschaft friedlich neben seinem Nachbarn zu leben; Feindschaft, Mißtrauen und Krieg sind also nicht der Urzustand des Zusammenlebens. Wir können in der Annahme dieses Vernunftgesetzes, das den Menschen von Natur aus dazu treibt, die natürlichen Rechte des Nachbarn zu achten, eine eigenartige Inkonsequenz gegenüber der Erkenntnislehre erblicken. In dieser hatte Locke alle angeborenen Ideen geleugnet und die Seele im Augenblick der Geburt ein unbeschriebenes Blatt genannt. Nun hatte
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schon Leibniz in seiner berühmten Kritik der Erkenntnislehre darauf hingewiesen, daß bereits in der Annahme der „Reflexion", in der dem Geist ein schöpferisches Vermögen zur Bildung komplexer aus einfachen Ideen zugestanden wird, eine Durchbrechving des Grundsatzes von der völligen Voraussetzungslosigkeit liegt. Er hatte den alten Satz: Im Verstände ist nichts, was nicht vorher in den Sinnen gewesen ist (nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu), so abgewandelt: Im Verstand ist nichts, was nicht vorher in den Sinnen gewesen ist, außer dem Verstand selbst (nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu, nisi intellectus ipse). Wenn nun in der Uranlage des Menschen nicht nur ein Gefühl für die Naturgesetze, sondern auch für ein Vernunftgesetz vorhanden ist, so kann dies Gefühl nicht aus der Erfahrung stammen, sondern nur eine der von Locke grundsätzlich bekämpften „angeborenen Ideen" sein. Hier verläßt der Philosoph also seinen streng empiristischen Standpunkt zugunsten der Annahme einer angeborenen Idee des Rechts. Wichtig aber ist die Annahme des „unbeschriebenen Blattes" für die Lehre von den Umwelteinflüssen, die von einer geradezu revolutionierenden Wirkung war und das Denken der Aufklärungszeit befruchtete. Umwelt und Erziehung sind die Quellen der Eindrücke, die jenes unbeschriebene Blatt mit Inhalt füllen und den Geist formen. Der optimistische Fortschrittsgedanke, der Glaube an Erziehung und die Milieutheorie eines Hippolyte Taine sind hier vorgezeichnet, also die Hauptgedanken des Liberalismus mit ihren politischen und sozialen Folgerungen. Die Einzelheiten der Staatsphilosophie Lockes sind nicht originell, der Gesamtaufbau zeigt nicht die strenge Unerbittlichkeit eines Hobbes. Was ihn auszeichnet, ist der gesunde Sinn für die tatsächlichen, gewordenen Verhältnisse, die in der Verfassungsreform von 1689 ihren Ausdruck fanden und denen er die abstrakte Form in theoretischer Begründung zu geben vermochte. Wie er als empiristischer Erkenntnistheoretiker an der Spitze einer fruchtbaren Entwicklung steht, so hat er mit der Umgrenzung seines Eigentumsrechts durch die Arbeit der klassischen Volkswirtschaftslehre vorgearbeitet, die Teilung der Staatsgewalten mit Betonung des Treuhänderverhältnisses begründet und die gewählte Vertretung, das Parlament, zum Träger des Volkswillens und damit zur höchsten Autorität erhoben. Der gelehrte Jurist Sir William Blackstone proklamierte in seinen berühmten „Kommentaren zu den Gesetzen Englands" (1765—69) die Allgewalt des Parlaments als oberstes Prinzip der englischen Verfassung, und die Regierung, das ausführende Organ des Parlaments, als alleinigen Träger der Autorität. Der Volkswille und der Gedanke, daß alle Macht nur als Auftragsrecht ausgeübt werden kann, sind für Locke entscheidender als die Formen, in denen die Gemeinschaft sich die Träger dieses Rechts schafft; die Demokratie ist mehr eine geistige Haltung als eine Regierungsform. Die im Parteienkampf praktisch errungene politische und religiöse Freiheit findet hier ihre theoretische Begründung als Vermächtnis des Jahrhunderts. Die Theorie hatte durch eingehende Begründung das Werkzeug für die Ausarbeitung geschriebener Verfassungen geliefert, ein Verfassungswerk wie das der unabhängig gewordenen Vereinigten Staaten von Amerika konnte auf ihr fußen, die Theorie erwies sich als tragfähig und fruchtbar für die folgenden Jahrhunderte. Französische Besucher, an ihrer Spitze Voltaire und Montesquieu, studierten die Theorie und ihr praktisches Funktionieren und begründeten durch ihre Lobpreisungen den europäischen Ruf Englands als des Vorbildes aller politischen Ordnung. Der aufklärerische Ordnungsgedanke fühlte sich befriedigt in der natürlichen Freiheit, dem Gesetz der Natur, dem Wirken der Vernunft, dem Gesellschaftsvertrag, der Staatsform als der natürlichen Fortentwicklung des Gesellschaftsaufbaus. In Frankreich vollzog sich die Umsetzung der naturrechtfichen Staatslehre in die Tat, die Auflehnung gegen Unterdrückung als Wesensbestandteil der Vertragslehre. Die Grundhaltung blieb die gleiche in dem Denken, das die französische Revo-
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lution vorbereitete, und es macht dabei keinen Unterschied, ob man mit den Begründern der Aufklärung von dem ursprünglich schlechten und erst durch die Kulturentwicklung befreiten Menschen ausging und mehr an einen Herrschaftsvertrag glaubte oder ob man mit Rousseau und William Godwin, dem Verfasser der „Politischen Gerechtigkeit", von dem guten Urmenschen herkam und den Vertrag als einen Gesellschaftsvertrag auffaßte. Der späte Aufklärer Godwin ist ein Systemdenker, der das Leben in einem gewaltsamen Gedankengebäude einfangen will und es damit vergewaltigt; Rousseau mit seinem heldischen, an begrifflichen Widersprüchen reichen Ringen um die Wahrheit bleibt viel mehr in der Dialektik stecken, die dem wahren Leben entspricht. So wünscht sich ja auch Lessing das kämpferische, wenn auch oft irrende Ringen um die Wahrheit inniger als ihren Besitz. Und so hat Lockes Lehre, die der gewordenen Praxis den systematischen Unterbau gab, reichen Samen für die Weiterbildung ausgestreut, während die Lehre eines Staatsdenkers von ganz hohem Rang, wie es Hobbes war, in seinem allen Extremen abgeneigten Volk ohne praktische Wirkung blieb. Die Wesensart eines Volkes offenbart sich in dem, was es annimmt und tut. Der Sieg der Ideen in der großen Revolution von 1789 blieb nicht ohne starke Rückwirkung auf das Mutterland der Ideen. Überall weckte die französische Revolution Begeisterung in England, Politik und Literatur jubelten ihr zu. Die jungen Romantiker priesen beglückt den befreiten Menschen, die Gleichheit und Verbrüderung; was das Jahrhundert an Licht in der Finsternis, an Fortschritt und Glück bringen konnte, schien nun verwirklicht. Man sah mit klopfendem Herzen auf das der Menschheit voranschreitende Land jenseits des Kanals. Da trat E d m u n d B u r k e auf, um der Revolution den Kampf anzusagen. Das erwachende Gefühl der Rivalität gegenüber den außenpolitischen Erfolgen Frankreichs bereitete ihm den Boden. „Es war eine Zeit", so beginnt der deutsche Publizist Friedrich von Gentz seine bald nach dem Originalwerk erschienene deutsche Ausgabe des Burkeschen Hauptwerks, „wo es für einen denkenden Mann kaum einen edlern und kaum einen süßern Beruf gab, als — politischer Schriftsteller zu sein. Die Menschheit erwachte aus einem langen Schlummer. Der dämmernde Tag beleuchtete eine grauenvolle Szene von Barbarei, Erniedrigung, Knechtschaft und tausendfachem Elend. Ein Strom von Licht mußte die dicke Finsternis zerreißen, die den menschlichen Geist gefangenhielt. Wahrheit und Freiheit mußten aus einem zweiten Chaos eine neue Welt hervorziehen, und Belehrung ward das erste Bedürfnis der Nationen." Burke (1729—1797) kam als Privatsekretär des Staatsmanns Lord Rockingham ins Unterhaus, wo er mit dem älteren Pitt die den amerikanischen Kolonien auferlegten Stempelakte bekämpfte und vergeblich die Gefahr des amerikanischen Krieges kurz vor dessen Ausbruch zu beschwören suchte. Er trat mutig gegen die im politischen Wesen herrschende Bestechlichkeit auf, gewann das Parlament für die Anklage gegen den indischen Generalgouverneur Warren Hastings und für ein Einschreiten gegen die schweren Mißstände in der Verwaltung, verlor aber dann an Einfluß gegenüber der Staatsführung durch den jüngeren Pitt und durch Fox. In der so begeistert begrüßten französischen Revolution und ihren Idealen sah er nur die Auflösung aller staatlichen und sozialen Ordnung. Das rationalistische Denken hatte den Staat „erklärt"; ihn als Gegebenes, als organisch Gewordenes zu deuten war die welthistorische Tat Burkes, den der Historiker G. P. Gooch einmal den vielleicht größten politischen Denker seit Aristoteles genannt hat. Coleridge ist der Meinung, daß in Burkes Schriften die Keime fast aller politischen Wahrheiten gefunden werden können, und Macaulay nennt ihn den größten Intellekt der Nation seit Milton. Burke stand mitten im politischen Kampf seiner Zeit und wollte der Not der Zeit dienen; darin liegt die
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Quelle seiner lebenerfüllten Sprache und das Geheimnis seiner Wirkung. Er war ein gewaltiges Temperament, ein Mann von großem Wissen, von lebendiger Phantasie, eine der reichsten Gestalten seines Jahrhunderts, von persönlicher Integrität, einer der größten Redner seines Volkes, und darf neben Bacon als der philosophischste Staatsmann gelten. Im Jahre 1790 erschienen die epochemachenden „Betrachtungen über die fran2ösische Revolution" als eine von mehreren Schriften, in denen er die Regierung zum Krieg gegen das revolutionäre Frankreich drängte. Das Buch erlebte in einem Jahr elf Auflagen. Es war der erste entscheidende Widerspruch gegen die Zustimmung, die die enthusiastischen Anfänge der Revolution in England und Deutschland gefunden hatten. Und dabei kam der Widerspruch nicht etwa von einem starren Reaktionär. Burke hatte als Whig begonnen, ging dann zu den Tories über, blieb aber der Kämpfer für Gerechtigkeit und Toleranz. Darin darf man nicht einen Gesinnungswechsel im Sinne unsrer politischen Parteibegriffe sehen. Der angebliche Zweiparteienstaat hat im echten Sinne niemals bestanden; vielmehr gab es im Parlament und gibt es noch heute immer einzelne Gruppen, die sich im Hinblick auf die vordringlichen Aufgaben bestimmten Führern angeschlossen haben. Gerade bei Burke zeigt es sich, daß sein Jahrhundert, in dem er wurzelte, in seinem geistigen Gehalt nicht mit dem Begriff Aufklärung erschöpft werden kann, wie ja auch die rein literarischen Strömungen, in denen langsam das romantische Fühlen heranwächst, ein vielgestaltiges Bild abgeben. Er ist viel zu selbständig, um mit einem nach Programm riechenden Parteinamen erschöpft werden zu können, und auch der Sinn für das Geschichtliche war bei den ideologisch vorgehenden Staatsdenkern vorhanden, auch wenn sie die abstrakte Konstruktion zur Erklärung der Gesellschaft bevorzugten. Aber die konsequente Durchführung des Aufbaus aus dem Geschichtlichen und organisch Gewordenen bleibt sein Verdienst, hebt sein Werk von der alten liberalen Staatslehre ab und legt fruchtbare Keime für das folgende Jahrhundert. Wenn er die Fürsten Europas zum Kreuzzug gegen die Franzosen aufforderte, wenn er sich mit Leidenschaft gegen die junge Romantik und ihre Frankreichschwärmerei wandte, so mußte dieser Mann, der in seinem ganzen öffentlichen Wirken ein Reformer des politischen Lebens überhaupt war, die Ereignisse in einer von der üblichen wesentlich abweichenden Beleuchtung sehen und damit großen Widerhall finden, zumal seit dem Tuileriensturm und dem Königsprozeß der Boden für einen Umschlag der Stimmung bei vielen Geistigen bereitet war.
Betrachtungen über die französische Revolution Der Charakter des Buches ist gewollt formlos und diskursiv. Der Verfasser will keine „Methode" und wählt deshalb die Form eines Briefes an einen Franzosen: „Da ich mich der Regellosigkeit des Briefstils überlasse, so erhoffe ich Verzeihung, wenn ich, ohne mich an wissenschaftliche Methode zu binden, meine Gedanken in der Ordnung hinwerfe, meine Empfindungen in der Folge ausdrücke, wie sie sich soeben in meiner Seele entwickeln." Auf diese Weise läßt er seinem Temperament die Möglichkeit, bald ausführlich und sachlich darzulegen, bald aber vertraulich zu dem Freunde zu sprechen und die Erregung nicht zu scheuen. Wichtig ist ferner der polemische Anlaß des Werkes. Burke fühlte sich zu seiner Abhandlung veranlaßt durch einen Vortrag des damals als Volkswirtschaftler nicht unbekannten Dissentergeistlichen Dr. Richard Price, der in der „Revolutions- (oder Verfassungs-) Gesellschaft" gehalten wurde und mit einem hohen Preislied auf die Errungenschaften der Revolution Schlußfolgerungen für die englische Regierung verband. Beide Tatsachen, die gewollte Unsystematik und die polemisch-dialektische Form, sind wichtig zur Beurteilung des jugendfrischen und packenden Vortrags. Es waltet nicht ein logisch gebundenes Nacheinander der Ge-
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danken, sondern etwas aphoristisch Sprunghaftes mit bisweilen brüskem Stimmungswechsel, der die subjektive Beteiligung des Verfassers verrät. Der Vortrag macht hier wirklich des Redners Glück; die sprachliche Form, vielgestaltig und reich an Gefühlstönen, muß beachtet werden, wenn man die Grundgedanken richtig herausheben und werten will. Die „Betrachtungen" zerfallen in zwei Abschnitte von ungleicher Länge. Der erste befaßt sich mit den Empfindungen und politischen Anschauungen der Engländer im Vergleich zu denen der französischen Revolutionäre, der zweite mit einer Kritik der Politik der französischen Nationalversammlung. Der Schwerpunkt liegt in dem ersten Teil, der zwei Drittel des Buches ausmacht, während der zweite für die eigentliche Staatslehre nicht dieselbe Bedeutung hat. Die gewollte Formlosigkeit macht es kaum möglich, die Gedankenführung in klarer Gliederung vorzutragen. Sie ist sprunghaft, greift bereits Erwähntes auf und läßt anderes wieder fallen; barocke Ungleichheiten in der Durcharbeitung der Ideen zeigen oft, was dem Autor am Herzen liegt und was er nur der Vollständigkeit wegen mit anführt. Es kommt sogar vor, daß er eine Untergliederung voranstellt, nachher aber den ziffernmäßig bezeichneten Gedanken gar nicht ausführt, weil dieser ihn nicht interessiert, während er einen ihn stark bewegenden anderen Teil zum zweiten Mal aufnimmt; so wird einmal ein in der Disposition versprochener Abschnitt über das Volk nachher vergessen und durch Wiederaufnahme des Kirchenproblems ersetzt. Immer ist es in echt englischer Weise das Konkrete und Persönliche, das den Verfasser packt, nicht so sehr das Abstrakte. Wo er von dem Schicksal der königlichen Familie spricht, da spricht sein Herz, das Herz des für Anstand und „fairness" eintretenden Angelsachsen, da malt er mit dichterischer Bildkraft. Dichterisch beschwingt ist sein Bericht über die unglückliche Königin: It is now sixteen or seventeen years since I saw the queen of France, then the dauphiness, at Versailles; and surely never lighted on this orb, which she hardly seemed to touch, a more delightful vision. I saw her just above the horizon, decorating and cheering the elevated sphere she just began to move in—glittering like the morning-star, full of life, and splendour, and joy. Oh I what a revolution! and what a heart must I have to contemplate without emotion that elevation and that fall I Little did I dream when she added titles of veneration to those of enthusiastic, distant, respectful love, that she should ever be obliged to carry the sharp antidote against disgrace concealed in that bosom; little did I dream that I should have lived to see such disasters fallen upon her in a nation of gallant men, in a nation of men of honour, and of cavaliers. I thought ten thousand swords must have leaped from their scabbards to avenge even a look that threatened her with insult. But the age of chivalry is gone. That of sophisters, economists, and calculators, has succeeded; and the glory of Europe is extinguished for ever. Never, never more shall we behold that generous loyalty to rank and sex, that proud submission, that dignified obedience, that
Es ist jetzt sechzehn oder siebzehn Jahre her, als ich die Königin von Frankreich, damals noch des Dauphins Gemahlin, zu Versailles sah: und nie hat wohl diesen Erdkreis, den die leichte Göttergestalt kaum zu berühren schien, eine holdere Erscheinung begrüßt. Ich sah sie, nur eben über dem Horizont aufgegangen, den Schmuck und die Wonne der erhabenen Sphäre, in der sie jetzt zu wandeln begann — funkelnd wie der Morgenstern, voll Leben und Schönheit und Hoffnung. — Oh! welch eine Verwandlung! Und welch ein Herz müßte ich haben, um in schnöder Unempfindlichkeit eine solche Erhebung und einen solchen Fall anzusehen! Damals, als sich zu allen ihren Ansprüchen auf schwärmerische, stumme, anbetende Liebe der Anspruch auf Verehrung des Volkes gesellte, damals hätte ich mir wohl nicht träumen lassen, daß sie je genötigt sein würde, das scharfe Gegengift der Schmach in diesem Busen zu verstecken; damals konnte ich wohl nicht ahnen, daß ich es erleben sollte, in einer Nation, die sonst der Hauptsitz der Ehre, der Galanterie und der Rittertugenden gewesen war, solche Unglücksfälle über eine Frau ausbrechen zu sehen. Ich hätte geglaubt, zehntausend Schwerter müßten aus ihren Scheiden fahren,
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subordination of the heart, which kept alive, even in servitude itself, the spirit of an exalted freedom. The unbought grace of life, the cheap defence of nations, the nurse of manly sentiment and heroic enterprise, is gone! It is gone, that sensibility of principle, that chastity of honour, which felt a stain like a wound, which inspired courage whilst it mitigated ferocity, which ennobled whatever it touched, and under which vice itself lost half its evil, by losing all its grossness.
um einen Blick zu bestrafen, der sie zu beschimpfen drohte. — Aber die Zeiten der Rittersitte sind dahin. Das Jahrhundert der Sophisten, der Ökonomisten und der Rechenmeister ist an ihre Stelle getreten, und der Glanz von Europa ist ausgelöscht auf ewig. Niemals, niemals werden wir sie wiedersehen, diese edelmütige Ergebenheit vor Rang und Geschlecht, diese stolze Unterwürfigkeit, diesen würdevollen Gehorsam, diese Dienstbarkeit der Herzen, die selbst in Sklavenseelen den Geist und die Gefühle einer erhabenen Freiheit hauchte. Der unerkaufte Reiz des Lebens, die wohlfeile Verteidigung der Nationen, die Pflanzschule männlicher Gesinnungen und heroischer Taten ist dahin I Sie ist dahin, diese Feinheit des Ehrgefühls, diese Keuschheit des Stolzes, die einen Schimpf wie eine Wunde fühlte, die den Mut befeuerte, indem sie die Wildheit niederschlug, die alles adelte, was sie berührte, und unter der das Laster selbst seine halbe Schrecklichkeit einbüßte, indem es seine ganze Roheit verlor.
Pathetische Steigerung der Rede durch Ausrufe, Wortwiederholungen, poetische Bilder, eindrucksvolle Gleichheit der Satzanfänge, dann plötzlich ein dynamischer Abfall, die Entspannung: „Aber die Zeiten der Rittersitte sind dahin." Ähnlich gleich nach der zitierten Stelle, wo nach einer weiteren gefühlsstarken Apologie des Mittelalters der wirkungsvolle Kurzsatz folgt: „Aber jetzt soll das alles zertrümmert werden.'' Wiederholungen: By following those false lights, France has bought undisguised calamities at a higher price than any nation has purchased the most unequivocal blessings! France has bought poverty by crime! France has not sacrificed her virtue to her interest, but she has abandoned her interest, that she might prostitute her virtue . . . France, when she let loose the reins of regal authority, doubled the licence of a ferocious dissoluteness in manners, and of an insolent irreligion in opinions and practices . . . I see, in a country very near us, a course of policy pursued, which sets justice, the common concern of mankind, at defiance . . . I see the National Assembly openly reprobate . . . I see a practice perfectly correspondent . . . I see the confiscators begin with bishops, and chapters, and monastries; but I do not see them end there. I see the princes of the blood . . .
Indem Frankreich diesen trüglichen Irrlichtern gefolgt ist, hat es offenbares Elend um einen höhern Preis gekauft, als noch je eine Nation für das wesentlichste Gut bezahlte. Frankreich hat Armut durch Verbrechen erkauft! Frankreich hat nicht seine Tugend seinem Vorteil geopfert, sondern es hat seinen Vorteil aufgegeben, um nur seine Tugend zu entehren . . . Frankreich hat, indem es das königliche Ansehen aufhob, die Lizenz einer wilden Sittenlosigkeit und einer irreligiösen Frechheit in Meinungen und Handlungen verdoppelt. . . Ich sehe, daß in einem Lande, das dem unsrigen so nahe liegt, Maximen herrschend werden, welche die Gerechtigkeit, das gemeinsame Gut aller Menschen, mit Füßen treten . . . Ich sehe, daß diese Versammlung sich erkühnt. . . Ich sehe allenthalben ein Verfahren . . . Ich sehe, daß die Konfiskatoren mit Bistümern, Stiftern und Klöstern angefangen haben; aber ich sehe gar nicht, daß sie dabei aufhörten. Ich sehe die Prinzen von Geblüt.. .
Edmund Butkes Betrachtungen über die französische Revolution
H ä u f u n g von Fragen: Were all these dreadful things necessary? Were they the inevitable results of the desperate struggle of determined patriots... ? No I nothing like i t . . . What is that cause of liberty, and what are those exertions in its favour, to which the example of France is so singularly auspicious? Is our monarchy to be annihilated, with all the laws, all the tribunals, and all the ancient corporations of the kingdom? Is every landmark of the country to be done away in favour of a geometrical and arithmetical constitution? Is the House of Lords to be voted useless? Is episcopacy to be abolished?
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Waren alle diese schrecklichen Dinge notwendig ? Waren sie etwa die unvermeidlichen Resultate einer verzweifelten Gegenwehr entschlossener Patrioten . . . ? Nein! Nichts von alledem I . . . Was ist denn diese Sache der Freiheit, und was sind die ihr günstigen Unternehmungen, zu welchen das Beispiel Frankreichs so feierlich ermuntert? Soll unsre monarchische Verfassung mit allen Gesetzen und Tribunalen und allen alten KorporationendesReichsvernichtetwerden? Soll jeder Grenzstein im Königreich zugunsten eines geometrischen und arithmetischen Staatsexperiments von seiner Stelle weichen? Soll man das Oberhaus für unnütz erklären? die bischöfliche Würde abschaffen?
Und so folgen noch eine ganze Seite lang Satzanfänge mit dem fragenden „soll". An anderen Stellen dann wieder Sätze von schönem Gleichmaß im Auf und A b der ruhigen Rede: When I see the spirit of liberty in action, I Wenn ich den Geist der Freiheit aufgeregt sehe, so sehe ich eine furchtbare Kraft in see a strong principle at work; and this, for Bewegung; und dies ist für eine geraume a while, is all I can possibly know of it. The wild gas, the fixed air, is plainly broke loose: Zeit schlechterdings alles, was ich davon but we ought to suspend our judgment sagen kann. Der wilde Dampf der eingeuntil the first effervescence is a little subschlossenen fixen Luft ist nun herausgesided, till the liquor is cleared, and until we lassen: aber unser Urteil müssen wir aufsee something deeper than the agitation of schieben, bis die Mischung klar geworden a troubled and frothy s u r f a c e . . . All these ist, bis wir etwas Tieferes als die Wallungen (in their way) are good things too; apd einer unruhigen und schäumenden Oberfläche erblicken können . . . Alle diese Dinge without them, liberty is not a benefit whilst it lasts, and is not likely to continue long. sind ja an ihrem Teil auch wünschenswürdig; ohne sie wird Freiheit von keiner The effect of liberty to individuals is, that they may do, what they please: we ought to Dauer und solange sie dauert, keine Wohltat see what it will please them to do, before we sein. Die Wirkung der Freiheit auf die einzelnen Menschen ist, daß sie sie in den Stand risk congratulations, which may soon be turned into complaints. setzt zu tun, was ihnen beliebt. Wir müssen doch erst sehen, was ihnen belieben wird, ehe wir Glückwünsche wagen, die vielleicht bald Trauerliedern Platz machen werden. Eine selbstenthüllende Methode, in der ein Satz die innere Bildhaftigkeit des folgenden vorbereitet: das ist Burkes meisterhafte Prosa, die Größe dieses Stils. So spricht der Redner, der f ü r seine Ideen gewinnen will. E r liebt die sentenziöse Prägung, er bevorzugt die plastisch-konkrete Ausmalung v o n Situationen v o r abstrakter Darlegung, die lebhaften Ausrufe, den gefühlshaltigen Wechsel von Erregung u n d Beruhigung, die Crescendowirkungen, Stilspannungen, die glühenden Worte, dann wieder Musterbeispiele von ausgeglichener, kadenzierter Rede, kunstvolle Überleitungen, Trompetenstöße im Wechsel mit breitem Schwelgen. Das ist ein Stil v o n glanzvoller Fülle, energiegeladen, niemals ermüdend, sondern immer packend, rednerisch, nicht kühl philosophisch. D e r Historiker Trevelyan spricht v o n der hinreißenden Beredsamkeit, von dem „fast bis zum Wahnsinn feurigen irischen Temperament" dieses politischen Philosophen. D e n n Burke war Ire. In dieser Sprache steckt der Mensch, der mit innerlicher Beteiligung seine Ideen lebt.
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In diesen Stil, der keiner „Schule" zugehört, sondern eigenwüchsig und unliterarisch ist, wird nun die politische Lebensweisheit eines Mannes eingespannt, der sein Bild vom Staat nicht nur tief erdacht, sondern in langem öffentlichem Kampf sich erobert hat. Es ist durch folgende Hauptpunkte festgelegt: i. Wie das Samenkorn das erste Gemeinsame ist, aus dem die Teile sich entwickeln und das die Teile dauernd beherrscht, so ist überall das Ganze mehr als die Summe der Teile; diese sind nur die Werkzeuge, mit dem griechischen Wort die Organe des Ganzen. Diesem biologischen Gesetz folgt auch das Staatsleben, in dem gleichfalls das Ganze, die Einheit des Volkes im Staat, die Teile beherrscht und überragt. Eine im ganzen Weltgeschehen waltende Notwendigkeit verknüpft jedes Neue mit dem Alten und paßt es diesem an. Eine Rechtfertigung gewaltsamen Umsturzes durch mißvergnügte Volksteile mit Berufung auf sogenannte Menschenrechte kann es nicht geben, weil organisch Gewachsenes einen solchen Eingriff, der seine Lebensgesetze mißachtet, nicht aushält. Ein aristokratischer Zug verbindet sich mit dieser Achtung vor dem organisch Gewordenen; Aristokratie und Traditionalismus oder Konservatismus gehören zusammen, Privilegien sind naturgegeben. Far am I from denying in theory, füll as Ich bin weit entfernt, die wahren Rechte des far is my heart from withholding in pracMenschen in der Theorie abzuleugnen, ebentice, the real rights of man. In denying their soweit entfernt, sie in der Ausübung zu verfalse claims of right, I do not mean to injure werfen. Ich widersetze mich eben darum den those which are real, and are such as their falschenldeenvondiesenRechten, weil sie gepretended rights would totally destroy. rade auf die Zerstörung der wahren abzielen. Die Theoretiker der Menschenrechte sind diese Rechte in der Mitte. If civil society be the offspring of convention, that convention must be its l a w . . . Every sort of legislative, judicial, or executory power are its creatures. They can have no being in any other state of things; and how can a man claim under the conventions of civil society, rights which do not so much as suppose its existence? rights which are absolutely repugnant to it? One of the first motives to civil society, and which becomes one of its fundamental rules, is, that no man should be judge in his own c a u s e . . . Government is not made in virtue of natural rights, which may and do exist in total independence of it; and exist in much greater clearness, and in a much greater degree of abstract perfection: but their abstract perfection is their practical defect. By having a right to everything they want everything. Government is a contrivance of human wisdom to provide for • human wants.
stets extrem gewesen; in Wahrheit liegen Wenn bürgerliche Gesellschaft durch Verträge entstanden ist, so müssen diese Verträge ihre Grundgesetze sein . . . Jede Art von gesetzgebender, richterlicher oder ausübender Macht ist ihr Werk. Nur in einer Ordnung der Dinge, die diese Verträge hervorbrachten, ist eine solche Macht denkbar. Wie kann es einem Menschen einfallen, sich auf den gesellschaftlichen Vertrag zu berufen, wenn er Rechte ausüben will, die nicht einmal die Existenz des gesellschaftlichen Vertrages voraussetzen? Rechte, die diesem Vertrage schnurstracks zuwiderlaufen? Einer der ersten Beweggründe, eine bürgerliche Gesellschaft zu errichten, und eine der ersten Fundamentalregeln einer solchen Gesellschaft ist, daß niemand Richter in seiner eigenen Sache sein s o l l . . . Staaten sind nicht gemacht auf Grund natürlicher Rechte, die in völliger Unabhängigkeit von allen Staaten existieren können, auch wirklich existieren, und zwar in viel größerer Klarheit, in einem weit höheren Grade abstrakter Vollkommenheit existieren. Aber eben in ihrer abstrakten Vollkommenheit liegt ihre praktische Unzulänglichkeit. Solange der Mensch ein Recht auf alles hat, verlangt er auch nach allem. Staaten sind Kunststücke menschlicher Weisheit, um menschlichen Bedürfnissen abzuhelfen.
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Der Mensch hat ein Recht zu verlangen, daß dem zügellosen Wüten der Leidenschaften Schranken gesetzt werden, und das geschieht dadurch, daß die geordnete Gesellschaft den Neigungen einzelner Widerstand entgegensetzt. Das Individuum hat also nicht — wie das Aufklärungsdenken meinte und die Revolution forderte — die absolute Freiheit als sein natürliches Recht, sondern nur eine relative, die sich mit dem Dienst am Ganzen verträgt. Freiheit und Einschränkung müssen nach Zeit und Umständen wechseln und können nicht in eine abstrakte Regel gefaßt werden. „In den sophistischen Theorien dieser Neuerer wird das Recht des Volkes fast immer mit seiner Macht verwechselt." Freilich kann dem großen Haufen in einem Staat, wenn er sich in Bewegung setzt, nichts wirksam widerstehen. Aber deshalb hat doch, solange noch Recht und Macht nicht eins sind, die ganze Volksmasse kein Recht, das mit Moralität und Tugend, kein wahres Recht, das mit der obersten aller politischen Tugenden, der Klugheit, unvereinbar wäre. Das sind alles Konstruktionen vom kleinen Teilchen aus ohne Beachtung des Vorrangs des Ganzen, aus dem die Teile leben. Mit seinem Fundamentalsatz von dem alleinigen Wert und Recht des Gewordenen legte Burke den Grundstein für das „konservative" Staatsdenken aller Völker. Als Parteinahme ist das Wort freilich erst 1830, das englische Substantiv „conservatism" 1835 belegt. 2. Damit hängt innerlich die historisch-politische Denkweise zusammen. Das ideologische Denken der fortschrittsgläubigen Aufklärung strebte von der Vergangenheit weg, das konservative blickt bewußt in sie und damit in die irrationalen Kräfte des Staatslebens hinein. In diesem Sinne dachte die Aufklärung bewußt unhistorisch, Burke dagegen romantisch-historisch. Er hat ein Gefühl für das unbewußte, nicht mit dem sezierenden Verstand greifbare Werden in der Geschichte und bereitet so die Auffassung vom organischen Werden in der Romantik und etwa in der Philosophie Schellings vor. Er sucht überall nach kausalen Verknüpfungen. Daher sein Preislied auf das ritterliche Mittelalter gegenüber der aufklärerischen Ansicht von dem finsteren und barbarischen Mittelalter, sein Eintreten für Adel und Kirche als traditionelle Träger von Liebe, Treue, Ritterlichkeit, Ehrgefühl. Die Würde des Königtums gibt ihm den Abscheu vor der rohen Art ein, in der die Revolution die Königsfamilie behandelte. Burke sieht einen „Geist" der Geschichte, wenn auch noch keinen klaren Zusammenhang der Perioden. 3. Die Natur des Menschen stellt sich ihm ganz anders dar als den Denkern der früheren Zeit. Von seinem aristokratischen Prinzip aus verneint er die These von der Gleichheit aller Menschen. Believe me, Sir, those who attempt to level, never equalise. In all societies, consisting of various descriptions of citizens, some description must be uppermost. The levellers therefore only change and pervert the natural order of things; they load the edifice of society, by setting up in the air what the solidity of the structure requires to be on the ground.
Glauben Sie mir, mein Freund, die, welche alles eben machen wollen, werden nie alles gleich machen. In jeder Gesellschaft, die aus verschiedenen Klassen besteht, müssen einige Klassen notwendig obenauf sein. Die Gleichheitsapostel verändern und verkehren daher bloß die natürliche Ordnung der Dinge. Sie überlasten das Gebäude der gesellschaftlichen Verbindung, indem sie das, was der gründliche Baumeister im Fundament liegen läßt, hoch in die Luft auftürmen.
Die menschliche Natur ist kompliziert, ist bei jedem einzelnen verschieden in körperlicher, geistiger und moralischer Hinsicht. Er spricht von der „großen geheimnisvollen Verkörperung der Menschenrasse", von der Blutsbeziehung, von den
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Bindungen der Familiengemeinschaft, der Altäre, der Liebe, der Ehrfurcht. So wie die Natur des Menschen nicht logisch analysierbar ist, sondern durch ein unnennbares, mysteriöses Band zu einer Einheit geformt wird, so ist auch die Staatsgemeinschaft dieser Menschen nicht nur eine Summierung und Potenzierung der Einzelwesen, sondern eine Potenzierung eben dieses Mysteriums, das den Zusammenklang der verschiedenen einzelnen zu einem organischen Ganzen macht. Das ist etwas anderes als der Gesellschaftsvertrag. Gewiß, Society is indeed a contract. Subordinate contracts for objects of mere occasional interest may be dissolved at pleasure—but the state ought not to be considered as nothing better than a partnership agreement in a trade of pepper and coffee, calico or tobacco, or some other such low concern, to be taken up for a little temporary interest, and to be dissolved by the fancy of the parties. It is to be looked on with other reverence; because it is not a partnership in things subservient only to the gross animal existence of a temporal and perishable nature. It is a partnership in all science; a partnership in all art; a partnership in every virtue, and in all perfection. As the ends of such a partnership cannot be obtained in many generations, it becomes a partnership not only between those who are living, those who are dead, and those who are to be born. Each contract of each particular state is but a clause in the great primeval contract of eternal society, linking the lower with the higher natures, connecting the visible and the invisible world, according to a fixed compact sanctioned by the inviolable oath which holds all physical and moral natures, each in their appointed place. This law is not subject to the will of those, who by an obligation above them, and infinitely superior, are bound to submit their will to that law.
die bürgerliche Gesellschaft ist ein großer Kontrakt. Kleine Privatkontrakte, die ein vorübergehendes gemeinschaftliches Interesse herbeiführt, können nach Belieben wieder aufgehoben werden; aber es wäre frevelhaft, den Staatsverein wie eine alltägliche Kaufmannssozietät, wie einen unbedeutenden Gemeinhandel mit Pfeffer oder Kaffee, Kattun oder Tabak zu betrachten, den man treibt, solange man Lust hat, und aufgibt, wenn man seinen Vorteil nicht mehr absieht. Ein Staat ist eine Verbindung von ganz andrer Art und von ganz andrer Wichtigkeit. Er ist nicht bloß eine Gemeinschaft in Dingen, deren grob tierische Existenz des vergänglichen Teils unsres Wesens bedarf, er ist eine Gemeinschaft in allem, was wissenswürdig, in allem, was schön, in allem, was schätzbar und gut, in allem, was göttlich im Menschen ist. Da die Zwecke einer solchen Verbindung nicht in vielen Generationen zu erreichen sind, so wird daraus eine Gemeinschaft zwischen denen, welche leben, denen, welche gelebt haben, und denen, welche noch leben sollen. Jeder Grundvertrag einer abgesonderten Staatsgesellschaft ist nur eine Klausel in dem großen Urkontrakt, der von Ewigkeit her alle Weltwesen zusammenhält, die niedrigeren Naturen mit den höheren verbindet und die sichtbare Welt an die unsichtbare knüpft, alles unter der Sanktion eines unverletzlichen und unwandelbaren Gesetzes, vor dem nichts im physischen, nichts im moralischen Weltall seine angewiesene Stelle verlassen darf. Dieses Gesetz kann nimmermehr dem Willen desjenigen unterworfen sein, welchem eine heilige Pflicht, heiliger als sein Wille und unendlich höher als er selbst, vorschreibt, diesem Gesetz unbedingten Gehorsam zu leisten.
Aus der Gesellschaftslehre erwächst die Staatsdoktrin, und die Gesellschaftslehre wiederum beruht auf der Überzeugung von der komplexen Menschennatur. Die Religion ist in dieser Ganzheitslehre ein wichtiges Glied; was eine logisch-kalte Zeit als Vorurteile ablehnte, wird hier verteidigt. Ein Vorurteil enthält ein Prinzip der Weisheit und zugleich eine Kraft, u m dies Prinzip zu beleben.
Edmund Burkes Bettachtungen über die französische Revolution
Prejudice is of ready application in the emergency; it previously engages the mind in a steady course of wisdom and virtue, and does not leave the man hesitating in the moment of decision, sceptical, puzzled, and unresolved. Prejudice renders a man's virtue his habit; and not a series of unconnected acts. Through just prejudice, his duty becomes part of his nature.
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Vorurteil ist eine Triebfeder von schneller Anwendbarkeit in der Stunde der Not; es führt das Gemüt beizeiten auf eine feste Bahn der Tugend und Klugheit und läßt es nicht im entscheidenden Augenblick das Spiel und die Beute zaghafter Unentschlossenheit, streitender Maximen und quälender Zweifel werden. Vorurteil macht, daß die Tugend einesMenschen seine Lebensweise wird, nicht eine Reihe isolierter Handlungen bleibt. Durch glücklich geleitetes Vorurteil wird des Menschen Pflicht zuletzt ein Teil seiner Natur.
Privateigentum ist nötig, öde Gleichmacherei schädlich, Majoritätsentscheidungen entspringen gehäufter Dummheit. Alle Entwicklung ist allmählich, Stufe baut sich auf Stufe auf, nichts wird übersprungen. Den Staat wie ein Uhrwerk künstlich durch Zusammenfügung der Teile zu bauen darf sich der beschränkte Menschenverstand nicht anmaßen; er ist eben kein Mechanismus, sondern ein von innen nach außen wachsender Organismus, der einem dem Verstand freilich verschlossenen Ziel zustrebt. Wie bei anderen Organismen können wir nur von den sichtbaren Folgen auf die geheimnisvollen Urkräfte schließen, aus den Wirkungen Einsichten gewinnen, bei denen ein Rest von Dunkel zurückbleibt. Darum hat der Staatsmann Zurückhaltung und Behutsamkeit zu üben; das Leben ist verwickelt, die Aufgaben sind schwierig, das Irrationale verbietet vorschnelles Urteilen und Handeln. Burke formuliert diese Gedanken immer wieder neu und einprägsam, umgibt sie mit poetischem Leuchten, kontrastiert sie beständig mit den Ideen der Aufklärung, deren Begriffe er aufnimmt, um sie in seinem Sinne umzudeuten. Seine Thesen mußten durch das Pathos, mit dem er sie dem Zeitalter entgegenwarf, ungeheuer wirken. 4. Die Lehre vom Nationalcharakter steht noch in unklaren Anfängen. Sie war seit Montesquieu da, sie endet bei dem Volksbegriff der Romantik. Herder mit seinen feinen Volkslieddeutungen, Coleridge mit seiner typisierenden Gegenüberstellung der nationalen Wesensanlagen der Völker, Fr. L. Jahn mit seinem Volkstumsbegriff schließen die Entwicklung ab. Bei Hume hieß es noch: „Eine Nation ist nichts als eine Zusammenfassung von Individuen." Burke faßt zwar die Nation auch noch als ein Aggregat von Menschen auf, aber doch von Menschen, die durch Geschichte und Überzeugungen zusammengehalten werden und damit eine Einheit bilden. Er steht noch in den Anfängen, bringt aber selbst mit seinem historisch-organischen Denken den Beginn eines volksbiologischen Empfindens. Sicher ist, daß er die Franzosen letzthin doch nicht verstanden hat, daß er auch von dem Standpunkt seiner Methode ihren eigenen geschichtlichen und sozialen Voraussetzungen nicht gerecht geworden ist. Er spricht ganz als Engländer, der auf die Gesellschaftsordnung und den Staat seines Landes stolz ist und sein Volk vor Irrwegen warnen will. Gemäßigter Fortschritt ist sein Ideal, nicht revolutionär, sondern in langsamer Evolution gewonnen in Verbindung des Alten mit dem Neuen. Es bleiben in Burkes Gesellschafts- und Staatslehre die entscheidenden Züge: a) die tiefe Bindung an das Göttliche, das überall lebendig ist; b) das Geistige und Sittliche in der menschlichen Gemeinschaft; c) das Organische, das Konservative im allgemeinen Sinne des Bewahrenden, als gliederndes und ordnendes Prinzip. Also überall das Lebendige, das auf dem Ausgleich der Kräfte ruht. Im letzten Satz nennt er sich einen Mann, „der ernstlich wünscht, in allem, was er unternimmt, Zusammenhang und Konsequenz zu bewahren", und das letzte Wort heißt: Gleichgewicht. Er rettet den Naturbegriff aus der Enge eines erdachten Urzustandes, indem er das Gesamtfühlen 16 Dia Stimmen der Meister
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betont, den Menschen ebenso wie die Welt und den Staat als natürliche Wesen erkennt und in die Gemeinschaft als lebendige Wirklichkeit einordnet. Die späteren Parteinamen konservativ und liberal sind nicht anwendbar. Der beredte Vorkämpfer für die geheiligte Tradition und die gewordenen Ordnungen blieb stets ein Feind jeder Tyrannei, ein Gegner des Absolutismus, ein Kämpfer für Freiheit und Gerechtigkeit, ein Freund der Teilung der Macht, der Mäßigung, des Ausgleichs. Das Wesen der adligen Whigs seiner Zeit ist mit dem heutigen Begriff liberal nicht zu fassen. Burkes Lehre war Abschluß einer Zeit großen Staatsdenkens; nicht Umsturz der seit Locke gefestigten Funktionen im Staat, sondern Ergänzung durch Herausstellung der vom reinen Vernunftdenken nicht gewürdigten irrationalen Kräfte und Einschränkung der Befugnisse, die allzu sehr im luftleeren Raum zu schweben schienen. Sie hat in der Fortwirkung die konservative und liberale Richtung befruchtet. In Burkes Denken lagen die Keime einer solchen Mischung, wie sie nur in seinem Lande, dem klassischen Land des Ausgleichs politischer Gegensätze und Mutterland der „gemischten" Verfassung, zu finden ist.
5. D i e E r k e n n t n i s - und M o r a l l e h r e : D a v i d Hume „Das eigentliche Studium der Menschheit ist der Mensch." Dies Wort des klassizistischen Dichters Alexander Pope — vor ihm, kurz nach 1600, von dem Franzosen Charron geprägt und später von Goethe in den „Wahlverwandtschaften" wieder aufgenommen — gilt für das ganze Aufklärungszeitalter. Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit war nach Kants berühmter Definition der Sinn der Aufklärung, Mut zum selbständigen Gebrauch des Verstandes. Das Zeitalter nennt sich in den westlichen Ländern gern das philosophische — die Bezeichnung Aufklärung ist deutsch und erscheint in England nur übersetzt —, nicht im Sinne bedeutender Systembildungen, sondern mit Zurückgehen auf den ursprünglichen Wortsinn als vernunftgemäße Regelung und Ordnung des Lebens. Das KünstlerischSchöpferische ist nicht sein Kennzeichen; der große, in einer Gesinnung wurzelnde Dichter oder Denker wird abgelöst durch den Schriftstellertypus, den kritischen Geist, den Dr. Samuel Johnson am klarsten verkörpert. Gebrauch der Gedankeninhalte zur Gewinnung von Maßstäben und zur praktischen Lebensmeisterung für das Verhalten des einzelnen wie für die gesellschaftliche Ordnung beschäftigt die Geister. Es herrscht Reflexion über Welt und Leben, Stubenluft und Schreibtischarbeit; Gelehrsamkeit und Methode sind für Pope die Vorbedingungen für jeden geistig Schaffenden. Trotzdem darf man nicht von einer bloßen Reflexionsphilosophie sprechen; das Denken und das Dichten sind lebensnah und praxisbezogen. Das Alltagsleben, die bürgerliche Welt, erobert sich die Bereiche der Literatur im Drama und besonders im Roman, der größten Neuschöpfung des Jahrhunderts, die Seelenmalerei und Selbstbespiegelung walten vor. Philosophie und Dichtung zeugen gleichermaßen davon, daß die Erkenntnis der Dinge der Welt und die Beobachtung der Vorgänge des Seelenlebens das Hauptanliegen sind, daß seit der von Locke aufgeworfenen kritischen Frage die Erkenntnistheorie und die empirische Psychologie in die erste Linie des Nachdenkens gerückt waren. Die Erfahrungsphilosophie als typisch englische Lehre ergänzt das Vernunftdenken im Sinne einer Wertung der Wissensgehalte. Alles Wunderbare und Mystische muß dem Durchschaubaren, dem irdisch Gegebenen, die Ekstase der Überzeugung von dem kunstvoll gegliederten Organismus weichen. „Draußen" ist die Welt der Dinge, und in mir ist mein Geist, der sie als Vorstellungen aufnehmen will. Wir sahen schon, wie Lockes Lehre von der Seele als einem leeren Blatt die Bedeutung der Umwelteinflüsse steigern mußte; das Miteinandersein, das soziologische Problem,
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der Kulturaufbau, die Fragen der ursächlichen Verknüpfung werden die Grundlage der Weltansicht und die Verknüpfung von Philosophie und Literatur; Bewußtseinsinhalte und Bewußtseinsformen werden von der Außenwelt gesondert und zu abschließenden Lösungen oder zur Auflösung geführt; Humes Positivismus und Skeptizismus steht am Ende. Ein Wendepunkt der Philosophie wird erreicht, ein Neuaufbau notwendig; Kant fühlt sich durch Hume aus dem „dogmatischen Schlummer" geweckt. Locke hatte in der „Reflexion" die Selbständigkeit einer inneren Erfahrung betont, wenn auch die Abhängigkeit von der „Sensation", der Sinneserfahrung, dieser den Vorrang sicherte. Hier setzte die Fortführung seiner Kritik ein. George Berkeley verneinte die Existenz allgemeiner Vorstellungen im Geiste selbst; streng nominalistisch führte er diesen Schein nur auf die Wortbezeichnung zurück. Der Empirismus wurde zum Sensualismus; nur die Sinneseindrücke geben der geistigen Fähigkeit Inhalt, abstrakte Begriffe sind eine Fiktion, eine Idee kann niemals einem Ding ähnlich sein, zumal uns jede Möglichkeit einer Vergleichung fehlt. Die Dinge sind einfach da, eine hinter ihnen stehende, nicht wahrnehmbare „Materie" gibt es nicht. Sie stehen aber als passive Inhalte einem aktiv denkenden und wollenden Wesen gegenüber, meinem Ich, das sie wahrnimmt; ich, meine Seele, kann eine Idee erzeugen, nicht aber der passive Gegenstand. Mein Sein ist ein Wahrnehmen, das Sein einer Idee ein Wahrgenommenwerden. In dieser Beziehung des aktiven Ich zu den passiven Inhalten gelangen wir zu der Frage nach den Ursachen und Wirkungen, die nur in einem wollenden und tätigen, dem Menschen unendlich überlegenen Wesen, liegen können, in Gott. Damit ist der Ansatzpunkt für Hume angedeutet, den schärfsten, bohrenden Denker, der den Höhepunkt der englischen Philosophie bedeutet. Es ist nicht zu viel behauptet, wenn J . H. Burton, der vor rund hundert Jahren die erste Biographie des Philosophen schrieb und seine Briefe veröffentlichte, von ihm und seinem Freund Adam Smith sagte, kein andrer Engländer ihrer Zeit habe so viel Einfluß auf die Uberzeugungen der Menschheit ausgeübt wie diese beiden. D a v i d Hume (1711—1776) war Schotte. Nach unbefriedigenden Versuchen im juristischen und kaufmännischen Beruf ging er nach Frankreich, wo sein umfangreichstes Werk, die „Abhandlung über die menschliche Natur", entstand. Der Mißerfolg des Buches trotz der glänzenden schriftstellerischen Form veranlaßte ihn, dieselben Gedanken in loserer Form in einer „Untersuchung über den menschlichen Verstand" (1748) vorzutragen, die er mit einer „Untersuchung über die Prinzipien der Moral" (1751) und einer „Naturgeschichte der Religion" (1755) seinen bereits früher (1741) veröffentlichten „Moralischen, politischen und literarischen Essays" anfügte. Als Bibliothekar der Edinburger Juristenfakultät schrieb er eine „Geschichte Englands". In Frankreich, wo er dann als Gesandtschaftssekretär weilte, genoß er als gefeierter Schriftsteller Ruhm und Ehren; dem Kreis der Enzyklopädisten stand er nahe, d'Alembert wurde sein vertrauter Freund, dem krankhaft rastlosen Rousseau konnte er in London eine Zuflucht und eine königliche Pension verschaffen. Eine Zeitlang war er Unterstaatssekretär für schottische Angelegenheiten, zog sich dann aber nach seiner Vaterstadt Edinburg zurück. Humes Arbeiten umfassen neben den philosophischen geschichtliche und volkswirtschaftliche Gegenstände. Er war — wie fast alle führenden englischen Philosophen im Gegensatz zu den deutschen — nicht Universitätslehrer, sondern ein Mann der Welt mit offenem Sinn für alle Fragen des Lebens und vielseitiger Erfahrung. Die Abhandlungen über den menschlichen Verstand und über die Prinzipien der Moral gehören nicht nur wegen ihres gedanklichen Gehalts und ihrer Wirkung, sondern auch wegen ihrer schriftstellerischen Vorzüge zu den Meisterwerken der eng16'
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lischen Philosophie. Es sind literarische Kunstwerke, aus denen auch dem, der das Gesamtwerk des Denkers nicht kennt, die tiefe und große Persönlichkeit entgegentritt. Den moralphilosophischen Traktat nannte der Verfasser selbst die unvergleichlich beste von seinen historischen, philosophischen und literarischen Schriften.
Untersuchung über den menschlichen Verstand I. V o n d e n v e r s c h i e d e n e n A r t e n d e r P h i l o s o p h i e Die Wissenschaft von der menschlichen Natur kann von zwei Gesichtspunkten aus behandelt werden: entweder man geht von dem handelnden Menschen aus, der die Wertmaßstäbe für die Dinge und besonders für die Tugend und sein T u n danach einrichtet; oder man betrachtet den Menschen als ein in erster Linie vernunftbegabtes Wesen und untersucht die Grundlagen und Arbeitsformen seines Verstandes. Der Mensch ist ein vernünftiges, ein geselliges, ein handelndes Geschöpf. Die gesunde Mischung dieser Eigenschaften bestimmt die menschliche Lebensweise und sollte nicht durch übertriebene Hingabe an eine einzige Seite aus dem Gleichgewicht gebracht werden. Die alte Metaphysik hat ihre eitle Bemühung u m Gefilde, die dem Verstand unzugänglich sind, fälschlich als Wissenschaft ausgegeben. Die wahren Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens abzustecken und das Denken auf eine feste Grundlage zu stellen ist die erste Aufgabe echter Metaphysik. II. V o m U r s p r u n g d e r I d e e n Jeder wird zugeben, daß ein Unterschied besteht zwischen der unmittelbaren, gefühlten Wahrnehmung eines Bewußtseinsinhaltes — etwa der drückenden Last übergroßer Hitze, der Annehmlichkeit mäßiger Wärme — und der späteren Erinnerung oder des Vorgefühls. Jene, also die lebendigeren und stärkeren Wahrnehmungen, sind Eindrücke oder Impressionen, die schwächeren Nach- und Vorbilder dagegen Vorstellungen oder Ideen. Die Impressionen, die durch Sinneseindrücke oder durch Gefühls- und Willensregungen, also von außen oder innen gegebenen stärkeren Bewußtseinsinhalte, sind das Original, die schwächeren Abbilder oder Ideen die Kopie dieses Originals. So kann also jede Wahrnehmung entweder als Impression oder als Idee im Geiste vorhanden sein; der Unterschied besteht in der Art ihres Erscheinens und demgemäß in dem Stärkegrad des Inhalts. Die Impression geht voran, die Idee ist ihre Stellvertreterin. Dabei ist aber insofern eine Einschränkung zu machen, als nicht alle Ideen auf einfachen Impressionen beruhen. Ich habe Gold gesehen, ich habe auch einen Berg gesehen; aber einen goldenen Berg hat noch niemand gesehen, und doch kann er ihn sich vorstellen. Ebenso kann ich mir die keiner Wirklichkeit entsprechende Idee eines tugendhaften Pferdes bilden. Der Geist kann also die aus Eindrücken gewonnenen Vorstellungen in unterscheidbare Teile zerlegen und durch Vereinigung der Elemente neue Ideen bilden. In dieser Fähigkeit der Kombination, und nur in ihr, besteht seine schöpferische Leistung. Der alte, von Locke entfachte Streit u m das Vorhandensein „angeborener" Ideen erhält durch Humes Unterscheidung der ursprünglichen Impressionen und der abgeleiteten Ideen eine schärfere Fassung und wird, wie der Philosoph glaubt, im Sinne der Ablehnung gelöst. Den Ideen als den eigentlichen Quellen neuer Erkenntnisse gilt seine Untersuchung in erster Linie; die Erforschung der Sinneseindrücke ist mehr Aufgabe der naturwissenschaftlichen Einzeldisziplinen wie Physik und Anatomie.
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III. V o n d e r V e r k n ü p f u n g v o n I d e e n Die Verknüpfung oder Assoziation von Vorstellungen zur Gewinnung neuer Ideen beruht auf drei Voraussetzungen: der Ähnlichkeit, der zeitlichen oder räumlichen Berührung, dem Verhältnis von Ursache und Wirkung. IV. S k e p t i s c h e Z w e i f e l h i n s i c h t l i c h d e r O p e r a t i o n e n des V e r s t a n d e s Die Gegenstände alles menschlichen Forschens sind entweder Vorstellungsbeziehungen oder Tatsachenwahrheiten. Die erste Gruppe beschäftigt die mathematischen Wissenschaften, deren Lehrsätze nur in gedanklich gewonnenen Relationen bestehen und die ohne jeden Gültigkeitsausweis aus dem Bereich der Erfahrung den Charakter der Gewißheit besitzen. Den reinen Tatsachen, also den Gegenständen aller nichtmathematischen Wissenschaften, eignet nicht die gleiche Gewißheit und Evidenz. Daß die Sonne, die bisher an jedem Tag aufgegangen ist, morgen nicht aufgehen wird, vermag ich nicht zu widerlegen, und doch bin ich gewiß, daß die Annahme falsch ist. Worauf beruht diese Gewißheit? Alle Erklärung von Tatsachen beruht auf dem Verhältnis von Ursache und Wirkung; nur dadurch gelangen wir über den durch die sinnliche Wahrnehmung oder die Erinnerung gewonnenen Sicherheitsgrad hinaus. Daß jede Wirkung eine Ursache haben muß, ist eine Überzeugung, die nicht „a priori", d. h. nicht losgelöst von aller Erfahrung lediglich durch das Denken gewonnen wird; sie beruht vielmehr auf emirisch gewonnener Erfahrung, die allein uns ein Wissen von Tatsachen vermitteln ann. Dabei ist es gleich, ob diese Erfahrung auf unmittelbarer Beobachtung von Vorgängen beruht oder auf analogen Sachverhalten im Naturreich oder auf Ableitung aus den einfachen Eigenschaften der Gegenstände. Daß Feuer Wärme erzeugt, daß eine angestoßene Billardkugel eine zweite durch Berührung gleichfalls in Bewegung setzt, weiß ich nur aus Erfahrung, und wenn ich die Beobachtung wiederholt mache, wird für mich das zeitliche Nacheinander zur Überzeugung eines Folgenmüssens, zu dem „Schluß" von der Folge auf die Ursache und umgekehrt. Das ist die Macht der Gewohnheit, die selbst das kleine Kind oder gar das Tier von dem Feuer zurückhält, an dem es sich einmal verbrannt hat. Sie kann freilich auch bei noch so häufiger Wiederholung der gleichen Voraussetzungen nicht die volle Gewißheit, sondern nur den höchsten Grad einer Wahrscheinlichkeit der erwarteten Wirkung vermitteln; und doch sind wir dieser Wirkung gewiß, ein Umstand, der zur Behebung der Zweifel an der Richtigkeit der Erklärung weiterer Analyse bedarf. V. S k e p t i s c h e B e h e b u n g d i e s e r Z w e i f e l Alle Schlüsse aus Erfahrungstatsachen beruhen also auf der Gewohnheit, der großen Führerin unsres Lebens. Was ich in der Verknüpfung von Tatsachen und in häufiger Wiederkehr beobachte, erhebt sich nie über die Stufe der Wahrscheinlichkeit. Das Gefühl, das mich hierbei erfüllt, nennt Hume den Glauben (,belief'), der verschiedene Stärkegrade von der Stufe des bloßen Vermutens bis an die Gewißheit heran haben kann. Damit tritt also ein Gefühlselement neben die verstandesmäßig aufgenommenen Inhalte, eine die Vorstellungen begleitende, nicht erklärbare, sondern einfach vorhandene seelische Kraft, die die Ideen bedeutsamer erscheinen läßt und ihnen im Gegensatz zu Phantasiegebilden gewissermaßen den Stempel der Wirklichkeit aufdrückt. Gemeint ist natürlich der Glaube im Sinne der theoretischen Überzeugung (,belief'), nicht der religiöse Glaube, das Fürwahrhalten (,faith'). Von der Impression aus wird durch den „Glauben" eine mit ihr durch „Gewohnheit" verknüpfte Idee verstärkt und erhöht. Bei bloßen Einbildungsbildern oder Fiktionen fehlt das Element des „belief", sie sind unlebendiger und bleiben als erdichtete Vor-
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Stellungen von den Wirklichkeitseindrücken getrennt. Das „Glaubens"-Element dagegen verknüpft Impressionen, Ideen und rückt diese an die lebendigen Impressionen heran und erhöht damit ihren Wirklichkeits- und Gewißheitscharakter, immer mit Gradunterschieden je nach der Stärke des Überzeugungsgefühls. Das Ganze ist also ein logisch nicht zu begründender Tatbestand, sondern ein psychologischer Ablauf. Es besteht eine Art „prästabilierter Harmonie" zwischen den Gesetzen der Natur und der Folge unsrer Ideen, und die Gewohnheit ist das Prinzip, auf dem diese Entsprechung beruht. Ohne sie könnten wir über das mit Wirklichkeitscharakter behaftete Erfahrbare nie zu dem Gefühl des Zwecks gelangen und unser Handeln danach einrichten. Wir sehen immer nur das Nacheinander von Vorgängen, niemals aber ihren ursächlichen Zusammenhang. Wie die Natur uns aber den Gebrauch unsrer Gliedmaßen gelehrt hat, ohne uns einen Einblick in das Funktionieren der Muskeln und Nerven zu gewähren, so hat sie uns auch mit einem Instinkt ausgestattet, der die Ideen mit den Impressionen verknüpft und uns ein praktisches Handeln auf der angenommenen Grundlage von Ursache und Wirkung ermöglicht. VI. V o n der W a h r s c h e i n l i c h k e i t Auch die Wahrscheinlichkeit beruht auf dem Gefühl des Glaubens und der Gewohnheit. Sie wächst, wenn die beobachteten Voraussetzungen immer die gleichen Wirkungen erzielt haben, sie wird geringer, wenn dies nicht der Fall war. VII V o n der I d e e der n o t w e n d i g e n V e r b i n d u n g Nur den mathematischen Vorstellungen kommt der Charakter völliger Klarheit und Gültigkeit zu. Auf dem Gebiet der moralischen und metaphysischen Einsichten sind die Ideen weniger klar, und dasselbe gilt von den sprachlichen Begriffen, die im Sinne von Bacons Idolen des Marktes störend wirken. Sicher ist nur, wie immer wieder betont wird, daß wir nichts denken können, was nicht durch unsre äußeren und inneren Sinne als gegenständlicher Eindruck in unser Bewußtsein gelangt ist. Was die Folge oder Wirkung sein wird, können wir nicht mit absoluter Gewißheit sagen. Wir stellen nur einen Zusammenhang (conjunction) fest, ohne die innere Verknüpfung (connexion) genau zu kennen. Und doch fühlt sich der Geist dazu getrieben, eine notwendige Wirkung zu erwarten. Alle bisher gefundenen Elemente der Assoziation wie Beobachtung, Gewohnheit, Glaube vereinigen sich zu einem willensbetonten Gefühl, aus dem die Vorstellung der Kraft oder Notwendigkeit erwächst. Die Notwendigkeit ist also nicht in den Gegenständen, sondern in unserm Geist bedingt. Der naive Mensch sieht die Geschehnisse der Welt und nimmt unwillkürlich eine in der objektiven Welt verankerte Kausalität an. Die wissenschaftliche Analyse hat aber gelehrt, daß es sich um eine subjektive Nötigung handelt. Diese Wendung vom resignierenden Ende alles Suchens nach objektiven Gesetzlichkeiten zum biologisch-psychologischen Gesamtorganismus des Menschen, also vom Objekt zum Subjekt, zeigt den Ausweg aus der Skepsis gegenüber einem reinen Vernunftglauben; er ist die klassische Leistung unsres Denkens, die echte Verbindung wissenschaftlicher Spekulation mit dem Leben, dem sie entstammt. „Sei ein Philosoph; aber, inmitten all deiner Philosophie, bleibe immer ein Mensch!" VIII. V o n F r e i h e i t und N o t w e n d i g k e i t Gewohnheit und Erziehung, Lebensalter und Geschlecht, Zeitalter und Länder bringen natürlich eine Mannigfaltigkeit der Art und Stärke unsrer Gefühle und Neigungen mit sich, die aber als abgeleitete Ergebnisse bestimmter Voraussetzungen doch wieder den Charakter der Regelmäßigkeit tragen. Das „Folgern" wird dem
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Menschen zur Gewohnheit; je mehr der Umkreis seiner Betätigungen, die Berührung mit anderen Menschen und Verhältnissen wächst, um so stärker werden Gefühl und Wille, aus den Sacherfahrungen Erwartungen abzuleiten, Wirkungen festzustellen, Notwendigkeiten zu sehen. Was wären ihm sonst Geschichte, Politik, Sittenlehre, literarische Kritik, wenn sie nicht unmittelbare Wirkungen auf bestimmte Lebensgebiete ausüben sollten? Dabei stößt die Überlegung aber immer wieder auf die Frage nach der Freiheit des Willens. Jeder darf doch wohl so handeln, wie er will? So ist man geneigt anzunehmen und zu verlangen. Wir müssen aber für den Willen dieselbe Kausalität anerkennen wie für Naturvorgänge, also gleichfalls eine Verbindung von Ursache und Wirkung, die uns zu dem Gefühl der Notwendigkeit wird. So wie es nun im Bereich der natürlichen Vorgänge keinen Zufall gibt, so kann es auch kein von den Ursachen losgelöstes Handeln, also keine Willensfreiheit geben. Bestimmte Ursachen lösen bestimmte Wirkungen aus, bei Naturkräften ebenso wie bei Gefühlen und Willensregungen; alles ist determiniert und vollzieht sich nach Gesetzen, die psychische Kausalität läuft mit der physischen parallel. Freies Handeln ist nun aber die notwendige Voraussetzung der Sittenlehre, die unsere Handlungen gut oder schlecht, tugend- oder lasterhaft nennt. Wenn alles Wollen und Tun streng nach den vom Schöpfer gegebenen Gesetzen abläuft, so kann der Mensch nicht verantwortlich sein. Entweder gibt es überhaupt nichts Gutes und Schlechtes, wenn alles von der Gottheit abgeleitet wird, oder, wenn es das Schlechte gibt, die Gottheit kann selbst nicht vollkommen sein, da sie das Schlechte ja veranlaßt oder zuläßt. Die das Aufklärungszeitalter überall beschäftigende Frage der Theodizee, der Rechtfertigung Gottes, ist gestellt. Die erste These — was von Gott kommt, kann niemals böse sein — wird von den Stoikern und vielen neueren Philosophen damit abgetan, daß Gottes unerforschlicher Ratschluß alles richtig geordnet habe, daß persönliches Leid dem Ganzen irgendwie zum Wohle gereiche; es sei nur menschliche Unvollkommenheit, wenn uns der höhere Sinn des Übels verschlossen bleibt. Kann dies aber, so fragt Hume, dem einzelnen in seinem Leid Trost und Stärkung sein? Ist eine solche Deutung nicht bloß Gedankenspiel des Philosophen, der behaglich und sicher in seiner Stube sitzt, fern von Schmerzen und Not des Körpers oder der Seele? Der zweite Einwand gegen den Determinismus — ein vollkommener Gott kann nicht Urheber der Sünde sein — ist schwerer zu entkräften. Das menschliche Denken rührt damit an Mysterien, die seinen Bereich überschreiten. Die Überzeugung von der Bindung aller Handlungen an Ursachen, also von der Unfreiheit des Willens, beruht auf der unleugbaren Kausalität, die die physische und psychische Welt durchzieht. Sie ist aber ein Ergebnis theoretischer Überlegung, die das praktische Handeln nicht beeinflußt. Der Mensch empfindet von Natur aus gewisse Handlungen als gut oder schlecht und beurteilt Charaktere nach ihrem Wert oder Unwert für die Gemeinschaft, das Ganze. Leben und Denken, Praxis und Theorie sind getrennte Bereiche und stehen unversöhnlich nebeneinander. Das Leben hat schon entschieden, wenn das Nach-Denken oder Hinterher-Denken einsetzt. IX. Vom Verstand der Tiere Die vorgetragene Erklärung von Schlußfolgerungen aus Tatsachen beruht auf der Analogie: gleiche Ursachen lassen gleiche Wirkungen erwarten; der Glaube wächst oder fällt mit dem Grade der Gleichheit der Voraussetzungen. Auch Tiere lernen aus der Erfahrung und ziehen Schlüsse aus ihr, die erfahrenen älteren mehr als die unerfahrenen jungen. Das kann nicht auf vernunftmäßiger Überlegung beruhen, ebensowenig wie bei Kindern und bei der großen Masse der Men-
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sehen, sondern nur auf Gewohnheit und dem aus dem Gefühl kommenden Glauben. Daneben aber werden die Tiere, ohne daß immer eine bereits gemachte Beobachtung vorliegt, durch Gefühle geleitet, die von Natur aus in ihnen liegen und die wir Instinkte nennen, und dasselbe liegt auch beim Menschen vor. Das praktische Handeln wird also weitgehend von biologisch-pragmatischen Antrieben geleitet. Wenn der Mensch zu klareren Einsichten und bewußterem Handeln gelangt, so liegt das daran, daß er die Tatsachen klarer zergliedern, zu genaueren Methoden und dadurch zu größerer Gewißheit der Erwartungen vordringen kann. X. V o n W u n d e r n Nun zeigt sich aber, daß keineswegs immer die gleichen Ursachen mit Sicherheit auch gleiche Wirkungen hervorrufen; die Verschiedenheit von Räumen und Zeitaltern spricht mit, aber auch bei gleichen Vorbedingungen gibt es Überraschungen und Enttäuschungen. Wir tun gut, unsern Glauben an die Wahrscheinlichkeit der Wirkung nach dem Verhältnis der beobachteten Fälle und des beobachteten Gegenteils abzustufen, erst recht aber nach der Zahl und Glaubwürdigkeit der Zeugnisse von Berichterstattern, sofern es sich um nur gehörte Dinge handelt. Was den Gesetzen der Natur widerspricht, nennen wir Wunder. Wenn ein gesunder Mensch plötzlich stirbt, so ist dies verwunderlich, weil es der gewöhnlichen Erfahrung widerspricht, immerhin aber doch möglich und glaubhaft. Wenn aber ein Toter wieder zum Leben erwacht, so widerspricht dies dem Naturverlauf und ist deshalb ein Wunder. Da im Bereich des Gegenständlichen die Wirkung nur in meiner Erwartung besteht, aber nicht mit Notwendigkeit aus der Ursache gefolgert werden kann, sind Wunder für mein Denken durchaus möglich. Es geht aber gar nicht um die Möglichkeit, sondern um die Wirklichkeit; sind Wunder wirklich beobachtet worden? Diese Frage müssen wir nach den Grundsätzen unseres Kausalitätsgefühls verneinen, so zahlreich auch die Berichterstatter oder Zeugen sein mögen. Niemals in der Geschichte ist ein Wunder von einer genügend großen Zahl unterrichteter und ehrlicher, gegen Selbsttäuschung gefeiter Menschen beglaubigt worden; auch liegt das Fürwahrhalten übernatürlicher, außerordentlicher Ereignisse in der primitiven menschlichen Bereitschaft, sich einer lustbetonten Empfindung hinzugeben — „Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind", heißt es bei Goethe —, besonders bei Eiferern der Religion. Die Zeugnisse stammen überwiegend aus unentwickelten und unwissenden Zeiten und Völkern, und schließlich stehen den Zeugen stets andere Menschen gegenüber, die das Gegenteil behaupten, wie die Geschichte es bei den einander widerstreitenden Urteilen der Anhänger und Gegner von Religionen erweist. Die Bücher der Bibel sind auf Grund von Zeugnissen aus alten, unentwickelten Zeiten nachträglich geschrieben worden. Die christliche Religion gründet sich nicht auf die Vernunft, sondern auf den Glauben — in diesem Falle „faith" und nicht „belief" —, und diejenigen, die die religiösen Wahrheiten mit Vernunftgründen beweisen wollten, haben ihr keinen Dienst erwiesen. Es tut der hohen Botschaft, an die wir gefühlsmäßig glauben, keinen Abbruch, daß die aus den ältesten Zeiten stammenden, von allen Völkern im Zusammenhang mit dem Ursprung ihrer Religionen behaupteten, aber der Kausallehre nicht standhaltenden Wundertaten als primitive Vorstellungen stehengeblieben sind. Was von den Wundern gesagt ist, gilt in gleicher Weise auch für Prophezeiungen. Die Vernunft ist also nicht imstande, durch Schlüsse die Wahrheiten der Religion zu beweisen. Unbeweisbares kann eben nicht bewiesen werden, es ist dem Glauben überlassen, und wer den Glauben besitzt, der ihn zur Zustimmung bei übernatürlichen Dingen nötigt, der erlebt an sich das größte aller Wunder.
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XI. V o n einer besonderen V o r s e h u n g und einem k ü n f t i g e n Z u s t a n d Kann die Vernunft das Wesen Gottes überhaupt erreichen? Ist es 2ulässig, aus der Existenz einer planvoll geordneten Welt auf Gott als den Urheber zu schließen, wie es der sogenannte kosmologische Gottesbeweis will? Hume hat seine Religionsphilosophie in besonderen Abhandlungen ausführlich entwickelt; es ist aber verständlich, daß sich die Schlußfolgerung des kosmologischen Beweises seiner Prüfung bereits im Rahmen der Kausallehre als dem Kernstück seiner Erkenntnistheorie aufdrängt. Er kleidet die Kritik in die Form des Gesprächs mit einem Freund, der in der Rolle des Gottesleugners Epikur seine Rechtfertigungsrede an die Athener hält. Die aus der Naturkausalität gewonnene Gottesidee stellt einen Schluß von der Wirkung auf die Ursache dar. Ich kann aus der beobachteten Wirkung aber nur auf eine Ursache schließen, in der die gleichen Eigenschaften und Kräfte wohnen, ich kann also als Ursache dieser bei aller Ordnung und Zweckmäßigkeit doch mangelhaften und von Elend erfüllten Welt bestenfalls zu einem anderen Zustand der Welt mit den Keimen der von mir erkannten Eigenschaften zurückgelangen, niemals aber zu einer einheitlichen, allweisen und allgütigen Gottheit. Alle Eigenschaften, die ich dem Schöpfer über die in der Wirklichkeit beobachteten hinaus beilege, sind Hypothese, aber keine logische Schlußfolgerung. Die Möglichkeit einer vollkommenen Gottheit besteht und wird dem Gläubigen zur Gewißheit. Die Vernunft aber hat mit der Gewißheit über eine Weltursache und über ein Fortleben nach dem Tode ebensowenig zu tun wie mit der Glaubenslehre, und die rationalen Theologen leisten der Sache der Religion dadurch, daß sie die Zweifel geradezu hervorrufen, einen schlechten Dienst. XII. Von der akademischen oder skeptischen P h i l o s o p h i e Hume hat seine Philosophie Skeptizismus genannt. Zur Klärung dieses Begriffs hält er eine genaue Untersuchung seiner Verwendungen für erforderlich. Bei Descartes und seiner Schule liegt der allgemeine Zweifel als skeptischer Ausgangspunkt vor allem Philosophieren. Bei anderen ist Skepsis nicht die Voraussetzung, sondern das Ergebnis des Nachdenkens, die gewonnene Uberzeugung von der Unzulänglichkeit unseres geistigen Vermögens zur Gewinnung fester Resultate. Die Sinne trügen, das Verhältnis des denkenden Geistes zu den Gegenständen der Außenwelt bleibt ungelöst, ebenso die Frage, wie weit die Eigenschaften der Dinge ihnen wirklich und sinnlich zukommen oder bloß Wahrnehmungen unseres Geistes sind. Der beständige Widerstreit zwischen dem natürlichen Instinkt und der Vernunft läßt uns zu keiner Sicherheit über die Existenz der Außenwelt kommen, und die Verlegung aller Eigenschaften in das Reich geistiger Gebilde läßt als realen Träger der Eigenschaften nur ein unbestimmtes Etwas zurück, jene von Locke noch festgehaltene „unfaßbare Chimäre der Substanz", mit der der Skeptiker nichts anfangen kann. Sind die reinen Skeptiker nun aber überhaupt auf dem richtigen Wege, wenn sie das Vernunftdenken durch Vernunftschlüsse widerlegen wollen? Der Haupteinwand gegen das abstrakte Räsonieren wird aus der Vorstellung von Raum und Zeit gewonnen. Es widerspricht jeder natürlichen Empfindung, die Quantitäten von Raum und Zeit durch eine Aufteilung in unendlich kleine Raum- oder Zeitteilchen und durch ihre Summierung gewinnen zu wollen. Und doch kennt der unverbildete Verstand einen Raum und eine Zeit, und die Skepsis dieser Vorstellung gegenüber verdient selbst Zweifel oder Skepsis. Ebenso widerspricht die skeptische Ablehnung moralischer Maßstäbe oder des Begreifens von Tatsachen der schlichten Empfindung des nichtphilosophischen Menschen. Der Philosoph aber, der alles Geschehen auf Ursache und Wirkung zurückführen muß und schließlich nur zu der Verbindung der
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Abläufe gelangt, die Kausalverknüpfung aber dem Glauben an die Gewißheit überlassen muß — der Glaube mag trügerisch sein! —, muß damit das Letzte unerklärt lassen. Der Mensch muß handeln, denken und glauben; die Natur ist stärker als ein aufgestelltes Prinzip, und die extreme Skepsis gibt uns nichts für das Leben. Es gibt aber einen gemilderten, akademischen Skeptizismus, dessen vernunftmäßige Zweifel durch den gesunden Menschenverstand berichtigt werden. Wir sollten unser Denken und Forschen auf Dinge beschränken, die der täglichen Erfahrung und den natürlichen Kräften des Geistes zugänglich sind. Das Übersinnliche müssen wir der Verschönerung durch Dichter und Redner und den Künsten der Politiker überlassen, den Beweis des Daseins Gottes und der Unsterblichkeit der Seele den Theologen, denen der religiöse Glaube und die göttliche Offenbarung eine stärkere Waffe als die auf Erfahrung gestützte Vernunft an die Hand gibt. Humes Skeptizismus erweist sich in dieser Form nicht als negative, zerstörende Haltung, nicht als Absage an die Wissenschaft, sondern nur als Kampf gegen die „Wissenschaften", die alle Gebiete des menschlichen Handelns und Denkens bis in die letzten Gründe logisieren und in ein rationales System bringen wollen, also gegen die alte Schulmetaphysik und die spekulative Theologie. „Werft ihre Bücher ins Feuer; denn sie enthalten nichts als Sophisterei und Blendwerk." Mit diesem temperamentvollen Satz schließt der Philosoph seine Untersuchung. Das Denken ist nur ein Teil unseres Dranges und unserer Betätigungen, das Leben ist ihm übergeordnet, ist vielgestaltiger und reicher. Wenn die Vernunft sich der ihr gesetzten Schranken bewußt bleibt und mit skeptischer Selbsterkenntnis das Leben nur verstehen will, zu seiner praktischen Meisterung aber kaum etwas beizutragen hat, so kann sie uns lediglich den Rat geben, unserer Natur freien Lauf zu lassen, aus der den grübelnden Menschen immer wieder lockenden Studierstube herauszutreten und in der drängenden Fülle des Lebens mitzuhandeln. Der Mensch ist nun einmal, wie es zu Beginn der Untersuchung hieß, ein denkendes, geselliges und handelndes Wesen. It seems, then that nature has pointed out a mixed kind of life as most suitable to the human race, and secretly admonished them to allow none of these biases to "draw" too much, so as to incapacitate them for other occupations and entertainments. Indulge your passion for science, says she, but let your science be human, and such as may have a direct reference to action and society. Abstruse thought and profound researches I prohibit, and will severely punish, by the ensive melancholy which they introduce, y the endless uncertainty in which they involve you, and by the cold reception your pretended discoveries shall meet with, when communicated. Be a philosopher; but, amidst all your philosophy, be still a man. (Section I)
Es scheint, daß die Natur dem Menschengeschlecht ein gemischtes Leben als das geeignetste zugedacht hat und uns im stillen mahnt, keine dieser Anlagen uns zu mächtig nach einer Richtung ziehen zu lassen und uns dadurch unfähig zu machen für andre Leistungen und Freuden. Laß deinem Drang zur Wissenschaft, so sagt sie, freien Lauf, aber laß deine Wissenschaft menschlich sein und den unmittelbaren Zusammenhang mit dem tätigen und geselligen Leben nicht verlieren. SchwerverständHche Gedanken und tief bohrende Forschungen verbiete ich; sie möchte ich streng bestrafen mit der grübelnden Schwermut, die ihre Begleiterin ist, mit der ewigen Ungewißheit, in die sie dich verstricken, und mit der kalten Aufnahme, der die Mitteilung deiner vorgeblichen Entdeckungen begegnet. Sei ein Philosoph, aber, inmitten all deiner Philosophie, bleibe ein Mensch!
Das ist die positive Seite dieses „gemäßigten" Skeptizismus, der dem Leben nicht ausweichen, sondern durch klare Abgrenzung der Bezirke praktisch dienen will, das ist weltzugewandte, humanistische Haltung, und das ist eine im besten Sinne englisch-
Die Moralphilosophie
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nationale Denkhaltung, die vor Übergriffen in die Bereiche des Nichterfahrbaren und Übersinnlichen zurückschreckt und den Weg zur praktischen Meisterung des Lebens nicht verliert. Wie in der Erkenntnistheorie, so lag auch auf dem Gebiet der Moralphilosophie die Führung unbestritten bei den englischen Denkern; es gibt wenige Beispiele einer in ähnlicher Weise national geschlossenen, von fremden Einflüssen fast ganz freien geistigen Entwicklung wie das der ethischen Systeme von Hobbes abwärts. England war durchaus das gebende Land, in dem sich die früheste Erscheinungsform der europäischen Aufklärung ausbildete. Von England gingen die Gedanken der Aufklärung nach Frankreich und wurden dort national umgebildet. Sie erweckten keine großen Philosophen wie Locke und Hume, aber sie gewannen glänzende Formulierungen und damit Stoßkraft, Kühnheit, Einfluß auf den übrigen Kontinent. In Deutschland wurden diese Einflüsse von innen heraus gestaltet und national angeeignet; Humanismus, Idealismus, Persönlichkeitskultur sind das Ergebnis in der Zeit Kants und unserer klassischen Dichtung. Die Moralphilosophie im eigentlichen Sinne kam auf, als die Religion, deren Magd sie bis dahin gewesen war, ihre lebenspendende Kraft mehr und mehr einbüßte. Die Überzeugung von der gottgegebenen Zwecksetzung aller Zusammenhänge, also das teleologische Denken, wie es der deistischen Auffassung von dem Walten des Weltschöpfers entsprach, unterschied sich von der Lehre schlicht-frommer Zeiten, nach der ein menschenähnlich handelnder Gott die Geschicke der Erdbewohner nach seinem Willen lenkt. Die in den geordneten Weltzusammenhängen wirkende göttliche Weisheit ersetzt den durch einzelne Willenshandlungen eingreifenden Gott. Die Änderung des wissenschaftlichen Weltbildes findet so im Bereich des Moralischen ihre Versöhnung mit der Gottesvorstellung. Alles Existierende ist gut, heißt es bei Pope, Gottes gütige Vorsehung fühlt Robinson Crusoe in seiner Einsamkeit. Eine vertiefte Form der gottgesetzten Zweckhaftigkeit wurde gestützt durch die neuen Naturwissenschaften, wenn sie auch mit der Kirchenlehre in Konflikt geraten mußte, und die Erfahrungsphilosophie erschloß überall die Wege für das Vernunftdenken. Dabei waltete die echt englische Trennung von Glauben und Wissen im Sinne Bacons ob; das religiöse Gebiet im eigentlichen Sinne war aus der wissenschaftlichen Überlegung ausgeschaltet. Hobbes' Materialismus, der in den sogenannten Freidenkern fortwirkte, rückte diesen Systematiker in eine abseitige Stellung; für Locke ist Hobbes ein verrufener Name. Erkenntnistheorie und Moral sind die Gebiete, auf die Locke als der klarste Vertreter des englischen Denkens die Philosophie einschränkt. Das sind die Bereiche, die den positiven Wissenschaften und der menschlichen Haltung im öffentlichen Leben die Grundlagen geben, und beide bleiben auf dem Boden des Erfahrbaren. Durch politische Akte waren Gewissensfreiheit und Gerechtigkeit gesichert, die Bahn war frei für die Ausbildung einer selbständigen Ethik, die bei früheren Denkern, besonders auch in der Dichtung Miltons, durch Betonung des ethischen Prinzips in der Religion vorgebildet war, um so mehr, als sich die Staatskirche in einem Zustand der Schwäche und Entartung befand. Der große Anstoß lag in dem radikalen Materialismus eines Hobbes mit seiner Lehre von der Selbstsucht als der Quelle aller sittlichen Regungen. Das rief Widerspruch hervor, und man kann die Lust- und Glückseligkeitslehre der eigentlichen Aufklärungsethik als eine in verschiedenen Abarten auftretende Auflehnung gegen die Egoismuslehre ansehen. Gemeinsam ist allen Strömungen das Ausgehen von der menschlichen Anlage, wie es Hobbes befolgt hatte, also ein psychologisches Prinzip, das ein Wesenszug britischer Weltschau wird. Ist das sittliche Gewissen ein Hirngespinst oder eine Tatsache? Diese Frage scheidet gleich zu Anfang des Jahrhunderts
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die „Intuitionisten" und die Skeptiker. Shaftesbury und Mandeville verkörpern die Problemlage in klarer Gegensätzlichkeit. Der humanistische Aristokrat Graf Shaftesbury denkt in einer Art ästhetischer Philosophie das All als organische Einheit, in der auch die moralischen Prädikate gut und böse nicht einzelnen Wesen zukommen, sondern von der Verwebung in das übergeordnete Ganze abhängen. Da der einzelne der umfassenden Einheit der Gattung zugehört, sind die dem andern zugewandten, also altruistischen Gefühle ebenso natürlich und angeboren wie die egoistischen, ja sie sind überhaupt erst die eigentlich sittlichen, weil der Mensch als Vernunftwesen einen moralischen Sinn zu entwickeln vermag, der das Unsoziale, Unnatürliche, Selbstische ablehnen wird. Aus der Harmonie zwischen altruistischen und egoistischen Gefühlen erwächst die menschliche Persönlichkeit, die tugendhaft handelt, weil Tugend zu dem Gesamtkunstwerk ihres Wesens gehört. Das war eine im renaissancegemäßen Kosmosdenken wurzelnde, von aller einfachen Erfahrung entfernte, im Kern unenglische Lehre, die im eigenen Lande nicht weiterwirkte, um so stärker freilich in Deutschland, bei Goethe ebenso wie bei Schiller. Die Problemlage des beginnenden Jahrhunderts tritt nirgends so klar hervor wie bei Bernard Mandeville, der in seiner „Bienenfabel", einem als Flugblatt für die Straße verfaßten Gedicht, und in den durch die einsetzende Polemik veranlaßten angefügten Abhandlungen die naturalistische Egoismusmoral des Hobbes konsequent und bis zu fast paradoxen Folgerungen durchführte. Er ist kein originaler Denker, aber ein geschickter, praktisch gerichteter Schriftsteller und ein großer Psychologe, der mit seiner raffinierten Kunst der Zergliederung geradezu die bedeutende Entwicklung einleitete, die die angewandte Psychologie in England erfuhr und die literarisch in erster Linie die Großtat der Schaffung des modernen Romans bedingte. Seine Kunst, verwickelte Tatbestände anschaulich auseinanderzulegen, brachte den entscheidenden Schritt zur psychologischen Ethik: psychologisch bleibt die Sittenlehre fortan in England. Die Formulierungen des kompromißlosen Nichtengländers Mandeville — er stammte aus einer französischen, in Holland lebenden Familie — haben vor allem den Wert, die entgegengesetzten Standpunkte klar herausgestellt zu haben. Die Nützlichkeitsthese auf strenger Erfahrungsgrundlage war verkündet. Die Philosophen werden zur Entscheidung genötigt, das Denken der Folgezeit kreist um die Pole, die die satirisch überspitzende Bienenfabel herausgestellt hatte. Die „sentimentale" Schule, die von Shaftesburys angeborenem moralischen Sinn ausgeht, steht der „intellektualistischen" gegenüber, die nominalistisch-empiristisch auf der Grundlage der Egoismusthese weiterbaut. Die Abgrenzung der Bereiche des Moralischen und des Religiösen ist unverrückbar vollzogen. Die Intellektualisten glauben an eine wesenhafte Zweckhaftigkeit aller Dinge und Lebewesen, aus der die sittlichen Beziehungen erwachsen; die sentimentale Schule stellt die Fähigkeit moralischer Unterscheidungen auf die Grundlage des Gefühls, bleibt aber auch bei der eudämonistischen Zielsetzung und der Forderung zweckbedingten Handelns. Der Gedanke des uninteressierten Wohlwollens kommt hinein, die Liebe des Menschen zum Menschen als das zu unserm Glück beitragende Element; die Stimme des Gewissens schließt alle Prinzipien des zweckvollen Handelns ein. Eine große, fruchtbare Erörterung erfüllt das Jahrhundert. Den Abschluß brachte auch auf diesem Gebiet sein größter Denker, David Hume, mit seiner in Aufbau und Sprache künstlerisch vollendeten Abhandlung über die Prinzipien.
David Humes Untersuchung über die Prinzipien der Moral
Untersuchung über die Prinzipien der Moral I. V o n den a l l g e m e i n e n G r u n d s ä t z e n der M o r a l Zunächst werden die beiden Richtungen charakterisiert, die Ableitung der Sittenlehre aus der Vernunft oder dem Gefühl, aus Argument und Induktion oder aus einem inneren Sinn und unmittelbarem Empfinden. Beide Richtungen sind in ihrer Ausschließlichkeit einseitig; bei unseren praktischen Entscheidungen sind beide Bereiche beteiligt. Das Ziel jeder moralphilosophischen Untersuchung ist, uns unsere Pflicht zu lehren, in uns bestimmte Gewohnheiten zu erzeugen. Zuerst gilt es, die sozialen Tugenden, Wohlwollen und Gerechtigkeit, zu analysieren. II. V o m W o h l w o l l e n Soziale Tugenden — Gutartigkeit, Geselligkeit, Dankbarkeit, Freundlichkeit, Edelmut u. dgl. — werden von dem natürlichen Gefühl sofort als wertvoll empfunden. Es darf aber nicht verkannt werden, daß bei sozialen Tugenden ein Teil der allgemeinen Wertschätzung aus der Nützlichkeit entspringt, die sie für die Gesamtheit besitzen. Die Rücksicht auf den öffentlichen Nutzen ist in diesem Bereich stets mit im Spiel, aber nur als ein Faktor neben dem natürlichen Gefühl. III. V o n der G e r e c h t i g k e i t Anders liegt es bei der Tugend der Gerechtigkeit. Sie beruht als Wert der Gemeinschaft ausschließlich auf der Nützlichkeit, sie ist hierin aber auch die einzige Tugend. Ihren Sinn bekommt die Gerechtigkeit erst durch das Vorhandensein von Eigentum. Wasser und Luft, die notwendigsten Dinge des Lebens, werden nicht als Einzelbesitz in Anspruch genommen. Solange die Meere frei sind, bedarf es keines Seerechts, und wenn die Erde mit Leichtigkeit jedem Menschen sein Betätigungsrecht lassen könnte, würde die Menschheit eine große, in Freundschaft beharrende Familie bilden. Wenn aber Mangel am Nötigsten herrscht, bedarf es zur Befriedigung der Selbsterhaltung strenger Gesetze. Da wir nun Eigentum besitzen und brauchen, ist Gerechtigkeit in der Sicherung dieses Besitzes nützlich und deshalb ein Wert als soziale Tugend. Je friedfertiger das Zusammenleben der Menschen und Völker ist, um so liberaler ist der Gerechtigkeitsbegriff. Das Goldene Zeitalter aber ist eine Fiktion der Dichter; völlige Gleichheit der Menschen und ihres Besitzes gibt es nicht. Was ist also Eigentum? Zweifellos das, was das Gesetz dem einzelnen zum alleinigen Gebrauch überläßt. Worauf gründet sich das Gesetz? Auf Satzungen, Gebräuche, Analogien und ähnliche Dinge. Die Notwendigkeit der Gerechtigkeit zur Erhaltung und Sicherung der Gesellschaft ist also die alleinige Basis ihres Tugendcharakters. IV. V o n der s t a a t l i c h e n G e m e i n s c h a f t Der einzelne Mensch kann außerhalb einer Gemeinschaft nicht leben; Völker aber können für sich leben, selbst im Kriege. Die moralische Bedeutving des Rechts steht im Verhältnis zu seiner Notwendigkeit. Im Völkerleben hat also die Gerechtigkeit nicht die unbedingte Wichtigkeit wie im Leben des einzelnen, das Völkerrecht ist labiler als das Rechtswesen innerhalb der staatlichen Gemeinschaft. Das Allgemeinwohl schafft die anerkannten Maßstäbe für Recht und Unrecht. V. W a r u m N ü t z l i c h k e i t g e f ä l l t Ein Schiff erscheint dem Sachverständigen schön, wenn es möglichst zweckmäßig für die Navigation gebaut ist. Ein Mensch erscheint uns um so lobenswerter, je nützlicher er für die Gemeinschaft ist. Aber trotzdem können nicht alle seine Tugenden
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hieraus abgeleitet werden, wie es einige Skeptiker wollen; die sozialen Tugenden mit Ausnahme der Gerechtigkeit beruhen in ihrer Wirkung auch auf einem natürlichen Gefühl. Man kann an die Erklärung aus Eigenliebe denken. Aber das genügt nicht, es kommt auch das Wohl der Mitmenschen in Betracht. Wir erfahren täglich, daß Handlungen, die wir als tugendhaft empfinden, nicht nur mein Glück fördern, sondern auch das Glück der Mitmenschen. Ein natürliches Gefühl lehrt uns das Gute und Böse unterscheiden und durch das gute Handeln zur Harmonie des Ganzen beitragen. Zweckmäßigkeit empfinden wir als schön in praktischen Dingen und in den Motiven unseres Handelns. VI. V o n E i g e n s c h a f t e n , die f ü r u n s n ü t z l i c h s i n d Daß Eigenschaften, die für den Besitzer selbst vorteilhaft sind, gebilligt werden, bedarf keines Beweises. Aber auch das Glück oder Unglück der Mitmenschen ist uns nicht gleichgültig; eine innere Freude oder Trauer ist unwillkürlich damit verbunden. Körperliche Kraft und Geschicklichkeit gefallen uns; ihre Wertschätzung war früher noch größer, weil die Kriege es verlangten. Geistige Gaben werden gleichfalls geschätzt; sie führen zum Erfolg, zum Reichtum, zur leichten Befriedigung der Bedürfnisse, zu Einfluß und Macht. In den meisten Ländern kommt die Wertschätzung durch Titel und Symbole zum Ausdruck, in England gilt der Reichtum an sich als auszeichnender Wert. Die erste Form, auf militärischen Leistungen beruhend und in Stammbäumen, Gunst und Ruhm ausgedrückt, entspricht mehr den Monarchien, die zweite, ein Anreiz zum Fleiß, den republikanischen Staatsformen. VII. V o n E i g e n s c h a f t e n , die u n s u n m i t t e l b a r a n g e n e h m s i n d Eine heitere und versöhnliche Gemütsanlage teilt sich der Umgebung mit und wirkt deshalb von Natur aus angenehm. Daraus fließt die Schätzung anderer Eigenschaften ohne Hinzutreten der Nützlichkeitserwägung: Hochherzigkeit, Mut, philosophische Gelassenheit, Wohlwollen, überhaupt alles, was soziale Sympathie bedeutet. VIII. V o n E i g e n s c h a f t e n , d i e a n d e r n u n m i t t e l b a r a n g e n e h m sind Aus dem Gesellschaftscharakter ergibt sich die Wertschätzung der Höflichkeit und der guten Manieren, des Besitzes von Geist, der Schamhaftigkeit, des berechtigten Selbstbewußtseins, das nicht in Eitelkeit abirrt, der Reinlichkeit. Hinter allem steht ein Unerklärbares, das den Menschen anziehend macht, eine innere Schönheit des Charakters, die sofort gewinnt und eine Überlegenheit über andre begründet. IX. S c h l u ß Ein Abwägen der Grade des Wohlwollens oder der Selbstliebe führt zu keinem Ergebnis. Wir müssen von einem allen Menschen eingeborenen Gefühl für das Moralische ausgehen. Selbstliebe spricht von Freund und Feind oder Nebenbuhler. Es ist eine andre Sprache, wenn ich von Tugend und Laster spreche, eine Sprache, die das Menschsein überhaupt zum Hintergrund hat und mich als fühlendes Wesen mit ihm verbindet. In diese Sphäre der Humanität und Sympathie reicht die Nützlichkeit nicht hinein. In ihr wohnen Wohlwollen und Freundschaft, Menschlichkeit und Güte als zarte, warme, wohlgefällige ursprüngliche Empfindungen über alle Prüfungen von Vorteil und Erfolg hinaus; sie bewahren uns die gute Stimmung zu uns selbst und andre und den Abglanz unsres Beitrages für die Gesellschaft und Menschheit.
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A n h a n g I. Über das Moralgefühl Nochmals wird die Beteiligung der Vernunft und des Gefühls an unsern moralischen Urteilen und Entscheidungen abgewogen. Nützlichkeit ist immer zielgerichtet. Das Ziel selbst aber hat schon einen gefühlshaltigen Wert — das Glück der Menschheit —, und deshalb bekommen auch die von der Vernunft gewiesenen Wege und Mittel ihren Wert. Das Gefühl hat den Vorrang bei der Grundlegung der Moral; das lustbetonte Gefühl bestimmt die Tugend, das unlustbetonte das Laster als Begriff. Man muß unterscheiden zwischen dem Fehler der Tat und dem Fehler des Rechts. Oedipus wußte nicht, daß er in Laius seinen Vater tötete; Nero aber kannte alle Verhältnisse, als er Agrippina tötete, und erscheint uns deshalb als verbrecherisch. Noch klarer wird das Überwiegen des Gefühlsanteils bei Gegenständen sichtbarer Schönheit. Wenn Euklid uns den Kreis beschreibt, nennt er nur die Eigenschaften; das Gefühl der Schönheit des Gebildes kommt dem Betrachter intuitiv. Warum sind körperliche Übungen lobenswert? Die Vernunft sagt: weil man gesund bleiben will, weil man dadurch tüchtig für den Beruf bleibt, weil man nur so sein Brot verdient, weil das verdiente Geld Freuden bringt und so fort in einer Kette. Aber die letzte Frage, warum diese Freuden angenehm sind, kann man an die Vernunft nicht richten. Sie gibt die Kenntnis der Tatsachen und der Wahrheit, der Geschmack aber das Gefühl der Schönheit. A n h a n g II. Von der Selbstliebe Es gibt eine Lehre, die alles nur auf Selbstliebe zurückführen will und alles Wohlwollen als Heuchelei, als Verkleidung der Selbstliebe erklärt. Eine andre Theorie will die Selbstliebe mindestens immer mitsprechen lassen; wir seien niemals persönlich uninteressiert, die edelste Freundschaft sei nur eine Abart der Selbstliebe, auch wenn wir uns dessen nicht bewußt sind. Diese von Hobbes und Locke vertretene Lehre ist nur eine gemilderte Form der ersten. Dagegen läßt sich sagen: das natürliche Empfinden bei Akten des Wohlwollens denkt nicht an das eigene Ich. Philosophie braucht immer eine sehr subtile Analyse, um ihre Lehre zu beweisen, und wo ein System solche feinen Wege nötig hat, sollten wir auf der Hut sein vor möglichen Irrwegen und Täuschungen. Will man auch bei Tieren, die wohlwollend handeln können, die psychologische Zurückführung auf Selbstliebe versuchen? Oder bei der Liebe der Geschlechter, der Mutterliebe? Nein; das u n i n t e r e s s i e r t e Wohlgefallen hat den überzeugenden Vorzug der Einfachheit und Übereinstimmung mit der Natur für sich. A n h a n g III. Einige weitere Überlegungen über die Gerechtigkeit Soziale Tugenden der Menschlichkeit und Sympathie wirken unmittelbar durch Neigung. Gerechtigkeit und Treue dagegen entspringen aus der Erfahrung des Nutzens für die Menschheit; freilich nicht aus der Wirkung einer Einzelhandlung, sondern aus dem System, dem Zusammenwirken aller Handlungen der Gemeinschaft. Der öffentliche Nutzen erfordert feste Regeln und Gesetze, die auf Konvention beruhen. Einer Konvention müssen sich alle Glieder einer Gemeinschaft beugen wie die Ruderer in einem Boot, jeder muß sich dem andern anpassen und die eigene Bequemlichkeit zurückstellen, wenn das gemeinsame Ziel erreicht werden soll. So erwächst der Wertmaßstab für Recht und Unrecht, auch für das Mein und Dein. A n h a n g IV. Über ein paar strittige Wortbezeichnungen Die Ausdrücke Tugend und Laster sind nicht ungefährlich. Vieles, was in ihnen liegt, sollte man lieber als Begabung oder Mangel bezeichnen. Im Englischen wenigstens sind die Grenzen zwischen Tugend und Begabung (virtue — talent), Laster und
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Mangel (vice — defect) nicht scharf zu ziehen. Als tugendhaft bezeichnen wir zumeist den, der soziale Vorzüge besitzt, und diese sind ja auch die wertvollsten. Für das Gefühl eines bewußten Wertes, der Selbstzufriedenheit, fehlt es aber an einem passenden Wort. Stolz wird gewöhnlich abwertend gebraucht, und das französische „amour-propre", das an sich paßt, verliert dadurch, daß es gleichzeitig Selbstliebe und Eitelkeit heißen kann. Die persönlichen Vorzüge moralischen Verhaltens sind an sich den sozialen nicht nur nachgeordnet, sondern in ihrem Wesen auch verschieden von ihnen. Wir müßten bei abwertenden Beurteilungen eigentlich unterscheiden zwischen Makel (blemish), Fehler (fault), Laster (vice), Verbrechen (crime). Darin läge eine Stufenfolge des Urteilens. Hume gibt eine Reihe von Beispielen aus der alten Geschichte, in denen die Berichterstatter moralische Urteile fällen. Aber das alles wäre nicht nur ein Eindringen des Philosophen in die Bereiche des Sprachgelehrten, sondern auch eine weniger wichtige Bemühung. Es ist fruchtbarer, dem Handeln der Menschen Halt und Richtung zu geben als über Benennungen zu grübeln. Wir müssen unsre Pflicht erkennen und prüfen, ob sie der Allgemeinheit zum Vorteil gereicht. Wie wir die Eigenschaften dieser beiden Richtungen — das Ich oder die Gemeinschaft als Ziel — benennen, ist unerheblich; wahrscheinlich fließt das Gefühl der Billigung bei beiden aus der gleichen Quelle. Hume ist überall scharfer Analytiker. So wie er in seiner Erkenntnistheorie die Begriffe Substanz und Kausalität auflöst, eine substantielle Wirklichkeit auf unsern Glauben zurückführt und das Kausalverhältnis auf einen gefühlten Zwang, die Vorstellungen der Ursache und der Wirkung zu verknüpfen, so trennt er in der Ethik die Beziehung unsrer Lust- oder Unlustgefühle von den Dingen selbst und legt den Wert in das subjektive Gefühl, das nur durch die beständige Bindung an einen Gegenstand irrtümlich diesen selbst als werthaltig erscheinen läßt. Vernunft und Gefühl sind gemeinsam an den moralischen Unterscheidungen beteiligt. Die Nützlichkeit ist mindestens ein Teilwert der sozialen Tugenden, Zweckmäßigkeit die wichtigste Norm der Gemeinschaft, Kunstprodukte wie die Gerechtigkeit beruhen ganz auf Übereinkunft und Erziehung im Hinblick auf das praktische Interesse. In der privaten Sphäre aber reicht die Nützlichkeitsbegründung der Selbstsuchtslehre nicht aus; die natürlichen Sympathiegefühle greifen tief in die Maßstäbe der Billigung und Mißbilligung ein. Ein im unmittelbaren Erleben wurzelndes, uninteressiertes Wohlgefallen läßt uns erfreulich anmutende Handlungen als wertvoll erscheinen. Die Vernunft bringt kein Handeln zustande und ist den Gefühlen im wirklichen Leben immer untergeordnet; darum kommt es darauf an, die moralisch zu billigenden Gefühle im Menschen zu stärken. Hume steht ganz auf Shaftesburys ästhetisch-philosophischem Standpunkt, wenn er unser Wohlgefallen an guten Handlungen und Eigenschaften mit der Freude an Schönheit gleichsetzt; er erweitert den Gedanken aber dahin, daß folgerichtig auch Vorzüge des Verstandes, also Geistesgaben, dasselbe Gefallen auslösen müssen, ja er wirft die Frage auf, ob nicht überhaupt Tugend und Begabung im sprachlichen Unterbewußtsein identisch seien. Seine Tugenderklärung zieht die letzte Konsequenz aus der bei ihm selbstverständlichen deterministischen Auffassung des Seelen- und Willenslebens. Wie er in der Kausallehre von der Frage ausging, welche Tatsachen wir eigentlich als Ursache und Wirkung zu verbinden pflegen, so sucht er in der Morallehre zunächst zu ergründen, welchen Eigenschaften wir sittlichen Wert beilegen, wie weit der Nutzen für uns selbst oder für die Gemeinschaft in Betracht kommt. Er bleibt also bei dem von seinen Vorgängern angenommenen „moralischen Sinn" nicht stehen, sondern fragt nach seiner Entstehung, sucht ihn also genetisch zu begreifen. Als Hauptphänomen ergibt sich dabei die Tatsache des sympathischen Mitfühlens. Das Sympathiegefühl wird bei Humes Freund und Nach-
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folger Adam Smith zum Mittelpunkt der Erklärung moralischer Wertungen und zum Gegenstand feiner psychologischer Analyse. Es ist bezeichnend, daß diese von Smith ausgebaute Lehre von den Sympathiegefühlen nur bei den Landsleuten der beiden Denker, der sogenannten schottischen Schule, nicht aber bei den englischen Philosophen — mit der einzigen Ausnahme der Ethik J. St. Mills — eine eigentliche Nachfolge fand; bei diesen trug die egoistisch-utilitaristische Richtung den Sieg davon, am liebsten mit religiösem Einschlag, der bei Hume völlig fehlt. Nur der ausgesprochene Psychologismus der Humeschen Ethik, der zur Begründung der mechanistischen Assoziationslehre bei Hartley, Priestley, Erasmus Darwin führte, bleibt in der rein englischen Richtung. Bezeichnend für diesen größten englischen Philosophen ist auch hier, wie wir es bei dem Abschluß seiner Erkenntnislehre sehen konnten, die Wendung zu der Realität der Lebensaufgaben, zu der Wirklichkeit des Handelns, dem der Philosoph Wege zu zeigen hat, das er aber nicht mit Theorien vergewaltigen darf und kann. Humes ganzes Denken ist scharfsinnig und klärend, tiefdringend, knapp und klar im sprachlichen Vortrag, dabei aber stets frei von lebensfernen Abstraktionen: eine humane Philosophie, die Gesinnung zu zeugen geeignet ist.
6. Die V o l k s w i r t s c h a f t s l e h r e : A d a m Smith Die Volkswirtschaftslehre ist ein Teil der Lehre vom Menschen. Damit wird es verständlich, daß das Aufklärungszeitalter, dem der Mensch als solcher und besonders der Mensch in seinem Zusammenhang mit Gesellschaft und Kultur das Hauptanliegen war und das methodisch immer nach System strebte, den richtigen Nährboden für ihre Verselbständigung abgab. Der Mensch ist ein Geschöpf mit allerlei Bedürfnissen, deren Befriedigung er der ihn umgebenden Welt abringen muß. So ist schon der einsame Robinson Crusoe auf seiner Insel ein „wirtschaftendes" Wesen und wird es immer mehr mit dem allmählichen Hineinwachsen in die Gemeinschaft. Die Wandlungen der Gesellschaft verändern die Bedürfnisse des Menschen und die Mittel zu ihrer Befriedigung. Eine theoretische Besinnung über die Gründe, Formen und Auswirkungen dieser Wandlungen wird sich naturgemäß zwei Aufgaben stellen: zunächst die Feststellung des Wesens der Vorgänge und eine Erklärung ihres Zusammenhangs, darüber hinaus aber auch eine auf dieser Erkenntnis beruhende zielbewußte Beeinflussung des wirtschaftlichen Handelns der Gemeinschaft. Zu der eigentlichen Volkswirtschaftslehre gesellt sich also die Volkswirtschaftspolitik. Wirtschaftlichen Erörterungen begegnen wir bereits in den Anfängen der uns bekannten Geschichte, sobald überhaupt Regeln für das Verhalten der Gemeinschaft aufgestellt werden. Wir finden sie in altbabylonischen Gesetzesvorschriften, in der israelitischen Gesetzgebung, in den Gesellschaftsordnungen Spartas und Athens und besonders in den Staatssystemen des Plato, Aristoteles und Xenophon. Die Struktur des Staates, also das Politische an sich, steht bei ihnen im Vordergrund; von einer selbständigen Erforschung der Marktvorgänge kann noch nicht die Rede sein. Aber doch spielen überall wirtschaftliche Überlegungen hinein: die ökonomischen Triebkräfte der Gesellschaftsbildung, die Arbeitsteilung, die Funktion des Geldverkehrs, die Rolle der handarbeitenden Sklaven, die Bevölkerungsfrage, die wirtschaftlichen Ursachen der Revolutionen. Solche Dinge werden je nach der philosophischen Gesamthaltung des Denkers idealistisch-ethisch oder realistisch-praktisch behandelt. Plato geht von der Idee des unbedingt Guten und der vollkommenen Gerechtigkeit aus, um nach diesem Ideal die Wirklichkeit zu formen; Aristoteles findet von den 17 Die Stimmen der Meister
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gegebenen Menschen und Verhältnissen aus den Weg in das Reich der allgemeinen Gedanken. Die beiden Wege der Erkenntnis, der deduktive und der induktive, sind hier vorgezeichnet. Rom hatte diesen Anfängen wissenschaftlichen Denkens nichts Entscheidendes hinzuzufügen, entwickelte aber in der Rechtslehre eine schärfere Fassung des Eigentumsbegriffs. Das Mittelalter steht unter der Lehre und Herrschaft des Christentums: „Niemand kann zween Herren dienen . . . Ihr könnet nicht Gott dienen und dem Mammon". Den Armen wurde die frohe Botschaft verkündet, daß alle Menschen von gleichem Wert und Kinder eines Vaters seien. Das Evangelium der Liebe milderte und beseitigte Sklaventum und Leibeigenschaft, hob die Stellung der Frau und das Familienleben, stärkte das Pflichtgefühl und den Gemeinschaftssinn. Armut und Entsagung gehörten zu einem Gott wohlgefälligen Leben, Luxus und Wucher wurden als Gefahren für das Seelenheil bekämpft. Die Lehre vom „gerechten Preis", die von der Arbeit im Dienst der Gemeinschaft ausgeht und lediglich den standesgemäßen Lebensunterhalt im Auge hat, zieht die Grenzen des sittlich erlaubten Gewinns, und das Verbot des Zinsnehmens ergab sich aus der Auffassung, daß das Verleihen ebenso ein Gebot christlicher Nächstenliebe sei wie das Almosengeben. Die christliche Ethik regelte die Fragen des geschäftlichen Verkehrs. Der führende Kirchenvater Thomas von Aquino stellte die Grundsätze des Verhaltens auf; mit seiner Autorität übte die Kirche — nicht der Staat — die Kontrolle über die praktische Betätigung der Menschen. Die christliche Lehre stand oft im Gegensatz zu dem rohen Egoismus der Feudalherren und den strengen Grundsätzen des römischen Rechts. Sie durchdrang aber das Volk und blieb die erfolgreiche Ordnungsmacht in den Zeiten einer überwiegend geschlossenen Hauswirtschaft mit Selbstversorgung. Als aber im Gefolge der Kreuzzüge der Handel eine größere Bedeutung gewann und die Geldwirtschaft neben die Naturalwirtschaft trat, wuchs der Gegensatz zwischen der ethischen Lehre und der Praxis des Geschäftslebens immer mehr. Das Zinsnehmen konnte trotz der Volksstimmung, die ihm entgegenstand und zu der gesellschaftlichen Ächtung der wuchernden Juden beitrug, nicht völlig unterdrückt werden. In Shylocks Haß gegen Antonio, den Kaufmann von Venedig, kommt die Auffassung der Zeit noch zum Ausdruck: I hate him for he is a Christian; But more for that in low simplicity He lends out money gratis, and brings down The rate of usance here with us in Venice. If I can catch him once upon the hip, I will feed fat the ancient grudge I bear him. He hates our sacred nation, and he rails, Even there where merchants most do congregate, On me, my bargains, and my well-won thrift, Which he calls interest. Cursed be my tribe, If I forgive him!
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Ich hass' ihn, weil er von den Christen ist, Doch mehr noch, weil er aus gemeiner Einfalt Umsonst Geld ausleiht und hier in Venedig Den Preis der Zinsen uns herunterbringt. Wenn ich ihm mal die Hüfte rühren kann, So tu' ich meinem alten Grolle gütlich. Er haßt mein heilig Volk und schilt selbst da, Wo alle Kaufmannschaft zusammenkommt, Mich, mein Geschäft und rechtlichen Gewinn, Den er nur Wucher nennt. Verflucht mein Stamm, Wenn ich ihm je vergebe 1
Die Kirche zog sich mehr und mehr aus der ihr zufallenden Verantwortung zurück und überließ den weltlichen Instanzen stillschweigend die Kontrolle der Marktgepflogenheiten, ähnlich wie es in dem Lande evolutionistischer Entwicklungen auf dem Gebiet des Gewohnheitsrechts geschieht: man hebt Bestimmungen nicht auf, sondern wendet sie nicht mehr an, wenn das Leben die Voraussetzungen geändert hat. Der Übergang des öffentlichen Einflusses von der absterbenden Feudalaristokratie auf
Die Volkswirtschaftslehre: Adam Smith
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das aufstrebende städtische Bürgertum, die Entdeckungen und Erfindungen des 15. und 16. Jahrhunderts, die Stärkung der zentralen Königsgewalt durch das Haus Tudor verursachten eine so starke Umwälzung der wirtschaftlichen Verhältnisse, daß die einfachen Lehren der christlichen Ethik zur Meisterung der Fragen nicht mehr ausreichten. In der Tat kennen wir aus dem Ausgang des Mittelalters in England eine ganze Reihe von Schriften, in denen Teilfragen des Marktverkehrs behandelt werden. Die Adelsgeschlechter, die im Mittelalter in beständigem Kampf mit der Krone zur Wahrung ihrer Rechte standen, hatten nach den verlustreichen Rosenkriegen abgewirtschaftet. Das Herrschergeschlecht der Tudors, das die staatliche Form des 16. Jahrhunderts bestimmte, betrieb eine zielbewußte Politik der Stärkung der Krone und nationalen Einigung, die 15 34 in der Lösung von der römischen Kirche ihre Krönung fand. Wo der politische Absolutismus sich durchsetzte, mußte er sich auf Machtmittel stützen, auf Söldnerheere, die bezahlt werden mußten, auf einen Hofstaat, eine durchgegliederte Rechtspflege und Verwaltung. Die Krone war auf große Ausgaben angewiesen, das Geld als Machtmittel, also das Edelmetall, gewann eine ganz andre Bedeutung als früher. Die Entdeckung Amerikas und des Seeweges nach Indien, in ihrem Gefolge ein gewaltiger Aufschwung des Überseehandels, der heimischen Gewerbe und Industrien, die beginnende Kolonisation, der Ausbau eines Banksystems waren die Quellen eines nationalen Reichtums, der die Zentralgewalt stützte. So ist das Merkantil- oder Handelssystem als staatswirtschaftliche Form seinem Wesen nach mit dem absoluten Herrschertum verknüpft. In England freilich, wo ein reiner Absolutismus nie geherrscht hat, gab es auch keinen strengen Merkantilismus, sondern nur eine allgemeine, in der Praxis vielfach gehemmte Tendenz in dieser Richtung, am stärksten ausgeprägt in der Navigationsakte Oliver Cromwells. Der französische Minister Colbert, dem Adam Smith eine ausführliche Behandlung widmet, war der energischste und erfolgreichste Vertreter. Der Merkantilismus wollte eine Vermehrung des Besitzes von Edelmetallen und unterstützte alles, was in dieser Richtung wirkte; er betrieb also eine Begünstigung des Bergbaus, eine Hebung der Industrie, eine Förderung der Ausfuhr und Behinderung der Einfuhr durch Zölle und bei dem Export durch Rückzölle und Ausfuhrprämien, den Abschluß von Handelsverträgen unter dem Prinzip der günstigen Handelsbilanz, die Vergebung von Freibriefen und Monopolen an Handelsgesellschaften, also alles, was den Zufluß von Geld bewirkte und den Abfluß hemmte. Von großer Bedeutung war der Umstand, daß die Reformation in England nicht nach der Lehre Luthers, sondern in der diesseitigen, eine Sozialordnung nach biblischen Grundsätzen erstrebenden Form des Genfer Reformators Calvin Eingang fand. In ihr steht der Auserwählungsgedanke im Mittelpunkt. Gott hat einen Teil der Menschheit zum ewigen Heil vorausbestimmt und die übrigen verworfen. Woran erkennt nun der einzelne, ob er zu den Erwählten gehört? Am Erfolg im Leben. Es ist also für den puritanischen Geschäftsmann Gottes Gebot, nach Erfolg, nach Mehrung des Besitzes zum Zweck immer erweiterter Arbeits- und Erwerbsmöglichkeiten zu streben. Die fleißige Betätigving im Beruf ist für den Puritaner eine gottgesetzte Aufgabe, der Beruf selbst wird geheiligt, Beruf ist gleichbedeutend mit Berufung. Die religiöse Unduldsamkeit des Frühpuritanismus weicht im 17. Jahrhundert, in dem die Gewerbe- und Handelskreise des mittleren und kleinen Bürgertums die ethische Haltung bestimmen, der Richtung auf Toleranz; denn Gewerbe und Handel brauchen, um sich auszuwirken, freie Betätigungsmöglichkeit. Es leuchtet ein, daß in der Überzeugung von der Gottwohlgefälligkeit des Erfolgstrebens in Verbindung mit den merkantilistischen Grundgedanken die Keime zu der Entwicklung des Individualismus und Kapitalismus und einer Geringschätzung der Armut liegen; der Arme ist ja von Gott verworfen und bedarf, wenn nicht der Strafe, so doch der Besserung durch 17'
IV. Barock und Aufklärung
Erziehung, was in der Einrichtung der gefängnisähnlichen Armenhäuser zum Ausdruck kommt, wie wir sie aus Dickens' Romanen kennen. Das puritanische Denken war gleichzeitig der Ausgangspunkt der Freiheit; zunächst im politischen Sinne in den Kämpfen des „Volks" gegen die absolutistisch gerichteten Hofkreise der Stuartzeit, bald aber auch im religiösen und wirtschaftlichen Bereich. Freiheit aber, Freihandel — ursprünglich als freie Gewerbebetätigung und erst später als Beseitigung der Schutzzölle gemeint — untergräbt die Grundsätze der zentral-staatlich gelenkten Wirtschaft des Merkantilismus. Das freie Spiel der Kräfte paßt zu der Ideologie des Aufklärungszeitalters mit ihrer Überzeugung von dem Funktionieren der „natürlichen" Ordnungen. Die berühmte Formel „laissez faire, laissez passer" wird auf eine Äußerung in einer von Colbert einberufenen Versammlung von Kaufleuten zurückgeführt, in der das private Unternehmertum gegen die staatlichen Bevormundungen und Einengungen protestierte. Herrschaft der „Natur" also auch auf dem Gebiet der wirtschaftlichen Betätigung! Die griechischen Worte „physis", Natur, und „kratein", herrschen, ergaben den Ausdruck Physiokratismus, mit dem man das den Merkantilismus ablösende System benennt. Es wurde von französischen Theoretikern begründet, in erster Linie von François Quesnay, dem Leibchirurgen Ludwigs XIV. Adam Smith kam während seines einjährigen Aufenthalts in Frankreich in nahe persönliche Berührung mit den führenden Physiokraten und ihren Gedankengängen. Nicht der Handel und durch ihn der absolute Besitz von Edelmetallen sind die Quelle des Volkswohlstandes, sondern der Grund und Boden und der Ackerbau; nur die Landwirtschaft erzeugt über den von ihr benötigten Aufwand hinaus echte Werte zum Wohl der Gesamtbevölkerung, nur die Landwirte sind also eine wirklich produzierende Klasse, während alle übrigen Berufe die erzeugten Stoffe nur umwandeln wie Industrie und Handwerk oder fortbewegen wie der Handel. Die Staatsausgaben werden demgemäß am besten nicht aus den Barabgaben vom Arbeitslohn, sondern aus einer einzigen Steuer, der Grundsteuer, bestritten. Die Einseitigkeit dieser Grundsätze wurde bald kritisiert, insbesondere die Verengung des Begriffs der produktiven Berufe, von denen allein schon die handwerkliche und industrielle Betätigung, die dem Landwirt Geräte und Maschinen zu liefern hat, nicht ausgenommen werden kann. Trotz seiner Einseitigkeit stellt aber der Physiokratismus den ersten großzügigen Versuch einer Gesamtauffassung des volkswirtschaftlichen Prozesses dar, der methodisch großen Einfluß auf Adam Smith ausgeübt hat. Wird in der skizzierten Entwicklung die Arbeit als solche mehr und mehr zum tragenden Begriff der Wohlstandsentwicklung, so geschieht dies noch entschiedener in dem Lande und unter dem Einfluß des puritanischen Denkens. In Miltons „Verlorenem Paradies" nennt Adam in klarer Umdeutung der biblischen Lehre vom Sündenfall und der Arbeit als Strafe den Müßiggang Unglück, die Arbeit aber Glück und Trost, und die Heiligung der Arbeit und des Berufsfleißes durchzieht das puritanische Denken bis zu dem hymnischen Preis eines Carlyle. John Locke zählt die Arbeit zu den unantastbaren Grundrechten der Menschen und macht sie zur Grundlage des Eigentumsbegriffs. Wenn der Mensch etwas von seinem Wesen, nämlich seine Arbeit, an ein Naturerzeugnis wendet, macht er es damit zu seinem Eigentum. Das betrifft den bepflanzten und gepflegten Boden ebenso wie die geformten Gebrauchsgegenstände; die aufgewandte Mühe, die Arbeit, schafft das Eigentum. So denkt auch Adam Smiths Lehrer und Freund, der Philosoph David Hume, der mit scharfen Waffen die Auffassung der Handelsbilanz und andre merkantilistische Grundanschauungen bekämpft; nur die Arbeit kann Werte schaffen, auch der Handel ist nützlich, weil er die Arbeitsmöglichkeiten der Nation vermehrt. Fleiß, Wissen und Humanität sind innerlich verbunden und dienen dem Glück der Menschen, und das Glück, die Vermehrung der
Adam Smiths Untersuchung über den Reichtum der Nationen
Lust und Abwendung der Unlust, ist nach der ethischen Lehre der Aufklärung das Ziel des menschlichen Strebens. Damit war im wesentlichen der Boden für eine Begründung der Eigengesetzlichkeit der Wirtschaft bereitet, die Adam Smith unternahm. Die Zeitlage drängte gerade in England zur Theorie. Die englische Politik war seit Wilhelm von Oranien in erster Linie Handelspolitik, London war Welthandelsstadt geworden. Schon Addison preist in einem Aufsatz seines „Zuschauers" (Spectator) das imponierende Treiben an der Börse und seine Wirkungen auf das Land. Die „industrielle Revolution" als Folge der Erfindung kunstvoller Maschinen brachte eine schnelle Blüte von Industrie und Handel. Z u diesen äußeren Bedingungen kam die große moralphilosophische Denkarbeit, die alle Zweige des menschlichen Tuns ergriff und überall Prinzipien suchte. Smith hatte Vorläufer in dem Versuch einer Zusammenschau der wirtschaftlichen Vorgänge, in England namentlich William Petty, in Frankreich Turgot mit seinen knappen Betrachtungen über die Bildung und Verteilung des Reichtums (1766). Aber trotz seiner nahen Verbindung mit den Gedankengängen der französischen Physiokraten bedeutet Adam Smiths Werk den ersten wirklich großen Versuch eines Systems der Volkswirtschaft und erhebt seinen Verfasser zu dem Rang des Begründers und Klassikers dieser Wissenschaft. Was ihm in dem von gesellschaftlichen und ökonomischen Problemen so stark erfüllten 19. Jahrhundert folgte, geschah stets in Anlehnung an das grundlegende Werk und in der Auseinandersetzung mit seiner Lehre. Das in seiner Wirkung weit über das engere Fachgebiet hinausgreifende Werk erschien 1776 unter dem Titel: Untersuchung über das Wesen und die Ursachen des Reichtums der Nationen. Eine Übersicht über seinen Aufbau mag den Umfang der berührten Fragen andeuten. I. Buch. Die Hebung der Produktionskräfte und die Verteilung der Produkte Kap. 1. Arbeitsteilung, ihre Wirkung auf die Produktion. Als schlichtes Beispiel: Die Herstellung der Stecknadel. Arbeitsteilung in der Landwirtschaft weniger möglich als in der industriellen Arbeit. Gründe für die vorteilhafte Wirkung der Arbeitsteilung. Kap. 2. Die Gründe für die Arbeitsteilung selbst. Natürliche Neigung des Menschen zum Tauschen. Selbstliebe als Antrieb zur gewinnbringenden Arbeit. Kap. 3. Grenzen der Arbeitsteilung in der Marktlage. Austausch zwischen Stadt und Land. Kap. 4. Anfänge der Geldwirtschaft. Begriff des Wertes. Real- und Nominalwert. Kap. 5. Arbeit als echter Maßstab des Wertes. Reichtum ist Macht. Kap. 6. Wie entsteht der Preis? Formen des Einkommens: Lohn, Kapitalertrag, Bodenrente. Kap. 7. Natürlicher und Marktpreis. Kap. 8. Arbeitslohn; sein Wesen, seine Bedeutung für die Hebung der nationalen Wohlfahrt. Armut. Ehestand der Armen, Kinderzahl, Kindersterblichkeit. Gute Löhne sind fleißfördernd. Kap. 9. Kapitalertrag, Zinsen. Kap. 10. Angleichung von Löhnen und Zinsertrag. Gründe für die Verschiedenartigkeit der Löhne. Kap. 11. Bodenrente. Gold- und Silberwert, Wirkungen auf den Realwert. Kap. Kap. Kap. Kap. Kap.
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II. Buch. Kapitalbildung und -Verwendung Entstehung von Kapital. Kapital als Teil des Nationalvermögens. Bankwesen. Produktive und unproduktive Arbeit. Geld vermehrt sich durch produktive Arbeit. Kapital und Zinsen. Verwendung des Kapitals.
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III. Buch. Verschiedenartigkeit des Wohlstandes und seiner Förderung bei den einzelnen Völkern. Europa hat mehr die Stadt- als die Landarbeit gefördert: Wissenschaften, Fabrikarbeit, Handel Kap. i. Natürliche Wohlstandsförderung. Austausch zwischen Stadt und Land. Kap. 2. Ungünstige Entwicklung der Landwirtschaft nach dem Fall des römischen Reichs. Kap. 3. Aufkommen der Städte nach dem Fall Roms. Kap. 4. Günstiger Einfluß des städtischen Handels. Englands günstige Lage für den Welthandel. IV. Buch. Die volkswirtschaftlichen Systeme Kap. 1. Prinzip des Merkantilismus. Handelsbilanz. Außenhandel. Kap. 2. Natürliche Einschränkungen der Einfuhr. Kap. 3. Außerordentliche Einfuhrbeschränkungen gegenüber bestimmten Ländern. Kap. 4. Rückzölle. Kap. 5. Bonitäten. Kornzölle. Befürwortung des Freihandels. Kap. 6. Handelsverträge. Kap. 7. Kolonisation. Geschichtliche Gründe für sie. Wohlergehen der Kolonien. Die englische Kolonisation in Amerika war besonders glücklich. Vorteile der Entdeckung Amerikas für Europa. Kap. 8. Gesamtbeutteilung des Merkantilismus: er nützt den Fabrikanten und opfert die Verbraucher. Kap. 9. Das „landwirtschaftliche" (physiokratische) System. Die französischen Theoretiker. Landwirte als produktive Klasse; Handwerker und Fabrikanten unproduktiv, aber doch unentbehrlich. Freihandel. Kritik des Begriffs „produktiv". V. Buch. Einkünfte des Staatsoberhaupts bzw. des Staates Kap. 1. Kosten und Formen der Landesverteidigung, Miliz oder stehendes Heer. Vorteile des stehenden Heeres. Kosten der Rechtspflege, Richterstand. Kosten der öffentlichen Einrichtungen: handelfördernde Straßen, Brücken, Kanäle, Häfen, Befestigungen und Sicherungen. Erziehungseinrichtungen des Staates, besonders Universitäten. Religiöses Leben, Kirche. Hofstaat als Repräsentation der Würde des Herrschers. Kap. 2. Quellen der öffentlichen Ausgaben. Steuern auf Landpacht, auf die Landesprodukte, auf Häusermiete, auf Kapitalertrag, auf Löhne und Gehälter. Bedenken gegen Lohnsteuer für Angestellte und Einkommensteuer für freie Berufe. Kopfsteuer, Steuer auf Verbrauchsware (lebenswichtige und Luxusware). Kap. 3. Staatsschulden. A d a m S m i t h (1723—1790) war Professor der Moralphilosophie in Glasgow, legte dann seine Professur nieder, um einen jungen schottischen Herzog auf einer Studienreise nach Frankreich und Italien zu begleiten, widmete nach der Heimkehr zehn stille Jahre der Ausarbeitung seines Hauptwerks und erhielt schließlich ein hohes und einträgliches Amt in der Zollverwaltung. Die geistige Herkunft aus der Moralphilosophie, die in der Aufklärungszeit gerade in England eine so bedeutende und insular-selbständige Entwicklung genommen hatte, wurde also in seiner Person ergänzt; nicht nur durch die unmittelbare Bekanntschaft mit ausländischen Theoretikern, sondern auch durch ein Leben in der Welt und ihren praktischen Aufgaben. Aus den Vorlesungen über Moralphilosophie erwuchsen als getrennte Teile einer an sich geschlossenen Gedankenfolge die beiden großen Werke des Philosophen, eine Theorie der moralischen Gefühle und die Untersuchung über den Volkswohlstand. Die moraltheoretische Abhandlung geht in der das Jahrhundert beschäftigenden Auseinandersetzung zwischen einer naturalistischen, auf die Selbstsucht als erste Triebkraft unserer Handlungen gegründeten Lehre und einer anderen, die einen angeborenen moralischen Sinn und damit altruistische Gefühle voraussetzt, von Hume aus, der die Erfahrungstatsache unserer sympathischen Teilnahme an der Lust und dem
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Leid anderer Menschen betont. Diese Tatsache der Sympathie, der natürlichen Neigung zum Mitfühlen mit anderen, wird zum Mittelpunkt der ethischen Lehre Smiths in noch stärkerem Maße als bei Hume, der entsprechend seinem Nützlichkeitsprinzip in erster Linie den äußeren Erfolg unserer Handlungen im Auge hat. Smith macht mehr die Motive des Handelnden zum Maßstab der sittlichen Wertung. So regelt das Gewissen die Handlungen des einzelnen, und so gründet sich die Gesellschaft, das Zusammenleben der Menschen, nicht auf abgelöste Individuen und einen Kampf aller gegen alle im Sinne von Thomas Hobbes, sondern auf ein harmonisches, durch Mitgefühl und Mithandeln zusammengehaltenes Ganzes. Das Gewissen nennt Smith den unparteiischen Zuschauer in unserer Brust, der befehlend auftritt; es macht das Mitempfinden mit anderen zu einem Erleben eigener Lust oder eigenen Leids, die Menschenliebe zum natürlichen Gefühl und sittlichen Gebot. Hume hatte in seiner Untersuchung über die Prinzipien der Moral (Abschnitt VII, Teil 2) gesagt, der Mensch verlange nach Reichtum, weil er dadurch Einfluß auf andere und Achtung gewinnt. Je wohlhabender und mächtiger ich bin, um so mehr herrsche ich durch den Umkreis dieser Beachtung und ihre Ausstrahlung, während der Arme sich seines Elends schämt. Bei Smith ist es entschiedener der aus dem Sympathiegefühl erwachsende Wunsch, Mittelpunkt eines Kreises von Menschen zu werden, der mein Streben nach Fortkommen in der Welt lenkt, nicht nur die Rücksicht auf äußere Vorteile. Verbesserung der äußeren Lebenslage bringt Steigerung der Selbstachtung und des Wertes für die mitfühlende und unwillkürlich mitgerissene Umgebung; stoische Unempfindlichkeit für die äußeren Güter der Welt ist nur selten zu finden. Das natürliche Streben nach Erfolg, nach Mehrung des Besitzes und der in ihm liegenden Macht — wir erkannten es schon als ein in dem puritanischen Erwählungsgedanken liegendes Gebot — ordnet sich in die geistig-moralischen Güter ein. Hiermit löst sich der scheinbare, von Kritikern des Denkers wiederholt bemerkte Widerspruch zwischen der Morallehre und der Begründung der Wirtschaftslehre auf Selbstliebe und Eigennutz. Es ist nicht krasser Materialismus, wenn Smith die Gesetze des wirtschaftlichen Lebens aus dem natürlichen Streben des Menschen nach Verbesserung seiner äußeren Lage ableitet, nicht ein Gegensatz von Egoismus und Altruismus. Die Morallehre und die Wirtschaftstheorie sind zwei Abteilungen desselben Gegenstandes, wie schon der Kulturhistoriker H. Th. Buckle erkannt hat; in jener untersucht der Philosoph die menschliche Natur in ihrem mitfühlenden Wesen, in dieser in ihrer eigennützigen Richtung. Das Streben nach persönlichem Vorteil ist das sichtbare Verhalten und der zulässige Ausgangspunkt für eine Analyse der wirtschaftlichen Formen, verwebt sich aber nach seiner Wertung in die höheren sittlichen Strebungen der menschlichen Natur. Die Quelle des Volkswohlstandes ist die Arbeit des Menschen, durch die er Rohstoffe erzeugt, formt und vertreibt. Die Arbeitsteilung, die bei der Stadtarbeit weiter durchführbar ist als bei der Landarbeit, fördert die Gütererzeugung gewaltig und entspringt der natürlichen Neigung des Menschen zum Tauschen. Der natürliche Preis jedes Gutes beruht auf der Arbeit, die zur Erzeugung notwendig war; der Marktpreis hängt daneben noch von andren Umständen, in erster Linie von dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage ab. Der Marktpreis der Waren hat überhaupt seit dem Aufkommen des Grundbesitzes und der Anhäufung von Kapital eine Vielfalt von Bedingungen zur Voraussetzung: den Anteil des Grundbesitzes, der die Rohstoffe liefert; den Anteil des Kapitalisten, der das Geld für die Arbeit bereitstellt; den Anteil des Arbeiters. Diese drei Faktoren stehen untereinander in einer natürlichen Verbindung, so daß z. B. Bodenrente, Kapitalverzinsung und Arbeitslohn miteinander in Einklang gebracht werden müssen. Sie bedürfen aber als Quellen des Nationalvermögens einer eingehenden Untersuchung in bezug auf ihre Entstehung und Wirkung. Smith führt
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diese Untersuchung zunächst empirisch, also auf Grund der praktischen Verhaltungsweisen und ihres Funktionierens, dann historisch in einem glänzenden Überblick über die Entwicklung vom Altertum bis zur Neuzeit durch. Die alte Unterscheidung der produktiven und unproduktiven Arbeit wird gegenüber der strengen und engen physiokratischen Lehre korrigiert und zugunsten der geteilteren städtischen Arbeit auf fließende Grenzen zurückgeführt, das Verhältnis von Stadt und Land — ein in der damaligen Dichtung unter dem Einfluß der industriellen Revolution oft und meistens sentimental behandeltes Thema — in seinen Notwendigkeiten und Wirkungen erläutert. Der kritische Überblick über das merkantilistische und physiokratische Wirtschaftsdenken führt den Verfasser auch zu einer eingehenden Prüfung der Anlässe und Formen der Koloniegründungen und zu einem Eintreten für den Freihandel, der als Grundsatz für den Völkerverkehr zwar wünschenswert ist, aber doch in gewissen Punkten Einschränkungen verlangt. Das letzte Buch enthält trotz seines anspruchsloseren Titels nichts weniger als eine durchgebildete Staatslehre; zwar nicht als Untersuchung der staatsrechtlichen Seite, wie sie Hobbes und Locke mit ihrer Vertragstheorie gebracht hatten, aber mit Anerkennung der von Montesquieu endgültig formulierten Trennung der Gewalten — gesetzgebende, ausübende und richterliche Gewalt — und in beständiger Anlehnung an die Verfassungszustände Englands. Die Sorge für die Sicherheit des Ganzen und des einzelnen ist die Hauptaufgabe des Staates. Wenn auch die drei Kapitel des letzten Buches ökonomische Fragen — Einkünfte, Ausgaben und Schulden des Staates — zum Thema haben, so zeigt die Behandlung dieser Gegenstände doch überall, daß der Verfasser die Politik als selbständiges, übergeordnetes Aufgabengebiet auffaßt und keineswegs die Gesetze der Volkswirtschaft auf sie übertragen wissen will; er sagt ausdrücklich, daß keine Eigenschaften weniger miteinander verträglich zu sein scheinen als die eines Kaufmanns und eines Regenten, daß das Geschäftsinteresse der Unternehmer sich von dem öffentlichen Interesse unterscheide und ihm oft zuwiderlaufe. Der Rechtsstaat hat drei Pflichten: den Schutz des Staates vor Angriffen, also die Herrschergewalt zur Sicherung der Unabhängigkeit; den Schutz des einzelnen gegen Ungerechtigkeit und Schaden, also die richterliche Gewalt; die Schaffung und Unterhaltung von Einrichtungen, die die einzelnen nicht aufbauen und bezahlen können, Einrichtungen für die praktischen Betätigungen und für die Kulturpflege. Aus diesen Staatszwecken ergibt sich die Erörterung der Staatsmittel, insbesondere eine eingehende, scharf durchgliederte Steuerlehre. Der Aufbau des Buches mit seinem weiten Stoffumkreis erhebt es schon formal zu dem Rang eines Meisterwerks. Eine knappe Einleitung begründet die Themen der fünf Bücher, die dann selbst klar gegliedert sind und die Gedanken in zwingender Folge weitertragen. Der Verfasser geht ohne Vorbemerkungen schlicht und sicher auf seine These los, wie die Buch- und Kapitelanfänge überall zeigen: The annual labour of every nation is the fund which originally supplies it with all the necessaries and conveniences of life . . . Every man is rich or poor according to the degree in which he can afford to enjoy the necessaries, conveniences, and amusements of human life . . . The produce of Labour constitutes the natural recompense or wages of labour . . . The rise and fall in the profits of stock depend upon the same causes with the rise and fall in the wages of labour . . . The great commmerce of every civilized society is that carried on between the inhabitants of the town and those of the
Die jährliche Arbeit eines jeden Volkes ist der Vorrat, aus dem es die zu seinem Leben notwendigen und zu seinem Behagen erwünschten Dinge erhält.. . Jeder Mensch ist reich oder arm nach dem Maßstab seiner Möglichkeiten, sich das zum Leben Nötige, Angenehme und Vergnügliche zu beschaffen . . . Der Arbeitsertrag stellt die natürliche Belohnung oder den Lohn der Arbeit dar. . . Das Steigen und Fallen der Kapitalgewinne ist ursächlich mit dem Steigen und Fallen der Arbeitslöhne verknüpft . . . Der Haupthandelsverkehr jeder zivilisierten Gesellschaft ist der zwischen
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country . . . The first duty of the sovereign, that of protecting the society from the violence and invasion of other independent societies, can be performed only by the means of a military force.
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den Bewohnern der Stadt und des Landes... Die erste Pflicht des Herrschers, der Schutz der Gesellschaft gegen Gewalttat und Einfall andrer unabhängiger Gesellschaften, kann nur durch eine militärische Macht ausgeübt werden.
Smith isoliert das Thema vom Wohlstand und stellt es mit sicherem Blick für das Wesentliche in den breiten Zusammenhang des Lebens hinein. Das ist wissenschaftliche Methode im Gegensatz zu den früheren Betrachtungsformen, in denen eine zufällige Neigung und Erfahrung irgendwelchen Teilfragen nachzugehen beliebte. E r definiert mit Baconscher Schärfe die Begriffe — Arbeit, Wohlstand, Preis usw. —, läßt ein Unterthema nach dem andern in klarer Gedankenfolge erwachsen, stellt dann die neu gewonnene These streng formuliert voran und begründet sie mit Gesichtspunkten, die mit „erstens, zweitens, drittens . . . " übersichtlich aufmarschieren. Es ist die Darstellungsform des Philosophen, der um Klarheit der eigenen Gedankenfolge ringt und den Leser an diesem Prozeß teilnehmen läßt. Ein anreihender, nebensatzarmer, nicht verschlungener Satzbau mit schmuckloser Spitzenstellung des Subjekts führt von Begriff zu Begriff, von These zu These und nimmt das Neugewonnene zur Weiterführung der Linie im nächsten Absatz auf. Es ist nicht ein oratorischer Stil wie der eines Burke oder Carlyle, sondern die sachliche, in der Abwägung der Gründe und Beispiele zwingende Schreibart des Denkers, dabei in schlichter Sprache ohne Überladung mit entlegenen Anspielungen und Autoritäten. Gerade die glückliche Wahl der aus alltäglicher Erfahrung jedem Leser vertrauten Beispiele ist immer wieder als ein besonderer Vorzug der Darstellung hervorgehoben worden. Der Gedanke der Arbeitsteilung war schon im Altertum ausgesprochen und in Smiths Jahrhundert gerade wieder durch B. Mandeville und Turgot eingehend entwickelt worden. Wir wissen aber aus dem Zeugnis Edmund Burkes, wie stark das Beispiel von der Stecknadelfabrikation zündete, das Smith gleich im Anfang seines Buches schlicht-anschaulich vorträgt: wer als Ungeübter sich eine Stecknadel fabrizieren will, kann mit größter Mühe vielleicht gerade eine am Tage herstellen, bestimmt aber keine zwanzig; heute ist eine solche Arbeit ein Gewerbe geworden und in ungefähr achtzehn, in verschiedenen Fabriken ablaufende Arbeitsvorgänge geteilt, so daß nun das Tagesergebnis Tausende von Nadeln beträgt. Solche überzeugenden, weil einfachen Verdeutlichungen finden sich in großer Zahl. Der Verfasser schweift nicht in eine breite Ausmalung der Beispiele ab, sondern läßt sie blitzartig in den Aufbau der Begriffe hineinleuchten; er versinnlicht nicht selten die Vorstellung, so wenn er etwa das Papiergeld einen Fahrweg durch die Luft nennt. Der Stil ermüdet trotz des umfassenden und an sich trockenen Gegenstandes niemals, weil wir von Dingen hören, die wir aus eigener Erfahrung kennen oder zu kennen meinen, die wir aber in dem logischen Gedankenaufbau plötzlich mit Überraschung in einem Zusammenhang sehen und jetzt erst als erklärt und richtig eingeordnet empfinden. Friedrich von Gentz, selbst ein Publizist von beredter Darstellungsgabe, bekannte einmal, daß sein höchster schriftstellerischer Ehrgeiz darin bestünde, ein einziges Kapitel über Geldverhältnisse so schreiben zu können, wie Adam Smith geschrieben habe; das sei rühmlicher als die Verfertigung von hundert Büchern metaphysischer Phantasien, wie sie sein Freund Adam Müller unter dem Titel einer Theorie des Geldes ans Licht gefördert habe. Der Reichtum und die Gedankenfülle des großen Werks verbietet ein Eingehen auf stoffliche Einzelheiten, die auch an sich nur die Volkswirtschaftslehre selbst angehen, daneben auch die politische Theorie und die Erziehungsgeschichte. Der lebendige, geistige Kulturstaat steht unausgesprochen hinter der Gesamtkonzeption, und auf die Ähnlichkeit mit Kant ist mit Recht hingewiesen worden. Geistesgeschichtlich gehört
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Smith dem Zeitalter des Vernunftdenkens an, das er in großzügiger Synthese noch einmal zur Deutung des sittlichen und des rein praktischen Verhaltens der Menschen anwendet. Das Lieblingswort der Aufklärung, „natürlich", von Hume bereits als gefährlich und trügerisch kritisiert, spielt eine große Rolle. Der Mensch ist eine wirtschaftliche Kraft, aus deren Zusammenwirken mit gleichgearteten Kräften im Rahmen der natürlichen Ordnungen der richtige und nützliche Ablauf der Dinge von selbst erwachsen wird. Eine prästabilierte Harmonie, um Leibniz' Wort zu gebrauchen, regelt das in freier Entfaltung erfolgende Funktionieren zum Glück der Menschheit. Aber diese Harmonie legt im Bereich der moralischen Gefühle durch die natürliche Sympathie, im Bereich der praktischen Betätigungen durch das Nebeneinander von Politik und Wirtschaft der absoluten Freiheit des Handelns Schranken auf, und die Vertreter des Manchestertums haben sich bei ihrer Forderung des unbeschränkten freien Spiels der Kräfte zu Unrecht auf den Begründer der Volkswirtschaftslehre berufen. Auf dem rein wirtschaftlichen Gebiet erkannte bereits Robert Malthus, der Verfasser eines berühmten Buches über das Gesetz der Bevölkerung, die Gefahren eines unbeschränkten Kräftespiels. Im Reich der Pflanzen und Tiere sorgt die Natur durch das zwingende Nahrungsgesetz für eine Beschränkung der Entfaltung der Lebenskeime; Darwins Entwicklungslehre mit ihrem Prinzip des Überlebens der Kräftigeren und des Todes der Schwächeren wirkt sich hier aus. Der Mensch aber kann durch die ihm verliehene Vernunft nicht in seinem Bestreben, die eigene Art über die vorhandenen Lebensmittel hinaus zu vermehren, gehemmt werden; er erzeugt Lebewesen, die er nicht erhalten kann, und fördert damit das Laster. Malthus betrachtet diesen Mangel als eine unabwendbare Fügung des Schicksals und sieht die Rettung nur in einer von der Vernunft diktierten Einschränkung der Kinderzahl und der Eheschließungen. So geht also auch die Bevölkerungstheorie, die bis heute in Abwendung von den mechanischen Zahlenreihen des Malthusianismus immer wieder behandelt worden ist, unmittelbar auf Smith zurück, und Ricardos „ehernes Lohngesetz", nach dem ohne menschliche Schuld, allein durch das Naturrecht die Arbeitslöhne sich um das Notwendigste herum bewegen müssen, nicht tiefer liegen, aber auch nicht höher steigen dürfen, ist ein Ergebnis dieser Gedankengänge ebenso wie die Mehrwerttheorie und Kapitalslehre eines Karl Marx, die für den modernen Sozialismus von entscheidender Bedeutung geworden ist. Die Saat war reif, als Smith sein grundlegendes Werk schrieb. Es erschien gleichzeitig mit der Bereitstellung der ersten Dampfmaschine durch James Watt, im Jahre der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und kurz vor Ausbruch der französischen Revolution. Das Maschinenzeitalter brachte in England eine rasche Zuspitzung der sozialen Probleme, die Philosophie der strengen Utilitarier verschärfte den Gegensatz zwischen Unternehmertum und Arbeiterschaft, das Vertrauen zu der Unternehmungslust des einzelnen war ein geeigneter Nährboden für eine Theorie des wirtschaftlichen Funktionierens. Die hohe Botschaft der Dichter der Romantik von dem Wert der menschlichen Seele brachte das Gegengewicht gegen das mechanische Rechnen mit Menschenzahlen, das in den nüchtern-abstrakten, den historischen Faktor völlig beiseite schiebenden Theorien Ricardos als besonders überspitzt und kalt empfunden wurde. Charles Dickens zeichnet uns diese kalten Rechner („Schwere Zeiten", „Die Silvesterglocken" usw.), und John Ruskin („Diesem Letzten", „Munera Pulveris" usw.) stellt die vernachlässigte soziale Liebe den Gesetzen einer „sogenannten" Volkswirtschaftslehre gegenüber. Das sind Strömungen und Keime, die das ganze viktorianische Zeitalter in Philosophie, Dichtung, bildender Kunst und Religion erfüllen, Auswirkungen einer geistesgeschichtlichen Großtat, die neuen Boden aufgepflügt hat. Die Bedeutung Adam Smiths für die schnelle Entwicklung der modernen Weltindustrie, für die Maschinen-
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technik, für die Konkurrenz der Weltmärkte, für die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit, für das Bankwesen, darüber hinaus aber auch für die Probleme der Gesellschaft kann kaum überschätzt werden. E r hat die reine Austauschlehre, die sog. Katallaktik, zur Soziologie erhoben und durch eine Klärung der Begriffe die gedankliche Weiterbildung der Teilgebiete ermöglicht. E r hat aber auch den Anstoß zu einer unmittelbaren Verbindung und Wechselwirkung von Theorie und Praxis im wirtschaftlichen und politischen Bereich gegeben. Das 19. Jahrhundert hat naturgemäß Korrekturen und Weiterbildungen bringen müssen — das beste Zeichen für einen tief verankerten wissenschaftlichen Anstoß. Es steht aber mit seinem wirtschaftlichen und industriellen Aufschwung, seiner Freihandelslehre, seinen Bemühungen um eine Meisterung der drängenden sozialen Probleme, seiner Förderung der Freiheit und Demokratie auf den Atlasschultern des Denkers, der die urtümlich waltenden Kräfte zu klarer und bewußter Erkenntnis erhoben und Tatfreudigkeit erzeugt hat.
V. Die Wiederentdeckung der Seele 1. L ö s u n g v o m K l a s s i z i s m u s Die Geistesgeschichte verläuft nicht geradlinig, sondern in einem großen Rhythmus einander ablösender seelischer Grundhaltungen. Auf den Rationalismus der alten Sophisten folgte der Idealismus eines Sokrates und Plato, dann die Mystik des Neuplatonismus, auf das kosmische Harmoniegefühl der Renaissance das spannungsreiche Barock, das die Kräfte des Geistes überhöhte und an die die Vernunft zur Ausschließlichkeit steigernde Aufklärung weitergab, auf diese die Befreiung und Erlösung der so lange gebundenen Kräfte des Gefühls, bis dann das letzte Jahrhundert wieder von einem vernunftbetonten Realismus bestimmt war. In einem großen Rhythmus der rationalen und irrationalen Kräfte des menschlichen Wesens vollzieht sich der Kreislauf. Wordsworth steckt die Grenzen zwischen Wissenschaft und Poesie so ab, daß jene bei den erfahrbaren Dingen der Sinneswelt stehen bleibt und aus ihnen Erkenntnisse ableitet, die als notwendiger Bestandteil unserer Existenz wertvoll sind, während die Poesie als der feinere Hauch alles Wissens aus der Einheit der Wirklichkeit und des Übernatürlichen die Wahrheit der Gesamtnatur herbeizaubert, aus persönlichster Einfühlung das Wirken des Göttlichen im Symbol erfaßt und die immerwährende Wechselwirkung von Außenwelt und Menschenseele erfühlen läßt. Der Dichter denkt und empfindet aus der Kraft der Leidenschaften; er steht als Mensch der Sinne in unserer Welt, aber er besitzt die Schwingen, die ihn in das Unendliche hinaustragen und den tieferen Einklang der Welt vernehmen lassen. Über die Sinne hinaus, die uns allen gegeben sind, wohnen in ihm Organe, die ihn mit der Allnatur verbinden, er hat das, was Shakespeare den „schönen Wahnsinn" nennt (vgl. S. 87). Was war bei Pope Auffassung von Poesie geworden, wenn er in der Vorrede zu seinem „Versuch über den Menschen" uns mitteilt, er habe Verse gewählt, weil sie leichter behalten werden und weil man in ihnen eine Belehrung kürzer und wirkungsvoller vortragen könne! Die Herrschaft der Vernunft hatte folgerichtig zu der satirischen Auflösung aller festen Standpunkte bei Swift und zu der Skepsis Humes führen können. In Berkeleys Philosophie ist der wahrnehmende Verstand, also der Geist oder das Ich, als die die Welt ordnende und bezwingende Macht in den Mittelpunkt gestellt, so daß von hier aus wieder ein fester Orientierungspunkt aus dem Gesamtmenschlichen, das nicht nur
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V. Die Wiederentdeckung der Seele
„Vernunft" ist, möglich wird. Seelenkräfte, die bisher verschüttet und gebunden waren, drängen stürmisch nach Lösung und Entfaltung. Man pflegt die Befreiung des Gefühls und der Phantasie als das Wesen des Romantischen anzusehen im Sinne einer Grundhaltung, die ohne Bindung an eine bestimmte Zeit immer einmal wiederkehrt oder in irgendeiner Form stets vorhanden ist. So ist Shakespeares Weltschau und Kunst romantisch in diesem weiteren Sinn, so ist es die Dichtung des Mittelalters mit ihren Abenteuern, ihren phantastischen Verkörperungen der beseelten Natur, ihrer religiösen Weihestimmung. Wir fühlen aber sofort die Problematik des Begriffes, der der einer formal-ästhetischen Literaturbetrachtung genügen mochte, aber auch hierfür nicht eindeutig bestimmt werden kann, so daß man sich heute fast scheut, das die starke Individualität so leicht vergewaltigende Wort „romantisch" anzuwenden. Nationale Verschiedenheiten und zeitliche Voraussetzungen bedingen Ausdrucksunterschiede dieser Kunst, die nach Hegels Wort keine Trennung von Innerem und Äußerem kennt, in der die Seele ihre kongruente Wirklichkeit in sich selbst und nicht in der Leiblichkeit fühlt. Sie umfaßt alle Geschöpfe als wesensgleich mit verstehender Liebe und reicht dadurch von innigem Naturverständnis hinauf in das Ahnen einer Verbindung von Geschöpf und Schöpfer. Ein Zerfließen der Grenzen aller festen dichterischen Formen und Maße gehört zum Wesen dieser Haltung. Sie ist eine bestimmte Seinsform des Menschen und demgemäß in allen Zeiten vorhanden. Wenn wir von klassischen und romantischen Epochen sprechen, so kann das nur das Überwiegen der einen oder andren Anlage bedeuten, nicht aber im Sinne einer ausschließlichen Herrschaft gemeint sein. In den größten Geistern aller Zeiten verbinden sich die Wesensgrundzüge des Klassischen und Romantischen zur vollendeten Form, die die feinste Empfindungsfähigkeit und die anschauliche Gestaltungskraft eint. Die Geschichte des englischen Geistes ist, im großen gesehen, überwiegend „romantisch" bestimmt und hat dem eigentlich „Klassischen" nur vorübergehend und ohne große Kraft Raum gegeben. Neben dieser allgemeinen Bedeutung einer Grundhaltung steht die Romantik im engeren Sinne eines zeitgeschichtlichen Phänomens, das sich als Lösung von dem Geist der Aufklärung offenbart, als eine Betonung des Gefühls, der Innenschau, des Visionären. Das ist eine abendländische Bewegung, in der wir die Wechselwirkungen der benachbarten Kulturen erkennen, zugleich aber auch die nationalen Unterschiede. Die Klassik zwingt den lebensvollen Vorgang in die Stilisierung; sie läßt das Beiwerk fort, sie beschneidet die Natur und wird konventionell. Der klassizistische Kritiker John Dennis schreibt 1701: There is nothing in Nature that is great and beautiful, without Rule and Order. . . Nature, taken in a stricter Sense, is nothing but that Rule and Order, and Harmony, which we find in the visible Creation. The Universe owes its admirable Beauty to the Proportion, Situation, and Dependence of its Parts. And the little World, which we call Man, owes not only its Health and Ease, and Pleasure, nay, the Continuance of its very Being, to the Regularity of the Mechanical Motion, but even the Strength too of its boasted Reason, and the piercing Force of those aspiring Thoughts, which are able to pass the Bounds that circumscribe the Universe. As Nature is Order and Rule, and Harmony in the visible World, so Reason is the very same throughout the invisible
In der Natur gibt es nichts Großes und Schönes ohne Regel und Ordnung . . . Die Natur ist im strengeren Sinne nichts als Regel, Ordnung, Harmonie, wie wir sie in der sichtbaren Schöpfung finden. Das Universum verdankt seine wunderbare Schönheit der Proportion, der Lage und gegenseitigen Abhängigkeit seiner Teile. Und die kleine Welt, die wir Mensch nennen, verdankt nicht nur Gesundheit, Behagen, Lust und Fortbestand des Wesens der Regelmäßigkeit mechanischer Bewegung, sondern auch die Stärke der vielgerühmten Vernunft und die durchdringende Kraft hochstrebender Gedanken, die über die Grenzen des Alls hinausdringen. Wie die Natur Ordnung, Gesetz und Harmonie in der sichtbaren Welt, so ist die Vernunft genau dasselbe
Lösung vom Klassizismus
Creation . . . For Reason is Order, and the Result of Order. And nothing that is Irregular, as far as it is Irregular, ever was, or ever can be either Natural or Reasonable. (Advancement and Reformation of Poetry, 1701)
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in der unsichtbaren. Denn Vernunft ist Ordnung und das Ergebnis der Ordnung. Das Unregelmäßige ist niemals natürlich oder vernünftig gewesen und wird es niemals sein.
Demgegenüber bevorzugt die Romantik das Ungewöhnliche, Unregelmäßige, die Idee und sprengt mit der Fülle des Lebens die Form; auch das Mystische und Übernatürliche widerstrebt ja der Form. So ist es kein Zufall, daß die englische Romantik ebenso wie die deutsche reich an Fragmenten ist. In England begann der Widerspruch gegen Geist, der die Dichtung zum verstandesmäßigen Formenspiel, zur Lehrhaftigkeit, Kritik und Satire hatte ausarten lassen, begann also die eigentliche Wiedergeburt der Poesie zuerst und sehr früh. Die Bewegung reicht tief in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts hinein. Sie fing an mit einer Wiederbelebung und Vertiefung des in diesem Lande nie verschütteten Naturgefühls, zu dem bald das Erwachen der Liebe zu der nationalen Vergangenheit und zur volkstümlichen Dichtung sich gesellte, wie es in der Begeisterung für das alte, mythische Heldentum der uns durch die Proben in Goethes „Werther" vertrauten rhapsodischen Gesänge Ossians und durch die Sammlung der alten Balladen durch den Bischof Percy (vgl. S. 43) zum Ausdruck kam. Das Sehnen der Menschen floh aus der Enge und Dumpfheit der Gegenwart in räumliche und zeitliche Fernen, in den Orient und das Mittelalter, ein verklärtes Bild des idyllischen Landlebens wurde dem mehr und mehr industrialisierten Leben in den Städten gegenübergestellt. „Gott schuf das Land, und der Mensch schuf die Stadt", singt der Dichter Cowper. Wie stark man den Zusammenhang mit der hochgestimmten Zeit der Elisabethaner empfand, zeigt sich in der bewußten Anknüpfung an die Ausdrucksform. Miltons Jugendgedicht von dem Nachdenklichen („II Penseroso") mit seiner weichen Naturstimmung in Molltönen, seiner Liebe zum Halbdunkel, zur Melancholie und Innenschau übte großen Einfluß. Spensers erträumte Welt der Abenteuer lieferte Motive, die Renaissanceschönheit der kunstvollen Strophe seiner „Feenkönigin" wurde oft nachgeahmt; Byrons Dichtung „Junker Harolds Pilgerfahrt" ist das bekannteste Beispiel. Das alles entstand auf motivischen und formalen Einzelwegen, so wie die Wasser kleiner Rinnsale zu Flüssen und schließlich zu einem breiten Strom zusammenwachsen. Die Essaykunst, der Roman, die Lyrik haben in gleicher Weise an der Bewegung Anteil, nicht als schroffer Bruch mit dem Gewesenen, sondern als deutliches Bild eines langsamen Werdens im Sinne der Evolution, nicht Revolution. Schon bei den Zeitgenossen und unmittelbaren Nachfolgern Popes sind die neuen Töne vernehmbar. Motive und Formen sind noch klassisch-aufklärerisch, und doch drängen die Innerlichkeit des Gefühls und die Liebe zu dem kleinen Lebenskreis des schlichten Alltagsmenschen als wesentlicher Gehalt ans Licht. Zwei weltbekannte Werke zeigen uns diesen Übergang: Grays Kirchhofselegie, die man wohl als das berühmteste aller englischen Gedichte ansprechen darf und von der General Wolfe, der Sieger von Quebec, sagte, er hätte lieber ein solches Gedicht schreiben als Quebec erobern mögen, und Goldsmiths „Landprediger von Wakefield", der Herder als „eins der schönsten Bücher, die in irgendeiner Sprache existieren", immer wieder zur Lektüre reizte und dem Goethe in „Dichtung und Wahrheit" eine so liebevolle Analyse widmet. Die alten Stimmungen der Wehmut und Weichheit, Gedanken über die Nichtigkeit des Daseins und die ausgleichende Macht des Todes, wie wir sie aus der Dichtung der Angelsachsen kennen und später oft wiederfinden, brechen wieder durch die glatte Oberfläche rationalistischer Klarheit und Kühle. Das klingt schon an in den auf Er-
V. Die Wiederentdeckung der Seele
Ziehung und Geschmack des kleinen Mannes berechneten „moralischen. Wochenschriften", das ruft eine Poesie des Grabes und der Nacht hervor, so daß man geradezu von einer englischen Friedhofsschule spricht. Der Einfluß des ländlichen evangelischen Pfarrhauses war, wie die Forschung erwiesen hat, von besonderem Einfluß auf die Entbindung der Gefühlselemente; Dorfgeistliche und Pfarrersöhne waren an dieser Dichtung stark beteiligt in einer Zeit, als der Methodismus mit seiner Betonung der Herzensfrömmigkeit aufkam. Man dichtete eine Ode auf den Abend, ein lehrhaftes Werk über die Freuden der Melancholie, ein Nachtstück über den Tod, neun umfangreiche Gesänge von Nachtgedanken, Meditationen über Tod und Gräber, ein Nachtstück über das Grab mit dem ganzen Schauer verfallener Klosterkirchen, feuchter Gewölbe, mit fahlem Mondschein und Geistergrauen. In diese Umgebung der Schwermut und Reflexion, der religiös-sozialen Lyrik gehört T h o m a s G r a y ( i 7 1 6 — 1 7 7 1 ) , der liebenswerte, stille Cambridger Gelehrte, dessen warme Menschlichkeit uns in den Freundesbriefen des Unverheirateten entgegentritt, der nur wenige, an klassischen Vorbildern geschulte poetische Stücke schuf, an diesen aber sorgfältig feilte. Die Arbeit an der Kirchhofselegie beschäftigte ihn vor der Veröffentlichung (1751) sieben Jahre hindurch. Elegie Geschrieben auf einem Dorfkirchhof In der Abenddämmerung wandelt der Dichter zwischen den Gräbern eines Dorffriedhofs in der Nähe von Windsor. Das Abendglöcklein des Kirchleins ruft zum Ausruhen, die Tagesarbeit der Menschen ist vorüber, die stillen Schatten senken sich auf die Erde, nur ab und zu gestört durch den Schrei der Eule in dem efeuberankten alten Turm. The Curfew tolls the knell of parting day, The lowing herd wind slowly o'er the lea, The plowman homeward plods his weary way, And leaves the world to darkness and to me.
Die Abendglocke singt den Tag zur Ruh, Und blökend schwankt die Herde durch das Feld; Der müde Pflüger wankt dem Dorfe zu Und läßt der Dunkelheit und mir die Welt.
Now fades the glimmering landscape on the 5 Der Landschaft Bild verschwimmt nun Zug sight, um Zug, And all the air a solemn stillness holds, Und Feierstille waltet rings im Raum; Der Käfer summt nur noch in irrem Flug, Save where the beetle wheels his droning flight, Verschlafnes Läuten lullt den Pferch in And drowsy tinklings lull the distant Traum. folds; Und aus dem Turm im dichten Efeukleid Save that from yonder ivy-mantled tower 10 Beklagt der Eule Mißmut sich beim Mond, The moping owl does to the moon complain Wenn ihrer Andacht Ernst ein Fuß entweiht, Of such, as wand'ring near her secret bower, Ihr Erdreich streifend, wo sonst Schweigen Molest her ancient solitary reign. thront. Unter rauhen Ulmen und schattigen Eiben ruhen die schlichten Leute aus dem Dorf für immer aus in ihrem engen Bett. Sie grüßt nach schwerem Tageswerk keine liebende Gattin mehr, kein froher Kinderschwarm, ihre Arbeit kündet keine Chronik, kein
Thomas Grays Kirchhofselegie
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Wappenschild, keine Grabschrift, kein Erinnerungsmal, kein pomphaftes Rednerlob, wie es den Großen der Welt zuteil wird. Der Tod löscht alle aus und macht alle gleich. Beneath those rugged elms, that yew-tree's In Taxusnacht und rauher Ulmen Hort, shade, Where heaves the turf in many a Wo sich die Flur in dürren Hügeln hebt, mould'ring heap, Each in his narrow cell for ever laid, 15 Ruhn sanft des Dorfes schlichte Väter dort, The rude Forefathers of the hamlet Von enger Klause, ew'gem Schlaf umwebt. sleep. The breezy call of incense-breathing Morn,
Des Frührots Balsamgruß aus Feld und Korn, Der Schwalbe Morgenruf vom Schaubendach, Des Hahns Trompetenstoß, des Hirten Horn,
The swallow twitt'ring from the straw-built shed, The cock's shrill clarion, or the echoing horn, No more shall rouse them from their 20 Es ruft vom tiefen Bett sie nimmer wach. lowly bed. For them no more the blazing hearth shall burn, Or busy housewife ply her evening care: No children run to lisp their sire's return, Or climb his knees the envied kiss to share.
Sie grüßt kein Herd, labt keine Gattin mehr, Sich tummelnd für des Tagewerks Beschluß; Kein Kinderschwarm lauscht Vaters Wiederkehr Und stürmt sein Knie nach allbegehrtem Kuß.
Oft did the harvest to their sickle yield, 25 Oft sank von ihrer Sichel Klee und Spelt, Their furrow oft the stubborn glebe Die zähe Scholle brach der Egge Zahn, has broke; How jocund did they drive their team Sie trieben munter ihr Gespann ins Feld, afield I How bowed the woods beneath their Ihr Hieb voll Mark bezwang den Eichenplan, sturdy stroke 1 Let not Ambition mock their useful toil, Du Ehrgeiz, höhne nicht ihr nützlich Werk, Their homely joys, and destiny 30 Die schlichte Freude, die nach Pomp nicht obscure; fragt; Nor Grandeur hear with a disdainful smile, Du Größe, laß der Lippen Spott und merk', The short and simple annals of the poor. Was dir des Armen kurze Chronik sagt. The boast of heraldry, the pomp of pow'r,
Der Wappenbilder Stolz, der Prunk der Macht, Was je der Reichtum, je die Schönheit bot:
And all that beauty, all that wealth e'er gave, Awaits alike th' inevitable hour. 3 5 Sein harrt die unerbittlich gleiche Nacht, The paths of glory lead but to the grave. Des Ruhmes Pfad führt nur zu Grab und Tod. Nor you, ye Proud, impute to these the fault, If Mem'ry o'er their tomb no trophies raise, Where through the long-drawn aisle and fretted vault The pealing anthem swells the note of 40 praise.
Drum schmäh', o Stolz, des Grabes Armut nicht, Wenn die Erinnerung auch kein Mal erhebt, Wo langer Kreuzgewölbe Dämmerlicht Vom Donnerhall des Lobgesangs erbebt.
V. Die Wiederentdeckung der Seele Can storied urn or animated bust Back to its mansion call the fleeting breath? Can Honour's voice provoke the silent dust, Or Flatt'ry sooth the dull cold ear of Death?
Bannt Urnenschrift, der Büste Lebensschein Den flücht'gen Hauch zurück in seineBrust? Weckt Rednerlob den Staub aus stummem Schrein? Beut Schmeichler wort dem Ohr des Todes Lust?
Vielleicht ruht inmitten dieser an Besitz und Geist armen Bauern ein Herz, das einen Genius zu großen Taten hätte entflammen können, das die Kühnheit des Stuartgegners Hampden, die Stärke Cromwells ohne seine Blutschuld, die sittliche Macht und Sprachgewalt des Freiheitsapostels Milton in sich trug und seinem V o l k hätte Segen bringen können, das nun aber zwar nicht den Beifall der Welt, dafür aber den Schatz fleckenloser T u g e n d mit ins G r a b genommen hat. Sie haben nie die Röte der Scham zu verbergen gesucht, nie u m die Gunst der Muse oder den rauschenden Beifall der M e n g e gebuhlt, sondern sich mit dem bescheidenen Leben ihres Dorfes begnügt. E i n wackliges Kreuz mit plumpem Reim und grobem Bild hält den letzten Seufzerhauch wach. Perhaps in this neglected spot is laid 45 Vielleicht ruht unter diesem öden Hang Some heart once pregnant with Ein Herz, das Himmelsgiuten in sich trug, celestial fire; Hands, that the rod of empire might have Die Hand, geschickt, daß sie das Zepter swayed, schwang, Or waked to ecstasy the living lyre. Daß sie entzückt der Leier Saiten schlug. But Knowledge to their eyes her ample page Rich with the spoils of time cud ne'er 5 o unroll; Chill Penury repressed their noble rage, A n d froze the genial current of the soul.
Doch nie entrollte Weisheit ihrem Blick Das große Buch, vom Raub der Zeiten reich,
Full many a gem of purest ray serene, The dark unfathomed caves of ocean bear: Full many a flower is born to blush unseen, 5 j A n d waste its sweetness on the desert air.
Gar mancher Perle reichstes Feuer sprüht In dunkler, nie erforschter Meeresschluft;
Some village Hampden, that with dauntless breast The little Tyrant of his fields withstood; Some mute inglorious Milton here may rest, 6o Some Cromwell guiltless of his country's blood.
Hier schläft vielleicht ein Hampden, dessen Mut Dem kleinen Dorftyrannen widerstand, Ein Cromwell, rein von seines Landes Blut, Ein stummer Milton, still und unbekannt.
T h ' applause of list'ning senates to command, The threats of pain and ruin to despise, T o scatter plenty o er a smiling land, And read their hist'ry in a nation's eyes,
Gespannter Senatoren Beifallszoll, Trutz wider Drohung, Fessel und Verrat. Ein Segensstrom, dem Bürgerglück entquoll, Im Volkesblick der Spiegel eigner Tat. —
Their lot forbade: nor circumscribed alone 6 j Their growing virtues, but their crime confined; Forbade to wade through slaughter to a throne, And shut the gates of mercy on mankind,
Ihr Los verbot's; doch nicht der Tugend nur, Auch der Verbrechen Wachstum blieb gehemmt: Kein Weg zum Thron durch Blut und Meuchelspur, Kein Tor und Schloß, das dem Erbarmen fremd.
Und Armut brach des Genius Urgeschick; Von ihrem Reif ward Keim und Knospe bleich.
Gar manche Blume, still im Grund erblüht, Haucht unbemerkt den Balsam in die Luft.
Thomas Grays Kirchhofselegie
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The struggling pangs of conscious truth to Kein lächelnd Bergen der Gewissensnacht, hide, To quench the blushes of ingenuous 70 Kein Dämpfen jener Glut beredter Scham, shame, Or heap the shrine of Luxury and Pride Kein Weihrauchsbrand für Stolz und Schwelgerpracht, With incense kindled at the Muse's Den man der Muse Rauchaltar entnahm. flame. Far from the madding crowd's ignoble Entrückt des Pöbels rasendem Gewühl, strife, Their sober wishes never learned to Hat nie sich ihr bescheidner Wunsch verirrt; stray; Along the cool sequestered vale of life 75 Ein Lebenstal, entlegen, still und kühl, They kept the noiseless tenor of their Hat ihres Fußes Wandel nie verwirrt. way. Yet e'en these bones from insult to protect
Ein morsches Kreuz, das einst zu Schirm und Schild Getreues Leid auch diesem Staub gesetzt, Ersteht durch plumpen Reim und rohes Bild,
Some frail memorial still erected nigh, With uncouth rimes and shapeless sculpture decked, Implores the passing tribute of a sigh. 80 Des Seufzerhauches flücht'gen Zoll noch jetzt. Their name, their years, spelt by th' unlettered muse, The place of fame and elegy supply: And many a holy text around she strews, That teach the rustic moralist to die.
Statt Preis und Elegie nur Nam' und Zahl, Von ungelehrter Muse Hand beschert; Nur noch ein Schriftwort wand sie um das Mal, Das mild des Dorfes Pilger sterben lehrt.
For who to dumb Forgetfulness a prey, 8 5 Dpnn wer, dem des Vergessens Öde droht, This pleasing anxious being e'er Entsagt wohl dieses Daseins bangem Glück, resigned, Left the warm precincts of the cheerful day, Der hellen Tage holdem Abendrot, Nor cast one longing ling'ring look Und lenkt das Auge zögernd nicht zurück? behind? On some fond breast the parting soul relies, Ein zärtlich Herz begehrt das Herz im Tod, Some pious drops the closing eye 90 Der Träne Zoll das Auge, wenn es bricht. requires; E'en from the tomb the voice of Nature Laut ruft vom Grab noch der Natur Gebot, cries, E'en in our Ashes live the wonted Fires. Selbst in der Asche stirbt ihr Feuer nicht. Wer wollte bei solchem Sinnen nicht an das eigene Hinscheiden und seine Begleitstimmen denken? Da wird vielleicht ein alter Landmann von dem jungen Dichter erzählen, der im Morgengrauen einsam durch die Fluren ging, die Sonne grüßte, weltentrückt in der Mittagssonne ruhte und abends, wie von banger Qual gepeinigt und vor sich hin murmelnd, am Waldessaum entlang strich. Dann blieb er plötzlich aus. Ein Trauerzug bewegte sich den Kirchweg entlang. Der jüngere Zuhörer des alten Bauern ist des Lesens kundig und kann die Grabinschrift entziffern, die Gray sich als seine eigene gedacht hat. 18 Die Stimmen der Meister
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V. Die Wiederentdeckung der Seele
For thee, who mindful of th' unhonoured Du, der vergeßner Toten fromm gedenkt, Dead Dost in these lines their artless tale Ihr schlichtes Los in diesen Zeilen preist, relate; If chance, by lonely contemplation led, 95 Erforscht, von stiller Andacht Wink gelenkt, Some kindred Spirit shall inquire the Einst dein Geschick auch ein verwandter fate. Geist? Haply some hoary-headed swain may say, "Oft have we seen him at the peep of dawn Brushing with hasty steps the dews away
Dann sagt vielleicht ein Hirt im Silbergrau: „Ich hab' es oft gesehn; sein rascher Fuß
"There at the foot of yonder nodding beech That wreathes its old fantastic roots so high, His listless length at noontide would he stretch, And pore upon the brook that babbles by.
In jener alten Buche schwanker Nacht, Die seltsam sich auf Schlangenwurzeln hebt,
Strich schon beim Morgengraun vom Gras den Tau; To meet the sun upon the upland lawn. 100 Der Sonne galt sein frischer Bergesgruß.
Da lag er mittags ohne Wunsch und Acht, Ins Bächlein starrend, das vorüber strebt.
"Hard by yon wood, now smiling as in 105 Der Abend traf ihn dort am Waldessaum, scorn, Mutt'ring his wayward fancies he would Im Grübeln murmelnd, Spott um seinen rove, Mund, Now drooping, woeful wan, like one forlorn, Dann wieder bleich, gebückt, in ödem Traum, Or crazed with care, or crossed in Wie von derQual verschmähter Liebe wund, hopeless love. "One morn I missed him on the customed hill, Along the heath and near his fav'rite n o tree; Another came; nor yet beside the rill, Nor up the lawn, nor at the wood was he; "The next with dirges due in sad array Slow through the church-way path we saw him borne.
Doch einst vermißt' ich ihn am Heiderand, Auf dem gewohnten Bühl, beim Lieblingsbäum; Ein zweiter Morgen kam: doch jenen fand Nicht Haldengrün, nicht Bach, nicht Waldessaum. Am dritten sahn wir, wie ein Trauerzug Mit Grabgesängen langsam einen Schrein
Approach and read (for thou can'st read) 115 Vom Kirchweg her zu jenem Weißdorn the lay, trug. Graved on the stone beneath yon aged Komm, lies — du kannst es — den thorn." beschriebnen Stein."
The Epitaph Here rests his head upon the lap of Earth A Youth to Fortune and to Fame unknown. Fair Science frowned not on his humble birth, And Melancholy marked him for her 120 own.
Grabschrift Hier ruht sein Haupt im kühlen Erdenschoß, Ein Jüngling, fremd dem Glück und fremd dem Ruhm; Der Muse Gunst umwob sein ärmlich Los, Die Schwermut wählt' ihn sich zum Eigentum.
Thomas Grays Kitchhofselegie
Large was his bounty, and his soul sincere, Heav'n did a recompense as largely send: He gave to Mis'ry all he had, a tear, He gained from Heav'n ('twas all he wished) a friend. 125 No farther seek his merits to disclose, Or draw his frailties from their dread abode (There they alike in trembling hope repose), The bosom of his Father and his God.
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Sein Herz war reich an Güte, treu und schlicht, Und reichen Lohn auch hat ihm Gott beschert: Der mit der Not geweint — mehr hatt' er nicht —, Ihm ward sein einz'ger Wunsch, ein Freund, gewährt. Nicht weiter forscht nach seiner Tugend nun, Stellt seine Mängel nicht dem Tadel bloß: Voll banger Hoffnung laßt sie beide ruhn In seines Gottes, seines Vaters Schoß.
Wenn es richtig ist, daß der Dichter durch seine Kunst alltägliche Gedanken und Empfindungen in die Sphäre des Einmaligen und Ungewöhnlichen zu erheben und die in uns schlummernde Musik der Gefühle zum Tönen zu bringen hat, so ist dies in der vollendeten Ausdrucksgestalt dieser Dichtung erreicht. Mit Naturstimmungen von starker Eindruckswirkung hebt sie an (Vers 5 ff., 13 fr., 17 fr.), mit kleinen Szenen von konkreter Anschaulichkeit (iff., 9fr., 21 ff., 25 ff.). Dann folgt die breite Ausführlichkeit, mit der der einsame Kirchhofsbesucher, der Zeit zum Grübeln hat, sich das Leben und Denken der bescheidenen Gräberinsassen ausmalt, schließlich die Selbstbetrachtung des Dichters mit einem deutlichen Vorklang der Romantik in dem Hang zur Einsamkeit, zur Seelenzwiesprache mit der Natur (93—108) und mit der Schlußwendung ins Religiöse (128). Ihm, der mit der Not weinen konnte, ist „der große Wurf gelungen, eines Freundes Freund zu sein", um mit Schiller zu preisen, und das ist Gottes Lohn. Gefühlsstärke, gepaart mit zuchtvoller Verhaltenheit; Schönheit des stillen Heroismus eines einfachen Lebens, wie es später Wordsworth — der freilich aus Gründen der Diktion gegen Gray eingenommen war — als eigentlichen Gegenstand der Poesie fordert. Was dem Gedicht in erster Linie seinen wundersamen Zauber verleiht, ist der vollendete Einklang von Gehalt und Gestalt, der gemessene Rhythmus, die erhabene Monotonie, die der echten Trauer entspricht. Eine schlicht gebaute, vierzeilige Strophe mit abwechselnden Reimen, deren Verse man nicht anders als langsam und nachdenklich sprechen kann, mit nur wenigen Satzübergriffen von Zeile zu Zeile — man nennt sie seither Elegienstanze —, ein musikalisches Schweben des dünnen und doch in der Stille so eindrucksvollen Bim-Bam-Geläutes des Kirchenglöckleins: zehn Vokale in der Eingangszeile, die in wechselnder Modulation immer wiederkehren; dunkler Vokalklang in Vers 3 und 10, dazwischen hell klingendes Käferschwirren in Vers 7; die ein unterdrücktes Gähnen des müden Pflügers malende Anlautwirkung des „weary way" (3), die Schweigen gebietenden s-Laute (6), das feierlich gleitende viersilbige „solitary" des alten Eulennestes (12), das Durcheinander heller und dunkler Glöckchen der heimkehrenden Herde (8). Musikalische Eindrucksmittel, die natürlich nur im englischen Originaltext zur Wirkung kommen, durchziehen das ganze Gedicht, neben den kunstvollen Vokalharmonien in erster Linie der fast im Übermaß gebrauchte Stabreim. Immer soll der Wortsinn zum Klang erhoben werden. So etwa das Zwitschern der Schwalbe: „The swallow twittering from the strawbuilt shed" (18); das schrille Krähen des Hahns: „The cock's shrill clarion" (19); die malenden 1-Laute bei sehnsuchtsvoller Rückschau: „Nor cast one longing lingering look behind" (38); das Mitgefühl mit dem gequälten Dichter in den klagenden wLauten: „Now drooping, woeful-wan, like one forlorn" (107); der seelische Mißton 18*
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V. Die Wiederentdeckung der Seele
der scharfen k-Anlaute: „Or crazed with care, or crossed in hopeless love" (108). Fast jede einzelne Strophe liefert Beispiele solcher Klangmalerei. Der Ausdruck ist erhaben, gewählt, oft ganz im Stil der klassizistischen „poetischen Diktion": gewählte Worte wie „sire" (23), „swain" (97), erhabene Metaphorik (69— 72). Auch abstrakte Begriffe wie Ehrgeiz, Größe, Stolz, Wissen, Wahrheit, Vergessen, Reichtum verraten die klassizistische Schule, daneben aber sinnlich-konkrete Bilder das neue Schauen, die originale Beobachtung; entrückte Reflexion wechselt mit naher Wirklichkeitsempfindung, zuchtvolles Maßhalten bändigt das starke Gefühl. Nach dem Zeugnis des Literarhistorikers Leslie Stephen hat die Elegie der englischen Sprache mehr landläufige Redensarten geliefert als irgendeine andre Dichtung von gleicher Länge; am bekanntesten ist wohl das „Far from the Madding Crowd" (73), das Thomas Hardy zum Titel eines seiner großen Romane gemacht hat. Wir sehen überall Saatkörner der kommenden Zeit, neues Leben und Fühlen, aber nicht revolutionär, sondern in Verbindung mit dem Alten. Die Kultur des Maßes ist vereint mit den Gefühlskräften neuer Jugend. Es ist eine Poesie der Mitte, die wohl die höchste Höhe, die Vermählung klassischer Leuchtkraft und romantischen Gefühlsüberschwanges, nicht erreicht, die aber den „sense of proportion" besitzt, die Bilder und Gleichnisse in lebendige Vorstellungen umzusetzen versteht und eine Sprache des Wohllauts, des Rhythmus, der Dynamik redet, die Stimmung atmet, allseitige Phantasie-Sinnlichkeit verrät. Goldsmiths Landprediger von Wakefield Dem freundlichen Dorf Wakefield fehlen drei Voraussetzungen für Laster und Unfrieden, seitdem Dr. Primrose sein Seelsorger ist: ein hochmütiger Pfarrer, junge Männer ohne tüchtige Frauen und Kneipen, die nach Kunden verlangen. So geht das Sprichwort in der behaglich zufriedenen Gemeinde, wie uns der Pfarrer zu Beginn seiner von ihm selbst erzählten Schicksale mitteilt. Sein Einkommen beträgt 3 5 Pfund, seine Familie zählt „nur" sechs Kinder. Glück und Liebe herrschen in dieser bescheidenen Umwelt, man pflegt freundlichen Verkehr mit den Nachbarn, das wenige Geld erlaubt sogar Gastfreundschaft und milde Gaben an Bedürftige. Eines Tages aber kommt ein schwerer Schlag: der Kaufmann, dem der Pfarrer sein kleines Vermögen anvertraut hat, macht Bankrott; alles ist verloren gerade in dem Augenblick, als der älteste Sohn George sich mit der einem angesehenen und wohlhabenden Haus angehörenden Arabella Wilmot verloben will. Der Verlust des Vermögens bestimmt den Vater der Braut, seine Einwilligung zu versagen. Primrose fühlt, daß er Wakefield verlassen muß. Er entschließt sich, eine kleine Pfarrstelle mit 15 Pfund Gehalt in einem entlegenen Dorf anzunehmen. Auf dem Wege dorthin hört er den Namen seines künftigen Patrons, des in der ganzen Gegend als gütig und freigebig bekannten Gutsherrn. Sir William Thornhill steht in hohem Ruf, ist aber auch wegen gelegentlicher seltsamer Anwandlungen bekannt. Gerade eben hat er sich mit nicht genanntem Ziel entfernt und dem Neffen die Verwaltung der Güter überlassen. Das alles berichtet Mr. Burchell, dessen Bekanntschaft die Pfarrersfamilie auf der Landstraße macht. So kommt man voll bester Erwartungen in der neuen Gemeinde an. Nach dieser müßte der Pfarrer eigentlich benannt werden; der Dichter aber hat ihn nach dem ersten Kirchspiel, dem Platz seines stillen Glücks, als den Prediger von Wakefield eingeführt. Frau Primrose ist dem guten Gatten eine treue Gefährtin, dabei etwas simpel, stolz auf den eigenen Stachelbeerwein, der allen Gästen kredenzt wird, eine liebende Mutter, die namentlich darauf bedacht ist, die beiden erwachsenen Töchter Olivia und Sophia bald unter die Haube zu bringen; von den guten Partien andrer Töchter aus der Nachbarschaft wird viel geredet. Dr. Primrose hat neben seinen Amtspflichten
Oliver Goldsmiths Landprediger von Wakefield
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auch literarischen Ehrgeiz: er hat eine Reihe von Traktaten über die Monogamie geschrieben. Der junge Gutsherr Thornhill erweist mit einigen Stadtfreunden der neuen Pfarrersfamilie die Ehre seines Besuches, wobei man ehrsam über moralische Themen spricht. Das Glück des kleinen Familienkreises scheint vollkommen zu sein. Man macht kleine Ausflüge in die anmutige Natur, man hat Freude an dem Vortrag der neu in Mode gekommenen Balladen, man pflegt eine harmonische Unterhaltung, oft mit dem klugen Herrn Burchell. Der Gutsherr wiederholt seine Besuche und führt auch zwei feine Damen ein, die sehr aristokratisch tun; die eine wird mit „Your Ladyship" angeredet und spricht von einer Gräfin und hohen Offizieren als ihrem vertrauten Umgang — „Flausen!" setzt der Erzähler dahinter. Die vornehmen Gäste erbieten sich, Olivia und Sophia in die Gesellschaft hochstehender und studierter Leute einzuführen. Um das Geld dafür herbeizuschaffen, schickt Primrose den jüngeren Sohn Moses auf den Markt, um das Fohlen zu verkaufen. Als der Junge heimkommt, bringt er zwar kein Geld, dafür aber ein Gros grüner Brillen, die ihm ein Schlauberger als angeblich wertvoll aufgeschwatzt hat. Der Pfarrer will nun selbst sein einziges Pferd verkaufen; er wird es los, das Geld aber auch durch einen Schwindler Ephraim Jenkinson. Die Reise in die Stadt wird durch irgendeinen Neider der Familie vereitelt, und man glaubt bald einen triftigen Grund zu haben, in diesem heimlichen Feind Herrn Burchell zu erkennen. Thornhill macht den Pfarrerstöchtern tüchtig den Hof, besonders der älteren, Olivia. Sie war dem tüchtigen, schlichten jungen Bauern Williams als Gattin zugedacht. Das billigt der Gutsherr nicht; sie sei zu etwas Höherem geboren, was die Mutter nicht ungern hört. Man freut sich aber doch auf die nahe Hochzeit; Moses kann eine humoristische Ballade auf einen tollen Hund vortragen. Eines Tages ist Olivia plötzlich verschwunden. Ein Herr, der sie küßte, hat sie entführt. Der bekümmerte Pfarrer macht sich sofort auf die Suche nach seinem Kind. Auf der Reise schließt er neue Bekanntschaften, mit denen er Gespräche über Politik, Literatur und Moral führen kann. Bei einer fahrenden Schauspielertruppe entdeckt er seinen seit drei Jahren verschollenen Sohn George, der in der Welt herumgekommen ist und sich schließlich als kleiner Schriftsteller sein Brot verdient hat. Unter den Leuten, mit denen George zusammengekommen ist, war auch Thornhill, der ihn dazu anstiftete, an seiner Stelle mit dem Vater eines von dem Gutsherrn verführten Mädchens ein Duell auszufechten. So gibt es einen langen Bericht kummervoller Erlebnisse. George aber muß den Gasthof bald wieder verlassen. Thornhill hat ihm ein Fähnrichspatent in einem Regiment besorgt, mit dem er in den Krieg zu ziehen hat. In einem anderen Gasthaus wird Dr. Primrose Zeuge eines heftigen Auftritts, bei dem eine junge Frauensperson, die nicht bezahlen kann, von der Wirtin mißhandelt wird. Es ist die gesuchte Olivia! Der Vater schließt das arme Kind beglückt in seine Arme. Er verzeiht ihr ihren Fehltritt. Der Verführer war niemand anders als Thornhill, die angeblich vornehmen Damen waren zwei niedrige Mädchen aus seiner Lumpengesellschaft; man hört, daß der Verführer schon wiederholt „verheiratet" gewesen sein soll. Als der Pfarrer mit dem wiedergefundenen Kind nach Hause kommt, sieht er sein Haus in Flammen. Alles ist verloren, er kann gerade noch die beiden jüngsten Kinder retten. Primrose aber ist dankbar und gottergeben: die ganze Familie lebt! Da erscheint Thornhill auf der Bildfläche. Er will Fräulein Wilmot heiraten und schlägt dem Pfarrer vor, Olivia einem andern Manne zu geben; er wolle trotzdem ihr Liebhaber bleiben. Entrüstet weist Primrose die Zumutung ab, er fordert die Ehe mit dem Verführer. Nun dreht der schlimme Gutsherr den Spieß um: zornig verlangt er die volle Mietzahlung für ein ganzes Jahr. Der Pfarrer kann das Geld nicht aufbringen und wird ins Gefängnis geworfen. Die Familie begleitet ihn dorthin, viele Gemeindemitglieder,
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und gerade die ärmsten, geben ihm mitfühlend das Geleit. Im Gefängnis beginnt der wackere Gottesmann sofort seine seelsorgerische Tätigkeit. Er wird zwar anfänglich gehänselt und verlacht, bald aber andächtig angehört. Da trifft ihn ein neuer Schlag: Olivia ist tot! Er ist gebrochen und erklärt sich bereit, den Gutsherrn um Verzeihung zu bitten und seiner Heirat mit Arabella Wilmot nicht im Wege zu stehen. Die Prüfungen sind aber noch nicht zu Ende: Sophia ist entführt worden, der Sohn George, von dem ihm eben gerade gute Nachrichten überbracht wurden, wird blutüberströmt und zerzaust herbeigeschleppt I In diesem Elend offenbart sich die ganze sittliche Größe des schlichten Mannes: „Nun bin ich über diese Welt hinausgehoben". Er hält eine tiefinnerliche Predigt über die Religion, die eine höhere Trösterin sei als alle Philosophie. Bald wendet sich alles zum Guten. Burchell hat Sophia aus dem Wagen des Entführers befreit und bringt sie herbei. Der gütige Freund, in dem die Pfarrersfamilie ihren Gegner vermutete, ist kein andrer als der menschenfreundliche Sir William Thornhill. Er hat den Entführungsplan seines wüsten Neffen vereitelt, er hat mit Wissen der Frau Primrose Olivia als tot ausgegeben, um den Pfarrer zur Nachgiebigkeit zu bewegen und die Befreiung aus dem Gefängnis zu erwirken. Olivia lebt also! Jenkinson, der Helfershelfer des jungen Thornhill, hat in Wahrheit dessen Schurkereien durchschaut und vereitelt. An Stelle der Scheinheirat mit Olivia, die mit falschem Eheschein und falschem Priester bewerkstelligt werden sollte, hat er eine echte Heirat veranlaßt. So ist Olivias Ehre gerettet, Thornhill kann die reiche Erbin Wilmot nicht heimführen, Arabella kann vielmehr ihren alten Geliebten, George Primrose, zum Gatten nehmen, und der Pfarrer gibt um so lieber sein Jawort, als es sich herausstellt, daß der Bankrott des Kaufmanns betrügerisch war und er sein Vermögen zurückerhält. Sir William Thornhill wirbt um Sophia und macht sie zur Lady Thornhill. Der Baronet beschenkt Jenkinson, die Dienerschaft und auch die früheren Mitgefangenen des Pfarrers. Eine seltsame Reihe von Gestalten und Geschehnissen, wenn man den Inhalt des nicht umfangreichen Romans so in schlichter Form nacherzählt hört. Wir sehen gute und böse Menschen, zum Teil in primitiver Schwarz-Weiß-Zeichnung, wir sollen das Unwahrscheinlichste glauben. Der in der ganzen Gegend bekannte und verehrte Gutsherr Sir William Thornhill geht unter dem Namen Burchell als Fremder ein und aus und wird doch von niemand erkannt, obgleich sein Neffe häufiger Gast des Pfarrers ist; in seinem ersten Bericht über die eigene Familie und die Gutsverwaltung (Kapitel III) fällt er bei der Erwähnung des Sir William versehentlich aus der dritten in die erste Person, also aus dem „er" in das „ich", und gefährdet damit sein Inkognito. Seine Ehrlichkeit wird gröblich verkannt, während die Schurkerei des Neffen und das affektierte Gebaren der von ihm eingeführten angeblichen Aristokratinnen alle blenden und der armen Olivia das Verderben bringen. Der Zufall waltet wunderlich: der Doktor findet auf seiner Suche nach Olivia nicht nur sie, sondern gleich noch den seit Jahren verschollenen Sohn. Donnerschlag folgt auf Donnerschlag, und dann ebenso schnell die Aufheiterung des Gewölks und die frohe Gewißheit, daß viele schlimme Erlebnisse nur Mißverständnisse waren, schließlich das glückliche, reichlich rührselige Ende. Hat Macaulay recht, wenn er die Fabel eine der schlechtesten nennt, die jemals konstruiert wurden? Wie erklärt sich der ungeheure Erfolg des Romans, der nur mit dem des „Robinson Crusoe" verglichen werden kann? Herder empfahl ihn in zwei Briefen an seine Braut in den höchsten Tönen: Ich lese ihn jetzt wohl schon zum vierten Male. Er ist eins der schönsten Bücher, die in irgendeiner Sprache existieren . . . Als Roman hat er viel Fehlerhaftes, als ein Buch menschlicher Gesichter, Launen, Charaktere und, was am schönsten ist, menschlicher Herzen und Herzenssprüche will ich für jede Seite so viel geben, als das Buch kostet.
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O l i v e r G o l d s m i t h (1728;—1774) war einer der liebenswürdigsten Schriftsteller und zugleich einer der wunderlichsten Käuze seiner Zeit. Das irische Pfarrhaus, dem er entstammte, hat ihm viel für die Umgebung seiner Primrose-Familie, sein eigenes Leben viel für die Schicksale des vagabundierenden George Primrose gegeben. Arm und ohne rechtes Streben schlug er sich durch Schule und Universität hindurch, versuchte es in mehreren Studienfächern plan- und erfolglos, bis er schließlich bei der Medizin landete, ohne es aber auch in ihr zu einer gründlichen Ausbildung zu bringen. Eine große Reise durch europäische Länder, auf der er sich sein kärgliches Brot mit Flötenspielen verdiente, weitete sein Wissen und seinen Gesichtskreis, bis er schließlich als kleiner Tagesschriftsteller anfing und nach und nach zu dem Ruhm eines großen Dichters aufstieg und die Freundschaft der geistigen Führer errang. Zwei lange Gedichte kulturphilosophischen Inhalts, „Der Wanderer" und „Das verlassene D o r f " , trugen in erster Linie dazu bei, auch zwei noch heute gespielte Lustspiele, eine große Anzahl Essays und eine Reihe historischer Werke. Gutmütig und wohltätig bis zur Selbstlosigkeit, eitel und reizbar, geistvoll in seinen Schriften, aber ungewandt im Gespräch, sorglos im Geldausgeben, führte er das Leben eines richtigen literarischen Bohemien bis zu seinem frühen Tode im 46. Lebensjahr. Dr. Samuel Johnson berichtet uns, daß Goldsmith eines Tages zu ihm geschickt habe, da er in großer Not sei; seine Wirtin, der er die Miete schuldig war, habe ihm eine große Szene gemacht und die Polizei gerufen. Johnson gab dem Boten eine Guinea und versprach sofort selbst zu kommen. Als er ins Zimmer trat, hatte Goldsmith das Geld bereits gewechselt und eine Flasche Madeira vor sich stehen. Man sprach über die Möglichkeit, das Geld für die Miete zu beschaffen. Da zeigte Goldsmith einen fertigen Roman vor, dessen Wert der große Kritiker sogleich erkannte und für den er sofort bei einem Verleger 60 Pfund erzielte. Die Miete wurde bezahlt; Goldsmith schalt die hartherzige Wirtin tüchtig aus, nach einer anderen Version soll er sie zu einem Glas Punsch eingeladen haben. Der rettende Roman war „Der Landprediger von Wakefield", der 1766 erschien, zuerst wenig beachtet wurde, dann aber daheim und in Deutschland seinen Siegeszug zum Weltruhm antrat. Die Mitte des 18. Jahrhunderts war die Geburtszeit des englischen und überhaupt des modernen Romans. Auf die Anfangsstellung des „Robinson Crusoe" konnte schon hingewiesen werden. Die echte Menschen- und Lebenscharakteristik der moralischen Wochenschriften mit ihrem Sinn für die Dinge des Alltags ermöglichte den Roman als reifere Form künstlerischer Lebensdeutung, das bürgerliche Zeitalter lenkte das Interesse auf die Menschen und Verhältnisse der bürgerlichen Welt, die aus der Erfahrungsphilosophie erwachsene psychologische Beobachtung auf die Nachzeichnung seelischer Vorgänge. Samuel Richardson brachte den wirklichen Roman im Sinne einer Seelenstudie an der Hand realer Erlebnisse. Er war der Dichter des weiblichen Herzens, der rührenden inneren Erlebnisse, des verfeinerten Dialogs. Weit aufgeschlossener für alle Seiten des Lebens, für das Menschentum seiner Zeit, war Henry Fielding, unsentimental, realistisch und mit gesundem Sinn für Humor. In seinem „Joseph Andrews" zeichnet er bereits eine Art Vorlage für Dr. Primrose, den gutmütigen, armen, oft geprellten, aber immer versöhnlichen Pfarrer Adams, und sein Meisterwerk „Tom Jones" entwirft in den Irrungen und Wirrungen eines abenteuerlichen Lebens eine Fülle echt geschauter Gestalten, ein Welt- und Menschenbild, hinter dem Herzensgüte steht. Das große Erzählertalent des Tobias Smollett schafft Typen aus dem Seemannsleben, eigenartige Käuze und verschlungene Schicksalswege, Lawrence Sterne in seinem Hauptwerk,, Tristram Shandy" die Humanisierung komisch-ernster Gestalten mit feiner Individualisierungskunst, mit Verlegung des Abenteuers in das Innerseelische, wodurch bereits eine Reaktion gegen die eigentliche Aufklärung angebahnt wird. Die Form des Romans war geprägt. Die Themen entsprachen
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dem Interesse der Aufklärung, der Welt des Alltags, dem Verkehr der Menschen miteinander, der Sittlichkeit und Schicklichkeit. Porträtstudien, Charakterisierung durch den Dialog, das Verhalten in ungewöhnlichen Situationen bildeten den Hauptgegenstand. In diese geistige Umgebung gehört Goldsmiths ursprünglich als Idylle gedachtes, dann aber zum Roman ausgeweitetes Werk. Aus dem Grundgefühl der Zeit muß auch das verstanden werden, was wir zu Eingang als Unwahrscheinlichkeiten und allzu gefälliges Spiel des Zufalls feststellten. Die Tradition des Abenteuerromans, dem es nur auf abwechslungsreiches Geschehen und auf Überraschungen ohne Beziehung auf das Seelische ankam, wirkte nach, das Verhalten und die Bewährung des Menschen in absonderlichen Situationen und denkerisch überspitzten Verhältnissen, wie sie die Umwertungen in Swifts „Gulliver" in der abstraktesten Form boten, entsprachen der rationalistischen Haltung. Das Studium des Menschen war auch hier das Hauptanliegen; ein Realismus, der das Leben in seinen alltäglichen Vorgängen nachzeichnet und die allzu auffallende Konstruktion als wirklichkeitsfern ablehnt, wie wir es von unserm heutigen Gefühl aus zu tun geneigt sind, war gar nicht beabsichtigt. Auch die großen Romane eines Fielding und Smollett sind voll von Überraschungen und seltsamen Situationen, und die schnelle Aufeinanderfolge fällt uns bei Goldsmith nur um so mehr auf, als hier die kürzere Form die Dinge zusammendrängt. Die Wirkung auf den Menschen und seine Reaktion auf die Ereignisse, in dem Ton eines frischen Fabulierens vorgetragen, stehen im Vordergrund. Hierin liegt die Größe des Werkes, die die Zeitgenossen als eine neue Offenbarung empfanden; die aufklärerische Neigung zum moralisch Lehrhaften bildet den Hintergrund. „Sperate, miseri; cavete, felices" (Hoffet, ihr Elenden; seid auf der Hut, ihr Glücklichen) setzte der Dichter als Motto vor sein Werk, und die Vorbemerkung lautet: Es gibt hundert Fehler in dem, was hier geboten wird, und hundert Dinge erweisen sich vielleicht als Schönheiten. Das ist aber alles nutzlos. Ein Buch mag mit hundert Irrtümern amüsant oder aber ohne eine einzige Unsinnigkeit langweilig sein. Der Held dieser Erzählung vereinigt in sich die drei größten Charaktere auf Erden: er ist Priester, Landmann und Familienvater; er ist gezeichnet als einer, der gerne lehrt und gerne gehorcht, schlicht im Reichtum und groß im Unglück. Wem kann ein solcher Charakter in dieser Zeit des Überflusses und der Verfeinerung gefallen? Wer das vornehme Leben liebt, wird sich mit Verachtung von der Einfachheit seines ländlichen Herdes abwenden. Wer in unzüchtigen Reden Humor findet, wird in seinen harmlosen Gesprächen keinen Witz finden, und wer über Religion zu spotten gewohnt ist, wird über einen Mann lachen, der seine Tröstungen aus dem zukünftigen Leben gewinnt. Goethe lernte den „Landprediger" durch Herder gerade in der Zeit kennen, als er das Glück seiner Liebe zu Friederike Brion erleben sollte, und fühlte das Idyll des Sesenheimer Pfarrhauses verklärt durch die kleine Welt der Familie Primrose („Dichtung und Wahrheit", 10. Buch): Ein protestantischer Geistlicher ist vielleicht der schönste Gegenstand einer modernen Idylle; er erscheint, wie Melchisedek, als Priester und König in einer Person. An den unschuldigsten Zustand, der sich auf Erden denken läßt, an den der Ackermanns, ist er meistens durch gleiche Beschäftigung sowie durch gleiche Familienverhältnisse geknüpft; er ist Vater, Hausherr, Landmann und so vollkommen ein Glied der Gemeinde. Auf diesem reinen, schönen, irdischen Grunde ruht sein höherer Beruf; ihm ist übergeben, die Menschen ins Leben zu führen, für ihre geistige Erziehung zu sorgen, sie bei allen Hauptepochen ihres Daseins zu segnen, sie zu belehren, zu kräftigen, zu trösten und, wenn der Trost für die Gegenwart nicht ausreicht, die Hoffnung einer glücklicheren Zukunft heranzurufen und zu verbürgen. Denke man sich einen solchen Mann mit rein menschlichen Gesinnungen, stark genug, um unter keinen Um-
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ständen davon zu weichen, und schon dadurch über die Menge erhaben, von der man Reinheit und Festigkeit nicht erwarten kann; gebe man ihm die zu seinem Amte nötigen Kenntnisse sowie eine heitere, gleiche Tätigkeit, welche sogar leidenschaftlich ist, indem sie keinen Augenblick versäumt, das Gute zu wirken — und man wird ihn wohl ausgestattet haben. Zugleich aber füge man die nötige Beschränktheit hinzu, daß er nicht allein in seinem Kreise verharren, sondern auch allenfalls in einen kleineren übergehen möge; man verleihe ihm Gutmütigkeit, Versöhnlichkeit, Standhaftigkeit und was sonst noch aus einem entschiedenen Charakter Löbliches hervorspringt, und über dies alles eine heitere Nachgiebigkeit und lächelnde Duldung eigner und fremder Fehler: so hat man das Bild unseres trefflichen Wakefield so ziemlich beisammen. — Die Darstellung dieses Charakters auf seinem Lebensgange durch Freuden und Leiden, das immer wachsende Interesse der Fabel durch Verbindung des ganz Natürlichen mit dem Sonderbaren und Seltsamen macht diesen Roman zu einem der besten, die je geschrieben wurden, der überdies noch den großen Vorzug hat, daß er ganz sittlich ist, die Belohnung des guten Willens, des Beharrens bei dem Rechten darstellt, das unbedingte Zutrauen auf Gott bestätigt und den endlichen Triumph des Guten über das Böse beglaubigt, und dies alles ohne eine Spur von Frömmelei oder Pedantismus. Vor beiden hatte den Verfasser der hohe Sinn bewahrt, der sich hier durchgängig als Ironie zeigt, wodurch dieses Werkchen uns ebenso weise als liebenswürdig entgegenkommen muß. Der Verfasser, Doktor Goldsmith, hat ohne Frage große Einsicht in die moralische Welt, in ihren Wert und in ihre Gebrechen; aber zugleich mag er nur dankbar anerkennen, daß er ein Engländer ist, und die Vorteile, die ihm sein Land, seine Nation darbietet, hoch anrechnen. Die Familie, mit deren Schilderung er sich beschäftigt, steht auf einer der letzten Stufen des bürgerlichen Behagens, und doch kommt sie mit dem Höchsten in Berührung; ihr enger Kreis, der sich noch mehr verengt, greift durch den natürlichen und bürgerlichen Lauf der Dinge in die große Welt mit ein; auf der reichen, bewegten Woge des englischen Lebens schwimmt dieser kleine Kahn, und in Wohl und Weh hat er Schaden oder Hilfe von der ungeheuren Flotte zu erwarten, die um ihn hersegelt. — Ich kann voraussetzen, daß meine Leser dieses Werk kennen und im Gedächtnis haben; wer es zuerst hier nennen hört, so wie der, welcher angeregt wird, es wieder zu lesen, beide werden mir danken. Für jene bemerke ich nur im Vorübergehn, daß des Landgeistlichen Hausfrau von der tätigen, guten Art ist, die es sich und den ihrigen an nichts fehlen läßt, aber auch dafür auf sich und die ihrigen etwas einbildisch ist. Zwei Töchter, Olivia, schön und mehr nach außen, Sophie, reizend und mehr nach innen gesinnt; einen fleißigen, dem Vater nacheifernden, etwas herben Sohn, Moses, will ich zu nennen nicht unterlassen. Die Bedeutsamkeit dieses Zeugnisses für die Wirkung des Buches auf die jungen Führer unserer zu ihrer höchsten Blüte erwachenden Dichtung mag die Länge des Zitats rechtfertigen. Die Kunst der Milieuzeichnung hatte es Goethe angetan, als er die Sesenheimer Eindrücke immer wieder in den Rahmen der Kleinbilder Goldsmiths faßte und bei dem Auftauchen des jüngeren Sohnes des Pfarrers Brion kaum den Ruf vinterdrücken konnte: Moses, bist du auch da! Der Geist von Goldsmiths Vaterhaus schwebt als milder Genius über der feinen Wirklichkeitszeichnung. Das gottgesegnete Dasein im „mittleren" Lebenskreise wird als Hort der Tugend und Zufriedenheit gepriesen wie im „Robinson Crusoe". Es ist erlebte Wirklichkeit, anschaulich geschildert und aus verklärender Erinnerung nachempfunden, Familienfreude und die auch in dem Gedicht „Der Wanderer" gewonnene Überzeugung, daß das Glück in der Brust des Menschen wohnt und von dem äußeren Ergehen unabhängig ist. Diese hier zum erstenmal erreichte Kunst ist der eigentliche Grund für die weitreichende Wirkung des Romans. Der bejahende Optimismus des Zeitalters, der Glaube an die beste der Welten und an eine alles zum Guten wendende Vorsehung, der der damals gerade beginnenden Weltschmerzstimmung entgegensteht, wird durch die warme Herzlichkeit vertieft zum beglückten Genießen der Gemütlichkeit.
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Our family dined in the field, and we sate, or rather inclined, round a temperate repast, our cloth spread upon the hay, while Mr. Burchell gave cheerfulness to the feast. To heighten our satisfaction, two blackbirds answered each other from opposite hedges, the familiar red-breast came and pecked the crumbs from our hands, and every sound seemed but the echo of tranquillity. (Kap. VIII)
Die ganze Familie nahm auf dem Feld das Mittagessen ein; wir saßen oder besser wir lehnten uns um eine bescheidene Mahlzeit, das Tischtuch auf Heu ausgebreitet, und Herr Burchell steuerte Frohsinn zu dem Fest bei. Um unser Behagen zu erhöhen, sangen sich zwei Amseln aus gegenüberliegenden Hecken an, das vertraute Rotkehlchen flog herbei und pickte Krumen aus unsrer Hand, und jeder Laut kam uns vor wie ein Echo der Stille.
Das Wesen des Pfarrers strahlt Güte aus, die im Herzen wohnt. Wenn er das Glück des einfachen Familienkreises empfindet, möchte er Gäste haben, die an ihm teilnehmen können; der Fehltritt der ältesten Tochter trifft ihn tief, entlockt ihm aber nur den verzeihenden Ausruf, er wolle sie bei der Rückkehr mit um so größerer Liebe in die Arme schließen; gestrauchelte Menschen wie die Mitgefangenen bleiben doch vor allem Menschen und verdienen besonders viel Liebe; er kann den mit grünen Augengläsern auf dem Markt übertölpelten Moses nicht schelten wie die praktisch denkende Gattin, sondern nur begütigend antworten, kupferne Brillen seien immer noch besser als gar keine; seine Gefängnispredigt über das Gute und Böse ist von tiefer Eindringlichkeit und rührt selbst an die verhärtetesten Herzen; sein Gottvertrauen bleibt in allen Lagen unerschüttert; eine angeborene Heiterkeit — „Jeder Morgen weckte uns zu der immer gleichen Mühsal, aber der Abend belohnte uns mit unbekümmertem Frohsinn" — gibt ihm Standhaftigkeit und läßt ihn im Unglück wachsen. Seine Frömmigkeit hat bei alledem nichts von finsterer puritanischer Strenge, sie ist verstehend und duldsam. Durch einen milden Humor macht der Dichter den Menschen lebenswahr. Das literarische Steckenpferd der Schriften über Monogamie ist schrullenhaft, eine gewisse pedantische Spießbürgerlichkeit macht den Menschen, der nicht mehr sein will als er ist, um so liebenswerter. Hier formt sich der Typus, in dem der englische Durchschnittsleser fortan sich am liebsten selbst erkannte: ein gering entwickelter Intellekt, ein milder Utilitarismus, klare Haltung und moralische Grundsätze im Leben, eine freie Herzlichkeit, dazu ein paar harmlose Schwächen, eine kleine Eitelkeit oder Laune, die einen individuellen Zug verleiht, ohne in Selbstsucht abzuirren. Sonniger Humor umgibt namentlich die Gestalt der geistig einfachen Pfarrersfrau: ihr Stolz auf ihren Stachelbeerwein, ihre Sorge um die baldige Versorgung der Töchter, ein Schuß Eitelkeit und Putzsucht, ihr Adelsfimmel und Hereinfallen auf vornehmes Getue, das berechnete Lob der Hausfraulichkeit Olivias gegenüber dem feinen Liebhaber, ihr Wunsch, auf einem versprochenen Gemälde als Venus mit den beiden jüngsten Kindern als Cupidos dargestellt zu werden — das alles gibt einem Original die Rundung und arbeitet der Porträtkunst eines Dickens vor. Es ist verständlich, daß die Lebensanschauung des soliden Geistlichen behaglich konservativ ist. Die Welt ist gut geordnet; warum sollte man sie anders wünschen? Als er im Gespräch das laute Lob der Freiheit und des Rechts des Volkes auf Kritik oder gar Absetzung des Staatsoberhauptes hört, fragt er bestürzt, ob der Sprecher denn den König nicht verehre; das Rechtssystem ist gut, sollte aber mit Liebe und Besserungsabsicht gehandhabt werden; die Gesellschaftsordnung muß sein, jeder bleibe in seinem eigenen Kreise; die für die junge Generation altmodisch gewordenen Dichter Dryden und Otway sind seine Klassiker, die Wendung des Geschmacks zu Shakespeare und seinen Zeitgenossen versteht er nicht. Daneben aber leben in dem ganzen Werk mit seiner Parteinahme gegen die korrupte vornehme Welt und der Meinung von der sittlichen Unschuld der einfachen Menschen eine demokratische Haltung, das neue Suchen nach Natürlichkeit, die Freude an den durch Percy er-
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weckten alten Balladen. Die Sprache hat noch viel von der alten Feierlichkeit, der Neigung zu abstrakten Verallgemeinerungen, den Sinn für Maß und Rhythmus, dabei aber auch echte Ursprünglichkeit, Abneigung gegen Überladung mit Beiwörtern, herzlichen Humor. Sie atmet echtes Gefühl, aus dem die Menschen leben, ein Suchen nach den echten Werten des Menschentums, Reaktion der Einfachheit gegen alle Künstlichkeit und frivole Verfeinerung. Es ist das erste Meisterwerk einer Zeichnung des häuslichen Glücks, der erste Familienroman, nach Herders Urteil „von der Seite der Laune, des Charakters, des Lehrreichen ein rechtes Buch der Menschheit". Volkslyrik: Robert Burns In Grays Kirchhofselegie vernehmen wir die Sprache des Herzens, die Naturbild und Empfindung zu einer Stimmung verweben kann. James Thomson gab in einer langen Dichtung über die Jahreszeiten unmittelbar geschaute Bilder und Szenen, in denen das Große in der Natur als neue Schönheitswelt offenbart wird, und der innerlichere William Cowper fühlte mit religiöser Mystik eine Seele in allem Geschaffenen und die Verbrüderung des Menschen mit Bäumen, Blumen und Tieren. Die stimmungsgewaltigen alten Volksballaden wurden zu neuem Leben erweckt, alte Hymnen aus keltischer Vorzeit nachgedichtet und nacherlebt. Die Zeit war mit ihrer Abkehr von aller konventionellen Künstelei reif für eine Wiedergeburt echter Lyrik, die aus der Wahrheit innerlichen Erlebens quoll und die schlichte Sprache des Gefühls zu sprechen verstand; es bedurfte nur des großen Dichters, der in dem Volke seiner Heimat wurzelte und mit ihm singen und sagen konnte. Dieser Dichter erstand in R o b e r t B u r n s (1759—1796). Eine ärmliche Bauernhütte in der südschottischen Grafschaft Ayr, deren düstere Schönheit nicht durch wilde Romantik, sondern durch Moor und Heide, durch gewundene Flußläufe, durch Nebel und Härte bestimmt wird, war sein Geburtshaus. Hinter dem Pflug dichtete der talentvolle Jüngling seine ersten Lieder, im engen Vaterhaus hörte er viel von alten Gesängen und schottischer Heldensage, und eifrige Lektüre ersetzte das, was an geregelter Schulbildung fehlte. Der Vater versuchte sein Glück als Bauer auf mehreren Pachthöfen; er konnte aber den Sorgen und Mißerfolgen nicht entgehen und erlag der Schwindsucht. Der Sohn pachtete selbst mit einem Bruder einen Hof, fand aber in der Einsamkeit und Kleinlichkeit der Umgebung und in der inneren Unruhe seiner Liebesabenteuer keine Zufriedenheit; der Becher mußte oft den Mißmut dämpfen, die Auswanderung nach Westindien sollte Erlösung bringen. Da brachte der gewaltige Erfolg der ersten Auflage seiner Gedichte den Umschwung. Die Hauptstadt Edinburg feierte ihn als großen Dichter, Einladungen stürzten ihn in den Strudel des gesellschaftlichen Lebens, bis ihn der Überdruß wieder hinaustrieb. Er heiratete die Mutter seiner Kinder, wurde wieder ein erfolgloser Pächter und erhielt dazu die Stelle eines Steuererhebers, die ihm unaufhörliche Plackereien eintrug, immer mehr dem Wirtshaus zuführte und nach einem Zerwürfnis mit seinen Vorgesetzten mit der Lösung des Vertrages endigte. Not, Verzweiflung und zerrüttete Gesundheit brachten das frühzeitige Ende. Er starb mit 37 Jahren, anscheinend an der in der Familie erblichen Schwindsucht. Die Trauer seines ganzen Volkes und militärisches Gepränge bei der Bestattung ehrten den, der im Leben als Landwirt erfolglos, um so erfolgreicher aber als leidenschaftlicher Liebhaber, als fröhlicher Zecher und geistvoller Unterhalter, vor allem aber als wirklicher Volksdichter gewesen war. Goethe zitiert aus Carlyles warmherziger Würdigung: Eine Seele wie Äolsharfe, deren Saiten, vom gemeinsten Winde berührt, ihn zu gesetzlicher Melodie verwandelten. Und ein solcher Mann war es, für den die Welt kein schicklicher Geschäft zu finden wußte, als sich mit Schmugglern und Schenken herum-
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zuzanken, Akzise auf den Talg zu berechnen und Bierfässer zu visieren. In solchem Abmühen ward dieser mächtige Geist kummervoll vergeudet, und hundert Jahre mögen vorübergehen, eh uns ein gleicher gegeben wird, um ihn vielleicht abermals zu vergeuden. Das Schottland seiner Zeit war bestimmt durch puritanische Düsterkeit, fanatische Sittenstrenge und orthodox-kirchliche Despotie, das sogenannte Alte Licht, gegen das dann, von der Edinburger Universität ausgehend, eine rationalistische, lebensfreudigere Religiosität als Neues Licht aufstand. Burns hatte Umgang mit Geistlichen dieser neuen Richtung u n d lieh der Bewegung das Feuer seines Temperaments. In politischer Hinsicht hing das Volk an seiner alten, unglücklichen Stuartdynastie, und auch Burns blieb der Sänger des Bonnie Prince Charlie; später begeisterte er sich für die Menschheitsideale der französischen Revolution. Ein demokratischer Z u g lebt in seiner Dichtung, ein Gefühl für Freiheit, f ü r den Wert auch des einfachen Menschentums und f ü r die menschliche Gleichheit: Is there, for honest poverty, That hangs his head, and a' that? The coward-slave, we pass him by, We dare be poor for a' that 1 For a' that, and a' that, Our toil's obscure, and a' that; The rank is but the guinea-stamp, The man's the gowd for a' that! What tho' on hamely fare we dine, Wear hoddin grey, and a' that; Gie fools their silks, and knaves their wine, A man's a man, for a' that 1 For a' that, and a' that, Their tinsel show, and a' that; The honest man, though e'er so poor, Is king o' men for a' that! Ye see yon birkie, ca'd — a lord, What struts, and stares, and a' that; Though hundreds worship at his word, He's but a coof for a' that: For a' that, and a' that, His riband, star, and a' that, The man of independent mind He looks and laughs at a' that. A king can mak a belted knight, A marquis, duke, and a' that; But an honest man's aboon his might, Guid faith he mauna fa' that! For a' that, and a' that, Their dignities, and a' that, The pith o' sense, and pride o' worth, Are higher ranks than a' that. Then let us pray that come it may— As come it will for a' that— That sense and worth, o'er a' the earth, May bear the gree, and a' that; For a' that, and a' that, It's comin' yet for a' that, That man to man, the warld o'er, Shall brothers be for a' that!
Ob Armut euer Los auch sei, Hebt hoch die Stirn, trotz alledem! Geht kühn dem feigen Knecht vorbei; Wagt's, arm zu sein trotz alledem! Trotz alledem und alledem. Trotz niederm Pack und alledem; Der Rang ist das Gepräge nur, Der Mann das Gold trotz alledem! Und sitzt ihr auch beim kargen Mahl In Zwilch und Lein und alledem, Gönnt Schurken Samt und Goldpokal — Ein Mann ist Mann trotz alledem 1 Trotz alledem und alledem, Trotz Prunk und Pracht und alledem! Der brave Mann, wie dürftig auch, Ist König doch trotz alledem! Heißt „gnäd'ger Herr" dasBürschchen dort, Man sieht's am Stolz und alledem; Doch lenkt auch Hunderte sein Wort, 's ist nur ein Tropf trotz alledem! Trotz alledem und alledem, Trotz Band und Stern und alledem! Der Mann von unabhäng'gem Sinn Sieht zu und lacht trotz alledem! Ein Fürst macht Ritter, wenn er spricht, Mit Sporn und Schild und alledem: Den braven Mann kreiert er nicht, Der steht zu hoch trotz alledem I Trotz alledem und alledem, Trotz Würdenschnack und alledem — Des innern Wertes stolz Gefühl Läuft doch den Rang ab alledem! Drum jeder fleh', daß es gescheh', Wie es geschieht trotz alledem, Daß Wert und Kern, so nah wie fern, Den Sieg erringt trotz alledem! Trotz alledem und alledem, Es kommt dazu trotz alledem, Daß rings der Mensch die Bruderhand Dem Menschen reicht trotz alledem!
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Das Lied entstand nicht viel mehr als ein Jahr vor dem Tode des Dichters, der es dem Liedersammler George Thomson mit den Worten übersandte: „Ich gebe Ihnen das vorstehende Lied nicht für Ihr Buch, sondern nur als ,vive la bagatelle'; denn das Stück ist nicht wahre Poesie." Es ist aber die kräftige Trutzrede eines Mannes, der sich gegen die Welt durchsetzt, ein Ausdruck der ihm von Geburt an im Blute liegenden und durch die französische Revolution zur Reife gebrachten Uberzeugung von dem Wert der rechtschaffenen Persönlichkeit. Der innere Adel stammt von Gott, kein König kann ihn verleihen; der weltliche Rang ist nichts als das Gepräge, der Mann selbst aber das Gold. Darum tragt eure Armut stolz, bewahrt euch den unabhängigen Sinn, sorgt für den inneren Wert; dann werden doch einmal sich alle Menschen die Bruderhand reichen. Das sind die neuen Ideale, die gesellschaftliche Seite des Kampfes gegen Konvention und für die wahre Natur, mit der das Ende des Jahrhunderts die Würde des freien, selbstbewußten Menschentums proklamiert. Burns spricht die derbe Sprache einer unkritischen Massenempfindung und Auflehnung; da ist kein individualisierender Zug, alles bleibt in den naheliegenden und typischen Vorstellungen des Gegensatzes von arm und reich — karges Mahl, ärmliche Kleidung, Plackerei gegen Prunk und Pracht, Rang und Titel und „Würdenschnack". Das Original bringt durch die mundartlich-volkstümliche Färbving die in dem einprägsamen Marschtempo liegende aufrüttelnde Wirkung noch stärker zum Ausdruck als die Nachdichtung Freiligraths; der aus der alten Balladenstrophe vertraute und dem Volk aus dem Schatz seiner Lieder im Ohr liegende Wechsel vier- und dreihebiger Verse wirkt hier klarer und kräftiger. Es ist ein echtes Revolutionslied, dessen trutziger Kehrreim „For a' that and a' that" lebendig geblieben ist. Die Seelengröße eines einfachen Menschentums empfindet der Dichter in seinem schottischen Volkstum, dem er das Hohe Lied in dem erhabenen Gedicht Des Häuslers Samstagabend (The Cotter's Saturday Night) singt. My lov'd, my honour'd, much rbspected friend! No mercenary bard his homage pays; With honest pride, I scorn each selfish end, My dearest meed, a friend's esteem and praise. To you I sing, in simple Scottish lays, The lowly train in life's sequester'd scene; The native feelings strong, the guileless ways; What Aiken in a cottage would have been; Ahl tho' his worth unknown, far happier there, I ween! An einem rauhen Novemberabend kommt der müde Bauer von der Landarbeit heim, schirrt die schmutzbedeckten Pferde vom Pflug ab, stellt die Geräte in den Schuppen und begibt sich in die im Schatten eines alten Baumes stehende bescheidene Hütte, wo ihn der saubere Herd mit wärmendem Feuer, die ihm munter entgegeneilenden Kinder und die fleißige Frau erwarten. Brüder und Schwestern begrüßen sich freudig und erzählen ihre kleinen Erlebnisse den Eltern. Die Mutter hört bei ihrer Näharbeit teilnehmend zu, der Vater gibt manchen ernsten Rat: tut von früh bis spät eure Pflicht, vertraut auf den Schöpfer, meidet die Versuchung. Die zur blühenden Jungfrau erwachsene Älteste führt den tüchtigen Nachbarsohn herein, das Glück der jungen Liebe teilt sich als zarter Zauber der ganzen Familie mit. In heiterer Laune setzt man sich zum Abendessen nieder, dessen Hauptgericht der kräftige Haferbrei, das schottische Nationalgericht, bildet. Nach dem Essen setzen sich alle im Halbkreis um den Vater, der die alte ererbte Familienbibel herbeiholt, ehrerbietig sein Haupt entblößt und feierlich einen Choral anstimmt. Dann liest der priesterliche Alte, dem die puritanische Haushierarchie den Platz des ehrfurchtheischenden Oberhauptes zuweist, aus der Schrift von Abrahams Erhöhung, von Moses, Hiob und Jesaia und anderen Pro-
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pheten des Alten Bundes, auch von dem Gekreu2igten und der Erlösung der Menschheit. E r kniet nieder und schließt die feierliche Stunde mit einem Gebet. W i e arm ist im Vergleich mit dieser schlichten Hausfeier der prunkvolle Gottesdienst großer Gemeinden, wie unbedeutend der Pomp der Kirchengesänge und Priesterkleider! D i e Kinder gehen zu Bett, die Alten bleiben noch sinnend beieinander mit Bittgedanken für Haus und Ernte. Die Schilderung dieser schlichten Zufriedenheit schließt mit Gedanken an das Vaterland: auf solchen Menschen ruht deine Stärke, mein Schottland, das alte Schottland eines Wallace; möge es sich immer den frommen Sinn und die stolze Bescheidenheit bewahren und in Generationen weiter gedeihen! Das traute Heim der eigenen Kindheit erhebt der Dichter zu ergreifender Größe. Die selbstbewußte Sicherheit, die die Würde der Arbeit kennt, lebt in diesem der Scholle verbundenen, frommen Bauerntum; dem „honest pride" der Eingangsstrophe ist die Dichtung gewidmet. N u r die liebevolle Einfühlung des Mannes aus dem Volke konnte die Andacht einer schottischen Sabbatfeier, die aus dem Stimmungskern des „ L a ß t uns zu Gott beten" erwächst, über das Allgemein-Menschliche erhöhen und wie in Goethes „Hermann und Dorothea" den Ausblick auf das große Vaterland eröffnen. Die kunstvolle, gemessene Spenserstanze und die klare Ruhe einer noch ganz klassizistischen Wortwahl erheben die schlichte Alltäglichkeit zu einer feierlichen Erhabenheit und atmen den Geist v o n Grays Kirchhofselegie, an die uns schon ein paar als Motto vorangestellte Zeilen erinnern. Eine solche Tiefe des Gefühls für die schlichte Würde einfacher Menschen spricht auch aus dem schönsten Gedicht auf die eheliche Liebe eines in hartem Leben alt gewordenen Paares, dem schlicht-innigen John Anderson : John Anderson, my jo, John, When we were first acquent, Your locks were like the raven, Your bonnie brow was brent; But now your brow is beld, John, Your locks are like the snaw; But blessings on your frosty pow, John Anderson, my jo.
John Anderson, mein Lieb, John, Als ich zuerst dich sah, Wie schwarz war deine Locke, Wie frisch dein Antlitz dal . Nun ist dein Haar schneeweiß, John, Dein Auge matt und trüb; Doch Segen auf dein greises Haupt, John Anderson, mein Liebl
John Anderson, my jo, John, We clamb the hill thegither; And mony a canty day, John, We've had wi' ane anither: Now we maun totter down, John, But hand in hand we'll go; And sleep thegither at the foot, John Anderson, my jo.
John Anderson, mein Lieb, John, In muntrem, frohem Gang Erklommen wir selbander Den steilen Bergeshang. Und mag es nun hinabgehn, Wenn Hand in Hand nur blieb, Dann schlafen wir vereint am Fuß, John Anderson, mein Liebl
Die alte Frau hat das Bild des jungen Gatten lebendig vor sich: so sahst du einstmals aus, und so bist du jetzt; gesegnet sei dein altes Haupt. Die Gedanken gehen zurück in die Vergangenheit. Es war ein stetiges Bergaufsteigen. N u n wackeln wir langsam bergab — „ N o w we maun totter down, John", so heißt es plastischer im englischen Text — , Hand in Hand, und wenn wir unten sind, dann wollen wir uns gemeinsam zur Ruhe begeben. Ein zartes, rührendes Bild, unsentimental, wie echte Volkskunst ist, in schlichtesten Strichen gezeichnet. Die Innigkeit des alten Mütterchens spricht aus der immer wiederholten Anrede mit dem geliebten Namen, wobei das alte volkstümliche Mittel des Zeilen- und Wortrefrains „John Anderson, my jo, John" — mit besonderer Feinheit verwendet wird, gewissermaßen liebkosend, streichelnd. Ein packendes Bild in wenigen Versen, nur scheinbar ein Einzelerlebnis, in Wahrheit ein
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an jeden Menschen rührendes Allgemeingefühl mit Gedanken des natürlichen Daseins. Das ist echter Volksliedton. Die schottische Heimat bietet dem Dichter Gegenstand zum Dichten und Singen, wo er nur hinschaut. Die lustigen Bettler im Wirtshaus, der Gottesdienst im Freien, zankende Seelenhirten, eine Pfarrereinsegnung, die Volksgebräuche am Allerheiligentage, der Teufelsglaube, der träge Nebel, die Flüsse Ayr und Doon mit ihren Ufern und Brücken — heitere und ernste Stimmungen in Natur und Menschenleben in buntester Fülle; dazu die lebendige Erinnerung an die Helden der heimischen Geschichte wie in der herrlichen, die eherne Entschlossenheit einer kraftvollen Persönlichkeit offenbarenden Ansprache des Robert Bruce an seine Truppen vor der Schlacht bei Bannockburn, die zu den edelsten Schöpfungen in schottischer Sprache gehört. „So möge Gott immer die Sache der Wahrheit und Freiheit schützen, wie er es an jenem Tage tat", setzte der Dichter unter seine Verse. Man kann sie nur im Original voll würdigen, weil keine Übertragung dem harten, stoßenden Gang der endungsarmen Sprache gerecht werden kann. Nicht wie Sätze einer Rede, sondern wie kurze, fanfarenmäßige Zurufe des vor der Front stehenden Feldherrn klingen die harten Vierheber mit den stumpfen Versausgängen, der Gleichförmigkeit des Dreierreims und der Atempause der folgenden Kurzzeile, deren Reimgleichheit in allen Strophen Refrainwirkung enthält. Das ist fest, ernst, hart wie das Geschehen, zu dem es aufrufen will — Tod oder Sieg: Scots, wha hae wi' Wallace bled, Scots, wham Bruce has aften led, Welcome to your gory bed, Or to Victorie!
Schotten, die mit Wallace stritten, Schotten, die mit Bruce gelitten, Auf! ins Heldengrab geschritten Oder in ein Morgenrot!
Now's the day, and now's the hour; See the front o' battle lour; See approach proud Edward's pow'r Chains and slaveriel
Heute muß der Würfel fallen. Hört die Schlachttrompeten schallen! Seht, wie Edwards Banner wallen, Der mit Joch und Fesseln droht!
Wha will be a traitor-knave? Wha can fill a coward's grave? Wha sae base as be a slave? Let him turn andfleeI
Lassest du dein Land verderben, Willst du als ein Feigling sterben, Willst du um die Knechtschaft werben • Flieh, Verräter, haft' am Kot!
Wha for Scotland's king and law, Freedom's sword will strongly draw, Free-man stand, or Free-man fa'? Let him follow mel
Wer jedoch für Recht und Ehre Kräftig schwingt der Freiheit Wehre, Frei, und ob's im Tod nur wäre, Halte treu zum Aufgebot.
By Oppression's woes and pains 1 By your sons in servile chains I We will drain our dearest veins, But they shall be freel
Bei den schnöden Henkerstätten! Bei den droh'nden Sklavenketten! Können wir uns selbst nicht retten, Laßt uns wehren künft'ger Not!
Lay the proud usurpers low 1 Tyrants fall in every foe! Liberty's in every blow! — Let us do, or die I
Auf dennl In den Feindesleichen Muß die Tyrannei erbleichen; Freiheit wohnt in euren Streichen, Sieg! ist Losung — oder Tod!
Das ist des Dichters Schottland, in dessen Bergen sein Herz weilt, wie es das uns durch zahlreiche Übertragungen wohl vertrauteste seiner Lieder kündet: „Mein Herz ist im Hochland, mein Herz ist nicht hier": ganz schlichter Ausdruck einer ele-
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gischen Stimmung, einfachste Sätze, Wiederaufnahme von Worten, die wie ein Echo aus dem Hochland klingen. Da leben sagenhafte Gestalten wie Tarn o' Shanter, der trotz der guten Ratschläge seiner Frau nicht rechtzeitig vor Mitternacht aus dem Wirtshaus im Marktstädtchen nach Hause finden kann, durch die dunkle Nacht reiten muß, neugierig in die hell erleuchtete Kirche hineinschaut und dort die Hexen um ihren dudelsackspielenden Meister, den Teufel, tanzen sieht. Den Lauscher packt die Lustigkeit, so daß er sich verrät. Da stürmt der Hexenschwarm hinter ihm her, in der atemlosen Hast des Rittes immer bedrohlicher werdend, bis Tarn die Doonbrücke erreicht. Er ist gerettet, nur den Schwanz des Pferdes, der über das andere Brückenende ragt, kann eine der Hexen noch ausreißen. Der zugleich gruselige und lustige Vorgang wird in einer meisterhaften Ballade vorgetragen, in einer atemberaubenden Hast des Rhythmus, von dem die Anfangsverse des Originals einen Eindruck geben mögen: O Tam! hadst thou but been sae wise, When chapman billies leave the street, As ta'en thy ain wife Kate's advice I An' drouthy neebors neebors meet, She tauld thee weel thou wast a skellum, As market-days are wearin' late, A bletherin', blusterin', drunken blellum; An' folk begin to tak' the gate; That frae November till October While we sit bousing at the nappy, Ae market-day thou was na sober; An'-gettin' fou an' unco happy, That ilka melder, wi' the miller, We think na on the lang Scots miles, Thou sat as lang as thou had siller; The mosses, waters, slaps, an' styles, That ev'ry naig was ca'd a shoe on, That lie between us an' our hame, The smith and thee gat roarin' fou on; Whare sits our sulky sullen dame, Gath'rin her brows like gath'rin' storm, That at the L — d's house, ev'n on Sunday, Nursin' her wrath to keep it warm. Thou drank wi' Kirkton Jean till Monday. She prophesy'd that, late or soon, Thou wad be found deep drown'd in Doon! This truth fand honest Tam o' Shanter, Or catch'd wi' warlocks i' the mirk As he frae Ayr ae night did canter. By Alloway's auld haunted kirk. (Auld Ayr, wham ne'er a town surpasses, For honest men an' bonny lasses.) So rast es weiter im gesprächigen Bänkelsängerton, mit warnenden Zwischenrufen des Erzählers, mit urwüchsiger Schilderung des Spuks und lähmenden Entsetzens, mit plastischer Anschaulichkeit des Hexentanzes und des wilden Rittes bis zu dem moralisierenden Schluß: Now, wha this tale o' truth shall read, Ilk man and mother's son, take heed: Whane'er to drink you are inclin'd, Or cutty-sarks run i' your mind, Think 1 ye may buy the joys o'er dear — Remember Tam o' Shanter's mare. Auch zum fröhlichen Zechgesang kann die Ballade werden, kunstgerecht in der alten Balladenstrophe, wie in dem von Goethe hoch gepriesenen Gedicht Hans Gerstenkorn (John Barleycorn) : Drei Könige waren einst im Ost, There were three kings into the east, Weit waltet ihr Gebot; Three kings both great and high; An' they ha'e swore a solemn oath Die schworen hoch und feierlich John Barleycorn should die. Hans Gerstenkorn den Tod. They took a plough and plough'd him down, Put clods upon his head; And they ha'e swore a solemn oath John Barleycorn was dead.
Sie pflügten ihn im Acker ein, Sein Haupt bedeckt mit Kot; Sie schwuren hoch und feierlich, Hans Gerstenkorn sei tot.
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Der milde Lenz mit seinem Regen läßt aber den Vergrabenen wieder auferstehen, die Sommerhitze läßt ihn wachsen, der Herbst knickt ihm das Knie und senkt sein Haupt. Die Feinde kommen mit scharfem Stahl, hauen und stechen, schlagen und schütteln ihn, werfen ihn ins Wasser, lassen sein Mark am Feuer dörren, bis der Müller ihn grausam zwischen Mühlsteinen zerquetscht. Sein Herzblut trinken die bösen Gesellen bei hellem Gläserklingen und werden immer seliger. So geht es jedem, der das Blut des edlen Ritters Gerstenkorn schlürft. 'Twill make a man forget his woe; 'Twill heighten all his joy: 'Twill make the widow's heart to sing, Tho' the tear were in her eye.
Vergessen macht es Mannes Weh, Erhöht all seine Lust, Macht singen, ob die Trän' im Aug' Ihr seht, der Witwe Brust.
Then let us toast John Barleycorn, Each man a glass in hand; And may his great posterity Ne'er fail in old Scotland I
Drum lebe hoch, Hans Gerstenkorn! Die Gläser nehmt zur Handl Sein edler Same fehle nie Im alten Schottenland!
Innig, gesund, frei von Schwärmerei, frei von Cowpers sentimentaler Reflexion sind die Naturbilder. Der Bauer Burns, der mit der Natur verwachsen ist, kennt die braune Erdscholle, die Formen der Steine und Farben der Blumen, das Leuchten der Baumwipfel im Sonnenuntergang, die Schleier des Nebels, das Pfeifen des Dezemberschnees, er kennt vor allem die Tiere draußen und im Stall und porträtiert sie wie Einzelwesen. Das Freundschaftsverhältnis, das Mensch und Tier zu Kameraden in Freud und Leid macht, hat wohl nirgends einen natürlicheren, von aller Weichlichkeit freieren Ausdruck gefunden. Das Pflügerdasein läßt den Dichter Katastrophen in der Pflanzen- und Tierwelt von derselben Grausamkeit wie im Menschenleben schauen. Dem Maßliebchen, das er beim Pflügen durchschneiden mußte, widmet er einen herzlichen Nachruf. Das zierliche Blümchen, weiß und rot, demutsvoll zwischen Erde und Stein und nicht im geputzten Garten lebend, hebt, wenn der rauhe Nordwind nicht mehr bläst, den Busen zu der Sonne Schein. Nun hat der Pflüger, der es nicht beachtete, das anspruchslose kleine Leben zerstört. So geht es mancher liebenden Maid, die ihre Träume zerrinnen sieht, so geht es dem wandernden Barden, den schließlich der Sturm der Welt vernichtet, so geht es dem rechtschaffenen Mann, der sich in Not und Qual und Spott aufrecht behauptet und im Vertrauen auf Gott untergeht. Ein anderes Mal weckt eine Maus, die die Pflugschar in ihrem Nest aufwarf, ähnliche Empfindungen. Das arme Tier erschrickt und flieht. Warum eigentlich? Es ist freilich begreiflich: „Wie oft zerreißt des Menschen Hand Der Schöpfung brüderliches Band". Nun ist das Häuslein roh zerstört, das soviel Mühe gekostet hat, nun ist das winzige Tier dem kalten Winter preisgegeben. Vorsicht kann bei Maus und Mann oft vergeblich sein. Aber das Mäuslein ist doch noch glücklicher als der Dichter: es trauert nur heute und ist morgen wieder froh, während der Mensch beim Rückwärtsschauen in die Vergangenheit und beim Vorwärtsschauen in die Zukunft nur Schmerz und Hoffnungslosigkeit findet. Die Liebe drückte dem Dichter während seines ganzen Lebens die Leier in die Hand. Er war der Bauernbursche mit frischem, sinnlichem Impuls, der nach der ländlichen Sitte im Verkehr der Geschlechter zu seinem Mädel in die Kammer oder hinter den Zaun schlich und seine Peggy, Nancy, Anne, Jean oder Mary immer wieder besang, er war ein fröhlicher und nicht ungern gesehener Herzensdieb wie sein Findlay: Wha is that at my bower door? O, wha is it but Findlay? Then gae yere gate, ye'se nae be here! — Indeed, maun I, quo' Findlay. 19 Die Stimmen der Meister
Wer ist draußen an der Tür? Wer wird's sein als Findlay? Geh', hast nichts zu suchen hier! O gar viel, sprach Findlay.
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What mak ye sae like a thief? O come and see, quo' Findlay; Before the morn ye'll work mischief — Indeed will I, quo' Findlay.
Was beginnst du, Diebskumpan? Komm und sieh, sprach Findlay; Stellst gewiß noch Unfug an; Ganz gewiß, sprach Findlay.
Gif I rise and let ye in? — Let me in, quo' Findlay; Ye'll keep me waukin wi' your din — Indeed will I, quo' Findlay. In my bower if ye should stay? Let me stay, quo' Findlay; I fear ye'll bide till break o' day — Indeed will I, quo' Findlay.
Ständ' ich auf und ließ dich ein — Laß mich ein, sprach Findlay; Hieltst mich wach mit Plauderein; Mag wohl sein, sprach Findlay. Wärst du im geborgnen Raum — Wär' ichs nur! sprach Findlay; Gingst du wohl vor Morgen kaum; Freilich kaum, sprach Findlay.
Here this night if ye remain; — I'll remain, quo' Findlay. I dread ye'll ken the gate again; — Indeed will I, quo' Findlay. What may pass within this bower, — Let it pass, quo' Fndlay; Ye maun conceal till yoiur last hour! — Indeed will I, quo' Findlay.
Wenn du dableibst diese Nacht — Ja, ich bleib', sprach Findlay; Leicht wird's öfter so gemacht; Gar zu leicht, sprach Findlay. Doch was hier geschehen mag — Mag's geschehn, sprach Findlay; Keiner Menschenseele sag'; Nicht ein Wort, sprach Findlay.
Es ist unmöglich, von dem Reichtum der Stimmungen, Situationen und Ausdrucksformen dieser Liebeslyrik durch Proben eine Vorstellung zu geben. Immer wieder ergreift der Verliebte den Augenblick, immer wieder bannt er die glückliche Stunde oder die schmerzliche Sehnsucht und Trauer, scheinbar mühelos gelingen ihm vollendete Gebilde aus echtem und unkompliziertem Erleben, von spielerischer Ausgelassenheit bis zu dem Thema „Mein Herz ist schwer", himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt, Kabinettstücke nach Wort, Rhythmus, Metrum. Das vollendete Liebesgedicht widmet er seinem Hochlandmädchen, der ihm durch einen frühen Tod entrissenen, unsterblich gewordenen Mary Campbell, deren Liebe ihn ein paar Wochen lang tief beglückte. Eine edle, gefaßte Trauer spricht aus den Strophen An Marie im Himmel (To Mary in Heaven). Thou ling'ring star, with less'ning ray, That lov'st to greet the early morn, Again thou usher'st in the day My Mary from my soul was torn. O Mary! dear departed shade! Where is thy place of blissful rest? Seest thou thy lover lowly laid? Hear'st thou the groans that rend his breast? That sacred hour can I forget? Can I forget the hallowed grove, Where by the winding Ayr we met, To live one day of parting love? Eternity will not efface Those records dear of transports past; Thy image at our last embrace; Ah! little thought we 'twas our last!
Du später Stern, der noch den Schlag Der Lerche grüßt mit sanftem Schimmer, Aufs neue trittst du in den Tag, Der mir Marie entriß für immer. Marie, verklärter, teurer Geist, Wo hat dein Flug dich hingetragen? Siehst du den Liebsten so verwaist? Vernimmst du seine bittern Klagen? Nie werd' ich jenen heil'gen Ort, Nie den geweihten Tag vergessen, An dem wir abschiednehmend dort Am trauten Strand des Ayr gesessen. Es wird mich lebhaft immerdar An deinen letzten Kuß gemahnen; O Gott, daß es der letzte war, Wie mochten wir es damals ahnen?
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Ayr, gurgling, kiss'd his pebbled shore, O'erhung with wild woods, thick'ning green; The fragrant birch, and hawthorn hoar, Twin'd am'rous round the raptur'd scene; The flow'rs sprang wanton to be prest, The birds sang love on every spray — Till too, too soon, the glowing west, Proclaim'd the speed of winged day.
Die Wellen küßten weich den Strand, Von grünen Zweigen überhangen,
Still o'er these scenes my mem'ry wakes, And fondly broods with miser care! Time but th' impression stronger makes, As streams their channels deeper wear. My Mary, dear departed shade! Where is thy place of blissful rest? See'st thou thy lover lowly laid? Hear'st thou the groans that rend his breast?
Nun folg' ich jener Stunden Spur, Ihr Glück und Wehe nachzufühlen; Die Zeit verstärkt den Eindruck nur, Wie Ströme stets sich tiefer wühlen. Marie, verklärter, teurer Geist, Wo hat dein Flug dich hingetragen? Siehst du den Liebsten so verwaist? Vernimmst du seine bittern Klagen?
Die, wie von Leidenschaft entbrannt, Sich zärtlich ineinander schlangen. Die Knospen lechzten aufzublühn, Die Vögel sangen liebestrunken, Bis allzufrüh des Westens Glühn Bezeugte, daß der Tag versunken.
Die Übertragung vermag natürlich die feineren Stimmungswerte der Wortwahl, der langsam gleitenden Mehrsilbler, der Vokalmusik, der sehnsuchtmalenden 1-Stabreime und andrer Formmittel nicht wiederzugeben; sie sind nur in dem Original vernehmbar. Wir sind mit diesen Beispielen schon in die Gruppe der Lieder geraten, die uns noch mehr als die Gedichte in den Wesenskern der Burnsschen Muse führen. Einen begeisterten Verehrer der altschottischen Lieder nennt sich der Dichter in einem Brief. Das alte überlieferte Bruchstück „Should auld acquaintance be forgot?" zeuge von einem vom Himmel entflammten Dichter und enthalte mehr von dem Feuer echten Nationalgeistes als ein halbes Dutzend moderner englischer Bacchanale. Aus dem großen Liederschatz des sangesfrohen Volkes der Schotten hatten im 18. Jahrhundert bereits Allan Ramsay und Robert Fergusson vieles im Original und in Nachdichtungen ans Licht gezogen. Burns folgte ihren Spuren und lieferte Beiträge für zwei von den Edinburger Musikverlegern James Johnson und George Thomson veranstalteten Sammlungen. Er dichtete oder bearbeitete nicht weniger als rund 350 Liedertexte. Mit klarem Bewußtsein stellte er im Fortgang seines Lebens seine lyrische Kunst in den Dienst dieses leidenschaftlich erfaßten Gedankens einer Hebung und Reinigung des nationalen Liederschatzes. Als echter Volksdichter wollte er das gemeinschaftfördernde Volkslied wieder neu schaffen, er, der so rein und tief mit den Fröhlichen fröhlich, mit den Bedrückten ernst sein, mit den Heimatliebenden erglühen konnte. Die Größe des Gedankens und die Durchführung durch einen wahrhaft großen Dichter ist gewaltig. Kein Volk hat dem Burnsschen Liederwerk an Umfang, technischer Vollendung und einem das Empfinden auch der schlichtesten Menschen anrührenden Ton etwas Gleichartiges an die Seite zu stellen, kein Dichter wurzelt tiefer in den Herzen seiner Landsleute. Noch heute gibt das alte „Auld lang syne" in England die Schlußverbrüderung jeder Geselligkeit ab: Should auld acquaintance be forgot, And never brought to min'? Should auld acquaintance be forgot, And days o' lang syne? For auld lang syne, my dear, For auld lang syne, We'll tak a cup o' kindness yet, For auld lang syne! 19*
Soll alte Freundschaft untergehn Im Schoß der Vergessenheit? Soll je zerstieben, je verwehn Das Bild der alten Zeit? Nein, auf die alte Zeit stoß an, Auf die liebe, alte Zeit! Laß klingen den Becher, so voll er kann, Auf die liebe, alte Zeit!
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Die Melodie ist bei dem musikalischen Dichter, der unter mehreren vorhandenen Weisen die gefälligste zu wählen verstand, stets der Ausgangspunkt. Ein alter Reim, eine geträllerte Tonfolge aus den alten, längst fragmentarisch gewordenen alten Liedern liegt ihm im Ohr; daraus erwächst ihm durch stilgerechte eigene Hinzufügung ein ganzes Stück. In den nördlichen Bergschluchten wurden vielfach abgewandelte Strophen eines Liedes Coming through the rye nach einer uns bekannten, langsamen Melodie mit charakteristischen Synkopen gesungen, etwa die Strophe: Gin a body meet a body Coming through the broom, Gin a body kiss a body— Need a body gloom? Ilka body has a body, Fient a ane hae I, But twa 'r three lads they lo'e me weel, And what the waur am I ? Die alten Klänge formt der Dichter zu dem Lied: Gin a body meet a body—Coming through the rye, poor body, Coming through the rye, Coming through the rye, Gin a body kiss a body— She draiglet a' her petticoatie, Coming through the rye. Need a body cry? Oh Jenny's a' wet, poor body, Jenny's seldom dry; She draiglet a' her petticoatie, Coming through the rye.
Gin a body meet a body Coming through the glen, Gin a body kiss a body— Need the warld ken?
Oh Jenny's a' wet, poor body; Jenny's seldom dry; She draiglet a' her petticoatie, Coming through the rye. Das Thema vom Bauernburschen und seinem Mädchen wird nicht mit individueller Empfindung behandelt, sondern als einfacher, unsentimentaler Gefühlsausdruck, wie er für jeden verliebten Burschen brauchbar ist. Das ist Volkston, sangbar und mit einer gewissen Freude am klingenden, oft lustigen Vers („petticoatie"). Derartiges wird schnell zum Volkslied, das den Namen des Dichters nicht mehr nennt. So ist auch das berühmte „Mein Herz ist im Hochland" entstanden: aus einem alten Liede, das ihm gefällt, nimmt der Dichter die dritte Strophe, macht sie zur ersten und fügt zwei neue hinzu. Ein ganz schlichter Ausdruck elegischer Sehnsucht, einfachste Sätze, Wiederaufnahme von Worten, die wie ein Echo aus dem Hochland klingen, nichts Gedankliches, keine schmückenden Beiwörter, nichts mit dem Dichterauge individuell Geschautes, nur die jedem vertrauten Bilder von Wald und Hügeln und Rotwild, von schneebedeckten Gipfeln, von Tälern, von Felsen, Flüssen, von bemoosten Klippen und schäumender See. Aus fröhlicher Seele sprudelt die von jedem jungen Verliebten erlebte Empfindung: My Luve is like a red, red rose, Mein Lieb, das ist ein Röslein rund, That's newly Sprung in June; Ein Röslein rot im Mai, O, my Luve is like the melody Und jedes Wort aus ihrem Mund That's sweetly play'd in tune. Ist süße Melodei.
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As fair thou art, my bonnie lass, So deep in luve am I; And I will luve thee still, my dear, Till a' the seas gang dry.
So schön bist du, mein Lieb, so sehr, So sehr bin ich verliebt, Will lieben dich, bis es im Meer Kein Tröpflein Wasser gibt;
Till a' the seas gang dry, my dear, And the rocks melt wi' the sun; And I will luve thee still, my dear, While the sands o' life shall run.
Bis alle Felsen an dem Strand Wie Eis zerflossen sind; In meiner Lebensuhr der Sand, Mein Leben, nicht mehr rinnt.
And fare thee well, my only Luve! And fare thee well a-whilel And I will come again, my Luve, Tho' it were ten thousand milel
Und nun ade, du liebes Aug', Ade für eine Zeit. Ich komme wieder, war' ich auch Zehntausend Meilen weit.
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Auch hier nichts Einmaliges und Persönliches, nur das alte und ewig neue Lied vom Mai, von roten Rosen, von Glück und Scheiden, von Treue bis in den Tod. Solche Lyrik, die durch musikalische Wirkung die Herzen mitschwingen läßt, ist im tiefsten Sinne unübersetzbar, wie der Vergleich mit dem Original zeigt. Die Wiederholungen (Str. 1, Z. 1 und 3; Str. 2, Z. 3 und Str. 3, Z. 3; Str. 2, Z. 4 und Str. 3, Z. 1 ; Str. 4, Z. 1 und 2) unterstreichen den Rhythmus, das gefühlvoll klingende Wort „love" liegt dem Liebenden immer wieder auf der Zunge, die Anrede „my love" und „my dear" wird in ihrer schlichten Herzlichkeit nicht gewechselt. Das Wort „rocks" fällt hart hinein (Str. 3, Z. 2), eine feine Bewegtheit bringt ein gelegentlich zweisilbiger Auftakt (Str. 3, Z. 2 und 4), eine Schau in räumliche Breite schließt in der letzten Zeile die Tiefe des Gefühls ab. Das alles ist innere Musik der Sprache, die sich der Melodie ungezwungen darbietet. Mit solchen Liedern lebt Burns in seiner Heimat als Volksdichter fort, sie kann man überall hören: „ Y e banks and braes o' bonny Doon", „Flow gently, sweet Afton", „The lovely lass of Inverness", „Wae is my heart, and the tear's in my e'e", „ G o , fetch me a pint o' wine And fill it in a silver tassie" usw. Die Verwendung der Mundart macht bei der Lektüre der Originaltexte das den landläufigen Ausgaben beigefügte Glossar notwendig, selbst für Engländer, die das Schottische nicht kennen. Der Dichter sprach von Kind an die Mundart der schottischen Niederlande. Er schrieb in seinen Gedichten auch Hochenglisch, das er als die Sprache der Würde, des Verstandes empfand. In der Mehrzahl seiner Dichtungen aber und ganz besonders in den Liedern, die aus der Wirklichkeitswelt erwachsen sind, bediente er sich des schottischen Literaturdialekts, einer zwar nicht dem Alltagsdialekt entsprechenden, aber durch viele Worte mundartlich gefärbten Form, die man Halbschottisch (Semi-Scots) nennt. Sie gibt namentlich durch die Verkleinerungsformen — „bonny lassie, laddie, glassie, petticoatie" — und Verkürzungen — „ w i \ o', startin', tho', an', a', gie'" — einschmeichelnde und dem Volk vertraute Klänge. So werden die Worte der Nährboden für die Sangbarkeit. Die metrische Form ist gefeilt bis zur schlichtesten Natürlichkeit. Burns gehört zu den ersten Verskünstlern seiner Literatur. Formenglätte und Stildisziplin bezeugen die klassizistische Schule, ebenso der klare Realismus, der das Dämmerlicht, das Romantisch-Visionäre nicht kennt; es ist eine ausgesprochen unromantische Kunst. Sie verkörpert aber doch die eine Seite der durch die Romantik bewirkten Wiedergeburt des Irrationalen, nämlich die Seite, die der Poesie die Schönheit des volkstümlich-schlichten Kollektivausdrucks wieder zugeführt hat. Burns ist der erste große Erlebnisdichter Englands in dem Sinne, wie Goethe das Wort Gelegenheitsgedicht auf die aus persönlichen und wirklichen Anlässen entspringende Dichtung anwendet. Und er ist gleichzeitig der erste Demokrat der englischen Lyrik, der unbekümmert um die Meinung der großen Welt
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von den Freuden und Leiden der einfachen Menschen und ihrer Umgebung im Reich der Pflanzen und Tiere singt, der ganz er selbst sein und nichts von hergebrachter Manier und Mode wissen will. Die idyllische Schäferwelt der klassizistisch geschauten Natur eines Pope und seiner Nachahmer versinkt vor der aus dem Jubel und Weh der eigenen Seele geborenen Naturempfindung des einfachen Landmanns, der täglich mit der wirklichen Natur lebte. Echte Lyrik war wieder erstanden, die späteren großen Lyriker stehen auf den Schultern des schottischen Volkslyrikers. „Wir Engländer, besonders wir Schottländer", sagt sein großer Landsmann Carlyle, „lieben Burns mehr als irgendeinen Dichter seit Jahrhunderten. Oft war ich von der Bemerkung betroffen, er sei wenige Monate vor Schiller, in dem Jahr 1759, geboren und keiner dieser beiden habe jemals des andern Namen vernommen. Sie glänzten als Sterne in entgegengesetzten Hemisphären, oder, wenn man will, eine trübe Erdatmosphäre fing ihr gegenseitiges Licht auf." Was Goethe in den „Rezensionen und Aufsätzen zur auswärtigen Literatur" aus Carlyles Anzeige der Lebensbeschreibung von J . G. Lockhart zitiert, gehört zu dem Feinsten, das über Burns gesagt worden ist. 2. Ä l t e r e R o m a n t i k : W o r d s w o r t h , C o l e r i d g e , S c o t t Die Romantik stellt den zweiten Höhepunkt in der Geschichte der englischen Literatur dar; der erste war die elisabethanische Zeit. Wenn hier das diesseitige Lebensgefühl der Renaissance im Verein mit dem patriotischen Hochgefühl eines mächtig erstarkten Staates seinen bezeichnendsten Ausdruck in dem großen Drama gefunden hatte, so drängte jetzt die Gegenbewegung gegen den Geist des 18. Jahrhunderts, der die Freiheits- und Gleichheitsbegeisterung der französischen Revolution ihren Schwung verlieh, das neue Ich-Bewußtsein und die Betonung der irrationalen Seelenkräfte, in erster Linie zur Dichtung. Es war ein großer Befreiungsprozeß, eine Wiedereinsetzung des Individuums in seine Rechte gegenüber allen vernunftmäßigen Gesetzen, die die Unpersönlichkeit des Autors verlangten. Die Rückkehr zurNatur, die namentlich durch Rousseau die große Losung wurde, erlebte jeder auf seine Weise und in seinem eigenen geistigen Bereich. Die Herrschaft des Verstandes führt in das Allgemeine, die Herrschaft des Gefühls in das Persönliche. Das Wort „romantisch" wurde das Kennzeichen für alles, was man als lebens- und kraftvoll empfand, als Überwindung der banalen Alltäglichkeit durch den Flug der Seele in die Höhe und Weite des Raumes und der Zeit. Wir haben den Begriff psychologisch zu fassen als eine Betonung des Gefühlsmäßigen, der Innenschau, des Visionären. Die Skepsis der vorangehenden Epoche wurde abgelöst durch den Glauben. In diesem Sinne kommt dem Begriff des Romantischen abendländische Bedeutung zu, und die Wechselwirkungen der benachbarten Kulturen gehören zu seinem alle Enge und Beschränkung überwindenden Wesen. In England war die Romantik in viel geringerem Maße eine künstlerische Neuerung als in Frankreich, wo ein ästhetisches und gesellschaftliches Wertsystem durch gelehrte Vereinigungen und eine alles überwachende Akademie verankert war und wo Victor Hugo sie programmatisch in allen Punkten als die Gegenbewegung zum Klassizismus deuten konnte. Pope galt dem einen als Erzfeind aller Poesie, während ein Byron ihn als seinen Lehrmeister verehrte. Wir finden auf dem politischen Gebiet Konservative und Radikale, im religiösen Bereich orthodoxe Christen und kämpferische Freidenker in den Reihen der neuen Wortführer, und der geschichtliche und gesellschaftliche Hintergrund der Zeit, die durch die Kriege gegen das revolutionäre und kaiserliche Frankreich und nach Waterloo durch die sozialen Spannungen in Auswirkung der industriellen Revolution in Anspruch genommen war, entsprach wenig dem Bild, das die Dichtung vermittelt. Es handelt sich nicht um eine politische oder gesellschaftliche Umwälzung, sondern um eine persönliche, fast private, die aber durch das Wort
Ältere Romantik
einer kleinen Zahl großer Geister den Idealen der Freiheit und der inneren Bereicherung gewaltigen Ausdruck verlieh, eine große Dichtung schuf und allem hohen Streben die Wege wies. Man muß sich hüten, kontinentale Vorstellungen auf die englische Dichtung zu übertragen, die eine mondbeglänzte Zaubernacht, eine blaue Blume, auch eine Wertherstimmung trotz der rein literarischen Ausnahme von Byrons „Junker Harold" nicht kennt. England ist auch auf diesem Gebiet das Land der Evolutionen, das schroffe Unterbrechungen und Erschütterungen nicht liebt. Der englische Geist widerstrebt der Synthese und dem System. Die Romantik umgreift nicht die Gesamtheit des geistigen Lebens wie in Deutschland, wo auch die Politik, die Philosophie und die Einzelwissenschaften zu neuen Ansätzen gelangten, sondern sie beschränkt sich auf die Dichtung und gibt auch hier der Verschiedenartigkeit der Individualitäten breitesten Raum, wie es dem klassischen Land des Empirismus und der Wirklichkeitsnähe entspricht. Von einer Zusammenfassung im Sinne einer „romantischen Schule", wie es in Deutschland mit seinem Jenaer und Heidelberger Kreis zulässig ist, kann nicht die Rede sein, und gegen die aus dem rein äußerlichen Grund der Wohngegend auf Wordsworth, Coleridge und Southey oft angewendete Bezeichnung der Seeschule haben sich die drei so verschieden gearteten Dichter mit Recht selbst gewehrt. Programme und Theorien werden wohl versucht, aber niemals zu einer die Individualitäten verpflichtenden und zusammenführenden Lehre. Die einzige Ausnahme bildet Coleridge, bei dem das ursprünglich Schöpferische mehr und mehr hinter den Bemühungen um eine philosophische Gesamtschau zurücktritt und allmählich ganz versiegt; seine Geistesart war für seine Landsleute aber immer mehr deutsch als englisch. So kann also die Bezeichnung romantisch nur als eine Kennzeichnung gemeinsamer Züge des Welterlebens gebraucht werden und nicht als eine streng definierbare Doktrin im Sinne literarischer Formmerkmale. Man wird den Dichterpersönlichkeiten mehr gerecht, wenn man sie nach Gruppenmerkmalen ordnet, die das Leben selbst bietet, also nach Generationen. Wordsworth wurde 1770 geboren, Coleridge 1772, Southey 1774, Leigh Hunt 1784, De Quincey 1785, Byron 1788, Shelley 1792, Keats 1795. Hier sind also schon zwei Gruppen erkennbar, deren Trennung dann um 1815 sichtbar wird. Vor 1815 ist die nationale Kampfstellung gegen das Frankreich der Revolution und des napoleonischen Kaiserreichs, die Stärkung des Sinnes für die eigene Tradition, für nationale Zusammengehörigkeit unter Betonung der unteren Stände das Kennzeichen. Nach dem Niederbruch Napoleons und dem Wiener Kongreß drängen die Probleme des sozialen Lebens stärker an die Oberfläche: die Industrialisierung, die Finanzkrise, die Schwierigkeiten des Lebens, gegen die sich eine moralische Rebellion, ein Vorwärtsdrängen, eine Ablehnung der Tradition, ein Radikalismus erheben. Die ältere Gruppe bleibt in Übereinstimmung mit der allgemeinen Volksethik und stellt sozusagen eine Erhöhung und Reinigung des sittlichen Volksempfindens dar; die jüngere Gruppe mit Byron und Shelley an der Spitze steht im Gegensatz zur öffentlichen Meinung. Die Dichtung dieser Zeit wird im tiefern Sinne zur politischen Dichtung, zur Stimme der sich auflehnenden Jugend, die den Freiheitsdrang mit Überschwang erlebt. Sie appelliert an die Kräfte der Seele gegenüber dem berechnenden Verstand. Shelleys „Entfesselter Prometheus" ist die tiefste Verkörperung der Demokratie als Idee, Byrons Tod in Griechenland das heldische Symbol für den Freiheitskampf unterdrückter Völker. Der Blick wendet sich von nationaler Enge auf das weitere Europa und die große Menschheit. Als der von allen Fesseln befreite europäische Mensch übte Byron durch Leben und Werk seine gewaltige Wirkung auf den Kontinent und nicht auf seine Heimat aus. William W o r d s w o r t h (1770—1850), der philosophischste unter den englischen Dichtern, in England nächst Shakespeare und Milton am höchsten geschätzt, bei uns
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V . Die Wiederentdeckung der Seele
aber viel zu wenig bekannt, hat uns die Sinndeutung seines Werkes erleichtert: in erster Linie durch das als Einleitung einer nicht ausgeführten großen Gedankendichtung gedachte „Vorspiel", eine poetische Autobiographie mit feiner Analyse des Werdens eines Genius, dann durch ein paar Vorreden zu Gedichtsammlungen und schließlich durch Bemerkungen, die er im Alter einer Freundin Miss Fenwick diktierte. Seine ganze künstlerische Welt erschien ihm als eine Einheit, deren Stufenaufbau er wiederholt als sein eigentlichstes Erlebnis nachgezeichnet hat. Er stammt aus einem der zugleich lieblichsten und großartigsten Gebiete der englischen Landschaft, der Seengegend von Cumberland und Westmoreland. Der nordenglische Charakter bestimmte seine äußere Verhaltenheit bei tiefer innerer Gemütsbewegung. Die jugendliche Begeisterung für die französische Revolution führte während eines Aufenthalts in Frankreich zu girondistischer Betätigung, eine mit dem Freunde Coleridge und der geliebten und verständnisvollen Schwester Dorothy unternommene Reise nach Deutschland blieb ohne nachhaltige Eindrücke, ein wiederholter Wechsel des Wohnsitzes des inzwischen verheirateten und mit wachsender Familie gesegneten Dichters fand seinen Abschluß in der geliebten Seenlandschaft, wo er auf dem Hügel Rydal Mount in der Nähe von Grasmere von 1813 bis zu seinem Tode wohnte. Eine Reise nach Schottland vermittelte die Freundschaft mit Walter Scott. So war das äußere Leben verhältnismäßig ereignislos, dabei aber keineswegs innerlich leidenschaftslos, wenn auch die Leidenschaft bei diesem ausgesprochenen Erlebnisdichter stets abgetönt und mit Reflexion gesättigt erscheint. Das oft gezeichnete Bild des ruhigen, schon in der Jugend abgeklärten und später in der Abgeschiedenheit von Rydal Mount weltentfremdeten Dichters ist ganz unrichtig. Nur in einer innerlich mit Erregung erlebten Auseinandersetzung konnte er zu dem großen Naturdichter und zugleich größten Gedankendichter seines Volkes werden. Schon als Schüler in Hawkshead sucht er, wie wir in dem „Vorspiel" hören, die Einsamkeit der Natur, deren erziehende Wirkung er verspürt. Nicht nur Tier und Pflanze, selbst die Steine haben für ihn ein Leben und eine Seele. Auf einsamen Wegen spürt er geradezu körperlich das Wirken eines neben ihm atmenden Geistes, und dieser Weltgeist, der in allem lebt, ist das Band, das die Elemente zu einer großen Harmonie eint; ihn verehrt er dankerfüllt als seinen großen Erzieher. Kindlicher Übermut wie etwa das Ausheben eines Vogelnestes wird durch ihn gezügelt; die Natur übt ihr Erziehungswerk schon hier wie später bei dem reifenden Mann. Die Freundschaft des jugendlichen Wordsworth mit dem ihm an Gelehrsamkeit und kritischer Tiefe überlegenen Coleridge ist das schönste und fruchtbarste Freundschaftsverhältnis, von dem die Literaturgeschichte uns berichtet. Unter diesem Einfluß und in der Nähe der künstlerischen Frauenseele der Schwester entfaltete sich seine geistige Welt, befreite er sich von den revolutionären Ideen, der noch stark gekünstelten Form und der düsteren Weltschau der ersten Dichtungen und kehrte er zurück zu den Eindrücken der frühen Jugend, zu den seelischen Wirkungen der Natur. Im Jahre 1798 veröffentlichten die beiden Dichterfreunde ihre „Lyrischen Balladen", an denen Wordsworth den Hauptanteil hatte. Es sind nur zum kleinen Teil Balladen im modernen Sinne, vielmehr überwiegend rein lyrische Stücke; dem beliebt gewordenen Wort haftet noch der alte allgemeinere Wortsinn des Gedichts überhaupt an. Einer zwei Jahre später notwendig gewordenen Neuauflage setzte Wordsworth seine berühmte Vorrede voran, die programmatische Bedeutung für die neue Dichtung besaß. Der Gegenstand der Poesie soll das einfache Leben sein, in dem die Elementarleidenschaften ursprünglicher wirken. Nur an solchen Gegenständen gelangen wir zur unmittelbaren Berührung mit uns selbst, und gute Dichtung ist doch nun einmal „das spontane Überströmen mächtiger Empfindungen". Verkörperungen abstrakter Dinge
William Wordsworth
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können nicht dazu führen, sondern nur die einfache Sprache des täglichen Lebens. Es gibt keinen Unterschied zwischen Prosa und Poesie, keine „poetische Diktion" im Sinne Dr. Johnsons. Ein jahrhundertelanges Suchen nach einer gehobenen Sprache für gehobene Empfindungen, das bei Dante in der italienischen Renaissance begann, im italienischen Marinismus, dem spanischen Gongorismus und dem englischen Euphuismus modische Übersteigerungen erfuhr und in der klassizistischen „poetischen Diktion" ihren letzten Ausläufer hatte, wurde damit überwunden. Aus der im späten Mittelalter unterhalb der gesellschaftlichen Sphäre der Literatur lebenden Volkskunst, die die Sprache des Volkes sprach, erwächst jetzt, wo die neu gehobenen alten Schätze und die Lieder eines Burns ihre Wirkung übten, wieder eine echte Volkslyrik. Nur einen Unterschied gegenüber der Sprache des Alltags läßt Wordsworth zu, nämlich die gebundene Form des Verses, weil nur so der notwendige Ausgleich zwischen Erregung und Lust erzielt, das Pathos schön und der Ausdruck durch scheinbare Mühelosigkeit rührend wird. Gewiß ist Poesie ein Überströmen mächtiger Gefühle, aber sie entspringt erst aus der Gemütsbewegung, die in der Ruhe der Erinnerung wieder aufsteigt. Diese gedankliche Dämpfung, die den Gefühlseindruck nicht unmittelbar gestalten will, sondern ihn erst aus sinnender Rückerinnerung und neuer Seelenlage zum eigentlichen Erlebnis werden läßt, ist der Schlüssel zu der Lyrik unsres Dichters. Eine spätere Vorrede (1815) faßt sie in den Begriff der Einbildungskraft (imagination) im Gegensatz zur Phantasie (fancy) und gibt damit den Anstoß zu einer immer wieder aufgenommenen Erörterung, der Coleridge die tiefste Sinndeutung gegeben hat. „Fancy" ist für Wordsworth die Fähigkeit, geschaute Bilder festzuhalten und unmittelbar nachzuzeichnen, auf die Sinne zu wirken und Erlebnisse zu vermitteln; „imagination" ist die schöpferische Kraft, die aus Gefühl und Intuition durch eigene gedankliche Verknüpfung neue innere Bilder gestaltet. Auf ihr, die in zahllosen Prozessen schafft, beruht romantisches Denken und Dichten. Die nachdenkende Haltung—,,. . . wenn ich auf meinem Pfühl halb sinnend, halb zum Traum bereit" — kehrt in mehreren Gedichten wieder. In Augenblicken innigster Vertrautheit mit der Natur kann der Dichter, wie auch Novalis und Annette von Droste-Hülshoff bekannt haben, am wenigsten von ihr sagen. Der Genuß läßt die geordneten Gedanken nicht aufkommen, die Gemütsbewegung sammelt sich erst in ruhiger Zurückgezogenheit und gewinnt aus neuem Erleben neuen Sinngehalt. Der Erinnerungswert des Naturerlebens ist das Beglückende. So lesen wir es in einem schönen frühen Gedicht in rührend schlichtem Ausdruck, den Versen aus dem Frühlingsanfang (Lines written in Earlj Spring): I heard a thousand blended notes, While in a grove I sat reclined, In that sweet mood when pleasant thoughts Bring sad thoughts to the mind. To her fair works did Nature link The human soul that through me ran; And much it grieved my heart to think What man has made of man. Through primrose tufts, in that green bower, The periwinkle trailed its wreaths; And 'tis my faith that every flower Enjoys the air it breathes. The birds around me hopped and played, Their thoughts I cannot measure:— But the least motion which they made, It seemed a thrill of pleasure.
Umschwirrt von tausendstimmigem Lied Lag ich im Grase hingestreckt, Mit sanfter Freude im Gemüt, Die leicht uns Trauer weckt. Ihr stolzes Werk verknüpft Natur Der Menschenseele, die hier wacht; Drum schmerzt es mich, zu denken nur, Wozu der Mensch den Menschen macht. Durch Primelbüsche jener Laube Schlingt seinen Kranz das Immergrün, Und jede Blume — ist mein Glaube — Freut sich der Luft in ihrem Blühn. Ich hört' der Vögel frohes Singen, Ihr Denken war mir nicht bewußt. Der kleinste doch von ihren Sprüngen Erschien mir jauchzend helle Lust.
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The budding twigs spread out their fan, To catch the breezy air; And I must think, do all I can, That there was pleasure there.
Der Baum schwillt knospend in den Zweigen Und trinkt die Luft, die ihn umspielt, Und nie will meine Ahnung schweigen, Daß alles dies die Freude fühlt.
If this belief from heaven be sent, If such be Nature's holy plan, Have I not reason to lament What man has made of man?
Kann den Gedanken ich nicht hindern, Der diesen Glauben mir gebracht, Wie soll die Klage ich vermindern, Wozu der Mensch den Menschen macht?
Die Natur immer die beste Lehrmeisterin, besser als Bücher! So ruft unser Dichter, der nie ein großer Leser war, den Freund weg von den Büchern hinaus in den Reichtum des Wachsens und Blühens und Singens, in dem alles zueinander strebt und der Mensch gesunden kann (The Tables Turned): The sun, above the mountain's head, A freshening lustre mellow Through all the long green fields has spread, His first sweet evening yellow.
Die Sonne sieh vom Bergeshaupt Mit vollem Glänze strahlen, Durch Feld und Wälder, grün belaubt, Des Abends Schatten malen.
Books I 'tis a dull and endless strife: Come, hear the woodland linnet, How sweet his music 1 on my life, There's more of wisdom in it.
In Büchern — endlos Kampf und Streit! Komm, hör des Hänflings Weisen! Das ist Musik voll Süßigkeit; Das nur kann Weisheit heißen.
And hark I how blithe the throstle sings! He, too, is no mean preacher: Come forth into the light of things, Let Nature be your teacher.
Und horch, die Amsel singt so weich; Sie predigt jedem Hörer: Komm in der Wirklichkeit Bereich; Natur, sie sei dein Lehrer.
She has a world of ready wealth, Our minds and hearts to bless — Spontaneous wisdom breathed by health, Truth breathed by cheerfulness.
Hier wird von Reichtum eine Welt Dem Geist zum Heil gewähret, Hier wird dir Weisheit kraftgeschwellt Und Wahrheit liebverkläret.
One impulse from a vernal wood May teach you more of man, Of moral evil and of good, Than all the sages can.
Vom Frühlingswald ein Pulsschlag lehrt Mehr von der Menschheit Licht, Was sittlich gut und was verkehrt, Als wenn ein Weiser spricht.
Sweet is the lore which Nature brings; Our meddling intellect Misshapes the beauteous forms of things:— We murder to dissect.
Süß ist dein Unterricht, Natur! Wir auf der Forschung Bahn Mißstalten deine Schönheit nur Und morden selbst nach Plan.
Enough of Science and of Art; Close up those barren leaves; Come forth, and bring with you a heart That watches and receives.
Genug von Kunst und Wissenschaft; Schließ diese Blätter ein, Und bring ein Herz, das voller Kraft Empfänglich weiß zu sein!
Das prachtvolle Seelengemälde des großen Gedichts Tintern Abbey (Lines Composed a Few Miles above Tintern Abbey), das die „Lyrischen Balladen" abschließt, läßt uns bereits die Größe dieses Dichters ahnen:
William Wordsworth
Five years have past; five summers, with the length Of five long winters I and again I hear These waters, rolling from their mountainsprings With a soft inland murmur.—Once again So I behold these steep and lofty cliffs, That on a wild secluded scene impress Thoughts of more deep seclusion; and connect The landscape with the quiet of the sky. The day is come when I again repose Here, under this dark sycamore, and view These plots of cottage-ground, these orchard-tufts, Which at this season, with their unripe fruits, Are clad in one green hue, and lose themselves 'Mid groves and copses. Once again I see These hedge-rows, hardly hedge-rows, little lines Of sportive wood run wild: these pastoral farms, Green to the very door; and wreaths of smoke Sent up, in silence, from among the trees I With some uncertain notice, as might seem Of vagrant dwellers in the houseless woods, Or of some Hermit's cave, where by his fire The Hermit sits alone. These beauteaous forms, Though a long absence, have not been to me As is a landscape to a blind man's eye: But oft, in lonely rooms, and 'mid the din Of towns and cities, I have owed to them, In hours of weariness, sensations sweet, Felt in the blood, and felt among the heart; And passing even into my purer mind, With tranquil restoration:—feelings too Of unremembered pleasure: such, perhaps, As have no slight or trivial influence On that best portion of a good man's life, His little, nameless, unremembered acts Of kindness and of love. Nor less, I trust, To them I may have owed another gift, Of aspect more sublime; that blessed mood, In which the burthen of the mystery, In which the heavy and the weary weight Of all this unintelligible world, Is lightened:—That serene and blessed mood, In which the affections gently lead us on,—
Fünf Jahre gingen hin, fünf Sommer wechselnd Mit so viel langen Wintern I Nun aufs neue Hör' ich die Wasser von den Bergen rollen Mit süß eintön'gern Murmeln, sehe wieder All diese steilen, luft'gen Klippen ragen, Die in der wilden, tiefen Einsamkeit Noch tiefer, einsamer das Sinnen prägen Und Himmelsruhe an die Erde knüpfen. — Gekommen ist der Tag: Ich ruhe wieder Im Schatten dieser dunklen Sykomore, Schau auf die Hütten und den Obstbaum nieder, Der mit des Frühjahrs unscheinbaren Früchten In Wäldern und in Büschen sich verlierend, Mit der bescheidnen Farbe kaum den Eindruck Der wilden, grünen Landschaft unterbricht. Die Hecken seh ich, Hecken kaum zu nennen. Nein, Streifen lust'gen Waldes, dort die Farmen Mit grünen Wiesen bis zur Türe, kräuselnd Seh ich den Rauch aus Busch und Bäumen steigen Mit ungewisser Kunde von den Menschen, Die obdachlos im wilden Forste hausen Und Ruhe suchen, oder von der Höhle Des Eremiten, der bei seinem Feuer Dort einsam sitzt. — Wohl war ich lange fern, Doch war mir alle diese Schönheit nicht, Was eine Landschaft einem Blinden ist. Nein, oft im stillen Zimmer, im Getöse Der Städte, hab' ich ihr allein zu danken, Wenn mir ein süß Gefühl in müden Stunden Die Adern schwellte und das Herz erfüllte Und einen reinem Geist in mir erweckte Voll tiefer Ruhe: Die Erinnerung An lang vergessene Freuden, deren Macht Und Einfluß nicht gering ist auf das Beste, Was eines guten Menschen Leben zeigt, Die kleinen Handlungen von Lieb' und Güte, Die namenlos und ungebucht geblieben. — Noch eine andre Gabe dank ich ihr,
Erhabner noch: die segensvolle Stimmung, Wo uns die Liebe sanft und still geleitet,
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V. Die Wiederentdeckung der Seele
Until, the breath of this corporeal frame And even the motion of our human blood Almost suspended, we are laid asleep In body, and become a living soul: While with an eye made quiet by the power Of harmony, and the deep power of joy, We see into the life of things.
Bis, wenn der Odem in des Körpers Hülle, Der Pulsschlag selbst in uns z.u stocken scheint, Den Körper Schlaf umfängt, doch unsre Seele Zum Leben erst erwacht, und wir mit Augen, Die von der Freude und der Harmonien Macht Beruhigt sind, ins Sein der Dinge schauen.
I n schönen und gedankenreichen Versen enthüllt uns der Dichter die Stufen seines Naturerlebnisses. In der Jugend sind es nur die einfachen Sinneseindrücke, die in sein Wesen eingehen, emporgehoben aus jener beseligenden Ruhe der Erinnerung. Sie geben ihm das Gefühl der Harmonie u n d damit den Einblick in ihr Wesen. . . . For nature then (The coarser pleasures of my boyish days, And their glad animal movements all gone by) To me was all in all.—I cannot paint What then I was. The sounding cataract Haunted me like a passion: the tall rock, The mountain, and the deep and gloomy wood, Their colours and their forms, were then to me An appetite; a feeling and a love, That had no need of a remoter charm, By thought supplied, nor any interest Unborrowed from the e y e . . . — T h a t time is past, And all its aching joys are now no more, And all its dizzy raptures.
Denn die Natur (Als meiner Kinderjahre frohes Leben, Die niedre Lust am Laufen, Springen schwand) War alles mir in allem. Wie beschreib ich Das, was ich war? Der Ton des Wasserfalls Verfolgte mich wie eine Leidenschaft; Der hohe Fels, der Berg, der dunkle Wald, All jene Formen, Farben waren mir Begierde, waren Liebe und Empfindung, Die mehr entlegner Reize nicht bedurften, Wie sie das Denken leiht, noch eines Anteils, Der nicht durchs Auge kommt. Das ist vorbei; Die schmerzensreichen Freuden sind dahin, Dahin ist all das unbesonnene Glück.
D e r Dichter erlebt die zweite Stufe seiner Entwicklung, in der die Liebe zum Mitmenschen als das Höhere aus dem Naturgefühl hervorgeht: . . . For I have learned To look on nature, not as in the hour Of thoughtless youth; but hearing oftentimes The still, sad music of humanity, Nor harsh nor grating, though of ample power To chasten and subdue.
Oft lauschte ich der süßen, schwermutvollen Musik der Menschheit, die nicht herb und schrill, Nein, machtvoll rein'gend und besänft'gend wirkt.
Die dritte und höchste Stufe f ü h r t ihn zu einer Vereinigung der Natur und des Menschenschicksals durch geistige Schau: . . . well pleased to recognise In nature and the language of the sense The anchor of my purest thoughts, the nurse, The guide, the guardian of my heart, and soul Of all my moral being.
. . . Und froh erkenne ich In der Natur und in der Sinne Sprache Den Anker reinsten Denkens, die Ernährer, Die Führer und die Wächter meines Herzens, Die Seele meines ganzen Innenlebens.
William Wordsworth
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Nicht die Sinne geben uns das letzte Bild von den Dingen, sondern erst das Denken und die Intuition. Er war früher „ein Priester der Natur" und fühlt jetzt die tiefere Erkenntniskraft einer heiligeren Liebe, die in der Gestalt der geliebten Schwester eine irdische Verkörperung gefunden hat. Darum klingt die innere Wesensschau des erhabenen Gedichts in eine schöne Huldigung an Dorothy aus. Die „süße, schwermutvolle Musik der Menschheit", die Menschlichkeit in der sittlichen Sphäre, spricht aus mehreren der längeren Gedichte, etwa aus dem „Alten Cumberländer Bettler", der das kümmerlichste Dasein lebt, innerlich aber frei und hoch dasteht, da das segnende Auge der Natur auf ihm ruht. Was bei Cowper oder Burns bereits als Erhöhung des einfachen Lebens auftrat, wird hier auf dem Hintergrund eines Gefühls kosmischer Verbundenheit unendlich vertieft. Das unschuldige Lied der Einsamen Schnitterin (The Solitary Reaper) wird in diese Beziehung hinaufgehoben: Behold her, single in the field, Sieh bei der Ernte dort im Feld, Yon solitary Highland Lass! Im stillen Tal, die Hochlandmaid. Reaping and singing by herself, Sie schafft und singt fern aller Welt. Stop here, or gently pass! Stör' nicht die Einsamkeit! Alone she cuts and binds the grain, Sie mäht das Korn mit emsigem Fleiße, And sings a melancholy strain; Und schwermutvoll klingt ihre Weise. O listen! for the Vale profound O lausche, denn das tiefe Tal Is overflowing with the sound. Durchflutet ihrer Stimme Schall. No Nightingale did ever chaunt More welcome notes to weary bands Of travellers in some shady haunt, Among Arabian sands: A voice so thrilling ne'er was heard In spring-time from the Cuckoo-bird, Breaking the silence of the seas Among the farthest Hebrides.
Nie sang die Nachtigall so hell Willkommnen Gruß im fremden Lande Den Wandrern an dem Schattenquell Im heißen Wüstensande, Und nie durchbrach so voll und weit Ein Kuckuckstuf zur Frühlingszeit Das Schweigen auf dem stillen Meer Von der Hebriden fernster her.
Will no one tell me what she sings ? — Perhaps the plaintive numbers flow For old, unhappy, far-off things, And battles long ago: Or is it some more humble lay, Familiar matter of to-day? Some natural sorrow, loss, or pain, That has been, and may be again?
Wer meldet mir, was mag sie singen, Was dieser Töne Klagen schuf? Gilt's trüben, längst vergangnen Dingen? Ist es ein Schlachtenruf? Erklingt die Weise nicht so groß, Singt sie vom engen Alltagslos? Ist's Menschensorge, Schmerz und Pein, Wie einst es war und heut mag sein?
Whate'er the theme, the Maiden sang As if her song could have no ending; I saw her singing at her work, And o'er the sickle bending; — I listened, motionless and still; And, as I mounted up the hill, The music in my heart I bore, Long after it was heard no more.
Wovon die Töne ohne Ende, Das Lied des Mädchens auch gezeugt, Sie singt zur Arbeit ihrer Hände, Zur Sichel tief gebeugt. Ich lauschte still und unbewegt. Doch nun zu Berg mein Fuß mich trägt, Summt mir der Ton im Herzen, lang Als schon verklungen der Gesang.
Ein einfacher Vorgang: der Dichter sieht auf einer Bergwanderung ein einsames Mädchen, vielleicht die letzte der von der Arbeit heimkehrenden Arbeiterinnen, die Ähren sammelt und mit ihrem schwermütigen Lied die Natur erfüllt. Bestimmte Worte verengen ohne ausdrückliche Nennung des Platzes die Örtlichkeit: das Hochland, die Hebriden mit ihrer majestätischen Ruhe, der Gedanke an ferne Wanderer im heißen Wüstensand, an längst vergangene Dinge und Schlachten. Ungreifbar, fast aus
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einer andren Welt kommend, ist der Gesang und damit doch im eigentlichen Sinne für den Idealisten wirklich. Eine gewisse Feierlichkeit der Situation wird im Originaltext mit gemessenen Worten angedeutet: „Behold her . . . a melancholy strain . . . the Vale profound"; alles mit Stimmungsgehalt, der den von dem vollen Gesang erfüllten Ort symbolisch vergrößert. Die Bilder der beiden Mittelstrophen deuten den Eindruck an, der mit den schlichten Mitteln der Sprache nicht zu umschreiben ist: die Stimme der Nachtigall, die ermüdeten Wanderern im arabischen Wüstensand ihr Lied singt, das Frühlingslied des Kuckucks inmitten der grandiosen Einsamkeit der Hebridenmeere. Die ferne Wüste und das einsame Meer wecken die Vorstellung der Einöde und lösen durch den Kontrast des sie erfüllenden Liedes den Vorgang aus jeder Alltäglichkeit. Wird hiermit der Gedanke in ferne Räume entrückt, so wendet ihn ein andres Bild in eine ferne Zeit, aus der das elegische Lied des Rhapsoden von Nöten und Schlachten berichtet. Das ist bezeichnend für diesen Dichter, bei dem der einzelne, schlichte, von den Menschen nicht beachtete Vorgang stets Meditationen auslöst, und ebenso bezeichnend ist die sofortige Rückwendung des Blicks in das unmittelbare Geschehen. Das Mädchen singt, als wolle es nie aufhören, und als sie den Blicken schon entschwunden ist, erfüllt ihr Gesang immer noch die Landschaft, und der Dichter trägt ihn lange im Herzen. Die Schönheit des Alltags, die Entdeckung der Seele in dem unscheinbaren Vorgang, das Mysterium des Lebens wird enthüllt. Es ist eine Naturdichtung, die fest auf der Erde stehenbleibt, sich aber unendlich tief in sie hineinfühlt, gesund und unsentimental. Das Mädchen wird nicht einmal beschrieben; nur das Lied, das die Einsamkeit erfüllt, ist der reale Gegenstand. Ein dunkel klingendes Reimpaar, dem sehnsuchtsvollen Lied entsprechend, läßt das Ganze ausklingen, so wie es in der Eingangsstrophe angeklungen hatte: The music in my heart I bore, Long after it was heard no more. Die Quintessenz der Wordsworthschen Dichtung steckt in dem kleinen Regenbogengedicht : Mein Herz wallt auf, wenn es erschaut My heart leaps up when I behold Sich Iris Bogen färben I A rainbow in the sky: Wie einst das Leben mir begann, So was it when my life began; So ist es jetzt, da ich ein Mann, So is it now I am a man; So wird es sein, bin ich ergraut, So be it when I shall grow old, Or let me die! Sonst laßt mich sterben 1 Des Mannes Vater ist das Kind! The Child is father of the Man; Und wie mir Tag auf Tag verrinnt, And I should wish my days to be Soll Ehrfurcht der Natur ein jeder erben. Bound each to each by natural piety. Ein schönes Naturbild, der Regenbogen, läßt das Herz des Dichters hüpfen, und so soll es bleiben bis an sein Ende. Damit bewahrt er sich die schlichte, unreflektierte Verbundenheit mit der Natur, die das Kind vor dem grübelnden Alter voraus hat und die seine Überlegenheit ausmacht: des Mannes Vater ist das Kind, des Kindes Empfinden erbittet der Dichter für sich. Glück ist der Schlüssel alles Lebens; nicht ein zufälliges Glück, sondern das durch Arbeit und Geduld errungene heldische Glücksgefühl. Wordsworth führte äußerlich stets ein schlichtes Leben, und von schlichter Schönheit ist auch seine Auffassung vom Menschentum, für die es gerade deshalb keine Enttäuschungen gibt. Der größte Naturdichter ist oft mißdeutet worden, weil man die Art seines Naturerlebnisses und das recht komplexe Wachstum seines Geistes nicht verstand und ein Bild des alternden Wordsworth zeichnete, der sich von den Idealen der Jugend abgewandt und dessen dichterische Kraft nachgelassen habe. Gewiß liegen seine stärk-
William Wordsworth
sten, immer lebendig gebliebenen Dichtungen in den Jugendjahren bis etwa 1808, wo die im „Vorspiel" geschilderte Entwicklung abschließt; vielleicht ist gerade hierdurch unser psychologisches Interesse unrichtig verschoben worden. Was Wordsworth einmal erlebt hatte, wurde er nicht los, seine im Grunde konservative Anlage bewahrte und vertiefte alle Eindrücke; er wandte sich auch anderen Stoffen zu, klassisch-romantischen statt des früheren Interesses am einfachen Leben, vollendete aber in einer von ihm selbst gedeuteten geradlinigen Entwicklung eine Gedankendichtung, die an letzte Fragen des Menschenschicksals heranführt. Die hämischen Angriffe der Byron-Shelley-Gruppe haben den philosophischen Dichter, den großen Sucher nach Wahrheit und Erkenntnis hinter den Erscheinungen der äußeren Welt, verkannt und dem falschen Bild von dem späteren Wordsworth, dessen ethische Haltung man als quietistische Altersweisheit ansah, Vorschub geleistet. Das Gedicht „Tintern Abbey" ist als psychologische Autobiographie ein Vorläufer des erst nach dem Tode des Dichters veröffentlichten „Vorspiels", das zu seinen gedankenreichsten und künstlerisch vollendetsten Werken gehört. Auch hier baut er die drei Stufen seiner Entwicklung auf, die später immer wiederkehren; sie bleiben die Grundlage seiner Psychologie. Die Eindrücke und Erlebnisse mögen verschieden sein, immer erwächst aus ihnen in den gleichen Stufen die Ruhe und Einheit in der Haltung des Mannes; so wird der Mann. Das Geheimnis liegt im Gefühlsleben der Jugend begründet, in der die Natur ihm alles ist und in der die „sensations" die alleinige Reaktion auf die Welt bilden. Allmählich rückt die Natur in die zweite Stelle, das Menschenschicksal packt den Menschen, bis ihm schließlich eine geistige Schau („Spiritual vision") die Synthese der sensualistischen Natureindrücke und der moraÜsch-sympathischen Gefühle zeigt. Dem Geistigen im Menschen wird eine Realexistenz neben den Naturerscheinungen zuerkannt. Von dem jugendlichen Priestertum der Naturimmanenz, die das Göttliche in der Natur fühlt und ein abgesondertes Reich des Geistigen noch nicht kennt, gelangt der Dichter zur Transzendenz, der Außerweltüchkeit Gottes, dem philosophischen Idealismus; die Gespräche mit dem an deutscher Philosophie, besonders an Kant geschulten Freunde Coleridge sind dabei von Einfluß gewesen. In dieser höchsten Schau überwindet er auch die Grundhaltung der Aufklärung: die Vernunft ist ihm nichts als die höchste Form intuitiver, aus Liebe geborener Einsicht und Kraft. Es kommt eine Resignation über den Dichter und Denker, der in der Natur nur noch Balsam und Trost sucht; das jugendliche Streben nach Besserung der Menschen und ihrer Welt wird abgelöst durch ein Lob der nun einmal bestehenden gesellschaftlichen Ordnung, und diese Erkenntnis ist ein sittlicher Sieg. Erst auf dieser Grundlage, die den gedanklichen Zugang zu den Spätwerken eröffnet, wird eine Deutung der Ode möglich, die zu den gedankenreichsten und sprachgewaltigsten Werken der englischen Literatur gehört. Sie erhielt erst später den Untertitel „Andeutungen über die Unsterblichkeit aus Erinnerungen der frühsten Kindheit" {Ode — Intimations of Immortality from Recollections of Early Childhood). There was a time when meadow, grove, and stream, The earth, and every common sight, To me did seem Apparelled in celestial light, The glory and the freshness of a dream. It is not now as it hath been of yore; — Turn wheresoe'er I may, By night or day, The things which I have seen I now can see no more.
I Einst war die Zeit, da schien mir Strom und Baum, Die Erde, jedes grüne Feld, Der Weltenraum Vom Himmelslicht erhellt, In Glanz und Frische wie ein Traum. Jetzt ist es nicht wie einstmals um mich her, Wohin ich gehen mag, Bei Nacht und Tag, Die Dinge, die ich sah, ich sehe sie nicht mehr.
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II The Rainbow comes and goes, And lovely is the Rose, The Moon doth with delight Look round her when the heavens are bare, Waters on a starry night Are beautiful and fair; The sunshine is a glorious birth; But yet I know, where'er I go, That there hath past away a glory from the earth.
II Des Regenbogens Pracht Erglänzt, die Rose lacht, Des Mondes Antlitz blickt Sanft von des Himmels Blau; In Sternennacht entzückt Der Wiese lichter Tau; Ein herrlich Schauspiel ist der Sonnenschein; Doch — achl — ich seh, wohin ich geh: Der Erde Glanz muß mir verschwunden sein.
So beginnen die 1802/03 gedichteten vier Anfangsstrophen. Wohin ist die naive Freude der Jugend, geboren aus dem Einklang mit dem All, entschwunden? Das war die Zeit der Immanenz, der Erde Glanz, der Jubel aller Geschöpfe am süßen Maienmorgen. Wither is fled the visionary gleam? Where is it now, the glory and the dream?
Wohin entfloh der überird'sche Schimmer? Wo ist der Glanz, der Traum? — ich seh sie nimmer.
Der Dichter kann die kummervolle Frage noch nicht beantworten. Erst vier Jahre später konnte er fortfahren; die Strophen I X — X I bilden die unmittelbare Anknüpfung an IV. Die Theorie der drei Lebensstufen erscheint wieder. Nicht die naiven Eindrücke der Kindheit bleiben und erfreuen uns, sondern die Erregungen und die Einsicht der reiferen Jahre: The thought of our past years in me doth breed Perpetual benediction: not indeed For that which is most worthy to be blest— Delight and liberty, the simple creed Of Childhood, whether busy or at rest, With new-fledged hope still fluttering in his breast: —• Not for these I raise The song of thanks and praise; But for those obstinate questionings Of sense and outward things, Fallings from us, vanishings.
Vergangner Zeiten zu denken zeugt in mir Beständ'gen Segen; wahrlich nicht dafür, Was ich des Segens immer wert gewußt: Die Freude, Freiheit und der Kindheit Zier, Den schlichten Glauben, der in Schmerz und Lust Mit immer neuer Hoffnung füllt die Brust. Nicht ertönt mein Sang Dafür in Lob und Dank; Nein, um der steten Zweifel willen, Die ob der Dinge Dasein uns erfüllen, Die von uns schwinden, sich vor uns verhüllen.
Die Bilder und Gedanken der Seele sind die bleibenden Freuden und beglücken den „philosophic mind", der so hindurchschauen kann zu dem, was hinter den Dingen ist. Das ist Transzendenz, der neue Gewinn, neues Glücksgefühl, und darum kann der Dichter der früheren Klage um das Verlorene jetzt den Jubel entgegenstellen: X Then sing, ye Birds, sing, sing your joyous song! And let the young Lambs bound As to the tabor's sound I We in thought will join your throng, Ye that pipe and ye that play, Ye that through your hearts to-day Feel the gladness of the May!
X Drum singt, ihr Vögel, eure frohen Sänge, Und laßt die Lämmer springen, Wie zu der Flöte Klingen! Mischen gern uns ins Gedränge, Die ihr pfeifet, die ihr spielt, Eure Lust im Busen kühlt, Maienfreude in euch fühlt!
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What though the radiance which was once so bright Be now for ever taken from my sight, Though nothing can bring back the hour Of splendour in the grass, of glory in the flower; We will grieve not, rather find Strength in what remains behind; In the primal sympathy Which having been must ever be; In the soothing thoughts that spring Out of human suffering; In the faith that looks through death, In years that bring the philosophic mind.
Ist auch der Glanz, der einst so schön entglommen, Für immer unsern Blicken jetzt genommen, Kann nichts zurück die Stimme rufen, Die auf der Wiese Glanz und Pracht den Blumen schufen, Schmerz nicht, Freude laßt uns künden, Kraft im Bleibenden uns finden; In den ersten Sympathien, Die uns nie mehr ganz entfliehen; Den Gedanken, ernst geweiht Von der Menschenseele Leid, Im Glauben, der den Tod bezwingt, Im Geist der Weisheit, den die Zeit uns bringt.
Klarheit und Glück sind Gewinn des reifen Mannes: „Im tiefsten Herzen fühl' ich eure Macht!" — Zwischen den beiden Teilen stehen mit einer gewissen Selbständigkeit die Strophen V—VIII mit ihrer für Wordsworths erkenntnistheoretischen Idealismus so wichtigen Idee der Integration, des Überganges von einem Zustand in den andren. Die Seele hat schon vor unsrer Geburt existiert, und wenn sie in der sichtbaren Welt angesiedelt wird, verliert sie nach und nach ihre spirituelle Schönheit. Im Kind ist die visionäre Kraft am größten, sie nimmt mit wachsendem Intellekt ab — anders als bei Plato, bei dem der Mensch sich von den täuschenden Sinnen weg immer mehr der Wahrheit der reinen Ideen nähert. Wordsworth ist englischer Sensualist, dessen Erkennen sich in Sinneseindrücken abspielt; aber er vollzieht den Übergang von der sensualistischen Philosophie eines Locke zu einer idealistisch verinnerlichten Naturdichtung. „Des Mannes Vater ist das Kind." Die VII. Strophe huldigt dem Söhnchen Coleridges, dem der Vater selbst ein Sonett gewidmet hatte. Es ist ein kosmischorganisches Kreisdenken, das die alte Idee der Präexistenz der Seele als einen schönen Glauben für die dichterischen Absichten verwendet. Von der Stärke und Lebendigkeit der kindlichen Eindrücke hat uns Wordsworth aus seinem eigenen Erleben berichtet; sie meint er, wenn er von den visionären Eigenschaften, der traumgleichen Lebendigkeit der kindlichen Sinneseindrücke spricht. In diesem Sinne ist das Kind, das der noch undifferenzierten Ganzheit der Welt nähersteht, Vater des Mannes. Es kann die Vorstellung vom Tode nicht zulassen wie jenes Kind in dem wohl populärsten Gedicht Wordsworths: „Wir sind sieben", dem der Erwachsene vergebens klarzumachen sucht, daß die im Grabe ruhenden Geschwister doch nicht mehr zu dem glücklichen Kreise gehören. Unsterblichkeit, meint der Dichter, können wir nicht logisch beweisen; wir können in diesem Leben nur „Andeutungen" von ihr haben — ursprünglich dachte der Dichter daran, im Titel von Andeutungen der Unendlichkeit zu sprechen —, ein Gedanke, der sich mit seinem Begriff von der schöpferischer Kraft, der „imagination", berührt. Nicht absolute Überlegenheit des Kindes soll behauptet werden, sondern nur Ursprung der im Allgefühl wurzelnden Ahnungen und damit Wegweisung für den Mann; so kündete schon Milton im „Wiedergewonnenen Paradies" (IV, 220): „Die Kindheit zeigt den Mann wie Morgenrot den Tag." Das Ganzheitsgefühl dieses kosmisch-organischen Denkens läßt auch auf ethischem Gebiet alle Gesetze und Maßstäbe aus der Gemeinschaft Gottes erfließen. Wenn in der erhabenen „Ode an die Pflicht" von dem hohen Glück die Rede ist, das manchen Menschen das Rechte aus „der Jugend frohem Geist" ohne das strenge Gebot der Pflicht finden läßt, so sind wir dem Begriff der „schönen Seele" ganz nahe, den Schiller uns in „Anmut und Würde" zeichnet. — So will der Dichter nicht über das Verlorene klagen, sondern 20 Die Stimmen der Meister
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die intuitive Kraft der neuen Erkenntnisform in den Jahren des gedanklichen Sinnens und Hindurchschauens preisen, den „Geist der Weisheit, den die Zeit uns bringt". Damit ist die Antwort auf die erste Frage der Unsterblichkeitsode gegeben, die Niedergeschlagenheit gebannt, und darum kann die Ode mit Jubelklängen schließen, den drei letzten Strophen, die zu dem Schönsten an religiös fundierter Poesie seit Milton gehören. Die Altersstufenlehre bringt Hoffnung und Freude und damit die Welt zurück; der Mensch ist dem Dichter das neue Thema seines Schaffens. XI And O, ye Fountains, Meadows, Hills, and Groves, Forebode not any severing of our loves, Yet in my heart of hearts I feel your might; I only have relinquished one delight To live beneath your more habitual sway. I love the Brooks which down their channels fret, Even more than when I tripped lightly as they; The innocent brightness of a new-born Day Is lovely yet; The clouds that gather round the setting sun Do take a sober colouring from an eye That hath kept watch o'er man's mortality; Another race hath been, and other palms are won. Thanks to the human heart by which we live, Thanks to its tenderness, its joys and fears, To me the meanest flower that blows can give Thoughts that do often lie too deep for tears.
XI Und ihr, o Quellen, Wiesen, Waldesgründe, Glaubt nicht, daß meine Liebe 2u euch schwinde, Im tiefsten Herzen fühl' ich eure Macht I Um eine Freude nur ward ich gebracht: Euch nur zu leben, eurer Herrschaft ganz. — Noch liebe ich den Bach, der brausend schwillt, Mehr als da ich ihm glich im leichten Tanz, Noch ist der junge Tag in seinem Glanz Ein lieblich Bildl Die Wolken aber, bei der Sonne Sinken, Sie zeigen ernstre Farben meinem Blick, Der tief geschaut ins menschliche Geschick. Ein neu Geschlecht entsteht, und andre Palmen winken. Doch Dank dem Menschenherz, durch das wir leben, Es mag in Schmerz, in Freude, Furcht sich wiegen, Mir kann die niedrigste der Blumen geben Gedanken, die zu tief für Tränen liegen.
Diese herrliche Abrundung der Ode kündet den Einklang zwischen Natur und Menschenschicksal, der früher gestört war, jetzt aber unverlierbarer Besitz ist, ein Hinauswachsen über bloße Naturbegeisterung zu dem Bewußtsein einer geistigen Welt, die auch jene äußere umfaßt. Die freiströmenden Fünftakter gehören zu den höchsten Formen lyrischer Meditation nach den vorangehenden wechselnden Rhythmen, die harmonisch die drängenden Bilder und Gedanken bald fröhlich hüpfend im Tempo von Miltons „Allegro", bald ekstatisch gesteigert bis zu den ruhigen Kadenzen der neugewonnenen Sicherheit begleiten. Der Geist hat die Wirklichkeit bezwungen, das Sittliche existiert als objektives Wertgebiet. Wie der einzelne sich ihm nähert, Hegt in seinem innersten Wesen begründet. Erst wenn wir dies starke, aus gedanklichen Erregungen geborene Welterlebnis begriffen haben, finden wir den tieferen Zugang zu der einzigartigen Naturlyrik der Frühzeit. Das Gedicht Narzissen (Daffodils) gehört zu den bekanntesten. Dorothy berichtet in ihrem Tagebuch von einem Spaziergang mit dem Bruder, auf dem sie Narzissen am Rande eines Gewässers sahen, die sich zu einem langen Gürtel weiteten. „Nie sah ich schönere Narzissen. Sie wuchsen inmitten moosbewachsener Steine; einige ließen ihr Haupt auf den Steinen wie auf Kissen ruhen; die andren warfen und drehten sich hin und her, tanzten gleichsam mit dem Wind und sahen froh und strahlend aus." Die Schwester faßt den Sinneseindruck unmittelbar in zarte Worte; bei dem
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Dichter der „emotion recollected in tranquillity" dagegen verliert er sich in die unterbewußte Sphäre, um erst zwei Jahre später durch „imagination" wieder aufzutauchen und das geschaute Bild im Gedicht zu erwecken. I wandered lonely as a cloud That floats on high o'er vales and hills, When all at once I saw a crowd, A host of golden daffodils, Beside the lake, beneath the trees, Fluttering and dancing in the breeze.
Ich zog allein der Wolke gleich, Die über Tal und Hügel flieht, Als plötzlich unermeßlich reich Ein Heer Narzissen vor mir blüht; Am Seestrand unter Baum und Strauch Da tanzten sie im Windeshauch.
Continuous as the stars that shine And twinkle on the milky way, They stretched in never-ending line Along the margin of a bay: Ten thousand saw I at a glance, Tossing their heads in sprightly dance.
Wie unabsehbar Stern an Stern Hoch von der Nebelstraße glänzt, So haben endlos, nah und fern, Das Seegestade sie bekränzt. Viel Tausende hab' ich erblickt, Und jedes Köpfchen winkt und nickt.
The waves beside them danced, but they Out-did the sparkling waves in glee: A poet could not but be gay In such a jocund company: I gazed, and gazed, but little thought What wealth the show to me had brought.
Die Wogen tanzten, doch ihr Schein Beschämte noch der Wogen Glanz! Ein Dichter mußte fröhlich sein Bei ihrem übermüt'gen Tanz; Ich schaut' — und habe nicht gedacht, Wie reich dies Schauen mich gemacht. —
For oft, when on my couch I lie In vacant or in pensive mood, They flash upon that inward eye Which is the bliss of solitude; And then my heart with pleasure fills And dances with the daffodils.
Denn oft, wenn ich auf meinem Pfühl Halb sinnend, halb zum Traum bereit, Tritt vor den innern Blick ihr Spiel In segensreicher Einsamkeit; Dann ist mein Herz an Wonne reich Und tanzet den Narzissen gleich.
In wie vollkommener Weise hier Bild und Ausdruck im Einklang stehen, wie die wechselnde Reimpaarung ein abgeklärtesVerweilen des Auges bei dem Eindruck erzielt, wie das durch das wohllautende Wort „Daffodils" vorbereitete Vorwiegen der 1-Laute, wie das mit starkem Versübergang eingeführte, schwebend zu betonende Wort „out-did" die helle Freude des Tanzens unterstreicht, wie die abgetönten Labiallaute des „in vacant or in pensive mood" das strömende Wogen und das scharfe Glitzern malen, kann nur an dem Originaltext empfunden werden. Die Materialien der inneren Biographie sind bei Wordsworth reich wie bei Goethe, so daß wir auch bei ihm tiefe Einblicke in die Schaffensweise tun können. Dorothys Tagebucheintragungen bilden die wichtigste Quelle. Einmal begegnen die Geschwister zwei Hochlandmädchen am Ufer des Loch Lomond. Sie waren nach Dorothys Beschreibung außergewöhnlich hübsch, malerisch in schottische Plaids gehüllt, die nur die Gesichter unbedeckt ließen. Sie erwidern freundlich den kurzen Gruß und schauen sich nach dem Vorbeigehen noch einmal um. Auf eine Frage nach dem Wege hatte die ältere kurz Auskunft gegeben, und Dorothy sagt, sie habe die englische Sprache niemals mit süßerem Klang gehört. Ein gewiß unscheinbares, alltägliches Erlebnis. Für den Dichter aber wird es später zu einer richtigen Romanze, die ihn lange Zeit nicht losläßt; zuerst in einem Gedicht „An ein Hochlandmädchen", dann viele Jahre später noch einmal in den „Drei Hochlandmädchen", und nach seinem eigenen Geständnis gehen auch die Anfangszeilen des auf seine Frau gedichteten „Sie war eine Elfe licht und leicht" ("She was a Phantom of Delight") von dem Eindruck jenes Mädchens aus. Das ist ein bezeichnender Einblick in die Schaffensweise Words20*
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worths, der wie Goethe nie „aus der Luft erfinden" konnte, sondern dem Anstoß des Erlebnisses nachgab, wenn auch in andrer Form; denn „imagination" wirkt, wie er selbst lehrt, in sehr verschiedenartigen Prozessen. Einmal berichtet Dorothys Tagebuch von einem Aufbruch von London, von dem Bild der erwachenden Stadt bei der St.-Pauls-Kirche und der Westminsterbrücke, von der Fahrt nach Calais und der Ankunft am Kanal. Beglückte Anbetung spricht im Anschluß daran aus dem Sonett Am Strande bei Calais, tiefe menschliche Freude des philosophischen Sinnes aus den erhaben ruhigen Zeilen des Sonetts Auf der Westminster-Brücke (Composed upon Westminster Bridge): Earth has not anything to show more fair:
All bright and glittering in the smokeless air.
Nichts Schöneres wird vom Himmel überspannt ! Stumpf ist der Sinn, der hier vorübergeht, An diesem Anblick stiller Majestät. Die Stadt trägt jetzt gleich einem Festgewand Des Morgens Schönheit. Schweigend, wie gebannt, Ragt Dom und Turm und Tempel wie erhöht Zum klaren Himmel, den kein Rauch umweht, Und glänzt und glitzert weit hinaus ins Land.
Never did sun more beautifully steep In his first splendour valley, rock, or hill; Ne'er saw I, never felt, a calm so deep!
Nie sah die Sonne ich so strahlend schön Mit ernstem Glänze Tal und Hügel füllen, Nie hab' ich tiefern Frieden noch gesehn.
The river glideth at his own sweet will:
Die Themse gleitet sanft, nach eignem Willen, Die Häuser scheinen selbst in Schlaf versenkt, Der dieses ganze mächtige Herz umfängt.
Dull would he be of soul who could pass by A sight so touching in its majesty: This City now doth, like a garment wear The beauty of the morning; silent, bare, Ships, towers, domes, theatres, and temples lie Open unto the fields, and to the sky;
Dear God! the very houses seem asleep; And all that mighty heart is lying still.
Den schönsten Eindruck der Naturvergeistigung kann das Gedicht An den Kuckuck (To the Cuckoo) vermitteln: 0 blithe New-comer! I have heard, 1 hear thee and rejoice. O Cuckoo! shall I call thee Bird, Or but a wandering Voice?
O Kuckuck! muntres Frühlingskind, Dein Ruf klingt mir vertraut; Bist du ein Vogel, trägt der Wind Nur einer Stimme Laut?
While I was lying on the grass Thy twofold shout I hear, From hill to hill it seems to pass, At once far off, and near.
Im Grase lag ich sinnend da Und lauschte deinem Sang, Wie er am Hügel hin, bald nah, Bald ferne wiederklang.
Wieder liegt der Dichter sinnend im Gras, wieder lauscht er der Sprache seiner „visionary hours", die ihm Stunden glücklichen Träumens bringen, und so kann er immer liegen und lauschen: And I can listen to thee yet; Can lie upon the plain And listen, till I do beget That golden time again.
Und wieder lausche ich dir heut, Du lockst mich nicht aufs neu, Nur jene goldne Jugendzeit, Die zauberst du herbei.
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O blessed Bird! the earth we pace Again appears to me An unsubstantial, fairy place, That is fit home for Thee!
So scheint die Erde heut für mich Ein wesenloser Raum, Ein Aufenthalt, gemacht für dich, Wie du nichts als ein Traum.
Das Nichtgesehene, das Unsubstantielle, wie es die Stimme des verborgenen Kuckucks versinnbildlicht, ist das einzig Reale in der Welt; nicht die äußeren Dinge, sondern das hinter ihnen Erfühlte. So zaubert in dem Gedicht „An einen Schmetterling" der flüchtige Gaukler Geschichten aus der Kinderzeit herbei, das Glück des Vaterhauses, so lebt das kunstvolle Lerchengedicht ganz aus der Sprache des Rhythmus, aufrüttelnd beginnend, dann weich gleitend wie das Flattern und Schweben des Vogels, dann in anapästischer Bewegtheit betrachtend, nur unterbrochen von dem das Metrum umkehrenden Blick auf den steigenden Vogel, bis zu dem Schlußjubel der sich vor Leben und Freude trunken erhebenden Lerche, die dem Erdenwanderer Hoffnung und Zuversicht gibt.. Die innen geschauten Bilder sind bei Wordsworth, den man nach der Typenlehre der heutigen Psychologie einen Eidetiker, also einen bildhaft oder visuell Aufnehmenden nennen muß, stärker und echter als die, die die Wirklichlichkeit dem Auge darbietet. Wir haben ein lehrreiches Beispiel in den drei durch eine Ballade in Percys Sammlung angeregten Yarrowgedichten. Zuerst Yarrow Unvisited, im lebhaften Balladenrhythmus vorgetragen, mit Refrainwirkung des klangvollen Namens Yarrow: ein schönes Bild von Fluß, Landschaft, Menschen, voll Erinnerungen an selige Zeiten und bescheiden-glückliche Menschen. Das Bild ist so weich, daß es den Dichter nicht verlangt, die vielleicht ernüchternde Wirklichkeit zu sehen: We will not see them; will not go, To-day, nor yet to-morrow; Enough if in our hearts we know There's such a place as Yarrow.
Be Yarrow stream unseen, unknown! It must, or we shall rue it: We have a vision of our own; Ah! why should we undo it?
Als ihn später sein Weg doch vor diese Wirklichkeit führt — Yarrow Visited —, erlebt er die Enttäuschung: Ist dies wirklich, was ich innerlich sah, das schöne Traumbild von einst? Es ist nicht so einsam erhaben, die Farben sind nicht so dunkel, wie ich sie im Geiste sah, die Natur ist nicht so schlicht. Das Bild des jetzt Gesehenen ist nur deshalb schön, weil es durch das vorgeschaute Bild verklärt wird. Und noch einmal kommt er nach vielen Jahren in die Gegend, als die Unbekümmertheit der frühen Jugend der Sorge um den erkrankten Freund Walter Scott gewichen ist: Yarrow Revisited. Das Naturbild ist jetzt durch die traurige Stimmung beschattet, und davor hatte der Dichter sich gefürchtet. Die Erinnerung an das Jugendbild aber soll Helligkeit und Trost spenden: Flow on for ever, Yarrow Stream! Fulfil thy pensive duty, Well pleased that future Bards should chant For simple hearts thy beauty. Solche Ruhe im Gedanken kennzeichnet den späteren Wordsworth, den Menschen der dritten Reifungsstufe. Edle patriotische Haltung schafft die der Freiheit gewidmeten Sonette, unter denen der Anruf an den ernsten Kämpfer Milton das bekannteste ist, die Regeneration seines Volkes und der konservativ-bürgerlichen Ideale liegt dem alternden Dichter am Herzen. Persönlicher Schmerz vertieft das Bild vom Menschen: Nelsons Tod bei Trafalgar, die Tyrannenherrschaft Napoleons, der Verlust des Bruders, der als Schiffskapitän ertrank. Nelsons und des Bruders verklärte Bilder
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fließen zusammen in dem Gedicht Der glückliche Krieger (Character of the Happy Warrior), das in edler Sprache das Ideal des klaren, tatbereiten Mannes zeichnet: It is the generous Spirit, who, when brought Among the tasks of real life, hath wrought Upon the plan that pleased his boyish thought: Whose high endeavours are an inward light That makes the path before him always bright: Who, with a natural instinct to discern What knowledge can perform, is diligent to learn; Abides by his resolve, and stops not there, But makes his moral being his prime care.
. . . der edle Geist, der fest im Leben Der Arbeit auferwuchs und dessen Streben Den Knabenträumen Wirklichkeit gegeben, Durch dessen Tun es wie ein innres Licht, Das seinen Lebenspfad erleuchtet, bricht, Der sich mit sichrem Takt zu eigen macht, Was Fleiß und Wissenschaft ihm dargebracht. Dem Vorsatz bleibt er treu: doch ihn erfüllt Die Sorge ganz, die seiner Seele gilt.
Es ist ein breites Bild des lebenstapferen, aus der Tiefe der Seele lebenden Mannes, ein Abbild der ethischen Klarheit und Gesundheit des Dichters, einer stolzen Männlichkeit, die selbst erlebt ist. Das Denken des Dichters wendet sich immer mehr in das Sittliche. Wordsworth hat immer tief innerliche Erlebnisse mitzuteilen. Durch die Hülle der Natur gelangt er nicht zu Gott, sondern zum Leben der Dinge, zur platonischen Idee. Das Ideal bleibt aber nie blutleere Abstraktion, sondern wird stets vergeistigte Wirklichkeit mit dem Ewigkeitswert der Einmaligkeit. Es ist ein in Ideen gesehener Realismus; nicht pantheistische Gleichsetzung von All und Gott, sondern ein panentheistisches All in Gott, der die große, die Natur und Menschheit umfassende Sympathie ist. Nur auf dem Wege des Denkens, der schöpferischen „imagination", ist diese Verbindung von Romantik und Realismus, sogar Sensualismus möglich. Die Natur gibt stets das anschauliche Symbol; aber hier wächst das Naturgefühl weit über die Naturschwärmerei des 18. Jahrhunderts hinaus: Mir kann die niedrigste der Blumen geben Gedanken, die zu tief für Tränen liegen. Die Majestät des göttlichen Geistes („Der Ausflug" I, 2ooff.) gebietet anbetende Haltung vor den Wundern der Natur und weckt sittliche Kräfte. Damit wird dieser englischste aller Dichter zu einem der größten Erzieher seines Volkes und der Menschheit überhaupt. Matthew Arnold spricht in einem schönen Huldigungsgedicht bei dem Tode des Dichters von seiner „heilenden Kraft", und der Philosoph John Stuart Mill berichtet uns in seiner prächtigen Autobiographie, wie er in der größten Krise seines Lebens, die bei dem Ringen um eine Lebenssicherheit in Trostlosigkeit und Trübsinn endigte, Wordsworths Dichtungen in die Hand bekam: Ich fühlte mich besser und glücklicher unter dem Einfluß dieser Lektüre. Es hat sicherlich auch in unsern Tagen größere Dichter gegeben als Wordsworth; aber keine Poesie, wie herrlich auch als solche, hätte damals für mich tun können, was die seinige. Ich mußte fühlen lernen, daß es ein wirkliches dauerndes Glück gebe in ruhiger Betrachtung, und dies hat mich Wordsworth gelehrt, nicht dadurch, daß er mich den gewöhnlichen Gefühlen und den gemeinsamen Bestimmungen menschlicher Wesen entfremdete, sondern im Gegenteil mein Interesse dafür erhöhte . . . Das Resultat war, daß ich zwar nur allmählich, aber vollständig aus meinem Trübsinn herauskam und nie wieder so schwer von ihm heimgesucht wurde. Ich habe den Wert Wordsworths lange nicht so sehr nach dem inneren Gehalt seiner Schriften, sondern nach dem bemessen, was sie für mich getan hatten. In Vergleichung mit den größten Poeten kann man von ihm sagen, daß er der Dichter für unpoetische Naturen mit ruhigem, kontemplativem
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Sinn sei; aber gerade die unpoetischen Naturen sind es, welche der poetischen Kultur bedürfen, und diese ist Wordsworth viel geeigneter zu geben als Dichter, die ihrem inneren Gehalt nach weit mehr Dichter sind als er. Der unpoetische Philosoph wird mit diesem Bekenntnis wohl der sittlich-erziehenden Bedeutung Wordsworths, nicht aber seinem Dichtertum gerecht, das ausgesprochen psychologisch ist und das Gedankliche in die Schönheit der poetischen Symbolsprache erhebt. Ein führender Dichter unsrer Zeit, T . S. Eliot, erinnerte einmal daran, daß Goethe ein Zeitgenosse der englischen Romantik war: Ich weiß nicht, nach welchem Maßstab man die relative Größe von Goethe und Wordsworth als Dichter gegeneinander abmessen könnte. Aber daß Goethe der größere Mensch gewesen sein muß, beweist der ungleich umfassendere Charakter seines Gesamtwerkes. Und Wordsworth ist von den Dichtern seiner Zeit der einzige, der sich überhaupt mit Goethe vergleichen läßt. S a m u e l T a y l o r C o l e r i d g e (1772—1834), vielleicht der stärkste dichterische Genius der älteren Romantikergruppe, ihr Dichter und Gelehrter, ist durch ein unglückliches Geschick nie zur eigentlichen Erfüllung seines Wesens gelangt und gibt damit so recht das Gegenbild zu Wordsworth ab, der in klarer innerer Entwicklung zu der Ruhe des Weisen und zu praktischen Aufgaben kam. In Coleridge lebte eine nervöse Energie, die den zum Höchsten treibenden Geist überall behinderte, fast alle seine großen literarischen Unternehmungen unvollendet und die eigentlich dichterische Schöpferkraft schon kurz nach 1800 versiegen ließ. Der Opiumgenuß tat das seinige zu der nervösen Naturanlage. Coleridge genas nicht wie Wordsworth aus Enttäuschung und Niedergeschlagenheit. E r predigte zwar die sittliche Höhe des Sieges, aber mit dem vollen Bewußtsein des Unterliegens, wie es aus der schwermütigen Ode Niedergeschlagenheit (Dejection) erklingt, dem eigenen Grablied auf die schaffende und befreiende Phantasie. Eine Naturekstase genügt dieser unruhigen Genialität nicht; die Philosophie soll Erleichterung bringen: A grief without a pang, void, dark, and drear, A stifled, drowsy, unimpassioned grief, Which finds no natural outlet, no relief, In word, or sigh, or tear— There was a time when, though my path was rough, This joy within me dallied with distress, And all misfortunes were but as the stuff Whence fancy made me dreams of happiness: For hope grew round me, like the twining vine, And fruits, and foliage, not my own, seemed mine. But now afflictions bow me down to earth: Not care I that they rob me of my mirth; But oh I each visitation Suspends what nature gave me at my birth, My shaping spirit of Imagination. For not to think of what I needs must feel, But to be still and patient, all I can; And haply by abstruse research to steal From my own nature all the natural man — This was my sole resource, my only plan: Till that which suits a part infects the whole, And now is almost grown the habit of my soul.
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In der deutschen Philosophie — Kant, Schelling — fand er die Wege zu dem immer wieder gesuchten Ausgleich zwischen Geist und Außenwelt. Auf der mit Wordsworth unternommenen Reise nach Deutschland hatte er sich tief in das Denken des deutschen Idealismus hineingebohrt und wurde sein eifrigster Künder im Heimatland. Dichtung und philosophisches Grübeln steigen aus der gemeinsamen religiösen Wurzel auf und streben dem unendlichen göttlichen Geist zu. Es ist nur ein Wandel der geistigen Ausdrucksform, wenn der unablässig Strebende von der Dichtung ganz zu philosophischen, religiösen und kritischen Schriften übergeht. Coleridge ist viel sensibler als Wordsworth. Alle Sinne spielen mit und greifen leicht ins Übersinnliche. Es ist ein im Grunde unenglischer, deutschem Empfinden verwandter Zug, wenn ihm der Glaube an die Eigenkraft der außermenschlichen Natur verlorengeht und ihm die Überlegenheit des eigenen Inneren Überzeugung wird. So sagt auch Klopstock der erhabenen Mutter Natur, schöner noch sei „ein froh Gesicht, das den großen Gedanken deiner Schöpfung noch einmal denkt", so empfinden Hölderlin, Platen, Stifter. Coleridges Lyrik beginnt mit schwermütigen, echt empfundenen Natur bildern. So etwa An die Nachtigall (To the Nightingale), wo der ruhige, melodische Gesang des Vogels der Nacht, Philomele, der Schwester der an die Liebe verlorenen Poeten, die Stimmung der Menschen widerspiegelt, oder das eigenartig schöne Gedicht Frost um Mitternacht (Frost at Midnight), in dem der Dichter Zwiesprache mit der geliebten Unschuld hält, ergreifende Resignation im Inneren bei aller Freude an der Außenwelt, in der das Weben der Naturgottheit erlauscht wird. Wordsworths Naturstil klingt an, aber nicht in seinem aus Kontemplation aufsteigenden Miterleben, sondern weit mehr mit den Sinnen erfühlt. Coleridges Seele gleicht der Aeolsharfe, über die der Wind streicht. Das tiefe Stimmungsbild Die Aeolsharfe (The Eoliatt Harp), an seine Braut Sara Fricker gerichtet, spricht von seinem lässigen und passiven Geist, in dem ungerufen die Gedanken aufsteigen und sich sofort dem Unbegreiflichen zuwenden. Wir schauen nicht mehr durch einzelne Naturbilder und Erscheinungsformen, sondern es überkommt uns das Gesamtleben in uns und außerhalb unser, die göttliche Gesamtkraft, die die Seele aller Bewegung ist, Lichtkraft im Klang und Klang im Licht, Rhythmus im Gedanken und Freude überall — wer könnte nicht alles mit seiner Liebe umfassen in einer solchen Fülle der Welt, wo der Wind sein Lied trillert, wo die Stille der Luft Musik ist, die auf ihrem Instrument schläft? And what if all of animated nature Be but organic harps diversely framed, That tremble into thought, as o'er them sweeps Plastic and vast, one intellectual breeze, At once the soul of each, and God of all?
Und wie, wenn alle lebende Natur Nur solchen Harfen gliche, kraus gestimmt, Aufzitternd zu Gedanken, wenn sie streift Der eine schöpferische Geisteshauch, Der jedes Teiles Seele ist und doch Vom Ganzen Gott?
Der Dichter will immer das Mysterium der Dinge erfühlen, das immanente Wesen in den tiefen Bewußtseinslagen aufspüren, über die Erscheinungen und die Sinne hinausdringen. Nur in diesem immerwährenden Fragen und in den seelischen Vorgängen können wir das Dasein ergründen, nur das geistige Auge kann sehen, nur von ihm aus kann der Dichter die geschauten Bilder in symbolgefüllte Worte bannen. Die Kunst dieses Magiers des Übersinnlichen mag an seinem größten und bekanntesten Gedicht verdeutlicht werden, das in den „Lyrischen Balladen" enthalten war und das uns durch Freiligraths meisterhafte Übertragung nahegebracht worden ist. Es ist die umfangreiche Ballade Der alte Matrose (The Rime of the Ancient Mariner), die Geschichte einer Seefahrt, ins Märchenhafte gehoben, mit Volksliedelementen und einem das Ganze durchziehenden schlichten Gewissensmotiv.
Samuel Taylor Coleridge
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Die Ballade beginnt damit, daß ein alter Matrose drei zu einer Hochzeit geladene Gäste trifft und einen von ihnen anhält. Der glühende Blick des Alten fesselt den Eiligen; er kann nicht von der Stelle und muß, auf einem Stein sitzend, die Geschichte von der Seefahrt über sich ergehen lassen. Bis in die Antarktis führte die Fahrt, w o das Schiff festfror. In der höchsten Gefahr erscheint ein Albatros als glückbringendes Omen; das Eis bricht, das Schiff kann den Heimweg antreten, begleitet von dem Albatros. Aus Übermut erschießt der alte Matrose das Tier, und sogleich beginnt die Irrfahrt. Man kommt in ein weites, unbekanntes Meer, die Sonne brennt, das Wasser atmet Fäulnis aus, die Matrosen sterben. All in a hot and copper sky, The bloody Sun, at noon, Right up above the mast did stand, No bigger than the Moon.
Am heißen Kupferfirmament, Hoch überm Mäste, thront Die blut'ge Sonn' zur Mittagszeit, Nicht größer als der Mond.
Day after day, day after day, We stuck, nor breath nor motion; As idle as a painted ship Upon a painted ocean.
Wir lagen Tage, tagelang; Kein Lüftchen ringsumher, Wie ein gemaltes Schiff, so trag Auf einem gemalten Meer.
Water, water, everywhere, And all the boards did shrink; Water, water, everywhere Nor any drop to drink.
Wasser, Wasser überall I Doch jede Fuge klafft; Wasser, Wasser überall! Nur was zu trinken schafft 1
The very deep did rot: O Christ! That ever this should be! Yea, slimy things did crawl with legs Upon the slimy sea.
Die Tiefe selbst verfaulte — Gott Im Himmel, gib uns Mut! Schlammtiere krabbeln zahllos rings Auf schlamm'ger Moderflut.
About, about, in reel and rout The death-fires danced at night; The water, like a witch's oils, Burnt green, and blue, and white. (111—130)
Und jede Nacht sah'n wirbelnd wir Die Totenfeuer glühn;
Wie Hexenöl, so flackerte Die Flut blau, weiß und grün.
Man hängt dem, der alles verschuldet hat, den Balg des erschossenen Albatros um den Hals: A h ! well a-day! what evil looks H a d I from old and young! Instead of the cross, the Albatros A b o u t my neck was hung.
Und alt und jung mit finsterm Blick Kam auf mich zugegangen; Den Albatros, den ich erschoß, Hat man mir umgehangen.
There passed a weary time. Each throat Was parched, and glazed each eye. A weary time! a weary time! How glazed each weary eye, When looking westward, I beheld A something in the sky.
Und lange Zeit verfloß. Verdorrt War jeder Gaum'. Wie Glas
At first it seemed a little speck, And then it seemed a mist; It moved and moved, and took at last A certain shape, I wist.
Zuerst war es ein kleiner Fleck! Der ward zum Nebel bald Und regte und bewegte sich Und wurde zur Gestalt.
A speck, a mist, a shape, I wist!
Ein Fleck, ein Nebel, dann Gestalt, Und näher kommt es stets; Als neckt' es einen Wassergeist, So schießt es und so dreht's.
And still it neared and neared: As if it dodged a water-sprite, It plunged and tacked and veered. (159—15 6)
Die Augen! Lange, lange Zeit.
Die Augen all' wie Glas! Da blickt' ich westwärts — schau! da sah Am Horizont ich was.
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V. Die Wiederentdeckung der Seele
Ein Geisterschiff nähert sich, auf dessen Deck der Tod mit einem Weibe um die sterbende Mannschaft würfelt. Auf dem Unglücksschiff stirbt die ganze Besatzung bis auf den alten Matrosen, der nicht sterben kann, denn das geisterhafte Weib war Leben im Tod gewesen und hatte beim Würfelspiel gewonnen. So muß der Unselige allein die leibliche und seelische Pein ertragen. I looked upon the rotting sea, And drew my eyes away; I looked upon the rotting deck, And there the dead men lay.
Ich blickte auf die faule See, Ich wandte die Augen fort! Ich blickte auf das faule Deck: Die Toten lagen dort!
I looked to heaven, and tried to pray; But or ever a prayer had gushed, A wicked whisper came, and made My heart as dry as dust.
Ich blickt' empor, will beten dann; Doch meiner Lipp' mit Stocken Entfließt nur gottlos Flüstern, macht Mein Herz wie Staub so trocken.
I closed my lids, and kept them close, And the balls like pulses beat; For the sky and the sea, and the sea and the sky Lay like a load on my weary eye, And the dead were at my feet.
Ich schließ' das Aug'; gleich Pulsen pocht Des Auges Stern beim Schließen; Des Himmels Höh', die blaue See
The cold sweat melted from their limbs, Nor rot nor reek did they; The look with which they looked on me Had never passed away.
Auf ihren Gliedern kalter Schweiß! Nicht faul ward ihr Gebein. Und immer sah ihr Aug' mich an Mit geisterhaftem Schein.
An orphan's curse would drag to hell A spirit from on high; But oh I more horrible than that Is a curse in a dead man's eye! Seven days, seven nights, I saw that curse, And yet I could not die. (240—262)
Zur Hölle schleppen kann der Fluch, Den eine Waise spricht; Doch schreckenvoller ist der Fluch Auf Toter Angesicht; Ich sah ihn sieben Tage lang, Doch sterben könnt' ich nicht.
Tun lastend meinen Augen weh, Und die Toten mir zu Füßen!
A m Tage ist das Schiff von Meerungeheuern umgeben, nachts von schaurigen Gestalten. Die Toten verrichten ihre gewohnte Arbeit, sehen aber den Alten so vorwurfsvoll an, daß dieser den Tod herbeiwünscht und die Schlammtiere segnet. Dieser Segen bringt Erlösung; jetzt kann er wieder beten und im Schlaf Vergessenheit finden. Beyond the shadow of the ship, I watched the water-snakes: They moved in tracks of shining white, And when they reared, the elfish light Fell off in hoary flakes.
Und in des Schiffes Schatten sah Ich große Wasserschlangen; Sie schlängeln sich in weißer Spur; Wenn sie sich bäumen, sind sie nur Mit flockigem Feu'r umhangen.
Within the shadow of the ship I watched their rich attire: Blue, glossy green, and velvet black, They coiled and swam; and every track Was a flash of golden fire.
Und in des Schiffes Schatten gern Sah ich ihr blitzend Fell; Wie Sammet schwarz und blau und grün; Sie schwimmen her, sie schwimmen hin, Die Spur wie Gold so hell.
O happy living things! no tongue Their beauty might declare: A spring of love gushed from my heart, And I blessed them unaware: Sure my kind saint took pity on me, And I blessed them unaware.
O glücklich ihr! wie schön ihr seid, Sagt eine Zunge nie! Und Liebe quoll im Busen mir, Und glücklich pries ich sie; Mein Heiliger erbarmte sich, Und glücklich pries ich sie.
Samuel Taylor Coleridge
The selfsame moment I could pray; And from my neck so free The Albatross fell off, and sank Like lead into the sea. Oh sleep! it is a gentle thing, Beloved from pole to pole! To Mary Queen the praise be given! She sent the gentle sleep from Heaven, That slid into my soul. (272—296)
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Zur Stunde könnt' ich beten dannl Von meinem Halse frei Fiel da der Albatros und sank Ins Meer, so schwer wie Blei. O Schlaf, du bist so süß, so süß! Geliebt von Pol zu Pol! Maria! Dir sei Preis und Dank, Daß Schlaf auf meine Wimpern sank! Du gabst ihn mir ja wohl!
Engelhafte Geister sind in die Leiber der Toten eingezogen, ruhig segelt das Schiff, ohne vom Wind bewegt zu werden. A m Morgen ertönt himmlische Musik von den Lippen der Toten: Around, around, flew each sweet sound, Then darted to the Sun; Slowly the sounds came back again, Now mixed, now one by one. Sometimes a-dropping from the sky I heard the sky-lark sing; Sometimes all little birds that are, How they seemed to fill the sea and air With their sweet jargoning! And now 'twas like all instruments, Now like a lonely flute; And now it is an angel's song, That makes the heavens be mute. It ceased, yet still the sails made on A pleasant noise till noon, A noise like of a hidden brook In the leafy month of June, That to the sleeping woods all night Singeth a quiet tune. (354—372)
Die Töne ziehn zur Sonn' empor, Die licht im Osten flammt; Dann kehren langsam sie zurück, Bald einzeln, bald gesamt. Bald war es mir, als zwitscherte Die Lerche auf dem Meer; Dann glaubt' ich, alle Vögelein, Die es nur gibt, so groß wie klein, Sie sängen ringsumher. Jetzt klingt es süß wie Flötenlaut, Jetzt wie Orchesterrauschen; Jetzt ist es eines Engels Lied, Dem selbst die Himmel lauschen. Es schweigt; doch tönt das Segelwerk Bis Mittag säuselnd nach, Wie in dem laub'gen Junimond Ein grasversteckter Bach, Der die ganze Nacht dem schlafenden Bach Ein Lied singt, selbst noch wach.
Ein unsichtbarer Geist lenkt das Schiff in den Heimathafen, w o der Pilot und ein Waldsiedler es empfangen. Immer noch liegen die Toten unbeweglich, aber neben jedem steht ein strahlender Seraph. Der Einsiedler spricht einen Segen, das Schiff versinkt, und der alte Matrose, von der Seelenangst befreit, „ein ernst'rer Mann, ein weis'rer Mann" — „ a sadder and a wiser man", wie es mit Aufnahme eines Shakespearischen Wortes heißt —, kann jetzt beichten. Von Zeit zu Zeit jedoch kehrt die Seelenangst zurück, und dann muß er seine Geschichte irgend jemand erzählen wie jetzt dem Hochzeitsgast. So fügt sich das Ende zum Anfang der Ballade; jeder der sieben Abschnitte kehrt am Schluß zu dem Anlaß des Unglücks zurück, der unseligen Tötung des Albatros. Im Ton der Bänkelsängerballade wird am Schluß die Moral angefügt, nicht aufdringlich lehrhaft, sondern natürlich aus der Stimmung erfließend, in der der Alte sein Seemannsgarn spinnt: Farewell, farewell! but this I tell To thee, thou Wedding-Guest! He prayeth well, who loveth well Both man and bird and beast. He prayeth best, who loveth best All things both great and small; For the dear God who loveth us, (610—617) He made and loveth all.
Leb' wohl, leb' wohl, du Hochzeitsgast! Doch dieses sag' ich dir: Der betet gut, wer Liebe hegt Für Vogel, Mensch und Tier! Der betet gut, wer Liebe hegt Für alle, groß und klein; Gott, der uns schuf, der liebt uns all', Will allen Vater sein.
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V. Die Wiederentdeckung der Seele
Die Liebe zur Kreatur, die Cowper, Burns, Wordsworth predigen, wird hier in ein mystisch-balladeskes Begebnis hineingestellt, in eine Märchen-, Traum- und Wunderwelt voll glühender und farbiger Naturbilder. Der alte Matrose hat ein glühendes Auge, die Sonne spielt mit ihren heißen Strahlen grausam in der salzigen Flut, unter einem Kupferfirmament brütet die von keinem Lüftchen gemilderte Hitze, ein flockiges Feuer hängt um die Wasserschlangen, wie von Hexenöl flackert die Flut blau, weiß und grün. Ein geheimnisvoller Magnetismus verbindet Menschen und Elemente. Alle leiblichen Nöte werden mit sinnlich-suggestiver Kraft ausgemalt. Erregung spricht aus der Schilderung in Wortwiederholungen, in atemlosen Kurzsätzen ohne Bindewörter und mit einförmiger Wiederholung der „und"-Anknüpfung; kindlich schreckhaft ist die Erzählung des Alten, und die eine Hexe aus dem „Macbeth", die nach Aleppo segelt, um einen verhaßten Matrosen zu quälen, kommt uns in den Sinn. Balladenstil und Balladenmetrum werden gewahrt, auch Einzelheiten wie etwa der Binnenreim fehlen nicht. Solche Vortragsart war bisher nur in der heiteren Dichtung nachgeahmt worden, bei Cowper und Goldsmith; hier wird sie mit dämonisch-schaurigem Inhalt erfüllt. Das Dämonische ist gerade bezeichnend für die Sensibilität dieses Dichters, der nicht wie Wordsworth in der klaren Luft der Wirklichkeit bleibt, sondern andre Welten herbeizaubern muß, um die Erregungen zu bannen. Die Grundhaltung der alten Volksballade, die das Hauptgewicht nicht auf den Bericht der Vorgänge, sondern auf das Mit- oder Nachleben der Stimmung legt und alle Vortragsmittel auf diesen Zweck abstellt, ist in vollendeter Weise gewahrt. Der Dichter spricht nicht in eigener Person, sondern der alte Matrose selbst berichtet aus traumhafter Erinnerung; durch Blick und Wort übt er einen geheimnisvollen Bann aus, so daß der, dem er sich erschließen will, wie gefesselt stehenbleibt und zuhören muß. Alle Kunstmittel des Vortrags sind auf Spannung, auf Gemütserregung, auf Weckung der Einbildungskraft, auf das Unbestimmte und nur Fühlbare gerichtet, altertümliche Wendungen unterstreichen die Alltagsferne, alles kommt auf das geistige Band, die organische Einheit zwischen dem All und der Menschenseele an. So entstand aus feinnerviger Einfühlung eins der eigenartigsten, nicht nachahmbaren Kunstwerke. Coleridges dichterisches Werk ist nicht umfangreich gegenüber seiner philosophischen und kritischen Prosa, aber, wie ein englischer Literarhistoriker sagt, wert, in reines Gold gebunden zu werden. Er weist immer in die Ferne und Höhe und gibt als Erzieher seines Volkes einer nüchternen, entweder frömmelnden oder skeptischen Zeit die Richtung in die befreienden Sphären des Geistes. Sein Leben und sein Werk mußten Fragment bleiben, weil die Höhen, in die er strebte, immer nur gesehen und gefühlt, aber nicht erreicht werden können. Der mit der empiristischen Grundhaltung der Volksart zusammenhängende Wirklichkeitssinn gab uns bereits den Schlüssel zu der Naturdichtung Wordsworths. Es ist in gleichem Maße bezeichnend für den stark realistischen Einschlag der englischen Romantik, daß sie, deren eigentlichster Empfindungsausdruck doch die Lyrik sein mußte, im Gegensatz zu den kontinentalen Strömungen auch dem Roman seine Stätte beließ und ihn in dem Werk Walter Scotts zu einem ragenden Gipfel erhob. Coleridge wollte Scott überhaupt nicht als Romantiker gelten lassen, weil er wohl die nachschaffende Einbildungskraft, „fancy", nicht aber die schöpferische „imagination" besäße. Das Urteil kennzeichnet die Vielgestaltigkeit und Selbständigkeit der Dichterindividualitäten, die jeder Einordnung in das Schema einer Schule widerstrebt. Scott verkörpert einen wesentlichen Zug romantischer Sehnsucht, die Heraufzauberung der nationalen Vergangenheit und die Erhöhung des eigenen Volkstums mit allen ernsten und heiteren Seiten, die das Leben zeigen kann, die Hinausführung des an den harten Alltag gespannten Menschen in das dramatische Weltgeschehen und die kraft-
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spendende Verknüpfung mit großen Zeiten der Vorfahren. Der Roman übernimmt cüe Rolle, die das Drama in der Zeit Elisabeths gespielt hat. Die Gegenwart ist mit der Vergangenheit unauflöslich verknüpft, wie es schon Burke und Coleridge wußten, der Mensch lebt in seiner geschichtlichen Umgebung, der Sinn für Tradition ist die Grundlage echter Haltung und wahrer Männlichkeit. Erdnähe, Gesundheit und Optimismus leben in dieser auf die Geschichte gerichteten Kunst. Sir W a l t e r S c o t t (1771—1832) — der Rang eines Baronet wurde ihm 1820 verliehen — entstammte einem der vier großen schottischen Geschlechter, dessen Haupt der Laird von Buccleugh war. Seine Vorfahren hatten oft eine große Rolle in den Geschicken des Landes gespielt. Die Mutter gehörte einem andren der vier großen Clans an. So lagen schon dem Knaben die geschichtliche Erinnerung und der Stolz auf die Vorfahren sozusagen im Blut. Er berichtet uns in einer autobiographischen Skizze, wie tief er die Schönheit der heimischen Natur empfand, besonders wenn ihr Ruinen aus alter Zeit oder die Erinnerung an ein Schlachtfeld Glanz verliehen, mit welcher Leidenschaft es ihn an solche Plätze trieb, wie er immerfort Spenser mit seinen Schilderungen ritterlicher Taten lesen konnte, wie er Percys Balladensammlung und prosaische Geschichtsbilder mit seltsamen Begebnissen und pittoresken Beschreibungen verschlang: Meine Begeisterung wurde in erster Linie durch das Wunderbare und Schreckliche erregt, was dem Geschmack aller Kinder entspricht; ich bin hierin bis auf den heutigen Tag ein Kind geblieben. Ich lernte die gelesenen Stellen, die mich am meisten ansprachen, auswendig — nicht als Aufgabe, sondern fast absichtslos — und rezitierte sie laut, allein oder vor andern; am liebsten in Stunden der Einsamkeit, denn ich hatte manchmal meine Zuhörer lächeln sehen und fürchtete das Lächerliche damals mehr als jemals später. ' Er wurde Advokat wie sein Vater, bekleidete hohe juristische Stellungen und entfaltete daneben eine große dichterische Tätigkeit. Mit dem Reichtum, den ihm Amt und literarisches Schaffen einbrachten, konnte er den Traum seines Lebens verwirklichen : er erwarb ein im Gebirge gelegenes Rittergut und ließ sich als Herrensitz ein romantisches Schloß bauen, dem er nach einer nahe gelegenen Furt den Namen Abbotsford gab. Als durch den Bankrott der Verlegerfirmen, an denen er beteiligt war, der Verlust seines Vermögens und eine in die Millionen gehende Schuldenlast über ihn kamen, bewährte sich die Charakterstärke des vornehmen, aufrechten Dichters aufs höchste. Er wies alle Hilfsangebote seiner Verehrer ab und nahm es auf sich, die Schulden durch eigene Arbeit zu tilgen. Die übermenschliche Anstrengung half zwar, den größten Teil der Verpflichtungen zu lösen, führte aber zum gesundheitlichen Zusammenbruch und vorzeitigen Tode. Scott war eine urwüchsige, gerade und geschlossene, konservative Natur, nach Carlyles Wort einer der gesundesten Menschen, volkstümlich und gütig. Er gehört nach Geburtsdatum und literarischen Anfängen zu der älteren Generation der Romantiker, mit seinen Romanen zu der jüngeren, blieb aber auch hier, dem alternden Wordsworth vergleichbar, in der geistigen und sittlichen Haltung der Frühzeit; die klare und feste Form seines Wesens erlitt keinen Bruch durch den politischen und geistigen Wandel der Zeit um 1815, der schöpferische Reichtum seiner Erfindung entfaltete sich ohne Rücksicht auf literarische Mode und schulmeisterliche Kritik, und wenn er mit seiner Freude am Nachzeichnen wunderbarer Dinge und traditionsverklärter Zeiten und Plätze immer ein Kind bleiben wollte, so hat ihm gerade diese naive Jugendlichkeit des Empfindens den Weg zum Herzen des Volkes und seinem Gesamtwerk den Wert eines nationalen Besitzes gesichert. Der deutschen Literatur der Sturm-und-Drang-Zeit verdankte er wichtige Anregungen; er übersetzte Goethes „Götz von Berlichingen" sowie Balladen von Bürger.
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V. Die Wiederentdeckung der Seele
Seine eigene Produktion begann mit der Sammlung alter Balladen aus dem schottisch-englischen Grenzland und mit Dichtungen aus ihrem Stoffkreis und ihrer Stilhaltung. Epische Dichtungen mit lyrischem Stimmungsgehalt entstanden, mittelalterliche Vergangenheit von romantischem Fühlen durchglüht, unter denen „Die Jungfrau vom See" die bekannteste ist. Die lyrische Schönheit der Umweltschilderung ist schon hier der Hauptwesenszug der Muse dieses Dichters. Als Byron mit seinen leidenschaftdurchglühten Kurzepen auftrat, empfand Scott die überlegene Kraft des jüngeren Dichters. Sofort nach dem Erscheinen der ersten Gesänge des „Junker Harold" wandte er sich in neidloser Selbsterkenntnis von der Versdichtung dem Roman zu, der das Feld seiner Meisterschaft werden sollte. In der kurzen Zeit von 18 Jahren errichtete er mit den 27 „Waverley-Romanen" — so genannt nach dem ersten, 1814 erschienenen Roman mit einer erst 1827 preisgegebenen Anonymität — ein Riesengebäude, das an Umfang, an Fülle der Ereignisse und Gestalten nur mit der „Menschlichen Komödie" von Balzac verglichen werden kann. Defoes „Robinson Crusoe" und Goldsmiths „Landprediger" haben uns bereits einen Einblick in die Entstehung des modernen Romans ermöglicht. Weichheit und Schönheit der Seele, Herzensgüte und Derbheit, Empfindsamkeit und Humor, Buntheit der Abenteuer und der komisch verbogenen, dabei aber liebenswürdigen Gestalten — das alles war in den großen Romanen des 18. Jahrhunderts bereits erreicht und lebt weiter in der großen Kunst eines Dickens und Thackeray. Die aufkommende Begeisterung für das Mittelalter fügte einen neuen Typus hinzu, den sogenannten Schauerroman oder, wie die Engländer ihn gern nennen, „gotischen" Roman, der mit sensationeller Übersinnlichkeit, mit aufregender Spukromantik, mit Spannungstechnik arbeitet und keine Grenze der Wahrscheinlichkeit kennt. Eine Pseudo-Gotik mit geheimnisvollen Burgverliesen und Schloßgespenstern, mit fahlem Mondlicht und stimmungsvoller Naturkulisse bildet den Hintergrund, grotesk-wunderbare Geschehnisse sind der Handlungsinhalt, das freie Walten der Phantasie läßt uns fast die Wirklichkeit vergessen und das Übersinnliche als das wahrhaft Reale empfinden. So fern uns diese Welt auch steht, hat sie doch große Bedeutung gehabt für die Befreiung der Phantasie und der Leidenschaften, die Liebe zum Malerischen, die stimmungsvolle Milieuschilderung. Es bedurfte nur noch einer Läuterung des Geschmacks und Rückkehr zur Lebenswirklichkeit, um die Bausteine für den romantische Einfühlung und gesunden Wirklichkeitssinn vereinigenden neuen Roman zusammenzutragen. Diese Überwindung der ethisch und ästhetisch unwahren Schauerromantik brachte der realistische bürgerliche Roman, der in der großen Kunst seiner Hauptvertreterin Jane Austen die menschliche Kleinwelt, das Leben mit seinen Ungereimtheiten, die kontrastierenden Charaktere zu zeichnen und mit fein lächelndem Humor zu umgeben verstand. Walter Scott ist Neuschöpfer ohne Vorläufer im eigentlichen Sinne, so viel er auch in der Handlungsfülle vom Abenteuerroman, in der Spannungstechnik und Umweltschilderung vom Schauerroman, in der Charakterisierungskunst vom bürgerlichen Frauenroman gelernt hat. An die Stelle der herkömmlichen Moral setzt er die Liebe zu seiner schottischen Heimat und ihren Menschen auf Grund eigener Beobachtung der Landschaft und des Alltags. Vergangenheit und Gegenwart gehören zusammen und leben beide aus der schottischen Geschichte, dem schottischen Alltag, dem Volkshumor und der Volkskunde. Es genügt nicht, ihn lediglich als den Schöpfer des geschichtlichen Romans abzustempeln; er hat auch die Welt seiner Gegenwart eingefangen. An drei Werken, die zu seinen bekanntesten Schöpfungen gehören, soll seine Kunst verdeutlicht werden. Das Her^ V01t Midlothian (The Heart of Midlotbian, 1818J hat als geschichtlichen Hintergrund die Begebenheiten des sogenannten Porteous-Aufstandes von 1736 mit
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dem nächtlichen Angriff der gereizten Volksmenge auf die Zollbude in Edinburg, die das Herz von Midlothian genannt wird. Der Hauptmann John Porteous ist der unerbittlich strenge, gefürchtete und verhaßte Verwalter dieses Gefängnisses. Ein beim Schmuggel und Raub ertappter Wilson ist zum Tode durch den Strang verurteilt worden, und Porteous erzwingt die Hinrichtung gegen die Volksstimmung. Die Menge ist empört, dringt in wildem Aufruhr in die Räume der Zollbude ein, findet den versteckten Verwalter und schleppt ihn an den Galgen. Die inzwischen eingetroffene Begnadigung durch die Königin Caroline ist mißachtet worden. — Im Zollbudengefängnis sitzt Euphemia oder, wie sie genannt wird, Effie Deans, die jüngere Tochter eines Bauern, unter der schweren Beschuldigung der Ermordung ihres unehelichen Kindes. Daniel Deans, der strenge, rechtgläubige Puritaner, kann ihr nicht verzeihen; er läßt nur noch die ältere Tochter Jeanie als sein Kind gelten. Die breitere Menschlichkeit des Schulmeisters und Hilfspfarrers Reuben Butler, dessen religiöse Ansichten er für fortschrittlich und nicht rechtgläubig im Sinne der „Kirk" hält, offenbart uns den Gegensatz des Alten und des Neuen Lichts, der den jungen Robert Burns zur Parteinahme zwang. Reuben ist bei dem Porteoussturm in eine gefährliche Lage gekommen. Vom Strudel fortgerissen, wird er nachher von der Stadtobrigkeit als einer der Rädelsführer angesehen und verhaftet, mit ihm zugleich auch die wahnsinnige Madge Wildfire. So sitzt er in quälender Untätigkeit, ohne der geliebten Jeanie gerade in dieser Zeit der Trübsal zur Seite stehen zu können. Jeanie vertraut auf ihn, dem sie ihr Herz geschenkt hat; einen vornehmen Laird, der still und fein um sie wirbt, hat sie abweisen müssen. — Ein Mann namens Robertson, der wirklich einer der Rädelsführer gegen Porteous war, bestellt Jeanie an einen unheimlich wilden Platz im Wald und sagt ihr mit allen Zeichen der Erregung, sie habe es in der Hand, die unglückliche Schwester zu retten; sie brauche nur auszusagen, Effie habe mit ihr über ihre Schwangerschaft und die Geburt des Kindes gesprochen. Es ist ein furchtbarer Konflikt zwischen schwesterlicher Liebe und sittlicher Pflicht, den Jeanie durchzumachen hat. Als der Gerichtstag kommt, bringt sie es nicht über das Herz, die Lüge auszusprechen, und sie muß das Todesurteil über Effie anhören. Eins aber kann die erschütterte, in ihrer Gewissenpflicht unbeirrbare Schwester tun: in London Gnade erbitten. Allein und zu Fuß macht sie sich auf den Weg, die Gefahren und Nöte der Landstraße nicht achtend. Sie wird auch wirklich überfallen und in ein Räubernest geschleppt, wo sie aus dem Munde der Mutter Madge Wildfires seltsame Dinge hört, die auf einen Raub von Effies Kind hindeuten. Jeanie entkommt und gelangt fliehend in das Haus eines würdigen Pfarrers, dessen bei einem Sturz vom Pferde verwundeter Sohn George Staunton, wie sich aus den Gesprächen ergibt, in irgendeiner geheimnisvollen Verbindung mit ihrer eigenen Familie steht. — In London gelingt es der tapferen Jeanie durch die Fürsprache des schottischen Herzogs von Argyle tatsächlich, im Schloßpark der Königin Caroline vor die Augen treten zu dürfen und Effies Begnadigung zu erlangen. Beglückt kann sie im Wagen die Heimreise antreten und die frohe Botschaft überbringen. Effie wird frei, Jeanie kann jetzt den treuen Reuben Butler heiraten, der ein Pfarramt erhält. Bald aber kommt neue Sorge über das Haus Deans. Effie ist verschwunden! Nach längerer Zeit erst kommt Nachricht von ihr, die in die Gesellschaft aufgestiegen ist. Ihr Gatte ist Sir George Staunton; sie selbst Lady Staunton, angeblich einem verarmten, aber alten schottischen Adelsgeschlecht entstammend, wegen ihrer Anmut und Stellung überall geschätzt und umschmeichelt. Nur Jeanie weiß zunächst von dieser neuen Wendung des Geschicks und erhält im Pfarrhaus den Besuch der von andern nicht erkannten Schwester. Allmählich lüftet sich der Schleier des Geheimnisses. Der angebliche Robertson war George Staunton, der aus der Art geschlagene, wilde und leidenschaftliche Pfarrerssohn. Das erste Opfer seiner Verführung war die unglückliche Madge,
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die über den Tod ihres Kindes den Verstand verlor und aus krankhaft übersteigertem Mutterneid das Kind der gleichfalls von George verführten Effie stahl. Das kleine Geschöpf wurde ihr aber von gewerbsmäßigen Kindesentführern zum Handel nach Südamerika geraubt. Es wuchs in Wirklichkeit als Helfer eines herumziehenden schottischen Kesselflickers, eines „Caird", auf, der als Schmuggler und Räuberführer sein Wesen trieb, verwildert und zerlumpt. Als Sir George mit Reuben von Edinburg in das Pfarrhaus fahren will, wird er von Räubern überfallen und im Kampf von seinem eigenen Sohn erschossen. Niemand kennt den wahren Vorgang. Effie trauert um den noch immer geliebten Verführer und Gatten, der alte Deans hat die letzten Schicksale seiner Kinder nicht mehr erfahren, Jeanie lebt in stillem Glück an Reubens Seite. Der Roman singt das Hohelied des tapferen und reinen schottischen Mädchens mit vollendeter Kunst der Porträtierung. Es sind einfache, puritanisch strenge, ethisch klare und feste Menschen, in deren Welt die Leidenschaft einbricht, Menschen, die die Härte kennen und lieben. Die strenge Tugend triumphiert über die Herrschaft der Triebe und der Muffigkeit; sie allein führt zum Leben und Glück. Das dumpfe Geheimnis, das über Effie, George Staunton und der wahnsinnigen Madge brütet, steht im Gegensatz zu der freien und klaren Welt der innerlich starken und freien Jeanie, ihres schlicht-gläubigen Vaters und des tüchtigen Butler. Wir erkennen die alten Romanmotive wieder: den aus höheren Kreisen stammenden gewissenlosen Verführer des einfachen Mädchens, die abenteuerlichen Begebnisse mit Wegelagerern, verwilderten Ausgestoßenen und Wahnsinnigen, die Technik der Spannung und der schließlichen Enthüllung des Geheimnisses. Das alles ergibt sich mit natürlicher Ungezwungenheit und steht in dem Rahmen eines mit allen Einzelzügen realistischer Kunst gezeichneten Volkslebens. Der Gegensatz der nationalen Kirchen tritt uns entgegen, die Gebräuche und Empfindungen des dörflichen Lebens erklären die Sprache und das Handeln der Menschen; Reuben Butlers Ordination als Dorfpfarrer bietet eine reiche Quelle der Belehrung über Volksbräuche. Das Charakterbild der Hauptheldin steht fest in der Welt, der sie entstammt. Die größte Meisterschaft entfaltet der Dichter in der sicheren Zeichnung der Vorgänge und Lebenskreise, also der Umwelt, in der seine Gestalten stehen: der mitternächtliche Angriff auf die Zollbude und die erregte Volksmasse, die Bauerntypen, das Leben der Edinburger Bürger, der Hof der englischen Königin, der machtvolle Herzog von Argyle. Das sind Bilder von einer Eindruckskraft, die man nicht vergißt. Das wirkliche Leben und Fühlen des Volkes, dessen Wirklichkeitsnähe auch durch mundartliche Redeweise unterstrichen wird, ist das einigende Band, das aus den Handlungsmotiven ein geschlossenes Kunstwerk schafft. Nach England und in die Anfänge der englischen Volkwerdung versetzt uns Ivanhoe (1819). Es ist das Jahr 1194, in dem König Richard Löwenherz aus der Gefangenschaft zurückkehrte. Das Normannentum, wie es uns namentlich in dem heimtückischen und bösartigen Reginald Front de Bœuf und dem sehr weltlich gesinnten Tempelritter de Bracy entgegentritt, ist moralisch tief gesunken. Prinz Johann, der Bruder des abwesenden Königs und Regent des Landes, der sich schon fast als König fühlt, veranstaltet rauschende Feste und hat wenig Verständnis für das Volk und seine Sorgen. Auf der andern Seite stehen die Vertreter der angestammten Heimat: der angelsächsische Aristokrat Cedric der Sachse und der aus altem Königsgeschlecht stammende Athelstane. Neben den beiden Lebenskreisen bewegt sich das Judentum, verkörpert in dem Geldleiher Isaac von York, ausgenutzt, verachtet und getreten. Ein breites Bild der allgemeinen Zustände und der die Fremdheit der Eroberer unterstreichenden sprachlichen Trennung zeigt uns die Überheblichkeit der Sieger und die geballte Faust der Unterdrückten. Der Prinz veranstaltet ein großes Turnier, auf dem
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zur Überraschung aller ein unbekannter Ritter — er nennt sich den enterbten Ritter — erscheint und siegt. Er erklärt die Lady Rowena, Cedrics schöne Verwandte und Pflegetochter, zur Königin der Schönheit. Der Unbekannte ist Ivanhoe, Cedrics Sohii, der wegen seiner Treue zu König Richard vom Vater verstoßen worden ist. Im Turnier schwer verwundet, wird der junge Ritter von Rebecca, der Tochter des Juden Isaac, gepflegt. Der Gegensatz zwischen den in ihrer Haltung unnachgiebigen Sachsen und den anspruchsvollen normannischen Adligen führt zu Fehden und Verfolgungen. Auf Front de Bceufs Burg Torquilstone werden die auf dem Wege Überfallenen sächsischen Adligen gefangengehalten, mit ihnen auch der Jude und seine Tochter. Die Burg wird nach längerer Belagerung von sächsischen Männern unter der Führung eines schwarzen Ritters und eines Bandenführers Locksley erstürmt, die Gefangenen werden befreit. Der schwarze Ritter entpuppt sich als der heimgekehrte König Richard Löwenherz, Locksley als der Volksheld Robin Hood, der von seinem treuen Bruder Tuck begleitet ist. De Bracy hat die schöne Jüdin Rebecca, die er für sich erringen will, entführt und in eine Ordensniederlassung der Tempelritter gebracht. Der Ordensgroßmeister verurteilt sie als Hexe, gestattet ihr aber, einen Kämpfer für ihre Ehre aufzurufen. Es findet sich kein Streiter für die Jüdin. Im letzten Augenblick aber erscheint der schwarze Ritter und besiegt den Entführer de Bracy. Isaac und seine Tochter verlassen das Land und gehen nach Granada. Ivanhoe kann seine geliebte Rowena heimführen. Der „Ivanhoe" ist uns eine liebe Erinnerung aus der Lektüre unserer Jugend, und der tatbereite Heldensinn, der mutige Einsatz für Schönheit und Recht gegen die Mächte der Heimtücke, das strahlende Bild ritterlicher Pracht und die Freude an der Hilfsbereitschaft der den Bedrückern Trotz bietenden, volkstümlichen „Outlaws" werden unverbildete Menschen in der Zeit des eigenen romantischen Fühlens immer begeistern. Hochgemuter Sinn, Heimat und heimische Sitte, Willkür und Recht, zarte Gefühle der jungen Menschen inmitten feindlicher Gewalten: das sind die Handlungsmotive. Ihre Träger sind einfache und fest umrissene Gestalten, es gibt keine Entwicklung der Charaktere, keine psychologische Studie. Es wäre aber ein falscher Ausgangspunkt, wenn man das fehlende Interesse an dem menschlichen Werden und Reifen als Mangel ansehen wollte. Die Absicht des Romans ist das große Kulturbild einer wichtigen Zeit der Gegensätze und der Keime für die spätere Geschichte. Aus eindringenden Studien historischer, juristischer und literarischer Quellen, von denen die Anmerkungen Zeugnis ablegen, insbesondere aus dem Studium Froissarts, hat der Dichter ein Zeitbild von großer Plastik und Farbigkeit entworfen. Wir hören in dem berühmten Einleitungskapitel von der soziologischen Schichtung der romanischen und angelsächsischen Teile des Wortschatzes, wir sehen den Alltag und seine Gebräuche nicht nur bei den Vornehmen, sondern auch bei Dienerschaft und Bauern, wir erfahren Einzelheiten von Waffen, Schmausereien und Tafelsitten, von kirchlichen und Ordensgebräuchen, von Handel und Wucher, vom Treiben der Outlaws. Geschichte, Rittertum, Richardlegende und Volksballadenmotive vereinigen sich zu einem großen Kulturbild, das in den Einzelzügen Wahrheit und Dichtung mischt, die Gesamtatmosphäre aber mit einer Kraft erfaßt, wie sie nur die Einfühlung eines wirklichen Dichters zu geben vermochte. Die großangelegten Schilderungen des ritterlichen Turniers und des Sturmes auf die Burg mit allen Formen und Intrigen eines mittelalterlichen Kampfes sind literarische Glanzstücke, deren inneren Geist man nicht wieder vergißt. Der Hintergrund der Landschaft gibt mit feiner Betonung der für das Geschehen wesentlichen Züge den Rahmen ab. Der Prinz erscheint in Scharlach und Gold, eine kostbare, mit Edelsteinen verzierte Pelzmütze auf dem Haupt, einen Falken auf der Hand tragend und mit lächelnd-keckem Blick die Schönen auf der Galerie musternd; die schöne Jüdin mit ihren strahlenden Augen, ihren perlen21 Die Stimmen der Meister
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weißen Zähnen und schwarzen Haarflechten, dem gelben Turban, den farbigen Blumen auf dem Purpurgrunde des seidenen Gewandes, dem reichen Schmuck aus Perlen und Diamanten und der stolzen Pfauenfeder am Turban lenkt die Blicke auf sich. Farben- und Lichtwirkungen stehen dem Schilderer überall in Fülle zur Verfügung. Eine maßvoll altertümelnde Sprache verleiht dem Ganzen den Hauch der zeitlichen Ferne und verbindet das Historische mit dem Sagenhaften. Das ist Stimmungskunst, Schaffung einer Atmosphäre, Gesamtbild. Hierin liegt das Hauptanliegen des Dichters, das Historische im tieferen Sinne, der Geist der Zeit, aus dem das Geschehen verständlich wird. Das gleiche gilt von dem Roman Kenilworth (1821), in dem der Atem des größten, des elisabethanischen Zeitalters eingefangen wird. In dem „Schwarzen Bären", der Kneipe des Giles Gosling, trifft sich eine laute Kleinstadtgesellschaft. Am ausgelassensten gebärdet sich der eben aus fernen Kriegszügen heimgekehrte Neffe des Wirts, Mike Lambourne. Nur ein den feineren Kreisen angehörender Gast hält sich fern von dem lärmenden Treiben, Master Tressilian. Ihm ist das Gerücht zu Ohren gekommen, daß auf dem nahen Landgut Cumnor Place eine Dame unter Bewachung des mürrischen, in seinem Tun und Denken undurchsichtigen Anthony Foster gehalten werde. Dies Geheimnis auszukundschaften ist Tressilians Absicht. Als er in Gemeinschaft mit dem kecken Kriegsmann Mike das Haus aufsucht, findet er seine Ahnung bestätigt: die Bewachte ist Amy Robsart, seine frühere Verlobte, die Tochter des Sir Hugh Robsart. Als er bei dem Rückweg von diesem ersten Gang an der Gartenpforte seinen alten Gegner Varney trifft, steht es für ihn fest, daß nur dieser der Entführer des geliebten Mädchens sein könne. Den wahren Sachverhalt kann er ja nicht ahnen. In Wahrheit ist Amy in aller Stille dem mächtigen Grafen von Leicester als Gattin angetraut worden, der wegen seiner Stellung als Günstling der Königin die Ehe nicht bekanntgeben will. Die Besuche, die er der Gattin in ihrer Verborgenheit abstattet, sind die Tage ihrer höchsten Freude und die Erfüllung ihrer Sehnsucht. Tressilian ist entschlossen, Varneys vermeintliche Tat bei Hofe vorzutragen und den Urteilsspruch der Königin zu erbitten. Auf dem Ritt nach London nötigt ihn die Lahmheit seines Pferdes zu einer Rast. Nach vielen Mühen findet er einen Hufschmied, einen merkwürdigen Mann, Wayland der Schmied genannt, den früheren Diener und Schüler eines Alchimisten und Quacksalbers Demetrius Doboody, von dem die Leute sagen, der Teufel habe ihn geholt. Tressilian sucht, als er weiterreiten kann, zuerst den trauernden Sir Hugh Robsart auf, dann den Grafen von Sussex, den Widersacher Leicesters bei Hofe; er trifft ihn krank an. Am Hofe der Königin herrschen Glanz, Zeremoniell, Prunk des Äußeren und des Geistes. Unter den Kavalieren erregt der stattliche junge Ritter Walter Raleigh einmal die Aufmerksamkeit der Königin, als er seinen kostbaren Mantel galant über eine Pfütze breitet, die sie zu überschreiten hat. Die Monarchin hält eine große Staatsaudienz, in der sie eine Aussöhnung der Grafen Leicester und Sussex wünscht und auch herbeiführt; eine äußerliche Aussöhnung freilich, denn es bleibt nicht zweifelhaft, daß Graf Leicester auch weiterhin den ersten Platz in der Gunst Elisabeths haben soll. Nun hat Tressilian Gelegenheit, seine Anklage gegen Varney vorzutragen. Leicester, bestürzt über die Gefahr einer Enthüllung seines Geheimnisses, sieht den Abgrund schon vor sich. Da aber rettet Varney die Situation: er bekennt sich selbst als Gatten der Entführten. Als die Königin den Grafen fragt, ob Amy wirklich Varneys Frau sei, gibt der geschulte Hofmann die unverfängliche Antwort, er wisse, daß sie verheiratet sei. Elisabeth gibt die Absicht kund, zu einem Fest auf Leicesters Schloß Kenilworth zu kommen. Dort solle auch Varneys schöne Gattin anwesend sein, die sie kennenzulernen wünsche. Graf Leicester, der von dem ganzen Hof als Liebhaber der Herrscherin angesehen wird und für nicht wenige sogar schon der künftige König ist, wird von schwerster Unruhe gepeinigt. Er muß aber seine Rolle weiterspielen, Bootsfahrten auf der Themse in
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ungezwungener Laune mitmachen, der Königin Artigkeiten erweisen, die der Monarchin gefallende Politik der starken Hand gegen Maria Stuart empfehlen. Daheim aber packen ihn Angst und Verzagtheit. Sein Hausastrolog Alasco kann nichts als eine freundliche Zukunft und gute Aussichten bei Hofe voraussagen. Wayland der Schmied erkennt in dem betrügerischen Sterngucker seinen alten Herrn und Meister Doboody, der den einstigen Schüler tot glaubt. Jetzt muß Alasco helfen. Leicester, der keinen andren Ausweg sieht, will notgedrungen Amy für einige Zeit als Varneys Gattin gelten lassen, zünächst aber die Begegnung mit der Fürstin verhindern. Der Astrolog und Alchimist soll einen Trank für sie brauen, der sie in eine tiefe Mattigkeit senkt und die Reise nach Kenilworth aufgeben läßt. Wayland aber hat ihr schon einen andern Trank gegeben, von dem er weiß, daß er die Schlafwirkung, die Alasco herbeiführen soll, aufhebt. Amy, empört über die Zumutung, als Varneys Gattin aufzutreten, will zu ihrem Gemahl, von dem sie Hilfe und Beruhigung erwartet. Sie entweicht heimlich aus ihrem Versteck und wird von Wayland nach Kenilworth geleitet. — Das große Fest in Kenilworth — geschichtlich im Juli 1575, achtzehn Tage lang mit einem täglichen Aufwand von 1000 Pfund—ist die höchste Entfaltung höfischen Prunks und volkstümlicher Belustigungen, ein Taumel des Genusses und ein abwechslungsreicher Schauplatz feingeistiger Spiele, ein Panorama der überschäumenden Welt- und Lebensfreude der Renaissancemenschen. In den Zugangsstraßen drängt sich das Volk, durch Gaukler in Stimmung gehalten, die vorbeiziehenden Großen des Landes und ihren privaten Hofstaat mit freudigen Zurufen begleitend. Das Schloß selbst ist durch ein Heer von Handwerkern geschmückt und für Mummenschanz und Spiele hergerichtet worden. Im Schloß Warwick hat man der Königin bereits große Pantomimen vorgespielt, mit allen Formen des höfischen Zeremoniells hält sie mit ihren Rittern und Hofdamen Einzug. Ein geistsprühender, galanter Dialog kennzeichnet die Atmosphäre, die sie liebt. Varney und Raleigh werden zu Rittern geschlagen. Die erwartungsvolle, innig liebende und vertrauende Gattin des Schloßherrn aber wird in dem für Tressilian bestimmten Zimmer verborgen gehalten. Als ein Besucher naht, glaubt Amy den Gatten in die Arme schließen zu können; mit Entsetzen erkennt sie den verhaßten Varney. Sie flieht aus dem Zimmer und verbirgt sich in einer Grotte, in der die Königin während der Jagd sie entdeckt. Neue Gefahr der Entdeckung des falschen Spiels für Leicester! Man erklärt Amy für geistig gestört, sie wird der Fürsorge des vorgeblichen Gatten Varney überlassen, der hilflose und schwache Leicester wagt nicht zu widersprechen. Sie oder ich muß sterben, sagt er in seiner Verzweiflung zu seinem kalten und bedenkenlosen Helfershelfer Varney, der die Verlassene sofort nach Cumnor Place zurückbringt. Er erschießt unterwegs Mike Lambourne, der ihn einholt und den die erste Aufwallung widerrufenden Befehl des Gra&fi überbringen soll. Anthony Foster wird für den teuflischen Mordplan, den Varney erdacht hat, leicht gewonnen, als seine Habgier erregt wird. Amys Gewahrsam, viele Treppen hoch gelegen, hat eine Falltür, durch die sie beim Überschreiten in den Tod stürzt. Als Tressilian und Raleigh eintreffen, zu spät, um noch Rettung bringen zu können, sieht Varney sein Spiel verloren und nimmt Gift. Foster verhungert neben dem Judaslohn seines Goldes, da er das Tor seines Verstecks nicht wieder öffnen kann. Von der ungeheuren Schuld Leicesters weiß niemand etwas; sie lastet auf dem Gewissen des Höflings, der den männlichen Mut zum Bekennen nicht aufbringt. Er wird allgemein bedauert und bleibt weiterhin der mächtigste und strahlendste Mann am Hofe. Die rührende Geschichte der so zart und keusch gezeichneten Amy Robsart, in der Leicester geradezu als Mörder seiner Gattin erscheint, entstammt, wie der Dichter uns in seiner Vorrede selbst mitteilt, einer Volksüberlieferung, die in einer Ballade lebendig geblieben war. Die Gestalt des Grafen, der seine Liebe dem Ehrgeiz opfert, 21*
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ist scharf und sicher umrissen, der Charakter der Königin, so wie ihn der Schotte deutete, mit großer Einfühlungsgabe gezeichnet. Von einem Reifen und Wachsen des inneren Menschen ist auch hier nicht die Rede; die Typen sind von Anfang an gegeben, die gebieterische Königin, die kindlich und unschuldig liebende Amy, der haltlose, ehrgeizige Graf, der schurkische Varney. Auch hier liegt das ganze Gewicht auf der Schilderung des großen Zeitbildes, das mit überlegener Meisterschaft die Gestaltenfülle und die verschlungenen Vorgänge bändigt. Es ist die Zeit des großen Lebensrausches, der groben und feinen Genüsse, der Zartheit und der Rücksichtslosigkeit, des Prunkes und des Elends, die Zeit Shakespeares und Spensers. Wer dies Bild in sich aufgenommen hat, versteht das große Welttheater Shakespeares besser, das Leben mit seiner Tragik und Komik, die Menschen mit ihren Leidenschaften der Stärke und Schwäche, die Sprache der Roheit und des geistreichen Spiels, der Volksmusik und Madrigale, der „gezuckerten" Sonette und der Maskenspiele. Es ist ein eindrucksvolles Stück beseelter Kulturgeschichte, in dem die stärkste Epoche Englands lebendig geblieben ist. Die künstlerische Divination, mit der der Dichter das Wesen der Zeitalter fühlbar zu machen versteht, macht seine Größe aus. Tiefgehende historische Studien, eine überreiche Erfindungsgabe, ein Sinn für die komplexen Seiten des Lebens, eine breite Menschlichkeit, eine farbenreiche Darstellungskunst haben ihm die Feder geführt. Verklärende Liebe zur Vergangenheit hat gewiß manches nicht objektiv richtig gesehen; der Dichter hat andre Aufgaben als der Historiker. Der wissenschaftliche Forscher beschreibt die Gesamtheit der Dinge und Vorgänge, der Dichter aber gibt das vollkommenere Bild, indem er das Allgemeine durch den besonderen Fall lebendig werden läßt und ihm eine Seele einhaucht. So hat es schon Sir Philip Sidney gesagt, den die Zeit Leicesters als ihren vollendeten Vertreter bewunderte, und Schopenhauers tiefsinnige und feine Abgrenzung der Geschichte und der Dichtkunst („Die Welt als Wille und Vorstellung", I, Kap. 51, und II, Kap. 38) weist der Geschichte das Gebiet der Sukzession zu, das analytisch-rationale Ineinandergreifen von Vorher und Nachher, der Dichtung dagegen die Fähigkeit, die Idee der Menschheit von einer bestimmten Seite aus zu gestalten, also das Wesen der Vorgänge und der in ihnen handelnden Gestalten. Die künstlerische Führung der Handlung ist nicht Scotts Stärke; man muß sich oft zu Beginn durch weitschweifige Beschreibungen hindurcharbeiten und am Schluß manchmal eine übereilte Lösung hinnehmen. Er arbeitet nicht an seinen Plänen, sondern er erzählt aus der Fülle seiner Einbildungskraft und seines Herzens. Die Geschichte selbst gibt den Helden ab, nicht so sehr der einzelne Mensch, der die Kräfte nur in Bewegung zu setzen hat. Das Gewesene in Landschaft, Leben und Treiben bei hoch und niedrig wird lebendig gemacht mit den Zügen des Heutigen; Romantik und Realismus gehen eine innige Verbindung ein. Aus dieser Verbindung konnte der historische Roman erwachsen, der in ganz Europa eine große Nachfolge fand. Scott ist sein Begründer und in dem Reichtum seiner Bilder sein unerreichtes Vorbild. Und für seine engere Heimat steht er mit seinen schottischen Romanen und Versdichtungen neben Robert Bums als der geliebte Künder der Volksseele und Schöpfer einer geistigen Provinz, die Schottland heißt. Er einte die Hochlande und die Ebene in gemeinsamem nationalem Stolz und lehrte die Engländer das Land im Norden der großbritannischen Insel schätzen. Es erhielt ein durch seine beiden großen Dichter der Kulturwelt gezeigtes eigenes Gesicht mit wertvollen Stammeseigenschaften und mehrte die Macht und den Ruhm Englands, zumal nach dem Absterben der jakobitischen Bewegungen die Gegensätze geschwunden und die neuen Probleme gemeinsam waren, nicht trennten, sondern verbanden.
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3. J ü n g e r e R o m a n t i k : B y r o n , Shelley, K e a t s Die zweite Generation der Romantiker gruppiert sich um drei große Namen: Byron, Shelley und Keats. In der Zeit der fran2ösischen Revolution geboren, erlebten sie diese Bewegung nicht als unmittelbaren großen Stoß wie Wordsworth und Coleridge, sondern nur noch in ihren späteren Auswirkungen. Die ältere Generation gelangte nach stürmischer Begeisterung bald zu einer nationalen Kampfstellung gegen das revolutionäre Frankreich und das Premier Empire und fand Stärkung in dieser Haltung durch Hinabsteigen in die eigenvölkische Tradition. Eine Regeneration des eigenen Volkes war ihr Ziel. Das war die eigentliche geistige Haltung bis in die Zeit, als Napoleons Stern zu sinken begann und 1815 erlosch. Nun drängten sich die Probleme des sozialen Lebens mehr in den Vordergrund. Die lange Kriegszeit hatte Not und Elend gebracht, die fortschreitende Industrialisierung steigerte diese Nöte, die Philosophie des Utilitarismus mit ihrer Auffassung von dem Zusammenfallen des Nützlichen und des Tugendhaften, die neue Wirtschaftslehre mit dem Grundsatz des freien Wettbewerbs und freien Spiels der Kräfte kamen dem Unternehmertum zugute, die Korngesetze von 1815 machten das Brot teurer. Materialismus und Egoismus beherrschten das Volk. Hiergegen lehnten sich die jungen geistigen Wortführer auf. Ihr starker Appell an die Kräfte der Seele konnte sich nicht mehr als Erhöhung der moralischen Werte der Volksanlage fühlen, sondern mußte revolutionär sein, Neues predigen und schaffen. Eine Entfremdung von der öffentlichen Meinung war zwangsläufig, eine Kampfstellung gegen die Heimat, die nach 1815 in den Jahren der „Heiligen Allianz" alles andere als revolutionär war. Der aristokratische Individualismus Byrons und der demokratische Idealismus Shelleys wirkten in der gleichen Richtung, beide Dichter haben keinen Kontakt mehr mit der Masse ihrer englischen Landsleute, beide verließen das Land und starben in der Ferne. Die Befreiung des Individuums geht bisweilen bis an die Grenze der Anarchie, die Überhöhung des Gefühls streift bei einigen das Dekadente. Die großen Vertreter aber überwinden das Ringen und Suchen ihres Lebens und Dichtens. Ein neues Ideal ist das Ergebnis, ein freies Menschentum, ein Durchbruch von der insularen Haltung zu einem europäischen Menschheitsideal.
G e o r g e G o r d o n L o r d B y r o n (1788—1824) ist wohl der unenglischste der großen Dichter. Sein Wesen ist Leidenschaft, Maßlosigkeit des Temperaments, Sprunghaftigkeit. Leben und Dichtung sind eins, beide sind nicht zu trennen bei der ungeheuren Wirkung, die dieses Heldenbild sofort in Europa ausgeübt hat, auf dem Kontinent weit mehr als auf der heimatlichen Insel. Goethe, der dem bewunderten Dichter in der Gestalt des aus der Vereinigung der klassischen Helena und des romantischen Faust geborenen Euphorion ein Denkmal gesetzt hat, ruft dem genialischen, nicht zur Klarheit gelangenden Drängen zu: „Nur mäßig, mäßig, nicht ins Verwegene I" Und dem Frühvollendeten singt er an der gleichen Stelle („Faust", Zweiter Teil, III. Akt) die ergreifendste Nänie: Nicht allein 1 — Wo du auch weilest, Denn wir glauben dich zu kennen; Ach! wenn du dem Tag enteilest, Wird kein Herz sich von dir trennen. Wußten wir doch kaum zu klagen, Neidend singen wir dein Los: Dir in klar' und trüben Tagen Lied und Mut war schön und groß.
Ach! zum Erdenglück geboren, Hoher Ahnen, großer Kraft, Leider! früh dir selbst verloren, Jugendblüte weggerafft. Scharfer Blick, die Welt zu schauen, Mitsinn jedem Herzensdrang, Liebesglut der besten Frauen Und dein eigenster Gesang.
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Doch du ranntest unaufhaltsam Frei ins willenlose Netz, So entzweitest du gewaltsam Dich mit Sitte, mit Gesetz; Doch zuletzt das höchste Sinnen Gab dem reinen Mut Gewicht, Wolltest Herrliches gewinnen, Aber es gelang dir nicht.
Wem gelingt es? — Trübe Frage, Der das Schicksal sich vermummt, Wenn am unglückseligsten Tage Blutend alles Volk verstummt. Doch erfrischet neue Lieder, Steht nicht länger tief gebeugt: Denn der Boden zeugt sie wieder, Wie von je er sie gezeugt.
In Byrons Adern floß altes Normannenblut. Als Sohn eines Stürmers und Wüstlings geboren, durch eine ungeregelte Erziehung unter der Leitung einer von einem Extrem ins andere fallenden Mutter gegangen, schön, aber mit der Achillesferse eines Klumpfußes behaftet, blieb er immer der Sproß seines stolzen, eigensinnigen, ausschweifenden Geschlechts; äußerlich und innerlich hastig verlief sein Leben, taumelnd von Begierde zum Genuß. Dämonen wohnten in seiner Brust und ließen ihn nie zur Ruhe kommen. Erotische Tragik der Jugendjahre, ein unseliges Verhältnis zu seiner Halbschwester Augusta, das als geheime Schuld auf seiner Seele lastete, der Widerstreit zwischen Ideal und Wirklichkeit machten ihn zum Dichter des Weltschmerzes, eine unglückliche und bald wieder geschiedene Ehe und im Zusammenhang damit der Zerfall mit der Gesellschaft trieben ihn für immer aus dem Lande, nach der Schweiz, nach Italien, in Karneval und Sinnestaumel und fürstliche Lebensführung, zu neuen Freunden und in die Arme der Frauen, bis das aktive Eintreten für den Freiheitskampf des kleinen Griechenvolkes diesem titanisch stürmenden Leben von Leidenschaft und Leid in den Fiebersümpfen von Missolunghi ein verklärendes Ende setzte. Sein Tod war ein Weckruf für die unterdrückten Völker und gleichsam ein Sühneopfer für die Menschheit. 1809 trat der junge Dichter nach der Sitte der adligen Erziehung seine erste große Reise ins Ausland an, die ihn nach Portugal, Spanien, Malta, Albanien, Athen, Konstantinopel — er durchschwamm den Hellespont zwischen Sestos und Abydos — führte. Die dichterische Frucht dieser Reise, die beiden ersten Gesänge der lyrischepischen Dichtung Junker Harolds'Pilgerfahrt(Childe Harold's Vilgrimage), die 1812 erschienen, schoben ihn mit einem Schlage in die vorderste Reihe der Dichter: „Ich erwachte eines Morgens und fand mich berühmt." Vier Jahre nach dem Erscheinen der ersten Gesänge zog er auf die zweite Pilgerfahrt, diesmal für immer in die selbstgewählte Verbannung nach den Enttäuschungen in der kurzen Ehe und in dem Verhalten seiner gesellschaftlichen Umgebung, „a sadder and a wiser man". Der Rhein, die Schweiz und Italien sind die Schauplätze dieser Reise, deren Ertrag die Harolddichtung mit den Gesängen III und IV abrundet. Romantik, so sagt man, ist immer „unterwegs"; denken wir an die Wanderlieder W. Müllers und Eichendorffs, an den „Taugenichts" Eichendorffs als Vorbild vieler Fahrender, an Wordsworths „Ausflug". Man wandert „hinaus in die Ferne" und singt sein Lied dazu — Musik als Kunst der Romantik wie Plastik die der Klassik. Byrons Hauptgestalten, Junker Harold und Don Juan, sind unruhevolle Wanderer. „Junker Harolds Pilgerfahrt" ist ein poetisches Reisetagebuch, eine impressionistische Schau der Länder und Völker in lose aneinandergefügten Spenserstanzen. Die Strophenform also gibt einen Hauch der alten Ritterromantik, der hier und da noch durch altertümliche Wortformen unterstrichen wird, schon durch den Titel: "Childe Harold's Pilgrimage. A Romaunt". Eine Art mittelalterlichen Ritterepos schwebte dem Dichter offenbar vor, ein fahrender Ritter, der auszieht mit Pagen und Gefolgsmann und mit der Harfe in der Hand. Sehr bald aber wird das archaisierende Beiwerk über Bord geworfen; Byron war viel zu sehr Dichter seiner eigenen Gefühle, um sich an „gelehrten" Aufputz zu halten, viel zu modern, um sich für eine Phantastik
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des Mittelalters zu erwärmen. Er verwahrt sich zwar in der Vorrede gegen eine autobiographische Deutung; Harold sei ganz ein Kind der Phantasie, und nur lokale Einzelheiten ließen eine Beziehung auf seine eigene Person zu. Das trifft insofern zu, als eigentlich nur die melancholische Grundstimmung des Helden der seines Dichters entspricht, während tiefere Züge und Anlagen nicht in den ziemlich farblosen Charakter des Junkers eingegangen sind. Der subjektive Grundzug der Dichtung aber ist unverkennbar und macht recht eigentlich ihren Gehalt aus. Byron hat keine innere Beziehung zu seinem Helden. Er führt ihn episch ein, verliert ihn auf weite Strecken aus dem Auge, nennt ihn dann wieder, bis der Junker in den späteren Gesängen ganz verschwindet und in das Ich des Dichters übergeht. Die blasse Gestalt des weltmüden, schuldbewußten, ungeliebten, vom Grausen der Übersättigung erfaßten und bis zur inneren Krankheit enttäuschten, in seinem Weh geradezu schwelgenden Jünglings, der in seiner Einsamkeit in die Ferne flieht (Anfang von Gesang I), zeigt keine liebenswürdigen Züge, keine Neigung zum Handeln, und die wohl beabsichtigte allmähliche Vertiefung des Charakters bleibt aus. Sein Herz ist ausgebrannt, seine Rastlosigkeit nicht einmal mehr genußfähig. Sein Weltschmerz fließt aus Lasterhaftigkeit und Schuldgefühl, anders als bei Goethes Werther, der ohne Grund, nur aus übersensibler Gemütsanlage an der Welt leidet. Übersättigung und Überdruß füllten auch Byrons Herz, als er seine Fahrt antrat. Aber sein Inneres war unverbraucht, eindrucksfähig, lebenshungrig, fähig zum Genuß der Reise. „Ich möchte um alles in der Welt kein solcher Kerl sein", schreibt er einmal in einem Brief. So erfüllt Harold nur unvollkommen die Aufgabe, das einigende Band für die wechselnden Eindrucksbilder abzugeben; der Persönlichkeitszauber des Dichters, der uns überall entgegenstrahlt, eroberte die Welt. Die zweite Ausfahrt enthüllt den autobiographischen Bezug noch klarer. Hier ist es nicht mehr der Mann, „den eigner Trübsinn ächtend trieb umher", der Wunden trug, die nicht töten, stets nur quälen (Anfang von Gesang III), sondern der durch Lebenserfahrung Gereifte, der „hoffnungslos, doch minder gramgequält" (III, 16) die Selbstverbannung auf sich nimmt, der die Menschen meidet, weil er in sich selbst ein Leben finden kann (III, 12), der schaffen und kräftiger werden will: 'Tis to create, and in creating live A being more intense, that we endow With form or fancy, gaining as we give The life we image, even as I do now. (Ill, 6)
Nur um zu schaffen und zu kräft'germ Leben Durch solch ein Schaffen zu erstehn, verleihn Wir Form der Phantasie, und wie wir's geben, Gewinnen selber wir ein schönres Sein.
Der III. und IV. Gesang vollenden die gereifte Persönlichkeit, die aus Natur und Welt Kraft schöpft, die die Tiefen der Kunst und des Wissens durchdringt und in der Erkenntnis von Pflichten die müde Skepsis überwindet. Die Dichtung ist überreich an Motiven und Tönen. Landschaft und Volksleben werden mit einer Schärfe erfaßt, wie es nur dem Seherauge des Dichters möglich ist, die vielfach heruntergekommene Gegenwart auf traditionsgeheiligtem Boden wird verklärt durch heraufgezauberte geschichtliche Bilder. Aus der Natur erwächst die Stimmung. Eine impressionistische Kunst erfaßt die bezeichnendsten Züge, Anschauungs- und Einbildungskraft durchdringen Leben und Landschaft und gestalten eine Einheit der Stimmung, wie sie nur höchste Poesie zu geben vermag. Politik und Gesellschaftszustände strömen in die Fülle des Erlebens ein und gewinnen in Verbindung mit dem Augenblicksbild Leben und Wertung. Es ist der Reichtum eines Geistes und einer Seele, der hier höchsten Reisegenuß und Wirkung auf das Innere spendet. Die Intensität der Wirklichkeitsbilder schafft geschlossene Szenen, die als
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selbständige Gedichte stehen könnten. Ein Stierkampf in Cadiz (I, 71—80) läßt uns die atemberaubende Glut des blutigen Spiels und der erregten Menge unter der heißen Sonne des Südens empfinden. . . . the ungentle sport that oft invites The Spanish maid, and cheers the Spanish swain. Nurtured in blood betimes, his heart delights In vengeance, gloating on another's pain. What private feuds the troubled village stain! Though now one phalanx'd host should meet the foe, Enough, alas! in humble homes remain, To meditate 'gainst friends the secret blow, For some slight cause of wrath, whence life's warm stream must flow. (1,80)
. . . Das Spiel, das Spaniens Frauen lockt Und dem sich Spaniens Männer jubelnd weihn. An Blut schon früh gewöhnt, jauchzt und frohlockt Ihr Herz in Rache, stumpf für fremde Pein. Von blut'gen Fehden ist kein Dorf dort rein, Und statt im Feld mit Schlachten zu gewinnen, Schließt mancher sich in niedrer Hütte ein, Um gegen Freunde Meuchelmord zu sinnen, Denn bei dem kleinsten Zwist muß warmes Herzblut rinnen.
Von wilder Schönheit ist das Lied der Sulioten, eines albanischen Gebirgsstammes (II, 72), von dramatischer Wucht die mitreißende Schilderung des Morgens der Schlacht bei Waterloo (III, 21 ff.), voller Pracht und Duft die Rheinlandschaft am Drachenfels (III, 55), sehnsuchtsvoll das stille Sinnen auf der Seufzer brücke in Venedig (IV, 1 ff.), gewaltig die Anrufung des brausenden Meeres, zu dem die aufgewühlte Seele des Dichters sich immer hingezogen fühlte. Thou glorious mirror, where the Almighty's form Glasses itself in tempests; in all time, Calm or convulsed—in breeze, or gale, or storm, Icing the pole, or in the horrid clime Dark-heaving;—boundless, endless, and sublime — The image of Eternity—the throne Of the Invisible; even from out thy slime The monsters of the deep are made; each zone Obeys thee; thou goest forth, dread, fathomless, alone. And I have loved thee, Ocean! and my joy Of youthful sports was on thy breast to be Borne, like thy bubbles, onward: from a boy I wanton'd with thy breakers —they to me Were a delight; and if the freshening sea Made them a terror —'twas a pleasing fear, For I was as it were a child of thee, And trusted to thy billows far and near, And laid my hand upon thy mane—as I do here. (IV,183—184)
Glorreicher Spiegel, draus der Allmacht Bild InUngewittern strahlt! — zu allen Zeiten, Ob's weht, ob's stürmt — beruhigt oder wild — Am eis'gen Pol wie in des Südens Breiten Erhaben, endlos, groß! —Der Ewigkeiten Tief ernstes Bild, des Ew'gen Thron! — Sein Wort Ließ schöpferisch einst deinem Schlamm entschreiten Der Tiefe Ungeheuer; jeder Ort Gehorcht dir; — furchtbar wallst du, einsam, grundlos fort! O Meerj ich liebte dich! Ja, meine Lust Als Kind schon war's, gleich deinen Blasen mich Zu schaukeln wonnerfüllt an deiner Brust! Mit deinerBrandung scherzt' als Knabe ich, Mein Jubel war's! Und wenn die Wogen sich Empörten, selbst die Furcht hat mich ergötzt: Denn ich war ganz dein Kind, ich liebte dich, Ich hatte mein Vertrau'n auf dich gesetzt, Und auf die Mähne dir legt' ich die Hand wie jetzt.
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Ruinen haben für den Dichter einen Zauberwert, die Zeit verschönt selbst das Tote und wird dem blutenden Herzen Arzt und Tröster (IV, 129 f.). Die antiken Plastiken in den italienischen Museen sind ihm nicht nur vollendete Formen, sondern auch Mahnmale für ferne Zeiten und leidende Menschen; so Laokoon, Apollo, so besonders der sterbende Fechter, der Gladiator in der Arena, der mit seinem Bluten und Sterben ein Schauspiel geben muß und dem das liebe Bild seines Hauses an der Donau mit seiner Frau und seinen spielenden Kindern noch einmal vor die Seele tritt: . . . he, their sire, Butcher'd to make a Roman holiday— All this rush'd with his blood I—Shall he expire And unavenged?—Arise! ye Goths, and glut your ire! (IV, 141)
. . . Geschlachtet worden Zur Lust der Römer ist ihr Vater heut — All dies durchstürmt sein BlutI — Wer dürft' ihn morden? Auf, rächt ihn! Eure Wut tobt aus, ihr Gotenhorden!
Die Natur ist dem Dichter „die gütigste der Mütter", an deren Busen er als nie entwöhntes Kind ruhen will, die ihn freut, w o sie andre schreckt (II, 37), sie ist größer als die Kunst; die Sterne sind des Himmels Poesie, mit ihnen fühlt sich der Mensch verwandt (III, 88). „ D i e Menschen lieb' ich, doch, seit wir uns fanden, mehr die N a t u r l " (IV, 178). Wordsworth suchte die schlichte Stille der Natur und gewann aus ihr das Mitfühlen mit der stillen, traurigen Musik des Menschseins und die reife Heiterkeit des philosophischen Sinnes; Byrons stürmisches Innere liebt mehr die Natur in ihren wilden und großen Bildern, die schroff ragenden Berge, die brennende Sonne, die Wüsten, Höhlen, die Meeresbrandung (III, 13), und seine Einfühlung in die Erhabenheit der Natur gipfelt in der bereits angeführten Liebeserklärung an den Ozean, das ewige Element (IV, 184). Er kennt die lärmende Welt, er kennt auch die Stille des Alleinseins; er weiß aber, daß Einsamkeit und Verlassenheit nicht im äußeren Getriebe des buntbewegten Lebens überwunden werden können, sondern nur in der Zwiesprache mit der alles Weh heilenden Natur. Die Einsamkeit, „die uns zu sterben lehrt", in der es kein eitles Streben gibt, in der der Mensch allein mit Gott den Kampf erleben muß (IV, 33), ist nie mit ernsterem Verlangen nach mitfühlender Liebe besungen worden: To sit on rocks, to muse o'er flood and fell, To slowly trace the forest's shady scene, Where things that own not man's dominion dwell, And mortal foot hath ne'er or rarely been; To climb the trackless mountain all unseen, With the wild flock that never needs a fold; Alone o'er steeps and foaming falls to lean; This is not solitude; 'tis but to hold Converse with Nature's charms, and view her stores unroll'd. But midst the crowd, the hum, the shock of men, To hear, to see, to feel, and to possess, And roam along, the world's tired denizen,
Vom Felsensitze schaun der Fluten Bahn, Durch Waldesschatten still lustwandelnd gehn, Wo's Dinge gibt, die uns nicht Untertan, Die selten oder nie ein Mensch gesehn; Einsam erklettern unbetretne Höh'n Mit wilden Herden, die kein Hirt darf hegen, Allein an Schlucht und Wasserfällen stehn: Das ist nicht Einsamkeit, das heißt den Segen, Den Reiz der Schöpfung schaun und mit ihr Umgang pflegen. Doch in der Welt Gelärm, Gesumm, Gedränge Sehn, hören, fühlen, sorgen und erwerben, Als müder Pilger schweifen durch die Menge,
V. Die Wiederentdeckung der Seele
With none who bless us, none whom we can bless Minions of splendour shrinking from distress 1 None that, with kindred consciousness endued, If we were not, would seem to smile the less Of all that flatter'd, follow'd, sought, and sued: This is to be alone; this, this is solitude! (11,25-26)
Selbst ungeliebt auch Liebe nicht erwerben, Schoßkind der Pracht, das zittert vor Verderben, Und niemand, der getreu in Freud und Leid Uns eine Zähre widmet, wenn wir sterben, Von allen, die uns schmeichelnd suchen heut: — Das heißt allein sein, das, o das ist Einsamkeit I
Die „Pilgerfahrt" ist ein Werk der Jugend, ein Ausdruck der ratlosen Stimmung einer tiefen Seele, die in ihrer Unausgeglichenheit einer ruhelosen Schwermut verfällt und den Willen zum Leben verneint, des Alters, in dem der Mensch das eigene Innere beobachtet und zu überschätzen geneigt ist. Goethes Werther bringt die Kraft zum Verzicht nicht auf und wirft das Leben als unerträgliche Last von sich, Chateaubriands René sucht Glück im leidenschaftlichen Genuß und endet in Überdruß und Schlaffheit. Der Weltschmerz, das „mal du siècle", wird Zeitstimmung und erzeugt eine ganze Reihe schwächlicher und anspruchsvoller Gestalten, die sich für Ausnahmen und das Leben für ungerecht halten. Auch Byrons wundes Herz kommt nicht zur Ruhe und Klarheit; aber die Gedankenfülle und der Reichtum der Gefühle sind allein schon Leistung und Geschenk an die Menschheit. In dieser Gewißheit entläßt uns der Dichter in der Schlußstrophe : . . . If in your memories dwell A thought which once was his, if on ye swell A single recollection, not in vain He wore his sandal-shoon, and scallop-shell; Farewell! with him alone may rest the pain. (IV, 186)
Wenn nur Gedanken, die in ihm einst lagen, In euch jetzt wohnen, wenn mit Wohlbehagen Ihr sein gedenkt, hat er den Muschelhut Und die Sandalen nicht umsonst getragen. Lebt wohl 1 und laßt die Leiden ihm, der ruht.
Natur, Geschichte, Kunst in ihrem monumentalen Zusammenklang verheißen Reife und Überwindung. An dem prunkvollen Grabmal der Cecilia Metella steigt aus dem Vergangenen ein neues Werden auf: . . . and other days come back on me With recollected music, though the tone Is changed and solemn, like the cloudy groan Of dying thunder on the distant wind; Yet could I seat me by this ivied stone Till I had bodied forth the heated mind Forms from the floating wreck which Ruin leaves behind. And from the planks, far shatter'd o'er the rocks, Built me a little bark of hope, once more
. . . die alte Zeit geht auf in mir, Nachklingend wie Musik, — nur ist der Schall Verwandelt, feierlich, wie trüber Hall Des Donners, der erstirbt im fernen Winde. Ich möchte ruhn an diesem Efeuwall, Bis für des Geistes Glut ich Formen finde Und Leben in dem Wrack, das vor mir schwimmt, ergründe, — Und aus den Planken, fern am Strand zerstreut, Ein Hoffnungsboot mir baun mit neuem Mut,
Lord Byron
To battle with the ocean and the shocks Of the loud breakers, and the ceaseless roar Which rushes on the solitary shore Where all lies founder'd that was ever dear. (IV, 104—105)
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Um frisch zu kämpfen mit dem Meer, umdräut Von lauter Brandung und vom Sturm der Flut, Der an dem Ufer tobt in ew'ger Wut, Wo ich, was je mir teuer war, sah stranden.
So kann neue Sehnsucht das Herz beruhigen, das ausgestürmt hat, und ein liebliches Zukunftsbild ins Leben zurückrufen (IV, 137). Die Dichtung war etwas ganz Neues. Wohl gab es bereits Schilderungen der Natur und der Verbindung des Menschen mit ihr. Rousseau hatte weithin seine Wirkung geübt. N e u aber waren die Gefühlsbeichten, die Reflexionslyrik in der Sprache der Leidenschaft, die plastischen Bilder, die die ganze Fülle eines erhabenen Augenblicks einzufangen vermochten, die freimütige Aussprache eines sich zur großen Persönlichkeit formenden Menschen, der Freiheitsdrang und Kosmopolitismus, das aus Gegenwart und Kulturerinnerung gewobene Panorama der Welt, die leicht strömende Pracht der schönen Strophe. Europa war bezaubert, die Jugend glaubte sich in dem schwermütig-gefühlvollen Pilger zu erkennen und jubelte dem neuen Dichter zu. Der unstete Wanderer kehrte in verschiedenartiger Abwandlung wieder in Versromanzen, die Byron in denselben Jahren schrieb: „ D e r Giaour", „ D i e Braut von A b y d o s " , „ D e r Korsar", „ L a r a " — , schwarzlockig, bleich, mit feurigen Augen, schwermütig, wie v o n Höllengeistern gepeitscht, tapfer und zu sterben bereit; er wurde als der Typus des Byronschen Helden empfunden. In den beiden letzten Gesängen der „Pilgerfahrt" aber wächst der Dichter über die seelische Müdigkeit hinaus zu neuen Ufern, zu denen ein neuer T a g lockt. „Nicht immer haßt die Menschen, wer sie flieht" (III, 69). Tief ernst, aber nicht mehr verzweifelt bleibt die Stimmung in der Zeit der Beruhigung und Entspannung, die der Dichter an Shelleys Seite und unter seinem Einfluß in der Schweiz verlebte, wie wir es aus den herrlichen Versen auf die nächtliche Schönheit des Genfer Sees vernehmen: Clear, placid Leman! thy contrasted lake, With the wild world I dwelt in, is a thing Which warns me, with its stillness, to forsake Earth's troubled waters for a purer spring. This quiet sail is as a noiseless wing To waft me from distraction; once I loved Torn ocean's roar, but thy soft murmuring Sounds sweet as if a Sister's voice reproved, That I with stern delights should e'er have been so moved. It is the hush of night, and all between Thy margin and the mountains, dusk, yet clear, Mellowed and mingling, yet distinctly seen,
O Leman, mild und klar! Dein See, gemessen Mit meiner frühern Welt voll Sturm und Glut, Mahnt mich mit seiner Stille zu vergessen Am reinem Quell der Erde trübe Flut. Dies ruhige Segel kühlt mein wildes Blut Wie sanfter Flügelschlag. Fand ich Behagen Am Meersturm einst, so klingt jetzt sanft und gut Dein Plätschern mir, wie einer Schwester Klagen, Daß ich in wilder Lust mich so der Ruh entschlagen. Und stille Nacht ist's! In der Dämmrung Frieden Ruht alles vom Gebirge bis zur See, Verschmelzend und doch deutlich noch geschieden,
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V. Die Wiederentdeckung der Seele
Save darken'd Jura, whose capt heights appear Precipitously steep; and drawing near, There breathes a living fragrance from the shore, Of flowers yet fresh with childhood; on the ear Drops the light drip of the suspended oar, Or chirps the grasshopper one good-night carol more; He is an evening reveller, who makes His life an infancy, and sings his fill; At intervals, some bird from out the brakes Starts into voice a moment, then is still. There seems a floating whisper on the hill, But that is fancy, for the starlight dews All silently their tears of love instil, Weeping themselves away, till they infuse Deep into Nature's breast the spirit of her hues. Ye stars 1 which are the poetry of heaven, If in your bright leaves we would read the fate Of men and empires,—'tis to be forgiven, That in our aspirations to be great, Our destinies o'erleap their mortal state, And claim a kindred with you; for ye are A beauty and a mystery, and create In us such love and reverence from afar, That fortune, fame, power, life, have named themselves a star. All heaven and earth are still — though not in sleep, But breathless, as we grow when feeling most; And silent, as we stand in thoughts too deep:— All heaven and earth are still: From the high host Of stars, to the lull'd lake and mountaincoast, All is concenter'd in a life intense, Where not a beam, nor air, nor leaf is lost, But hath a part of being, and a sense Of that which is of all Creator and defence.
Bis auf den Jura, der aus wolk'ger Höh Verfinstert niedersteiget schroff und jäh. Der Blumen Duft weht mit lebend'gen Schwingen Vom Strande frisch und lieblich; in der Näh' Hört Wasser man vom Ruder tropfend klingen Und Heimchen zirpend uns ihr Gutenachtüed singen. Ja, Abendschwärmer sind sie, die ihr Leben Den Kindern gleich versingen ungestört. Der Vögel Stimme schallt im Busch daneben Auf kurze Zeit, bis Ruhe wiederkehrt. Am Hügel dort ein leises Flüstern, hörtl Doch Täuschung ist's 1 — es sind die Liebestränen Des Sternentaus, der fallend sich verzehrt, Die stumm den Busen der Natur ersehnen, Mit ihrer Farben Geist ihn schmelzend zu verschönen. Ihr Sterne seid des Himmels Poesie! Wenn wir das Los von Mensch und Staaten deuten Aus eurer Strahlenschrift, verdenkt's uns nie, Daß wir, im Drange groß zu sein, zuzeiten Die Schranken unsres Daseins überschreiten : Mit euch verwandt fühlt sich der Mensch so gerne! Ein schön' Geheimnis seid ihr, euch geleiten Des Menschen Lieb' und Ehrfurcht in die Ferne, Und Glück, Ruhm, Leben. Macht, er nennt sie seine Sterne. Himmel und Erd' ist still, — nicht schlafend eben, Doch lautlos, wie uns tiefes Fühlen hält, Und stumm, wie ernstem Sinnen hingegeben; — Himmel und Erd' ist still! — Vom Uferfeld Des ruh'gen Sees bis auf zum Sternenzelt Wie alles ist von Lebenskraft durchblitzt! Kein Strahl, kein Blatt, kein Lufthauch dieser Welt, Der seinen Anteil nicht am Sein besitzt Und ihn nicht fühlte, der dies All erschuf und schützt!
Lord Byron
Then stirs the feeling infinite, so felt In solitude, where we are least alone; A truth, which through our being then doth melt And purifies from self: it is a tone, The soul and source of music, which makes known Eternal harmony, and sheds a charm, Like to the fabled Cytherea's zone, Binding all things with beauty;—'twould disarm The spectre Death, had he substantial power to harm. And this is in the night:—Most glorious night! Thou wert not sent for slumber! let me be A sharer in thy fierce and far delight,— A portion of the tempest and of thee I How the lit lake shines, a phosphoric sea, And the big rain comes dancing to the earth! And now again 'tis black,—and now, the glee Of the loud hills shakes with its mountainmirth, As if they did rejoice o'er a young earthquake's birth. (Ill, 85—90, 93)
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Da regt sich endlos das Gefühl, wir finden Uns einsam, doch nichts weniger allein; Die Wahrheit ist's, die wir dann tief ergründen, Sie klingt in uns und läutert unser Sein; Sie weiht in ew'ge Harmonie uns ein Als Seele der Musik; mit Zaubermacht, Wie sie Kytherens Gürtel nur kann leihn, Verschönt sie jedes Ding, ja weichen macht Sie das Gespenst des Tods, sofern man's nicht verlacht. Und es ist Nacht! — O hoch erhabne Nacht! Du bist nicht für den Schlummer, gönn' es mir, Zu teilen deine Lust und wilde Pracht, Ein Teil zu sein vom Sturmwind und von dir! Wie dort phosphorisch glänzt das Seerevier! Wie dicht der Regen tanzend niederfällt! Und nun ist's wieder schwarz, nun für und für Ertönt der Hügel Lust, es kracht und gellt Und jauchzt, als ob ein jung Erdbeben käm' zur Welt.
Die Dämonen aber leben in der Brust des Dichters und steigen bald wieder auf, trotzige Auflehnung ist seine Wesensmitte. Eine Ode auf Napoleon honaparte vermißt Größe in dem Fall des Eroberers Europas, spricht „Hohn dem Donnergotte", das Gedicht Prometheus preist in mächtigem Anruf den schweigend duldenden Titanen, der sich von ungerechter Tyrannei nicht beugen läßt, das Symbol der leidenden und kämpfenden Menschheit. Empörung gegen die Gottheit, Übermenschentum, männlicher Trotz und Stolz sind der Atem dieser Bekenntnisdichtung. All that the Thunderer wrung from thee Was but the menace which flung back On him the torments of thy rack; The fate thou didst so well foresee, But would not to appease him tell; And in thy Silence was his Sentence, And in his Soul a vain repentance, And evil dread so ill dissembled That in his hands the lightnings trembled. Thy Godlike crime was to be kind, To render with thy precepts less The sum of human wretchedness, And strengthen Man with his own mind; But baffled as thou wert from high, Still in thy patient energy,
Was hat der Donnrer dir entrungen? Die Drohung nur, die deinen Schmerz Zurück ihm warf ins eigne Herz; Das Schicksal, das dein Blick durchdrungen, Du sagtest's ihm zum Tröste nie. Dein Schweigen war's, was ihn beschämte; Umsonst, daß er sich reuig grämte, So schlecht verhehlte Furcht empfand, Daß ihm der Blitz bebt' in der Hand. Dein göttlich Fehlen war die Güte. Daß du des Menschenelends Last Durch weisen Rat gemindert hast Und Stärke liehest dem Gemüte. Ob du gestürzt von deiner Höhe, Die Kraft, mit der du trugst dein Wehe,
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V. Die Wiederentdeckung der Seele
In the endurance, and repulse Of thine impenetrable Spirit, Which Earth and Heaven could not convulse, A mighty lesson we inherit: Thou art a symbol and a sign To Mortals of their fate and force; Like thee, Man is in part divine, A troubled stream from a pure source; And Man in portions can foresee His own funereal destiny; His wretchedness, and his resistance, And his sad unallied existence: To which his Spirit may oppose Itself—and equal to all woes, And a firm will, and a deep sense, Which even in torture can descry Its own concenter'd recompense, Triumphant where it dares defy, And making Death a Victory.
Dein Mut, der nimmer zu bezwingen, Dein mächt'ger Geist, den zu verderben Vergebens Erd' und Himmel ringen, Läßt eine tiefe Lehr' uns erben. Du bist ein Zeichen und Symbol Von Menschenlos und Menschenkraft, Aus reinem Quell entsprungen wohl Und frei, jedoch getrübt, in Haft. Zum Teil auch schaut des Menschen Blick Sein eignes tödliches Geschick, Sein Elend und sein Widerstreben, Sein düstres, hilfentblößtes Leben. Sein Geist mag sich entgegenstemmen, Um so des Übels Macht zu hemmen; Ein fester Wille, tiefer Sinn, Ihm bleibt auch in der Qualen Nacht Ein süßer Lohn noch zum Gewinn; Er ist's, der aller Wunden lacht Und selbst den Tod zum Sieg noch macht.
Die beiden letzten Gesänge von „Junker Harolds Pilgerfahrt" zeigen das starke Durchbrechen des Denkens, „diesen letzten, einz'gen Zufluchtsherd", den Drang zum Forschen nach Licht und Wahrheit (IV, 127), und das Erlebnis der erhabenen Alpenwelt erzeugt das Verlangen nach Ergründung des Weltgeheimnisses. Forschertitanentum tritt an die Stelle des im Negativen verharrenden dämonischen Individualismus, der „Byronsche Held" wird zum Forscher und Magier, den es nach den kosmischen UrZusammenhängen dürstet. So entstehen Lesedramen metaphysischen Charakters, „Manfred" (1817), „Kain" (1821), „Himmel und Erde" (1821), Dichtungen der Skepsis, des Ringens, der prometheischen, trotzigen Männlichkeit. Sie bedeuten für den Dichter die Überwindung der Londoner Erlebnisse und die Gewinnung neuer Tatbereitschaft. In Manfred sah Goethe „ganz eigentlich die Quintessenz der Gesinnungen und Leidenschaften des wunderbarsten, zu eigner Qual gebornen Talents". Das „dramatische Gedicht" beginnt wie der „Faust" mit einem Monolog und einer Geisterbeschwörung in einer „gotischen Galerie". Der Schloßherr Manfred, der Sohn eines heiteren Lebensgenießers, ist durch ein dunkles Geschick von der Jugendbegeisterung für Menschenbeglückung zum Weltverneiner und Überreifen geworden. The Tree of Knowledge is not that of Life. Philosophy and science, and the springs Of Wonder, and the wisdom of the World, I have essayed, and in my mind there is A power to make these subject to itself— But they avail not: I have done men good, And I have met with good even among men — But this availed not: I have had my foes, And none have baffled, many fallen before me— But this availed not:—Good—or evil— life— Powers, passions—all I see in other beings,
Der Baum des Wissens ist nicht der des Lebens. Philosophie und Wissenschaft, die Quellen Des Wunders und die Weisheit auch der Welt, Hab' ich versucht, und eine Kraft besitzt Mein Geist, sich diese Untertan zu machen — Allein sie helfen nicht. Ich tat den Menschen Gutes und fand auch Gutes unter Menschen — Allein es half nichts. Meine Feinde hatt' ich, Und keiner trotzte, mancher fiel vor mir — Es half nichts. Gut und Böses, Leben, Kräfte Und Leidenschaften, was ich seh' in andern,
Lord Byron
Have been to me as rain unto the sands, Since that all-nameless hour. I have no dread, And feel the curse to have no natural fear, Nor fluttering throb, that beats with hopes or wishes, Or lurking love of something on the earth. Now to my task.
(I i, 12—28)
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War mir, was Regen für den Sand, seit jener Unnennbar'n Stunde! Ich weiß nichts von Bangen Und fühl's als Fluch, nichts von Natur 2u fürchten — Kein Herzensschlag für Wünschen oder Hoffen, Kein Schlag für Liebe eines ird'schen Wesens. — Nun an mein Werkl
Nichts als Vergessen sollen ihm die Geister gewähren, die er mit seiner magischen Kunst bannt. Sie aber können nur geben, was sie selbst besitzen, und dazu gehört das Vergessenkönnen nicht: We are immortal, and do not forget; We are eternal; and to us the past Is as the future, present. ( 1 1 , 149- -151)
Wir sind unsterblich und vergessen nicht; Den Ew'gen ist Vergangnes gegenwärtig Gleich wie das Küntt'ge.
Ein Phantom in der Gestalt eines schönen Weibes schleudert den furchtbarsten der Flüche auf den Todbereiten: . . . (I compel) Thyself to be thy proper Hell I And on thy head I pour the vial Which doth devote thee to this trial; Nor to slumber, nor to die, Shall be in thy destiny; Though thy death shall still seem near To thy wish, but as a fear. ( 1 1 , 250—257)
Sei deine eigne Hölle du! Und auf dein Haupt leer' ich die Schal', Um dich zu weihn für diese Qual; Nicht zu schlummern, nicht zu sterben, Sollst du als dein Los ererben, Wie der Tod auch nahe scheint Deinem Wunsch, und doch als Feind.
Von den Geistern im Stich gelassen, versucht der Ruhelose sich von der schroffsten Klippe der „Jungfrau" hinabzustürzen; ein Gemsenjäger aber rettet ihn. Im zweiten Akt sind wir in der Hütte des Gemsenjägers, wo der seltsame Gast über seine Schuld grübelt. Blut sieht er am Rande des ihm dargereichten Bechers kleben, Verwandtenblut, von ihm vergossen, ist der Grund der Gewissensqual. „Mein Unrecht fiel auf solche, die mich liebten — Die ich am meisten liebte." Noch einmal geht er in die Berge; am Wasserfall beschwört er die Bergfee, um ihr von der Geliebten zu erzählen, die durch ihn und um ihn sterben mußte. Ein Geheimnis umschwebt den Bericht. E r hat getötet, nicht mit der Hand, sondern mit seinem Herzen, das das ihre brach. Ein Seelenmord also, nicht ein körperlicher? Der Schleier wird nicht gelüftet. Die Fee will ihn retten, wenn er ihr Gehorsam gelobt. Dagegen bäumt sich sein Stolz auf. I will not swearl—Obey! and whom? the Spirits Whose presence I command, and be the slave Of those who served me—Never! (II 2, 158—160)
Ich schwöre nicht! — Gehorchen! wem? den Geistern, Die ich erscheinen heiße? Sklave derer Sein, die mir dienten? Niemals!
Lieber wühlt er weiter in seiner Schuld — Goethe hat den leidenschaftdurchglühten Monolog nachgedichtet — , so wie der Sparterkönig Pausanias, der nichtsahnend die unschuldige byzantinische Maid erschlug, der vergeblich Jupiter Phyxius anrief und zu den arkadischen Seelenbeschwörern ging, seine Schuld aber nicht loswerden konnte.
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V. Die Wiederentdeckung der Seele
Wir sind die Narren der Zeitl So hatte es schon der sterbende Percy Heißsporn gesagt („Heinrich I V . " , Erster Teil, V , 4), so klingt es drohend an in Shakespeares Sonetten (116, 124). In die Halle des Ahriman schreitet Manfred auf dem Gipfel der Jungfrau, wo Nemesis und die Geister hausen. Auch vor dem Herrscher über die Geisterwelt will der leiderprobte Mann, der bisher nur vor seinem eignen Elend hingesunken ist, die Knie nicht beugen; er verlangt den Dienst der Geister, Nemesis läßt auf seinen Wunsch das Phantom der Astarte, der Verlorenen, aufsteigen. Erschüttert fleht er sie um ein Wort freundlichen Trostes an: Astarte! my beloved! speak to me: I have so much endured—so much endure — Look on me! the grave hath not changed thee more Than I am changed for thee. Thou lovedst me Too much, as I loved thee: we were not made To torture thus each other—though it were The deadliest sin to love as we have loved. (II 4, 117—123)
Astarte! o Geliebte! — sprich zu mir! So viel hab' ich gelitten — so viel leid' ich — Sieh her! Das Grab hat dich nicht mehr verändert, Als ich um dich verändert bin. Du liebtest Zu viel mich, und ich dich: geschaffen waren Wir nicht, uns so zu foltern, ob es schon Todsünde war, zu lieben, wie wir liebten.
Astarte spricht seinen Namen, aber nicht das ersehnte Wort Vergebung. Eins aber kann sie dem Flehenden verheißen: „Mit morgen schließt dein Erdenleid." Der dritte Akt führt ihn zurück in sein Schloß. Der Abt von Sankt Moritz versucht ihn zur Reue und Buße zu leiten und zum Seelenfrieden zu bringen; er aber muß mit dem sterbenden Nero, dem „Opfer einer selbst geschlagenen Wunde," das „ Z u spät" sprechen, irdischer Trost kann ihm nicht mehr werden. Nicht die Macht heiliger Männer, nicht Buße und Gebet, nicht Todespein können aus des Geistes Weiten das lebendige Bewußtsein der eigenen Schuld reißen: I could not tame my nature down; for he Must serve who fain would sway; and soothe, and sue, And watch all time, and pry into all place, And be a living Lie, who would become A mighty thing amongst the mean—and such The mass are; I disdained to mingle with A herd, though to be leader—and of wolves. The lion is alone, and so am I. (Ill 1, 116—123)
Ich konnte nicht mein Wesen zähmen; denn Wer herrschen will, muß dienen — schmeicheln — spähn — Muß allzeit wachen — und zu allem dringen, Lebend'ge Lüge sein, er, der ein Mächt'ger Unter Gemeinen werden will — und das ist Die Masse. — Ich verschmäht' es, mich zur Herde Zu mischen, selbst als Führer — unter Wölfen. Der Löwe ist allein, und so bin ich.
Mit mächtiger Anrede grüßt er die Sonne des letzten Tages: . . . Glorious Orb! the idol . . . Herrlich Rund! Der Abgott Of early nature, and the vigorous race Der jungen Schöpfung und des kräft'gen Stammes Of undiseased mankind, the giant sons Gesunder Menschlichkeit, der Riesensöhne Of the embrace of Angels, with a sex Von Engeln aus Umarmung eines schönern More beautiful than they, which did draw Geschlechts als sie, das die verirrten Geister down The erring Spirits who can ne'er return. — Herniederzog auf Nimmerwiederkehr. —
Lord Byron
Most glorious Orbl that wert a worship, ere The mystery of thy making was revealed 1 Thou earliest minister of the Almighty, Which gladdened, on their mountain tops, the hearts Of the Chaldean shepherds, till they poured Themselves in orisons I Thou material God! And representative of the Unknown— Who chose thee for his shadow 1 Thou chief Star! Centre of many stars I which mak'st our earth Endurable, and temperest the hues And hearts of all who walk within thy rays I Sire of the seasons! Monarch of the climes, And those who dwell in them! for near or far, Our inborn spirits have a tint of thee Even as our outward aspects;—thou dost rise, And shine, and set in glory. Fare thee well! I ne'er shall see thee more. As my first glance Of love and wonder was for thee, then take My latest look: thou wilt not beam on one To whom the gifts of life and warmth have been Of a more fatal nature. He is gone— I follow. (Ill 2, 3—30)
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O herrlich Rund! das, eh' noch deines Schaffens Geheimnis kund war, angebetet wurde! Du frühster Bote des Allmächtigen, Der schon erfreut auf ihren Bergesgipfeln Die Herzen der chaldäischen Hirten, bis sie Sich in Gebet ergossen! Körpergott! Und Stellvertreter jenes Unbekannten, Das dich als Schatten wählte! Haupt der Sterne! So vieler Mittelpunkt! der unsre Erde Du dauern machst und Färb' und Herzen milderst Von allem, was in deinen Strahlen wandelt! Der Jahreszeiten Herr! Der Zonen Herrscher Und dessen, was drin wohnt! — Denn nah und fern Trägt unser innrer Geist von dir die Farbe Wie unser äußrer Anblick. — Glorienhaft Erstehst und scheinst und sinkst du. Leb' du wohl! Ich seh' dich nicht mehr. Wie mein erster Blick Lieb' und Bewundrung dir gezollt, so nimm Den letzten auch! Du wirst auf keinen strahlen, Dem das Geschenk des Lebens und der Wärme Verhängnisvollrer Art war. Sie ist fort: Ich folge.
Schon glauben wir aus dem Gespräch zweier Vasallen Manfreds Näheres von jener Unglücksnacht und von der Gräfin Astarte zu erfahren, „sie, von allen ird'schen Wesen Das, was allein er noch zu lieben schien — Wie freilich er durch Blut verpflichtet war", da erscheint der Abt zu einem letzten Bekehrungsversuch. Manfred, dem ein nächtlicher Besuch des Kolosseums als Mahnung an sterbende Größe in die Erinnerung kommt — „ E i n edles Wrack, in Trümmern der Vollendung" —, tritt entschlossenen Blicks den Geistern entgegen, die ihn davonführen wollen. I do not combat against Death, but thee Nicht gegen Tod kämpf' ich, nur gegen dich And thy surrounding angels; my past power Und deine Schar. Die Macht, die ich besessen, Was purchased by no compact with thy War nicht erkauft durch Pakt mit deiner Rotte, crew, Sondern durch höh're Wissenschaft — But by superior science—penance, daring, Entbehrung — Wachen —und Wagen — Geisteskraft — And length of watching, strength of mind, and skill und Übung In knowledge of our Fathers—when the earth In Kenntnis unsrer Väter, als die Erde Saw men and spirits walking side by side, Sah Mensch und Geister miteinander wandeln Und euch kein Vorrecht zugestand. Ich stehe And gave ye no supremacy: I stand Auf meiner Kraft — ich trotz' euch — Upon my strength—I do defy—defy— leugne euch — Spurn back, and scorn ye! (Ill 4,112—121) Stoß' euch zurück — verhöhn' euch 1 So stirbt er trotzig und allein: „Das Sterben ist so schwer nicht, alter Mann!" 22 Die Stimmen der Meister
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V. Die Wiederentdeckung der Seele
Düstere Monologe und erhabene Naturbilder machen das Wesen dieser leidenschaftstarken Weltanschauungsdichtung aus, der das schwache Handlungsgewebe nicht den Charakter eines echten Dramas verleihen kann. Liebesbuße findet hier den endgültigen Ausdruck. Kann die Natur, können die Reiche jenseits der Natur, kann Lebenserfahrung dem Dulder Hoffnung spenden? Das ewige Nein tönt uns überall entgegen. Die Natur erhöht durch den Kontrast nur noch das Schuldgefühl, es bleibt nur selbstbewußter Untergang übrig. Sterbend steht der mutige Sieger auf dem Grabe seiner Leidenschaften, er, der sein Wesen nicht zähmen konnte (III, i), in dem aus glänzenden Anlagen ein gewaltiges Chaos geworden ist (III, i). Er kann keinen Richter über sich anerkennen, er war nicht der Narr der Höllengeister, nicht ihre Beute; „Mein Selbstzerstörer war ich und will ferner mein eigen sein" (III, 4). Das Gewissen ist sein Dämon, der ihn zerbricht. Die unerbittliche Strenge gegen sich selbst wird auch von Hamlet nicht übertroffen. Ein Übermenschentum der das eigene Innere zerwühlenden Phantasie erhebt die Gestalt zur tragischen Größe. Blutschuld und Blutschande, anscheinend aber nur als Seelenmord gemeint, schweben als Quelle der Zermarterung über dem Astartegeheimnis; gerade das Geheimnis erhebt das Werk über jeden persönlichen Anlaß in den Bereich der Allgemeingültigkeit der Seelengründe, in denen erlittenes Leid wurzelt, in die Unentrinnbarkeit des Gewissens, dem klar entgegenzusehen sieghafte Männlichkeit bedeutet. Der Schmerzensgedanke des Zeitalters hat keine größere Gestaltung gefunden. Daß die Musik aus einer solchen Dichtung wiederholt Anregungen empfangen hat, ist wohl zu verstehen. Die bedeutendsten Werke sind Robert Schumanns „Musik zu Byrons Manfred" (1850) und Peter Tschaikowskys sinfonische Dichtung „Manfred" (1885). Auf englischen Bühnen ist Byrons Werk wiederholt aufgeführt worden, obgleich er selbst eine Beziehung zum Theater ablehnte: „Ich habe alles getan, um es für die Bühne ganz unmöglich zu machen, für die mein Verkehr mit Drury Lane mir die größte Verachtung eingeflößt hat," heißt es in einem Brief an den Verleger Murray vom 25. 2. 1817. Das Werk soll nur ein Gedicht sein, das Ringen eines Pessimisten um Selbstbefreiung, gewissermaßen der fünfte Akt eines Lebensdramas, nicht wie Goethes „Faust" das unablässige Bemühen, sich selbst zu finden. Die leicht erkennbaren Ähnlichkeiten sind rein äußerlich und enthüllen in Wahrheit tiefe Gegensätze. Das hat Goethe selbst anerkannt; er trifft in den Mittelpunkt des Manfrederlebnisses, wenn er zu der Parallele mit der Tat des Pausanias (II, 2) bemerkt: „Welch ein verwundetes Herz muß der Dichter haben, der sich eine solche Begebenheit aus der Vorwelt heraussucht, sie sich aneignet und sein tragisches Ebenbild damit belastet!" Noch einmal entrollt uns eine metaphysische Dichtung ein Seelenbild, satanische Skepsis, Traurigkeit und Einsamkeit des Wissenden, Übermenschentum mit dem Flug durch die kosmischen Bereiche und Zurücksinken in den Staub; es ist das Mysterium „Kain" mit seinem Glanz der Sprache vom feierlichen Klangrausch bis zum lieblichen Idyll, die Gestaltung des Zweiseelentums, des Dualismus der menschlichen Natur und der Weltallsvisionen, des Wahrheitsbekenners, der durch seine Feindschaft gegen alles Falsche vom Lichtbringer zum Teufel und als Prinzip des Bösen zum Sauerteig alles Seins wird, wobei aber nach Goethes Wort eine Art von Ahnung auf einen Erlöser durchgeht. Die innere Erlösung aber, den beruhigenden Ausgleich, sollte Byron nicht mehr erleben. Sein Leben erlosch, als seine Selbsterziehung im Gange war. Für ihn blieb noch, was er in „Dantes Prophezeiung" aussprach : Poesie ist das Schaffen von Gut und Böse aus der Überfülle des Gefühls, das Streben nach einem Leben hinter dem irdischen Schicksal, ein neuer Prometheus für neue Menschen zu sein, Feuer vom Himmel zu nehmen und mit Leid, mit Geiern am Herzen, mit Fesselung an den einsamen Felsen belohnt zu werden. In ironischer Weltschau klingt dies reiche Dichtertum aus, das nicht wie Faust den Titanismus durch
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Pflichterfüllung in der Welt überwindet und der Gnade teilhaftig wird, sondern die Welt nur noch mit gigantischem Humor und Spott, aber auch mit Tränen sehen kann. In der Satire erreicht der Dichter die höchste Stufe seiner eigentlichen Form, scheinbar verneinend und entsagend, in Wirklichkeit aber reich in einer alles umfassenden Schau der Wahrheit, an die die Kleinlichkeiten der Welt nicht heranreichen. Byronismus — das Wort wurde schon früh geprägt — und romantische Ironie: das ist der Ausklang und Gipfel. Die Vorliebe für den Klassizismus hat den Dichter nie verlassen. In der Verbindung mit romantischem Fühlen bleibt sie seine Eigenart, der Zwiespalt zwischen Klassisch und Romantisch, so recht die Stilform seines Zeitalters, des Empire. Der unvollendete Riesenbau des komischen Menschheitsepos Don Juan (1818—24) ist das Vermächtnis dieses subjektivsten aller Dichter, das größre seiner Werke. Goethe nannte es einmal das Unsittlichste, was die Dichtung hervorgebracht hat, in seiner ausführlichen Rezension aber ein grenzenlos geniales Werk, menschenfeindlich bis zur herbsten Grausamkeit, menschenfreundlich in die Tiefen süßester Neigung sich versenkend; und da wir den Verfasser nun einmal kennen und schätzen, ihn auch nicht anders wollen als er ist, so genießen wir dankbar, was er uns mit übermäßiger Freiheit, ja Frechheit vorzuführen wagt. Dem wunderlichen, wilden, schonungslosen Inhalt ist auch die technische Behandlung der Verse ganz gemäß; der Dichter schont die Sprache so wenig wie die Menschen, und wie wir näher hinzutreten, so sehen wir freilich, daß die englische Poesie schon eine gebildete komische Sprache hat, welcher wir Deutschen ganz ermangeln.
Don Juan ist ein junger Spanier in Sevilla, dessen harmlos-gutmütiger Vater früh stirbt und den Jungen mit der Mutter allein läßt, einem unklaren, bigotten Schöngeist und Blaustrumpf. Die strenge und fromme Erziehung kann es nicht verhindern, daß der Sechzehnjährige in die Liebesbande der zwanzigjährigen, an einen alten Mann verheirateten Dona Julia verstrickt wird. Als er einmal von dem Ehemann im Schlafgemach der verliebten jungen Frau überrascht wird, muß er versteckt werden; seine Schuhe aber verraten seine Anwesenheit. Er streckt den rasenden Gatten in der Dunkelheit nieder und entkommt. Um einen Skandal zu vermeiden, schickt die Mutter ihn mit seinem Erzieher, einem verknöcherten Pedanten, auf Reisen. Mit einem gefühlvollen Abschiedsbrief Julias in der Tasche schifft er sich in Cadiz ein. Liebesschmerz und Seekrankheit packen den Helden, lautes Fluchen betrunkener Seeleute, frommes Psalmensingen und das Brüllen des aufgeregten Meeres mischen sich zu einer rauhen Melodie. Das Schiff geht im Sturm unter, nur wenige können sich auf einem Boot retten, entsetzliche Szenen der Seenot spielen sich bei tagelangem Umherirren ab bis zum Kannibalismus, als dessen Opfer Juans Erzieher verspeist wird. Er selbst wird bewußtlos an eine Felseninsel der griechischen Kykladen geworfen. Hier haust der Seeräuber Lambro mit seiner schönen Tochter Haidee, die den Bewußtlosen findet und pflegt. Eine glückliche Liebesidylle der beiden jungen Menschen in der herrlichen Natur soll mit der Vermählung gekrönt werden. Da kehrt plötzlich der lange abwesende Korsar mit reicher Beute heim, überrascht die Liebenden beim rauschenden Fest, verwundet Juan nach heißem Kampf und macht ihn zum Gefangenen. Haidee stirbt vor Gram. Die Gefangenen werden als Sklaven nach Konstantinopel verkauft, mit ihnen auch eine gefangene italienische Operngesellschaft. Nach humorvoll beschriebener Fahrt gelangt das Schiff an seinen Bestimmungsort, wo der Held, mit der italienischen Primadonna zusammengefesselt, auf den Sklavenmarkt geführt wird. Unter den Leidensgenossen ist auch ein Engländer Johnson, der bei den Russen als Offizier gedient hat und als solcher in die Hände der Türken gefallen ist. Ein alter schwarzer Eunuch kauft Juan für Gulbeyaz, eine der Lieblingsfrauen des Sultans, steckt den hübschen Jungen in Mädchenkleider und führt ihn in den Harem seiner 22«
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Herrin. Ein pikantes Erlebnis 1 Juan aber widersteht im Gedenken an die verlorene Haidee den Liebeslockungen der Sultanin, flieht mit der gleichfalls in Ungnade gefallenen Odaliske Dudu, gelangt vor die Festung Ismail, wo er Johnson wiedertrifft, und tritt in die Dienste des russischen Belagerungsheeres, das von dem strengen Haudegen Suwaroff befehligt wird. Bei dem lebendig geschilderten Sturm auf die Stadt erwirbt er sich durch große Tapferkeit Achtung und wird nachher als Siegesbote an den kaiserlichen Hof in Petersburg geschickt. Die Zarin Katharina II. macht ihn zu ihrem Günstling und bevorzugten Liebhaber. Die Erlebnisse und das Wohlleben am Hofe werfen ihn auf das Krankenlager, die Ärzte verordnen eine Reise. Er wird von der Kaiserin als außerordentlicher Gesandter nach London geschickt und nimmt das Türkenmädchen Leila, das er bei dem Sturm auf Ismail retten konnte und in das er sich verliebt hat, mit auf die Reise über Warschau, Königsberg, Berlin, Dresden, Mannheim, Bonn, den Haag, Canterbury nach Englands Hauptstadt. Hier ergießt sich die Satire des Dichters aus persönlichster Kenntnis auf Menschen und Dinge. Politiker und Dichter bekommen ihren Hieb, die schlechte Straßenpolizei, die gegen einen räuberischen Überfall machtlos ist, die nur auf Schwiegersohnjagd bedachten Mütter, die äußerlich prüden, dabei aber lüsternen Mädchen, die ganze Unwahrheit einer nur verdeckten Sinnlichkeit, die Typen und das Treiben der aristokratischen Kreise auf den Landsitzen im Winter sind Zielscheiben seiner Ironie. Daß sich alte und junge Damen für den interessanten jungen Diplomaten aus Rußland interessieren, kann nicht ausbleiben; er kann sich der Liebesabenteuer kaum erwehren. Die feingebildete Gattin Adeline des Ministers Lord Henry Amundeville zieht ihn an. Auf ihrem Landsitz gerät er in Gefahr, einer verführerischen Schönheit, der Herzogin von Fitzfulke, ins Garn zu laufen. Seine Gönnerin Lady Adeline erkennt die Gefahr und beschließt, ihn zu verheiraten. Sie führt eine lange Liste verfügbarer Bräute; er wählt aber zur Verwunderung der Lady eine, die nicht in dem Bräutekatalog steht, die adlige, reiche, verwaiste, jugendreine und stille Aurora Rabby aus katholischer Familie. Mit einem galanten Erlebnis — im Schlafzimmer erscheint dem vielumworbenen jungen Diplomaten der Geist eines grauen Mönches, der sich beim Abwerfen der Kutte als die üppige Herzogin von Fitzfulke entpuppt — schließt die Dichtung mitten im 17. Gesang. Das ist das äußere Geschehen eines endlosen und zwanglosen Plauderns über die verschiedenartigsten Dinge des Tages und des Lebens, die dem Dichter in den Sinn kamen. „In Wahrheit wollt' ich weiter nichts davon, als daß ich selbst bisweilen lustig wäre — Ein neues Wort in meinem Diktionäre" (IV, 5). „So geh' ich fort, bald grübelnd, bald erzählend" (IX, 42). Oder: But "why then publish?"—There are no rewards Of fame or profit when the world grows weary. I ask in turn,—Why do you play at cards? Why drink? Why read?—To make some hours less dreary. It occupies me to turn back regards On what I've seen or ponder'd, sad or cheery; And what I write I cast upon the stream, To swim or sink—I have had at least my dream. (XIV, 11)
„Doch warum läßt du drucken? Kaum erwarten Läßt sich Lohn oder Ruhm!" Da möcht' ich fragen Dagegen euch: Was greift ihr zu den Karten? Lest oder trinkt? — „Wir spielen, totzuschlagen Die liebe Zeitl" — So hab' ich einen Garten, An Blumen reich, worin mein ganz Behagen — Und was ich schrieb, ich geb's dem Wogenschaum; Schwimm's oder sink's, so war es doch ein Traum!
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But what's this to the purpose? you will say. Gent reader, nothing; a mere speculation, For which my sole excuse is —'tis my way, Sometimes with and sometimes without occasion I write what's uppermost, without-delay; This narrative is not meant for narration, But a mere airy and fantastic basis, To build up common things with common places. (XIV, 7)
„Wozu dies alles?" — Also hör' ich fragen! Es ist nur Spekulation — nichts weiter! Und diese steigt — drum, Leser, laßt die Klagen! — Bald auf vermorschter, bald auf neuer Leiter. Was mir zu Munde kommt, das muß ich sagen. Auch ist mein Canto kein Novellenreiter, Es ist ja luftig und gar sehr phantastisch, Für meinen Zweck bald witzig, bald scholastisch!
Da haben wir den Sinn: ein poetisches Tagebuch, ein kunterbuntes Gemisch von Stimmungen und Ereignissen, Spieltrieb einer ungehemmten Phantasie, das Persönlichste, die Völker und die Menschheit umfassend. Die schöne Strophenform der Ottava Rima ist wohl nie mit größerer Meisterschaft zu glanzvoller Schönheit, weich ausströmender Empfindung, erregendem Schiffbruchsgrausen, hoher Weisheit, sprudelnder Laune und bissigem Spott gebraucht, die Reime sind nie so leicht und zu so spielerisch-witzigen Effekten gehandhabt worden. E s sind oft wahre Purzelbäume des Übermuts, prickelnde Spiele, Assonanzen und Wortechos, die der Laune des Erzählers entspringen und den vollen Reiz des wechselnden Tones in keiner Übersetzung voll erfühlen lassen. Hier nur eine Andeutung der Reimspaltungen: I want a hero: an uncommon want, When every year and month sends forth a new one, Till, after cloying the gazettes with cant, The age discovers he is not a true one; Of such as these I should not care to vaunt, I'll therefore take our ancient friend Don Juan. (I, 1) Brave men were living before Agamemnon And since, exceeding valorous and sage, A good deal like him too, though quite the same none; But then they shone not on the poet's page, And so have been forgotten: I condemn none, But can't find any in the present age Fit for my poem (that is, for my new one); So, as I said, I'll take my friend Don Juan. (I, 5) She now determined that a virtuous woman Should rather face and overcome temptation, That flight was base and dastardly, and no man Should ever give her heart the least sensation. (I, 77) Oder Beispiele aus der deutschen Nachdichtung: Gewöhnlich stürzt in medias res der Dichter (So ward es durch Horaz schon lange Mode); Wenn dann der Held erschienen ist, so flicht er Vergang'nes später ein als Episode.
(I, 6)
Wären zwei Männer da von fünfundzwanzig, Zumal wo heiß des Südens Lüfte wehen; Denn hierbei fällt mir ein, daß, wie bekannt, sich Die sprödsten Damen, wenn sie sich vermählen, Gern einen Gatten unter dreißig wählen.
(I, 62)
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Es war ein Sommertag — der sechste Juni — Weil ich mich stets genau zu sein verpflichte, Fehlt hier der Monat und der Tag dazu nie; Die Daten sind Stationen der Geschichte, Wo sie die Pferde wechselt; doch zur Ruh' nie Kommt sie und stürmt in wechselndem Berichte Fort durch der Zeiten und der Völker Wogen: Das Jenseits nur gehört den Theologen.
(I, 103)
,,Non ego hoc ferrem calidus juventa Consule Planco", sag' ich mit Horaz, Und was der alte Dichter uns bekennt da, War ehemals auch mir ein Glaubenssatz.
(I, 212)
Der Dichter macht Zwischenbemerkungen über sein Werk, er zählt die Strophen ab und sagt sich, daß der Gesang wohl nun schließen müsse (II, 216), daß der Stoff wohl besser auf zwei Gesänge verteilt würde (III, 1 1 1 ) , daß das Gedicht flatterhaft und unbeständig sei wie Mond und Ruhm (VII, 2), daß sein Stoff sei „de rebus cunctis et quibusdam aliis" ( X V I , 3). E s ist ein ununterbrochenes Plaudern mit Seitenblicken und Seitenhieben, aus dem dann packende, rührende oder kosmisch-erhabene Einzelbilder hervorragen: der Schiffbruch (II, 27ff.), das Liebesidyll mit Haidee (II, 113ff., I V , 2off.), das Fest auf der Lambros-Insel (III, 61 ff.), der Hymnus auf den Stern des Lebens ( X V , 98). These first twelve books are merely flourishes, Preludious, trying just a strung or two Upon my lyre, or making the pegs sure; And when so, you shall have the overture.
Die ersten zwölf Gesänge sind nichts mehr Als Vorspiel nur, die Saiten meiner Leier Zu prüfen und die Wirbel festzudrehn: Nun soll es gleich zur Ouvertüre gehn.
So heißt es X I I , 54. Das ganze Fragment, planlos hingeworfen, ist also nur der Anfang einer Entwicklung. A n Murray schreibt der Dichter (12. August 1819): „Ich hatte keinen Plan und habe auch jetzt keinen, aber Stoff genug . . . Ich werde abbrechen, w o ich gerade stehe." „Motive haß' ichl" ruft der Dichter aus ( X I V , 58). Durch das ganze Panorama zieht sich wie ein roter Faden, wenn auch locker, so doch bestimmter und zusammenhängender als im „Junker Harold", die Geschichte Juans. Nicht ohne Absicht wird gerade der Namensanklang an den berühmten Don Juan aus Sevilla gewählt, so fern auch die Erlebnisse des kastilianischen Weiberhelden der sozusagen ins Abstrakte erhobenen Triebhaftigkeit und dem unwirklichen Lebenstempo des großen Genießers stehen, wie sie Tirso de Molina, Molière, Goldoni, Mozart gestaltet haben. Der Held der Sage ist der skeptische, geniale, zynische Fraueneroberer und Frauenverderber, Byrons Don Juan, bereits als Knabe eingeführt, das Objekt des Frauenwerbens, mehr passiv als handelnd gegenüber dem Lebensinstinkt, die Verkörperung des natürlich-unschuldigen Triebes. Bernard Shaws Tanner („Mensch und Übermensch"), auch das Ziel mannstoller Frauen, hat hier sein Vorbild. In Byrons umfassendem Dichtertum sind gleichzeitig die beiden großen Mythen der Literatur lebendig : der nach dem Sinn des Daseins und nach Erkenntnis Strebende („Manfred", „Kain") und der dem Trieb und Genuß Hingegebene. „ Z w e i Seelen wohnen, achl in meiner Brust!" A m Anfang und am Ende dieser Dichterlaufbahn stehen zwei epische Reiseberichte, der „Junker Harold" und der „Don Juan". Dort der weltmüde, selbstquälerische Pilger, der in fremden Ländern und in der Größe der Natur Ruhe sucht, hier der Triumphator des Lebens mit der Weite der Umschau, nicht der Wüstling der
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an den gleichen Namen geknüpften Sage, sondern der Mensch des Alltags, der das pulsierende Leben mit allen seinen Freuden hinnimmt. Sein Dichter sieht die Menschen und ihr Getriebe, die Narrheit des Menschseins, das Allzumenschliche, in dem vielfältig schimmernden Licht eines weltüberlegenen Humors. Mit Recht konnte er sich gegen den Vorwurf der Immoralität wehren und sich auf die höhere Moral berufen, die über diesem Leben schwebt, ein freier Geist gegenüber aller kleinlichen Enge. Der „Don Juan" ist sein tiefstes Selbstbekenntnis, ein wahrhaft menschliches Gedicht im Sinne des alten Terenzwortes: „Homo sum; humani nihil a me alienum puto." Das romantische Suchen und Sehnen ist zur freien Weltschau durchgebrochen, freilich einer Weltschau der Disharmonien, die hinter aller Ironie doch Resignation und Schmerz nicht verbergen kann. So bleibt es denn doch bei Goethes verstehendem Schlußwort: „Wolltest Herrliches gewinnen, aber es gelang dir nicht." In Byrons kraftvollem, letzthin aber doch erfolglosem Ringen mit dem Leben sind Dichtung und Handeln eins. Percy Bysshe Shelley (1792—1822) rang weniger kraftvoll, und in seinen Werken steht das Handeln hinter der leidenschaftlichen Empfindung zurück; seine Welt ist schwerer zugänglich. In der Vorrede zu der Dichtung Julian und Maddalo, in der er sich selbst als Julian, seinen großen Freund Byron als den Grafen Maddalo zeichnet, nennt er sich mit feiner Selbsterkenntnis an Englishman of good family, passionately attached to those philosophical notions which assert the power of man over his own mind, and the immense improvements of which, by the extinction of certain moral superstitions, human society may be yet susceptible. Without concealing the evil in the world, he is for ever speculating how good may be made superior. He is a complete infidel, and a scoffer at all things reputed holy; and Maddalo takes a wicked pleasure in drawing out his taunts against religion. What Maddalo thinks on these matters is not exactly known. Julian, in spite of his heterodox opinions, is conjectured by his friends to possess some good qualities. How far this is possible the pious reader will determine. Julian is rather serious.
einen Engländer aus guter Familie, den philosophischen Lehren leidenschaftlich ergeben, die die Macht des Menschen über seinen Geist und die Möglichkeit ungeheurer Fortschritte der menschlichen Gesellschaft nach Ausrottung manches noch bestehenden Aberglaubens behaupten. Ohne das Übel in der Welt zu verkennen, sinnt er immerfort darüber nach, wie man dem Guten zum Sieg verhelfen kann. Er ist durch und durch ein Ungläubiger und ein Spötter über alles, was man für heilig hält, und Maddalo hat ein boshaftes Vergnügen daran, ihm Spottreden gegen die Religion zu entlocken. Wie Maddalo über solche Dinge denkt, weiß man nicht genau. Julian gilt bei seinen Freunden trotz seiner ketzerischen Ansichten als einer, der gute Eigenschaften besitzt... Er meint es recht ernst.
Shelley ist, wie er an andrer Stelle sagt, beseelt von einer Leidenschaft, die Welt zu reformieren; er ist kein Neinsager und Menschenfeind, sondern vorwärts gerichtet, auf die menschliche Wohlfahrt bedacht auch da, wo er umstürzlerisch auftritt. Politische Absicht und transzendentale Philosophie erfüllen sein Denken und Dichten, eine Leidenschaft für das Ideale. Weise, gerecht und mild zu sein gelobte er sich. „Denn ist's nicht weise, aus dem Bösen sich stets Gutes noch zu suchen?" heißt es in „Julian und Maddalo". . . . It is our will That thus enchains us to permitted ill— We might be otherwise—we might be all We dream of happy, high, majestical.
's ist unser Wille, der uns so die Last Von uns erlaubten Übeln auferlegt. Wir könnten anders sein: was wir gehegt In Träumen, groß und herrlich, Göttern ähnlich,
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Where is the love, beauty and truth we seek But in our mind? . . . We are assured Much may be conquered, much may be endured Of what degrades and crushes us. We know That we have power over ourselves to do And suffer—what, we know not till we try; But something nobler than to live and die— So taught those kings of old philosophy Who reigned, before Religion made men blind; And those who suffer with their suffering kind Yet feel their faith, religion.
Die Schönheit, Wahrheit, Liebe, die wir sehnlich Erstreben, ruhn sie nicht in unsern Seelen? Wir alle wissen ja schon, Maddalo, Wieviel ertragen und besiegt kann werden Von jenem, was den Menschengeist auf Erden Erniedrigt und erdrückt. Wir wissen, daß Uns Kraft zu tun ward und zu dulden — was, Das wissen wir erst, wenn wir es erstreben; Doch Edleres gewiß, als nur zu leben Und dann zu sterben. Also lehrten schon Die alten Weisen, eh' die Religion Die Menschen blind gemacht; und jetzt noch hegt Der, der mit Leidenden auf Erden trägt, Den Glauben als Religion.
Dem Elternhaus frühzeitig entfremdet, sah der feinnervige Knabe und Jüngling nur Leiden um sich her. Er flüchtete sich in die Natur und die Poesie, fühlte sich aber immer tiefer in den Gegensatz zwischen Freiheit und Bedrückung hinein. Der Fehdehandschuh einer Schrift über den Atheismus brachte ihm die Relegation von der Universität Oxford; die übereilte Heirat mit einem sechzehnjährigen Mädchen, die Flucht und der Herzensbund mit der Tochter William Godwins, des Predigers eines individualistischen Zukunftsstaates der Vernunft, der Selbstmord der in London zurückgebliebenen jungen Gattin, die Entziehung des Verfügungsrechts über die eigenen Kinder sind Etappen der Sturm- und Drangjahre. Dann zog äußerliche Ruhe in das Leben des Dichters ein. Er heiratete Mary Godwin, lebte in seinem englischen Hause aber als Mann des reinen Geistes und des Träumens so unbekümmert um Nahrung und Pflege für den Leib, daß eine heraufziehende Lungenschwindsucht ihn nach Italien trieb, wo er bei dem leidenschaftlich geliebten Segelsport einen frühen Tod fand. Godwins rationalistische Gesellschaftskritik war das entscheidende geistige Erlebnis; Kampf gegen religiöse und gesellschaftliche Unduldsamkeit, Befreiung der Menschheit aus allen Fesseln und Aufrichtung eines Ideakeiches sind die Ziele seiner Sehnsucht. Was aber bei Godwin reine Verstandeskonstruktion und kalter Intellektualismus blieb, wird bei Shelley von der sein Wesen durchströmenden Liebe und Sehnsucht nach Schönheit erfüllt. An Piatos Ideenreich entzündet, dem eigenen Fühlen entspringend, wächst der Traum einer neuen großen Gemeinschaft im Geistigen. Was die Erde bietet, alles Stoffliche, ist nur Symbol; das Wirkliche ist Liebe und Schönheit. So ist die Dichtung dieses größten Lyrikers Vergeistigung des Lebens, Spiritualisierung, ekstatische Einfühlung in die Grundtiefen der den Kosmos durchziehenden Liebe. Die immer erneute Symbolisierung dieses optimistischen Glaubens macht den Gehalt der größeren und kleineren Dichtungen aus, der „Feenkönigin Mab", des Epos „Laon und Cythna", des leidenschaftdurchglühten Epos von dem Einsamkeitsdämon „Alastor", der „Hymne an die geistige Schönheit", der Liebesverklärung des „Epipsychidion", des lyrischen Dramas vom „Entfesselten Prometheus", der Oden und kleineren Gedichte mit ihren schwermutsvollen, leuchtenden Naturbildern. Zwei der bekanntesten Oden, die eine an die Lerche, die andre an den Westwind gerichtet, und ein kürzeres Gedicht mögen als Beispiele dienen. Sie gehören zu dem Herrlichsten im Ausgleich der Form und der Gedanken.
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Entkörperte Freude und Naturharmonie atmet die Ode A.n eine Lercbe (To a Skylark). Auch Wordsworth und Meredith haben die Lerche besungen, beide mit einem naturmalenden Realismus, nicht in der strengen strophischen Gliederung der Ode Shelleys. Die kunstvolle Strophe hat vier in den Stößen des Vogels emporkletternde Kurzzeilen, denen eine in dem ununterbrochenen Jubilieren schwebende, fließende lange Schlußzeile folgt: Hail to thee, blithe Spirit! Bird thou never wert, That from Heaven, or near it, Pourest thy full heart In profuse strains of unpremeditated art.
Heil dir, Geist der Lieder! Vogel bist du nicht, Der vom Himmel nieder Aus dem Herzen schlicht Mit ungelernter Kunst in muntern Weisen spricht.
Ein Geist also ist es, was da aufsteigt, nicht ein Vogel; was der Dichter hört, ist der Erguß eines übervollen Herzens. Mit Staunen verfolgt er das Aufsteigen; er kommt nicht los von dem Anblick, in immer neuen Vergleichen muß er ihn festhalten: Higher still and higher From the earth thou springest Like a cloud of fire; The blue deep thou wingest, And singing still dost soar, and soaring ever singest.
Feuerwolken gleich, Hoch und höher schwingest In der Lüfte Reich Du dich auf und klingest, Und singend steigst du stets, wie steigend stets du singest.
In the golden lightning Of the sunken sun, O'er which clouds are bright'ning, Thou dost float and run; Like an unbodied joy whose race is just begun.
In der Abendsonne Goldner Strahlenpracht Schwebst du voller Wonne Hin und wieder sacht, Gleich körperloser Lust, die lind das Herz entfacht.
Thy pale purple even Melts around thy flight; Like a star of Heaven, In the broad daylight Thou art unseen, but yet I hear thy shrill delight.
In die Purpurwellen Tauchst du sanft hinein; — Gleich dem Stern beim hellen, Klaren Tagesschein, Sieht man dich nicht, doch hör' ich deine Melodein.
Keen as are the arrows Of that silver sphere, Whose intense lamp narrows In the white dawn clear Until we hardly see—we feel that it is there.
Wie der Silbers terne Strahlenschimmer sprüht, Dessen Licht, das ferne, Morgens schnell verglüht Und doch fortleuchtet, ob der Blick es kaum mehr sieht.
All the earth and air With thy voice is loud, As when night is bare, From one lonely cloud The moon rains out her beams, and Heaven is overflowed.
Deiner Lieder Reigen Erd' und Luft durchschwillt, Wie in nächt'gem Schweigen Einer Wolke mild Des Mondes Licht, das rings den Himmel hellt, entquillt.
What thou art we know not; What is most like thee? From rainbow clouds there flow not Drops so bright to see As from thy presence showers a rain of melody.
Ähnlich dir an Segen Nichts die Welt umschließt. Nie so goldner Regen Bunter Wölk' entfließt, Wie deiner Lieder Flut harmonisch sich ergießt.
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V. Die Wiederentdeckung der Seele
Das sind anschauliche Naturbilder, die den mitreißenden Vorgang fassen wollen. Wie allmählich der Vogel immer unsichtbarer wird, steigen daneben auch Gestalten aus schöner Erinnerungswelt auf: der Dichter, der aus übervollem Herzen singt und die Welt mitreißt; die Edelmaid, die auf stolzer Zinne ihr nächtliches Liebeslied von Lust und Leid singt; Brautgesänge und Siegeshymnen: nichts von allem kommt deinem Sang gleich, o Vogel oder Geist, dessen Lied die Seele im Götterrausch aufwärts reißt. Der Dichter kann nichts mehr sehen von dem Naturvorgang, nur die unkörperliche Musik tönt noch. Er gelangt zur beruhigenden Innenschau: lehre mich deine Gedanken, deine Freude, die alle Erdenschwere überwindet. What objects are the fountain Of thy happy strain? What fields, or waves, or mountains? What shapes of sky or plain? What love of thine own kind? what ignorance of pain?
Ach, was mag die Quelle Deiner Lieder sein? Anger, Berg und Welle? Wolkenflucht und Hain? Der Liebesinbrunst Macht? Unkenntnis aller Pein?
With thy clear keen joyance Languor cannot be: Shadow of annoyance Never came near thee: Thou lovest—but ne'er knew love's sad satiety.
Nie verzehrt Ermatten Deine frohe Brust, Dumpfen Ekels Schatten Trübt dir nie die Lust; Du liebst, doch ist dir nie der Liebe Leid bewußt.
Waking or asleep, Thou of death must deem Things more true and deep Than we mortals dream, Or how could thy notes flow in such a crystal stream?
Dir in Schlaf und Wachen Muß des Todes Welt Lichterfüllter lachen, Als sie uns sich hellt — Wie tönte sonst dein Lied so rein vom Himmelszelt?
Der Dichter hat ja dasselbe zu tun wie der in das Unsichtbare hinaufschwebende „Vogel oder Geist"; auch er sucht die Nähe des Himmels, das Anschauen des Ewigen, die Lösung von allen Erdennöten, um die Welt führen zu können. Wir Menschen leben zu sehr im Irdischen; die Lerche kann es uns anders lehren. We look before and after, And pine for what is not: Our sincerest laughter With some pain is fraught; Our sweetest songs are those that tell of saddest thought.
Uns zerquält das Morgen Oder Gestern heut, Uns wird, achl durch Sorgen Jede Lust entweiht, Und unser schönstes Lied, es spricht von tiefstem Leid.
Better than all measures Of delightful sound, Better than all treasures That in books are found, Thy skill to poet were, thou scorner of the ground I
Besser als geschraubter Melodien Brunst, Besser als verstaubter Bücher Weisheitsdunst, Du Erdverächter, wär' dem Dichter deine Kunst.
Teach me half the gladness That thy brain must know, Such harmonious madness From my lips would flow The world should listen then—as I am listening now.
Halb nur deine Lust Wolle mit mir tauschen: — Dann aus meiner Brust Sollt' ein Lied entrauschen, Dem würde, wie ich dir gelauscht, die Erde lauschen.
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Die entkörperte Freude steigt und schwebt ihre Bahn, nur in der Instrumentation der Bilder und Klänge seiner Worte kann ihr die Sehnsucht des Dichters folgen, alle Melodien der Menschen sind nur hohle Klänge gegen dies Lied, das „ i m Götterrausch die Seele aufwärts reißt". In der Zerschwebung der eigenen Seele im Gleichklang mit dem V o g e l erfährt der Dichter seine hohe Aufgabe. Mit einer feinen Schlußwendung in der letzten Zeile muß er nach diesem Flug in die Höhe erst wieder an die konkrete Situation erinnert werden. Wordsworth hat zweimal die Lerche besungen; in beiden Gedichten ruft ihm die steigende Lerche Gedanken wach, seine „imagination" wird durch das Naturbild erregt, geht aber eigenem Sinnen nach. Shelleys Seele ist mehr passives Gefäß, in das der Naturvorgang sich ergießt. Die Seele wird mit in die Höhe gerissen, der Dichter fühlt die Natur. So erscheint das Element als Naturkraft, die den Menschen mit ergreift, auch in der sprachgewaltigen Windbeschwörung der Ode an den Westwind (Ode to the West Wind), tue in gemessenen Danteschen Terzinen, sonettähnlich in fünf Strophen zusammengefaßt, einherschreitet. I
I
O wild West Wind, thou breath of Autumn's being, Thou, from whose unseen presence the leaves dead Are driven, like ghosts from an enchanter fleeing,
O wilder Westwind, du des Herbstes Lied, Vor dessen unsichtbarem Hauch das Blatt
Yellow, and black, and pale, and hectic red, Pestilence-stricken multitudes: O thou, Who chariotest to their dark wintry bed
Fahl, pestergriffen, hektisch rot und matt, Ein totes Laub, zur Erde fällt I O du, Der zu der winterlichen Ruhestatt
The winged seeds, where they lie cold and low, Each like a corpse within its grave, until Thine azure sister of the Spring shall blow
Die Saaten führt — die Scholle deckt sie zu,
Her clarion o'er the dreaming earth, and fill (Driving sweet buds like flocks to feed in air) With living hues and odours plain and hill:
Die träumenden Gefilde weckt, und bald Die auferstandnen Keim' in Blüten sich Verwandeln, denen süßer Duft entwallt:
Wild Spirit, which art moving everywhere; Destroyer and preserver; hear, oh, hear!
Allgegenwärt'ger Geist, ich rufe dich, Zerstörer und Erhalter, höre mich!
Dem Schemen gleich, der vor dem Zaubrer flieht,
Da liegen sie wie Leichen starr und kalt, Bis deine Frühlingsschwester aus der Ruh'
II
II
Thou on whose stream, mid the steep sky's commotion, Loose clouds like earth's decaying leaves are shed, Shook from the tangled boughs of Heaven and Ocean,
Du, dessen Strömung bei des Wetters Groll
Angels of rain and lightning: there are spread On the blue surface of thine aery surge, Like the bright hair uplifted from the head
Die Wolken von des Himmels Luftgezweig (Engel von Blitz und Regen sind es) toll Wie sinkend Laub zur Erde schüttelt: — gleich
Dem schwarzen Haare, das man flattern sieht
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V. Die Wiederentdeckung der Seele
Of some fierce Maenad, even from the dim verge Of the horizon to the zenith's height, The locks of the approaching storm. Thou dirge
Um ein Mänadenhaupt, ist wild und reich,
Of the dying year, to which this closing night Will be the dome of a vast sepulchre, Vaulted with all thy congregated might Of vapours, from whose solid atmosphere
Des sterbenden Jahres, welchem diese Nacht
Black rain, and fire, and hail will burst: oh, hear I
Vom Saum des Horizonts bis zum Zenith Auf deinem Azurfeld die Lockenpracht Des nah'nden Sturms verstreut! DuKlagelied
Als Kuppel eines weiten Grabes sich Gewölbt mit all der aufgetürmten Macht Von Dampf und Dunst, die bald sich prächtiglich Als Regen, Blitz entladen: — höre mich!
III Thou, who didst waken from his summer dream The blue Mediterranean, where he lay, Lulled by the coil of his crystalline streams,
III Du, der geweckt aus seinem Sommertraum
Beside a pumice isle in Baiae's bay, And saw in sleep old palaces and towers Quivering within the wave's intenser day,
In Bajäs Bucht von sanftem Wellenschlag, Und tief im Schlaf die Wunderstadt gesehn, Erglänzend in der Flut kristall'nem Tag,
All overgrown with azure moss and flowers So sweet, the sense faints picturing them I Thou For whose path the Atlantic's level powers
Wo blaues Moos und helle Blumen stehn, So schön, wie nimmer sie ein Dichter schuf!
Cleave themselves into chasms, while far below The sea-blooms and the oozy woods which wear The sapless foliage of the ocean, know Thy voice, and suddenly grow gray with fear, And tremble and despoil themselves: oh, hearl
Das blaue Mittelmeer, das schlummernd lag, Gewiegt an einer Bimssteininsel Schaum
Du, dem im Zorne selbst entfesselt gehn Des Weltmeers Wogen, wenn sie trat sein Huf, Indes der schlammige Wald, der saftlos sich Das Blatt am Grunde fristet, deinen Ruf Vernahm, daß falb sein grünes Haar erblich Und er sich bebend neigte: — h ö r e mich!
IV If I were a dead leaf thou mightest bear; If I were a swift cloud to fly with thee; A wave to pant beneath thy power, and share
IV Wär' ich ein totes Blatt, von dir entführt, Wär' eine Wolke, zieh'nd auf deiner Spur, War' eine Welle, die den Odem spürt
The impulse of thy strength, only less free Than thou, O uncontrollable! If even I were as in my boyhood, and could be
Von deiner Kraft, und selbst sie teilte, nur So frei nicht, Stürmender, wie du 1 Ja, schritt' Ich noch, ein Knabe, auf der Kindheit Flur,
The comrade of thy wanderings over Heaven, As then, when to outstrip thy skiey speed Scarce seemed a vision; I would ne'er have striven
Begleiter dir auf deinem Wolkenritt, Als deinen Flug zu überholen, mir So leicht erschien: —dann klagt' ich, was ich litt,
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As thus with thee in prayer in my sore need. Oh, lift me as a wave, a leaf, a cloud! I fall upon the thorns of life I I bleed!
So bitter flehend nicht wie heute dir. O nimm mich auf, als Blatt, als Welle bloß! Ich fall' auf Schwerter — ich verblute hierl
A heavy weight of hours has chained and bowed One too like thee: tameless, and swift, and
Zu Tode wund sinkt in des Unmuts Schoß Ein Geist wie du, stolz, wild und fessellos.
V Make me thy lyre, even as the forest is: What if my leaves are falling like its own! The tumult of thy mighty harmonies
V Laß gleich dem Wald mich deine Harfe sein, Ob auch wie sein's mein Blatt zur Erde fällt ! Der Hauch von deinen mächt'gen Melodein
Will take from both a deep, autumnal tone,
Macht, daß ein Herbstton beiden tief entschwellt, Süß, ob in Trauer. Sei du, stolzer Geist,
Sweet though in sadness. Be thou, Spirit fierce, My spirit I Be thou me, impetuous one! Drive my dead thoughts over the universe Like withered leaves to quicken a new birth! And, by the incantation of this verse, Scatter, as from an unextinguished hearth Ashes and sparks, my words amongmankind I Be through my lips to unawakened earth The trumpet of a Prophecy! O Wind, If Winter comes, can Spring be far behind?
Mein Geist! Sei ich, du stürmevoller Held! Gleich welkem Laub, das neuen Lenz verheißt, Weh' meine Grabgedanken durch das All, Und bei dem Liede, das mich aufwärts reißt, Streu', wie vom Herde glüh'nder Funkenfall Und Asche stiebt, mein Wort ins Land hinein I Dem Erdkreis sei durch meiner Stimme Schall Der Prophezeiung Horn! O Wind, stimm ein: Wenn Winter naht, kann fern der Frühling sein?
Der Westwind ist Zerstörer und Erhalter zugleich; seine Wirkungen werden mit allen Mitteln sprachlicher Ausdruckskunst ausgemalt, mit Steigerung von der Anschauung zur Idee. O wäre ich doch ein Stück der von dir bewegten Natur, o wirble auch mich empor, „ich fall' auf Schwerter, ich verblute hier!" Sei du mein rettender Geist, streue meine Worte ins Land und über die Menschen, „wie vom Herde glühender Funkenfall und Asche stiebt". Dann muß jedem Winter ein Frühling folgen, die Welt darf hoffen. Auch hier löst sich der Dichtergeist in die Naturkraft auf, um so segnend der Menschheit zu helfen. In der wundervollen Totenklage „Adonais" auf den toten Freund Keats wird dieser Seelenflug in die Höhe, in das Reich der platonischen Ideen, als Dichterlohn gefeiert. Von der Körperlichkeit hinauf zur Vergeistigung: das ist Shelleys Grunderlebnis, von dem seine Poesie lebt, das ist seine Sendung, seine Überzeugung von der Macht der Idee und des Ideals. Große stilistische Spannungen, breit über das Terzinenende strömende Sätze, altgermanisch nachdrücklich wirkende Appositionen, schwere Alliterationen und Vokalwirkungen, die nur im Original fühlbar werden, farbenreiche Beiwörter malen das hohe Pathos, das den Begeisterten erfüllt. Eine Themaentfaltung von großartiger Kunst. Naturmystik, Eindruckskunst: nicht ein Ausgehen von der starken Empfindung und ihre Steigerung bis zur Beseelung des Alls, sondern ein plötzliches Ergriffen-
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V. Die Wiederentdeckung der Seele
werden, eine blitzartige Erkenntnis der höheren Einheit, die wie ein Mysterium die sinnende Seele überkommt. Dieser impressionistische Charakter ist für die ganze englische Naturlyrik bezeichnend. Der Sensualismus der englischen Erkenntnistheorie findet hier seine Entsprechung ebenso wie die im Sektenchristentum so häufig begegnenden Erweckungen oder Erleuchtungen. Das Naturgefühl befreit den Menschen, löst ihn von Qual und Gedanken, reißt ihn hinein in die kosmische Harmonie. Das Goethesche „Lösest endlich auch einmal Meine Seele ganz" ist Wordsworths immer erneutes Erleben. Shelleys Ergriffenwerden durch den von außen kommenden Eindruck befähigt ihn zu dem vollendetsten Einklang von Gehalt und Gestalt, zu einer Form, die nicht Konturen zeichnen, sondern das Umschwebende, Licht, Farben, Düfte und Töne als Wesenheiten fühlbar machen will: The sun is warm, the sky is clear, The waves are dancing fast and bright, Blue isles and snowy mountains wear The purple noon's transparent might, The breath of the moist earth is light, Around its unexpanded buds; Like many a voice of one delight, The winds, the birds, the ocean floods, The City's voice itself, is soft like Solitude's.
Die Sonn' ist heiß, der Himmel blau, Die Welle blitzt im schnellen Tanze, Der Berge Schnee, der Inseln Grau Ruht in des Mittags hellstem Glänze. Die feuchten Lüfte kosend schwimmen UmBlüten, nochvomBlattumschlossen; Wie einer Wonne viele Stimmen Mich Vögel, Winde, Wogentosen, Die laute Stadt selbst süß wie Einsamkeit umkosen.
I see the Deep's untrampled floor With green and purple seaweeds strown; I see the waves upon the shore, Like light dissolved in star-showers, thrown: I sit upon the sand alone,— The lightning of the noon-tide ocean Is flashing round me, and a tone Arises from its measured motion, How sweet! did any heart now share in my emotion.
Der Tiefe unbetretnen Sand Purpurne, grüne Tang' umhegen; Die Wellen brechen sich am Strand — Licht, aufgelöst in Sternenregen. Ich ruh verlassen am Gestad — Der Wogen blitzendes Gewühle Umleuchtet mich — ein Ton mir naht Aus ihrem taktgemeßnen Spiele, Süß, wenn ein Herz nähm teil an dem, was ich jetzt fühle.
So beginnt Zerrissenheit, geschrieben bei Neapel (Stan^as Written in Dejection, near Naples), ein Gedicht der Selbstbefreiung, ein Musterbeispiel impressionistischer Kunst. Und so ist in dem Lerchengedicht die Verschmelzung der gefühlentsprungenen Sprache mit dem Gesang des Vogels — weitab von naturalistischer Klangnachahmung — zur höchsten Vollendung geführt, so schwingt in den Versen der Westwindode etwas von dem Säuseln, Schwellen und Brausen des Windes mit, das in seiner Bewegung die gleichmäßige Ruhe Dantescher Terzinen aufhebt. Dabei ist die beseelte Schönheit der Form niemals nur musikalisch, wie der Inhalt niemals nur gedanklich ist. Alle Sinne sind beteiligt wie alles Denken und Fühlen, Metaphern und Symbole sind geistflüssig wie die umgebenden Töne, Farben und Düfte, Dinge und Gefühle zerfließen zu einer umfassenden neuen Wesenheit, zu Schwingungen, die aufwärts steigen, zu kosmischer Ekstase. Wohlklang, Anschauungsfülle und Musikalität vereinigen sich zu dieser Schönheit, diesem Seelenflug in die Höhe, der nach des Dichters eigenen Worten Frohlocken und Schrecken verschwistert, Lust und Leid, Ewigkeit und Wandel vereinigt und die unversöhnlichen Elemente zu einem leichten Joch macht. Zweimal hat Shelley den Wechsel (Mutability) besungen. Das frühere der beiden Gedichte lautet:
Percy Bysshe Shelley
We are as clouds that veil the midnight moon; How restlessly they speed, and gleam, and quiver, Streaking the darkness radiantly! —yet soon Night closes round, and they are lost for ever I
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Wir gleichen Wolken, die den Mond verhüllen; Wie blinkend sie in rastlos ziehender Jagd Mit streifigem Licht die Dunkelheit erfüllen, Doch bald auf ewig schwinden in die Nacht 1
Or like forgotten lyres, whose dissonant strings Give various response to each varying blast, To whose frail frame no second motion brings One mood or modulation like the last.
Dem Saitenspiele auch, verstimmt, verschollen, Dem jeder Wind entlocket andren Ton
We rest.—A dream has power to poison sleep; We rise.—One wandering thought pollutes the day; We feel, conceive or reason, laugh or weep; Embrace fond woe, or cast our cares away:
Wir ruhn — ein Traum kann unsern Schlaf vernichten; Wir wachen — ein Gedanke trübt den . Tag; Wir fühlen, lachen, weinen, denken, dichten, In Weh und Jubel bebt des Herzens Schlag: —
It is the samel—For, be it joy or sorrow,
Es bleibt sich gleich I — Der Freude wie den Sorgen Ist stets zum Flug die Schwinge ausgespannt; Des Menschen Gestern gleichet nie dem Morgen, Und nichts als nur der Wechsel hat Bestand.
The path of its departure still is free: Man's yesterday may ne'er be like his morrow; Nought may endure but Mutability.
Und dem beim nächsten Hauche nie entquollen Derselbe Klang, der eben ihm entflohn.
Überall Bilder vom Zerfließen, von flüchtiger Ungreifbarkeit: die eilenden Wolken mit ihren zitternden, streifigen Lichtreflexen, das im Windhauch den Klang immer verändernde Saitenspiel, der vorbeihuschende Traum, der plötzlich störende Gedanke, das schnell und ungerufen kommende Gefühl, das Freude ebenso gut wie Leid bringen kann: überall Wechsel, Ungewißheit, Ungreifbarkeit, ein passives Hinnehmenmüssen dessen, was kommt. Anders in Goethes „Dauer im Wechsel", einem Gedicht mit demselben Gegenstand, das dem noch schneller vergänglichen Menschen einen positiven Rat erteilt. Bei Shelley nur Schwermut, entsagungsvolle Schlußfolgerung: nur eins ist beständig, der Wechsel selbst, du bist ihm willenlos ausgeliefert. Die „Elegienstrophe" Grays steht in wundervollem Einklang mit dieser ruhig-ernsten Stimmung. Die Melodie steigt und fällt in jeder Zeile und gleitet auch mild über die wirkungsvollen Sinnpausen der dritten Strophe hinweg. Stabreim und Wechsel von schrillen und dunklen Vokalen, die lang gleitenden Worte „restlessly" und „radiantly" malen die Unruhe des nächtlichen Wolkenhimmels, die sehnsuchtsvoll klingenden 1-, f- und m-Alliterationen, unterbrochen von der Dissonanz der s-Häufungen („dissonant strings") in der zweiten Strophe, den Zauber des Saitenspiels, die harten p- und k-Anlaute der dritten Strophe die plötzlichen Störungen unsres Alltags. Da ist kein Seitengedanke, kein Nebenklang, kein Zierrat, auch keine Sentimentalität, sondern volle Einheit der Stimmung, die Ernst und Entsagungsbereitschaft atmet. Den gewaltigsten Ausdruck für seinen Drang zur Freiheit, zur Überwindung aller Erdennot und Erdenschwere in einem erträumten Zukunftsreich, das der Menschen-
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V. Die Wiederentdeckung der Seele
geist sich schaffen kann, findet Shelley in seinem größten Werk, dem lyrischen, nicht für die Bühne gedachten Drama Der entfesselte Prometheus (Prometheus Unbound), das man wohl nicht mit Unrecht das größte englische Gedicht des 19. Jahrhunderts genannt hat. Es ist verständlich, daß der alte Mythus von Prometheus, dem „Vorausdenkenden", die beiden leidenschaftlichen Kämpfer für Befreiung aus Enge, Vorurteil und Aberglauben, Byron und Shelley, mächtig ergreifen mußte. Für Byron ist Prometheus das Symbol titanischen Trotzes, der Empörung und der eigenen Stärke, für Shelley der entsagende Dulder, der an eine Erlösung und ein kommendes Reich der Schönheit und Liebe glaubt. Aeschylus' große Titanomachie gab Stoff und Vorbild, Miltons Satan, von dem Dichter selbst in der Vorrede gestreift, lieferte Einzelzüge, das eigene, an Godwins Optimismus und seiner Überzeugung von dem Egoismus als Unwissenheit, von dem Zukunftsreich der Liebe, die aus Weisheit fließt, geschulte Denken steuerte die tragende Idee bei und entsprach in der hohen lyrischen Vergeistigung und Pracht dem Glauben an die Mission der Dichtung. Der uralte Mythus von der Auflehnung gegen ungerechten Zwang hat Ewigkeitsgehalt für alles Menschenschicksal. Prometheus, der Titan, ist Wohltäter der Menschheit, der des grausamen Tyrannen Zeus Zorn erregt hat; als Genius der Menschheit faßt ihn schon Hesiod auf. Die Okeaniden sind angeregt durch den Chor der Töchter des Okeanos bei Aeschylus, aber vertieft und individualisiert; so Panthea und Ione, so namentlich Asia, die die handelnde Heldin geworden ist. Die Schreckgestalt des Demogorgon begegnet schon bei Spenser und Milton; sie soll auf einen orientalischen Dämon zurückgehen, wird aber von Shelley selbständig für die Grundidee verwertet, indem er diese „Urkraft der Welt" — ein Ausdruck der Gattin Shelleys —, das Prinzip der Vernunft, aus der Ehe des Zeus mit Thetis hervorgehen läßt: der Sohn, der den Vater stürzen wird, das Geheimnis, das der gefesselte Prometheus besitzt, aber nicht preisgeben will. Ein Überblick über die Handlung mag das Verständnis erleichtern. I. A k t . Die Marterqualen des stolzen, an den Felsen geschmiedeten Dulders. Nach dreitausendjähriger Qual hat er den Fluch vergessen, den er, weise geworden, widerrufen möchte; kein Sterblicher darf ihn sprechen, auch die Erde, seine Mutter, nicht. Prometheus ist nicht allein, die Geisterschwestern Ione und Panthea liegen zu seinen Füßen. Asia aber, ihreSchwester und die Geliebte des Gefesselten, muß sorgenvoll in der Ferne weilen. Das Phantom Jupiters wird gerufen und muß den grausigen Fluch wiederholen. Merkur, der mit den Furien erscheint, versucht dem Wehrlosen sein Geheimnis zu entlocken oder neue, seelische Qualen zu verhängen. Wer wird Jupiter stürzen? Das ist das Geheimnis, das der trotzige Dulder nicht verrät. In einer großen Marterszene muß er alle seelischen Qualen aushalten, die die Furien bringen können. Seine Schützlinge, die Menschen, so prophezeien die Furien, werden nichts als Not und Trübsal ernten und die zwei größten Tragödien der Geschichte sehen, die Kreuzigung Christi und die Französische Revolution. Prometheus besiegt durch Festigkeit die quälenden Geister, freundliche Genien stärken ihn. Elegisch klingt der Akt aus, Gedanken der Liebe und des Wohltuns erfüllen den hilflosen Kämpfer. Prometheus. . . . I would fain Be what it is my destiny to be, The saviour and the strength of suffering man, Or sink into the original gulf of things: There is no agony, and no solace left; Earth can console, Heaven can torment no more.
Wie gerne möcht' ich sein, wozu das Schicksal Bestimmt mich hat: der Hort und der Erlöser Der leidbedrückten Menschheit, oder sinken Zurück in des Urchaos nächt'gen Abgrund. Nicht Qual, nicht Trost ist übrig mir. Die Erde Kann nicht mehr trösten, Zeus nicht martern.
Percy Bysshe Shelley
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Panthea. Hast thou forgotten one who Hast du vergessen die, die dich bewacht watches thee The cold dark night, and never sleeps but Durch eis'ge, dunkle Nacht und nur when entschlummert, The shadow of thy spirit falls on her? Wenn deines Geistes Schatten auf sie fällt? Ich sprach: Nur Lieb' ist eitel nicht: Du Prometheus. \ said all hope was vain but love: thou lovest. liebst! II. A k t . Asias Wanderung. Sie weilt in liebender Erwartung traurig in einem schönen indischen Tal, bis Panthea ihr seltsame Träume von Prometheus' Befreiung, von Erfüllung und Fortschritt berichtet. Asia ergreift der Schwester Hand und beginnt ihre Wanderung durch den dunklen Wald menschlicher Erfahrung, auf einen hohen Berg, bis in die Höhle des furchtbaren Demogorgon, des unerforschlichen Geschicks, eine Reise wie Fausts Gang zu den Müttern. Asia befragt den orakelhaften Demogorgon über Gott und die Kosmogonie, über das Leben und das Böse. Die Antwort erfolgt in lebendig erstehenden Bildern. Der „Geist der Stunde" trägt die Schwestern auf einen mystischen Berg, auf dem Asia transfiguriert wird: der Strahlenglanz überirdischer Schönheit umgibt sie, die Liebe, „welche gleich dem Strom des Sonnenlichts die Lebenswelt erfüllt", das ideale Paradies der Zukunft leuchtet in ihr: . . . the whole world which seeks thy sympathy. Hearest thou not sounds i' the air which speak the love Of all articulate beings? Feelest thou not The inanimate winds enamoured of thee? List!
. . . Alles, was da lebt, Sucht deine Liebe. Hörst du nicht die Töne, Die dir die Liebe aller Lebenden Verkünden? Fühlst du nicht, wie selbst die Winde, Die unbelebten, dich umkosen? Horch!
Prometheus' Stimme singt ihr wundersam zu, sie antwortet aus ihrer Verzückung. Ihr Wechselgesang am Schluß des Aktes ist die höchste Lyrik Shelleys. 111. A k t. Jupiters Fall und Prometheus' Befreiung. Demogorgon ist die Inkarnation des Sohnes, den Jupiter mit Thetis gezeugt hat. Sein Machtwort stürzt den Herrn des Himmels; das Wissen um diesen Fall war das von Prometheus gehütete Geheimnis. Herkules befreit den Gefesselten, der mit Asia vereint wird und in ein Leben der Freiheit und Liebe eingeht. Der Geist der Stunde verkündet Erlösung und Freiheit für alle Länder und Meere. Schon hat der zarte Geist der Erde, der bereits vor Jupiters Regierung Asia geliebt und Mutter genannt hat, in der Weltstadt das Schwinden des Bösen und glückliche Veränderung gesehen, der Geist der Stunde die Umkehr zum Guten und zur Liebe in der ganzen Welt: The loathsome mask has fallen, the man remains Sceptreless, free, uncircumscribed, but man Equal, unclassed, tribeless, and nationless, Exempt from awe, worship, degree, the king Over himself; just, gentle, wise: but man Passionless ?—no, yet free from guilt or pain, Which were, for his will made or suffered them, Nor yet exempt, though ruling them like slaves, From chance, and death, and mutability, The clogs of that which else might oversoar The loftiest star of unascended heaven, Pinnacled dim in the intense inane. 23 Die Stimmen der Meister
. . . Die widrige Verlarvung ist gesunken, und der Mensch Bleibt unbezeptert jetzt und unbeschränkt, Wenn er ist gleich und stamm- und kastenlos Und frei der Furcht, Anbetung, Sklaverei, Der König seiner selbst, gerecht und gut Und weise; sonder Leidenschaft, doch noch Nicht frei von Schuld und Schmerz, die waren, denn Sein Wille schuf und litt sie; noch nicht frei Von Zufall, Tod und stetem Wechsel, welche Die Fesseln sind von dem, der sich erhöbe Sonst über das erhabenste Gestirn, Im unerstieg'nen Himmel aufgehängt In unsichtbarer Ferne seiner Räume.
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V. Die Wiederentdeckung der Seele
I V . A k t . Lyrischer Ausklang, ein triumphaler Freudenchor. Alle Mächte der Erde und der Luft vereinen sich in einem herrlichen Päan: die Geister der Stunden, der Erde und des menschlichen Verstandes singen Hymnen auf Prometheus' Werk, ein Wechselgesang der Werbung des Mondes und der Erde mischt sich in die Freudenchöre, die gan2e Welt jubelt in seligem Entzücken. Demogorgon, jetzt nicht mehr der Geist der Zerstörung, sondern der Liebe, kündet die Ideale der Kraft durch Liebe, die den Sieg verbürgen. Die Preisgesänge haben an Schönheit der Bilder- und Farbensymbolik, an Rhythmus und Musik nicht ihresgleichen in der englischen Dichtung; keine Übersetzung vermöchte den Zauber dieser Gefühls- und Sprachharmonien ganz zu vermitteln. Demogorgons Verheißung ist des Dichters Botschaft an die Menschheit. Man, who wert once a despot and a slave; A dupe and a deceiver; a decay; A traveller from the cradle to the grave Through the dim night of this immortal day: This is the day, which down the void abysm At the Earth-born's spell yawns for Heaven's despotism, And Conquest is dragged captive through the deep: Love, from its awful throne of patient power In the wise heart, from the last giddy hour Of dread endurance, from the slippery, steep, And narrow verge of crag-like agony, springs And folds over the world its healing wings. Gentleness, Virtue, Wisdom, and Endurance, These are the seals of that most firm assurance Which bars the pit over Destruction's strength; And if, with infirm hand, Eternity, Mother of many acts and hours, should free The serpent that would clasp her with his length; These are the spells by which to reassume An empire o'er the disentangled doom. To suffer woes which Hope thinks infinite; To forgive wrongs darker than death or night; To defy Power, which seems omnipotent; To love, and bear; to hope till Hope creates From its own wreck the thing it contemplates; Neither to change, nor falter, nor repent;
Mensch, der du einst ein Sklav' und ein Despot; Betrüger und Betrog'ner; ein Verfall; Ein Wandrer von Geburt bis zu dem Tod, Eh' ew'ger Tag erstieg dem Weltenalll Dies ist der Tag, der auf den Zauberbann Des Erdgebornen stürzt Olymps Tyrann, Und der den Sieg mit Demantfesseln band. Vom Thron der Duldermacht im Herz des Weisen Und von der letzten Stunde Qualeskreisen Des toten Leidens, von dem Klippenrand Der Qual springt jetzt die Liebe siegerfüllt, Die nun die Welt mit Balsamschwingen hüllt. Sanftmut und Tugend, Weisheit, Duldung heißen Die Siegel jener Bürgschaft, die verschleußen Des mächtigen Verderbens Kerkerschlund; Und wenn mit schwacher Hand die Ewigkeit, Die Mutter mancher Stund' und Tat, befreit Die Schlange, die von neuem nun das Rund Mit ihrer Glieder Stärke wollt' umschlingen, Ist dies der Zauber, der sie wird bezwingen: Zu leiden noch, wenn die Verzweiflung droht, Vergeben Schwärz'res noch als Nacht und Tod, Dem Herrscher trotzen, dem sich alle neigen, Lieben und dulden, hoffen, bis der Geist Aus Hoffnungstrümmern schafft, was sie verheißt, Nicht wanken, nicht bereuen, nicht sich beugen,
John Keats
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This, like thy glory, Titan, is to be
Dies, deinem Ruhm gleich, Titan! ist ein Sein, Good, great and joyous, beautiful and free; Gut, groß und freudig, frei und schön und rein, Dies Leben, Freude, Herrschaft, Sieg allein! This is alone Life, Joy, Empire, and Victory. Das Werk ist reine Ideendichtung, die Gestalten sind Personifikationen der Ideen. Der Dichter gibt in der Vorrede selbst die Deutung. Prometheus ist der wollende und ringende Mensch, Jupiter sein Tyrann, nicht das Böse schlechthin; er hat vielmehr seine Gewalt vom Prometheusmenschen und verkörpert die politischen und religiösen Institutionen, die der Mensch sich geschaffen hat. Sie heben sich selbst auf, sobald sie übermächtig werden: Jupiter fällt durch die eigene Brut, durch Demogorgon, den kritisch-rationalistischen Geist, die Kraft des Menschen, die mehr zersetzend als aufbauend wirkt. Asia, die Liebe, befragt ihn und wird erhört. Erst die Liebe bringt Befreiung und Erhöhung, der Intellekt allein vermag dies nicht. Aus trotziger Kraft nimmt der Mensch gegenüber einer bis zum Unsinn übersteigerten Ordnung die Gestaltung seines Schicksals in die Hand. Hohe Ideale kritisch-verstandesmäßiger Art sind ihm gegeben, aber sie werden erst wirksam im Sinne der Erlösving durch tätige Liebe, durch verinnerlichtes Menschentum. Die Besiegung Jupiters, der sich in seiner Hybris mit Prunk umgibt, bringt noch nicht die Erlösung, sondern erst die Gutes wirkende Liebe. Revolutionärer Geist wirkt destruktiv; erst Liebe und Menschlichkeit wirken konstruktiv. Geist und Schönheit — Prometheus und Asia — sind die Mutterkräfte der Welt. Sie bleiben getrennt, solange Jupiter regiert; sie umarmen sich nach seinem Sturz, und die Erde jubiliert. Es ist nicht abwegig, wenn ein amerikanischer Herausgeber in der erhabenen Dichtung den neuen Geist echter Demokratie empfindet, die Botschaft eines von hohem Sendungsglauben erfüllten Dichters, von dem der italienische Dichter Giosuè Carducci sagt: „Spirito di titano entro virginee forme", Titanengeist in jungfräulicher Schönheit. „Cor Cordium", Herz der Herzen, meißelte man hinter seinem Namen auf dem Grabstein ein. In der Tasche des im Golf von Spezia ertrunkenen Shelley fand man außer einem Band Sophokles die aufgeschlagenen Gedichte eines anderen Unvollendeten, des ein Jahr zuvor verstorbenen J o h n K e a t s (1795—1821), der wohl die tiefste dichterische Begabung seiner Generation darstellt, nach einem verhältnismäßig ereignislosen, wenn auch von den Stürmen der Sinne geschüttelten Leben aber nicht zur Reife gelangte; die ererbte Lungenschwindsucht raffte ihn in Italien, wo er Linderung suchte, im sechsundzwanzigsten Lebensjahr dahin. Keats ist ganz Dichter und nichts als Dichter; nicht Philosoph, nicht phantasiebegabter Nachzeichner der Natur, nicht Ideenmensch, dessen übervolle Seele sich in Natursymbolen entlädt, sondern nur Künder der Schönheit, dem die Einheit des geschauten Bildes, die Sinnfülle des Wortes und der rhythmische Zauber des Verses Freude und Entrückung bedeuten. Der oft zitierte Anfangsvers seiner großen symphonischen Dichtung „Endymion" ist der Schlüssel zu seinem ganzen Dichten: „Wo Schönheit ist, ist Freude auch für immer" — „ A thing of beauty is a joy for ever". Die ganze Erde ist voller Poesie :
On the Grasshopper and Cricket
Die Grille und das Heimchen
The poetry of earth is never dead: When all the birds are faint with the hot sun, And hide in cooling trees, a voice will run From hedge to hedge about the new-mown mead;
Der Erde Poesie wird nimmer schweigen. Denn bergen sich die Vögel in der Kühle
23*
Vor Sonnenglut, so hört man durch die Schwüle Aus duftigen Matten eine Stimme steigen.
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V . Die Wiederentdeckung der Seele
That is the Grasshopper's —he takes the lead In summer luxury,—he has never done With his delights; for when tired out with fun He rests at ease beneath some pleasant weed.
Das ist die Grille, und sie führt den Reigen Der Sommerlust, und nie kommt sie zum Ziele Mit ihren Freuden; ist sie matt vom Spiele, Wird ihr der Halm zu süßer Rast sich neigen.
The poetry of earth is ceasing never: On a lone winter evening, when the frost Has wrought a silence, from the stove there shrills
Die Poesie der Erde endet nimmer. Am langen Winterabend, wenn gefroren,
The Cricket's song, in warmth increasing ever, And seems to one in drowsiness half lost, The Grasshopper's among some grassy hills.
Vom Herde her und wächst im warmen Schimmer: Er scheint für ihn, der halb im Schlaf verloren, Der Grille Stimme von dem Rosenhang.
Zu schweigen alles scheint, tönt Heimchens Sang
Nur das Original kann die Feinheiten der Verskunst vermitteln: die ungezwungen über den Reim hinweggleitenden Sätze, die beliebig gesetzten Pausen, die „isolierende" Kraft der stark einsilbigen Sprache, die Bestimmtheit der männlichen Versausgänge, das wirkungsvolle Nebeneinander von zweisilbigem Auftakt und gewichtigem schwebendem Akzent (Vers 2 und 10), die malenden Worte „grasshopper" und „drowsiness", das alliterierende „new-mown mead", das aufmunternde „shrills" (Vers 11), die Wortwiederholung der letzten Zeile. Das alles steht ganz natürlich in der sonst strengen Sonettform, die in den beiden Oktaven ein einheitliches Bild zeichnet, während das Sextett — hier mit Wiederanknüpfung an die thematische Eingangszeile — die schlußfolgernde Abrundung bringt. Ein einfacher Vorgang, jedem verständlich und geläufig, ohne gedankliche oder seelische Aufwühlung, aber von einem Dichter geschaut und mit der Schönheit des sprachlichen Gewandes umkleidet, die die nie endende Poesie der Erde einfängt. Nicht das Denken, sondern Sinne und Phantasie! Das meint der bekannte Ausruf in einer Briefstelle: „ O um ein Leben der Sensationen und nicht der Gedanken 1" Die unmittelbaren Geisteseinblicke vermitteln Wahrheit, die also identisch ist mit Schönheit. Das ist die Wesensmitte der Keatsschen Dichtung; Kunst als eigener Raum, Schönheit und Maß oder, um eine Unterscheidung Nietzsches zu gebrauchen, der maßvoll begrenzende apollinische und nicht der orgiastische dionysische Kunsttrieb. Das ist der Sinn des Tributs an die klassische bildende Kunst in der bekannten Ode auf eine griechische Urne (On a Grecian Um) : Thou still unravish'd bride of quietness, Thou foster-child of silence and slow time, Sylvan historian, who canst thus express A flowery tale more sweetly than our rhyme: What leaf-fring'd legend haunts about thy shape Of deities or mortals, or of both, In Tempe or the dales of Arcady? What men or gods are these? What maidens loth?
Du unentweihte Braut der tiefen Stille, Der trägen Zeit, des Schweigens Pflegekind, Erzählst uns Waldesmärchen reicher Fülle, Weit süßere, als sie der Reim ersinnt. Welch blattumsäumte Sagen steigen auf? Sind's Sterbliche, sind's Götter, die dort ziehn? Ist es Arkadien, ist es Tempes Tal? Welch spröde Mädchen, welch ein wilder Lauf,
John Keats
What mad pursuit? What struggle to escape? What pipes and timbrels? What wild ecstasy? II Heard melodies are sweet, but those unheard Are sweeter; therefore, ye soft pipes, play on; Not to the sensual ear, but, more endear'd, Pipe to the spirit ditties of no tone: Fair youth, beneath the trees, thou canst not leave Thy song, nor ever can those trees be bare; Bold Lover, never, never canst thou kiss, Though winning near the goal—yet, so not grieve; She cannot fade, though thou hast not thy bliss, For ever wilt thou love, and she be fair! III Ah, happy, happy boughs! that cannot shed Your leaves, nor ever bid the Spring adieu; And, happy melodist, unwearied, For ever piping songs for ever new; More happy love I more happy, happy love! For ever warm and still to be enjoy'd, For ever panting, and for ever young; All breathing human passion far above, That leaves a heart high-sorrowful and cloy'd, A burning forehead, and a parching tongue. IV Who are these coming to the sacrifice? To what green altar, O mysterious priest, Lead'st thou that heifer lowing at the skies, And all her silken flanks with garland drest? What little town by river or sea shore, Or mountain-built with peaceful citadel, Is emptied of this folk, this pious morn? And, little town, thy streets for evermore Will silent be; and not a soul to tell Why thou art desolate, can e'er return.
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Welch tolles Haschen, Sträuben und Entfliehn Und welch ein Pfeifen, welch ein Bacchanal? II Gehörte Melodien sind süß, doch singen Noch süßer jene, die nie angestimmt; Laßt Flöten drum die sanften Weisen klingen, Die nur der Geist und nie das Ohr vernimmt: Du schöner Jüngling endest nie dein Spiel, Nie wirst du kahl und leer die Bäume sehn; Nie wird dir, Liebender, der Kuß zuteil. Laß dich's nicht reu'n, bist du doch nah am Ziel; Sie welkt dir nie — und wird dir nie dein Heil, So liebst du ewig, sie bleibt ewig schön! i n
Glückselige Zweige! nimmer könnt ihr streuen Die Blätter, da der Lenz euch nimmer flieht; Glückseliger Spielmann, wirst dich immer freuen, Entlockst der Flöte du ein neues Lied; Dreimal glückselig selige Liebeslust! Die immer warm und neu empfunden wird, Du ewig sehnsuchtsvolle, ewig junge, Hoch über Leidenschaft in Menschenbrust; — Die läßt das Herz beladen und verwirrt Und fieberheiß die Stirne, dürr die Zunge! IV Wer ist sie, dort die heilige Opferschar? Wohin, geheimnisvoller Priester, führt Den Stier, den brüllenden, ihr zum Altar, Dess' seidne Flanken ihr mit Kerzen ziert? Wo liegt die Stadt? Am Fluß, am Seegestade, Am Bergeshang im Schutz der Zitadelle, Die fromm am Morgen dieses Volk verlassen ? Nun bleiben immer schweigend deine Pfade, Und zum Bericht, warum so öd die Gassen, Kehrt keine Seele heim zu deiner Schwelle.
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V. Die Wiederentdeckung der Seele
V O Attic shape I Fair attitude! with brede Of marble men and maidens overwrought, With forest branches and the trodden wood; Thou, silent form, dost tease us out of thought As doth eternity: Cold Pastoral I When old age shall this generation waste, Thou shalt remain, in midst of other woe Than ours, a friend to man, to whom thou say'st, "Beauty is truth, truth beauty,"—that is all Ye know on earth, and all ye need to know.
V O schöne Form, o attisches Gebildl Von marmornen Gestalten rings umdrängt, Von Blattgezweig und Rankenwerk umhüllt, Wie sich dein Schweigen auf uns niedersenkt I Das Denken bannst du gleich der Ewigkeit I Rafft einstmals dies Geschlecht das Alter hin, Bleibst du bestehn inmitten andrer Leid. Ein Freund der Menschheit, lehrst du dies Gebot: „Schönheit ist wahr und Wahrheit schön 1" Den Sinn Müßt ihr verstehn, dies eine tut euch notl
Der Dichter betrachtet also die Reliefdarstellungen auf der Urne. Die Pfeifer musizieren, aber ihre Töne sind nur dem inneren Ohr vernehmbar; der Jüngling unter dem Baum öffnet die Lippen, aber kein sinnliches Ohr hört sein Lied; der Liebende beugt sich zum Kuß, und nie wird banale Erfüllung, wie die Wirklichkeit sie beschert, die holde Sehnsucht enden. Das Leben gibt Erfüllung und Sättigung jedes Verlangens, die Kunst aber unsinnliche und darum immerwährende Schönheit. Nicht das Leben ist Wahrheit im höheren Sinn des geistigen Schauens, sondern „beauty is truth, truth beauty". Sehnsucht nach dem Unerreichbaren ist das Thema wie bei Shelley. Kant sieht in der Empfindung des Schönen eine subjektive Schöpfung des Verstandes, eine Harmonie von Sinnlichkeit und Verstand. Diese subjektiv erzeugte Harmonie legen wir den Dingen bei, wenn wir von einem Gegenstand sagen, er sei schön. So empfindet auch der Romantiker, nur daß er nicht von Sinnlichkeit und Verstand ausgeht, sondern Endliches und Unendliches durch „imagination" verbindet. Er will das All erfassen, in ihm lebt die Harmonie von Anschauung und Gefühl, die Liebe, die das Schöne erzeugt, Shelleys „intellectual beauty". Keats sagt einmal: „Was die Einbildungskraft als Schönheit ergreift, muß Schönheit sein, ob es vorher existierte oder nicht." Was ich also durch „imagination" als geistige Wirklichkeit erkenne — nicht durch den Verstand —, ist schön und damit wahr. Das ist nicht sinnliche Schönheit, sondern etwas ganz Außerirdisches, die „Idee". So ist auch in der herrlichen „Ode an die Nachtigall" der Vogel mit seinem Gesang die immerdar bleibende Schönheit; Shelleys Lerche dagegen war die Freude. So spricht die Ode an den Herbst (To Autumn) sinngefüllte Sachlichkeit: Season of mists and mellow fruitfulness, Close bosom-friend of the maturing sun; Conspiring with him how to load and bless With fruit the vines that round the thatch-eves run; To bend with apples the moss'd cottagetrees, And fill all fruit with ripeness to the core;
O Zeit des Nebels und der Fruchtbarkeit, Der Erntesonne naher Busenfreund, Mit der du Zwiesprach' hältst, ob es wohl Zeit, Daß an dem Dachfirst sich die Traube bräunt; Daß unter Apfellast der Baum sich neigt Und bis zum Kern der Frucht die Reife dringt;
John Keats
To swell the gourd, and plump the hazel shells With a sweet kernel; to set budding more, And still more, later flowers for the bees, Until they think warm days will never cease, For Summer has o'er-brimm'd their clammy cells. II Who hath not seen thee oft amid thy store? Sometimes whoever seeks abroad may find Thee sitting careless on a granary floor, Thy hair soft-lifted by the winnowing wind; Or, on a half-reap'd furrow sound asleep, Drows'd with the fume of poppies, while thy hook Spares the next swath and all its twined flowers: And sometimes like a gleaner thou dost keep Steady thy laden head across a brook; Or by a cyder-press, with patient look, Thou watchest the last oozings hours by hours. III Where are the songs of Spring? Ay, where are they? Think not of them thou hast thy music too,— While barred clouds bloom the soft-dying day, And touch the stubble-plains with rosy hue; Then in a wailful choir the small gnats mourn Among the river sallows, borne aloft Or sinking as the light wind lives or dies; And full-grown lambs loud bleat from hilly bourn; Hedge-crickets sing; and now with treble soft The red-breast whistles from a gardencroft; And gathering swallows twitter in the skies.
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Daß Haselnüsse in den Schalen quellen; Der Kürbis schwillt, die Knospe neu sich zeigt, Die späte Blume noch den Blumen winkt, Daß sie des Blühens fast kein Ende dünkt, So überfüllt der Sommer ihre Zellen. II Wer sah dich bei der Ernte nicht, du Reicher? Doch wer dich draußen sucht, der mag wohl finden Dich sorglos sitzend auf gefülltem Speicher, Das Haar umspielt von kosend weichen Winden; Gern schläfst du auch auf halb gemähtem Feld, Vom Duft des Mohns betäubt, es schont die Hand Den nächsten Schwaden, blütenreich durchwunden; Und oftmals wie ein Ährenleser hält Dein reich beladen Haupt am Bache stand; Und bei der Kelter, in Geduld gebannt, Schaust du dem Sickern zu manch lange Stunden. III Wohin, wohin sind alle Frühlingslieder? Denk nicht an sie, hast du Musik ja auchl —• Der Tag verbleicht, von glüh'nden Wolken nieder Trifft noch das Stoppelfeld ein rosiger Hauch: Und klagend summt ein Chor von kleinen Mücken In Weidenbüschen, an des Baches Rand, Vom leichten Winde auf und ab gehoben; Die Lämmer blöken laut vom Hügelrücken; Das Heimchen singt; im lieblichen Diskant Pfeift nun Rotkehlchen her vom Gartenland; Und ziehender Schwalben Zwitschern klingt von oben.
Aus dem Brief an einen Freund wissen wir, daß Keats an schönen Septemberabenden des Jahres 1819 in der Nähe von Winchester durch die warme Schönheit der herbstlichen Stoppelfelder gepackt wurde. „Nie liebte ich Stoppelfelder so wie jetzt, ja mehr als das frostige Grün des Frühlings. In gewisser Hinsicht sieht ein Stoppelfeld
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V. Die Wiederentdeckung der Seele
warm aus — ebenso wie gewisse Bilder warm aussehen. Dieser Eindruck traf mich auf meinem Sonntagsspaziergang so, daß ich Verse darauf machte." Verse auf den unmittelbaren Eindruck also, ein reines Stimmungsbild, impressionistisch-sensitiv. Aus echt englischer Wesenshaltung ist das unmittelbar Gegebene das Primäre; man hat ja mit Recht auch die englische Sprache als wesentlich objektiv, gegenständlich gerichtet bezeichnet. Die Ode ist geradezu ein Festrausch der Sinneseindrücke, die das Gesamtbild des aus Wachsen und Reifen kommenden Drängens in jeder Zeile neu belegen, bis der satte, reich beladene, vom Duft des Mohns etwas benommene Herbst in Person vor uns steht, wie er ruhig dem sickernden Saft beim Weinkeltern zuschaut. Jeder Begriffsausdruck, jedes Beiwort ist sorgsam gewählt, geliebkost, sinngefüllt, jeder Vers ein gedrängt bildhaftes, oft mit Vokalmusik und Stabreim gesättigtes Gebilde, selbst üppig und Genuß ausströmend wie der Herbst: To bend with apples the moss'd cottage trees, And fill all fruit with ripeness to the core, To swell the gourd, and plump the hazel shells With a sweet kernel (I); Thee sitting careless on the granary floor, Thy hair soft-lifted by the winnowing wind; Or on a half-reaped furrow sound asleep, Drows'd with the fume of poppies, while thy hook Spares the next swath and all its twined flowers (II); While barred clouds bloom the soft-dying day, And touch the stubble-plains with rosy hue; Then in a wailful choir the small gnats mourn Among the river sallows, borne aloft, Or sinking as the light wind lives or dies (III). Da ist nichts von Wordsworthscher Rückerinnerung und subjektbezogener „still, sad music of humanity", nichts von Shelleyscher Naturmystik; das ist nur seligtrunkene Hingabe an das Eindrucksbild, durchblutet von dem drängenden Gefühl, das die Sprache formt, Hingabe an das Gegenständliche. Eindruck und Ausdruck halten sich die Waage wie in der Anfangsstrophe von Goethes „Venezianischen Epigrammen." Von prachtvollen Bildern von Winternacht, Dunkel, Mondschein, heimlichem Fliehen und Flüstern ist die vielleicht schönste aller Keatsschen Dichtungen erfüllt, die bezaubernde Romanze St.-Agnes-Abend (The Eve of St. Agnes). Sie behandelt den alten Volksglauben, daß ein Mädchen im Traum den zukünftigen Gatten sieht, wenn sie am Vorabend des Heiligenfestes, am 20. Januar, fastend und nie rückwärtsblickend zu Bett geht, die Hände über dem Haupt auf das Kissen legt, auf dem Rücken schläft und mit dem heißen Wunsch im Herzen zum Himmel fleht. Magdalene ahnt nicht, daß Porphyro, der Geliebte, durch Zufall anwesend ist und sich allen Gefahren zum Trotz durch die alte Amme in ihrem Zimmer verstecken läßt. So kann er ihren Traum zur Wahrheit machen und mit der Geliebten entfliehen, während der Herr und der Wächter des Hauses den Rausch nach dem abendlichen Fest ausschlafen. In der meisterhaft gehandhabten schönen Spenserstrophe, mit einem harmonisch gebändigten Reichtum von Bildern und Farben wird die einfache Handlung zu einer Plastik der Situationen und Stimmungen gestaltet, ungreifbar und doch lebensvoll in der visionären Klarheit des Traumes, in die selbst die tote Umgebung der Gegenstände einbezogen wird. Der eisig-kalte Januarabend: I St. Agnes' Eve—Ah, bitter chill it was! The owl, for all its feathers, was a-cold; The hare limp'd trembling through the frozen grass, And silent was the flock in woolly fold:
I St.-Agnes-Abend —; es ist bitter kalt, Ihr Federkleid selbst schützt die Eule nicht, Frostzitternd springt der Hase durch den Wald, Das Vieh drängt sich im Stalle, schweigend, dicht.
John Keats
Numb were the Beadsman's fingers, while he told The rosary, and while his frosted breath, Like pious incense from a censer old, Seem'd taking flight for heaven, without a death, Past the sweet Virgin's picture, while his prayer he saith.
J6l Steif sind des Bruders Finger; doch er spricht Den Rosenkranz. Sein eisiger Atem flieht Wie frommer Weihrauch ihm vom Angesicht Empor zum Himmel, eh den Tod er sieht,
Der Jungfrau Bild vorbei, vor dem er betend kniet.
Der helle Mondschein, der durch das gemalte Fenster auf Magdalenes liebliche Gestalt fällt: XXIV XXIV A casement high and triple-arch'd there Es ragt ein dreigeteilter Fensterbogen, was, All garlanded with carven imag'ries Umrahmt von holzgeschnitzten Bilderei'n, Of fruits, and flowers, and bunches of Von Frucht- und Blumenschnüren reich knot-grass, durchzogen, And diamonded with panes of quaint Und auf den Scheiben Muster, seltsam device, fein Innumerable of stains and splendid dyes, In überreichem lichtem Farbenschein, As are the tiger-moth's deep-damask'd Gleichwie des Schillerfalters bunte Glut; wings; And in the midst, 'mong thousand Und mitten zwischen tausend Schilderei'n heraldries, And twilight saints, and dim Und Zwielicht-Heiligen, Heroldswappen emblazonings, ruht A shielded scutcheon blush'd with blood of Ein Herzschild glühend rot, getaucht in queens and kings. Königsblut. XXV XXV Full on this casement shone the wintry Sieh, wie der Vollmond durch das Fenster moon, blinkt, And threw warm gules on Madeline's fair Ein Strahl hat rosig ihre Brust geküßt, breast, As down she knelt for heaven's grace and Da sie zum Himmel flehend niedersinkt; boon; Er streift die Hände, die sie hebt zu Rose-bloom fell on her hands, together Christ, prest, And on her silver cross soft amethyst, Fällt auf ihr Silberkreuz wie Amethyst, And on her hair a glory, like a saint: Will einen Heiligenschein ums Haupt ihr weben. She seem'd a splendid angel, newly drest, Porphyro scheint, daß sie ein Engel ist, Save wings, for heaven: Porphyro grew Dem nur die Schwinge fehlt, es macht faint: ihn beben; She knelt, so pure a thing, so free from Sie kniet so rein, so frei von Erdenbeben. mortal taint. Der Wintersturm in der Fluchtnacht: XXXVI—XXXIX Beyond a mortal man impassion'd far At these voluptuous accents, he arose, Ethereal, flush'd, and like a throbbing star Seen mid the sapphire heaven's deep repose;
XXXVI—XXXIX Er sprang empor mit mehr alsLeidenschaft, Da diese weichen Klagen sie ergossen, So glühend himmlisch, wie ein Stern mit Kraft Vom ruhigen Himmelsblau herabgeschossen.
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V. Die Wiederentdeckung der Seele
Into her dream he melted, as the rose Blendeth its odour with the violet, — Solution sweet: meantime the frost-wind blows Like Love's alarum pattering the sharp sleet Against the window-panes; St. Agnes' moon hath set. 'Tis dark: quick pattereth the flaw-blown sleet.
Nun ist sein Bild mit ihrem Traum verflossen, Wie Rosen sich mit Veilchenduft verbunden. Da wirft der Wind ans Fenster scharfe Schloßen, Die schnell entflohn. Schon ist Sankt Agnes' Mond verschwunden. Und dunkel ist's, wie laut der Hagel prasselt!
"Hark I 'tis an elfin-storm from fairy land,
„Horch auf den Geistersturm aus Feenland; So rauh er scheint, er hat uns Glück gebracht."
Of haggard seeming, but a boon indeed."
Die gefahrumringte, aber von hoherer Macht geschützte Liebe: XLI They glide, like phantoms, into the wide hall; Like phantoms, to the iron porch, they glide; Where lay the Porter, in uneasy sprawl, With a huge empty flaggon by his side: The wakeful bloodhound rose, and shook his hide, But his sagacious eye an inmate owns: By one, and one, the bolts full easy slide: — The chains lie silent on the footworn stones; — The key turns, and the door upon its hinges groans.
XLI Sie gleiten wie Phantome durch den Raum, Und wie Phantome zu den Gitterschranken. Dort wälzt der Wächter rastlos sich im Traum, Die Flasche neben sich, aus der sie tranken. Der Bluthund reckt sich wachsam in den Flanken, Sein kluger Blick erkennt die Herrin bald; Der Riegel weicht, die Eisenketten schwanken, Nun liegen auf dem Stein sie stumm und kalt, Indes durchs öde Haus des Tores Knarren schallt.
Sinnenstarke Eindrucksskizzen reißen uns in Stimmung und Erleben hinein. Die Heldin braucht kaum zu sprechen, aus ihrem Beten und Träumen bangen und hoffen wir mit ihr. Keats' dichterischer Weg führt über das Romantische hinaus in die klare Ruhe und Schönheit antiker Klassik, ein Weg, den der Frühvollendete abbrechen mußte; sein vorzeitiger Tod bedeutet vielleicht den größten Verlust für die englische Literatur. Sein ästhetischer Sensualismus aber, dem die Naturbilder zu Kunstwerken werden, die Verdichtung und Suggestivkraft seiner Wortwahl, das Maß und die Schönheit seiner Verse wirkten weiter, nicht nur in der viktorianischen Dichtung, sondern in der höheren Formkunst auch des Auslands. Selbständige Persönlichkeiten formen und tragen diese Zeit, die eine der innerlichsten Zeiten der englischen Literatur ist und in ihrem Reichtum jedes Begriffsschema des Romantischen sprengt. Byron endet in Satire und Disharmonie; Shelley und Keats sind die vorwärtsweisenden Geister, jener als feuriger Anwalt des erst in der Folgezeit aufgenommenen sozialen Kulturproblems, dieser als Künder der Schönheit in Empfindung und Sprache, an den die Präraffaeliten anknüpfen.
363 VI. Streben nach Ausgleich: das „viktorianische Kompromiß" I. L e h r e n und G e g e n l e h r e n : D a r w i n , J . St. M i l l , C a r l y l e , R u s k i n Die romantischen Führer traten innerhalb eines Zeitraumes von wenig mehr als einem Jahrzehnt von der Bühne ihres Wirkens ab. Keats starb 1821, Shelley 1822, Byron 1824, Scott 1832, Coleridge 1834; nur Wordsworth lebte als verehrter Patriarch bis 185o. Zwischen 1830 und 1840 trat eine junge Dichtergeneration mit Tennyson und den beiden Brownings auf den Plan. Ein Abstandsgefühl gegenüber einer als abgeschlossen empfundenen Periode wird deutlich: in Thackerays Roman „Die Newcomes" begeistert sich die ältere Generation noch für Byron und Scott, während die junge diese Dichter ablehnt und dem vorwärtsweisenden Shelley huldigt. Die Zeit stellte neue Aufgaben. Die napoleonischen Kriege hatten tiefe innere Wunden'hinterlassen. Es folgte für England eine lange Friedenszeit; denn auch der einzige europäische Krieg, an dem es beteiligt war, der Krimkrieg, war im Innern nicht stark fühlbar. Das Interesse wandte sich nicht dem Glanz und Ruhm eines Krieges zu, sondern den inneren Übeln, nicht dem Schwung kämpferischer Ideen, sondern den praktischen Fragen der Gesellschaft, den Idealen der Gerechtigkeit und Verbrüderung. Macaulays berühmtes Geschichtswerk ist durchtränkt von dem Stolz auf die alten liberalen Grundsätze, die bewährten Eigenschaften seines Volkes und seine geheiligte Gesellschaftsordnung; Tennyson verherrlicht das Evangelium des Friedens und der demokratischen Tugenden: Till the war-drum throbb'd no longer, and the battle-flags were furl'd In the Parliament of man, the Federation of the world.
Bis verstummt die Kriegestrommel und die Banner aufgestellt In dem Parlament der Menschheit, in dem Bundeshaus der Welt,
There the common sense of most shall hold a fretful realm in awe, And the kindly earth shall slumber, lapt in universal law. (Locksley Hall)
Wo der Mehrheit Spruch mit Ehrfurcht ein bewegtes Reich erfüllt, Daß die Welt still ausruht, in ein allgemein Gesetz gehüllt.
Die langen Kämpfe um die politische Freiheit sind zu Ende, die Demokratie erscheint gesichert, Krone und Peers sind ihrer beherrschenden Macht entkleidet. Eine Reihe von Parlamentsreformen, in erster Linie die grundlegende von 1832, erweitert das Wahlrecht der Bürger. Der Liberalismus der Aufklärung hatte eine doppelte Front. Er kämpfte einmal gegen das Übermenschentum der Renaissance, dann aber auch gegen den religiösen Fanatismus der Puritaner, gegen Machiavelli und Strafford ebenso wie gegen Calvin und Cromwell. Sein Staatsbegriff brach mit dem politischen und theokratischen Puritanismus. Er machte auch Front gegen Hobbes' Leviathan, der die unbedingte Unterwerfung der vielen unter den einzelnen voraussetzt, oder gegen Filmers Patriarchen, den ein ewiger Gott mit unbegrenzter Herrschgewalt ausgestattet hat. Lockes Staat ruht auf der Grundlage der Volkssouveränität und hat einen Monarchen mit ausgesprochenen Pflichten. Der Staat hat einen sittlichen Zweck, er soll das Eigentum und die Wohlfahrt der einzelnen verbürgen. Das ist eine der folgenschwersten Überzeugungen der Aufklärungszeit, das hohe Ideal der politischen Freiheit beherrscht das Staatsleben. Seit etwa 1760, als die „industrielle Revolution" einsetzte, macht sich die Bewegung des Mittelstandes zur Erlangung politischer Rechte dies Schlagwort zunutze — Goldsmith und Crabbe sind literarische
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VI. Streben nach Ausgleich: das „viktorianische Kompromiß"
Zeugen — und schafft damit die Keimzelle für die soziale Bewegung des 19. Jahrhunderts. Die Demokratie hat die Volkserziehung im Gefolge, da ja wahlmündige Bürger ein gewisses Maß von Bildung brauchen, ebenso wie die religiöse Toleranz — 1828 die Emanzipation der Nonkonformisten, 1829 die der Katholiken, 1833 die Sklavenbefreiung, 1858 die Judenemanzipation, gleichfalls nur religiös; getaufte Juden wie Disraeli hatten keine politischen Behinderungen gehabt — , die Verbrüderung, die sozialen Bestrebungen. Um die Mitte des Jahrhunderts erwacht das Bewußtsein, daß unter Sklaven nicht nur Neger zu verstehen sind, sondern daß die Massen, die Frauen und Kinder in Fabriken und Bergwerken Opfer einer brutaleren industriellen und sozialen Sklaverei sind. Die Befreiung von dieser Sklaverei unnatürlicher Industriemethoden bleibt das beständige Thema der Literatur des Zeitalters, das man nach der englischen Gepflogenheit, geistesgeschichtliche Epochen durch eine Persönlichkeit zu kennzeichnen, das viktorianische nennt. Die Königin Viktoria hatte den Thron von 1837 bis 1901 inne, keine überragende Persönlichkeit, die selbst der Zeit ihren Stempel aufdrücken konnte, aber Repräsentantin der Nation in einer Periode des größten Aufstiegs und durch das Vorbild der persönlichen Pflichtauffassung und des vorbildlichen Familienlebens der Ausdruck einer Zeit, für die überall das Moralische und die Wohlanständigkeit Richtschnur, die Richtigkeit der sozialen Schichtung fester Glaube war. Das viktorianische Zeitalter trägt seine Bezeichnung mit andrer, aber mit gleich großer Berechtigung wie die Elisabethzeit. Es wurde von den Späteren als die letzte Epoche einer Kultur von großer Geschlossenheit im wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und geistigen Bereich mit Verbindungen nach hinten und vorn empfunden. Das heutige England ist aber über die Zeit hinaus, in der man auf „Early Victorian" und „Mid Victorian" mit überlegener Miene als die Zeit eines engen und prüden Kleinbürgertums herabblickt. Man beurteilt es gerechter und sympathischer, man hat erkannt, daß es sich um eine Periode starker innerer Spannungen handelt, um vielfältige Erschütterungen der alten Ordnungen und um ein Suchen nach neuer Ruhelage. Viele der großen Viktorianer entziehen sich der Einordnung in eine einfache Formel. Das zusammenhaltende Band der Bewegungen und Gegenbewegungen bildet das starke Erleben der sozialen Erregungen. Im gleichzeitigen Deutschland, das wir literarisch das Junge Deutschland nennen, beherrscht der Kampf um die politische Einheit und Befreiung die geistige Welt, in England, das die Einheit und bürgerliche Freiheit seit langer Zeit besaß, sind es die sozialen Probleme, die die schnelle und umwälzende Industrialisierung heraufbeschworen hatte. Wissenschaft und Dichtung stellten sich bewußt in den Dienst der praktischen Lebensaufgaben. Der starke Glaube an die Menschheit, die kräftige Bemühung um innere Bereicherung inmitten der äußeren Not und Enge, die im Innersten gesunde, schlicht geradlinige Denkweise, die unkomplizierte und unmetaphysische Wirklichkeitsnähe, die praktische Religiosität des Engländers wird überall greifbar, und selbst romantischer Ästhetizismus, wie ihn die Präraffaeliten hatten, wendet sich bei William Morris und seiner Begründung des Kunstgewerbes ins Praktische. Man liebt den Predigerton, man fühlt die Verpflichtung des Dichters zur Führung des Volkes; Shelleys hohe Lehre von der Mission des Dichters zeugt die Tat. Seher, Prophet und Dichter sind für Carlyle gleichbedeutende Begriffe, seine begeistert vorgetragene Lehre vom Wert der Arbeit und der sozialen Verpflichtung ist irgendwie überall lebendig, so sehr er auch sonst ein Widersacher des Zeitgeistes ist. Goethe sagte am 25. Juli 1827 zu Eckermann: „ A n Carlyle ist bewunderungswürdig, daß er bei der Beurteilung unsrer deutschen Schriftsteller besonders den geistigen und sittlichen Kern als das eigentlich Wirksame im Auge hat; Carlyle ist eine moralische Macht von großer Bedeutung." Und Matthew Arnold, den die Engländer ihren Lessing nennen, wird nicht müde, alle Dichtung als Lebens-
Lehren und Gegenlehren
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kritik zu deuten, die ethische Beurteilung in den Vordergrund zu rücken. Eine „l'art pour l'art"-Kunst wie in dem gleichzeitigen Frankreich gibt es nicht. Man hat feste Maßstäbe und glaubt an sie, an die Autoritäten, man glaubt auch an den Dauerbestand der Maßstäbe. Das Zeitalter ist gekennzeichnet durch einen raschen Fortschritt in Kunst und Wissenschaft und besonders in der Technik: die materiellen Errungenschaften gewinnen Einfluß auf das Leben. Neue Themen kommen auf; ein Gedicht auf die Not einer armen Näherin gilt als ebenso stark wie Wordsworths Sonett auf die Westminsterbrücke. Die Evolutionslehre, biologisch begründet durch Darwin und als philosophisches Gesamtsystem ausgebaut durch Herbert Spencer, klingt an bei Tennyson, steht hinter der Dichtung Robert Brownings und fuhrt die Präraffaeliten zu neuen Werturteilen über ganze Kulturepochen. Der geschlossenen Denkart des Zeitalters kommt die Tatsache zugute, daß die englische Philosophie von jeher ihre Stärke aus der Hinwendung zu den realen Dingen geschöpft hat; sie wird in konsequenter Weiterführung des Empirismus der älteren großen Denker im 19. Jahrhundert zum erstenmal zu einer Weltanschauungslehre. Was den führenden Philosophen J . St. Mill beschäftigt, ist nicht verschieden von dem, was in den Romanen von Dickens, Thackeray, Kingsley, George Eliot lebt. Die Fragen der ethischen Bedingungen des Gemeinschaftslebens erfüllen die Philosophie Benthams, Mills und Spencers. Es ist eine praktische, eine Wirklichkeitsphilosophie, von dem Ton der Predigt getragen, und so sind auch die Dichter Prediger und Lehrer, erfüllt von ihrer frohen Botschaft. Was ein Darwin, ein Mill u. a. für die Wissenschaft taten, das wollten auch der Roman nach Scott und die Lyrik nach den Romantikern leisten, nämlich die Wahrheit finden und ihre Anwendung zum Wohl der Menschheit aufzeigen. Aus diesem Grunde hat man das viktorianische Zeitalter trotz der romantischen Dichtung Tennysons und der Präraffaeliten als eine Zeit des Realismus angesprochen; nicht des Realismus eines Zola oder Ibsen, sondern eines tieferen Realismus, der die ganze Wahrheit sagen will, indem er die Schäden zeigt, aber zugleich die normalen Bedingungen aufweist, um Gesundheit und Hoffnung zu erzeugen. Ein männlicher Idealismus ist den Führern der Dichtung gemeinsam. Brownings kraftvoller Optimismus drückt den männlichen Geist des Zeitalters am wirkungsvollsten aus; so in seinem tiefen Gedicht „Rabbi Ben Ezra", so besonders im „Epilogue to Asolando", wo er sich selbst gleichsam die Grabinschrift formuliert: One who never turned his back but marched breastforward, Never doubted clouds would break, Never dreamt, though right were worsted, wrong would triumph, Held we fall to rise, are baffled to fight better, Sleep to wake. Für die Einteilung des Zeitraums erinnern wir uns zunächst an die Geburtsjahre der führenden Geister: Carlyle 1795, Disraeli 1804, Elizabeth Barrett Browning 1806, Tennyson 1809, Thackeray 1 8 1 1 , Robert Browning und Dickens 1812, Ruskin, George Eliot und Kingsley 1819, Darwin 1809, Matthew Arnold 1822, Herbert Spencer 1820, D. G. Rossetti und Meredith 1828, Christina Rossetti 1830, William Morris 1834, Swinburne 1837. Hiernach scheiden sich zwei Generationen. Die Wirkung der Frühviktorianer setzt nach der großen Parlamentsreform von 1832 ein. Hierher gehören Carlyle, Dickens, Thackeray, Kingsley als Prosaiker, Th. Hood, der junge Tennyson, die beiden Brownings und auch der Amerikaner Longfellow als Lyriker und Epiker. Die soziale Frage steht im Vordergrund. Dann folgen die Mittelviktorianer, bei denen die ästhetische Richtung vorherrscht. Ein Wandel der gesellschaftlichen Struktur war eingetreten, als die Industrialisierung das Land reicher ge-
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macht und mehr Wohlstand und Freude gebracht hatte. Der Gewerbe- und Kunstfleiß kann sich betätigen. Die soziale Frage ist noch da, wird aber mehr vom Standpunkt der Schönheit aus angepackt. Das ist die Zeit eines Ruskin, Rossetti, Morris und Swinburne, wobei freilich der letztgenannte bereits in eine andere geistige Welt hinausstrebt. Der Roman einer George Eliot und eines Gissing will nicht mehr unmittelbar in die Nöte der handarbeitenden Klassen hineingreifen, sondern die Fragen allgemein-menschlich und psychologisch vertiefen. Die Evolutionsphilosophen wirken im Sinne einer sozialen Evolution, der Idealismus setzt sich mit der Evolutionslehre auseinander: Arnold, Pater, Meredith, auch der spätere Tennyson, Browning, Samuel Butler. Es ist im ganzen eine starke Zeit, keine Epigonenliteratur, ein Anpacken ganz moderner Probleme: Romantik und Realismus, Idealismus und Materialismus, Individualismus und Sozialismus, in der Gesellschaftsordnung auch die neuen Erscheinungen der Gruppen- und Massenbildung. Diese Periode reicht bis in die neunziger Jahre, als unter der Führung Kiplings die Literatur die Londoner Sphäre verläßt und ihren Blick in die Peripherie des Weltreichs richtet: Indien bei Kipling, Südafrika bei Olive Schreiner, Irland bei Yeats, Lady Gregory, George Moore, Synge. Der Roman hatte etwas vorher schon die Wendung zu den landschaftlichen Bindungen und dem Tragisch-Schicksalhaften unter der Führung Thomas Hardys gemacht. In der Zeit der Frühviktorianer setzte ein ungeheurer Ansturm ein, um die Lage der unteren Klassen zu bessern, denen unter der geistigen Herrschaft der Philosophie der Utilitarier und einer mechanistisch rechnenden Nationalökonomie ein rücksichtsloses Unternehmertum schlimme Lebensbedingungen gebracht hatte. Zunächst im kirchlichen Leben. Seit der Aufklärung lebte die eigentlich religiöse Kraft in den Reihen der Nonkonformisten, z. B. bei den Quäkern, bei denen der Drang, die Welt in Christi Sinne zu reformieren, altes Erbgut ist. Die evangelikalen Bestrebungen drängten auf ein innerliches Erleben und auf praktische Betätigung der Lehre des Heilands. Die sogenannte Oxforder Bewegung ist mehr als eine katholisierende Reaktionsbewegung, als die sie in Deutschland meist aufgefaßt wird. Sie ergriff weithin das geistig führende England, das von der bloßen Humanität unbefriedigt blieb und sich mit den oberflächlichen Antworten des Rationalismus nicht begnügte. In ihr lebt der Protest gegen die unbedingte Hoheit des Staates über die Kirche. Ohne die Opposition der Oxforder kirchlichen Kreise wäre in dieser Zeit der humanen Reformen die Kirche als Machtfaktor im öffentlichen Leben ausgeschaltet worden. Eine Vertiefung aller Gefühlswerte im Leben ist die Leistung der Bewegung, eine Erweckung der Kirche aus der Stagnation des 18. Jahrhunderts. Die Kirche wurde durch verschiedenartige Gründungen der natürliche Anwalt der Armen; denn beide, die Kirche und die Armen, standen im Kampf gegen das liberale Bürgertum. Wenn die Bewegung doch letzthin in ihrer eigentlichen Zielsetzung, die Industriearbeiter beim Christentum zu erhalten, versagt hat, so liegt das daran, daß sie allmählich immer unduldsamer und reaktionärer wurde. In der Wissenschaft ist das Aufkommen der Nationalökonomie als selbständiger Disziplin das bezeichnendste Ergebnis. Adam Smith, Malthus, Ricardo, die „philosophischen Radikalen" Bentham, James Mill, John Stuart Mill sind die Hauptvertreter, alle geschworene Gegner der billigen Phrasen von Freiheit und Menschenbeglückung, von Toleranz und Aufklärung, Männer, die den Problemen unerbittlich auf den Grund gingen und den herrschenden Kreisen unbequem waren. Carlyle wurde der literarische Anwalt des Widerspruchs, Dickens sein großer Protagonist, zu dem sich George Eliot gesellte und auch Kingsley als Gegner der Oxforder Bewegung. Thomas Hood errang auf dem Gebiet der Lyrik die größte Popularität mit seinem „Lied vom Hemde", dem realistischen Genrebild des ewigen
Charles Darwins Entstehung der Arten
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Einerlei der grauen Armut in den glanzlosen, aber ausdrucksstarken Farben moderner Maltechnik; der Arme verhungert zugunsten einer Minorität! Elizabeth Barretts „Kindertränen" galten den 15 000 armen Kindern in Fabriken und Bergwerken, unter denen vier- bis siebenjährige waren. Das waren die ersten Töne der umfangreichen sozialen oder sozialistischen Dichtung, die neu in das Klanggefüge der noch lebendigen romantischen Opposition gegen den bequemen alten Liberalismus einströmte. Man knüpfte an die Romantik an, aber mit einer Wendung in das Didaktische, mit bewußt moralischer Haltung, mit rationalen Thesen, mit sittlichem Rigorismus. Erst in der mittelviktorianischen Zeit tritt das rein Künstlerische wieder mehr in den Vordergrund gegenüber dem Predigerton der Anfänge. Es ist leicht einzusehen, daß in einer solchen Zeit die Prosadichtung den besten Nährboden fand und den künstlerischen Vorrang behaupten konnte. Der äußere Friede, der wachsende Wohlstand, der innenpolitische Liberalismus waren einer breiten Volkserziehung günstig. Auf diesem Hintergrund erblühten nicht nur die Zeitung, die popularisierende Zeitschrift und die billige Fortsetzungsliteratur, sondern auch der Roman von der seichten Unterhaltungslektüre bis zu der großen Kunst der Dickens, Thackeray, George Eliot, Kingsley. Hier erwuchs eine Gattung zu hoher Blüte und zu weitem Einfluß auf andre Literaturen, deren Gesamtwirkung man nur mit dem Drama der Elisabethzeit vergleichen kann. Der Realismus will Lebensnähe, und die Erweiterung der an der Literatur beteiligten und für sie interessierten Kreise wirkte in derselben Richtung. Auf der langen Tradition der Prosaentwicklung entfaltete sich ein großer Reichtum der Individualitäten und persönlichen Formen. In ihrem Roman, dem sie das Macbethzitat „Told by an Idiot" als Titel gegeben hat, läßt Rose Macaulay die Pfarrersgattin Frau Garden aufgeregt zu ihren sechs Kindern ins Zimmer treten mit der Nachricht, Papa habe wieder einmal seinen Glauben verloren. „Poor papa has lost his faith again", mit einer damals — der Roman spielt 1879 — häufig gehörten Phrase. Es war schlimm, den Glauben an die Autoritäten und Werte der Zeit zu verlieren. Aber sie mußten einmal ins Wanken geraten, und man hat die geistige Bewegung, die vor der Jahrhundertwende begann, ganz zutreffend als das Zeitalter der Fragestellungen — „the Age of Interrogation" — charakterisiert. Die Gegenwart lebt wesentlich aus der Auseinandersetzung mit der Viktoriazeit. Es ist also nicht nur die Fülle der Strömungen und Gestalten selbst, sondern auch die in Ablehnung und Wiederanknüpfung lebendige heutige geistige Bewegving, die es schwer macht, einige wenige Meisterwerke zur Verdeutlichung der geistigen Lage herauszuheben, schwerer als in anderen Epochen, deren Akzente durch den größeren Abstand gesicherter sind. Es ist leicht bei dem Roman, wo die Auswahl in einen Schatz von Werken höchsten Ranges hineingreifen kann, wie ihn keine Literatur in diesem Reichtum besitzt, schwieriger in der Lyrik, obgleich Stefan George in der Einleitung zu seinen Nachdichtungen hier von einer Wiedergeburt der europäischen Poesie überhaupt gesprochen hat. Vorangestellt seien ein paar Werke der Wissenschaft, Sozial- und Kunstlehre, die der Welt angehören und zu den geistigen Grundlagen ihres Jahrhunderts zu rechnen sind.
Charles D a r w i n s Entstehung der Arten Im Alter von 22 Jahren trat der junge Naturforscher Darwin (1809—1882) seine große Reisenach Südamerika an, die ihn zu dem Problem seines Lebens, der Entstehung und allmählichen Umgestaltung der Organismen, führte. Glückliche Vermögensverhältnisse erlaubten es ihm, in der Heimat auf einem Landsitz in Kent sein ganzes langes Leben der Weiterführung seiner in dem vierjährigen Aufenthalt in Südamerika begonnenen
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Forschungen zu widmen und die Ergebnisse in einer langen Reihe von Veröffentlichungen vorzulegen. Mehr als zwanzig Jahre lang hütete er das wichtigste Geheimnis seines Forschens, den Gedanken der natürlichen Zuchtwahl, teils aus wissenschaftlicher Gewissenhaftigkeit, die erst den letzten Zweifel durch umfangreiches Beweismaterial ausräumen wollte, teils aber auch aus dem Gefühl, daß eine dem Kirchenglauben und der biblischen Worttreue so zuwiderlaufende Theorie eine derartige Behutsamkeit verlange. Da schneite ihm plötzlich der Brief eines andren Forschers, Alfred Rüssel Wallace, der im Malaiischen Archipel an schwerem Malariafieber daniederlag, ins Haus mit einem dünnen Manuskript, in dem das wichtigste Resultat seines eigenen Sinnens vorweggenommen war. Der uneigennützige jüngere Forscher, der Darwin seinen großen Gedanken zum weiteren Ausbau überließ, soll nach dem Urteil eines Fachmanns, der auch eigene Erfahrung in der schweifenden Phantasie des Malariakranken hatte, gerade den Fieberträumen die große Synthese seiner Offenbarung verdankt haben. Darwin entschloß sich nun auf den Rat gelehrter Freunde zum schnellen Abschluß seines Hauptwerks und legte einen kurzen Auszug zusammen mit der Arbeit von Wallace der Linneschen Gesellschaft in London vor. Im Jahre 1859 erschien die erste Auflage der „Entstehung der Arten", der im Laufe der Zeit sechs weitere folgten. Das zweite Hauptwerk, „Die Abstammung des Menschen", erschien 1871. Das Nachdenken über die Abstammung und Entwicklung der Lebewesen hat schon die griechische Philosophie beschäftigt, und bei Aristoteles finden sich feine Beobachtungen über die Zeugung und Entwicklung der Tiere, an die die Neuzeit anknüpfte. Es ist kein Zufall, daß gerade die Auf klärungszeit mit ihrem optimistischen Glauben an die Vervollkommnungsfähigkeit alles Organischen und an das freie Spiel der Kräfte in der wohlgeordneten Natur hier ein großes Betätigungsfeld fand. Kaspar Friedrich Wolff wurde mit seiner berühmt gewordenen Dissertation (1759) der Begründer der neueren Entwicklungsgeschichte, Lamarck, Geoffroy St. Hilaire, Goethe u. a. bildeten die Abstammungslehre aus. Der Ausdruck Darwinismus wird vielfach fälschlich auf das ganze Drama der kosmischen Veränderungen, der Wandlungen aller pflanzlichen und tierischen Organismen im Laufe der Erdgeschichte angewendet. Evolution im allgemeinen Sinne ist also nicht identisch mit Darwinismus. Was dem großen Naturforscher als seine eigentliche Entdeckung und als der größte naturwissenschaftliche Gedanke des Jahrhunderts zukommt, ist in dem vollen Titel seines wichtigsten Werkes enthalten: Die Entstehung der Arten (Tie Origin of Speeles) durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Gattungen in dem Kampf ums Dasein." Also nicht jede Form der Selektion ist gemeint, nicht die künstliche, vom Menschen planmäßig vorgenommene Auslese, sondern nur die natürliche, bei der der Kampf ums Dasein das leitende Prinzip abgibt und immer nur die bestorganisierten Exemplare sich fortpflanzen und ihre Eigenschaften vererben, wenn von Darwins Entdeckung und seinem Hauptanliegen gesprochen werden soll. Er hatte bei der Sammlung seines Materials erkannt, daß bei der Schaffung neuer Arten zwei Faktoren vorhanden sein müssen: einer, der auswählt, und dazu in den Experimentiergeschöpfen selbst eine Tendenz zur Veränderung in einer bestimmten Richtung. Bei Haustieren ist der erste Faktor klar, der Mensch besorgt die Auswahl. Wie aber in der freien Natur? In diesem Stadium fiel ihm des Nationalökonomen Malthus bekanntes Buch über die Prinzipien der Bevölkerung in die Hände, die erste wissenschaftliche Bevölkerungstheorie (1798), nach der die unbeeinflußte Zunahme der Menschen in geometrischer, die Zunahme der verfügbaren Nahrungsmittel aber nur in arithmetischer Reihe erfolgen würde, also in einem ganz unmöglichen Verhältnis, wenn nicht natürliche Korrektivmittel, wie Hunger, Not, Elend, Krankheiten, auf die Sterblichkeit einwirkten. Hier war der Gedanke einer mechanisch wirkenden Auslese in dem Kampf um das Leben und in der nach einer bestimmten Richtung gehenden Variation
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der Individuen gegeben. Daß alles Lebendige sich umgestaltet und letzthin zu neuen Arten entwickelt, war schon vor Darwin bekannt; daß die Natur selbst als ein automatischer Züchter wirkt und die Variation zum Mittel des Fortschritts macht, war ganz seine eigene Entdeckung, die der Welt unbeschadet aller Korrekturen im einzelnen das große evolutionistische Drama des Kosmos zum Bewußtsein brachte. Das Buch beginnt mit einer Studie der Variationen bei Haustieren und Kulturpflanzen, bei denen sie am größten und verschiedenartigsten sind, weil der Züchter die geeignetsten Exemplare aussuchen und die günstigsten Bedingungen schaffen kann. Haustauben bekommen stärkere Beine und schwächere Flügel als wilde, weil sie weniger fliegen und mehr schreiten, Haussäugetiere hängende Ohren, weil sie selten genötigt sind, gegen drohende Gefahr die Ohren zu spitzen. Eine Variation geht in der Regel mit einer andern parallel: langschnäblige Tauben haben kurze Füße. Ob alle Arten gezüchteter Lebewesen auf eine oder mehrere Urgattungen zurückgehen, erscheint zunächst fraglich; der gemeinsame Ursprung muß aber angenommen werden und ist z. B. bei Tauben erwiesen. Künstliche Züchtungen passen sich den Erfordernissen oder der Laune des Menschen an und nicht ihrem eigenen Vorteil. Die bewußte Auslese ist dem Menschen dadurch möglich, daß er die Individuen aus einer großen Zahl auslesen und die freie Kreuzung verhindern kann. Er kann oft, z. B. bei Schafen, Rindern, Rosen, Georginen, den Gattungscharakter innerhalb einer einzigen Lebensspanne grundlegend ändern. Wichtiger aber als eine solche methodische ist die unbewußte Auslese, bei der nur der Wunsch obwaltet, durch Kreuzung die besten Individuen zu erhalten, nicht aber die Art zu verändern. Hier führt das Experimentieren zu langsameren, aber wichtigeren Ergebnissen. In der freien Natur sind die Verschiedenheiten der Individuen viel größer, als gemeinhin angenommen wird, und Zwischenformen werden immer wieder entdeckt. Vollbefriedigende Definitionen der Gattungen sind noch nie gelungen; allein in der britischen Flora gibt es nahezu zweihundert, über deren Klassifizierung als Varietäten oder Gattungen Meinungsverschiedenheit besteht, und je mehr Zwischenformen erkannt werden, um so schwieriger wird die Abgrenzung. Die Forschung gelangt erst allmählich vom Individuum über die Unterart zur Art. Die Variabilität nimmt zu mit der Gtöße des geographischen Raumes des Vorkommens; sie ist ferner größer bei großen als bei kleinen Lebewesen. Bei den großen ist Gattung oft gleichbedeutend mit Variation, was nur zu verstehen ist, wenn man die als selbständige Gattung erkannte Gemeinsamkeit auf frühere Varietäten zurückführt. Alle Organismen haben die Tendenz, sich schnell zu vermehren, so daß die Erde bald übervoll sein würde. Das hat man da beobachtet, wo Pflanzen und Tiere in günstige Lebensbedingungen gesetzt wurden, bei Disteln und Kaninchen in Australien. Hier aber wirkt das von Malthus in die Bevölkerungstheorie eingeführte Prinzip im vorteilhaften Sinne günstig, der Kampf ums Dasein wird ausgefochten unter den Individuen und gegen die äußeren Lebensbedingungen. Diese Bedingungen sind weithin unbekannt; die Möglichkeit der Ernährung ist das sinnfälligste Kriterium. Da die jüngsten Organismen naturgemäß am meisten leiden, geht von ihnen die größte Zahl unter. Unkraut- und Ungeziefervertilgung ist das wichtigste Erfordernis der Beförderung des Wachstums, und auch das Klima ist wichtig. Zu beachten ist auch die Wechselwirkung zwischen Tier und Pflanze. Nadelholzkulturen in Schottland haben zu einer grundsätzlichen Umgestaltung der Fauna und Flora geführt, sie selbst erfordern eine Fernhaltung des Rindviehs. Viele Blumen verlangen die Befruchtung durch Bienen, diese wieder eine Sicherheit vor Feldmäusen, also das Halten von Katzen. Je mehr Katzen also, desto mehr Klee, weil dieser die Bienen braucht. Der Kampf ums Dasein ist am schärfsten zwischen Individuen derselben Gattung, weil jedes Individuum den Platz des gleichartigen einnehmen kann. Mit bezug auf die 24 Die Stimmen der Meister
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Variationen wirkt sich dieser Kampf ums Dasein so aus, daß die bestorganisierten Individuen die ungünstigen überleben, die stärksten am ehesten zur Fortpflanzung gelangen. Das Resultat dieses Kampfes ist das Überleben des Passendsten (,survival of the fittest'), die natürliche Zuchtwahl. Sie besteht also in der Erhaltung und Fortpflanzung der günstigsten Variationen; sie wirkt sich auch auf Menschen eines Gebietes aus, das einen einschneidenden Klimawechsel erfährt. Die natürliche Zuchtwahl ist nachhaltiger als die künstliche; denn während diese nur den Vorteil des Züchters im Auge hat und eine verhältnismäßig kurze Zeit wirkt, erfolgt jene zum Wohl des Individuums selbst, erfaßt die Gattung und wirkt auf unabsehbare Zeit. Das ist Vervollkommnung der organischen und unorganischen Lebensbedingungen und der Lebensganzheit überhaupt. Eine Sonderart des Kampfes ist die geschlechtliche Zuchtwahl, unter der nicht nur die Beschützung des Weibchens durch das Männchen zu verstehen ist, sondern auch die bessere Fortpflanzungsmöglichkeit des günstiger ausgestatteten Männchens. Der Sporn des Hahnes, das Geweih des Hirsches, die Mähne des Löwen wirken in dieser Richtung; und wie der Mensch unter seinen Hausvögeln die schönsten Exemplare züchten kann, so können in natürlicher Zuchtwahl — wie es tatsächlich geschieht — die weiblichen Singvögel in Tausenden von Generationen durch die Bevorzugung der schönsten und melodienreichsten Männchen die Gattung vervollkommnen. Die natürliche Selektion erklärt auch solche Erscheinungen wie die Evolution schneller Jagdhundarten aus Wölfen oder die Variationen von Blüten und Insekten im Zusammenwirken von Blütenstaub und Honig. Eine Untersuchung der für die natürliche Erzeugung neuer Formen günstigsten Bedingungen führt den Verfasser zu der graphischen Darstellung in Gestalt eines Stammbaums, „des großen Lebensbaumes, der die Erdkruste mit seinen zerbrochenen und abgestorbenen Zweigen füllt und die Oberfläche mit seinen lebendigen und schönen Verästelungen überhöht". Die Ursachen der Variation kennen wir nicht; es besteht Anlaß zu der Annahme, daß die Gesetze der natürlichen Zuchtwahl auch hier gelten. In vier Kapiteln der letzten Auflage geht Darwin auf die seit der ersten erhobenen Einwände gegen die Theorie der natürlichen Zuchtwahl ein und fügt sogar selbst weitere Schwierigkeiten hinzu. Die vorbildliche Sorgfalt und Vorsicht in der Auswertung der Materialien, die menschlich imponierende Selbstlosigkeit seiner Wahrheitssuche treten hier besonders klar hervor. Auf die Erörterung der möglichen Einwände gegen seine Lehre läßt der Verfasser dann die Frage folgen, warum nicht die Geologie größere Hilfe bieten kann. Müßte nicht eigentlich jede geologische Formation eine Unmenge von Beweismaterial für früher vorhandene Organismenformen enthalten? Das ist aber nicht der Fall, und hier kann der Widerspruch in der Tat, wie Darwin zugibt, einsetzen. Dagegen ist aber zu sagen, daß ja nur ein ganz kleiner Teil der Erdrinde bisher sorgfältig erforscht worden ist, daß die geologischen Schichtungen sich in sehr großen Zeitabständen vollzogen haben, zwischen denen unendlich viele organische Formen existierten, auch nicht gleichzeitig auf den einzelnen Teilen der Erde, so daß die Fossilien keine Zusammenhänge zeigen; selbst wenn man die Ablagerungsperioden in Verbindung bringen könnte, wäre aus ihnen die Naturgeschichte der Welt nur sehr unvollkommen zu erschließen, da ja andre Faktoren wie Klima und Lebensformen noch mitsprechen. Im übrigen erweist das, was die Paläontologie beizusteuern hat, durchaus die Richtigkeit des Hauptgesetzes von der Entwicklung der Typen in der gleichen Gegend, namentlich in der Periode von dem Tertiär bis zur Gegenwart. Seit dem ersten Erscheinen der „Entstehung der Arten" hat übrigens die paläontologische Forschung so viel Beweismaterial beigebracht, daß schon Darwins Nachfolger Huxley sagen konnte, die Evolution vieler Tiere aus früheren Formen des animalischen Lebens sei
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auf Grund dieser Quellen längst keine Hypothese mehr, sondern historische Tatsache; nur die Natur der physiologischen Faktoren bei ihrer Bildung sei noch ein ungelöstes Problem. Geographische Gesichtspunkte sind gleichfalls nur zum Teil brauchbar, weil wir nur eine unvollkommene Einsicht in die den Wanderungen gesetzten, durch Änderungen des Klimas und der Bodenerhebungen verursachten Grenzen haben. Innerhalb der einzelnen Gebiete sind die Zusammenhänge der Arten hinreichend erkennbar. Schließlich die morphologischen Erwägungen, die im wesentlichen viererlei betreffen: die Einteilung in Klassen, die Ähnlichkeiten oder Übereinstimmungen, die Embryologie, die Erklärung rudimentärer Organe. Auf allen diesen Gebieten kommt eine Naturwissenschaft, die von der Konstanz der Arten ausgeht, auf Schritt und Tritt an Grenzen, die eine Erklärung unmöglich machen, während die Deutung aus Umwelteinflüssen und Daseinskampf die überraschendsten Parallelen aufzeigt und ungezwungene Lösungen bringt. Die Beispiele aus dem Leben der Menschen, Tiere und Pflanzen, die Art ihrer Gruppierung und Auswertung, die Weite der alles Leben und Handeln beeinflussenden Bedingungen sind hier von einer noch heute packenden Wirkung. Nur das Denken eines Großen konnte so die unendliche Vielheit der Erscheinungen unter die wenigen, ewig und unerbittlich waltenden Gesetze des großen Lebensrhythmus stellen. Wie die einzelnen Kapitel regelmäßig mit einer kurzen Zusammenfassung abgeschlossen werden, so bringt auch der Schluß eine nochmalige Herausstellung der tragenden Gedanken und ihre klare Abgrenzung. Darwin verwahrt sich ausdrücklich gegen den Vorwurf der Irreligiosität seiner Lehre, der ja dem naiven Kirchenglauben, für den eine außerhalb der Natur stehende Allmacht alle Wesen und Gattungen geschaffen hat, naheliegen mußte. So habe sogar ein Leibniz das Gravitationsgesetz als mit den Lehren der Religion unvereinbar erklärt. Er beruft sich demgegenüber auf das Urteil eines Geistlichen, der ihm schrieb, er sehe ein, daß es eine ebenso erhabene Auffassung von Gott ist, zu glauben, er habe einige wenige Urformen geschaffen mit der Kraft der Selbstentfaltung zu höheren und besseren Formen, als ihm jedesmal einen neuen Schöpfungsakt zuzuschreiben, um die durch seine eigenen Gesetze verursachten Lücken in der Natur auszufüllen. Es vereint sich für unsern Autor besser mit dem großen Schöpfungsgedanken, ihn in den der Materie eingepflanzten, die Welt durchziehenden unwandelbaren Gesetzen und nicht in der immer wiederholten und abgelösten Schaffung neuer Arten zu erkennen. Er verwahrt sich weiterhin gegen die Mißdeutung, als habe er den Übergang der Arten ausschließlich auf natürliche Zuchtwahl zurückführen wollen; es stehe schon am Schluß seiner Einleitung, daß die natürliche Auslese der wichtigste, aber nicht der alleinige Faktor der Veränderungen sei. Wenn die letzte aller Fragen, die nach dem Wesen und Ursprung alles Lebens, hiermit nicht gelöst werden kann, so beweist das gar nichts; haben das etwa andre große Naturerklärungen vermocht, die Wellentheorie bei Lichterscheinungen, die Schwerkraft der Erde, die Drehung der Erde um ihre Achse? Leibniz hat Newton zu Unrecht vorgeworfen, er habe okkulte Eigenschaften und Wunder in die Naturphilosophie eingeführt. When we no longer look at an organic being as a savage looks at a ship, as something wholly beyond his comprehension; when we regard every production as one which has had a long history; when we contemplate every complex structure and instinct as the summing up of many contrivances, each useful to the possessor, in the
Wenn wir ein organisches Wesen nicht mehr so ansehen, wie ein Wilder ein Schiff als ein über seine Begriffe gehendes Ding betrachtet; wenn wir in jedem Erzeugnis der Natur etwas erkennen, das eine lange Geschichte hat; wenn wir zusammengesetzte Gebilde und Naturanlagen als die Summierung vieler Einzelregungen empfinden, alle
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same way as any great mechanical invention is the summing up of the labour, the experience, the reason, and even the blunders of numerous workmen; when we thus view each organic being, how far more interesting,—I speak from experience,—does the study of natural history become!
zum Nutzen für den Besitzer, gerade so wie jede große mechanische Erfindung eine Summe von Arbeit, Erfahrung, Verstand und sogar von Fehlern zahlreicher Mitwirkenden darstellt; wenn wir in dieser Weise jedes organische Wesen ansehen: wie unendlich interessanter — ich spreche aus Erfahrung — wird dann das Studium der Naturwissenschaft I
Er sieht die revolutionierende Wirkung voraus, nicht nur in der Deutung der Naturvorgänge, sondern auch auf andern Gebieten des menschlichen Forschens, wie es Herbert Spencer für die Psychologie schon begonnen hat. Die Ganzheitsbetrachtung und die natürliche Zuchtwahl erklären uns die wachsende Schönheit der Welt. Das Werk klingt in die Ergriffenheit seines Schöpfers aus, der tief in das Geschehen hineingeblickt hat. It is interesting to contemplate a tangled Man betrachtet mit Anteilnahme einen Abbank, clothed with many plants of many hang, der mit Pflanzen der verschiedensten kinds, with birds singing in the bushes, Arten bekleidet ist, mit Vögeln, die im Gewith various insects flitting about, and with büsch singen, mit allerlei Insekten, die worms crawling through the damp earth, herumschwirren, mit Würmern, die durch and to reflect that these elaborately condie feuchte Erde kriechen, und man sinnt structed forms, so different from each other, gerne darüber nach, wie diese kunstvoll geand dependent upon each other in so combauten Formen, unter sich so verschieden und doch so vielfältig von einander abhän)lex a manner, have all been produced by gend, alle nach den um uns waltenden Geaws acting around us. These laws, taken setzen entstanden sind. Diese Gesetze, im in the largest sense, being Growth with weitesten Sinne gefaßt, heißen Wachstum Reproduction, Inheritance which is almost mit Fortpflanzung; Vererbung, die in der implied by reproduction; Variability from Fortpflanzung schon fast beschlossen liegt; the indirect and direct action of the conVeränderlichkeit durch unmittelbare oder ditions of life, and from use and misuse: a mittelbare Wirkung der Lebensbedingungen Ration of Increase so high as to lead to a und durch Gebrauch oder Nichtgebrauch: Struggle for Life, and as a consequence to ein Faktor des Fortschreitens, der uns letztNatural Selection, entailing Divergence of hin zu einem Kampf ums Dasein führt, zu Character and the Extinction of lessdem Ergebnis einer natürlichen Auslese, das improved forms. Thus, from the war of Verschiedenheit des Charakters und Ausnature, from famine and death, the most löschen der minderbegünstigten Formen exalted object which we are capable of connach sich zieht. So folgt unmittelbar aus ceiving, namely, the production of the dem Kampf in der Natur, aus Hunger und higher animals, directly follows. There is Tod, der höchste Zweck, den wir begreifen grandeur in this view of life, with its several können, nämlich die Erzeugung höherer powers, having been originally breathed by animalischer Wesen. Es liegt Größe in diethe Creator into a few forms or into one; ser Anschauung des Lebens mit seinen vieland that, whilst this planet has gone cycling fältigen Kräften, die der Schöpfer einigen on according to the fixed law of gravity, wenigen Formen oder einer einzigen einfrom so simple a beginning endless forms gehaucht hat, und in dem Bewußtsein, daß, most beautiful and most wonderful have während dieser Planet sich nach dem unbeen, and are being evolved. verrückbaren Gesetz der Gravitation gedreht hat, die schönsten und wunderbarsten Gebilde aus so einfachen Anfängen sich entwickelt haben und immer noch entwickeln.
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Die „Entstehung der Arten" ist kein leichtes Buch. Es ist nach des Verfassers Zeugnis nur ein Abriß eines umfangreicher geplanten Werkes, der durch den von
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Wallace aus dem Malaiischen Archipel gesandten Brief veranlaßt wurde. Jeder Abschnitt, ja jeder Satz ist so gefüllt, daß die Lektüre Konzentration und ernste Arbeit erfordert. Es ist aber von musterhafter Klarheit des Aufbaus, sorgfältig in den Formulierungen, schlicht in der Sprache und frei von einer nur dem Fachgelehrten verständlichen Terminologie, genial in der Zusammenfügung und Deutung überraschender Beispiele und deshalb mit Recht als ein klassisches Buch auch im literarischen Sinne geschätzt. Die verehrungswürdige Gestalt des sorgsamen Forschers, der ein langes, unermüdliches Leben an die Klärung seiner Gedanken gesetzt hat, wird hinter ihm sichtbar; viele seiner Kritiker haben nach den schlagwortartigen Prägungen geurteilt und kaum die vorsichtige Art, in der er sich selbst bei seinen Schlußfolgerungen überall die Grenzen zieht, im Studium des Originalwerkes beachtet. Ein Eingehen auf die Einzelfragen geht nur die Fachwissenschaft an, die naturgemäß in einer so weitgreifenden Disziplin, wie es die Evolutionslehre ist, mancherlei Korrekturen anzubringen hatte. Die ungeheure Wirkung in ganz Europa, die sich in Zustimmung und Widerspruch bekundete, bezeugt allein den Rang eines Meisterwerkes. Wenn man aus der Einleitung ersieht, eine wie geringfügige Zahl auffallender Erscheinungen genügte, um nicht nur die Fragen der Abstammung, sondern besonders den kühnen neuen Gedanken von der natürlichen Auslese im Kampf ums Dasein dem nachdenklichen Naturbetrachter aufsteigen zu lassen, so erweist sich hier die intuitive Erleuchtung, aus der bei begnadeten Forschern stets die ganz großen Gedanken entsprungen sind. Der ganze Mensch ist beteiligt, das Herz ebenso wie der Verstand, und die beunruhigende, anfeuernde erste Eingebung trägt die Arbeit des weiteren Lebens mit seiner umständlichen Sammlung, der induktiven Beweisführung, seinen Rückschlägen und Erfolgen, bis der ganze Bau fest dasteht. Das ist die philosophische Ganzheit des großen Entdeckers, das erhebt den Meister über die Kärrner der Wissenschaft. In solcher Synthese, die hinter dem Einzelproblem die Ganzheit alles Lebens ergreift und fruchttragende Keime für alle Gebiete ausstreut, findet das Urteil des deutschen Physiologen Du Bois-Reymond seine Berechtigung, der Darwins Schöpfung „eine wissenschaftliche Tat ohnegleichen" genannt hat. Es ist eine monistische Auffassung der Natur und zugleich eine Abweisung aller Teleologie, also der Meinung, die alles Werden als von dem Zweck bestimmt ansieht. Die Kette der Erscheinungen soll nur nach dem Gesetz der Kausalität, der Verknüpfung von Ursache und Wirkung, gedeutet werden. Gewiß besteht eine Zweckmäßigkeit der Organismen; es ist aber wissenschaftlich nicht zulässig, sie als die Folge eines vorbedachten Planes aufzufassen, was schon aus den zahlreichen Unzweckmäßigkeiten der Natur folgt. Das ist auch der Standpunkt Goethes, dessen großartige und umfassende Naturanschauung sich uns aufdrängt. Der Einfluß Spinozas ist von Goethe selbst bezeugt; er hat den Begriff des Zufalls theoretisch aufgehoben, das Gesetz der Kausalität an die Stelle des Anthropomorphismus der Endursachen gesetzt und Goethe im Gegensatz zu allen teleologischen „Naturphilosophen" auf den Weg der genetischen Methode verwiesen, wie es in der „Metamorphose der Pflanze" zum Ausdruck kommt: Wie? Wann und wo? — Die Götter bleiben stumm. Du halte dich ans Weil und frage nicht warum 1 Derselbe Gedanke durchzieht das bedeutende Gespräch mit Eckermann am 20. Februar 1831, das mit einem Glaubensbekenntnis schließt, wie es auch Darwin hätte sprechen können: Die Nützlichkeitslehrer würden glauben, ihren Gott zu verlieren, wenn sie nicht den anbeten sollten, der dem Ochsen die Hörner gab, damit er sich verteidige. Mir aber möge man erlauben, daß ich denverehre, der in dem Reichtum seiner Schöpfung
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so groß war, nach tausendfältigen Pflanzen noch eine zu machen, worin alle übrigen enthalten, und nach tausendfältigen Tieren ein Wesen, das sie alle enthält: den Menschen. — Man verehre ferner den, der dem Vieh sein Futter gibt und dem Menschen Speise und Trank, soviel er genießen mag; ich aber bete den an, der eine solche Produktionskraft in die Welt gelegt hat, daß, wenn nur der millionste Teil davon ins Leben tritt, die Welt von Geschöpfen wimmelt, so daß Krieg, Pest, Wasser und Brand ihr nichts anzuhaben vermögen. Das ist mein Gottl Die immanente Zweckmäßigkeit ist der tiefere Sinn der unbewußten Auslese der Natur. Goethes naturwissenschaftliche Arbeiten ebenso wie seine Naturdichtungen sind getragen von diesem alle organischen Wesen umfassenden Prinzip, und seine innige Anteilnahme an Herders „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" hängt an dem in diesem Werk waltenden Grundsatz von der Einheit der Organisation und der Vervollkommnung der Gattungen. Was die Natureinsicht großen Dichtertums fühlte, wurde durch Darwins grundlegende Gedanken in die Bereiche wissenschaftlicher Klarheit erhoben. Thomas Henry Huxley war in England der bedeutendste Ausgestalter der Lehre Darwins, die mehr und mehr andere Wissenszweige in ihren Bann zog. Sie entsprach dem Liberalismus mit seinem freien Spiel der Kräfte. H. T. Buckle schrieb seine „Geschichte der Zivilisation in England", um die fortschrittliche Entwicklung der Menschheit zu erweisen. Beherrschenden Einfluß auf das ganze Geistesleben gewann die Evolutionslehre dann durch die Philosophie. Sie ist fühlbar in dem amerikanischen Pragmatismus eines William James und dem „Humanismus" des Engländers F. C. S. Schiller; in beiden Richtungen waltet das Prinzip der Lebensförderung mit dem Grundsatz, daß wahr ist, was sich praktisch bewährt und dem Leben dient. Die großzügigste Ausweitung des Evolutionsgedankens brachte das „System der synthetischen Philosophie" von Herbert Spencer. Wahrheit ist für ihn Synthese, Zusammenfassung der entgegengesetzten philosophischen oder metaphysischen Erkenntnisse, das Aufsuchen der Gemeinsamkeiten, das sich als bleibendes Gut erhalten und bewähren wird. Eine feste Überzeugung von dem Fortschritt der Menschheit liegt zugrunde. Die Einzelwissenschaften sind nebengeordnet in dem Aufbau der Erkenntnisse, denen ein gemeinsames Prinzip zugrunde liegt; den Gegebenheiten („Data") folgen die Verallgemeinerungen und Gesetze, die spekulativ das Werden und die Entwicklung verständlich machen. Aller Fortschritt beruht auf Gliederung, Bereicherung, Verfeinerung, also in einer steigenden Individualisierung. Alles Erkennen ist ein Inbeziehungsetzen; das An-sich der Welt, das „Absolute", bleibt unerkennbar; die natürliche Zuchtwahl wirkt offenbar nur bei niederen Lebewesen, während bei höheren eine aktive Anpassung an ihre Stelle tritt. Leben ist beständige Anpassung an den Wechsel der äußeren und inneren Bedingungen und damit ein Hinwegschreiten zu einem Zustand der größtmöglichen Freiheit. Der letzte Sinn aller Ethik ist die Erhaltung und das Gedeihen der Art, die Selbstregulierung des Lebens. Die biologische Grundauffassung der Auswirkung des Rechts des Stärkeren vereinigt sich mit dem Gerechtigkeitsgefühl und der demokratischen Tradition des Volkes zu dem Optimismus in bezug auf die Entwicklung der Menschheit und des Lebens, frei von einem Kultus der Stärke und der Heroenverehrung. Wir haben die Auswirkung der Milieutheorie, die sich namentlich an den Namen des Franzosen Hippolyte Taine knüpft, also des Kernstücks der Evolutionslehre, noch in den geistesgeschichtlichen Ansichten des Literarhistorikers Ferdinand Brünettere und in der neueren Form von Lebensbildern erlebt, die wie bei einem Romanhelden über das Leben geschichtlicher Erscheinungen einen Bogen spannte, das Typische der Umwelt ohne rechte Berücksichtigung der Eigengesetzlichkeit des Genies in den Vordergrund rückte und die Biographie zum Roman machte.
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J o h n Stuart M i l l s A b h a n d l u n g Über die Freiheit Für das 17. und 18. Jahrhundert war im Bereich der Natur die Konstanz der Arten, in geistigen Dingen das zeitlose Sein der Begriffe und Beziehungen Grundüberzeugung gewesen, von der aus sich hinter dem Wechsel der Erscheinungen das Problem der bleibenden Substanz erhob. Das Hervortreten des Entwicklungsgedankens und der genetischen Methode macht die Besonderheit des 19. Jahrhunderts aus. In der deutschen Philosophie — bei Hegel — und in der französischen — bei Comte — wird die geschichtliche Entwicklung zu einer logisch konstruierten Stufenfolge, in der englischen, wo die Assoziationspsychologie der späteren Aufklärung die genetische Betrachtungsweise schon angewandt hatte, setzte sich unter dem Einfluß der Biologie, also in erster Linie Darwins, die Überzeugung eines allmählichen Werdens über lange Zeiträume hinweg und durch zahlreiche kleine Zwischenstufen durch, wie ja die ganze englische Geschichte evolutionistisch und nicht revolutionär verlaufen ist. Die Auffassung des Lebens als Wettbewerb entsprach dem wirtschaftlichen Liberalismus, der seine Hauptstütze in dem wachsenden wirtschaftlichen Wohlstand fand. Die Verschärfung der sozialen Gegensätze führte das Problem des Sozialismus herauf. Seine Philosophie wächst in Deutschland aus der Hegeischen Dialektik heraus, in Frankreich bei Saint-Simon und Auguste Comte als schroffer Gegensatz zu der an abstrakte Ideale glaubenden Denkweise der großen Revolution von 1789. In England sehen wir überall das Bemühen, einen Ausgleich der alten liberalen Ideen der freien Persönlichkeit und der Abwehr des staatlichen Eingreifens und der Überzeugung von dem sozialen Fortschritt zu finden. Das Wunschbild des Eudämonismus und des sozialen Utilitarismus gibt die Richtung, die den Kampf ums Dasein als Lebenszentrum dem alten Harmonieglauben der Ideologien gegenüberstellt und das englische Denken von dem kontinentalen abhebt. Es ist klar, daß das Problem der Freiheit hierbei eine neue Bedeutung gewann. In dieser Linie steht der bedeutendste Denker des Jahrhunderts, John Stuart Mill. Auf das Herauswachsen der vom Zweck bestimmten Morallehre aus der Egoismusthese Hobbes', die Bernard Mandeville mit einem scharfen Naturalismus der Erörterung dargeboten hatte und die über alle Gegenströmungen hinweg in das Volksempfinden überging, ist schon bei der Betrachtung von David Humes ethischem Hauptwerk eingegangen worden. Sie wurde bei den eigentlichen Utilitariern, wie man sie nach ihrem Nützlichkeitsprinzip mit rational-empirischer und praktischer Ausrichtung nennt, zum Ordnungssystem für das sittliche Verhalten, die Gesetzgebung und Staatsverwaltung. Der Grundsatz Jeremy Benthams von dem „größtmöglichen Glück der größten Zahl" geht wohl von dem Gesamtwohl aus, wird aber aus einem rein individualistischen Standpunkt abgeleitet: wenn jeder sein eigenes Glück anstrebt, wird sich das summierte Glück der Gesamtheit daraus von selbst ergeben. Der daraus gefolgerte persönliche Egoismus, an den der von dem aufklärerischen Glauben an die urtümliche Güte der menschlichen Natur getragene Optimismus des selbstlosen und pflichtbewußten Bentham nicht dachte, hat praktisch viel zur Verschärfung der sozialen Härten beigetragen. James Mill bleibt mit seiner Suche nach Gesetzen und der Zerlegung der Tatsachen in ihre Elemente in diesem Gedankengang. Erst sein Sohn John Stuart Mill (1806—1873) kommt gegenüber der Benthamschen quantitativen Aufrechnung der Lust- und Unlustgefühle zu einer Vertiefung, indem er das qualitative Element, die Frage nach der wertvolleren und weniger wertvollen Lust, also die subjektive Wertung einführt. Mill ist tief ergriffen von dem Hauptproblem seiner Zeit, der sozialen Frage. Soziologie, Nationalökonomie, repräsentative Regierungsform und Frauenfrage beschäftigen ihn und werden in grundlegenden Werken behandelt, sozialistische Ideen kommen seit seiner Bekanntschaft mit dem Werk Comtes immer stärker zur Geltung, die Antithese Individuum und Gesellschaft,
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das Recht auf Freiheit und seine Vereinbarkeit mit dem Aufgehen des einzelnen und seiner Interessen in der Gemeinschaft wird mehr und mehr der Angelpunkt seines Denkens. So kommt es, daß die kleine, aber für das ganze Jahrhundert bedeutungsvolle, ja zentrale Schrift Über die Freiheit (OnUberty) das Bild der Persönlichkeit des Denkers am klarsten widerspiegelt. Sie erschien in demselben Jahr wie Darwins „Entstehung der Arten" (1859). Bald danach gaben ein französischer und ein deutscher Staatsdenker, angeregt durch den englischen Philosophen, ihre Ansichten über den Gegenstand bekannt: ßdouard de Laboulaye, „Der Staat und seine Grenzen" 1860, und Heinrich von Treitschke, „Die Freiheit" 1861. Sir James Fitzjames Stephen wurde in der Heimat der Hauptkritiker Mills, und noch 1885 griff Herbert Spencer in Rede und Gegenrede mit Laboulaye das Problem auf. Nach den Anfängen bei Thomas Payne und William Godwin war das Thema die zentrale Frage des Staatsdenkens des 19. Jahrhunderts geworden. Mills Schrift wurde, wie Treitschke bekundet, das Evangelium des Jahrhunderts. Was ursprünglich die Frage nach der persönlichen, geistigen und politischen Freiheit des einzelnen gewesen war, wurde bei dem Philosophen zu einer Erforschung des kulturellen Wertes der Freiheit und der Grenzen zwischen der individuellen Freiheit und den Ansprüchen der Gemeinschaft eingeengt. Die innerliche Berührung mit der dem sozialen Problem zugewandten Grundhaltung des viktorianischen Zeitalters liegt auf der Hand. Mills Abhandlung gehört der Literatur an, die Philosophie wird geradezu Literatur. So empfand es auch die Zeit; Charles Kingsley bezeugt, daß er durch die Lektüre des Werks auf der Stelle ein besserer Mensch geworden sei, und Thomas Hardy sagt in einer Zuschrift an die „Times" vom 21. Mai 1906, daß die Studenten von 1865 das Buch beinahe auswendig kannten. Mill nennt uns selbst den Autor, von dem er ausgegangen ist, nämlich Wilhelm von Humboldt mit seiner Jugendschrift „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen". Der wahre Zweck des menschlichen Strebens ist für Humboldt die „höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen", und dazu ist Freiheit die unerläßliche Bedingung. Neben ihr erfordert die Entwicklung der menschlichen Kräfte aber noch ein Zweites, nämlich Mannigfaltigkeit der Situationen. Auf dieser doppelten Grundlage entfaltet sich Originalität, Eigentümlichkeit der Kraft und Bildung. Ungebundene Freiheit ist demnach die vernunftgemäße Voraussetzung für die Entwicklung der besonderen Art des einzelnen. Der Staat wirkt schädlich, wenn er seine Aufgabe in der positiven Sorge für das Wohl der Bürger erblickt; das schafft Einförmigkeit und lähmt die Energien,also den moralischen Charakter der einzelnen. Er soll nicht positiv das Glück fördern, sondern nur negativ das Übel verhindern, also die Sicherheit verbürgen. Dann kann sich der „interessante" Mensch selbstschöpferisch nach seiner Anlage entfalten. Staatliche Einwirkung ist also von den entscheidenden Vorgängen im Leben des einzelnen fernzuhalten, von der Ehe, der Erziehung usw. Streng genommen ist bei Humboldt gar nicht der Staat und seine Begrenzung der Hauptgegenstand, sondern der Mensch, und zwar der „interessante", der „gebildete" Mensch. Der Staat wird lediglich eine Funktion im Leben des „selbsttätigen" einzelnen, und zwar eine untergeordnete Funktion. Wir haben es also letzthin nicht mit einer politischen, sondern einer philosophischen Schrift im Sinne eines ganz individualistischen Humanismus zu tun. Und doch hat man in ihr eine der eigentümlichsten Schriften ihrer Epoche gesehen, vielleicht gerade, weil sie von einem unpolitischen Denken diktiert ist. Sie gehört an den Abschluß der absterbenden Epoche der Aufklärung; Humboldt selbst ist später zu einer positiven Auffassung von dem Recht des Staates und seiner Einwirkung gelangt und hat sie im praktischen Staatsdienst betätigt. J . St. Mills Denken hat eine andre Grundlage, berührt sich aber in den praktischen Schlußfolgerungen vielfach mit Humboldt. Sozialistische
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Gedankengänge waren ihm durch die französischen Denker Saint-Simon und Comte vertraut, zumal ihn mit Comte, dem Hauptvertreter des Positivismus, ein langjähriger brieflicher Gedankenaustausch verband. Aber des Franzosen intellektuelles Bild der Gesellschaft, das auf Unterwerfung und Autorität gegründet ist und in einer fast despotischen Staatshierarchie endet, und erst recht die „soziale Maschinerie" des SaintSimon liegen weitab von dem idealistischen Persönlichkeitsideal des liberalen englischen Philosophen. Es bleibt von der geistigen Bewegung der Vorläufer nicht viel mehr als der Fortschrittswert der menschlichen Entwicklung und der Glaube an die Erziehung als Hauptmittel aller sozialen Reformen übrig. Mill nennt seine Abhandlung einen Essay und ordnet sie damit einer in England zu bestimmter Form erhobenen literarischen Gattung zu. Sie hat von daher die gefällige und persönliche Bekennerform und den Verzicht auf gelehrte Quellenanalyse und Polemik erhalten; der Philosoph will nicht für gelehrte Kreise schreiben, sondern er fühlt wie Milton die Verpflichtung gegenüber seinem Volk. Sie ist aber in ihrem geschlossenen, das Problem abrundenden Aufbau etwas anderes als etwa Bacons oder Charles Lambs Essays; der literarische Gattungsname wurde ja auch für umfangreichere Werke wie z. B. Lockes „Versuch" über den menschlichen Verstand gebraucht. K a p . I. Einleitung Nicht von dem philosophischen Problem der Willensfreiheit soll die Rede sein, sondern von dem der politischen Freiheit des einzelnen und dem Recht der Gemeinschaft ihr gegenüber, also von der Freiheit innerhalb der staatlichen Gebundenheit. Kants „Grundlegung einer Metaphysik der Sitten" setzt die Freiheit als einen absoluten Zustand aller vernünftigen Wesen in einer intelligiblen, zweckgerichteten Welt; bei Mill ist sie ein sich immer wiederholender Lebensvorgang am Menschen, der die Leistung der Gemeinschaftsbildung vollbringt. Es handelt sich also um einen ethischen Begriff. Der Charakter eines ständigen Vorgangs nötigt den Verfasser zunächst zu einem Blick auf die geschichtliche Entwicklung. Die früheste Geschichte zeigt uns den Kampf der Untertanen gegen die Machthaber als die naturgegebene Situation, die Bestrebungen, der Macht des Herrschers Grenzen zu setzen. Dann kam der Herrscher als Vollstrecker des Volkswillens. Der Auftrag des Volkes war Garantie gegen Gewaltherrschaft. Aber die Auswüchse bleiben auch bei der Vertretungstheorie nicht aus: Tyrannei eines Volksteiles über die andren wie in der Französischen Revolution, Tyrannei der Gesellschaft über den einzelnen wie in dem Philistertum der mittelviktorianischen Zeit; der einzelne hat ein Recht auf Schutz gegenüber der konventionellen Meinung. Die „Illusion" der öffentlichen Meinung beruht einmal auf dem magischen Einfluß der Gewohnheit, wobei der Empirist Mill die Vertreter der intuitiven Philosophie mit ihrem nicht nachprüfbaren „moralischen Sinn" als Maßstab des Sittlichen scharf ablehnt, und weiterhin auf der angeborenen Unterwürfigkeit des Menschen unter vermeintliche allgemeine Maßstäbe. Alles das besteht für den Denker nur im Zustand populärer Empirie; geklärt und gefestigt sind die Rechte des Individuums gegenüber der Gemeinschaft bisher nur auf dem religiösen Gebiet. In dem England seiner Zeit ist für Mill das Fehlen fester Grundsätze besonders fühlbar, das Joch der öffentlichen Meinung — Locke hatte ja das Gesetz der öffentlichen Meinung als dritten regulierenden Faktor dem Gebot des Staates und dem göttlichen Gesetz gleichgeordnet — eine drückende Einengung. Die Aufzeigung eines Ordnungsprinzips in diesem Zwiespalt soll Gegenstand des Essays sein. Wie bei Humboldt erscheint auch hier ein negativer Grundsatz als Ausgangspunkt: für den einzelnen und für die Gemeinschaft als Selbstschutz, Abwendung des Übels als die Grenze der natürlichen Rechte. Das gesunde Streben jedes Menschen ist auf Glück
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gerichtet, wie der Schüler der utilitaristischen Ethik ohne weiteres anerkennt; wo dieses Streben gehemmt wird, entsteht im Sinne des Schutzes das Recht der Einschränkung der Freiheiten des störenden andren. Über sich selbst aber, seinen Körper und Geist, ist der einzelne unbeschränkter Herr. Das gilt indessen nur, wie Mill einschränkend sagt, für politisch reife Menschen und Völker. Wie die These nicht auf Kinder angewendet werden darf, so auch nicht auf primitive Völker, denen eine despotische Herrschaft zuträglicher ist. Für die modernen Kulturvölker dagegen verlangt er die Anerkennung seines Grundsatzes. Der Nutzen ist die letzte Instanz in ethischen Fragen; das Nützlichkeitsprinzip aber besagt, daß nur das Interesse des andren Grund für ein Eingreifen der Gemeinschaft sein dar£ Dabei ist Nützlichkeit nicht im Sinne eines unmittelbaren persönlichen Vorteils zu verstehen, sondern im weitesten Sinne, gegründet auf die bleibenden Interessen des Menschen als eines fortschreitenden Wesens. In dieser Vertiefung des Utilitätsprinzips beruht ja gerade Mills Fortschritt gegenüber den älteren Utiütariern Bentham und James Mill; er bleibt dem hedonistischen, d. h. dem auf Lustgefühle gerichteten Standpunkt treu, verlegt aber den Glücksbegriif aus der Ich- in die Du-Sphäre, in den Bereich der Wohlfahrt der Menschen. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst: dieser altruistische Standpunkt ist die höchste Erfüllung des Nützlichkeitsprinzips. Das ist schon ein wesentlich andrer Ausgangspunkt als der humanistische, nur dem „interessanten" Menschen zugekehrte Standpunkt Humboldts, wenn auch die Tatsache bestehen bleibt, daß Mill sein ganzes Problem lediglich vom einzelnen, nicht von der Gemeinschaft aus orientiert. Gewissensfreiheit wird folgerichtig als die höchste Forderung für den einzelnen aufgestellt, Freiheit des Denkens, des Geschmacks, auch Freiheit im Zusammenschluß mit andren, sofern dadurch nicht die Rechte noch andrer geschädigt werden. Die Praxis des Lebens ist diesen Grundrechten in der Regel zuwider, die Knebelung der Mitmenschen ist eine stete Gefahr. Nur wo äußere Gefahr den Bestand eines Volkes bedroht, darf und muß der Staat sich zum Schutz der Gesamtheit Eingriffe in das Grundrecht der geistigen Freiheit vorbehalten. Mills Denken ist also weit genug, um geschichtlichen und geographischen Voraussetzungen der einzelnen Völker Spielraum in der Lösung der Fragen zu lassen. Der letzte Absatz dieser musterhaften, von einer klaren BegrifFsumgrenzung nach kurzer geschichtlicher Besinnung schnell zu der Hauptthese gelangenden, ganz geradlinigen Einleitung führt zu der ersten Erörterung des Hauptteils: Gedankenfreiheit als fundamentales Teilproblem, wie es seit Milton lebendig ist. Kap. II. Über die Freiheit des Denkens und Redens Hauptthese: Keine Regierung hat das Recht zur Unterdrückung der freien Meinungsäußerung. Begründung: i. Es besteht die Möglichkeit, daß die unterdrückte Meinung die objektiv richtige ist. Persönliche Erfahrung ist kein ausreichender Schutz gegen die Fehlbarkeit der eigenen Ansicht; es bedarf der Erörterung, um die Erfahrung zu deuten, Widerspruch ist ein wahrheitzeugender Faktor, die Freude am Redekampf ein Beweis dafür. Selbst die unduldsamste Kirche bestellt ja bei dem Verfahren der Heiligsprechung einen „Anwalt des Teufels"; Newtons Naturlehre hätte sich ohne wissenschaftliche Diskussion nicht durchsetzen können. Die bloße Nützlichkeit kann kein Grund für die Unterbindung der freien Erörterung über sie sein, wie die religiös-sittlichen Lehren, wie die Beispiele Sokrates, Jesus, Marc Aurel bezeugen. Dr. Johnson hat nicht recht,
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wenn er gerade das Märtyrertum unterdrückter Meinungen als der Wahrheit zuträglich ansieht; es ist nicht wahr, daß das Echte sich trotz aller Verfolgung immer durchsetzt. Viele Beispiele von Verfolgungen sind zur Hand; das moderne Verfolgungsmittel ist die öffentliche Meinung, das gesellschaftliche Stigma. 2. Die offizielle Meinung mag richtig sein; worin besteht aber ihr Wert, wenn er nicht frei erörtert werden darf? Bloßer Autoritätsglaube ist Aberglaube; wer die eigene Meinung vertiefen und fest begründen will, muß die Gegengründe kennen. Man könnte einwenden: es genügt, wenn nur ein Denker oder etwa die Vertreter der Wissenschaft alle Gründe und Gegengründe kennen. Aber das ist menschlich nicht zu halten, denn die Gegengründe drängen sich von selbst auf, und wenn die Beweisgründe allmählich verdunkelt und vergessen werden, geschieht dasselbe leicht mit der angenommenen Meinung. So sind ethische und religiöse Wahrheiten am stärksten in ihrer Kampfzeit und bei den Kämpfern; sie verlieren ihre Kraft, wenn sie nicht mehr erörtert, sondern „Lehre" werden. Die christliche Religion beweist das ebenso wie das erst im Lebenskampf errungene Verständnis für literarisch-philosophische Sentenzen. Man hat von dem tiefen Schlummer einer endgültig angenommenen Ansicht gesprochen. Gewiß ist Einmütigkeit der Wahrheit nicht abträglich; sie kann aber nur das Ergebnis der Erörterung sein. 3. Die Meinung der Majorität und die der Minorität können beide ein Stück Wahrheit enthalten. Man denke an den Fortschrittsglauben der Aufklärung und Rousseaus Widerspruch, an die Konservativen und Liberalen im politischen Kampf. Die Polarität des Lebens allein ist das Leben und die Wahrheit. Echt englisch wird gesagt, daß für das praktische Leben die Wahrheit aus Versöhnung und Vereinigung der Gegensätze erwächst. Wie steht es denn mit der christlichen Ethik? Ist sie die alleinige und ganze Wahrheit für die Menschheit? Hat nicht die auf griechisch-römischer Staatsethik beruhende Pflicht gegenüber dem Staat, der Totalitätsanspruch des Staates, auch Berechtigung? Auch Christi Lehre ist nur ein Teil der vollen Menschheitsethik. Der Streit der Meinungen wirkt fördernd auf den Beobachter. Als Ergebnis wird herausgestellt: die freie Erörterung ist nicht ein rein intellektuelles dialektisches Spiel, sondern ein Abbild der Lebenspolarität, die auf Satz und Gegensatz beruht, ein Vorgang zur Bildung der sittlichen Persönlichkeit. Damit ist der Übergang zum nächsten Kapitel gegeben. K a p . III. Über die Persönlichkeit als eins der Elemente des Wohlbefindens Hauptthese: Die Freiheit zu handeln entscheidet; sie ist nicht immer mit der Freiheit zu reden gleichzusetzen. Begründung: Die meisten Menschen übersehen die Folgen eines unrichtigen Verhältnisses von Freiheit und Beschränkung. Freiheit ist mit Staatseinmischung wohl vereinbar: der Staat sollte nur aus einer Vereinigung freier Persönlichkeiten bestehen, denn auf den Geist kommt es an. Humboldts Grundsatz „Freiheit und Mannigfaltigkeit der Situationen" wird hier beschworen gegenüber allen unbestimmten und vorübergehenden Wünschen. Die innere Form des Menschen ist entscheidend, nicht die Tat allein. Es ist interessant, zu sehen, wie Mill immer wieder zum Organischen geführt wird, das er theoretisch an und für sich als Ausgangspunkt ablehnt. Er betont höchst bedeutsam den Charakter; es ist besser, aus Einsicht von dem Üblichen abzuweichen, als die inneren Triebe zu unterdrücken. Stärke ist ein Wert an sich, was die Demokratien leicht verkennen. Mill erkennt das Führertum energischer Charaktere an, was bei einer oberflächlichen Einordnung in die liberale Gedankenwelt oft übersehen
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worden ist. Man hat in der Geschichte gar oft allzu starke und damit gefährliche Individuen erlebt. In seiner Zeit sieht Mill die umgekehrte Gefahr, den Sieg der Gesellschaft über die Individualität. Der Calvinismus brachte eine Unterdrückung des eigenen Willens; die Folge war eine vielfach herrschende Schätzung verkrüppelter Individualitäten. Die entwickelte Persönlichkeit dagegen hebt die Menschenwürde und festigt das Band zwischen dem einzelnen und der Gattung. Persönlichkeit ist Entwicklung, etwas Dynamisches, Nievollendetes; erst aus Persönlichkeiten entsteht der Staat als Kulturgebilde. Die wenigen schöpferischen Menschen bringen den Fortschritt, an dem alle teilhaben, sie sind das Salz der Erde, ohne sie wäre das Leben ein stagnierender Teich. Das Genie insbesondere kann nur in Freiheit gedeihen, wie auch Nietzsche sagt. Die alle demokratischen Formen überlagernde englisch-germanische Wertung des politischen Führertums bricht auch in diesem Gedankengang wieder durch: „Der erste Schritt zu allen klugen und edlen Dingen kommt notwendigerweise von Individuen, in der Regel zuerst von einem Individuum." Der Satz könnte von Carlyle stammen und rückt Mill weitab von dem Glauben an den Wert aller, auch der Mittelmäßigen. Die Menschen sind eben verschieden und brauchen zu ihrer Entfaltung die Verschiedenartigkeit der Situationen. Das Zeitalter ist unduldsam gegen Originalitäten und unterdrückt Energien, es hemmt den Fortschritt; der Hauptgedanke Darwins klingt an. Nur die Mannigfaltigkeit der Originalitäten und Energien hat Europa lebendig erhalten können; die neuzeitliche Minderung dieser Mannigfaltigkeit muß sich schädlich auswirken. Schlußfolgerung: Nur die Rückkehr zu einer Wertung der Persönlichkeit kann helfen. Die Gesamtheit braucht sie zur Erhaltung ihrer Art. Wie schützt sie sich gegen Verarmung? Wieweit darf sie ihrerseits Ansprüche stellen? Mit dieser Frage ist wiederum eine klare Gedankenüberleitung zu der weiteren Erörterung gegeben. Kap. IV. Von den Grenzen der Autorität gegenüber dem Individuum Hauptthese: Im rein persönlichen Bereich ist das Recht des einzelnen unbestritten, wie es schon im Einleitungskapitel hieß. Sobald die Interessen der Gemeinschaft berührt werden, setzen die Rechte dieser Gemeinschaft ein. Begründung: 1. Ein Konflikt für den einzelnen kann schon dadurch entstehen, daß die ungünstige Meinung andrer seinem inneren Wert entgegenläuft; jene andren handeln dann mit Recht auf Grund ihrer Meinung. Der einzelne kann selbst antisozial gesinnt sein, wogegen die Gemeinschaft sich zu schützen hat. Der Antisoziale hat zwei Strafen zu gewärtigen: den Verlust an Achtung und die öffentliche Mißbilligung. 2. Man kann die Hauptthese aber auch mit der Antithese anfechten, daß der Mensch ja von Natur kein isoliertes Wesen sei, daß also das, was er im angeblich rein persönlichen Bereich tut, immer irgendwelche andre mit berühre und daß ferner die Gemeinschaft doch wohl auch das Recht habe, gegen Böses im persönlichen Bereich einzuschreiten, etwa gegen Trunkenheit, Faulheit, Unreinlichkeit als Schädlinge glücklicher Entwicklung. 3. Mills Synthese mit der Antwort auf diese Einwände unterscheidet vier Punkte: a) Sobald das schlechte persönliche Verhalten andre schädigt — wenn etwa der Unmäßige oder Faule seine Schulden nicht bezahlen kann —, liegt eine ernste Schädigung der Gemeinschaft und ihr Recht zum Eingreifen vor; b) geringe oder mittelbare Schädigungen kann die Gemeinschaft ertragen, hier braucht sie gegenüber dem höheren Wert der menschlichen Freiheit nicht einzugreifen; c) eine durch die Gemeinschaft geregelte Erziehung ist Kindern, nicht aber „entwickelten" Erwachsenen gegenüber angebracht; d) auch das schlechte Beispiel einzelner ist nicht zu fürchten,
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weil eine normale und gesunde Gemeinschaft aus ihm eher eine heilsame Lehre zieht. Die Erfahrung zeigt, daß die Gemeinschaft sich meistens falsch in die persönlichen Handlungen einmischt. Der Mensch neigt von Haus aus zur moralischen Polizei; die Vertreter einer auf „moralischen Sinn" gegründeten, intuitiven Ethik haben unrecht. 4. Beispiele: die Mohammedaner mit ihrem Schweinefleischverbot; die Spanier mit ihrem Glauben an die alleinseligmachende Kirche; das Zölibat der Geistlichen in dieser Kirche; der Puritanerkampf gegen Vergnügungen; der im demokratischen Amerika verbreitete Unwille über eine üppige Lebenshaltung der Begüterten; das Verbot alkoholischer Getränke in fast der Hälfte der damaligen Vereinigten Staaten, das sog. „Maine Liquor L a w " ; die englischen Gesetze zur Heilighaltung des Sonntags; die Mormonenverfolgung. Alles das sind ungerechtfertigte, nur aus der angemaßten Sittenrichterrolle der Gemeinschaft hervorgegangene Eingriffe in die persönliche Freiheit. Folgerichtig leugnet Mill auch das Recht einer Gemeinschaft, eine andre mit Gewalt zu zivilisieren, also den imperialistischen Gedanken. K a p . V. Anwendungen Hier werden die praktischen Nutzanwendungen der entwickelten Grundsätze gegeben, nachdem noch einmal die beiden Hauptsätze klar herausgestellt sind: a) im rein persönlichen Bereich ist der einzelne unbeschränkt frei; b) sobald die Interessen anderer berührt werden, hat die Gemeinschaft zu ihrem eigenen Schutz das Recht zu legaler oder sozialer Strafe, also zur Einschränkung der individuellen Freiheit. Im Wettbewerb ist die Schädigung anderer zulässiges Ziel des Handelns, der Freihandel also richtig. Schwieriger steht es mit dem zwangsmäßigen Gesundheitsschutz, bei dem sich die Freiheitsbeschränkung durch die Pflicht einer Verhütung von Unglück rechtfertigt. Mill bleibt also überall bei dem negativen Prinzip des Schutzes, der Beschränkung, der Abwehr, soweit es sich um die Rechte der Gemeinschaft handelt. Trunkenheit und Faulheit gehen an sich die Gemeinschaft nichts an, sondern erst, wenn sie zu Vergehen ausarten. Die Untersuchung erstreckt sich auf die Bewertung einer Anstiftung zur Tat, auf staatliche Maßnahmen zur Erschwerung unsozialer Handlungen, auf Verträge zwischen freien Menschen, dabei auch auf die Ehe und ihre Lösung, wobei Mill unter Hinweis auf die Pflicht der Sorge für die Kinder nicht ganz den radikalen Standpunkt Humboldts teilt, wenn er auch gleich ihm die Frage lieber in den moralischen als den staatlichen Bereich verweisen möchte. Frauen haben natürlich denselben Anspruch auf uneingeschränkte Betätigung wie Männer, wie der Vorkämpfer der Frauenemanzipation in seiner Schrift „Die Unterdrückung der Frauen" eingehender ausgeführt hat. In der Frage der Kindererziehung ist unser Philosoph weniger radikal als Humboldt. E r lehnt zwar auch eine Staatserziehung ab — wir denken daran, daß in England die Volksschulpflicht erst 1876 eingeführt wurde — ; aber er spricht dem Staat das Recht zu, von jeder Familie die Sorge für den Unterricht „in einem Mindestmaß des allgemeinen Wissens" in irgendeiner Form zu verlangen. Daß dieses Allgemeinwissen in konkreten, prüfbaren Tatsachenkenntnissen zu bestehen habe, entspricht dem positivistischen Standpunkt des Philosophen. Die Lehre des Bevölkerungspolitikers Malthus erkennen wir, wenn Mill die Beschränkung der Kinderzahl als Ermessensfrage der Familie zuspricht und nur so viele Kinder wünscht, wie es die Möglichkeiten einer angemessenen Erziehung erlauben. Alles, was der einzelne besser tun kann als die Regierung, muß ihm überlassen bleiben, ja selbst das, was er nicht so gut tun kann, weil seine Bemühung der eigenen Erziehung zum Staatsbürger dient. Bezeichnend für das negative Abwehr- und Schutzprinzip ist es, wenn eine zu große Ausdehnung der staatlichen Gewalt an sich schon für nachteilig angesehen wird; die typisch englische Abneigung gegen den Beamtenstaat, die Bürokratie
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und Routine, die darin liegende Gefahr einer revolutionären Auflehnung, die die persönliche Initiative hemmende positive staatliche Betätigung finden hier ihre Einordnung. Der Staat hat nur eine regulierende Funktion, die Aktivität ist Sache des einzelnen. Diese klare Schlußfolgerung unterstreicht aber nochmals, daß es sich bei diesem einzelnen immer um den „entwickelten" Charakter, die starke Persönlichkeit handelt. Der Wert des Staates und seine vitale Macht hängen von dem Wert und der tätigen Energie der Individuen ab, aus denen er sich zusammensetzt. Der Gedankengang der Abhandlung zeigt, wieviel von den tief verankerten Hintergründen der englischen Organisation des öffentlichen Lebens in ihr steckt, mögen auch die Formen in Einzelheiten sich inzwischen gewandelt haben. Sie ist mit dem schlagwortartigen Begriff des Liberalismus nicht zu fassen; sie wendet sich gerade gegen jede von feudalistischen und demokratischen Gegnern ausgehende Entstellung, und sie hat sozialistische Züge in dem Eintreten für eine humane Sozialpolitik. Aber die Grundlage bleibt die liberale Weltanschauung, die gleichzeitig individualistisch ist. Die Art indessen, wie bei Mill die Härten des Individualismus überwunden werden, ist geeignet, unser Verständnis für das uns bei diesem Volk so oft rätselhaft erscheinende Nebeneinander von Individualismus und Gemeinschaftssinn zu vertiefen. Der Gemeinschaftsbegriff wird verschiedenartig bezeichnet: Gemeinschaft, Gesellschaft, Sitte, Verhalten, Volk, öffentliche Meinung, Mehrheit, Staat, Regierung. Es handelt sich also, wie diese Mannigfaltigkeit beweist, nicht primär um den Staatsbegriff in unserm Sinne, der als Staatsgebilde und Regierungsverfahren nicht besteht; Asquiths Wort „Wir Engländer hassen den Staat" ist bezeichnend. Erst gegen das Ende der Abhandlung, bei den praktischen Anwendungen, begegnet der Ausdruck Staat häufiger, also da, wo die greifbare Vertretung der Gemeinschaft, die sichtbare Gewalt, bei der Besprechung der Organisationsformen des öffentlichen Lebens genannt werden muß. Solange aber die Erörterung sich um das abstrakte Wesen der dem einzelnen gegenüberstehenden Macht bemüht, wechseln die sprachlichen Bezeichnungen. Denn diese Macht ist kein Fürst, keine Regierung, keine autonome Form, sondern der Gemeingeist schlechthin, das Volk, wenn man will. Der Gemeingeist mag öffentliche Meinung — Mill lebte in der Zeit des engen, auf „Respektabilität" bedachten Viktorianismus —, Tradition, Gesellschaft oder sonstwie heißen; er ist das ewig lebendige, nicht an Formen gebundene Gemeinschaftsgefühl der zur „Polis" gehörenden Bürger; er ist „politisch", aber nicht parteipolitisch. Der andre Begriff, um den sich das Problem dreht, ist der des einzelnen oder, wie wir richtiger sagen müssen, der Persönlichkeit, wozu das III. Kapitel die entscheidenden Ausführungen enthält. Von „Entwicklung" der menschlichen Kräfte geht schon Humboldts Jugendschrift aus, und auch Mill gebraucht den Begriff beständig; denn Persönlichkeit kann nur im Vorgang ihrer Schöpfung erfaßt werden. Bei Humboldt aber ist der „interessante" Mensch ein moralischer Wert in sich selbst, individualistisch-humanistisch, „in allen Lagen und Geschäften interessant; daher blüht er zu einer entzückenden Schönheit auf in einer Lebensweise, die mit seinem Charakter übereinstimmt" (Abschnitt III). Dieser philosophisch-ästhetischen Auffassung steht bei Mill die politische gegenüber. Persönlichkeit hat bei ihm nichts zu tun mit einer biologisch, naturwissenschaftlich oder naturrechtlich gewonnenen Vorstellung vom Einzelwesen; die Menschen sind nicht gleich, sondern verschieden, wie anti-liberal behauptet wird. Persönlichkeit ist überhaupt keine Erscheinung in sich selbst, sondern nur eine Erscheinung in der Gemeinschaft. Sie formt sich im Leben mit den andren, sie muß beständig Entscheidungen im Streit der Meinungen treffen, sie lebt von der Reaktion der Masse und in der Steigerung zum schöpferischen Genius; die entwickelte Individualität hebt den Menschen heraus und festigt das Band der Gattung. Wenn Individualität Entwicklung ist, so hat das nur Sinn in dem Nutzen der entwickelteren Menschen für die unent-
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wickelten, in dem Führertum auf den höheren Lebensgebieten. Selbständigkeit, Charakter, Entschlußbereitschaft, innere Form sind wichtiger als feige Anpassung, die auf Zurückdrängung der Triebe beruht. Im Spiel der Kräfte entwickelt sich der Vollmensch zum politischen Wesen im aristotelischen Sinne. Gewiß steht Mills Persönlichkeitsbegriffdem deutschen Idealismus nahe—Goethe, Schillers ästhetischer Erziehung, Schleiermachers Monologen —, wenn auch mit dem Unterschied, daß der deutsche Idealismus auf der Annahme allgemeiner und notwendiger Wahrheiten beruht, die der Engländer gerade bekämpft; der wesentliche Unterschied aber besteht in der politischen Auffassung, die von der humanistisch-individualistischen abweicht. Nur so kann sich überhaupt die Schlußfolgerung ergeben, daß die Kraft des Staates in den ihn bildenden Persönlichkeiten besteht. Und nur aus dieser Grundauffassung, die wiederum im tiefsten Sinne englisch ist, versteht man auch die hohe Wertung der Erörterung zur Formung der sittlichen Persönlichkeit. Denn diese Persönlichkeit, existentiell oder politisch gesehen, ist eben unablässige Formung in der Auseinandersetzung, ist Vorgang und nicht Ergebnis. Nur um diese Persönlichkeit also geht es für Mill; er denkt nicht daran, etwa jedem beliebigen „unentwickelten" Menschen seine naturgegebenen Freiheiten gegenüber der Gemeinschaftsorganisation zuzusprechen. Wenn wir die beiden Pole einzelner und Gemeinschaft in diesem Sinne recht verstehen, begreifen wir auch leichter die Methode, in der der Ausgleich gesucht wird. Der negative Gedanke des Schutzes oder der Abwehr gibt allein die Maßstäbe ab, ein liberales Prinzip, wenn auch in der praktischen Durchführung weit weniger radikal als bei dem doktrinären Humboldt, weit mehr kompromißbereit. Das Prinzip gewinnt aber seinen Sinn nur, wenn wir an den politischen Persönlichkeitsbegriff und an den Gemeinschaftsbegriff denken, wie er oben herausgestellt wurde. Ein neuerer englischer Gelehrter sieht in Mills Schrift über die Freiheit den ersten klaren Widerspruch gegen das „viktorianische Ideal des Ausgleichs", weil es dem Glauben an die durch Tradition und Konvention geheiligten allgemeinen Wahrheiten die alleinige Macht des Denkens, der auf sich selbst gestellten Forschung, gegenüberstellt; damit sei in diesem Werk geradezu der Wendepunkt in der Überwindung des viktorianischen Zeitgeistes gegeben. Daß die Antithese Individuum und Staat falsch gestellt oder mindestens unzulänglich war, ist erst vor nicht langer Zeit von dem Philosophen Bertrand Russell in einer Rundfunkrede gesagt worden und hat sich in England auch gezeigt, wie namentlich die jüngste politische Entwicklung lehrt. Die Überwindung kam nicht aus der eigentlichen Staatslehre, sondern aus der Rechtsphilosophie, die eine sogenannte idealistische Schule unter deutschem Einfluß — Kant, Hegel — ausbildete; Thomas Hill Greens Vorlesungen über die Prinzipien der politischen Pflichten bereiteten den Boden für eine stärkere Einflußsphäre des Staates gegenüber der streng liberalen Doktrin. Der Wille aller zum Staat, die alte Hobbessche Forderung der Primatrechte des Staates unter Mitverantwortung des einzelnen, begründet neue Forderungen und Taten — die Volksschulpflicht von 1876, die gelenkte Wirtschaft, die Fragen einer Verstaatlichung privater Unternehmungen u. dgl. Der Staat ist nicht ein Leviathan, der einsam in seiner Macht dasitzt, sondern im Kreise der Nachbarstaaten ein Glied, das auf seine Erhaltung bedacht sein muß. Seine Kraft kommt aus der gehäuften und organisierten Kraft der einzelnen. Auf dem Widerstreit der alten und der neuen Geisteshaltung — bloße Sicherungsrolle oder positives Handeln — beruhen letzten Endes die inneren Meinungskämpfe unsrer Zeit. Mills Vortrag ist ein Vorbild für saubere und klare Begriffsbestimmung. Er beginnt jedes Kapitel mit einer Abgrenzung des Themas und schließt es mit einer Zusammenfassung der Ergebnisse. Die These, die er verfechten will, wird bestimmt vorangestellt und dann unter Nennung der Antithese, der möglichen Einwände, allseitig beleuchtet. Der gliedernde Stil liebt die Einteilung der Gedanken mit „erstens,
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zweitens, drittens . . .", die Gegenüberstellung der Absatzinhalte mit „aber, indessen . . .." Der Verfasser hat sich, wie er selbst sagt, die juristische Rhetorik Ciceros zum Vorbild genommen, der die Gegengründe seiner Opponenten noch gründlicher als die eigenen Gründe studierte. Absatz folgt mit sachlichem Zwang auf Absatz, es gibt keine Gedankensprünge. Die vorangestellte These wird der Grundhaltung seines Denkens gemäß empirisch gewonnen, aus den praktischen Tatsachen des Lebens, die folgende Erörterung schreitet deduktiv weiter, alle Seiten beleuchtend, dabei aber keine Seitensprünge duldend. Alle Beispiele entnimmt Mill dem Leben und der Geschichte, niemals der Literatur; sein Interesse ist politisch-sozial gerichtet. Das ist der Stil eines Philosophen, der überzeugen will, nicht der rednerische eines Burke oder Carlyle, der durch emotionale Mittel, durch Kunstmittel des Nachdrucks und Schmucks zu gewinnen bestrebt ist. Es ist eine gemessene, unpathetische, durchsichtige Diktion, vorsichtig, bisweilen mit zögernden Einschiebungen. Der Mensch wird uns in der Sprache greifbar, der Denker, der sich den Lebensproblemen seines Volkes verschrieben hat, dem es nur um die Sache geht, der lebensnah und zweckgerichtet ist. Das Werk, dessen Sätze er in langer Arbeit in Gemeinschaft mit seiner Gattin sorgsam ausfeilte, ist die stilistisch vollendetste Darstellung seines bedeutungsvollen und in alle geistigen Gebiete der Gegenwart ausgreifenden Gegenstandes, der Niederschlag einer besonderen, redlichen Denkart, deren Lebensodem der Glaube an den Fortschritt der Menschheit zu reicherer Bildung und zu reinerem Streben war. T h o m a s C a r l y l e s Vorlesungen über Helden undHelderwerehrung Thomas Carlyle (1795—1881) war der große Wortführer des Widerspruchs gegen den Geist seiner Zeit, der Prediger der Moral, die bedeutendste literarische Erscheinung der Epoche. Ruskin huldigt seinem Freund und Führer als dem einsamen Lehrer, der sein Volk aufgerufen hat, tapfer zu sein im Dienst für die Menschen und gerecht in der l i e b e zu Gott. Goethe hat ihn eine moralische Macht von großer Bedeutung genannt. Das Sittliche ist für ihn das Wirksame in großer Dichtung, namentlich in der bewunderten deutschen Literatur und idealistischen Philosophie, deren größter Anwalt er in England geworden ist; für das eigentlich Künstlerische großer Dichtung fehlte ihm das Organ. Seine „Bekehrung" von jugendlichem Menschenhaß und Lebensüberdruß zu tätiger Hingabe an den Kampf für das \fahre und den Glauben, vom ewigen Nein zum ewigen Ja, steht im engsten Zusammenhang mit dem Studium der deutschen Literatur, die ihm, wie er einmal schrieb, einen neuen Himmel und eine neue Erde offenbarte und deren Einfluß namentlich in den vielfachen Huldigungen an Goethe zum Ausdruck kommt. Aus der wirtschaftlichen und geistigen Enge eines armen, tief religiösen und streng puritanischen schottischen Handwerkerhauses stammend, bewahrte der Philosoph und Schriftsteller zeitlebens die entscheidenden Züge seines starken, streitbaren, tief im Glauben wurzelnden Geschlechts; selbst die eigenwillige, ganz persönliche Sprache seiner späteren Werke, die man vielfach allzu einfach als Einfluß der barocken Sprachkunst eines Jean Paul erklärt hat, liegt schon in der Anlage, wenn wir den Sohn über den Vater reden hören: Keiner von uns wird je den kühnen, glühenden Stil vergessen, der frei seinem ungefesselten Herzen entquoll. Voller Metaphern, obschon er nicht wußte, was Metahern waren, mit allen möglichen Kraftworten, die er sich aneignete und mit erstauncher Akkuratesse anwandte; kurz, energisch, bündig, klar, nicht in ehrgeizigen Farben, sondern im weißen Sonnenlichte schimmernd, gab uns seine Rede den vollkommensten Ausdruck seiner Ideen. Ihn habe ich wie niemand sonst emphatisch reden hören. Im Zorn brauchte er der Schwüre und Flüche nicht; seine Worte selbst waren wie scharfe Pfeile, die bis ins innerste Mark eindrangen.
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Thomas Carlyles Vorlesungen über Helden
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Ein von seinen Ideen und seinem Glauben erfüllter Prediger und Eiferer mit volkserzieherischem Willen ist Carlyle in allen seinen Schriften, ein Herold der Hingabe an die Arbeit, die ihm Anbetung ist, ein in seinem äußeren Leben und im Kampf für das Wahre schwer ringender, von Launenhaftigkeit und Widerspruchsgeist nicht freier, aber von unbestechbarem Ernst beseelter Denker, in dem schottisches Puritanertum, deutscher Idealismus und romantisches Erfülltsein von dem Unendlichen und Unnennbaren den Missionsglauben gegenüber einem mechanisierten Zeitalter geformt haben. Prophet und Dichter sind wesensverwandte, ja im tiefsten Sinne sogar gleichgeartete Künder des geheiligten Mysteriums des Alls, das sie geschaut haben; beide sind Seher, und aus dieser Einsicht erwächst nicht nur dem Denker, sondern auch dem Dichter die Verpflichtung zur Führung seines Volkes. Das ist Carlyles Lehre. Auch der große Kritiker Matthew Arnold legt in seinen Studien über Wordsworth, Byron, Shelley, Keats, Gray, Milton das Hauptgewicht stets auf die ethische Seite: Dichtung ist Lebenskritik. Die Diesseitsverbundenheit der viktorianischen Literatur lehnt jede Kunst um der Kunst willen ab und will verantwortungsbewußte Führung bieten. Das sinnschwere Werk, in dem der Grundgedanke immer wieder in anderer Einkleidung, symbolhaft in immer wieder andren Kleidern erscheint und das deshalb als eine Kleiderphilosophie „Der geflickte Schneider" (Sartor Resartus) heißt, ist die romanhaft erzählte Biographie eines deutschen Professors mit Einflechtungen aus des Dichters eigener Bildungsgeschichte, ein Niederschlag seines Erlebens des deutschen, namentlich des Fichteschen Idealismus. Der Weg vom ewigen Nein zum ewigen Ja! Der Kampf des göttlichen, nach Freiheit strebenden Ichs mit dem naturgebundenen Selbst kann nur durch Entsagung gewonnen, die „göttliche Tiefe des Leidens" nur durch Arbeit zu einer Versöhnung von Leib und Geist genützt werden. Der Verherrlichung der Arbeit ist fortan das Pathos dieses von heiligem Glauben erfüllten Predigertums gewidmet. Sie lebt in den sozialpolitischen Schriften „Der Chartismus", „Einst und Jetzt", „Schriften zur neueren Zeit". Diese Weltanschauung von der inneren Befreiung der Bedrückten und vom Glauben an die Wirkung der gotterfüllten großen Persönlichkeit durchzieht die großen Geschichtswerke über Oliver Cromwell, die Französische Revolution und Friedrich den Großen. Sie tritt mit ihrer Überzeugung von der puritanischen Heiligung der Arbeit und dem Führergedanken am schärfsten hervor in der Vorlesungsreihe, die den Titel Über Helden, Heldetwerehrung und das Heroische in der Geschichte (On Heroes, Hero-Worship, and the Heroic in History) trägt und die mehr als die umfangreicheren Werke den Namen und die Wirkung ihres Verfassers im europäischen Bewußtsein lebendig erhalten hat. Die Vorlesungen wurden im Jahre 1841 veröffentlicht. 1. Vorlesung. Der Held als Gottheit. Odin. Das Heidentum: Die skandinavische Mythologie. Die Weltgeschichte ist die Geschichte der großen Männer, die in ihr gewirkt haben. Für jeden Menschen ist die Religion die entscheidende Grundlage, das, was er glaubt, was ihm am Herzen liegt, durch das er sich geistig mit dem Unsichtbaren verbunden fühlt. Auch der Irreligiöse hat in diesem Sinne Religion. Das Heidentum sieht der moderne Mensch in der Regel unter zwei Gesichtspunkten: entweder als Priesterbetrug, Quacksalberei oder als Allegorie. Beides ist falsch. Täuschung und Quacksalberei sind immer negativ, zerstörend und niemals schöpferisch, aufbauend. Allegorie wiederum ist nicht primär, sondern immer sekundär; sie zeigt das bereits Gewordene im Bild, geht aber dem Gewordenen nicht voran. Der erste Denker unter heidnischen Barbaren gleicht dem Kind-Menschen Piatos, der aus seiner Höhle heraustritt und das unerklärbare All staunend erlebt. So erleben wir die Elektrizität als geheimnisvolle Kraft, deren Wesen uns verschlossen ist. Was 25 Die S t i m m e n der Meisteir
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der Mensch der kulturlosen Frühzeit an konkreten Gegenständen und an Mitmenschen um sich sah, konnte er begreifen und benennen. Darüber hinaus aber fühlte er das Vorhandensein von Kräften wie die Sonne, den hellen Stern Canopus, den Wind. Sie waren für ihn Teile der Unendlichkeit, der großen Natur, Gottheiten, die er fürchtete und verehrte. Dies Gefühl ist der Verehrung eines großen Mannes oder „Helden" verwandt, Treue hat etwas vom religiösen Glauben. Die moderne Zeit, die Aufklärung, hat die Heldenverehrung zu Unrecht verneint; sie liegt tief im Menschen begründet. Die skandinavische Mythologie ist uns bezeichnenderweise von Island aus überliefert, also von der rauhen Insel der Vulkane und Geiser, des Feuers und des Eises. Ihre Gestalten sind Vermenschlichungen der sichtbar wirkenden Naturkräfte. Der Donner war keine elektrische Entladung, sondern der Gott Donar, ein Gott schickte auch die wohltätige Sonnenwärme. Überall ist Bewegung, Wirkung, Leben: der Baum Yggdrasil ist die nie endende Konjugation des Zeitworts „tun". Wer lehrte die Menschen die Naturkräfte in diesen Formen zu sehen? Das tat der erste geniale Mensch, der Seher, der geistige Held, O d i n . Von seiner Geschichte wissen wir nichts, und doch muß er existiert haben. Grimm leitet den Namen etymologisch her — ,vadere', Wuotan, Bewegung — und leugnet den geschichtlichen Menschen. „Wir können den Menschen nicht um einer solchen Etymologie willen auslöschen!" Es muß einen Menschen gegeben haben, der das Urbild war. Solche Menschen wachsen dann in der Erinnerung des Volkes; die frühen Völker kannten keine Grenzen, der Gefeierte wuchs in die Verkörperung der bewegenden Kraft überhaupt hinein, wurde zum Gott, dem alles zugeschrieben wurde, was die Menschen entzückte und über das Primitive hinaushob. So ist also das Wesen der alten Mythen die Erkenntnis des Göttlichen in der Natur. Echtheit (,sincerity') ist ihr Kennzeichen. Der Mensch sucht eine Beziehung zu den Naturkräften, in deren Gesamtheit er das Walten eines unerbittlichen Schicksals empfindet. Odin spricht zu den Menschen von Walhall herab, er lehrt Tapferkeit und den Weg zum Eingehen zu den Göttern. Die nordische Mythologie ist hochpoetisch in ihren Symbolen. Tapferkeit ist die Quelle des Mitleids. Die Hamletsage gehört zum nordischen Mythus. Eine erhabene Schwermut liegt auf der ganzen Welt. Dieses ganze Reich der schlichten, tapferen, handelnden Urväter und ihres Glaubens ist heute dahin; es liegt Tragik in dieser Götterdämmerung. Jede Vergangenheit besitzt einen Teil der ewigen Wahrheit, jede Zeit entwickelt eine andre Seite des menschlichen Wesens; das wirklich Wahre ist die Summierung der Teile. So erhielt auch Wilhelm Meister auf die Frage, welche der drei Religionen er empfehle, von seinem Lehrer die Antwort: alle drei, denn erst ihre Vereinigung mache die wahre Religion aus. z. V o r l e s u n g . Der Held als Prophet. Mohammed, der Islam. Die nächste Stufe bildet der Mohammedanismus der Araber. Der große Mann oder Held, wie die Natur ihn uns schenkt, ist immer von der gleichen Art — Odin, Luther, Johnson, Burns —; in welcher Zeit er erscheint, hängt von der Zeit selbst ab, in die er kommt und die ihn so oder so empfängt. M o h a m m e d gibt das Beispiel des Propheten ab. Er ist nicht der größte unter ihnen, aber er ist einer der echten, wahren; ein unwahrer Prophet könnte nie Religionsstifter sein. Echtheit ist das erste Kennzeichen aller heldischen Menschen, Goethes „Gesetz, nach dem du angetreten" also. Ihnen ist das Dasein selbst etwas Großes, sie sind das, was man originale Menschen nennt. Sie kommen zu uns unmittelbar aus dem Reich des Göttlichen, Inneren, Wesenhaften, mit dem sie in beständiger Verbindung bleiben. Die Araber und ihr Land: ein edles und begabtes Volk, tief religiös, zur Vergötterung neigend. Wunderbar wird der in seinem Nomadenstamm heranwachsende Knabe
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geschildert, von Verwandtensorge umgeben, aufblickend zu der Pracht des gestirnten Himmels, eine große, stille Seele, die noch dem in seinem Stamm geachteten, treuen Mann innewohnt. Erst mit vierzig Jahren spricht der nachdenkliche Mann, der die Berührung mit dem Christentum erlebt hat, von seinem göttlichen Auftrag. Weinend muß er den Widerständen seines Stammes entgegentreten, den er vom Götzendienst zu echter Religion führen will, nur verstanden und getröstet von seinem treuen Weibe. Ein Held ist, wer durch die Erscheinungen hindurch das Wesen der Dinge erschaut. Das gewinnt Mohammed in jährlicher Zurückgezogenheit und Meditation. Islam ist Gottergebenheit, wie es im „Westöstlichen Diwan" heißt: „Wenn Islam Gott ergeben heißt, In Islam leben und sterben wir alle." Islam ist also die Erkenntnis der das All beherrschenden Notwendigkeit. Das Wissen, die Erkenntnis der Wahrheit der Dinge ist ein mystischer Akt. Langsam erst hat Mohammed Erfolg, mit dem Schwert muß er seine Lehre verteidigen; äußere Güter brachte sie ihm nicht ein, aber das hohe Glück des Gedankens, die Wahrheit gegen die Lüge im Auftrag Gottes durchzusetzen. Der Koran ist die Lehre des Himmels; das Buch selbst trägt den Stempel der ,sincerity.' Die oft berufene Sinnlichkeit des Islams betrifft nicht des Propheten persönliches Leben, sondern liegt in der orientalischen Veranlagung begründet. Mohammed ist ganz frei von falschen Akzenten und von Dilettantismus. Der nordische Gott aller rohen Menschen, „Wunsch", wird zu einem Himmel geweitet, der Pflichten auferlegt: mutiges Handeln, mehr aber noch mutiges, göttliches Dulden und vor allem Glauben. Die Geschichte eines Volkes wird groß, fruchtbar, erhebend, sobald es den Glauben hat. 3. V o r l e s u n g . Der Held als Dichter: Dante; Shakespeare Die ersten beiden Erscheinungsformen des Helden waren: der Gott und der gottähnliche Mensch. Sie gehören alten Zeiten an und kehren nicht wieder. Die dritte Stufe, der Dichter, ist in allen Zeitaltern heimisch. Aber noch einmal: es gibt keinen Großen, der nicht in jeder Gestalt erscheinen könnte. In einigen alten Sprachen bedeutet „vates" den Propheten und den Dichter; beide sind das Gleiche, sind eben „Seher". Goethe spricht von dem offenen Geheimnis, Fichte von der göttlichen Weltidee, die irgendwo in allen Wesen liegt. Wir sehen sie nicht, wohl aber den Seher, den Propheten oder Dichter. Andre Menschen verlieren das heilige Geheimnis; er aber bewahrt es und weiß von ihm. Auch für ihn gilt deshalb die Wahrheit und Echtheit als erstes Erfordernis. Die Deutschen erblicken in dem Seher-Dichter zuerst das Ästhetische — die Schönheit und Vollendung steht über dem Guten —, andre, also die Engländer, das Sittliche. Was unterscheidet den dichterischen Ausdruck von der nichtdichterischen Sprache? Die schlichte Empfindung, Dichtung müsse immer metrisch sein, gibt uns den Schlüssel. Die Sprache des Dichters hat Musik, ist ein Lied. Das ist tief zu verstehen: Musik kann nur empfunden, nicht logisch definiert werden. Der Dichter denkt immer musikalisch; schon die griechische Vorstellung von der Sphärenharmonie gehört seiner Welt an. Alles Innerliche und Tiefe ist Musik, alles wahrhaft Erfühlte wird zum Lied, zu einem Gebilde, das nur so und nicht anders sein kann. Skeptischer Dilettantismus, der Fluch unsrer Zeit, kann nicht für immer bleiben; Heldenverehrung liegt tief in uns. Shakespeare und Dante sind Heilige der Poesie. Schon Dantes Antlitz enthüllt uns sein Wesen: trauervoll, starr, unnachgiebig, unerbittlich. Ernst und Härte umlagern sein Leben und seine Liebe. Für ihn gibt es kein Sein in dieser Welt, seine große Seele macht die ehrfurchtgebietende jenseitige Welt zu ihrer Heimat. Sein großes Gedicht ist ein „Lied" im wahrsten Sinne, das echteste aller Gedichte mit seiner Welt der Seelen in Hölle, Fegefeuer und Paradies. Eine visionäre Kraft, die das Typische in aller Gedrängtheit erfaßt, zeichnet es aus, dabei 25*
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eine Sympathie mit den Geschöpfen, die nur einer großen Seele entspringen kann. Carlyle stimmt denen nicht zu, die die „Hölle" für den bedeutendsten Teil halten; die beiden andern Teile sind größer, besonders das „Fegefeuer", die Reue und Reinigung als größter christlicher Vorgang. Alle Teile zusammen aber sind ein Symbol des Glaubens; alles, was das Christentum nach mittelalterlicher Auffassung umschloß, ist hier im Symbol gestaltet. Und doch genügt der Ausdruck Symbol nicht; es handelt sich für den Gläubigen der Zeit um Tatsachen. Die heidnische Mythologie schuf Verkörperungen der Naturkräfte; das Christentum brachte Gestaltungen der menschlichen Pflichten, des Sittengesetzes. Jenes war für die sinnliche Natur des Menschen, dies für die moralische bestimmt. Welch ein Fortschritt! So ist Dante der Sprecher des Mittelalters. Ist es zulässig, von seinem „Nutzen" zu reden? Nein! „Wirkung? Einfluß? Nutzen? Der Mensch mag sein Werk verrichten; seine Frucht ist andren überlassen, sie wächst von selbst." Wir sollten nur in stiller Ehrfurcht vor einem solchen Reich des Schweigens verharren. Und dann S h a k e s p e a r e . Wenn uns Dante das Innenleben seiner Zeit verkörpert, so Shakespeare das Außenleben eines späteren Europas. Dante gibt uns Glauben und Seele, Shakespeare Tat und Körper. Dante ist tief und brennend wie das Zentralfeuer der Welt, Shakespeare breit, weit hinausschauend und friedlich wie die Sonne über uns. Wiederum wird die Umwelt in ihrer Eignung und Bereitschaft zur Aufnahme des ihr Geschenkten beschrieben, das glückliche, hochgestimmte elisabethanische Zeitalter. In ihr erschien der bisher größte dichterische Genius mit seiner Kraft der Vision und des Denkens, seiner Ruhe und Tiefe, seiner Fähigkeit, alle Erscheinungen bildhaft zu bannen. Dichterisches Schöpfertum heißt die Fähigkeit, die Dinge in der Tiefe zu sehen. Shakespeare s i e h t seine Gestalten und stellt sie abgerundet vor uns hin. Was der Verstand kann, etwa ein Bacon, ist demgegenüber zweitrangig. Nur Goethe hat von den Späteren diese Kraft des Sehens wieder erreicht. Das sehende Auge erschließt die innere Harmonie der Dinge; dem Dichter können wir nur zurufen: Sieh! Man kann den Menschen nicht in Eigenschaften zerlegen; er ist ein gewachsenes Ganzes, und die einzelnen geistigen Fähigkeiten sind nur Spielarten der gleichen K r a f t der Einsicht, in sich selbst unlöslich verbunden. Um etwas zu verstehen, müssen wir es lieben. Shakespeare hat das ruhig schauende Auge, die innere Durchleuchtung der Welt, und damit das Verstehen, und in diesem Sinne kann er der größte Intellekt genannt werden. Er ist größer als Dante, seine Welt ist umfassender. Er hat selbst Leid getragen, und doch kann er lauter über die Welt lachen als irgend jemand. Lachen aber bedeutet Sympathie. Die Historien sind nach dem Wort A. W. Schlegels ein nationales Epos; in ihnen schlägt ein englisches Herz. Aber alle Einzelwerke, manchmal unvollkommen, hastig geschrieben, geben nicht den ganzen Dichter, sondern sind nur Fenster, durch die wir hinausblicken in das Universum, „disjecta membra". Hier ist ein Dichter, der auch ein Prophet war; auch ihm war die Natur göttlich, tief, unaussprechlich. Aber er predigte nicht, was er sah, er sang es! Wenn wir in Dante den melodienreichen Priester des Christentums sehen, können wir dann nicht Shakespeare den melodienreichen Priester der Universalkirche aller Zeiten nennen? Auch in ihm lebte eine himmlische Botschaft. Er ist größer als Mohammed. Die Botschaft dieses Propheten blieb in den engen Vorstellungen seines Volkes stecken und wird sich selbst da überleben; Shakespeare bleibt der Priester des Menschlichen für alle Zeiten und Räume. „Er ist das Erhabenste, das wir jemals hervorgebracht haben." Ihn dürfen wir nicht aufgeben, auch wenn wir das ganze indische Reich aufgeben, er ist unentbehrlich für den Zusammenhalt der englischen Welt. Wohl der Nation, die in einem solchen Heros ihren Sprecher gefunden hat! England und Italien dürfen sich dieses Vorzugs rühmen; der noch so mächtige Herrscher Rußlands muß erst sprechen lernen.
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4. V o r l e s u n g : Der Held als Priester. Luther, die Reformation; Knox, der Puritanismus Noch einmal wird betont, daß der Held immer aus dem gleichen Stoff und seine Erscheinungsform nur durch Zeit und Umgebung bestimmt ist. Der Priester muß wie der Prophet das Licht der Eingebung haben, er leitet die Verehrung seines Volkes, er vereint es mit dem unsichtbaren Heiligen, er ist der Erleuchter des täglichen Lebens. Luther und Knox waren solche Priester aus Berufung. Bisher sahen wir den großen Mann als Religionsstifter, als Künder einer Lebenslehre wie Dante, einer Lebenspraxis wie Shakespeare. Das Priestertum führt uns rückläufig wieder zum kämpferischen Reformator, der nicht zu entbehren ist. Die moderne Lehre vom Fortschritt der Arten bringt uns nicht weiter und ist reichlich wirr, wenn auch die Sache selbst als sicher erscheint. Der Mensch lernt und übernimmt nicht bloß, sondern er handelt. Darum ist niemand ganz ohne Originalität, jeder erweitert irgendwie die Kenntnis vom All. Was man einmal als richtig angenommen hat, kann durch neue Erkenntnisse umgestoßen werden; wo aber der Glaube unsicher wird, wird die Lebenspraxis ungesund. Es gibt noch genug Gebiete für Umwälzungen. Wer aber gläubig handeln will, muß zuerst fest glauben. Alles menschliche Tun und Meinen nur unter dem Gesetz des unabwendbaren Sterbens sehen zu wollen wäre traurig. Es ist aber nicht so: was stirbt, ist nur der Körper, nicht die Seele. Zerstörung oder Umwälzung ist immer nur Neubeginn auf breiterer Grundlage. Vergangene Zeiten haben nicht im Irrtum gelebt, den wir erst zu korrigieren haben; vielmehr haben alle in ihrer Art gegen den gleichen Feind gekämpft, das Reich der Dunkelheit und des Unrechts. Wir sind alle Soldaten in derselben Front. Alle Propheten haben gegen Abgötterei gekämpft, ohne sie beseitigen zu können. Der Mensch verlangt stets nach sichtbaren Symbolen, nach ,eidola'. Warum dann der Kampf gegen sie? Fetischanbetung ist immer noch höher als das Verhalten des Tieres, das nichts anbetet, wenn nur das Herz voll ist von dem Gedanken an das Anbetungswürdige. Hier aber liegt der Kernpunkt: was die Propheten bekämpften, war Götzenanbetung ohne das volle Herz, war unaufrichtige Anbetung, seelenlose Verehrung des Fetischs. In diesem Sinne war auch L u t h e r wie die früheren Propheten ein Zertrümmerer von Idolen. Es mag zunächst so aussehen, als ob der Protestantismus das, was wir Heldenverehrung nennen, zerstört habe; er hat ja das private Urteil an die Stelle der Autorität gesetzt, den Papst ausgeschaltet und jeden Menschen zu seinem eigenen Papst gemacht. Ist dadurch eine geistige Einigung, die Unterordnung unter eine Autorität nicht unmöglich geworden? Gewiß war der Kampf des Protestantismus gegen die geistliche Souveränität eine Revolution, der Kampf des englischen Puritanismus gegen die politische Souveränität ihr zweiter Akt, die Auflehnung der französischen Revolution gegen jede weltliche und geistliche Souveränität überhaupt der dritte. Alle spätere europäische Geschichte geht vom Protestantismus aus. Sind Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit nur an die Stelle der Könige getreten, ist der Heldenherrscher für immer erledigt, ist der Gehorsam der Menschen gegenüber einem einzelnen überholt? Man müßte an der Welt verzweifeln, wenn es so wäre, denn der Weg ginge zur Anarchie. Es ist aber nicht so 1 Das alles war nur Vorbereitung für eine Herrschaft echter Souveräne. Die Reformation war nichts der Art nach Neues, sondern nur Rückkehr zur Wahrheit und Echtheit von der Falschheit und dem Schein. Denkfreiheit hat der Mensch immer gefordert und besessen; in Ketten schlagen ließ sich immer nur das falsche, unaufrichtige Denken. Echte Denkfreiheit führt nicht zur egoistischen Absonderung und Unabhängigkeit; im Gegenteil, sie fügt die mit dem Herzen Denkenden und wahrhaft Gläubigen zusammen. Nur aufrichtige Menschen können eine Gemeinschaft bilden. Man braucht die Wahrheit nicht immer selbst zu finden, man kann sie von
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andren lernen und an sie glauben. Der Wert der Originalität besteht nicht in der Neuigkeit, sondern in der Aufrichtigkeit. Gläubige Zeitalter sind immer fruchtbar und schöpferisch; da herrscht wahres Königtum, wahre Treue. Alle die neuen Werte wie Freiheit, Gleichheit, Unabhängigkeit, Wahlrecht usw. müssen wir auf längere Zeit als Lösegeld für eine Befreiung hinnehmen; ein letztes Ziel aber kann das nicht bedeuten. Zweifelhafte Päpste und Gläubige ohne Denkfreiheit führen zu Elend und Übeltat. Nur aufrichtige Menschen folgen den echten Helden und helfen dem Guten zu seinem Recht. Luther kam aus dem kleinen Eisleben, aus ärmlichen Verhältnissen, ja aus Not. Carlyle nennt die entscheidenden Daten seiner Entwicklung: die Erweckung durch den Tod des Freundes infolge eines Blitzschlages, den Entschluß sich ganz Gott zu widmen, die Eindrücke in Rom, die Auflehnung gegen den Papst, den Reichstag zu Worms. Der Augenblick, in dem das „Hier stehe ich, ich kann nicht anders; Gott helfe mir!" gesprochen wurde, ist der größte in der ganzen neueren Menschheitsgeschichte. Das Papsttum kann in der alten Macht ebensowenig wiederkehren wie das alte Heidentum. Ein Kampf mußte erfolgen, aber es war ein fruchtbarer Kampf: „Wir hoffen auf einen lebendigen Frieden, nicht auf einen toten." Solange Luther lebte, gab es keinen Religionskrieg — ein Zeichen seiner Größe. Er war tolerant in unwesentlichen Dingen, ihm kam es nur auf das Wesentliche an. Seine Tischreden zeigen uns den schlichten, natürlichen, humorvollen Menschen. Kernig, energisch, plebejisch ist sein Gesicht; in den Augen aber liegt eine stille Sorge. Er war ein großer Mann und zugleich einer der liebenswertesten. Daneben J o h n K n o x . Die fruchtbarste Weiterführung der Reformation ist der englische Puritanismus, in gewissem Sinne die einzige Phase des Protestantismus, die den Rang eines Glaubens erreichte. Denn wie man auch über den Puritanismus denken mag, er war etwas Echtes. Die Fahrt der „Maiblume" nach Amerika war eine Tat, die eins der großen Gedichte des Naturverlaufs hätte abgeben können. In der Geschichte Schottlands gibt es nur eine Epoche von weltweitem Interesse, das ist die Reformation durch Knox. Sie traf auf eine gläubige Nation. Knox erweckte ein totes Volk zum Leben und riß England mit fort. Daraus entsprangen später die glorreiche Revolution, die Habeas-Corpus-Akte, das freie Parlament und so manches andre. Und das alles durch einen armen, stillen, spät entdeckten Mann, auf den das Wort echt wie auf wenige paßt. Er war eng und unbedeutend neben einem Luther, aber an ,sincerity* hat er niemand über sich. Gegen Maria Stuart konnte er nicht anders als streng sein. Man tadelt seine Unduldsamkeit. Was aber ist Toleranz? Sie bedeutet doch wohl Duldung des Nebensächlichen, aber Strenge im Wesentlichen. Knox war nur intolerant, wo es sich um Falschheit und Betrug handelte. Er war keineswegs ein düsterer Fanatiker, vielmehr ein kluger, weltoffener, praktischer Mann, ein echt schottischer Charakter. Sein Ziel war die Errichtung einer Theokratie in Schottland: „Dein Reich komme". Das gleiche wollten alle Propheten und eifernden Priester; Cromwell kämpfte um ein Gottesreich, Mohammed erreichte es. Wie weit solche Ideale verwirklicht werden können, ist die Frage; wir müssen im Leben Abstriche machen, die Erde wird nicht allzu gottähnlich werden. Aber was die Helden-Priester zu bringen haben, das wollen wir preisen. 5. V o r l e s u n g . Der Held als Schriftsteller. Johnson, Rousseau, Bums Der Held als Schriftsteller ist ein Produkt der Neuzeit und die Hauptverkörperung des Heldentums der Zukunft, eine in mancher Beziehung eigenartige Erscheinung. Das Geistige bestimmt stets das Materielle; deshalb muß dieser Typus als die wichtigste moderne Menschenform gelten: echt, inspiriert, in dem inneren Bereich der Dinge lebend wie jeder „Held". Carlyle erinnert an Fichtes Schrift „Über das Wesen
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des Gelehrten", in der auch die Rede ist von der göttlichen Weltidee und dem Priestertum, dem echten Gelehrten im Gegensatz zum Stümper, der bestenfalls ein Handlanger für jenen ist. Die vornehmste Verkörperung des „literarischen Menschen" ist Goethe. Über ihn als den größten würde Carlyle am liebsten sprechen, wenn nicht die geringe Kenntnis, die er bei seinen Zuhörern voraussetzen kann, dies unangebracht erscheinen ließe. Er wählt darum Johnson, Rousseau und Bums, drei Vertreter des 18. Jahrhunderts. Keiner von ihnen hat in dem Kampf um die göttliche Idee die sieghafte letzte Klarheit erreicht, und man kann deshalb nur ihre Gräber aufzeigen. Das aber sind monumentale Gräber, unter denen Geistesriesen ruhen. In der Kunst des Schreibens liegt das Wunderbarste, das Menschengeist ersonnen hat. Bücher, geschriebene Worte, sind eine Spätform der Runen; in ihnen liegt die Seele vergangener Zeiten. Sie vollbringen noch heute die Wunder, die man den Runen andichtete; sie haben das Lehren und seine Stätten, die Universitäten, umgestaltet. Lesen zu lehren ist die Aufgabe aller Schulen von der elementarsten bis zur höchsten. Auch die Wirkung der kirchlichen Arbeit beruht wesentlich auf Druckschriften und Büchern. Die Literatur ist eine Apokalypse der Natur, eine Enthüllung des „offenen Geheimnisses". Die Regierung eines Landes steht auf Geschriebenem und Gedrucktem. Der Name Parlament leitet sich von Reden ab; aber das Buch, die Flugschrift, die Zeitung sorgen dafür, daß die Erörterungen draußen weitergehen und breiter werden. Buchdruck ist Demokratie; die Nation wird regiert von allen, die reden können, und das ist Demokratie. Die Bedeutung des Schriftstellers liegt also auf der Hand. Über eine Organisation des Schrifttums, die einmal kommen muß, will Carlyle nicht sprechen, dazu fühlt er sich nicht zuständig. Staatliche Entlohnung wäre hierbei nicht die Hauptsache. Armut steht dem echten Schriftsteller wohl an und unterscheidet ihn von dem falschen; Geld vermag viel, aber nicht alles, und das Gottesgericht der Armut hat oft Gutes zur Klärung und Auslese beigetragen. Aber es geht um mehr als Geldfragen: es geht die Gesellschaft an, ob sie ihr Licht, nämlich den geistigen Führer, auf einen hohen Platz stellen und wirklich als Führer der Gemeinschaft hinnehmen will. Heute sieht vieles anders aus als ehedem; das Problem einer Schriftstellerorganisation aber besteht. Das 18. Jahrhundert war skeptisch, kein Zeitalter des Glaubens und der Helden; das Heroische wurde verneint, der Gemeinplatz triumphierte, der lebendige Baum Yggdrasil wich einer klappernden Weltmaschine. Was gibt uns die Skepsis? Benthams Lehre ist armseliger als die Mohammeds, so hoch der Mensch Bentham auch stand. Sein roher Dampfmaschinen-Utilitarismus deckte den ,cant' auf und bereitete den Weg für einen neuen Glauben. Wer in der Welt nur einen Mechanismus sieht, verfehlt den Weg zu dem Geheimnis alles Geschehens; nur der Glaube, ein unbeschreibbarer, geheimnisvoller Vorgang, führt zur Ahnung des Mysteriums und des Sinnes. Skepsis ist nicht bloß eine verstandesmäßige, sondern auch eine moralische Krankheit. Wir leben vom Glauben, nicht vom Diskutieren; die skeptische, unwahre Welt muß überwunden werden. Dr. J o h n s o n war eine der großen Verkörperungen der englischen Seele, ein starker und edler Mensch, der unter günstigeren Zeitbedingungen groß hätte werden können — als Dichter, Prophet oder Herrscher. Große Seelen ordnen sich stets in Ehrfurcht dem unter, was über ihnen ist; nur kleine Seelen tun dies nicht. Das Wesen der Originalität ist nicht das Neue; Johnson glaubte an das Alte, aber er war hierin echt, ,sincere'. Er hielt fest an der Form oder Formel, das war sein Wesen. Idole werden, wie bereits früher gesagt, zu Götzen, wenn das Herz des Anbetenden von ihnen nicht mehr erfüllt ist; echte Formen sind die unentbehrlichen Wohnmöbel unsres Inneren. Johnson predigte moralische Sauberkeit, Kampf gegen Heuchelei. Du magst ruhig bei
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unfreundlichem Wetter mit zerrissenen Schuhen im Schmutz stehen, wenn es nur deine eigenen Schuhe sind; nichts Geborgtes, sondern nur Eigenes: das ist ein großes Evangelium. Der Biograph Boswell hatte echte Verehrung für seinen Helden, die tapfere alte Seele, den letzten Römer. R o u s s e a u war kein starker Mann, vielmehr kränklich, reizbar, sprunghaft, ohne ruhige Kraft bei Schwierigkeiten, ohne menschliche Tiefe und Weite, diese ersten Kennzeichen wahrer Größe. Wer unter der schwersten Last gehen kann, ohne zu straucheln, ist stark. Rousseaus Antlitz schon offenbart den kläglich verschrumpften Helden. Ichbezogenheit war sein Hauptfehler. Er verlangte nach Lob und Anerkennung, er konnte Dürftigkeit und Hunger nicht sieghaft überwinden. Und doch vollbrachte dieser Rousseau zu seiner Zeit die Leistung eines Propheten: die Natur hatte sich ihm als die Quelle alles Wahren und Echten erschlossen. Seine Bücher sind ein wenig ungesund wie er selbst, nicht echt poetisch, etwas aufgeputzt wie damals vieles in der französischen Literatur. Er war kein glücklicher Mensch und führte kein glückliches Leben. Aber er vermochte die Welt in Brand zu stecken, die Revolution fand in ihm ihren Evangelisten. R o b e r t Burns dagegen war ein wirklicher Dichter in diesem aus zweiter Hand schöpfenden 18. Jahrhundert. Das Tragische seines Lebens bestand in der Kluft zwischen dem Platz, den er einnahm, und dem, der ihm zukam. Er verbrauchte sich in einem Leben der Dürftigkeit und der harten körperlichen Arbeit. Burns ist die begabteste britische Seele, die wir in seinem Zeitalter hatten, wahr und echt im Leben und Dichten; sein Leben war geradezu tragische Echtheit. Man denke an sein Auftreten in der Edinburger Gesellschaft: er blieb, der er war, inmitten der ihm entgegengebrachten Verhimmelung. Aber seine Bewunderer, die Löwenjäger, waren sein Ruin. Man kam, um ihn zu sehen, man drängte sich um seinen Bauernhof und hinderte ihn am Schaffen. Dabei mußte er zugrunde gehen. 6. V o r l e s u n g . Der Held als König. Cromwell, Napoleon: Moderner Umsturzgeist Königtum ist die letzte Erscheinungsform des Heldentums, Herrschaft über Menschen. Die falsche Ableitung des Wortes König von Könner ist nicht ohne Interesse bei Carlyles Eigenwilligkeit im Umgehen mit den Begriffen. Man hat viel Aufhebens gemacht von dem göttlichen Recht des Königtums; es besteht zu Recht insofern, als alle Autorität, also auch die des Königs, von Gott kommt — oder vom Teufel! Die Welt ist nicht, wie die Aufklärung meinte, eine Dampfmaschine, sondern wird von Gott gelenkt, und in dieser gottgesetzten Ordnung steht auch der König an seinem Platz. ,Loyalty' und ,royaltye sind die höchsten Beziehungen. Die unrichtige Auffassung des göttlichen Rechts beruht auf der Irrlehre von der Selbstsucht als letzter treibender Kraft. Der Beste und Fähigste ist nach göttlichem Recht der Führer, er hat ein Priestertum in sich. Das beständige Suchen nach dem Fähigstem bewegt die neuere Zeit. Die Französische Revolution war nicht ein Beginn, sondern hoffentlich das Ende; der Beginn lag in Luthers Reformation, die dem Papst sein Recht streitig machte. Die Französische Revolution hat trotz aller ihrer Schrecknisse in der neueren Zeit wieder Heroismus und Heldenverehrung heraufgebracht. Die Anbetung der Freiheit und Gleichheit war falsch; aber der Aufstand eines ganzen Volkes brachte Größe in ein mattes Zeitalter. In Revolutionen zu wirken ist tragisch; der große Mann hat hier die Mission, Ordnung zu stiften. England hat seine Bürgerkriege gehabt: die Rosenkriege, die Puritanerkämpfe als Krieg des Glaubens gegen den Unglauben, als Kampf um die Freiheit. Alles echte Menschenwerk erfüllt sich, man mag die Urheber an einen noch so hohen Galgen hängen.
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C r o m w e l l hängt in seinem Vaterland noch am Galgen; er habe, sagt man, die hohe Sache der Freiheit verraten. Diese Auffassung ist falsch und nichts als ein unnatürliches Produkt des 18. Jahrhunderts. Die Puritaner verlangten Freiheit zur Anbetung in ihrer eigenen Form. Es ist unverständlich, wie die Nachwelt Cromwells Absichten verkennen konnte; sein Leben, seine Religiosität sind klare Zeugnisse. Die Enthauptung des Königs war Kriegsrecht: entweder stirbst du oder ich. Die Erfolge des Protektors sind ganz natürlich als das Werk eines ernsten, wahren Streiters. Er war ein Prophet ohne Rednergabe; er lebte still, er war kein Redner für seine Sache, aber er verstand zu predigen! So wurde er ein ausdrucksvoller Redner, weil er ein RJiapsode war. Wenn man ihm Heuchelei und Lüge vorwirft, so ist das eine absurde Verdrehung. Zwei Irrtümer veranlassen die falsche Einschätzung solcher Männer wie Cromwell: a) Man sieht das Ziel ihrer Laufbahn als den Anfang an, man nimmt an, der stille Landwirt habe geplant, Lord-Protektor von England zu werden, sein Leben sei gewissermaßen nach einem Plan verlaufen. Das ist falsch, b) Wir neigen dazu, den Ehrgeiz großer Männer zu übertreiben und die Natur dieses Ehrgeizes zu verkennen. Wer um Ruhm und Anerkennung geizt, ist eine kleine, elende Seele, im Innern hohl. Der große Mann geht von selbst seinen Weg, die Anerkennung kommt von Gott, nicht von seinem Buhlen um sie; er ist der schweigsame große Mensch. Sich selbst zu entfalten ist eine Notwendigkeit für den echten, wahren Menschen, so wie das Kind nach einem schönen Wort Coleridges aus diesem Naturgesetz der Notwendigkeit einer Selbstentfaltung sprechen lernt. Es gibt zwei Arten von Ehrgeiz: die eine tadelnswert, die andre löblich, weil unausweichbar, und diese besaß Cromwell. Nach zwölf Wartejahren regt sich England endlich, das Recht will gehört werden, ein Parlament soll wieder da sein. Cromwell legt den Pflug nieder und spricht für sein Volk. Die Fanatiker-Heuchler-Theorie blieb ihm so wenig erspart wie Mohammed und vielen anderen. Ich will diesen Mann aber nicht Heuchler schelten! ruft Carlyle aus. Es bedurfte damals eines Mannes, die Masse ohne Führer ist machtlos. So erklärt sich die Entlassung des Rumpfparlaments und die Annahme des Protektorats: alle Parlamente hatten ihre Aufgabe verfehlt, es blieb nur der Weg zur Diktatur. Formeln können nicht gelten, wenn die Tatsachen andres verlangen. Schwer trug der Protektor persönlich an der auf ihm ruhenden Last, umschattet war sein Alter, schmachvoll die Behandlung des Leichnams, unwürdig bisher sein Platz in der Geschichte. Hat er nicht viel für uns getan? Laßt den Helden ruhen! Der Puritanismus war der zweite Akt der Reformation. Luther sagte: Die Bibel unsre Richtschnur in der Kirche; Cromwell erweiterte es: in der Kirche und im Staat 1 N a p o l e o n ist der zweite moderne „König"; nicht so groß wie Cromwell, nicht so echt (sincere) wie er. Seine Wurzel liegt nicht wie bei Cromwell in der Bibel, sondern in der skeptischen Enzyklopädie. Und doch hatte er trotz allem Echtes und Wahres in sich: den Instinkt für Realitäten, für Tatsachen. Er sah die neue Ordnung der Revolution als Tatsache, die neue große Demokratie; ihre Losung „Freie Bahn dem Tüchtigen" griff er auf — der Napoleon der ersten Etappe ein echter Demokrat. Demokratie aber kann keine Anarchie zulassen; Napoleon haßte die Anarchie des Pöbels, der der Führung bedarf. So leiteten ihn der Glaube an die Demokratie und der Haß gegen die Anarchie, die Revolution mußte gezügelt werden. Er stieg von Sieg zu Sieg, zum Ersten Konsul, zum Kaiser, zum Beherrscher Europas; er vertauschte auf diesem Wege den Glauben an die Tatsachen mit dem Glauben an Scheinwerte: Verbindung mit der habsburgischen Dynastie, mit alten Feudalaristokraten, deren Unechtheit er früher erkannt hatte, Gründung einer eigenen „Dynastie", falscher Ehrgeiz, Selbsttäuschung, äußerer Glanz. Cromwell lebte aus dem Glauben an Bibel und Schwert; Napoleon glaubte zu sehr an die Verfiührbarkeit der Menschen, er sah nur die Oberfläche. Er trat die Welt nieder, und die Welt empörte sich. So kommen die
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weiteren Stufen: Buchhändler Palm, Tyrannei und Mord, als Gegenwirkung Rachegefühl und Feindschaft, Aufstand Deutschlands, sein Sture. Was von Napoleon bleiben wird, ist das, was er gerecht vollbrachte und was die Natur guthieß; alles andre ist Schall und Rauch. „Freie Bahn dem Tüchtigen" verstummte in der Tyrannei. Sobald er mit den politischen Realitäten brach, war es um ihn geschehen. Er war der letzte große Mann. Das Besondere der Carlyleschen Geschichtsauffassung wird deutlich, wenn man sein Heldenbuch neben die Führenden Geister (Representative Men, 1850J seines amerikanischen Freundes Ralph Waldo Emerson stellt. Plato, Swedenborg, Montaigne, Shakespeare, Napoleon und der erst nachträglich hinzugefügte Goethe werden hier als die großen und typischen Vertreter ihrer Schaffensgebiete behandelt: Plato als Philosoph, Swedenborg als Mystiker, Montaigne als Skeptiker, Shakespeare als Dichter, Napoleon als Mann der Welt, Goethe — zu dessen tiefstem Wesen Emerson freilich keinen Zugang fand — als Schriftsteller. Auch hier waltet die Überzeugung, daß der Glaube an große Männer und ihre Verehrung eine edle Naturanlage des Menschen sind, auch hier wird die geheimnisvolle Wechselwirkung zwischen der inneren Form eines Zeitalters und der einzigartigen Persönlichkeit, die es erfüllt, in glänzenden Analysen aufgezeigt. Aber ein einleitender Aufsatz legt ausdrücklich den „Nutzen" dar, den die Menschheit von ihren Führern hat — Carlyle hatte in seinem Dantebild eine solche Fragestellung weit von sich gewiesen —, und es sind doch eben große Männer, also Menschen mit überragender Anlage, Gesetzgeber für ihre Zeit und für die Welt und nicht wie bei Carlyle Verkörperungen des in seinem irrationalen Wesen unveränderlichen „Helden", Symbole des Ewigen. Gerade dieser Symbolcharakter macht den Kern dieser Geschichtstheorie aus. Das ewige Geheimnis Gottes und der Natur wird durch gotterfüllte Männer in immer vollkommenerer Form zusammengefaßt, und darauf beruht das, was wir Fortschritt in der Geschichte nennen. Diese Männer erschauen und erfühlen das große Geheimnis des Alls, lesen eine bestimmte Seite in dem Buch der Natur und gewinnen dadurch über das normale Menschentum hinaus ihre tiefere Beziehung zu dem All, also zu der Wirklichkeit. Darum ist ihr Leben und Wirken wahr und echt, und diese ,sincerity' ist geradezu der Prüfstein für ihre Größe; die menschliche Seele ist heldisch, wenn ihr dieser Drang zum Wahrsein innewohnt. Alle Helden sind gotttrunkene Menschen und weisen dieselben Züge auf; Gott hat ihnen ihren Auftrag gegeben, sie können sich nicht untreu werden, ihr Leben ist Dienst an ihrem Auftrag. Carlyles berühmte Formel, die Weltgeschichte sei nichts andres als die Geschichte der großen Männer, wird oft genug mit der halbrichtigen Einseitigkeit eines Schlagworts zitiert und der Umwelttheorie, die ihre Wurzeln in der empiristischen Seelenlehre hat, scharf gegenübergestellt. Übersehen wird dabei leicht die Eigenart dieses Heldenbegriffs, die mystische Verankerung des Helden, der von der Gottheit, dem gottähnlichen Menschen, dem Priester zu immer moderneren Erscheinungsformen aufsteigt in der bewegenden Urkraft des Universums, übersehen wird auch oft die irrationale Verbindung mit der Zeit und Gesellschaft. Der Held kann so, wie er erscheint, nur in einem bestimmten Zeitalter, unter einem bestimmten Klima und in einer bestimmten Gesellschaftsordnung auftreten, um seine Wirkung zu üben, sein Wort muß auf fruchtbaren Boden fallen. Gewiß kann er bei der Wahrhaftigkeit seines Wesens sich in weitem Umfang seine Zeit schaffen oder seine Wirkung erst nach seinem Erdenleben ausüben — Religionsstifter, Priester, Denker —, aber er kann sein Zeitalter nicht verändern. Die Gesellschaft ist im letzten Sinne unbegreiflich wie das Leben; sie ist „ein zweites, uns umfassendes Leben", ein Organismus, der sich von einfachen zu komplizierten Formen entwickelt und in dem großen Mann, der zu ihm gehört, sein Symbol für die Verbindung mit dem Unendlichen erzeugt. Darum legt
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der Deuter der Helden überall so großes Gewicht auf die Schilderung der Zeitlage, auf die Aufspürung ihrer Wesensmitte, er bedient sich sogar in Vorwegnahme von Methoden der modernen Charakterologie physiognomischer Hinweise wie bei Dante, Luther, Rousseau. Mit einer überlegenen Gabe der Einfühlung entsteht aus Umwelt und Veranlagung ein Bild Mohammeds, das den Vorurteilen entgegentritt und zum Kern des Menschen vorstößt, mit visionärer Kraft werden die Porträte eines Dante und Shakespeare in ihren irdischen und geistigen Räumen plastisch, mit überraschender Folgerichtigkeit wird selbst eine Erscheinung wie Samuel Johnson — „ultimus Romanorum!" — auf den Sockel der Heroen gestellt. Nicht durch Beweisgründe gewinnt der von dem Ewigen erfüllte Held seine Gefolgschaft, sondern durch die Zeugungskraft seines wahren, intuitiv gewonnenen Weltbildes, das in anderen die gleiche frohe Gewißheit hervorruft. Der Schwache ordnet sich dem Starken unter und verehrt ihn — Heldenverehrung als natürliche Anlage! Nur durch Hingabe an den, der herrschen kann und aus innerem Ruf herrschen muß, entsteht wirkliche Gemeinschaft im politischen, sozialen und im rein geistigen Bereich, und im Sinne dieser sich in immer neuen Formen abspielenden Verknüpfungen ist die Weltgeschichte die Geschichte der großen Männer. Bei dem verehrten Lehrmeister Goethe konnte Carlyle lesen: Das eigentliche, einzige und tiefste Thema der Welt- und Menschengeschichte, dem alle übrigen untergeordnet sind, bleibt der Konflikt des Unglaubens und Glaubens. Alle Epochen, in welchen der Glaube herrscht, unter welcher Gestalt er auch wolle, sind glänzend, herzerhebend und fruchtbar für Mitwelt und Nachwelt. Alle Epochen dagegen, in welchen der Unglaube, in welcher Form es sei, einen kümmerlichen Sieg behauptet, auch wenn sie einen Augenblick mit einem Scheinglanze prahlen sollten, verschwinden vor der Nachwelt, weil sich niemand gern mit Erkenntnis des Unfruchtbaren abquälen mag. (Noten und Abhandlungen zum Westöstlichen Diwan.) Goethe gab auch hier wie für die Naturphilosophie und für den Darwinschen Umbruch in der Entwicklungslehre den mächtigen Anstoß zu einer anti-mechanischen Auffassung. Von stärkerem unmittelbarem Einfluß aber ist unter den Wortführern des deutschen Idealismus Fichte, namentlich mit seinen „Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters" und ihrem die Weltgeschichte bewegenden Kampf zwischen Vernunft und Verstand, ihren fünf Hauptepochen dieses Kampfes, die bei Carlyle als positive und negative Zeitalter unterschieden werden nach dem Glauben, der in ihnen lebt. Die absolute Vernunft Fichtes ist für Carlyle das Ewige, das in sich wandelnde Symbole gefaßt wird, die eigentliche Substanz des „Helden". Er faßt den Begriff des Glaubens weiter als der gewöhnliche Sprachgebrauch; der Glaube ist die Summe aller Formen der Hingabe, er umgreift die Familiengefühle ebenso wie die religiösen, er ist das Absolute und Wahre, die „Tatsache der Tatsachen", die subjektive Entsprechung der äußeren Geschichte, die bewegende Kraft, durch die Geschichte erst möglich wird. Der beständige Kampf zwischen den Vorstellungen des Glaubens und dem fortschreitenden empirischen Wissen vernichtet einen Glaubenssatz nach dem andern, „entheiligt die Symbole", zerstört aber nur die vergänglichen Erscheinungen, nicht den unvergänglichen Kern, der sich immer neue Symbole schafft und damit immer auflebt. Das gesellschaftliche Dasein der Menschen lebt nur aus dem Glauben. Aus ihm heraus handelt der Held, und aus ihm erwachsen ihm bei den übrigen Menschen Heldenverehrung und Gefolgschaft. Negative Zeiten wie die leidenschaftlich bekämpfte Aufklärung erhöhen den Verstand, der nur das „Licht der Welt" ist; die positiven haben den lebendigen Glauben, der alles Handeln über die individualistische Beschränkung zum tiefinnerlichen gefühlten Wirken für die Art erhebt, zu Opfer und Entsagung, ohne die alle Errungenschaften der Menschheit nicht möglich gewesen
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wären, zur „Arbeit". Arbeiten ist beten — „laborare est orare", wie die alten Mönche sagten. Das ist die hohe Botschaft, die Carlyle der Nützlichkeitsphilosophie seiner Zeit, der lediglich rechnenden Nationalökonomie, den nur auf die äußeren Lebensbedingungen gerichteten Lösungen der sozialen Probleme, allem Mechanischen, dem Unglauben entgegenzustellen hat. Diese Botschaft erfüllt seine großen historischen Werke und seine sozialpolitischen Schriften, am glühendsten die prachtvolle Gegenüberstellung des in der Selbstverständlichkeit des Glaubens ruhenden Mittelalters und der Unsicherheit einer zerrissenen Gegenwart in „Einst und Jetzt". Reformiere dich selbst, das ist besser als alles Reformieren der äußeren Einrichtungen, suche den Glauben, der dich mit der ewigen Idee verknüpft 1 Carlyle hat kein Rezept für praktische soziale Reformen bereit; aber er predigt soziale Gesinnung, er will das Gewissen seiner Zeit wachrufen, den echten Glauben an die Stelle des Scheinglaubens setzen, Hingabe und Dienst an die Stelle von Egoismus und Individualismus, Ehrfurcht an die Stelle der Skepsis. In den Dienst dieser Aufgabe stellt er sein altpuritanisches Eiferertum, seinen turbulenten Stil, der ganz rednerisch ist, sich vom Pathos fortreißen läßt, nicht geschmeidig, sondern stoßweise fortrauschend wie ein schmaler Gebirgsbach, der durch Felsstücke gehemmt ist, um sich dann um so rascher zu ergießen, mit Häufungen, eigenwilligen Wortbildungen, Großschreibungen und Ausrufungszeichen. Das alles ist Pathos, das sich vom Gegenstand fortreißen läßt, Ergriffenheit, die von dem innen geschauten Bild nicht los kann, Predigertum, das nicht sachlich zu überzeugen, sondern oratorisch zu überreden bestrebt ist. Eine starke Persönlichkeit spricht sich ungestüm aus, ein Mann, der sittliche Normen in sich trägt, der aus der Haut fahren kann. Selten ist der Stil in solchem Maße der Mensch selber gewesen, ein eigenwilliger, energiegeladener Mensch, eine knorrige Eiche, aber eben doch eine Eiche. So ganz persönlich ist auch seine Lehre. Sie ist nicht eine Philosophie irgendwie systematischer Art, deren erkenntnistheoretischen Unterbau man kritisch betrachten könnte, sondern Werturteil über den Sinn des Daseins und den Zweck des menschlichen Strebens und Handelns, persönliche Überzeugung, die man nur annehmen oder ablehnen kann. Sein umfangreiches Gesamtwerk berührt die Dichtung, Politik, Soziallehre, Geschichts- und Naturphilosophie, Geschichtsschreibung, Tagesfragen, sein bürgerliches Leben ist der Kampf eines kränklichen, von Sorgen verfolgten, aber fest in seiner sittlichen Überzeugung stehenden Mannes gegen eine mechanisierte Zeit und gegen Mammonismus, sein ganzes Wesen ein Spiegelbild einer widerspruchsvollen Epoche. Als der Siebzigjährige die Kanzlerschaft der Edinburger Universität mit einer aus der Fülle eines großen Herzens kommenden Rede übernahm, brachte ihm das ehrfurchtsvolle Schweigen der ergriffenen Jugend die höchste Ehre, bei seinem achtzigsten Geburtstag durchzitterte Begeisterung das ganze Land, und John Ruskin war derjenige, der seinen Ruhm am nachdrücklichsten verkündete. Aber er blieb ein Einsamer in dem Geist des viktorianischen Zeitalters, der Prediger einer hohen Lehre, der die geistige Welt an ihre Verpflichtung mahnte, der selbst keine praktischen Lösungen zu geben hatte, aber den Boden für eine bessere Zeit urbar machte, nach Goethes schon zitiertem Wort eine moralische Macht von großer Bedeutung. Für uns kann der große Freund Deutschlands immer noch oder gerade jetzt wieder der Mahner sein, die Kraft zum Sieg über die Widerwärtigkeiten des Daseins aus dem Glauben an die ewige Vernunft und dem Segen rechtschaffener Arbeit zu schöpfen und das soziale Gewissen durch Rückkehr zum deutschen Idealismus zu stärken. „Es liegt immerwährender Adel, ja Heiligkeit in der Arbeit . . . Alle wahre Arbeit ist Religion."
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J o h n R u s k i n s soziale B o t s c h a f t : Diesem Letzten Im Anhang zu dem dritten Band seiner „Modernen Maler" bekennt John Ruskin (1819—1900), seine Arbeit spiele sich so stark in der freien Natur und zwischen Bildern ab, daß er in neuen Büchern wenig belesen sei, daß die Gedanken der Schriftsteller, die er liebe, so stark in sein eigenes Fühlen eingegangen seien, daß er sie nicht im einzelnen abtrennen könne, und daß sie zu der Originalität seines Gedankenauf baus gehörten. Von älteren Größen seien es Dante und George Herbert, von den neueren Words worth, Carlyle und der Essayist Helps, denen er am meisten verdanke, allen voran Carlyle, den er immer wieder lese, dessen starkes Denken andre unwillkürlich in seinen Bann schlagen müsse, wie es auf dem Gebiet des für die breiten Massen berechneten Schrifttums mit Dickens, seiner Ironie und seinem Humor, der Fall sei. Damit ist der geistige Raum angedeutet, in dem das Werk dieses beredten zweiten Kämpfers gegen Ungeist und Seelenlosigkeit eines von der Maschine und einer Nützlichkeitsmoral beherrschten Zeitalters steht. Er ist ebenso wie Carlyle ein Herold der göttlichen Gerechtigkeit auf Erden, ebenso religiös-ethisch bestimmt. Was aber bei dem schottischen Puritaner im philosophischen Idealismus wurzelt, erwächst bei Ruskin aus der Sehnsucht nach dem Schönen. Schönheit in der Natur, in der Kunst, in der Arbeit des Alltags, im Zusammenleben der Menschen. Das Ästhetische ist Ausgangspunkt und tragendes Gerüst des gewaltigen, weitverzweigten Lebenswerks dieses warmherzigen, zartbesaiteten, dabei aber stürmischen Weltverbesserers und Predigers in der Wüste, der als Sohn aus reichem Hause sein ganzes Leben der eigenen Bildung und dem Schaffen und Wirken in dem Reich der sich entfaltenden Gedanken widmen konnte. Er ist mehr als der laute Eiferer Carlyle ein philosophischer Kopf, mehr Systematiker, aber nicht englischer Empirist, sondern deduktiv fortschreitend von einer metaphysischen Voraussetzung aus; er ist Idealist, dem jeder Materialismus Verfallserscheinung bedeutet, Anwalt der Enterbten in seiner Ästhetik wie in seiner sozialpolitischen Lehre. Für Carlyle ist die Arbeit etwas Heiliges; für Ruskin muß sie zu dem großen Reich des Schönen gehören, das das Moralische und Religiöse zusammenschließt. Schon sein erstes großes Werk, die „Modernen Maler" behandelnd, ist von diesen Grundsätzen getragen. Es erweitert sich von einer Verteidigung der vielfach angefeindeten Kunst des Malers Turner zu einer Rechtfertigung der Naturwahrheit in der Kunst und zu einer Analyse des Naturgefühls und seines Einflusses auf das menschliche Empfinden. Die Winde und Wolken, die Berge, das Meer und der Himmel über ihnen werden mit einem elementaren Naturgefühl erfaßt und mit begeisterter Liebe in hinreißender Sprache dargestellt. Turner hat mit tiefinnerlicher Vision die Naturwahrheit erfaßt und den Erscheinungen gegenüber Treue gewahrt. So wird die Kunst Weltanschauung. Aus dieser Überzeugung wird Ruskin in Briefen an die „Times" zu dem mächtigsten Fürsprecher der jungen präraffaelitischen Maler schule gegenüber der Verständnislosigkeit des Publikums. Die sieben goldenen Leuchter aus dem ersten Kapitel der Offenbarung Sankt Johannis geben das Symbol ab für die „Sieben Leuchter der Architektur", die da sind: Opferwilligkeit, Wahrheit, Macht, Schönheit, Leben, Erinnerung, Gehorsam. Sie sind die heiligen Grundsätze der Baukunst, auf ihnen beruht ihre edle Form und ihre die Schaffenden veredelnde Wirkung. In diesem Werk und besonders in den umfangreichen „Steinen von Venedig" kommt die innerliche Verbindung von Schönheits-, Sitten- und Gesellschaftslehre am klarsten zum Ausdruck, veranschaulicht an einer Fülle beigegebener Zeichnungen aus der Formensprache der Baukunst. Ruskin lehnt die Renaissancekunst als eine künstliche Wiederbelebung erstarrter Formen und damit als Unnatur und Konvention ab. Ihr gegenüber bedeuten der Aufstieg, die Größe und der Verfall der Gotik in enger Verbindung mit dem Werden der Gesellschaft und des Staates Leben und Gefühl, Kultus des Schönen
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als einen der Wege zur Anbetung der Gottheit. Das gibt den Leitgedanken der „Steine von Venedig" ab, und das berühmte VI. Kapitel über die Natur der Gotik enthält den Schlüssel zu der ästhetisch-ethischen Weltanschauung des Verfassers und die Beispiellosigkeit ihrer Wirkung. Künstler und Handwerker sind nicht Werkzeuge, sondern fühlende Menschen. Die spezialisierte und verfeinerte Maschine vermag wohl das einzelne Teilchen genauer herzustellen als die alten Handwerker, die bei den von verschiedenen Mitarbeitern beigesteuerten Steinen, Gesimsen, Fenstern Ungleichheiten lieferten. Aber gerade diese Ungleichheiten waren ein Zeugnis der Seele, die mitschaffen half; der unbedeutendste Helfer war erfüllt von der Idee der Grundkonzeption und suchte sein Teilchen aus ihr zu gestalten. Die Idee war das gemeinschaftbildende Band, das die ganze Stadt umschlang, die Idee ergriff den Geist und die Seele, sie brachte Freude über das Gelingen und die beste aller Freiheiten, die Freiheit von Sorge, sie humanisierte das Werk, sie ließ keine Trennung der Klassen aufkommen, weil alle von dem genialen Schöpfer des künstlerischen Gedankens bis zu dem bescheidensten Hersteller eines Torbogens oder Stuhles in diesem Gedanken geeint waren. Gewiß ist die Arbeitsteilung — Adam Smiths Stecknadelbeispiel aus dem Eingang seines Hauptwerks wird herangezogen — rationell und darum wertvoll; aber der Sand, mit dem die Stecknadelspitze geschärft wird, ist ein Sand, der der menschlichen Seele verlorengeht, und das ist Verlust trotz alles rein ökonomischen Gewinns. Handarbeit ist nur dann minderwertig, wenn Geist und Seele nicht mitwirken; wenn der Maler seine Farben selbst herstellt, der Baumeister mit dem Maurer zusammenarbeitet, der Werkmeister seinen Rang nur der größeren Geschicklichkeit verdankt, schwinden Überheblichkeit und Klassenunterschiede. Arbeit der Menschenhand ist unvollkommen; aber das Wesen wahrer Kunst ist immer Unvollkommenheit, ein Nichtfertigwerden mit dem Ideal, eine unerfüllte Sehnsucht, und das Zusammenklingen von Einförmigkeit und Wechsel, wie ihn das gotische Bauwerk zeigt, ist die Unruhe des Lebens und der strebenden Seele, ein Aufwärtsstreben, wie es in dem Spitzbogen versinnbildlicht ist. Ein Gedicht oder ein Bild ist meist nur die schwache Äußerung der Hingabe des einzelnen an ein Gefühl; ein großes Bauwerk aber ist Gemeinschaftsausdruck, eine Vereinigung praktischer Erfordernisse mit einem die Gemeinschaft umfassenden Lebensgefühl, eine Bändigung dieses Gefühls durch das Material und das Ineinklangbringen der vielen Mitwirkenden und damit seine Reinigung und Erhöhung. Die Geschichte der gotischen Stilformen spiegelt die Entwicklung der christlichen Lehre ebenso wider wie die Entwicklung der Gesellschaft und des Staates. „Die Kunst eines Landes", sagte Ruskin einmal in seinen Oxforder Vorlesungen, „ist die Summe seiner gesellschaftlichen und politischen Tugenden." Einzelheiten der kunsttheoretischen Anschauungen Ruskins sind wiederholt bestritten und widerlegt worden, indem man die ethische Deutung des Ästhetischen angegriffen hat. Sie ist aber für ihn und die von ihm ausgehende Neuschöpfung der Kunstkritik das Entscheidende. Er geht nicht von dem Eindruck auf den empfangenden Betrachter aus, sondern von dem Wollen des Werkgestalters und dem sittlichen Einfluß seiner Arbeit auf ihn selbst, er sucht das Menschliche im Werk. Kunst ist nicht eine Sache der vollendeten Technik, sondern eine Angelegenheit des menschlichen Wollens und Sehnens. Sie ist lebendig, wenn sie mit dem Leben eins ist; sie stirbt ab, wenn sie abgetrennt ist von dem Leben der Nation. Lebendig in diesem Sinne war die Gotik, starr und unfruchtbar die Baukunst der Renaissance mit ihrer Anbetung längst gestorbener Götter und der Raumgestaltung einer Zeit, die kein Volk, sondern nur Vornehme und Sklaven kannte. Kunst und Leben sind untrennbar, sie sind das Volk und die Nation. Zwei Grundzüge des englischen Wesens werden in diesen aus dem rein ästhetischen Bereich heraustretenden Anschauungen angerührt, das religiöse und das Nationalgefühl. So gelangen wir hier auf andrem Wege als bei
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Carlyle zu demselben Ergebnis: einem Preis der Zeitalter des Glaubens und einem neuen Verständnis des Mittelalters. Es ist eine soziale Ästhetik, die hier in farbenreicher, packender Sprache vorgetragen wird. In dem Denken des Verfassers erwächst daraus mit größter Folgerichtigkeit eine ästhetische Gesellschaftslehre, der die späteren Werke gewidmet sind; die wirtschaftlichen Fragen drängen sich in der Zeit der schlimmen Auswirkungen der industriellen Revolution und der neuen volkswirtschaftlichen Lehren in den Vordergrund. Er studierte die umfangreiche Literatur, die die englische Nationalökonomie von Adam Smith bis John Stuart Mill aufgestapelt hatte, er wurde von der christlichsozialen Bewegung eines Denison Maurice und Charles Kingsley ergriffen, er unterrichtete selbst Arbeiter im Zeichnen, er hielt Vorträge und schrieb Zeitschriftenaufsätze über volkswirtschaftliche Gegenstände, die er in Sammelbänden veröffentlichte. Die grundlegende Darstellung seiner Ansichten und eine scharfe Kampfansage an die moderne Wirtschaftsordnung bringen vier Aufsätze, die im Jahre 1860 unter dem Titel Diesem Letzten (Unto this Last) erschienen. In einem Wort des Heilands aus dem Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Evangelium Matthäi, Kap. 20) ist der seltsame Titel beziehungsvoll versteckt. Der Hausvater gibt jedem Arbeiter seinen Groschen, auch denen, die erst in der elften Stunde begonnen hatten. Diejenigen, die bereits am Morgen ihre Arbeit angefangen hatten, murrten über die gleichmäßige Entlohnung. Der Hausvater antwortete einem von ihnen: „Mein Freund, ich tue dir nicht unrecht. Bist du nicht mit mir eins geworden um einen Groschen? Nimm, was dein ist, und gehe hin! Ich will aber diesem Letzten geben gleichwie dir." In der Vorrede nennt der Verfasser diese Schrift das Beste und Nützlichste, das er je geschrieben habe. Er will zunächst eine feste Definition des Reichtums geben und dann untersuchen, unter welchen sittlichen Voraussetzungen der Gesellschaft der Erwerb von Reichtum möglich ist, wobei sich die Organisation der Arbeit von selbst ergeben wird. Vier Forderungen auf Grund der sittlichen Voraussetzungen werden gleich zu Beginn erhoben: a) Die Gründung von Staatsschulen; b) Fabriken und Werkstätten unter staatlicher Lenkung; c) die Einweisung unbeschäftigter Männer, Frauen und Kinder in Staatsschulen zur Erprobung und Ausbildung ihrer Fähigkeiten; d) eine ehrenvolle Staatspension für alte und verbrauchte Menschen. I. Aufsatz. Die Wurzeln der Ehre 1. Die sogenannte neue Wissenschaft der Nationalökonomie übersieht, daß ein Maßstab des sozialen Handelns eine soziale Gesinnung (social affection) voraussetzt. 2. Naturwissenschaftliche Vorgänge kann man verschiedenen Kräftewirkungen unterwerfen, also etwa in Ruhe oder Bewegung betrachten. Der Mensch als gesellschaftliches Wesen aber ändert sich in seiner ganzen Art, sobald neue Kräfte auf ihn einwirken. 4. Das erste Problem jeder Volkswirtschaft liegt deshalb in dem Verhältnis zwischen Unternehmer und Arbeiter. Da wird schon der Unterschied sichtbar, denn jede der beiden Parteien sieht dies Problem von seinem Gesichtswinkel aus, also anders. 6. Es kann nicht bewiesen werden, daß die Interessen von Unternehmern und Arbeitern die gleichen oder entgegengesetzte sind; sie können vielmehr je nach den Umständen das eine oder andre sein. 7. Darum ist jeder Versuch vergeblich, Regeln für das Verhalten aus dem gewünschten Wirkungsergebnis abzuleiten. 8—9. Als Beispiel werden Hausangestellte genannt. Volkswirtschaftlich gesehen, kann der Herr so viel Arbeit wie möglich bei geringem Lohn herauspressen, bis der
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Angestellte eine bessere Stelle findet; der Marktpreis ergibt sich aus Angebot und Nachfrage. In Wirklichkeit liegen die Dinge aber anders; die Arbeitsleistung steigt bei freundlicher Behandlung, das Seelische spielt eine große Rolle. 10. Ein nichtegoistisches Verhalten bringt also größeren Gewinn, Freundlichkeit erzeugt Dankbarkeit, wie die Predigt eines Dickens immer wieder sagt. 1 1 . Ein weiteres Beispiel liefert das Verhältnis eines Regimentskommandeurs zu seinen Soldaten. Auch hier weckt das persönliche Verhältnis Werte und Kräfte. 12. Anders liegt es bei Arbeitern in der freien Wirtschaft, bei denen nicht so leicht Begeisterung und Einsatzwille für den Führer, sondern eher Abneigung zu erwarten ist. Kann der Lohn nach der Marktlage verschieden sein? Können die Arbeiter bei einer solchen Lohngestaltung zum Interesse an dem Werk, zum Korpsgeist erzogen werden? 13. Zunächst die Frage, ob eine feste Lohnskala ohne Rücksicht auf die Nachfrage nach Arbeit denkbar ist. In Wahrheit bestehen bereits feste Entlohnungen, etwa bei den Gehältern der Minister, der Bischöfe oder ähnlicher Stellungen. 14. Wird also gute und schlechte Leistung gleich bezahlt? Jawohl, wie die genannten Beispiele zeigen. Man lasse aber den guten Arbeiter bleiben und den schlechten unbeschäftigt sein; das wirkt sich besser aus als eine halbe Bezahlung für alle. 15. Wie kann man eine bleibende Zahl von Arbeitern in einem Werk sichern, auch wenn die Produkte nicht mit der gleichen Regelmäßigkeit verlangt werden? In der Praxis sind die Löhne da höher, wo die Arbeit zu gewissen Zeiten nach der Konjunkturlage unterbrochen wird. 16. In der freien Wirtschaft spielt der Unternehmer mit Risiko und Gewinn, und der Arbeiter hat lieber drei Tage mit schwerer Arbeit bei höherem Lohn und drei Tage Nichtstun und Trunkenheit. Besser aber ist es, wenn der Unternehmer sein Lotteriespiel mildert und bei geringerem Lohn sechs Tage in fester Arbeit ansetzt. 17. Leute, die sich zu Gewalttaten vereinigen — Soldaten, Räuberbanden —, haben mehr Gemeinschaftssinn und Opferbereitschaft als die, die zu friedlicher Warenerzeugung verbunden sind. Das natürliche Gefühl ehrt den Soldaten mehr, und zwar mit Recht; denn des Soldaten Los ist nicht, zu töten, sondern getötet zu werden, und dafür wird er geehrt. 18. Auch der Richter und der Arzt setzen ihre Persönlichkeit ein, komme was mag, ebenso der zu Selbstlosigkeit und Dienst verpflichtete Geistliche. Darum werden sie geachtet. 19. Geringere Achtung genießt der Kaufmann, von dem man annimmt, daß er immer egoistischen Antrieben folge; der Käufer will den Preis drücken, der Verkäufer will betrügen. 20. So wäre der ganze Ablauf nach der volkswirtschaftlichen Lehre. Der wahre Kaufmann aber muß die Selbstsucht unterdrücken und gelegentliche Verluste hinnehmen. 21. Die Grundsätze für das Berufsziel des Soldaten, Geistlichen, Arztes, Rechtsdieners und Kaufmanns werden knapp formuliert. 22. Der Kaufmann arbeitet nicht nir den eigenen Vorteil, sondern für sein Volk; er hat wie alle anderen ohne Rücksicht auf Entgelt tätig zu sein, er wird Führer seiner Leute genau wie der Offizier oder Geistliche. 23. Er ist verpflichtet, seine letzte Kraft für sein Geschäft herzugeben, so wie Offizier und Arzt ihr Leben einzusetzen haben. 24. Auf diese Weise erringt er Verantwortlichkeit und Autorität wie ein Vater. Er muß mit seinen Leuten leiden können, um ihr Gefühl zu gewinnen. 25. Das alles klingt vielleicht verwunderlich, muß aber als Idealforderung aufgestellt werden. Die kalten volkswirtschaftlichen Rechenmethoden führen zu nationaler Auflösung.
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II. A u f s a t z . Die Adern des Reichtums 26. Die Volkswirtschaftslehre geht lediglich von der Frage aus: wie wird man reich? 27. Was heißt aber reich? Es ist ein relativer Begriff. Wenn ich ein Goldstück in der Tasche habe, stellt es nur dann einen Wert dar, wenn ein andrer ein Goldstück braucht. Man muß aber eine nationale oder politische und eine merkantile Wirtschaft unterscheiden. 28. Eine nationale oder Volkswirtschaft bedeutet die Erzeugung, Erhaltung und Verteilung der Güter nach den durch Zeit und Ort gegebenen Bedürfnissen. Die merkantile Wirtschaft dagegen will die Anhäufung in der Hand einzelner und den Anspruch auf Herrschaft über die Arbeit andrer; sie bedeutet also nicht unmittelbar eine Vermehrung des Staatseigentums oder Staatswohlstandes. 29. Dem einzelnen nützt die Anhäufung von Realbesitz nur, wenn er die Arbeit kommandieren kann und Arbeiter findet; andernfalls zerfällt sein ganzer Besitz. 30. Also ist Reichtum verknüpft mit Macht über Menschen. Diese Macht erfordert aber, daß andre Menschen weniger besitzen, ärmer sind. Sie bedeutet also das Streben nach größter Ungleichheit zum eigenen Vorteil. 31. Die Wohltat einer solchen Ungleichheit hängt von der Art ab, wie sie herbeigeführt wird, weiterhin von dem Ziel, dem sie dient. Ungerecht erzeugte Ungleichheit und unrechte Ziele schädigen die Gesamtheit, gerechte fördern sie. 32. So gleicht der Umlauf des Reichtums in einer Nation dem Blutumlauf im Körper. Dieser wird wohltätig, wenn er heiterer Erregung oder gesunder Anstrengung entspringt, nachteilig aber als Ergebnis einer Schande oder eines Fiebers. 33. Nehmen wir an, zwei Seeleute werden an eine einsame Insel verschlagen. Solange sie gesund bleiben, können sie gemeinsam ein Haus bauen und das Land bestellen, also ihren Wohlstand fördern. Ihre Wirtschaft besteht nur in der gerechten Einteilung des gemeinschaftlichen Besitzes. Wird aber der eine krank und arbeitsunfähig, so muß, falls der Wohlstand erhalten bleiben soll, der andre Mehrarbeit für ihn leisten und sich eine Verpflichtung für spätere Gegenleistung geben lassen. 34. Nun kann aber die Minderung der Arbeitsfähigkeit des einen jahrelang dauern, so daß er für lange Zeit für seinen Lebensunterhalt auf den andern angewiesen ist. Soll dann der andre, wenn jener wieder arbeiten kann, die gleiche Zeit lang müßig sein und den Gefährten für die Dauer der gegebenen Verpflichtung allein arbeiten lassen? 35. Inzwischen ist also der eine im kaufmännischen Sinne reich, der andre arm geworden. Der Anspruch auf die Arbeit des Verarmten bringt hiernach eine Minderung des Gesamtbesitzes mit sich, also des tatsächlichen Wertvorrates. 36. Ein andres Beispiel: drei Männer in einem isolierten Gemeinwesen. Einer bearbeitet hier ein Stück Land, der andre, entfernt davon, ein zweites, der dritte vermittelt den Güteraustausch zwischen beiden. Wenn dieser dritte immer das bringt, was die andern brauchen, geht alles gut voran. Behält er aber seine Ware für sich und gibt sie erst ab, sobald die andern in äußerster Not sind, so erhöht er ihren Marktwert zum eigenen Vorteil und macht die andern von sich abhängig, wird also Herr über sie. 37. Das wäre dann Wohlstandsbildung nach wirtschaftswissenschaftlicher, rein kommerziell gesehener Lehre. Der gemeinschaftliche Wohlstand leidet dabei. Das ganze Thema wird zu einer Frage der absoluten Gerechtigkeit, der Realwert hängt von der Moral ab. Man sagt: kaufe auf dem billigsten und verkaufe auf dem teuersten Markt. Was aber macht den einen Markt billig, den andern teuer? Nach einem Hausbrand mag Holzkohle billig, nach einem Erdbeben mögen es Bausteine sein. Wäre eine in dieser Weise auf Zufälligkeiten abgestellte Preisgestaltung gerecht? 39. Wir sahen schon, daß die Bedeutung des Geldes in der Verleihung von Macht über Menschen besteht. Solche Macht ist aber auch auf andre Weise zu erlangen. Ich 26 Die Stimmen der Meister
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kann andern Menschen auch ohne GelcPFreuden verschaffen, moralische Eigenschaften können auch Geldwert haben. Dies unsichtbare Gold meines Innern kann unter Umständen mehr wirken als wirkliches. Der Wert des äußeren Besitzes hängt von dem Wohlbefinden derer ab, die mir dienen. 40. Je edler die von mir abhängigen Menschen sind und je größer ihre Zahl ist, also die Zahl derer, über die ich Macht habe, um so reicher bin ich, auch wenn dieser Reichtum nicht in dem äußeren Glanz des Goldes zum Ausdruck kommt. Der letzte Sinn des Reichtums ist demnach die Schaffung einer möglichst großen Zahl glückstrahlender menschlicher Wesen. 41. Man kann sich eine Zeit denken, in der England den materiellen Reichtum den barbarischen Völkern überlassen wird, in deren Mitte er gewachsen ist, und als christliche Mutter die Menschen, seine Söhne, vorzeigen wird: das sind unsre Juwelen! I I I . A u f s a t z . Qui Judicatis Terram In Dantes Paradies (Gesang XVIII, Vers 91) bilden die Seelen derer, die ein Leben im Sonnenlicht der Gerechtigkeit geführt haben, am Himmel eine Sterneninschrift nach dem Wort aus der Weisheit Salomos (Vers 1): „Diligite justitiam qui judicatis terram", „Habt Gerechtigkeit lieb, ihr Regenten auf Erden 1" 42—44. Hinweis auf eine Reihe von Handelsgrundsätzen, die ein jüdischer Kaufmann der Goldküste ein paar Jahrhunderte vor Christi Geburt aufgestellt hat und die wir noch besitzen: Schätze aus Unrecht gedeihen nicht, aber Gerechtigkeit überwindet den Tod; beraube nicht den Armen, weil er arm ist; reich und arm begegnen sich, das ist ein von Gott verordnetes Weltgesetz — wie die Strömung des Flusses zum Meere drängt, fügt Ruskin hinzu. 45. Das letzte Bild paßt auf den Besitz: er geht dahin, wo er gebraucht wird, niemand kann den Strom aufhalten. Wohl kann man ihn ablenken zur Bewässerung wertvollen Bodens und zur Urbarmachung von Wüsten; wenn man ihm aber freien Lauf läßt, wird er oft das Wasser für die Wurzeln des Bösen. Und dieses freie Strömen — laissez faire — nennt die Nationalökonomie ihre „Wissenschaft" des Reichwerdens! Man kann ja auch noch anders reich werden; das Mittelalter machte es vielleicht mit der Ermordung eines Reichen, die Heutigen mit Nahrungsmittelfälschung. 46. Was gesetzlich erlaubt sein mag, ist nicht immer recht (,legal' im Gegensatz zu ,just'). Auf das Rechtsein aber kommt es an, recht im göttlichen, nicht menschlichen Gesetz. Darum Dantes Himmelsinschrift: „Diligite justitiam qui judicatis terram". 47. Absolute Gerechtigkeit ist dem Menschen nicht erreichbar; der rechtschaffene Mensch jedoch strebt beständig nach ihr. 48. Die abstrakte Idee der gerechten Entlohnung verlangt eine Summe, die der geleisteten Arbeit voll entspricht und eher etwas höher als geringer sein darf. 49. Die geleistete Arbeit ist Spezialarbeit und deshalb schwer auf allgemeine Wertnormen zu bringen. Aber es ist immer noch leichter, mit wissenschaftlichen Methoden zu ermitteln, was die Leistung wert ist, als abzuwarten, welchen Preis der Arbeitende unter dem Zwang einer Not fordern wird. 50. Der ungerechte Käufer drückt den Preis durch Ausspielen der Konkurrenz; er geht zu dem, der das Wenigste verlangt. Der gerechte Käufer zahlt angemessen. 52. Der gerechte Preis mindert die Macht des Reichtums. Der Unternehmer kann nicht so viel für den eigenen Luxus verwenden und nicht beliebig viele Leute zum eigenen Vorteil anstellen; die schlimmsten Schäden der Armut werden vermieden. 53. Das Schicksal der Armen hängt immer in erster Linie von der Frage des angemessenen Lohnes ab. Ihre Not wird durch die Kräfte der Unterdrückung und des Wettbewerbs verursacht. Eine Übervölkerung der Welt ist auf Zeitalter hin noch nicht
John Ruskin: Diesem Letzten
zu befürchten; aber eine Übervölkerung einzelner Orte entsteht unter dem Druck des Wettbewerbs. Dadurch kann der Unternehmer die Arbeit unterbezahlen und nicht nur seine Leute, sondern im Grunde viel mehr noch sich selbst schwer schädigen. 54. Ruskin betont, er habe immer die Unmöglichkeit allgemeiner Gleichheit und die ewige Überlegenheit einiger Menschen über die andern verfochten. E r führt einen Satz aus dem letzten Band der „Modernen Maler" an: „Regierung und Zusammenarbeit sind die Gesetze des Lebens, Anarchie und Konkurrenz die Gesetze des Todes". Der Reiche hat keinen Anspruch auf das Eigentum des Armen. 5 5. Nichts in der Geschichte hat den menschlichen Geist so niedrig erscheinen lassen wie die allgemeine Aufnahme der volkswirtschaftlichen Lehren. Es gibt kein früheres Beispiel dafür, daß ein Volk so systematisch den Grundsätzen seiner Religion entgegengearbeitet hat. Die Heilige Schrift verdammt den Mammonsdienst und verheißt den Reichen Leid, den Armen Segen. I V . A u f s a t z . Ad Valorem 56. Wir sahen, daß gerechte Arbeitsentlohnung in einer Geldsumme besteht, die den Erwerb einer der bezahlten ungefähr gleichwertigen Arbeitsleistung gewährleistet. Nun müssen die Mittel untersucht werden, die ein solches Gleichgewicht sichern. Hierzu gehört eine Definition der Begriffe Wert, Reichtum, Preis, Arbeitsleistung. Der letzte Begriff scheint der verständlichste zu sein, ist aber in Wahrheit der unsicherste, wenn man an die „unproduktive" Arbeit denkt. 58. Es wird auf Ungenauigkeiten in J . St. Mills nationalökonomischem Hauptwerk bei der Anwendung des Ausdrucks „unproduktiv" hingewiesen. 59. Mill hat auf jeden Fall das Verdienst, moralische Überlegungen in das wirtschaftliche Denken einbezogen zu haben. Unzulänglich und unscharf ist sein Begriff der „nützlichen" Gegenstände. 59. Der ökonomische Nutzen einer Sache hängt nicht bloß von ihrem Wesen ab, sondern auch von der Zahl der Benutzer; das Angenehme einer Sache hängt nicht bloß von den Eigenschaften ab, die sie angenehm machen, sondern auch von der Zahl derer, die für die Freude an ihr gewonnen werden können. Menschliche Anlagen sprechen also überall mit, was aber mit moralischen Überlegungen nichts zu tun hat. So ist Mills Gedankengang. 60. Auch Ricardos Theorien werden einer Kritik unterzogen. 61. Das lateinische ,valor' bedeutet einmal stark im Leben — vom Manne gesagt —, zweitens stark oder wertvoll für das Leben — von der Sache aus betrachtet. Der Wert ist also unabhängig von Meinung und Menge. Eine echte Volkswirtschaftslehre muß demnach das Volk dazu erziehen, Dinge, die zum Leben führen, zu wollen und für sie zu arbeiten, und Dinge, die zur Zerstörung führen, zu verachten und zu vernichten. 62. Mills Begriff Reichtum ist zutreffend: Besitz eines Vorrats nützlicher Dinge. Besitz ist nicht absolut, sondern relativ; er besteht in dem, was für einen Menschen geeignet ist, und hängt ab von seiner Fähigkeit, es zu gebrauchen. So ergibt sich also Reichtum als Besitz nützlicher Dinge, die wir gebrauchen können; also nicht das bloße Haben, sondern auch ein Können, eine Anhäufung von Fähigkeiten, von Nutzen in der Hand des einzelnen Menschen. 64. Hiernach wird definiert: Reichtum ist der Besitz des Wertvollen in der Hand des Fähigen (.valuable — valiant'). 66. Worin besteht das Wesen des Preises, also des Tauschwertes und seines Ausdrucks in Währungsmitteln? Vorteil kann an und für sich nicht im Austausch liegen, sondern nur in Arbeit. Wer durch seine Arbeit eine bestimmte Menge Korn in das Doppelte verwandelt, schafft Profit, ebenso der, der aus einem Spaten zwei macht. 86*
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Der erste braucht aber einen Spaten, der zweite etwas zu essen. Wenn sie das durch ihre Arbeit Gewonnene austauschen, haben sie zwar Nutzen davon, erzeugen aber mit dem Austausch keinen neuen Wert. Nur dadurch, daß das Erworbene wieder zur Arbeit verwendet wird, entstehen neue Werte. Etwas anderes ist der Erwerb selbst, der einen Anteil an der Arbeit des andern mit sich bringt und den Arbeitsertrag dieses andern mindert; das ist Wertzuwachs für den Erwerber. Vorteil, materieller Gewinn ist hiernach nur durch Erzeugung oder Entdeckung zu erlangen, nicht durch Tausch. 67. Die Lehre vom Tausch, die sogenannte Katallaktik, ist also falsch begründet. 69. Preis ist die Arbeitsmenge, die der einer Sache Bedürfende hergibt, um diese Sache zu bekommen. Der Preis hängt von mehreren Faktoren ab und ist ein recht verwickeltes Gebilde. 70. Arbeit ist der Kampf eines Menschen — seines Geistes, seiner Seele, seiner Körperkraft — mit einem Gegenüber. Sie ist höherer oder niederer Art. Gute Arbeit schließt stets Verstand und Gefühl ein, die die physische Kraft regeln und ausgleichen. Danach bestimmt sich ihr Wert, der an sich unveränderlich ist, während die Menge der aufzuwendenden Arbeit sich ändert. 71. Wenn viele Hindernisse zur Erzielung eines Ergebnisses bezwungen werden müssen, sollte man nicht die Arbeit billig, sondern den Gegenstand teuer nennen. 72. Was ist Erzeugung, Produktion? Bisher wurde alle Arbeit als nützlich (.profitable') behandelt. Es ist aber nötig, zwischen positiver und negativer Arbeit zu unterscheiden: positiv, was Leben, negativ, was Tod schafft. Die Wohlfahrt der Nation steht in einem genauen Verhältnis zu der Arbeitsmenge, die zur Beschaffung und Verwendung von Mitteln für das Leben aufgewendet wird. Es sei ausdrücklich auf den Ausdruck Beschaffung und Verwendung hingewiesen: nicht einfach Erzeugung, sondern auch richtige Verteilung und richtiger Verbrauch. Richtiger Verbrauch ist das Ziel aller Produktion und weit schwieriger als die richtige Produktion selbst. 73. Das Wort Kapital bedeutet seiner Herkunft nach Kopf, Quelle oder Wurzel, das Material, mit dessen Hilfe ein sekundäres Gut erzeugt wird. Wirkliches Kapital (,caput vivum', nicht ,caput mortuum') ist es nur, wenn es etwas von sich selbst Verschiedenes erzeugt, eine Wurzel ist, die Frucht trägt und aus der Frucht wieder eine Wurzel entstehen läßt. 75. Es wird produziert: einmal zum Säen, zweitens zum Verzehr. Alle wesentliche Produktion dient dem Verbrauch. Reichtum der Nation kann nur nach dem gemessen werden, was sie verbraucht. 76. Letztes Ziel der Volkswirtschaft ist also die Gewinnung einer guten Methode und einer großen Verbrauchsmenge, d. h. also die Möglichkeit, alles, Stoff sowohl wie Dienst, zur edlen Verwendung zu führen. 77. Art und Ziel des Verbrauchs sind hierbei Wertmaßstab der Produktion. Es kommt nicht darauf an, wieviel Arbeit die Gemeinschaft verwendet, sondern wieviel Leben sie hervorbringt. Außer dem Leben gibt es keinen Wert. Dasjenige Land ist das reichste, das die größte Zahl edler und glücklicher Menschen ernährt; jede Wirtschaftslehre, die sich auf Selbstsucht gründet, ist ruinös. 78. Das Maximum an Leben kann nur dann durch ein Maximum an Tugend erreicht werden. Gewiß ist der Mensch wie das Tier den Gesetzen des Hungers, der Seuchen, des Krieges und sonstiger Schädigungen unterworfen, die nötig sind, um übermäßige Vermehrung zu verhindern. Aber über das Tier hinaus wird er nur eingeschränkt durch das Maß seines Mutes und seiner Liebe, die auch ihre Grenzen haben und immer haben werden.
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79. Die Betrachtungen der Volkswirtschaftler über die Bevölkerungsfrage sind ein trauriges Kapitel. Höhere Löhne für den Arbeiter? Nein, dann vertrinke er das Geld und lasse die Kinder verkommen. Woher in aller Welt soll er eine solche schlechte Anlage haben, durch Vererbung oder Erziehung? Wenn durch Vererbung, dann müßten jene Armen ja von Natur anders veranlagt sein als höher organisierte Menschen. Wenn durch Erziehung, dann gebt ihnen eine bessere. Die Reichen verweigern den Armen nicht nur Fleisch, sondern Tugend, Weisheit, Rettung. Es muß andre Mittel gegen Übervölkerung geben als die von den Nationalökonomen vorgeschlagenen. 80. Was schlagen sie denn zur Abhilfe vor? Kolonisation, Urbarmachung von Brachland, Abraten von der Eheschließung. Die beiden ersten Mittel gehen offensichtlich dem Problem aus dem Wege oder schieben seine Lösung hinaus. Es wird zwar lange dauern, bis die Welt voll kolonisiert und bis alles Land ertragreich gemacht ist, aber einmal muß es doch dazu kommen. Es geht auch gar nicht darum, wieviel bewohnbares Land die Erde enthält, sondern wie viele Menschen auf einem bestimmten Teil des bewohnbaren Landes leben sollten: nicht „können", sondern „sollten" 1 Wo zehn Dumme und Faule leben, können dreißig oder vierzig Kluge und Fleißige existieren. 81. Ricardos und z. T. auch Mills Erörterungen hierüber sind unfruchtbar. Die Lebensmöglichkeiten, die das Land bietet, hat ihre Grenzen. 82. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern auch vom Wüstenmanna, von Gottes Wort und von einem unerkennbaren Wirken, das ihn in das Unendliche erhebt. 83. Dieses Glücksgefühl ist naturgemäß das Ergebnis individueller, nicht öffentlicher Bemühung. Der aufklärerische Gedanke, jeder solle mit dem ihm von der Vorsehung im Leben angewiesenen Platz zufrieden sein, ist richtig; aber es ist nicht deine Aufgabe, dafür zu sorgen, daß dein Nachbar zufrieden ist, sondern daß du selbst zufrieden bist. Dem Himmel bleibe es überlassen, ob wir aufsteigen sollen. Nicht größeren Reichtum sollten wir erstreben, sondern schlichtere Freuden, tieferes Glück, nicht äußeren Besitz, sondern den Besitz unseres Selbst. 84. Unser Werk beginne in unserm Hause; alle echte Wirtschaft ist Gesetz des Hauses. Nicht Besitz an sich ist das Ziel, sondern die Fähigkeit, möglichst viel aus ihm zu machen, Leben herauszuschlagen. 85. Ist Luxus etwa ein Wert, wenn wir neben uns das Elend sehen? Noch scheint das Licht unsrer Augen durch Tränen, bis die Zeit kommt, da Christi Gaben „diesem Letzten gleichwie dir" zuteil werden, wenn die Schlechten nicht mehr stören und die Müden ausruhen. Man spricht heute öfters von der großen Scheidelinie des viktorianischen Zeitalters, die in dem Jahrzehnt zwischen 1865 und 1875 liegt und auf dem wirtschaftlichen Gebiet die Auffassung vom Wohlstand am stärksten beeinflußt hat. Was die industrielle Revolution in der Frühzeit heraufgebracht hatte, bereitete die größten Schwierigkeiten, weil die alten, aus dem rein agrarischen England in das industrialisierte übergegangenen Ansichten über Besitz und Wohlstand noch obwalteten. Die Korngesetze von 1815, erst 1846 abgeschafft, mehrten den Reichtum der Landbesitzer, und die Einkünfte aus den überseeischen Besitzungen kamen dazu, um eine gewaltige Wohlstands- und Prunkentfaltung zu ermöglichen. Daneben entwickelte sich im Gleichschritt mit der immer weiter gehenden Industrialisierung des Landes der aus den Fabriken stammende Reichtum, weniger individuell, sozialer, unpersönlicher, mehr angewiesen auf Staatsaufsicht und staatliches Handeln, das Ende des „laissez faire". Die Jahre zwischen 1865 und 1875 brachten die größte Anhäufung von Kapital in der britischen Geschichte und zugleich das Ende der alten Besitzerethik aus den
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Kreisen der großen Landherren, die ihren Reichtum zum Wohl der Arbeiter und der Allgemeinheit zu verwenden geneigt waren. Mills „ökonomischer Mensch" war keineswegs in dem Maße ihr Ideal, wie es aus der Literatur scheinen möchte. Die große Scheidelinie fiel zusammen mit dem Erscheinen von Karl Marx' „Kapital", also der Zeit, in der das Kapital mehr eine unpersönliche, seinen eigenen Gesetzen folgende unheimliche Macht wurde, um so mehr als infolge der zunehmenden Arbeiterwohlfahrt die unteren Schichten mehr Muße und Einfluß erhielten — Gewerkschaften, Wahlrecht, Arbeitszeitbeschränkung — und die Form ihrer Lebensführung neue Probleme heraufbeschwor. Die wachsende Bedeutung der neuen Kapitalformen zeitigte zwei Bewegungen: den materialistischen Egoismus der neuen Geschäftsleute, die sich die Lehren der herrschenden Volkswirtschaftslehre zu eigen machten und die Gegenströmung des marxistischen Sozialismus hervorriefen, und auf der andern Seite die geharnischte Kampfansage an die „finsteren, satanischen Fabriken", an Elend und Schmutz, an schwere Arbeits- und Lebensbedingungen, die wir in den idealistischen Bemühungen eines Carlyle, Ruskin und auf mehr praktischem Gebiet eines William Morris haben. Wenn die Dinge in der späteren Periode des Industriekapitalismus allmählich besser wurden, so ist darin der Einfluß der großen Vorkämpfer der frühviktorianischen Zeit zu erkennen, die die Auswirkungen der industriellen Revolution kommen sahen und das Unzulängliche der nationalökonomischen Lehre ihrer Zeit empfanden. Es waren Männer aus nicht fachwissenschaftlichem Lager: Carlyle historischer und literarischer Autor, Ruskin Kunstschriftsteller, J. St. Mill Philosoph, Ricardo Bankier, Cobden und Bright Geschäftsleute, Malthus Kirchenmann, aus deren Theorien und Gegentheorien sich das spätere volkswirtschaftliche Denken formte. Ruskin bestreitet Ricardo und Mill das Recht, ihre Wissenschaft Nationalökonomie zu nennen, und will sie nur als Handelslehre gelten lassen. Volkswirtschaft treiben vielmehr die Menschen, die Genußgüter erzeugen und erhalten, der Landmann, der Handwerker, der seine Sache gewissenhaft macht, die Hausfrau, die ihren Hausrat ordentlich hält und sparsam in der Küche ist, der Künstler, der seine Mittel richtig einsetzt. Reichtum kann nicht bloß auf Geldwerte zurückgeführt werden, soziale Sympathiegefühle sind nicht störend, wie Mill meint, sondern wirkende Faktoren, die alle gelehrten Berechnungen über den Haufen werfen können. Und die Hauptsache: Wert ist nicht mit Tauschwert und ähnlichen Begriffen gleichzusetzen. Wert ist, wie sein Urwort „valor" besagt, das, was das Leben fördert. Wettbewerb und Lohngestaltung nach den Gesetzen von Angebot und Nachfrage sind Barbarei und der Ruin der Moral; bezahlt die Arbeiter gleichmäßig ebenso wie die Minister, Bischöfe, Generale und Professoren, aber wählt nur die guten unter ihnen wie bei diesen festbesoldeten Berufen und laßt die schlechten leer ausgehen. Die Politik des Gehenlassens bringt die Rücksichtslosen, die Schlauen, die Gefühlsarmen nach oben und drückt die Gebildeten, die Feinfühligen, die Gerechten und Heiligen herab. Dampfmaschine und Eisenbahn sind gewachsen, die Massenerzeugung von Gütern hat zugenommen, aber die Menschen sind an Leib und Seele verkrüppelt. Das reichste Land ist dasjenige, das die größte Zahl edler und glücklicher Menschen aufweist. Der Mensch ist eben keine Maschine, sondern ein fühlendes Wesen mit einer Seele, mit dem Wunsch, geliebt und geachtet zu sein, mit Gemeinschaftssinn. Der ganze Mensch ist Ausgangspunkt und Ziel, nicht eine blutleere Abstraktion aus logischer Überlegung. Nützlichkeit und Schönheit des Geschaffenen sind eins, die Lebens- und Seelenmenge der Dinge bestimmt ihren Wert, einfache Vergnügungen der vielen sind mehr wert als großer Reichtum der wenigen. Ein platonischer Schönheitsstaat mit antikapitalistischer Richtung ist das Ideal. Von festen Regeln für den Warentausch und das automatische Funktionieren der
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Marktverhältnisse, vom „ehernen Lohngesetz" und in mathematische Formeln gepreßten Bevölkerungsbewegungen wird die Fragestellung nach einer versittlichten und vergeistigten Seite gewendet, nach einer großen Volkslebenslehre. Dies ist wohl der größte Beitrag des von einer ethisierten Ästhetik herkommenden Ruskin. Der Versuch, in einer St.-Georgs-Gilde, der er den größten Teil seines bedeutenden Vermögens widmete, seine sozialen Gedanken in die Tat umzusetzen, schlug zwar fehl; viele seiner Ideen sind auch mit Recht angefochten worden, etwa die gar zu radikale Ablehnung der Warenaustauschlehre, die er im Sinne der klassischen Nationalökonomie nicht recht verstand. Er bleibt aber der große soziale Prophet, und was das moderne soziale Denken in Europa seinem Einfluß verdankt, ist im einzelnen gar nicht abzuschätzen. Sein lauter Widerspruch gegen den Geist seiner Zeit erregte zuerst stürmischen Protest, hat aber in der Schärfung des sozialen Gewissens reichste Frucht getragen. In derselben Weise hat sein Schönheitskult mit dem Blick auf die sittliche Bereicherung des Menschen eine volkserzieherische und lebenerhöhende Wirkung auf praktischen Gebieten geübt; die moderne Gartenstadtbewegung und das Kunsthandwerk — Schönheit im Alltag — sind Schöpfungen seines Jüngers William Morris nach den Ideen des Meisters, in der durch Hermann Lietz bei uns heimisch gemachten Landschulheimbewegung lebt Ruskins unmittelbarer Einfluß, die Belebung der Wertschätzung des Ackerbaus und des heimischen Bodens hat ihre Kraft in der nationalen Politik ebenso wie im Heimatroman erwiesen, Proben der Liebe zu dem „gotischen" alten England, dem „rural England", findet man fast in jeder Zeitschriftennummer. Die farbenreiche, prunkvolle Sprache hat das ihrige zu der Wirkung seiner Schriften getan. Ruskin ist der Künstler des Auges, des geschauten Bildes, ein Meister des malerischen Beiworts und der technischen Genauigkeit des Bildeindrucks, ein Meister des impressionistischen Stils im Gegensatz zu dem expressionistischen des temperamentvollen Carlyle. Seine zu Schmuckmitteln wie Stabreim, Rhythmisierung, Wortecho neigende Prosa ist in gewissem Sinne ein Rückfall in den poetischen Stil früherer Zeiten, aber bei diesem Apostel der Malerei und der Veredlung der Lebensformen eigengewachsen und echt. Die kunsttheoretischen Werke behaupten ihren Rang unter der prunkvollsten englischen Prosa. Auch in „Diesem Letzten" mit seiner knappen, klar in Paragraphen gegliederten, durch treffende Beispiele packenden Darstellung eines an sich spröden Gegenstandes schwingt die Seele des Verfassers, der für seine Predigt der sittlichen Schönheit auch die schöne Sprache findet. Ein Schriftsteller unsrer Zeit hat es eins der großen prophetischen Bücher des 19. Jahrhunderts genannt. 2. D e r R o m a n : D i c k e n s , T h a c k e r a y , K i n g s l e y , G e o r g e E l i o t Als im späteren 15. Jahrhundert das wohlhabende städtische Bürgertum, das noch keine literarische Tradition sein eigen nennen konnte, den Feudaladel als einflußreiche Schicht ablöste, trugen schlichte Prosadarstellungen altbekannter Stoffe, wie wir sie in Sir Thomas Malorys Arthur-Nacherzählungen haben, dem Bildungs- und Unterhaltungsbedürfnis Rechnung. Als nach der „glorreichen Revolution" mit ihrer demokratisierenden Wirkung ein bürgerliches Zeitalter mit bürgerlicher Geschmacksrichtung anbrach, machten sich „moralische Wochenschriften" die Heranbildung der neuen Kreise zu höheren Gedanken und Formen zur Aufgabe. Die erste Bewegung brachte den Beginn der neueren Prosaliteratur überhaupt, die zweite schuf den modernen Roman. In der viktorianischen Zeit setzte die Demokratisierung auf breiter Front ein. Die grundlegende Parlamentsreform von 1832 leitete eine immer weiter gehende politische und soziale Mündigmachung der breiten Schichten ein, ein wachsendes Interesse an Erziehung und Volksbildung war die Folge, die sozialen Kämpfe brachten
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ein Führertum aus dem Bürgertum und der Arbeiterschaft an die Oberfläche, die verschiedenartigen Strömungen zeitigten die Auseinandersetzung in Pamphleten und Zeitschriften, der steigende Wohlstand das Unterhaltungsbedürfiiis. Die Literatur der billigen Hefte und Fortsetzungsromane ergriff die Massen in einem breiten Strom, die Prosadichtung, also namentlich der Roman, füllte die Stunden der Entspannung aus und wurde die wichtigste Befriedigung des Lesebedürfnisses der breiten Massen, wie es noch heute der Fall ist. Was im Mittelalter die Ritterepen, die Legenden und geistlichen Traktate mit eintöniger Wiederholung der Motive gewesen waren, das wurden jetzt die Kurzerzählungen und Fortsetzungsromane der „magazines". Man kann das Anschwellen dieser Literatur nur mit der kunsthandwerkmäßigen Masse der Bühnenspiele in der Shakespearezeit vergleichen; hier wie dort erhoben sich die ragenden Gipfel großer Kunstwerke aus einem breiten Strom von Minderwertigkeiten. Drama und Roman sind die literarischen Formen, die das vielgestaltige, bewegte Leben einzufangen vermögen. Der Geist der Zeitalter spricht sich darin aus, daß die tatfrohe, pathetisch gestimmte elisabethanische Epoche die hohe Zeit des Dramas und der gut bürgerliche Viktorianismus der Hintergrund der großen Klassiker des neuen Romans wurden. Das umfangreiche Gesamtwerk Bulwer-Lyttons veranschaulicht am besten den literarischen Geschmack der Übergangszeit zwischen dem großen Epiker Scott und der humanitären Sphäre eines Dickens auf der einen, dem Realismus eines Thackeray auf der andern Seite. Züge des Byronschen Helden, der Wertherstimmung und des Verbrechermilieus leben in seinen ersten Werken, Bilder aus dem gesellschaftlichen und politischen Leben werden eingeschaltet. Stoffe aus der bürgerlichen Welt und einem sozialen Zukunftsreich bilden das Ende. Dazwischen liegt in unmittelbarer Nachfolge Scotts eine Reihe historischer Romane, strenger als bei dem Vorbild um die Person des Helden gruppiert, deren bedeutendster, „Die letzten Tage von Pompeji", noch heute zu den gelesensten Büchern gehört. Bulwer war ein reiches und vielseitiges Talent und errang eine ungeheure Popularität. Er versuchte sich in allen Gattungen, folgte gar zu willfährig dem wechselnden Geschmack und vermochte keine Eigenart zu entfalten. Die große Form des neuen Romans und würdige Weiterführung der im 18. Jahrhundert so mächtig aufgeschossenen Gattung kündigte sich erst an, als im Jahre der Thronbesteigung der jungen Königin Viktoria die lustigen Abenteuer, die ein unbekannter Schriftsteller auf Einladung des Verlegers als Begleittext zu den Zeichnungen eines beliebten Künstlers in einer Monatsschrift veröffentlichte, das ganze Land laut auflachen ließen und ihren Verfasser mit einem Schlage bekannt machten. Es waren „Die nachgelassenen Papiere des Pickwickklubs" von Dickens, die eine neue Stilform in die widerstreitenden Richtungen des Tagesschrifttums brachten, dem schweren Leben mit gemütvollem Humor beikamen und durch billige Serienerscheinungsweise an Stelle des teuren Drei-Bände-Romans weit ins Volk drangen. Charles D i c k e n s (1812—1870) entstammte der Welt, der er seine ganze Liebe zuwendet, der Welt der kleinen, vom Leben getretenen, etwas verbogenen Leute mit einem warmen Herzen. Als Sohn eines kleinen Beamten beim Marinezahlamt in der Nähe von Portsmouth geboren, erlebte er den wiederholten Ortswechsel der Familie, aber auch eine heitere Kindheit in bescheidenen Verhältnissen. Als eifriger Leser hatte schon der zehnjährige Knabe die Hauptwerke der früheren Humoristen verschlungen. In London, wohin der Vater versetzt wurde, trat nach der glücklichen Zeit in Chatham ein jäher Wechsel für die Familie und den feinfühligen Knaben ein, ein furchtbarer Schlag, unter dem er sehr litt, der aber für sein späteres Werk und für die, die es lieben und bewundern, der
Charles Diekens
größte Gewinn wurde: der Vater geriet immer tiefer in Schulden und wurde schließGch in das Schuldgefängnis gesteckt, der junge Charles in eine Schuhwichsefabrik, in der er mit dem Aufkleben von Etiketten auf Flaschen wöchentlich sechs Schilling verdiente. Die Erinnerung an diese bitterste Zeit seines Lebens wurde der Dichter nie ganz los. Die Verhältnisse der Familie besserten sich, Charles konnte zwei Jahre eine Schule besuchen und mit großer Energie auf eigene Faust seine Bildung erweitern. Er ging bei einem Advokaten in die Lehre, wurde parlamentarischer Berichterstatter und Mitarbeiter an verschiedenen Zeitungen und fand schließlich eine gute Anstellung am „Morning Chronicle". „Skizzen" aus dem Leben der kleinen Leute und des Londoner Alltags leiteten einen nun unerhört rasch erfolgenden literarischen Aufstieg ein, der namentlich den Verfasser der begeistert aufgenommenen „Pickwickier" (1836—1837) zum Lieblingsschriftsteller der Nation machte. Ein Meisterwerk folgte dem andern, die Verleger rissen sich um den Dichter, Wohlstand und Ehrungen zogen in sein Haus ein. Mehr und mehr aber bemächtigte sich eine tiefe Ruhelosigkeit des beständig in der Erregung des Schaffens lebenden, fast übermenschlich produktiven und dabei in einer getrübten Ehe enttäuschten Dichters. Er war beständig auf Reisen und veranstaltete Vorlesungen aus seinen Werken, die ihm großen Reichtum eintrugen. Amerika brachte ihm eine beispiellose Verehrung entgegen. Die Anstrengungen aber hatten seine körperlichen Kräfte erschöpft; der Dichter starb mit 58 Jahren mitten in der Arbeit an neuen Werken. Die Art seines überraschend schnellen Aufstiegs von drückenden Lebensumständen zu Ansehen und Reichtum gibt uns den Schlüssel zu dem Wesen seines Dichtertums. Dickens begann mit Skizzen aus dem Lebenskreis der Kleinbürger, die vornehm sein wollen, die die Maßstäbe für die Dinge verloren haben, die sich bei gemeindepolitischen Krähwinkeleien wichtig tun, und stellt sie in ein neu gesehenes Landschaftsbild der Großstadt hinein mit all seiner Geschäftigkeit, in der Tragik und Komik nahe beieinander wohnen, in der die „shabby genteel people" als Menschentypen entdeckt werden. An den Londoner Cockneys hängt sein Herz, und das fühlte der Zeitungsleser, dem diese bewegten und leicht zu fassenden Bilder dargeboten wurden, diese Mischung von einem Realismus, den jeder verstand, und einer gemütvollen Phantastik, die man so gerne mitmachte. Dann oder genauer gleichzeitig erschienen die monatlichen Zeitschriftenlieferungen der Pickwickier (The Posthumous Papers of the Pickmick Club) mit den Zeichnungen aus dem Sportleben, die durch sie illustriert werden sollten: drollige Szenen nach Art der Skizzen, Sonntagsjäger, die vom Mißgeschick verfolgt werden wie der kühne Reitersmann Winkle, der Dichter Snodgrass und der verliebte Tupman, bis allmählich die Gestalt des Mr. Pickwick, des Präsidenten einer nach ihm benannten gelehrten Gesellschaft, in den Vordergrund rückt. Die Figuren des Dieners Samuel Weller und seines Vaters, eines Droschkenkutschers, mit der Schar ihrer Verwandten und Bekannten erhöhen die grotesken Wirkungen der Situationen, in die der hilfreiche und gute Präsident gerät. Wir hören in lebensprühenden Karikaturen von Reitermißgeschick, von umkippenden Ruderbooten und zusammenbrechenden Kutschen, von Straßenhändeln und peinlichen Situationen, von Herrn Pickwicks Nöten mit der Witwe Bardell, die die Andeutungen über das Engagement eines Dieners als Heiratsantrag auffaßt und den bei einer kompromittierenden Szene ertappten guten Untermieter vor das Gericht und ins Schuldgefängnis bringt; wir hören von dem weltentrückten Schulmeister, dem dürren Hungerleider Doktor Syntax, dem unablässig in Satzfetzen redenden Schwindler und Hochstapler Jingle, dem während der Verhandlung einschlafenden Richter. Schlimme Situationen lösen sich immer harmlos auf, ein erlösender Retter sorgt für befreiendes Lachen auch da, wo Scherz und Karikatur fast brutal sind. Ein edler Träumer geht als neuer Don Quijote durch die Londoner Cockney-Welt, begleitet von dem köstlichen, treuen und
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stets schlagfertigen Sam Weller, seinem Sancho Pansa. Es ist eine Sphäre der Phantastik, der Unmöglichkeiten, der verblüffendsten, den Leser in ihrer Spannung mitreißenden Wechselfälle, die mit allen Mitteln echtester Wirklichkeitsnähe und mit unwiderstehlichem Humor gezeichnet werden. Die Welt ist reich an seltsamen, schrulligen Menschen, das Lebensdrama ist eine große Posse. Die Weltanschauung eines heiteren Optimismus steht hinter diesem neuen Typus eines komischen Romans, der munter hineingreift in die jedem Engländer vertraute Gestaltenfülle und sich noch nicht um die Geschlossenheit der Handlung oder einer Charakterentwicklung kümmert. Da haben wir gleich zu Beginn den ganzen Dickens, der durch seine Persönlichkeit mehr noch als durch seine Kunst inmitten einer sorgenschweren Zeit entzückte, den elastischen und kerngesunden Engländer, der die Stöße des Schicksals mit gelassener Lebenssicherheit überwindet. Der Dichter durchlief so gut wie keine Entwicklung; er war von Anfang an fertig, das Leben selbst war seine Lehrstätte, Abenteuer und Groteske seine Kunstform, Optimismus und Humor die Quelle seiner Sicherheit. Aus der Fülle des Lebens und seiner reichen Seele schuf er in seinem nicht langen Leben ungefähr dreißig Werke, unter ihnen dreizehn lange Romane, die zahlreichen kleineren Beiträge zu Zeitungen und Zeitschriften und die Vorlesungen nicht mitgerechnet. Oliver Twist greift realistisch in die Verbrecherwelt hinein und geißelt die Zustände in den Arbeitshäusern nach der Neuordnung ihrer Verwaltung im Jahre 1834; der kleine Oliver muß die ganze Härte des Arbeitshauskindes und die leiblichen und seelischen Nöte des in die Hände einer Diebesgesellschaft gefallenen Jungen erfahren, geht aber als reiner Engel durch diesen Abgrund und wird schließlich in reinerer Umgebung ein achtbarer Bürger. Nicholas Nickleby lenkt die Augen der Welt auf die unwürdigen und seelenmordenden Zustände der billigen Privatschulen und ihrer ebenso unfähigen wie hartgesottenen Leiter. Der Raritätenladen (The Old Curiosity Shop) ist die Geschichte der jungen Neil, die in einem bis zu ihrem frühen Tode harten Lebenskampf den bankrotten Großvater aus den Klauen eines unbarmherzigen Gläubigers zu retten sucht. Selbstsucht in allen ihren Farben lebt in den Gestalten des Martin Chusglewit, in dem ein sehr unvorteilhaftes Bild von Amerika den heimatlichen Schauplatz ausweitet, der Familienstolz eines kalten, schließlich aber durch Unglück und Verluste erweichten Londoner Großkaufmanns in Dombey und Sohn. Das langsame, schwerfällige englische Prozeßverfahren und der die Menschen zerbrechende Bürokratismus des Kanzleigerichtshofs sind Gegenstand des Angriffs in Bleak House. Einen sozialen Roman echter Art bringen Harte Zeiten (Hard Times), die Geschichte von Arbeiterunruhen einer Industriestadt im Kohlenrevier mit der Zeichnung eines kalt rechnenden Fabrikherrn aus der Schule der utilitaristischen Ethik. In Klein Dorrit (Little Dorrit) steht wieder einmal die Unsinnigkeit der Gesetzgebung, die schon bei geringfügigen Schulden die Gefangenschaft verfügt, im Vordergrund — das Schuldgefängnis trägt den Namen der Anstalt, die des Dichters Jugend verdüsterte. Das einzige Beispiel eines einheitlich ernsten geschichtlichen Zeitbildes ist die Erzählung von 37vei Städten (A Tale of Two Cities), in der Paris und London auf dem Hintergrund der Französischen Revolution in lauten Farben gemalt werden. Das sind einige der bekanntesten Titel, zu denen natürlich noch der von dem Dichter als sein Lieblingskind bezeichnete David Copperfield gestellt werden muß, in dem so viel von seiner eigenen Lebensgeschichte steckt. Von besonderer Wirkung auf die Zeitgenossen waren daneben die Weihnachtsgeschichten, die Dickens Jahre hindurch regelmäßig in seinem Familienblatt (Household Words) erscheinen ließ und von denen das Weihnachtslied in Prosa (A. Christmas Carol in Prose), die Silvesterglocken (The Chimes) und Das Heimchen am Herde (The Cricket on the Hearth) eine ungetrübte Beliebtheit errungen haben. Aus ihnen hat die Welt immer wieder gelernt, daß Weihnachten das Fest der Liebe ist.
Charles Dickens
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Die Eigenart der Dickensschen Schreibweise empfindet man am besten in einer Nebeneinanderstellung der Anfänge dieser drei klassischen Weihnachtsgeschichten. Das Weihnachtslied beginnt so: Marley was dead, to begin with. There is no doubt whatever about that. The register of his burial was signed by the clergyman, the clerk, the undertaker, and the chief mourner. Scrooge signed it. And Scrooge's name was good upon 'Change, for anything he chose to put his hand to. Old Marley was as dead as a door-nail. Mind I I don't mean to say that I know, of my own knowledge, what there is particularly dead about a door-nail. I might have been inclined, myself, to regard a coffin-nail as the deadest piece of iron-mongery in the trade. But the wisdom of our ancestors is in the simile; and my unhallowed hands shall not disturb it, or the Country's done for. You will therefore permit me to repeat, emphatically, that Marley was as dead as a door-nail. Scrooge knew he was dead? Of course, he did. How could it be otherwise? Scrooge and he were partners for I don't know how many years. Scrooge was his sole executor, his sole administrator, his sole assign, his sole residuary legatee, his sole friend, and his sole mourner. And even Scrooge was not so deadfully cut up by the sad event, but that he was an excellent man of business on the very day of the funeral, and solemnised it with an undoubted bargain.
The mention of Marley's funeral brings me back to the point where I started from. There is no doubt that Marley was dead. This must be distinctly understood, or nothing wonderful can come of the story I am going to relate. If we were not perfectly convinced that Hamlet's Father died before the play began, there would be nothing more remarkable in his taking a stroll at night, in an easterly wind, than there would be in any middle-aged gentleman rashly turning out after dark in a breezy spot—say Saint
Marley war tot: damit wollen wir anfangen. Die Tatsache kann nicht be2weifelt werden. Die Eintragung über seine Bestattung war von dem Geistlichen, dem Sekretär, dem Leichenbestatter und dem Hauptleidtragenden unterzeichnet. Scrooge unterzeichnete sie: und sein Name galt etwas an der Börse in allen Dingen, die er in die Hand nahm. Der alte Marley war so tot wie ein Türnagel. Wohl gemerkt I Ich behaupte nicht, aus eigener Kenntnis zu wissen, was an einem Türnagel so besonders tot ist. Ich wäre vielmehr eher geneigt, einen Sargnagel als den totesten Gegenstand aus der Eisenbranche anzusehen. Aber in dem Vergleich steckt die Weisheit unsrer Vorfahren; und meine unheiligen Hände sollen ihn nicht umstoßen, sonst wäre es um das Väterland geschehen. Ihr werdet mir deshalb erlauben, nachdrücklich zu wiederholen, daß Marley so tot war wie ein Türnagel. Scrooge wußte also, daß er tot war? Natürlich wußte er es. Wie könnte es anders sein? Scrooge und er waren Kompagnons gewesen, ich weiß nicht wie lange. Scrooge war sein einziger Testamentsvollstrecker, sein einziger Nachlaßverwalter, sein einziger Bevollmächtigter, sein einziger übriggebliebener Erbe, sein einziger Freund, sein einziger Leidtragender. Und selbst Scrooge war von dem traurigen Ereignis nicht gar so schrecklich mitgenommen; erwies er sich doch am Tage des Leichenbegängnisses als ein ausgezeichneter Geschäftsmann, der es für einen unbestrittenen Spottpreis ausrichten konnte. Die Erwähnung von Marleys Leichenbegängnis bringt mich zu dem Ausgangspunkt zurück. Es besteht kein Zweifel darüber, daß Marley tot war. Das muß man wohl verstehen; denn sonst kann nichts Wunderbares herauskommen bei der Geschichte, die ich erzählen will. Wären wir nicht vollkommen davon überzeugt, daß Hamlets Vater vor dem Beginn des Dramas schon tot war, so wäre der Umstand, daß er zur Nachtzeit bei Ostwind auf seinen eigenen Schloßwällen herumwandelt, nicht bemerkenswerter, als wenn etwa irgendein andrer Herr in mittleren Jahren an einer windigen Stelle — etwa am St.-Pauls-Kirchplatz —
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Paul's Churchyard, for instance, literally to astonish his son's weak mind. Scrooge never painted out old Marley's name. There it stood, years afterwards, above the warehouse door—Scrooge and Marley. The firm was known as Scrooge and Marley. Sometimes people new to the business called Scrooge Scrooge, and sometimes Marley, but he answered to both names. It was all the same to him. Oh! but he was a tight-fisted hand at the grindstone, Scrooge I—a squeezing, wrenching, grasping, scraping, clutching, covetous old sinner I Hard and sharp as flint, from which no steel had ever struck out generous fire; secret, and self-contained, and solitary as an oyster. The cold within him froze his old features, nipped his pointed nose, shrivelled his cheek, stiffened his gait; made his eyes red, his thin lips blue; and spoke out shrewdly in his grating voice. A frosty rime was on his head, and on his eyebrows, and his wiry chin. He carried his own low temperature always about with him; he iced his office in the dog-days, and didn't thaw it one degree at Christmas.
nach Eintritt der Dunkelheit plötzlich auftauchte, um den schwachen Geist seines Sohnes buchstäblich außer Fassung zu brinen. crooge ließ den Namen des alten Marley niemals auslöschen. Da stand er weiter über der Eingangstür des Engroshauses, noch Jahre nachher: Scrooge und Marley. Die Firma war als Scrooge und Marley bekannt. Leute, die neu in das Geschäft kamen, nannten Scrooge manchmal Scrooge und manchmal Marley, und er antwortete auf beide Anreden. Das war ihm ganz einerlei. Oh! Er hielt aber die Hand straff am Schleifstein, dieser Scrooge! Ein quetschender, zerrender, zupackender, kratzender, greifender, geiziger alter Sünderl Hart und scharf wie ein Feuerstein, aus dem kein Stahl je ein edelmütiges Feuer geschlagen hat; verschlossen, zugeknöpft und einsam wie eine Auster. Die Kälte in ihm zwickte seine spitze Nase, ließ seine alten Gesichtszüge einfrieren, seine Wange zusammenschrumpfen, seine Haltung steif werden, machte seine Augen rot, seine schmalen Lippen blau und tönte beißend in seiner knarrenden Stimme. Eisiger Rauhreif lag auf seinem Kopf, seinen Augenbrauen und seinem sehnigen Kinn. Er trug seine niedrige Temperatur immer mit sich herum; er machte sein Büro in den Hundstagen eisig und ließ es zu Weihnachten nicht um einen Grad auftauen.
Der Anfang der Silvesterglocken: There are not many people—and as it is desirable that a story-teller and a storyreader should establish a mutual understanding as soon as possible, I beg it to be noticed that I confine this observation neither to young people nor to little people, but extend it to all conditions of people, little and big, young and old; yet growing up, or already growing down again—there are not, I say, many people who would care to sleep in a church. I don't mean at sermontime in warm weather (when the thing has actually been done, once or twice), but in the night, and alone. A great multitude of ersons will be violently astonished, I know, y this position, in the broad bold day, but it applies to night. It must be argued by night. And I will undertake to maintain it
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Es gibt nicht viele Menschen — und da es erwünscht ist, daß ein Geschichtenerzähler und ein Geschichtenleser so bald wie möglich ein gegenseitiges Verstehen herstellen sollten, erlaube ich mir darauf hinzuweisen, daß diese Bemerkung weder auf junge noch auf kleine Leute beschränkt ist, sondern alle Arten von Menschen angeht: kleine und große, junge und alte, noch wachsende und schon wieder abnehmende — es gibt also, sage ich, nicht viele Menschen, die gern in einer Kirche schlafen. Ich meine nicht während des Gottesdienstes bei warmem Wetter (wo so etwas ein paarmal tatsächlich schon vorgekommen ist), sondern nachts und ganz allein. Sehr viele werden — das weiß ich wohl — jäh erstaunt sein über diese Behauptung, wenn sie den hellen lichten Tag im Auge haben Sie bezieht sich aber auf die Nacht. Bei Nacht muß sie sich erweisen, und ich will mich unterfangen, sie mit Er-
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successfully on any gusty winter's night appointed for the purpose, with any one opponent chosen from the rest, who will meet me singly in an old churchyard, before an old church door, and will previously empower me to lock him in, if needful to his satisfaction, until morning. For the night-wind has a dismal trick of wandering round a building of that sort, and moaning as it goes; and of trying, with its unseen hand, the windows and the doors, and seeking out some crevices by which to enter. And when it has got in, as one not finding what it seeks, whatever that may be, it wails and howls to issue forth again; and not content with stalking through the aisles, and gliding round and round the pillars, and tempting the deep organ, soars up to the roof, and strives to rend the rafters; then flings itself despairingly upon the stones below, and passes, muttering, into the vaults. Anon, it comes up stealthily, and creeps along the walls—seeming to read, in whispers, the Inscriptions sacred to the Dead. At some of these, it breaks out shrilly, as with laughter; and at others, moans and cries as if it were lamenting. It has a ghostly sound, too, lingering within the altar, where it seems to chant, in its wild way, of Wrong and Murder done, and false Gods worshipped; in defiance of the Tables of the Law, which look so fair and smooth, but are so flawed and broken. Ughl Heaven preserve us, sitting snugly roung the fire! It has an awful voice, that wind at Midnight, singing in a church I But high up in the steeple I There the foul blast roars and whistles. High up in the steeple, where it is free to come and go through many an airy arch and loophole, and to twist and twine itself about the giddy stair, and twirl the groaning weathercock, and make the very tower shake and shiver! High up in the steeple, where the belfry is; ana iron rails are ragged with rust; and sheets of lead and copper, shrivelled by the changing weather, crackle and heave beneath the unaccustomed tread; and birds stuff shabby nests into corners of old oaken joists and beams; and dust grows old and grey;
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folg aufrechtzuerhalten in jeder stürmischen Winternacht, die sich dafür eignet, jedem aus der Menge gewählten Opponenten gegenüber, der bereit ist, allein mit mir auf einem alten Kirchplatz vor dem alten Kirchentor zusammenzutreffen, und der mich zuvor ermächtigt, ihn bis zum Morgen einzuschließen, wenn das zu seiner eigenen Genugtuung erforderlich ist. Denn der Nachtwind hat die schreckliche Marotte, um ein derartiges Gebäude rundherum zu wandern, dabei zu seufzen, mit seiner unsichtbaren Hand an den Fenstern und Türen herumzuprobieren und sich ein paar Spalten zu suchen, durch die er eindringt. Und wenn er drinnen ist, dann jammert und heult er, um wieder hinasuzugelangen, wie einer, der nicht finden kann, was er sucht; und nicht zufrieden damit, daß er durch die Seitenschiffe pirscht und um die Säulen rundherum gleitet, schwingt er sich hinauf bis zum Dach und rüttelt an den Sparren, wirft sich verzweifelt unten auf die Steine und zieht brummend in die Gewölbe. Sogleich kommt er verstohlen wieder herauf und kriecht an den Wänden entlang, scheinbar mit Flüsterstimme die den Toten geweihten Inschriften lesend. Bei einigen von diesen bricht er gleichsam in ein schrilles Lachen aus, bei andren seufzt und weint er wie im Klageton. Geisterhaft klingt er auch, wenn er am Altar verweilt; da ertönt wild sein Singsang von Unrecht und Mord, von Anbetung falscher Götter, zum Hohn der Gesetzestafeln, die so schön und sanft ausschauen und doch so rissig und zerbrochen sind. Hu! Der Himmel schütze uns, wenn wir behaglich am Kamin sitzen! Er hat eine schreckliche Stimme, der Mitternachtswind, wenn er in einer Kirche singt! Aber hoch oben im Glockenturm I Da heult und pfeift der gräßliche Sturm! Hoch oben im Glockenturm, wo er ungehindert durch so manchen luftigen Bogen und manches Schlupfloch kommen und gehen, sich über die schwindelerregende Treppe drehen und winden, den ächzenden Wetterhahn herumwirbeln und den Turm selbst rütteln und schütteln kann. Hoch oben im Glockenturm, da, wo der Glockenstuhl ist, wo die Eisengeländer vom Rost ausgezackt sind und wo bleierne und kupferne Tafeln, im wechselnden Wetter runzlig geworden, unter dem ungewohnten Tritt knattern und schwellen, wo Vögel armselige Nester in die Ecken alter eichener Längs- und Querbalken stopfen, wo der Staub alt und grau wird,
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and speckled spiders, indolent and fat with long security, swing idly to and fro in the vibration of the bells, and never lose their hold upon their thread-spun castles in the air, or climb up sailor-like in quick alarm, or drop upon the ground and ply a score of nimble legs to save a life I High up in the steeple of an old church, far above the light and murmur of the town, and far below the flying clouds that shadow it, is the wild and dreary place at night; and high up in the steeple of an old church dwelt the Chimes I tell of.
They were old Chimes, trust me. Centuries ago these Bells had been baptized by bishops—so many centuries ago, that the register of their baptism was lost long, long before the memory of man; and no one knew their names. They had had their Godfathers and Godmothers, these Bells (for my own part, by the way, I would rather incur the responsibility of being Godfather of a Bell than a Boy); and had their silver mugs, no doubt, besides. But Time had mowed down their sponsors, and Henry the Eighth had mowed down their mugs; and they now hung, nameless and mugless, in the church tower. Not speechless, though. Far from it. They had clear, loud, lusty, sounding voices, had these Bells; and far and wide they might be heard upon the wind. Much too sturdy Chimes were they, to be dependent on the pleasure of the wind, moreover; for, fighting gallantly against it when it took an adverse whim, they would pour their cheerful notes into a listening ear right royally; and bent on being heard, on stormy nights, by some poor mother watching a sick child, or some lone wife whose husband was at sea, they had been sometimes known to beat a blustering Nor'-Wester—ay, "all to fits," as Toby Veck said. For though they chose to call him Trotty Veck, his name was Toby, and nobody could make it anything else either (except Tobias) without a special Act of Parliament; he having been as lawfully christened in his days as the Bells had been
wo buntgesprenkelte Spinnen, in langer Ungestörtheit fett und faul geworden, mit dem Schwingen der Glocken hin und her schaukeln und dabei niemals den Halt auf ihren fadengesponnenen Luftburgen verlieren oder nach Art eines Seemanns bei plötzlichem Alarm in die Höhe klettern oder auf die Erde purzeln und zwanzig flinke Beine bewegen, um ein einziges Leben zu retten I Hoch oben im Glockenturm einer alten Kirche, weit über dem Licht und Rauschen der Stadt und weit unter den fliehenden Wolken, die sie beschatten: da ist nachts der wilde und düstere Platz, und hoch oben in dem Turm einer alten Kirche wohnten die abgestimmten Glocken, von denen ich erzählen will. Es waren alte Glocken, das könnt ihr mir glauben. Vor Jahrhunderten waren sie von Bischöfen getauft worden: vor so viel Jahrhunderten, daß die Niederschrift über ihre Taufe lange, lange vor Menschengedenken verlorengegangen war und daß niemand ihre Namen kannte. Sie hatten einmal ihre Paten und Patinnen gehabt, diese Glocken (ich meinerseits, nebenbei gesagt, würde lieber die Verantwortung eines Paten für eine Glocke als für einen Knaben auf mich nehmen), und sie hatten auch obendrein ihre Silberbecher gehabt. Die Zeit jedoch hatte ihre Paten dahingemäht, und Heinrich VIII. hatte ihre Silberbecher eingeschmolzen; und nun hingen sie namenlos und becherlos in dem Kirchturm. Aber nicht sprachlos, ganz und gar nicht. Sie hatten laute, lustige, tönende Stimmen, diese Glocken, und weit und breit konnte man sie auf dem tragenden Wind hören. Viel zu kräftig waren die Glocken übrigens, um von der Laune des Windes abhängig zu sein; denn wenn sie schneidig gegen ihn kämpften, sobald es ihm einfiel, sich gegen sie zu stellen, gössen sie ihre fröhlichen Klänge gar königlich in ein lauschendes Ohr; und da ihnen daran lag, in stürmischer Nacht von einer armen Mutter am Bett ihres kranken Kindes oder einer einsamen Frau, deren Gatte draußen auf der See war, vernommen zu werden, hatten sie, wie man wußte, manchmal einen brausenden Nordwest geschlagen; ja, wie Toby Veck sagte, ganz nach Laune; — denn wenn die Leute ihn auch lieber Trotty Veck nannten, so war sein Name doch Toby, und kein Mensch hätte ihn ohne ein besonderes Gesetz abändern können (höchstens in Tobias); er war ganz rechtmäßig zu seiner Zeit getauft
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in theirs, though with not quite so much of solemnity or public rejoicing. For my part, I confess myself of Toby Veck's belief, for I am sure he had opportunities enough of forming a correct one. And whatever Toby Veck said, I say. And I take my stand by Toby Veck, although he did stand all day long (and weary work it was) just outside the church door. In fact he was a ticket-porter, Toby Veck, and waited there for jobs. And a breezy, goose-skinned, blue-nosed, red-eyed, stony-toed, tooth-chattering place it was, to wait in, in the winter time, as Toby Veck well knew. The wind came tearing round the corner—especially the east wind—as if it had sallied forth, express, from the confines of the earth, to have a blow at Toby. And oftentimes it seemed to come upon him sooner than it had expected; for bouncing round the corner, and passing Toby, it would suddenly wheel round again, as if it cried, "Why, here he isl" Incontinently his little white apron would be caught up over his head like a naughty boy's garments, and his feeble little cane would be seen to wrestle and struggle unavailingly in his hand, and his legs would undergo tremendous agitation; and Toby himself all aslant, and facing now in this direction, now in that, would be so banged and buffeted, and touzled, and worried, and hustled, and lifted off his feet, as to render it a state of things but one degree removed from a positive miracle that he wasn't carried up bodily into the air as a colony of frogs or snails or other portable creatures sometimes are, and rained down again, to the great astonishment of the natives, on some strange corner of the world where ticket-porters are unknown. But windy weather, in spite of its using him so roughly, was, after all, a sort of holiday for Toby. That's the fact. He didn't seem to wait so long for a sixpence in the wind as at other times, for the having to fight with that boisterous element took off his attention, and quite freshened him up, when he was getting hungry and low-spirited. A hard frost, too, or a fall of snow, was an event; and it seemed to do him good, somehow or other—it would have been
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worden wie die Glocken zu der ihrigen, wenngleich nicht mit so viel Feierlichkeit und allgemeiner Freude. Ich für meinen Teil bekenne mich zu Toby Vecks Glauben; denn ich bin sicher, daß er Gelegenheit genug hatte, sich den richtigen zu bilden; was er sagt, das sage ich auch. Und so stelle ich mich neben Toby Veck, obgleich er tatsächlich den lieben langen Tag außerhalb der Kirchentür stand (beschwerliche Arbeit war das gewiß). Er war nämlich ein Dienstmann, dieser Toby Veck, und wartete da auf Aufträge. Und ein windiger Warteplatz war das schon im Winter, wie Toby Veck recht wohl wußte, so recht für eine Gänsehaut, eine blaue Nase, rote Augen, versteinerte Zehen, klappernde Zähne. Der Wind pfiff zerrend um die Ecke — namentlich der Ostwind —, gerade als ob er vom Rande der Erde eigens herangebraust käme, um Toby anzublasen. Oft schien er diesem früher da zu sein, als er erwartet hatte; denn wenn er um die Ecke schoß und an Toby vorbeisauste, schwenkte er plötzlich wieder herum, als ob er riefe: „Nun, da ist er!" Alsogleich zog er dann des Dienstmanns weiße Schürze über seinen Kopf, wie man den Anzug eines unartigen Jungen packt, sein schwaches Stöckchen wirbelte und kämpfte vergeblich in seiner Hand, seine Beine gerieten in fürchterliche Bewegung, Toby selbst fiel seitlich hin, blickte bald nach hier, bald nach dort und wurde so gepufft und gestoßen, so gepackt und gezaust und von den Füßen gehoben, daß es nur um Haarbreite von einem richtigen Wunder entfernt war, wenn er nicht ganz körperlich in die Luft gehoben wurde, wie es bisweilen mit Fröschen oder Schnecken oder andren leicht tragbaren Geschöpfen geschieht, die dann wieder herniederregnen, zur großen Verwunderung der Eingeborenen an irgendeiner merkwürdigen Ecke der Welt, wo Dienstmänner unbekannt sind. Aber wenn windiges Wetter ihm so unsanft zusetzte, so bedeutete es doch im Grunde eine Art Feiertag für Toby. Das ist wirklich wahr! Anscheinend wartete er bei starkem Wind nicht so lange wie an andren Tagen auf seinen Fünfziger; der Kampf gegen das lärmende Element nahm seine Aufmerksamkeit in Anspruch und frischte ihn auf, wenn er hungrig und niedergeschlagen war. Ein Ereignis war auch strenger Frost und Schneefall; der schien ihm irgendwie gut zu tun — in welcher Hinsicht jedoch, hätte
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hard to say in what respect, though, Toby! So wind and frost and snow, and perhaps a good stiff storm of hail, were Toby Veck's red-letter days. Wet weather was the worst—the cold, damp, clammy wet, that wrapped him up like a moist greatcoat: the only kind of greatcoat Toby owned, or could have added to his comfort by dispensing with. Wet days, when the rain came slowly, thickly, obstinately down; when the street's throat, like his own, was choked with mist; when smoking umbrellas passed and repassed, spinning round and round like so many teetotums, as they knocked against each other on the crowded footway, throwing off a little whirlpool of uncomfortable sprinklings; when gutters brawled and waterspouts were full and noisy; when the wet from the projecting stones and ledges of the church fell drip, drip, drip on Toby, making the wisp of straw on which he stood mere mud in no time—those were the days that tried him. Then, indeed, you might see Toby looking anxiously out from his shelter in an angle of the church wall—such a meagre shelter, that in summer time it never cast a shadow thicker than a goodsized walking-stick upon the sunny pavement—with a disconsolate and lengthened face. But coming out, a minute afterwards, to warm himself by exercise, and trotting up and down some do2en times, he would brighten even then, and go back more brightly to his niche.
er kaum sagen können, der brave Tobyl So waren also Wind und Frost und Schnee und vielleicht noch ein guter, steifer Hagelsturm Festtage für Toby Veck. Feuchtes Wetter war am schlimmsten; die kalte, dunstige, klebrige Nässe, die ihn einwickelte wie ein feuchter Überzieher — die einzige Sorte von Überzieher, die Toby sein eigen nannte oder deren Weggabe zu seinem Behagen hätte beitragen können. Nasse Tage, an denen der Regen langsam, reichlich und hartnäckig niederkam; an denen die Kehle der Straße wie seine eigene vom Nebel erstickt wurde; an denen rauchende Regenschirme hin und her gingen und wie lauter Würfelkreisel wirbelten, wenn sie auf dem gedrängt vollen Bürgersteig aneinander stießen und dabei einen kleinen Strudel unangenehmer Spritzer abwarfen; an denen die Gossen lärmten und die Wasserrohre voll und laut waren; an denen die Nässe von hervorstehenden Steinen und Gesimsen der Kirche tropf, tropf, tropf auf Toby herniederfiel und das Strohbündel, auf dem er stand, im Handumdrehen zu reinem Schlamm machte; das waren Tage, die ihn plagten. Da konnte man Toby wirklich angstvoll aus seinem Unterschlupf in einem Winkel der Kirchenmauer lugen sehen — einem so mageren Schlupfwinkel, daß er im Sommer keinen dickeren Schatten auf das sonnenbestrahlte Pflaster warf als ein handfester Spazierstock — , mit trostlosem, langem Gesicht. Wenn er dann aber eine Minute später herauskam, um sich durch Körperbewegung aufzuwärmen, und ein dutzendmal auf und ab ging, dann erhellte sich selbst an solchen Tagen seine Miene, und er ging heiterer in seine Nische zurück.
They called him Trotty from his pace, which meant speed if it didn't make it. He could have walked faster perhaps—most likely— but rob him of his trot, and Toby would have taken to his bed and died. It bespattered him with mud in dirty weather; it cost him a world of trouble. He could have walked with infinitely greater ease; but that was one reason for his clinging to it so tenaciously. A weak, small, spare old man, he was a very Hercules, this Toby, in his good intentions. He loved to earn his money. He delighted to believe—Toby was very poor,
Trotty nannte man ihn wegen seines trottenden Schrittes, der eilig sein sollte, wenn er es auch nicht war. Er hätte wohl schneller gehen können, höchstwahrscheinlich; er hätte sich aber zu Bett gelegt und wäre gestorben, wenn man ihm diesen Schritt geraubt hätte. Er bespritzte ihn mit Schmutz bei schmutzigem Wetter; er verursachte ihm allerlei Ungemach; er hätte unendlich bequemer gehen können; aber gerade darum hielt er so hartnäckig an diesem Schritt fest; ein schwacher, kleiner, dürrer alter Mann, war er in seinen guten Absichten ein wahrer Herkules, dieser Toby. Es machte ihm Freude, sein Geld zu verdienen. Es freute ihn, in dem Gedanken zu leben — Toby war sehr arm und konnte es
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and couldn't well afford to part with a delight—that he was worth his salt. With a shilling or an eighteen-penny message or small parcel in hand, his courage, always high, rose higher. As he trotted on, he would call out to fast Postmen ahead of him to get out of the way, devoutly believing that in the natural course of things he must inevitably overtake and run them down; and he had perfect faith—not often tested— in his being able to carry anything that man could lift.
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sich nicht leisten, auf eine Freude zu verzichten —, daß er sein Salz redlich verdiente. Mit einer Mark oder anderthalb für einen Botengang oder einem kleinen Paket in der Hand ließ er seinen Mut, der immer hoch war, noch höher wachsen. Wenn er dahintrottete, rief er schnell gehenden Briefträgern vor sich zu, sie sollten ihm aus dem Wege gehen, wobei er den frommen Glauben hegte, daß er im natürlichen Lauf der Dinge sie unfehlbar überholen und umrennen müßte; und er hatte die freilich nicht oft erprobte Zuversicht, daß er alles tragen könnte, was ein Mensch anheben kann.
Und schließlich die Einleitung des Heimchens am Herde: The Kettle began it! Don't tell me what Mrs. Peerybingle said. I know better. Mrs. Peerybingle may leave it on record to the end of time that she couldn't say which of them began it; but I say the Kettle did. I ought to know, I hope. The Kettle began it, full five minutes by the little waxy-faced Dutch clock in the corner before the Cricket uttered a chirp. As if the clock hadn't finished striking, and the convulsive little Haymaker at the top of it, jerking away right and left with a scythe in front of a Moorish Palace, hadn't mowed down half an acre of imaginary grass before the Cricked joined in at all! Why, I am not naturally positive. Every one knows that. I wouldn't set my own opinion against the opinion of Mrs. Peerybingle, unless I were quite sure, on any account whatever. Nothing should induce me. But this is a question of fact. And the fact is, that the Kettle began it, at least five minutes before the Cricket gave any signs of being in existence. Contradict me—and I'll say ten. Let me narrate exactly how it happened. I should have proceeded to do so, in my very first word, but for this plain consideration— if I am to tell a story, I must begin at the beginning; and how is it possible to begin at the beginning, without beginning at the Kettle? It appeared as if there were a sort of match, or trial of skill, you must understand, 27 Die Stimmen der Meister
Der Teekesselfingan! Man erzähle mir nicht, was Frau Peerybingle sagte. Ich weiß es besser. Frau Peerybingle mag es nachweisbar bis ans Ende der Tage festlegen, daß sie nicht genau sagen konnte, wer von beiden angefangen hatte. Ich sollte es doch wohl wissen, so hoffe ich? Der Teekessel fing an, ganze fünf Alinuten nach der kleinen holländischen Uhr mit dem wächsernen Gesicht in der Ecke, bevor das Heimchen auch nur ein Zirpen äußerte. Als ob die Uhr nicht fertig geschlagen und der zuckende kleine Mäher oben auf ihr, der seine Sense vor einem Maurenpalast ruckweise nach rechts und links schwang, nicht schon einen halben Morgen des in der Einbildung vorhandenen Grases abgemäht hätte, bevor das Heimchen überhaupt einstimmte! Nun, ich bin von Natur nicht rechthaberisch. Das weiß jeder. Ich möchte um keinen Preis meine Ansicht gegen die von Frau Peerybingle stellen, auf keinen Fall, wenn ich nicht ganz sicher wäre. Nichts könnte mich dazu bewegen. Hier aber handelt es sich um eine Tatsache. Und diese Tatsache ist, daß der Teekessel anfing, mindestens fünf Minuten, bevor das Heimchen das geringste Anzeichen seiner Existenz gab. Widersprecht mir nur, ich setze zehn. Ich will aber genau erzählen, wie es geschah. Das hätte ich schon mit dem allerersten Wort getan, wenn ich nicht von der einfachen Überlegung ausgegangen wäre: wenn ich eine Geschichte erzählen soll, muß ich am Anfang anfangen; und wie soll ich am Anfang anfangen, ohne mit dem Teekessel zu beginnen? Es schien eine Art Wettspiel zu sein oder eine Geschicklichkeitsprobe zwischen dem
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between the Kettle and the Cricket. And this is what led to it, and how it came about. Mrs. Peerybingle going out into the raw twilight, and clicking over the wet stones in a pair of pattens that worked innumerable rough impressions of the first proposition in Euclid all about the yard—Mrs. Peerybingle filled the Kettle at the water butt. Presently returning, less the pattens—and a good deal less, for they were tall and Mrs. Peerybingle was but short—she set the Kettle on the fire. In doing which she lost her temper, or mislaid it for an instant; for the water—being uncomfortably cold, and in that slippy, slushy, sleety sort of state wherein it seems to penetrate through every kind of substance, patten rings included— had laid hold of Mrs. Peerybingle's toes, and even splashed her legs. And when we rather Jume ourselves (with reason too) upon our egs, and keep ourselves particularly neat in point of stockings, we find this, for the moment, hard to bear.
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Besides, the Kettle was aggravating and obstinate. It wouldn't allow itself to be adjusted on the top bar; it wouldn't hear of accommodating itself kindly to the knobs of coal; it would lean forward with a drunken air, and dribble, a very idiot of a Kettle, on the hearth. It was quarrelsome, and hissed and spluttered morosely at the fire. To sum up all, the lid, resisting Mrs. Peerybingle's fingers, first of all turned topsy-turvy, and then, with an ingenious pertinacity deserving of a better cause, dived sideways in—down to the very bottom of the Kettle. And the hull of the Royal George has never made half the monstrous resistance to coming out of the water, which the lid of that Kettle employed against Mrs. Peerybingle before she got it up again.
It looked sullen and pig-headed enough, even then; carrying its handle with an air of defiance, and cocking its spout pertly and mockingly at Mrs. Peerybingle, as if it said, "I won't boil. Nothing shall induce me!" But Mrs. Peerybingle, with restored good humour, dusted her chubby little hands
Teekessel und dem Heimchen, das müßt ihr wissen. Und nun kommt, was dazu führte und wie sich alles zutrug. Frau Peerybingle, wie sie so im naßkalten Zwielicht hinausging und über die feuchten Steine schritt in Holzschuhen, die auf dem ganzen Hof rohe Abdrücke des ersten Lehrsatzes des Euklid hinterließen —Frau Peerybingle füllte den Teekessel am Wasserfaß. Als sie sogleich zurückkehrte, um die Holzschuhe verringert (und damit um ein gutes Stück verringert, denn sie waren groß, und Frau Peerybingle war nur klein), setzte sie den Teekessel aufs Feuer. Dabei verlor sie ihre gute Laune oder verlegte sie für einen Augenblick; denn das Wasser, das ungemütlich kalt und in dem schlüpfrigen, matschigen, graupligen Zustand war, in dem es durch jeden Gegenstand dringt, Holzschuhränder mit eingeschlossen, hatte von Frau Peerybingles Zehen Besitz ergriffen und sogar ihre Beine bespritzt. Und wenn wir uns auf unsre Beine etwas zugute tun (mit gutem Grund übrigens) und uns in puncto Strümpfe besonders adrett halten, so finden wir so etwas für den Augenblick schwer zu ertragen. Der Teekessel war überdies ärgerlich und hartnäckig; er ließ sich dem letzten Herdring nicht gerade einfügen; er paßte sich nicht freundlich den Kohlestücken an; er bestand darauf, sich mit dem Aussehen eines Betrunkenen nach vorn zu neigen und zu tröpfeln, ein geradezu blödsinniger Teekessel auf dem Herd. Er war zänkisch und zischte und spritzte verdrießlich am Feuer. Um das Maß voll zu machen, geriet der Deckel, Frau Peerybingles Fingern widerstehend, völlig durcheinander und tauchte mit einer sinnreichen Beharrlichkeit, die einer besseren Sache würdig gewesen wäre, seitwärts hinein — tief bis auf den Grund des Kessels. Und der Rumpf des RoyalGeorge-Wracks hat niemals auch nur einen halb so ungeheuren Widerstand gegen das Auftauchen aus dem Wasser geleistet als der Teekessel gegen Frau Peerybingle, bevor sie den Deckel wieder herauskriegte. Er sah auch dann noch mürrisch und dickköpfig genug aus, trug seinen Henkel mit trotziger Miene und hob seine Tülle keck und spöttisch auf Frau Peerybingle, als ob er sagte: „Ich will nicht kochen. Nichts wird mich dazu bringen." Frau Peerybingle aber, jetzt wieder ganz in ihrer guten Laune, staubte ihre plumpen kleinen Hände durch Gegeneinander-
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against each other, and sat down before the Kettle, laughing. Meantime, the jolly blaze uprose and fell, flashing and gleaming on the little Haymaker at the top of the Dutch clock, until one might have thought he stood stock-still before the Moorish Palace, and nothing was in motion but the flame.
klatschen ab und setzte sich lachend vor den Kessel. Mittlerweile hob und senkte sich die lustige Flamme, beleuchtete und bestrahlte den kleinen Mäher oben auf der holländischen Uhr, bis man meinen konnte, er sei vor dem Maurenpalast stehengeblieben und es sei außer der Flamme nichts mehr in Bewegung. He was on the move, however, and had his Er war aber doch in Bewegung und hatte spasms, two to the second, all right and seine Zuckungen, zwei in der Sekunde, ganz regular. But his sufferings when the clock richtig und regelmäßig. Aber sein Dulden, was going to strike were frightful to behold; sobald die Glocke sich zu schlagen anand when a Cuckoo looked out of a trapschickte, war jämmerlich anzusehen; und door in the Palace, and gave note six times, wenn ein Kuckuck aus einer Falltür in dem it shook him each time like a spectral voice Palast herausguckte und sechsmal rief, so —or like something wiry plucking his legs. schüttelte es ihn jedesmal wie eine Geisterstimme — oder wie etwas Borstiges, das an seinem Bein herumzerrte. Und weiter geht es über den Mäher, weiter über den Teekessel, der allmählich zu gurgeln anfängt und nach zwei oder drei vergeblichen Versuchen, seine geselligen Empfindungen zu ersticken, sein mürrisches Wesen abwirft und in einen hellen, fröhlichen Gesang ausbricht, der alle Nachtigallen hinter sich läßt. Der Gesang lockt jemand von draußen herein, herein aus der dunklen und naßkalten Nacht in die gemütliche, warme kleine Stube. Der Kessel singt sein Lied von der unfreundlichen Nacht, und derweilen kommt jemand, kommt, kommt! And here, if you like, the Cricket DID chime inl with a Chirrup, Chirrup, Chirrup of such magnitude, by way of chorus; with a voice so astoundingly disproportionate to its size, as compared with the Kettle (size! you couldn't see it!), that if it had then and there burst itself like an overcharged gun— if it had fallen a victim on the spot, and chirruped its little body into fifty pieces — it would have seemed a natural and inevitable consequence, for which it had expressly laboured. The Kettle had the last of its solo performance. It persevered with undiminished' ardour; but the Cricket took first fiddle, and kept it. Good Heaven, how it chirped! Its shrill, sharp, piercing voice resounded through the house, and seemed to twinkle in the outer darkness like a Star. There was an indescribable little trill and tremble in it, at its loudest, which suggested its being carried off in its legs, and made to leap again, by its own intense enthusiasm. Yet they went very well together, the Cricket and the Kettle. The burden of the song was still the same; and louder, louder still, they sang it in their emulation.
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Und hier — wenn's beliebt — stimmte das Heimchen nun wirklich ein! mit einem Zirp, Zirp, Zirp, mächtig und wie ein Chorgesang; mit einer Stimme, die in einem, wenn man an den Kessel dachte, so erstaunlichen Mißverhältnis zu seiner Körpergröße stand (KörpergrößeI es war kaum zu sehen!), daß, wenn es sich ab und zu aufgebläht hätte wie eine überladene Flinte und dabei auf der Stelle krepiert wäre und sein Körperchen in fünfzig Stücke gezirpt hätte, dies als eine ganz natürliche und unausbleibliche Folge erschienen wäre, auf die es ausdrücklich hingearbeitet hätte. Der Teekessel war gerade mit seiner Solovorführung fertig. Sie verharrte noch mit unverminderter Inbrunst; aber das Heimchen ergriff die erste Geige und wahrte sie. Du lieber Himmel, wie es zirpte! Seine schrille, scharfe, durchdringende Stimme tönte durch das Haus und schien draußen in der Dunkelheit wie ein Stern zu blinzeln. Wenn sie ganz laut wurde, war ein unbeschreibliches leises Trillern und Zittern in ihr, so daß man meinte, das Tierchen würde hochgehoben und spränge wieder herab in hellster Begeisterung. Sie fanden sich aber sehr gut zusammen, das Heimchen und der Teekessel. Der Kehrreim war noch derselbe; und lauter, lauter, immer lauter sangen sie in ihrem Wettstreit.
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VI. Streben nach Ausgleich: das „viktorianische Kompromiß"
Der Ankömmling ist ein hübsches junges Mädchen, das sich im Zimmer umsieht, einen Blick zum Fenster hinaus wirft und sich in den Stuhl setzt. Die beiden Sänger geraten förmlich in Kampfwut. There was the excitement of a race about it. Chirp, chirp, chirp I Cricket a mile ahead. Hum, hum, hum—m—ml Kettle making play in the distance, like a great top. Chirp, chirp, chirp 1 Cricket round the corner. Hum, hum, hum—m—m! Kettle sticking to him in his own way; no idea of giving in. Chirp, chirp, chirp I Cricket fresher than ever. Hum, hum, hum—m—ml Kettle slow and steady. Chirp, chirp, chirp! Cricket going in to finish him. Hum, hum, hum—m—ml Kettle not to be finished. Until at last they got so jumbled together, in the hurry-skurry, helter-skelter, of the match, that whether the Kettle chirped and the Cricket hummed, or the Cricket chirped and the Kettle hummed; or they both chirped or both hummed, it would have taken a clearer head than yours or mine to have decided with anything like certainty. But of this there is no doubt: the Kettle and the Cricket, at one and the same moment, and by some power of amalgamation best known to themselves, sent, each, his fireside song of comfort streaming into a ray of the candle that shone out through the window, and a long way down the lane. And this light, bursting on a certain person who, on the instant, approached towards it through the gloom, expressed the whole thing to him, literally in a twinkling, and cried, "Welcome home, old fellow 1 Welcome home, my Boy!" This end attained, the Kettle, being dead beat, boiled over, and was taken off the fire. Mrs. Peerybingle then went running to the door, where, what with the wheels of a cart, the tramp of a horse, the voice of a man, the tearing in and out of an excited dog, and the surprising and mysterious appearance of a Baby, there was soon the very What's-hisname to pay.
Es lag etwas von der Erregung eines Wettlaufs darin. Zirp, zirp, zirp! Heimchen eine Meile voran. Hm, hm, hm m — ml Kessel als Sieger im Spiel. Zirp, zirp, zirpl Heimchen fegt um die Eckel Hm, hm, hm — m — ml Kessel dicht an ihm, kein Gedanke an Nachgeben. Zirp, zirp, zirp! Heimchen frischer als je. Hm, hm, hm—m—m Kessel langsam und sicher. Zirp, zirp, zirp 1 Heimchen setzt zum Endspurt an. Hm, hm, hm — m — m! Kessel nicht zu schlagen. Bis sie schließlich in der Verwirrung und dem Holterdiepolter des Wettlaufs so durcheinandergewirbelt werden, daß es einen klareren Kopf als deinen oder meinen erfordert hätte, mit auch nur entfernter Gewißheit zu entscheiden, ob der Kessel zirpte und das Heimchen summte oder ob das Heimchen zirpte und der Kessel summte. Eins aber ist außer jedem Zweifel: daß Kessel und Heimchen in demselben Augenblick unter dem Einfluß irgendeiner Kraft der Vereinigung, die sie selbst am besten kennen mögen, beide ihren Trostgesang in dem Strahl einer zum Fenster hinausleuchtenden Kerze und noch ein ganzes Stück den Pfad entlang schickten. Und dieser Lichtstrahl stieß plötzlich auf ein menschliches Wesen, das sich augenblicklich auf ihn zu begab, erklärte ihm die ganze Situation buchstäblich im Handumdrehen und rief: „Willkommen, alter Junge! Willkommen, mein Junge!" Als es so weit war, mußte sich der Kessel geschlagen geben; er kochte über und wurde vom Feuer genommen. Frau Peerybingle rannte zur Tür, wo beim Rollen von Wagenrädern, dem Stampfen eines Pferdes, dem Hin- und Herzerren eines aufgeregten Hundes und dem überraschenden und geheimnisvollen Auftauchen eines kleinen Kindes schnell irgendein Dingsda bezahlt werden mußte.
Die drei Textproben sind bezeichnend. Da ist nichts von umständlicher Umweltbeschreibung nach Art Walter Scotts, da ist aber auch nichts von sofortigem Hineinspringen in Handlung und Thema. Beides fließt ineinander, Menschen und Milieu leben und gehören zusammen, die Stimmung ist alles. Mit Tod, Härte, Kälte und rechnendem Geschäftssinn setzt die Geschichte des fossil gewordenen Geizkragens Scrooge ein, mit Zugluft und ödem Turmgemäuer, Glockenbaumeln und -klingen die Erzählung von den Silvesterglocken, die ja selbst die Rolle des Helden spielen und von denen wir, immer noch in der Sphäre des Windes und der Unbehaglichkeit, in
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wunderbar feiner Weise zu der Person des armen Toby geführt werden, und in der Heimchengeschichte gibt das Kesselbrummen und das Zirpen unter dem Herd — mit jubelndem Gezirp schließt später die Begebenheit — Stimmung und Rahmen ab. Von Personifikation des Leblosen kann man angesichts dieser liebevollen Kleinmalerei, die wie ein Kind die Gegenstände streichelt, anspricht und mitleben läßt, ebensowenig sprechen wie beim Märchen. Es ist Phantastik und Realismus zugleich, ein Verweilen, ein Retardieren, dem es nicht bloß an der Handlung und den Schicksalen der Menschen liegt, sondern das von den geschauten Kleinbildern nicht loskommt, bei dem der Dichter sich und den Leser einschaltet; es ist eine Darstellungsform, die Zeit hat und nicht hastet, die das tief Psychologische nicht auseinandersetzt, sondern in schlichter Sprache erfühlen läßt. Man sehe daraufhin einmal die vielen Parenthesen an, etwa die lange Einschiebung gleich nach den ersten Worten der „Silvesterglocken", man beachte die umständliche Art, in der wir im „Weihnachtslied" erfahren, daß Marley nun wirklich tot ist, oder wie wir im „Heimchen" erst ganz allmählich erfahren, was wirklich los ist. Das ist das gütige Lächeln des Dichters, der das Kleine liebevoll umfaßt und mit Kinderaugen in die Welt schaut. Der Hauch der Poesie liegt auch über der Sprache, so schlicht-natürlich sie sich gibt. Ein Blick auf die ersten Seiten zeigt die vielen Stabreime: "as dead as a door-nail", "no doubt that Marley was dead", "the cold froze his old features", "no warmth could warm, nor wintry weather chill him", "nobody stopped him in the street", "fog and frost" usw. („Weihnachtslied"); "the broad bold day", „its wild way", "to rend the rafters", "it makes the tower shake and shiver", "to twist and twine", "the iron rails are ragged with rust", "the bells had been baptized by bishops", "loud, lusty, sounding voices", "to beat a blustering Nor'-Wester", "wet weather was the worst" usw. („Silvesterglocken"); "full five minutes by the waxy-faced Dutch clock in the corner", "the kettle and the Cricket", "a pair of pattens", "that slippy, slushy, sleety sort of state", "with a drunken air and a dribble" usw. („Heimchen"). Die bei bildhaften Schilderungen für Dickens charakteristische Zweigliedrigkeit des Ausdrucks: "it wails and howls", "it moans and cries", "wrong and murder done", "which look so fair and smooth, but are so flawed and broken", "to twist and twine", "shake and shiver", "joists and beams", "wild and dreary", "far and wide" u. a. („Silvesterglocken"); "the kettle was aggravating and obstinate", "it hissed and spluttered", "it looked sullen and pig-headed", "flashing and gleaming", "all right and regular", "the weights and ropes below him", "mellow and musical", "cosy and hilarious", "its iron body hummed and stirred", "deaf and dumb", "mist and darkness, mire and clay", "a trill and tremble" usw. („Heimchen"). Rhythmische Prosa: "Marley was dead: to begin with", "a frosty rime was on his head, and his eyebrows, and his wiry chin, . . . he iced his office in the dog-days", "the city clocks had just gone three", "the only time I know of, . . . when men and women seem by one consent to open their shut-up hearts freely, and to think of people below them", "and struck the hours and quarters in the clouds, with tremulous vibrations afterwards, as if the teeth were chattering in its frozen head up there" usw. („Weihnachtslied"); "for the night wind has a dismal trick of wandering round and round a building of that sort, and moaning as it goes", "but coming out, a minute afterwards, to warm himself by exercise, and trotting up and down some dozen times", "they called him Trotty from his pace, . . . but rob him of his trot, and Toby would have taken to his bed and died", "he made his last excursion several times a day", "and though I had said his love, I would not have recalled the word, though it would scarcely have expressed his complicated feeling" usw. („Silvesterglocken"); "O Mother Nature, give thy children the true poetry of heart that hid itself in this poor carrier's breast—he was but a carrier by the way—and we can bear to have then talking prose, and bear to bless thee for their company" usw. („Heimchen"). Das Weihnachtslied in Prosa (A Christmas Carol in Prose, 1843), die berühmteste dieser Erzählungen, ist eine erbauliche Geschichte nach Art der in den Puritanerkreisen des
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VI. Streben nach Ausgleich: das „viktorianische Kompromiß"
18. Jahrhunderts beliebten Schriften gegen Sünde und kirchliche Heuchelei. Ein verhärteter und griesgrämiger Mensch wird den Regungen des Herzens, der Güte und Wärme zurückgewonnen. I. A b s c h n i t t . Marleys Geist Vor sieben Jahren ist Marley gestorben. Sein Geschäftspartner Scrooge, der alte hartherzige Geizkragen, führt allein das Haus weiter, ein einsamer Junggeselle und in seinem rechnenden Kaufmannssinn vertrockneter Mensch, der sich im Winter nur wenige Kohlen gönnt und seinem armseligen Büroschreiber noch weniger. Als der Neffe ihm am Heiligabend fröhliche Weihnachten wünscht, fertigt er so etwas als Humbug ab: wie könne der Neffe fröhlich sein, da er doch arm sei? Worauf jener erwidert: wie kannst du, Onkel, so verdrießlich sein, da du doch reich bist? Schroff abgewiesen werden natürlich auch zwei Herren, die milde Gaben sammeln wollen. Für die Armen? Wenn es Arme gibt, sind denn keine Gefängnisse da? Einsam, kalt und dunkel ist die Häuslichkeit des alten Junggesellen, in die er sich durch einen finsteren Hof hintastet. Da plötzlich, am Weihnachtsvorabend, wo bei andren Festglanz und Freude herrschen, eine Erscheinung: der Türklopfer nimmt Marleys Gesicht an, Marley persönlich tritt durch die verschlossene Tür, mit schweren, schleifenden Ketten behangen. Die muß er als Geist tragen, weil er im Leben an nichts als Geschäfte gedacht und Ketten um andre Leute gelegt hat. Er kündigt Scrooge, der es ja ebenso treibt, den Besuch weiterer Gäste aus dem Reich der Toten an und verschwindet durch das Fenster auf die Straße, wo andre Geister in Dunkel und Nebel lärmen und stöhnen. II. Abschnitt. Der Geist der vergangenen Weihnacht Den ganzen Tag hat Scrooge nach der erregenden Erscheinung verschlafen; es ist schon wieder dunkler Abend, als er erwacht. Zur Geisterstunde steht wieder eine Erscheinving vor ihm, ein Kind mit den Zügen eines Greises. Ein Lichtstrahl strömt aus seinem Kopf, den es auslöschen kann, wenn es den unter dem Arm getragenen Hut aufsetzt. Es ist der Geist der vergangenen Weihnacht, der Scrooge an die Stätten seiner Jugend führt, hin in die alte Schule, wo der muntere Knabe sitzt und Streiche ausheckt, zur Schwester, zu Herrn Fezziwig, seinem Lehrmeister. Da herrschen Frohsinn, Tanz und Musik. III. Abschnitt. Der Geist der heutigen Weihnacht Wieder ein durchschlafener Tag, wieder ist es ein Uhr nachts, wieder kommt ein Bote aus dem Jenseits. Die Straßen sind voll von festlich gestimmten Käufern, die Geschäfte gefüllt mit lockenden Dingen. Der Geist läßt Scrooge einen Blick in die ärmliche Wohnung seines Bürogehilfen Bob Cratchit tun, wo Weihnachtsstimmung trotz aller Kärglichkeit herrscht. Die Kinder sind erwartungsvoll und von freudiger Erwartung gerötet, auch der kleine Tim, der Jüngste, ein schwacher und kränklicher Todeskandidat. Man spricht von dem harten Chef Scrooge; heute aber, am Fest der Liebe, wird ihm ein freundliches Glas geweiht. Dann geht es zu Bergleuten, zu Seeleuten. Überall ist das Leben hart; aber ein liebes Weihnachtslied ertönt auch bei den geplagten Menschen, auch im Hause von Scrooges Neffen, der glücklich neben seiner kränklichen Frau sitzt und und mit ihr des in seiner inneren Kälte so bemitleidenswerten Oheims gedenkt bei fröhlichen Scherzen, Pfänderspielen und heiterem Gespräch. Zum Schluß muß Scrooge noch auf zwei abgehärmte, matte, finster blickende Kinder schauen, die der Geist aus seinem Gewand hervorholt. Es sind „des Menschen" Kinder — Unwissenheit und Mangel. Gibt es für sie nicht Obdach und Hilfe? fragt Scrooge, muß aber mit Schaudern sein eigenes Wort hören: Gibt es keine Gefängnisse? keine Arbeitshäuser? Schon naht ein neues Gespenst.
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I V . A b s c h n i t t . Der Geist der kommenden Weihnacht Der letzte Geist ist tiefschwarz gekleidet, steif und stumm; nur eine vorgestreckte Hand weist die Richtung. Ein Geschäftsmann der City ist gestorben. Mit oberflächlicher Erwähnung gehen die profitgierigen Börsenfreunde über die Nachricht hinweg. Dann geht es in eine schmierige Gegend mit elenden Behausungen, wo Diebe und Hehler sich treffen und Plündergut verschachern, ein widerlicher Haufen von materiellem und geistigem Unrat. Ein Weib hat einen Toten ausgeplündert; wer mag es sein, der da verlassen und für immer verstummt in seinem Sterbebett lag? Der wortlose Geist sagt nichts. In Bob Cratchits Haus sorgt man sich um den kleinen Tim, den der Vater schon aufgibt. Erschüttert erlebt Scrooge überall der Menschheit ganzen Jammer. Noch einmal tut er einen Blick in die kalte Kammer jenes einsamen Toten, wo selbst Laken und Bettvorhang gestohlen sind. Er wird die Angst nicht los, er selbst könne es sein. Immer klarer erkennt er das eigene Los, und auf dem Grabstein steht es drohend und klar: Ebenezer Scrooge! V. A b s c h n i t t . Das Ende Der alte Mann ist gewandelt, der Weihnachtszauber und -segen haben das zuwege gebracht; er will mitfeiern und Gutes tun. Den größten Truthahn, der aufzutreiben ist, läßt er als unbekannter Spender in Bob Cratchits Haus schicken, wo das Weihnachtswunder schon wirkt: Klein Tim stirbt nicht und wird genesen. Als der arme Cratchit nach dem Fest zu spät zum Bürodienst erscheint, setzt Scrooge nur zum Schein die Miene des Zornes auf; in Wahrheit erhöht er den Lohn des braven Gehilfen und spendet einen bedeutenden Betrag für eine Wohltätigkeitsstiftung. — Ein realistisches Märchen ist das Ganze, Phantastik in die genau gezeichnete Wirklichkeit gestellt, die Wirklichkeit von 1843, als die Gespräche über Arbeitshäuser und Armensteuer lebendig waren. Die Schauplätze sind echt; so ging es zu in den Straßen und Kontoren der City, so sahen die Läden aus, so der Nebel, so die Börsianer, so das Diebesgesindel. Und in diese Wirklichkeit schneien die Geister hinein, die klagenden und ruhelosen, die mahnenden Sendboten aus dem Jenseits. Eine solche Mischung von Realismus und Spuk hatte es in Deutschland bei E. Th. A. Hoffmann gegeben. In England war sie ganz neu, für die Welt neu aber auch in ihrem gedanklichen Hintergrund. Hoffmanns Glaube an die Visionen erwächst aus einer Verachtung der Wirklichkeit, Dickens bejaht die Wirklichkeit und glaubt an die Menschen; was bei dem deutschen Dichter bisweilen wildzerfahren und ungesund wird, kehrt hier immer wieder zur Schönheit des kleinen Alltags zurück. Klar und einfach der Gegensatz des harten Geldmenschen und seines idealistischen Neffen, mitreißend die Fröhlichkeit im Hause des alten Fezziwig, menschlich groß in bedrückten äußeren Verhältnissen der schäbig bezahlte Büroangestellte Bob Cratchit, von schauerlicher Tragik die Szenen im Sterbehaus und auf dem Kirchhof. Die Liebe macht den ausgedörrten oder eingefrorenen Tatsachenmenschen zum sozial denkenden, mitfühlenden Menschen. Das ist die Botschaft an die Zeit eines kalten Tatsachen- und Nützlichkeitsdenkens, und sie wurde gehört. Dickens sprach zu den Herzen und wirkte mehr als alle Predigten; den Armen und Kranken wurde nie mehr Wohltätigkeit erwiesen als zu Weihnachten 1843. Humbug ist das alles für den Scrooge des Anfangs; nachher aber bleibt ihm dies Lieblingswort in der Kehle stecken, er sieht, daß die Bereiche der Phantasie, der Freude, der Liebe die stärkste Lebenswirklichkeit und die mächtigsten Waffen zum Sieg über alle Nöte sind. Das wird an einem einfachen Stoff vorgetragen, ohne eigentliche Motivierung, mit helfenden Geistern, denen wir großen Kinder so gerne zuhören und nachsinnen, mit einer freundlich-humorvollen Note, vor allem mit der höchsten Kunst der Schilderung von Einzelszenen, Das sind wahre Glanzstücke der realistischen Verleben-
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digung einer ganzen kleinen Umwelt: das Fest bei Fezziwig, mit Sang und Tanz, die Geschäftsstraßen in der schönen Erregung des Gabeneinkaufs und der Geberfreude, die Familienszenen bei den Cratchits und dem Neffen, die Diebes- und Hehlerhöhle. Ein Ausschnitt aus dem Weihnachtsfest der Cratchits mag diese Kunst des Details mit dem Einfangen einer Stimmung verdeutlichen: Straight to Scrooge's clerk's he went and took Scrooge with him, holding to his robe, and on the threshold of the door the Spirit smiled, and stopped to bless Bob Cratchit's dwelling with the sprinklings of his torch. Think of that I Bob had but fifteen "Bob" a week himself—he pocketed on Saturdays but fifteen copies of his Christian name; and yet the Ghost of Christmas Present blessed the four-roomed house I
Then up rose Mrs. Cratchit, Cratchit's wife, dressed out but poorly in a twice-turned gown, but brave in ribbons, which are cheap and make a goodly show for sixpence; and she laid the cloth, assisted by Belinda Cratchit, second of her daughters, also brave in ribbons; while Master Peter Cratchit plunged a fork into the saucepan of potatoes, and getting the corners of his monstrous shirt-collar (Bob's private property, conferred upon his son and heir in honour of the day) into his mouth, rejoiced to find himself so gallantly attired, and yearned to show his linen in the fashionable Parks. And now two smaller Cratchits, boy and girl, came tearing in, screaming that outside the baker's they had smelt the goose, and known it for their own; and basking in luxurious thoughts of sage-and-onion, these young Cratchits danced about the table, and exalted Master Peter Cratchit to the skies, while he (not proud, although his collars nearly choked him) blew the fire, until the slow potatoes, bubbling up, knocked loudly at the saucepan-lid to be let out and peeled.
"What has ever got your precious father, then?" said Mrs. Cratchit. "And your brother Tiny Tim? And Martha wasn't as late last Christmas Day by half an hour!" "Here's Martha, motherl" cried the two young Cratchits. "Hurrah I There's such a goose, Martha!"
Geradeswegs nach dem Hause von Scrooges Bürogehilfen ging der Geist und nahm Scrooge mit, sich an seinem Gewand festhaltend; und an der Türschwelle lächelte der Geist und blieb stehen, um Bob Cratchits Wohnung mit dem Funkensprühen seiner Fackel zu segnen. Man denke I Bob verdiente doch nur armselige fünfzehn „Bob" ( = Schilling) die Woche; nur fünfzehn Exemplare seines Vornamens steckte er sonnabends in die Tasche; und doch segnete der Geist der heutigen Weihnacht seine VierzimmerwohnungT Frau Cratchit, in ihrem schon zweimal gewendeten Kleid nur ärmlich aussehend, das aber prächtig aufgeputzt war mit billigen und fiir ein Fünfzigpfennigstück immerhin stattlich wirkenden Bändern, stand auf und deckte den Tisch, unterstützt von ihrer zweiten Tochter Belinda, die auch herrlich mit Bändern ausstaffiert war. Der junge Herr Peter Cratchit tauchte währenddessen eine Gabel in eine Kasserolle mit Kartoffeln und kriegte dabei die Ecken seines riesigen Hemdkragens in den Mund (Bobs Privateigentum, das er dem Sohn und Erben zu Ehren des Tages abgetreten hatte), froh über seine stattliche Bekleidung und voll Verlangen, seine Wäsche in den vornehmen Parks zur Schau zu tragen. Und dann kamen zwei kleinere Cratchits herein, ein Junge und ein Mädel, jagend und laut rufend, sie hätten vor der Bäckerei die Gans gerochen und als die ihrige erkannt; sie sonnten sich in üppigen Gedanken an Salbeizwiebel, tanzten um den Tisch und priesen den jungen Herrn Peter Cratchit bis in den Himmel, während dieser (ohne Stolz, obgleich der Kragen ihn fast erstickte) das Feuer anblies, bis die langsam kochenden Kartoffeln aufbrodelten, laut an den Topfdeckel pochten und herausgelassen und abgepellt zu werden verlangten. „Wo mag bloß euer unschätzbarer Vater stecken", sagte Frau Cratchit, „und euer Bruder, Klein Tim! Und Martha kam vorige Weihnachten auch nicht eine halbe Stunde zu spät!" „Hier ist Martha, Mutter!" riefen die beiden jungen Cratchits. „Hurra 1 Es gibt sooo 'ne Gans, Martha!"
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"Why, bless your heart alive, my dear, how late you arel" said Mrs. Cratchit, kissing her a dozen times, and taking off her shawl and bonnet for her with officious zeal. "We'd a deal of work to finish up last night," replied the girl, "and had to clear away this morning, mother!" "Well I never mind so long as you are come," said Mrs. Cratchit. "Sit ye down before the fire, my dear, and have a warm, Lord bless ye!" "No, nol There's father coming," cried the two young Cratchits, who were everywhere at once. "Hide, Martha, hide!" So Martha hid herself, and in came little Bob, the father—with at least three feet of comforter, exclusive of the fringe, hanging down before him, and his threadbare clothes darned up and brushed, to look seasonable —and Tiny Tim upon his shoulder. As for Tiny Tim, he bore a little crutch, and had his limbs supported by an iron frame! "Why, Where's our Martha?" cried Bob Cratchit, looking round. "Not coming," said Mrs. Cratchit. "Not coming!" said Bob, with a sudden declension in his high spirits; for he had been Tim's blood horse all the way from church, and had come home rampant. "Not coming upon Christmas Day!" Martha didn't like to see him disappointed, if it were only in joke; so she came out prematurely from behind the closet door, and ran into his arms, while the two young Cratchits hustled Tiny Tim, and bore him off into the wash-house, that he might hear the pudding singing in the copper. "And how did little Tim behave?" asked Mrs. Cratchit, when she had rallied Bob on his credulity, and Bob has hugged his daughter to his heart's content. "As good as gold," said Bob, "and better. Somehow he gets thoughtful, sitting by himself so much, and thinks the strangest things you ever heard. He told me, coming home, that he hoped the people saw him in the church, because he was a cripple, and it might be pleasant to them to remember upon Christmas Day who made the beggars walk and blind men see." Bob's voice was tremulous when hetold them this, and trembled more when he said that Tiny Tim was growing strong and hearty.
„ D u meine Güte! Kind, wie spät du kommst!" sagte Frau Cratchit, küßte sie ein dutzendmal und nahm ihr mit übereifriger Dienstfertigkeit Schal und Kappe ab. „Wir hatten gestern abend noch viel fertigzumachen", erwiderte das Mädchen, „und heute morgen viel aufzuräumen, Mutti!" „Na, nun bist du ja wenigstens hier", sagte Frau Cratchit. „Setz dich ans Feuer, Kind, und wärme dich um Gottes willen ein bißchen auf." „Nein, nein! Vater kommt", riefen die beiden jungen Cratchits, die immer überall zugleich waren. „Versteck' dich, Martha, schnell!" Das tat sie auch, und herein kam der kleine Bob, der Vater, mit einem mindestens drei Fuß langen Halstuch, die Fransen nicht mitgerechnet, das vorn an ihm herunterhing, mit seinem fadenscheinigen Anzug — frisch ausgebessert und abgebürstet, wie es sich für den Tag gehörte — und mit Klein Tim auf der Schulter. Ach, der kleine Tim! Er trug eine kleine Krücke, und seine Glieder wurden durch ein Eisengestell gestützt. „Nun, wo ist denn unsre Martha?" Bob Cratchit sah sich um. „Kommt nicht", sagte seine Frau. „Kommt nicht?" Bobs Stimmung sank plötzlich ab; sie war lebhaft gewesen, da er ja von der Kirche an den ganzen Weg Tims Vollblutpferd hatte sein müssen und aufrecht auf den Hinterbeinen heimgekommen war. „Kommt nicht am Weihnachtsheiligabend?" Martha mochte ihn nicht so enttäuscht sehen, auch nicht zum Spaß. Darum kam sie vorzeitig aus der Kammertür hervor und lief ihm in die Arme, während die beiden jungen Cratchits Klein Tim drängten und in den Waschraum trugen, damit er den Pudding in dem Kupfertiegel singen hören könnte. „War Klein Tim auch artig?" fragte Frau Cratchit, als sie Bob wegen seiner Leichtgläubigkeit zum besten hatte und Bob die Tochter nach Herzenslust umarmte. „Wie ein Engelchen", erwiderte Bob, „ja noch besser. Manchmal ist er so nachdenklich, sitzt ganz für sich allein und sinnt den seltsamsten Dingen nach. Auf dem Heimwege sagte er zu mir, er nehme doch an, daß die Leute ihn in der Kirche sehen, weil er doch ein Krüppel sei, und es könne ihnen vielleicht Freude machen, zu Weihnachten daran zu denken, wer lahme Bettler gehen und Blinde sehen gemacht habe." Bobs Stimme zitterte bei diesen Worten und noch mehr, als er sagte, Klein Tim werde stark und kräftig.
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His active little crutch was heard upon the floor, and back came Tiny Tim before another word was spoken, escorted by his brother and sister to his stool beside the fire; and while Bob, turning up his cuffs —as if, poor fellow, they were capable of being made more shabby—compounded some hot mixture in a jug with gin and lemons, and stirred it round and round and put it on the hob to simmer, Master Peter and the two ubiquitous young Cratchits went to fetch the goose, with which they soon returned in high procession. Such a bustle ensued that you might have thought a goose the rarest of all birds—a feathered phenomenon, to which a black swan was a matter of course; and in truth it was something very like it in that house. Mrs. Cratchit made the gravy (ready beforehand in a little saucepan) hissing hot; Master Peter mashed the potatoes with incredible vigour; Miss Belinda sweetened up the apple-sauce; Martha dusted the hot plates; Bob took Tiny Tim beside him in a tiny corner at the table; the two young Cratchits set chairs for everybody, not forgetting themselves, and mounting guard upon their josts, crammed spoons into their mouths, est they should shriek for goose before their turn came to be helped. At last the dishes were set on, and grace was said. It was succeeded by a breathless pause, as Mrs. Cratchit, looking slowly all along the carving-knife, prepared to plunge it into the breast; but when she did, and when the long-expected gush of stuffing issued forth, one murmur of delight arose all round the board, and even Tiny Tim, excited by the two young Cratchits, beat on the table with the handle of his knife, and feebly cried Hurrah!
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There never was such a goose. Bob said he didn't believe there ever was such a goose cooked. Its tenderness and flavour, size and cheapness, were the themes of universal admiration. Eked out by the apple-sauce and mashed potatoes, it was a sufficient dinner for the whole family ; indeed, as Mrs. Cratchit said with great delight (surveying one small atom of a bone upon the dish), they hadn't ate it all at last ! Yet every one had had enough,
Man hörte seine geschäftige kleine Krücke auf dem Flur, und da war der Kleine auch schon wieder, bevor ein Wort gesprochen wurde, von Bruder und Schwester zu seinem Schemel am Kamin geleitet. Bob krempelte seine Manschetten auf — gerade als ob sie, armer Kerll noch schäbiger hätten werden können —, braute aus Wacholderbranntwein und Zitronen etwas Heißes zusammen, rührte es tüchtig um und stellte es zum Brodeln auf die Wärmeplatte; Peter und die unvermeidlichen jungen Cratchits holten die Gans, mit der sie bald in feierlicher Prozession zurückkehrten. Es folgte eine so eifrige Geschäftigkeit, daß man die Gans für den ungewöhnlichsten aller Vögel hätte halten können; ein gefiedertes Wunder, neben dem sich ein schwarzer Schwan wie etwas Alltägliches ausgenommen hätte; und dabei war sie doch in diesem Hause etwas Ähnliches. Frau Cratchit brachte die Tunke, die vorher in einer kleinen Pfanne angerichtet war, zum Zischen; Peter zerquetschte die Kartoffeln mit unglaublichem Kraftaufwand; Bob nahm Klein Tim neben sich an eine winzige Tischecke; die beiden jungen Cratchits stellten die Stühle für alle zurecht, nicht zuletzt für sich selbst, bezogen Posten auf ihrem Stand und zwängten sich den Löffel in den Mund, um nicht laut nach ihrem Gänsebraten zu schreien, bevor sie an der Reihe waren. Zuletzt wurden die Gerichte aufgetragen, und man sprach das Tischgebet. Danach folgte eine atemlose Pause, als Frau Cratchit, mit langsamem Blick das Tranchiermesser musternd, sich anschickte, es dem Tier in die Brust zu senken; aber als sie es tat und der langerwartete Erguß der Füllung hervorsprang, da erhob sich ein Gemurmel des Entzückens um den ganzen Tisch, und selbst Klein Tim, durch die beiden jungen Cratchits in Erregung versetzt, schlug mit dem Messerheft auf den Tisch und schrie schwach Hurra I Eine solche Gans hatte es noch nie gegeben. Bob sagte, er glaube nicht, daß eine solche schon mal gebraten worden sei. Ihre Zartheit, ihr Duft, ihre Größe und Billigkeit waren Gegenstände der allgemeinen Bewunderung. Mit dem Apfelmus und Kartoffelbrei bildete sie ein ausreichendes Festessen für die ganze Familie; ja Frau Cratchit sagte hocherfreut (als sie ein winziges Stückchen Knochen aufder Platte anschaute), sie hätten sie nicht einmal ganz aufgegessen. Jeder hatte aber genug gehabt, und besonders
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and the youngest Cratchits, in particular, were steeped in sage and onion to the eyebrows! But now, the plates being changed by Miss Belinda, Mrs. Cratchit left the room alone—too nervous to bear witnesses—to take the pudding up, and bring it in. Suppose it should not be done enough! Suppose it should break in turning out! Suppose somebody should have got over the wall of the backyard, and stolen it, while they were merry with the goose —a supposition at which the two young Cratchits became livid! All sorts of horrors were supposed. Hallo! A great deal of steam! The pudding was out of the copper. A smell like a washing-day. That was the cloth. A smell like an eating-house and a pastry-cook's next door to each other, with a laundress's next door to that! That was the pudding. In half a minute Mrs. Cratchit entered— flushed, but smiling proudly—with the pudding, like a speckled cannon-ball, so hard and firm, blazing in half of half a quartern of ignited brandy and bedight with Christmas holly stuck into the top. Oh, a wonderful pudding! Bob Cratchit said, and calmly too, that he regarded it as the greatest success achieved by Mrs. Cratchit since their marriage. Mrs. Cratchit said that, now the weight was off her mind, she would confess she had had her doubts about the quality of flour. Everybody had something to say about it, but nobody said or thought it was at all a small pudding for a large family. It would have been flat heresy to do so. Any Cratchit would have blushed to hint at such a thing. At last the dinner was all done, the cloth was cleared, the hearth swept, and the fire made up. The compound in the jug being tasted and considered perfect, apples and oranges were put upon the table, and a shovelful of chestnuts on the fire. Then all the Cratchit family drew round the hearth, in what Bob Cratchit called a circle, meaning half a one; and at Bob Cratchit's elbow stood the family display of glass—two tumblers, and a custard-cup without a handle. These held the hot stuff from the jug, however, as well as golden goblets would have done; and Bod served it out with
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die jüngsten Cratchits waren bis zu den Augenbrauen in Salbeizwiebel getaucht. Nun aber, als Fräulein Belinda die Teller wechselte, ging Frau Cratchit allein aus dem Zimmer — sie war zu nervös, um Zeugen zu dulden —, um den Pudding herauszunehmen und hereinzubringen. Wenn er etwa nicht ordentlich durch wäre! Wenn er beim Umkippen brechen sollte! Wenn jemand über die Mauer des Hinterhofs geklettert wäre und ihn gestohlen hätte, während sie drinnen fröhlich beim Gänsebraten saßen — ein Gedanke, bei dem die beiden jungen Cratchits blaß wurden. Alle deutbaren Schrecknisse tauchten auf. Hallo! Da rauchte etwas gewaltig! Der Pudding war aus dem Kupfertiegel! Ein Geruch wie am Waschtag; das war die Leinwand. Ein Duft wie ein Speisehaus mit einer Konditorei dicht daneben und dann einer Wäscherei! Das war der Pudding. In einer halben Minute kam Frau Cratchit herein: hochgerötet, aber stolz lächelnd, in den Händen den Pudding, wie eine bunt gesprenkelte Kanonenkugel, so hart und fest, in der Hälfte eines halben Viertels angezündeten Branntweins leuchtend und mit dem oben hineingesteckten Stechpalmenzweig geschmückt. Oh, ein wunderbarer Pudding! Bob Cratchit bemerkte, und zwar gemessen, daß er ihn als den größten Erfolg seiner Frau seit ihrer Eheschließung ansehe. Frau Cratchit sagte, nun, da die Last von ihrer Seele genommen sei, könne sie ja bekennen, daß sie über die Qualität des Mehls ihre Zweifel gehabt hätte. Jeder hatte etwas zu bemerken; keiner aber sagte oder dachte, daß der Pudding für eine so große Familie schließlich doch recht klein war. Das wäre ja krasse Ketzerei gewesen; jeder Cratchit wäre über eine solche Andeutung errötet. Endlich war das Mahl zu Ende, es wurde abgeräumt, der Herd gefegt, das Feuer angefacht. Man kostete die Mischung in dem Krug und fand sie vollendet; Äpfel und Apfelsinen wurden auf den Tisch gestellt, eine Schaufelvoll Kastanien aufs Feuer. Dann rückte die ganze Familie um den Herd — Bob Cratchit nannte das einen Kreis, meinte aber einen Halbkreis. An Bob Cratchits Ellbogen stand der ganze Aufwand an Glas, den die Familie besaß: zwei Trinkgläser und ein Sahnenbecher ohne Henkel. Diese Gefäße aber hielten den heißen Trank aus dem Krug gerade so gut, wie es goldene Pokale getan hätten; und Bob schenkte mit
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V I . Stieben nach Ausgleich: das „viktorianische Kompromiß"
beaming looks, while the chestnuts on the fire sputtered and crackled noisily. Then Bob proposed: — "A Merry Christmas to us all, my dears. God bless us I" Which all the family re-echoed. "God bless us every onel" said Tiny Tim, the last of all.
strahlenden Blicken ein, während die Kastanien am Feuer laut sprühten und knatterten. Dann brachte Bob den Toast aus: „Fröhliche Weihnachten für uns alle, meine Lieben. Gott segne uns!" Und die ganze Familie stimmte ein. „Gott segne uns alle!" sagte Klein Tim als allerletzter.
Das ist ein Realismus, der liebevoll und verklärend in die Welt der Kleinen hineinschaut, der das Unscheinbare wichtig nimmt, schlicht und unsentimental; die bereits ein wenig feucht gewordenen Augen des alten Scrooge schauen ja in dieses Glück hinein, und die umständliche Kleinmalerei vermenschlicht für den Leser das durch Geister bewirkte Wunder seines Seelenwandels. Der Bitte der Liebesgabensammler am Heiligabend hatte Scrooge nur die abweisende Frage entgegenstellen können: Gibt es für die Armen keine Gefängnisse oder Arbeitshäuser? Dahinter steckt die alte calvinistisch-puritanische Auffassung von der Erwählung oder Verwerfung durch Gottes Ratschluß, von der Gottwohlgefälligkeit des Erfolges und dem Laster der Armut. Schon in dem ersten Armengesetz aus der Regierungszeit der Königin Elisabeth (1601) war das Anhalten oder die Erziehung zur Arbeit vorgesehen, woraus sich später das als Korrektionsanstalt gemeinte Armenhaus entwickelte. 1834 brachte ein neues Armengesetz durchgreifende Reformen, die an die Stelle der überlebten Selbstherrlichkeit der Friedensrichter eine straflere Verwaltung setzte und gegenüber einem eingerissenen Schlendrian allerlei unpopuläre, aber in der Gesamtwirkung heilsame Maßnahmen brachte. Aus den verschiedensten Gründen setzte eine gewaltige Opposition gegen das neue Gesetz ein, nicht nur in Arbeiterkreisen. Die Reform entmutigte die private Wohltätigkeit durch strenge Durchführung der Armensteuer und der Einweisung in die Armenhäuser, und Scrooges Verweigerung des Almosens entsprach einer weit verbreiteten Haltung. Dickens machte sich zum Anwalt der Gefühle der betroffenen Kreise und schilderte oft die bösen Zustände in den von hartherzigen Aufsehern verwalteten Schuldgefängnissen und Armenhäusern; Die Pickwickier, Oliver Twist und David Copperfield sind Beispiele. Sein mitfühlendes Herz lehnte sich ebenso gegen die mechanistischen Methoden der utilitaristischen Ethik und der Rechenkünste volkswirtschaftlicher Statistik auf. Er steht also an der Seite Carlyles und Ruskins in dem Kampf gegen die die menschliche Seele vergewaltigende neue Nationalökonomie. Filer in den Silvesterglocken bringt mit seinen Tatsachen und Zahlen den armen Toby Veck fast um den Verstand, die Kapitalisten Gradgrind und Bounderby (Harte Zeiten) sind ebenso wie der stolze Kaufmann Dombey ( Dombey und Sohn) harte Tatsachenmenschen mit eisiger Seelenkälte. Solchen Haltungen und Strömungen gegenüber das schlichte Evangelium der Liebe zu predigen, um es in einem christlichen Land zur Wirkung zu bringen, war die Absicht der Weihnachtserzählungen, wie der Dichter in der Vorrede der ganzen Sammlung bekennt. Praktische Ethik, werktätige Liebe, Appell an das Gewissen; es ist die Linie des „christlichen Sozialismus" eines Maurice und Kingsley, aus dem die Heilsarmee und verwandte Bestrebungen erwuchsen. Ein andres Thema, das seit den pädagogischen Neuerungen zweier Männer -— Joseph Lancaster und Andrew Bell — zu Beginn des Jahrhunderts die allgemeine Aufmerksamkeit immer stärker beschäftigte, war das der Schulen, die ja ausnahmslos Privatschulen waren und in der geistigen Herrschaft der Tatsachen und Zahlen zum Teil schlimme Geschäfts- und Ausbeutungsanstalten wurden. Die billigen Schulunternehmungen in kleineren Orten von Yorkshire standen in einem besonders schlechten Ruf; der Dichter hörte allerlei von ihnen und besuchte einen der Schul-
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meister, der das Vorbild seines Wackford Squeers wurde. Die Knechtung und Mißhandlung junger Seelen war ein Gegenstand, der Dickens schon in einem seiner ersten großen Romane auf den Plan rief, in Nicholas Nickleby (1838/39), in dem das ScroogeThema von dem hartherzigen Oheim und dem idealgesinnten Neffen zum ersten Male erscheint. Nicholas Nickleby und seine Schwester Kate werden mit 18 und 17 Jahren vaterlos; das kleine Gut und bescheidene Vermögen sind durch Spekulationen des Verstorbenen verlorengegangen. Die Witwe zieht mit den Kindern zu Miss La Creevy, einer freundlichen älteren Dame, die vom Malen von Miniaturbildern lebt. Eine Hoffnung der leichtgläubigen Mutter ist der Bruder des Verstorbenen, Ralph Nickleby, ein durch allerlei undurchsichtige Geldgeschäfte reich gewordener Mann, ein kühl rechnender Tatsachenmensch im Gegensatz zu dem ein wenig phantastischen, erfolgloseren Heimgegangenen. Er nimmt sich der Waisen an, verschafft Nicholas eine Stelle bei dem Schulhalter Wackford Squeers in einem kleinen Ort in Yorkshire und Kate eine Beschäftigung in dem Modehaus der Frau Mantalini. Das Schulgeschäft in Yorkshire entpuppt sich als eine wahre Hölle, Squeers als ein geldgieriger Peiniger der Kinder, seine Frau als seine gefügige Helferin; seine Tochter ist freundlich zu dem neuen Hilfslehrer, solange sie ihn einzufangen hofft, nach der Abweisung aber seine erbitterte Feindin. Die Schüler lernen das Hungern und werden brutal geschlagen. Am schlimmsten hat es Smike, um den sich kein Elternhaus kümmert, der Sklave und Prügelknabe des rohen Schulmeisters. Auf einem Fluchtversuch erwischt, hat er ganz besonders strenge Züchtigung zu erwarten. Da aber wirft sich Nicholas auf Squeers und schlägt ihn mit seinem eigenen Prügel nieder, so daß er liegen bleibt. Natürlich verläßt er auf der Stelle Haus und Amt. Ein einfacher junger Bauer, dem die Durchwalkung des Schulmeisters Behagen bereitet, hilft ihm mit seinem Gefährt, die weite Strecke bis London zu überwinden. Unterwegs gesellt sich Smike zu ihnen, der Nicholas heimlich gefolgt ist und ihn nicht mehr verläßt. In der Zeit der Abwesenheit des Bruders hat es Kate Nickleby schlimm gehabt. Die Freunde und Geldnehmer des wuchernden Oheims, Sir Mulberry Hawk und der dekadente Lord Verisopht, verfolgen sie mit Zudringlichkeiten, eine eifersüchtige ältere Kollegin verdrängt sie aus der Stellung in dem Modehaus, eine neue Beschäftigung als Gesellschafterin einer nervösen Dame läßt sie ihre drückende Lage schwer empfinden. Nicholas macht sich nach kurzer Tätigkeit als Hauslehrer mit Smike auf den Weg nach der Südküste, um auszuwandern. Unterwegs wird er mit dem Schmierendirektor Crummles bekannt, in dessen Wandertruppe er als Schauspieler und Bearbeiter fremder Stücke ein paar Wochen zubringt. Die Not der Schwester veranlaßt ihn zurückzukehren. Er kommt gerade zur rechten Zeit, um den lüsternen Sir Mulberry tüchtig zu verprügeln, der dann auch gleich auswandert, weil ihm der Boden zu heiß wird. Nicholas findet eine Stellung bei den menschenfreundlichen, gütigen Brüdern Cheeryble. Er faßt eine tiefe Neigung zu der jungen Madeline Bray, die auf Betreiben Ralph Nicklebys einen alten Junggesellen Gride heiraten soll und sich auch entsagungsvoll dazu bereit erklärt, um ihren heruntergekommenen und kranken Vater mit dem Gelde des ihr zugedachten Gatten zu retten. Was für die Anstifter des Planes dahinter steckt, ahnt ihre treue Kindesliebe nicht; Gride dagegen hat das Dokument, in dem ein Verwandter ihr für den Fall ihrer Verheiratung ein großes Vermögen ausgesetzt hat. Plötzlich ist das wichtige Testament verschwunden, gestohlen 1 Ralph tobt und verlangt es, der Schulmeister Squeers soll es beschaffen. Schon ist dieser fast am Ziel, da schlägt ihn der gute alte Diener des Wucherers, Newman Noggs, mit einem Knüppel nieder, ergreift das Schriftstück und übergibt es den Brüdern Cheeryble. Der junge Smike ist inzwischen an der Schwindsucht immer kraftloser, stiller, sehnsuchtsvoller geworden. Ein Erholungsaufenthalt auf dem Lande unter Nicholas' Obhut bringt keine Rettung mehr. Der Jüngling stirbt und ruht aus
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VI. Streben nach Ausgleich: das „viktorianische Kompromiß"
von einem gehetzten und gepeinigten Leben, innerlich aber geborgen in der Freundschaft und Liebe Nicholas' und seiner Schwester, die der Sterbende im tiefsten Winkel seines Herzens verehrte. Noch kurz zuvor hatten Ralph Nickleby und Squeers den Versuch gemacht, Smike mit Hilfe eines bestochenen falschen Vaters wieder in ihre Hand zu bekommen; der schändliche Plan schlägt aber fehl—Nicholas und der Diener Noggs waren auf der Hut. Auf einer Tischgesellschaft in seinem Hause kann der gütige Charles Cheeryble Mitteilungen machen, die Glück stiften und das Böse vernichten. Er verkündet die große Erbschaft Madelines, die Nicholas heimführen kann. Frank Cheeryble, der Neffe, heiratet Kate, und sogar der schon bejahrte erste Buchhalter Tim Linkinwater bekommt noch seine Ehehälfte in der freundlichen Miniaturmalerin La Creevy. Frank und Nicholas werden Teilhaber und Erben der Firma, die von nun an Cheeryble und Nickleby heißt. Der schurkische Oheim Ralph aber ist vernichtet. Er verliert sein Vermögen und muß erfahren, daß der von ihm verfolgte und gequälte Smike sein eigener Sohn aus der Ehe mit einer Frau war, die ihm vor vielen Jahren weggelaufen ist. Selbstmord durch Erhängen beschließt dies trübe, nun zerschmetterte Leben. Gerade bei Dickens ist eine schlichte Inhaltsskizze das ungeeignetste Mittel, um einen Eindruck von Eigenart und Bedeutung eines Romans zu vermitteln. Nicholas Nickleby sollte ebenso wie der ihm vorangehende Oliver Twist ein Problemroman über ein politisch-soziales Thema werden. Hier wie dort aber gleitet die Darstellung bald in die Bahnen des alten Abenteuerromans hinüber. Das Hauptmilieu der elenden Schulen in Yorkshire tritt nach starken Eindrucksszenen in den Hintergrund, Nebenhandlungen überwuchern bisweilen ohne zwingende Verbindung das Hauptmotiv, immer neue Menschen und Situationen lassen die in der Anlage wuchtigen beiden Kreise, die Landschule und den Geldmarkt der Börsenjobber, nicht zur vollen dramatischen Entfaltung kommen. Das gehört aber zu der Eigenart dieses Dichters; sein Hauptanliegen ist nicht die kunstvolle Handlungsführung — schon die Serienform der Veröffentlichung drängte ja mehr zu abwechslungsreichen Abenteuern —, seine Stärke liegt in der Menschenschilderung und in der Erfassung von Einzelsituationen. Des Dichters Freund und Biograph John Forster erzählt uns, wie schnell die ganze Familie Nickleby dem breiten Lesepublikum vertraut wurde, wie man die nacheinander auftretenden Häuser Mantalini, Kenwigs, Crummles, Cheeryble besprach, wie man Anteil nahm an dem rührenden Bild des armen Smike, wie man sich über den prachtvoll gelungenen Newman Noggs freute, den tragikomischen Gentleman im zerlumpten Rock, wie Dotheboy, der Wohnsitz des sauberen Herrn Squeers, geradezu ein Gattungsbegriff wurde. Dieser Squeers, kalter Geschäftsmann, brutal, fromm redend und von Reklamemoral triefend, verkörpert den elenden Krämergeist, der die jungen Seelen vergewaltigt; der Spekulant und Wucherer Ralph, der in seinem kalten Streben nach Geld über die Menschen hinwegschreitet, den Neffen ins Unglück schickt und die Nichte als Köder für adlige Lebemänner benutzt, ist der Wurm der Gesellschaft, der überall Glück und Zufriedenheit zerstören muß. Wie anders die edlen Brüder Cheeryble, die ihren Reichtum dazu benutzen, andre glücklich zu machen! Das ist Dickens' Anklage gegen eine mechanistische Volkswirtschaftslehre und eine utilitaristische Ethik. Dickens' Kunst ist auf das Individuelle gerichtet. Das Bild der Menschen erwächst nicht aus Schilderungen, sondern springt blitzartig aus den Gesprächen auf. Ralph Nicklebys Wesen ist sofort klar, wenn der hungrige, über seine bereits überschrittene Tischzeit jammernde Noggs von ihm sagt: "I don't believe he ever had an appetite except for pounds, shillings, and pence, and
„Er hat, glaube ich, nie einen andren Hunger verspürt als den auf Pfunde, Schillinge und Pennies; den aber hat er so gierig wie ein
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with them he's as greedy as a wolf. I should like to have him compelled to swallow one of every English coin. The penny would be an awkward morsel—but the crown—ha! ha!" His good humour being in some degree restored by the vision of Ralph Nickleby swallowing perforce a five-shilling piece, Newman slowly brought forth from his desk one of those portable bottles currently known as pocket-pistols, and shaking the same close to his ear so as to produce a rippling sound very cool and pleasant to listen to, suffered his features to relax, and took a gurgling drink, which relaxed him still more. Replacing the cork, he smacked his lips twice or thrice with an air of great relish, and, the taste of the liquor having by this time evaporated, recurred to his grievances again. (Kap. 47)
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Wolf. Wenn er doch einmal gezwungen würde, von allen englischen Münzen eine zu verschlucken! Der Penny wäre ein lästiges Stück — aber die Krone, ha, ha, ha!" Die Vorstellung, wie Ralph Nickleby gewaltsam ein Fünfschillingstück verschlang, hatte Newman seine gute Laune einigermaßen wiedergegeben. Er zog aus seinem Pult eine jener tragbaren Flaschen hervor, die als Taschenpistolen bekannt sind, schüttelte sie dicht an seinem Ohr, so daß sie einen plätschernden Ton gab, sehr kühl und angenehm zu hören, schaute freundlicher drein und nahm einen gurgelnden Schluck, der ihn noch freundlicher aussehen ließ. Dann steckte er den Korken wieder ein, schmatzte zwei oder dreimal mit großem Behagen und überließ sich, als der Branntweinduft sich verflüchtigt hatte, wieder seinem Kummer.
Wackford Squeers wird uns vorgestellt, als er wieder einmal in seinem Londoner Absteigequartier auf Schiilerfang aus ist: Mr. Squeers's appearance was not prepossessing. He had but one eye, and the opular prejudice runs in favour of two. 'he eye he had was unquestionably useful, but decidedly not ornamental: being of a greenish-gray, and in shape resembling the fanlight of a street door. The blank side of his face was much wrinkled and puckered up, which gave him a very sinister appearance, especially when he smiled, at which times his expression bordered closely on the villainous. His hair was very flat and shiny save at the ends, where it was brushed stiffly up from a low protruding forehead, which assorted well with his harsh voice and coarse manner. He was about two or three-and-fifty, and a trifle below the middle size; he wore a wide neckerchief with long ends, and a suit of scholastic black; but his coat sleeves being a great deal too long, and his trousers a great deal too short, he appeared ill at ease in his clothes, and as if he were in a perpetual state of astonishment at finding himself so respectable. (Kap. 4)
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Herrn Squeers' äußere Erscheinung war nicht einnehmend. Er hatte nur ein Auge, und das allgemeine Vorurteil ist doch mehr für zwei. Das eine Auge aber leistete fraglos guteDienste, bestimmt nicht nur dekorative; es war grünlich-grau und ähnelte in seiner Form dem Oberlicht über einer Haustür. Die leere Gesichtshälfte war sehr runzlig und faltig und verlieh ihm ein finsteres Aussehen, besonders wenn er lächelte, wobei sein Gesichtsausdruck fast schurkisch wurde. Sein Haar war sehr platt und fadenscheinig, nur an den Enden von einer niedrigen, hervortretenden Stirn steif nach oben gebürstet, was gut zu der rauhen Stimme und den groben Manieren paßte. Er war etwa zwei- oder dreiundfünfzig Jahre alt und etwas unter Mittelgröße. Er trug ein weißes Halstuch mit langen Enden und einen lehrerhaft schwarzen Anzug; mit seinen viel zu kurzen Rockärmeln und viel zu kurzen Hosen machte er aber den Eindruck, als ob er sich in seinen Kleidern nicht wohl fühlte und sich beständig über sein ehrsames Aussehen wunderte.
Endlich kommt ein Mann, der zwei Jungen für die Schule anmelden will. Squeers, der eben den als Reklamejungen mitgebrachten Schüler wegen seines Niesens scharf angefahren hat, wechselt den Ton und spricht wie ein gütiger Vater. Der Ankömmling, mit dem von Schulgeld und Moral gesprochen wird, entpuppt sich als Stiefvater der beiden Knaben, die er billig los sein möchte. Da ist er bei Squeers am rechten Ort: regelmäßige Bezahlung, Morallehren, keine Briefe nach Hause. „Wir verstehen uns!" (Kap. 4).
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Am schärfsten zeigt sich die Charakterisierungskunst des Dichters da, wo er Satire und Humor entfaltet. Die Sitzung eines von Ralph ins Leben gerufenen Schwindelunternehmens, der „Hauptstädtischen Gesellschaft für vervollkommnetes Backen und pünktliche Lieferung warmer Semmeln und Mürbekuchen" mit ihrer Nachäffung parlamentarischer Formen, ist von mitreißender Komik (Kap. II), die Mimengesellschaft des Direktors Crummles reich an humoristischen Kleinwirkungen, die Entbindung der Frau Kenwigs ein rührendes Familienidyll (Kap. 36), der Roman, aus dem Kate als Gesellschafterin ihrer nervösen Herrin vorlesen muß, ein parodistisches Glanzstück (Kap. 28), die Figur der optimistischen, von sinnloser Eigenlogik besessenen, immer schwatzenden Frau Nickleby und der prächtige Newman Noggs sind Kabinettstücke kümmerlicher Menschen mit echtem Innenleben. Die Anklage gegen die Gesellschaft wird unter den Händen dieses Dichters zu einer Porträtgalerie von warm miterlebten Typen, die man nicht vergißt. Martin Chusglewit (1844) ist ein Niederschlag der amerikanischen Eindrücke des Dichters, der am meisten von Nebenhandlungen und Nebengestalten überwucherte unter seinen Romanen. Der reiche alte Martin Chuzzlewit, selbstsüchtig und durch die erheuchelte Unterwürfigkeit seiner armen Verwandten eifersüchtig geworden, lebt und reist nur in Begleitung eines jungen Mädchens Mary Graham. In dem kleinstädtischen Gasthaus „Der blaue Drache" liegt er krank darnieder, umgeben von der ganzen Clique der Erben, die er durchschaut. Sein Vetter Seth Pecksniff, Architekt und Schulhalter, bestärkt ihn noch in seinem Mißtrauen; daß dieser der gerissenste Erbschleicher ist, merkt der Alte nicht. Der salbungsvolle Heuchler versteht es glänzend, den Altruisten und Sittenprediger zu spielen; wir sehen ihn einsam zwischen den Grabsteinen des Kirchhofs, aus deren Inschriften er Anregung für „moralische Knallbonbons" schöpft, wir hören sein beständiges Salbadern; seinen Töchtern hat er die Namen Charity (Liebe) und Mercy (Gnade) gegeben. Einer seiner Schüler ist der junge Martin Chuzzlewit, der Enkel des alten, den er dem Großvater völlig zu entfremden weiß. Martin geht nach Amerika, begleitet von dem lebenstüchtigen, überall beherzt zupackenden Mark Tapley, dem Hausdiener des Gasthofs. Wie bald aber kommt die Enttäuschung in dem ersehnten fremden Erdteil! Überall findet der junge Engländer nur Phrase, Geldmacht, bürgerliche Beschränktheit statt echter Freiheit, gesellschaftlichen Dünkel und geschäftlichen Schwindel. „Eden", wohin ihn ein geschäftiger Unternehmer verpflichtet, entpuppt sich als eine öde Sumpfgegend, die Versicherungsgesellschaft eines Montague Tigg und andre hochtönende Firmen sind Schwindelunternehmungen der gleichen Art. Nach England zurückgekehrt, findet der ernüchterte Martin den durchtriebenen Pecksniff weiter bei Ränkespiel und Heuchelei. Der Architekt wird aus Anlaß einer Denkmalsenthüllung gefeiert — er hat einen alten Schulplan Chuzzlewits als seinen eigenen Denkmalsentwurf ausgegeben! Mercy Pecksniff ist an Jonas Chuzzlewit verheiratet, den zynischen, kalten Sohn des alten Anthony Chuzzlewit, eines Teilhabers an Tiggs Schwindelversicherung und Börsenschiebungen. Jonas ist eine verbrecherische Natur; er mischt Gift für den eigenen Vater, aber ein altes Faktotum Chuffey weiß es zu verhindern, daß der Alte den Trank nimmt. Als er dennoch stirbt, hält Jonas sich für den Mörder — andre tun es auch — und vergiftet sich. Eine rührende Gestalt ist Tom Pinch, Pecksniffs geduldiger, ganz im Glück seines Orgelspiels aufgehender und in treuer Liebe seiner Schwester Ruth ergebener Angestellter. Als dieser, der heimlich Mary Graham verehrt, Pecksniffs Liebeswerben um sie entdeckt, wird er von dem alten Schürzenjäger auf der Stelle entlassen. Ein Ungenannter — es ist der alte Martin Chuzzlewit — stellt ihn als Ordner und Betreuer seiner Bibliothek an, und Tom erlebt das Glück, daß ein wohlhabender, hinausgeworfener Schüler Pecksniffs, John Westlock, in echter Liebe ein Verlöbnis mit Ruth eingeht. Der Archi-
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tekt nimmt den alten Chuzzlewit und seine junge Gesellschafterin in sein Haus auf. Nach und nach aber erkennt der Alte nicht nur den Heuchler, sondern auch den wahren Charakter des heimgekehrten Enkels. In einer heftigen Auseinandersetzung schlägt er Pecksniff mit seinem Stock nieder. Der junge Martin gewinnt die Liebe des Großvaters und wird sein Erbe; seine Liebe zu Mary Graham findet Erfüllung. Charity Pecksniff hat sich in einen jüngeren Mann verliebt, der ihr aber an dem erhofften Verlobungstag den Stuhl vor die Tür setzt und ihr schreibt, er sei schon an eine andre gebunden. Der Großvater ist zu der Erkenntnis gekommen: The curse of our house has been the love of self—has ever been the love of self. How often have I said so when I never knew that I had wrought it upon others! . . . There is a kind of selfishness—I have learned it in my own experience of my own breast — which is constantly upon the watch for selfishness in others; and, holding others at a distance by suspicions and distrusts, wonders why they don't approach, and don't confide, and calls that selfishness in them. Thus I once doubted those about me—not without reason in the beginning—and thus I once doubted you, Martin. (Kap. j 2)
Der Fluch unsres Hauses ist von jeher die Selbstliebe gewesen — von jeher die Selbstliebe. Wie oft habe ich das gesagt, ohne zu wissen, daß ich selbst ihr Gefäß andren gegenüber war! . . . Es gibt eine Art der Selbstsucht — ich habe sie in meiner eigenen Brust kennengelernt —, die beständig Selbstsucht bei anderen erspähen will und, wenn sie die andren aus Argwohn und Mißtrauen von sich fernhält, erstaunt ist, warum sie nicht näherkommen und Vertrauen schöpfen, und die das dann Selbstsucht bei ihnen nennt. So habe ich die Leute um mich beargwöhnt —anfänglich nicht ohne Grund —, und so auch dich früher, Martin.
Selbstsucht und Selbstlosigkeit, die zerstörende und die rettende Macht im Verkehr der Menschen: um dies Thema, dessen Bedeutung dem Dichter in der Neuen Welt aufgegangen war, gruppieren sich die Menschen, nicht als starre Typen, sondern reich abgestuft von dem zynischen Verbrecher Jonas, den herzlosen Geschäftsschwindlern und dem Selbstanbeter und frömmelnden Heuchler Pecksniff über seine fein unterschiedenen Töchter bis zu dem aus Selbsterkenntnis zur höheren Natur erwachenden alten Chuzzlewit, auf der andern Seite von den stillen und bescheidenen Geschwistern Pinch und dem derb zupackenden Mark Tapley über den nur flüchtig umrissenen John Westlock bis zu der treuen Pflegerin Mary Graham und der köstlich-komplizierten Hebamme, Pflegerin und Leichenwäscherin Frau Gamp, die sich trotz ihrer derben Natur aus rauher Wirklichkeit in die Bereiche der Phantasie zu erheben vermag, und sei es auch mit Hilfe der Schnapsflasche. Hier spürt der Dichter einem Problem bis in alle Einzelheiten nach, hier fallen oder reifen die Menschen in der Erfüllung ihrer Wesensanlage, hier ordnet sich eine Menschenfülle von der zentralen Idee aus, so sehr auch die verwirrende Handlungsfülle auseinandertreibt. Das Amerikabild ist satirisch und einseitig wie in den kurz vorher erschienenen „Amerikanischen Beobachtungen", aber konzentriert und das Hauptthema mit seinem wirkungsvollen Spiel und Gegenspiel unterbauend. Zwei Gestalten gehören zu den ganz großen Schöpfungen der komischen Romankunst. Die eine ist die unverwüstliche Frau Gamp mit ihrem unvermeidlichen Schirm, aus deren Wortschwall des Absurden die Düfte des Wochenbetts und der Krankenstube strömen, deren fingierte Freundin Frau Harris ihr Doppeldasein in der harten Wirklichkeit und im Land der Phantasie versinnbildlicht, in der kräftiger Realismus und schweifende Phantastik den so lebenswahren Bund von Sein und Schein mit einer Fülle komischer Effekte herstellt, so wie es zu den persönlichsten Geheimnissen Dickensscher Kunst gehört. Die andre, noch größere Schöpfung ist der Architekt Seth Pecksniff, dessen Porträt, wie wir von Forster hören, der erste Anlaß zu dem ganzen Roman war. 28 Hie Stimmen der Meister
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VI. Streben nach Ausgleich: das „viktorianische Kompromiß"
Durchtriebener Schwindler, Heuchler, Erbschleicher: so kommt er als „würdiger Herr" durchs Leben, so herrscht er in Geschäft und Familie, so kennt ihn die Stadt, ohne ihn zu durchschauen. Selbstsucht in einer besonderen Spielart! Seine Tugendlehre, seine Betrachtungen sind beständig auf seiner Lippe. Er mahnt zur Moral, wenn er beschwipst ist; er bewundert die geduldig frierenden Menschen, will aber in seinem behaglichen Platz in der Kutsche durch einen solchen nicht gestört werden; er spricht gelehrt über den Verdauungsprozeß, wenn er gut gegessen hat, über die Gefühle, wenn sein Herz ihm das Schnippchen eines Seitensprunges schlägt, und er tritt gelassen, mit seelischem Gleichgewicht und mit Vergebung für seine Feinde ab, als er erkannt und verprügelt wird. Was diesen PecksnifF — die englischen Worte für herumpicken und schnüffeln stecken in dem Namen — aber von andren berühmten Heuchlertypen wie etwa Molieres Tartüff unterscheidet, ist der Selbstbetrug, nicht nur der Betrug andrer, also das, was in dem englischen Wort „cant" liegt und was deshalb mit dem Ausdruck Heuchelei eigentlich unzutreffend bezeichnet wird. Er glaubt selbst an seine Sittenpredigten, das Klangvolle, das schöne Gefühl ist ihm zur Natur geworden, er kann Wahrheit und Schein nicht mehr unterscheiden, er braucht Moral und Religion zu seinem inneren Gleichgewicht. Damit bewahrt er sich die Lebenssicherheit in der guten Meinung von sich selbst, eine gewisse Größe trotz der Umwertung aller Werte, eine Einwirkung nicht nur auf seine äußere Erscheinung, sondern in gewissem Sinne auch auf seine Familie. Die Gestalt in ihrer Einmaligkeit und Geschlossenheit ragt an die klassische Verkörperung der Wertumdrehungen heran, an Falstaff, ohne freilich mit den gleichen Mitteln der Komik gezeichnet zu sein. Auch hier wieder offenbart sich in voller Form der Kunststil des Dichters, der nicht schildert, sondern dramatisch durch Reden charakterisiert; die logische Absurdität der Rede — bei Frau Gamp glänzend entwickelt — enthält das komische Element, auch wenn der Mensch und das Handeln alles andre als humoristisch sind: When Mr. PecksnifF and the two young ladies got into the heavy coach at the end of the lane they found it empty, which was a great comfort; particularly as the outside was quite full and the passengers looked very frosty. For as Mr. PecksnifF justly observed—when he and his daughters had burrowed their feet deep in the straw, wrapped themselves to the chin, and pulled up both windows—it is always satisfactory to feel, in keen weather, that many other eople are not as warm as you are. And this, e said, was quite natural, and a very beautiful arrangement—not confined to coaches, but extending itself into many social ramifications. "For," he observed, "if everyone were warm and well-fed, we should lose the satisfaction of admiring the fortitude with which certain conditions of men bear cold and hunger. And if we were no better off than anybody else, what would become of our sense of gratitude, which," said Mr. Pecksniff, with tears in his eyes, as he
Als Herr PecksnifF und die beiden jungen Damen am Ende der Gasse in die schwere Kutsche stiegen, fanden sie diese zu ihrer großen Erleichterung leer; um so mehr zu ihrer Erleichterung, als die Außensitze gedrängt voll von stark fröstelnden Fahrgästen waren. Denn, wie Herr PecksnifF ganz richtig bemerkte — als er und seine Töchter die Füße tief in das Stroh eingegraben, sich selbst bis zum Kinn eingehüllt und die beiden Fenster hochgezogen hatten—, bei scharfem Wetter verleiht das Gefühl, daß andre Leute nicht so warm sitzen, immer große Befriedigung. Und das, so fügte er hinzu, sei auch ganz natürlich und sehr gut so eingerichtet, auch nicht auf Kutschen beschränkt, sondern auf viele gesellschaftlicheVerzweigungen anwendbar. „Denn", bemerkte er, „wenn jedermann warm und wohlgenährt wäre, könnten wir nicht mehr mit Genugtuung die Tapferkeit bewundern, mit der Leute in bestimmten Lebenslagen Kälte und Hunger ertragen. Und wenn wir selbst nicht besser dran wären als andre, was sollte dann aus unsrer Regung der Dankbarkeit werden, die doch" — und dabei traten ihm die Tränen in die
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shook his fist at a beggar who wanted to get up behind, "is one of the holiest feelings of our common nature." His children heard with becoming reverence these moral precepts from the lips of their father, and signified their acquiescence in the same by smiles. That he might the better feed and cherish that sacred flame of gratitude in his breast, Mr. Pecksniff remarked that he would trouble his eldest daughter, even in this early stage of their journey, for the brandy bottle. And from the narrow neck of that stone vessel, he imbibed a copious refreshment. "What are we?" said Mr. Pecksniff, "but coaches? Some of us are slow coaches " "Goodness, pal" cried Charity. "Some of us, I say," resumed her parent, with increased emphasis, "are slow coaches; some of us are fast coaches. Our passions are the horses; and rampant animals tool" "Really, pal" cried both the daughters at once. "How very unpleasant." "And rampant animals too!" repeated Mr. Pecksniff, with so much determination, that he may be said to have exhibited, at the moment, a sort of moral rampancy himself; "and Virtue is the drag. We start from The Mother's Arms, and we run to The Dust Shovel." When he had said this, Mr. Pecksniff, being exhausted, took some further refreshment. When he had done that he corked the bottle tight, with the air of a man who had effectually corked the subject also, and went to sleep for three stages. (Kap. 8)
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Augen, während er einem Bettler, der hinten aufspringen wollte, mit der Faust drohte — „eins der heiligsten Gefühle unsrer Natur ist." Seine Kinder hörten diese Morallehren von den väterlichen Lippen mit geziemender Ehrerbietung an und bekräftigten ihre Zustimmung durch Lächeln. Um das heilige Feuer der Dankbarkeit in seiner Brust noch besser zu hegen und zu pflegen, bemerkte Herr Pecksniff, er müsse schon in diesem frühen Stadium der Reise seine älteste Tochter um die Branntweinflasche bemühen. Er flößte sich aus dem engen Hals dieses Tongefäßes eine tüchtige Erfrischung ein. „Was sind wir andres als Kutschen?" sagte Herr Pecksniff. „Einige von uns sind langsame Kutschen —" „Um Gottes willen, Papa!" rief Charity aus. „Einige von uns, sage ich", begann ihr Vater mit noch stärkerer Betonung wieder, „sind langsame, andre schnelle Kutschen. Unsre Leidenschaften sind die Pferde, und zwar wilde Tiere." „Aber, Papa!" riefen beide Töchter zugleich. „Wie peinlich!" „Und zwar wilde Tiere!" wiederholte Herr Pecksniff mit solcher Bestimmtheit, daß man geradezu sagen konnte, er legte in diesem Augenblick selbst eine Art moralischer Wildheit an den Tag; „und die Tugend ist die Bremse. Wir kommen aus der Mutter Arme und rennen in die Müllschippe." Erschöpft gönnte sich Herr Pecksniff bei diesen Worten eine nochmalige Erfrischung. Dann verkorkte er die Flasche fest mit der Miene eines Mannes, der auch den Gesprächsgegenstand sicher verkorkt hatte, und überließ sich für drei Teilstrecken dem Schlaf.
Immer wieder offenbaren sich die liebevolle Gestaltung der unscheinbaren Einzelsituation und die Charakteristik durch die Sprache als die eigentlichen Wesenszüge der Dickensschen Kunst. Man kann diesen Dichter nicht um einer spannenden Handlung willen „verschlingen"; man braucht Ruhe und Gelöstheit, um durch die Kunst des Details festgehalten und reich belohnt zu werden. Für die stimmungaufbauende, den Leser in ihren Bann ziehende Umgebungsschilderung möge noch die Ankunft des alten Chuzzlewit im Wirtshaus zum Blauen Drachen als Beispiel dienen: As this fair matron sat beside the fire, she glanced occasionally, with all the pride of ownership, about the room; which was a large apartment, such as one may see in country places, with a low roof and a sunken flooring, all down-hill from the door, and a descent of two steps on the inside so ex28'
Wie diese stattliche Matrone (die Wirtin) so am Kamin saß, blickte sie ab und zu mit dem ganzen Stolz der Besitzerin im Zimmer umher. Es war ein großer Raum, wie man ihn in ländlichen Gegenden sehen kann, mit flachem Dach und eingefallenem Fußboden, der von der Tür an abfiel und zu dem nach innen zwei so ausgesucht unerwartete Stufen
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quisitely unexpected, that strangers, despite the most elaborate cautioning, usually dived in head-first, as into a plunging-bath. It was none of your frivolous ana preposterously bright bedrooms, where nobody can close an eye with any kind of propriety or decent regard to the association of ideas; but it was a good, dull, leaden, drowsy place, where every article of furniture reminded you that you came there to sleep, and that you were expected to go to sleep. There was no wakeful reflection of the fire there, as in your modern chambers, which upon the darkest night have a watchful consciousness of French polish; the old Spanish mahogany winked at it now and then, as a dozing cat or dog might—nothing more. The very size and shape, and hopeless immovability, of the bedstead, and wardrobe, and in a minor degree of even the chairs and tables, provoked sleep; they were plainly appoplectic and disposed to snore. There were no staring portraits to remonstrate with you for being lazy; no round-eyed birds upon the curtains, disgustingly wide awake, and insufferably prying. The thick neutral hangings, and the dark blinds, and the heavy heap of bed-cloths, were all designed to hold in sleep, and act as non-conductors to the day and getting up. Even the old stuffed fox upon the top of the wardrobe was devoid of any spark of vigilance, for his glass eye had fallen out, and he slumbered as he stood. (Kap. 3)
herabführten, daß Fremde trotz größter Vorsicht in der Regel kopfüber hereinurzelten wie in ein Tauchbad. Das war eins von euren leichtfertigen und unsinnig hellen Schlafzimmern, in denen kein Mensch mit Schicklichkeit und geziemender Rücksicht auf Gedankenverbindung ein Auge zutun kann; es war vielmehr ein guter, langweiliger, bleierner, einschläfernder Ort, wo jedes Möbelstück daran gemahnte, daß man doch zum Schlafen hergekommen war und daß jeder annahm, man wolle zu Bett gehen. Da konnte man nicht mit wachen Augen über das Kaminfeuer nachsinnen wie in euren modernen Zimmern, die selbst in den dunkelsten Nächten das Bewußtsein französischer Eleganz wachhalten; das alte spanische Mahagoni blinzelte ab und zu in den Raum wie eine Katze oder ein Hund im Halbschlaf — sonst nichts. Größe und Gestalt, die hoffnungslose Unbeweglichkeit der Bettstelle, des Kleiderschranks und in minderem Maße sogar der Stühle und Tische: alles rief den Schlaf herbei; sie waren einfach vom Schlage getroffen und verleiteten zum Schnarchen. Es waren auch keine herabstarrenden Porträts da, die einem seine Trägheit vorhalten konnten, keine rundäugigen Vögel auf den Fenstervorhängen, widerlich wach und unerträglich spähend. Die schweren, im Farbton unaufdringlichen Tapeten, die dunklen Rouleaus und der schwere Haufen Bettzeug waren alle dazu angetan, den Schlaf zu fördern und als Nichtleiter für den Tag und das Aufwachen zu wirken. Selbst der alte ausgestopfte Fuchs auf dem Kleiderschrank entbehrte jedes Funkens von Wachsamkeit; denn sein Glasauge war herausgefallen, und er schlummerte im Stehen.
Da sehen wir das altmodische Zimmer mit seinem Gerümpel, mit kahlen Wänden, ohne wärmendes Feuer, niedrig und mit ausgetretener Diele. Aber der freundliche Humor verklärt alle Kümmerlichkeiten und erhebt sie zu Vorzügen gegenüber den „leichtfertigen" neumodischen Zimmern. Das Ganze ist so völlig auf Einschläferung abgestimmt, auf die Hauptbestimmung eines Gasthofzimmers, daß Müdigkeit und Schlaf in den Dingen selbst wohnt und sich dem Gast mitteilen muß. Auf die Geschichte vom Egoismus folgte in dem Charakterroman Dombey und Sohn (1848) die Geschichte vom Stolz. Paul Dombey, der reiche Chef des Handelshauses Dombey und Sohn, erlebt die Freude, daß die Geburt eines Sohnes das Fortleben des alten Firmennamens gesichert hat. Die Mutter stirbt kurz nach der Niederkunft. Bis dahin war eine Tochter das einzige Kind, das seinen Firmenehrgeiz nicht befriedigen konnte und ungeliebt beiseite stehen muß. Der kleine Paul aber hängt mit inniger Liebe an der um mehrere Jahre älteren Florence. E r wird zuerst daheim erzogen, dann in Brighton in der nüchternen Atmosphäre der Schule des Doktor Blimber. Da erfolgt der schwere Schlag für den Vater: der schwächliche Knabe stirbt! Ein andrer Lebenskreis ist das Antiquitäten-
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geschäft des früheren Seemanns Solomon Gills. Sein junger Neffe, der gerade und tüchtige Walter Gay, kann einmal Florence Dombey aus einer üblen Lage retten: eine alte Hexe hatte ihr die schönen Kleider weggenommen. Walters Herz wird durch diese Begegnung mit dem hübschen und milden Mädchen mächtig erregt. — Herr Dombey hat in Brighton eine junge Frau Granger kennengelernt, die schöne, elegante, stolze Tochter der koketten alten Frau Skewton. Ihr vornehmer Stolz ist ganz nach seinem Geschmack und seinen Berechnungen für Lebensstil und Firma. Sie wird seine Gattin. Dombey hat aber nicht bedacht, daß kühler Stolz auch ihm selbst gegenüber sein Recht behaupten würde; Edith pocht auf Recht und Selbständigkeit. Die Entfremdung der Gatten wächst in dem Maße, als der herrschgewohnte Dombey seine Befehlsgewalt beansprucht. So herrscht Kälte in dem vornehmen Hause; nur das innige Verhältnis zu der Stieftochter Florence erwärmt Ediths Herz. Die Verzweiflung treibt sie aber doch hinaus: sie flieht mit dem Prokuristen Carker, dessen Hilfe sie in ihrer Not überstürzt und unüberlegt annimmt. Das ist ein hinterhältiger Diener seines Herrn, hartherzig gegen seinen in kleiner Stellung tätigen Bruder und gegen die Schwester. In Frankreich entflieht Edith ihrem zudringlichen Peiniger Carker, der, von dem Verfolger Dombey gestellt, unter den Rädern einer Lokomotive den Tod findet. In London flieht Florence vor dem Vater, der sie für eine Mitwisserin der Mutter hält, in das Haus des alten Gills. Walter, der mit Florence in reinster Liebe verbunden ist, wird als Lehrling des Hauses Dombey nach Westindien geschickt. Man hat lange keine Nachricht von ihm und hält ihn für ertrunken; der alte Gills, gerade dem Bankrott entronnen, fährt kummervoll und planlos in die Welt hinaus, um den Neffen zu suchen. Carkers Bild leuchtet noch einmal auf in der Tochter jener Alten, die einst Florence verfolgt und gepeinigt hat: Alice ist von dem gewissenlosen Carker verführt und unglücklich gemacht worden. Jetzt entlädt sich das Unheil auch über Dombey. Die Firma bricht zusammen — Carker hat immer gegen die Interessen des Geschäfts gearbeitet und große Summen veruntreut —, Haus und Mobiliar werden verkauft, einsam sitzt der stolze Handelsherr auf den Trümmern seines Lebens, einsam und krank. Edith kehrt zurück, aber nur, um von Florence Abschied zu nehmen; zu dem Gatten kann sie auch jetzt keine Brücke finden. Auch der bereits aufgegebene Walter kehrt zurück und heiratet Florence, die ihm zwei Kinder schenkt, einen Sohn — er wird Paul genannt — und eine Tochter. Jetzt hat der alt gewordene Dombey den Sinn und Wert des Lebens erfühlt. Florence wird sein Trost, ihre Kinder sind seine Hoffnung. Die Tragödie des Stolzes wird hier in einen großangelegten psychologischen Rahmen gespannt. Dabei zeigt sich, wie fern Dickens dem Entwicklungsgedanken steht, wie der Charakter nicht aus der Gesamtheit der Lebensanlagen und Bedingungen erwächst, sondern nur auf die Leere oder Fülle des Herzens, auf den engeren Kreis der Familie abgestellt ist. Dombey ist der mächtige Kaufherr und Gebieter über Menschen und Kapital. Davon hören wir, ohne das königliche Schaffen im großen Kreise, das wagemutige Unternehmen, das kaufmännische Herrschertum zu sehen. So entbehrt der Ausgang des Gescheiterten, die mild und bescheiden gewordene Großvaterfreude des Kleinrentners, der tragischen Wucht eines starken Lebenskampfes. Um so mächtiger wirkt das dem Dichter immer am Herzen liegende Motiv der Liebe, der menschlichen Bindungen, das auch hier vielfach variiert durchgeführt wird. Dombeys stolze Vornehmheit und Herablassung verbreitet Eisigkeit um sich. Sein elegantes Haus ist düster und muffig, die Möbel der meisten Zimmer sind verhängt, gleichsam als ob sie für den Erben der Firma aufgehoben werden sollen; die Amme wird engagiert mit der vertraglichen Verpflichtung, daß ihr Verhältnis zu dem Kinde nie das rein Geschäftliche überschreiten dürfe; wenn er die Blätter seiner Bäume anschaut, fallen sie wie verdorrt ab; wenn er sein Kind taufen läßt, ist die Kirche so kalt,
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daß der Atem des Pastors zu Dampf wird, kalt sind die Weine bei dem kalten Gabelfrühstück; beim Reiten kommt er zu Fall, weil er den Blick nur nach oben richten kann. Und doch lebt im tiefsten Grunde dieser Starrheit und Eisigkeit, die alles Leben tötet, ein Verlangen nach Liebe, das mit meisterhafter Tiefenkunst fühlbar gemacht wird. Er wirbt um den Knaben, ohne es in liebende Worte kleiden zu können, er geht still und unruhig vor seinem Fenster auf und ab, seine Kälte gegen die Tochter steigert sich zum Haß gegen die, die des Sohnes Herz besessen hat, er ist völlig verständnislos der zweiten Gattin gegenüber, die er doch mit allen Zeichen freigebiger Höflichkeit umgibt. Seine Vereinsamung inmitten all seines Reichtums wird vollkommen, weil der wärmende Strahl der Liebe fehlt. „Was ist Geld? Was kann Geld tun? Alles?" So hat der tote kleine Paul den Vater gefragt, und diese Frage hämmert in dem fast um seinen Verstand gebrachten Gescheiterten: He rambled through the scenes of his old Er durchstreifte die Szenen seines Lebens )ursuits—through many where Florence —die lauschende Florence verlor den Weg ost him as she listened—sometimes for in vielen von ihnen —, manchmal stundenhours. He would repeat that childish lang. Er wiederholte immer wieder die question, "What is money?" and ponder on Kinderfrage: Was ist Geld? Er sann ihr it, and think about it, and reason with nach, seine Gedanken hafteten an ihr, er himself, more or less connectedly, for a good quälte sich, mehr oder weniger Zusammenanswer; as if it had never been proposed to hängend, um eine Antwort, als wäre sie ihm him until that moment. He would go on " " . _ . with a musing repetition of the title of his old firm twenty thousand times, and, at den Namen seiner alten Firma, und jedesmal every one of them, would turn his head upon drehte er den Kopf auf seinem Kissen herum, his pillow. He would count his children Er zählte seine Kinder — eins — zwei — —one—two—stop, and goback, andbegin haltl und dann rückwärts, und dann wieder again in the same way. (Kap. 61) von vorne.
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Erst als der Angelpunkt des Stolzes, die Firma, nicht mehr da ist, schmilzt das Eis' und die verdrängten Gefühle werden frei. Es ist gar nicht die Tragödie des durch große Berufsaufgaben gebieterisch gewordenen und im Kampf mit den Mächten des Lebens verhärteten Mannes, die der Dichter uns vorführen will; es ist vielmehr das Erwachen von einem in starrer Einseitigkeit überspitzten, als Pflicht der Stellung gegenüber empfundenen Begriff von Ehre und äußerer Haltung zum Bewußtsein der echteren Werte des Herzens, es ist Lears Erwachen vom Schein zum Sein in der Liebe der Tochter, hier freilich mit der Wucht des Zusammenstürzens einer Welt, deren Grundfesten zerstört sind, dort in dem idyllischen Ausklang eines Einzelschicksals, von dem aus nur die elegische Rückschau auf ein durch eigene Verblendung verspieltes Leben bleibt. Die völlige Wandlung eines so angelegten Charakters mag unwahrscheinlich oder unmöglich erscheinen, wenn man, wie schon gesagt, die Tragödie eines Finanzkönigs erwartet. Es ist aber gerade die Eigenart der Dickensschen Muse, zu stilisieren und nur ein Problem zu verfolgen; auch Scrooge ist stilisiert und kein Vollmensch mit Vorzügen und Schwächen, auch Dombeys Gattin Edith ist nicht voll ausgearbeitet. Komplizierte Menschen zu entwickeln liegt diesem Dichter weniger, die märchengleiche Einfachheit der Linien um so mehr. Die hilflose, verborgene Sehnsucht nach Liebe ist hinter dem starren Stolz des Menschen Dombey mit großer Zartheit fühlbar gemacht, und deshalb gewinnt die Gestalt Größe und unser Mitfühlen. Das trifft nicht zu für die Parallelfigur der Kälte, den schurkischen Carker, dessen menschliche Niedrigkeit nur abstoßend wirkt und dessen elendes Ende als verdient hingenommen wird. Auf der andern Seite stehen die Menschen des warmen Gefühls, der Liebe. Da sind zunächst die rührenden Kindergestalten: der romantisch gesehene, die Züge Wordsworthscher Kinderbilder tragende kleine Paul mit seinem innigen Verhältnis zur
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Natur, seinen schönen Träumen von singenden Vögeln und rauschenden Wellen, seinen lockenden Stimmen auf dem Krankenlager, seinem frühen Eingehen in die schönere Welt der Sehnsucht, und die nach Liebe verlangende, immer wieder zurückgestoßene, schließlich der Stiefmutter in die Arme getriebene Florence, die in der Verbindung mit dem einfachen und guten Walter Erfüllung findet. Da sind die Plebejergestalten der mütterlichen Amme Polly Toodle, an die das Kind sein Herz hängt und die ihre Stellung verliert, weil sie mehr ist als ein angestellter Dienstbote, und der armen Alice, deren Lebensglück verwirkt ist, weil der gefühllose Craker sie mit ihrem Kinde sitzen läßt. Und da ist neben dem großen Kaufherrn der kleine Geschäftsmann Gills, der von Sorgen um die Existenz geplagt wird, aber seine kleine Welt durchwärmt und dem verschollenen Neffen in die dunkle Ungewißheit nacheilt; das unwandelbare Aushängeschild seines Ladens, der Seekadett, verbindet ihn gefühlsstark mit früher erlebten Eindrücken und Menschen. Das Kunstmittel des Leitmotivs, der typischen Erscheinung, Bewegung und Redeform offenbart die volkstümliche Note; das Märchen und die Volksballade haben es, bei den komischen Gestalten der Bühne und des Films nehmen wir es noch heute als selbstverständlich hin. Wo Dombey auftritt, ist immer Erstarrung und Kälte. Carkers hervorstehende Zähne — eine zähnefletschende Katze — illustrieren Stimmungen und Pläne und rufen bei andren unheimliche Empfindungen wach. Der gutmütige Kapitän Cuttle, der Freund des alten Gills, trägt an Stelle der verlorenen Hand einen Haken, der immer in Tätigkeit tritt und in seiner Primitivität zu eindrucksstarker Variation benutzt werden kann. Der pensionierte Major Baystock spricht von sich stets in der dritten Person. Die gelähmte, aber kokette alte Mutter der Edith, Frau Skewton, trägt tanzende Federn auf dem Haupt und braucht rosenrote Vorhänge auf ihrem Sterbelager, weil ihr Teint sich im roten Schimmer am vorteilhaftesten präsentiert. Diese Kunst des andeutenden Details durchzieht fast alle Werke des Dichters und begleitet in erster Linie diehumoristischen Gestalten; es ist ein Charakterisierungsmittel von volksliterarischer Herkunft, oft zu stärkster Symbolwirkung gesteigert. Das Meisterwerk und Lieblingskind unsres Dichters, in dem er so viel aus dem eigenen Lebensgang und aus eigenen Stimmungen gestaltet und idyllisch verklärt hat, ist der Roman David Copperfield (1849/50). Die Ich-Form der Erzählung unterstreicht den autobiographischen Gehalt. In Blunderstone, Suffolk, oder „nahebei", wie die Schotten sagen, hat die Wiege des Erzählers gestanden. Der Vater war schon tot; aber mit der jungen Mutter, der treuen Köchin Peggotty, mit dem freundlichen Heim, dem Garten, den Haustieren, auch mit dem Grabstein des Vaters verbinden ihn liebe Erinnerungen. In das stille Glück der schlichten Menschen tritt der schwarzbärtige, förmliche, kühle Herr Murdstone als neuer Gatte der naiv-heiteren Frau Copperfield. Auch seine Schwester erscheint auf der Bildfläche, eine alte Jungfer, an der alles eisern ist: die schweren Kofferbeschläge, die Handtasche, die Korsettstangen und die Gefühle. Es beginnen schwere Zeiten für den Knaben, die die hilflose Mutter kummervoll empfindet, aber nicht ändern kann. Als Peggotty ihn einmal zu zweiwöchigem Urlaub mit in ihr Dorf in der Nähe von Yarmouth nimmt, lernt er das freundliche Idyll einfacher Menschen kennen. Da wohnen die Fischersleute in ihrem kleinen, schiffsähnlichen Haus, der Bruder Peggotty, die ohne Not ewig klagende Frau Gummidge und zwei Waisenkinder, Ham und Emily, ein Neffe und eine Nichte Peggottys. David erlebt ein kindliches Liebesglück mit der zarten Emily. Der Stiefvater schickt ihn bald in eine Londoner Privatschule, ein unfreundliches, liebloses Milieu, in dem der ewig scheltende \ind prügelnde Schulleiter Creakle das Regiment führt und der arme, innerliche und gütige Hilfslehrer Meli ein Dulderdasein führt. Unter den Mitschülern treten der feinfühlig verstehende Traddles und der herrisch-selbständige John Steerforth her-
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vor, der dem unschuldigen Neuling das Taschengeld für allerlei Leckereien entlockt und dem er trotz seiner Müdigkeit im Bett vorlesen muß. Mit dem plötzlichen Tode der geliebten Mutter tritt der erste große Schmerz in Davids kleine Welt. Der Stiefvater steckt ihn als Lehrling in eine Schuhwichsefabrik, in der er bei niedrigen Arbeiten eine harte Zeit verlebt, bis er nach London zur Tante Betsey Trotwood entflieht. Diese hat zwar allerlei Schrullen — kein Esel darf in die Nähe ihres Hauses kommen —, und ihr Hausgenosse Dick ist schwachsinnig und jahraus jahrein mit einem Manuskript über Karl I. beschäftigt; aber es sind gute Menschen. Die Tante bringt David als Lehrling bei Anwälten an der kirchlichen Gerichtsinstanz Doctors' Commons unter und bezahlt sein Junggesellenzimmer gleich für ein Jahr. Neue Bekanntschaften sind Herr Micawber, schäbig elegant, immer in Geldnot, bald hier bald dort tätig, aber immer in Form und Haltung, gespreizt redend und schreibend, ein heruntergekommener Kavalier im Schuldgefängnis ebenso wie in der Freiheit, und Herr Wickfield, Vermögensverwalter der Tante Trotwood, ein gutmütiger, schwacher Mann, dem die viel jüngere Frau durchbrennt, der aber in der stillen und ernsten Tochter Agnes eine Pflegerin von stets gleichbleibender Freundlichkeit hat. Unheimlich aber wirkt sein Bürogehilfe Uriah Heep, kriecherisch, den kümmerlichen Körper schraubenartig drehend, mit feuchtkalter Hand. Seine Unterwürfigkeit täuscht nicht über den Haß hinweg, der in seinen Augen lauert. Eines Tages eröffnet die Tante dem Neffen, daß sie durch den Verlust ihres Vermögens verarmt sei. David tritt tapfer für sie ein. Er erlebt gerade sein Glück, seine Liebe zu Dora, der Tochter seines Chefs im Anwaltbüro, die er nach langem Werben heimführen konnte; ein kurzes Glück freilich, da die junge Gattin bald stirbt. Nach dem geldlichen Zusammenbruch der Tante muß er seine Lehrzeit abbrechen und Geld verdienen. Er erlernt die Stenographie, um Parlamentsberichterstatter zu werden, und beginnt eine erfolgreiche literarische Tätigkeit. — Der ehemalige Mitschüler Steerforth hat Emily entführt; der alte Peggotty macht sich in liebender Sorge auf die Suche nach ihr. — Uriah Heep, der unerkannte Quälgeist seines Herrn Wickfield, übt einen geheimnisvollen Einfluß auf diesen aus und macht ihn allmählich zum Trinker und Schwachsinnigen, sich selbst zum Mitinhaber und maßgeblichen Leiter der Firma. Unsaubere Betrügereien sind seine Geschäfte, auch das Vermögen der Tante Trotwood hat er veruntreut. Micawber kann ihn als Gauner entlarven. Nach einiger Zeit wird die entführte Emily wieder aufgefunden; Steerforth kommt in einem Seesturm um, aber auch sein Retter Ham. Der alte Peggotty, Emily und die Familie Micawber wandern aus nach Australien, um ein neues Leben aufzubauen. David heiratet die innerliche, treu sorgende Agnes, die Tochter des alten Wickfield, deren Liebe er schon immer besaß, und lebt fortan als bekannter und beliebter Schriftsteller. Die biographische Form schafft Romane von größerer Geschlossenheit und Folgerichtigkeit der Geschehnisse; das zeigte schon der „Nicholas Nickleby", wo ebenso wie in „David Copperfield" die Geschichte eines jungen Menschen von der Kindheit bis zum Eintritt in die gesicherte Berufsarbeit und den Familienstand erzählt wird. Das neue Bürgertum der frühviktorianischen Zeit gibt die Ideale ab. Nicht mehr eine wirbelnde Jugend mit Abenteuern des Lebens und der Liebe, mit ungehemmtem Sichausleben ist das Thema wie bei Fielding und Smollett, sondern das solide Streben, die Gründung einer Existenz nach entbehrungsreicher Jugend und die Krönung in einer bürgerlichen Ehe. Menschen, Probleme und Ideale des Mittelstandes tragen und bewegen das Geschehen. Je höher die Menschen auf der gesellschaftlichen Stufenleiter stehen, um so leichter sind Bösewichter unter ihnen zu finden wie in der alten Romantradition, zu der Goldsmiths „Landprediger" gehört, je tiefer, um so rechtschaffener sind sie; der hartherzige Murdstone mit seinen oberflächlichen Freunden, der kalte
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Schulmeister Dr. Strong und der Verführerjüngling Steerforth auf der einen, die prachtvollen Typen der Peggottyfamilie in Yarmouth auf der andern Seite. In diese bürgerliche Welt stellt die Dichterphantasie dann eine unheimliche Gestalt des Grauens, wie sie aus den Ängsten der Kindheit dem Erzähler lebendig geblieben ist, eine Gestalt, in der romantisches Urerlebnis mit höchstem Realismus vereinigt ist: Uriah Heep. In zwiefacher Hinsicht bedeutet dieser Roman den Abschluß und Höhepunkt einer literarischen Entwicklung. Auf seine Bedeutung für das Bürgertum wurde schon hingewiesen. Dazu kommt das Kindesthema, das im 18. Jahrhundert einem wachsenden Interesse begegnete, in Wordsworths fast mystischer Auffassung von dem Verhältnis des Kindes zur Natur den stärksten Antrieb nach der Richtung eines Studiums der Kindesseele bekam und das in der Zeit des Kinderelends in Fabriken und Bergwerken um Dickens herum in Leben und Dichtung lebendig war. Freiheit von Unterdrückung und Quälerei: das allgemeine Freiheitsbedürfnis und der soziale Unterton beherrschen auch diesen Gegenstand, den Dickens seit dem „Oliver Twist" sooft aufgegriffen hat. Was aber vorher fast nur heroisch-romantische Darstellung des Unterdrückten war, wird bei Dickens, unterstützt durch eigenes Erleben, künstlerische Gestaltung und Seelenstudie. Die Anfangskapitel — man hat sie gar nicht zu Unrecht oft als eine Kindheitsgeschichte für sich abgetrennt — leben in ihrer Schönheit ganz von der Studie der ersten Eindrücke von Menschen und Dingen, von ahnender Einfühlung in fremde Güte und abstoßende Kälte, von früher seelischer Knechtung, aber auch von der Zartheit der ersten Liebeskeime im Spiel mit Emily und dem wirklichen Liebesglück des Halbwüchsigen mit Dora (Kap. 33, 43). Um David herum sind die feine und zarte Emily und der wackere Ham im Hause der schlicht-soliden Peggottys, der anständige Traddles und der herrische Steerforth in der Schule, die angebetete Dora, die stille und innerliche Agnes, aber auch der verhaßte, dabei unentrinnbare Uriah Heep, der die Menschen wie mit scheußlichen Polypenarmen in seine Gewalt zieht. Der Dichter kennt die Schönheit der Kindheit, für die Haustiere, freundliche Gärten, dunkle Keller, die Sonnenuhr eine Seele-haben und mitfühlen, er kennt die inneren Nöte des Kindes, die Wirren der Entwicklungsjahre, er beherrscht die Sprache des Kindes. Dickens muß eine Kindesseele von stärkster Empfänglichkeit besessen haben, namentlich auch für die Ängste der Kindheit, die in seiner Phantasie nachwirkten. In dem Aufbau von Copperfields Jugend liegt der eigentliche autobiographische Gehalt; was nachher an äußeren Schicksalen kommt, geht in Biographie und Dichtung stärker auseinander. Aber die Studie des seelischen Jugendaufbaus ist von besonderer Bedeutung gerade bei diesem Dichter, der ja sein ganzes Leben lang die Welt sozusagen mit Kinderaugen anschaute, die Menschen in Engel und Unholde schied. Wir wissen, daß er in einer Art kindlicher Empfindsamkeit mit seinen Gestalten lebte, mit ihnen lachen und weinen konnte und oft rauschhaft arbeitete. Die Namen haben vielfach in ihren Anklängen an englische Worte Suggestivkraft — Murdstone, Creakle, Sharp, Meli, Steerforth —, die Sprechweisen wie immer Charakterisierungswert, das Leitmotiv spielt seine Rolle, am klarsten bei Herrn Peggottys Haushälterin Frau Gummidge, die ewig jammert, sie sei ein verlassenes Geschöpf, und bei dem Lebenskünstler Micawber, der unentmutigt darauf „wartet, daß sich etwas bietet". Dieser ideale Phantast aus der Nachfolge des Don Quijote gehört zu den ganz großen Gestalten der komischen Muse. Ein glücklicher Optimist mit Zügen von dem Dichter selbst, der auch inmitten der Härten und Stöße des Lebens den Glauben nicht verliert, genießt Wilkins Micawber in der Würde seiner schäbigen Eleganz mit seiner Kindesseele die kleinen Freuden eines doch so hoffnungslosen Lebens. Er lebt in seiner eigenen Welt, in der alles schöner ist als in der wirklichen, in der sich alles um ihn dreht, an die die Realität nicht heranreicht, in der jede Krisis als die letzte
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freudig durchgestanden werden kann, weil das glückliche Ende ja doch kommen muß. So fährt er, der glückliche Verbannte des Glücks, erwartungsvoll hinaus in die unbekannte Ferne Australiens — ein Symbol für die ewige Hoffnung, die alles überwinden läßt. Seine Haltung und seine geschraubte Redeweise (Kap. 27, 39, 49) sind theatralisch und weltfern-pathetisch; das aber ist echt an diesem Künstler des Lebens, den der schöne Schein über die Widerwärtigkeiten des Daseins hinaushebt. Der melancholische Jacques in „Wie es euch gefällt" kommt zu dem Schluß : „Die ganze Welt ist Bühne, und alle Frau'n und Männer bloße Spieler." Wilkins Micawber kostet seine Rolle aus und legt auch im Alltag das Kostüm nicht ab, in dem er glücklich ist. Robert Burns hat dem schottischen Bauern die Würde eines wertvollen Menschentypus erobert; Dickens tat das gleiche für das Kleinbürgertum. Es liegt für den besinnlichen Leser ein eigenartiger Zauber über der Kunst dieses Dichters, der nicht leicht zu beschreiben ist. Der lose Bau vieler Romane, die Gestaltenfülle, die Nebenhandlungen machen einer schnellebigen Zeit das Mitgehen manchmal nicht leicht, das Pathos wird bisweilen melodramatisch und sentimental, die Komik übertrieben. Er ist weder der vollendetste Künstler des Aufbaus und konsequenteste Realist noch der feinste Psychologe. Aber er ist trotz alledem der größte englische Romandichter und wahrscheinlich der am meisten national-englische. In seinem Gesamtwerk haben wir die Fülle des Lebens, den Glauben an das Leben und an die gute Natur des Menschen, eine die Herzen gewinnende Heiterkeit. Er bringt neue Menschentypen auf, er poetisiert London und sein Bürgertum, er zeigte seinem England ein Bild, das er liebte. Es ist unrichtig, Dickens in die Reihe der Sozialreformer zu stellen. Dazu würde eine unparteiische Studie der Probleme und eine Entwicklung der Charaktere unter dem Einfluß ihrer Umwelt gehören; der Roman „Harte Zeiten" verdient als einziger die Einordnung in die sozialen Romane. Aber er legt in eindringlichen Bildern den Finger auf die gesellschaftlichen Mißstände, auf die Elendsviertel, die schlechten Schulen, die schlimmen Arbeitshäuser und Schuldgefängnisse, und überläßt es andern, die Folgerungen daraus zu ziehen. Romantik und Humor verklären seine Menschen und ihre Lebensumstände. Seine Gestalten sind einfach geformt, schwarz oder weiß, nicht kompliziert, aber scharf gezeichnet in Aussehen, Sprechart und Verhalten, seine Situationen immer eingehüllt in eine stimmungsstarke Atmosphäre; es lebt eine Seele in den Straßen und Häusern, in den Möbeln, in dem Türklopfer, in den Schulstuben. In der Erfassung des Zuständlichen kommt ihm vielleicht nur der französische Meister des phantastischen Romans gleich, Honoré de Balzac. Höchste Kunst des Realismus verbindet sich mit innerlichstem Fühlen. Seine Menschen sind Einzelgänger, eingesponnen in eine Welt, in der sie gewissermaßen Selbstgespräche halten. Das ist das Geheimnis ihrer Anziehungskraft. Die Werke wimmeln von einer Fülle etwas verschrobener, komischer, dabei aber sympathischer Gestalten; wenige Autoren der Welt dürften so viel Lachen erregt haben, das Lächeln durch satirische und das helle Lachen durch rein humoristische Kunst. Die steifen, kalten, offiziellen Menschen sind immer Gegenstand der Satire, die glücklichen Einfaltspinsel, denen es im Leben schlecht geht, liebenswürdige Freunde. Ob es solche Menschen wirklich gibt? Sicherlich nicht in unsrer Umgebung. Wenn wir uns aber in unsre Kindheit zurückversetzen, wissen wir, wie wir mit kindlicher Einseitigkeit und Übertreibung die zur Schau getragene Feierlichkeit verspottet und mit der Gedrücktheit und Not geweint haben, wie Dunkel und Helligkeit unversöhnt nebeneinander standen. Diese Welt kindlichen Träumens ist die Welt der Dickensschen Romane, eine Welt, nicht wie sie ist, sondern wie sie sein sollte. Die Menschen haben ihre Leitmotive in Geste und Sprache, sie haben ihre ungewohnten Namen : Pickwick, Snodgrass, PecksnifF, Peerybingle, Nickleby, Jellyby, Turvey-
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drop, Smallweed, Creakle, Chadband, Micawber, Tappertit, Podsnap. Zu Unrecht hat man nach etymologischen oder symbolischen Deutungen gesucht. Dickens hat sie alle aus dem wirklichen Leben gewonnen; aber er hat sie verwendet, weil sie ungewöhnlich und nicht alltäglich waren. Das ist bezeichnend für seine Kunst. Sie gibt eine Art Märchenwelt in dramatischen und realistischen Szenen, deren jede ihr eigenes Leben hat, sie gibt den Realismus einer phantastischen Welt. In dem Heimchen am Herde lügt der alte Spielzeugarbeiter Caleb Plummer seiner blinden Tochter Bertha eine Welt des Glanzes und der Schönheit vor. Als er aber merkt, daß das Mädchen Neigung zu dem fälschlich als edelmütig geschilderten Brotherrn empfindet, zerreißt er den falschen Schleier und enthüllt der Blinden die elende Kümmerlichkeit ihres Lebenskreises und die Schlechtigkeit des vergötterten Mannes: The world you live iii, heart of mine, doesn't exist as I have represented it. The eyes you have trusted in have been false to you . . . I have altered objects, changed the characters of people, invented many things that never have been, to make you happier. I have had concealments from you, put deceptions on you, God forgive mel and surrounded you with fancies.
Die Welt, in der du lebst, mein Herzenskind, ist nicht so, wie ich sie dir gemalt habe. Die Augen, denen du vertrautest, waren falsch zu dir . . . Ich habe die Dinge verändert, die Menschen umgeformt und vieles erfunden, das gar nicht da war, um dich glücklich zu machen. Ich habe dir viel verheimlicht, dich getäuscht — Gott möge mir verzeihen 1 — und dich mit Trugbildern umgeben.
Diese Worte könnten als Motto über dem Werk des Dichters stehen, das sich an dichterischer Erfindung und schöpferischer Kraft der Menschenzeichnung zu einem Rang erhebt, der nur Shakespeare über sich hat. Er hat die Welt mit seinem Mitgefühl, seiner frohen Zuversicht und seinem unschuldsvollen Lachen erhellt, und darum hat er gerade uns Heutigen in der harten Gegenwart viel zu geben. William M a k e p e a c e T h a c k e r a y (1811—1865) Dickens ist idealistischer Antiviktorianer wie Carlyle und Ruskin, der Romantik verpflichtet wie Tennyson und die Präraffaeliten; der andre große Erzähler seiner Zeit, Thackeray, ist Realist und gehört als Lebensforscher mehr der wissenschaftlichen Richtung an, die zergliedern und deuten will. Gläubiger Optimismus und verstehender Humor bestimmen das Weltbild des einen, Schwarzsehertum und Satire das des andern. Thackerays Stoffgebiet ist auch nicht das städtische Kleinbürgertum, sondern die obere Mittelklasse, der er selbst entstammte. Seine Wiege stand in Kalkutta, seine Familie war seit zwei Generationen mit Indien verknüpft. Als sechsjähriges Kind kam er nach England, wo er auf mehreren Schulen und auf der Universität Cambridge wenig Freude fand und es nicht zu einem festen Beruf brachte. Das Leben in der Gesellschaft und ein Aufenthalt in Deutschland weiteten seine Weltkenntnis, ererbter Reichtum ermöglichten ihm die freie schriftstellerische Betätigung, und nach Verlust des Vermögens widmete er seine ganze Kraft dem geliebten literarischen Beruf. Satire und Parodie waren von Anfang an seine Themen: über Reiseeindrücke und Menschen, über deutsche Kleinstaaterei und Londoner Typen, Erzählungen und Gedichte von feinstem Witz. Seine parodistische Kunst glänzte in der Studentenzeitung „Der Snob", und in einer besonderen Witzblattserie gab er diesem Wort, das ursprünglich nur den Philister im Gegensatz zum akademischen Bürger meinte, einen neuen Sinn durch Erzählungen und eigene karikaturistische Federzeichnungen, den Sinn der „Klassenabstufungskrankheit", die verachtend nach unten und bewundernd nach oben blickt, das Gegenbild des „gentleman". Das Wort „snobbery" wurde von ihm geprägt, und was er in burlesken Charakterbildern entwarf, war die Vorstufe zu vielen Gestalten seiner Romane und Erzählungen.
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Das Werk, das seinen Ruhm und seine Beliebtheit begründete, war der Lieferungsroman Markt der Eitelkeit (1847/48). Ihm folgten der realistische Bildungsroman Pendennis (1848/50), der von der Tradition Fieldings herkommt und den Einfluß von Goethes „Wilhelm Meister" verrät, der das Generationsproblem behandelnde Roman Die Newcomes (1853/55), der geschichtliche Roman Henry Esmond, der nach Scotts Art einen erdichteten Helden in eine farbenprächtige historische Umgebung aus der Zeit der Königin Anna und des Herzogs von Marlborough stellt und das künstlerisch geschlossenste und in der Einfangung einer Zeitatmosphäre stilechteste seiner Werke ist, mit der Fortsetzung Die Virginier (1852 und 1858/59), und schließlich die Vorlesungssammlungen über Die Englischen Humoristen des 18. Jahrhunderts (1853) und Die vier George (1860). Die Weltsicht und Kunstform dieses nüchtern-realistischen Lebensforschers erfühlt man am besten in dem Markt der Eitelkeit (Vanitj Fair), der noch heute als sein bekanntestes Werk zu gelten hat. In dem populären Erbauungsbuch aus dem puritanischen 17. Jahrhundert, John Bunyans „Des Pilgers Wanderfahrt", gelangt der wandernde Christ auch in die Stadt Eitelkeit, wo ein großer Markt der Eitelkeit abgehalten wird, ein buntes Treiben der irdisch gesinnten Menschheit. Von hier nahm Thackeray den Titel zu seinem „Roman ohne Helden", wie er ihn nennt, zu seinem Bild von dem bunten Getriebe der Welt. Zwei Freundinnen verlassen die Mädchenschule der Schulvorsteherin Pinkerton, die reiche Kaufmannstochter Amelia Sedley und die arme Rebecca Sharp, Tochter eines heruntergekommenen Malers und einer französischen Tänzerin, die eine Freistelle gehabt hat. An der tugendhaften Schulleiterin, die oft auf ihre Armut und geringe Herkunft angespielt hat, nimmt die gewitzte und bereits an Erfahrungen reiche Becky noch von dem Wagen aus Rache: sie sagt der herablassend die Hand ausstreckenden alten Jungfer, die kein Französisch versteht, in dieser Sprache Lebewohl und wirft das Abschiedsgeschenk, Dr. Johnsons Wörterbuch, zum Fenster hinaus. Sobald der Wagen um die Ecke biegt, trocknet sie ihre Tränen. Im Elternhaus Amelias macht sie sich hinter den Bruder, den aus Indien zu einem Urlaub heimgekehrten phlegmatischen Steuereinnehmer Joseph Sedley her, der ihr aber im letzten Augenblick davonläuft. Amelia ist von frühester Jugendzeit an George Osborne versprochen, den Sohn eines anderen reichen Citykaufmanns. Das hübsche, gutmütige, simple Mädchen betet den vielumworbenen, oberflächlichen George an, der sich um die Braut wenig kümmert und von dem ehrlichen, treuen Schulkameraden William Dobbin, der Amelia still verehrt, immer wieder an seine Pflicht erinnert werden muß. Becky nimmt nach dem mißlungenen Versuch, durch Einfangen Jos Sedleys zu Vermögen und Ansehen zu kommen, eine Stellung als Erzieherin und Hausdame bei dem reichen, geizigen Landjunker Sir Pitt Crawley an, einem Unterhausmitglied mit Bildung und Geschmack eines Kutschers. Ihre berechnende, kokette Klugheit verschafft ihr bald die Rolle eines Menschen, um den sich alles dreht. Lady Crawley ist kränklich und ohnmächtig, die neue Erzieherin wird dem an seinen Wein, seinen Stall und Mist gewohnten Hausherrn unentbehrlich. Mit dem ältesten Sohn, einem frömmelnden Theologen, versteht sie zu liebäugeln, den jüngeren Rawdon, einen vom Dienst heimkommenden plumpen und trinkfesten Dragoneroffizier, fängt sie ganz ein, so daß er sie heimlich heiratet; er ist ja der präsumptive Erbe der reichen Tante, die Vornehmheit und Geist markiert. Als Sir Pitt nach dem Tode seiner Frau Becky einen Heiratsantrag macht, muß sie ihre Verheiratung enthüllen. Da geht die erwartete Erbschaft verloren, um die auch die Gattin von Sir Pitts Bruder, einem mehr der Welt als den religiösen Pflichten zugewandten Geistlichen, gebuhlt hat: das alte Fräulein Crawley enterbt Rawdon wegen der standeswidrigen Verbindung mit der hergelaufenen Tochter einer Tänzerin; als bloße Angestellte der Familie und als Unterhalterin war
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die gewandte Person mit ihrem perfekten Französisch der alten Dame, die so gern mit der Bildung der französischen Aufklärung kokettiert, sehr angenehm gewesen. In London ist das Unglück über Amelias Familie gekommen. Sedley hat Bankrott gemacht, die Familie ist verarmt. William Dobbin kann heimlich gerade noch Amelias Klavier aus der Konkursmasse kaufen und es der herzlich Geliebten als angebliches Geschenk ihres Bräutigams George schicken. Der alte Osborne bricht sofort alle Beziehungen ab und will Amelias Namen in seinem Hause nicht mehr hören. Der schwankende George wird von Dobbin wegen seiner Untreue und Feigheit abgekanzelt und heiratet Amelia, die sich in ihrer Verlassenheit vor Sehnsucht nach dem Geliebten verzehrt hat. Der Krieg gegen Napoleon führt die Männer als Offiziere ins Feld. George Osborne fällt in der Schlacht bei Waterloo, Amelia lebt in Trauer und Not mit ihrem Kinde bei den Eltern, ganz der Erinnerung an die selbstgeschaffene Idealgestalt des Gatten hingegeben. Ein Anerbieten des Schwiegervaters, für das Kind zu sorgen, wenn es ihm ganz überlassen würde, weist sie mit Entrüstung zurück; auch die Liebe Dobbins kann sie in dem Gedanken an den gefallenen Gatten nicht erhören; er nimmt Dienste in Indien an, wo er es bis zum Obersten bringt. Schließlich bringen Not und Sorge die Trauernde doch dazu, das Anerbieten des alten Osborne anzunehmen und damit den Eltern eine Last von den Schultern zu nehmen. Da kehrt — es sind fünfzehn Jahre seit dem Unglückstag von Waterloo vergangen — der Oberst Dobbin aus Indien zurück. Amelia erkennt jetzt die Größe und Vornehmheit seines Herzens ; sie wird seine Frau und macht damit auch ihren Sohn glücklich, der schon lange mit Liebe an dem innerlichen und tiefen Mann gehangen hat. — Beckys Schicksal war bewegter. Nach der Einnahme von Paris durch die Koalitionsarmee kehrte sie mit ihrem Mann, dem Obersten Rawdon Crawley, nach London zurück. Sie ist des Trinkers, Spielers und Verschwenders aber reichlich überdrüssig; das Geld geht dahin, die elegante Oberstenfrau, die die Höhe der gesellschaftlichen Macht erklommen hatte und sogar bei Hofe vorgestellt wurde, fühlt sich gestürzt und muß Demütigungen von den nicht entlohnten Dienstboten ertragen. Sie versteht den Gatten ins Schuldgefängnis zu bringen und wirft sich einem Roué aus der hohen Aristokratie an den Hals, Lord Steyne, dessen Gelder ihr den falschen Schein eines großen Hauses weiter ermöglichen. Da erscheint ihr Mann aus der Schuldhaft und überrascht sie mit dem Marquis ; er ohrfeigt ihn und reißt Becky die Juwelen von ihrem Gesellschaftskleid. Auf ihr Betreiben verschafft der Lord durch seinen Einfluß dem jetzt ganz mittel- und haltlosen Mann den Gouverneurposten auf einer entlegenen Insel; Rebecca ist ihn für immer los, er stirbt bald in dem ungesunden Klima. Sie selbst führt ein Zigeunerleben, taucht bald hier, bald da auf dem Kontinent auf, oft der mit gutem Grund erhobenen üblen Nachrede ausweichend, bis sie nach der Hetze einer Jagd nach Erfolg und Genuß in der Rolle einer ehrsamen und frommen Bürgerin in einer Kleinstadt endet. Das Vermögen, das aus den Taschen des Liebhabers Steyne und aus allerlei Schwindelmanövern stammt, ermöglicht ihr das neue Leben der Ruhe und eines Ansehens im engeren Kreise; nur die anständigen Leute, die sie kennen, wenden sich mit Verachtung von ihr ab, unter ihnen auch ihr eigener Sohn. Das ist der Jahrmarkt des Lebens und der Eitelkeiten, der Tummelplatz der Snobs, der Eigenliebe bei Schmarotzern ebenso wie bei Gentlemen und Aristokraten, die eine äußerlich so wohlanständige Gesellschaft aufweist. Da ist der verbauerte, trinkende und fluchende Landjunker Sir Pitt Crawley mit seiner Familie, zu der eine geistreichelnde Erbtante, ein veräußerlichter Geistlicher mit seiner erbschleichenden Frau, ein frömmelnder älterer und ein liederlicher jüngerer Sohn gehören, da ist der Wüstling aus der hohen Aristokratie, da sind die Helden der Gesellschaft, die durch die Reize der kokett-berechnenden Frau leicht einzufangen sind, das ist der feige Genießer und Lebemann Joseph Sedley, der kalte Geschäftsmann Osborne mit seinem
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oberflächlichen und ungalanten Sohn, der vertrottelte General Tufto in Indien, da ist das Schieberleben mit Genuß und Tanz hinter den Fronten in Belgien und Frankreich. Menschheitskomödie, Eitelkeitsmarkt! Durch den ganzen Rummel geistert die Hauptvertreterin der „snobbery", die Frau von zweifelhafter Herkunft, die ihre Klugheit und ihre Reize kennt und zu nutzen versteht, so daß ihr alle zu Füßen liegen, die weder Gefühl noch Naivität besitzt, aber beides heucheln kann, wenn es eine Wirkung verspricht, eine Schauspielerin des Lebens, die auf der Leiter feiner Gemeinheiten emporklimmt und in äußerlich behaglicher Ruhe, aber innerlicher Verlassenheit endet. Daneben dann das Gegenbild schöner Weiblichkeit und echter sittlicher Kraft: die geistig arme, aber gefiihlstiefe Amelia, die den Menschen nicht gram sein kann, die auch dem Unwürdigen die Treue über das Grab hinaus hält, die zu den Eltern in ihrer Not steht, eine erlösende Engelsgestalt in einer Welt, die das ganze Sittengesetz in Frage stellt; und der äußerlich so wenig anziehende, aber grundanständige und edelmütige William Dobbin, der unbekümmert um den Spott des Eitelkeitsmarktes den Weg geht, den sein selbstloser Sinn ihm zeigt. Das ganze Panorama wird episch breit entrollt, ein scheinbar sorglos, in Wahrheit aber kunstvoll komponiertes Monumentalbild der englischen Gesellschaft, zickzackartig zwischen den Lebenskreisen der beiden Frauengestalten hin und her springend, ein Bild von packender Frische und Bewegung. Es fehlt nicht an köstlicher Satire — die Schilderung der Gesellschaft an dem großherzoglichen Hofe des deutschen Kleinstaates Pumpernickel (III. Band, Kap. 14) ist ein Kabinettstück—, nicht an Seitenhieben auf die Engländer (z. B. II, Kap. 3), nicht an Szenen von dramatischer Wucht — Rawdons Eindringen in das tête-à-tête Beckys mit Lord Steyne —, nicht an der für Thackeray charakteristischen kommentierenden Zwischenrede des Autors, der sich gelegentlich mit uns sogar darüber unterhält, wie der Roman wohl am besten weitergehen müsse oder ob er ein Ereignis romantisch oder spaßig erzählen solle (I, Kap. 6 und 14). Der Dichter will ja als verstandesmäßiger Lebensdeuter auftreten und gemeinsam mit dem Leser die Welt beobachten. Wie anders ist dies Bild von denen eines Dickens, anders im Stoffumkreis und in der Weltsicht, anders auch in der Sprache, die nicht dramatisch charakterisiert, sondern in der Tradition des gepflegten Gesellschaftsstils bleibt I Bei Dickens das gefühlsbetonte Mitleben mit kümmerlichen Menschen, die aber echte Menschen bleiben, und der Glaube an das Gute; bei Thackeray kein verschönernder Glanz, sondern nüchterne Realistik und scharfäugige Lebenskritik. Und doch ist dieser Dichter kein Swift mit seinem Menschenhaß, sondern ein Kenner der Schwächen, in die er sich selbst mit einschließt, überzeugt davon, daß die Liebe mehr ist als aller Glanz und Schimmer der Welt. Charles K i n g s l e y (1819—1875) Unter den Gegenkräften gegen den extremen Liberalismus des Manchestertums, die Ethik des Utilitarismus und den wirtschaftlichen Mechanismus der frühen Viktoriazeit kommt der Kirche, die in den dreißiger und vierziger Jahren bewegte und fruchttragende Zeiten durchmachte, eine wichtige Rolle zu. Ein Oxforder Geistlicher, John Keble, begann den Widerspruch gegen eine rationalistisch gesinnte liberale Regierung mit einer berühmt gewordenen Predigt, der Oxforder Professor Edward Pusey gelangte mehr und mehr zu einer der römisch-katholischen nahestehenden Abendmahlslehre und Gottesdienstgestaltung, ein anderer Universitätslehrer und Geistlicher, John Henry Newman, wurde als Vorkämpfer eines mystischen Christentums und sozialer Frömmigkeit durch Predigten, Abhandlungen und Dichtungen die Seele der „Traktarier", wie die Gruppe dieser Führer nach den von ihr herausgegebenen Traktaten genannt wurde. Newman trat später zur katholischen
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Kirche über und starb als Kardinal. Diese „Oxforder Bewegung" war ein letzter Ausläufer der Romantik, der an die Stelle eines kirchlichen Individualismus die verbindende Macht seelischer Verinnerlichung, den ethischen Idealismus, die Kraft der Einfühlung in das gewordene Heilige, die Pflichten der Nächstenliebe und Wohltätigkeit setzte. Sie bog im Widerspruch gegen den puritanischen Einschlag der „Evangelikaien" die hochkirchliche Tradition in einen Anglokatholizismus um. Der Zusammenhang mit dem Idealismus eines Coleridge und der romantischen Verklärung des Mittelalters bei Walter Scott offenbart sich in der ästhetischen Seite der Gottesdienstgestaltung, die in dem sinnlich Schönen, in den Stimmungsmomenten, eine Hilfe für das religiöse Gefühl sieht. Der Austritt Newmans aus der anglikanischen Gemeinschaft bedeutete den Höhepunkt der Bewegung und gleichzeitig das Ende ihres mächtigen Impulses. Man fühlte, daß die Kirche sich trotz der Betonung sozialer Pflichten durch Newman zu wenig um die breite Masse kümmere und in ihrer theologischen Dialektik zu erstarren drohe. Jüngere Geistliche empfanden in wachsender Zahl die praktische soziale Arbeit als die Hauptaufgabe der Kirche, von der sich immer mehr Arbeiter abwandten. Man wollte das Tor der Kirche ohne jede dogmatische Enge weit öffnen; als „breitkirchliche" Richtung („BroadChurch") nahm diese „christlich-soziale" Bewegung, die sich gegen den Anglokatholizismus stellte, an Wirkung immer mehr zu. Ihre Seele war Frederick Denison Maurice, ihr erfolgreichster Verkünder Charles Kingsley, Pfarrer einer Dorfgemeinde, eine glückliche Natur voller Optimismus und Tatendrang, ein freier Geist und Freund der Natur und der Freuden des Lebens. „Muskelchristentum" nannten diese Weltverbesserer gern ihre Bestrebungen, auf deren Boden verschiedene Organisationen christlicher Liebestätigkeit erwachsen sind; die Arbeiteruniversität („Working Men's College" 1854) ist die bedeutendste unter ihnen. Kingsley war als Schriftsteller von einer erstaunlichen Vielseitigkeit. Nicht nur Predigten, theologische und philosophische Abhandlungen und Zeitungsaufsätze waren die Formen, in denen er sprach, sondern auch Gedichte, Romane, Dramen, Kindermärchenbücher. Seine frohe Botschaft ist in einer warmherzigen, heiteren und tatbereiten Natur innerlich erlebt und nicht in wissenschaftlicher Denkarbeit geboren. Carlyles Idealismus und Kampf gegen den mechanisierenden Zeitgeist hat den stärksten Einfluß auf ihn ausgeübt, besonders auch in der Abneigung gegen die Kirche Roms und in der Begeisterung für die imperialistische Sendung des auserwählten und christlichsten Volkes. Der Roman Gischt (Yeast, 1848) greift in die ländliche Arbeiterbewegung ein; ein oberflächlicher, haltloser Mensch wird durch die Berührung mit der feinen Seele eines geliebten Mädchens, durch Glück und Not zu echtem christlichem Sozialismus geläutert. Als Kunstwerk geschlossener ist die Geschichte des Schneidergesellen Alton Locke (1850), die die grauenvolle Lage der städtischen Arbeiter in packenden Bildern schildert und die Chartistenbewegung mit der Handlung verwebt. Nicht von Freiheitsbriefen und Volksrechten sind wahre Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu erwarten, sondern nur vom Geist, vom eigenen Inneren; diese Lehre Carlyles ist die Erfahrung des Schneiders und Dichters nach schweren Lebenskämpfen. Nach Westen! (WestwardHol 185 j) ist eine im alten Sagaton gehaltene Erzählung aus der Zeit des Ringens Englands mit Spanien um die Weltherrschaft, ein Buch einseitiger antikatholischer Haltung, wegen seiner lebensvollen Bilder von Wagemut und Heldentum, von Urwaldidyllen, Piratentum und Hofleben aber als Jugendbuch hochbeliebt. Das bekannteste Werk des Dichters, in dem ein breites Kulturbild wuchtig und farbenreich eingefangen wird, ist der geschichtliche Roman Hypatia (1853). Wir werden in eine sogenannte Laura, eine frühe Klosterform der Anachoreten oder Einsiedler, in der Nähe des alten Alexandria des fünften Jahrhunderts n. Chr. versetzt.
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Den frommen jungen Gotteseiferer Philammon drängt es hinaus in die Welt, um in ihr zu wirken und für Gott zu streiten; zu viel schon hat er von dem alten Bruder Aufugus erfahren, der früher als Arsenius die Händel der politischen Welt kennen und mißachten gelernt hat. Auf einsamer Fahrt gelangt der junge Mönch in die große Stadt. Zuerst gewinnt er Berührung mit heidnischen Goten: da sind der Germanenfürst Amal, seine Begleiter Wulf und Smid sowie die schöne, geputzte Tänzerin Pelagia, Amals Geliebte — verwirrende Eindrücke für den Klosterbruder, der noch nie ein Weib gesehen hat. Das Christentum in Alexandria steht unter der Gewalt des leidenschaftlichen Patriarchen Cyrill, der in dem Diakon Peter, dem Vorleser, sein gefügiges Werkzeug hat. Cyrill stiftet eine blutige Austreibung der Juden an. Sie werden vertreten durch den vornehmen und klugen Raphael Aben-Ezra und die alte „Hexe" Miriam mit ihren Zaubertränken und Talismanen, die lauernd und geheimnisvoll durch die Erzählung geistert. Als Repräsentanten der römischen Herrschaft lernen wir den Präfekten Orestes mit seinem üppigen Hof und gewalttätigen Regiment kennen. Neben diesen Kreisen steht die untergehende Welt des alten griechischen Denkens und Glaubens: die neuplatonische Philosophin Hypatia mit ihrem Vater, dem Mathematiker Theon. Schön, strahlend von Körper und Geist, hält sie Vorlesungen in ihrem „Museum". Philammon erlebt als Schüler Hypatias das Staunen über eine nie gekannte Welt des Wissens; seine primitive Frömmigkeit wird vertieft, mönchische Unduldsamkeit weicht einem freieren Christentum der Liebe und Versöhnung. Orestes, der ehrgeizige Präfekt, träumt von sich als Kaiser eines afrikanischen Reiches und macht Hypatia den Antrag, seine Gattin und Kaiserin zu werden. Entrüstet will sie ihn abweisen, stellt ihm aber auf Betreiben ihres Vaters zunächst die Bedingung der Ausrottung aller Christen. Orestes hofft auf ein Gelingen des Kriegszuges des Heraclius gegen den römischen Kaiser Honorius. Als die Flotte des Heraclius geschlagen und vernichtet wird, läßt er das falsche Gerücht von einem Siege aussprengen, wird aber bald Lügen gestraft und bloßgestellt. Das vollzieht sich während eines großen Zirkusspiels, das er der Menge darbietet; es gibt blutige Gladiatorenkämpfe und einen Tanz der Pelagia. Hypatia muß halb gezwungen dem pomphaften, unwürdigen Theater zuschauen, und auch der anwesende Philammon kämpft und leidet schwer; denn Pelagia, die Tänzerin und Buhlerin, ist seine Schwester! Er will sie retten aus den Klauen des Pöbels, namentlich der eifernden Mönche aus den Wüstenklöstern von Nitria, ringt mit Amal und fällt in enger Umklammerung mit diesem aus einem Fenster des Hauses in den Kanal, wobei der Germanenfürst den Tod findet. Raphael entpuppt sich als Miriams Sohn und entkommt mit den verborgenen Juwelenschätzen der alten Jüdin. Nun tobt sich die Leidenschaft des Pöbels, von Cyrill geschürt, gegen das ganze Heidentum aus. Hypatia wird gefangen, nackt gemartert und getötet. Philammon kann sich mit Pelagia in die Einsamkeit des Wüsteneinsiedlertums retten. Raphael spricht das Schlußwort: der Galiläer hat gesiegt 1 Leben und weiterwirken wird nicht die eifernde Kirche, der Katholizismus, sondern die freie, gütige, duldsame Menschlichkeit. Ein glänzendes und farbenreiches Bild aus einem Raum, in dem sich absterbende und werdende Kulturen begegnen, wird vor unseren Augen entrollt, Menschen der Leidenschaft, der fanatischen Frömmigkeit und des hohen Denkens werden in ihren Schicksalen verwoben, südländische Heißblütigkeit steht neben der Abgeklärtheit reifen Denkens und hoher Menschlichkeit. Was das späte Altertum in der Zeit seines Verfalls an sinnenaufpeitschendem Prunk zu bieten hatte, erleben wir in der atemlosen Folge der Bilder und Stimmungen des großen Kampfspiels, und was echte, geistgeborene Humanität und wahres Christentum zu künden haben, vernehmen wir aus den Lehren der griechischen Philosophin und aus der Predigt des Augustin von Hippo. Kingsleys immer wieder gepredigte Religion werktätiger Liebe und sein Eifern gegen
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dogmatische Enge, die den fühlenden und sich mühenden Menschen vergewaltigt, sind der Ausklang. Die Gestalten und Gruppen in ihrer Überfülle sind gewiß mehr konstruierte Vertreter ihres Typus als durchgearbeitete Charaktere; die verschlungene Handlung aber wird kunstvoll gemeistert, der Zusammenklang widerstreitender Kulturelemente in einer der entscheidungschwersten Epochen der Menschheitsgeschichte lebensvoll und packend geschildert. Das Werk gehört zu den Gipfelpunkten des historischen Romans. George E l i o t (18x9—1880) In der beträchtlichen Zahl bedeutender Frauen, die das neuere englische Geistesleben aufzuweisen hat, kommt der größten Romandichterin eine besondere Rolle zu. Sie gehört mit ihrer vernunftmäßigen Analyse der Menschen und ethischen Lehrhaftigkeit der wissenschaftlichen Richtung ihres Zeitalters an, befreit sich aber aus selbsterarbeiteter Lebensphilosophie von aller viktorianisch-bürgerlichen Enge und umfaßt mit tief verstehender Sympathie und souveräner Freiheit des Geistes sonnengleich die menschliche ebenso wie die tierische Natur. Ihre Seelenforschung ist vom Mitfühlen bestimmt, ihr Humor hat nichts von Satire, ihre Verwurzelung im Heimatboden und in den natürlichen Gemeinschaftsbanden legt die Keime für den späteren Heimatroman. Die psychologische Ergründung und die stoische Ethik der Pflicht geben ihrem Werk die besondere Note; man tut der großen Menschendarstellerin aber unrecht, wenn man die philosophische Haltung irgendwie im Sinne eines lehrhaften Dogmatismus auffassen will. Mary Ann Evans war ihr Geburts-, George Eliot der angenommene Schriftstellername. Sie entstammte der puritanisch redlichen, arbeitsamen Familie eines Gutspächters in Warwickshire und rang von Jugend auf in eifrigem Selbststudium um Erkenntnis und Wissen. Nach der Übersiedlung des Vaters in die Stadt konnte das suchende und kämpfende Mädchen im Umgang mit einer geistig anregenden Umgebung seine Studien zu echtem Gelehrtentum vertiefen, sich aber auch zu einem freieren, unkirchlichen Christentum entwickeln. Herbert Spencer gehörte zu den Freunden des Hauses; durch ihn lernte die junge Schriftstellerin den Philosophen und späteren Goethebiographen George Henry Lewes kennen, einen glücklich-heiteren, liebenswürdigen Bohémien, der ihr treuer, ihren Geist und ihre Schaffensfreude anfeuernder Lebensgefährte wurde, wenn auch die nicht erfolgte Scheidung seiner eigenen unglücklichen Ehe eine gesetzliche Verbindung ausschloß. Als dieser edle Herzensbund durch Lewes' Tod ein Ende fand, heiratete die alt gewordene Dichterin einen Bankier Cross, der ihr in ihrem Schmerz hilfreich zur Seite gestanden hatte, starb aber schon nach siebenmonatiger Ehe. Mit Svenen aus dem Leben der Geistlichkeit (1857) begann George Eliot ihre dichterische Laufbahn. Es folgten—um nur die bedeutenderen Werke zu nennen — A.dam Bede (1859), e i n echter Volksroman aus dem Leben der kleinen Leute in der Heimat Warwickshire, von dem tüchtigen, prächtigen Tischlergesellen, der das erträumte Glück seines Lebens nicht erringt, aber durch Leistung und Treue in seinem Handwerk Festigkeit und sittliche Größe bewahrt; Die Mühle am Flüßchen (1860), eine liebliche, mit eigenen Jugenderinnerungen gefüllte Erzählung von klassischer Form; Silas Marner (1861), das Charakterbild eines schlichten Webers, der durch Liebe zur Gemeinschaft der Menschen zurückgeführt wird; der Geschichtsroman Romola (1863) aus dem Florenz der Zeit Savonarolas, in dem die psychologische und ethische Problematik die Entfaltung eines großen Zeitbildes etwas erstickt; Felix Holt (1866) mit dem Hineingreifen in die sozialen Kämpfe der frühen Viktoriazeit mit ihren Parteienthesen; die Mittelklassenwelt der Kleinstadt Middlemarch (1872), die durch neue Ideen der Zeit 29 Die Stimmen der Meister
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nur vorübergehend aus der Statik des Provinzlebens herausgerissen wird; der Zionistenroman Daniel Deronda (1876) mit Rassen- und Vererbungsfragen. George Eliot hatte das „Leben Jesu" von David Friedrich Strauß und das „Wesen des Christentums" von Ludwig Feuerbach übersetzt und aus beiden die Abneigung gegen alles Dogmatische und die Überzeugung von dem Göttlichen im Menschen geschöpft; Feuerbachs Schlußfolgerung, daß der Mensch nur in der Gemeinschaft, im Miteinandersein und in der tätigen Liebe zu anderen sein Wesen erfülle, ist auch ihr Glaube. Der stärkste Einfluß aber ging von Auguste Comte aus, dem französischen Schöpfer der Philosophie des Positivismus, der ihr durch Lewes nahegebracht worden war. Nach Comte können wir nicht das Wesen der Erscheinungen erkennen, auch nicht ihre Ursachen und letzten Zwecke, sondern nur die durch Beobachtung und Vergleich gewonnenen festen Beziehungen zwischen ihnen. Es gibt also keine absolute, sondern nur eine relative Erkenntnis. Die Gesamtbewegung der Menschheitsgeschichte geht von einer Kindheit über die Jugend zum Mannesalter, von einer theologischen Weltsicht, die das Geschehen aus Willensakten göttlicher Wesen herleitet, zu der metaphysischen, die abstrakte Begriffe als Realitäten an die Stelle göttlicher Persönlichkeiten setzt, dann zu der positiven, in der nur noch die erkannten, nicht erklärbaren Gesetze und Bedingungen alles Geschehens gelten. Die hierauf gegründete evolutionistische Gesellschaftslehre kennt die Gesetze der Statik, die die allgemeinen Bedingungen des Bestehens der Gemeinschaft umfaßt, und der Dynamik, die die Formen der sozialen Entwicklung und des Fortschritts zum Gegenstand hat. Die innere Bewegung des menschlichen Lebens gleicht einer krummen Linie, die sich der geraden zwar nähern kann, sie aber nie erreicht. Der Mensch besitzt von Natur aus neben den selbstischen Regungen auch die edleren Antriebe sozialer Neigungen, des Mitgefühls und der Geselligkeit, und zwar die Frau in höherem Grade als der durch Vernunft und Einsicht ihr überlegene Mann. Die Familie ist die Schule der Selbstlosigkeit; der Wert der Gesellschaft hängt von der Stärkung der edleren Antriebe ab, der sozialen Neigungen gegenüber den egoistischen und der geistigen Aktivität gegenüber der angeborenen Trägheit. „Vivre pour autrui!" In dieser Überwindung des nüchternen Individualismus durch einen Sozialismus der Liebe findet die Dichterin die Versöhnung der Verstandesphilosophie mit ihrer fühlenden weiblichen Seele. Das Studium der Verhältnisse und Beziehungen, also des Menschen in seiner Umwelt, bleibt aber ihr Hauptanliegen; die Zauberkraft der Sympathie läßt die Menschen werden und in der ehrlichen Arbeit stoisch-heroisch wachsen. Silas Marner mit seiner sehr einfachen, ergreifenden Geschichte und geringen Zahl von Personen ist das Muster eines „experimentellen" psychologischen Romans. Der fleißige arme Weber Silas Marner ist ein strenggläubiges Mitglied einer dörflichen Methodistengemeinde, wie sie in abgelegenen Nestern in großer Zahl mit einer Art despotischer Allgewalt das äußere und seelische Leben primitiver Menschen ausfüllten und beherrschten. Er hat einen Freund, der den frommen Gottesmann spielt, und eine Geliebte, die er bald heimzuführen gedenkt. Eines Tages ist die Kirchenkasse verschwunden; sie stand in dem Sterbezimmer eines der Kirchenvorsteher. William Dane, der falsche Freund, weiß den Verdacht so geschickt auf Silas, der während der Nachtwache bei dem Sterbenden infolge des absichtlichen Ausbleibens der Ablösung vor Übermüdung eingeschlafen war, zu lenken, daß dieser von dem kirchlichen Gericht aus der Gemeinde ausgestoßen wird und Geld, Ehre und Braut verliert. An Gott und Gerechtigkeit verzweifelnd, verläßt der arme und einsame Weber den Ort, der seine Welt war, und bereitet sich in einem abgelegenen Häuschen des Dorfes Raveloe eine neue Wohn- und Arbeitsstätte. Er kennt nichts mehr als rastlose Arbeit; keine Gemeinschaft andrer Menschen, kein Gedanke an die Welt und an einen gütigen Gott locken ihn von seinem Webstuhl. Die Kinder begaffen den einsamen Sonderling, und
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seine Kenntnis heilkräftiger Kräuter, mit der er Kranken bereitwillig hilft, umgibt ihn mit dem Ruf des Geheimnisvollen. Die unermüdliche Arbeit bringt Geld ein. Die blanken Goldstücke werden dem, der kein andres Sinnen mehr kennt, zur Quelle einer Leidenschaft; das Geld zu zählen wird seine tägliche Freude, Geld zu erwerben sein einziger Lebenszweck. — Der wohlhabende Gutsbesitzer Cass ist der angesehenste Mann in Raveloe. In seinem stattlichen Haus waltet aber keine sorgende Hausfrau und Mutter; sie ist vor langen Jahren schon gestorben. Der Gutsbesitzer präsidiert lieber im Wirtshaus als an der Familientafel, und seine Söhne Gottfried und Dunstan sind bei dem Fehlen mütterlicher Liebe und väterlichen Verständnisses nicht wohl geraten; sie sind feindliche Brüder, die nur durch Mitwisserschaft an gegenseitigen Verirrungen oder Schlechtigkeiten zueinander geführt werden. Der ältere Sohn hat die Heirat mit einem Mädchen niedrigsten Standes zu verheimlichen, die ihm bei seinem Werben um die schöne und liebenswürdige Nancy Lammeter sehr im Wege ist; er kann kaum das Geld aufbringen, um die Frau samt ihrem Kind ordentlich zu versorgen. Vor der Welt steht Gottfried als der respektable Erbe des Hofes und des schönen Hauses da, während sein Bruder Dunstan einen schlechten Ruf genießt, der Stammgast der Kneipe, dessen Fluchen, Wetten und Raufhändel bekannt sind. Eben gerade gerät er in Verlegenheit, als der Vater gegen einen angeblich mit der Zahlung rückständigen Pächter Zwangsmaßnahmen ergreifen will. Das Geld ist an Gottfried bezahlt worden, der es dem liederlichen Bruder geliehen hat. Dem Vater kann er die Wahrheit nicht sagen, da Dunstan als Mitwisser der heimlichen Heirat ihn in der Hand hat. Dieser will sich durch den Verkauf von Gottfrieds Pferd aus der Klemme retten. Er reitet das Tier aber tot, bevor er den vereinbarten Erlös empfangen hat. In seiner Verzweiflung entdeckt und stiehlt er den schwerverdienten und liebevoll gehüteten Schatz Silas Marners, als der Weber gerade abwesend ist. Der arme Teufel ist dem Wahnsinn nahe, als er den Verlust der einzigen ihm gebliebenen Freude bemerkt. — Der Gutsbesitzer Cass veranstaltet ein schönes Ballfest, um seinem Ältesten Gelegenheit zur ernstlichen Werbung um Nancy zu geben. In der gleichen Nacht hat sich Gottfrieds heimliche Frau auf den Weg zu dem Mann gemacht, der sie in ihrem Elend sitzen ließ und nichts von sich hören läßt. Es ist eine grausige Schneenacht; ermattet sinkt die Arme dicht bei Marners Häuschen nieder und erfriert im Schnee. Das Kindchen kriecht, durch den Lichtschein angelockt, an des Webers Herd, eine wunderbare Erscheinung, wie vom Himmel als Trost gesandt für den verzweifelten Einsamen. Er klammert sich mit rührender Zärtlichkeit an die Kleine, die sein eifersüchtig gehegter neuer Schatz wird. Eine brave schlichte Bäuerin, Dolly Winthrop, steht dem unbeholfenen alten Junggesellen in der Sorge für die äußerlichen Dinge mit Rat und Tat zur Seite. So zieht neues Glück in die stille Hütte des Vereinsamten ein, sein Leben bekommt einen neuen, tieferen Inhalt, seine Arbeit wieder einen Sinn. Die kleine Eppie ist wirklich ein segenbringender Engel geworden und hat einen mit der Welt zerfallenen Menschen wieder gläubig und froh gemacht. Gottfried Cass ist an der Seite der fein empfindenden Nancy Lammeter, die er geheiratet hat, ein andrer Mensch geworden. Nur ein Schatten fällt auf sein Glück, die Kinderlosigkeit, die er als Strafe für die Verleugnung des Kindes aus der unglücklichen ersten Ehe empfindet. Nach fünfzehnjähriger Ehe bekennt er seiner Frau die Jugendverirrung. Sie verzeiht sofort und erbietet sich, das Kind ins Haus zu nehmen. Eppie aber will den geliebten Pflegevater und ihre dürftige, ihr ans Herz gewachsene Umwelt nicht verlassen. Ein Zufall enthüllt die Tat und das letzte Schicksal des Geldräubers: Dunstan ist in jener dunklen Nacht in den Steinbruch gefallen, sein Gerippe wird bei der Trockenlegung eines kleinen Teiches aufgefunden, neben ihm Marners Schatz und ein Peitschengriff als Zeugnis der Identität. Das Geld und die Unterstützungen Gottfrieds und Nancys sichern dem Weber, der auch noch die Aufdeckung jener Schurkerei des Jugend29*
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VI. Streben nach Ausgleich: das „viktorianische Kompromiß"
freundes in dem Heimatsdorfe und die Wiederherstellung seiner Ehre erlebt hat, ein sorgenfreies Alter. Eppie kann den Sohn der treuen Helferin Winthrop heiraten, einen braven Bauernburschen. Die Inhaltserzählung gibt einen Eindruck von der schlichten, durch keine Nebenhandlungen gestörten Geradlinigkeit des Aufbaus. Das ist ganz anders als die behaglich-humorvolle Situationsausmalung eines Dickens oder die Gestaltenfülle und breite Überschau eines Thackeray; hier herrschen Symmetrie und Proportion, Stilisierung, harmonische Lösung der Dissonanzen des Lebens, sittliche Gerechtigkeit. Hier erfühlen wir das echte Leben einer bäuerlichen Kleinwelt, primitiv-enge, aber sittlich stärkende Dorfreligiosität, die Nachklänge alten Geisterglaubens, die kräftig und mit feinem Humor gezeichneten Typen des Wirtes, des Fleischers, des Schmiedes und des Gemeindedieners im Dorfkrug und der kreuzbraven schlichten Bäuerin mit ihrem gesunden Mutterwitz und frischen Zupacken. Die Hauptgestalt des etwas konfusen armen Webers verbindet natürlich und ungezwungen die Lebenskreise. Was äußerlich so gleichförmig und bedeutungslos aussieht, lebt doch von inneren Nöten und Spannungen, die nicht geringer sind als die der lärmenderen großen Welt. Das Leiden und die Macht der Liebe vertiefen den Menschen. Die psychologische Durchdringung, die Verflechtung von Mensch und Umgebung, bestimmt die Methode. Wie Silas Marner in dem neuen Wohnsitz ein Fertigwerden mit dem furchtbaren Erlebnis des Verlustes des guten Namens und der Religion versucht, wie er eine veränderte Welt erlebt, wie der Arbeitslohn seinen Sinn und damit den ganzen Menschen ändert, wie der naive Glaube, jede Gegend habe ihre eigenen Gottheiten, tragische Verhärtung bringt, ist mit ebenso feiner, formal anspruchsloser und nicht ermüdender Analyse geschildert (Kap. II) wie das Neuerblühen der Seele unter dem Einfluß der Liebe zu dem wie ein guter Engel in das Haus getretenen Kinde. Mit der gleichen Behutsamkeit werden die Mitglieder der Familie Cass aus Umwelt und Lebensumständen erklärt, wird die gesunde Lebensphilosophie der klaren, gesunden Bäuerin Dolly Winthrop der Funke zu neuem Erglühen in der Seele des Webers: "What come to me as clear as the daylight, it was when I was troubling over poor Bessy Fawkes, and it always comes into my head when I'm sorry for folks, and feel as I can't do a power to help 'em, not if I was to get up i' the middle o' the night—it comes into my head as Them above has got a deal tenderer heart nor what I've got—for I can't be anyways better nor Them as made me; and if anything looks hard to me, it's because there's things I don't know on; and for the matter o' that, there may be plenty o' things I don't know on, for it's little as I know—that it is. And so, while I was thinking o' that, you come into my mind, Master Marner, and it all come pouring in: —if I felt i' my inside what was the right and just thing by you, and them as prayed and drawed the lots, all but that wicked un, if they'd ha' done the right thing by you if they could isn't there Them as was at the
„Was mir so klar wurde wie das Sonnenlicht, das war, als ich mir Sorge um die arme Bessy Fawkes machte, und es kommt mir immer in den Sinn, wenn ich mich um andre sorge und doch fühle, daß ich ihnen nicht helfen kann, selbst wenn ich mitten in der Nacht aufstände —, dann kommt es mir in den Sinn, daß Die über uns viel mehr Liebe im Herzen haben als ich selbst — denn ich kann doch nicht besser sein als Die, die mich geschaffen haben; und wenn mir etwas hart vorkommt, dann ist's bloß, weil es Dinge gibt, die ich nicht verstehe; und da können ja so viele Dinge sein, die ich nicht verstehe, denn ich verstehe ja recht wenig, wirklich wenig. Und wie ich so daran dachte, da kämet Ihr mir in den Sinn, Meister Marner, da strömte es plötzlich auf mich ein: wenn ich schon in mir fühlte, was für Euch das Richtige und Schickliche ist, und wenn die, die damals beteten und die Lose zogen, alle das ihre außer dem einen Unglückslos, wenn die schon das Richtige für Euch getan hätten, sofern sie nur gekonnt hätten — sind
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making on us, and knows better and has a better will? And that's all as ever I can be sure on, and everything else is a big puzzle to me when I think on it. For there was the fever come and took off them as were fullgrowed, and left the helpless children; and there's the breaking o' limbs; and them as 'ud do right and be sober have to suffer by them as are contrairy—eh, there's the trouble i' this world, and there's things as we can niver make out the rights on. And all as we've got to do is to trusten, Master Marner—to do the right thing as fur as we know, and to trusten. For if us as knows so little can see a bit o' good and rights, we may be sure as there's a good and rights bigger nor what we can know—I feel it i' my own inside as it must be so. And if you could but ha' gone on trustening, Master Marner, you wouldn't ha' run away from your fellowcreatures and been so lone."
"Ah, but that 'ud ha' been hard," said Silas, in an undertone; "it 'ud ha' been hard to trusten then." "And so it would," said Dolly, almost with compunction; "them things are easier said nor done; and I'm partly ashamed o' talking." "Nay, nay," said Silas, "you're i' the right, Mrs. Winthrop—you're i'the right. There's good i' this world—I've a feeling o' that now; and it makes a man feel as there's a good more nor he can see, i' spite o' the trouble and the wickedness. That drawing o' the lots is dark; but the child was sent to me: there's dealings with us—there's dealings." . . . Perfect love has a breath of poetry which can exalt the relations of the least-instructed human beings; and this breath of poetry had summoned Eppie from the time when she had followed the bright gleam that beckoned her to Silas's hearth. (Kap. 16)
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dann nicht Die da, die uns geschaffen haben, und wissen und wollen Die es nicht besser? Und das ist das einzige, dessen ich sicher bin; alles andre ist ein schweres Rätsel für mich, wenn ich's recht bedenke. Denn da kommt das Fieber und rafft die dahin, die groß und kräftig sind, und die Kinder bleiben hilflos zurück; und da bricht einer das Bein; und die Rechtschaffenen und Verständigen müssen unter denen leiden, die es nicht sind — das ist die Trübsal der Welt, so vieles, in das wir uns gar nicht finden können. Und wir können nichts weiter tun, Meister Marner, als vertrauen, das Rechte tun, soweit wir können, und vertrauen. Denn wenn unsereiner, der doch so wenig wissen kann, doch ein bißchen Gutes und Gerechtes sieht, dann können wir sicher sein, daß es noch viel mehr Gutes und Gerechtes gibt, wovon wir nichts wissen; das fühle ich tief im Herzen, daß es so sein muß. Und wenn Ihr nur mehr Vertrauen gehabt hättet, Meister Marner, dann wäret Ihr von Euren Mitmenschen nicht so weggelaufen und hättet so allein gestanden." „Ja; aber das wäre schwer gewesen", sagte Silas mit unterdrückter Stimme; „damals wäre es schwer gewesen, noch zu vertrauen." „Das wäre es auch", sagte Dolly fast bereuend; „so etwas ist leichter gesagt als getan, und ich schäme mich fast, so zu reden." „Nein, nein", sagte Silas, „Ihr habt ganz recht, Frau Winthrop, Ihr habt ganz recht. Es gibt Gutes in der Welt, das fühl' ich jetzt auch; und dabei fühlt man, daß es noch mehr Gutes gibt, als man sehen kann, trotz aller Trübsal und Schlechtigkeit. Die Sache mit den Losen ist dunkel; aber mir ist das Kind geschickt worden. Es gibt Fügungen, wundersame FügungenI" . . . Tiefste Liebe ist von einem Hauch von Poesie umschwebt, der -die Beziehungen zwischen den schlichtesten Menschen ins Große erheben kann; und dieser Hauch von Poesie hatte Eppie umgeben, seitdem sie dem hellen Lichtstrahl gefolgt war, der sie an Silas' Herd gelockt hatte.
Versöhnung mit dem Leben 1 Das ist die schöne Wirkung dieses in seiner Art vollendeten Romans, in dem die Studie zum Charakterbild voll innerlichen Lebens wird. Ein großes Kunstwerk ist auch Middlemarch, das Epos der englischen Provinz, der motiv- und figurenreichste Roman der Dichterin und hierin das Gegenstück des „Silas Marner".
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Im Hause des Gutsherrn Brooke in der Nähe der Kleinstadt Middlemarch wachsen seine verwaisten Nichten Dorothy und Celia auf. Die ältere ist ein puritanisch ernstes, schlichtes und gediegenes Mädchen von strenger Ethik und selbständigem Denken. Der treffliche junge Gutsbesitzer Sir James Chettle wagt es nicht, ihr seine Liebe zu erklären. Dorothy glaubt, seine Besuche und sein Werben gelten der mehr dem Leben zugewandten Schwester Celia. Sie selbst denkt nur an Werke praktischer Nächstenliebe, Fürsorge für die Landarbeiter. In dem Pfarrer von Lowick, Casaubon, bewundert sie den stillen Gelehrten und tiefen Denker. Der wohlhabende Pfarrherr, der das ererbte Herrenhaus in Lowick bewohnt und einem Vikar die Hauptlast des Amtes überlassen kann, ist seit Jahren mit Forschungen über die Mythologie der alten Völker befaßt. In Dorothy sieht er, obwohl dreißig Jahre älter, die als Betreuerin des Hauses und geistige Helferin ersehnte Lebensgefährtin. Er führt sie heim, Sir James Chettle wird Celias Gatte. Ein andrer Kreis ist um die Fabrikantenfamilie Vincy gruppiert. Der älteste Sohn Fred war vom Vater zum theologischen Studium bestimmt, kommt aber bei seiner ziel- und haltlosen Veranlagung, seinem Hang zu Spiel und Schuldenmachen nicht zu einem Beruf; liebenswürdig und spielerisch, vergafft er sich in die tüchtige und nüchterne Haushälterin und Erzieherin Mary, die Tochter eines redlichen Bauern Caleb Garth. Die schöne und elegante Rosamond, Vincys älteste Tochter, ist ganz Gesellschaftsdame und stolz auf die feine Herkunft ihrer Mutter. In Middlemarch hat sich ein neuer junger Arzt Lydgate niedergelassen, der im Gegensatz zu den älteren Kleinstadtärzten neue Wege seiner Wissenschaft sucht und selbstlos um seine Patienten bemüht ist, von Dorothy unterstützt und ermutigt. Er heiratet Rosamond Vincy, die kaum Verständnis für seine Ideale hat, aber gern an die der höheren Gentry angehörende Verwandtschaft Lydgates denkt. Zu den Hauptpersonen gehört schließlich noch ein junger Vetter Casaubons, der aus jüdischem Hause stammende begabte Will Ladislaw, ein echter Bohémien, Dilettant als Maler und Literat. Casaubon gibt ihm die Mittel zum Leben und Reisen und hofft, der unstete Ladislaw werde sich doch einmal in einem bürgerlichen Beruf festsetzen. Eine Art Mittelpunkt für alle bildet der reiche Bankier Bulstrode, ein frömmelnder Dissenter, überall in Sitzungen und Komitees anzutreffen, stets moralisierend wie seine Gattin. Die Hochzeitsreise Casaubons geht nach Rom; auch hier ist Dorothy die treue Helferin beim Sammeln des wissenschaftlichen Materials. Der Gatte bemüht sich ihr alle Wünsche, alles Schöne zu gewähren, sie abzulenken und zu vergnügen; sein Herz aber ist nur bei der Forschungsarbeit, sein Weg nur zu der Bibliothek. Dorothy empfindet den Abstand und die Leere immer mehr. Da kommt einer, der mitempfindet, was in ihr vorgeht, der Künstlerdilettant Ladislaw. Als man wieder daheim ist, wird Casaubon von äußeren und inneren Störungen seiner sonst so sicheren weitabgewandten Ruhe gepackt: Herzanfälle setzen dem alt gewordenen Mann zu, und das bohrende Gefühl quält ihn, daß er als trockener Bücher- und Stubenmensch der Gattin niemals das gewesen ist, was das Leben will. Er stirbt und hinterläßt der Gattin seinen stattlichen Besitz mit der Klausel, daß sie ihn verlieren solle, wenn sie eine zweite Ehe einginge. — So leben diese Menschen ihre Welt, zusammengefügt, wie es ihrem tieferen Wesen nicht entspricht, in innerer Folgerichtigkeit ihrer Anlagen, die mehr auseinandertreibt als verbindet. Der idealistische Arzt und uneigennützige Helfer Lydgate gerät durch den großen Lebensstil seiner Frau in Schulden; Rosamond hat kein Verständnis für die Ursachen und zieht sich in die elterliche Wohnung zurück, als die Pfändung beginnt. In letzter Minute erhält Lydgate noch iooo Pfund als Darlehn vom Bankier Bulstrode, nach der anfänglichen Weigerung des Geldmanns eine unerklärliche Hilfe. Bald aber durchschauen wir die Zusammenhänge. Ein dunkles Individuum ist aufgetaucht, ein Mitwisser der Anfänge des Bankiers und jetzt sein Erpresser. Bulstrode hat
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als junger Mann die Witwe eines gewissenlosen Geschäftsmanns geheiratet, der durch Trinkstube und Kuppelei reich geworden war. Die Tochter ist als Schauspielerin mit einem Polen entlaufen, ihr Kind ist Will Ladislaw! Die Suche nach der durchgebrannten Tochter bleibt angeblich ergebnislos; in Wahrheit ist sie gefunden, von Bulstrode aber durch Bestechung anderer verheimlicht worden, weil sonst sie und nicht er das große Vermögen der früh gestorbenen Mutter geerbt hätte. So steht der angesehene und reiche Bankier also auf verbrecherischen Anfängen, und dem Erpresser RafFles ist es leicht, ihn in Middlemarch ins Gerede und um alles Ansehen zu bringen. RafFles wird plötzlich krank. Lydgate verordnet kleine Morphiumdosen, verbietet aber ausdrücklich große und jeden Branntwein. In diesem Augenblick ist Bulstrode mit auffälliger Sinnesänderung bereit, dem verschuldeten Arzt das Darlehn zu geben. RafFles stirbt, als ihm Branntwein und eine zu starke Dosis Morphium gereicht wird; Bulstrode hatte, halb mit Absicht, die ärztlichen Anweisungen nicht genau weitergegeben, um den Erpresser loszuwerden. Ist er schuldig an dem Tode? Ist Lydgate mit dem Darlehn bestochen worden, um die Zusammenhänge zu verschleiern? Klatsch und Gerede in der Stadt machen beide Männer unmöglich. Nur Dorothy glaubt an Lydgate, gibt Geld her zu seiner Befreiung aus der Verpflichtung gegen den Bankier und stellt äußerlich die Ehe des Arztes wieder her. Ladislaw ist wieder da, jetzt in ernster Arbeit als Schriftsteller und Journalist. Die tiefen Menschen finden sich endlich: Dorothy wird seine Gattin und fühlt zum erstenmal echte Liebe als Weib und Mensch. Fred Vincy heiratet seine Mary Garth, Rosamond ist versöhnt, als es mit Lydgate wieder bergauf geht. Celia lebt glücklich als Lady Chettle und Mutter strahlender Kinder. — Ein Provinznest ist durch das Auftauchen innerlich bewegter Menschen aus seiner spießbürgerlichen Ruhe geweckt worden und sinkt wieder in sie zurück. Das ist das Geschehen, das sich folgerichtig aus der Wesensanlage der Menschen aufbaut. Gründliche Seelenkenntnis läßt eins aus dem andern mit der Logik der Natur erwachsen, so daß es kein Gut und Böse aus eigener Wahl gibt; die Kleinstadt selbst und ihre Mentalität ist der Held der Erzählung, Durchschnittsmenschen ergeben zusammen den Typus Mensch wie die Pinselstriche das Bild. Who that cares much to know the history of man, and how the mysterious mixture behaves under the varying experiments of Time, has not dwelt, at least briefly, on the life of Saint Theresa, has not smiled with some gentleness at the thought of the little girl walking forth one morning hand-in-hand with her still smaller brother, to go and seek martyrdom in the country of the Moors? Out they toddled from rugged Avila, wideeyed and helpless-looking as two fawns, but with human hearts, already beating to a national idea; until domestic reality met them in the shape of uncles and turned them back from their great resolve. That childpilgrimage was a fit beginning. Theresa's >assionate, ideal nature demanded an epic ife: what were many-volumed romances of chivalry and the social conquests of a brillant
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Wer die Geschichte des Menschen kennenlernen und wissen will, wie dieses geheimnisvolle Wesen sich unter den mannigfachen Einwirkungen der Zeit formt, hat der nicht, und sei es auch nur flüchtig, bei dem Leben der heiligen Theresa verweilen und bei dem Gedanken an das kleine Mädchen lächeln müssen, das eines Morgens Hand in Hand mit dem noch kleineren Bruder aufbrach, um ein Märtyrertum im Land der Mauren zu suchen? Fort trippelten sie von dem wilden Avila, die Augen weit geöffnet und hilflos aussehend wie zwei Rehkälber, aber mit Menschenherzen, die für eine große Idee schlugen, bis ihnen die Alltagswirklichkeit in der Gestalt von Oheimen entgegentrat und sie von ihrem großen Vorhaben abbrachte. Diese kindliche Pilgerfahrt war ein angemessener Anfang. Theresas leidenschaftliche, ideale Natur verlangte nach einem tatenreichen Leben. Was konnten ihr vielbändige Ritterromane, was die gesellschaftlichen Erfolge eines glänzend begabten
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girl to her? Her flame quickly burned up that light fuel; and fed from within, soared after some illimitable satisfaction, some object which would never justify weariness, which would reconcile self-despair with the rapturous consciousness of life beyond self. She found her epos in the reform of a religious order. That Spanish woman who lived three hundred years ago, was certainly not the last of her kind. Many Theresas have been born who found for themselves no epic life wherein there was a constant unfolding of far-resonant action; perhaps only a life of mistakes, the offspring of a certain spiritual grandeur ill-matched with the meanness of opportunity; perhaps a tragic failure which found no sacred poet and sank unwept into oblivion. With dim lights and tangled circumstance they tried to shape their thought and deed in noble agreement; but after all, to common eyes their struggles seemed mere inconsistancy and formlessness; for these later-born Theresas were helped by no coherent social faith and order which could perform the function of knowledge for the ardently willing soul. Their ardour alternated between a vague ideal and the common yearning of womanhood; so that the one was disapproved as extravagance, and the other condemned as a lapse.
Some have felt that these blundering lives are due to the inconvenient indefiniteness with which the Supreme Power has fashioned the natures of women: if there were one level of feminine incompetence as strict as the ability to count three and no more, the social lot of women might be treated with scientific certitude. Meanwhile the indefiniteness remains, and the limits of variation are really much wider than anyone would imagine from the sameness of women's coiffure and the favourite love-stories in prose and verse. Here and there a cygnet is reared uneasily among the ducklings in the brown pond, and never finds the living
Mädchens bieten? Die innere Flamme zehrte so leichte Nahrung bald auf und dürstete, aus der Seele genährt, nach einer schrankenlosen Befriedigung, nach einem Zweck, der keine Erschöpfung zuläßt und die Verzweiflung an sich selbst durch das beglückende Bewußtsein eines über das eigene Ich hinausragenden Lebens überwindet. Sie fand das Epos ihres Lebens in der Reform eines geistlichen Ordens. Diese spanische Frau, die vor dreihundert Jahren lebte, war sicherlich nicht die letzte ihrer Art. Viele Theresen sind seitdem geboren, die für sich kein Leben einer unausgesetzten Entfaltung ihrer weithin nachhallenden Tatkraft fanden; vielleicht nur ein Leben der Fehlschläge, wie sie aus einer gewissen Seelengröße im Zusammenklang mit der Kleinstadt entspringen; vielleicht ein tragisch verspieltes Leben, das keinen heiligen Sänger fand und unbeweint der Vergessenheit anheimfiel. Mit trübem Licht und in verwickelten Verhältnissen suchten sie ihr Denken und Tun in edlen Einklang zu bringen. Den Augen gewöhnlicher Sterblicher aber erschien ihr Ringen nur als unzusammenhängend und gestaltlos; denn diesen späteren Theresen stand kein einigendes Band eines gesellschaftlichen Glaubens und eines Ordens helfend zur Seite, das für die glühend strebende Seele das Wissen hätte ersetzen können. Die Glut ihres Innern schwankte zwischen einem verschwommenen Ideal und dem gewöhnlichen Verlangen der weiblichen Natur, so daß das eine als Verstiegenheit angeprangert und das andre als Fehltritt verurteilt wurde. Manche Leute haben geglaubt, daß diese irrenden Existenzen in der unklaren Unbestimmtheit ihren Grund haben, mit der die Allmacht die weibliche Natur ausgestattet hat. Wenn es eine Ebene weiblicher Unzulänglichkeit gäbe, die so scharf abgegrenzt wäre wie die Fähigkeit, bis drei und nicht weiter zu zählen, dann ließe sich die gesellschaftliche Rolle der Frauen mit wissenschaftlicher Sicherheit behandeln. Aber die Unbestimmtheit ist nun einmal da, und die Grenzen, in denen sie hin- und herschwankt, sind in Wirklichkeit viel weiter gesteckt, als diejenigen sich einbilden, die nur an die Gleichförmigkeit weiblicher Frisuren und an die beliebten Liebesgeschichten in Prosa und Versen denken. Ab und zu wird ein junger Schwan zu seinem Unbehagen unter jungen Enten auf einem Teich aufgezogen und findet nie den
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footed kind. Here and there is born a Saint stream in fellowship with its own oaryTheresa, foundress of nothing, whose loving heart-beats and sobs after an unattained goodness tremble off and are dispersed among hindrances, instead of centering in some long-recognisable deed.
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lebendigen Strom und die Gemeinschaft der ruderfüßigen Genossen seines Geschlechts. Dann und wann wird eine heilige Theresa geboren, die nichts begründet, deren liebende Herzschläge und Seufzer nach unerreichbarer Güte dahinbeben und sich an Widerständen verzehren, anstatt sich zu einer bleibenden Tat zusammenzuraffen.
So gibt das „Vorspiel" für Dorothy Brooke die St.-Theresen-Natur als Thema an: ein tief veranlagtes Mädchen ohne die kleinen Eitelkeiten der Welt, mit Hingabe an unklare Ideale, mit mehr Seelengröße als kritischer Klarheit, deren Ringen eben, wie die Dichterin es von Theresa sagt, den Menschen unzusammenhängend und gestaltlos erscheinen mußte. Daß sie in dem ausgetrockneten Pedanten Casaubon den Mann hoher Gedanken und Kenner der Bücher bewundert und seine Unkenntnis der Menschenseele nicht sieht, ist gar nicht so unnatürlich. Ihr Pflichtgefühl wird an der Seite des herzlosen Egoisten zur Folter, die ganz allmählich ihre Schrauben spannt. Da endlich tritt der Mann in ihren Gesichtskreis, der sie von unbestimmt gefühlten Idealen zu dem Recht der Sinne und des Lebens zurückruft. Nach der langen, freudelosen Hingabe an eine vermeintliche Liebe ohne Stoff heiratet sie Ladislaw aus echter Liebe und kann mit ihrer Geistigkeit dem begabten, aber haltlosen Mann der gute Engel auf dem Wege zu gesammeltem Schaffen werden, die Aufgabe der hochgesinnten, mitfühlenden Frau also aus dem tiefsten Sinn der weiblichen Natur erfüllen, der Mütterlichkeit. Wir wissen, daß die Dichterin der Gestalt des Ladislaw viele Züge ihres edlen Lebensgefährten Lewes geliehen hat. In der Figur Dorothys liegt das psychologische Hauptinteresse der Dichterin, ohne daß die Durcharbeitung der andren Charaktere dabei zu kurz gekommen wäre. Der Oheim Brooke mit seiner Herzensgüte und seinem komisch-sprunghaften Dilettieren in allen geistigen Dingen, die unbedeutende, aber schlicht-gescheite Celia, der mit gesundem Menschenverstand und menschlicher Noblesse ausgestattete Sir James Chettle sind ebenso lebenswahre Landtypen wie die scharf ausgearbeiteten Kleinstadtmenschen der Vincy-Gruppe, unter denen der liebenswürdige Fred und die so ungemein naturwahre eitle, ladygemäße, selbstgenügsame, zurückhaltende und bei aller Feierlichkeit als Gattin so grausame Rosamond die Hauptfiguren sind. Rosamond wird der Anlaß zu dem Ruin des Mannes, den sie um der vornehmen Verwandtschaft und der Aussichten auf eine glänzende Laufbahn willen zum Gatten erkoren hat; sie hat aber kein Gefühl für ihre Schuld und empfindet eine wehmütige Freude daran, als unschuldig Leidende bedauert zu werden. Nur als sie hört, daß Ladislaw Dorothy liebt und nicht sie selbst, wie sie sich eingebildet hatte, wird ihr Herz getroffen, und sie söhnt sich mit dem Gatten aus; ohne tiefe Wirkung freilich, und die Heirat mit einem wohlhabenderen Arzt nach dem frühen Tode des in seinem hohen Streben unvollendeten Lydgate wird ihr erst die rechte Wiederherstellung des Gleichgewichts schaler Oberflächlichkeit gebracht haben. Ein Zug von Romantik umgibt die Gestalten des dunklen Ehrenmannes und salbungsvollen Moralisten Bulstrode und des verkommenen Erpressers Raffles, ein Hauch gesunden, prächtigen Bauerntums und Familiensinns das Haus des alten Caleb Garth, freundlicher Humor die Nebenfiguren wie den ledigen Vikar Farebrother und seine komischen alten Hausgenossinnen oder die unermüdlich redende Pfarrersfrau Cadwallader mit ihrer Neigung zu Heiratsvermittlungen. Psychologische Kleinkunst begleitet alles, nicht nur die Entwicklung der ungewöhnlichen Charaktere, sondern auch die Deutung der Kleinstadttypen, die jedem von uns aus Erfahrung vertraut sind, und die Fühlbarmachung eines Fluidums, das gemeinschaftsbildend im schädlichen Sinne des Philistertums wirkt und das
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V I . Streben nach Ausgleich: das „viktorianische K o m p r o m i ß "
Außerordentliche nicht aufkommen läßt. Man könnte viele Seiten zitieren — man denke allein an das Kapitel über die Romreise — , um die „wissenschaftliche" Sorgfalt der Dichterin um den folgerichtigen Aufbau ihrer Figuren zu veranschaulichen und gleichzeitig zu zeigen, wie die Analyse in Dialog und Beschreibung niemals abstrakt und trocken, sondern stets im Gewand echt dichterischer Sprache und bewegter Handlung auftritt. Es ist ein Buch der Menschenkenntnis, des Duldens im Alltag, nicht im mitreißenden Schwung hohen Kämpfertums vorgetragen, aber erfüllt von Lebenswahrheit. 3. Die Dichtung: Tennyson, Robert und Elizabeth Browning, die Präraffaeliten In der Versdichtung offenbart sich besonders das Suchen nach Ausgleich in diesem von Strömungen und Gegenströmungen beherrschten Zeitalter, in ihr leben die Spannungen der Zeit. Als in den dreißiger Jahren die Wortführer einer neuen Generation mit Gedichtbänden auftraten, war die Stimme der großen Romantiker bereits längere Zeit verstummt. Ihr Erbe aber lebte weiter; Shelleys Pathos der Menschheitsbeglückung und Keats' Schönheitsglaube hatten der neuen Zeit mit den alle Bereiche ergreifenden sozialen Problemen etwas zu geben. Romantik und Realismus begegnen sich in wechselnden Formen, Lebensbezogenheit sucht die Lyrik ebenso wie der Roman, Dichtung als Lebenskritik verkündet Matthew Arnold immer wieder, den Dichter als Seher und als Lehrer seines Volkes verlangt Carlyle nicht anders, als wir es in Shelleys Lerchenode gehört haben. Die ersten Töne einer sozialen oder sozialistischen Lyrik erklingen in schnell populär gewordenen Getreideyollreimen von Ebenezer Elliott, einem die graue Armut und den eintönigen Lebenssingsang der armen Näherin malenden Lied vom Hemde von Thomas Hood, in den Kindertränen von Elizabeth Barrett Browning, aus dem uns der ganze Jammer der Kinderarbeit in Fabriken und Bergwerken entgegentönt. Aufrüttelnde Gedichte dieser Art erfüllen die frühviktorianische Zeit, aber nur als eine Stimme in dem Klanggefüge, keineswegs als der wesentlichste und künstlerisch wertvollste Ausdruck. Der starke Impuls der Romantik war Gegenströmung gegen den Rationalismus, der auf jede Frage eine Antwort hatte. Die romantische Opposition mit ihrer Gefühlsstärke, religiösen Erweckung, ihrem historischen Sinn und ihrem Persönlichkeitsdrang ist bescheidener und vielseitiger zugleich. Sie will keine absoluten Kulturwerte schaffen wie der rationale Liberalismus, sondern begnügt sich mit dem Relativen. Wie schon das Aufkommen der eigentlichen Romantik in einer für England so bezeichnenden Weise ohne Bruch mit der Vergangenheit erfolgt war, so erleben wir auch jetzt wieder eine unmittelbare Fortsetzung romantischen Ausdrucks und romantischen Fühlens mit einer allmählich immer stärker werdenden Hinwendung zu der neuen Problemlage. So sind Erscheinungen wie Tennyson zu verstehen, die der dem Mittelalter zugekehrten Romantik ganz nahestehen, aber hochmodern sind in den Themen und predigen wollen wie alle andren.
A l f r e d Lord Tennyson (1809—1892) Die Engländer sprechen mit gutem Grund gerne von dem Zeitalter Tennysons. Er ist der englischste Vertreter seiner Zeit, der dichterische Sprecher des viktorianischen Bürgertums. Fern von Byrons Kosmopolitismus, von Shelleys Götterwelt, von einem Ausgreifen in orientalische Räume, bleibt er bei der Heimat und den ererbten Idealen
Alfred Lord Tennyson
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eines frommen Optimismus. Seine Popularität beruht darauf, daß er echt englische Themen anpackt: Heimat, Religion, glückliche Liebe ohne tiefe Zerrüttungen, Hausfreuden und Haussorgen. Ruhig und verhältnismäßig ereignislos, von wachsender Beliebtheit und Erfolg getragen, verlief dies Dichterleben, ohne Aufgewühltheit, ohne Sturm und Drang, stets abgetönt im Ausdruck des Persönlichen. Einen ebenso schlichten wie tiefen Eindruck der menschlichen und dichterischen Art kann das kleine Gedicht Letzte Fahrt (Crossing the Bar) vermitteln, das der alte Dichter gewissermaßen als Schwanengesang an den Schluß seiner Werke gestellt wissen wollte. Bei der durchgefeilten Formkunst kann nur die Originalfassung den vollen Eindruck vermitteln; der Lyriker Tennyson ist eigentlich nicht übersetzbar. Sunset and evening star, And one clear call for me I And may there be no moaning of the bar, When I put out to sea,
Der Abendstern erglänzt in Abendglut, Ein heller Ruf klingt mir aus lichter Höh. Nicht brande stöhnend überm Riff die Flut, Fahr ich hinaus in Seel
But such a tide as moving seems asleep, Too full for sound and foam, When that which drew from out the boundless deep Turns again home.
Wie schlummernd hebe leise sich und voll Das Meer — kein Schaumgebraus I Denn was dem schrankenlosen All entquoll,
Twilight and evening bell, And after that the dark! And may there be no sadness of farewell,
Die Abendglocke läutet. Dämmerlicht! Die Nacht bricht schnell herein. Kein Abschiedsschmerz, ihr Lieben! Trauert nicht, Schiff ich mich ein!
When I embark; For tho' from out our bourne of Time and Place The flood may bear me far, I hope to see my Pilot face to face, When I have crost the bar.
Kehrt nun nach Haus.
Denn ob aus Zeit und Raum zu unerforschten Höh'n Des Meeres Flut mich führt — Den Lotsen hoff ich dann von Angesicht zu sehn, Wenn ich das Riff passiert.
Der alte Dichter vergleicht das Scheiden aus dem Diesseits mit der Ausfahrt aus dem Strom des Lebens in den Ozean der Ewigkeit. Reinen Herzens, bei klarem Sonnenuntergang steuert er auf das jenseitige Leben zu, als Gott ihn ruft. Die Hafensperre darf nicht seufzen (Str. i), in majestätischer Ruhe liegt die See da, kein Schaumkamm stört die Glätte ihrer Oberfläche. Die Seele kehrt in ihre Heimat zurück (Str. 2). Die Zurückbleibenden sehen das Dämmern der Ewigkeit und hören das Geläute. Sie denken nur an Grab und Vergehen; aber das ist unrecht (Str. 3), denn der Ausfahrende hofft Christus zu finden, den Lotsen, der ihn hineinführen soll in Hamlets „unentdecktes Land, von des Bezirk kein Wandrer wiederkehrt" (Str. 4). Ein schönes Metrum freier Rhythmen, in dem nur die dritte Zeile feste Form hat und die übrigen sich mit leichtem Wechsel um drei oder zwei Tonsilben gruppieren, geht der ruhigen Stimmung nach; zwei Lieblingsbilder Tennysons, Sonnenuntergang und Abendstern, geben die Szene ab: Naturstille, in die plötzlich heller Trompetenstoß („one clear call") wie das Schmettern der Trompeten des Jüngsten Gerichts hineinklingt, grandios und feierlich, so daß das Ächzen der Hafensperre stören würde, als impressionistisches Bild hingetupft mit Substantiven unter Vernachlässigung der Vorgangswörter. Prachtvoll ist die knappe Beschreibung der regungslosen See (Str. 2), schlicht und echt
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VI. Streben nach Ausgleich: das „viktorianische Kompromiß"
wird die frohgemute Stimmung des scheidenden Dichters angedeutet, sympathisch und rührend ist die Auffassung des Todes. Der alte Lord liebt ihn, er hofft auf den Lotsen, ein schlichtes Christentum wird in geziemende Sprache gekleidet. Das ist Tennyson als frommer Christ und unkomplizierter, die See liebender Engländer. Er ist Idylliker und Melodiker. Im Klanglichen liegt die Substanz, in der Wirkung auf die Sinne der eigentliche Inhalt. Rhythmus und Lautklänge sind oft da, bevor der Gedanke geboren oder ein Bild für die Augen entstanden ist. So formen sich ihm einschmeichelndes Metrum, wechselnde Vokalwirkungen, säuselnde Stabreime, Wortwiederholungen, Binnenreime, kurze Einsilbler mit gleichsam angehaltenem Atem und einlullender Flüsterstimme im Wechsel mit sanft ausströmender Folgezeile zu dem vielgesungenen Wiegenlied Sweet and Low : Sweet and low, sweet and low, Wind of the western sea, Low, low, breathe and blow, Wind of the western sea! Over the rolling waters go, Come from the dying moon, and blow, Blow him again to me; While my little one, while my pretty one sleeps.
Sacht und lind, sacht und lind, Wind vom westlichen Strand, Lind, lind weh, o Wind, Wind vom westlichen Strand I Über die Wellen geh geschwind, Komme vom scheidenden Mond, o Wind, Weh ihn wieder ans Land, Während mein Kleiner, während mein Süßer schläft 1
Sleep and rest, sleep and rest, Father will come to thee soon; Rest, rest, on mother's breast; Father will come to thee soon; Father will come to his babe in his nest, Silver sails all out of the west Under the silver moon: Sleep, my little one, sleep, my pretty one, sleep.
Schlaf und ruh, schlaf und ruh, Vater kommt bald zu dir; Ruh, ruh bei Mutter du, Vater kommt bald zu dir! Vater deckt bald sein Kindchen zu — Segel von Westen erspähest du Unter dem Monde hier. Schlafe, mein Kleiner, schlafe, mein Süßer, schlaf'1
Auf dem sinnlich-musikalischen Element beruht der Hauptreiz der Lieder Tennysons. Er liebte es nicht, wie uns berichtet wird, daß seine Lieder gesungen würden, offenbar weil er die im Sprachlichen liegende Musikalität allein als reinen Ausdruck der Empfindung gelten lassen wollte; er hat freilich auch keinen Schubert oder Schumann als Mitschöpfer des Liedes gefunden. Die Meisterschaft rhythmisch-musikalischer Effekte hat der Ballade Der Reiterangriff von Balaklava (The Charge of the Light Brigade) ihre außerordentliche Popularität eingetragen, dem patriotischen Preislied auf sechshundert Reiter, die während des Krimkrieges in der als Todesritt des Lord Cardigan in die Geschichte eingegangenen nutzlosen Attacke der Leichten Brigade bei Balaklava den Tod fanden. Half a league, half a league, Half a league onward, All in the valley of Death Rode the six hundred. "Forward, the Light Brigade I Charge for the guns!" he said: Into the valley of Death Rode the six hundred.
Schnell wie des Blitzes Strahl, Stürmend und sausend, Nieder ins Todestal Ritten die Tausend. „Vorwärts!" der Führer spricht; Sie aber fragen nicht, Zittern und zagen nicht, Tat und Tod ihre Pflicht, Hin durch das Todestal Ritten die Tausend.
Alfred Lord Tennyson
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"Forward, the Light Brigade I" Was there no man dismay'd? Not tho' the soldiers knew Some one had blunder'd: Their's not to make reply, Their's not to reason why, Their's but to do and die: Into the valley of Death Rode the six hundred. Cannon to right of them, Cannon to left of them, Cannon in front of them Volley'd and thunder'd; Storm'd at with shot and shell, Boldly they rode and well, Into the jaws of Death, Into the mouth of Hell Rode the six hundred.
Rechts der Kanonen Schlund, Links der Kanonen Schlund, Vorn der Kanonen Schlund, Donnernd und brausend; Bomb' und Kartätsche traf, Sie aber ritten brav; Kühn in der Hölle Schlund, Kühn in den Todesschlaf Ritten die Tausend.
Flash'd all their sabres bare, Flash'd as they turn'd in air Sabring the gunners there, Charging an army, where All the world wonder'd: Plunged in the battery-smoke Right through the line they broke; Cossack and Russian Reel'd from the sabre-stroke Shatter'd and sunder'd. Then they rode back, but not, Not the six hundred.
Schwangen die Säbel all', Stürmten mit Donnerhall Wider der Feinde Wall; Wieder fiel Schlag auf Schlag, Blitzend und sausend; Mitten im Pulverdampf Dröhnte ihr Hufestampf; Kühn war und hart der Kampf, Wankend ein Heer zerstob, Wankend und grausend. Dann ritten heim sie, doch Nicht mehr die Tausend.
Cannon to right of them, Cannon to left of them, Cannon behind them— Volley'd and thunder'd: Storm'd at with shot and shell, While horse and hero fell, They that had fought so well Came through the jaws of Death, Back from the mouth of Hell, All that was left of them, Left of six hundred.
Rechts der Kanonen Schlund, Links der Kanonen Schlund, Hinten der Mörser Schlund, Donnernd und brausend; Bomb' und Kartätsche traf Sie, die gestürmt so brav; Aufwärts vom Höllenschlund Ritten durchs Todestal Heim wie des Blitzes Strahl Alle, die übrig noch, Übrig von Tausend.
When can their glory fade? O the wild charge they made! All the world wonder'd. Honour the charge they made! Honour the Light Brigade, Noble six hundred!
Singt ihnen Ruhm und Preis 1 Lang noch gekündet sei's Horchendem Enkelkreis Staunend und grausend.
D e r gestoßene Daktylenrhythmus des Galoppritts, die atemlos gekeuchten kurzen Sätze oder Satzbruchstücke, die Klangmalerei v o n Hufschlag, Kanonendonner u n d Kartätschenkrachen bezauberten die W e l t : die Soldaten auf der K r i m verlangten nach immer neuen Nachdrucken. Das Gedicht gehört gewiß nicht zu den künstlerisch wertvollsten; es ist aber ein echtes Gemeinschaftslied, in ihm spricht der wahre
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VI. Streben nach Ausgleich: das „viktorianische Kompromiß"
Tennyson, der unkomplizierte Dichter, der mit seinem Volk fühlt und in einer den schlichten Soldaten packenden Sprache das Hohelied des kriegerischen Ruhmes zu singen versteht. Den Klangekstatiker Tennyson erkennt man besonders gut an einem der Frühwerke, dem Gedicht Die Lotosesser (The Lotos-Eaters). Die Geschichte von den Lotophagen, die über der Süße der Lotosfrucht Vaterland und Heimat vergaßen, wird uns von Homer erzählt („Odyssee" IX, 8 5 ff.), in England von Spenser („Feenkönigin") und Thomson („Schloß der Lässigkeit") motivisch verwendet. Weichheit, Süße, Schlaf, Wollust: auf dies Thema sind alle Bilder und Motive abgestimmt. Ruhige Spenserstanzen geben die Situation in Form einer Einleitung: "Courage 1" he said, and pointed toward the land, "This mounting wave will roll us shoreward soon." In the afternoon they came unto a land In which it seemed always afternoon. All round the coast the languid air did swoon, Breathing like one that hath a weary dream. Full-faced above the valley stood the moon; And like a downward smoke, the slender stream Along the cliff to fall and pause and fall did seem.
„Mut", sprach er, „MutI" und deutete zum Strand, „Ans Ufer springen heut noch unsre Reih'n." Gen Abend kamen sie zu einem Land, In dem es ewig Abend schien zu sein. Wollüst'ge Lüfte zogen aus und ein, Wie jemand atmen mag in müdem Traum. Hell überm Tale stand des Vollmonds Schein; Gleich niederwärts gekehrtem Rauch und Schaum Fiel stumm vom Berg der Strom und fiel, sich regend kaum.
Man kommt in ein Land von Strömen, aus denen es wie ein Schleier, ein Schlummerhauch aufsteigt, in dem milde Abendglut durch tauigen Nebel schimmert. Die Seefahrer nähern sich, Schwermut im sanften Blick tragend, und bieten die Frucht ihres Zauberbaumes an. Wer von ihr aß, dem schienen die Wellen des Meeres weit entrückt, die Stimme der Gefährten schwach, Menschen und Natur halb im Schlaf, das Vaterland mit Weib und Kind ein ferner, süßer Traum. Most weary seemed the sea, weary the oar, Weary the wandering fields of barren foam. Then some one said, "We will return no more;" And all at once they sang, "Our island home Is far beyond the wave; we will no longer roam."
Und müde schien die See, müd' ringsumher Die schäum- und rauchbedeckten Ufergau'n. Und einer sprach: „Heim kehren wir nicht mehr!" Und alle sangen: „Unsre Heimatsau'n Sind fern dort überm Meer — laßt hier uns Hütten bau'nl"
Dann folgt das Chorlied der Lotophagen, traumhafte Bilder aus Feenland, wogengleich schwellende, sanft bewegte Verse. Alles ist in Schläfrigkeit gesunken, die Natur und die Menschen. II Why are we weighed upon with heaviness, And utterly consumed with sharp distress, While all things else have rest from weariness ? All things have rest: why should we toil alone,
II Was ist's, das uns zur Arbeit spornt so scharf Und solche Last auf unsre Schultern warf, Wenn alles sonst, ermüdet, ruhen darf? Alles hat Ruh — was sollen wir allein
Alfred Lord Tennyson
We only toil, who are the first of things, And make perpetual moan, Still from one sorrow to another thrown: Nor ever fold our wings And cease from wanderings, Nor steep our brows in slumber's holy balm; Nor harken what the inner spirit sings, "There is no joy but calm!" Why should we only toil, the roof and crown of things ?
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Uns müh'n, von allem doch das erste wir? Mit Seufzen und Gewein, Von einer stets gejagt zur andren Pein, Und unsre Schwingen hie In Ruhe senken nie, Noch unser Aug' in Schlummer schließen zu, Noch, wann die Seele redet, horchen ihr: „Kein Freuen gibt's als Ruhl" Was müh'n wir uns allein, der Schöpfung Krone wir?
Der schwer alliterierende Anfang dieser Strophe, die von Müdigkeit des Denkens zeugenden Wortwiederholungen begegnen auch weiterhin im Text. Eine ärgerliche Erregung in schnellerem Rhythmus weicht bald wieder dem schwerfälligen Ausdruck mit Denkunlust in Gleichworten und Gleichklängen: IV Hateful is the dark-blue sky, Vaulted o'er the dark-blue sea. Death is the end of life; ah, why Should life all labour be? Let us alone. Time driveth onward fast, And in a little while our lips are dumb. Let us alone. What is it that will last? All things are taken from us, and become Portions and parcels of the dreadful Past. Let us alone. What pleasure can we have To war with evil? Is there any peace In ever climbing up the climbing wave? All things have rest, and ripen toward the grave In silence; ripen, fall and cease: Give us long rest or death, dark death, or dreamful ease.
IV Widrig ist das Wolkenzelt Über dumpfer Meeresruh! Tod ist des Lebens End' — oh, fällt Dem Leben nur Arbeit zu? Laßt uns in Ruh! Die Zeit uns bald vertreibt; Ein Weilchen noch, und unsre Lipp' ist stumm. Laßt uns in Ruh! Was ist es, das da bleibt? Alles wird uns geraubt und wandelt um Sich in Vergang'nes, das in Sand sich schreibt. Laßt uns in Ruhl Wie kann es Lust uns sein, Das Recht zu schirmen? Könnt ihr Rat erspäh'n In diesen ew'gen Meerdurchschweiferei'n? Alles hat Ruh und reift ins Grab hinein — Ein stetes Reifen, Welken und Vergehn! Laßt Ruh uns oder Tod, Tod oder Frieden sehn!
Immer länger werden die Zeilen, wie der Schlaf die Lider niederdrückt (V—VIII), bis das klangvolle Sehnsuchtswort Lotos, umgeben v o n gleichtönenden dunkelvokaligen Wörtern, den Sinn nicht mehr losläßt und immer wiederkehrt, immer mehr in ein bloßes Klingen übergehend: VIII The Lotos blooms below the barren peak: The Lotos blows by every winding creek: All day the wind breathes low with mellower tone Thro' every hollow cave and alley lone, Round and round the spicy downs the yellow Lotos-dust is blown, We have had enough of action, and of motion we,
VIII Der Lotos steht auf jedem blumigen Hag, Der Lotos blüht an jedem Murmelbach; Mit sanftem Hauch tagtäglich weht der Wind, Durch jede Schlucht, und wo nur Stege sind, Fliegt und fliegt der gelbe Lotosstaub durch Wald und Wiesen lind. Nun genug für uns der Taten und der Wanderung!
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V I . Streben nach Ausgleich: das „viktorianische Kompromiß"
Roll'd to starboard, roll'd to larboard, when the surge was setting free, Where the wallowing monster spouted his foam-fountain in the sea. Let us swear an oath, and keep it with an equal mind, In the hollow Lotos-land to live and lie reclined On the hills like Gods together, careless of mankind.
Bald nach Steuer-, bald nach Backbord warf uns tückischer Wogen Sprung, Wo den Schaum und Gischt hinaufwärts spritzte tollen Wirbels Schwung. Laßt uns schwören einen Eid und treu ihn halten nun, In dem Lotosland 2u leben und im Moos zu ruh'n, Göttern gleichend, unbekümmert um der Menschen Tun.
So geht es weiter mit Stabreim- und Vokalspielen, mit echoartigem Binnenreim, "like a tale of little meaning", "a music centred in a doleful song", wie das eintönige Weiterlallen eines nicht mehr weiterdenkenden Einschlummernden. "Slumber is more sweet than toil": so klingt dies Kabinettstück tönender Verse aus, müde und unmännlich, nicht von wirklichen Menschen gesprochen. Wie anders das Bekenntnis zu schlichter Tatkraft, zu männlicher Geradheit des Handelns in den klaren Blankversen des prächtigen Ulysses, eines dramatischen Monologs, wie man die Gattung nennt, richtiger eines Dialogs mit stummem Zuhörerl Es ist nicht der homerische König von Ithaka, der hier lange nach der Heimkehr die alten Genossen zu neuer Fahrt in neue Welten aufruft, sondern die in der Überlieferung weiterentwickelte Gestalt, von der Dante in der „Hölle" (XXVI, 94—126) berichtet. Der alte Seefahrer kann nicht ausruhen, er will das Leben bis zur Neige trinken, er will die Unendlichkeit der Welt heldisch erleben, die künstlerische Genußwelt soll dem tätigen Leben weichen; Lebenssehnsucht erfüllt diesen ganz ungriechischen Griechen. Der Sohn Telemachus wird das Land hüten; er selbst will hinaus: "Tis not too late to seek a newer world." Stürmende Jugend, Wille, Entschlußkraft sind noch lebendig, wenn auch der Körper schwächer geworden ist. So soll der rechte Mann sein, hochgemut und vertrauend: Made weak by time and fate, but strong in will To strife, to seek, to find, and not to yield.
Durch Zeit und Schicksal schwach gemacht, doch stark Im Ringen, Suchen, Finden, Nimmerweichen 1
Das große Thema des dichterischen Erlebens Tennysons gehört der romantischritterlichen Welt an, der Arthursage, aus der er in jahrzehntelanger Arbeit einen Kranz von elf Verserzählungen zu dem Epos Königsidyllen (Idylls of the King) geflochten hat; Versmärchen eher als Epen, voll krauser Abenteuer und Überraschungen, bilderprächtig und funkelnd, von sprachlichem Wohllaut und höchster Verskunst, inhaltlich aber ohne dramatische Spannungen und Höhepunkte, ein kalt lassendes Geschehen in schimmerndem Redegewand. Romantisch ist die Gegenwartsferne, zeitnah der gewollte Symbolgehalt: der Dichter gibt in der Widmung und im Epilog Hinweise auf die moralische Bedeutsamkeit, in der Arthur das Vorbild aller Kämpfer um die Vollendung der Seele sein soll, das Gewissen im Streit der Sinne mit der Seele, gewissermaßen auch der Retter aus dem sozialen Elend der Chartistenzeit. Auflösung der sittlichen Ordnung untergräbt Staat und Gesellschaft! Das soll der nachträglich und etwas gewollt den chevaleresken Idyllen beigelegte Sinn sein. Damit will sich die Dichtung in den Dienst der Lebensaufgaben stellen. Eine Vorstufe des großen Werks war die Ballade Die Dame von Shalott (Tie Lady of Shalott), in dem die vollsinnliche Wortkunst des Dichters Triumphe feiert. Sie berichtet von der stillen Frau, die am Fenster webt und unter einem Fluch niemals nach Camelot hinunterblicken darf. Nur ein Spiegel zeigt ihr Landschaft und Weltgetriebe.
Alfred Lord Tennyson
On either side the river lie Long fields of barley and of rye, That clothe the wold and meet the sky; And thro' the field the road runs by To many-tower'd Camelot; And up and down the people go, Gazing where the lilies blow Round an island there below, The island of Shalott.
An beiden Stromesufern ziehn Sich Gerst- und Roggenfelder hin, Und mitten durch der Felder Grün Schlängelt sich der Heerweg hin Zum vielgetürmten Camelot; Und auf und ab die Leute gehn, Zu schauen, wo die Lilien weh'n Um ein Eiland, hold zu sehn, Das Eiland von Shalott.
Willows whiten, aspens quiver, Little breathes dusk and shiver Thro' the wave that runs for ever By the island in the river Flowing down to Camelot. Four gray walls, and four gray towers, Overlook a space of flowers, And the silent isle imbowers The Lady of Shalott.
Weiden schimmern, Espen beben, Leise Abendlüfte weben Um die Fluten, glatt und eben, Die das Eiland rings umgeben, Abwärts zieh'nd gen Camelot. yier Wälle grau, vier Türme grau Überschau'n die Blumenau; Den stillen Ort bewohnt die Frau, Die Dame von Shalott.
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Als Sir Lancelot vorbeizieht, der strahlende Ritter mit funkelnder Rüstung und klingenden Glöckchen am Zügel, verläßt sie den Webstuhl und blickt hinab. Da zerspringt der Spiegel, der Fluch kommt über sie, tot treibt ihr Leichnam den Fluß hinab zum Königspalast, wo der stolze Ritter nur ein kühl bedauerndes Wort für sie übrig hat: Who is this? and what is here? And in the lighted palace near Died the sound of royal cheer; And they crossed themselves for fear, All the knights of Camelot: But Lancelot mused a little space; He said, "She has a lovely face; God in his mercy lend her grace, The Lady of Shalott."
Wer ist's ? Was drängt sich rings der Schwall? Im Palastsaale überall Erstarb des Festes froher Schall, Und angstvoll sich bekreuzten all' Die Rittersleut' in Camelot. Doch Lancelot tief sinnend spricht: „Sie hat ein süß' und lieb' Gesicht; Gott schenk' ihr gnädiges Gericht, Der Dame von Shalott!"
Schon die Namen klingen suggestiv-fremdartig, ebenso das ebenmäßige Metrum und die kunstvolle Schweifreimstanze, die schweren Vokale des Anfangs, der hellere Ton der Lancelotstrophen. Schatten und helle Wirklichkeit werden in Klangbildern von großer Schönheit festgehalten (Teil I, Strophe 2 bis 4; II, 2; III, 3 bis 5). Hier lebt die Musikalität Keatsscher Dichtung fort. Die mittelalterliche Welt wird nicht in ihrem männlich-heldischen Handeln und ihren sittlichen Idealen, sondern in weicher Stimmungszauberei wiedererweckt, eine Welt der Sehnsucht aus der trüben Alltäglichkeit. Die Musik der Sprache, die gewählten Worte, die Reime, die Bilder machen den Gehalt aus, balladeske und symbolische Mittel, in denen die zarte Seite romantischer Mittelalterschwärmerei fühlbar wird. Der Klang- und Wortvirtuose trug aber auch siebzehn Jahre hindurch eine gedankenschwere Dichtung in sich, die aus der großen seelischen Erschütterung seines Lebens entstand, dem Tod seines Freundes Arthur H. Hallam. Es ist ein Elegienring in 3000 Versen, 1 3 1 sonettähnliche Lieder, die er zu dem Zyklus In Memoriam A.. H. H. (1850) zusammenfügte. In immer neuen Bildern macht er sich den schmerzlichen Verlust bewußt und sucht er Trost in Hoffnung und Glauben. Der Freund ist zu Gott eingegangen und sieht höhere Wahrheiten als wir; es gilt, den „honest doubt" zu überwinden. Die anspruchsvolle Wissenschaft der Zeit, besonders die Evolutions30 Die Stimmen der Meister
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VI. Streben nach Ausgleich: das „viktorianische Kompromiß"
lehre, hatte ja den Zweifel aufgeworfen, das positivistisch-unmetaphysische Denken war dem schlichten Christusglauben gefährlich, nur die alte Überzeugung von der Trennung der Bereiche des Glaubens und Wissens kann Ruhe und Halt geben: We have but faith: we cannot know; For knowledge is of things we see; And yet we trust it comes from thee, A beam in darkness: let it grow.
But vaster. We are fools and slight; We mock thee when we do not fear: But help thy foolish ones to bear; Help thy vain worlds to bear thy light.
Let knowledge grow from more to more, But more of reverence in us dwell; That mind and soul, according well, May make one music as before,
Forgive what seem'd my sin in me; What seem'd my worth since I began; For merit lives from man to man, And not from man, O Lord, to thee. (Einleitung)
Der Mensch kann in dem großen Naturgeschehen weder bestimmen noch urteilen, sondern nur vertrauen, daß Gott alles zum guten Ende führen wird: Oh yet we trust that somehow good Will be the final goal of ill, To pangs of nature, sins of will, Defects of doubt, and taints of blood;
I falter where I firmly trod, And falling with my weight of cares Upon the great world's altar-stairs That slope through darkness up to God,
That nothing walks with aimless feet; That not one life shall be destroyed, Or cast as rubbish to the void, When God hath made the pile complete;
I stretch lame hands of faith, and grope, And gather dust and chaff, and call To what I feel is Lord of all, And faintly trust the larger hope.
That not a worm is cloven in vain; That not a moth with vain desire Is shrivell'd in a fruitless fire, Or but subserves another's gain.
"So careful of the type?" but no. From scarped cliff and quarried stone She cries, "A thousand types are gone: I care for nothing, all shall go.
Behold, we know not anything; I can but trust that good shall fall At last—far off—at last, to all And every winter change to spring.
"Thou makest thine appeal to me: I bring to life, I bring to death: The spirit does but mean the breath: I know no more." And he, shall he,
So runs my dream: but what am I? An infant crying in the night: An infant crying for the light: And with no language but a cry.
Man, her last work, who seem'd so fair, Such splendid purpose in his eyes, Who roll'd the psalm to wintry skies, Who built him fanes of fruitless prayer,
Are God and Nature then at strife, That Nature lends such evil dreams? So careful of the type she seems, So careless of the single life.
Who trusted God was love indeed And love Creation's final law — Tho' Nature, red in tooth and claw With ravins, shriek'd against his creed —
Who loved, who suffer'd countless ills, Who battled for the True, the Just, Be blown about the desert dust, Or seal'd within the iron hills? (Aus Stück LIV-LVI) Das Wissen ist ein hohes Ziel; es darf aber nicht fürwitzig seine Grenzen zu durchbrechen suchen. Es ist erdgebunden; da droben wohnt die Weisheit, die himmlisch ist:
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Who loves not Knowledge? Who shall rail For she is earthly of the mind, Against her beauty? May she mix But Wisdom heavenly of the soul. With men and prosper 1 Who shall fix O friend, who earnest by the goal Her pillars ? Let her work prevail. So early, leaving me behind, But on her forehead sits a fire: She sets her forward countenance And leaps into the future chance, Submitting all things to desire.
I would the great world grew like thee, Who grewest not alone in power And knowledge, but by year and hour In reverence and in charity. (Stück CXIV)
Ein sprachgewaltiger Hymnus mit pantheistischem Trost beschließt die Betrachtungen und das Gedenken des Freundes mit Anklang an Goethes Divanlied „Gottes ist der Orient": Thy voice is on the rolling air; I hear thee where the waters run; Thou standest in the rising sun, And in the setting thou art fair.
My love involves the love before; My love is vaster passion now; Tho' mix'd with God and Nature thou, I seem to love thee more and more.
What art thou then? I cannot guess; But tho' I seem in star and flower To feel diffusive power, I do not therefore love thee less.
Far off thou art, but ever nigh; I have thee still, and I rejoice; I prosper, circled with thy voice; I shall not lose thee tho' I die. (Stück CXXX)
Der ganze Zyklus vereinigt Gedichte aus verschiedenen Stimmungen, hierin Shakespeares Sonetten ähnlich, aber mit dem Unterschied, daß hier nicht die strenge Sonettform die Betrachtung begrenzt, sondern die einfach-würdige Strophe zu formschönen Gebilden von verschiedener Länge — von 12 bis zu 120 Zeilen — zusammengefügt wird. Die Dichtung ist mehr als eine Totenklage oder Elegie, eher ein Monument zu Ehren des Freundes, von der schlichten lyrischen Klage am Grabe (XIX, X X I ) , der Erinnerung an gemeinsames Erleben ( X X I I — X X V ) , dem umflorten Blick in die Zukunft der Freundesliebe (XXVI), der durch die Zeit geheiligten Rückschau auf den Geburtstag, die Weihnachts- und Neujahrsgedanken, den Todestag des Verschiedenen (CV), aufsteigend zu der vertieften Freude, die in der Liebe Gottes die Menschheit vereint weiß. Verzweifelnde Klage erhebt sich zu liebender Hoffnung, hoher lyrischer Ausdruck ( L X X X V I , CVI) triumphiert über irdische Not und Enge, das Denken befreit sich in der Gewißheit der Allweisheit: "Let knowledge grow from more to more, But more of reverence in us dwell." Es ist die Theodizee der etwas dünnen Luft des Frühviktorianismus, so wie das „Verlorene Paradies" der geistige Ausdruck des 17. und Popes „Versuch über den Menschen" der des frühen 18. Jahrhunderts war; keine Tiefenphilosophie, sondern die bürgerliche Lehre von der goldenen Mittelstraße, von dem versöhnenden Ausgleich, dabei aber das einflußreichste Gedicht seines Zeitalters, dessen Verse und Gedanken in Dichtung und Prosa, in Predigt und Kirchenlied wiederkehren und von dem viele bekannten, es habe sie weiser und glücklicher gemacht. Das sympathische Bild des Engländers im guten alten Sinne, in dem ein undogmatisches Christentum, die schlichte Religion der Liebe im Sinne eines Dr. Primrose lebendig ist, bildet das Vermächtnis dieses Dichters, dessen künstlerisches Urerlebnis die Klangform, Harmonie und Eindrucksempfindlichkeit ist, der der Poesie einen bis dahin nicht gekannten Formenreichtum verlieh und der bei aller Begrenzung der gedanklichen Tiefe eine klare und edle Menschlichkeit zu künden und vorzuleben wußte. Wer Tennyson von dem Gedankengehalt oder der Stoffbehandlung her zu beurteilen unternimmt, wie es so häufig geschieht, wird ihm nie gerecht werden; die Form führt bei ihm zur Idee, eine unerhörte Eindrucksempfindlichkeit richtet im 30*
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V I . Streben nach Ausgleich: das „viktorianische Kompromiß"
wellengleichen Schwingen der Laute und Silben, in Klängen und Farben ein Stimmungsgebäude auf, in dessen harmonischer Selbstverständlichkeit das Wesen des Themas Gestalt gewinnt — das Geheimnis großen Künstlertums, an dessen hohepriesterliche Sendung der Dichter glaubte.
Robert Browning (1812—1889) Der andre Große unter den viktorianischen Dichtern ist fast in allem das Widerspiel zu Tennyson, wenn auch wie dieser und noch bewußter als er Lehrer seines Volkes und Kämpfer für Ideen. Tennysons Themen gehören der engeren Heimat an, seine Haltung meidet das Extreme, sein Fühlen ist die veredelte und erhobene Empfindung seines Volkes. Browning ist Europäer, dessen umfassender Belesenheit Italien ebenso nahe ist wie die Antike, dessen Gestalten so mannigfaltig sind wie das Leben selbst; er ist Antiromantiker, religiöser Individualist, Vitalist mit Freude am geistigen Kräftespiel, optimistischer Evolutionist, Lehrer der Kraft und des Mutes, Führer zur sittlichen Gesundung. Tennyson ist Meister der künstlerischen Form, Browning eigenwilliger Verächter der Form im Ringen mit dem Gedanken, genialer Deuter der Ungereimtheiten der Seelenwelt, erfüllt von einem kämpferischen Lebensethos. Seine Dichtung ist keine bequeme Lektüre, sondern muß erkämpft werden. Die vielberufene Dunkelheit seiner Werke beruht aber nicht auf gedanklichem Dunkel, sondern auf der starken Subjektivität der Gestaltung, die Ausgangspunkt für die neueste Dichtung geworden ist. Es ist eine ausgesprochen psychologische Kunst, Seelenzergliederung, ein Studium des Individuums, nicht des Menschen im allgemeinen. Erst im Zusammenklang der Einzelschicksale ergibt sich das Lied von der Menschheit. Eine zufällige Anekdote, ein Bild, ein altes Buch, ein historisches Bruchstück regt die Phantasie des Dichters an zur psychologischen Deutung. Die Technik ist oft dialektisch, ein Hin und Her von „Standpunkten" und Gedankensprüngen, die der Leser mitmachen muß, um die Synthese zu vollziehen. Auf diesem Prinzip beruht das gewaltige Hauptwerk über einen altitalienischen Mordprozeß, Der Ring und das Buch. Man versteht, daß der „dramatische Monolog" oder fingierte Dialog mit stummem Zuhörer, der den seelenanalytischen Selbstgesprächen der Helden Shakespeares ähnelt, die Lieblingsform eines solchen Dichters werden konnte. So kann eine Tragödie in 5 6 Zeilen in dem berühmten Gedicht My Last Duchess die ganze grausame Selbstherrlichkeit eines Nobile der italienischen Spätrenaissance vor uns aufleben lassen. Er führt den Gast, der wegen der Heirat der Tochter verhandeln soll, durch den Bildersaal und zieht den Vorhang von dem Bild zurück: That's my last Duchess painted on the wall, Looking as if she were alive. I call That piece a wonder, now: Fra Pandolph's hands Worked busily a day, and there she stands. Will't please you sit and look at her? I said "Fra Pandolph" by design, for never read Strangers like you that pictured countenance, The depth and passion of its earnest glance, But to myself they turned (since none puts by The curtain I have drawn for you, but I) And seemed as they would ask me, if they durst, How such a glance came there; so, not the first Are you to turn and ask thus.
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Die unbekümmerte Lebenslust der jungen Gattin hat den ahnenstolzen Herzog dadurch gekränkt, daß sie ihre Freundlichkeit jedem ohne Unterschied zuwandte, daß sie dem Gärtner für einen Zweig mit Kirschen, dem treuen Reittier, der sinkenden Sonne, den aufmerksamen Bedienten ihr gütiges und dankbares Lächeln ebenso dankte wie dem Herrn und Gebieter, der ihr doch einen neunhundert Jahre alten Namen geschenkt hatte. . . . Oh sir, she smiled, no doubt, Whene'er I passed her; but who passed without Much the same smile? This grew; I gave commands; Then all smiles stopped together. Was war das für ein Befehl? Der Dichter, hiernach gefragt, sagte einmal: Ja, das Todesurteil — oder, fügte er nach einer Pause hinzu, die Einkerkerung im Kloster. Dann gleich eine kalte Gesprächsphrase an den Gast: Wollt Ihr nicht aufstehen und mit mir zu der wartenden Gesellschaft hinuntergehen? Achtet auch noch auf den Neptun da drüben, wie er ein Seeroß zähmt, ein seltenes Kunstwerk, von einem berühmten Bildhauer für mich in Bronze gegossen. Eine kurze Handbewegung beschließt die knapp und eindrucksvoll angedeutete Tragödie eines vornehmen Hauses, der grausamen Willkür eines kalten und stolzen Mannes entsprungen. Prachtvoll der Aufbau, knapp und mit verhaltenen Empfindungen, eisige Atmosphäre, lässiger Gesprächston in den prosaähnlich übergreifenden Versen, alle Gefühle verhüllt, nur innerlich aufgerührt und wirkend. Da ist nichts von Klangschönheit und Seelenschwingen zu suchen, nur Bewegung, psychologische Hintergründigkeit, sprachlose Erschütterung. Mit welchen Gedanken wird der Gast an dem Mahl teilnehmen, welches Bild des Brautvaters wird er seinem Auftraggeber heimbringen 1 Auch die Liebe wird als Studie der Gefühle behandelt und nicht als Idyll wie bei Tennyson. Der Dichter sucht sie als den himmlischen Funken in dieser Welt des Wirklichen zu begreifen. Evelyn Hope knüpft an den platonischen Gedanken im „Gastmahl" an, daß Liebe schon ihre Erfüllung findet, wenn sie nur einseitig ist, und Browning hat dies wiederholt ausgesprochen; auch der Tod kann sie nicht auslöschen. Der gereifte Mann sitzt neben der Leiche des geliebten Mädchens und überdenkt sein Leben. Beautiful Evelyn Hope is dead! Sit and watch by her side an hour. That is her book-shelf, this her bed; She plucked that piece of geraniumflower, Beginning to die too, in the glass; Little has yet been changed, I think: The shutters are shut, no light may pass Save two long rays thro' the hinge's chink.
Die schöne Evelyn Hope ist tot; Sitzt nieder an ihrer Lagerstatt I Dort ist ihr Büchergestell, Hier liegt von ihrem Geranium ein rotes Blatt; Das Stübchen ist wenig verändert seitdem, Das lang sie bewohnt; vom Sonnenschein Dort außen dringen zwei Strahlen nur Durch das geschlossene Fenster herein.
Sixteen years old when she died I Perhaps she had scarcely heard my name; It was not her time to love; beside, Her life had many a hope and aim, Duties enough and little cares, And now was quiet, now astir, Till God's hands beckoned unawares,— And the sweet white brow is all of her.
Mit sechzehn Jahren starb sie, fast Kind; Wohl meinen Namen hörte sie nie, Noch kannte die Liebe sie nicht, doch viel Vom Leben schon hoffte, erstrebte sie; Sie kannte nur Freuden, Sorgen kaum, Bis Gott sie nahm aus der Ihren Kreis Und nichts von ihr auf der Erde blieb Als ihre Stirne, so lieblich weiß.
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VI. Streben nach Ausgleich: das ,.viktorianische Kompromiß"
Is it too late then, Evelyn Hope? What, your soul was pure and true, The good stars met in your horoscope, Made you of spirit, fire and dew— And, just because I was thrice as old And our paths in the world diverged so wide, Each was nought to each, must I be told? We werefellowmortals, nought beside!
Ist es zu spät denn, Evelyn Hope? Alle Sterne trafen sich gut Zusammen in deinem Horoskop Und schufen aus Geist dich, aus Tau und aus Glut — Und eben weil ich dreimal so alt, Nichts füreinander waren wir — So soll ich mir sagen lassen — als nur Gefährten in der Sterblichkeit hier?
I have lived (I shall say) so much since then, Given up myself so many times, Gained me the gains of various men, Ransacked the ages, spoiled the climes; Yet one thing, one, in my soul's full scope, Either I missed or itself missed me: And I want and find you, Evelyn Hopel What is the issue? Let me see.
Dann werd' ich sagen, ich bin seitdem Hin über Höhen, zum Himmel getürmt, Durch alle Gegenden dieser Welt, Durch alle Zeiten spähend gestürmt: Doch eines auf dieser irren Welt Hab' ich verfehlt, ich will's dir vertrauen; Du fehlst mir, doch finden werd' ich dich; Was ist das Ende, laß uns schauen!
I loved you, Evelyn, all the while, My heart seemed full as it could hold, There was place and to spare for the frank young smile, And the red young mouth, and the hair's young gold. So, hush—I will give you this leaf to keep: See, I shut it inside the sweet cold hand! There, that is our secret: go to sleep! You will wake, and remember, and understand.
Ich liebte dich, Evelyn, alle die Zeit; Zum Überfließen, o Mädchen, so hold, War voll mir von deinem Lächeln das Herz Und von des Haares wallendem Gold. In der kalten Hand dir laß ich dies Blatt, Halt's fest, daß die Winde es nicht verwehn. Das ist das Geheimnis, geh schlafen nun, Du wirst erwachen und mich verstehn.
Ein Blütenblatt legt er in die kalte Hand derer, die von seiner Liebe nichts geahnt hat; sie wird erwachen und verstehen. Es bleibt also die Hoffnung auf das volle Glück im Jenseits, im Reich der Ideen. Das ist der Glaube an die Erhaltung der Kraft, hier ins Seelische gewendet, ein Grundpfeiler in der Lebensphilosophie des Dichters. Love among the Ruins ist vielleicht sein schönstes lyrisches Stück. Friedvoll liegt die verlassene Ruine in der abendlichen Landschaft und läßt die Erinnerung an die alte Herrlichkeit einer lasterhaften Stadt aufsteigen. Gemessen und ruhig strömen die Zeilen dahin, in lang gespanntem Satzbau, mit Pausen abgesetzt, in denen es in den Kurzzeilen aus dem alten Gemäuer echoartig im Reim zurückklingt: Where the quiet-coloured end of evening smiles, Miles and miles On the solitary pastures where our sheep Half-asleep Tinkle homeward thro' the twilight, stray or stop As they crop — Was the site once of a city great and gay, (So they say) Of our country's very capital, its prince Ages since Held his court in, gathered councils, wielding far Peace or war. Kein Baum ist da, der frühere saftige Grünflächen andeuten könnte, nur kalte Umrißmauern des einstigen Palastes, alle Spuren der Stadt von einem Grasteppich
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überzogen, da, wo einmal Jubel und Klage erklangen, Prunk und Schande nebeneinander waren. Ein einzelnes Türmchen steht verlassen, von Wurzelwerk und Feldblumen eingewickelt, ein verschrumpftes Überbleibsel des Turmbaus, von dem aus der Fürst mit seinen Geliebten den Ritterspielen zuschaute. Heute wartet ein Mädchen mit blondem Haar und leuchtenden Augen an dieser einsamen, erinnerungsreichen Stelle auf den Geliebten. Der Fürst von ehedem überschaute die weite Stadt, die ragenden Berge, die Wege, Brücken, Wasserläufe und die Menschen. Da war Gewoge und laute Unruhe. Mein Mädchen aber wartet ganz allein, atemlos, stumm, bis ich komme. Der Gegensatz des lauten Weltgeschehens und des still pochenden, einsamen Herzens ist packend; jenes ist mit Recht in ewige Stille gesunken, das liebende Herz aber bleibt. Was ist wertvoll: die Schönheit jenes gesunkenen Babylons oder der heutige Friede? Die Liebe steht über allem: In one year they sent a millionfightersforth South and North, And they built their gods a brazen pillar high As the sky, Yet reserved a thousand chariots in full force — Gold, of course. Oh heart! oh blood that freezes, blood that burns I Earth returns For whole centuries of folly, noise and sin! Shut them in, With their triumphs and their glory and the rest! Love is best. Wenn der Dichter zur Musik kommt, ersteht ihm die Musikseele: Abt. Vogler, auf den 1749 in Würzburg geborenen Komponisten „Abt" Vogler gedichtet, den Lehrer Karl Maria von Webers und Meyerbeers, der als Orgelvirtuose ein Wanderleben durch europäische Hauptstädte führte. Der Künstler hat eben sein Orgelspiel beendet; noch klingt es rauschend nach, noch steht es in dem Dom wie ein Gebäude. Goethe nannte ja die Architektur eine zu Stein gewordene Musik. Would that the structure brave, the manifold music I build, Bidding my organ obey, calling its keys to their work, Claiming each slave of the sound, at a touch as when Solomon willed Armies of angels that soar, legions of demons that lurk, Man, brute, reptile,fly,—alienof end and of aim, Adverse, each from the other heaven-high, hell-deep removed, Should rush into sight at once as he named the ineffable Name, And pile him a palace straight, to pleasure the princes he loved. Schwer und feierlich rauschen die Daktylen in hexameterähnlichen Langzeilen, wie die Orgelharmonien kunstvoll verwoben in schwer durchschaubarer Satzverschlingung, wuchtig in barocken Worthäufungen und überreichem Stabreimschmuck. Könnte man das soeben gehörte Gebilde doch festhalten, so wie es die auseinander und wieder zueinander strebenden Tasten, die an den Wurzeln der Dinge wirkenden Bässe und die nach oben entschwebenden Diskantnoten errichtet haben: Would it might tarry like this, the beautiful building of mine, This which my keys in a crowd pressed and importuned to raise! Ah, one and all, how they helped, would dispart now and now combine, Zealous to hasten the work, heighten their master his praise 1 And one would bury his brow with a blind plunge down to hell, Burrow awhile and build, broad on the roots of things, Then up again swim into sight, having based me my palace well, Founded it, fearless offlame,flaton the nether springs.
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Und eine zarte Stimme steigt hinauf, eine zweite, dann eine ganze Schar mit vielgestaltigem Schopf, steigt hinauf und verschwebt in der Kuppel von Gold und Glas, von Licht, das nach unten fällt. So ist des Menschen Leben: der Himmel neigt sich auf die Erde, die empfangende Natur gebiert das Leben, das dann wieder nach oben in die seligen Gefilde will — die ewige Vermählung von Erde und Himmel. Dieses große Werden und Vollendetsein und Wiederkommen und Wiederscheiden, das Zerfallen nach oben und unten, schafft der Künstler in der Musik, in der Dichtung, in der Malerei. So ist das Kunstwerk Sinnbild des Lebens, gebändigt durch die Gesetze, die Gott gegeben hat: „art in obedience to laws". Erst der Geist schafft aus den Tönen ein Gebilde; ohne das Denken und Wollen des Künstlers sind sie selbst nichts, er allein, der Finger Gottes, gibt ihnen Sinn und Form. Nehmt dies auf und beugt euer Haupt! Nun ist der palastgleiche Musikbau dahin, nur die Erinnerung lebt in der Träne oder Erhebung des Hörers. Dem Geist gebührt Verehrung und Dank, so wie er selbst sich in Anbetung vor dem Ewigen beugt: Therefore to whom turn I but to thee, the ineffable Name? Builder and maker, thou, of houses not made with hands I What, have fear of change from thee who art ever the same? Doubt that thy power call fill the heart that my power elands? There shall never be one lost good! What was, shall live as before; The evil is null, is nought, is silence implying sound; What was good shall be good, with, for evil, so much good more; On the earth the broken arcs; in the heaven a perfect round. Nur das Schlechte geht zugrunde, nur das Gute bleibt; was wir Gutes wollen, träumen und erhoffen, das wird bestehen und da sein, wenn die Ewigkeit die Eingebung einer irdischen Stunde bestätigt. Was für die Erde allzu hoch war, zu harter Heroismus, zu tiefe Leidenschaft, das ist Musik, die Liebende und Sänger zu Gott hinaufgeschickt haben; er hat sie einmal vernommen, und das genügt. Diese wahre Musik des Lebens kann nicht vergehen; was hier nicht bleiben kann, wird droben erfüllt — eine herrliche Zuversicht 1 Meister Eckarts und Jakob Böhmes mystisches Glück wird in der vorletzten Strophe vernehmbar. Mißtöne des Lebens müssen sein, damit die Harmonie um so schöner strahle: Sorrow is hard to bear, and doubt is slow to clear, Each sufferer says his say, his scheme of the weal and woe: But God has a few of us whom he whispers in the ear; The rest may reason and welcome: 'tis we musicians know. So gleicht alles hehre Wollen den Orgelklängen, deren fugisches Pathos die unendliche Bewegung ausströmt und in der Schwere und Lieblichkeit dieser Verse lebt: sie vergehen, bleiben aber wie alles Hohe und Gute der Ewigkeit unverloren. Uns bleibt die Gewißheit und der Glaube, das C-dur des Lebens. Der ethische Wert der Musik, ihr Hinaufstreben und Hinaufziehen, Johann Sebastian Bachs Religion, ist kaum jemals in frommerer Zuversicht gefeiert worden als in diesen erhabenen Versen, in deren Wucht und Pracht das Ringen und Triumphieren des menschlichen Geistes Gestalt gewinnt. Diese starke Lebensbejahung durchzieht das gewaltige Gesamtwerk. Ich kann, weil ich will (Rabbi ben E%ra)! „Progress is the law of life." „Knowledge, not intuition, but the slow Uncertain fruit of an enhancing toil, Strengthened by love." „All tended to mankind, And, man produced, all has its end thus far; But in completed man begins anew A tendency to God" (Paracelsus). Gottes gütiger Wille geht in dem lyrischen Drama Pippa Passes durch die Welt und wirkt im scheinbar Zufälligen:
Elizabeth Barrett Browning
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All service ranks the same with God. If now, as formerly he trod Paradise, his presence fills Our earth, each only as God wills Can work—God's puppets, best and worst, Are we; there is no last nor first.
Vor Gott ist alles Wirken gleich: Wenn er wie früher im Bereich Von Eden, uns sein Dasein schenkt, Schafft jeder nur, wie Gott es lenkt, Nur Gottes Puppen sind wir schlicht, Nicht erste gibts und letzte nicht.
Say not "a small event!" Why "small"? Costs it more pain that this, ye call A "great event", should come to pass, Than that? Untwine me from the mass Of deeds which make up life, one deed Power shall fall short in or succeed 1
Sag nicht: ein „kleiner" Fall! Was „klein"! Ist etwa großer Fälle Sein Durch größre Mühe zu erreichen? Der Dinge Menge laß mir weichen, Die Leben sind, zu einem Tun Soll Kraft mir wirken oder Ruhm.
Kämpft um euer Menschentum, so werdet ihr die Nöte besiegen: „I was ever a fighter, so—one fight more, The best and the last" (Prosptce)! In seinem Schwanengesang, dem Epilog zu Asolando, nennt sich der Dichter One who never turned his back but marched breast forward, Never doubted clouds would break. Never dreamed, though right were worsted, wrong would triumph, Held we fall to rise, are baffled to fight better, Sleep to wake. Das ist diese innerlich gesunde Dichtung, triumphierende Zuversicht, weitab von Schopenhauers Pessimismus, ein Glaube an ethische Evolution und den Sieg des Guten, Carlyles Ruf zum gläubigen Heldentum gegen Utilitarismus und ethischen Skeptizismus verwandt. Das ist Brownings Beitrag zu den Aufgaben seiner Zeit, sittlicher Wille und mutiges Kämpfen. Barock ist die Mischung der Stilarten dieses Dichters vom Grotesken bis zum Erhabensten, von schrullenhafter Formvernachlässigung bis zur Formvollendung, vom Komplizierten bis zum Schlichtesten, machtvoll überall die Kraft des Geistes, der reckenhaft zupackt. Mit der Gedrängtheit und Verkürzungstechnik seines Stils, die enthüllen und charakterisieren will, die lieber die Form sprengt als den Gedanken einengt, dabei freilich oft Rätsel aufgibt und Überfülle bietet, ist er der Wegbereiter der modernen „Bewußtseinskunst" geworden. Zur vollen Einfühlung in sein Wesen gehört als Ergänzung das Dichterbild seiner Gattin Elizabeth Barrett Browning (1806—1861) Körperliche Schwäche, lange Krankheit und Hilflosigkeit, dabei aber ein starker, selbständiger Geist; Innigkeit und Zartheit, ein durch die Abhängigkeit von andren und die erzwungene Ruhe zunehmendes Übergewicht des Seelischen, Sehnsucht nach dem rein Geistigen, Freude an Büchern, Fehlen aller sinnlichen Elemente, große Schaffenskraft, die die verschiedensten literarischen Vorwürfe aufgreift und sich dann zu kühner Selbständigkeit entwickelt: so kann ungefähr die Art dieser Dichterin umrissen werden. Aus mütterlichem Herzen entringen sich ihr angesichts des Kinderelends in der Industrie leidenschaftlich ein Cry of the Children und ein Cry of the Human über das allgemeine Menschenlos, und ihr Hauptwerk, der Versroman Aurora Leigh, stellt sich bewußt in den Dienst der geistigen Frauenbefreiung. An den eigentlichen sozialen Bewegungen konnte ihr ganz auf das Innerliche gerichteter Geist nicht teilnehmen; sie waren ihr zu materiell und grob. „Müdigkeit" ist das letzte Gedicht der frühen Sammlung betitelt, religiöse Ergebung, stille Meditation und Todessehnsucht werden immer mehr die Motive. Da tritt die große Wendung ihres Lebens ein: das ungestüme Werben Robert Brownings, dessen Werden und Erwiderung wir in einem der herrlichsten Brief-
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Wechsel mitfühlen können. Elizabeth genas sogar körperlich an der Seite des starken Mannes in Italien; fünfzehn Jahre einer von tiefem Glück umstrahlten Dichterehe waren ihr noch vergönnt. Aus diesem Glück, dieser Genesung und Verinnerlichung leben die Dichtungen, die ihren Namen unter die großen Lyriker eingereiht haben. Das Gedicht Inclusions (Zugehörigkeit) mag das Thema angeben: Oh, wilt thou have my hand, Dear, to lie along in thine? As a little stone in a running stream, it seems to lie and pine. Now drop the poor pale hand, Dear, unfit to plight with thine. Oh, wilt thou have my cheek, Dear, drawn closer to thine own? My cheek is white, my cheek is worn, by many a tear run down. Now leave a little space, Dear, lest it should wet thine own. Oh, must thou have my soul, Dear, commingled with thy soul? Red grows the cheek, and warm the hand; the part is in the whole: Nor hand nor cheeks keep separate, when soul is jointed to soul. Die Hand will sie in zarter Schüchternheit dem Geliebten entwinden, die Wange von der seinigen trennen, damit ihre Tränen ihn nicht benetzen; die Seelen aber können nicht getrennt werden, von ihnen strömt Wärme in Hand und Wange. In schlichter Parallelität des Aufbaus stehen die drei Bilder der innigen Verbundenheit da, ruhig ausströmend in Langzeilen aus fast durchweg einsilbigen Wörtern, mit rhythmisch angedeuteter kleiner Unruhe wie durch ein Steinchen im Flußlauf (Strophe I, Zeile 2), mit Stabreimschmuck, mit den einfach kosenden Zurufen „ O h " und „Dear", mit einer die leise Erregung verratenden Taktumstellung (Anfang von III, 2). Das ist natürliches Gespräch der Seele zur Seele, da ist kein falscher, gekünstelter Ton. Den ganzen Zauber der erlebten Liebe atmen die Sonnets from the Portuguese (Portugiesische Sonette), der unvergängliche Sonettenzyklus, aus dem das überquellende Glück des Geborgenseins an der Seite des kräftigen Mannes strahlt. Der Titel ist absichtlich irreführend und soll darauf zurückgehen, daß Robert Browning die dunkelhaarige Gattin scherzend seine kleine Portugiesin nannte. Hier entrollt sich der ganze Roman der Erweckung aus Todesnähe zum Leben durch die Macht der Liebe, der Wendung vom rein literarischen Schaffen zum schlichten Empfindungsausdruck (Sonett I), die Bewunderung für die hohe Dichtung des begnadeten Mannes, dessen Werben um das schwache Mädchen so ganz unbegreiflich ist (III—VI), die völlige Veränderung der Welt (VII), die Sorge, dem Geber nichts zurückschenken zu können als nur das einfache „Ich liebe dich" (VIII—X), und doch das Gefühl, daß Liebe nur um ihrer selbst willen da ist und keinen Lohn verlangt. XIV If thou must love me, let it be for nought Except for love's sake only. Do not say, " I love her for her smile—her look—her way Of speaking gently,—for a trick of thought
XIV Wenn du mich lieben mußt, so soll es nur Der Liebe wegen sein. Sag nicht im stillen: ,,Ich liebe sie um ihres Lächelns willen,
That falls in well with mine, and certes brought A sense of pleasant ease on such a day"— For these things in themselves, Beloved, may Be changed, or change for thee,—and love, so wrought,
Die ihres Denkens leichter Griff in mir
Für ihren Blick, ihr Mildsein, für die Spur,
Zurückläßt, solche Tage zu umrändern." Denn diese Dinge wechseln leicht in dir, Geliebter, wenn sie nicht sich selbst verändern.
Präraffaelismus
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May be unwrought so. Neither love me for Thine own dear pity's wiping my cheeks dry,— A creature might forget to weep, who bore
Wer also näht, der weiß auch, wie man trennt. Leg auch dein Mitleid nicht zu Grund, womit Du deine Wangen trocknest; wer den Schritt
Thy comfort long, and lose thy love thereby! But love me for love's sake, that evermore
Aus deinem Trost heraus nicht tut, verkennt Die Tränen schließlich und verliert mit ihnen Der Liebe Ewigkeit: ihr sollst du dienen.
Thou may'st love on, through love's eternity.
Was sind meine Briefe, meine Schriften gegen das Gefühl im Herzen! Und doch, sie erzittern, wenn deine Hand ihr Band löst und die Träne, die sie benetzt hatte, wieder feucht wird, um das „Ich liebe dich" zu sprechen (XXVIII). Sei du immer neben mir, wie ich bei dir bin. XLIII How do I love thee? Let me count the ways. I love thee to the depth and breadth and height My soul can reach, when feeling out of sight For the ends of Being and ideal Grace.
XLIII Wie ich dich liebe? Laß mich zahlen wie. Ich liebe dich so tief, so hoch, so weit,
I love thee to the level of everyday's Most quiet need, by sun and candle-light, I love thee freely, as men strive for Right; I love thee purely, as they turn from Praise.
Ich liebe dich bis zu dem stillsten Stand, Den jeder Tag erreicht im Lampenschein Oder in Sonne. Frei, im Recht, und sein Wie jene, die vom Ruhm sich abgewandt.
I love thee with the passion put to use In my old griefs, and with my childhood's faith. I love thee with a love I seemed to lose With my lost saints,—I love thee with the breath, Smiles, tears, of all my life!—and if God choose, I shall but love thee better after death.
Mit aller Leidenschaft der Leidenszeit Und mit der Kindheit Kraft, die fort war, seit
Als meine Seele blindlings reicht, wenn sie Ihr Dasein abfühlt und die Ewigkeit.
Ich meine Heiligen nicht mehr geliebt. Mit allem Lächeln, aller Tränennot Und allem Atem. Und wenn Gott es gibt, Will ich dich besser lieben nach dem Tod.
So klingt das Motiv immer wieder in neuen Wortkränzen um das stimmungsreiche „love", gebändigt durch die strenge und schöne Sonettform, ohne Hinausgreifen in seltene Symbole aus Natur oder Mythologie, in einfacher Sprache des Herzens, dabei aber in einem gefühlsstarken Wogen von Dur und Moll. Präraffaelismus Die mittelviktorianische Zeit sah sich dem großen Thema der sozialen Nöte gegenüber auf einem geänderten Standort. Industrie und Gewerbefleiß hatten das Land wohlhabender gemacht und der Kunst den Boden bereitet. Gegenüber dem Predigerton der Carlyle- und Dickenszeit tritt das Künstlerische, die Kultur nach Matthew Arnolds Ausdruck, wieder mehr in den Vordergrund; nicht — wie oft irrtümlich angenommen wird — im Sinne eines „Part pour l'art" (Kunst um der Kunst willen), sondern als Erhebung des Menschen aus den Niedrigkeiten des Lebens in ein Reich der Schönheit. Rossetti floh in die Sonne des Südens, Morris in das germanische Altertum der Sagas, Swinburne in die Antike und das Mittelalter. Ruskins großer Widerspruch gegen Materialismus und Mechanismus, sein Evangelium der Lebens-
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erhöhung durch Schönheit, winden fruchtbar; ein kunstgläubiges Volk wird auch eine schöne Harmonie der Gesellschaft heraufbringen und soziale Gerechtigkeit üben. Eine Gruppe junger Maler gründete 1848 die „Präraffaelitische Brüderschaft" als Protest gegen die philiströse Selbstgefälligkeit der alten Kunstakademiker. Nicht die naturalistisch vollendete Kunst der Venezianer und Niederländer gibt den vollen Ausdruck der seelischen Sehnsucht, sondern die einfachere, innigere, wahrere Art der Maler vor Raffael vom Schlage des Fra Angelico mit ihrer mystischen Herzensinnigkeit, ihrer zweidimensionalen Andeutung, ihrer suchenden Unfertigkeit ohne naturgetreue Vollkommenheit. So hatte es Ruskins Deutung der Gotik in ihrer Hervorkehrung der ethischen Werte gemeint, in der die bedeutende Idee das Entscheidende ist und sich jedes Detail unterordnet, so wollten es die jungen Maler, die die Idee ausdrucksvoll zu formen und die Phantasie des Betrachters zum Mit- und Weiterarbeiten zu nötigen bestrebt waren. Anfänglich von der Tagesmeinung bekämpft und abgelehnt, setzte sich die junge Bewegung, die im Suchen nach der Seele eine Parallele zu der Oxforder Bewegung auf dem religiösen Gebiet darstellt, mächtig durch, als Ruskin seine gewichtige Stimme zu ihrer Verteidigung erhob. Unter den Mitgliedern der Brüderschaft war der Sohn eines in England seßhaft gewordenen Italieners, eine warmherzige, vollblütige Natur, Maler und Dichter zugleich, Dante Gabriel Rossetti (1828—1882). Mit dem Auge des Malers will er seine Gedichte gestalten, Bilder mit Worten geben, durch das Auge die mitschaffende Phantasie anregen. Wiederholt hat er seine dichterischen Gestalten nachträglich gemalt oder umgekehrt Bilder in Verse umgesetzt. So wird schon das große Gedicht des Neunzehnjährigen, The Blessed Damo^el (Das selige Fräulein), zu seinem Meisterwerk und zu dem Muster präraffaelitischer Dichtung. Dreimal hat es der Dichter umgearbeitet, bis es die heutige endgültige Form erhielt, so wie der Maler die Einzelheiten ändert, die Farben abstimmt, bis der Gesamteindruck ihm genügt. The blessed damozel leaned out From the gold bar of heaven; Her eyes were deeper than the depth Of waters still at even; She had three lilies in her hand, And the stars in her hair were seven. Das selige Fräulein lehnt sich über das Geländer, das den Himmel von der Erde trennt, und sehnt sich nach dem noch drunten weilenden Geliebten. Lang fällt ihr korngelbes Haar, in dem sieben Sterne stecken, über ihren Nacken, drei Lilien ruhen in ihrer Hand, keine Blume schmückt das lose fallende Gewand außer einer weißen Rose, dem Symbol der Gottesmutter. Vor zehn Jahren hat sie die Zeitlichkeit verlassen, aber das scheint ihr nur wie ein Tag. Um sie herum sind glückliche Paare, sie aber steht abseits in der Sehnsucht nach dem Geliebten. And still she bowed herself and stooped Out of the circling charm; Until her bosom must have made The bar she leaned on warm, And the lilies lav as if asleep Along her bended arm.
From thefixedplace of Heaven she saw Time like a pulse shake fierce Through all the worlds. Her gaze still strove Within the gulf to pierce Its path; and now she spoke as when The stars sang in their spheres.
The sun was gone now; the curled moon Was like a little feather Fluttering far down the gulf; and now She spoke through the still weather. Her voice was like the voice the stars Had when they sang together.
Dante Gabriel Rossetti
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Wenn der Ersehnte heraufkommt, will sie ihn die heiligen Lieder lehren; von Liebe wollen sie reden, von Christus nur die eine Gnade erbitten, immer zusammen sein zu dürfen; seine Hand will sie fassen, wenn er weiß gekleidet und mit Strahlenkranz ums Haupt emporschwebt, mit ihm im Angesicht Gottes in dem tiefen Brunnen des Lichts baden und zuschauen, wie ihre zu Gott gesandten und von Gott erhörten Gebete dahinschmelzen wie Wölkchen. Aber ach! Viele Seelen steigen herauf, er ist nicht dabei. Engelscharen ziehen mit mächtigem Rauschen an ihr vorüber. Sie aber lehnt ihr Antlitz auf die goldene Brustwehr und weint: (I saw her smile.) But soon their path Was vague in distant spheres: And then she cast her arms along The golden.barriers, And laid her face between her hands, And wept. (I heard her tears.) Das ist ein Bild, nicht ein ruhendes, sondern ein werdendes, vor unsern Augen mit sinnlicher Realistik entstehendes Bild: ihr Busen wärmt die Brustwehr; die Lilien in ihrer Hand schlafen in der Beugung ihres Armes; die Erde in der Tiefe wirbelt wie eine reizbare Mücke; die Seelen steigen auf wie dünne Flammenstreifen; der gekrümmte Mond sieht aus wie eine leichte Feder, die in den Abgrund hinunterflattert; Goldfäden sind wie Flammen in das weiße Gewand der Mariendienerinnen gewebt; das Licht jauchzt der Wartenden zu, ihre Augen beten, ich hörte ihre Tränen! Das sind konkrete Züge, mit dem Auge des Malers gesehen, ein Bild steht vor uns: wie das Mädchen hinunterschaut in den Abgrund, wie die Seelen mit ihren dünnen Gewändern, Flammen gleich, in die Höhe steigen, wie das milde Mondlicht alles vergoldet. Geschaute Gebete, vernehmbares Licht, gehörte Tränen sind Vorklänge der späteren „Neutöner". Altertümelnde Worte — "God's choristers", "citherns and citoles", — religiöse Anklänge und biblische Großschreibungen des heiligen Namens, schwere Wortzusammensetzungen — "the autumn-fall of leaves", "heart-remembered names", "the clear-ranged unnumbered heads" — dienen dem Kolorit, das frühitalienische Stimmung mit kirchlich-mystischem Ausdruck verbindet. So malt der präraffaelitische Dichter seine Ureingebung, das Verlangen der treuen Seele nach der Fortdauer des Lebens und der Liebe über das Grab hinaus — Dantesche Visionseinkleidung und Beatricesehnsucht. Rossetti soll durch das bekannte Gedicht Edgar Allan Poes Tie Raven angeregt worden sein, in dem es sich um die umgekehrte Situation handelt, um die Qual des verlassenen Geliebten, der seine Braut im Jenseits weiß. Hier wird das Erlebnis, mit dem „ E s war einmal" des Märchens beginnend, in dem Nacheinander einer Handlung aufgebaut, dramatisch in der immer gesteigerten Schauerlichkeit der Situation. Ein Vergleich der beiden Dichtungen macht die Eigenart Rossettis deutlich. Bei ihm ist nichts von Handlungsaufbau, nicht ein Nacheinander, sondern ein Nebeneinander, nicht Gliederung, sondern hingetupfte Einzelheiten, die zusammen einen Bildeindruck hinterlassen. Die Sprache bleibt bei aller Mystik schlicht und verständlich, auch da, wo sie sich zu berauschender Schönheit erhebt, eine Verschmelzung romanischen und germanischen Geistes. Dem germanischen Geist gehört die dem mittelalterlichen Volksglauben entlehnte Ballade Sister Helen (Schwester Helene) an, die wie eine alte Volksballade ein schauerliches Geschehen in erregtem Dialog vor uns erstehen läßt. Die verlassene Geliebte kann Rache durch Fernwirkung üben. Sie läßt das Wachsbild des untreuen Geliebten drei Tage lang schmelzen und quält ihn damit zu Tode, verliert aber selbst dabei ihre Seele. Diesen Zauberspuk hören wir in jagender Wechselrede zwischen ihr und dem ahnungslos mitwirkenden Brüderchen.
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VI. Streben nach Ausgleich: das „viktorianische Kompromiß"
"Why did you melt your waxen man, Sister Helen? To-day is the third since you began." "The time was long, yet the time ran, Little brother." (O Mother, Mary Mother, Three days to-day, between Hell and Heaven I) "But if you have done your work aright, Sister Helen, You'll let me play, for you said I might." "Be very still in your play to-night, Little brother." (O Mother, Mary Mother, Third night, to-night, between Hell and Heaven !) "You said it must melt ere vesper-bell, Sister Helen; If now it be molten, all is well." "Even so,—nay, peace! you cannot tell, Little brother." (O Mother, Mary Mother, O what is this, between Hell and Heaven ?) "Oh the waxen knave was plump to-day, Sister Helen; How like dead folk he has dropped away I" "Nay now, of the dead what can you say, Little brother?" (O Mother, Mary Mother, What of the dead, between Hell and Heaven ?) "See, see, the sunken pile of wood,
Sister Helen, Shines through the thinned wax red as blood I" "Nay now, when looked you yet on blood, Little brother?" (O Mother, Mary Mother, How pale she is, between Hell and Heaven !) Draußen ertönt Pferdetritt, drei Reiter kommen in rasender Eile, der erste, Keith von Eastholm, ist schon ganz nahe und verlangt mit Helen zu sprechen. E r ruft, Keith von Ewern liege im Sterben; seit seinem Hochzeitsmorgen vor drei Tagen liege er siech darnieder, bitte u m den T o d und flehe sie an, den Fluch zu beenden. Solange das nicht geschehe, könne seine Seele nicht v o n hinnen; immer wieder rufe er Helens Namen und sage, er schmelze am Feuer. So schmolz auch mein Herz zu seiner Lust,' erwidert die grausame Rächerin. Da kommt Keith von Westholm geritten und meldet, der Kranke verlange Helen zu sehen; er schickt ihr einen Ring und eine zerbrochene Münze. Kann er, so fragt Helen, zusammenfugen, was sonst noch zerbrach? E r bittet nur um Erbarmen, das selbst gestorbene Liebe gewähren muß. Helen dagegen: Haß, aus Liebe geboren, ist blind wie diese! Jetzt reitet der weißhaarige Keith v o n Keith in fliegender Hast herbei, der Vater des Gequälten, und überbringt mit fast versagender Stimme die Bitte um Vergebung, u m Rettung der Seele. N u n kommt selbst die noch vor drei Tagen bei ihrer Hochzeit so stolze Gattin des Sterbenden, die Arme flehend vorgestreckt, wortlos in Ohnmacht sinkend. Heim reiten sie alle, den alten Mann haben sie aufgehoben, die Seele des Leidenden ist entflohen, das Wachs ist verzehrt, die Flamme strebt nach oben.
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"Ah! what thing at the door has crossed, Sister Helen? Ah what is this that sighs in the frost?" "A soul that's lost as mine is lost, Little brother!" (O Mother, Mary Mother, host, lost, all lost, between Hell and Heaven I) Die Einfühlung in die Stilmittel der alten Volksballade vom Edward-Typus ist hier vollendet gelungen, Metrum, Klang und Stimmung sind eins geworden. Rührend die Betrachtungen und Berichte des unschuldigen Bruders, der die grimme Schwester nicht versteht, unheimlich der Kehrreim, der vom Dichter oder einem gedachten Zuhörer gesprochen wird, immer gewandelt und doch immer ähnlich klingend. Hier erhebt sich die Kunst des Refrains zu höchster Form. Schneidende Kontraste erhöhen das Grausen: die glühende Flamme am Wachsbild und in der Brust der Rächerin, Wind, Kälte und Schnee draußen bei den um Rettung Flehenden; die Gedanken an das Hochzeitsfest mit strahlender, goldgelockter Braut und die grausige Vereinigung der entflohenen Seelen des Treulosen und seiner Rächerin, bis die letzte Zeile das Dunkel des „Verloren" malt. Rossetti, der ein großer Freund der alten Lieder war, der viele schottische Balladen auswendig wußte und schon in früher Jugend Malorys Arthur-Erzählungen zu seinem Lieblingsbuch erkoren hatte, trifft das Mitreißende der Ausdrucksmittel überlegen, um die volkstümliche Grauenstimmung zu schaffen. Das kurze Liebesglück mit seiner „Guggum", die sein ewiges Modell und seine Gattin wurde, führte ihn zur reinen Lyrik zurück und hat uns die herrlichen Wortkleinodien seines Sonettenkranzes The House of Life (Das Haus des Lebens) beschert, die in immer neuen Bildern die schnell wechselnden Seelenzustände einer delikaten Sinnlichkeit zeichnen; ein malendes Schönheitsschwelgen mit kraftvoll sinnlicher Kleinkunst, aber nicht so innerlich wie Elizabeth Barrett Brownings Liebessonette. Die schwermütig-seelenvollen „Weidenwaldsonette" aus diesem Zyklus (L—LH) hat uns Stefan Georges Kunst nachschaffend vermittelt. Der gegen den Dichter erhobene Vorwurf verwerflicher Erotik verkennt den Urgrund seines Wesens. Er bejaht das Sinnliche, um es zu vergeistigen, wie er das Geistige versinnlicht; sein Malerauge muß irdisch sehen, um sich ins Überirdische verlieren zu können, sinnliche Liebe geht in mystischer, irdische Schönheit in himmlischer auf. Die Form als Körper der Idee! Das Anfangssonett des zweiten Teils erinnert an das Kind, in dessen Zügen wir Vater und Mutter noch erkennen, das aber im Heranwachsen die eigene, neue Persönlichkeit in den Zügen trägt; so formt auch die Kunst aus dem Elternpaar des Liedes, nämlich der Freude und der Pein seines Dichters, den neuen Klang, der dann strömen kann wie reicher, befruchtender Regen, „verklärtes Leben": As growth of form or momentary glance In a child's features will recall to mind The father's with the mother's face combin'd, Sweet interchange that memories still exchange: And yet, as childhood's years and youth's advance, The gradual moldings leave one stamp behind, Till in the blended likeness now we find A separate man's or woman's countenance: — So in the Song, the singer's Joy and Pain, Its very parents, evermore expand To bid the passion's fullgrown birth remain. By Art's transfiguring essence subtly spann'd; And from that song-cloud shaped as a man's hand There comes the sound as of abundant rain.
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VI. Stieben nach Ausgleich: das „viktorianische Kompromiß"
Dante Gabriels Schwester Christina R o s s e t t i (1830—1894) muß als Gestalterin tiefer Weiblichkeit, fraulichen Heldentums der Entsagung trotz der Enge ihrer Themen eine der bedeutendsten Dichterinnen ihres Volkes genannt werden. Das Religiöse ist ihr Grunderlebnis, Schwermut, Todessehnsucht, Gefühl der eigenen Sündhaftigkeit und Ringen um die Gnade Gottes, eine überempfindliche Seele inmitten einer bewegten, männlichen Welt. Todesgedanken umfloren schon das junge Mädchen, das einen innigen Song (Lied) zu singen weiß: When I am dead, my dearest, Sing no sad songs for me; Plant thou no roses at my head, Nor shady cypress tree: Be the green grass above me With showers and dewdrops wet: And if thou wilt, remember, And if thou wilt, forget.
I shall not see the shadows, I shall not feel the rain; I shall not hear the nightingale Sing on as if in pain: And dreaming through the twilight That doth not rise nor set, Haply I may remember, And haply may forget.
Ein feines musikalisches Hingleiten, nicht reflektierte, sondern schlicht empfundene Lyrik, einfacher Gebetsausdruck in den gehäuften Imperativen und den Gewißheiten der zweiten Strophe, ein refrainähnlicher Schluß zur Unterstreichung der Parallelität in der Gegensätzlichkeit. So empfinden und reden wir, wenn wir nicht mit Gedanken spielen, sondern wenn es uns warm ums Herz ist und wenn ein inneres Bild uns erfüllt. Die Freuden der Welt sind eitel, auch das lockende Schöne hat seinen Stachel: Of all the downfalls in the world, The flutter of an Autumn leaf Grows grievous by suggesting grief: Who thought, when Spring was first unfurled, Of this ? The wide world lay empearled; Who thought of frost that nips the world? Sigh on, my ditty.
There lurk a hundred subtle stings To prick us in our daily walk: An apple cankered on its stalk, A robin snared for all his wings, A voice that sang but never sings; Yea, sight or sound or silence stings. Kind Lord, show pity.
Immer wieder findet die Dichterin Töne schlichtester Innigkeit, immer wieder formt weltmüdes Verlangen nach Ausruhen zarte Gebilde echter Gelegenheits- und Gefühlslyrik. Ein Kranz von vierzehn Sonetten, mit dem Titel Monna Innominata an die präraffaelitische Sehnsucht nach den Frühitalienern erinnernd, lebt aus dem schmerzlichen Verzicht auf Liebesglück, dessen letztes Wort die ganze Größe ihres Opfers ahnen läßt: "What doth remain? Silence of love that cannot sing again." Nur in Gott kann das kranke Herz Trost und Stärke finden, ein hoffnungsfrohes Bekenntnis zum unsterblichen Glauben ist der Ausklang: Beyond the seas we know stretch seas unknown, Blue and bright-coloured for our dim and green; Beyond the lands we see stretch lands unseen With many-tinted tangle overgrown; And icebound seas there are like seas of stone, Serenely stormless as death lies serene; And lifeless tracts of sand, which intervene Betwixt the lands where living flowers are blown. This dead and living world befits our case Who live and die: we live in wearied hope, We die in hope not dead; we run a race To-day, and find no present halting place; All things we see lie far within our scope, And still we peer beyond with craving face.
Christina Rossetti — William Morris
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So ist unser Dasein: ein Leben in Hoffnung, ein Sterben in Hoffnung, ein Wettlauf um Dinge, die wir nie erlangen können, und doch ein immerwährendes Hinschauen auf sie. Hoffnungslose Ergebung und beseligendes Hoffen vereinen sich im sehnenden Aufblick zu Gott, der Ruhe und Entzücken spenden kann. Erhaben wie die hohe Empfindung ist immer die Sprache, voll rhythmischer Anmut und stilisierter Bildhaftigkeit, beglückend das Gefühl des Entsagenkönnens und der Friedenssehnsucht, freundlich verstehend der Zuspruch an den liebenden Mitmenschen, der lieber lächeln und vergessen als klagen soll, in einem formschönen Sonett, dem die entschwebenden Worte „remember" und „far away" einen elegischen Zauber geben: Remember me when I am gone away, Gone far away into the silent land, Then you can no more hold me by the hand, Nor I half turn to go, yet turning stay. Remember me when no more day by day You tell me of your future that you plann'd: Only remember me; you understand It will be late to counsel then or pray. Yet if you should forget me for a while And afterwards remember, do not grieve: For if the darkness and corruption leave A vestige of the thoughts that I once had, Better by far you should forget and smile Than that you should remember and be sad. Das Suchen nach Schönheit in fernen Welten inmitten einer durch Technik und Naturwissenschaft mechanisierten, in ihrem Glauben ins Wanken geratenen Zeit erfüllte das Gesamtwerk dessen, der die unmittelbare Verwirklichung einer Steigerung des Lebensgefühls durch Schönheit im Alltag auf allen Gebieten erstrebte: W i l l i a m M o r r i s (1834—1896). Auf keinem Gebiet ein Geist ersten Ranges, war er ein vielseitiger Anreger von einem weit über die Grenzen seines Landes hinausreichenden Einfluß und zugleich der am meisten englische unter den Präraffaeliten. Ruskins berühmtes Kapitel über die Gotik erweckte den jungen Architekten Morris, der durch die Gründung einer Firma die praktische Arbeit auf allen Gebieten handwerklichen Schaffens beeinflußte und damit Schöpfer des modernen Kunstgewerbes wurde. Mittelalterliche Formen zauberten einen Hauch ferner Schönheit auf Buchdruck und Bucheinband, Teppiche, Gobelins, Tapeten, Stickereien, Glasmalereien ebenso wie die Damenmode wurden von präraffaelitischen Bildern beeinflußt, Kunstgewerbeschulen entstanden anderswo zur Verschönerung der Städte und der Wohnungen, eine ästhetische Bewegung ging von der mächtigen Anregung aus. Im Sinne Ruskins, der Kunstreform und Gesellschaftsreform zusammenbringen wollte, verwirklichte Morris in seinem ganzen Einflußbereich utopisch-radikale Ideen, da er nur in einem sozialistischen Gemeinwesen die Verwirklichung seiner Ideale für möglich hielt. Die spätere radikale Wendung des politischen Sozialismus freilich machte er nicht mehr mit. Versittlichung der Arbeit, Freude an der Arbeit, Öffnen der Augen und Herzen für alles Schöne, das die Welt zu bieten hat: das war das Ideal, dem der reiche Kaufmannssohn mit unermüdlicher Hingabe diente, und diesen Hintergrund muß man kennen, wenn man sein Dichten verstehen will. Der ihm befreundete Maler Burne-Jones sprach die romantische Liebe zum Mittelalter im präraffaelitischen Sinne aus, wenn er sagte: „Unter einem Bild verstehe ich einen schönen romantischen Traum von etwas, was niemals war und niemals sein wird, in einem Land, das niemand beschreiben oder aus der Erinnerung wachrufen, sondern das man nur ersehnen kann, in dem aber göttlich schöne Formen leben." Freude am ritterlichen Mittelalter, 31 Die Stimmen der Meister
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VI. Streben nach Ausgleich: das „viktorianische Kompromiß"
an Abenteuern, Märchen und Traumgesichten spricht aus vielen Romanzen, mit Wohllaut, Rhythmus und einer Freude an alten Stilformen, letzthin aber mehr um des Schönheitssuchens willen als mit echter seelischer Verlebendigung der alten Zeit nach Art der dramatischen Wucht ihrer Balladen. Lodernde Auflehnung und Knappheit des Erregungsausdrucks liegen nicht im Wesen dieses Schönheitskünders, sondern mehr epische Ruhe; er liebt die breiten, satten Bilder in seiner Malerei und in seiner Dichtung, ein langatmiges, bisweilen sogar langweiliges Schwelgen in Formschönheit, umstrahlt von männlicher Sicherheit. Chaucer und den Arthur-Erzähler Malory, Froissart und alte Legendensammlungen las er mit dem Freunde Burne-Jones, der ihn auch in die skandinavische Mythologie einführte. Die berühmteste Leistung der „Keimscott Press", wie Morris seine Kunstdruckerei nannte, war eine illustrierte Folio-Prachtausgabe Chaucers. Aus diesen Neigungen und Studien erwuchs das dichterische Hauptwerk, die Rahmenerzählung The Earthly Paradise (Das irdische Paradies, 1868—70), in der Zeitgenossen Chaucers Geschichten erzählen wie die altvertrauten CanterburyPilger. Ein nordischer Edelmann, der mit seinem Vater lange in Byzanz gelebt hat, findet in dem Alltag seiner düsteren Heimat kein Genüge mehr und sehnt sich abenteuerfroh nach dem blühenden, von unsterblichen und in jugendlicher Unschuld lebenden Menschen bewohnten „Irdischen Paradies" im Westen, von dem Kunde zu ihm gedrungen ist. Als die Pest über sein Land fällt, segelt er mit einigen Genossen aus. Allerlei Irrfahrten führen das Schiff auf Inseln mit ganz gewöhnlichen Sterblichen, zu harmlosen Menschen, die den Fremden göttliche Verehrung bezeigen, aber auch zu gefährlichen Kannibalen. Immer weiter treibt sje ihr Verlangen nach dem Land der Unsterblichkeit, bis sie schließlich als müde Greise auf eine anmutige Insel zu griechischen Auswanderern kommen, die noch ganz in den Sitten ihrer Heimat leben und die Boten aus einer fremden Welt gastfreundlich aufnehmen. Ein Jahr hindurch treffen sich die glücklichen Inselbewohner zu Ehren der Fremdlinge mit diesen zweimal im Monat zu einem Fest, das jedesmal durch eine Erzählung beschlossen wird. So entstehen vierundzwanzig Erzählungen in einem Blumengewinde um die zwölf Monate, und die einleitende Rahmenerzählung kommt hinzu. Antike und Mittelalter begegnen sich: die Griechen erzählen von ihrer alten Heimat, die Nordmänner von den Sagen des Nordens, ein schwäbischer Priester steuert die Sage von Tannhäuser und dem Venusberg bei. Vergessen ist schließlich das frevelhafte Jagen nach der Unsterblichkeit; der Sinn des Lebens und des Todes wird verstanden, in der Dauer der Poesie erkennt man die Unsterblichkeit, das irdische Paradies. Chaucers Versformen beherrschen die Erzählungen, die fünf- und viertaktigen Reimpaare, an seine Sprache klingen altertümelnde Worte und sogar alte Silbenzählungen an. Ein schöner Vorspruch in der siebenzeiligen „königlichen" Strophe Chaucers (Rhyme royal) leitet das Ganze ein: Of Heaven or Hell I have no power to sing, I cannot ease the bürden of your fears, Or make quick-coming death a little thing, Or bring again the pleasure of past years; Nor for my words shall ye forget your tears, Or hope again for aught that I can say, The iale singer of an empty day. Hier haben wir den Schlüssel zu dem ganzen Lebenswerk dieses Dichters: die schwere Last des Daseins kann er mit seinen Versen nicht wegnehmen, unmittelbare Hilfe in den Nöten vermag die Kunst nicht zu leisten, wohl aber mittelbare durch Hinkehr zu „names remembered", die nie sterben, zu den Taten und Menschen der Vergangenheit, zu der Schönheit, die uns über den Alltag erhebt: r
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The heavy trouble, the bewildering care That weighs us down who live and earn our bread, These idle verses have no power to bear; So let me sing of names remembered, Because they, living not, can ne'er be dead, Or long time take their memory quite away From us poor singers of an empty day. Das ist die bescheidene Aufgabe des „idle singer of an empty day"; nicht Heldentaten kann er selbst verrichten, wie schmerzhaft der Refrain der letzten Strophe kündet, wohl aber mit seiner Zauberkraft das Fenster öffnen zum Blick auf das Helle und das Glück, und damit leistet er Hohes für die Menschheit. Chaucers Hilfe hierfür erfleht der Dichter in dem ganz gleich gebauten Nachwort (Envoy). Chaucer gibt uns das Weltgetriebe selbst; seine Erzähler sind Charaktere aus Fleisch und Blut, er fühlt mit ihnen, sein sonniger Humor und sein Realismus spenden Leben. Morris läßt seine Berichterstatter farblos im Hintergrund; sein Vorhaben ist der Zauber der Erzählungen selbst, die schwermütig-weiche Stimmung, die entschwundene Pracht der mittelalterlichen Welt und Natur, die Schönheitssattheit einer Traumwelt, die uns selbst in das Träumen entrücken soll. Die einer altfranzösischen Prosaromanze nachgedichtete Augusterzählung von Ogier dem Dänen, eins der schönsten Stücke, mag als Andeutung dieser Erzählkunst mit ihrem behaglich-plaudernden Ton und ihren archaisierenden Anklängen dienen. Within some Danish city by the sea, Whose name, changed now, is all unknown to me, Great mourning was there one fair summer eve, Because the angels, bidden to receive The fair Queen's lovely soul in Paradise, Had done their bidding, and in royal guise Her helpless body, once the prize of love, Unable now for fear or hope to move, Lay underneath the golden canopy; And bowed down by unkingly misery The King sat by it, and not far away, Within the chamber a fair man-child lay, His mother's bane, the king that was to be, Not witting yet of any royalty, Harmless and loved, although so new to life. Einsam sitzt der um die Gattin trauernde König an der Wiege des Kindes, bis er beim fahlen Kerzenschimmer entschlummert. Da kommen sechs Feen an die Wiege des kleinen Ogier und spenden ihre freundlichen Gaben: Furchtlosigkeit beim Eintreten für alles Gute soll ihm beschieden sein, Kriegsruhm, Glück in Gefahr, feine Sitte, Frauenliebe und zuletzt, wenn das Leben ausgekostet ist, das Glück am Busen der sechsten Fee in ihrem seligen Blumenland. Ogier wächst heran zu dem strahlendsten Ritter, Macht und Ehre fallen ihm zu, Liebe und Eheglück, die Geschenke der Feen werden herrlich erfüllt. Dann sehen wir den alt gewordenen Kämpen im wilden Seesturm, der einen der Gefährten nach dem andern dahinrafft, auf dem Schiff, das wie von einer Riesenhand an den Magnetfelsen gezogen wird, wo er nach Schiffbruch und Hungersnot einsam landet. Von dem wogenumspülten Felsen niederblickend, singt er seine eigene Totenklage. Er ist bereit, aus dem Leben zu scheiden. Da strömt seltsames Licht durch die Mondnacht, der Wind trägt seinen geflüsterten Namen an sein Ohr, er wandelt dem Licht entgegen und erblickt am andern Ende der öden Insel einen goldgezierten Palast inmitten grüner Matten und 31'
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VI. Streben nach Ausgleich: das „viktorianische Kompromiß"
sommerlich blühender Bäume. Der Lebensmüde steigt an den wrackbedeckten Strand hinab, wo er ein Boot mit Kissen findet, das ihn ruderlos in ein stilles Gewässer und zu einem blühenden Land trägt. Im Halbschlummer fühlt er, wie sanfte Hände sich auf seine Brust legen, und eine süße Stimme fragt, warum er so lange ausgeblieben sei in Kampf und Gefahr. Ein Kuß berührt seine Stirn, er fühlt einen Ring an seinem Finger, die Augenlider fallen ihm zu. Die Gegend erscheint dem Erwachenden wie ein Paradies, ihre schöne Gebieterin-ist jene sechste Fee an der Wiege, Morgana genannt, das Land ist Avalion, in dem er mit der Geliebten die Herrschaft teilen soll. Sie führt den Zögernden, der immer noch an die Nöte der Erde denkt, zu dem Thron in ihrem wundersamen Haus, wo er viele längst totgeglaubte Männer findet. Da gibt es keinen Gedanken an Unrecht, keine Todesfurcht, kein ungestilltes Verlangen, nur Liebesglück ohne Liebespein. Einmal noch, hundert Jahre später, kehrt Ogier, dessen Name in der Welt zu verblassen droht, in jugendlicher Kraft zu den Menschen zurück, in das Frankenland, wo Aufruhr und Krieg wüten. In Paris liest er in einem Buch die Heldentaten wohlbekannter Männer, der Paladine Karls des Großen, seine eigenen schon verblaßt und mit falschen Zutaten ausgeschmückt. Als „alter Ritter" will er für die schöne junge Königin kämpfen. Ein altes Weib warnt die Königin; können die seltsamen Zeichen auf seinem Ring nicht auf die Hölle deuten? Als die Alte dem Schlafenden den Ring vom Finger zieht, wird seine Jugend in runzliges, grauhaariges Alter verwandelt. Die Königin gibt ihm hastig Ring und Jugend zurück, nachdem sie ihm unüberlegt ein Liebesgeständnis abzunötigen versucht hatte; es war unnötig, denn die Liebe des Ritters wächst von selbst. Der bei Rouen kämpfende König fällt in der Schlacht, Ogier rettet das Land und wird zum König ausgerufen. Er soll die Königin heiraten. Mitten in seinem Herrscher- und Liebesglück hört er, der die Seligkeit von Avallon vergessen hat, seinen Namen nennen: die Fee Morgana steht vor ihm, um ihn zurückzuholen. Auf ihr Geheiß bekleidet er sich mit dem Königsmantel und den Emblemen Karls des Großen; auf dem Schiff, das in der goldenen Sonne die Seine hinunterfährt, vertauscht sie die Krone Karls mit der Wunderkrone für ihn, der erneut alle irdischen Sorgen vergessen und in ewiger Freude und Jugend in Avallon weiterleben soll. Wie ein Traum liegt das irdische Geschehen hinter ihm, Frankreich braucht das Schwert Ogiers nicht mehr. Ein schöner Traum ist an uns vorübergezogen, dumpfe Todesahnung ist dem Liebesglück gewichen: Weep, O Love, the days that flit, Now, while I can feel thy breath; Then may I remember it Sad and old, and near my death. Kiss me, lovel for who knoweth What thing cometh after death? Liebe und Tod in einer für die Präraffaeliten bezeichnenden Paarung, Liebesbangen und Liebesüberschwang, eingehüllt in Naturbilder von wilder Sturmespracht und strahlender Sommerlandschaft, Stimmungszauber durch schönheitsgesättigte Wortkunst. Mehr und mehr wandte sich Morris der nordischen Heldensage — in einer Beowulfnachdichtung — und der germanischen Götterwelt zu, der Wandlung alter Ordnungen als Urbild der Wandlung der Gesellschaftsideale, die dem sozialistischen Streben nach Weltverbesserung nahelag. "Sigurd the Volsung and the Fall of the Nibelungs" (1877) in pathetisch wallenden Langzeilen und mit archaischen Wendungen, Wortzusammensetzungen, scharfkantigen germanischen Einsilblern ist die stärkste aller Neudichtungen der eddischen Mythen, ein Epos von gewaltiger Wucht und stimmungstarker Sprachkunst.
Algernon Charles Swinburne
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Mit Algernon Charles Swinburne (1837—1909) treten wir bereits aus dem Klanggefüige der eigentlich viktorianischen Dichtung heraus. Er ist gewiß die zentrale Gestalt der spätviktorianischen Poesie, seine Kunst erwuchs auf dem Boden des präraffaelitischen Symbolismus und Formwillens, aber nicht mit mystischem Schönheitskult und stiller Sehnsucht nach „gotischer" Vergangenheit, sondern mit stürmischer Auflehnung, Naturekstase, Leidenschaft; nicht mehr fortschrittsgläubig und optimistisch, sondern selbstquälerisch und pessimistisch. Er überwindet die bürgerliche Enge in einer Wendung auf das Universum mit seinen Elementarkräften, er lehnt sich auf gegen die kleine Welt, die ihn umgibt, und drängt hinaus in das Kosmische und in eine Neuwertung der Lebenswerte. Er ist einer von jenen Einsamen, die sich lieber den Elementen, der Tierwelt, der ganzen Menschheit als den einzelnen Menschen zuwenden, weltscheu trotz weltmännischen Verkehrs, maßlos in Liebe und Haß, im Träumen und Handeln, mit dem alten Wikingerblut in den Adern, von einer fast urweltlichen Liebe zum Meer, dabei aber ein Verehrer griechischer und romanischer Kunst und feinnerviger Freund der Form. Man kann ihn vielleicht den größten Meister der dichterischen Formkunst nennen, den England aufzuweisen hat. Nicht Ideentiefe, nicht Klärung ist sein Element, sondern Formekstase und Musikalität. Die Vorläufer des französischen Symbolismus stehen ihm nahe, Klangvirtuosen von der Art Baudelaires, auf den er ein schönes Erinnerungsgedicht schrieb und dessen „Fleurs du Mal" mit ihrer pessimistischen Grundstimmung ihn ansprachen. Es ist die Nachfolge von Keats, der einmal gesagt hat: „Ich schaue schöne Ausdrücke an wie ein Verliebter", aber auch die Nachfolge William Blakes, dem Swinburne eine Studie widmete, des Revolutionärs dichterischer, gesellschaftlicher und moralischer Ordnungen seiner Zeit. Paul Verlaine beginnt seinen „Art Poétique" mit dem Ruf: „De la musique avant toute chosel" Es ist kein Zufall, daß gerade ein Dichter wie Stefan George diese Lyriker aus England und Frankreich zum Nachschaffen in deutschen Versen bevorzugte und ihre Kunst als die Wiedergeburt der Poesie in Europa bezeichnete. Wortmusik erklingt in dem entzückenden, von Stefan George vollendet nachgeschaffenen lyrischen Stück A Bailad of Dreamland (Eine Ballade vom Traumland) mit der für den Dichter so bezeichnenden Traumsehnsucht : I hid my heart in a nest of roses, Out of the sun's way, hidden apart; In a softer bed than the soft white snow's is, Under the roses I hid my heart. Why would it sleep not? why should it start, When never a leaf of the rose-tree stirred? What made sleepflutterhis wings and part? Only the song of a secret bird. Lie still, I said, for the wind's wing closes, And mild leaves muffle the keen sun's dart; Lie still, for the wind on the warm sea dozes, And the wind is unquieter yet than thou art.
Ich barg mein Herz in ein Nest von Rosen, Abseits vom Sonnenweg, ferne vom Rain; Kein Pfühl von Schnee könnt' es linder umkosen; Mein Herz, unter Rosen bettet' ich's ein. Was schlief es dann nicht, gab sich nicht drein, Wo nicht ein Blatt an den Rosen schwang? Was scheuchte den Schlaf von ihm noch allein? Nur eines heimlichen Vogels Gesang. Lieg still, sprach ich, denn kein Sommerglosen, Kein Lufthauch dringt durch das Laub herein, Und die Winde, die mehr noch als du ruhlosen, Ruhn auf dem Meer mit dem warmen Gestein.
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VI. Streben nach Ausgleich: das „viktorianische Kompromiß"
Does a thought in thee still as a thorn's wound smart? Does the fang still fret thee of hope deferred? What bids the lids of thy sleep depart? Only the song of a secret bird. The green land's name that a charm encloses, It never was writ in the traveller's chart, And sweet on its trees as the fruit that grows is, It never was sold in the merchant's mart. The swallows of dreams through its dim fields dart, And sleep's are the tunes in its tree-tops heard; No hound's note wakens the wildwood hart, Only the song of a secret bird. Envoy. In the world of dreams I have chosen my part, To sleep for a season and hear no word Of true love's truth or of light love's art, Only the song of a secret bird.
Macht eines Gedankens Dorn dir noch Pein, Umhallt dich noch wähnender Hoffnung Fang? Was läßt deinen Schlaf noch so lidwach sein? Nur eines heimlichen Vogels Gesang. Den Namen des taufrischen grünen Gosen, Man schrieb ihn in Karten nie hinein, Nie wurden verkauft in Marktes Toseh Früchte so süß, wie dort gedeihn. Von Schlaf nur weben die Wipfel im Hain, Traumschwalben nur ziehen am dämmrigen Hang, Kein Bellen erweckt den Wildhirsch, o nein: Nur eines heimlichen Vogels Gesang.
In der Welt der Träume dies Teil ist mein; Da hör' ich kein Wort einen Sommer lang Von wahrer Liebe, von falschem Schein — Nur eines heimlichen Vogels Gesang.
Ruhe und Windstille unter dem Rosenbusch, erträumter Flug unsichtbarer Schwalben, sanfte Schlafweise eines einsamen Vögelchens: das ist die Stimmung, und da sie unverändert und ungestört bleibt, sind auch die Reime aller Strophen unverändert; denn das Klangliche ist das Primäre, das die Gefühle erst hervorruft. In melodischem Auf und A b gleiten die vier ersten Zeilen jeder Strophe mit abwechselnd klingendem und stumpfem Reim, kunstvoll im Reimwort angelehnt folgt die zweite Strophenhälfte, die die Stille zeichnet und in den durchweg stumpfen Versausgängen gewissermaßen den Finger mahnend vor den Mund legt. Die das Säuseln und Rauschen malenden Alliterationen (besonders in Strophe II), die gespaltenen Reime (I, 3; III, 3), der Parallelbau (I, x und 4, 5; II, 1 und 3, 5 und 6; III, 2 und 4): das alles ist Hingabe an das gedankenfreie Genießen der schönen Ruhe, wie es der „ E n v o y " ersehnt, ein sanftes Schaukeln auf Rhythmus, Worten und Reimen, ein Musterstück musikalischer Klangeinfuhlung. Eine Überfülle von Beispielen könnte aus den „Gedichten und Balladen", aus den herrlichen, dem italienischen Befreiungskampf gewidmeten „Liedern vor Sonnenaufgang" und andren Sammlungen angeführt werden: die kunstvolle Takt- und Reimsymmetrie mit Wortantithesen, eine fast überspitzte Formkunst der Stab- und Endreime in A Match-, das Lied der Liebe At Parting mit dem hurtigen anapästischen Versanfang, dem mild-gleitenden daktylischen Versende und dem echoartigen Strophenausklang; das hämmernd dreinschlagende A Watch in the Night mit dem abgewandelten biblischen Wächterruf (Jesaia 21, 11); das Klingen und Windesrauschen in Itylus, elegisch und trübe in weichen Rhythmen, Aedon-Philomele in ihrem unaufhörlichen Klagelied auf den in grausigem Irrtum von ihr selbst getöteten
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Sohn, ohnmächtiges Seufzen und Fragen und Nichtvergessenkönnen. Aber auch Frohsinn kann in den Klängen liegen, wie das reizende A. Child's Lauster (Kinderlachen) zeigt: All All All All
the bells of heaven may ring, the birds of heaven may sing, the wells on earth may spring, the winds on earth may bring All sweet sound together; Sweeter far than all things heard, Hand of harper, tone of bird, Sound of words at sundawn stirred, Welling water's winsome word, Wind in warm wan weather,
One thing yet there is, that none Hearing ere its chime be done Knows not well the sweetest one Heard of men beneath the sun, Hoped in heaven hereafter;
Soft and strong and loud and light, Very sound of very light Heard from morning's rosiest height, When the soul of all delight Fills a child's clear laughter. Golden bells of welcome rolled Never forth such notes, nor told Hours so blithe in tones so bold, As the radiant mouth of gold Here that rings forth heaven. If the golden-crested wren Were a nightingale—why, then, Something seen and heard of men Might be half as sweet as when Laughs a child of seven.
Der Stabreimüberreichtum, z. B. I, 9 und 10, mag dem gekünstelt erscheinen, der das Kindlich-Spielerische in solchem Geklingel nicht empfindet. Hier sind kindesnahe Bilder von Licht und Wärme, von Vöglein und Wässerchen, von Zaunkönig und Nachtigall, von Glöckchen und Harfenklang, hier ist lustiger, hüpfender Rhythmus, hier sind nach je vier hastenden Versen kurze Atempausen, so daß man sich selbst mit dem Siebenjährigen herumwirbeln und lachen fühlt. Das bezeichnendste Beispiel hoher Formkunst ist das lyrische Drama Atalanta in Caljdon, die Geschichte von dem kalydonischen Eber und Meleager (Ilias I X und Ovids Metamorphosen VIII), griechisch im Handlungsrahmen, ungriechisch in der Überladung mit lyrischer Stimmung und in der verzweifelten Resignation, der Auflösung und fatalistischen Lebensverneinung des Schlusses. Die Chorlieder gehören zu den herrlichsten Perlen lyrischen Stimmungsausdrucks. Majestätischer Fatalismus erfüllt auch des Dichters echteste Naturempfindung, das Erleben des Meeres. Ein einsamer, verlassener Garten, A. Forsaken Garden, liegt am Meer, verwildert und vom Seewind geschüttelt, zwischen seinen Felsrändern mehr der Geist eines Gartens als ein wirklicher. Kein menschlicher Laut stört die Grabesruhe, auf die die brennende Sonne oder der stürmende Regen fallen. Der Ort ist von Liebe verlassen, wie Liebe immer verläßt und schmerzt und stirbt. Das Meer allein ist Bejahving, ist Kraft, weil es wild und zerstörend ist, keine Veränderung duldet, den Tod selbst besiegt. So klingt es aus: Here death may deal not again for ever; Here change may come not till all change end, From the graves they have made they shall rise up never, Who have left nought living to ravage and rend. Earth, stones, and thorns of the wild ground growing, While the sun and the rain live, these shall be; Till a last wind's breath upon all these blowing Roll the sea.
Hier tritt der Tod kein Leben mehr nieder, Kein Wechsel kommt, solang Wechsel noch kreist, Aus dem Grab, das man grub, erstehn sie nicht wieder, Wo nichts mehr lebt, was den Raub ihm entreißt. Fels, Erde und Dorne auf wildem Grunde, Bei Sonne und Regen, sie bleiben, bis jäh Auf sie alle, ein letzter Sturm aus dem Schlünde, Rollt die See.
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VI. Streben nach Ausgleich: das „viktorianische Kompromiß"
Till the slow sea rise and the sheer cliff crumble, Till terrace and meadow the deep gulfs drink, Till the strength of the waves of the high tides humble The fields that lessen, the rocks that shrink; Here now in his triumph where all things falter, Stretched out on the spoils that his own hand spread, As a god self-slain on his own strange altar, ' Death lies dead.
Bis sie träge sich hebt und die Klippen erstöhnen, Bis Terrassen und Matten der Meerschwall trinkt, Bis der Hochflut Wogen wüten und dröhnen Um den Fels, der wankt, das Land, das versinkt. In seinem Triumph dann, wo alles brach liegt, Auf der Beute hier, die er sich selbst darbot, Wie ein Gott, der am eignen Altar sich erstach, liegt Tot der Tod.
Die Sprache des Meeres hat kein Dichter vor ihm so tief verstanden und nachgeformt wie Swinburne. Das Meer war sein natürliches Element. Er liebte die meilenweiten Spaziergänge am Strand in Wind und Regen, er schwamm weit hinaus, er deklamierte begeistert beim Toben der wilden See. Das prachtvolle Naturbild By the North Sea (An der Nordsee) spricht von zwei düsteren Herren, die das Dasein des Nordseeanwohners bestimmen, Meer und Tod: Far flickers the flight of the swallows, A Land that is lonelier than ruin; Far flutters the weft of the grass A sea that is stranger than death; Spun dense over desolate hollows, Far fields that a rose never blew in, More pale than the clouds as they pass: Wan waste where the winds lack breath; Waste endless and boundless and flowerless, Thick woven as the web of a witch is Round the heart of a thrall that hath sinned, But of marsh-blossoms fruitless as free; Whose youth and the wrecks of its riches Where earth lies exhausted, as powerless Are waifs on the wind. To strive with the sea. These twain, as a king and his fellow, The pastures are herdless and sheepless, No pasture or shelter for herds: Hold converse of desolate speech: And her waters are haggard and yellow The wind is relentless and sleepless, And crass with the scurf of the beach: And restless and songless the birds; And his garments are grey as the hoary Their cries from afar fall breathless, Wan sky where the day lies dim; The wings are as lightnings that flee; And his power is to her; and his glory, For the land has two lords that are deathless: As her unto him. Death's self, and the sea. Ein mit impressionistischen Mitteln entworfenes Bild von Öde und Trostlosigkeit, kurz hingetupfte Eindrücke, gleitende Versfüße im Takt der den Strand bespülenden Wellen, erstorbenes Leben, aus dem Übermaß der auf ,,-less" ausgehenden Eigenschaftswörter uns entgegenstarrend — der Weg zum Symbolismus. Hager, gelb, zerschunden vom grindigen Strand die See, grau gekleidet wie der alte Himmel an trüben Tagen der Tod: so sitzen die beiden Gewaltigen in einsamer Zwiesprache und danken einander für die gegenseitigen Gaben einer schauerlichen Liebe. Jahr für Jahr spendet das Meer Vernichtung; der Durst seines Herzens aber wird nie gestillt, Schiffs- und Menschenwrack treibt herum, befreite Seelen tanzen mit Wellen und Wind, unzählbare ganze Nationen, deren Schicksal erfüllt ist. Das Herz der Gewässer ist grausam, die Macht der Wogen ist für die Schiffe das, was Feuer für den Brennstoff ist, die Wogen sind geschlossene Kampfreihen, die selbst der Sturmwind nicht trennen kann. Krieg überall und ewigl Dann mit Wechsel des Versmaßes zu monotoner Breite, mit getürmten Worten und Bildern aus weiten Fernen die unermeßliche Ausdehnung dieser harten Verlassenheit:
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Miles, and miles, and miles of desolation! Leagues on leagues on leagues without a change 1 Sign or token of some eldest nation Here would make the strange land not so strange. Time forgotten, yea since time's creation, Seem these borders where the sea-birds range. Slowly, gladly, full of peace and wonder Grows his heart who journeys here alone. Earth and all its thoughts of warmth sink under Deep as deep in water sinks a stone. Hardly knows it if the rollers thunder, Hardly whence the lonely wind is blown. Ruhiger ist die weite Wasserfläche, Friede und Erschauern kommt über die Seele des Einsamen, der sie erlebt. Das Land ist wie das Antlitz eines von Sorge und Wechsel geschüttelten Menschen, ist Unruhe, Mühe, Sünde, Kraft und Schwäche, Zweifel und Untergang. Hier aber rollt es majestätisch hinaus und herein und wieder hinaus, hier ist die Grenze von Leben und T o d nicht sichtbar, hier ist Ausruhen von Freud und Leid, hier ist der dichterbesungene Hades, hier ruhen Helden aller Zeiten, hier ist das Bild der Antikleia gegenwärtig, die aus Sehnsucht nach dem so lange auf Seefahrt ausgebliebenen Sohn Odysseus starb. Aber der Griechen Preis ihrer Seehelden und Göttergefilde ist zu weich; der geisterlose Hades dieses Nordmeeres ist schauerlicher: All too sweet such men's Hellenic speech is, All too fain they lived of light to see, Once to see the darkness of these beaches, Once to sing this Hades found of me Ghostless, all its gulfs and creeks and reaches, Sky, and shore, and cloud, and wash, and sea. Freund, so heißt es in einer andern Seebeschwörung (In the Water), das Leben ist ein Zufluchtshafen für den Winter, ein Schutzdach für Zeiten, wenn die Nacht die Helle des Tages überwältigt; hier auf den Wassern aber ist Erfüllung meines Verlangens, Ruhe und Heimat für das Herz, das nach den Schaumkämmen dürstet. D e s Dichters letzter Wille ist, nicht in der Erde, sondern in der See begraben zu werden (Ex Voto). Von der angelsächsischen Seefahrerelegie ist dem Engländer das kämpferische Erleben der Härte und Wildheit des Meeres gegenwärtig bis zu seinem großen Lobpreiser Swinburne und dem heutigen stärksten Seedichter John Masefield.
VII. Neue Kräfte I. V i k t o r i a n i s c h e r A u s k l a n g In seinem Heilsarmeedrama Major Barbara (III. Akt) läßt Bernard Shaw den schwerreichen Kanonenkönig Undershaft sagen: Da liegt der Fehler unsrer heutigen Welt: sie wirft überlebte Dampfmaschinen und Dynamos zum alten Eisen, will das aber nicht tun mit ihren alten Vorurteilen, ihrer alten Moral, ihren alten religiösen und politischen Einrichtungen. Was kommt dabei heraus? Bei Maschinen bewährt es sich; aber in der Moral, der Religion und Politik ergibt sich eine Verlustrechnung, die die Welt von Jahr zu Jahr dem Bankrott näher bringt.
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Gerade vorher hat seine Tochter ihm bekannt: Ich stand auf einem Felsen, den ich für ewig hielt, und da schwankte und zerbröckelte es plötzlich unter mir ohne ein Wort der Warnung. Der Felsen, den die prächtige Heilsarmee-Majorin meint, war das Gesamtgefüge der für unantastbar gehaltenen Lebensordnung und Moral. Nun spricht der weltkluge Vater von Verlust und Bankrott im Falle des starren Festhaltens an den alten Maßstäben, und sie muß ihm recht geben; religiöse Inbrunst und praktische Tatkraft müssen zusammengehen. Das Abstandsgefühl von einer als erfüllt empfundenen Kulturepoche wird uns deutlich. Das Durcheinander der Stimmen, das dem viktorianischen Zeitalter sein Gepräge gibt, läßt eine formelhafte Kennzeichnung nicht recht zu und hat gerade in dem Widerstand gegen den mechanisierenden Zeitgeist zu dem gewaltigen Reichtum an Gedanken und Formen geführt, der diese Periode als Kunsterneuerung in die Nachbarschaft der elisabethanischen Renaissance rückt. Das darf aber nicht blind machen gegen die gemeinsamen Züge in der Haltung zum Leben, die eine gewisse Enge und nationale Kraft zugleich bedeuten. Matthew Arnold hat in seinem Buch „Kultur und Anarchie" (1869) am schärfsten das Philistertum, seine puritanisch überschätzte Moral und Wohlanständigkeit sowie die liberale Routine erkannt, und John Stuart Mill hat die Unterwerfung unter die Tyrannei der öffentlichen Meinung als die größte Unfreiheit gegeißelt. Aber auch hier handelt es sich ja um humanistischen Widerspruch, der dem Gesellschaftsgefüge zunächst nichts anhaben konnte. Die Gegenlehren waren stark und zukunftsträchtig, wurden aber in der Bürgerkultur des Alltags, der allgemeinen Vernünftigung des Lebens, nicht verwirklicht. Die Überzeugung von der Beständigkeit der erreichten Ordnungen, der religiös-moralischen Grundlagen der englischen Bürgerlichkeit, der Berechtigung des materiellen Wohlstandes und Erfolges als Zeichen der Gnade für ein Sichbewähren in der Welt paarte sich leicht mit dem durch die Entwicklungslehre gestützten Fortschrittsglauben und Optimismus. So ist trotz aller inneren Spannung doch eine gewisse Statik das Kennzeichen der gesellschaftlichen Haltung. Diese Sicherheit gerät gegen das Ende des Jahrhunderts ins Wanken, das große Fragen beginnt. Politisch lenkten Künder des Empiredenkens wie Dilke, Seeley, Froude, lenkte namentlich die imperialistische Stimmung, die im Burenkrieg ihren Höhepunkt fand, das Interesse auch der Literatur von der Londoner Sphäre auf die Peripherie des Weltreichs, nach Indien bei Kipling, nach Südafrika bei Olive Schreiner, nach Irland bei Yeats, George Moore, Lady Gregory, Synge; sozialpolitisch reichte die Ideologie des Bürgertums für die organisch zu Masseneinheitsformen weitergeschrittene Praxis nicht mehr aus, die soziale Unruhe wuchs, Krisen aller Art bedrohten das Leben, und die großen Erschütterungen unseres Jahrhunderts haben die Kulturproblematik vollends enthüllt. Es ist ein Zeichen für die starke Geschlossenheit des viktorianischen Zeitalters, daß die neuen Probleme und ihre Lösungen immer wieder an ihm gemessen werden, ja daß man vielfach die geistigen Bewegungen als eine Auseinandersetzung mit ihm empfindet, mit Ablehnung oder Wiederanknüpfung, mit dialektischem Suchen nach Synthese aus These und Antithese. Die hochmütige Ablehnung der überkommenen Werte bei der jungen Generation im ersten Viertel unseres Jahrhunderts ist längst einer ernsteren Prüfung nach hoffnungsloser Weltentzauberung und aus neuer Sehnsucht gewichen. Die Lehren der großen Viktorianer sind lebendig und haben auch die Welle einer überfeinerten Dekadenz überlebt, die in Oscar Wilde ihre Hauptausprägung fand und die in Schönheitsvergottung und Persönlichkeitsverherrlichung endete. Protest gegen die überkommene Wertordnung, gegen die alten Inhalte und
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Formen, ein Suchen nach neuen Haltepunkten und Gestaltungen: das sind die Kennzeichen der geistigen Bewegungen seit den neunziger Jahren — ein unerfülltes, durch das gewaltige äußere Geschehen schließlich vor die letzten Fragen der menschlichen Existenz gestelltes Zeitalter. Eine Darstellung dieser Bewegungen der neuesten Zeit liegt nicht in der Aufgabe dieses Buches. Es ist aber auch schwerer als für weiter zurückliegende Epochen, Meisterwerke als umfassende Ausprägungen einer geistigen Haltung herauszuheben, weil der mangelnde zeitliche Abstand eine anerkannte Wertung erschwert und weil Strömungen, in denen wir noch stehen, jeder Linienführung etwas Subjektives verleihen. Immerhin ist es möglich und fruchtbar, einige bezeichnende Beispiele großer künstlerischer Gestaltung im Roman, im Drama und in der Versdichtung auszuwählen und in ihren geistigen Raum zu stellen. Der literarische Aktivismus, der neue Grundlagen des Seins und neue Ausdrucksformen sucht, soll dabei den Auswahlgesichtspunkt abgeben. 2. N e u a u f b a u im Roman Swlnburnes Dichtung mit ihrem Hinausgreifen in das Universum ließ uns schon den Übergang zu einem neuen Zeitraum empfinden, wenn auch seine stürmische Auflehnung gegen Konvention und selbstzufriedenen Optimismus nur Abglanz der persönlichen Lebenskurve einer Herrennatur war — ähnlich wie bei Byron — und über eine negative Gegensätzlichkeit, über Weltverneinung nicht hinauskam. Zu ihm gesellt sich ein andrer großer Dichter, der eine positive Lebenslehre zu künden hat und den Menschen mit einer Philosophie der „Erde" in die natürlichste aller Bindungen stellt, sein Freund und Antipode Meredith. Das „ L e s e n der E r d e " : G e o r g e Meredith (1828—1909) „Pan und Thalassius" heißt ein lyrisches Stück aus Swinburnes Spätzeit. Die Namen können auf die beiden Dichterfreunde angewendet werden: Swinburne — Thalassius, Sänger des Meeres, und Meredith — Pan, Verkünder der erd- und naturgebundenen Gesetzmäßigkeit. Merediths Ruhm beruht auf seinen Romanen. Sie können aber nicht voll verstanden und namentlich geistesgeschichtlich nicht recht gewürdigt werden ohne einen Blick auf die Gedankenlyrik des Dichters, in der wir die Abkunft von Wordsworth und Shelley erkennen. Ein tiefes Eindringen in das Mysterium der Natur spricht aus dieser Lyrik, die beständig nach Sinnbildern sucht, um das Unaussprechliche in Worte zu fassen; eine an den Mythus heranreichende Weltschau, die sich in einem an die Präraffaeliten erinnernden Symbolismus ausspricht und den Entwicklungsgedanken mit einer sittlichen Allbeseelung durchstrahlt. Der Südwestwind ist die Stimme der Natur, die Erde ist die Allmutter, die keinen Verlust, sondern nur Notwendigkeit kennt, die Lust der Bewegung, das Entzücken des Daseins. Nicht das allen Wesen innewohnende Leben ist gemeint wie in Wordsworths Naturharmonie, sondern die von der Erde ausstrahlende, den Menschen zur Tat rufende Vitalität, die Freude an der Energie. Hört sie, die große Mutter Natur, hört ihr Lachen! Wer kann glauben, sie sei tot? Nur ein verkümmertes Gehirn. Für uns kann1 sie nie sterben — empfangt ihren Kuß! (Ode an den Geist der Erde im Herbst.) Wordsworths kontemplative Haltung und Freude an der Zurückgezogenheit ist hier dem Gefühl, daß das Leben der Natur auf den Menschen selbst überspringt, und der Freude an der Energie, auch am Getriebe der Stadt gewichen. Die Lebenskraftlehre Bernard Shaws, der prophetische Ausdruck des Lebensgefühls der Massen und der Städte bei dem Amerikaner Walt Whitman nähren sich aus diesen Urenergien der Natur, der Erde. Der moderne Vitalismus liegt hier vorgebildet, neues Kraftbewußtsein sieht neue Aufgaben.
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Als Evolutionist kennt Meredith die Verbundenheit des Alls mit dem Menschen, liebt er das Leben, glaubt er an ein geistiges Prinzip des Guten und Hohen in der Natur. Der Gesellschaftslehre des philosophischen Positivismus, die von den drei Entwicklungsstufen der Menschheit, der theologischen, metaphysischen und positiven spricht, stellt er seine Dreieinigkeit der menschlichen Natur an die Seite: Blut meint die Triebe, Hirn den Verstand, Geist die Harmonie beider. Each of each in sequent birth, Blood and brain and spirit, three (Say the deepest gnomes of Earth) Join in true felicity. Are they parted, then expect Some one sailing will be wrecked. Earth that triad is : she hides Joy from him who that divides ; Showers it when the three are one Glassing in her union. (The Woods of
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Aus der Vereinigung von Blut, Hirn und Geist entsteht das Gesetzmäßige und Echte, „Erde". Erde ist der Urzustand vor aller Trennung in Körper und Geist, ihr Geheimnis ist Wandel und Entwicklung. Erde ist hier tiefes Symbol, der „natura naturans" bei Spinoza ähnlich. Disharmonien sind gefährlich; bloße Körperkraft, bloße Hirnkraft, bloße Triebe sind schädlich, erst ihre Vereinigung ist fruchtbar und weiterwirkend für das dunkel gefühlte Ziel alles Erdenkampfes, die Höherentwicklung der Gattung. Geh zur Erde, lerne von ihr Maß, Gesetz und Schönheit; verliere dich nicht an dein Selbst, gib dich nicht nur den Gefühlen, auch nicht allein dem Willen hin; sei stark mit den Sinnen, ohne ihnen die Herrschaft zu lassen, lebe im Ganzen, fürchte den Tod nicht, der dich ja nur zur Erde zurückbringt wie alle andern Kinder der Allmutter, damit die Gattung veredelt wird. Das ist die neue und starke Lehre von den Elementarkräften, der Erdverbundenheit, der sich niemand entziehen kann. Das ist nicht mehr resignierendes Abklingen des Idealismus, sondern kraftvolle Förderung, Aufruf zum Leben und zur Tat, Erkennen der realen Gegebenheiten, „élan vital", „Life Force", Rückkehr zu dem einheitlichen Grund unsrer Existenz gegenüber einer individualistisch zerfallenen Zeit, neues Lebensgefühl. Die tiefere gedankliche Grundlage der nachviktorianischen Strömungen kann nirgends klarer erkannt werden als in Merediths Gedankenlyrik. Eine Rückkehr zur Natürlichkeit ersteht in dem Abenteuerroman R. L. Stevensons, in der Heimatkunst Thomas Hardys und seiner regionalistischen Nachfolger, in der imperialistischen Dichtung Kiplings, in der Antiromantik Shaws, in dem Neurealismus Masefields, in der Bewußtseinskunst des neuesten Romans und der Lyrik. Von dieser Erdenlehre leben die Romane Merediths, die Diener der Weltschau sein und das Thema menschlicher Bewährung stellen, die Gesetze des Lebens in der Naturgeschichte des Menschen zeigen wollen. So hat es der Dichter in einem Aufsatz über den „Begriff der Komödie" gesagt. Epische Komödien will er bieten, den über allen Wirrungen thronenden „komischen" Geist fühlen lassen, der sein „schräges Licht" als „Schwert des gesunden Menschenverstandes" über die irrenden Menschen gießt und sie dem Gelächter preisgibt, die große Weltironie, die jede Form der Egoismuskrankheit zerschlägt und nur die gesunde Mischung der natürlichen Lebenselemente — der „Erde" — bestehen läßt. Ein umfangreiches episches Werk entrollt die große menschliche Komödie. Der Egoist gilt mit seiner gedrängten Handlung, seiner Seelenanalyse und seiner fein abgetönten, abstrakten Sprache mit Recht als das
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Musterbeispiel der Kunst des komischen Scheinwerfers, entbehrt aber gerade durch die Virtuosität der Studie des seelischen Mechanismus des pulsierenden Lebens, das man in dem Roman sucht. Das erste und wohl auch gelungenste Werk, in dem die Merkmale der Kunst Merediths deutlich werden, ist bis heute das meistgelesene geblieben: The Ordeal of Richard Feverel (Richards Fevereis Feuerprobe, 1859). In dem in einer westenglischen Themsegrafschaft gelegenen Schloß Raynham lebt der reiche und stolze, feingebildete Sir Austin Feverel einsam und über die Welt grübelnd. Eine Liebesheirat mit einem unbedeutenden Mädchen endete mit tiefer Enttäuschung; die Gattin hinterging ihn mit einem freigebig in die Hausgemeinschaft aufgenommenen charakterlosen Dichterling, so daß der Schloßherr die Unwürdigen aus dem Hause jagen mußte. Seine aphoristische Lebensweisheit hat er in einem Büchlein veröffentlicht, das er „Die Pilgertasche" nannte in Erinnerung an die Taschenbücher mittelalterlicher Pilger. In seiner Zurückgezogenheit von der Welt gilt sein ganzes Sinnen und Fühlen nur dem Söhnchen Richard, dem er alles, was Erfahrving und Erziehungstheorie, Liebe, Geist und Macht geben können, angedeihen lassen will. Er soll von Schule und Hochschule, vom Einfluß der Masse ferngehalten und nur durch die besten Gelehrten erzogen werden. Sir Austins Neffe, der weltkluge, an der Neigung zu weltlichen Freuden gescheiterte Theologe Adrian Harley, leitet den Unterricht. In dem gastfreien Hause wohnen noch andre Verwandte, unter ihnen die älteste Schwester des Baronets, Frau Doria Forey, die den reichen Erben Richard als Gatten ihrer Tochter Cläre ausersehen hat. Alle Erziehungseinflüsse werden nach dem „System" des Vaters geordnet. Richards Spielgefährte ist sein Altersgenosse Ripton Thomson, der Sohn des herrschaftlichen Advokaten. Mit ihm tollt er herum, wildert auf dem Grundstück des Bauern Blaize und wird von dem Bauern, der die Jungen erwischt, mit der Reitpeitsche verprügelt. Richards Stolz ist aufs tiefste verletzt. Als er am Wegrande das Gespräch eines Kesselflickers mit einem von dem Bauern weggejagten Knecht belauscht, hört er, wie dieser Knecht mit dem Gedanken spielt, dem Bauern aus Rache den Heuschober niederzubrennen. Richard glaubt damit die Zeit für die eigene Rache gekommen; er gibt dem Knecht Geld, und in der Nacht können die beiden Jungen die Scheune brennen sehen. Die Sache kommt aber bald heraus, die jungen Burschen verraten sich durch ihre Erregung. Der Bauer merkt, wer hinter der Sache steckte, und der Baronet hat ungewollt die Szene beobachtet, als Richard und Ripton vom Fenster aus den Brand glossierten. Er beruhigt den Bauern mit Mühe und entschädigt ihn reichlich. Richard muß den schweren Gang tun, Blaize um Verzeihung zu bitten. „Ein Feverel soll um Verzeihung bitten! Oh, könnte ich doch nach eigenem Willen handeln!" Die Verzeihung wird nach einigem Widerstreben auch gewährt, als die hübsche junge Nichte des Bauern, Lucy Desborough, sich für den Missetäter einsetzt. Erst allmählich erfährt der Junge, daß der Vater von der Angelegenheit weiß. Beschämt gesteht er die Tat und sein Lügen ein und erhält liebevolle Verzeihung ohne ein Wort des Vorwurfs. Die sittliche Ordnung setzt sich von selbst durch, und der Baronet notiert in seinem Tagebuch: Der Geist erfaßt sein Glücksgefühl nur von einem Punkt aus: von dem höchsten Gipfel der Weisheit, von dem wir erkennen, daß die Welt wohl geordnet ist (Kap. 10). Riptons Freundschaft aber hat nach Sir Austins Meinung versagt, er wird nicht wieder nach Raynham eingeladen. In der „Pilgertasche" heißt es: Zwischen dem einfachen Knaben- und dem Jünglingsalter, in der Blütezeit, auf der Schwelle der Pubertät, gibt es eine selbstlose Stunde, die man die geistige Saatzeit nennen kann (Kap. 12).
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Das „System" verlangt überlegte Ausnutzung dieser Zeit. Richard wächst zu einem starken, blühenden Jüngling heran, in den Studien durch Adrian, in körperlichen Übungen durch einen Korporal gefördert, überall beliebt, aber, da er sich immer als Mittelpunkt fühlen muß, ohne jene weltbürgerlichen Gewohnheiten und Gefühle, die Jungen und Männer zusammenhalten, ohne daß man sich viel umeinander kümmert (Kap. 12). Zwischen enger Freundschaft und völliger Unterwerfung gibt es für seine Altersgenossen keine mittlere Linie. Der Vater will ihn zum Staatsmann und guten Christen heranbilden, liest mit ihm Geschichtswerke und Parlamentsreden und hält ihn zu herzstärkenden Gebeten an. Das „magnetische Alter" (Kap. 13), die Zeit der erwachenden Liebessehnsucht, bedarf besonderer Aufmerksamkeit. Richard muß seine dichterischen Ergüsse vernichten, ein paar angeblich verliebte Stubenmädchen werden aus dem Hause entfernt, die Cousine Cläre soll in ein Pensionat gebracht werden. Kein paarweises Herumschlendern, kein öffentliches Küssen. So etwas sollte ein Knabe nicht zu sehen bekommen. Wo immer Menschen verschiedenen Geschlechts zusammengewürfelt werden, benehmen sie sich töricht; wo es sich um wohlgenährte, ungebildete, wenig beschäftigte Menschen handelt, muß man das als selbstverständlich ansehen. Ich verlange nur Diskretion (Kap. 13). Diskretion gilt also auf Schloß Raynham. Richard selbst übt sie, als er einmal ungesehen durch Zufall Zeuge einer zarten Szene zwischen Sir Austin und der verwitweten Lady Blandish wird. Er ist jetzt achtzehn Jahre; mit fünfundzwanzig soll er heiraten, und der Vater wird reisen, um eine geeignete Lebensgefährtin für ihn zu suchen. „Ferdinand und Miranda" ist nach den unschuldigen jungen Menschen in Shakespeares „Sturm" das wundervolle, vom Zauber höchster Poesie umstrahlte 15. Kapitel betitelt, in dem der Held in der zur schönen Jungfrau herangeblühten Lucy, der Nichte des Bauern Blaize und Tochter eines gefallenen Marineoffiziers, das liebevollste und reizendste Geschöpf antriift. Die Nachricht von der Liebe der jungen Menschenkinder wird dem abwesenden Baronet hinterbracht. Als guter Erzieher macht er nicht dem Sohn, den er nach London kommen läßt, sondern sich selbst Vorwürfe: Er hatte sich mitten in der Krise des magnetischen Alters von Raynham fortgestohlen, und dies Mädchen vom Lande — wie Benson die zarte Lucy in seinem Brief genannt hatte — war das Ergebnis. „Es gibt Frauen in der Welt, mein Sohn. Sobald man ihnen begegnet, beginnt die entscheidende Prüfung. Wenn man sie erkennt, wird einem das Leben entweder zum Gaukelspiel oder, wie andre meinen, zu einer Segensgabe. Sie sind unsreFeuerprobe; sie gehören uns, ob wir sie lieben oder nicht" (Kap. 21). Die Frauen stehen in der Lebensphilosophie unsres Dichters als Verbündete des „comic spirit" den natürlichen Lebensprinzipien mit klarem Blick für die Aufgaben der Welt näher als die Männer; er wird zu einem mächtigen Künder echten Frauentums. — Das „System" muß die Liebesleidenschaft zertreten. Der Bauer Blaize wird dazu bewogen, die Nichte in ein Stift zu geben; Richard fügt sich in seiner Verehrung für den Vater. Er soll in London Zerstreuung und Vergessen finden. Das geht gut, bis er in der Hauptstadt der Geliebten wieder begegnet. Jetzt versinken alle Erziehungspläne vor der tiefen Liebe. Ripton mietet das junge Mädchen bei Frau Berry ein, die sich später als die alte Amme des Erben von Raynham entpuppt, Richard trennt sich unter falschem Vorwand von dem Vater, heiratet heimlich und verlebt glückliche Flitterwochen auf der Insel Wight. „So stirbt das System", sagt der lebenskluge Adrian, als er von Frau Berry das Geschehene erfährt und die Nachricht mit einem großen Stück des Hochzeitskuchens und feinem satirischen Humor heimbringt
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(Kap. j2). Die überraschten und enttäuschten Verwandten bemühen sich um eine Ungültigkeitserklärung der Ehe und locken Richard nach London, um ihn mit dem Vater zusammenzubringen, der jetzt erkennen muß: „Es ist nutzlos, einem menschlichen Wesen ein System aufpfropfen zu wollen." Der Sohn war eben nicht mehr der Richard seiner eigenen Schöpfung, sein Stolz und seine Freude, sondern einfach ein Mensch wie alle übrigen. Der helle Stern war in der Masse versunken. Worin hatte eigentlich das System versagt? Auf Betreiben der Verwandten wird Richard in Lebemännerkreise gelockt. Er gerät in die Schlingen der raffinierten Londoner Schönen Frau Bella Mounts und findet aus Energiemangel und Scham nicht den Weg zu seiner jungen Gattin zurück. Mit Erschütterung erfährt er, daß die stille und feine Cläre, die von ihrer Mutter an einen reichen älteren Mann verheiratet worden ist, aber nach kurzer Ehe stirbt, ihn immer geliebt hat. Sir Austin gewinnt ein inniges Verhältnis zu seiner Schwiegertochter, die ja aus gutem Hause stammt, eine gute Erziehung genossen hat und ihren Mann liebt, und ist zur Versöhnung bereit. Als Richard hiervon Kenntnis erhält und dazu noch hört, daß Lucy ihm einen Sohn geboren hat, entschließt er sich zur Heimkehr. Kurz vor der Ankunft aber erfährt er durch einen Brief Bellas, welche Ränke man gegen ihn geschmiedet hatte und daß ein Lord Mountfalcon seiner Lucy auf der Insel Wight nachgestellt hat. Er sieht die überglückliche Gattin wieder, die auf sein Geständnis der Untreue aus der Tiefe ihres reinen Herzens nur erwidern kann: Aber du liebst mich doch? Dann küsse michl Er verläßt Raynham schon nach ein paar Stunden, um sich in Frankreich mit Lord Mountfalcon zu schießen. Bei dem Duell wird er leicht, nicht lebensgefährlich verwundet. Lucy fällt nach all den Erregungen in schwere Krankheit und stirbt; ihr reines Bild verklärt das stille Krankenlager dessen, der die Feuerprobe des Lebens nicht bestanden hat. — Das „schräge Scheinwerferlicht" fällt auf einen tiefernsten Vorgang, die Erziehung eines Sohnes. Ein feingebildeter Edelmann, der selbst im Leben Niedrigkeiten erfahren und Menschenkenntnis erworben hat, möchte dem Sohn Enttäuschungen ersparen und ihm liebevoll die Wege ebnen. Sir Austin Feverel ist vornehm, edel, großzügig, eine vollmenschliche Gestalt, die nur ein großer Menschenkenner schaffen konnte, keineswegs ein trockener und enger Moralist. Und doch muß sein System versagen gegenüber der natürlichen Daseinsbestimmung, wie alle Einseitigkeit stets an der Allheit „Erde" scheitern muß. Das ist Kampfansage an den moralischen Rigorismus einer Spießbürgerkultur. Pädagogische Vorsehung spielen zu wollen ist immer vergeblich: der Mensch muß selbst durch alle Stufen der natürlichen Entwicklung hindurch, muß Enttäuschungen erleben und die Feuerprobe bestehen, die ihm auch die größte Liebe und die glücklichsten äußeren Bedingungen nicht ersparen können. Die gütige Mutter Natur steht über allen Lehren eines Systems, der Mensch muß leiden, um zu reifen. Der unsagbar traurige Abschluß einer wohlgemeinten Erziehung bekräftigt die Ohnmacht aller guten Vorsätze gegenüber den natürlichen Wachstumsgesetzen. Der weltweise Adrian weiß von der „vergeistigten Komik", der großen Weltironie: Wenn man den glücklichen Punkt der Weisheit erreicht hat, von dem man alle Menschen als Narren erkennt, dann mögen diese winzigen Geschöpfe sich so neuartig bewegen, wie sie wollen, man wundert sich nicht mehr über sie: ihre Würde ist ebenso komisch wie ihre Albernheit, und ihre Leidenschaften sind noch komischer (Kap. 32). Das ist die Lehre dieses Buches von Jugend- und Alterstorheit. Lebenswahr sind auch die Nebenfiguren, die nicht der seelischen Zergliederung unterworfen werden und vielleicht gerade darum so echt wirken. Die rührende Mirandagestalt der unschuldigen, liebenden Lucy, die stille, entsagende Cläre, die auf gute Versorgung bedachte, tatkräftige und sogar harte Frau Doria sind ebenso abgerundete Typen wie die realistisch und humorvoll gezeichneten Vertreter des Volkes, Frau Berry, Bauer
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Blaize und die Dienerschaft. Es ist ein Buch auf hoher Ebene, voll tiefer Welt- und Menschenkenntnis, das in geformter Sprachkunst die Theorien fein und behutsam in die Erzählung verwebt, das Gedanklich-Allgemeine der Seelenanalyse hinter Dialog, Geste und Handlung aufschimmern läßt und dabei den Gesprächston auf Charakter und Situation packend und vielfältig abzustimmen weiß.
H e i m a t k u n s t : T h o m a s Hardy (1840—1928) Meredith ist tief grabender Vollender und Übergangserscheinung zugleich. Über das Glückseligkeitsstreben eines selbstzufriedenen Individualismus, über humanes Wirken für die Armen und Leidenden ist er hinausgewachsen zum höheren Ziel einer Fortentwicklung der Art, wenn er den Menschen der Erde zurückgeben will. Wie der Entwicklungsglaube aber auch den Einbruch einer pessimistischen Strömung herbeiführen konnte, wird in einer Nebeneinanderstellung mit seinem großen Zeitgenossen Thomas Hardy deutlich. Die evolutionistische Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl gab den Menschen wie alle Organismen in die Hand von Mächten, die einem außermenschlichen Willen gehorchen, den Geist verbannen und einem mechanischen Weltbild Vorschub leisten. So ist bei Schopenhauer der Wille Vernunft- und erkenntnislos, das Naturgesetz nichts als „die der Natur abgemerkte Regel, nach der sie unter bestimmten Umständen, sobald diese eintreten, jedesmal verfährt", der Organismus das innere Verhältnis der Teile zum Gesamtwerk, die äußere Zweckursache eine Anpassung an die Umgebung, ein blind waltendes Motiv. „Der Stier stößt nicht, weil er Hörner hat, sondern weil er stoßen will, hat er Hörner." Im Menschenleben wie in der Natur gibt es nur Not, Kampf und Leid. Darum ist alles, was entsteht, wert, daß es zugrunde gehe, Fortschritt und Geschichte sind ergebnislos und damit wertlos, der Mensch in seinen Bindungen erscheint entseelt. Thomas Hardys tragischer Determinismus ruht in dieser Weltsicht ebenso wie seine Neubelebung der Heimatkunst. Wohl hatte der Heimatroman seine Tradition seit Walter Scott; es ist aber jetzt nicht mehr die idyllische Landschaft, die ihn festhält, sondern die Erhebung der realen Umweltgebundenheit in das Metaphysische, Schicksalhafte, die ihn bestimmt. Der Protest gegen die Vermassung der Städte erhebt sich auch in dem industrialisierten England. Die traditionsbeladene Gegend von Dorsetshire, dem alten Wessex, ist die Welt, in der Hardys erdgebundene Menschen den Kreislauf ihres Lebens in Glück und Leid erfüllen, an das unentrinnbare Schicksal aus Klima, Rasse, Boden, Geschichte ohnmächtig gefesselt. Das Tragische herrscht als Weltgesetz, Resignation und Mitleid sind alles, was dem Menschen verbleibt. Eine romantische Gefühlsweichheit lebt bei allem Realismus in Hardys Romanen. „Fern vom Getümmel der Menge" (Far from the Madding Crowd — ein Zitat aus Grays Kirchhofselegie —, 1874) ist bei allem heiteren Sonnenschein bereits voll von erschütternden Szenen, „Die Heimkehr des Eingeborenen" (The Return of the Native, 1878) die ergreifende Geschichte einer nach Stadt und Glanz hungernden Offizierstochter auf dem Lande, „Der Bürgermeister von Casterbridge" (The Major of Casterbridge, 1886) eine gewaltige Tragödie unter dem Walten des unerbittlichen Weltwillens, der stärker ist als der persönliche Wille, „Die Waldbewohner" (The Woodlanders, 1887) das Bild einer Verkettung von Umständen, die zwei Liebende aus der schlichten Welt der Bauern trennen. Zu grausamer Ironie wird das sinnlos waltende Verhängnis in den beiden letzten, dunkelsten Romanen, in Tess of the d'UrberviJies (1891) und in dem in seinem folgerichtigen Realismus geradezu quälenden Jude the Obscure (1895). Tess of the d' Urbervilles ist ein Werk von monumentaler Gestaltungskraft.
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Der Tagelöhner Durbeyfield in dem Dorf Marlott erfährt durch einen mit Familienforschungen beschäftigten Geistlichen, der ihn schon ein paarmal mit „Sir John" angeredet hat, daß er der rechtmäßige Nachkomme des von Wilhelm dem Eroberer in den Ritterstand erhobenen Geschlechts der d'Urbervilles ist. Es gilt als erloschen, und eine reiche Kaufmannsfamilie hat den Namen angenommen. Der simple Tagelöhner sonnt sich in dem Glanz seines Rittertums und trinkt prahlend im Wirtshaus ein paar Gläser mehr als sonst. Als er einmal mit schwerem Schädel im Schlaf liegt, übernimmt es Tess, die älteste Tochter, in nächtlicher Fahrt die Bienenkörbe auf den Markt zu bringen, hat aber dabei das Unglück, in einen entgegenkommenden Wagen hineinzufahren und ihr Pferd tot liegen lassen zu müssen. Die Not der kinderreichen Familie wird durch den Verlust noch drückender. Tess entschließt sich auf Drängen der Eltern, die gerne Verbindung mit den reichen „Verwandten" aufnehmen wollen, die kranke und blinde Frau d'Urberville aufzusuchen und die Stelle als Verwalterin ihrer Geflügelzucht anzunehmen. Hier gerät sie in die Netze des zügellosen Sohnes der alten Besitzerin, Alec d'Urberville, der dem schönen Bauernmädchen nachstellt und die Widerstrebende verführt. Sie verläßt die ihr verhaßt gewordene Stellung und kehrt ins Elternhaus zurück. Ihr Kind stirbt bald nach der Geburt. Not und Abscheu gegen die ihr unerträglich gewordene Umgebung veranlassen sie, eine Beschäftigung in einer Molkerei anzunehmen. Hier lernt sie den Pfarrerssohn Angel Cläre kennen, der sich auf den Landwirtsberuf vorbereitet, da er aus Gewissensgründen den Wunsch des strenggläubigen Vaters, in Cambridge Theologie zu studieren, nicht erfüllen kann. Das Blut der kräftigen, sinnenstarken Melkerin, die nach der schweren Erfahrung ernst geworden ist und mit den Freuden der Welt abgeschlossen zu haben glaubte, ist stärker als alle guten Vorsätze. Sie erhört nach langen inneren Kämpfen das Liebeswerben des Mannes, der einen neuen Frühling in ihre Seele bringt, und wird seine Frau. Wiederholt hat sie den Anlauf genommen, ihm das Vergangene zu beichten; sie bringt es erst nach vollzogener Eheschließung fertig. Angel ist erschüttert; tiefe Liebe ringt mit den ererbten sittlichen Grundsätzen, die Gattin ist ihm nach dem Bekenntnis ihres Fehltritts nicht mehr das unschuldig-reine Wesen, das er allen Familienvorurteilen zum Trotz ersehnt hatte. Er verläßt sie und wandert nach Brasilien aus, um sein Glück als Farmer zu suchen. Tess trägt Schmerz und Not mit Würde. Als Landarbeiterin verdient sie sich in schwerer Arbeit ihr Brot und vermeidet es, Unterstützung bei der Pfarrersfamilie zu suchen. Immer dunkler und stiller wird es in ihrer Seele, als die Hoffnung auf Rückkehr des geliebten Gatten mehr und mehr schwindet. Da tritt Alec d'Urberville noch einmal in ihren Weg. Als methodistischer Wanderprediger zieht der von seinen Ausschweifungen Bekehrte durch das Land. Das Wiedersehen mit Tess läßt aber die Tünche der Wandlung bald abfallen; die alte Leidenschaft erwacht aufs neue. Die gequälte Verfolgte sendet einen Notschrei an den fernen Gatten und bittet ihn um Rückkehr und Schutz. Alecs Hohn über den Mann, der sicherlich nie heimkommen wird, steigert ihre Seelennot ins Ungemessene, und als mit dem Tode des Vaters und der Ausweisung der Mutter und Geschwister das Unglück mit Keulenschlägen kommt, ist es mit der Widerstandskraft der verlassenen Kämpferin aus. Nur Tess kann die Familie retten; willenlos opfert sie sich dem Zerstörer ihres Lebens, der ihren Lieben Unterkunft und Brot verschafft. In diesem Augenblick kehrt Angel Cläre zurück, abgekämpft und matt nach Krankheit und Mühen, um die Gattin, der er längst verziehen hat, nach der Neuen Welt zu holen. Er findet sie nach eifrigem Suchen in einem eleganten Seebad als Geliebte des Rivalen. Als er sie in seine Arme schließen will, hört er ein kummervolles „Zu spät!" Die Abweisung des Gatten, dem ihr ganzes Leben gegolten hat, raubt ihr den Rest ihrer Kraft. Sie ersticht in wilder Verzweiflung den Vernichter ihres Lebens und eilt dem Geliebten nach. Eine kurze Seligkeit in einem versteckten Landhaus und die Hoffnung, 32 Die Stimmen der Meister
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ins Ausland zu entkommen, sind das letzte Glück. Dann irren beide ziellos umher. Bei den heiligen Steinen von Stonehenge möchte Tess von ihrem Leben ausruhen: „In Talbothay sagtest du, ich sei eine Heidin. Da bin ich also nun in meiner Heimat." Schon aber sind die Häscher da, die die Mörderin ergreifen. Bald kann Angel an der Seite der jüngeren Schwester, die Tess ihm als Gattin empfohlen hat, das Aufziehen der schwarzen Flagge auf dem Gefangnisgebäude beobachten, die die Hinrichtung der Schuldlos-Schuldigen anzeigt. Der Gerechtigkeit ist Genüge geschehen, und „der Herr der Unsterblichen, wie ihn Aeschylus nannte, hat sein Spiel mit Tess beendet." — Der Aufbau dieses Lebensweges vollzieht sich mit der Wucht einer klassischen Tragödie. Da türmt sich keine Gestaltenfülle, da wuchern keine Nebenhandlungen, da gibt es keine Stilmischung von Ernst und Scherz. Ein Einzelschicksal erfüllt sich in der unheimlichen Geschlossenheit eines erbarmungslosen Weltwillens, die das kleine Leben in den unerbittlichen Rhythmus der das Ganze beherrschenden Mächte hinaufreißt. Diese fatalistische Unausweichbarkeit, dies Walten höherer Willensnormen hat etwas von dem Schicksalsbegriff des antiken Dramas. Eine grausame Ironie läßt eine Frau, die dem harten Weltwillen nur Liebe und Hingebung entgegenzusetzen hat, zur Mörderin werden, und die Welt nennt das dann Gerechtigkeit! Der Urgrund aller Tragik wird aufgerissen, die leidvolle Klage des alten Harfners bei Goethe ist uns nahe: Ihr führt ins Leben uns hinein, Ihr laßt den Armen schuldig werden, Dann überlaßt ihr ihn der Pein, Denn alle Schuld rächt sich auf Erden. Eine Kritik der am Schluß der Inhaltsangabe zitierten grimmig-ironischen Schlußwendung beantwortete Hardy einmal mit dem Ausspruch des alten Gloster in „König Lear": . . . Was Fliegen sind Den müß'gen Knaben, das sind wir den Göttern: Sie töten uns zum Spaß. Die erbarmungslose Weltnotwendigkeit ist die eine Geißel, unter der der Mensch zu leben und zu leiden hat, die gesellschaftliche Konvention die andre. Die verführte Tess muß vor der Welt, vor dem Geflüster und den Blicken der Nachbarn fliehen, der grobe Bauer, bei dem sie arbeitet, hat mit der Kenntnis ihres Fehltritts ein Machtmittel in der Hand, sogar ein so selbständig denkender Mann wie Angel Cläre kann mit aller tiefen Liebe den „Makel" nicht auslöschen, und am Ende steht der alte, strenge Pfarrer Cläre, der in echtem Christentum gerade um der „Sünde" willen den sonst durch soziales Vorurteil verbauten Weg zu der Schwiegertochter leichter findet, als der menschlich Größte da. Natur und Menschengesetz in labyrinthischer Verschlingung, ihnen gegenüber der sich verblutende Mensch mit seinen Leidenschaften, seinem Sehnen: das ist die erschütternde Tragik dieses Frauenschicksals. Fern von der muffigen Sittlichkeit der öffentlichen Meinung, in der Härte und Weite der kolonialen Welt, gelangt Angel zu einer Umwertung der Werte, an denen sein eigenes Glück zerbrechen mußte: Wer ist der sittliche Mann? Und noch nachdrücklicher: Wer ist die sittliche Frau? Schönheit oder Häßlichkeit eines Charakters liegen nicht in den Handlungen, sondern in den Zielen und Antrieben; nicht die getanen, sondern die gewollten Dinge machen seine wahre Geschichte aus (Kap. 49). In einer geradezu beängstigenden Geschlossenheit sehen wir das leidvolle Schicksal sich erfüllen. Hier geht es nicht mehr um ein soziales Problem, das so oder so gelöst werden kann, nicht um psychologische Charakterdeutung, überhaupt nicht um einen Menschen als Mittelpunkt einer Umwelt; hier ist der fühlende Mensch nur Sklave des
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Urwillens, Teil der organischen Ganzheit, der Mikrokosmos Abbild des Makrokosmos. Landschafts- und Menschheitsfühlen stehen in vollkommener Harmonie, ein Mithandeln der weiten Natur durchzieht den ganzen Vortrag. Beziehungsreich ist die Schilderung der Lage des Dörfchens im Anfang des z. Kapitels, des hügelumsäumten Tals mit dem Netzwerk seiner Heckenwege, der schweren Luft, dem alle Unterschiede auslöschenden farblosen Himmel, mit seinen geschichtlichen Erinnerungen; in der engeren Landschaft und ihrer Geschichte wurzelt der Mensch, die alten Volksfesttage — der i. Mai, Lichtmeß, Mariä Verkündigung — bestimmen den Kalender der Bauern, Landarbeiterwanderungen in ein neues Land der Verheißung unterbrechen die Eintönigkeit ihres schweren Tagewerks, die sinnlich-ausdrucksvolle Mundart atmet Erdgeruch. Dunkelheit und Stille herrschen, als Tess dem Verführer verfällt, die V ö g e l schweigen, Kaninchen und Hasen hüpfen verstohlen vorbei, die Natur hält ihren A t e m an, der Schutzengel des armen Mädchens scheint zu schlafen. Prachtvoll das Umherirren der wiedervereinigten Gatten auf der Ebene von Salisbury, w o die gehetzte schuldlose Sünderin bei den zyklopischen Steinen aus heidnischer Vorzeit niedersinkt, an denen einst ihre Vorfahren den Göttern unschuldige Opfer dargebracht haben. D i e unentrinnbare Notwendigkeit des Schicksals, die Ananke der Griechen, nimmt als mächtiger Strom die Bewegungen des Kosmos und des Lebens auf. „ W i r sind alle Kinder des Bodens", sagt A n g e l Cläre (Kap. 53). Wenn Thomas Hardy der Begründer des Heimatromans geworden ist, so darf nicht übersehen werden, daß dies ein Ergebnis einer schicksalhaften Allverbundenheit ist. Seine Romane sind in erster Linie Schicksalstragödien, und die auf ihn gemünzte Bezeichnung eines Äschylus der modernen Tragödie paßt auf den Dichter, dem die Landschaft nicht mehr bloß der idyllische Rahmen ist, den sie für einen Romantiker wie Walter Scott abgab. E r ist der Sänger der südlichen Landschaft, für die er den alten Namen Wesses wählte. In seinem Gefolge hat der Heimatroman einen bedeutenden Aufschwung genommen, eine Landschaft nach der andren wurde als Raum für Menschenschicksale entdeckt. Henry Hall Caine führte die Insel Man in die Literatur ein, William Black, George Macdonald, R. L . Stevenson und George Douglas wurzelten im schottischen Hochland, Sheila Kaye-Smith setzte gegenüber den Kräften der Zersetzung nach dem ersten Weltkrieg ihre bedeutende Kunst für die Kraft der Scholle in Sussexromanen ein, Eden Phillpotts ließ erdgebundene Menschen aus dem öden Höhenland v o n Dartmoor erwachsen, Mary W e b b aus dem walisischen Grenzgebiet von Shropshire, A . G . Street aus dem Bauerntum v o n Wiltshire, Francis Brett Y o u n g aus den „Midlands", die Brüder Theodore Francis und John Cowper Powys spürten auf der Grenze des keltischen und sächsischen Volkstums den dämonischen Urkräften des Blutes nach, und bei Walter Greenwood, Hilda Vaughan, Jack Jones, George Blake und James Lonsdale Hodson wurden in Verbindung v o n Landschaftsund sozialem Roman die Industriebezirke zum realistischen Hintergrund moderner Wirtschaftsnöte und -kämpfe. Der „ g r o ß e alte Mann der Literatur", wie Thomas Hardy genannt wurde, hatte das erdnahe Leben bäuerlich-schlichter Menschen im Gegensatz zu der viktorianischen Selbstzufriedenheit der Stadt für seine schwere, ernste Weltschau gewählt. Die Heimatdichtung mit ihrem Glauben an die Werte der Scholle konnte blühen, bis eine neue Weltenttäuschung der jüngsten Zeit auch hier den Glauben an die Menschheit verlor. R ü c k k e h r z u r N a t u r : R o b e r t L o u i s S t e v e n s o n (1850—1894) D i e Heimat auf der einen, das Hinausgreifen in die weiten Räume auf der andren Seite: das ist die Welt eines späten Romantikers, der dem Realismus und der Inselbeschränktheit seiner Zeit den Kampf ansagen wollte, aber eines Romantikers mit 32*
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starkem Gefühl für die Wirklichkeit und die Landschaft. Stevenson war Schotte, von dauerndem Siechtum gequält und genötigt, Länder mit milderem Klima aufzusuchen, so daß sein Leben selbst eine Art romantischen Abenteuerromans bildete, bis er in der Südsee, auf einer der Samoainseln, an der Lungenkrankheit starb. Eine unermüdliche Schaffenskraft entfaltete er als Kompensation gegen seine dauernde Krankheit. Er war eine der liebenswertesten Gestalten der englischen Literatur, ein von der Sehnsucht nach Ungebundenheit und fernen Ländern erfülltes Kind der Natur, immer heiter, gesellig, kameradschaftlich, ohne Feind oder Neider. Die Zeit der imperialistischen Ausschau in ferne Räume, der Erweiterung des Horizonts, kam seiner Wiederbelebung des alten Abenteuergeistes mit knabenhafter Begeisterung für männliches Tun und Romantik ferner Gegenden zugute und trug ihn zu beispiellosem Erfolg empor. Der Gedanke von dem menschlichen Doppelwesen, der stärkeren gemeinen und der schwächeren guten Natur, gab ihm in einer Zeit, die nach der Herrschaft des Materialismus den Bereichen des Übersinnlichen zugeneigt war, das symbolische Märchen Dr.Jekyll and M. Hyde (1886) ein, in dem die Bewußtseinsspaltung künstlich einen Menschen in zwei zerfallen läßt, Seemannsleben und bewegtes schottisches Hochland den Roman „Entführung" (Kidnapped, 1886), wildes Hochlandgeschehen, Neigung zum Ungewöhnlichen und das wiederaufgenommene Thema der Doppelnatur den künstlerisch hochstehenden „Junker von Ballantrae" (The Master of Ballantrae, 1889), das Charakterbild eines gerechten, aber brutal-gefühllosen Henkerrichters das unvollendete Meisterwerk „Weir von Hermiston" (The Weir of Hermiston, 1896). Eine verwirrende Fülle von seltsamen Geschehnissen und Abenteuern, Seeräubern, Verbrechern, Puritanern, gefühlstarken Frauen, Kindern lebt in den zahlreichen Novellen und märchenhaften Wunschgeschichten, Weltenfülle und Bewegung; keine Seelendeutungen wie bei Hardy oder Meredith, sondern Fabulierkunst, Spiegelung der bunten, namentlich der fremdartigen Wirklichkeit in bewußt einfacher Sprache, impressionistische Erfassung der Situationen, dichterische Gedrängtheit und Spannung. Das Interesse am romantischen Seemannsleben, an der suggestiven Wirkung des Geheimnisvoll-Unheimlichen kommt am besten in der in der Gestaltung vollendeten Erzählung Die Schatvgnsel (Treasure Island, 1883) zum Ausdruck. Jim Hawkins, der Wirtssohn aus dem Gasthaus „Admiral Benbow", erzählt uns die Geschichte, die er als Junge miterlebt hat. In dem Gasthaus lebt ein alter Kapitän, ein undurchsichtiger, verschlossener, nur der Rumflasche ergebener Mensch, der eine geheimnisvolle Kiste mitgebracht hat. Der halbwüchsige Jim wird sein Vertrauter und erhält für ein kleines Monatsgeld den Auftrag, alle einkehrenden Seefahrer zu beobachten und ihm namentlich sofort zu berichten, wenn ein schrecklicher einbeiniger und auf Krücken gehender Seemann sich zeige. Der kommt zwar nicht an, aber ein unangenehmer blinder Kerl, bei dessen Anblick der Kapitän tot umfällt. Jim durchsucht nun mit seiner Mutter die rätselhafte Kiste. Allerlei krauses Zeug kommt zum Vorschein, mit ihm aber auch ein Bündel Papiere und eine Seekarte mit einer durch Striche und Punkte bezeichneten Insel. Der Arzt Dr. Livesey, dem die Wirtin die Schriftstücke übergibt, kann das Geheimnis des Verstorbenen enthüllen. Er war ein gefährlicher und gewalttätiger Seeräuber, der vor Jahren auf der unbewohnten Skeletoninsel einen Schatz im Werte von siebenhunderttausend Pfund vergraben hat. Der Gutsherr Trelawney, dem der Doktor die Karte mit dem eingetragenen Platz des Verstecks zeigt, beschließt sofort die Fahrt nach der „Schatzinsel". Ein Segelschiff wird ausgerüstet, ein Kapitän und eine kleine Mannschaft angeheuert. Jim fährt als Schiffsjunge mit dem Gutsbesitzer und dem Arzt von Bristol aus zu der abenteuerlichen Reise. Zu der Schiffsmannschaft gehört als Koch auch der gefürchtete Seemann mit einem Bein, John Silver, der als alter Fahrtgenosse des verstorbenen Seebären um den Schatz weiß. Kapitän Smollett, der Führer des Seglers,
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kennt seine Leute und warnt vor Verrat und Meuterei. Wie recht er hat, erweist sich gleich nach der Ankunft auf der Insel. Zum Glück hat Jim schon während der Fahrt durch Zufall ein Gespräch belauschen und Silvers schurkische Pläne hören können, so daß der Schiffseigner und sein Kapitän die zuverlässigen und die verdächtigen Leute unterscheiden und die Waffen entsprechend verteilen können. Es folgt nun eine Reihe bunt verschlungener Gefahren und Rettungen im Kampf mit den von Silver geführten Verrätern, braver Taten des achtsamen Jungen, harter Kämpfe um das Blockhaus und scheinbarer Wiederversöhnung mit dem schurkischen Schiffskoch. Ein drei Jahre vorher von Piraten ausgesetzter Matrose, eine Robinsonfigur, kann wertvolle Hilfe leisten, sogar ein verstecktes Boot angeben. Mit diesem pirscht sich Jim ungesehen an das Segelschiff, das den Meuterern in die Hände gefallen war, kappt die Taue und bringt das Fahrzeug bei günstigem Wind unter höchsten Gefahren in ein sicheres Versteck. Als Silver und seine Gesellen den Ort des vergrabenen Schatzes ausfindig machen, sehen sie nur ein leeres Loch; der einsame Inselbewohner hat den Schatz bereits an andrer Stelle untergebracht, so daß er nun von Trelawney und dem Doktor sicher nach Bristol geschafft werden kann. Die kleine Zahl der aus den Kämpfen gebliebenen Verräter wird, mit Nahrung und Munition versorgt, auf der Insel zurückgelassen. — Aus Vorbemerkungen des Stiefsohnes und der Gattin Stevensons hören wir, daß der Dichter mit dem Kindergemüt seine Freude an Zinnsoldaten und Kriegsspiel hatte, daß er eine Knabenzeichnung mit einer entlegenen Insel — seiner Schatzinsel — an sich nahm und aus ihr die Anregung schöpfte, eine Geschichte dazu zu erfinden. „Die Menschen haben alle möglichen Liebhabereien; die meinige war von Kindheit an, eine Folge von Ereignissen zu einem geistigen Spielzeug zu formen." Wie ein Kind im Grase liegt, in den unendlichen Wald starrt und ihn mit Scharen von Elfen und Feen bevölkert träumt, so hat ihm die Kartenzeichnung der Schatzinsel die Menschen und Begebenheiten in die Seele gezaubert, die er nun schlicht erzählt, ohne Anspruch auf psychologische Durchdringung, nur als Spiel der schweifenden Phantasie. So ist diese Spiegelung der bunten Wirklichkeit entstanden, ein Knabentraum, der auch die großen Kinder nicht losläßt, ein Traum von Angst, Gefahr und Freude am Bestehen aller Fährnisse, von Erregung und Beruhigung, von Unheimlichkeit und Lust am einfachen Naturleben, von Farbigkeit und Spannung. Was an Einzelmotiven aus andren Abenteuererzählern entlehnt ist, aus Defoe — sogar ein Papagei spielt eine Rolle wie in Robinson Crusoes Höhle —, Dr. Johnson, Kingsley, Marryat, E. A. Poe, Washington Irving, bezeichnet der Dichter selbst; nicht die Erfindung macht die Originalität aus, sondern das Wie der Verarbeitung, der geheimnisvolle Zauber der Schatzinsel, der alle gefangen hält und von dessen Hintergründen noch die Skelette früherer wilder Besucher zeugen. Die Handlung ist von größter Geschlossenheit, die Sprache in ihrer kunstvollen Einfachheit auf alle Stimmungen abgetönt vom derben, knappen Seemannsjargon bis zum feinen Seelenton, das Charakterbild des schurkischen Schiffskochs Silver, der den eigentlichen Angelpunkt der aufregenden Geschehnisse bildet, von großer Realistik; Licht- und Schatteneffekte, Sonne und Dunkel umspielen die Landschaft und die Taten, eine Eindruckskunst von mitreißender Wirkung. Neugierde und Ungeduld sind die Voraussetzungen, die man für diese bewegte Welt mitbringen muß, nicht die Ruhe des Denkens und des epischen Genießens. „Die Poesie der Umstände" hat Stevenson seine Art Romantik einmal genannt, also den Zauber, den die Dinge und die Landschaft in sich tragen und den die Handlung in unserm Geist wachruft. Die bedeutende englische Tradition des Abenteuerromans mit seiner gesunden Tatfreudigkeit und seinem Hinausstreben in die Ferne war wieder erweckt. Joseph Conrad konnte ihn mit Einfügung des psychologischen Moments zum „großen"
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Roman gestalten, Henry Rider Haggard, Rudyard Kipling, Jerome K . Jerome, Stella Benson und die Waliser Edward Morgan Forster und Richard Hughes mit ihm neue Räume und ihre Probleme aufleuchten lassen, und der moderne Kriminal- und Detektivroman eines Arthur Conan Doyle und Edgar Wallace ist eine Abart niederen Kalibers, die nicht nach ihrem Kunstwert, wohl aber als soziologische Gattungserscheinung für den nach Spannving verlangenden modernen Massenmenschen ernst genommen werden muß.
G e s e l l s c h a f t s u m s c h i c h t u n g : H. G. Wells und J o h n G a l s w o r t h y „Nannie", sagte Beatrice, mit dem Finger auf mich zeigend und eine Frage meiner Mutter nicht beachtend, „ist das ein Dienstbotenjunge?" „Pst", antwortete das Kinderfräulein. „Das ist der junge Ponderevo." „Ist er ein Dienstbotenjunge?" wiederholte Beatrice. „Er ist ein Schüler." „Dann darf ich also mit ihm reden, Nannie?" Das Fräulein sah mich mit grausamer Unmenschlichkeit prüfend an. „Du darfst aber nicht zuviel sprechen", sagte es zu seiner Pflegebefohlenen und schnitt ihr den Kuchen in fingerbreite Stückchen. „Nein", fügte die Strenge mit Bestimmtheit hinzu, als Beatrice etwas sagen wollte. Beatrice wurde böse. Ihre Augen erforschten mich mit grundloser Feindseligkeit. „Er hat schmutzige Hände", sagte sie und stach dabei nach der verbotenen Frucht, „und sein Kragen ist durchgescheuert." Dann begann sie ihren Kuchen zu essen mit allen Zeichen der Nichtbeachtung meiner Anwesenheit, was mich mit Haß und dem leidenschaftlichen Verlangen füllte, ihre Bewunderung zu erzwingen. Am nächsten Tage vor dem Tee wusch ich mir zum erstenmal in meinem Leben ganz von selbst die Hände, ohne Aufforderung, ohne jeden Zwang. So fing unsre Bekanntschaft an. (H. G. Wells, Tono-Bungay, I, Kap. i, § 7.) Die Frage des achtjährigen kleinen Fräuleins aus dem Landadel, der angehenden Lady, enthüllt blitzartig eine Haltung, die jahrhundertelang selbstverständlich war, unter der Wirkung der Industrialisierung des Landes und der Verschärfung der Klassengegensätze aber als überlebt und kränkend empfunden werden mußte. Die Umschichtung der Gesellschaft wurde ein weites Thema in der großen Bewegung des Widerspruchs und Neuaufbaus. H e r b e r t G e o r g e Wells (1866—X946) arbeitete sich aus kleinen Verhältnissen schnell zu einem der freiesten und umfassendsten geistigen Weltbürger empor. Sein Sozialismus ruhte auf dem evolutionistischen Glauben an den Zivilisationsfortschritt und die Glückseligkeit sowie auf der Überzeugung des Pragmatismus, daß jede Meinung ihre Berechtigung durch die Brauchbarkeit für das Leben erweise. Diesem Glauben an den Fortschritt widmete er einen großzügigen Überblick über die Geschichte der Welt von den Anfängen unsrer Erde bis in Zukunftsvisionen hinein, der Umwertung der Werte eine Reihe utopischer Phantasien, die mit pseudophysikalischen Konstruktionen eine neue Gattung soziologischer Zukunftsbilder begründeten; ein naturwissenschaftlicher Einfall wird nach Art der Phantasien eines Edgar Allan Poe und Jules Verne märchenhaft zu einem Zukunftsbild der menschlichen Gesellschaft gestaltet. So führt die „Zeitmaschine" (The Time Machine, 1895), die Räume und Zeiten zu überwinden gestattet, den grüblerischen Forscher zu Gefilden, in denen das letzte Ergebnis kapitalistischer Wirtschaftsordnung sichtbar wird: zwerghafte, gutmütige, untätige und unwissende Menschen leben sorglos auf einer grünen Wiese, während die zahlreicheren andren im Erdinnern lichtscheu und stumpfsinnig für sie arbeiten
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müssen, sie aber in der Dunkelheit auch einfangen und fressen, wenn der Mangel sie dazu treibt. In ähnlicher Weise werden andre physikalische, technische, biologische oder ökonomische Gedanken zu wirklichkeitsfernen Zukunftsbildern ausgesponnen, die Zeitkritik und Menschheitstraum enthalten, getragen von einem wissenschaftlichen Optimismus, lehrhaft in den Weltverbesserungsideen, fesselnd als Märchenschöpfungen, aber oft quälend in ihrer Unheimlichkeit, ihrer Verzerrung und der rein intellektuellen, mechanistischen Konstruktion des neuen Menschheitsideals, die an das innere Wesen kaum heranreicht. Hier haben wir eine Phantastik ohne Romantik, einen Glauben an Wissen allein als Macht, eine Welt ohne Wärme und Liebe, wenn auch die Überzeugung nicht nur von dem praktischen, sondern auch ethischen Wert der Auflehnung des befreiten Menschengeistes gegen die Knechtschaft der Natur hinter den phantastischen Bildern steht. In dem ungeheuren Lebenswerk des Dichters, der alles Ideenhafte und Gegenständliche in den Bereich seiner geistigen Durchdringung zieht, fällt den Romanen die Aufgabe zu, die Mächte der Gegenwart und Wirklichkeit zu gestalten. Die Gesellschaftssatire Tono-Bungay (1909) ist das bedeutendste Werk und gehört in die Reihe der großen englischen Romane. Der Herrensitz Bladesover im kentischen Hügelland, gediegenes 18. Jahrhundert mit Park, Dörfern und malerischen Kirchlein, ist der Kristallisationspunkt des einen Lebenskreises, des alten Junkertums. Das große Haus, die Kirche, das Dorf, die Arbeiter und Dienstboten in ihren Stellungen und Rangunterschieden schienen mir sozusagen ein geschlossenes und vollkommenes System darzustellen. Um uns herum lagen andre Dörfer und Rittergüter, und von Haus zu Haus, verflochten und in Beziehungen stehend, kam und ging der niedere Adel, die erhabenen Olympier. Die Landstädte nahmen sich aus wie bloße Anhäufungen von Läden und Märkten für die Pächter, wie Bildungszentren für die Art von Bildung, die sie brauchten, von den Grundherren ebenso abhängig wie die Dörfer und kaum weniger unmittelbar. Ich glaubte, daß die ganze Welt so geordnet wäre. Ich glaubte, daß London nur eine vergrößerte Landstadt wäre, wo die besitzenden Kreise Stadtwohnungen hätten und die größeren Einkäufe besorgten im erhabenen Schatten der größten aller Edelfrauen, der Königin. Das kam mir wie göttliche Ordnung vor. Daß diese schöne Fassade bereits unterminiert war, daß Kräfte am Werk waren, die dies feste gesellschaftliche Gefüge, in dem meine Mutter mich so sorgfältig meinen „Platz" verstehen lehrte, im Augenblick in die Rumpelkammer werfen konnten, das war mir sogar in der Zeit, als Tono-Bungay richtig auf die Welt losgelassen wurde, noch nicht aufgedämmert. Es gibt bis heute viele Leute in England, denen es noch nicht aufgegangen ist. Ich zweifle manchmal, ob, von einer ganz unbedeutenden Minderheit abgesehen, irgendein Engländer erkennt, in welchem Umfang diese scheinbare Ordnung schon jetzt dahingeschwunden ist (I, 1, § 3). So empfindet es George Ponderevo in den Tagen, als er uns seine Geschichte in Tagebuchform erzählt, als Park und Bauernhütten verlassen stehen, als das Schloß möbliert an einen jüdischen Kapitalisten vermietet ist. Damals aber, als er noch ein Junge und seine Mutter Angestellte bei dem dürren alten Adelsfräulein Lady Dew war, die mit ihrer ebenso alten Cousine Somerville das Schloß bewohnte und in ihrer Figur und altmodischen Steifheit schon so etwas wie den Nachglanz einer sterbenden Macht und Würde darstellte, galt alles noch, wenigstens bei dem Bladesoverkreis. Oben stand der Junker, dann kamen der Pfarrer, der Doktor, der Tierarzt, die Pächter, der Butler, der Dorf kaufmann, der Koch, der Gastwirt, der Schmied — etwas schwierig einzuordnen, weil seine Tochter Posthalterin war —, der älteste Sohn des Kaufmanns, der erste herrschaftliche Diener, die jüngeren Kaufmannssöhne, der erste Kommis usw., alles in strenger gesellschaftlicher Hierarchie. So sieht die Welt aus —in Blades-
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overl Und Bladesover ist der Schlüssel zu fast allem, was typisch britisch ist und dem fremden Besucher auffällt; vor zweihundert Jahren war ganz England Bladesover. Es hat seitdem seine Parlamentsreformen und dergleichen Änderungen der Formeln gehabt, aber keine wirkliche Revolution, die „snobbishness" ist geblieben. Wer heute nicht im Schatten eines Bladesover lebt, ist gewissermaßen beständig auf der Suche nach verlorener Orientierung. Wir haben nie mit unsrer Tradition gebrochen, ja sie nicht einmal symbolisch in Stücke geschlagen, wie die Franzosen es in der Schreckensherrschaft taten. Strenge soziale Hierarchie herrscht auch in den Dienstbotenzimmern von Bladesover, und man fühlt sich wohl in ihr. Drei pensionierte alte Dienerinnen kommen gern einmal mit heran und sonnen sich im Glanz ihrer Erinnerungen; Frau Mackridge hat die ganze Lebensweisheit des weiland Sir Roderick stets parat. Der kleine George Ponderevo erlebt diese Welt mit Verwunderung. Er ist von dem Vater, der schon früh „vor den Tugenden der Mutter geflohen ist", etwas „skeptisch" belastet. Bücher sind in dem feinen Haus, in das er immer zur Ferienzeit kommt, und die sind ihm gerade recht; Reiseberichte, Literatur des Aufklärungszeitalters über Menschenrechte, Verstandesphilosophie, Staatslehre, Geschichte. Dann kommt die Katastrophe in sein junges Leben, als er eben den vierzehnten Geburtstag begangen hat, in der Gestalt der „ehrenwerten" kleinen Beatrice Normandy. Er tauscht kindliche Liebesküsse mit ihr und verprügelt ihren Stiefbruder Archie, den Störenfried. Kein Wunder, daß er, der Sohn der Haushälterin, Bladesover nicht wieder betreten darf. Er wird Bäckerjunge bei einem Onkel in Chatham, läuft aber aus der verhaßten Beschäftigung und Stadt bald weg, zurück zur Mutter nach Bladesover, die ihn sofort nach Wimblehurst zu einem andern Onkel in die Lehre bringt, dem Drogisten Ponderevo. Hier lernt er eine andre Welt kennen, Ärmlichkeit, tägliches Sichabrackern der guten Tante Susanne, Allerweltsgeschäftigkeit des lebendigen, wortreichen, seine Heilmittel unentwegt anpreisenden Onkels. Er besucht eine Schule, zeichnet sich in den Naturwissenschaften aus und kann sich mit einem Stipendium der Pharmazeutischen Gesellschaft in London weiterbilden, geht aber als Stipendiat auf eine Ingenieurfachschule über. Bei ärmlichem Leben und tüchtigem Fleiß kümmert er sich um seine Bildung, auch um Arbeiterleben und Sozialismus. Da lernt er gerade in den Jahren, in denen das Interesse für alle Mitstudentinnen, Schauspielerinnen, Damen in eleganten Wagen erwacht, in einer Bibliothek Marion kennen und lieben, ein kleinbürgerliches Mädchen, das ihn wohl mag, den einkommenlosen Mann, dessen Stipendium gerade abläuft, aber nicht heiraten will. Tono-Bungay bringt den Umschwung, der Gegenpol von Bladesover, dem „Schlüssel für das Verständnis Englands" (I, 2, § 1). Was bedeutet das seltsame Wort? Es ist der von Onkel Ponderevo erfundene Reklamename für ein neues Allheilmittel, „das Geheimnis der Kraft, die Quintessenz der Stärke". George soll sofort kommen, schreibt der Onkel, und bei hohem Gehalt im Vertrieb tätig sein. Er findet alle Regale des Lagers mit Flaschen gefüllt, TonoBungay wird rasend gekauft, Geld kommt in Strömen herein. George ahnt, daß es sich um ganz wertloses Zeug handelt, aber die Reklame siegt, der Onkel steht hoch auf der Woge des Erfolgs, der Neffe hat zu tun, alle Welt kauft gerne Gesundheit, Schönheit und Kraft durch Tono-Bungay; der findige Drogist entwirft ein Plakat nach dem andern und nennt das alles Romantik des modernen Handels. Es gibt weitere Vervollkommnungen, Tono-Bungay-Haarwaschmittel, Tono-BungaySchokolade, konzentriertes Tono-Bungay-Augenwasser, Mittel gegen Seekrankheit usw. Es sind Jahre voller Energie und Arbeit, aber auch voller Erfolg. Zeitungsverleger werden Förderer und stille Teilhaber, der Onkel wird der gesuchteste Finanzmann. George heiratet seine Marion. Die Ehe dauert aber nicht lange. Die junge Frau ist zu simpel für eine tiefere Gemeinschaft, liebt keine Kinder, findet keinen Weg zu
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dem vielbeschäftigten, geistig regen Gatten. Er wird ihr untreu, die Scheidung ist das Ergebnis der unüberlegten Bindung. Der Onkel-Milliardär hat natürlich ein pompöses Haus bezogen und den Bau eines Schlosses in schöner Landschaft bestellt, sich vom guten Leben ein Bäuchlein und die Verdauungsstörungen der Schlemmer zugelegt, der fein gewordenen Tante Dienstboten und Prunk verschafft, Tochtergesellschaften für alle möglichen Artikel gegründet, auch eine Zeitschrift, den „Heiligen Hain" mit anspruchsvollen literarischen Beiträgen, schön umrahmt von Reklame. Die Romantik des modernen Handels umgreift Menschen, Gegenstände und Methoden, deren Zusammenhang die schlichte Einfalt nicht ahnt. Wir haben die Hand auf den Dingen, George, wir Großen. Wir hängen zusammen, George, wir schmeißen die Sache. Die alte Ordnung mit hineinreißen wie Kipling Mühlrad . . . Wir müssen das Land in Gang halten. Uns gehört es. Müssen es rationell machen — organisieren — Geschäft — Unternehmung. Ideen hineinstecken. Elektrisieren. Jeden Fortschritt beherrschen, jeden! Ich habe mit Lord Boom gesprochen. Habe mit allen möglichen Leuten gesprochen. Große Sachen. Fortschritt. Die Welt als Geschäft. Fängt gerade erst an. Eine wunderbare Ordnung, diese alte britische Ordnung. Solide und fest, und hat dabei doch einen Platz für neue Männer. Wir sind da und nehmen einfach unsern Platz ein. Das erwartet man beinahe. Wir greifen zu. Da liegt der Unterschied unsrer Demokratie von Amerika. Da drüben hat man Erfolg, damit aber nichts als Geld. Hier ist ein geordnetes Gefüge, praktisch für jedermann offen (II, 2, § 8). Hinein auch noch in das Parteileben, Geld dafür geben, andre Geldmänner ausstechen! Eine kleine Liebesaffäre mit der Frau eines aristokratischen Geschäftsfreundes ohne Rücksicht auf Tante Susanne, warum nicht? Wie hat es denn Napoleon mit Josephine gemacht, und ist Ponderevo der Ältere nicht ein Napoleon des Geschäfts, der Mann des Erfolgs, der Herr der Welt, das Symbol der Zeit? Das ist Tono-Bungay als Gegenpol zu Bladesover, die große Tono-BungaySymphonie. George wird es schwindlig auf der Höhe dieser Pläne; er kümmert sich immer weniger um sie und lebt nur noch für seine eigenen Gedanken, die hauptsächlich dem Ersinnen und dem Bau von Flugmaschinen gewidmet sind. Der erste Gleitflug beginnt gut und endet mit Krach und Trümmern, der Erfinder aber probiert weiter, der wissenschaftliche Drang ist nach der aufreibenden Spekulationszeit wieder erwacht. Da kommen eines Tages zwei Aristokratinnen zu der Tante, Lady Osprey mit ihrer Stieftochter Beatrice Normandy. Die Lady interessiert sich sehr für den Sohn der früheren Haushälterin, er ist ja der Neffe und vielleicht der Erbe des Geldmagnaten; nur die Sache mit dem Fliegen gefällt ihr nicht. Beatrice aber sieht sich den Aufstieg und das baldige Niederkrachen des ersten lenkbaren Ballons an. George und sie treffen sich oft wieder, die Kinderliebe wird echte, romantische Liebe der Erwachsenen. Sie kann ihn aber nicht heiraten; gesellschaftliche Vorurteile hat sie nicht, und der andre Mann, der um sie wirbt, ist ihr gleichgültig. Ein Geheimnis umschwebt ihre Zurückhaltung. Da kommt der große Umschwung. Der gekaufte Zeitungslord wird gefährlich mit seinem Presseeinfluß, Intrigen spinnen sich an, ein Rohstoffunternehmen in Westafrika, das zu dem Ponderevo-Konzern gehört, versagt und ruft eine ernste Krise hervor. George fährt nach Afrika, Beatrice will geduldig auf ihn warten. Auf der afrikanischen Insel ist nichts mehr zu retten. George schifft sich nach einigen wilden Erlebnissen wieder ein. Daheim findet er den Onkel in schweren Kämpfen gegen die Pressefehde und abgehärmt. Das riesige Kartenhaus bricht zusammen, der Schwindelunternehmer wird von dem Neffen in dem neuen, prächtig funktionierenden Luftschiff krank und gebrochen in die Pyrenäengegend gebracht, wo er einsam stirbt. George erlebt noch einmal Liebesglück mit Beatrice, dann den Abschied für immer; sie geht zu dem ungeliebten, aber tüchtigen und soliden andren Bewerber zurück.
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George muß sie entsagen, sie fühlt den Abstand der Welten tiefer als er, den Abstand des in Abhängigkeit und Lebensuntüchtigkeit erzogenen Mädchens, das sich nicht einmal allein die Haare machen kann, von dem Mann der Tat und des Kampfes, dem sie nie die Genossin sein könnte, die er braucht. Auf dem von ihm konstruierten Zerstörer fährt der Ingenieur George Ponderevo die Themse hinunter und nimmt nachdenklich das von großer Geschichte zeugende Bild Londons in sich auf. Die alten Fassaden stehen unverändert, die alten Gebräuche sind geblieben. Aber was steckt in ihnen? Moderne Gewinnsucht, Schwindelei, Reklame. Kinderlos waren Tante Susanne, auch Marion, sinnlos ist Beatrices Leben geworden. Tono-Bungay ist ebenso dem Untergang geweiht wie Bladesover, es sollte besser Ödland heißen. Was dem Erfinder im Symbol seines Zerstörers sichtbar geworden ist, erleben andre in ihrer Kirnst, Literatur, sozialen Arbeit oder sonstwie; man nennt es manchmal Wissenschaft, ein andermal Wahrheit. „Ich empfinde es immer als Härte, als Schönheit. Das ist der Kern des Lebens, das einzige, was Bestand hat." — In kräftiger Zusammenballung werden die beiden Kraftzentren Bladesover und Tono-Bungay gegenübergestellt; die traditionslose, protzige Geldaristokratie bezieht die verlassenen Stellungen des alten Adels, trägt aber auch den Wurm in sich. Keine der beiden Lebensordnungen wird angegriffen oder karikiert, beide sind da und naturgewachsen. Auf die Klarlegung der Problematik kommt es an, der Wächterruf gilt der Zeit überhaupt, die in Ziellosigkeit dahintreibt und nur zerstörend wirken muß, weil sie die sittlichen Kräfte nicht zu beherrschen weiß. Der pessimistische Ausblick gilt der Unlogik des Lebens. Der Dichter der utopischen Zukunftsordnungen sieht auch hier nur in logischer Zielsetzung die Rettung der Welt und ihrer Zivilisation. Die Gefahr einer nüchternen Thesenhaftigkeit ist in diesem Roman gebannt durch bewegtes Leben, echten Realismus, plastische Menschenzeichnung und Humor. Der Schwindelgeschäftsmann und seine Frau sind Figuren, an denen die Konturenkunst und der Humor eines Dickens mitgewirkt haben. Die Sprechart Ponderevos und seine leitmotivisch verwendete Gewohnheit, jede Rede mit einem Zischton — Zzzzz — zu beschließen, sind Dickenssches Erbe, ebenso Frau Mackridges hyperfeine Lautverdrehungen. Die Menschen stehen wirklich in den Ideenkreisen der sozialen Organismen. Darum fesseln uns ihre Schicksale, hinter denen wir das erbarmungslose Spiel der determinierenden Wirklichkeit empfinden. Es sind freilich zeitgebundene Menschen, da die sie umklammernden Wirklichkeiten auch einer Zeit angehören. George Eliot hat den ewigen Kampf zwischen Liebe und Gesellschaftsordnung in eine größere Höhe der überpersönlichen Leidenschaften gehoben. Ein Evangelium sozialer Neugeburt steht hinter Wells' Schöpfungen; utopische Kritik ist überall sichtbar. Es ist kein Zufall, wenn der andre Meister der gesellschaftskritischen Dichtung, J o h n G a l s w o r t h y (1867—1953), neben dem Roman auch das Drama als Sprachrohr seines Abschieds von einer Epoche, die ihn selbst geformt hat, und des Aufbrechens einer neuen Welt gewählt hat. Seine Art ist mehr Schilderung als Zukunftsbild, mehr Studie als Kritik, in der Gesamtheit ein umfassendes Panorama der englischen bürgerlichen Welt mit schicksalhafter Verflechtung des Alten und des Neuen. Der eigene Umkreis von Wohlhabenheit und Würde, bester Gentleman-Erziehung, gesundem Landleben gab diesem Angehörigen des oberen Bürgertums andre geistige Gesetze, als sie Wells in seinem Aufstieg aus gedrückter Lebenslage empfangen hatte, vor allem die Kunst eines „Innuendo", eines Andeutens und Ahnenlassens, die neben der geschilderten Wirklichkeit eine zweite fühlbar werden läßt und damit über die bloße Analyse nach Wells' Art hinausgeht. Aus dem umfangreichen Schaffen des Dichters soll nur das Werk zur Verdeutlichung seiner künstlerischen Art herangezogen werden, das seinen Weltruhm be-
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gründete und das man im Hinblick auf die Einblicke in den Volkscharakter geradezu eine Art Nationalepos nennen darf, der Romanzyklus The Forsyte-Saga (1906—1921). Eine Saga: wie die altisländischen Geschlechtergeschichten, von denen die Formbezeichnung entlehnt ist, das Leben einer mächtigen Sippe, das Leben ihrer Bauern und Fischer mit dem Denken und Fühlen einer bestimmten Zeit durchtränken und bei aller Zeitgebundenheit doch Urtümlich-Schicksalhaftes hindurchleuchten lassen, so entrollt sich hier das Panorama einer weitverzweigten Sippe, die aus solidem Bauernund Handwerkerblut zum Reichtum herangewachsen ist, in diesem Nährboden die Gesetze für äußere Lebensformen und sittliche Maßstäbe findet und die Spannungen ihres Volkstums erlebt. Der erste Roman, „Der Besitzer" (The Man of Property, 1906), der größte des Dichters, gibt die Grundlagen, viktorianisch.es Familiengefühl, Verpflichtung des Besitzes und der Respektabilität. „Was hülfe es dem Menschen so er seine Seele gewönne und nähme doch Schaden an seinem Besitz?" sagt hier ein geistvoller Prediger auf der Kanzel in sarkastischer Kennzeichnung der Mittelklasse (I. Kap. 3). Und ein etwas aus der Art geschlagenes Mitglied der Familie, das sich selbst als das fehlende Bindeglied zwischen zwei Lebensanschauungen empfindet, bestätigt es: Wir sind natürlich alle Sklaven des Besitzes. Es gibt Gradunterschiede; was ich aber einen „Forsyte" nenne, ist ein Mensch, der mehr oder weniger ein Sklave des Besitzes ist. Er weiß allerlei, er weiß, was Sicherheit bietet, mag es sich um Gattinnen, Häuser, Geld oder Ansehen handeln; das ist sein Prägestempel. . . Diese Leute machen halb England aus, und zwar die bessere Hälfte, die gesicherte Hälfte, die dreihundertprozentige Hälfte, die maßgebende Hälfte. Ihr Reichtum und ihre Sicherheit machen alles möglich — eure Kunst, Literatur, Wissenschaft, sogar eure Religion. Wo wären wir wohl ohne Forsytes, die an alles das nicht glauben, aber alles zum Nutzen wenden? Mein lieber Herr, die Forsytes sind die Mittelsmänner, die Zwischenhändler, die Säulen der Gesellschaft, die Eckpfeiler der Konvention, alles Treffliche. . . Die große Mehrzahl der Baumeister, Maler oder Schriftsteller hat ebensowenig Grundsätze wie die andren Forsytes. Kunst, Literatur, Religion leben von den paar komischen Käuzen, die wirklich an so etwas glauben, und den vielen Forsytes, die geschäftliches Kapital daraus schlagen. Dreiviertel unsrer Kunstakademiker, schlecht gerechnet, sind Forsytes, sieben Achtel unsrer Romanschriftsteller, ein großer Teil der Presse. Für die Wissenschaft kann ich nicht mitreden; prachtvoll sind sie in der Religion vertreten, im Unterhaus vielleicht zahlreicher als anderswo, und der Adel spricht für sich selbst. Ich lache nicht! Es ist gefährlich, sich gegen die Menge zu stellen — und was für eine Menge! . . . Die meisten Leute würden eine Ehe wie die von Soames und Irene als ganz erfolgreich ansehen; er konnte Geld bieten und sie Schönheit, das gleicht sich aus. Kein Grund, nicht so weiterzuschlendern, selbst wenn sie sich haßten. Es würde nichts ausmachen, wenn sie ihre eigenen Wege gingen, solange nur die Schicklichkeit gewahrt bleibt — die Heiligkeit des Ehebundes und der Hausgemeinschaft. Die Hälfte aller Ehen in den höheren Kreisen beruht auf diesen Grundsätzen: nicht die Empfindlichkeit der Gesellschaft und der Kirche verletzen! Das zu vermeiden ist die Opferung der persönlichen Gefühle wert. . . Die Seele des Ganzen ist Besitz . . . Und dabei sind alle diese Menschen Gefolgsleute des Einen, der nichts hienieden besaß. Es ist seltsam! (II, 10). Die ältere Generation, zehn Geschwister im Alter von fünfundsechzig bis sechsundachtzig, zeigt den Forsyte-Geist in allen Schattierungen, von der gemütbetonten Gutmütigkeit des Seniors Jolyon, dem genießerischen Junggesellen Swithin, dem nüchtern-rechnenden James, dem knickrigen Rogers bis zu den peniblen alten Tanten. In der zweiten Generation, dem Alter zwischen Mitte zwanzig und Mitte sechzig, ist der jüngere Jolyon, ein Kunstmaler und Versicherungsgarant, durch Ausreißen aus der Ehe mit einer österreichischen Erzieherin schon aus der Reihe getanzt, und George steht mit witziger Selbstkritik oft abseits. Die vollendetste Verkörperung des Eigentumssinnes aber entfaltet sich in dieser Reihe: der Rechtsanwalt und Kunst-
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Sammler Soames Forsyte, ein Mann von Korrektheit, Vornehmheit und Geschmack, dem die in harter Werbung errungene schöne Gattin in gleicher Weise Besitz ist wie gesellschaftliche Stellung, Haus und Bilder. Da kommt der Feuerbrand in diese kompakte Majorität, diese gefühlsarme Welt des Reichtums, der schweren Gediegenheit und des Grundsatzes: was besteht, ist recht. Es ist der Verlobte der lieben jungen June, der Enkelin des alten Jolyon und Tochter seines Sohnes, des durchgebrannten Kunstmalers. Dieser Eindringling, der Architekt Philip Bosinney — den „Freibeuter" tauft man ihn bald an der „Forsyte-Börse" —, der es gewagt hat, Antrittsbesuche im grauen Schlapphut zu machen, der kein Geld, keinen Sinn für Steifheit und Form, aber ein starkes Gefühlsleben und echtes Künstlertum besitzt, kommt in nähere Berührung mit Soames' Gattin Irene, als der Rechtsanwalt ihn mit dem Bau eines prunkvollen Landhauses beauftragt. In der wachsenden Liebe zu ihm findet Irene die Erfüllung ihrer fraulichen Sehnsucht, die ihr der nur aus Verstand und Berechnung bestehende Gatte mit all seiner Korrektheit nicht bieten kann. „Wenn man ihn gefragt hätte, ob er auch ihre Seele als sein Eigentum ansehe, so wäre ihm die Frage lächerlich und sentimental vorgekommen" (I, 5). Erschüttert steht der „Besitzer" Soames schließlich am Grabe seiner Ehe, als er das Unfaßbare erfährt und die zu Bosinney geflohene Gattin daheim nicht mehr vorfindet. Einen aus unwürdiger Rache gegen den Räuber seines wertvollsten „Eigentums" wegen Überschreitung der ausgesetzten Bausumme angestrengten Prozeß gewinnt er zwar, aber der volle Sieg des Besitzes ist nicht gelungen: Bosinney wird auf dem Wege zur Gerichtsverhandlung im Londoner Nebel von einem Omnibus überfahren — die Erregung vor dem Urteil, das den wirtschaftlichen Ruin bedeuten kann, hat ihn unachtsam gemacht —, Irene kehrt still und flügellahm in das Haus des Gatten zurück, ein gebrochenes Opfer des Eigentumsgeistes, des Forsytismus. „Nachsommer eines Forsyte" (The Indian Summer of a Forsyte, 1918) ist das sich anschließende Zwischenspiel betitelt, ein Stück voll zarten Schwingens der Seelen und feinster lyrischer Stimmung. Blumen und Amselgesang, freundliche Juniabende, sinnendes Ausruhen im Sessel bei der gewohnten Zigarre und einem gelegentlichen guten Tropfen, Chopins Musik, liebe, heitere Enkelkinder und ein anhänglicher Hund umgeben das milde Alter des gütigen, gepflegten Greises Jolyon. Er hat von seinem Neffen Soames Robin Hill gekauft, die von Bosinney erbaute und geschmückte Villa, und die Familie des Sohnes nach völliger Aussöhnung mit ihm ins Haus genommen. Nur die kleinen Kinder aus des Sohnes zweiter Ehe sind gerade bei ihm, die Eltern selbst mit June auf Ferien in Spanien. Noch kann der Fünfundachtzigjährige mühelos und mit Interesse seine „Times" lesen; aber sobald ein Vogel singt, läßt er das Blatt sinken, wenn die Abendsonne noch wärmen kann, schiebt er den Hut in den Nacken, und wenn eine Wasserrose ihre Blüte entfaltet hat, muß er gehen, um es der kleinen Holly zu zeigen. Irene kommt zu ihm! Sie hat Soames' Haus endgültig verlassen, lebt in Chelsea ärmlich als Klavierlehrerin und leistet in ihrer Freizeit soziale Arbeit in einem Heim für gefallene Mädchen. Der Greis hat ein feines Empfinden für das, was in ihrem Innern vorgegangen ist und vorgeht. Sie wird sein häufiger Gast, auf seinen Wunsch Klavierlehrerin der kleinen Holly, ihr Besuch ist immer eine ersehnte Freude, er hat ihr ein bedeutendes Legat ausgesetzt. Als er Irene bei einem Opernbesuch mitteilt, daß der Sohn mit Gattin und Tochter heimkehrt, muß die Freundschaft des gütigen, verstehenden Alters und der nach Wärme verlangenden Jugend und Schönheit ein Ende nehmen. Irene kann June nicht vor die Augen treten; wenn die verlassene Braut auch verziehen hat, vergessen kann man nicht. Der alte Jolyon bestätigt kurz die Mitteilung ihres Entschlusses. Da fühlt sie, wie schwer der Abschied ihn getroffen hat, und eilt noch einmal nach Robin Hill — zu spät, denn er ist bei einem der Herzanfälle, die ihm seit einiger Zeit zu schaffen gemacht haben, einge-
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schlafen, eine Viertelstunde vor der ersehnten Ankunft, die ihm das offen daliegende Telegramm verheißen hatte, friedvoll beim Summen der Insekten, dem Girren der Tauben, dem Duft der Blumen, der Fülle des Sommers draußen und in der Brust. Nur der Hund Balthasar ist bei ihm und greint, als er die regungslosen Züge betrachtet. Die Distelwolle ist still wie der Tod, und so ist auch das Antlitz des Herrn. Sommer, Sommer, Sommer! Lautlose Tritte auf dem Grase! „In schwieriger Lage" (In Chancery, 1920) heißt der zweite Roman. Der Besitzergeist kennt keinen Stillstand. Durch Knospen und Kämpfen, Kälte und Wärme folgt er den Gesetzen des Fortschritts auch in der Familie Forsyte, die ihn für immer gefesselt glaubte. Er kann nicht von der Umwelt abgetrennt werden, so wenig wie die Güte der Kartoffel von ihrem Boden. — Der Geschichtschreiber der englischen achtziger Jahre kann bestenfalls den etwas raschen Fortschritt von einem selbstzufriedenen und engen Provinzialismus zu dem noch selbstzufriedeneren, aber weniger engen Imperialismus darstellen, mit andren Worten, den Besitzergeist der in Bewegung geratenen Nation. Und wie in der großen Welt ging es auch mit der Familie Forsyte. Sie dehnte sich nicht nur auf der Oberfläche, sondern innerlich (I, 1). So beginnt es, und mit dem Gefühl des Triumphes über wiedergewonnenes Eigentum entläßt uns am Schluß der „Besitzer" beim ersten Blick auf sein Töchterchen. Dazwischen liegt der Zustand der Hilflosigkeit, des Ausgeliefertseins, so wie sich der Boxer fühlen muß, wenn sein Kopf unter den Arm des Gegners gerät; dies Bild steckt in dem Titel („In Chancery"). Soames kann es nicht fassen, warum Irene ihn verlassen hat und warum Versuche der Wiedervereinigung, die er als Großmut empfindet, zurückgewiesen werden. Nach einem Sohn verlangt er; denn was ist Besitz ohne Sicherung in einem Erben? In dem Künstlerviertel Soho lernt er Annette kennen, die bildhübsche Tochter einer französischen Speisehausbesitzerin. Noch aber ist seine Ehe, zwölf Jahre nach der Trennung, nicht geschieden. Ein Scheidungsgrund ist schwer zu finden, da natürlich die Schuld nur bei der Frau und nicht bei dem Mann mit dem makellosen Ruf gesucht werden darf. Der inzwischen Witwer gewordene Maler Jolyon Foryste stellt sich schützend vor die einsame, tapfere Irene und heiratet sie, als die Scheidung endlich erfolgt ist. Nun kann auch Soames die kleine Französin, deren Restaurant er mit einer schönen Abfindung für die nach Frankreich zurückkehrende Mutter aufkauft, als neu errungenen Besitz heimführen. Ein neuer Triumph des Gegenspiels bleibt ihm aber nicht erspart: Irene schenkt ihrem Gatten einen Sonn, Annette, deren „Aufgabe" der Sohn sein sollte, eine Tochter. Um des erhofften Sohnes willen hat er sich auf die Frage des Arztes lieber für das lebende Kind als die Sicherung einer Rettung der Mutter entschieden. Eine Tochter zwar nur, aber doch neues Leben, neues Eigentum. „Ma petite fleurl" so redet die Mutter die Kleine an, und Soames nimmt dies als Namen auf: Fleur soll sie heißen! — Die Zeit hat sich gewandelt. Einer nach dem andern aus der alten Forsyte-Reihe geht dahin, Autodroschken — bis zu zwanzig Kilometer Geschwindigkeit die Stunde — verdrängen die würdigen alten Hansoms, die junge Generation, Val und Jolly, redet im zackigen Oxforder Studentenjargon von Sport, Mädeln und Geld, das nicht mehr stolzes Besitzergefühl verleiht, sondern nur zum Ausgeben da ist, Beschränkung der Kinderzahl ist neue „wirtschaftliche" Weisheit. Val Dartie, der Sohn der von ihrem Spielergatten verlassenen Schwester Soames', verliebt sich in Jolyons Tochter Holly, deren Bruder Jolly ihn durch das eigene Beispiel zum Eintritt in die in Südafrika kämpfende Armee veranlaßt. Denn der Burenkrieg überschattet alles, Soames' Sorge um rechtzeitigen Verkauf der Konsols ebenso wie die Meinungen und Schicksale der jungen Leute. Jolly stirbt in Südafrika am Typhus. Val kommt leicht verwundet heraus und kann seine als Krankenschwester mitgefahrene Holly heiraten. Das Leichenbegängnis der alten Königin bedeutet den Abschluß einer großen Epoche.
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Ein schöner Spätsommer des Lebens war das erste Zwischenspiel gewesen; „Erwachen" (Awakening, 1920) heißt das zweite, in dem der kleine Jon — so haben seine Eltern Jolyon und Irene den ererbten Vornamen für ihn verkürzt — in der Heiterkeit des Hauses und der Liebe der Nächsten zur Schönheit heranwächst, zu einem Reich, das von allen Forsytes bisher nur sein Vater kannte. Dann folgt in dem letzten Teil der Romantrilogie, „ Z u vermieten" (To Let, 1921), das Liebesepos in feindlichen Häusern unter einem Motto aus „Romeo und Julia". Jon und Fleur verlieben sich. Die Vergangenheit der Eltern erfahren sie erst spät. In das reine und tiefe Glück der Kinder fällt der Schatten. Soames kann die Tochter, die ihm alles bedeutet, für eine Verbindung mit dem Sohn, den Irene doch ihm hätte schenken sollen, nicht hergeben und bittet das feindliche Haus um Verzicht. Der sterbende Vater Jolyon erwartet von dem Sohn Rücksicht auf die Mutter. Irenes Größe und echte Mutterliebe will selbst zurücktreten und Jon den Weg des Herzens gehen lassen. Er aber bleibt bei der Mutter und entsagt dem eigenen Liebesglück. Eine längere Auslandsreise soll die Wunde heilen helfen. Fleur heiratet den ungeliebten, aber aussichtsreichen Sohn eines Baronets, den jungen Verleger Michael Mont. Soames überschaut ein Leben des Erfolgs, aber der inneren Leere. Die alten Forsytes sind gestorben, Irene war nie gewonnen, Fleur ist auf der Hochzeitsreise in Spanien. Es herrscht Stille um ihn her, und an der Gartentür der Villa Robin Hill, die einmal das Symbol seines Eigentumstriumphes sein sollte, hängt das Schild „ Z u vermieten". „So hat er sie immer nur ersehnen und niemals erlangen können — die Schönheit und die Liebe in der Welt!" — Das ist der Abriß dieser „Saga", ein Familienschicksal, sichtbar gemacht in dem Lichtkegel der Jahre um 1886, den Burenkrieg und die Zeit kurz nach dem ersten Weltkrieg, breite Ausdeutung gesellschaftlicher Lagen, in denen die Leidenschaften der Menschen leben oder ersticken. Nicht die äußeren Neuordnungen der Gesellschaft, die Wells uns darstellt, sind hier das Thema, sondern die inneren Formen, der Geist. Diese Kampfansage einer neuen Generation ist die wirksamste, weil sie aus der Tiefe des Menschlichen kommt. Eine deterministische Verflechtung von Umwelt und Leidenschaften bestimmt die Schicksale, der Typus steht hinter dem einzelnen, an ihm gelangt er zum Erfolg oder zur Tragik. Selbst eine ganz in Unschuld und Schönheit wachsende Liebe wie die zwischen Jon und Fleur zerbricht an der seelischen Erbschaft, die sie aus ihren Familien mitbringen. Immer geht es um den Kollektivgeist, den „Forsytismus", der neben sich keine andre Weltanschauung duldet und der im Aufkommen neuer politischer, sozialer, künstlerischer und religiöser Ideale erst langsam zerbröckeln muß; die alte Bourgeoisie als Lebensanschauung, so gediegen sie an sich war, muß abtreten vor einem neuen, noch unbegreiflichen Geschlecht. In diesen mit fast naturwissenschaftlicher Treue ausgedeuteten Kausalzusammenhang sind die Menschen eingebettet, reich individualisierte Vertreter des Typus oder Gegentypus; als einzelne ohne Schuld ihr Wesen und Schicksal erfüllend, mit so großartiger Unparteilichkeit geschildert, daß wir auch die unsympathischen eher bemitleiden als verurteilen. So wird das Mitleid mit den Opfern der Dinge und Vorurteile das leitende Gefühl. Typenseelen leben in den Einzelseelen, und das Ergebnis ist das verdiente Ende, die leergewordene Schale, ein „ Z u vermieten". Nur die Vernunftehe Fleurs, die bei allem Zauber ihres Wesens doch eine Tochter Soames', eine „Habensnatur" ist, weist nach vorne, und damit ist der Keim für weitere Ereignisse gelegt, die der Dichter in einem zweiten Romanzyklus mit dem Titel „Eine moderne Komödie" (A Modern Comedy, 1924—1929) — wiederum drei Romane mit zwei Zwischenspielen — folgen ließ: Fleurs Ehe, die kein Seelenbund ist, an der Seite des lebenstüchtigen, rastlos schaffenden Mannes, Soames' Lebensabend in dem einzigen gebliebenen Besitz, seiner Tochter und seiner Gemäldesammlung, sein Tod als Folge eines Brandes der Kunstsammlung und damit der Abschluß der Epoche des
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„Forsytismus". Der zielklare Michael Mont allein sichert den Fortbestand, britischer Tatsachensinn und britische Willenskraft werden auch den Pessimismus der aus dem Gleichgewicht geworfenen Jüngsten überwinden. Galsworthy will ethisch wirken und lebt damit voll in der literarischen Haltung seines Volkes — Dichtung als Lebenskritik im Sinne Matthew Arnolds. Die das Gesamtwerk durchziehende Hauptgestalt, Soames Forsyte, wächst in sorgsamstem Aufbau trotz abstoßender Grundanlage zu einer versöhnenden Größe heran. Soames lehnt die neue Jugend, die keine „Kontinuität" hat, und die ziellose Unruhe der Nachkriegswelt ab und muß in seiner „Statik" dieser neuen Zeit als sentimental vorkommen, wie es dem Dichter selbst ergangen ist. Die Stellungnahme des zurückhaltenden Gesellschaftskritikers ist unverkennbar, er weicht ihr nicht in kalter Objektivität aus. Nur darf man nicht eine nackte These erwarten, für die das Dichtwerk die Plattform abgibt, wie es etwa Bernard Shaw will; dazu sind die Erscheinungsformen der Welt zu kompliziert, unsre Meinungen zu befangen. Die „photographische Treue", zu der Galsworthy sich bekennt, erfordert Kleinmalerei ebenso wie Einfühlung in kosmische Allverbundenheit, Natur und Umgebung als Seelenabbild der Menschen, und da kann es kein einfaches Richtig oder Falsch geben, da steht der Realismus des Sagbaren neben der durchschimmernden Welt des Unsagbaren, des in Gesten und Worten oder im Schweigen Verhüllten, die Konstanz der ewigen Natur, der „Erde", wie Meredith sagen würde. Das Leben ist nun einmal so, und wir haben es zu leben. Das ist feinste psychologische Kunst, und das legt eine sinnende Kontemplation als Stimmungselement über das Ganze, ein Gefühl der Unabänderlichkeit, nicht in ausgeführten Betrachtungen, sondern fühlbar in den Gesprächen und Gefühlsreaktionen. Der Stil ist biegsam und feinnervig, die Sprachhaltung der Generationen und Gesellschaftskreise zeigt bei aller vornehmen Zurückhaltung starke Individualisierung, der Neben- oder Hintersinn ist ebenso wichtig wie der dingliche Ausdruck. Das alles ist die Eigenart und Meisterschaft dieser ausschöpfenden Kunst, der man unrecht tut, wenn man in ihr nur das große kulturgeschichtliche Zeitbild sucht. Wer die scheinbar so leichten Tischgespräche bei Junes Abendgesellschaft („Der Besitzer", II, 2) mit ihrer seelischen Hintergründigkeit oder die Haltung der Gäste auf Rogers Hausball (II, 8) zu gestalten, wer das feine Schwingen der Seelen in der wunderbaren Zartheit des Nachsommer-Zwischenspiels vernehmbar zu machen und den Sommernachtszauber über die Liebe Jons und Fleurs auszugießen verstand, gehört in die Reihe der wahren Dichter.
3. D a s P r o b l e m d r a m a : J o h n G a l s w o r t h y und B e r n a r d S h a w Das Schicksal des Bühnendramas im Lande Shakespeares ist eine der eigenartigsten Erscheinungen nicht nur der literarischen, sondern auch der gesellschaftlichen Entwicklung. Der rasche und gewaltige Aufstieg des Volksdramas der Renaissance, der in dem größten Dramatiker einen die Zeiten und Räume überragenden Gipfel erreichte und in einer großen Zahl starker Talente zu einem breiten Strom der Volksunterhaltung und Volksbelehrung wurde, fand ein jähes Ende, als das Parlament im Jahre 1642 mit der Schließung der Bühnenhäuser den Sieg des puritanischen Widerstandes besiegelte. Das Drama erhob sich zwar in der Sittenkomödie der Restaurationszeit unter den späteren Stuarts wieder zu einem bedeutenden Rang, aber jetzt vor einem neuen Publikum, nicht mehr das Volk in seiner Masse angehend, nach Gegenstand und Form als französischer Import. Im 18. Jahrhundert herrschte das „Rührstück", die Komödie mit sentimentalem Inhalt und einem den primitiven bürgerlichen Geschmack befriedigenden versöhnlichem Ausgang, bis die einzigen
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Dramatiker von Rang, Oliver Goldsmith und Richard Brinsley Sheridan, mit echten Lustspielen dieser Zwittergattung ein Ziel setzten. Sie lebte zwar im 19. Jahrhundert als Melodrama auf der Bühne weiter, also als Spiel mit Musikeinlagen, das dem Gattungsnamen dann die Bedeutung eines ilachen, rührseligen Sensations- und Schaustücks mit Spekulation auf das populäre Unterhaltungsbedürfnis eintrug, aber überwiegend als wertlose Theaterschriftstellerei ohne künstlerische Bedeutung. Die Werke der Großen wie Shelley, Tennyson, Browning, Swinburne, John Davidson, Hardy, Robert Bridges waren Lesedramen oder wegen des Mangels an Theatertechnik Stücke von nur vorübergehendem Bühnenerfolg. Es ist bezeichnend, daß ein Byron, der viele Dramen geschrieben hat, gegen eine Aufführung protestierte. Das Drama stand immer außerhalb der eigentlichen Literatur, wie schon die Unterscheidung des „Stückeschreibers" (playwright) vom „Dichter" (poet) zu erkennen gibt. Selbst ein Shakespeare legte Wert darauf, sich durch echte „Dichtungen" epischer und lyrischer Art auszuweisen. Schillers Auffassung von der Schaubühne als einer moralischen Anstalt ist dem Durchschnittsengländer immer fremd geblieben, der puritanische Geist, der Erhebung und Läuterung in der Kirche sucht, hat an eine hohe Mission der Bühne nicht recht glauben können. Schaulust und Sensationsbedürfnis waren immer da, und die Schauspielkunst hat seit mehr als zwei Jahrhunderten bedeutende Namen aufzuweisen; das Theater selbst aber war ein geschäftliches Unternehmen wie andre Schaustellungen. Der große Wendepunkt liegt um 1890 herum. Bedeutende Kritiker hatten schon vorher nach einer Erneuerung des ernsten Dramas gerufen, ein Gastspiel der Comédie Française im Londoner Gaiety-Theater das Interesse mächtig angeregt, tüchtige Bühnenleiter sich um eine eigenständige Kunst gegenüber dem ungehemmten Einstrom umgearbeiteter französischer Stücke bemüht, der die Verflachung vollkommen gemacht hatte, als 1843 das Privileg der drei allein zugelassenen Bühnen aufgehoben und der Bedarf an Bühnenwerken bedeutend gesteigert wurde. Eine wirkliche Bühnenreform und mit ihr eine Wiedereinsetzung des Dramas in seine alten literarischen Rechte setzten aber erst ein, als das realistische Problemdrama der Skandinavier, insbesondere das gesellschaftskritische Drama Ibsens, seinen Einfluß gerade in einer Zeit ausüben konnte, in der auf allen Gebieten die Fragen des Daseins, der moralischen Werte und der Lebensordnung so stark aufgewühlt waren und in der die düstere Weltschau des Norwegers der skeptischen Lebensphilosophie so vieler geistiger Führer entgegenkam. Edmund Gosse trat für Ibsen ein, der Theaterkritiker William Archer übersetzte zahlreiche seiner Dramen und veranstaltete eine Gesamtausgabe, Bernard Shaw spielte ihn in seiner „Quintessenz des Ibsenismus" gegen Shakespeare als moralischen Lehrer aus. Zwar ist Ibsen auf der englischen Bühne nie so heimisch geworden wie auf der deutschen; die Renaissance des englischen Dramas und Theaters aber geht auf seinen Einfluß zurück. Sein Realismus, seine unpersönliche Objektivität in der Aufzeigung der Konflikte des modernen Lebens hatten dem Suchen nach neuen Grundlagen und Maßstäben etwas zu geben. An zwei typischen Werken soll die Haltung des neuen Problemdramas verdeutlicht werden. Das eine, Galsworthys „Kampf", ist kennzeichnend für die unpersönliche Objektivität in der Aufzeigung der polaren Lebenskräfte mit entsagendem Ausweichen vor der Realität, das andre, Shaws „Heilige Johanna", eine neurealistische, nüchterne Zerreißung des romantisch-geschichtlichen Schleiers, ein Thesenwerk gegen Lügenidealisierung. J o h n G a l s w o r t h y hat neben seinen Romanen ein umfangreiches dramatisches Werk hinterlassen, siebenundzwanzig Bühnenstücke, gedrängte Wirklichkeitsabbilder, gesellschaftskritisch wie die Romane. In einem Essay sagt er uns, worin er seine Aufgabe sieht:
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Ein Drama muß so gebaut sein, daß sein Sinn in einer Spitze ausläuft. Jeder Lebensund Charaktergruppierung wohnt eine Moral inne, und es ist die Aufgabe des Dramatikers, die Gruppierung so zu gestalten, daß die Moral scharf in das Tageslicht rückt. Von dieser Art ist die Moral, die von Stücken wie „Lear", „Hamlet" und „Macbeth" ausstrahlt. Drei Wege stehen, so heißt es weiter, dem Dramatiker offen: er kann populäre und allgemein angenommene Anschauungen gestalten; er kann seine eigenen Anschauungen gestalten, um so wirkungsvoller, je mehr sie den Erwartungen des Publikums zuwiderlaufen; er kann seinem Publikum vorsetzen keine fertigen Regeln, sondern die Phänomene des Lebens und Charakters, ausgewählt und zusammengefügt, aber nicht verzerrt durch den Standpunkt des Dichters, sondern furchtlos, unparteiisch, vorurteilslos dargestellt, so daß die Zuschauer das Stück Moral selbst ableiten, das die Natur erlaubt.. . Die dichterische Freiheit findet ihre Grenze an seinem Vorhaben. Nur in der Konzeption ist der Dramatiker frei. Er kann sich einen Charakter oder eine Charaktergruppe wählen, mit seinen Augen sehen, mit einer Idee verknüpfen, je nach Temperament; aber wenn die Charaktere einmal so gewählt, gesehen und verknüpft sind, ist er gezwungen, sie ritterlich und mit peinlichster Rücksicht auf ihre Haupttriebfedern zu behandeln. Sorge für den Charakter! Handlung und Dialog sorgen dann schon selbst für sich. Diesen dritten Weg schreibt Galsworthy sich vor. Er will Situationen hinstellen, Ursituationen, gegensätzliche Typen und Gruppen, die allein durch ihre Existenz eine Moral versinnlichen. Das dreiaktige Drama Strife {Kampf, 1909) nimmt als Ursituation den durch Lohnforderungen verursachten Ausstand der Arbeiter in einem walisischen Zinnplattenwerk. Den ganzen Winter über ist der Streik schon im Gange, die Gewerkschaft zahlt keine Unterstützungen mehr, es sieht traurig aus in den Arbeiterhäusern. Der Verwaltungsrat unter dem Vorsitz des alten John Anthony hat jede Lohnerhöhung abgelehnt. Man ist zwar geteilter Meinung über die Richtigkeit einer solchen Unnachgiebigkeit, der Produktionsausfall hat die Dividenden hinweggefegt, die Konkurrenz gewinnt Vorsprung, Ferienreisen müssen aufgeschoben werden, es gibt kein ruhiges und bequemes Leben mehr; der alte Anthony aber will von einem Nachgeben nichts wissen und schneidet alle Andeutungen kurz ab. Jetzt, im Februar, soll den Vertretern der Arbeiter auf ihr Ansuchen eine neue Unterredung gewährt werden, zu der auch Harness als Vertreter der Gewerkschaft erschienen ist. Er will Mittelsmann sein, die Arbeiter zu einer Herabsetzung ihrer Forderungen bestimmen und auch den Verwaltungsrat für ein Nachgeben gewinnen. Die Herren wären wohl bereit, verstummen aber auf das bestimmte „Neinl" des wortkargen, unbeweglichen Vorsitzenden. Die Arbeiterdelegierten erscheinen mit ihrem Führer, dem hohlwangigen, ärmlich gekleideten, ein wenig gebeugten, aber energiegeladenen David Roberts. In beiden Verhandlungsgruppen regen sich Stimmen für ein Kompromiß. Roberts und Anthony aber bleiben starr, der eine bei seinem „Recht", der andre bei der Ablehnung. So geht man unverrichteter Dinge auseinander. Auch Anthonys Tochter Enid, die Gattin des Werkdirektors Underwood, vermag den Vater nicht umzustimmen, weder durch die Schilderung der Not bei den Arbeitern noch durch den Hinweis auf seine eigene Gesundheit, die Ruhe und Schonung verlange. — In Roberts' ärmlichem Haushalt sieht es schlimm aus; kein Geld, kein Brennstoff, nur ein dünnes Süppchen auf dem Herd, die Frau krank und schwach, abgehärmte und klagende Nachbarinnen um sie. Nur Madge, die halsstarrige Tochter des alten Arbeiters Thomas, will von Not und Elend nicht reden hören. Enid Underwood besucht Frau Roberts, die früher ihr Dienstmädchen war, um irgendwie zu helfen. Als Roberts dazu kommt, versucht sie den Vater in Schutz zu nehmen, erkennt aber die Erfolglosigkeit ihrer Bemühungen. — Eine weitere Szene zeigt die Versammlung der Arbeiter auf dem Fabrikhof. 33 Di« Stimmen der Meister
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Der Gewerkschaftsvertreter Harness hat eben eine Herabsetzung der Lohnforderungen empfohlen. Die meisten Arbeiter sind dazu bereit. Da tritt Roberts auf das Podium zu einer feurigen Ansprache über Kapital und Ausbeutung. Fast hat er gewonnen, als er abberufen wird: seine Frau stirbt, nein, sie ist bereits tot! — Der Verwaltungsrat erwartet nochmals die Arbeiterdeputation; so war es verabredet, inzwischen sollte Harness zu den Leuten sprechen. Anthonys Kinder Edgar, der selbst zu dem Rat gehört, und Enid reden auf den Vater ein, jetzt, nachdem der Streik ein Todesopfer gefordert hat. Der Alte gibt gern eine Unterstützung; aber nachgeben kann er nicht! Man muß es in der harten Einsilbigkeit der englischen Worte hören: I have had to do with "men" for fifty years; I've always stood up to them; I have never been beaten y e t . . . There is only one way of treating "men"—with the iron hand. This half-and-half business, the half-and-half manners of this generation has brought all this upon us. Sentiment and softness, and what this young man, no doubt, would call his social policy. You can't eat cake and have it! This middle-class sentiment, or socialism, or whatever it may be, is rotten. Masters are masters, men are men! Yield one demand, and they will make it six. They are like Oliver Twist, asking for more. If I were in their place, I should be the same. But I am not in their place. (111,3)
Fünfzig Jahre habe ich mit den „Leuten" zu tun gehabt, habe ihnen immer gegenübergestanden und bin noch nie geschlagen w o r d e n . . . Es gibt nur ein Mittel, die „Leute" zu behandeln, die eiserne Hand. Die Halbheiten der heutigen Generation haben uns dies alles eingetragen, Gefühl und Weichheit und das, was dieser junge Mann hier sicherlich seine Sozialpolitik nennen wird. Man kann den Kuchen nicht zugleich essen und haben! Dies Mittelklassengefühl, der Sozialismus oder wie man dergleichen nennen mag, ist faul. Die Herren sind die Herren, und die Leute sind die Leute. Gebt nur einer Forderung nach, und sie stellen sechs neue. Sie sind wie Oliver Twist und verlangen immer mehr. Wenn ich an ihrer Stelle wäre, würde ich ebenso sein wie sie. Aber ich bin nicht an ihrer Stelle.
Ein Kompromißvorschlag der Arbeiter ist ohne Roberts beschlossen worden, nachdem dieser zu seiner toten Frau gerufen war. Der Verwaltungsrat überstimmt seinen Vorsitzenden und nimmt den Vorschlag an, Harness kann triumphierend das Ende des Streiks verkünden. Die beiden besiegten Kämpfer stehen sich ein paar Minuten stumm gegenüber. Anthony, der sich nur mühsam aufrecht halten kann, hebt die Hand wie zum Gruß und läßt sie fallen; Roberts' Blick wandelt sich aus Feindseligkeit zur Bewunderung, beide Männer verneigen sich in gegenseitiger Hochachtung. Dann geht der gebrochene Alte hinaus, gestützt auf seine Kinder. „Und warum das alles?" fragt einer der Direktoren. „Diese Bedingungen hatte man doch schon vor Monaten formuliert." Der Gewerkschaftsmann erwidert bitter: „Das ist eben der Spaß bei der Sache!" — Hier haben wir jene Lebens- und Charaktergruppierung, nicht mehr ringende Individuen, sondern moderne Gruppenseelen, Kapital und Arbeiterschaft, wirtschaftliche Gegebenheiten, in denen die einzelnen verklammert sind; die Gruppenseelen abgestuft je nach Verstand und Temperament, aber doch an ihre Massenform gebunden. In dem Brief an eine Zeitschrift sagte der Dichter einmal, er habe mit seinem Drama nicht eine industrielle Lage schildern wollen, sondern den Konflikt zweier halsstarriger Naturen und ihre übliche Tragödie, ihre Vernichtung. Will er damit die der Charaktergruppierung innewohnende Moral andeuten? Sie wird nicht ausgesprochen; jeder kann sie so mitnehmen, wie er sie herausfühlt. Gegeben sind die Verhältnisse und die Menschen; alles andre folgt mit unerbittlicher Logik aus ihnen, Handlungen sowie Dialog und Sprechart, die mit großer realistischer Unterscheidungskunst behandelt werden. Die „Standpunkte" sollen erklärt werden; der Dichter selbst wahrt Abstand und Objektivität, die man fast als kühl empfindet, die aber, anstatt bequem eine Lehre
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darzubieten, zum Mit- und Nachdenken aufrütteln. Eine entgötterte moderne Welt wird in der Gedrängtheit einer einmaligen, aber typischen Situation und in scharf umrissenen Charakteren enthüllt, wirklichkeitstreu, unabänderlich für die Sterblichen, ohne gefühlsmäßige Entscheidung für Recht oder Unrecht: die Antithetik des Lebens! Ähnlich sind alle Bühnenwerke dieses Dichters. Die poesiegeborene Hinaufhebung aus der Realität in einen höheren Sinn des Symbols, die die Romane auszeichnet, suchen wir hier vergeblich. Die Welt, wie sie nun einmal ist, beschäftigt diesen Humanismus des Verstehens und Mitleidens ; die Welt, wie sie sein sollte, ist der Gegenstand des kämpf- und reformfreudigen B e r n a r d Shaw (geb. 1856). Das Problemstück wird zum Thesendrama, das nicht bloß abzeichnen und deuten, sondern ändern und bessern will. Der alte puritanische Eiferersinn hatte das Bühnendrama einmal bekämpft; hier tut er Klügeres: er macht es seinen Zwecken dienstbar. Der Statik der Menschen Galsworthys steht bei Shaw die Dynamik der Neuerungssucht gegenüber, dem normalen englischen Durchschnittsmenschen sein Widerspiel, dem Herkömmlichen das Neue, dem Stillstand der Fortschritt. Das erscheint aber nicht als feste und geformte Lebenslehre, sondern als Komödie, mit Spott über die scharf erkannten Ungereimtheiten der menschlichen Natur, in der Form des Paradoxons, das mit seinem schlagfertigen Witz vor keinem überlieferten Wert des Lebens oder der Geschichte halt macht, das dem geistvollen Sprecher etwas sagt, dem Hörer aber nicht die Ruhe des nachdenkenden Verstehens in seiner raschen Zusammenfassung läßt; so etwa, wenn der Dichter von sich selbst sagt : „Ich bin ein typischer Ire, meine Familie stammt aus Yorkshire." Das brachte ihn vielfach in den Ruf eines Witzboldes, der nur niederreißt, um niederzureißen, der nur negativ geschichtliche und moderne Größen entthront. Wie umwälzend aber sein neues Thesendrama war, fühlt man nur, wenn man den Tiefstand des früheren englischen Theaters kennt. Er wird der „Maskenabreißer" der vorurteilsreichen Viktoriazeit, der Antiromantiker, der Tendenzdichter, der die Bühne als Sprachrohr für seine Ideen benutzt und keine Kunst um der Kunst willen schaffen will. Die in geistvoller Dialektik geschriebenen langen Vorreden, bisweilen länger als das Stück selbst, sind der wichtigere Teil der Lehre, die Dramen selbst mit ihrem karikierenden Dialog nur Beispiel und andre Form des Vortrags. Die negativ-rationalistische Haltung der ersten Werke weicht bald nach der Jahrhundertwende der positiveren Überzeugung von der „Lebenskraft", dem Lebenswillen, in dem der biologische Entwicklungsgedanke, Schopenhauers Willensphilosophie, die damals aufgekommene Eugenik und der puritanische Aktivismus zusammenfließen. Die Kräfte des Willens tragen das Leben; nicht das Glück ist Ziel alles Strebens, sondern die aus der Lebenskraft geborene Tat, die stufenweise Annäherung an den Übermenschen — nicht eine Auslesegestalt, sondern die kommende Hochform des Menschen überhaupt —, dem der eigene Wille zum sittlichen Maß der Dinge wird. So wird die Lebenskraft göttliches Prinzip für alle Höherentwicklung, wird Gott selbst der schöpferische Wille, „den Jesus den Vater im Himmel nannte, den wir Evolution, élan vital, Lebenskraft oder sonstwie nennen". Der gesellschaftskritische Propagandist begann mit Abhandlungen und Romanen und fand erst allmählich den seiner witzig-spielerischen Art gemäßeren Weg zur Bühne, die ihm nur eine andre Form der Abhandlung ist, mit Ablehnung der überlieferten Regeln des Dramas. Der sprühende Dialog und in ihm die Idee stehen demgemäß im Mittelpunkt, nicht die Handlung oder der Charakter, der immer — auch als berühmte geschichtliche Gestalt — ein Alltagsmensch ist. Die Spiele sind Lebenskritiken, bei denen wir mit dem Autor lachen, die große Weltwahrheit macht die Poesie aus. „Ich spreche die Wahrheit aus, das ist der beste Witz der Welt", sagt eine der Dramenfiguren. 33*
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Können Thesen- und Tendenzwerke dieser Art als dramatische Kunstwerke im üblichen Sinne gelten? Die Frage ist oft, aber doch gegenüber einer ganz neuen Form des Theaters falsch gestellt worden. Was der Dichter meint, soll an einem der berühmtesten, der echten Tragödie am nächsten kommenden Werk aufgezeigt werden, der Heiligen Johanna (Saint Joan, 1923). 1. Szene. Wir sind im Jahre 1429 im Schloß Vaucouleurs an der Maas. Der Schloßherr und Feldhauptmann de Baudricourt ist aufgebracht über seinen Verwalter, der ihm die gewohnten Eier nicht auf den Tisch bringen kann. Seitdem das Mädchen aus dem lothringischen Dorf auf dem Hofe ist, wo es ein Pferd und eine Soldatenrüstung haben will, sind Hühner und Kühe behext, Eier und Milch bleiben aus. Nach fruchtlosem Poltern läßt sich der Ritter herab, das Mädchen anzuhören, für das sich einer seiner Offiziere einsetzt. In harmloser Keckheit bringt sie ihre Bitte vor; sie will das belagerte Orléans befreien und den Dauphin in Reims krönen lassen. Gegenüber einer so entwaffnenden Naivität und der Fürsprache des Offiziers, der von der Mutter Gottes spricht, wird der rauhbeinige Schloßherr unsicher. Er gewährt die kriegerische Ausrüstung, Johanna macht sich beglückt auf den Weg nach Orléans, und siehe da — die Kühe geben wieder Milch, die Hühner legen „wie verrückt". Sie kommt also doch von Gott! 2. Szene. Im Thronsaal von Chinon warten die Großen des Landes auf den Dauphin, respektlos und unwillig, daß er sie warten läßt. Der alte Haudegen La Hire erzählt von der Ankunft des Mädchens, nein, eines Engels im Soldatenkleid. Da tritt der König Karl VII. ein — als Dauphin bezeichnet, weil er noch nicht gekrönt ist —, unmännlich und unköniglich, Gegenstand des Spotts, der Nichtachtung und schroffen Zurechtweisung. Ein Brief hat ihn von Johannas Ankunft in Kenntnis gesetzt, einer Heiligen nach Baudricourts Worten, die Wunder tun könne. Der Erzbischof von Reims widerspricht: eine Heilige? Unmöglich, denn Heilige werden nur von der Kirche geschaffen. Wunder? Die gibt es für die hohen Führer der Kirche nicht, die doch etwas davon verstehen; Wunder sind unschuldige und einfache Kunstmittel der Priester, um den Glauben zu stärken. Es wäre für den Erzbischof kein Wunder, wenn das Mädchen den Dauphin aus der Schar der Höflinge herausfindet, da er ja weiß, wie es gemacht wird. Für die andern aber ist es ein Wunder, das sie erschauern läßt, und für das Mädchen erst recht. Es regt sich ein neuer Geist in den Menschen, eine neue Epoche dämmert. Der Kirchenfürst muß auf der Hut sein; wäre er ein einfacher Mönch, so würde er lieber bei Aristoteles und Pythagoras Ruhe des Geistes suchen. Johanna erkennt den in der Menge der Höflinge untergetauchten Dauphin sofort. Der Erzbischof — der alte Fuchs wird er genannt — erwidert ihre verehrungsvolle Begrüßung mit einer vorahnenden Bemerkung: „Mein Kind, du liebst die Religion? . . . Das ist gefährlich." Ein „magnetisches Feld" geht von ihr aus, dem sich niemand ganz entziehen kann, auch nicht der Dauphin, dessen feiges Herz sich irgendwie von Größe und Reinheit angerührt fühlt. Zum unwilligen Erstaunen des Hofes überträgt er Johanna den Oberbefehl. Sie beugt dankerfüllt ihre Knie zum Gebet und kann nun ihr Werk beginnen. 3. Szene. Am Südufer der Loire bei Orléans wartet Dunois, der General, ungeduldig auf den Westwind, der seine Boote flußaufwärts an die Brücke tragen soll. Zu ihm kommt Johanna und verlangt unwillig den sofortigen Angriff. Alle Vorstellungen des erfahrenen Heerführers, dem ihre Verachtung der Gefahren imponiert, wehrt sie ab: lange genug habe sie gebetet, jetzt gebiete Gott zu handeln. Zuerst widerstrebend gibt Dunois nach, bald aber begeistert und nicht mehr zweifelnd, denn der Wind hat sich plötzlich gedreht! 4. Szene. Von dem eigentlichen Kriegsgeschehen — Orléans ist gefallen, das französische Heer in siegreichem Vormarsch — hören wir nur ganz beiläufig. Da-
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gegen werden die großen weltanschaulichen Kraftzentren enthüllt, um die die Schicksale kreisen, die Gegenspieler des Mädchens von Orléans. Das Ärgernis muß aus der Welt geschafft werden; darin sind sich die beiden Mächte, die katholische Kirche und die englische Diplomatie, völlig einig, so verschieden auch die mit größter dramatischer Wucht ausgespielten Motive sein mögen. Der weltmännisch überlegene, außerhalb aller moralischen Bindungen stehende, zynische Graf Warwick kennt nichts von den kleinlichen Haß- und Angstgefühlen seines Begleiters, des Kaplans Stogumber, in dessen Stockengländertum der Dichter eine Zielscheibe für die Pfeile seines Witzes erblickt. Warwick selbst ist kein Nationaltyp; seine lässig-kalte, ja grausame Höflichkeit, seine seelenlose Korrektheit, der alles Innerliche völlig gleichgültig ist, die auch in dem König nur den „primus inter pares", nicht aber einen Höheren sieht, machen ihn zum Vertreter des internationalen Feudalsystems, das den Boden sehr wohl kennt, auf dem es steht. Stogumbers Gründe gegen Johanna sind kleinlich und borniert: sie müsse mit dem Teufel im Bunde sein, denn wenn Engländer geschlagen werden, könne es nicht mit rechten Dingen zugehen; sie habe es gewagt, sogar den großen Talbot gefangenzunehmen; sie achte nicht die heiligen Gefühle und den Vorrang der Engländer, sie achte auch nicht den Papst; sie entwürdige sich durch Soldatenkleidung. Nationalgefühl? Franzosen? Neumodische Worte ohne Sinn für das, was man Burgunder, Lothringer, Pikarden, Gascogner nennt. So meinen die beiden Großen, der Graf und der Bischof. Die Leute sprechen, sagt Warwick, von Frankreich oder England als ihren Ländern; wo bleiben w i r da, die Feudalherren und die Kirche? Auch Bischof Cauchon weiß, worum es geht. Sie soll des Teufels sein, eine Hexe? Keineswegs; der Fürst der Finsternis schlägt, wenn er zupacken will, nicht den harmlosen einzelnen, sondern die allgemeine Kirche, deren Reich die ganze geistige Welt ist. Dagegen muß die Kirche auf der Hut sein. Das Mädchen ist eines der Werkzeuge des Teufels, sie ist nicht Hexe, sondern Ketzerin. Es beruft sich auf himmlische Stimmen und niemals auf die Kirche; wenn aber der Himmel sprechen will, so tut er es nur durch die Kirche. Wohin sollte man kommen, wenn der einzelne seine Gebote unmittelbar vom Himmel empfangen wollte! Aufstand des Individuums ! Vom Standpunkt des Kirchenfursten Auflehnung gegen die alleinige Mittlerstellung der Kirche, vom Standpunkt des Aristokraten Auflehnung eines neuen, alle Stände einer Volksgemeinschaft umfassenden Nationalgefühls im Gegensatz zu der querschnittartig durch die Völker gezogenen ständischen Ordnung. Protestantismus nennt es der eine, Nationalismus der andre. Das Ergebnis ist das gleiche: Austreten eines so gefährlichen Funkens. Den beiden klugen Verhandlungspartnern kommt es nur auf das Prinzip an, nicht auf die Bestrafung kleinlicher Verstöße. Der feste Grund, auf dem die beiden Mächte der mittelalterlichen Lebensordnung ruhen — Kirche und Feudalstaat — wird in wuchtiger Klarheit herausgearbeitet. Eine neue Welt ist im Anzug, die die geistige Freiheit des einzelnen und die nationale Gemeinschaft aller Glieder eines Volkes will. Hiergegen geht der Kampf der Großen, in dem die gefühlsmäßige Verbohrtheit der Kleinen nur erwünschte Hilfsstellung bieten kann. 5. Szene. In der Kathedrale von Reims, wo die Königskrönung soeben stattgefunden hat. Frankreich steht siegreich da; um die Wenderin des Schicksals aber wird es still und einsam, die Männer um sie herum, denen der tiefe Glaube an die gottgesandte Botin fehlt, wenden sich von ihr ab, selbst Dunois, der ihr menschlich zugetan, aber ein auf eigenen Kriegsruhm bedachter Praktiker ist und zu dem Geistigen, dem Genie, keinen Weg kennt. Nur der ehrliche Haudegen La Hire hält in schlichter Soldatentreue zu ihr. Verächtlich und kindisch der König, durch die vorwärtsdrängende Energie seiner Retterin, die ihm einmal durch magnetischen Einfluß eine Handlung abgerungen hat, in seinem Ruheverlangen gestört; scharfsinnig der Erzbischof, der als Klügster sich vom Hauch des Übermenschlichen irgendwie be-
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rührt fühlt, als Kirchenfürst aber eine Wunderdeutung mit ihrer Gefahr von sich weisen muß und die stolze, drängende Zuversicht des Mädchens als Ungehorsam und Hybris erklärt. Krone, Kirche und Armee wenden sich von ihr ab inmitten des Erfolges — die tragische Einsamkeit des gotterfüllten Genies. Einsam ist sie immer gewesen, bei dem Vater ebenso wie hier, wo sie doch am ehesten Freunde Frankreichs zu finden meinte. Nun aber ist sie weiser geworden. Was ist ihre Einsamkeit gegen die Verlassenheit Frankreichs und die Einsamkeit Gottes? Gottes Einsamkeit ist seine Stärke, und so soll es auch für sie gelten: „Es ist besser, mit Gott einsam zu sein." Seine Hilfe wird ihr nicht fehlen. Die Großen haben versagt; nun wird sie hingehen zu den einfachen Leuten und aus der Liebe in ihren Augen Kraft und Trost schöpfen, und wenn sie einmal durch das Feuer schreiten muß, dann wird das auf ewig der Weg in die Herzen dieser einfachen Menschen sein. Das wirft Johanna in leidenschaftlichem Ausbruch echter Frömmigkeit den oberflächlichen Spöttern entgegen, die den Notschrei aus verletztem Herzen nur in betroffenem Schweigen anhören können. 6. Szene. Johanna vor ihren Richtern. Der Inquisitor, ein Dominikanermönch als Vertreter des Großinquisitors, ist eine Gestalt, in der des Dichters Bemühung um eine gerechte Würdigung der Standpunkte am klarsten zutage tritt. Nicht ein finsterer, kalter, engstirniger Verfolger vertritt das Heilige Offizium, sondern ein gütiger, abgeklärter, verständnisvoller Greis, der die zahlreichen Punkte der Anklageschrift zur Verwunderung der kleinen Geister sofort zusammengestrichen hat und sich auf seine Aufgabe beschränken will, nicht zu richten, sondern lediglich festzustellen, ob Ketzerei vorliegt oder nicht. Was ist Ketzerei? Der frömmste und demütigste Mensch kann sie üben, ja sie beginnt in der Regel mit Frömmigkeit und Demut; fromm und demütig ist auch das einfache Mädchen, über das hier verhandelt werden soll. Ketzerei kleidet sich nicht in den Mantel der Falschheit oder Heuchelei. Sie beginnt dann, wenn der fromme Eiferer sich in Stolz und Verblendung anmaßt, in Nichtachtung der Kirche Gottes Willen selbst auszulegen; sie ist das, was der englische Graf Protestantismus genannt hat. Der Inquisitor ermahnt die Beisitzer, das Mädchen wohlwollend und freundlich zu behandeln und sich in ihrer eigenen Aufgabe nicht durch Rachegefühle leiten zu lassen. Wenn die Kirche streng sein muß, so nur aus Liebe zu der Menschheit und zu dem Ketzer selbst. In diesem Geist wird das Verhör geführt. Johanna verweigert unter Berufung auf Gottes Auftrag die Unterwerfung unter die Kirche. Sie versteht nicht, was man von ihr will. Auch der Erzbischof ist verständnisvoll und frei von pfäffischer Enge. Seine Sorge um die innere Festigkeit der Kirche reicht aber nicht an die menschliche Größe des Inquisitors heran, der e i n e n zertreten muß, um Millionen zu retten, der verurteilen muß, wo er zu der Erkenntnis kommt: sie ist unschuldig — subjektiv unschuldig, würden wir sagen —, denn ihr einfaches Gemüt versteht die Sprache der Oberen gar nicht. Das ist aas Schicksal, das über ihr waltet: ihr frommes Kindergemüt will Jahrhunderte vorwegnehmen, die die Mächte ihrer Zeit noch nicht zu tragen vermögen. Der Standpunkt des Widerspiels wird in der Person des Inquisitors auf eine gedankliche Höhe gehoben, die nicht nur das kleinliche Pfaffengezänk und den Zynismus des rein politisch interessierten Warwick, sondern auch die vorurteilslose Klarheit der geistig überlegenen Kirchenfürsten weit hinter sich läßt. Das in seinem schlichten Glauben so sichere Mädchen bricht zusammen, als man ihm den Henker zeigt und die Qualen der Strafe ausmalt; das Physische kapituliert in diesem Augenblick der höchsten Spannung eine kurze Zeit vor der seelischen Stärke — ein wirklichkeitsgetreuer Zug, der das Heroische nicht mindert, sondern eher steigert, weil er es nicht in romantischer Pathetik, sondern in schlichter Natürlichkeit findet. Sie unterwirft sich, ihre Freunde triumphieren. In dem Augenblick aber, als sie erfährt, daß sie auch nach einem Freispruch in englischer Gefangenschaft bleiben müsse und nicht mehr hinaus dürfe in die freie Gottesnatur,
Bernard Shaw
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findet sie ihre Stärke in der Einsamkeit mit Gott wieder. Sie zerreißt die Unterwerfungsschrift, sie ist bereit, einzugehen in das Reich der Wahrheit. Der fanatische Stogumber schleppt sie zum Scheiterhaufen; die andern folgen zu dem gräßlichen Schauspiel, nur der Grausamste von allen, Graf Warwick, liebt es nicht, so etwas anzusehen. Bald taumelt Stogumber wieder in das Verhandlungszimmer, halb wahnsinnig vor Entsetzen und Gewissensbissen. Er hat dies Sterben gesehen, er hat den Soldaten gesehen, der der schon von den Flammen Berührten ein aus zwei Stöcken gebundenes Kreuz reichte, er weiß, daß sie im Himmel ist und daß auf ihn die Hölle wartet. Als der Henker meldet, das Urteil sei vollstreckt, sagt Warwick nachdenklich lächelnd: Wirklich? Nichts mehr? E p i l o g . Wir sind im Jahre 1456, fünfundzwanzig Jahre nach der Verbrennung Johannas, in einem der Schlösser Karls „des Siegreichen". Dem im Bett lesenden König wird von einem der Zeugen des Prozesses die frohe Kunde gebracht, eine Nachprüfung des Falles habe die Unschuld der Hingerichteten erwiesen; von dem Gekrönten sei der Makel genommen, seine Würde einer Ketzerin oder Hexe zu verdanken. Bald erscheinen auch unter Blitz und Donner der Geist Johannas, der Bischof Cauchon, Dunois, der Soldat, der der Sterbenden das Kreuz gereicht hat, der Kaplan Stogumber, der Henker, Graf Warwick, alle in ihrer früheren Denk- und Sprachweise, ihr Verhalten rechtfertigend gegenüber der nunmehr Rehabilitierten, die in scherzendem Ton allen freundlich zuredet und gar keinen Groll hegt. Die Sache damals in Rouen war ein politischer Mißgriff, sogar ein böser Fehler, gesteht Warwick; aber wenn das Mädchen einmal eine Heilige werden sollte, so verdanke sie schließlich ihm den Heiligenschein. Da erscheint auch schon ein geistlicher Herr im schwarzen Rock nach der Mode von 1920 — die „komische Kleidung" erregt unbändige Heiterkeit bei den Leuten von 1456, während der Ankömmling ihr Aussehen als Maskerade empfindet —, um im Auftrag des Vatikans zu verkünden, daß Johanna, die die Stufen der Ehrwürdigen und Seligen bereits durchlaufen hat, nunmehr als „Heilige Johanna" in den Kanon der triumphierenden Kirche aufgenommen wird und als solche überall verehrt werden soll. Traumbilder mit Statuen in Kathedralen steigen auf, die Umstehenden knien verehrend nieder. Als dann die Visionen verschwunden und nur noch die Menschen da sind, stellt die Jungfrau die die Grundidee des ganzen Dramas anrührende Frage: „Soll ich nun von den Toten auferstehen und als lebendige Frau wieder zu euch kommen?" Da empfiehlt sich einer nach dem andern mit einem verlegenen Wort der Entschuldigung. Die neue Heilige ist schließlich so einsam, wie es das Mädchen in Reims und Rouen gewesen war, und spricht ein elegisches Schlußwort: O God that madest this beautiful earth, when will it be ready to receive Thy saints ? How long, O Lord, how long?
O Gott, der Du diese schöne Welt geschaffen hast, wann wird sie bereit sein, Deine Heiligen zu empfangen? Wie lange noch, O Herr, wie lange?
Ist dieser oft kritisierte Epilog mehr als ein frivoler Witz nach Shaws Art, möchte man ihn nicht nach dem erschütternden Erlebnis lieber entbehren? Shaw hat sich in der Vorrede bestimmt für ihn als unentbehrlichen Ausklang ausgesprochen. „ E s tut mir leid, er muß stehen bleiben." Das Thema greift über die irdische Johanna hinaus und schließt das Bild der kanonisierten ein. Ist die Welt fähig, das Große zu erkennen, das erst in der Geschichte seine Wirkung übt? Nein! Unsre irdischen Ordnungen sind so, daß der lebende Heilige, der über diesen Ordnungen steht, immer wieder verbrannt wird. Das Drama für sich wäre die Tragödie eines Einzelmenschen; der Epilog erhebt das Geschehen zu einem geschichtsphilosophischen Problem. Der Titel spricht ja auch von der „heiligen" Johanna, also von einer über die Zeit hinauswirkenden
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VII. Neue Klüfte
Kraft. Shakespeares „Heinrich V I . " habe in patriotischer Parteilichkeit und völligem Mißverständnis des Zeitgefühls aus Johanna eine Hexe und Zauberin gemacht, Voltaires Spottepos „La Pucelle" (Die Jungfrau) echt aufklärerisch das ganze Mittelalter persifliert, Schillers „romantischer Unsinn" in der „Jungfrau von Orleans" eine Gestalt geschaffen, die mit der geschichtlichen überhaupt keine Berührungspunkte aufweist, der Protestantismus die Haltung der Kirche verzerrt. Demgegenüber will Shaw in realistischer Objektivität die weltanschaulichen Mächte sichtbar machen, die ein Menschheitsdrama auslösen. Der Prozeß in Rouen wurde verhältnismäßig „fair" geführt — die Prozeßakten freilich geben dem Dichter nicht ganz recht —, die mittelalterliche Kirche konnte ihren Mittlerstandpunkt nicht verlassen, konnte bei der Auslegung des göttlichen Willens den Papst nicht durch einen Papst Johanna ersetzen lassen, wenn sie ihr Fundament in einer theokratischen Gesellschaftsordnung nicht untergraben wollte, von einem politischen Prozeß kann in einer Zeit, der die nationale Idee nicht fremd war, keine Rede sein. Die spätere Selig- und Heiligsprechung der zum Tode Verurteilten belastet die Kirche in keiner Weise. Eine so große Organisation der geistigen Führung muß ein feines Gefühl für Stimmungen und Wirkungen haben und Urteile revidieren können. Die persönliche „Freiheit eines Christenmenschen" ist protestantisches Dogma. Aber auch die katholische Kirche läßt die Erkenntnis zu, daß die höchste Wahrheit sich einmal in einem einzelnen geoffenbart habe, und es gibt genug Fälle, in denen Neuerer und Streiter gegen kirchliche Mundtotmachung später kanonisiert worden sind; Elastizität und Wiedergutmachung sind hier noch notwendiger als im Rechtswesen, wenn die lebendige Wirkung im Wandel der Zeiten nicht durch starres Festhalten am Überlebten erstickt werden soll. In der Tat ist ja das Mädchen von Orléans im Laufe der Zeit das höchste Symbol des französischen Nationalgefühls geworden. In dieser Problemlage hat der Theoretiker des Vorworts nun das Mädchen selbst zu deuten, das die Anklage überhaupt nicht verstand und in seiner primitiv-tiefen Frömmigkeit tragisch an den großen Mächten der Welt zerbrechen mußte. E r schildert die Menschlichkeit: ein ungebildetes Naturkind, ohne körperliche Reize, ohne die Anziehungskraft einer kräftigen Sinnlichkeit, ohne besondere geistige Begabung oder andre Vorbedingungen für einen romantischen Schimmer, nur als fromme Bäuerin erfüllt von den „himmlischen Stimmen". Und diese Stimmen sind in der Sprache ihrer Zeit nichts andres als der göttliche Funke, der in einem Kopernikus, Newton oder Galilei aufblitzte. Was Johanna erfüllte, kennt die Psychologie des 20. Jahrhunderts auch, nur benennt sie es anders. Sie sah ihr Ziel vor sich, sie verfolgte es überlegt und realistisch, sie handelte nicht aus Impuls oder mystischem Drang. Und doch geht von der geahnten Größe dieser gotterfüllten Einfalt ein „magnetischer Zauber" aus, der die rohen Soldaten zu ritterlichem Respekt nötigt, dem sich selbst der kluge Erzbischof nicht ganz entziehen kann, der symbolisch in den behexten Hühnern in Vaucouleurs und dem Wehen der Flagge vor Orléans zum Ausdruck kommt. Lebenskraft als religiöse Inspiration, eine über alle Erkenntnis hinausgehende Kraft, die den Menschen handeln läßt und zur Aufopferung befähigt. Es geht nicht um ein Einzelschicksal — das eigentliche Geschehen vollzieht sich ganz hinter der Bühne und zwischen den Szenen —, sondern um ein Problem, um den Kampf mittelalterlicher Ideen. Schillers Charaktertragödie, deren ganz aus dem Geist der Dichtkunst geborenen Sinn der Schriftsteller Shaw verkennt, lebt aus dem Gefühl, in erster Linie dem Nationalgefühl, und aus dem Gefühl sind tragische Gestalten überhaupt letzthin zu verstehen. Schillers Tragödie kommt damit der tieferen Wahrheit, auch der historischen, näher als das Werk, das von der Idee und der Analyse des modernen Kritikers ausgeht. Dem Dramatiker Shaw ist jedoch bei allem Schwergewicht der Problematik eine Gestalt gelungen, die aus tiefer Sympathie mit der Größe
Neurealismus in der Dichtung
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im Alltagsmenschen stammt. Der Realismus des modernen Umgangstons bringt viele geistvolle Erheiterungen. Wo aber die seelischen Urgründe aufgerührt werden, kann sich die Sprache auch zu hinreißender Seelenmusik erheben. Das Verhör vor dem Inquisitor gehört zu den stärksten Szenen der modernen dramatischen Dichtung und ist wohl die schönste, die Bernard Shaw geschaffen hat. Das Problemdrama war der stärkste Anstoß, keineswegs aber die einzige Form der nun in großer Breite sich entfaltenden Bühnenkunst. Wie bei dem Roman, so regten sich auch hier die Kräfte in den Landschaften. Die große keltische Erneuerungsbewegung, die der Lyrik so viel zu geben hatte, schuf in Irland ein neues nationales Drama und seinen bedeutendsten Vertreter, John Millington Synge, einen wahrhaft großen Dichter; in Schottland, Wales und in ländlichen Bezirken Englands entstand eine bodenständige Bühnenkunst. Die neueste Entwicklung hat das geschichtliche Drama und besonders das Gesellschaftsstück gebracht. Die bezeichnendste Wendung ist die zum religiösen Drama, also eine Wiedereinmündung des Bühnenspiels in die Sphäre, der es in der Antike und im christlichen Mittelalter entstammte.
4. N e u r e a l i s m u s in der D i c h t u n g Es ist aus dem Wesen der Gattung leicht begreiflich, daß die Bewegungen und Erschütterungen des letzten halben Jahrhunderts in der Versdichtung, also namentlich in der Lyrik, die größte Unruhe und Vielgestaltigkeit hervorgerufen haben. Die großen viktoriaoischen Vorbilder wirkten weiter, Romantik und Realismus blieben in den alten oder in gewandelten Formen die Antriebe, wobei die schon in der viktorianischen Zeit die Grundhaltung bestimmende realistische Richtung immer mehr den Ausschlag gab. Entscheidende Impulse brachten erst die Jahre um den ersten Weltkrieg herum, die nicht mehr bloß zu Problemen Stellung zu nehmen hatten, sondern aus neuem Erleben überhaupt eine neue Kunst vorbereiteten, in deren unabgeschlossenem Suchen wir noch stehen. Die „lauten neunziger Jahre" zeigten in der Lyrik nichts von der „fin de siecle"Stimmung und Dekadenz, die etwa das Werk eines Oscar Wilde kennzeichnen; sie sind die Zeit eines Kraftrealismus, einer willensbetonten Wirklichkeitskunst, die der imperialistischen Welle in der großen Politik entgegenkam. William Ernest Henleys Fanfarentöne zur Verherrlichung des Krieges, William Henry Newbolt mit seinem Appell an den alten puritanischen Weltbeglückungsgedanken, besonders aber Rudyard Kipling mit seinen Kasernenliedern, seinem geräuschvollen Jingoton und seinen farbenreichen Indienbildern waren die Wortführer. Daneben aber sprachen sich Mystik und Träumen symbolhaft aus, die seit dem 17. Jahrhundert als Gegenströmung der lebensnahen Dichtung in England nie verstummt waren. William Butler Yeats (1865—1939), der größte Dichter der angloirischen Renaissance, wuchs über die in einem tiefen Vergangenheitsgefühl wurzelnde irische Heimatkunst und die Erneuerung der nationalen Kräfte hinaus zu einem Gottsuchertum, das in einem an William Blake erinnernden Symbolismus immer wieder die Magie der Urgewalten des Guten und Bösen zu erfassen suchte. Walter de la Mare (geb. 1878) steht ihm nahe, der Dichter eines Traumlandes, der in musikalisch klingenden Versen in die Wunderwelt des Übersinnlichen hineinhorcht und aus ihr Ehrfurcht vor den Mysterien der Seele schöpft. Die stärkste Abwendung von der rationalistischen Sicherheit der Zeit vollzog der katholische Mystiker Francis T h o m p s o n (1859—1907), ein „metaphysischer" Dichter, dem Erdenverklärung nur als Abglanz des Heiligen, der himmlischen Schönheit, denkbar ist. Gottes Reich ist hier, ist in dir:
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VII. Neue Kräfte
Yea, in the night, my Soul, my daughter, Cry,—clinging heaven by the hems; And lo, Christ Walking on the water, Not of Gennesareth, but Thames I
Sein berühmtes Hauptwerk The Hound of Heaven (Der Jagdhund des Himmels, 1895), ist ein großes Gedicht von triebgeborener Sündhaftigkeit, Erdenhast und göttlicher Erlösung nach der Art frühchristlicher Allegorien. Gott selbst ist in kühner Bildhaftigkeit der Jagdhund, dem ein faustischer Mensch, gehetzt von irdischer Heimatlosigkeit und der Sinnlosigkeit des Daseins, entgegenläuft, während er ihm zu entfliehen meint. Er jagt der Liebe auf Erden nach; aber wo er sie findet, liegt der Schimmer göttlicher Liebe über ihr. Er sucht Treue und Schutz bei den ewig kreisenden Gestirnen; wieder aber muß er das göttliche Walten in der unabänderlichen Ordnung erkennen, er allein ist ein Treuloser. Kinderaugen werden doch wohl Ruhe und Antwort geben; jedoch auch aus ihrer Unschuld strahlt ihm das Göttliche entgegen. Die Stiefmutter Natur kann den Durst nach Erkenntnis des waltenden Geistes nicht stillen, immer näher kommt die Jagd den fliehenden Schritten, immer hilfloser wird er vor dem Schlag der Liebe, immer ratloser wird das Fragen nach dem Sinn von Tod und Vernichtung, bis der Gehetzte in Gottes Vaterarme zurückkehrt und die Hand der wahren Liebe ergreift. „Ich bin die Liebe, die du suchtest, du Törichtster, Blindester, Schwächster. Du stießest die Liebe von dir, als du mich von dir stießest." Eine rasende Jagd in Bildern und Farben, eine sinnlichkeitsdurchglühte Weltsicht, eine keuchende Beschleunigung der frei gebauten Verse bis zu dem ruhigen Ausklang der ermatteten Seele. Wortwahl und Sinnfülle des Ausdrucks zeigen eine barocke Übersteigerung, die nur aus der Empfindungstiefe verstanden und in der Parallele der metaphysischen Dichter des 17. Jahrhunderts richtig gewürdigt werden kann. Die geistige Unruhe der Zeit lebt hier in ekstatischen Visionen. Die Präraffaeliten hatten die verklärende Schönheit in der Vergangenheit gesucht; die neue Kunst will sie im Gegenwärtigen erkennen, dem Übergewicht des wissenschaftlichen Denkens eine Reaktion im Sinne des Seelischen entgegensetzen, das Leben in seiner nicht durch den Intellekt vergewaltigten Ursprünglichkeit erfassen, das Dynamische im Gesamtmenschen empfinden lassen, sie will das Lied von Heute singen. Das innere Erleben wird wieder Gegenstand der Poesie. Thompsons gewaltiges Gedicht stellt sich in diese Reihe ebenso wie Shaws „Lebenskraft": das Thema religiöser Seelenkämpfe, die William James religionsphilosophisch untersucht hat, lebt im Roman wie in der Versdichtung. Das alte Nebeneinander von Romantik und Realismus findet seine Synthese in einem metaphysischen Realismus, der jedem einzelnen seinen schöpferischen Anteil an dem Wege zur Vollendung zumißt und die moderne Vorherrschaft der lyrischen Ausdruckskunst begründet, auf die häufig das Wort Bewußtseinskunst angewendet wird. Die Grenzen der Seelenbezirke sind fließend; wo man früher von Vorstellungen oder Ideen sprach, gilt nur noch der Begriff des Bewußtseinsfeldes, so wie die Physik vom magnetischen Feld spricht. Nur wenn man diese Wandlung erkennt, findet man den Zugang zu dem so ganz persönlichen Suchen nach neuen bildhaften Ausdrucksformen, neuen Dingverknüpfungen, neuen Versarten in der uns so oft unverständlich anmutenden modernen Lyrik mit ihrer Erlösungssehnsucht. Es ist im Grunde dieselbe Wandlung, die etwa seit der Jahrhundertwende in einem Neurealismus den geistigen Raum der englischen Philosophie geschaffen hat, einem Realismus, der als Reaktion gegen den Idealismus auftritt, einem radikalen Empirismus, der sich nicht auf die sichtbaren Dinge beschränkt, sondern die Ganzheit der seelischen Gegebenheiten einbeziehen, die Bewußtseinsprobleme als durch Innenschau enthüllte Identität und Kontinuität des Charakters
John Masefield
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begreifen will. Das ist eine echte philosophiegeschichtliche Renaissance, eine Rücksendung auf den bodenständigen Weg des englischen Denkens. Bei dem Roman und dem Drama konnte es gewagt werden, durch die Analyse einiger weniger Meisterwerke die neuen Richtungen klarzulegen. Für die lyrische Dichtung ist das nicht im gleichen Maße möglich, weil sie eben als Bewußtseinskunst so ganz persönlich ist und weil es bisher an der überragenden Persönlichkeit fehlt, die das Fühlen ihrer Umwelt zu Werken von zeitloser Gültigkeit gestaltet hat. W. B. Yeats sagt in dem schönen Essay, den er seiner Anthologie „The Oxford Book of Modern Verse" vorangestellt hat: Nach meiner Meinung hat England von 1900 bis heute mehr gute Dichter aufzuweisen als in irgendeiner Epoche von gleicher Dauer seit Anfang des 17. Jahrhunderts. Es sind keine überragenden Gestalten da, kein Browning, kein Tennyson, kein Swinburne; aber mehr Dichter, als ich in meine Sammlung aufnehmen konnte, haben zwei, drei oder ein halbes Dutzend lyrische Gedichte geschrieben, die wohl bleibenden Wert besitzen. An einer Dichtung, die bei ihrem Erscheinen eine geradezu revolutionäre Erregung entfesselte und der eine Art Schlüsselstellung zukommt, mag der Wandel der Zeitalter illustriert werden. Es liegt auch ein bezeichnender Sinn für die Rolle der Dichtkunst in einer sozial und demokratisch empfindenden Gegenwart darin, daß gerade dieser Dichter des harten Alltags, der die Reinheit und Anmut in den Niederungen des Lebens sucht, unter dem ersten Premierminister aus der Arbeiterpartei, Ramsay Macdonald, im Jahre 1930 mit dem Kranz des „Poet Laureate" gekrönt wurde. J o h n Masefield (geb. 1878) wurde bald nach seinen Anfängen als Gedankendichter empfunden, in dem die spannunggeladene, kraftvolle Unruhe der Zeit lebte, als stärkster Gegensatz zu der den Heutigen fernen Welt eines Tennyson und Rossetti. Eine harte Seemannszeit als Schiffsjunge und Matrose, dann ein Wanderer- und Arbeiterdasein in Amerika ließen ihn die wilde Schönheit von Wind und Wetter, die Gefahren der Naturkräfte, die Roheiten, aber auch die Seelenwerte der derben Menschen erleben. Seine „Salzwasserballaden" (Salt Water Ballads, 1902) sind Düfte von Salzluft, Schiffsteer und Tabak, Wirklichkeitsklänge eines wettergestählten, gar nicht zimperlichen Mannes, den das Meer in seinen Bann geschlagen hat, den das „Seefieber" — so heißt eins der bekanntesten Gedichte — nicht mehr losläßt, der sich nichts Schöneres ersehnt als den pfeifenden Wind im nebligen Wetter, die klatschenden Segel, die treibenden Wolken, die kreisenden Möven und dazu das keck gesponnene Seemannsgarn eines Kameraden, echt im Ton wie Kiplings Soldatenlieder. Aus diesem Bereich der Sinne und Gefühle erwuchsen dann die Werke seiner Meisterschaft, gedankendurchwehte Versepen, mit denen der Chaucerschüler eine schon fast vergessene Gattung erneuerte. Die erste dieser Verserzählungen war nach dem Zeugnis des Herausgebers der Zeitschrift, in der sie erschien, die größte literarische Sensation seit Byrons „Don Juan" und fand den stärksten Widerhall bei den jungen Geistern: The Everlasting Mercy (Die ewige Gnade, 1911). Auf einem Spaziergang im Mai, so berichtet uns Masefield über den äußeren Anlaß, trat er aus einem dichten Wald auf eine freie Wiese unter der sinkenden Sonne. Der Gegensatz zwischen dem Walddunkel und dem Sonnenlicht rief in dem antinomisch empfindenden Dichter eine seiner blitzartigen Visionen hervor, und er sagte zu sich selbst: Ich will ein Gedicht über die Bekehrung eines Lumpen machen. Die schlichte Erzählung ist bezeichnend für seine Gedankenrichtung. Kontraste erregen ihn; er kennt kein Zwischenlicht, kein Halbdunkel, keine geistige Spaltung, er ist vielmehr von einer Art kindlicher Unschuld. Der Aufbau des Gedichts hebt die zwei Hauptteile, den Verworfenen und den Bekehrten, nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich voneinander ab. Die Hand-
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lung wird beziehungsreich in das Jahr 1867 verlegt, in eine Zeit, in der das dörfliche religiöse Leben noch ziemlich unbeeinflußt von modernen liberalen Gedanken war, in der eschatologische Vorstellungen, der Glaube an eine reale Hölle, an Tod und Gericht, an die leibliche Wiederkunft Christi den einfachen Mann beschäftigten, die Zeit der primitiven religiösen Geborgenheit, aus der George Eliots Silas Marner so jäh ausgestoßen wird. Vielleicht gab es in dem Dorf des verkommenen Saul Kane eine Gruppe der „Erweckungssekte", in deren Kreisen Bekehrungen besonders häufig erlebt wurden. Kane ist ein in liederlichem Leben verlumpter Taugenichts, der uns seine Geschichte erzählt. Nach knapp und kraß hingeworfenen Stichworten über sein früheres Leben beginnt er mit dem Boxkampf gegen den gleich ihm verlumpten Billy Myers, in dessen Wilddiebrevier er eingedrungen war. Ein unerhört gedrungener, erregter Wortwechsel, eine kurze Schimpfkanonade, gibt die Situation (Vers 3 2 ff.). Kane weiß, daß er für eine Lüge kämpft, auch daß er unfair kämpft, da der Gegner einen verrenkten Daumen hat, der ihm nach bösen Schlägen in der achtzehnten Runde den Sieg verschafft. In kräftigen Farben, in einer kraß realistischen Sprache erleben wir den Kampf und Sieg (13 2 ff.). Man geht in den „Löwen", die Spelunke, um den Sieg zu begießen. Es ist Adventzeit; die Beziehung zu der Ankunft des Herrn und der folgenden Bekehrung klingt an, flüchtige Christusgedanken regen sich selbst in dem rohen Burschen. An dem auf dem Polizeirevier schlafenden Wachtmeister schleichen die dunklen Gestalten vorbei. Dann folgt die Szene in der Kneipe mit Alkohol, Tabakdunst und muffiger Sinnlichkeit in der „Spielerei" mit dem Schankmädchen, ekle Bierseligkeit mit stumpfsinniger Zote in vitaler Eindruckskunst (384fr.). Ganz leise meldet sich der Abstand des Erlebenden in der zur Ironie erhobenen Frage: „Sind Schankmädchen keusch?" Selbst einem Saul Kane wird die Luft schließlich zu muffig; er öffnet das Fenster des „Schweinestalls des Teufels" und empfindet die beseligende, kühle Stille des Marktplatzes. Der Zweifel an dem Lumpenleben beginnt sich zu regen, der moralische Katzenjammer packt ihn, es treibt ihn hinaus zu einem wilden Amoklauf durch die Straßen. In einer dramatisch höchst packenden Weise werden innere Vision und äußere Handlung eins (596 fr.): nackt und fast wahnsinnig, laut tobend und gestikulierend zieht er die Feuerglocke und weckt mit dem Ruf „Feuer!" die schlafenden Bewohner. Die Schilderung des Örtchens unter dem Mondlicht und den treibenden Wolkenfetzen ist von großer Kunst; wie die Betten der Schläfer quietschen, die Fenster auffliegen, die Pferde in der Feuerwache unruhig werden: das alles ist Realismus des zuschauenden Erzählers, nicht eigentlich des delirierenden Kane. Er landet wieder im „Löwen", wo man ihn zu Bett bringt. Halb ausgeschlafen stürmt er aufs neue hinaus und trifft den Pfarrer, den unkomplizierten Vertreter einer geruhsamen Mittelstandsmoral, dem der Trunkenbold seinen Haß gegen Konvention und „cant" nicht vorenthält. So gelangt der Verstörte auf den Marktplatz. Es ist Morgen geworden, der Markt ist im Gange. Kane sieht ein weinendes Kind, dessen Mutter in den Laden gegangen ist. Er wendet sich zu dem kleinen Jimmy und erzählt ihm ein Märchen von lustigen Kätzchen, die sich in der Mondnacht herumtollen, schmucke Mäuschen braten, süße Milch schlecken, vom guten Onkel Rechtsanwalt, der den Lärm der Katzengesellschaft im Halbschlaf hört, sich aber bald wieder aufs Ohr legt; alles in entzückender Kindersprache (1104fr.) mit Deminutiven, malenden Worthäufungen, „und" -Anknüpfungen u. dgl. Das erregt eine Ansammlung, man entrüstet sich über ihn. Die Mutter kommt hinzu, schlägt das Kind und beschimpft den Trunkenbold. Der Wortschwall der Keifenden macht ihn stumm; aber schon der Gegensatz zwischen der schönen Regung, die das Kind in ihm wachgerufen hatte, und seinem äußeren Menschen, an den er so grob wieder erinnert wird, hätte ihm die Sprache verschlagen. Er fühlt seine Schuld, die Bekehrung ist im Gange (1304fr.).
John Masefield
Die letzte Stufe der Wiedergeburt vollzieht sich wieder in der Kneipe. Eine schmächtige Quäkerin kommt auf ihrem abendlichen Gang durch die Wirtshäuser auch hierher, um Seelen zu retten. Man lächelt über sie, ohne ihr aber zu nahe zu treten. Nur Kane fällt plump aus der Rolle zum Verdruß der eigenen Kumpane (13 5off.). Eine schöne und ruhige Rede der Quäkerin vollendet das Werk, das in ihm vorgeht. Kane fühlt neues Leben und neue Freude aufsteigen. Das Gedicht schreitet weiter zum lyrischen Gipfel und erhebt sich zur Musik Gottes im ekstatischen Reden (1444fr.), beziehungsreichen Naturbildern von Dämmerung und Erwachen, Bildern der Freude, der Schönheit, des Aufwärtsstrebens. Fromme Gedanken erfüllen den Bekehrten auch im Zigeunerlager. Er schreitet durch den Nebel und steigt über ihn empor: Jesus hat die Tür geöffnet. Der alte Pflüger zieht in heiterer Ruhe seine Furchen, aus denen neues Leben wachsen soll. Das Bild des sich immer erneuernden Lebens in der Natur zwingt den Bekehrten auf die Knie. Christus ist mit dem Pflüger, er, der das Korn wachsen läßt und die Felder frisch macht. Die Sprache wird zum Gebet zu dem Spender des Lebens und der Kraft, des heiligen Lebensbrotes, der „ewigen Gnade" (15 88ff.). Die Sonne strahlt in neuem Glanz, die Lerche singt ihr Preislied, Blumen zieren die Erde; die Lilie als die zarteste unter ihnen soll in das Herz des Erwachten dringen. Liedhafte Strophenandeutung macht den Abschluß des seelischen Vorgangs fühlbar. Das ist der Ausklang: die Schönheit der Natur wird erhöht durch den Seelenfrieden des Menschen, Mensch und Natur sind aufeinander abgestimmt. Die nackte Fabel der Dichtung ist eine banale Begebenheit, wie man sie in London an einer beliebigen Straßenecke von den Musikgruppen der Heilsarmee hören kann. Der Dichter aber erhebt sie zur seelischen Schönheit. In der Zeichnung der ihm aus eigener Erfahrung vertrauten Unterwelt findet er die wirkungsvollsten Töne. Die Kneipenluft und der erregte Boxkampf sind mit einer impressionistischen Kunst hohen Grades geschildert. Das ist echt, und da ist auch der Held echt. Es bedeutet auch keinen Verstoß gegen die Charakterisierungskunst, wenn an manchen Stellen etwas von dem Reichtum des reflektierenden Dichtergeistes in die Seele des verlumpten Kerls kommt, etwa bei den stimmungsvollen Gedanken auf dem Weg zur Kneipe, bei den durch die Nacht geweckten Empfindungen, bei dem dogmatischen Gespräch mit dem Pfarrer, bei der rührenden Märchenerzählung. Da spricht ja nicht der unmittelbar handelnde, sondern der wiedergeborene, besinnlich gewordene Mensch, der rückschauend das damals Erlebte berichtet und seelisch begründet. Der Dichter verabsäumt nicht, inmitten aller Schlechtigkeit die guten Keime in seinem Helden zu unterstreichen: er kennt die Bibel und hat sie in seinem Toben oft im Munde, er hatte eine gute Mutter, er hat sich soziale Gedanken gemacht, er hat auch ein Gefühl für Ehre. Gegenüber solchen Anwandlungen überschlägt sich dann bisweilen der Dichter in krassem Realismus, um dem Bild nichts von seiner Gemeinheit zu nehmen. Darin offenbart sich gerade das Antithetische, dem in einem höheren psychologischen Sinne eine Einheit innewohnt, als ein Hauptwesenszug des Gedichts. Rohstoff, Durcharbeitung und Ergebnis sind inhaltlich und stilistisch deutlich erkennbar und zeigen in ihrem Kontrast die beabsichtigte Wirkung der „neuen" Dichtung. Kanes Sünden entspringen nicht der Schwäche, sondern der Vitalität, die sich zum Paroxysmus steigern kann. In der Hybris ahnen wir die Wendung, die sich in Form eines Wunders vollzieht. Nicht eine Charakterzeichnung im gewöhnlichen Sinn der Verständlichmachung ist die Absicht, sondern die Erweckung der Ahnung für die geistigen Urgründe, aus denen das Wunder entspringt. Die aus geheimnisvollen Wurzeln kommende Bekehrung soll im Symbol des Vorgangs lebendig werden. William James, der philosophische Erforscher der religiösen Erlebnisse, unterscheidet in seiner Analyse des Bekehrungsvorgangs zwei Elemente, die kranke Seele und das gespaltene Selbst. Auch in Saul Kane leben Weltschmerzstimmung und Seelenspaltung. Er empfindet in
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seinem tieferen Selbst Ekel an dem eigenen Lebenswandel, er leidet unter der Häßlichkeit und kehrt das Heterogene hervor, er gelangt vom gemeinen Schimpfen — „1*11 bloody him a bloody fix, I'll bloody burn his bloody ricks", 502/} — zum Hosianna. Das Leben ist wilder, seltsamer, aufrüttelnder als irgend etwas in oder über der Welt. Die Mischung von Gemeinheit und Schönheit ist echt und wahr. Darum suchte Masefield seine Inspiration bei der reichen, triebhaften, unbekümmerten Natürlichkeit, die das Herzblut eines Chaucer, Shakespeare, Burns ausmachte. Seelenkraft im Kampf mit wütendem Chaos durchzittert das Versepos „Der Schmierer" (Dauber, 1913), das vielleicht die großartigste Seedichtung der englischen Literatur ist, frische Erregtheit und herrliches Erleben der Landschaft packen uns in dem prachtvollen „Reineke Fuchs" (Reynard the Fox, 1919), elegisches Sinnen in den Ausdrücken von Merediths Erdphilosophie, auf deren Schultern Masefield steht, erfüllen die Gedankendichtung Lollington Downs. Das ist der neue Realismus, der nicht wie der eines Flaubert oder Thackeray das Leben nachzeichnen, sondern in die Seelentiefen steigen will; ihm steht Dostojewskijs realistische Kunst mit ihrem sozialen Gefühl näher. Oh beautiful in this living that passes like the foam. It is to go with sorrow, yet come with beauty home. Masefield ist ein Dichter der Flamme, die noch aus der grauen Asche schlägt. Ein aufbauender Idealismus entdeckt das Wunderbare im Banalen, eine Blutübertragung aus dem Gefühlsleben der Primitivsten führt der Poesie neue Kräfte zu: Demokratisierung gegen Erstarrung! Eine Technik des brüsken Wechsels, unterstrichen durch formale Effekte — starre, taktgebundene, gewollt primitive kurze Reimpaare, realistisch gestoßene Sprache, burleske Reimwirkungen, vulgäre Syntax neben strömenden Versen eines ekstatischen Schwärmens — könnte leicht als grobe Psychologie mißverstanden werden, wenn man in der Dichtung ein rational verstehbares Charakterbild suchte. Es ist hohe Formkunst, die im Gesamterlebnis wurzelt. Zurückhaltung war das Kennzeichen der viktorianischen Zeit; das neue Jahrhundert hebt sie auf und sucht ungehemmt Symbole für seine Tiefenerlebnisse. Das ist die Ausgangsstellung für die jüngste, „modernistische" Entwicklung der lyrischen Ausdruckskunst. Die viktorianische Dichtung richtete sich an ihr Publikum; sie war, um einen Ausdruck der heutigen Psychologie zu gebrauchen, extrovertiert. Die moderne Dichtung ist introvertiert, ganz persönlich, und denkt nicht an die Wirkung auf eine Zuhörerschaft, höchstens an einen kleinen Kreis, weil ja auch allgemein anerkannte Grundsätze des Geschmacks kaum noch bestehen. Das Symbol sagt mehr als rationale Klarheit. Wer in der heutigen Welt lebt, erfaßt sie in einer neuen Ausdrucksform besser als in der überkommenen. Daher Formauflösung — während Masefield noch eine Wiederbelebung alter Formen betrieb —, neue Vers- und Reimkunst, Überraschung und Unruhe im Wechsel mit Entspannung und Rückfall ins Monotone. Das möglichst scharfe Erfassen des Bildes wird die Hauptsache, das treffende Wort und das die Vorstellung festhaltende Gleichnis treten an die Stelle des fließenden Rhythmus, der musikalischen Linie, des Aussprechens der Empfindung. Der Dichter wehrt sich gegen jede poetische Norm und strebt nach einem direkten, in der einmaligen Situation begründeten Konversationston, der in den Bildern und Redeformen eben die einmalige, nicht ausgesprochene Gefühlslage vermittelt. Der Stimmungsgehalt der Worte muß der Gegenwart, der Situation, der Person entsprechen, Wertungen wie poetisch oder prosaisch, alt oder neu, gewählt oder vulgär, gut oder schlecht gibt es nicht. Reimlose freie Verse mit einer Art inneren Singens treten an die Stelle künstlicher Formen, Knappheit und Sparsamkeit im Aufbau, lakonische Seiten-
Thomas Stearns Eliot
bemerkungen, hingeworfene Zitate, Erinnerungsfetzen wollen eine Bewußtseinslage festhalten, also das von allen Seiten gestörte und durchkreuzte Bild eines Augenblicks, das gerade in diesen Haupt- und Einschußfäden den Augenblick nachzeichnet. Robert Brownings Konversationsstil mit seiner oft andeutenden, flüchtigen, herzhaften Art war der Ausgangspunkt dieser psychologischen, neurealistischen Sprachkunst, deren Andeutungscharakter in Wortwahl, gebrochener Syntax, Anspielung oft geradezu nach einem Kommentar ruft. Ist das noch Gefühlsausdruck, ein durch die mäßigende Form gebändigtes Überströmen der Empfindung im Sinne Wordsworths, ist es nicht vielmehr Intellektualismus des kenntnisreichen einzelnen, der die andren nichts angeht? Gewiß, sagt der Modernist, aber keineswegs Rationalisierung und öde Lehrhaftigkeit. Der Adler hat seine Schwingen als Hauptkraft, der Jagdhund seine Geschwindigkeit und seine Witterung, der Raubvogel sein scharfes Auge und der in andren Dingen unterlegene Mensch seinen Verstand, der ihn an die Spitze aller Geschöpfe gestellt hat. Ein Mißtrauen gegen das Gefühl, das Schwäche ist, führt zum Glauben an den Geist, der allein in einer entzauberten, kalt gewordenen Welt den Weg nach oben zeigen kann. Die Spezialisierung des Wissens hat ja die Wortbedeutungen in den einzelnen Fächern abgegrenzt, und so braucht die Nachzeichnung einer Bewußtseinslage verstandesmäßig erfaßte einmalige Sinnverbindungen und Bilder. Der aus Amerika nach England übergesiedelte T h o m a s Stearns E l i o t (geb. 1888) ist mehr und mehr an die erste Stelle gerückt und darf heute als die stärkste dichterische Kraft angesehen werden. Waste Land („Die Wüste", 1922) heißt sein bekanntestes Gedicht, in dem der Kulturpessimismus nach dem ersten Weltkrieg seinen Höhepunkt erreichte; die öde Wüste als das grauenvolle Sinnbild einer ausgedörrten, hoffnungslosen Zeit, gesellschaftliche und geistige Überspitztheit, trocken, steinig, unfruchtbar unter dem Staub der Geschichte, schwer und behindert wie unsre traditionsbeladene Kultur, so daß wir uns durch ein wahres Labyrinth von Situationen und gelehrten Anspielungen hindurcharbeiten müssen, durch Klänge aus dem Alten Testament, Augustin, Shakespeare, Marvell, Goldsmith, aus Dante, Gautier, Verlaine, den Upanishaden und aus dem Tingeltangel. Und doch findet der einsame, verzweifelte Wanderer durch Gestein und Kaktus einen Weg, sieht in der Ferne ein Land seiner zweiten Geburt. Diese Heilsgewißheit führt den Dichter in andren Werken aus der Negation in die Bejahung, die der Anglokatholik in dem religiösen Bereich {Ash Wednesday, 1930) und in einer durch kunstvolle Musikalität gebändigten Tiefenlotung über die Ürgründe unsres Fühlens und Denkens (Four Quartets, 1944) findet. — Der Einbruch des Transzendenten in die Wirklichkeit der Geschichte wird in dem Drama Murder in tbe Cathedral („Mord im Dom", 1935), das Geist und Form der mittelalterlichen Spiele erneuert, zu einer über alle Zerrissenheit und Leere in eine aufbauende Zukunft weisenden Deutung der abendländischen Existenz. Der Märtyrertod des Erzbischofs Thomas Becket in der Kathedrale von Canterbury wird zum Angelpunkt des Verhältnisses von Kirche und Staat; durch ihn wird das äußere Geschehen der Jahrhunderte zur Gottesgeschichte. Die liturgische Form und eine freie Neubelebung des antiken Chors als des Symbols der mittelalterlich-kirchlichen Volksordnung, die eine andre Existenz als Realität fühlt und doch nicht begreifen kann, sind in eine Sprachkunst gebettet, die das Bühnenspiel über eine geschichtliche Porträtkunst und einen religiösen Predigerton hinaufhebt in die Freiheit gestalteter Schönheit und die Deutung des wahrhaft Humanen und in ihm des metaphysischen Urgrundes der Geschichte. Auf solche Hinführung zu den außerpersönlichen Mächten, nicht auf Handlungsentfaltung, kommt es dieser neuen Form des Spiels an, selbst bei modernen Gegenständen wie in Tbe Family Reunion („Der Familientag", 1939), in dem die antiken Eumeniden das Symbol abgeben. Der Dichter hat seine Auffassung
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VII. Neue Kräfte
vom Wesen des Dramatischen und den Aufgaben eines neuen Versdramas in mehreren Aufsätzen begründet. Natürlich stellt dieser Weg nicht die einzige Richtung in der Gegenwartsdichtung dar, wie ein Blick in jede Anthologie zeigt. Die Rückkehr zu alten Gedanken und Formen, die demokratischen Bemühungen um eine anschauliche Gestaltung der im Volke lebendigen Kräfte stehen neben der Sinnenempfindlichkeit der traditionsfeindlichen Neuerer, die eine Überwindung der Zerrissenheit in der Tiefe des eigenen Ich suchen. „Keine Epoche der Geschichte", sagt der Dichter Hugh Walpole, „hat einen so heftigen Wechsel der menschlichen Lage und Umwelt erlebt wie die letzten fünfundzwanzig Jahre. Es ist in gewisser Hinsicht leichter, die zweihundert Jahre zurückliegende Zeit zu verstehen als unsre eigene Zeit oder sich vorzustellen, wie das Leben in zwanzig Jahren aussehen wird." Das große Meisterwerk, das die Kräfte aus genialer Intuition zusammenfaßt und Gegenwart und Zukunft erhellt, ist noch nicht geboren. Es kann aber kaum zweifelhaft sein, daß in der innerlich starken Strömung der um Freiheit aus der Tiefe der eigenen Seele ringenden Priester des Wortes und des Bildes die schöpferischsten Kräfte einer dichterischen Erneuerung liegen, vielleicht mit dem Vorrang des Dramas, dem England einmal den größten Genius seiner geistigen Geschichte geschenkt hat.
Bibliographischer Anhang Die Absicht und Anlage des Buches ließen es als ratsam erscheinen, den Text nicht durch Fußnoten oder ziffernmäßige Verweisungen auf einen Anhang mit kritischen Bemerkungen und Nachweis der Einzelliteratur zu belasten. Bibliographische Hilfsmittel und Nachschlagewerke stehen dem, der sich eingehender über die behandelten Werke und die geistesgeschichtlichen Zusammenhänge unterrichten will, in ausreichendem Maße zur Verfügung. Ich nenne nur die wichtigsten. Für die Kulturgeschichte: W. Dibelius, England, 2 Bde., Leipzig 6 1931. F. Wild im Handbuch der Kulturgeschichte, Potsdam. G. M. Trevelyan, English Social History, London 1945. Für die Literatur- und Philosophiegeschichte: The Cambridge History of English Literature, ed. by A . R . Ward and A. R. Waller, 15 vols., Cambridge 1907/15. R. Chambers, Cyclopaedia of English Literature, ed. by D. Patrick, 3 vols., London 1901/04 (Biographien und Textproben). E . Legouis and L . Cazamian, A History of English Literature, London 1935. Die von A . Heusler, H. Hecht, L . L . Schücking, W. Keller und B. Fehr bearbeiteten Abschnitte in Walzeis Handbuch der Literaturwissenschaft, Potsdam. W. F. Schirmer, Geschichte der englischen Literatur, Halle 1937, The Cambridge Bibliography of English Literature, ed. by F. W. Bateson, 4 vols., Cambridge 1940. W. R . Sorley, History of English Philosophy, Cambridge 1920. E . von Aster, Geschichte der englischen Philosophie, Bielefeld 1927. R. Metz, Die philosophischen Strömungen der Gegenwart in Großbritannien, 2 Bde., Leipzig 1935. Für Biographien: Dictionary of National Biography, ed. by Leslie Stephen and Sidney Lee, 24 vols., London 1908/37 (auch in einer einbändigen Kürzung erschienen: The Concise Dictionary of National Biography, London 1931). The Oxford Companion to English Literature, ed. by P. Harvey, Oxford 2 1957. A Short Biographical Dictionary of English Literature, ed. by J . W. Cousin, London, letzte Auflage 1946 (Everyman's Library). Für Interpretationsfragen: W. Hübner, Die englische Dichtung in der Schule, Leipzig 1934; ders., Die Kunstprosa im englischen Unterricht, Leipzig 1940. Die folgenden Bemerkungen zu den einzelnen Abschnitten beschränken sich auf die Angabe leicht zugänglicher und empfehlenswerter Textausgaben der behandelten Werke, der wichtigsten Hilfsmittel für die Interpretation und der Nachdichtungen, denen die deutschen Textproben entnommen sind. Die Prosaübersetzungen stammen durchweg vom Verfasser. I. G e r m a n e n t u m Textproben aus dem Beowulfepos nach der maßgebenden, ausführlich kommentierten Ausgabe von F. Klaeber, Boston and London 3 1936; die deutschen Proben nach der Übertragung von H. Gering, Beowulf nebst dem Finnsburg-Bruchstück, Heidelberg 2 1929; die Homerstelle auf S. 19 nach J . H. Voß. Ausführliche Angaben der Einzelliteratur in der Klaeberschen Ausgabe und bei A . Brandl, Geschichte der altenglischen Literatur, Straßburg 1908. Die metrischen Erläuterungen (S. 17) nach A . Heusler, Deutsche Versgeschichte I, Berlin 1925. Für die Darstellung des Zeitraums noch heute wertvoll B. ten Brink, Geschichte der englischen Literatur, Bd. I, Straßburg 2 1899. Zur Kultur und Lebensanschauung: R . W. Chambers, Beowulf, An Introduction to the Study of the Poem, Cambridge 1921. J . de Vries, Die Welt der Germanen, Leipzig 1934. A . Heusler, Germanentum, 1934. J . Müller, Das Kulturbild im Beowulfepos, Halle (Studien zur englischen Philologie, Nr. 33). II. V o r s p i e l d e r R e n a i s s a n c e 1. Chaucers Canterbury-Geschichten zitiert nach dem Text von A . W. Pollard u. a. (Globe Edition), die deutschen Proben nach W. Hertzberg, Chaucers Canterbury-Geschichten, Hildburghausen (später Leipzig) 1870 u. ö.; das Zitat aus Dantes Hölle (S. 42) nach der Übersetzung von Philaletes, das aus dem Vogelparadies (ebd.) nach John Koch. Für den kulturgeschichdichen Hintergrund: G . M. Trevelyan, Illustrated English Social History, vol. I, London 1944. Chaucer als Künstler: B. ten Brink (s. o.) Bd. II; W. Clemen, Der junge Chaucer, Bochum 1938; N. Coghill, The Poet Chaucer, Cambridge 1949 (Home University Library). 2. Die alten Balladen liegen uns in der umfangreichen Sammlung von F. J . Child vor (5 vols, Boston 1882/ 98), aus der G . L. Kittredge eine gute und ausreichende Auswahl getroffen hat (Boston 1904). Die deutschen Textproben sind nach den ausgezeichneten Nachdichtungen von Hedwig Lüdeke gegeben: Balladen aus alter Zeit, Berlin 1922 (mit einer über die Stoffe und Formen orientierenden allgemeinen Einleitung von A. Brandl). 34 Die Stimmen den Meister
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Bibliographischer Anhang
3. Thomas Mores Utopia: die englische Bearbeitung von Ralph Robynson mit ausfuhrlichem Kommentar herausgegeben von J . Ch. Collins, Oxford 1904. Einfacher Textabdruck in Everyman's Library; deutsch von G . Ritter, Berlin 1922. III. S h a k e s p e a r e u n d s e i n e W e l t Die deutschen Proben aus Marlowes Doctor Faustus nach F. Bodenstedt, Shakespeares Zeitgenossen und ihre Werke (Charakteristiken und Übersetzungen, Bd. III), Berlin i860. Shakespeares Dramen in den deutschen Proben nach Schlegel-Tieck, das 66. Sonett (S. 145) nach L. Fulda, das 146. Sonett (S. 159) nach O. Gildemeister. Nachschlagewerk zum Drama der Renaissance (mit Inhaltsangaben und Literaturhinweisen): E . Eckhardt, Das englische Drama im Zeitalter der Reformation und Hochrenaissance, Berlin 1928; ders., Das englische Drama der Spätrenaissance, Berlin 1929. Führer durch die Shakespeare-Literatur: W. Ebisch and L . L . Schücking, A Shakespeare Bibliography, Oxford 1931, Supplement 1937. Shakespeare-Wörterbuch von A . Schmidt, 2 Bde., Berlin 4 1902. Von den zahlreichen Biographien bringt die von Sidney Lee (A Life of Sh., London 1915 u. ö.) das Tatsachenmaterial über Leben, Umwelt und Werke am reichhaltigsten, während die menschliche und künstlerische Entwicklung stärker betont wird bei J . Q. Adams (London 1923), A.Brandl (Wittenberg 4 1923), M. J . Wolff (München 4 1926), G.Landauer (Frankfurt 1923), F.Gundolf (Berlin 1928). Das seit 1867 erscheinende Jahrbuch der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft unterrichtet am besten über die Shakespeare-Pflege durch Wissenschaft und Bühne. E . L . Stahl, Shakespeare und das deutsche Theater, Stuttgart 1947. IV. B a r o c k und A u f k l ä r u n g Das 17. Jahrhundert beschäftigt in neuerer Zeit die Forschung lebhaft, weil es sich immer stärker als die wichtigste geistige Grundlage des modernen Englands erwqist. Von zusammenfassenden Untersuchungen sind besonders zu erwähnen: B. Wendell, The Temper of the 17th Century in English Literature, London 1904; P. Meißner, Die geistesgeschichtlichen Grundlagen des englischen Literaturbarocks, München 1934; B. Willey, The 17th Century Background, London 6 1946. — Für das 18. Jahrhundert noch heute wertvoll H. Hettner, Geschichte der englischen Literatur 1660-—1770, Braunschweig' 1913, ebenso L . Stephen, History of English Thought in the 18th Century, 2 vols., London 1882. Dazu von neueren Werken in erster Linie die beiden Surveys of English Literature 1730—1780 und 1780—1830 von O. Elton, je 2 Bde., London 1928 und 1920. 1. Bacons Essays bequem zugänglich in Everyman's Library und The World's Classics, in deutscher Übersetzung (mit Einleitung) von E . und L . L . Schücking, Leipzig 1940. Das für eine tiefere Deutung der Essays unentbehrliche Hauptwerk, das Neue Organum, ist in einer Übersetzung von Kirchmann in der Philosophischen Bibliothek erschienen (Berlin 1870, jetzt Leipzig). Zur Einführung in die Gedankenwelt des Philosophen: K . Fischer, F. Bacon und seine Nachfolger, Leipzig 1856 u. ö. W.Frost, Bacon und die Naturphilosophie, München 1927. Die neueste Biographie von E . Lewalter (Berlin 1939) gibt ein lebendiges Bild von dem Menschen und seiner Umwelt, geht aber nicht auf das Gedankengebäude ein. 2. Miltons Hauptwerk zitiert nach D. Massons Ausgabe in der Globe Edition, die deutschen Proben nach der Übertragung von B. Schuhmann in der von H. Ullrich besorgten Ausgabe der Poetischen Werke, Leipzig 1909. Für ein gründlicheres Studium des Dichters empfiehlt sich die neben den poetischen auch die Prosawerke umfassende, kommentierte Ausgabe von F. A. Patterson, The Student's Milton, New York 2 1947 dazu als literarischer Führer J . H. Hanford, A Milton Handbook, New York 2 1933. Für die Gedankenwelt wichtig: Denis Saurat, Milton, Man and Thinker, New York 1925; M. A . Larson, The Modernity of Milton, Chicago 1927; E . M. W. Tillyard, Milton, London 1934. 3. Defoes Robinson Crusoe in Everyman's Library. Deutsche Übersetzungen zahlreich, die neueste von H. W. Hoff, Einsiedeln 1942. H.Ullrich hat eine Zusammenstellung der gesamten Robinson-Literatur veröffentlicht (Leipzig). Swifts Gulliver englisch und deutsch in vielen billigen Einzelausgaben. Von den Biographien gibt die von C. van Dören (1932) das Beste für die psychologische Deutung. Die gesamte Swift-Literatur verzeichnet bei H . Teerink, A Bibliography of the Writings in Prose and Verse of Jonathan Swift, The Hague 1937. 4. Überblick über die Entwicklung der englischen Staats- und Gesellschaftslehre in vier Bändchen der Home University Library, London (Political Thought, von mehreren Verfassern). Hobbes' Leviathan in Everyman's Library, deutsch von J.P.Mayer, Zürich und Leipzig 1936. Bestes Werk über den Philosophen: F. Tönnies, Hobbes, Leben und Lehre, Stuttgart 1896. Lockes Hauptwerk deutsch von Th. Schultze, Leipzig (Reclam); die Abhandlung Of Civil Government in Everyman's Library. Zur Einführung: R . Reiniger, Locke, Berkeley, Hume, Wien 1922. Burkes Reflections in Everyman's Library, deutsch (gekürzt) von A . Maier, Leipzig 1931. j . Die beiden behandelten Hauptwerke Humes sind enthalten in den Essays Literary, Moral, and Political, die in vielen Ausgaben vorliegen (handlich und preiswert in The World Library of Standard Books, London o. J . , Ward, Lock & Co.); der moralphilosophische Traktat deutsch in der Philosophischen Bibliothek, Leipzig. Beste Einfuhrung in Hume in der Monographie von R. Metz (Frommanns Klassiker der Philosophie,
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Stuttgart). Die moralphilosophische Problemlage der Zeit erläutert bei W. Hübner, Mandevilles Bienenfabel und die Entwicklung der praktischen Zweckethik in der englischen Aufklärung.(in: Grundfragen der englischen Geistesgeschichte, Stuttgart 1941). 6. Adam Smiths Hauptwerk in Everyman's Library und The World's Classics, deutsch von F. Bülow, Leipzig 1933. V. Die Wiederentdeckung der Seele 1. Zum Aufkommen romantischer Strömungen: Helene Richter, Geschichte der englischen Romantik, 3 Bde., Halle 1 9 1 1 ; B. Fehr in Walzeis Handbuch (s. o.). Beste literarhistorische Führung in O. Eltons Survey 1780—1830 (s. o.). Grays Kirchhofselegie ist in den meisten Anthologien englischer Poesie abgedruckt. Die deutschen Proben nach der Ubersetzung von G. Legerlotz in der Anthologie Von beiden Ufern des Atlantik, herausg. von W. Prinzhorn, Halle. Goldsmiths Vicar of Wakefield in Evermyan's Library und The World's Classics, deutsch von F. Hörlich (Reclam). Robert Burns (Poems in der Globe Edition, Everyman's Library und The World's Classics) zitiert nach der Ausgabe von A. Cunningham, London 1842, deutsch nach den Übertragungen von F. Freiligrath (S. 284), O. Baisch (S. 286, 287, 288, 289, 290, 291) und L. G. Silbergleit (S. 292). Biographie von H. Hecht, Heidelberg 1909. 2. Die deutschen Textbeispiele aus Wordsworth nach den Übertragungen von Marie Gothein, W. Wordsworth, sein Leben, seine Zeitgenossen, Bd. II, Halle 1893; Coleridges Ancient Mariner nach F. Freiligraths Nachdichtung (1838, Neudruck München 1925). Die Unsterblichkeitsode (S. 503) als Beispiel für Wordsworths Weg von der Immanenz zur Transzendenz ausführlich interpretiert durch W. Hübner, Neuphilologische Monatsschrift III, 97 fr. Beste Biographien von G. McLean Harper, William Wordsworth, London 1929; L. Hanson, The Life of S. T. Coleridge, 2 vols., 193 8 f. Walter Scotts Romane in vielen billigen Einzelausgaben (Tauchnitz, Everyman u. a. Sammlungen), deutsch von B. Tschischwitz, Berlin 1876ff., und E. Walter, Berlin-Grunewald 1924. Die grundlegende Biographie von des Dichters Schwiegersohn J. G. Lockhart (gekürzt in Everyman's Library). 3. Byrons Dichtungen in der deutschen Fassung zitiert nach den Ubersetzungen von A. H. Janert (S. 327), H. Stadelmann (S. 333), H. Grüzmacher (S. 334), W. Schäfer, A. Böttger und R. Imelmann (S. 3 4 0 f r . ) , vereinigt in der Ausgabe der Werke von F. Brie, Leipzig o. J . ; Shelley nach A. Strodtmann, Leipzig o. J . (S. 345, 347, 350, 351) und J . Seybt, Shelleys poetische Werke, Leipzig 1844 (S. 352); Keats nach Marie Gothein, John Keats, 2 Bde., Halle 1897. Biographien: E. C. Mayne, Lord Byron, 2 vols., London 1912; Helene Richter, Lord Byron, Halle 1929; W. E. Peck, Shelley, His Life and Work, 2 vols., London 1927; S. Colvin, John Keats, His Life and Poetry, London 1917; Marie Gothein (s. o.). VI. Streben nach A u s g l e i c h : das „ v i k t o r i a n i s c h e K o m p r o m i ß " 1. Vorzügliche Einführung in die allgemeine Kulturlage: G. M. Young, Victorian England, Portrait of an Age, Oxford 2 1957. Für das heutige Wertgefuhl sehr aufschlußreich sind die von zahlreichen Vertretern des Geisteslebens gehaltenen Rundfunkvorträge, gesammelt als Ideas and Beliefs of the Victorians, London (Sylvan Press) 1949. Literaturgeschichte: O. Elton, Survey of English Literature 1830—1880, 2 vols., London 1920; L. Kellner, Die englische Literatur der neuesten Zeit von Dickens bis Shaw, Leipzig 1921. Darwins Origin of Species in Everyman's Library und The World's Classics, deutsch von C. W. Neumann (Reclam). J . St. Mills On Liberty in Everyman's Library und The World's Classics, deutsch von E. Haek (Reclam). Carlyles Heroes . . . in Everyman's Library und The World's Classics, deutsch in Kröners Taschenausgaben. Ruskins Unto this Last in Everyman's Library und The World's Classics, deutsch in einer 15 bändigen Ausgabe ausgewählter Werke, Jena 1900/1906. Biographien: E.Neff, Carlyle, New York 1932; S. Saenger, John Ruskin, Straßburg 1901. 2. Die großen Romane in vielen billigen Einzelausgaben, viele auch deutsch bei Reclam u. a. Beste Biographien: W. Dibelius, Charles Dickens, Leipzig 2 1926 (mit ausführlicher Bibliographie); R. Las Vergnas, W. M. Thackeray, Paris 1932; W. F. Monypenny and G. E. Buckle, Charles Kingsley, 2 vols., London 1929; J. W. Cross, George Eliot's Life as related in her Letters and Journals, 3 vols., London 1885 (auch in der Tauchnitz Edition). 3. Gute Anthologie mit Einfuhrungen: O. L. Jiriczek, Viktorianische Dichtung, Heidelberg 1911. Ausgaben der Dichter in den bekannten Sammlungen (Everyman, The World's Classics, Tauchnitz u. a.), in Einzelbänden in der Globe Edition und den Oxford Standard Authors. Die deutschen Textproben nach folgenden Ubersetzungen: Tennysons Crossing the Bar nach der Übertragung von R. König, alles übrige nach A. Strodtmann; R. Browning (S. 469) nach Adolf Friedrich Graf von Schack und (S. 473) H. von Heiseler; E. B. Browning nach R. M. Rilke; A. Ch. Swinburne nach O. Hauser. — Biographien: E. Koeppel, Tennyson, Berlin 1899, dazu die Memoiren seines Sohnes Hallam Lord Tennyson, 2 Bde., London 1897 (auch in der Tauchnitz Edition); W. H. Griffin, Robert Browning, London 2 1 9 1 1 ; zum Verständnis der Dichtungen nützlich das Browning Handbook von W. C. de Vane, New York 1935. H. W.Singer, D. G. Rossetti, Berlin 1905; dazu die vortreffliche Würdigung der Persönlichkeit von L. L. Schücking, Englische Studien Bd. 51 (1911). E . Gosse,The Life of A. Ch. Swinburne, London 1917. J . M. Mackail, The Life of W. Morris, 2 vols., London 1899 (billige Ausgabe in der Pocket Library bei Longmans). 34'
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Bibliographischer Anhang VII. Neue K r ä f t e
i. Merediths Gedichte kommentiert herausg. von C. M. Trevelyan, London 1912. Darstellung der Lebensphilosophie bei C. M. Trevelyan, The Poetry and Philosophy of George Meredith, London 1906. Ausgabe der Romane in Everyman's Library und Tauchnitz Edition; Richard Feverels Feuerprobe, deutsch von T. Greve, Minden 2 1912. Thomas Hardys Romane bei Tauchnitz u. a.; Tess deutsch von P. Baudisch, Berlin 1925. H. G. Wells' Hauptwerke bei Tauchnitz u. a.; Ubersetzungen in Einzelausgaben, Wien 1926/1933. J . Galsworthys Forsyte Saga bei Tauchnitz, deutsch von L. Schalit (mit andren Werken), Wien 192J/1934. 3. Galsworthys und Shaws Dramen bei Tauchnitz. Galsworthy deutsch von L. Schalit (s. o.), Shaw von S. Trebitsch, Berlin 1926/1931. Uber das neuere englische Drama: T. H. Dickinson, The Contemporary Drama of England, London 1920 (mit ausfuhrlicher Bibliographie). Beste Einführung in Shaw: J . Bab, Bernard Shaw, Berlin 2 1926. 4. F. Thompsons Gedichte (in Auswahl) herausg. von W. Meynell, London 1926; Der Jagdhund des Himmels übersetzt und erläutert von Elisabeth Kawa, Berlin 1946. J . Masefield, Collected Poems, London 1938; The Everlasting Mercy interpretiert von W. Hübner in der Deutschbein-Festschrift, Leipzig 1936. Die poetischen und prosaischen Werke von T. S. Eliot in Einzelausgaben bei Faber and Faber, London, deutsch im Erscheinen begriffen bei Suhrkamp, Berlin. Zur Deutung seiner Kunst: Helen Gardner, The Art of T. S. Eliot, London 1949. — Als Einführung in die allgemeinen Tendenzen der Gegenwartsdichtung geeignet: R. H. Strachan, The Soul of Modern Poetry, London 1922; Babette Deutsch, This Modern Poetry, New York 1935; H. Nicolson, The New Spirit in Literature (The Changing World, Nr. 2, B. B. C.).
Namenverzeichnis Die fettgedruckten Zahlen verweisen auf die Hauptstellen, die kursiv gedruckten auf den bibliographischen Anhang Addison, Joseph 43, 53,162,191, 199, 261
Aeschylus 148, 352, 498, 499 Alembert, Jean Lerond d' 243 Angelico, Fra 476 Anna, Königin 444 Archer, William $12 Aristoteles 257, 368 Arnold, Matthew 170, 310, 364, 365, 366, 382, 385, 4 5 8 , 4 7 5 , 490, 5 1 1
Augustin (Kirchenvater) 527 Aurel, Marc 378
Bach, Johann Sebastian 472 Bacon,Francis 81,160—170,215, 2 2 1 , 2 2 3 , 2 5 1 , 265, 3 7 7 , J)0 Bacon, Roger 24, 61, 216 Balzac, Honoré de 38, 318, 442 Baring, Maurice 213 Baudelaire, Charles 485 Beaumont, Francis 73 Becket, Thomas 21, 24, 26 Beda 2 Belleforest, François de 134 Benson, Stella 502 Bentham, Jeremy 231, 366, 375, 378, 391 Berkeley, George 214, 267, j)o Black, William 499 Blackstone, Sir William 232 Blake, George 499 Blake, William 485, 521 Boccaccio, Giovanni 25, 26, 39 Bodmer, Johann Jakob 170 Böhme, Jakob 472 Boswell, James 392 Bridges, Robert 512 Bright, John 406 Brion, Friederike 280 Browning, Elizabeth Barrett 365, 458. 473—475, 4 7 9 . 1 } 1
Browning, Robert 60, 365, 366, 458, 468—473, 474, 512, 523, 527» Bruce, Robert 51 Brunetière, Ferdinand 374 Buccleugh, Laird von 317 Buckle, Henry Thomas 263, 374 Bürger, Gottlieb August 49, 58,
Bunyan, John 19J, 196, 444 Burke, Edmund 215, 233—242, 265, 384, })0 Burne-Jones, Edward 481 Burns, Robert 283—294, 297, 3 0 1 , 3 1 6 , 3 1 7 , 390, 392, 4 4 2 ,
526. }}i Burton, John Hill 243 Butler, Samuel 366 Byron, George Gordon Lord 81, 269, 294, 295, 303, 318, 3 2 5 — 3 4 3 , 362, 363, 385, 408, 458, 4 9 1 , 512, 523, ! } i
Cabot, Sebastian 63 Cäsar, Julius 1, 126 Caine, Henry Hall 499 Calderon, Pedro 75 Calvin, Johannes 183, 259, 363 Campbell, Mary 290 Cardigan, Lord 460 Carducci, Giosuè 355 Carlyle, Thomas 61, 72, 73, 170, 260, 2 6 5 , 283, 294, 3 1 7 , 363,
364, 365, 366, 380, 384—396, 397, 399, 4 0 6 , 428, 443, 447, 4 5 8 , 4 7 3 , 4 7 5 , }}>
Castiglione, Zano 74 Cervantes, Miguel de C. Saavedra 109
Charlie, Prince 284 Chaucer, Geoffrey 2, 21—43, 72, 109, 4 8 2 , 483, 523, 524, J 2 9
Chesterton, Gilbert Keith 199 Chrestien de Troyes 23 Cicero, Marcus Tullius 112, 384 Cobden, Richard 406 Colbert, Jean-Baptiste 259 Coleridge, Samuel Taylor 60,148, 289, 294, 295, 296, 3 0 1 , 303,
305, 311—316, 317, 363, 392,
447, ! 3 '
Colet, John 63, 64 Comte, Auguste 375, 377, 450 Conrad, Joseph 199, 501 Cooper, James Fennimore 199 Cowper, William 269, 283, 289, 316
60, 3 1 7
Crabbe, George 363 Cromwell, Oliver 172, 222, 224,
408
Cross, John 449
Bulthaupt, Heinrich 132 Bulwer-Lytton, Edward George
259. 363, 38?, 3 9 ° . 392, 393
Dampier, William 193 Dante Alighieri 42, 61, 62, 110, 2 1 2 , 297, 347, 350, 387, 388, 3 9 4 , 3 9 5 , 3 9 7 , 4 0 2 , 464, 4 7 7 ,
527 Darwin, Charles 266, 363, 36}, 3 6 7 — 3 7 4 , 376, 395, J ß i
Darwin, Erasmus 257 Davidson, John 512 Defoe, Daniel 65, 187—199, 203, 3 1 8 , 5 0 1 , JßO
De la Mare, Walter 521 Dennis, John 268 De Quincey, Thomas 295 Descartes, René 148, 162, 249 Dickens, Charles 41, 199, 260, 266, 3 1 8 , 365, 367, 397, 400,
407, 408—443, 446, 452, 475, 5 ° 6 , J}i Dilke, Sir Charles 490 Dingelstedt, Franz 87 Disraeli, Benjamin 364, 365 Dos Passos, John 199 Dostojewskij, Fedor Michajlowitsch 81, 526 Douglas, Graf 51, 52, 53 Douglas, George 499 Doyle, Arthur Conan 502 Droste-Hülshoff, Annette von 297 Dryden, John 282 Du Bois-Reymond, Emil 373 Duns Scotus 24, 61, 216, 223 Eckart, Meister 61, 186, 472 Eckermann, Johann Peter 73, 1 3 3 , 3 6 4 , 373
Edward III., König 22 Eichendorff, Joseph von 326 Eliot, George 195, 365, 366, 367, 407, 4 4 9 — 4 5 8 , 506, 524, ¡ ) i
Eliot, Thomas Stearns 311, 527 — 52®» 13* Elisabeth, Königin 74, 77, 109, 1 7 1 , 2 1 5 , 3 1 7 , 428
Elliott, Ebenezer 458 Emerson, Ralph Waldo 170, 394 Erasmus von Rotterdam 63, 65, 164
Essex, Graf 148 Fenwick, Miss 296 Fergusson, Robert 291 Feuerbach, Ludwig Andreas 450 Fichte, Johann Gottlieb 395
Namenverzeichnis Fielding, Henry 40, 41, 199, 279, 280, 440, 444 Filmer, Robert 225, 228, 563 Flaubert, Gustave 527 Fletcher, John 73 Fontane, Theodor 60 Forster, Edward Morgan 502 Forster, John 430, 433 Fox, Charles James 233 Freiligrath, Ferdinand 44, 285, 3I2> ¡ 3 1 Fricker, Sara 302 Friedrich d. Gr., K ô n i g 385 Froissart, Jean 2, 53 Froude, James Anthony 490 Galilei, Galileo 520 Galsworthy, John 506—515, j ) 2 Gautier, Théophile 527 Geibel, Emanuel 170 Gentz, Friedrich v o n 233, 265 Geoffrey v o n Monmouth 149 George, Stefan 367, 479, 485 Giles, Peter 66 Gissing, George 366 Gloster, Herzog v o n 89 G o d w i n , Mary 344 Godwin, William 233, 344, 376 Goethe, Johann Wolfgang von 43. 5°. 58. 6°. 73» 79. 81, 82, 85. " 0 . 133. 135, 137. 145. 146. 154. 169, 170, 171, 192, 242, 252, 269, 280, 281, 283, 286, 288, 293, 307, 311, 317, 325, 327. 33°, 334. 335. 338, 339. 342. 350, 351, 3 6 ° . 3 6 4. 368, 373. 374. 383. 3«4. 39 1 . 394. 395. 39 6 . 444, 467. 4 7 i . 49» Goldoni, Carlo 342 Goldsmith, Oliver 40, 60, 162, 191, 192, 269, 276—283, 318, 3 6 3. 440, 5 " , 527. J}' G o o c h , G . P. 233 Gosse, Edmund 512 Gray, Thomas 269, 270—276, 283, 286, 351, 385, 496, ; } i Green, Thomas Hill 383 Greenwood, Walter 499 Gregor d. G r . , Papst 2 Gregory, Isabella Augusta 366, 490 Grimm, Jakob 386; Jakob und Wilhelm 44 Grocyn, William 63 Grotius, H u g o 221 Haggard, Henry Rider 502 Halifax, Charles Montagu Lord 225 Hallam, Arthur H . 465 Halley, Edmund 193 Hardy, Thomas 276, 366, 376, 492, 496—499, 500, 512, l}2 Harrington, James 225
Hartley, David 257 Hastings, Warren 233 Hegel, G e o r g Wilhelm Friedrich 62, 96, 268, 375, 383 Heine, Heinrich m Heinrich II., K ö n i g 21 Heinrich V I I . , K ö n i g 63 Heinrich VIII., K ö n i g 64, 66, 75, 223 Helps, Sir Arthur 397 Hemingway, Emest 199 Henley, William Ernest 521 Herbert, George 397 Herder, Johann Gottfried 43, 44, 46, 170, 192, 213, 241, 278, 280, 283, 374 Hesiod 352 Hobbes, Thomas 195, 215, 216—225, 232, 251, 252, 263, 264, 363, 375. ¡3« Hodson, James Lonsdale 499 Hoffmann, E . Th. A . 423 Holinshed, Raphael 89, 125 Homer 19, 173, 462 Hood, Thomas 365, 366, 458 Hughes, Richard 502 Hugo, Victor 294 Humboldt, Wilhelm von 376, 377. 378, 379. 381. 382, 383 Hume, David 214, 241,242—257, 260, 262, 263, 266,267,375, }}0 Hunt, Leigh 295 Hutten, Ulrich von 62 Huxley, Thomas Henry 374, 394 Ibsen, Henrik 365, 512 Irving, Washington 383, 501 Jahn, Friedrich L u d w i g 241 Jakob, K ö n i g v o n Schottland 51 Jakob I., K ö n i g von England 155, 171, 215 James, William 522, 525 Jerome, Jerome K . 502 Johann ohne Land, K ö n i g 21 Johann von Gaunt 25, 89 Johnson, Hester 211 Johnson, James 291 Johnson, Samuel 88, 126, 191, 242, 279, 297, 378, 390, 391, 501 Jones, Jack 499 Jonson, Ben 43, 51, 73, 133 Josua 1 8 4
Kant, Immanuel 192, 226, 242, 243,251,265,303,312,358,383 Karl I., K ö n i g 222, 224, 230 Karl II., K ö n i g 223 Karl v o n Kastilien 66 Kaye-Smith, Sheila 499 Keats, John 295, 325, 349, 355—362, 363, 385, 458, 465, 485. } } *
Keble, John 446 Kingsley, Charles 195, 365, 366, 3 6 7. 376. 399. 407. 428, 446—449, Kipling, Rudyard 199, 366, 492, 501, 502, 521, 523 Kleist, Heinrich v o n 87 Klopstock, Friedrich Gottlieb 170 K n o x , John (Reformator Schottlands) 389, 390 K n o x , John (Seefahrer) 193 Kolumbus, Christoph 63 Kopernikus, Nikolaus 221, 520 K y d , Thomas 135 Laboulaye, Édouard de 376 Lamarck, Jean-Baptiste de 368 Lamb, Charles 41, 162, 377 Lancaster, Heinrich v o n 89 Landor, Walter Savage 169 Langland, William 40, 54 Larochefoucauld, François de 167 Leibniz, Gottfried Wilhelm 232, 266, 371 Leicester, Graf 324 Lessing, Gotthold Ephraim 77, 170, 192, 233, 364 Lewes, George Henry 449, 457 Lietz, Hermann 407 Liliencron, Rochus v o n 60 Linacre, Thomas 63 Locke, John 215, 216, 226—233, 242, 243, 249, 251, 260, 264, 3°5. 3 6 3. 377. />» Lockhart, John Gibson 294, j ß i Loewe, Carl 44, 45, 49 London, Jack 199 Longfellow, Henry Wadsworth 365 Lope de V e g a 75 L u d w i g X I V . , K ö n i g v o n Frankreich 223, 260 Ludwig, O t t o 108, 124 Luther, Martin 186, 389, 390, 395 Lyly, John 77 Macaulay, Rose 367 Macaulay, Thomas Babington 22, 169, 233, 278, 363 Macdonald, George 499 Macdonald, Ramsay 523 Machiavelli, Niccolò 64, 74, 163, 363 Macpherson, James 43 Malory, Sir Thomas 407, 479,482 Malthus, Thomas Robert 266, 366, 368, 381, 406 Mandeville, Bernard 252, 265, 375. J ) ' Maria Stuart, Königin 74 Marlborough, Herzog v o n 444 Marlowe, Christopher 73, 76, 77, 78—86, 98, n o , 146, jßo Marryat, Frederick 199, 501
N amen Verzeichnis Marvell, Andrew 527 Marx, Karl 266, 406 Masefield, John 199, 489, 523—526, ! 3 2 Massinger, Philip 73 Maurice, Denison 195, 399, 447 Melville, Herman 199 Meredith, George 365, 491—496, 500, j 1 1 , i } 2 Meyerbeer, Giacomo 471 Miegel, Agnes 60 Mill, James 366, 375, 378 Mill, John Stuart 257, 310, 365, 366, 375—384, 403,
492, 428, 366,
363, 406,
49°. J ) 1 Milton, John 81, 82, 170—187, 225, 230, 233, 251, 260, 269, 295» 3°5» }o6, 377, 385, 399, 405, 406, J)0 Mohammed 386, 387, 391, 395 Molière, Jean-Baptiste 342, 434 Molina, Tirso de 342 Montaigne, Michel de 43, 164, 167, 394 Montesquieu, Charles-Louis de 192, 232 Moore, George 366, 490 More, Sir Thomas 61—72, 215, J}° Morris, William 364, 365, 366, 406, 407, 475, 481—484, ! } i Morton, Kardinal 64, 66 Moses 184 Mozart, Wolfgang Amadeus 342 Millier, Adam 265 Miiller, Wilhelm 326 Murray, John 388, 342 Napoléon 295, 309, 325, 392, 393, 394 Nelson, Horatio 309 Newbolt, William Henry 521 Newman, John Henry 446, 447 Newton, Isaac 193, 212, 221, 371, 520 Nietzsche, Friedrich 81, 356 Norfolk, Herzog von 89 Novalis 297 Occam, William von 24, 61, 216 Ossian 43, 46, 269 Otway, Thomas 282 Ovid 487 Pater, Walter 366 Payne, Thomas 376 Percy, Graf von Northumberland 5i. 53 Percy, Thomas 43, 269, 282, 309, 317 Petrarca, Francesco 25, 36, 62 Petty, Sir William 261 Phillpotts, Eden 499
Pico della Mirandola 65 Pitt, William d. A . 233 Pitt, William d. J . 233 Platen, August Graf von 37 Plato 64, 66, 67, 7 1 , 1 3 2 , 215, 257, 3°5> 344. 394 Plautus 77 Plutarch 125, 132 Poe, Edgar AUan 199, 477, 501 Pope, Alexander 192, 194, 242, 267, 294, 467 Powys, John Cowper 499 Powys, Theodore Francis 499 Price, Richard 234 Priestley, Joseph 257 Protagoras 214 Pusey, Edward 446 Quesnay, François 260 Raffael 476 Raleigh, Sir Walter 98 Ramsay, Allan 291 Ricardo, David 266, 366, 403, 405, 406 Richard I. Löwenherz, König 21, 54, 320 Richard II., König 25, 51, 89 Richard III., König 65, 89 Richardson, Samuel 196, 279 Richter, Jean Paul 384 Robert, König von Schottland 51 Robynson, Ralph 65, ;30 Rockingham, Lord 233 Rossetti, Christina 365, 480—481 Rossetti, Dante Gabriel 60, 365, 366, 475. 476—480, 523, ) } i Rousseau, Jean-Jacques 43, 155, 185, 196, 233, 243, 294, 390, 392. 395 Ruskin, John 266, 363, 365, 366, 396—407, 428, 443, 475, 476, 481, J}i Russell, Bertrand 383 Saint-Hilaire, Geoffroy 368 Saint-Simon, Claude Graf von 375. 377 Salisbury, Johann von 225 Savonarola, Girolamo 449 Saxo Grammaticus 134, 135 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 312 Schiller, Friedrich von 60, 89,106, 125, 199, 252, 383, 512, 520 Schiller, F. C. S. 374 Schlegel, August Wilhelm von 87. 93. 97. " 6 , 140, 388, f j o Schleiermacher, Friedrich 383 Schopenhauer, Arthur 324, 473, 496» 515 Schreiner, Olive 366 Schubert, Franz 460 Schumann, Robert 338, 460
535 Scott, Sir Walter 22, 54, 60, 74, 294, 296, 309, 316, 317—324, 363. 365, 408, 420, 444. 447. 496. 499. ¡ 3 ' Seeley, John Robert 490 Selkirk, Alexander 193 Shaftesbury, dritter Graf 252, 256 Shakespeare, William 26, 42, 73—160, 170, 1 7 1 , 175, 213, 267, 268, 282, 295, 315, 387, 388, 389, 395, 408, 443, 467, 468, 494, 5 1 1 , 512, 520, 526, 527. Jß° Shaw, Bernard 126, 342,489,491, 492, 5 1 1 , 512, 5 1 5 — 5 2 1 , 522, J32 Shelley, Percy Bysshe 295, 303, 325. 343—355. 358, 360, 362, 363. 3 6 4. 385. 458. 491. 512, Sheridan, Richard Brinsley 512 Sidney, Algernon 225 Sidney, Sir Philip 43, 5 1 , 1 4 9 , 1 5 2, .324 Simon von Monfort 5 8 Smith, Adam 229,257—267, 366, 398. 399. / i ' Smollett, Tobias George 199, 279, 280, 440 Sokrates 378 Sophokles 148 Southey, Robert 295 Spencer, Herbert 216, 365, 374, 376. 449 Spenser, Edmund 37, 173, 192, 269, 462 Spies, Johann 79 Spinoza, Baruch 492 Steele, Sir Richard 162, 191 Steinbeck, John 199 Stephen, James Fitzjames 376 Stephen, Leslie 276, j 2 f , j j o Sterne, Laurence 279 Stevenson, Robert Louis 199, 492, 4 9 9 — J ® 2 Strafford, Graf 363 Strauß, David Friedrich 450 Street, Arthur George 499 Strindberg, August 157 Surrey, Henry Howard Graf 77 Swedenborg, Emanuel 394 Swift, Jonathan 65, 191, 193, 199—215, 267, 280, 446, JßO Swinburne, Algernon Charles 60, 365, 366, 475, 485—489, 491, 523. J ß i Synge, John Millington 366, 490, 521 Taine, Hippolyte 232, 374 Tennyson, Alfred Lord 60, 363, 366, 443, 458—468, 512, 523, J3' Terenz 77
536 Thackeray, William Makepeace 214, 318, 363, 365, 367, 407, 408, 443—445, 452, 526, } } i Thomas von Aquino 116, 258 Thompson, Francis 521—522 ,j)2 Thomson, George 285, 291 Thomson, James 283, 462 Tieck, Ludwig 87, Jjo Treitschke, Heinrich von 172,376 Trevelyan, George Macaulay 237 Tschaikowsky, Peter 338 Turgot, Anne Robert Jacques 261, 265 Turner, J. M. W. 397 Uhland, Ludwig 22, 60 Vanomrigh, Ester 203 Vaughan, Hilda 499 Vauvenargues, Marquis de 167 Vergil 139
Namenverzeichnis Verlaine, Paul 485, 527 Vespucci, Amerigo 65, 66 Viktoria, Königin 364 Vischer, Friedrich Theodor 88 Vogler, Abt 471 Voltaire 192, 232, 520 Wallace, König von Schottland 286 Wallace, Alfred Rüssel 368, 373 Wallace, Edgar 502 Walpole, Hugh 528 Webb, Mary 499 Weber, Karl Maria von 471 Wells, Herbert George 502—506, 510, }}* Wesley, John 195 Whitman, Walt 491 Wiclif, John 24, 25 Wilde, Oscar 490, J21
Wilhelm der Eroberer 1, 21, 497 Wilhelm III., König 224, 230, 261 Wolf, Kaspar Friedrich 368 Wolfe, James 269 Wordsworth, Dorothy 296, 306, 307, 308 Wordsworth, William 60, 170, 267, 275, 294, 295—311, 312, 316, 317, 326, 329, 360, 363, 365, 385. 438. 441. 491. 527. Xenophon 257 Yeats, William Butler 366, 490, 5 « . 5*3 Young, Edward 193, 212 Young, Francis Brett 499 Zola, fimile 365
MARTIN L E H N E R T
BEOWULF Eine Auswahl mit Einführung, teilweiser Ubersetzung, Anmerkungen und etymologischem Wörterbuch. 2., verb. Aufl. (Samml. Göschen Nr. 1135.) 135 Seiten. 1949. DM 2,40
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sie gibt dazu mit könnerischer Selbstverständlichkeit das not-
Der erste Band läßt auf den zweiten erwartungsvoll blicken. . . („Die Erlanger Universität", 25. 1. jo)
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PHILOSOPHISCHE STUDIEN Herausgegeben von Otto Fr. Bollnow (Mainz), Paul Feldkeller (Berlin), Robert Heiß (Freiburg i. Br.) ( Erich Rothacker (Bonn), R. Schottlaender (Berlin), A. Vierkandt (Berlin), Alfred Werner (Berlin) Erscheinen viermal jährlich. Bezugspreis für den Jahresband von 4 Heften im Gesamtumfang von etwa 30 Bogen DM 18,—. Heft 1. 1949. Einzeln DM 5,—. Heft 2—4. 1949. Einzeln DM 15,— Das Andenken an Arthur Liebert und seine „Kant-Studien" gaben die Anregung zu den „Philosophischen Studien". Fast alle deutschen Philosophen haben sich als Mitarbeiter zur Verfügung gestellt. Die Ethik, Ästhetik, Psychologie, Wirtschafts- und Religionsphilosophie sollen vorwiegend zu Worte kommen.
W A L T E R D E G R U Y T E R & CO. • B E R L I N W 35
HANS
BÖHM
GOETHE Grundzüge seines Lebens und Werkes Mit 8 Bildern. 3. Auflage. I X , 280 Seiten. 1944. D M 4,50
KONRAD
PFEIFFER
ZUM HÖCHSTEN DASEIN Goethes Faust im Lichte der Schopenhauerschen Philosophie Oktav. 109 Seiten. 1949. In Ganzleinen D M 3,80
KURT
LEVINSTEIN
G O E T H E S FAUST U N D DIE VOLLENDUNG DES MENSCHEN Oktav. 132 Seiten. 1948. D M 3,80
ERNST
GRUMACH
GOETHE UND DIE A N T I K E Eine Sammlung / Mit einem Nachwort von Wolfgang Schadewaldt Zwei Bände. Mit 17 Tafeln (davon eine farbig). Gr.-Oktav. Etwa 1000 Seiten. In Ganzleinen je Band etwa D M 18,—
WERNER
DANCKERT
GOETHE Der mythische Urgrund seiner Weltschau Etwa 600 Seiten. Geb. etwa D M 20,—
FRITZ
STAHL
WIE SAH G O E T H E AUS Mit 27 Tafeln. 5. und 6. Tausend. 69 Seiten. 1932. In Ganzleinen D M 3,50
W A L T E R DE G R U Y T E R & CO. • B E R L I N W 3 5
AUS DER SAMMLUNG GÖSCHEN Jeder Band D M 2,40
DEUTSCHES DICHTEN UND DENKEN VOM MITTELALTER ZUR NEUZEIT
G. M Ü L L E R ,
(1270—1701). 2. Aufl. 1949. 159 S. (Bd. 1086)
DEUTSCHES DICHTEN UND DENKEN VON DER AUFKLÄRUNG BIS ZUM REALISMUS
K. VIETOR,
(1701—1890). 2. Aufl. 1949. 156 S. (Bd. 1096) W. N E S T L E , GESCHICHTE DER GRIECHISCHEN LITERATUR I. Von den Anfängen bis auf Alexander d. Gr. 2. verb. Aufl. Neudruck. 1950. 144 S. (Bd. 70) II. Von Alexander d. Gr. bis zum Ausgang der Antike. 2. verbesserte Aufl. 1945. 128 S. (Bd. 557) F. R A N K E ,
ALTNORDISCHES ELEMENTARBUCH Neudruck. 1949. 146 S. (Bd. n 15)
M. L E H N E R T , ALTENGLISCHES ELEMENTARBUCH 2. verbesserte und vermehrte Aufl. 1950. 176 S. (Bd. 1125) K . VOSSLER, ITALIENISCHE LITERATURGESCHICHTE Unveränderter Nachdruck der 1927 erschienenen 4. durchgeseh. und verbess. Aufl. 1948.148 S. (Bd. 125) A. H E L B O C K , DIE ORTSNAMEN IM DEUTSCHEN Mit 6 Karten. Durchgesehener Neudruck. 1944. 126 S. (Bd. 57}) H. F E I S T ,
SPRECHEN UND SPRACHPFLEGE Mit 25 Abb. 1958. 107 S. (Bd. 1122)
A. SCHIRMER, DEUTSCHE WORTKUNDE 3. Aufl. 1949. 109 S. (Bd. 929) K. J A S P E R S , DIE GEISTIGE SITUATION DER ZEIT ( 1 9 3 1 ) Zweiter unveränderter Abdruck der im Sommer 1932 bearbeiteten 5. Aufl. 1949. 232 S. (Bd. 1000) G. SIMMEL, HAUPTPROBLEME DER PHILOSOPHIE 7. unveränderte Aufl. 1950. In Vorbereitung. (Bd. 500) G. KROPP,
ERKENNTNISTHEORIE
I. Allgemeine Grundlegung. 1950. 143 S. (Bd. 807) H. W E I G E R T ,
STILKUNDE
I. Vorzeit, Antike, Mittelalter. Neuaufl. in Vorbereitung. (Bd. 80) II. Spätmittelalter. Neuzeit. Mit 84 Abb. Neudruck. 1944. 141 S. (Bd. 781) H. K R Ä H E , GERMANISCHE SPRACHWISSENSCHAFT Bd. I. 2. Aufl. 1948. 127 S. (Bd. 238). Bd. II. 2. Aufl. 1948. 140 S. (Bd. 780) H. K R Ä H E ,
INDOGERMANISCHE SPRACHWISSENSCHAFT 2. Aufl. 1948. 134 S. (Bd. 99)
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