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German Pages 218 [216] Year 2015
Sven Glawion, Elahe Haschemi Yekani, Jana Husmann-Kastein (Hg.) Erlöser
| GenderCodes | Herausgegeben von Christina von Braun, Volker Hess und Inge Stephan | Band 4
Sven Glawion, Elahe Haschemi Yekani, Jana Husmann-Kastein (Hg.)
Erlöser Figurationen männlicher Hegemonie
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
© 2007 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Jörg Burkhard, Bielefeld Lektorat: Sven Glawion, Elahe Haschemi Yekani, Jana Husmann-Kastein Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-733-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Danksagung ........................................................................................................... 9 Stefanie von Schnurbein Vorwort . ................................................................................................................ 11 Sven Glawion, Elahe Haschemi Yekani und Jana Husmann-K astein Einleitung ............................................................................................................. 13
Blut, Schmer z und Wunden Beatrice Michaelis Das Schweigen Parzivals – oder: alles eine Frage der Erlösung ...................... 29 Sophie Wennerscheid »Das entsetzliche Spiel des Totgeschlagenwerdens«. Herrschaft und Genuss in Denkfiguren des Leidens bei Søren Kierkegaard und August Strindberg ....................................................... 41 Daniela Hrzán »Wearing the Cross of My Calling«: Krise und Auferstehung Weißer Männlichkeit in den Erlösungsphantasien von Bruce Springsteen . ........................................... 53 Simon Strick Erlösendes Make-up: Männlichkeit und Medialität in Mel Gibsons »The Passion of the Christ« .......................................................... 67
Licht, Reinheit und Erkenntnis Jana Husmann-K astein Rassisierte Lichtgestalten – dunkle Krisen. Christus, Karma und Erlösung bei Rudolf Steiner ........................................... 83 Elahe Haschemi Yekani »Enlightened Imperialism« – Der englische Gentleman-Hero als Erlös(t)er ................................................... 97 Anke L angner Dimensionen des Erlösens als konstitutives Moment der (Behinderten)Pädagogik. Jean Itards Bericht über die EntwicklungVictors von Aveyron . .............................................................. 111
Über windung, Aneignung und Vergessen Eva Johach Die unerlösten Geschlechter Kakaniens. Geschlechterpolitische Utopien in Robert Musils »Mann ohne Eigenschaften« . ........................................................................... 127 K arolina K rasuska Dichter_in in der Psychiatrie oder Messianismus in der Moderne. Vertextung der (Trans-)Männlichkeit bei Piotr Odmieniec Włast (»Maria Komornicka«) .............................................. 139 Sven Glawion ›Ganze Männer‹ zwischen C.G. Jung und Jesus. Überwindungsphantasien der ›Männerbewegung‹ ....................................... 155 C arsten Junker Der »White Negro« als Erlöserfigur: »Pretty Fly for a White Guy?« ............. 169
Laster, Schuld und Neubeginn Sabine Grenz Kommerzielle Sexualität als Erlösung. Die ›Frau‹ als Vehikel heterosexueller Maskulinität . ..................................... 183
Ulrike Auga Wahrheit und Versöhnung oder maskuline Erlösung am Kap? Religiöse Legitimierung nationaler Geschlechterformation ......................... 197
Zu den Autorinnen und Autoren ...................................................................... 211
Danksagung
Wir danken dem DFG-Graduiertenkolleg »Geschlecht als Wissenskategorie«, Humboldt-Universität zu Berlin, für die Ermöglichung der vorliegenden Publikation. Unser Dank gilt dabei insbesondere den Sprecher-/innen des Kollegs Christina von Braun, Inge Stephan und Volker Hess für ihre großzügige Unterstützung sowie Stefanie von Schnurbein für ihre stets engagierte wissenschaftliche Betreuung.
Vor wor t Stefanie
von
Schnurbein
Religion und Spiritualität sind lange Zeit Themen gewesen, die in den Geschlechterstudien nur eine marginale Rolle spielten. Die aufklärerischen Ziele der meisten Richtungen innerhalb einer kritischen Geschlechterforschung bedingten es, dass auch der religionskritische Impetus übernommen wurde, bzw. dass die Beschäftigung mit der Kategorie Religion weniger wichtig für aktuelle politische Fragestellungen erschien. Nicht übersehen werden sollte dabei allerdings, dass es in der Frauenbewegung (und nachfolgend auch in Männerbewegungen) immer auch Gruppierungen gab, die spirituelle Anliegen verfolgten, so beispielsweise in der sogenannten feministischen Spiritualität. Auch außerhalb solcher dezidiert religiöser Neuorientierungsversuche erweisen sich religiöse Traditionen als Codierungs-Reservoirs, aus denen Größen wie ›Weiblichkeit‹ und ›Männlichkeit‹ unter ›säkularen‹ Vorzeichen, also in Kunst, Literatur, politischem Diskurs etc. (re)artikuliert werden können. All diese Strömungen haben zwar in gewissem Maße in die universitäre und außeruniversitäre Forschung hineingewirkt, in der überaus erfolgreichen feministischen Theologie ebenso wie in einer mittlerweile gründlich kritisierten feministischen Matriarchatsforschung. Sieht man von der großen Wirkung der feministischen Theologie ins eigene Fach einmal ab, kann insgesamt dennoch festgehalten werden, dass bis in die 90er Jahre hinein die akademischen Geschlechterstudien von einer relativen Gleichgültigkeit gegenüber der Kategorie Religion geprägt waren. Mittlerweile hat sich dieses Bild allerdings gründlich geändert. ›Religion‹ als in vielen gesellschaftlichen und diskursiven Feldern wirksame Kategorie ist in unterschiedlichen Disziplinen wieder entdeckt worden. Das liegt nicht zuletzt an neuen, globalen gesellschaftspolitischen Konstellationen, die von der Auseinandersetzung etwa mit christlichen Fundamentalismen oder mit als im Westen ›bedrohlich‹ und ›anders‹ empfundenen Religionen, wie etwa dem Islam, bestimmt sind. Globalisierung, Migration, ethnische Konflikte und Klassenkämpfe artikulieren sich derzeit nämlich zunehmend als Religionskonflikte. Dies hat auch in den Gender Studies und in den Kulturwissenschaften dazu geführt, dass ›der Religion‹ wieder mehr Aufmerksamkeit gewidmet wird. Will man aber die Rolle verstehen, welche die Kategorie der Religion auch in
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vermeintlich säkularen Zusammenhängen der Moderne spielt, so darf diese Kategorie selbst nicht unhinterfragt bleiben. Gerade die Kulturwissenschaften müssen Religion vielmehr als eine kritische Kategorie etablieren, ohne dabei in eine bloße Religionskritik zu verfallen. Wenn der vorliegende Band Aspekte der religiösen Tradition und ihre vielfältigen Aneignungen im Kontext der aktuellen Männlichkeitsforschung und deren Thesen über Strategien der Hegemonialisierung untersucht, erfüllt er genau diese Aufgabe. Er ist entstanden aus dem Zusammenhang des DFG-Graduiertenkollegs »Geschlecht als Wissenskategorie« an der Humboldt-Universität zu Berlin, wo mittlerweile systematischer damit begonnen wurde, Religion als Wissensformation in den Blick zu nehmen, und sie auf ihre Interdependenzen insbesondere mit der Kategorie Geschlecht zu befragen. Als ausgesprochen hilfreich hat sich dabei der Ansatz erwiesen, ›Säkularisierung‹ eher als Transformation des Religiösen in der Moderne zu begreifen, denn als dessen Verschwinden oder Marginalisierung. Ein Fokus auf diese »Verweltlichungen religiöser Denkstrukturen« (Christina von Braun) ermöglicht es nämlich, den kritischen Blick zunächst nicht in erster Linie auf die ›Religionen der Anderen‹ oder die ›Religion als Anderes‹ derjenigen Moderne zu richten, der man meint, selbst anzugehören, sondern auf die religiösen Aspekte dieses ›Eigenen‹ selbst. Damit gerät auch in den Blick, wie ›säkularisierte‹ Aspekte religiösen Wissens zur Sicherung oder Reetablierung hegemonialer Männlichkeit funktionalisiert werden können. Dadurch, dass die Herausgeber-/innen und Autor-/innen aus kulturwissenschaftlicher Perspektive die Aufmerksamkeit auf Zusammenhänge zwischen Aspekten des Religiösen und Männlichkeit richten, die in den unterschiedlichen Konstellationen von »Erlösern« figurieren, eröffnen die einzelnen Beiträge insbesondere eine neue und wissenschaftlich wie gesellschaftspolitisch äußert fruchtbare Perspektive auf Strukturen der Hegemonie. Der Band analysiert, wie sich religiöse Entwicklung, die Einlagerung religiöser Codes ins vermeintlich ›Säkulare‹ und Geschlechterkonzeptionen gegenseitig durchdringen und bedingen. Dies geschieht anhand kanonisierter Autoren wie Wolfram von Eschenbach oder Søren Kierkegaard, auf deren Texte mit der gewählten Zugangsweise ein neues Licht geworfen wird. Daneben kommen aber auch eher unerwartete Materialien in den Blick, wie etwa die Selbstinszenierungen von Bruce Springsteen, sozial- und diskurswissenschaftlichen Untersuchungen zur Prostitution oder Schriften zur Behindertenpädagogik. Zahlreiche Beiträge analysieren zudem nicht nur Interdependenzen zwischen den Kategorien Religion und Geschlecht, sondern beziehen Race, Nation und andere mit ein. Der Band »Erlöser« stellt damit nicht allein eine anregende interdisziplinäre Aufsatzsammlung dar, sondern kann geradezu als ein Musterbeispiel für die Analyse von Interdependenzen unterschiedlicher Differenzkategorien bezeichnet werden. Ein breiter Kreis von Leser-/innen aus unterschiedlichen Disziplinen sollte ihm damit sicher sein.
Einleitung Sven Glawion, Elahe Haschemi Yekani Jana Husmann-K astein
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Die westlichen Erzählungen und Phantasmen, welche die Herstellung und Stabilisierung männlicher Herrschaft begleiten, bedienen sich alter Erlösungsgeschichten, die in den Religionen zu finden sind. Keine Erlöserfigur hat die abendländische Geistesgeschichte dabei so stark geprägt wie Christus. Hinter den vielfachen Aneignungen der Christus-Geschichte(n) ist Christus zu einer Figur, zu einer formalisierten, motivisch einsetzbaren Gestalt geworden. Sie ist ein wesentlicher Referenzpunkt, wenn vom Sieg über das Böse, von Überwindung der Dunkelheit und der schöpferischen Kraft von Hingabe und Schmerz die Rede ist. Die Christus-Figur kann als »Urbild eines immer wieder erneuerbaren Typus messianischer Männlichkeit« (Koschorke 2003: 320) verstanden werden, über dessen Aneignung Männlichkeit verschiedentlich als ›wahre Menschlichkeit‹ erhöht wird. Der historische Jesus (vgl. u.a. Theißen 2001) verschwindet dabei hinter einer Vielzahl fragwürdiger Jesusbilder (vgl. Heiligenthal 2006) oder wird als erzählter Jesus zur literarischen Projektionsfläche (vgl. Langenhorst 2005: 96-102). Der Christus der neutestamentlichen Bekenntnisse gliedert sich hingegen als Motiv in den »variationsfähigen Fundus an Bildmustern« ein, »auf den das kollektiv Imaginäre immer wieder aktualisierend zugreifen kann« (Koschorke 2003: 316; vgl. auch Koschorke 2000). Fest in der symbolischen Ordnung verankert und säkularisiert durch ihre Einschreibung in politische und wissenschaftliche sowie literarische und künstlerische Diskurse sind die Spuren des religiösen Erbes verwischt; die Zitatförmigkeit hinter den männlich-vergeschlechtlichten Überwindungsgeschichten ist (fast) unsichtbar geworden. In den Beiträgen des Bandes wird sowohl den religiösen Wurzeln männlicher Erlöser als auch ihren säkularisierten Formen nachgegangen. Unter Säkularisierung verstehen wir die »Weltwerdung des Glaubens« und 1 | Eine hilfreiche Bibliographie zur englischsprachigen Forschung an den Schnittstellen von Masculinity Studies, Theologie und Religionswissenschaft bieten Moore/Anderson (2003); zur deutschsprachigen Forschung vgl. Wacker/Rieger-Goertz (2006).
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die »Verweltlichung religiöser Denkstrukturen« (von Braun 2001: 437f.). Das heißt, dass sich der europäische Säkularisierungsprozess weniger als eine Abkehr vom Religiösen verstehen lässt, sondern dass das christlich religiöse Erbe in säkularen Formen weiter – konstituierend – wirkt. Der Verweltlichungsprozess kann demnach als Umdeutungsprozess religiöser Motive und christlicher Bild- und Denkräume verstanden werden, die in westliche weltliche Wissensordnungen und säkulare Selbst- und Fremdbilder einfließen. Dies zeigt sich nach von Braun besonders deutlich in der Umdeutung der christlichen Glaubensgemeinschaft in eine nationale Schicksalsgemeinschaft und im modernen Konstrukt vom ›Arier‹ als ›Gottmensch‹ (vgl. von Braun 2000). Damit verbunden sind (Re-)Sakralisierungen weltlicher Wissensordnungen und kultureller Praktiken (vgl. Eschenbach/Lanwerd 2000), die sich in religiös aufgeladenen Bildern der Nation, der Heil bringenden Wissenschaft etc. manifestieren.
Erlöser figuren Ausgangspunkt dieser Publikation ist die These, dass sich über Erlöserfiguren hegemoniale männliche Identität diskursiv herstellt und als utopisches Zeichen in die symbolische Ordnung einschreibt. Über den Rückgriff auf männliche Erlöserfiguren kann ›Männlichkeit‹, die eine »narrative Struktur« (Erhart 2001: 9) besitzt, gestaltet – konfiguriert – werden. Dabei müssen die Figuren nicht mimetisch abgebildet werden, einzelne ihrer Merkmale bilden vielmehr die Struktur-Koordinaten, die Figurationen, innerhalb derer Männlichkeit als hegemoniale Männlichkeit erzählbar wird. Die religiös generierten Symbole, die diese Figurationen in Bewegung setzen, sind also »Steuerzeichen, die an den Grundregeln des sozialen Codes beteiligt sind – ganz unabhängig davon, ob sich diejenigen, die sie verwenden, darüber Rechenschaft ablegen oder nicht« (Koschorke 2003: 321). Damit verbunden sind literarische Inszenierungen und Prozesse der Verwissenschaftlichung, sozio-kulturelle und institutionelle Praktiken und ihre diskursiven Verschränkungen. Hierbei geht es nicht nur um Variationen von konkreten Erlöserfiguren, sondern ebenso um unterschiedliche Konfigurationen von Erlösung in säkularen Feldern des Wissens. Erlöserfiguren finden sich in Literatur, Film, darstellender Kunst, Politik und Wissenschaft. Als narrative und verbildlichte Zeichen generieren sie kommunikativ-strategische Rahmenbedingungen für politische, kulturelle und wissenschaftliche Wissensproduktion. In den abendländisch tradierten Erlöserfiguren ›erfinden sich‹ europäische Ritter und Soldaten, Weiße Kolonialherren 2 | Für eine kritische Betrachtung christlicher Erlösungsvorstellungen vgl. auch Gross (2007). 3 | Vgl. u.a. Telesko (2004). 4 | Zur Sprachpolitik dieses Buches sei vorausgeschickt, dass wir und die meisten Autor-/innen die Adjektive Schwarz und Weiß als sozio-politische Markierungen groß schreiben (bei anderer Schreibweise führen die Autor-/innen ihre Begründungen in den jeweiligen Beiträgen an). Die Schreibweise verweist danach auf den Charakter sozialer
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und Missionare, Bewegungsführer, Ärzte und Wissenschaftler, Über-Väter und vatermordende Söhne sowie postmoderne Hollywood-Helden als Instanzen, die vermeintlich Kultur stiften, Zivilisation begründen und die Menschheit zum Ziel führen. Als wirkmächtiger Bestandteil europäischer Geschichtsschreibung taucht die Konfiguration der Erlösung in Form nationalistischen Heldentums, verkörpert beispielsweise durch Siegfried, auf. All diese Konstruktionen vollziehen sich über strategisches Auswählen, über gewaltförmige Verwerfungen und die Produktion normativen und hegemonialen Wissens. Das Verworfene ist das zu Überwindende: Weiblichkeit in der Eindämmung alles Fließenden und vermeintlich ›Chaotischen‹ (vgl. Theweleit 2000), das Nicht-Weiße in der Überwindung von ›Dunkelheit‹ und ›Schmutz‹ (vgl. Gilman 1992; McClintock 1995; Morrison 1993) sowie die jüdische Religion in der Überwindung von ›Schuld‹ und ›Gesetz‹ (vgl. von Braun 2001; Ginzel 1991; Kampling 1999), die bis zur ›Arisierung‹ Jesu führt (vgl. Fenske 2005). Innerhalb der zahlreichen Erlösungsgeschichten wird definiert, welche Tat und welches Scheitern als ›produktiv‹, ›zivilisatorisch‹, ›heilend‹ und ›sinnstiftend‹ bezeichnet werden kann. Vor dem Hintergrund wirkungsmächtiger kultureller Konzeptionen von Krise, Scheitern, Schmerz und Heilsversprechen über Opfer und Überwindung erscheint es uns sinnvoll, ›Krisen‹- und ›Schmerzensmänner‹ als Variationen der Erlöserfigur zu fassen. Die Integration des Scheiterns und der Krise, des Schmerzes und des Leidens sowie ihre Wendung in heroische Geschichten der Weltüberwindung sind Teil der Erlösungsgeschichten, in denen Krisenmänner und Schmerzensmänner in normativer und hegemonialer Position und Funktion erscheinen. Mit anderen Worten: Verunsicherungen und Krisen einer »hegemonialen Männlichkeit« (Connell 1995) können in Rückgriff auf Erlöser-Figuren sinnstiftend umgedeutet werden, so dass hegemonial-männliche Subjekte erneut im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Sie bleiben damit Träger historischer Bedeutsamkeit – die Krise wird zur »Kippfigur« (Kappert 2002: 262ff.). Mosse vertritt die These, dass die diskursive Krisenhaftigkeit der Moderne in der Konstruktion des ›Anderen‹ (»Antitypus«) in Bildern von Devianz, Krankheit und Unvollkommenheit seine Verkörperung erfährt (vgl. Mosse 1996). Die Konstruktion der beiden Kategorien (vgl. Wachendorfer 2001: 99). Die Großschreibung des Adjektivs Weiß folgt vorangegangenen Definitionen zu Schwarz als sozio-politischer Kategorie (vgl. z.B. Hügel/Lange et al. 1993: 13; McLaughlin 1993: 240-241; Oguntoye 1989: 4-5). Dabei bleibt zu unterscheiden, dass Schwarz im Gegensatz zu Weiß einen politischen Identitätsbegriff und eine emanzipatorische Selbstbezeichnung darstellt. Die Angleichung der Schreibweise des Adjektivs Weiß soll so nicht suggerieren, es handele sich ebenfalls um einen politischen Emanzipationsbegriff. Im Gegenteil – Weiß(sein) ist verknüpft mit sozio-struktureller, normativer Dominanz. Die Großschreibung verweist hier also lediglich auf die Distanzierung gegenüber Vorstellungen biologischer Entitäten und betont den Charakter sozialer Konstruktionsprozesse. 5 | Zur Wendung des Kreuzes Jesu als Ausdruck von Leiden und Schmerz zum Zeichen antijüdischer Aggression finden sich auch literarisch viele Bearbeitungen, so z.B. in der Erzählung »Der Erlöser« von Bertha Pappenheim (vgl. Stephan 1998).
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sogenannte Krise wird hier auf das ›Andere‹ projiziert, simultan aber auch als ein Privileg einer ›erschütterten‹ Männlichkeit reklamiert. Gerade die Imagination einer hegemonialen Männlichkeit, die sich von anderen Männlichkeiten abhebt, erscheint uns strukturell an Narrative von Erlösung/Überwindung gebunden. Männlichkeit wird dabei als etwas Stabiles und Autonomes vorgestellt und trägt durch die Unmöglichkeit dieser Ziele bereits seine Anfälligkeit für die »Krisen der Männlichkeit« (von Schnurbein 2001) in sich. Die ubiquitäre Thematisierung dieser Krisen ist laut Walter Erhart zu einem sich wiederholenden Themenkomplex der Gender Studies und der Männlichkeitsforschung geworden, so dass er zu dem Schluss kommt, »daß die sogenannte Krise ein implizites Konzept der Männlichkeit selbst ist, ein Narratem, das in die Geschichte jeder Männlichkeit gewissermaßen als deren ureigenster Bestandteil integriert ist« (Erhart 2005: 222). Um Männlichkeit zu erzählen, bedarf es also anscheinend immer wieder des Rückgriffs auf dieses ›Krisen-Narratem‹. Unserer Einschätzung nach geht hiermit eine strategische Performance des Leidens (an) hegemonialer Männlichkeit und die Frage, welcher Schmerz verworfen wird, einher. Diese Verwerfungen verlaufen im säkularen Kontext entlang von Rassisierung, Pathologisierung, Vergeschlechtlichung und Klassenhierarchien sowie ihren wechselseitigen Verschränkungen. Weibliche Erlöserfiguren stehen männlichen Erlöserfiguren nicht nur gegenüber, sondern Vorstellungen von Erlösung durch Weiblichkeit und von Weiblichkeit als Erlösung sind symbolischen Figurationen von Männlichkeit inhärent. Schon in der Geschichte der christlichen Ikonographie der Christus-Figur sind Bilder von Verweiblichung über den Aspekt der Fleischwerdung strukturell angelegt (vgl. von Braun 2001: 358-372). In der Geschlechterforschung ist ›Weiblichkeit als Erlösung‹ und der Topos der (Weißen) ›Frau als Erlöserin des Mannes‹ insgesamt vielfältig kritisch bearbeitet worden. In der Auseinandersetzung mit westlichen Denktraditionen von Erlösung geht es demnach immer auch um die Auslotung des kulturgeschichtlich relational gesetzten Verhältnisses von Männlichkeit und Weiblichkeit und um die Verwobenheit und Unterschiede der individuellen, symbolischen und sozio-strukturellen Analyseebenen von Geschlecht.
6 | Ein ähnliches Argument vertritt Sally Robinson, die aufzeigt, wie sich in der Folge der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung Figurationen Weißer männlicher Verwundung mehren. Sie schreibt, dass »the figure of the wounded white man enables an erasure of the institutional support of white and male dominance« (2000: 6). Ebenso sieht sie die Position des »In-der-Krise-Seins« als eine privilegierte, wenn sie ausführt, dass »there is much symbolic power to be reaped from occupying the social and discursive position of subject-in-crisis« (2000: 9). 7 | Hier sei lediglich verwiesen auf: Bovenschen (1980); Bronfen (2004); Lanwerd (1993); von Schnurbein (1996); Walgenbach (2006).
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Mann, Männlichkeit, Figurationen männlicher Hegemonie Nicht jeder Mann gilt als männlich – zwischen ›Mann‹ und ›Männlichkeit‹ muss konzeptuell und analytisch differenziert werden. Das, was als »hegemoniale Männlichkeit« (Connell 1995), »männlicher Habitus« (Bourdieu 2005) oder »maskulines Stereotyp« (Mosse 1996) bezeichnet wird, muss erst erworben werden. Über ein konkretes Tun, über Geschichte-Machen oder GeschichtenErzählen kann ›der Mann‹ nicht nur lernen, sich als männlich zu inszenieren, sondern auch männlich-patriarchale Herrschaftsansprüche zu behaupten und durchzusetzen. Bourdieu, der von »männlicher Herrschaft« (1997; 2005) spricht, führt aus, dass »die Männlichkeit ein eminent relationaler Begriff [ist], der vor und für die anderen Männer und gegen die Weiblichkeit konstruiert ist, aus einer Art Angst vor dem Weiblichen, und zwar in erster Linie in einem selbst« (2005: 96). Während also sowohl Bourdieu als auch Connell den relationalen und konstruierten Charakter von Männlichkeit hervorheben, betont Bourdieu stärker die naturalisierenden Effekte, die sich im körperlichen Ausdruck des männlichen Habitus manifestieren. Außerdem akzentuiert Bourdieu die Dominanz von Männern über Frauen; Connells Konzept hingegen fokussiert stärker die Differenzen zwischen Männern. Connell fasst hegemoniale Männlichkeit als ein Produkt historischer, politischer und symbolischer Aushandlungsprozesse, welches die Dominanz von Männern über Frauen und marginalisierte Männlichkeiten legitimiert: »It is the successful claim to authority, more than direct violence, that is the mark of hegemony.« (Connell 1995: 77) Die Produktivität von Connells Ansatz liegt in der Betonung der Dynamik von Machtverhältnissen, wenn auch die systematischen und historischen Einordnungen nicht immer plausibel erscheinen (vgl. Dinges 2005). In ihrer jüngsten Bestandsaufnahme reagieren Messerschmidt und Connell auf Kritiken, die in dem Konzept die Gefahr einer Festschreibung eben jener männlichen Hegemonie sehen. In ihrem Plädoyer für ein produktives Weiterdenken hegemonialer Männlichkeit betonen sie: »Hegemonic masculinity was not assumed to be normal in the statistical sense; only a minority of men might enact it. But it was certainly normative.« (2005: 832) Gramsci, auf den sich Connell bezieht, hat den Begriff der Hegemonie als ein strukturelles Verhältnis geprägt. Hieraus folgt entgegen einer simplifizierenden Auffassung von Macht, die von oben wirkt, ein relationales und instabiles Verständnis von Hegemonie, das immer auch Widerstand impliziert. Hegemonie ist deshalb wirkmächtig, weil sie das Einverständnis der Beherrschten produktiv macht: »[T]he ruling class not only justifies and maintains its dominance, but manages to win the active consent of those over whom it rules.« (Gramsci 1986: 244) Vor diesem Hintergrund und unter Einbeziehung von Foucaults Ausführungen zum Machtbegriff (vgl. Foucault 1998: 113ff.), geht es uns darum, dass Macht kein ›Außen‹ kennt. Daran anschließend ist hervorzuheben, dass Erlösererzählungen und ‑figuren auch Teil der Überlieferung emanzipatorisch-politischer Bewegungen sind, z.B. in Gestalt von Gandhi oder Martin Luther King. Mit der Fokussierung auf Figurationen männlicher Hegemonie gilt es schließlich,
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hegemoniale Aneignungen marginalisierter Positionierungen zu berücksichtigen. Es zeigen sich demnach nicht nur Verwerfungen des ›Anderen‹, sondern ebenso Vereinahmungen und funktionale Projektionen von Erlösung in ein marginalisiertes Gegenüber. Unser Ziel ist es, mit dieser Publikation eine neue Perspektive für die Auseinandersetzung mit hegemonialer Männlichkeit und der sogenannten Krise der Männlichkeit vorzuschlagen und uns dabei kritisch mit Konzepten der Genderforschung/Masculinity Studies zu beschäftigen. Indem wir betonen, dass sich Leiden und Schmerz auch herrschaftsstrategisch aneignen lassen, möchten wir Anfragen an Debatten richten, die Konzepte wie Krise oder die vermeintlich ›spielerische‹ Performativität von Männlichkeit entpolitisieren. Strategische Rückgriffe auf die Überwindungserzählungen hinter den tradierten männlichen Erlöserfiguren zeigen, dass Inszenierungen von ›Leiden‹, ›Schmerzen‹ und ›Scheitern‹ nicht nur lustvoll medialisierten und erfolgreich vermarkteten Abgesängen von Männlichkeit dienen, sondern auch einer Logik der Re-Privilegisierung folgten und folgen.
Zu den Beiträgen In den vorliegenden historisch und disziplinär breit gefächerten Beiträgen nähern sich die Autor-/innen dem komplexen Feld der Erlösung aus unterschiedlichen Perspektiven. Unter der Überschrift »Blut, Schmerz und Wunden« wird in vier Beiträgen das Leiden der Erlöser und der zu Erlösenden betrachtet. In ihrer Lesart zum »Parzival« von Wolfram von Eschenbach fokussiert Beatrice Michaelis Parzivals verhängnisvolles Schweigen zu den Schmerzen seines Onkels Anfortas in der Gralburg Munsalvaesche. Sie fragt dabei, ob nicht auch im Schweigen Erlösendes liegt und stellt aus einer queer-theoretischen Perspektive das »erhellende Fragen« und das »verdunkelnde Schweigen« als ein »diskursives Archiv der Überwindung« dar. In Analysen zu Søren Kierkegaard und August Strindberg verfolgt Sophie Wennerscheid die Dialektik von »forciertem Selbstverlust« und »angestrebtem Selbstgewinn«, in dessen Wechselspiel der männliche Künstler über die Inszenierung seines ›Leidens‹ einen »ästhetischen Mehrwert« erzielen kann. Bruce Springsteen steht im Mittelpunkt von Daniela Hrzáns Beitrag. Anhand seines Albums »The Rising« thematisiert sie die vergeschlechtlichten Dimensionen der Anrufung Springsteens als Erlöser-Figur im Kontext des nationalen Traumas des 11. Septembers sowie die Erlöser-Motive, derer sich Springsteen immer wieder bedient und die Teil der Überlieferung emanzipatorisch-politischer Bewegungen der USA waren und sind. Simon Strick wiederum untersucht den vieldiskutierten ›blutigen‹ MelGibson-Film »The Passion of the Christ« und geht dem Spannungsverhältnis zwischen Medialität und erlösender Männlichkeit nach. Hierbei fokussiert er
8 | Edgar Forster spricht in diesem Kontext auch von einer »Resouveränisierung« (vgl. 2006).
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die Selbstreferentialität der filmischen Erlösungsnarrative und Gibsons Strategie einer »viszeralen Affizierung« der Zuschauer-/innen. Im folgenden Abschnitt zu »Licht, Reinheit und Erkenntnis« analysiert Jana Husmann-Kastein die rassisierten und vergeschlechtlichten Figurationen von Licht und Erlösung im Werk Rudolf Steiners und hebt hervor, wie Weißsein um die Jahrhundertwende im okkultistischen Kontext farblich reinszeniert wird. Elahe Haschemi Yekani entwickelt in ihrer Lektüre von Henry Rider Haggards adventure novels und Joseph Conrads »Heart of Darkness« die Analyseperspektive eines »Privilegs der Krise« hegemonialer Weißer Männlichkeit. Sie fokussiert dabei Erlösungsvorstellungen, die einerseits die ›zivilisierte Sauberkeit‹, andererseits aber auch ein Bedürfnis der Flucht der Helden vor der (verweiblichten) Zivilisation spiegeln. Um Erkenntnis und Wissensproduktion geht es in Anke Langners Beitrag zum Entwicklungsbericht Jean Itards über Victor, das ›wilde Kind‹ von Aveyron. Sie verfolgt die These, dass das ›Erlösen‹ konstitutiv für die ›Schöpfung‹ der Behindertenpädagogik sei. Diese Praxis beschreibt sie als einen vielschichtigen, interaktiven Prozess, der auch der Stabilisierung männlicher Herrschaft dient. Der dritte Abschnitt – »Überwindung, Aneignung und Vergessen« – widmet sich den Überwindungsphantasien und Aneignungsstrategien im ›Krisendiskurs Mann‹. Eva Johach fokussiert in ihrem Beitrag die geschlechterpolitischen Erlösungsphantasien in Robert Musils »Mann ohne Eigenschaften« und erkennt hinter dem Motiv der Zwillingsschwester sowie in der »imaginierten Androgynie« ein »Programm zur Erlösung krisenhafter Männlichkeit«. Anhand ausgewählter Gedichte von Piotr Odmieniec Włast (»Maria Komornicka«) untersucht Karolina Krasuska poetische Inszenierung von (Trans-)Männlichkeit zwischen Widerständigkeit gegen soziale Normierung und Anschluss an eine hegemoniale messianische Position des Dichters im polnischen Messianismus. Sven Glawion analysiert in seinem Artikel die Bedeutung des Anima-AnimusKonzepts C.G. Jungs im heutigen Genre des spirituellen ›Männerbuchs‹. Er zeigt den hegemonialen Charakter der Männlichkeitskonstruktionen auf, die unter Rückgriff auf die Figur Jesu als ›neuem Mann‹ funktionieren. Der Figur des ›White Negro‹ bei Norman Mailer nähert sich Carsten Junker an und fragt nach Aneignungspraktiken in der Inszenierung einer hegemonialen Weißen Männlichkeit. Hierbei stellt sich für ihn die Frage nach der ›Erlösung‹ von einer als repressiv empfundenen hegemonialen Position und der damit verbundenen Faszination einer phantasmatischen Schwarzen Männlichkeit. Im letzten Teil – »Laster, Schuld und Neubeginn« – analysiert Sabine Grenz qualitative Interviews mit Freiern und zeigt auf, in welcher Weise sich Konstruktionsprozesse von Männlichkeit im Kontext heterosexueller Prostitution mit Erlösungsphantasien verbinden. Ulrike Auga diskutiert, wie in der Versöhnungskommission Südafrikas – und den ihr inhärenten Wünschen nach ›Erlösung‹ und ›Überwindung‹ – machtförmige Differenzen und Fragen nach Schuld über die Instrumentalisierung von Religion eingeebnet wurden. In dem vorliegenden Band »Erlöser. Figurationen männlicher Hegemonie« wird somit Disziplinen übergreifend Zusammenhängen von säkularer Wissen-
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schaft, ›literarischer Imagination‹ (vgl. Morrison 1993), religiöser Tradition, wissenschaftlicher und medialer Konstruktion sowie institutionellen Herstellungs- und Differenzierungsprozessen hegemonialer Männlichkeit nachgegangen.
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Blut, Schmerz und Wunden
Das Schweigen Parzivals – oder: alles eine Frage der Erlösung Beatrice Michaelis Der »Parzival« Wolframs von Eschenbach erzählt wesentlich von der Mannwerdung seines Titelhelden. Konstitutives Element dieser Erzählung ist bekanntermaßen die Erlösung der Gralburg, die nur gelingt, wenn Parzival dem leidenden Gralkönig Anfortas jene entscheidende Frage stellt, die ihn von seinen Schmerzen befreien wird. In meinem Beitrag werde ich sowohl Parzivals ›falsche‹ Frage an den Fischerkönig als auch sein Schweigen während seines ersten Vordringens zur Gralburg Munsalvaesche (V. Buch) sowie den Moment der Erlösung durch die Frage (XVI. Buch) fokussieren. Mit Bertau folge ich also den »Stationen der Frage« (1994: 14). Zudem möchte ich in einem weiteren Schritt nach der Bedeutung und dem Zusammenhang von Geheimnis/Schweigen, Männlichkeit und Sexualität fragen. Welche spezifische Verbindung entwirft Wolframs »Parzival« zwischen Sprache, Wissen und Erlösung bzw. welche Lektüren setzt der Text in Gang? Wann können Fragen erlösend sein, wann nicht? Wann sind Fragen unerwünscht, wann sind sie verpflichtend? Wie artikulieren sich in ihnen welche spezifischen Überwindungsphantasien? Und: Ist der Wille zum Wissen immer gleich dem Willen zur Macht (vgl. Foucault 1998)? Oder impliziert ein explizites Nicht-Wissenwollen möglicherweise auch eine Position der Macht? Dabei lassen sich interessante Bezüge zwischen mittelalterlich-religiösen Frageritualen (wie sie etwa in Bußsummen kodifiziert wurden) und zeitgenössischen Phänomenen wie der »Don’t Ask, Don’t Tell«-Politik des US-amerikanischen Militärs herstellen. Zusammen betrachtet bilden die1 | Sedgwick betont, dass »the fact that silence is rendered as pointed and performative as speech, in relations around the closet, depends on and highlights more broadly the fact that ignorance is as potent and as multiple a thing as is knowledge« (1990: 4). Sie postuliert daher ein »epistemological privilege of unknowing« (1990: 5). Vgl. in diesem Buch auch den Aufsatz von Sophie Wennerscheid. 2 | »Don’t Ask, Don’t Tell, Don’t Pursue, Don’t Harass« wurde unter der Präsidentschaft Bill Clintons formuliert. Die Regelung sollte vorherige Praktiken der expliziten
30 | B e atrice M ichaelis se Praktiken eine zweifach dialektische Figur aus Unaussprechlichkeit/»Don’t Ask, Don’t Tell« und Geständnispflicht/closet. Alle gemeinsam konstituieren sie so ein diskursives Archiv der Überwindung, die durch erhellendes Fragen und verdunkelndes Schweigen ermöglicht wird.
Der er ste Ver such Parzival begeht Sünden, gleich mehrere. Er nimmt bei seiner Abreise den Tod der Mutter Herzeloyde nicht wahr (Wolfram 1998 : 128,20ff.), missversteht ihre Minnelehre und vergewaltigt Jeschute (vgl. P: 131,1ff.), tötet den Roten Ritter Ither, ohne zu wissen, dass es sich um einen Verwandten handelt (vgl. P: 155,10f.); schließlich schweigt er angesichts des Grals zu Anfortas’ Leiden (vgl. P: 240,4ff.), wohl weil er erneut nicht imstande ist, eine Lehre in richtiges Handeln zu übertragen – Gurnemanz hatte ihn zuvor vor zu vielem Fragenstellen gewarnt (vgl. P: 171,17ff.). Schließlich fällt Parzival von Gott ab (vgl. P: 332,7), da dieser ihn nicht vor seinem Fehler auf der Gralburg bewahrt hatte. Wiederholt führen der Erzähler, andere Figuren und Parzival selbst seine tumpheit als Ursache für diese, im Verlauf der Erzählung verschiedentlich als Sünden eingestuften Handlungen an. Doch seine ›Dummheit‹ bzw. ›Unklugheit‹ ist zu Beginn eine gewollte, absichtsvoll erzeugte Agnosie. Herzeloyde hatte es unter dem Eindruck des Todes Gahmurets vermieden, ihren Sohn in ritterlichen Tugenden zu unterweisen, ja ihn überhaupt je in Berührung kommen zu lassen mit dieser sozialen Ordnung. Um ihn vor einem dem des Vaters ähnlichen Tod zu bewahren, hatte sie ihn lange Zeit in der Abgeschiedenheit eines Waldes und in Armut gehalten. Auch noch, als es Parzival in die Welt außerhalb der Mutter zieht, hofft sie, ihn nicht an die Ritterschaft zu verlieren: Sie entlässt ihn in einem Narrenkostüm, mit zerzaustem Haar und ohne das nötige Wissen, um in der ihm fremden Gesellschaft zu bestehen. Parzival unterscheidet sich also dezidiert von anderen (literarischen) Ritterfiguren, die allesamt zwar stets Herausforderungen bestehen müssen, um ihren Platz in der Artuswelt zu (er)halten, niemals aber über dieses ›Feintuning‹ hinaus geprüft werden. Parzival dagegen ist auf ganz fundamentale Weise nicht von dieser Welt und wird es auch nie sein. Gerade dieser Umstand prädestiniert ihn scheinbar für die Rolle des Gralkönigs. Seine tumpheit wird bis zum Ende der Erzählung nicht schwinden; freilich gewinnt er Kenntnisse, nutzt diese, um seine Aventiuren zu Befragung zur sexuellen Orientierung ablösen und unehrenhafte Entlassungen reduzieren. Gleichwohl ist die Zahl der relevanten Entlassungen unter »Don’t Ask« gestiegen. Als Kompromiss zunächst gefeiert drängt sie Soldat-/innen in die Heimlichkeit und untersagt ihnen sowohl sexuelle Handlungen als auch »same-sex marriage«. Vgl. dazu Lochrie (1995). 3 | Im Folgenden als P abgekürzt. 4 | Vgl. P (124,16; 484,28; 488,15). Diese tumpheit ist facettenreich und meint neben der simplicitas (Einfalt) auch die ignorantia als »Symptom der Erbsünde« (Ruh 1980: 69ff.).
D as S chweigen Parzival s | 31
bestehen. Doch zugleich wirkt sein Denken immer wie von einer anderen, mit der arthurischen konkurrierenden Wissensordnung bestimmt. Beide Räume – Artushof und Gralburg – erweisen sich als problematisch und fehlerhaft: Keie exemplifiziert dies für den Artushof; Anfortas zeigt es exponiert für Munsalvæsche. Daher entwirft Wolfram gleich zwei Erlöser: Gawan für die Artusgesellschaft und Parzival für die Gesellschaft des Grals. Beide erweisen sich als Retter prinzipiell erlösungsbedürftiger Gemeinwesen (vgl. Bumke 2004: 184). Für die Geschichte jedoch ist bezeichnend, dass Parzivals Weg, den ich als (Selbst)Erlösung und somit als wichtige Voraussetzung für die Erlösung der Gralburg deute, von größerer narrativer Bedeutung ist und an grundsätzlichen Fragen nach Wissen, Glauben und Geschlecht rührt. Parzival muss erst durch männliche – Gurnemanz, Trevrizent, Anfortas – wie weibliche – Sigune, Kundrie, Condwiramurs – Erlösungshelfende auf seine eigentliche Aufgabe vorbereitet werden, ehe er im zweiten Anlauf – kenntnisreicher und von Erbarmen wie Begehren getrieben – die Gralburg befreien kann. Einen Teil der (Selbst)Erlösung Parzivals bildet die Namenssuche des Pro tagonisten. Diese verläuft bei Wolfram sehr viel beschleunigter als bei Chrétien (vgl. P: 140,16f.). Offenbar bestand für Wolfram Parzivals Selbstsuche und -findung eben nicht vorrangig im Erkennen seines Namens, sondern in der Erfüllung der ihm zugedachten Bestimmung via das Überwinden seiner Sünden. Nichtsdestoweniger folgen der Namensfindung mittelbar die Einsicht in zentrale Verwandtschaftsverhältnisse und damit das Erlösen der Gralburg. Parzival durchläuft quasi die Erlösungsaufgabe als eine Art (Selbst)Disziplinierungsprozess, in welchem ihm seine Position innerhalb zunächst der arthurischen, später der Gralgesellschaft in Form subjektivierender Maßnahmen zugeteilt wird. Diese Mechanismen erweisen sich auch aus narratologischer Perspektive als interessant: Der doppelte Kursus zeigt einerseits die Schwierigkeit, ritterlich ehrenhafte Männlichkeit zu erlangen; er erhöht andererseits jedoch das erlangte Ziel über diese Verdoppelung der Herausforderungen.10 5 | Hier scheint also ebenso zu gelten, was Simon Strick (in diesem Band) im Kontext der Passion Christi bzw. deren filmischer Inszenierung in »The Passion of the Christ« formuliert. 6 | Erbermde – eine zentrale ritterliche Tugend, die das Mitleiden und Erbarmen mit eines Anderen Leid meint. 7 | Der unvollendete Roman Chrétiens (um 1190) bildete die Hauptvorlage für Wolframs Text (entstanden etwa zwischen 1200-1210). 8 | Ein weiteres Indiz für ein Verständnis der (Selbst)Erlösung durch (Selbst)Disziplinierung bildet Parzivals beinahe fünfjährige asketische bzw. askeseähnliche Existenz weise. 9 | Neben die sozialisierende Funktion des Namens, die zugleich die Person Parzival herstellt, tritt die subjektivierende – d.h. Parzival einer Ordnung unterwerfende – Rolle der Lehrgespräche mit Gurnemanz, Sigune, Trevrizent und anderen. 10 | Vgl. zu Fragen der Erhöhung durch privilegiertes Scheitern Elahe Haschemi Yekanis Beitrag in diesem Band.
32 | B e atrice M ichaelis Nachdem sich Parzival ritterlich bewährt, Condwiramurs zur Frau nimmt und Nachkommen mit ihr zeugt, macht er sich auf jenen Weg, der ihn zum ersten Mal zur Gralburg führen wird. Schon bald nach seinem Aufbruch gelangt er an einen See, wo er dem »Fischerkönig« begegnet: Parzival spricht ihn an, wohl auch, weil er – besser gekleidet als alle anderen – sogleich ins Auge fällt: »den het an im alsolch gewant,/ob im dienden elliu lant« (P: 225,9f.) [»der war gekleidet, als ob er aller Länder Herr wäre«]. Während Parzival sich nichts weiter dabei zu denken scheint und ihn nach Unterkunft fragt, weist ihm »der trûric man« (P: 225,18) [»der traurige Mann«] den Weg zur Gralburg. Der in Pelz und Pfauenfedern gekleidete11, geheimnisvolle Fischer erwähnt noch, dass Parzival ihm dort erneut begegnen wird. Aber in seiner ignorantia ist dieser schon längst auf dem Weg. Wie die Hörer-/innen/Leser-/innen auch ahnt Parzival nicht, dass er soeben seinem schwer leidenden Onkel12 begegnet ist, der, um den Geruch der vergifteten Wunde zu dissimulieren, regelmäßig auf den See hinaus gefahren wird. Diese Begegnung leitet jenes große Geheimnis ein, für dessen Auflösung sich Wolfram viel erzählte wie Erzählzeit nehmen wird (erst im IX. Buch erfahren wir Genaueres über das Schicksal des Gralkönigs). Auf Munsalvæsche erwarten die Bewohner-/innen Parzival schon ungeduldig. Nach seiner Ankunft werden ihm nicht nur die Herrschaftszeichen überreicht – Mantel der Repanse de Schoye und Schwert des Anfortas –, sondern er schaut dort den Gral und seine wundersame Wirkung. Der Gral bildet den Höhepunkt einer Inszenierung, die ganz darauf gerichtet ist, Parzival zur entscheidenden Frage zu bewegen. Alles Weinen und Trauern der Ritter, Damen, Diener und Jungfrauen ist für Parzival zu diesem Zeitpunkt unergründlich, obschon er nun, in der Präsenz Anfortas’, dessen Leiden spüren und ein Interesse für die Vorgänge um ihn herum entwickelt haben müsste. Auch die herein getragene Lanze, aus deren Spitze Blut quillt, bleibt für ihn unbestimmbar. Parzival erinnert sich vielmehr der Worte des Gurnemanz und vermeidet es zu fragen, etwa, was es mit dem Gral oder aber mit dem König auf sich habe. Daher vermag er es nicht, die erlösende Frage/die Frage des Erlösers/die Frage an den Erlöser: »hêrre, wie stêt iwer nôt?« (P: 484,23) [»Mein Herr, was ist’s mit Eurer Not?«] zu formulieren. Der Erzähler kommentiert dieses folgenreiche Ausbleiben der Frage wie folgt:
11 | Für Smits (1986: 41) offenbart Anfortas’ Kleidung seinen Mangel an humilitas (für mich ist dagegen seine humiliation [Erniedrigung] durch den Text noch nicht weit genug gegangen). Ihr scheint der Gralkönig noch nicht bereit zur Erlösung und er trägt somit eine Teilschuld an Parzivals Scheitern. Anfortas’ Sünde der Hochmut korrespondiert mit Parzivals hôchvart; beide müssen erst diemüete erlernen. 12 | Wolfram spielt das Motiv des/der unerkannten Verwandten mehrfach durch: Parzival tötet Ither, erkennt in Sigune nicht seine Cousine und verlängert das Leiden seines Onkels Anfortas. Gabriele Dietze verdanke ich den Hinweis auf jenes Moment der verwandtschaftlichen ›Ahnungslosigkeit‹, das Parzival mit Ödipus teilt.
D as S chweigen Parzival s | 33 »ôwê daz er niht vrâgte dô!/des pin ich für in noch unvrô./wan do erz enpfienc in sîne hant,/dô was er vrâgens mit ermant./och riwet mich sîn süezer wirt,/den ungenande niht verbirt,/des im von vrâgn nu wære rât.« (P: 240,4-9) [»Ach, daß er jetzt nicht fragte! Das kann mich noch heute traurig machen für ihn. Denn als er das Geschenk in seine Hand empfing, da sollte es ihn zum Fragen mahnen. Und auch sein Wirt, der so freundlich war, erbarmt mich. Das Leiden, das ihn nicht losließ, war unaussprechlich; und doch hätte Fragen ihm jetzt die rettende Antwort gebracht«].
Es gibt vielerlei Vermutungen über den Grund von Parzivals Schweigen13 ; ich begreife es als ein retardierendes, krisenhaftes Moment in der erzählenden/ seiner erzählten Männlichkeit. In der Gesamtlogik des Textes scheint es, als müsse Parzival schweigen (und damit vorläufig scheitern), um der zu werden, der er sein soll14 und dennoch schließlich das Schweigen überwinden, um seine Mannwerdung zu manifestieren, die auf diese Weise umso machtvoller und bedeutsamer wirkt.15 Paradox ließe sich formulieren, dass erst durch Parzivals Schweigen, also durch seine Krise, ein Erzählen in Gang gesetzt wird, über welches sich seine Männlichkeit schließlich herstellt. Der Erzähler führt Parzivals Unfähigkeit, in konkreten Situationen von den empfangenen Lehren der Mutter bzw. des Gurnemanz zu abstrahieren, als Ursache für das Schweigen an. Indirekt ist so wieder die tumpheit (hier in der Bedeutung von »Unerfahrenheit«) angesprochen. Damit nimmt Parzival unbewusst die Position eines machtvollen Nichtwissens, ja einer Stupidität ein, deren Konsequenz das fortgesetzte Leiden des Anfortas ist. Anfortas, dessen Schmerzen »ungenande« [unaussprechlich] sind – ein Topos, der u.a. auf (sexuell konnotierte) Sündhaftigkeit16 verweist – ist auf Parzivals Frage, die aus einem mitfühlenden Interesse erwachsen muss, angewiesen. Dessen Ignoranz aber, die aus einem Nichtwissen resultiert, verweigert Anfortas zunächst – aus einer relativen superioren Position – die Erlösung. Judith Halberstam besteht andererseits darauf, dass Nichtwissen bzw. Scheitern und Dummheit queere Praktiken zur Destabilisierung hegemonialer (heteronormativer) Wissensregime darstellen können.17 In Parzival also konvergieren zeitweilig diese sehr 13 | Vgl. Bumke (2004: 68) und Wolf (1972: 76ff.). 14 | Die (kalkulierte) Krise ist somit konstitutives Element der (ritterlichen) Männlichkeit. 15 | Ganz im Sinne einer Nomen-est-Omen-Logik muss er also erst »ein Tal durchschreiten« bzw., vom Ende her betrachtet, ein Tal durchschritten haben. Vgl. auch Fn. 10. 16 | Vgl. etwa Thomas von Aquin, der in einer seiner Sentenzen die überlieferten Lehrmeinungen zu den verschiedenen Subformen der luxuria wiedergibt und dann kommentiert: »sed quia luxuria contra naturam innominabilis est, relinquatur (1980: 625). [Doch weil die Unzucht wider die Natur unnennbar ist, wird sie unerwähnt gelassen. Eigene Übersetzung]. 17 | »[O]nly a special kind of unknowing can save us from the dangers of white hetero manhood« (Halberstam 2004: 312).
34 | B e atrice M ichaelis widersprüchlichen Dimensionen einer (un)absichtsvollen Verweigerung gegen Wissensnormen. Diese durch Parzivals Schweigen erzeugte Spannung, die Suspension von Wissen, das In-der-Schwebe-Halten statt der Fixierung einer Figur provoziert meine Lesart des Anfortas, die auf den Zusammenhang von Wissen, Sexualität und Männlichkeit konzentriert ist. Denn Parzivals Schweigen und dessen fortwährende Verurteilung als Sünde innerhalb der Figuren-18 und Erzählerkommentare eröffnen eine Leerstelle im Text. Vergleichsweise spät erfährt der/die Leser-/in, wie die Frage lautet. Ebenso wenig hören wir anfänglich Näheres über das »unaussprechliche« Leiden des Königs. Zunächst also inszeniert der Text das Geheimnis des Gralkönigs. Wolframs Erzähler scheint seinen Wissensvorsprung um dieses Geheimnis zu genießen und nahezu mit der Neugier der Hörenden/Lesenden zu spielen19 : »Wer der selbe wære,/des freischet her nâch mære./dar zuo der wirt, sîn burc, sîn lant,/ diu werdent iu von mir genant,/her nâch sô des wirdet zît,/bescheidenlîchen, âne strît/ und ân allez für zogen.« (P: 241,1-7) [»Wer er war, davon sollt ihr später hören. Dann wird euch auch der Wirt, die Burg, das Land von mir genannt, doch nachher erst zu seiner Zeit, da, wo es hingehört nach rechtem Urteil, ohne Zank und erst dann, wenn’s an die Reihe kommt«].
Aber in dieser Szene geht noch mehr vor als das Spiel des Erzählers mit der Ungeduld seines Publikums. Denn genau hier entfaltet sich die von Sedgwick benannte Epistemologie des closet, die sich unter anderem an der eigentümlichen diskursiven Zirkulation des Geheimnisses demonstrieren lässt, und eine widersprüchliche Lektüredynamik in Gang setzt, die – je nach Perspektive – paranoid und reparativ20 sein kann. Anfortas wird erst mittels jener Erzähllogik figuriert, die Sedgwick (1990) an Henry James’ Kurzgeschichte »The Beast in the Jungle« (1902) expliziert hat.21 18 | Vgl. P (247,26-30) und zur sünde auch P (473,14 und 501,1ff.). 19 | Vgl. Green (1982). D.h. wir sollten an dieser Stelle nicht vorschnell von einem mittelalterlichen ›defizienten‹ Erzählen ausgehen, sondern eher von einem kunstvollen Auslegen und Aufnehmen von Spuren. Des Weiteren erinnert diese Inszenierung eines fortgesetzten Aufschiebens der Bedeutung des Signifikanten an Derridas différance und Lacans »flottierenden Signifikanten«. 20 | Sedgwick spricht von einer »reparative reading position«: »The desire of the reparative impulse […] is additive and accretive. Its fear, a realistic one, is that the culture surrounding it is inadequate or inimical to its nurture; it wants to assemble and confer plenitude on an object that will then have resources to offer to an inchoate self.« (1996: 279) Als Beispiele für diese Lesepraxis führt Sedgwick camp und Formen der schwulen, lesbischen und queeren Intertextualität an. 21 | »This is how it happens that the outer secret, the secret of having a secret, functions in Marcher’s life, precisely as the closet. It is not a closet in which there is a homosexual man, for Marcher is not a homosexual man. Instead, it is the closet of, simply,
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In einer ähnlich queeren Lesart versteht Kłosowska Anfortas’ Wunde als eine »thematic site«, die vermuten lässt, dass »something is encrypted here. […] It stimulates a prolific commentary, is vaguely sexual, is central to the narrative, and says something crucial about which we speculate endlessly without arriving at a resolution. Thematic sites are suggestive and striking, but we wonder: suggestive of what?« (2005: 3)
Doch was passiert mit dem Text für jenen vorübergehenden Moment, in dem Parzival die erlösende Frage noch nicht stellt, Anfortas seine – so behaupte ich – queere Potentialität 22 beibehält und offenbar der Erzähler jenes Nicht-Wissenwollen praktiziert, das ein Wissen um Queerness zwar voraussetzt, sich die Frage und damit den Einbruch des Queeren in die (sprachliche) Ordnung aber erspart?23 Genau in diesem Augenblick geschieht Paradoxes: Anfortas potentielle Queerness bleibt verschwiegen eingekapselt in der textuellen Ordnung (mit ihrer normativen Sexualität) und erlöst diese so vor einer möglichen ›Queeruption‹. Zugleich verhindert Parzivals Schweigen seine eigene Erlösung (durch die Erlösung Anfortas’) und jene der Gralgesellschaft von ihrem queeren König, ein Kippmoment also, dessen Auflösung der Text vielleicht nicht ganz freiwillig über vier Bücher (i.e. ca. 6.900 Verse) hinauszögert.24 Die Erlösung der Gralburg korreliert schließlich mit der Erlösung des Textes – wenngleich die Bruchstellen der dominanten Ordnung durchaus sichtbar geworden sind. Es wird also auch deutlich, dass das Projekt der Erlösung auf mehreren Ebenen funktioniert, die nicht unabhängig voneinander zu denken sind, jedoch sinnvoll getrennt benannt werden sollten, um die Komplexität dieses Vorganges zu verdeutlichen. D.h. konkret: Können wir für eine Lesart des »Parzival« von Erlösung in Form einer Eigenschaft, die einer bestimmten Person zukommt, in Form einer Tätigkeit, die von Personen ausgeübt wird, oder in einer völlig anderen Form sprechen? Wer ist der- oder diejenige, der oder die erlöst? Wer wird erlöst? Und wer ist der Erlöser? Was ist Erlösung? Diese analytische Aufgliederung hilft zu verstehen, dass wir nicht von eindimensionalen Prozessen the homosexual secret – the closet of imagining a homosexual secret.« (Sedgwick 1990: 205) 22 | Ich verstehe unter dieser Potentialität einen Moment der Öffnung (und Schließung) des Textes, der über Komik, Dialogizität und allgemein Literarisches hinausweist, da sich in ihm das Bestreben nach einer Plausibilisierung von Ideologie in seinem Scheitern und der versuchten Ausradierung des Scheiterns zeigt. Anfortas’ queere Potentialität meint demnach seine lektüreabhängige Potenz, die (sexuelle) Ordnung des Textes temporär zu stören. 23 | Womit sich der Erzähler einer Mitschuld an einer Artikulation des Queeren hingäbe. So bleibt es bei einer – vielleicht für queeres Begehren – prinzipiell notwendigen (Dis)Artikulation. 24 | Die endgültige Erlösung erfolgt zudem erst im letzten Buch der Erzählung, also noch einmal 9.000 Verse später, dies entspricht ca. viereinhalb Jahren.
36 | B e atrice M ichaelis sprechen können und dass die Frage nach der Erlösung gerade im »Parzival« nicht immer nur die auf der Hand liegende Antwort hervorbringen wird. Ausgangspunkt und Ziel der Erlösung werden vielmehr wiederholt gegeneinander verschoben. Anfortas etwa reflektiert Parzivals Erlösungsbemühungen, ja er antwortet auf dessen Begehren nach Erlösung und kann daher selbst als erlösende Figur betrachtet werden. Als Parzival wenig später Sigune, seiner Cousine, wieder begegnet, erfährt er von ihr den Namen der Burg sowie ihre Geschichte. Sigune weist ihn auf das Leiden des Anfortas hin, doch dieser muss gestehen: »ich hân gevrâget niht.« (P: 255,1) [»Ich habe nichts gefragt«]. Nachdem Sigune ihm darauf deutlich zu verstehen gibt, dass das durch Gott auferlegte Leid ihn hätte erbarmen und ihn in diesem Moment zur Frage bewegen müssen, verfällt sie in Schweigen. Wenige Sequenzen darauf wird auch Kundrie ihn schelten, wird fragen: »war umb irn niht siufzens hât erlôst.« (P: 315,30) [»warum habt Ihr ihn nicht erlöst aus seinem Seufzen?«]. Kundries Verfluchung, die Parzival vor den Augen und Ohren der Artusgesellschaft seiner ritterlichen Ehre beraubt, möchte ihn auf immer schweigend wissen (Vgl. P: 316,4f.) und ordnet sein Schweigen erstmals dem Bereich der Sünden zu: »da erwarb iu swîgen sünden zil.« (P: 316,23) [»Damals erwarb Euer Schweigen den Lohn der Sünden«].
Der z weite Ver such Erst langsam begreift Parzival seine ›Dummheit‹ und als er in Buch IX über die Geschichte des schmerzensreichen Gralkönigs hört, leidet er fortan an seinem Fehler in einem Maß, das über alles zuvor Empfundene hinausgeht. Der Erzähler hatte bereits angekündigt, dass Parzival nun die Geheimnisse des Grals – »diu verholnen mære umben grâl« (P: 452,30) [»die Geheimnisse des Grâls«] – verkündet bekommen würde: Anfortas, der Gralkönig, kann nicht sterben und muss mit seinen Schmerzen auf ewig leben, es sei denn, ein Ritter käme, der die erlösende Frage stellte. So hat es der Gral verkündet. Dieses eigentümliche Leiden verursachte ein vergifteter Speer, geworfen von einem ›Heiden‹25, der ihm durch seine »heidruose« (P: 478,12) [»Hoden«] fuhr. Mit Rekurs auf Lacan versteht Kłosowska diese Wunde als einen »quilting point« (2005: 4), an dem Kastration, Eunuchismus, Effeminität und gleichgeschlechtliches Begehren einander überlagern. Bezeichnenderweise ist Anfortas weder verheiratet noch hat er Kinder gezeugt. Diesen Status teilt er mit seinem Bruder Trevrizent. Vor und nach dem Angriff auf seine körperliche Integrität und sexuelle Potenz(ialität) hat sich Anfortas genealogisch-reproduktiven Vorgaben entzogen. Schon deshalb ist er für die Gralgesellschaft (und Gott) auf Dauer nicht haltbar. Von Trevrizent erfahren wir ausführlich die Geschichte des Anfortas als eines »philanderer« (vgl. Kłosowska 2005: 30, 54) [›Schwerenöter‹], der die Ordnung der Sexualität in der 25 | Interessant ist, dass ein Heide zum Auslöser des Erlösungsprozesses der christlichen Gesellschaft wird. Ich danke Sven Glawion für diesen Hinweis.
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Gralgesellschaft transgrediert: »unt daz er gerte minne/ûzerhalp der kiusche sinne« (P: 472,29-30) [»daß er von unreiner Leidenschaft getrieben hinauszog, Liebe zu gewinnen«]. Erst etliche Verse weiter spezifiziert Trevrizent dieses Begehren, beschreibt es als gegen die Schrift gewandt (»anders dan diu schrift in wert«, P: 478,14) um am Ende aufzuklären, dass der Gralkönig gegen die Vorschriften eine Geliebte – pikanterweise Gawans zukünftige Ehefrau Orgeluse – hatte.26 Trevrizent berichtet ebenso von den Heilungsversuchen am König, die jedoch ohne nennbaren Erfolg verlaufen. Kłosowska interpretiert das Reiben von Steinen in der Wunde sowie das Einführen der Lanze in das offene Fleisch im Rahmen ihres queer reading so: »In Wolfram, the wound is feminine, and masculine elements are applied to cure it, producing the ultimate paradox: the effeminate man is cured by contact with the masculine element, or (if one were willing to read the cure of Anfortas as a sexual metaphor), by having sex with a man.« (2005: 27) 27
Doch was genau beendet die erlösende Frage Parzivals »›œheim, waz wirret dier?‹« (P: 795,29) [»Onkel, was tut dir weh?«], die tatsächlich ohne Antwort bleibt. Schmerz, Leiden, eine andere Zeitlichkeit 28, Körperpraktiken, die dem Normativen enthoben sind, eine Art queere jouissance – schließlich hält Anfortas den Schmerz aus? Mit Anke Langner (in diesem Band) könnte auch hier behauptet werden, dass das Ziel der Erlösung die ultimative Entkörperung bzw. Einkörperung29 des Anfortas ist. Insofern wäre ebenso zu fragen, ob Erlösung stets ein freiwilliger Vorgang ist bzw. auf Einverständnis und Anerkennung beruhen muss, also Reziprozität voraussetzt. Aufgrund der schwierigen Konstellation zwischen Gralgesellschaft und Gralkönig stellt sich ebenso die Frage, wie das Verhältnis von König und Burgbewohnenden, aber auch von Einzelnem und 26 | Zwar darf der König von Munsalvæsche eine Ehefrau haben, aber keine Geliebte. Den Gralrittern ist weltliche Liebe ganz verboten. 27 | Vgl. Kłosowska (2004: 51) für eine Erläuterung dieser geschlechtlichen Codierungen, die an die mittelalterliche Tradierung antiker Humoraltheorien und -pathologien (z.B. Galen) anschließen. 28 | Vgl. Halberstams Ausführungen zur queer temporality in Bezug auf HIV/AIDS sowie Generativität (2005). 29 | Kantorowicz (1990) beschreibt in »Die zwei Körper des Königs« die politische Theologie des Mittelalters, in deren Logik der Körper des Königs immer ein zweifacher ist: ein natürlicher, also sterblicher und ein quasi übernatürlicher, unsterblicher, ja politischer Körper. Einerseits wird Anfortas als (Gral-)König degradiert, d.h. zumindest um einen Aspekt seines Körpers (nämlich jenen, der die (Gral-)Gesellschaft bzw. seine gottgegebene Herrschaft über sie repräsentiert) reduziert. Insofern entspricht die Entkörperung einer Einkörperung, einer Monosemierung seiner Person. Andererseits bewirkten Anfortas’ Schmerzen eine intensive Einkörperung, will heißen eine permanente Bewusstheit des Körper- bzw. Leibhabens. Parzivals Erlösungsakt beendet diese ›Leibhaftigkeit‹ des Anfortas.
38 | B e atrice M ichaelis Gemeinwesen im Kontext von Erlösungsbemühungen zu denken ist. Anfortas’ letzter Dienst als König nämlich, sich zum Wohle der Gralgesellschaft erlösen zu lassen, koinzidiert mit seiner eigenen Auslöschung. Die finale Erlösung setzt aber auch der Lust der Hörer-/innen/Leser-/ innen an der theatralischen Inszenierung (vgl. Trevrizent P: 481,6ff.) von Anfortas’ Schmerz ein Ende und somit nicht-sanktionierten sexualisierten (Lektüre)Praktiken. Parzival und Anfortas sind sündhafte Figuren.30 Zwar unterscheiden sich ihre Sünden voneinander, doch ihrer beider Sündhaftigkeit macht sie letztlich zu erlösungsbedürftigen Figuren. Sie benötigen einander für die Erlösung, in der ihnen jeweils eigene Aufgaben zukommen. So darf/muss Parzival die Frage stellen, Anfortas muss sie gestellt bekommen. Parzival soll fragen, Anfortas muss antworten. Diese Konstellation erinnert an die Bußpraktiken des Mittelalters, in deren Reden über die Sünden, d.h. in Form von Antworten auf ritualisierte Fragen schon ein Teil der Erlösung liegt.31 Erst im Sprechen der Frage wird Parzival seinen Weg zur Männlichkeit beenden und in die Position des Gralkönigs treten. Anfortas wiederum würde durch das Sprechen der Antwort zurückfinden in eine weniger ambivalente Männlichkeit. Zwar ist er hernach nicht mehr Gralkönig, aber überraschenderweise formuliert er auch keinerlei Antwort auf die Frage. So wandelt sich die Logik der Frage von »Don’t Ask, Don’t Tell« zu einem (subversiven) »Ask, But Don’t Tell«. Dass am Ende nur die Frage zählt, nicht aber Anfortas’ mögliche Antwort, bewahrt ein Moment der Uneindeutigkeit in der Figur, das simultan mit der Einsetzung Parzivals als prokreativer Herrscher der Gralburg Anfortas’ queere Potentialität (dis)artikuliert.32 Grundsätzlich aber ermöglicht die Analyse von Erlösungsfigurationen einen kritischen Blick auf die Konturierung und Installation des Hegemonialen/hegemonial Werdenden. Immerhin wird Parzival mit der erlösenden Frage Gralkönig. Im Moment der Apotheose seiner erzählten Männlichkeit erklimmt Parzival dann auch die machtvolle wie Heil bringende Position des Gralkönigs. Diese Befreiung wird – und dies ist signifikant für meine Argumentation – begleitet von einer »heteronormativen Epiphanie« (McRuer 2006: 26), in welcher Parzival, die zurückgekehrte Condwiramurs sowie ihre beiden Söhne Loherangrîn und Kardeiz eine Figur bilden, die sich in Überbietung des siechenden und unverheirateten Anfortas als genealogischer Signifikant an die Spitze der Gralgesellschaft setzt. Parzival fungiert ergo als der ›Hetero-Erlöser‹ von Munsalvæsche, der die Gralburg von Anfortas befreit und die eigentümlich queere Ordnung überwindet. Im Übrigen endet der Text mit einem vom Gral erlassenen Frageverbot, das anderen Völkern, denen Gott einen Tempelritter zum Herrscher gegeben hat, 30 | Parzivals Sündhaftigkeit ist eine dialektische, denn als der schlimmste Sünder gerät er zum ultimativen Erlöser, zum felix culpa. 31 | Kein Geringerer als Gott hat schließlich auch Parzivals Frage mit der entscheidenden Wirkmächtigkeit ausgestattet. 32 | Ein ähnliches Einschlussverfahren lässt sich an Feirefiz beobachten.
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untersagt, nach »seinem Namen oder seiner Art zu fragen« (»daz er vrâgen widerriete/sînes namen od sîns geslehtes«, 818,28f.). Begründet wird dies mit folgenden Worten: »Sô diu vrâge wirt gein im getân,/sô mugen sis niht langer hân./durch daz der süeze Anfortas/sô lange in sûren pînen was/und in diu vrâge lange meit,/in ist immer mêr nu vrâgen leit./al des grâles pflihtgesellen/von in vrâgens niht enwellen.« (819,1-8) [»Weil der liebe Anfortas sich solange in bösen Leiden quälen mußte und die Frage lange Zeit nicht zu ihm kommen wollte, sind sie nun immerfort sehr empfindlich gegen alles Fragen. Die Ritter von der Grâlsgesellschaft wollen keine Fragen hören«].
Damit setzt er jene unmarkierte und unhinterfragte Hegemonie ein, die zugleich die hetero-reproduktive Utopie des Wolfram’schen Grals begründet und für die dennoch erneut mindestens ein Geheimnis – die ausbleibende Antwort und vielleicht auch das Frageverbot am Ende – konstitutiv ist.
Fazit Sprache und Erlösung hängen eng miteinander zusammen. Allein der Umstand, dass die korrekte Frage die Erlösung der Gralburg vermag, ist von höchster (phallogozentrischer) Brisanz. Aber: Muss zur Erlösung grundsätzlich gesprochen werden? Liegt nicht auch im Schweigen etwas Erlösendes? Und schließlich: Ist Erlösung ein abschließbares Ereignis oder stellt sie vielmehr einen performativ-iterativen Prozess dar und erzielt Effekte, die sich mit Foucault als heterotopisch erweisen und im Jetzt Orte des Anderen etablieren? Parzivals Schweigen aktualisiert den Lektüretext als Heterotopie, als einen jener »Orte, die gleichsam Gegenorte darstellen, tatsächlich verwirklichte Utopien, in denen die realen Orte, all die anderen realen Orte, die man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden« (Foucault 2005: 935), d.h. auch in Abkehr von der zukunftsorientierten Gral utopie. Die ausbleibende Antwort vollbringt womöglich Ähnliches.33
Literatur Bertau, Karl (1994): »Frouwe, wie stêt iwer nôt?: Parzivals Frage vor der Frage«. In: Danielle Buschinger/Wolfgang Spiewok (Hg.), Perceval – Parzival: Hier et Aujourdhui et autres essais sur la littérature allemande du Moyen Age et de la Renaissance, Greifswald: Reineke, S. 11-14.
33 | Ich danke dem Colloquium des Graduiertenkollegs »Geschlecht als Wissenskategorie« und dem Oberseminar von Prof. Dr. Werner Röcke an der Humboldt-Universität zu Berlin für Diskussionen und Anregungen. Besonderer Dank gilt den Herausgeber-/ innen des vorliegenden Bandes.
40 | B e atrice M ichaelis Bumke, Joachim (2004): Wolfram von Eschenbach, Stuttgart/Weimar: Metzler. Chrétien de Troyes (1991): Der Percevalroman (Le Conte du Graal). Übersetzt und eingeleitet von Monica Schöler-Beinhauer, München: Fink. Foucault, Michel (1998): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd. 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (2005): »Von anderen Räumen«. In: Michel Foucault, Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. 4, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 931-942. Green, Dennis Howard (1982): The Art of Recognition in Wolfram’s Parzival, Cambridge/New York: Cambridge University Press. Halberstam, Judith (2004): »Dude, Where’s My Gender? or, Is There Life on Uranus?«. In: GLQ 10/2, S. 308-312. Halberstam, Judith (2005): In a Queer Time and Place. Transgender Bodies, Subcultural Lives, New York: New York University Press. Kantorowicz, Ernst H. (1990): Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, München: dtv. Kłosowska, Anna (2005): Queer Love in the Middle Ages, New York/Houndmills/Basingstoke: Palgrave Macmillan. Lochrie, Karma (1995): »Don’t Ask, Don’t Tell: Murderous Plots and Medieval Secrets«. In: GLQ 1/4, S. 405-417. McRuer, Robert (2006): Crip Theory. Cultural Signs of Queerness and Disability, New York: New York University Press. Ruh, Kurt (1980): Höfische Epik des deutschen Mittelalters, Teil 2, Berlin: Erich Schmidt. Sedgwick, Eve Kosofsky (1990): Epistemology of the Closet, Berkeley: University of California Press. Sedgwick, Eve Kosofsky (1996): »Introduction: Queerer than Fiction«. In: Eve Kosofsky Sedgwick (Hg.), Queerer than Fiction. Special Number of Studies in the Novel 28/3, S. 277-280. Smits, Kathryn (1986): »Die ›Stimmen‹ des schweigenden Königs: Ein Erzählmotiv im Beowulf, im Nibelungenlied und im Parzival«. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch im Auftrage der Görres-Gesellschaft 27/Neue Folge, S. 23-45. S. Thomae Aquinatis (1980): In Quattuor Libros Sententiarum. Opera Omnia 1, Roberto Busa (Hg.), Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog. Wolf, Alois (1972): »Literarhistorische Aspekte von Parzivals Schwéigen«. In: Karl-Heinz Schirmer/Bernhard Sowinski (Hg.), Zeiten und Formen in Sprache und Dichtung. Festschrift für Fritz Tschirch zum 70. Geburtstag, Köln/Wien: Böhlau, S. 74-95. Wolfram von Eschenbach (1998): Parzival. Studienausgabe. Mhd. Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann, Übersetzung von Peter Knecht, Einführung zum Text von Bernd Schirok, Berlin/New York: de Gruyter.
»Das entsetzliche Spiel des Totgeschlagenwerdens«. Herrschaf t und Genuss in Denkfiguren des Leidens bei Søren Kierkegaard und August Strindberg Sophie Wennerscheid Ein die Gemüter erregender Film wie Mel Gibsons 2004 erschienener »The Passion of the Christ« zeigt deutlich, dass Passionsgeschichten nach wie vor en vogue sind und sich breit gestreuter Aufmerksamkeit sicher sein können. Der Fokus auf den schuldig gesprochenen und den gewaltsam gequälten Körper verspricht nicht nur eine aufregende Mischung aus Lust und Ekel, suchender Nähe und abwehrender Distanz, sondern ist immer auch mit dem Versprechen von Erlösung verbunden. Das Leiden des Einzelnen – und zwar explizit sein körperliches Leiden wie auch das Leiden an dem eigenen Schuldigsein – soll, so legt die christliche Theologie es nahe, den Einzelnen auf den Weg zu Gott bringen und im Sinne eines stellvertretenden Leidens, einer satisfactio vicaria, auch der teilnehmenden Umgebung zugutekommen. Wie dieser Zusammenhang von Leiden und Erlösung in verschiedenen, literarisch ausgestalteten Passionsgeschichten so verhandelt wird, dass die in Szene gesetzte Ohnmacht und Schwäche in eine männlich codierte Macht und Stärke umschlägt, soll hier anhand einiger ausgewählter Positionen untersucht werden. Denn »die Figur der ›internalisierten‹ Schuld«, die als solche Bedingung der Erlösung ist, ist, wie Christina von Braun treffend herausgestellt hat, »mindestens eben so sehr treibende Kraft des abendländischen Fortschritts wie das ›handelnde Subjekt‹« (von Braun 2001: 547f.). Leitende Frage der folgenden Überlegungen ist dabei aber nicht nur die Frage nach dem mit dem Leiden verknüpften (männlichen) Herrschaftsanspruch, sondern mehr noch die Frage, inwiefern dem Leiden ein spezifischer Genuss – und damit eine transgressive Funktion – zukommt, und inwiefern Genuss und Macht an einen kreativen Akt der Selbstinszenierung gebunden sind. Im Fokus des Interesses steht mithin die These, dass in den verschiedenen Passionsgeschichten die Dialektik von forciertem Selbstverlust und angestrebtem Selbstgewinn performativ in Szene gesetzt wird, und dass das für den das Leiden performierenden männlichen
42 | S ophie W ennerscheid Künstler einen ›ästhetischen Mehrwert‹ erbringt, während das demütige Ertragen der Schuld an weibliche Figuren angebunden wird.
Paulus und die Folgen Beginnen möchte ich meine diesbezüglichen Überlegungen bei der Figur des Paulus, der in seinem zweiten Brief an die Korinther die Dialektik von Schwäche und Stärke pointiert formuliert und sie damit als zentrales Paradigma des abendländischen Denkens etabliert hat. Im Korintherbrief heißt es: »Darum, damit ich mich nicht überhebe, wurde mir ein Dorn für das Fleisch gegeben, ein Engel Satans, daß er mich mit Fäusten schlage, damit ich mich nicht überhebe. Um deswillen habe ich dreimal den Herrn angerufen, daß er von mir ablassen möge. Und er hat zu mir gesagt: Meine Gnade genügt dir, denn meine Kraft kommt in Schwachheit zur Vollendung. […] Deshalb habe ich Wohlgefallen an Schwachheiten, an Mißhandlungen, an Nöten, an Verfolgungen, an Ängsten um Christi willen; denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark.« (2. Kor. 12,7-10)
Ausgangspunkt der paulinischen Argumentation ist die Befürchtung, dass der starke Mensch sich ›überhebt‹, sich stolz auf sich selbst besinnt, statt seiner Gott untergeordneten Stellung demütig eingedenk zu bleiben. Um eine solche demütige Haltung zu gewährleisten, wird, so Paulus, dem Einzelnen ein ›Pfahl im Fleische‹ gegeben, der ihn immerzu an seine Schwäche, oder christlich gesprochen: an seine Sündigkeit erinnert. Wenn sich aber diese Schwäche eingestanden wird, dann kommt es der Theologie des Paulus’ zufolge zu einem dialektischen Umschlag: Der Schwache, Misshandelte, Geängstigte wird von Gott wieder aufgerichtet und gestärkt. Gestärkt aber immer nur insofern, als dass diese Stärke nicht als Selbstmächtigkeit aufzufassen ist, sondern als eine von Gott gegebene Stärke, die immer an das Bewusstsein der Nichtigkeit vor Gott angebunden bleibt. Ohnmacht wandelt sich christlich verstanden also nicht einfach in Macht, sondern in eine Macht, die nicht ohne Ohnmacht zu denken ist. Der Gestus der Demütigung und Unterwerfung unter die Macht Gottes gehört zu einer christlich verstandenen Stärke also immer mit dazu. Gerade aus ihr speist sich aber der spezifische Genuss. Auf den Punkt bringt Friedrich Nietzsche diese Verschlingung von Unlust und Lust in seiner in der »Genealogie der Moral« vorgetragenen Christentumskritik. Dort heißt es: »Diese heimliche Selbst-Vergewaltigung, diese Künstler-Grausamkeit, diese Lust sich […] ein Nein einzubrennen […] hat zuletzt – man erräth es schon – als der eigentliche Mutterschooss idealer und imaginativer Ereignisse auch eine Fülle von neuer befremdlicher Schönheit und Bejahung an’s Licht gebracht […]. Was wäre denn ›schön‹, […] wenn nicht erst das Hässliche zu sich selbst gesagt hätte: ›ich bin hässlich‹? […] und Eins weiss man hinfort, ich zweifle nicht daran –, welcher Art nämlich von Anfang an die Lust ist, die der Selbstlose, der Sich-selbst-Verleugnende, Sich-selber-Opfernde empfindet: diese Lust gehört zur Grausamkeit.« (Nietzsche 1980: 326)
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Die Wirkmacht dieser hier herausgestellten Dialektik von Lust und Unlust, Macht und Ohnmacht kann für die abendländische Kulturgeschichte kaum unterschätzt werden. Während Nietzsche noch in vernichtungswilliger Wut dagegen anschrieb, dass das Christentum dem Einzelnen eine Knechtsmoral einpflanze, in ihm den Wunsch wecke, sich von Gott schuldig sprechen zu lassen, »sich schuldig und verwerflich zu finden bis zur Unsühnbarkeit, […] sich bestraft zu denken, ohne dass die Strafe je der Schuld äquivalent werden könne« (Nietzsche 1980: 332), erfuhr die Denkfigur des sich selbst unterwerfenden Einzelnen im 20. Jahrhundert eine merkwürdig ambivalente Wiederaufnahme, die von Denkern wie Louis Althusser und Jacques Lacan bis zu Michel Foucault und Judith Butler reicht. Angestoßen wurde diese Renaissance durch die legendären Hegel-Vorlesungen Alexandre Kojèves (vgl. Kojève 2004), in denen er Hegels Kapitel »Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewusstseins, Herrschaft und Knechtschaft« aus der »Phänomenologie des Geistes« (vgl. Hegel 1988: 127-136) zum Zentrum seiner Überlegungen machte und Hegels Theorem von der Entstehung des Selbstbewusstseins durch Anerkennung gesellschaftstheoretisch vertiefte. Dieses Theorem der Anerkennung wurde sodann von Althusser ideologietheoretisch (vgl. Althusser 1977) und von Judith Butler bis in ihre Gender-Theorie hinein weitergedacht (vgl. Butler 2001a; 2001b). Das Gemeinsame dieser unterschiedlichen Ansätze besteht dabei darin, dass jeweils davon ausgegangen wird, dass das Subjekt überhaupt erst in dem Moment Subjekt wird, in dem es sich einer ihm übergeordneten Macht unterwirft und diese Macht so inkorporiert. In der Umwendung zu der es anrufenden Stimme des Gesetzes, so Butlers Kernthese in ihrer Arbeit »Psyche der Macht«, trete das Subjekt ein »in die Sprache der Selbstzuschreibung […] – durch die Übernahme von Schuld« (Butler 2001a: 101). Sie führt dazu aus: »Das Subjekt ist genötigt, nach Anerkennung seiner eigenen Existenz in Kategorien, Begriffen und Namen zu trachten, die es nicht selbst hervorgebracht hat, und damit sucht es das Zeichen seiner eigenen Existenz außerhalb seiner selbst […]. Anders gesagt: im Rahmen der Subjektivation ist Unterordnung der Preis der Existenz. […] Die Subjektivation beutet das Begehren nach Existenz dort aus, wo das Dasein immer von anderswo gewährt wird; sie markiert eine ursprüngliche Verletzlichkeit gegenüber dem Anderen als Preis, der für das Dasein zu zahlen ist.« (Butler 2001a: 25)
So wie nach Paulus der einzelne Mensch auf die ihm zugesprochene und ihn von der Sünde freisprechende, also erlösende Gnade Gottes angewiesen ist, ist der Mensch der Moderne nach Butler auf eine wie auch immer geartete individuelle und gesellschaftliche Anerkennung angewiesen. So psychologisch einleuchtend und gesellschaftstheoretisch markant diese Beobachtung auch erscheint, so problematisch bleibt sie doch. Zwar macht Butler geltend, dass der Mensch seine ›leidenschaftlichen Verhaftungen‹ teilweise überwinden und gestalten könne, trotzdem aber hält sie im Ansatz an der christlich tradierten Denkfigur von Erlösung durch Unterwerfung fest. Schwäche und Ohnmacht bleiben ihr der abgründige Grund menschlicher Existenz.
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Der »Pfahl im Fleische« als Auszeichnung der Männlichkeit im Werk Søren Kierkegaards Ein Blick auf die Verhandlung dieser Abgründigkeit im Werk des dänischen Denkers Søren Kierkegaard, auf den Butler in ihrem Werk mehrfach zurückgreift, soll helfen, die Problematik dieses Paradigmas genauer herauszuarbeiten. Denn Kierkegaard besetzt hinsichtlich der Tradierung des christlichen Unterwerfungsparadigmas eine wichtige Schlüsselposition. Aufgrund seines strengen christlichen Selbstverständnisses trägt er einerseits dazu bei, die Fehlbarkeit des Menschen im kritischen Bewusstsein zu halten. Dank seiner das enge christliche Selbstverständnis überwuchernden literarischen Texte macht er andererseits aber zugleich auf den ästhetischen Reiz einer abgründig-schuldigen Existenz aufmerksam und wird so für viele Philosoph-/innen sowie Schriftsteller-/innen des 19., 20. und auch noch des 21. Jahrhunderts wichtig. Von zentraler Wichtigkeit ist Kierkegaard die Denkfigur, dass der Mensch vor Gott immer Unrecht hat, dass er im Angesicht Gottes also immer ein Sünder ist. Notwendig ist ihm dieser Gedanke, da er ihm im Umkehrschluss garantiert, »at Guds Kjærlighed altid er større end vor Kjærlighed« [»dass Gottes Liebe immer größer ist als unsere Liebe«] (Kierkegaard 1997: 331) . Wer das nicht in aller Zweifelsfreiheit glauben kann, dem geht die Gewissheit der Erlösung verloren. Die aus dem Unrechtsbewusstsein entstehende Gewissheit der Erlösung bedeutet für Kierkegaard deshalb einen Sieg über die Welt und einen ›Gewinn‹ seiner selbst. Er pointiert, dass das Leiden den Menschen ›nach innen‹ kehre und er über die ›Innerlichkeit im Leiden‹ das Ewige gewinne. Wichtig ist nun aber, dass der über das Wissen um die eigene Nichtigkeit errungene Gewinn des Ewigen immer auch als Auszeichnung der Männlichkeit fungiert. Kierkegaard differenziert: »at som Paulus matte have en Pæl i Kjødet, saa Maria et Sværd gjennem Hjertet; Forskjellen mellem det Mandlige og det Qvindlige er saa betegnende.« (Kierkegaard 1926: 321) [»dass wie Paulus einen Pfahl im Fleische haben musste, so Maria ein Schwert durchs Herz; der Unterschied zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen ist so bezeichnend«]. Das bedeutet: Maria stirbt, ihr Leid vernichtet sie, Paulus aber trägt sein Leidensmal Zeit seines Lebens mit sich und erweist sich so im Akt des Tragens als männlich. Wie aber ist diese Männlichkeit definiert? Was zeichnet sie aus? Kaja Silverman hat in ihrer renommierten Arbeit »Male Subjectivity at the Margins« eine wie von Kierkegaard behauptete und zur Schau gestellte Nichtigkeit der eigenen Existenz mit Rückgriff auf Überlegungen Freuds als moralischen Masochismus bezeichnet und erklärt: »[T]he moral masochist’s cheek is the ego. That is the erotogenic zone of choice, the site where he or she seeks to be beaten.« (Silverman 1992: 188f.) Als master tableau einer solchen sich selbst demütigenden, und insofern von ihr ›unmännlich‹ genannten Männlichkeit (vgl. hierzu auch Forster 1998) führt Silverman die Ikonographie des gekreuzigten Christus 1 | Alle Zitate Kierkegaards und Strindbergs in eigener Übersetzung.
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an. Statt jedoch wie Nietzsche dieses Bild sich selbst negierender Männlichkeit kritisch zu betrachten, wertet Silverman die von ihr so genannte Negation ›phallischer Werte‹ auf. Sie betont: Der Figuration des Gekreuzigten sei »in its purest forms intrinsically incompatible with the pretensions of masculinity« (Silverman 1992: 198; vgl. hierzu kritisch Soloman Godeau 1995: 69-76). Dass gerade dieser scheinbaren Negation von Männlichkeit eine wiederum spezifisch männliche Macht zukommt, wird von Silverman nicht weiter reflektiert. Klarer sieht da George Steiner, der zwar nicht explizit nach den Figurationen von Männlichkeit fragt, aber doch sensibel dafür ist, dass der Verzicht auf phallische Männlichkeit eine Strategie der Remaskulinisierung ist. Steiner erklärt – mit Bezug auf Kierkegaard: »[W]here it is fully analogous to that of Jesus, humility is total powerlessness, a finality of impotence. But it is precisely this impotence which constitutes […] a greater power, very nearly an impotence of the absurd.« (Steiner 2002: 292) Diese besondere Potenz der Impotenz muss aber – und hier lassen sich Silvermans Beobachtungen, dass das Anklagen seiner selbst als schuldig einen erotisch codierten Genuss verspricht, mit den Texten Kierkegaards zusammenführen – auf die Modi ihrer Herstellung befragt werden. Wie kommt es zur imitatio dei? Welche Mittel werden bemüht, um ein Gleichnis des leidenden Christus, um selbst ein Gekreuzigter zu werden? Wie kann der Sieg über die Endlichkeit und der Gewinn seiner selbst erreicht werden? Und was ist damit für die Möglichkeit einer Herrschaft über sich selbst gewonnen? Kierkegaard stellt in seinem gesamten Werk immer wieder heraus, dass der Sieg der Ewigkeit zwar überaus erstrebenswert, keineswegs aber leicht zu erlangen ist. Vielmehr beschreibt er den dazu nötigen Weg als einen Prozess des Absterbens von der ›Natürlichkeit‹, den es aktiv und gegen das unmittelbare eigene Wollen zu forcieren gelte. Wo Hegel davon spricht, dass die eigene ›unmittelbare Wirklichkeit‹ abgetötet werden müsse (Hegel 1986: 134), konkretisiert Kierkegaard in seinem »Evangelium der Leiden«: »For at fatte Lidelsens Tanke og Lidelsens glade Budskab […] behøver Mennesket en guddommelig Veiledning. Det naturlige Menneske kan aldrig falde paa at ønske det.« (Kierkegaard 1903: 336) [»Um den Gedanken des Leidens und die frohe Botschaft des Leidens zu fassen […] braucht der Mensch eine göttliche Wegweisung. Der natürliche Mensch kann niemals darauf verfallen, es zu wünschen«]. Das Absterben von der eigenen Natürlichkeit erfolgt Kierkegaard zu Folge also über eine Wendung gegen sich selbst. Konkret heißt das: Der Einzelne hat sich alle möglichen Schrecknisse einzubilden, die ihn eventuell ereilen könnten. Er muss ein Hypochonder im Geiste werden, er muss »Muelighedens Cursus i Ulykke« (Kierkegaard 1997b: 457) [»den Lehrgang der Möglichkeit im Unglück«] durchmachen und dabei das Entsetzliche der Möglichkeit mittels seiner Einbildungskraft so gestalten, dass diese Möglichkeit ›wirklicher als die Wirklichkeit selbst‹ wird, d.h. das Eingebildete darf nicht als Eingebildetes durchschaut werden, sondern muss für Wirklichkeit gehalten werden. Die Wendung gegen sich selbst vollzieht sich also, so der Kierkegaardforscher Nordentoft treffend, über »indbildningskraftens selvskabte plager« (Nordentoft 1972: 449f.) [»die selbstgeschaffenen Plagen der
46 | S ophie W ennerscheid Einbildungskraft«]. Wenn die Plagen aber selbst geschaffen sind, kann dann noch, wie Peter Sloterdijk es in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen nicht ohne dramatisierendes Pathos getan hat, davon gesprochen werden, dass die Literatur von den »Brandzeichen der Existenz«, den »existentiellen Tätowierungen« (Sloterdijk 1988: 17f.) zeugt? Ist es nicht vielmehr so, dass der Literat sich oder seinen Erzählfiguren mittels Literatur die Tätowierung überhaupt erst zufügt? Und unterwirft er damit sich und seine Figuren aktiv der Schuld und dem Leiden an der Schuld, um sich und sie, wie von Butler dargestellt, als Subjekt zu konstituieren und damit (Handlungs-)Macht zu bekommen? Diese Fragen sind meines Erachtens nur insofern zu bejahen, als die Macht sich nicht so sehr aus dem von Butler beschriebenen Akt der Anerkennung bzw. des Freispruchs oder der Vergebung von Schuld speist, sondern bereits einen Schritt früher erscheint: nämlich im mit einem aus dem Leiden resultierenden Genuss seiner selbst als leidend. Mit Slavoj Žižeks an Lacan entwickeltem Konzept des plus-de-jouir – das heißt der Gleichzeitig von Mehr-an-Genuss und dem kein-Genießen-mehr – ließe sich so festhalten, dass die ästhetisierte Leidenserfahrung um ihrer selbst willen, aus einer Lust am Leiden gepflegt und genossen wird. Und zwar insbesondere da, wo der Schmerz eine materielle Struktur bekommt, wo er also formuliert wird. Die klagende Stimme ruft ein Genießen hervor, weil die Klage als Klage sich augenblicklich in ›süße Töne‹, das aber heißt in Literatur verwandelt und insofern ein poetisches Genießen, einen poetischen Mehrwert bewirkt. Žižek erklärt: »Poesie, das poetische Genießen, erscheint, wenn die symbolische Artikulation dieses Verlustes eine eigene Lust hervorbringt.« (Žižek 2000: 11) Und diese genossene Artikulation des Verlustes bzw. des Leidens zeitigt als Effekt Stärke. In ihrer Studie »Martyrdom in Literature« führt Friederike Pannewick aus, dass es gerade die literarische Gestaltung des schwachen und verletzten Körpers sei, der auf symbolische Stärke verweise. Sie postuliert: »The more vulnerable and weaker this body appears – and the production of such an image is the task of literary media – the greater the impact of the symbolic power.« (Pannewick 2004: 10) Schärfer als bei vielen anderen Apologien des Märtyrers hat Kierkegaard jedoch die Problematik gesehen, dass der Märtyrer an anderen Menschen schuldig wird, wenn er, und sei es auch ›um der Wahrheit willen‹ sich von ihnen beleidigen, schlagen und eventuell gar töten lässt. In seinem Text »Har et Menneske Lov til at lade sig ijhelslaae for Sandheden?« [»Hat ein Mensch das Recht, sich für die Wahrheit totschlagen zu lassen?«] erörtert Kierkegaard das Problem des Schuldigwerdens ausführlich und beantwortet die gestellte Frage nicht nur mit einem klaren, wenn auch durchaus bedauerndem Nein, sondern warnt explizit davor, »den forfærdelige Leeg, at blive slagen ihjel« (Kierkegaard 1905b: 84) [»das entsetzliche Spiel des Totgeschlagenwerdens«] zu spielen. Die Figur des Märtyrers bleibt so bei Kierkegaard eine ambivalente. Der Einzelne muss zwar totgeschlagen werden, um als Blutzeuge Evidenz zu erhalten, darf sich aber nicht totschlagen lassen, da er seine Totschläger damit zu schuldigen Mördern machen würde. Wie ein solcher literarisch initiierter
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Selbstmord aussehen kann, hat Kierkegaard in den späten sogenannten Augenblicksschriften gezeigt. Statt auf diese, möchte ich nun aber auf das Werk August Strindbergs zu sprechen kommen und untersuchen, wie hier, also rund 50 Jahre nach Kierkegaard, die Dialektik von Selbstverlust und Selbstgewinn gestaltet wird.
Das ›Spiel des Getötet werdens‹ als Spiel der Männlichkeit bei August Strindberg Wie kein Autor nach Kierkegaard nimmt Strindberg den von Kierkegaard gesponnenen Faden exzessiver literarischer Beobachtung des schuldigen Selbst auf. Immer wieder stellt er in Texten, die er als autobiographische inszeniert, die Frage nach dem schuldigen Selbst. Und ähnlich wie Kierkegaards Erzähler findet er dieses Selbst nicht, will er es nicht finden, verstellt er dem Suchenden den Weg, und zwar über die literarische Fragmentierung eines solchen Selbst. Der Sprache des Leidens kommt bei dieser Auflösung von Identität eine grundlegende und strukturbildende Funktion zu, da das Ich sich in seiner Selbstdarstellung als Leidender bis zum Wahnsinn entäußert, sich gerade als dieser Entäußerte aber auch wiedergewinnt. Besonders gut lässt sich das an Strindbergs 1897 veröffentlichten Text »Inferno« zeigen. »Inferno« erzählt in der ersten Person von einem solipsistischen Schriftsteller, der durch die Hölle auf Erden geht, weil er sich von verschiedenen Mächten verfolgt wähnt. Er erleidet eine nicht abreißende Reihe von Schicksalsschlägen, die er immer wieder neu auszudeuten versucht. Mal als Strafe Gottes, mal als gegen ihn eingefädelte Intrige, mal als Angriff dämonischer Mächte. Alles, was ihm begegnet, alles was er sieht, liest er als Zeichen einer ihn (be)treffenden Vorsehung. Ob nun die Form seines Kopfkissens, ein Stück Kohle oder das Eisengestell seines Bettes, nichts ist ohne Bedeutung. Das Besondere des Romans ist nun aber, dass der Erzähler diese Bedeutung generiert. Schreibend schafft er sich die Hölle, durch die er meint gehen zu müssen. Das heißt, er imaginiert seine Verfolgung und durchläuft so den von Kierkegaard eingeforderten Durchgang durch die Möglichkeiten des Unglücks. Alles Erlebte entspringt dabei der nicht zu zügelnden Einbildungskraft des Erzählers. Das wertet das Erlebte jedoch keineswegs ab, sondern im Gegenteil auf. Der Protagonist aus »Inferno« erklärt: »antaget att det inte var någon intrig; då är det jag som med hjälp av inbillningskraften har skapat dessa tuktoandar för att straffa mig själv.« (Strindberg 1994: 145) [»angenommen, dass es keine Intrige war; dann bin ich es, der ich mir mit Hilfe der Einbildungskraft diese züchtigenden Geister geschaffen habe, um mich zu strafen«]. Dass er sich dabei in seine ihn ängstigende Einbildungskraft gleichsam verrennt, dass er sich, wie Kierkegaard an einer Stelle seines Werk formuliert, »fantasiens excess« (Kierkegaard 1916: 162) [»dem Exzess der Phantasie«] anheimgibt, versucht er nicht zu verhindern. Während Kierkegaard einem solchen Exzess immer wieder zu entkommen versucht, indem er sich literarische Diäten verordnet, sich als religiöser Schriftsteller selbst begrenzt, sich unter ›die
48 | S ophie W ennerscheid bindende Macht der Persönlichkeit‹ zu beugen versucht, sprengt Strindberg solche Grenzen lustvoll auf. In »Inferno« legt er sich bzw. seine als alter ego strukturierte Erzählfigur immer wieder auf das Bett des Todes, spielt mit der Vorstellung des Getötetwerdens und inszeniert so das von Kierkegaard scharf kritisierte »schreckliche Spiel des Getötetwerdens«. Gerade über dieses Spiel mit dem Tod aber hält er sich nicht nur schreibend am Leben, sondern, so suggeriert er es zumindest seinen Leser-/innen, erlangt er Herrschaft über sich und so wiederum auch über mit ihm konfrontierte andere. Der Erzähler beobachtet und beherrscht das Wahnhafte seiner Wahrnehmungen, die von daher als kreativ-überspannte Weltdeutungsversuche, ja als das Dasein dynamisierende und multiplizierende ›Lektüren‹ der Welt zu lesen sind. Und er erhält so seine zuvor stark in Frage gestellte Männlichkeit zurück. Denn Strindberg spielt das Spiel des Getötetwerdens als Spiel der Männlichkeit, und zwar explizit der kriegerischen Männlichkeit. Im Text heißt es: »Jag ikläder mig stridsmanteln, mössan och stövlarne, fast besluten att sova påklädd, redo att dö som en tapper krigare vilken utmanar döden sedan han trotsat livet.« (Strindberg 1994: 241) [»Ich ziehe Schlachtmantel, Mütze und Stiefel an, fest entschlossen angezogen zu schlafen, bereit zu sterben als ein tapferer Krieger, der den Tod herausfordert, nachdem er dem Leben getrotzt hat«]. Und an anderer Stelle vergleicht er sich mit Jakob (vgl. Gen. 32,23-33), der aus dem Kampf mit Gott zwar verletzt, aber »med vunnen krigarära« (Strindberg 1994: 257) [»mit gewonnener Kriegerehre«] hervorgeht. Wo aber die Kriegerehre nah ist, da ist auch Nietzsches Konzept des Übermenschen nicht fern. Denn dieser ist letztlich das Ziel der plagenden, quälenden und züchtigenden Geister des Strindbergschen Ich-Erzählers. Die Qual soll zum Übermenschen erziehen (vgl. Strindberg 1994: 291). Dass sich von dieser Perspektivierung her zumindest autorintentional von einer herrschaftsstrategischen Aneignung des Leidens sprechen lässt, wird besonders deutlich, wenn man die hier performierte Männlichkeit mit Texten Strindbergs vergleicht, in denen er nicht einen leidenden Mann, sondern eine leidende Frau in den Mittelpunkt stellt. In dem programmatisch betitelten Drama »Påsk« [»Ostern«] ist es das Mädchen Eleonare, die sich dem Elend, das der Vater durch eigenes Verschulden über die Familie gebracht hat, nicht widersetzt, sondern alle Demütigungen und Anschuldigungen bereitwillig auf sich nimmt. Nachdem es zunächst so aussieht, als vergrößere sie damit das Elend der Familie, zeigt sich später, dass nur aufgrund dieses unschuldigen Leidens die Familie gerettet werden kann. Eleonare hat das Kreuz auf sich genommen und verkörpert damit eine Position, die ihr Autor Strindberg mehrfach für sich zu reklamieren versucht, der er sich aber letztlich immer wieder verweigert hat. In einem Brief an einen Freund schreibt Strindberg: »Tröstade mig en tid med att jag led oskyldigt, och hade dock svårt resignera med det bekanta: att lida med orätt är en nåd« (Strindberg 1992: 374) [»Tröstete mich eine Zeit lang damit, dass ich unschuldig litt, und doch fiel es mir schwer, mich unter das Bekannte zu beugen: zu Unrecht leiden ist eine Gnade«]. Weder dem männlichen Autor, noch der von ihm ge-
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stalteten männlichen Figur des Leidenden ist es möglich, das Leid fraglos und demütig auf sich zu nehmen und so Erlösung für sich und andere zu bewirken. Das kann allein die weibliche Figur. Die männlichen Autor- und Erzählfiguren hingegen kämpfen gegen das Leiden, forcieren es bewusst, dramatisieren es, um sich so in eine heroische Geschichte einschreiben zu können. Demut ist ihre Sache nicht. Auch im Werk Kierkegaards findet sich eine ähnliche Überhöhung der Figur der leidenden Frau. In seiner 1849 erschienenen erbaulichen Rede »Synderinden« (Kierkegaard 1905a: 271) [»Die Sünderin«] präsentiert Kierkegaard die an die Figur der Maria Magdalena angelehnte Figur der Sünderin, die gegen alle äußeren und inneren Widerstände »mægtigt udtrykker Afmagten, at hun formaaer bogstaveligen Intet« (Kierkegaard 1905a: 276) [»machtvoll die Ohnmacht ausdrückt, dass sie buchstäblich gar nichts vermag«]. Anders als alle anderen männlichen Leidensträger begehrt die weibliche Figur gegen ihre Nichtigkeit nicht auf, sondern verschmilzt sich selbst vergessend mit ihrer Sündigkeit. Im Text heißt es: »hun har glemt Mælet og Sproget og Tankernes Uro […] glemt sig selv, hun den Fortabte, der nu er fortabt i sin Frelser, fortabt i Ham hviler ved Hans Fødder.« (Kierkegaard 1905a: 277) [»sie hat die Zunge und die Sprache und die Unruhe der Gedanken vergessen, […] sich selbst vergessen, sie ist die Verlorene, die jetzt verloren ist in ihren Retter, verloren in ihn ruht sie zu seinen Füßen«]. Allein diese Selbstvergessenheit, diese völlige Hingabe und Unterordnung sichert der Sünderin die erlösende Gnade des Herrn. Und nur diese sich selbst hingebende und sich selbst vergessende Sünderin ist dem religiösen Selbstverständnis Kierkegaards entsprechend Sinn- und Vorbild eines jeden Christen. Die Sünderin verkörpert insofern, wie Céline Léon treffend formuliert, »the absolute piety demanded by Christianity« (Léon 2000: 340). Einer solchen Erwartung entsprechen können im Werk Kierkegaards aber nur die weiblichen Figuren. Abschließend lässt sich somit festhalten, dass es in den hier exemplarisch untersuchten Texten von Kierkegaard und Strindberg der männliche Schriftsteller ist, der dem Leiden da gewachsen ist, wo er es mittels literarischer Einbildungskraft antizipiert, sich dem Leiden so hingibt und es in literarisch kontrollierter Hingabe überwindet. Letzten Endes also kann er Leiden in Genuss und Herrschaft transformieren. Was er aber nicht kann, ist, das Leiden in streng christlichem Sinne demütig so auf sich zu nehmen, dass allein Gott ihn davon freisprechen kann. Auf diese Erlösung von außen muss der Schriftsteller verzichten, schafft sich aber über den künstlerischen Akt der Gestaltung des Leidens trotzdem Erlösung von diesem. Erlösung vom Leiden untersteht dann nicht mehr einem christlichen, sondern vielmehr einem künstlerischen Paradigma. Erlösung wird, mit allen dadurch neu aufbrechenden Tücken, zu einer Aufgabe der Selbsterlösung.
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»Wearing the Cross of My Calling«: Krise und Auferstehung Weißer Männlichkeit in den Erlösungsphantasien von Bruce Springsteen Daniela Hrzán Sea Bright, New Jersey: Bruce Springsteen verlässt den Parkplatz eines Shopping Centers. Während er rückwärts hinausfährt, hält ein Mann – offensichtlich ein Fan – neben ihm an, kurbelt die Scheibe herunter und ruft ihm zu: »Bruce, wir brauchen dich!« So (oder so ähnlich) muss es gewesen sein. Wo immer etwas über »The Rising« geschrieben steht, dem Album, das Springsteen ein Jahr nach den Anschlägen vom 11. September 2001 veröffentlichte, wird diese Begebenheit erzählt, die längst zu einem eigenen Mythos avanciert ist (vgl. z.B. Carithers 2003). Daran wird deutlich, wie sehr es in den USA kurz nach den Terrorattacken das Bedürfnis nach einer Erlöserfigur gab, einem ›Messias‹. Springsteen, lange Zeit Prophet eines ›Gelobten Landes‹, das zu finden er selbst nie im Stande war, und nun zu Höherem bestimmt, sollte diesen Platz einnehmen. Denn einen Propheten gab es schon. Rein zufällig hatte Bob Dylan genau am 11. September 2001 ein Album veröffentlicht – »Love and Theft« – das mit seinen Bildern der Hoffnungslosigkeit, des Krieges und der Apokalypse die Umstände der Terroranschläge erschreckend treffend beschrieb (vgl. Hamm 2003: 202). Dank Dylans Prominenz wurde das Album zwar viel diskutiert, vermochte aber nicht zu überzeugen. Ähnlich erging es auch vielen anderen Musiker-/innen, die den 11. September zum Gegenstand ihrer Werke gemacht hatten (vgl. Hamm 2003: 201-219). Doch als Springsteens »The Ris ing« veröffentlicht wurde, waren die Meinungen einhellig, dass es sich um ein 1 | Der erste Teil der Überschrift ist ein Zitat aus dem Song »The Rising«, der sich auf dem gleichnamigen Album von Bruce Springsteen aus dem Jahr 2002 findet. 2 | Hamm diskutiert u.a. diese Werke: Stevie Wonders »Love’s in Need of Love Today«, U2s »Walk On«, Neil Youngs Interpretation von John Lennons »Imagine«, Wyclef Jeans Cover-Version von Bob Marleys »Redemption Song« und Paul McCartneys »Freedom«.
54 | D aniel a H rz án Meisterwerk handele. Ihm war es gelungen, eine Leerstelle in den öffentlichen Reaktionen auf ein nationales Trauma zu füllen.
»Born in the USA«: Das Phänomen Springsteen Seit den 80er Jahren ist Bruce Springsteen eine der zentralen Figuren der USamerikanischen Musikszene. Er gilt dabei als prototypischer Vertreter einer American Tradition, als die Verkörperung des American Dream, den er kritisiert und dennoch verteidigt, und als das soziale Gewissen, insbesondere der ›einfachen Menschen‹, der Arbeitenden, die in bescheidenen Umständen leben. Wie nur wenigen anderen, wird seinen Songs ›Authentizität‹ und Ehrlichkeit zugeschrieben und das Potenzial, die Lebensgeschichten der ›Durchschnittsamerikaner‹, ihre Hoffnungen, Sehnsüchte und Liebesbeziehungen detailgetreu abbilden zu können und dabei als Künstler selbst ›normal‹ zu bleiben (vgl. Bird 1994; Jensen 2001: 287). Darüber hinaus ist er als Musiker politisch tätig, was sich u.a. in seiner Unterstützung der Wahlkampagnen der Demokratischen Partei niedergeschlagen hat. Neben ihm und Madonna gibt es wohl wenig andere Künstler-/innen, die von Wissenschaftler-/innen unterschiedlichster Disziplinen so viel Aufmerksamkeit erfahren haben. Im Folgenden möchte ich den unzähligen Studien zum ›Phänomen Springsteen‹ eine weitere Dimension hinzufügen. Mich interessiert Springsteen als eine messianische Figur und die Rolle, die Kategorien wie Gender und Race in dieser Selbstinszenierung spielen. Anders als in der Mehrheit vorhandener Arbeiten zu Springsteen möchte ich allerdings nicht die Repräsentation der ›Anderen‹ in den Mittelpunkt stellen – also derjenigen, die sich an den Rändern der US-amerikanischen Nation befinden und für die der American Dream in unerreichbare Ferne gerückt ist – sondern möchte das Zentrum in den Blick nehmen, welches durch Springsteen als Repräsentant Weißer christlicher heteronormativer und Mittelklasse-Männlichkeit repräsentiert wird. Dabei werde ich insbesondere an diejenigen Arbeiten anknüpfen, welche die religiösen Dimensionen von Spring steens Musik bereits untersucht haben (vgl. insbesondere Friskics-Warren 2005; Greeley 2004; McCarthy 2001; Moss 1992; Primeaux 1996). Meine Analyse soll jedoch darüber hinausgehen, die christlichen Elemente seines Schaffens zu untersuchen. Vielmehr geht es mir darum, Springsteens Selbstinszenierungen – in Form von Songtexten, musikalischen Einflüssen und musikalischer Umsetzung – als auch die bereits vorhandenen kritischen Betrachtungen und Ana3 | Springsteens ›Normalität‹ wird gerade auch in Abgrenzung zu Künstlern des Cock Rock (u.a. Mick Jagger, Roger Daltrey) und Glam Rock (hier vor allem David Bowie) immer wieder betont. Dabei spielt seine ›saubere‹ sexuelle Ausstrahlung als (scheinbar) eindeutig heterosexueller Mann eine entscheidende Rolle, was ihn gerade auch von Michael Jackson und Prince unterscheidet. Anders argumentiert Smith (1991), die zeigt, dass das Spiel mit homoerotischen Elementen und das bewusste Annehmen weiblicher Eigenschaften eine zentrale Rolle bei Springsteens Konzerten und in seinen Videos spielt.
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lysen dieser Selbstinszenierungen in Beziehung zu gegenwärtigen Debatten über die ›Krise der Männlichkeit‹ zu setzen, die im Kontext der Terroranschläge des 11. September noch einmal besondere Relevanz erlangt haben. Die Schnittstelle der Repräsentation von Weißer Männlichkeit und dem Erlöser-Motiv wird dabei das Zentrum bilden, von dem aus exemplarisch ausgewählte Songs des Albums »The Rising« analysiert werden. Bezüglich der Krisen-Rhetorik Weißer Männlichkeit möchte ich insbesondere auf die Arbeit von Sally Robinson verweisen, die hervorhebt, dass Krisen häufig mit Hilfe eines Vokabulars des Schmerzes sowie anhand von Bildern verwundeter und emotional traumatisierter Männlichkeit beschrieben werden. Robinson sieht dieses Markieren von Weißsein und Männlichkeit als eine Strategie, mit Hilfe derer Weiße Männer die weit verbreitete Kritik an ihrer Macht und Privilegien verhandeln (vgl. 2000: 5f.). Daher kann auch von einer ›körperlichen Krise‹ Weißer Männlichkeit gesprochen werden. Das Zeigen verwundeter Körper materialisiere diese Krise, mache sie realer, aber solch eine Materialisierung droht auch damit, die Lüge unverkörperter Normativität zu entlarven, die so oft mit Weißer Männlichkeit in Verbindung gebracht wird (vgl. Robinson 2000: 9). Und schließlich betont Robinson auch die Funktion der Krise als Quelle symbolischer Macht, die sich als gewinnbringend erweisen kann, wenn die soziale und diskursive Position eines Krisensubjekts eingenommen wird. Dabei sind Krisen-Ankündigungen stets performativ zu verstehen. Indem etwas als Krise benannt wird, kommen diskursive Konventionen und Tropen ins Spiel, die Bedeutungen strukturieren (vgl. 2000: 9f.). Die Passion Christi kann als solch eine Trope begriffen werden, wie sich anhand der Analyse des Songs »The Rising« zeigen lässt. Ich argumentiere, dass die Ereignisse des 11. Septembers dazu geführt haben, dass Springsteen eine Rolle angenommen hat, die über die des Propheten hinausgeht und die darin besteht, die Last auf sich zu nehmen und sich sym4 | Bezüglich der Ereignisse des 11. Septembers ist vor allem Raewyn Connells Beobachtung relevant, dass eine Krisentendenz immer Auswirkungen auf Männlichkeitskonstruktionen hat, ohne sie zwangsläufig zu erschüttern. Sie kann bspw. auch Bemühungen provozieren, dominante Männlichkeit wiederherzustellen (vgl. 1999: 105). Diese Position wird von Michael Kimmel geteilt, der am Beispiel der USA beschreibt, wie es in der Zeit nach den Terroranschlägen zu einer Konsolidierung von Männlichkeit kam, die oft mit Umdeutungen und Neukodierungen einherging (vgl. 2006: 250). 5 | In Anlehnung an Sally Robinson verstehe ich unter »Weißer Männlichkeit« eine soziale Konstruktion, die sich auf Ideen, Werte und Normen bezieht, die keine ›rassische‹ Kategorie zu spezifizieren scheinen, aber dennoch implizit eine voraussetzen. ›Weiße Männlichkeit‹ wird anstelle von ›hegemonialer Männlichkeit‹ benutzt, um das körperliche Element in Konstruktionen von Weißsein hervorheben zu können, was nicht bedeutet, dass das Konzept ›Weißsein‹ sich nur auf eine vermeintliche ›Hautfarbe‹ bezieht (vgl. 2000: 173). Weißsein bezeichnet gerade auch eine »Position struktureller Vorteile in Gesellschaften, die durch rassistische Dominanz geprägt sind« (Frankenberg 1996: 53, 56).
56 | D aniel a H rz án bolisch als ›Messias‹ – als Christus auf dem Kreuzweg – zu inszenieren, also das ultimative Opfer zu beschwören. Mit Hilfe von Arbeiten aus der kritischen Männlichkeitsforschung sowie der kritischen Weißseinsforschung soll die religiöse Symbolik im Werk Springsteens, die vergeschlechtlicht und ›rassisiert‹ zugleich ist, einer genauen Betrachtung unterzogen werden.
Die Ent stehung von »The Rising«: Eine Schöpfungsgeschichte Das Album »The Rising« aus dem Jahr 2002 war das erste Studioalbum seit 18 Jahren, das Springsteen wieder mit der E-Street-Band einspielte. Kritiker-/innen stellten schnell fest, dass »The Rising« kein klassisches Rock-Album war und dass das typische Spannungsverhältnis zwischen Rock und Folk Musik fehlte. Viele andere Beobachter-/innen stellen darüber hinaus die religiösen Dimensionen des Albums in den Vordergrund. So wird »The Rising« als »Springsteens eigene Version der Matthäus Passion« (Sweeting 2002) bezeichnet oder auch als »ein einziges langes Gebet« (Carithers 2005: 104), mit dem eine höhere Macht um Stärke, Glaube, Hoffnung und Liebe gebeten wird. Viele der Songs beziehen sich auf ›realistische‹ Situationen im Kontext des 11. Septembers, durch die Menschen ihre Angehörigen verloren haben und beschreiben ihre Versuche, einen Umgang mit diesem Verlust zu finden (vgl. Carithers 2005: 104). Die Anordnung der 15 Lieder auf dem Album ist bewusst gewählt – sie markiert einen Prozess, der mit Hoffnungslosigkeit, Trauer, Wut und Hass beginnt und in Stärke, Glauben, Liebe und Hoffnung mündet. Die letzten Worte des Albums sind dann auch ein kollektives Gebet, das mit den Worten »Come on, rise up« endet. Springsteen besingt in seinen Liedern mehrheitlich Charaktere, die im Kontext des 11. Septembers traurige Berühmtheit erlangt haben: Feuerwehrmänner, Selbstmordattentäter-/innen, Witwen und Witwer sowie nationale Helden. Doch diese Rollen werden von Springsteen nur angedeutet. »Wer nichts vom 11. September wüsste, hätte Schwierigkeiten, die personae dramatis zu identifizieren«, schreibt Konrad Heidkamp in der »Zeit« (2002). Auch Alan Light bemerkt, dass »Springsteens Signatur« (2004: 359), wie sie sich normalerweise in der narrativen Gestaltung der Texte und dem Fokus auf Details zeigt, herausgerissen zu sein scheint. Die Sprache sei nackt und generisch, Wörter und Bilder wiederholten sich ständig, und selbst in den Liedern mit direktem Bezug zu den Attacken auf New York sind die Ereignisse zu Fragmenten reduziert, anstatt Geschichten als Allegorien umfassender sozialer Bedingungen zu erzählen wie es Springsteen bspw. auf »Nebraska« (1982) oder »Born in the USA« (1984) getan hat (vgl. Light 2004: 359f.; Scott 2004: 365). Die Entstehung der Lieder selbst wird von Springsteen als Schöpfungsgeschichte erzählt. So teilt er in einem Interview mit, er habe die Songs sehr schnell geschrieben, in nur fünf oder sechs Monaten. Springsteen fühlt sich daher eher als ein Empfänger von Botschaften – sowohl aus seinem eigenen Unbewussten als auch aus dem kollektiven Unbewussten der Gesellschaft – und weniger als ein Autor. Einige Songs bezeichnet er gar als »Genesis Songs«, d.h.
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als Lieder, die gleich zu Beginn immer präsent waren und aus denen dann die anderen Songs geschaffen wurden (vgl. Sweeting 2002). »The Rising« hat sowohl individuelle als auch kollektive Elemente. Diese werden miteinander verknüpft, indem in der jeweiligen Strophe das Individuelle thematisiert wird, während sich im Refrain das Gemeinschaftliche mitteilt. Beides tritt in einen Dialog miteinander – als Call und Response parallel zur Blues-Tradition – wie z.B. im Lied »Into the Fire«, in dem die Stimme des Chors das kollektive Gebet transportiert: »May your strength give us strength. May your faith give us faith. May your hope give us hope. May your love give us love«. Die Dialogizität von »The Rising« kann daher auch als eine Modifikation und Erweiterung des »dramatischen Monologs« gelten – einer lyrischen Form, die Springsteen in den 80er Jahren adoptierte und die entscheidend zu der Wahrnehmung beitrug, Springsteen würde besonders ›authentische‹ Stimmen kreieren. In Springsteens Adoption kann der Monolog als ein Versuch gelesen werden, das Leben der Menschen auf sie zurückzureflektieren. Dies soll nicht durch eine Verleugnung oder gar Romantisierung der Vergangenheit geschehen, sondern durch die Schaffung eines ›realistischen‹ Kontexts, in dem die an dem Monolog Beteiligten zu agieren haben (vgl. Rauch 1988: 45). In »The Rising« erfolgt dieses Zurückreflektieren – im Gegensatz zu früheren Alben – häufiger in Form eines Dialogs zwischen der Geschichte eines Individuums und der kollektiven Erfahrung der Gemeinde. Auch die Sprecherpositionen haben sich geändert, insofern nun auch Frauen ihre Erfahrung kommunizieren können, wie es die Sprecherin im Lied »Into the Fire« tut. Auf früheren Alben, in denen der Einsatz des dramatischen Monologs zentral war, wie z.B. auf »Nebraska« (1982), hatte es stets nur einen männlichen Sprecher gegeben, der häufig einen ebenso männlichen Zuhörer adressierte, worin sich wiederum traditionelle Vorstellungen von Autorschaft und literarischer Autorität widerspiegelten, die nun potenziell hinterfragt werden.
›Fremde Frauen‹: Anreiz und Gegenstand von Erlöserphantasien Bei Springsteen stehen Definitionen Weißer US-amerikanischer Männlichkeit in enger Verbindung mit der Befreiung ›nicht-Weißer‹ Frauen von Unterdrückung. Der Medienhype, der entfacht wurde, als US-amerikanische Truppen Kabul einnahmen und alle ein Bild der Afghaninnen erhaschen wollten, die sich begeistert die Burqa vom Leib reißen, ist auch an Springsteen nicht spurlos vorübergegangen, ebenso wenig wie die Tatsache, dass die Metapher der Entschleierung grundsätzlich progressiv zu werten ist und daher entsprechende militärische Interventionen legitimiert (vgl. Dietze 2006: 225ff.). In zwei sei6 | Dietze argumentiert darüber hinaus, dass die Fixierung auf die Verschleierung von Musliminnen als eine überdeterminierte Sprache gelesen werden kann, die dazu dient, die Interventionen der USA den eigenen Bürger-/innen gegenüber zu legitimieren,
58 | D aniel a H rz án ner Songs bilden die Erfahrungen ›fremder Frauen‹ den Ausgangspunkt seiner Betrachtungen. Während in »World’s Apart« die von der Burqa befreite Afghanin das Positive, Hoffnungsvolle und Begehrenswerte verkörpert, stellt die Selbstmordattentäterin von »Paradise« die dunkle Seite fremder Weiblichkeit dar. Sie wird als Opfer ihrer Umgebung präsentiert und im Gegensatz zur entschleierten Afghanin befindet sie sich weit entfernt von Fortschritt, Aufklärung und Licht. »World’s Apart« beginnt mit einem gebetsähnlichen Gesang, der klingt, als würde er aus einer Moschee kommen. Kurz darauf wird die Stimme von einem afrikanisch-klingenden Trommelrhythmus begleitet. Nach diesem ›exotischen‹ Einstieg mit »fernöstlichem Flavour« (Carithers 2005: 114) wechselt das Lied zu einer Rockgitarre, während die arabesken Vertonungen und die afrikanischen Rhythmen weiter im Hintergrund zu hören sind. »World’s Apart« entstand in Kooperation mit dem pakistanischen Sänger Asif Ali Kahn und seiner Band und stellt einen bewussten Versuch dar, die Reichweite des Albums »The Ris ing« auszudehnen: »I was trying to look outside the United States and move the boundaries of the record in some fashion«, so Springsteen. »I think the song started when I saw a picture of the women in Afghanistan with the veils off a few days after they’d routed the Taliban out of Kabul, and their faces were so beautiful.« (Sweeting 2002) Hier zeigt sich, dass auch für Springsteen das Ablegen der Burqa eine Schlüsselszene ist. Die ›andere Frau‹ bildet den Ausgangspunkt für eine Reflexion und Erweiterung des eigenen Weißen männlichen Bewusstseins, indem ein Dialog und möglicherweise eine Liebesbeziehung mit ihr phantasiert werden. Auch in »Paradise«, welches das Leben nach dem Tod thematisiert, steht eine ›fremde Frau‹ am Beginn aller Betrachtungen, und ähnlich wie bei »World’s Apart« soll auch diesmal der Bogen weiter gespannt werden. »When I wrote ›Paradise‹ […] it was the week there’d been the teenage girl suicide bombers. It was devastating, and so the first verse came out of thinking about that, the loss of life and the false paradise.« (Sweeting 2002) Die ›exotische‹ Selbstmordattentäterin, die den Song inspiriert hat, bildet in diesem Fall also den Anreiz für Springsteens Überlegungen zum Umgang mit dem Tod. In der zweiten Strophe wird die Perspektive der Witwe eines Terrorismusopfers dargestellt und in der letzten Strophe erzählt Springsteen die Geschichte einer Person, die den Verlust eines geliebten Menschen nicht überwinden kann und sich daher ertränken möchte. Aber während die letzten beiden Beispiele für Todessehnsucht als nachvollziehbar präsentiert und in ein positives, warmes Licht getaucht sind – das Lied endet mit den Worten »I break above the waves, I feel the sun upon my face« –, wird die Selbstmordattentäterin mit Dunkelheit assoziiert und wirkt
indem »Hegemonieansprüche als gendersensible Hilfsaktionen für gefährdete Frauen umgedeutet werden« (2006: 222). Außerdem sieht Dietze den Fokus auf die Taliban als »Gender-Apartheid« (2006: 227) als eine unbewusste Strategie, die eigene Geschichte von Rassismus, Sklaverei und Segregation zu verhandeln.
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aufgrund ihrer Kälte nicht nur bedrohlich, sondern auch undurchsichtig und bereits tot, auch wenn sie noch lebt: »Where the river runs to black I take the schoolbooks from your pack Plastics, wire and your kiss The breath of eternity on your lips In the crowded marketplace I drift from face to face I hold my breath and close my eyes […] And I wait for paradise […].«
Helden wider Willen: Terror und heroische Männlichkeit Eine explizitere Auseinandersetzung mit Normen und Anforderungen von Männlichkeit beinhaltet das Lied »Nothing Man«. Es beginnt mit diesen Worten: »I don’t remember how I felt I never thought I’d live To read about myself In my hometown paper How my brave young life Was forever changed In a misty cloud of pink vapor Darlin’ give me your kiss Only understand I am the nothing man.«
In »Nothing Man« geht es um eine Person, die in einer Kleinstadt lebt. Der Mann wird zum örtlichen Helden, nachdem er einen nicht näher spezifizierten heroischen Akt begangen hat. Es ist zu mutmaßen, dass er vielleicht einer der Feuerwehrmänner ist, die Menschen aus dem brennenden World Trade Center gerettet haben. Was auch immer »Nothing Man« getan hat – er kommt mit den Erwartungen an seine öffentliche Rolle als Held nicht zurecht und denkt darüber nach, sich mit einem Schuss aus seiner Pistole zu töten. Zu schwer wiegt der Identitätsverlust des Mannes, der sich selbst nicht mehr zu kennen scheint, wie anhand der folgenden Worte deutlich wird: »You can call me Joe. Buy me a drink and shake my hand.« Wie Sweeting (2002) ganz richtig feststellt, ist »Nothing Man« einer der wenigen Songs des Albums »The Rising«, der so etwas wie eine längere Geschichte erzählt, also früheren Liedern von Springsteen ähnelt. Dies legt nahe, dass Springsteen eine kritische Reflexion von Männlichkeit wichtig erscheint. Mit diesem Song entscheidet er sich bewusst gegen eine Rehabilitierung Weißer heroischer Männlichkeit, wie sie in der Berichterstattung über die Feuerwehrmänner, Polizisten und Angehörige
60 | D aniel a H rz án der Rettungskräfte nach den Terrorattacken immer wieder beschworen worden ist (vgl. Kimmel 2006: 249).
»The Rising«: Krise und Aufer stehung Weißer Männlichkeit Die Notwendigkeit, das Böse zu besiegen und die Dunkelheit zu überwinden – auch wenn dies Selbstopferung beinhaltet – ist das zentrale Motiv des Songs »The Rising«. Hier verdichtet sich die religiös konnotierte Schwarz-Weiß- bzw. Hell-Dunkel-Metaphorik zu einer Darstellung der Leiden Jesu Christi, die der männliche Charakter des Liedes in sich selbst durchleben muss, während er den Kreuzweg abschreitet: »Can’t see nothin’ in front of me Can’t see nothin’ coming up behind I make my way through this darkness I can’t feel nothing but this chain that binds me Lost track of how far I’ve gone How far I’ve gone, how high I’ve climbed On my back’s a sixty pound stone On my shoulder a half mile line […] Left the house this morning Bells ringing filled the air Wearin’ the cross of my calling On wheels of fire I come rollin’ down here […] Spirits above and behind me Faces gone, black eyes burnin’ bright May their precious blood forever bind me Lord as I stand before your fiery light […] Come on up for the rising Come on up, lay your hands in mine Come on up for the rising Come on up for the rising tonight.«
Ähnlich wie bei »Nothing Man« ist auch in diesem Lied Erlösung an eine Phantasie der Entkörperung gekoppelt. In dieser spiegelt sich das »Paradox des Kreuzes« (von Braun 2006: 58), also dessen doppelte Bedeutung als Zeichen und Körperlichkeit, als Symbol und Symptom, das sowohl den Tod als auch die Auferstehung symbolisiert. Wie Christina von Braun u.a. unter Bezugnahme 7 | Kimmel (2006) zeigt zudem, dass, obwohl Frauen auch unter den Feuerwehrleuten und Rettungskräften repräsentiert waren, diese kaum zur Kenntnis genommen wurden – es ging primär um ›die richtigen Männer‹, die nun endlich wieder zur Stelle seien.
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auf die Debatten zwischen Leo Steinberg und Caroline Walker Bynum gezeigt hat, ist die Geschichte des Kreuzes auch eine vergeschlechtlichte Geschichte, die mit einer Kodifizierung von Körperlichkeit einhergeht (vgl. von Braun 2006: 68-70). Schmerz ist dabei Teil einer Kultur männlicher Selbstermächtigung, die sich wiederum in der Symbolik des Blutes spiegelt und in der Passion Jesu Christi als Prototyp des männlichen Erlösers beständig reproduziert wird: Christus war sowohl Fleisch als auch Geist. Er wurde verführt, konnte der Verführung aber auch widerstehen. Er erlebte Schmerz während der Kreuzigung, konnte in der Auferstehung aber auch zeigen, dass er diesen transzendieren kann (vgl. Dyer 1997: 28). Obwohl in »The Rising« Schmerzen nicht direkt thematisiert werden, sind sie doch im Hintergrund präsent, denn der Mann trägt eine schwere Last auf seinem Rücken. Auch Blut wird beschrieben, allerdings weniger das Blut des ›Erlösers‹ selbst, das unsichtbar bleibt, als das Blut der Toten, die inzwischen Unsterblichkeit erlangt haben, und deren Wunden daher Fortpflanzungskraft und Leben symbolisieren.
Das »Licht der Welt« und »Yo Mama’s Last Supper« Die historische Entwicklung der Symbolik des Kreuzes ist allerdings nicht nur eine vergeschlechtlichte Geschichte. Der Körper als Bezugspunkt christlicher Sakramente, wie sich besonders deutlich in der Taufe oder im Fall des Katholizismus auch in der Firmung und der Eheschließung zeigt, ist immer auch Projektionsfläche für ›rassisierte‹ Zuschreibungen gewesen (vgl. Dyer 1997: 16). Dies zeigt sich u.a. an Bezugnahmen auf Jesus Christus als »Weiß-Färber« und »Licht der Welt« (Husmann-Kastein 2006: 46). So schreibt Husmann-Kastein: »Die Farbe Weiß als Symbol des Lichts ist in der abendländischen Tradition mit Geist und Männlichkeit assoziiert und findet ihren asymmetrisch gesetzten Gegenpol in der durch die Farbe Schwarz und durch Weiblichkeit symbolisierten irdischen Materie.« (2006: 46) Daran anknüpfend lässt sich mit Dyer zeigen, dass Weiße Männlichkeit sich sowohl über die explizite Thematisierung von Weißsein – im Sinne einer Transzendenz von Schmerzen, die Weißen Männern Würde verleiht – als auch über Dunkelheit realisiert. Dyer, der das »Spektakel des Leidens weißer Männer« ausführlich anhand visuellen Materials untersucht hat, sieht die Fähigkeit Weißer Männer, »die eigene dunkle Seite« kontrollieren zu können, ebenfalls als ein Zeichen von Weißsein (1997: 28). Die Sehnsucht nach der Transzendenz des Materiellen und des Schmerzes sowie der Wunsch danach, in einen mit Licht gefüllten Himmel zu entschweben, kann aber auch als eine Manifestation »Weißer Flucht« gelesen werden, die in Verbindung zu Springsteens Repräsentation von Race und Rassismus steht, wie sie bereits von Jim Cullen (2005) herausgearbeitet wurde. »Weiße Flucht« meint dabei mehr als nur das Wegziehen Weißer christlicher Fami8 | Cullen argumentiert zurecht, dass Race bis zum Album »The Ghost of Tom Joad« (1995) und dem Song »American Skin (41 shots)« (1999) eine äußerst untergeordnete Rolle im Werk Springsteens gespielt hat und diskutiert ausführlicher den einzigen
62 | D aniel a H rz án lien aus Wohngebieten, in die zunehmend Schwarze ziehen, sondern bezeichnet auch eine Flucht vor der Auseinandersetzung mit Rassismus, die auch die Geschichte des Christentums begleitet hat. Obwohl historisch betrachtet nicht davon gesprochen werden kann, dass das Christentum an sich eine ›Weiße Religion‹ ist (vgl. Dyer 1997: 17), bedient es sich dennoch einer Symbolwelt, die Schwarz-Weiß und damit geschlechtlich kodiert und ›rassisiert‹ ist. Dass diese Feststellung Zorn, wütende Proteste und die Androhung von Disziplinarmaßnahmen mit sich zieht, zeigt sich besonders anschaulich anhand der heftigen Diskussionen um die Arbeiten von Renée Cox, einer Schwarzen Photographin jamaikanischer Herkunft. Insbesondere ihr Werk »Yo Mama’s Last Supper«, ein Remake von Leonardo da Vinci’s »Das letzte Abendmahl«, in dem sich Cox als Schwarzer, weiblicher und nackter Jesus selbst ins Zentrum des Bildes setzt – umgeben von Schwarzen Jüngern und Judas als einzigem Weißen Mann – löste eine große Kontroverse aus. Nachdem das Bild erstmals im Februar 2001 im Brooklyn Museum New York ausgestellt wurde, kündigte der damalige Bürgermeister Rudolph Giuliani an, dafür zu sorgen, dass so etwas nie wieder passiert, indem er allen Museen gewisse »Regeln des Anstands« auferlegen wollte.
»We Shall Overcome«: Erlösung nach dem 11. September Auch nachdem die Terroranschläge des 11. Septembers 2001 länger zurückliegen, bleibt Springsteen dem ›Messias‹-Thema treu. Sein vorerst letztes Album »We Shall Overcome: The Seeger Sessions« (2006) ist eine Neueinspielung ausgesuchter Songs von Pete Seeger, wodurch Springsteen an die Anti-Kriegsbewegung der 60er Jahre anknüpft – ein Akt der angesichts des Irak-Krieges der US-amerikanischen Regierung ganz sicher als politische Botschaft zu verstehen ist und Springsteen im Jahr 2007 einen Grammy Award für das »Beste traditionelle Folk Album« eingebracht hat. Bei »We Shall Overcome« ist vor allem die explizite Rückkehr zu Gospel und Blues von Interesse, die historisch mit Sklaverei und den Emanzipationsbewegungen der 60er Jahre verknüpft sind. Wenngleich Blues-Einflüsse auch auf dem Album »The Rising« von Bedeutung sind, vor allem im Lied »Into the Fire«, weisen die »Seeger Sessions« einen deutlichen Blues-Schwerpunkt auf. Wie Springsteen selbst, hat auch sein Idol Seeger von den stilistischen Innovationen Schwarzer Musik gezehrt, um seinen einzigartigen musikalischen Ausdruck zu schaffen (vgl. Cullen 2005: 4). Hier frühen Song (»My Hometown« aus dem Jahr 1984), in dem Springsteen Rassismus explizit thematisiert. 9 | Die Kontroverse um »Yo Mama’s Last Supper« kann auf der Website von Renée Cox nachverfolgt werden. Es soll kurz erwähnt werden, dass dies nicht das einzige Werk ist, in dem Cox ein derartiges religiöses Statement abgibt. Sie hat sich u.a. in Michelangelos »Pietà« als Schwarze Maria mit Jesus Christus in den Armen inszeniert. Ziel ihrer Arbeit ist es, dass Christentum auch als eine Religion Schwarzer Menschen zu repräsentieren, indem gegenwärtige Schwarze Charaktere in klassische Szenarien der Kunstgeschichte transferiert werden. Vgl. Heartney (2003: 11ff.).
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lässt sich argumentieren, dass Springsteen als Erlöser-Figur wiederum auf Erlöser-Motive zurückgreift, die Teil der Überlieferung emanzipatorisch-politischer Bewegungen, wie bspw. der Bürgerrechtsbewegung oder der Antikriegsbewegung, sind. Der Text von »We Shall Overcome« geht auf einen Gospel Song von Charles Tindley – »I’ll Overcome Some Day« aus dem Jahr 1900 – zurück, während die Melodie von dem Spiritual »No More Auction Block for Me« aus dem 19. Jahrhundert stammt. Der heutige Song »We Shall Overcome« wurde von Guy und Candy Carawan adaptiert. Im Jahr 1945 wurde das Lied im Rahmen eines Streiks der Negro Food and Tobacco Union aufgeführt und in den 60er Jahren erhielt es dann den Status einer inoffiziellen Hymne der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung (vgl. Southern 1971: 159f.). Doch das Lied erlangte auch jenseits der Grenzen der USA Bedeutung. 1989 wurde es von chinesischen Studierenden auf dem Tiananmen-Platz gesungen und Erzbischof Desmond Tutu berief sich auf den Song während seines Kampfes gegen das südafrikanische Apartheid-Regime. Die wechselhafte Geschichte von »We Shall Overcome« ist also eine Geschichte sehr verschiedener emanzipatorischer Bewegungen mit je eigenen, wenngleich primär männlichen Erlöser-Figuren, deren sich Spring steen bemächtigt und deren Spezifika im Prozess dieser Aneignung verschwinden. Dies muss als ein Ausdruck eines Weißen Privilegs gelesen werden, dessen Springsteen sich hier bedient, wenn er seine exponierte Position in der Musikindustrie nutzt, um ein politisches Statement gegen den fehlgeleiteten IrakKrieg der Bush-Regierung abzugeben.
Paradoxien Weißer Männlichkeit: Schlussbetrachtungen Im Februar 2001 zeigt Renée Cox »Yo Mama’s Last Supper« in New York und löst damit einen Sturm der Entrüstung aus. Wenige Monate später, im September 2001, bricht die Stadt unter den Terroranschlägen zusammen. Im Jahr 2002 schließlich veröffentlicht Bruce Springsteen »The Rising«. Werden diese Ereignisse in Beziehung zueinander gesetzt und wird Springsteens Album dabei als eine Reaktion auf die Photographien von Cox gelesen, lässt sich »The Rising« trotz der männlichen Wunden, der Zerstörungen und der Verzweiflung, die darin beschrieben werden, als ein Versuch der Rezentrierung und Verfestigung Weißer Männlichkeit deuten. Wie Sally Robinson (2000) anhand ihrer Arbeit zu Männlichkeitskonstruktionen in US-amerikanischer Literatur und Film gezeigt hat, ist die Krisenrhetorik Weißer Männlichkeit flexibel genug, um verschiedenen Narrationen Raum zu geben. Masochistische Erzählungen, zu denen auch Kreuzigungsszenarien gehören, wie sie in »The Rising« thematisiert werden, spielen dabei eine besondere Rolle. Sie verschaffen Weißen Männern die Gelegenheit, ihre Wunden als einen Beweis für ihre Entmachtung ›auszustellen‹ und Lust am Erleben schmerzhafter Erfahrungen zu empfinden. Letztendlich dient Krisenrhetorik aber immer dazu, Weiße Männlichkeit zu rezentrieren, in dem sie dezentriert wird. Um ihre Position im Feld von Identitätspolitiken verhandeln zu können, muss Weiße Männlichkeit eine symbolische
64 | D aniel a H rz án Benachteiligung behaupten, um mit anderen um die ›Authentizität‹ von Entmachtung bzw. die Sichtbarkeit von Verwundung konkurrieren zu können (vgl. Robinson 2000: 11f.). Ähnlich argumentiert David Savran, der herausgearbeitet hat, dass Masochismus ein zentrales Element in den Selbstrepräsentationen von Männern in Krisensituationen ist und dazu dient, die traditionell männliche Seite des Mannes zu betonen – also die Fähigkeit, Schmerz wie ein Mann zu ertragen – wodurch das Feminine überwunden werden kann. Laut Savran produziert dieser »selbstreflexive Masochismus« eine Dramatisierung des männlichen Subjekts in einem Kriegszustand mit sich selbst (vgl. Savran 1998: 4ff.). Diese Paradoxie Weißer männlicher Identität im Spannungsfeld von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Dominanz und Schwäche, Privileg und Entmachtung und schließlich Zentrierung und Dezentrierung korrespondiert mit vergeschlechtlichten und ›rassisierten‹ Körperkonstruktionen im Christentum. Einerseits gibt es eine sehr lebendige christliche Tradition, innerhalb der die Transzendenz des Körpers von großer Bedeutung ist. Weißsein, das auch (aber nicht nur) an Körperlichkeit gebunden ist, erhält dadurch ein instabiles Element. Andererseits konstituiert sich aus eben dieser Instabilität aber auch die Flexibilität und Produktivität von Weißsein als Repräsentationsmacht (vgl. Dyer 1997: 39f.). Der Erlöser am Kreuz, das Zentrum von Bruce Springsteens katholischem Universum, ist für ihn nur als Weiß und männlich denkbar. Das Dunkle (und auch das Weibliche) befindet sich immer noch »am Rande der Stadt«10 oder in so ›fremden Welten‹ wie Afghanistan.11
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Erlösendes Make-up: Männlichkeit und Medialität in Mel Gibsons »The Passion of the Christ« Simon Strick Connell und Messerschmidt haben in ihrer Revision des Konzeptes hegemonialer Männlichkeit angemerkt, dass narrative Muster von Männlichkeit nicht unbedingt mit tatsächlichen Lebenszusammenhängen und Alltagserfahrungen in Verbindung stehen. »At a society-wide level […], there is a circulation of models of admired masculine conduct […]. Such models refer to, but also in various ways distort, the everyday realities of social practice. […] Thus, hegemonic masculinities can be constructed that do not correspond closely to the lives of any actual men. Yet these models do, in various ways, express widespread ideals, fantasies, and desires.« (2005: 838)
Diese Modelle artikulieren demnach Phantasien und Wünsche, die oftmals gerade durch die Evokation des Außerordentlichen bzw. Singulären von Männlichkeit machtförmige Relationen zu Weiblichkeiten und anderen Männlichkeiten ermöglichen. Der männliche Erlöser – bzw. die erlösende Männlichkeit – kann als eine solche Figur hegemonialer Männlichkeit gelesen werden, die primär durch das Reklamieren von Singularität und Ausnahmestatus funktioniert. Die Erzählweise dieses narrativen Musters zentriert das Geschehen auf eine männliche Figur, welche durch sich selbst eine Welt von einem gegebenen Zustand erlöst und in einen neuen überführt. Die Erlösung gerät so zu einem singulären Ereignis – im Idealfall die Ablösung einer sozialen Ordnung, der Systemwechsel, die Zeitenwende usw. Die immer wieder iterierte Basistrope dieser Narration im westlich-christlichen Diskurs ist die erlösende Männlichkeit Jesu Christi, durch dessen Selbsthingabe die Welt in eine neue (messianische) Zeitrechnung eingelagert wird.
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Zeichenhaf tigkeit als Problem Im Folgenden wird anhand dieser Trope der erlösenden Männlichkeit einer Problematik nachgegangen, die sich auf ihre Medialität bezieht. Denn als narratives Muster, innerhalb dessen Männlichkeit erzählbar d.h. medialisierbar wird, stellt die Singularität des Erlösers eine Art performativen Widerspruch dar. Die Problematik wird besonders an zwei Aspekten offensichtlich: Zum einen steht die mediale Repräsentation im Widerspruch zur Einzigartigkeit des Erlösers, zum anderen stehen männliche Erlöser als Zitate der Christusfigur immer bereits in einem Abbildverhältnis. So wie die Passion Christi als Präfiguration den Erlöserfiguren Autorität verleiht, unterminiert sie zugleich deren narrative Plausibilität, indem sie die Zitathaftigkeit der Erlösung herausstellt. Die Narration von Männlichkeit als singulär erlösende ist insofern von der Verdrängung ihrer eigenen Motivhaftigkeit/Iterativität abhängig, um zum weltbegründenden Ereignis zu werden. In diesem spezifischen Sinn ist der Erlöserfigur – wie allen Geschlechtsperformanzen – der gleichzeitige Verweis auf das Idealbild und die Verschleierung der Referenz wesentlich. Angesichts dessen ist es nicht verwunderlich, dass die erlösende Männlichkeit schon immer zum narrativen Arsenal des Kinos gehört, da dieses Medium seine erzählerische, d.h. weltkonstituierende Autorität dadurch gewinnt, dass es seine Grundcharakteristik der illusionistischen Reproduktion vergessen macht (vgl. Seier 2004). Das Real-Werden der kinematographischen Erzählung spiegelt sich symbolisch im Singulär-Werden ihrer männlichen Heldenfiguren (vgl. Brunotte 1998). In einer reflexiven Wendung erzählt der Kinofilm männliche Erlösung daher oft als die Erlösung von der Medialität selbst – als eine Emanzipation des Kinos (und des Publikums) vom Täuschungscharakter der technischen Reproduktion. Dieser narrative Topos ist im Kino der Postmoderne offensichtlich, wo Filme wie »The Truman Show«, »The Matrix« oder »A.I.« die Unverträglichkeit von Männlichkeit und Medialisierung artikulieren. Anhand dieser Filme lassen sich exemplarisch mehrere Arten der Erzählbarkeit von ›Überwindung der Medialität‹ feststellen, die für die Analyse von »The Passion« handlungsleitend sein werden: In Peter Weirs »The Truman Show« (1998) gelingt dem gleichnamigen Helden die Emanzipation von der artifiziellen Welt durch die Entdeckung des Ausgangs aus dem Fernsehstudio. Die Überwindung des Medialen Panoptikons »Truman Show« vollzieht dabei zugleich den Austritt aus dem Film selbst, denn während Truman das Studio durch eine versteckte Tür verlässt, verbleibt die Kamera innerhalb der künstlichen Welt und die Filmerzählung endet. In »The Matrix« (1999) wird der Hacker Neo gleichfalls aus der falschen Erfahrungswelt der Matrix herausgeführt. Vom Geretteten zum Erlöser wird Neo jedoch erst durch die totale Beherrschung der medialen Welt, in der er sich die Raum-, 1 | Vgl. dazu auch Bainbridge/Yates (2005), die Intertextualität und Referentialität innerhalb der Postmoderne generell als Traumata aktueller hegemonialer Männlichkeitsentwürfe sehen.
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Zeit- und Reproduktionsgesetze der Matrix unterordnet: In der Schlussszene vermag Neo als »The One« sowohl Zeit und Bewegung anzuhalten als auch die sich überall replizierenden Matrix-Agenten zu zerstören. Zuletzt sei Spielbergs »Artificial Intelligence« (2001) genannt, dessen Erzählung die Suche eines kindlichen Androiden nach Menschwerdung und Mutterliebe behandelt. Der Film kulminiert darin, dass der Roboterjunge eingefroren das Menschenzeitalter überdauert, und zum Messias einer neuen Maschinenzivilisation wird, die aus seinen Gedächtnis- und Gefühlsbildern einen Bilderkosmos synthetisiert. Der Androidenjunge wird so zum lebendigen Bildapparat, welcher sich in allen Wesen repliziert und eine Kultur der liebenden Maschinen begründet. Anhand dieser kurzen Skizzen von filmischen Erlöserfiguren werden drei Erzählformen der Überwindung von Medialität sichtbar: der Austritt aus der filmischen Narration (»Truman Show«), die Unterwerfung und Beherrschung des medialen Raumes durch den Erlöser (»The Matrix«) sowie schließlich die Besetzung der Reproduktionshoheit selbst (»A.I.«). In den drei genannten Beispielen sind die Protagonisten durch Kreuzes- und Leidensposen als Zitate des christlichen Mythos markiert und sie erlösen ihre entsprechende Welt primär durch krisenhafte Selbstüberwindungen: Truman besiegt sein Kindheitstrauma; Neo durchleidet eine Reihe schmerzhafter Erweckungen und Abnabelungen bevor er zum Gläubigen seiner eigenen Bestimmung wird; der Androide in »A.I.« schließlich erlöst durch die Überwindung seiner eigenen Roboter-/Abbildnatur und durch seine Transformation zum Reproduktionsapparat. Die Inbeschlagnahme der Reproduktion bildet in diesen Erzählungen gewissermaßen den Beginn der messianischen, erlösten Zeit, in der der männliche Erlöser die Funktion des Generativen einnimmt und zum singulären Weltengebärer wird. Diese auf der Ebene der Narration angesiedelten Erlösungsmotive werden im Folgenden an Mel Gibsons Erfolgsfilm »The Passion of the Christ« (2004) expliziert, welcher nicht nur den Urtypus männlicher Erlösung ins Kino brachte, sondern die Problematik einer medial erzählten erlösenden Männlichkeit – so wird zu argumentieren sein – mit besonderer Radikalität aufzulösen sucht. Die so kontroverse wie blutige Verfilmung der Passionsgeschichte soll dazu auf zwei Ebenen konfrontiert werden. Zum einen auf intrafilmisch-semantischer und zum anderen auf metafilmisch-rezeptionsästhetischer Ebene, wobei die Radikalität des Films darin zu suchen sein wird, wie diese Modalitäten ineinander aufgelöst werden. Auf die zahlreichen, ebenso fachkundigen wie polemischen Debattenbeiträgen um antisemitische Repräsentation, theologische Verträglichkeit oder historische Quellentreue, innerhalb derer der Film primär rezipiert und kritisiert wurde, werde ich hier nicht weiter eingehen. Das Spannungsverhältnis zwischen Medialität und erlösender Männlichkeit zeigt sich in »The Passion« auf inter- bzw. intrafilmischer Ebene deutlich. Die Filmfigur Jesus Christus wird in ihrer erlösenden Autorität zuerst dadurch 2 | Siehe dazu im Besonderen die Sonderausgaben der Zeitschriften »Shofar« und »Pastoral Psychology« sowie die Sammelbände von Corley/Webb (2004) und Fredriksen (2006).
70 | S imon S trick beeinträchtigt, dass sie als Kinotopos bereits ubiquitär vorhanden ist: von den angesprochenen postmodernen bis zu den klassischen Erlösern aus dem Genre der Bibel- und Jesusfilme und nicht zuletzt durch den intertextuellen Verweis auf Gibsons eigenen Blockbuster »Braveheart« (1995), in welchem der Actionstar Mel Gibson als Regisseur und Hauptdarsteller fungierte. Die Singularität des filmischen Jesus leidet zunächst an der Referentialität auf andere christologische Figuren, denen Gibsons Jesus nachfolgt und von denen sich der Prototyp des Erlösers emanzipieren muss. Ein Aspekt der Überwindung der Referentialität ist demnach intertextuell zu verstehen: Der Exzess an Gewaltdarstellung in »The Passion« verweist für einige Kommentatoren auf Gibsons vorherige Regiearbeit »Braveheart«, welche den schottischen Freiheitskämpfer William Wallace als Märtyrer portraitiert. Der Film kulminiert in einer explizit Christus-ähnlichen Exekutionsszene, so dass der hohe Brutalitätsgrad von »The Passion« als Versuch Gibsons gelesen werden kann, den eigenen Richtwert des Leidens zu übertreffen. Der filmische Heiland wird anhand visueller Drastik von seinen Epigonen emanzipiert. Auf der zweiten, rezeptionsästhetischen Ebene besteht eine Spannung zwischen Erlösung und Medialität, die den Jesus- oder Bibelfilm generell betrifft, nämlich dessen latentes bis explizites Verkündigungspotenzial. Gibsons Film trat mit dem Anspruch auf, nicht allein Illustration der biblischen Handlung (also referentiell), sondern Verkündigung des Heilsgeschehens zu sein. Dieser Anspruch lässt sich sowohl an der Vermarktung des Films als ›liturgisches Gerät‹ für Gottesdienste ablesen als auch an den zahlreich kolportierten Konvertierungsberichten von Zuschauern oder der offiziellen Beschreibung der Dreharbeiten als ›religiöse Erfahrung‹, die zur Mythisierung der Filmproduktion gehörten. »The Passion« soll in diesem Sinn auf die rhetorischen Mittel hin untersucht werden, mit denen er aus der Ordnung der illusionistischen Repräsentation und des Realismus herauszutreten und (rhetorisch) eine direkte Verkündigungswirkung als Erfahrbarkeit zu erzielen sucht. In der rezeptionsästhetischen Wendung stellt sich die Frage, ob und wie der Film die Zuschauer aus
3 | Vgl. dazu auch Brown (2002). 4 | Die sog. »Church Resource DVD« des Films, welche 2005 im Rahmen des »out reach program« für christliche Gemeinden angeboten wurde, bewarb man als »an important tool for your services« (vgl. www.thepassionofthechrist.com). 5 | Die Filmhomepage schildert die Dreharbeiten explizit als spirituelle Erfahrung, inklusive »göttlicher Zeichen«: »A practicing Catholic, Caviezel also found inspiration in his own religious beliefs and devotion, using prayer as a means to more deeply explore the character, words and tribulations of Jesus. […] It was fire and ice for Caviezel, culminating in one of the most literally shocking moments on the set when both Caviezel and assistant director Jan Michelini were struck by lightning while shooting in the midst of a thunderstorm. The bolt went right through Michelini’s umbrella and zapped Caviezel as well. Astonishingly, neither man was seriously injured.« (zitiert nach: www.thepassionofthechrist.com)
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der Zeugenschaft einer filmischen Nacherzählung der Erlösung heraushebt, und sie zu ›filmisch Erlösten‹ zu machen versucht.
Erlösungsmotiv 1: Über windung der filmischen Narration Für Siegfried Kracauer zeitigt die kinematographische Darstellung des Schicksalhaften ein gesondertes Problem, das er unter dem Stichwort des »Unfilmischen« beschrieben hat. Hier erläutert er im Hinblick auf die Adaptierbarkeit der griechischen Tragödie: »Das Tragische schließt Zufälle aus; denn könnten sie das Schicksal des Helden ändern, so wäre sein Geschick lediglich Zufallsgeschehen. […] Aber diese Beschlagnahme des Zufälligen widerspricht zweifellos dem Wesen des Kinos.« (1985: 349)
In Kracauers materialistischer Kinotheorie fungiert das Filmbild zuerst als Ort der zufälligen Zusammenstöße von Materialitäten, deren willkürliche Begegnungen dem Zuschauer eine in sich geschlossene Welt anzeigen. Die hergestellte Zufälligkeit des Geschehens bringt nach Kracauer erst die Illusionswirkung einer Handlung, handelnder Figuren und der Konsequenz von Handlungen – mit anderen Worten ihre ›Schwere‹ – hervor. Der filmischen Erzählbarkeit der Heilsgeschichte steht aus dieser Sicht das grundlegende Problem im Weg, dass sie eine Geschichte der Vorherbestimmung ist. Die Problematik existiert zwischen der psychologisch-situativen Handlungsmotivation, welche die Filmerzählung kennzeichnet, und der extern-göttlich motivierten, d.h. zwangsläufigen Abfolge der heilsgeschichtlichen Ereignisse. Mit anderen Worten: Die Handlungsträger des Heilsgeschehens können innerhalb der Binnenerzählung des Films nicht als mit Konsequenz Handelnde agieren, sondern ihr Handeln zeigt sich wesentlich der außerfilmischen Fremdsteuerung durch den göttlichen Plan geschuldet. Wenn der Jesusfilm nicht explizit auf das psychologische Erleben der Vorherbestimmtheit des eigenen Handelns abstellt (wie z.B. Martin Scorseses »The Last Temptation of Christ« [1988]), so wird die intrafilmische Motivierung von Handlungen – und damit das dramatische Potenzial der Darstellung – obsolet. Im heilsgeschichtlichen Plot spiegelt sich demnach bereits eine Adressierung des Problems der Reproduktion, indem die Figuren über keine der Filmillusion entsprechende Autonomie verfügen, sondern passive Ausführende eines (göttlichen) Skripts sind und somit die eigene Medialität betonen. Gibsons Film begegnet diesem Komplex zum einen durch die narrative Fokussierung auf die Passion selbst, von Verrat und Verhaftung Jesu im Garten Gethsemane bis zum Kreuzestod. Dieser Ausschnitt verschiebt die notwendige Ereignisproduktion von den Handlungen des Protagonisten (Predigten, Lehren, Wunder etc.) ausschließlich auf seine Misshandlungen, also die reine Leidensgeschichte. Kanonische Szenen wie das Abendmahl, Fußwaschung usw. werden in kurzen Rückblenden erzählt, die das Geschehen der Zwangsläufigkeit der Passion unterordnen. Weiter leitet dieses Motiv auch die Inszenierung
72 | S imon S trick der Christusfigur in der Exposition: Das Anfangsbild von »The Passion« zeigt den betenden Jesus im Garten als er durch göttliche Vision von seinem bevorstehenden Leidensschicksal erfährt und den Auftrag akzeptiert. Die Erzählung beginnt demnach präzise mit der Verkündigung des Plots an den Protagonisten, der ab diesem Moment (intrafilmisch) ebenso in voller Kenntnis über die kommenden Geschehnisse ist wie auch der Großteil des Publikums angesichts der Bekanntheit der christlichen Erlösungsgeschichte. Die dem dramatischen Erzählkino und der männlichen Erlöserfigur inhärente Logik von Situativität, Psychologie und Zentrierung des Globalgeschehens auf die Handlungen eines männlichen Akteurs wird in Gibsons Film somit ausgetrieben und zwar zugunsten einer unvermeidbaren und gewussten Misshandlung des Erlösers. Diese Ausstreichung einer autonomen Handlungswelt, in der die Handlungen des Protagonisten die identifikatorische Immersion der Zuschauer stiften, kann für »The Passion« als eine erste Überwindung der reproduktiven Logik des Medialen gelesen werden. Gepaart wird diese ›Depsychologisierung‹ (qua Entdramatisierung) mit einer Verschiebung des Handlungsträgers in der Verkündigungsszene. Die Vision wird von Jesus-Darsteller Jim Caviezel primär als eine körperliche Erfahrung gespielt, unter deren Gewicht sich Jesus biegt, windet und stöhnt. Der hinzutretende Satan (Rosalinda Celentano) verdeutlicht die physische Dimension der Verkündigung der Passion, indem er den Auftrag Gottes zur Erlösung der Menschheit in eine Art ›Körperwette‹ umformuliert: »Do you really believe that one man can bear the full burden of sin? No man can carry this burden. It is far too heavy.« Diese, von Gibson hinzugefügte Deutung des Heilsgeschehens, transformiert die Passion zu einem Test der Leidensfähigkeit Christi, dessen Körper im Folgenden der primäre Ort der Produktion von Suspense sein wird. Wie viel Schmerzen kann der christliche Körper ertragen, wie lange kann das Publikum ihm dabei zusehen, wie gut werden die kosmetischen Special Effects den Fortgang des Versehrungsplots darstellen können? In der Exposition teilt sich der Protagonist von »The Passion« demnach in zwei Instanzen: eine Wissensinstanz, die gewissermaßen den Ausgang der Filmhandlung kennt und die Erlösung für die Zuschauer antizipiert. Dieser Jesus agiert nicht, er steht bereits innerhalb der messianischen Zeit. Der zentrale Schauplatz der Dramaturgie findet sich in der zweiten Instanz, dem versehrten Körper. Dieser visualisiert und entziffert das Heilsgeschehen mit seinen Wunden und wird im Fortgang des Films zunehmend unlesbar. 6 | Die ursprünglich beabsichtige Endfassung des in Aramäisch und Latein gehaltenen Films sollte ohne Untertitel auskommen, was die verfolgte Absicht einer »Depsychologisierung« des Handelns ebenfalls verdeutlicht. 7 | Der Auftritt Satans findet sich an dieser Stelle zwar in der von Gibson genutzten Vorlage »The Dolorous Passion of Our Lord Jesus Christ« von Anne Catherine Emmerich (1982), der Text ist jedoch eine dramaturgische Maßnahme der Regie. 8 | Anzumerken ist, dass die zunehmenden Make-up-Special Effects dem Schauspieler Caviezel die Darstellung eines psychologischen Erlebens verunmöglichen. Die letzte Möglichkeit der Mimik ist die Grimasse der (körperlichen) Agonie.
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Abbildung 1: Mimisch zunehmend unlesbar: Jim Caviezel als Jesus Christus Die Erlösung vollendet sich in der Entkörperung. Die Verlagerung der Narration auf ein Körpergeschehen zeigt sich weiter in der vielfachen Verwendung extremer Zeitlupen: Die Stürze Jesu auf dem Kreuzweg werden durch extreme (teilweise dynamische) Verlangsamung zu ästhetisierten Körpertableaus. Die Effekte leisten die Überstellung des Geschehens aus der Narrationszeit in die ästhetische Zeit des Körpers und seines Zusammenbruchs. In der extremen Zeitlupe werden die Stürze, das Auftreffen der Geißelschläge auf den Körper und die Grimassen der Agonie zu Quasi-Handlungen, in denen sich der Fortgang der Erlösung als Körperdramatik zeigt. Zurückkommend auf die Frage, wie Gibsons Film die intertextuelle Referenz auf Figuren und Genre aufzulösen sucht, lässt sich konstatieren, dass die Depsychologisierung des Protagonisten diesen aus der Ordnung der identifikationsleitenden ›Filmfiguren‹ generell herausnimmt. Durch die Einfassung der Handlung in Unvermeidlichkeit und ihre Zentralisierung auf einen misshandelten Körper verlässt der Film den Raum der filmisch-psychologischen Narration. Dies wird unterstützt von der stilisierenden Hervorhebung des Körperlichen durch inszenatorische Mittel, welche die empirische Zeit immer wieder auflösen, einer ›Körperzeit‹ unterwerfen und die Überwältigungscharakter haben. Auf intrafilmischer Ebene gerinnt »The Passion« so zu einem viszeral-affektiven Spektakel des Physischen (bzw. Physikalischen), das nicht in erster Linie verstanden, sondern erlebt werden soll.10 Die Umlenkung der Erzählebenen auf das rein Körperliche fetischisiert den christlichen Leib im Sinne des spektakulären Körpers, an dem sich die Erlösung der Welt vollzieht und der primär ›geschaut‹ werden soll. Der Körper Jesu besetzt in »The Passion« demnach die paradoxe Position eines männlichen Protagonisten, der als passiver Schauwert funktioniert. Fasst man diese Figur in9 | Vgl. zur ›Entkörperung‹ die Beiträge von Anke Langner und Beatrice Michaelis in diesem Band. 10 | Pizzato (2005) vergleicht »The Passion« daher auch mit der wesentlich nichtsymbolischen Funktion von Gewalt, wie er sie im »Theater der Grausamkeit« Antonin Artauds vermutet.
74 | S imon S trick nerhalb der Erzählbarkeit von erlösender Männlichkeit, so stellt sich die Frage, ob der christliche Körper primär durch »to-be-looked-at-ness« charakterisiert ist, und somit im Rahmen der Filmtheorie Mulveys (1975) als Objekt des gaze, d.h. als feminisiert gelesen werden muss. Dazu soll im zweiten Teil der Analyse die Frage der Blickökonomien in »The Passion« behandelt werden. Dabei geht es nicht nur darum, wie Gibsons Film mit der tendenziellen Feminisierung des spektakulären Körpers umgeht, sondern wie die Blickregie wesentlich zu jenem Teil der Erlösungserzählung beiträgt, der zuvor als Aneignung der Reproduktion beschrieben wurde.
Erlösungsmotiv 2: Inbeschlagnahme der Reproduk tion »The Passion« artikuliert im Fortgang der Narration im Wesentlichen drei blickführende Figuren, deren gazes (Blicke) gewissermaßen in Konkurrenz miteinander stehen: Judas, Maria und schließlich Jesus selbst. Zunächst visualisieren die kurzen Episoden um den Verrat und Selbstmord des Judas eine verzerrte Wirklichkeitsebene, in der Kinder als Dämonen erscheinen und ein Eselkadaver den Apostel anzugrinsen scheint. Die Inszenierung verweist an mehreren Stellen durch explizite Jump Cuts zwischen subjektiver und ›objektiver‹ Kamera darauf,11 dass die Wahrnehmung des Judas verzerrt und von Besessenheit gekennzeichnet ist. Die Anwesenheit der Teufelsfigur tut ein Übriges, um diesen Blick als einen ›satanisierten‹ anzuzeigen. Die Erzählung des Judas gehört zu den wenigen Szenen außerhalb des zentralen Versehrungsplots. Die zweite, für die Filmerzählung sehr viel maßgeblichere Blickinstanz, ist jene Marias (Maia Morgenstern). Diese wird von der mise en scène als jene Mittlerfigur für die Passion des christlichen Körpers präsentiert, die in der religiösen Malerei vielfach zur Überbrückung zwischen Betrachterraum und Bildraum genutzt wurde. Sie fungiert als Zeugin der Geißelung, verfolgt den Kreuzweg und beweint schließlich den gekreuzigten Jesus auf dem Schädelberg. In zahllosen Close-ups und halbnahen Einstellungen fokussiert die Kamera sie immer wieder als primär ›schauende‹ Figur, deren Zeugenschaft gepaart mit Passivität und Verzweiflung sie als eine Art ›anteilnehmende Beobachterin‹ in Szene setzt. Sie fungiert als identifikatorische Mittlerfigur, die das Geschehen mit durchleidet und die empathische Wahrnehmung des beobachtenden Publikums antizipiert.
11 | Vgl. besonders die Szene mit den ersten zwei Kinderdämonen.
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Abbildung 2: Maria (Maia Morgenstern) als klassische Mittlerfigur (links unten) Im brutalen Höhepunkt der Geißelungsszene z.B. folgt die Kamera ihrer Abkehr von der Misshandlung und begleitet ihr mitleidendes Gesicht in einer halbnahen Einstellung, während im Hintergrund die Peitschenschläge weiter zu vernehmen sind. Der Zuschauerblick ist hier mit Marias affektiver Wahrnehmung der Misshandlung identifiziert. Während diese Blickfokussierung in der Mulveyschen Theorie die Maria figur als Instanz des verobjektivierenden gaze nahe legt, verweist die Inszenierung von »The Passion« jedoch auf ein anderes Verhältnis der Blickregime. Denn die Schauspielerin der Maria stellt den Blick als ein ›leeres Starren‹ dar, welches das Gesehene nicht recht zu greifen scheint.12 Bei Jesu erstem Sturz auf dem Kreuzweg (siehe Abbildung) eilt sie hinzu, ergreift ihren geschundenen Sohn und richtet einen flehend-irritierten Blick auf ihn.
Abbildung 3: Der leere Blick der Maria In Antwort auf ihre – während der Geißelung gesprochene – Frage nach dem Ende der Leiden (»Where, when and how will you choose to be delivered of 12 | Dieser Effekt wird durch ein ständiges mismatching der Blickachsen Marias und Jesu (z.B. auf dem ersten Abschnitt des Kreuzweges) noch verstärkt.
76 | S imon S trick this?«) erwidert Jesus, »See, Mother, I make all things new.« Die offensichtlich fehlschlagende Kommunikation zwischen Mutter und Sohn verdeutlicht, dass Maria als Inhaberin des zeugenhaften Blicks keineswegs als interpretatorische Instanz des Geschehens fungiert: Ihr Blick realisiert nur ein ohnmächtiges Schauen der körperlichen Marter und nicht das Wissen um die darin vollzogene Erlösung. Im Spannungsfeld zwischen wissender Beobachtung des Erlösungsvollzugs und hilflos-affizierter Betrachtung des Körperspektakels markiert Marias Blick demnach die letztere Position. Die Position der weiblichen Beobachterin bleibt somit machtlos und scheitert an der Verobjektivierung des spektakulären Leidenskörpers Christi. Als Antagonist zu diesem ›impotenten‹ Beobachterblick fungiert deshalb Jesus selbst, dessen eskalierendes Marter-Make-up stets eine markante Körperstelle intakt und somit aktiv lässt: das linke Auge. Dies ermöglicht der Figur nicht nur, ›sehenden Auges‹ den Weg der Erlösung zu beschreiten – das Auge funktioniert darüber hinaus als missionierende Instanz, welche Figuren und Ereignisse dem Heilsgeschehen unterwirft und somit Deutungshoheit reklamiert. Während der spektakuläre Körper Christi die Erlösung als Prozess visualisiert, agiert der einäugige Blick Jesu bereits aus der messianischen Zeit heraus. Zum einen leiten die Blicke Christi (auf den Schuh des Römers, auf die Schüssel des Pilatus etc.) die Rückblenden ein – am deutlichsten ist diese Typologisierung am retrospektiven Einzug nach Jerusalem am Palmsonntag zu erkennen, dessen Erinnerungsbild mit dem Kreuzweg durch die Menge gegengeschnitten wird. Zum anderen resultiert die Fixierung durch den mono-okularen Christ gaze an mehreren Stellen in der Bekehrung von Nebenfiguren, so z.B. bei Simon von Kyrene, der Veronika mit dem Schweißtuch oder dem barmherzigen Dieb. Der christliche Blick fungiert in zugleich narrativ-strukturierender wie auch in missionierender Weise – das Auge Christi vollzieht eine Erweckung der dafür empfänglichen Figuren und initiiert sie in das messianische Zeitalter. Während der Körper Christi sich also zunehmend in ein Spektakel der Verwundung und schließlich den fetischisierten Gekreuzigten verwandelt, agiert das christliche Auge als der aus diesem Spektakel emittierende Heilsanspruch, der durch Appellation bekehrt. Anhand dieser drei Blickachsen artikulieren sich distinkte Repräsentationssysteme: das der verzerrenden Darstellung (Judas), der nur schauenden – aber nicht wissenden – Darstellung (Maria) sowie der Bekehrung durch das appellative Bildauge (Christ gaze). Die konfligierenden Blickachsen Marias und Jesus begegnen sich in einer Art Showdown am Kreuz: Maria nähert sich dem sterbenden Jesus und küsst seine Füße, der Apostel Johannes kommt hinzu. Maria bittet den Erlöser, sie selbst als Mutter in den Tod mit einzubeziehen: »Flesh of my flesh, heart of my heart, my son let me die with you.« Dieser Bitte nach der Anerkennung der Mutterschaft entgegnet Jesus mit einem fixierenden Blick, der eine andere Familienordnung inauguriert und Maria und Johannes miteinander verbindet: »Woman, behold your son« (den Blick auf Johannes gerichtet), »Son, behold your mother« (auf Maria). Das somit durch den Christ gaze begründete Familienverhältnis bedeutet einerseits die Einsetzung der
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christlichen Generationslinie durch Anrufung bzw. Missionierung und damit die Annullierung der (jüdischen) Matrilinearität. Zugleich vollzieht sich hier der letzte Schritt der medialen Erlösung, nämlich die Usurpation des reproduzierenden Kinoblickes selbst. Die durch Maria symbolisierte Position des mitfühlenden Kinozuschauers, d.h. die identifikatorische Schau des Abbildes, wird dem phallisch-fixierenden Blick des gekreuzigten Jesus untergeordnet. Diese Neuanordnung der Reproduktionsregeln artikuliert die christliche Erlösungsleistung zum einen als die Überwindung des betrachteten Schmerzenskörpers und somit der als weiblich und jüdisch konnotierten Abbildlogik. Des Weiteren setzt der Christ gaze an dieser Stelle ein Modell der Generativität ein, welches das Christliche primär durch göttliches Angeschaut-werden repliziert: Der Film als Blickapparat verwandelt sich ex post in eine Konversionsmaschine. Im Anschluss an diesen Showdown der Blicke und Reproduktionslogiken erleidet Jesus den Kreuzestod und lenkt seinen finalen Blick zum Himmel. Aus dem Close-up des Auges zoomt die Kamera heraus zur Perspektive Gottes auf den Schädelberg, ein einzelner Tränentropfen fällt aus dem göttlichen Auge zur Erde und beginnt den reinigenden Sturm. Die Inszenierung vollzieht so die Zusammenführung des Christ gaze mit der Kameraposition Gottes und vollendet die Gleichsetzung von Kinoauge und göttlich-konvertierendem Blick. Die abschließende Pieta zeigt Maria bezeichnenderweise nicht in der bewundernden Beweinung ihres Sohnes, sondern mit leerem Blick in/durch die herauszoomende Kamera schauend. Der Raum des betrachtenden Sehens ist mit der vollendeten Erlösung durchschritten.
»Mother, I make all things new« – Fazit Die hier skizzierte Radikalsemantik von »The Passion«, innerhalb derer sich die Erzählung erlösender Männlichkeit realisiert, soll abschließend noch kurz vergleichend interpretiert werden. Der Film vollzieht durch die gewaltsame Auflösung der Konventionen des Erzählkinos und der Einsetzung einer Körperdramatik die christliche Doktrin des fleischgewordenen Wortes. Die Vorsehung erfüllt sich in der Versehrung des männlichen Erlösers. Die Betrachter werden in eine Position der Disidentifizierung und der rein visuell-spektakulären Beobachtung des Gewaltbildes gezwungen. Diese – den viszeral-überwältigenden Strategien des Horrorfilms nicht unähnliche – Auflösung der Blickstrukturen wird supplementiert von einer zweiten Handlungsebene. Diese entfaltet eine gezielte Inszenierung der Blicke: einen Kampf zwischen zwei Reproduktionsmodellen (jüdisch-weibliche vs. christlich-männliche Reproduktion), der als Geschlechterkampf zwischen Maria und Jesus ausgefochten wird. Die Eroberung der Reproduktion kulminiert in der Transzendierung des Kinoblicks selbst: Die Einsetzung des phallisch-durchdringenden Blicks Christi inauguriert eine ›Geschlechterlogik als Bildlogik‹, denn der Christ gaze funktioniert als Agent und Instrument christlicher Vervielfältigung. Die Logik der Reproduktion durch Konversion fällt mit dem Kamerablick zusammen. Die Kamera ist in dieser
78 | S imon S trick männlich-christlichen Reproduktionsordnung nicht mehr nur Zeuge, sondern Heilsagent und -produzent. Im Zusammenhang mit dieser Vergeschlechtlichung des Kinoapparats lohnt ein Vergleich mit einer weiteren Erlösungserzählung des Kinos, nämlich Carl Dreyers »La Passion de Jeanne D’Arc« (1928). Dreyers Darstellung der französischen Märtyrerin erzählt die Geschichte von Leiden und Erlösung fast ausschließlich in Großaufnahmen und stilisierten Tableaus, was Kracauer als Versuch beschrieben hat, »die gesamte geschichtliche Wirklichkeit in KameraWirklichkeit umzuwandeln« (1985: 118). Auch hier findet sich die Verbindung von Erlösungserzählung und kinoreflexiver Rhetorik. Wie Desilets (2003) herausgearbeitet hat, vollzieht sich die finale Erlösung der Jeanne D’Arc als eine Apotheose der Großaufnahme bzw. des Filmbildes selbst: In der Todesszene auf dem Scheiterhaufen verwandelt sich ihr verzücktes Gesicht in eine Negativaufnahme. Der Verfremdungseffekt aktualisiert den Film als artifizielles Gebilde, arretiert die weibliche Erlöserin Jeanne D’Arc aber zugleich primär als Bild und Großaufnahme. Ihre Erlösung geschieht durch den Filmapparat. Im Vergleich mit der semantischen Usurpation des Kinoauges durch den männlichen Erlöser in »The Passion« wird deutlich, das nicht nur die Erlösungserzählungen geschlechtlich codiert sind, sondern die Problematisierung des Medialen selbst über geschlechtliche Kategorien verläuft. Während der Autor Dreyer die weibliche Heldin Jeanne D’Arc durch eine Überdeterminierung des Medialen erlöst und filmimmanent zum »reinen Bild«13 werden lässt, resultiert Gibsons Erzählweise in einer gewaltsamen Übercodierung des gesamten Bildapparats als männlich-erlösend. Damit wird das Kino innerhalb einer christlich-missionierenden Ordnung fixiert, deren männliche Reproduktionslogik eine geheiligte, als Bild nicht mehr kritisierbare Welt hervorbringt: »See Mother, I make all things new.« Gertrud Koch (2006) hat die These aufgestellt, dass das Kino durch die Techniken der Montage der genuine Ort des Gedenkens und der Wiederkehr der Toten sei. Das Kino markiere bereits seit den Anfängen jenen Schwellenraum der möglichen Erfahrbarkeit des Todes, den zuvor die Religion für sich reklamiert habe. Diese von Koch als »Sakralisierung des Kinoraums« bezeichnete Dimension des Kinos ist im Anschluss an die Analyse von »The Passion« um zwei Diagnosen zu ergänzen: Erstens ist die Heiligung des Kinoapparats um eine Profanierung der religiösen Erzählung zu erkaufen, welche die Heilsbotschaft auf eine viszeral-erfahrbare Erleuchtungsebene transponiert – also die Verwandlung der spirituellen Konvertierung in eine blickhafte Affizierung. Zweitens, und weitaus wichtiger ist aber, dass die rhetorischen Formeln zur »Sakralisierung des Kinoraums« nicht ohne ihre geschlechtliche Codierung gedacht werden können. Wie gezeigt wurde, greift der Erlösungsfilm auf die kinoreflexive Trope der ›Erlösung von Medialität‹ zurück, die sich als eine Errettung des männlichen Blicks von weiblicher Reproduktion realisiert. Die Austreibung des Reproduktionscharakters geschieht durch die Maskulinisierung 13 | Desilets spricht von »pure, self-contained referentiality« (2003: 87).
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des Kinoblicks. Allgemein zeigt sich hier, dass die Selbstreflexion des Films (und des Medialen) in vergeschlechtlichten Begriffen funktioniert, gerade bei seiner Erlösung von sich selbst. Im Hinblick auf Kochs These wird deutlich, dass die Rhetorik einer Heiligung des Kinos – so legt zumindest »The Passion« nahe – ein christlich-männliches Reproduktionsmodell der Unterwerfung beinhaltet.
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Licht, Reinheit und Erkenntnis
Rassisier te Lichtgestalten – dunkle Krisen. Christus, Karma und Erlösung bei Rudolf Steiner Jana Husmann-K astein Im ›Rassenmystizismus‹ der Moderne zeigt sich auf besonders plakative Weise, dass die Konstruktion von Weißsein mit der abendländischen Lichtsymbolik, mit religiösen Vorstellungen von Erlösung und der Figur Christi als Erlöser verschränkt ist. Den rassisierten Figurationen von Reinheit und Erlösung stehen Bilder eines krisenhaften ›Anderen‹ gegenüber, manifestiert z.B. in Pathologisierungen des ›jüdischen Körpers‹ und der ›schwarzen‹ Haut. Krisenszenarien wie die der ›Rassenmischung‹, ›Degeneration‹ und ›Entartung‹ fungieren zur Wende des 20. Jahrhunderts dabei als substantieller Ausgangspunkt, von dem aus ein Reinheits- und Erlösungsversprechen, nämlich die Aussicht auf ›Meisterung‹ der Krise, gerade auch den positivistischen Wissenschaftsdiskurs bestimmt. Medizinische, sexualwissenschaftliche, literarische und gesellschaftspolitische Krisendiskurse um ›Geschlecht‹ und ›Rasse‹ durchkreuzen sich und verleihen kulturellen Bildern hegemonialer Weißer Männlichkeit erlösende ›Substanz‹. Dem Zusammenhang von Krise und Erlösung werde ich in der folgenden Analyse Weißer Männlichkeit bei Rudolf Steiner (1861-1925) nachgehen und argumentieren, dass Vorstellungen vom ›Licht der Erlösung‹ und ›dunkler Krisen‹ sowohl zwei substantiell verknüpfte Gegenpole im Konstruktionsprozess markieren als auch in einem evolutionistisch konzipierten Zusammenhang stehen, in dem die Krise notwendiger Bestandteil der Erlösung ist. Rudolf Steiners Rassentheorie bietet sich dabei vor allem aus zwei Gründen an, Figurationen von Erlösung im Rassediskurs der Moderne nachzuspüren: Zunächst ist die 1 | Zum ›Rassenmystizismus‹ vgl. Goodrick-Clarke (2004); Hermand (1988); Mosse (2006); von Schnurbein (1993); Strohm (1997); zur ›Arisierung‹ Christi vgl. insbesondere Fenske (2005). 2 | Zur Pathologisierung vgl. Gilman (1992); Hödl (1997); Martin (2001); Mosse (1997). 3 | Im deutschsprachigen Forschungskontext vgl. u.a. von Braun (2000); El-Tayeb (2001); Dornhof (2005); von Schnurbein (2001); Walgenbach (2006).
84 | J ana H usmann -K astein Anthroposophie, wörtlich ›Weisheit vom Menschen‹, eine ›Erlösungswissenschaft‹ und – der Selbstdarstellung nach – das Licht für das in der Dunkelheit der Materie und des Materialismus gefangene Selbst. Die anthroposophische ›Geisteswissenschaft‹ weise als Geheimwissenschaft den Weg aus der »›schwarzen Sphäre des Materialismus‹« (Steiner 1986: 208) und zeige den wahren Zugang zum Christus, dem »hohen Sonnengeist« (GA 105: 120), auf (vgl. Steiner 1986: 141). Steiners genannte Quelle der Erkenntnis ist die ›Akasha-Chronik‹, ein angenommen immaterielles Weltengedächtnis (vgl. GA 11; Badewien 2006) und als Hellseher und ›Menschheitsführer‹ erhält Steiner selbst den Status eines Licht bringenden Erlösers. Mir wird es im Folgenden weniger um die Erlöserposition Steiners, sondern um seine zwei kosmologischen Krisenvorstellungen – die ›Krise der Materialisierung‹ und die ›Krise des Materialismus‹ – und die ihnen angegliederten Erlösungskonzepte gehen. Diese bilden einen rhetorischen Rahmen, in dem Weiße Männlichkeit konstruiert wird. Die Lichtsymbolik, die in diesen Erzählungen wirksam ist, verweist dabei – so meine These – auf farbsymbolische Traditionen des Abendlandes, die dem Konstrukt der ›weißen Rasse‹ seit Beginn an zugrunde liegen. Steiner baut demnach auf Säkularisierungsmythen auf, in denen eine »Verweltlichung religiöser Denkstrukturen« (von Braun 2001: 438) angelegt ist. Mit Blick auf die Konstruktion von Weißsein meint das: eine Verweltlichung und Visualisierung des göttlichen Lichts. Zeigt sich im historisch christlichen Kontext eine religiös-symbolische Identifizierung mit dem Licht Christi (vgl. Dyer 2006), so vollzieht sich mit der rassentheoretischen Konstruktion ›weißer‹ Haut im 18. Jahrhundert eine farbsymbolische Verweltlichung, die entlang der visuellen Konstruktion von ›Natur‹ erfolgt (vgl. Husmann-Kastein 2006a). Das Farbkonstrukt entsteht – vor dem Hintergrund des Kolonialismus – im Zuge von naturkundlichen Verwissenschaftlichungsprozessen und parallel zu neuen Innovationen der Lichttechnik (vgl. Dyer 2006: 106f.). Geistesgeschichtlich identifiziert die Lichtsymbolik das moderne Vernunftsubjekt seinen Anfängen nach: Schöpferkraft, Aktivität und göttliche Vernunft werden – vom demiurgischen Humanismus der Renaissance bis zum ›Licht der Aufklärung‹ – zu weltlichen Bestimmungsmerkmalen 4 | 1913 gründet Rudolf Steiner die Anthroposophische Gesellschaft. Wenn ich von ›Anthroposophie‹ spreche, so beziehe ich mich auf die Zeit ab 1902, seit der Steiner diese innerhalb der Theosophischen Gesellschaft zu entwickeln beginnt (vgl. Badewien 2006). Ich berücksichtige Schriften und Vorträge aus den Jahren 1904-1925. 5 | GA: Rudolf Steiner Gesamtausgabe. Die einzelnen Vorträge in den jeweiligen Gesamtausgaben werden nicht separat aufgeführt. 6 | Kritisch dazu vgl. u.a. Bierl (1999: 27); Grandt/Grandt (1998: 38-40); Tucholsky (1990: 360-363); Weibring (1998: 21). Zu zeitgenössisch positiven Deutungen vgl. u.a. GA (28: 3, 419). 7 | Zum Säkularisierungsprozess vgl. auch Dornhof (2005); Eschenbach/Lanwerd (2000). 8 | Zum christlichen Bild des ›schwarzen Heiden‹ vgl. El-Tayeb (2001: 11); Martin (2001).
R assisierte L ichtge stalten –
dunkle
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und kennzeichnen somit die menschliche ›Licht-Natur‹ (vgl. Husmann-Kastein 2006a). Dabei ist die Lichtsymbolik – in der dualistischen Denktradition des Abendlandes – ihren Grundcodierungen nach als Männlichkeitssymbolik zu verstehen. In antiken, gnostischen und christlichen Traditionen codiert das Licht das Reich des Geistes – Rationalität, die »Vatergottheiten des Taghimmels« (Strohm 1997: 134) – eine Symbolik, welche die farbliche Weltwerdung des Lichts ›hervorbringt‹ und die rassentheoretische Inszenierung einer ›kulturellen Menschwerdung Gottes‹ attributiv konstituiert. Mit Blick auf Rudolf Steiner soll nun gefragt werden: Wie wird Weißsein um die Jahrhundertwende im okkultistischen Kontext farblich reinszeniert? Welche Erlösungsfigurationen sind der ›weißen Rasse‹ eingeschrieben? Auf welchen Krisenszenarien basieren diese? Inwiefern sind die Erlösungs- und Krisenvorstellungen vergeschlechtlicht? Was bedeutet dies mit Blick auf normative Geschlechterkonstruktionen und die Vergeschlechtlichung von ›Rassen‹? Was kennzeichnet die anthroposophische Christusfigur und welche Rolle spielt sie in diesen Konstruktionsprozessen? Es geht mir nicht um einen Überblick zu Rudolf Steiners Rassenkonstruktionen (vgl. dazu Husmann-Kastein 2006b; Zander 2001), sondern um eine exemplarische Verfolgung dieser Fragen.
›Krise der Materialisierung‹ – Lichtleib und Weiße Erlösung Steiners neognostisches Evolutionsmodell der sogenannten ›Wurzelrassen‹ beschreibt verschiedene ›Stadien‹ der Menschheit. Ursprünglich habe der Mensch als ›Geistkörper‹ existiert und erst allmählich seinen heutigen »Knochenleib« (GA 105: 106) ausgebildet. Letzterer werde in der fernen Zukunft erneut vergeistigt. Die Krisenvorstellung ist hier als neognostische Welt- und Leibfeindlichkeit gekennzeichnet, denn die irdische ›verdichtete‹ Materie ist mit Begierden, Krankheit und Tod (vgl. GA 105: 40) und die ›Verstrickung‹ in die Materie mit dem Sündenfall assoziiert (vgl. GA 131: 89). Der Begriff der Degeneration wird als »eine Art Abfall von dem Göttlichen« verstanden und mit dem ›unreinen‹ Zustand der Materie in Beziehung gesetzt (vgl. GA 103: 105). Musste sich nach Steiner die Menschheit der Höherentwicklung willen in der ›dunklen‹ Materie verkörpern – um eine stufenweise Bewusstwerdung, verschiedene ›Wesensglieder‹10 sowie einen zukünftigen Geistleib auszubilden11 – so ist die Erlösung durch Vergeistigung an eine Materialisierung Gottes gebunden:
9 | Zum abendländischen Geist-Materie-Dualismus in geschlechtlicher Codierung vgl. von Braun (2001). 10 | Dazu zählen der ›physische Leib‹, der ›Ätherleib‹, der ›Astralleib‹, das ›Ich‹ und in der Zukunft das ›Geistselbst‹, der ›Lebensgeist‹ und der ›Geistesmensch‹. Es findet sich zudem ein neungliedriges Gesamtsystem (vgl. GA 9; GA 11). 11 | Näher dazu Steiner (1986: 117, 144, 164-173); GA (56: 285-286); GA (131: 228).
86 | J ana H usmann -K astein »Er [Christus] ist erschienen auf dem Höhepunkt einer furchtbaren Krise, als die herabsteigende Entwickelungslinie der Menschheit im Begriffe war, ihren tiefsten Punkt in der Materialisierung zu erreichen. […] Das Karma und der Christus sind der Inbegriff der ganzen Evolution.« (GA 94: 116)
In Steiners Christuskonzeption und ihrer zentralen Erlösungsfunktion fließen christliche und neognostische Strukturen zusammen. Hierbei unterscheidet Steiner die ›Christus-Wesenheit‹ von Jesus. Christus, der ›hohe Sonnengeist‹, sei schon früher unter anderen Namen wie »Osiris« und »Ahura Mazdao« ›geschaut‹ worden (vgl. Steiner 1986: 75). Erst nach der Taufe durch Johannes den Täufer habe sich der Christus im menschlichen Leib Jesu inkarniert (vgl. u.a. GA 131: 185). Im Verlauf der ersten 30 Lebensjahre bedurfte es einer reinigenden ›Präparierung der Materie‹ (vgl. GA 105: 174-176). Dieser Reinigungsprozess spielt auch in Steiners Inkarnationslehre von ursprünglich zwei Jesusknaben eine Rolle. Nach dieser sei, wie Strohm zusammenfasst, der eine Jesus »eine Inkarnation Buddhas, der andere eine Zarathustras gewesen«, im zwölften Lebensjahr wäre »die Zarathustra-Ichheit zum Buddha-Jesus übergewechselt«, der »Zarathustra-Jesus« dann gestorben (vgl. Strohm 1997: 85; GA 131: 173-184). Die »Buddha-Kräfte« und die »Individualität des Zarathustra« modifizieren nach Steiner den ›Astralleib‹, den ›Ätherleib‹ und den ›physische Leib‹ des verbliebenen Jesusknaben qualitativ (vgl. GA 131: 176, 181-182). Die christliche Konzeption einer fleischlichen Materialität Christi als »erlöster Natur« (von Braun 2001: 157) ist hier anthroposophisch spezifisch durchgeistigt. Steiners Vorstellung vom Auferstehungsleib als »Geistleib« (GA 131: 187) ähnelt dem gnostischen Scheinleib. Dieser ist ein rein geistiger, lichter, symbolisch weißer Leib, dessen ›geisteswissenschaftliche‹ Verwissenschaftlichung sich im Bild der »geistigen Zelle« (Steiner 1986: 263) andeutet. Indem der Mensch sich »diesen unverweslichen Leib einverleibt«, würde er »immer mehr dazu kommen, sein IchBewusstsein heller und heller zu machen« (Steiner 1986: 264f.). Durch das Mysterium von Golgatha sei die menschliche Höherentwicklung – d.h. der Aufstieg von der »niederen« zur »höheren« Natur, die Überwindung von »Trieben, Begierden und Leidenschaften« (GA 54: 377) – ermöglicht worden (vgl. Steiner 1986: 264). Es liegt in der Logik einer Analogisierung von Mikro- und Makroebene, dass die neognostische Grundstruktur von Geist, Materialisierung und erneuter Vergeistigung, von Urzustand, Krise und Erlösung, welche das anthroposophische Evolutionsmodell kennzeichnet, sich verschiedentlich mit Steiners Konstruktionen gegenwärtiger ›Menschenrassen‹ überlagert. Dadurch wird auch die Rede von dem heutigen Menschen relativiert. Zusammenfassend heißt das: ›Außereuropäer‹12 werden durch eine besondere ›Verhärtung‹, ›Verknöcherung‹ und den
12 | Den Begriff ›Außereuropäer‹ verwende ich zur Kennzeichnung der eurozentrischen Konstruktionsstruktur.
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Begriff der Degeneration gekennzeichnet.13 Sie erscheinen im gängigen Modus kolonialistischer Konstruktion als Sinnbild der zu überwindenden Begierden, in dem sie die dunkle, weiblich codierte Materie, das »Trieb«- und »Gefühlsleben« verkörpern (GA 349: 58). Die als weiß beschriebenen Europäer repräsentieren hingegen als ›Zeus-Rasse‹ und ›Jupiter-Rasse‹ männliche Lichtgestalten, stehen durch das »Denkleben« (GA 349: 58) für geistige Potenz ebenso wie für Vergeistigung und spirituelle Entwicklung.14 Das menschliche Ich, konzipiert als ein geistig göttliches ›Licht-Ich‹, bleibt in seiner ›richtigen‹ (Farb-)Form dem ›weißen‹ Rassesubjekt vorbehalten (vgl. GA 107: 288-296). Die Re-Inszenierung einer rassentheoretisch gewendeten ›kulturellen Menschwerdung Gottes‹ wird bildlich, wenn Steiner Christus, den ›hohen Sonnengeist‹, explizit mit ›weißer‹ Haut zusammen denkt. So geht er davon aus, wie Ilas Körner-Wellershaus zusammenfasst, »daß der Christus im Mysterium von Golgatha die spirituellen Impulse so tief ins Physische ›heruntergeführt‹ habe, daß sie in der weißen Hautfarbe der Menschen ersichtlich geworden seien; in ihnen habe der Geist sein ›Gehäuse‹ gefunden.« (1994: 387)
Diese Gleichzeitigkeit von Rassisierung des Christusbildes und Vergöttlichung der ›weißen Rasse‹ konkretisiert sich in Steiners Erläuterungen zur ›Farbe des Inkarnats‹, die er als Farbe des inkarnierten Christus und als ›gesunde Menschenfarbe‹ versteht.15 In der Identifizierung mit Christus, dem Erlöser, liegt die rassenspezifische Mission: »Und dieses Hinuntertragen, dieses Durchimprägnieren des Fleisches mit dem Geiste, das ist das Charakteristische der Mission, die Mission überhaupt der weißen Menschheit.« (GA 174b: 37) Der Lichtleib des Christus Jesus wird, so kann geschlussfolgert werden, als ›materielle‹ Inkarnation naturalisiert und rassisiert; die ›weiße‹ Haut – als ›materielles‹ Zeichen der Lichtgestalt Christi – in anthroposophischer Inszenierung farbsymbolisch re-sakralisiert. Der Konstruktionszusammenhang von Spiritualisierung und Physikalisierung der Hautfarben zeigt sich bei Steiner auf vielfältige Weise (vgl. u.a. GA 107; GA 349). Eine rassenspezifische Vergeistigung der Materie geht zudem mit der antiken, mathematisch idealisierten Körperform einher. Die abstrakt rationale Strukturierung des menschlichen Körpers erscheint hier entlang des »durchgeistigten« und »veredelten« physischen Leibes der »nördlichen Volksmassen« spiritualistisch rassistisch gewendet (GA 113: 103). So widersprüchlich Steiners Rassenkonstruktionen der Systematik nach auch sind – die farbliche Identifizierungslogik, in der Weißsein mit Licht und Geistigkeit verbunden wird, durch13 | Zum anthroposophischen Biologismus vgl. u.a. GA (105: 107-110); GA (121: 118-119); GA (349: 60-63). 14 | Zur Ausgestaltung vgl. u.a. GA (54: 124); GA (94: 39); GA (121: 110, 117); GA (174b: 37-40); GA (349: 67). Zur leitenden Rolle der ›germanischen Völker‹ vgl. u.a. Baumann (1991: 191); GA (121: 182f.). 15 | Zur Farbe des Inkarnats vgl. GA (291a: 165-174); GA (291: 30-32).
88 | J ana H usmann -K astein zieht die Ausgestaltung. Sie begründet zugleich – sowohl über Rationalität als auch über den Sonnengeist Christus – die ›Männlichkeit‹ der ›weißen Rasse‹ und ihre erlösende Mission. Die Aussicht auf Erlösung für die nicht-weißen ›Rassen‹ liegt im Karma, der Wiedergeburt und Seelenwanderung: Denn jede menschliche Seele müsse einmal durch jede ›Rasse‹ hindurchgehen (vgl. GA 54: 133), damit erhält auch der Außereuropäer das Versprechen auf Weißwerdung und Vergeistigung.
›Krise des Materialismus‹ – ›männliche Kultur‹ und Erlösung Die anthroposophisch gedeutete ›Krise des Materialismus‹ ist eine Krise der »einseitigen Männerkultur« (GA 54: 128). Sie steht für das abstrakte Denken, die ›materialistische‹ Wissenschaft, die Orientierung auf das Materielle, die ›äußere‹ Natur, den Verlust des Hellsehens, die Verdunklung okkulter Erkenntnis. Die ›Krise des Materialismus‹ lässt sich als eine ›Krise der Männlichkeit‹ lesen, die sich auf Rationalität bezieht.16 Sie ist damit zugleich Bestandteil einer exklusiven Krisenrhetorik um die normativ Weiße ›männliche Kultur‹: Denn das ›materialistische Denken‹ erscheint nach Steiner als Eigenschaft der »kaukasischen Rasse« als eigentlicher »Kulturrasse« (GA 54: 144). Steiners Bilder vom Denken als »Leichnam der Seele« (Steiner 1986: 215) und die Verkörperung des abstrakten Denkens in der Figur des dunklen »Ahriman« (vgl. u.a. Steiner 1986: 151-161) können als Ausdruck eines kultur- und zeitspezifischen Paradigmenwechsels verstanden werden, wie ihn Christina von Braun für das Ende des 19. Jahrhundert beschrieben hat: Vor dem Hintergrund, dass der »mediale Kollektivkörper« begann, sich einen »›sinnlichen Leib‹« zuzulegen, war »das, wofür die Schrift auch stand, nämlich Abstraktion, Intellektualität und logos, also das ›Nichtsinnliche‹ überflüssig, sogar zur Bedrohung geworden« (von Braun 2001: 476). Verschiedentlich wurde dargestellt, dass dieser nun bedrohlich skizzierte abstrakte Geist im rassistischen Antisemitismus im jüdischen ›Anderen‹ verortet wird. Bei Steiner reiht sich die Abwertung der Abstraktion in die christlich anti-judaistische Tradition ein, wie sein Appell, das »tote«, »abstrakte Denken« gelte es durch Christus wiederzubeleben, verdeutlicht (vgl. Steiner 1986: 215, 212-228). Er spricht jedoch auch konkret von einer »großen Begabung« der Juden für den »Materialismus« (GA 353: 78). In »Judas« habe sich die »ganze materielle Zeit« inkarniert, die »das Spirituelle verdunkelt und verdüstert«, Christus werde »durch seinen Tod der Erlöser der materiellen Zeit« (GA 93a: 66). Die ›Krise des Materialismus‹ wird somit – als neognostische Überwindungsgeschichte und antisemitische Konstruktion – einerseits im jüdischen ›Anderen‹ verortet und externalisiert,17 andererseits beschreibt sie einen selbstreferentiellen Krisendiskurs, in dem eine Rhetorik des Bedauerns Weiße Hege16 | Zum zeitgenössischen Anti-Rationalismus vgl. von Schnurbein (1993: 77-85). 17 | Zur paradoxen Verweiblichung des Juden und Judentums bei Steiner vgl. GA (353: 78).
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monie stabilisiert: »[W]ir Europäer, wir armen Europäer haben das Denkleben, das im Kopfe sitzt.« (GA 349: 58) In die Krise gerät nicht die sozio-politische hegemoniale Weiße Männlichkeit (vgl. Connell 1999), sondern der männlich codierte Logos, der abstrakte Geist. Ausdruck zeitgenössischer Krise seien eine Ausbreitung »krankhafter Erotik« (GA 302a: 86), »Erkrankungen des Nervensystems« und »nervöse Störungen« (GA 94: 66) – Diagnosen, in denen medizinisch psychiatrische Debatten um ›falsche Männlichkeit‹ aufscheinen (vgl. Dornhof 2005: 103-134). Der hegemoniale Mann steht durch seinen ›Intellektualismus‹, resultierend aus einem »steiferen Gehirn« (GA 120: 179), für den Mangel und eine gewisse Oberflächlichkeit der materialistischen Wissensproduktion (vgl. GA 120: 179180). In Steiners okkultistischer Überwindungsgeschichte dieser ›Krise der Männlichkeit‹ ist dabei eine Rhetorik der Ganzheitlichkeit wirksam, die geschlechtliche Überwindung suggeriert. Zeitgenössische Matriarchatsmythen18, das gnostisch androgyne Gottesbild (vgl. Zimmermann 2001) und der platonische Geschlechter-Mythos kennzeichnen in anthroposophischer Umdeutung diese ›ganzheitliche‹ Überwindung. Hierin besitzt Weiblichkeit als Symbol der Seele und des spirituellen Wissens erlösende Funktion. Die Frau, die schon zu ›Urzeiten‹, namentlich in ›Lemurien‹ und ›Atlantis‹, mit der Seele und Geheimnisvollem assoziiert und als Medium höherer Geister beschrieben wird (vgl. GA 11: 67-69), wird zur Trägerin des okkulten Wissens, oder gar, in Gestalt der Okkultistin Helena P. Blavatsky, zur Gebärerin der wahren »geistigen Kultur« (vgl. GA 54: 119, 130). Steiners Seelensymbolik knüpft an den gnostischen und christlichen GeistSeele-Dualismus an, wonach der göttliche Geist die menschliche, weiblich symbolisierte Seele ›befruchtet‹ (vgl. GA 54: 385). In der erlösenden »GretchenSeele« (GA 272: 190) wird die literarische, in der Charakterisierung der Frau durch – innere – »Aufopferung« und »Hingabe« (GA 56: 94) die soziale Struktur einer ›Feminisierung des christlichen Heilsopfers‹ deutlich, die sich seit 1800 vollzieht (vgl. von Braun 2001: 402-405). In Steiners Interpretation des »Faust« heißt das, eine Feminisierung des Erlösers: Auf Faust wirke demnach das weibliche Element des Christus erlösend (vgl. GA 272: 190). Dieser doppelgeschlechtlichen Potenz Christi entspricht eine allgemeiner formulierte Macht des Geistes, als geschlechtliches ›Ausgleichsprinzip‹ zu fungieren (vgl. GA 11: 77-78). Im Konzept der Doppelgeschlechtlichkeit liegt nicht zuletzt eine Sehnsucht nach ›Ganzheitlichkeit‹, welche Steiners normativen Geschlechterkonstruktionen inhärent ist. Schon sein Ursprungsmythos der Zweigeschlechtlichkeit geht von einer ursprünglichen Doppelgeschlechtlichkeit des Einzelnen aus. Die »Trennung der Geschlechter« (vgl. GA 11: 74-86) wird als krisenhaft verstanden, insofern sie ein Resultat der kosmologischen Krise der ›Verdichtung 18 | Zur kritischen Bearbeitung vgl. Lanwerd (1993); von Schnurbein (1993; 1997); Stephan (1997: 37-59).
90 | J ana H usmann -K astein der Stoffe‹ sei.19 Erlösung liegt in einer zukünftigen ›Übergeschlechtlichkeit‹ (vgl. GA 54: 130-131). Bis heute habe allerdings die Frau »im Innern männliche Eigenschaften, der Mann weibliche« (Steiner GA 56: 94). Zeitweise Erlösung aus diesen dennoch dualistisch asymmetrisch konzipierten Geschlechtsidentitäten verheißen wiederum Karma und Wiedergeburt.20 Der hegemoniale Weiße Mann wird, so kann geschlussfolgert werden, durch Weiblichkeit erlöst, selbst jedoch – als leitender und leidender Krisenüberwinder21 – zum Welterlöser. Die geschlechtlichen Vereinigungsmetaphern spielen schließlich auch in Steiners Konstrukt nördlicher und südlicher ›Völkerströme‹ als Codierung von rassisierten Gemeinschaften eine Rolle. Dabei wird der nördliche Völkerstrom durch den Geist und Christus, der südliche durch die Seele und Luzifer gekennzeichnet. Beide müssten sich in unserer Zeit »wie die männlichen und weiblichen Befruchtungssubstanzen [der Pflanzen]« (GA 113: 107) durchdringen. Das Vereinigungsideal der Völkerströme fügt sich in Steiners Schema eines dualistisch strukturierten Monismus ein. Und es scheint damit dem zeitgenössischen Krisenszenario der ›Rassenmischung‹ gegenüber zu stehen. Allerdings erfüllen die einzelnen gegenwärtigen ›Menschenrassen‹ gerade in ihrer kategorischen Differenz, wie mit Blick auf die ›weiße Rasse‹ dargestellt, ihre spezifische Mission. Eine ›sinnvolle Vermischung‹ erfolgt nur durch die Seelenwanderung. In der fernen Zukunft komme es nach Steiner mit der zusehenden Vergeistigung der Materie schließlich zur Auflösung der angenommenen gegenwärtigen ›Menschenrassen‹ und damit zur Erlösung aus den vermeintlich rassischen Vererbungs- und Blutzusammenhängen (vgl. GA 121: 75-76). Ebenso werde die Geschlechtlichkeit an sich transzendiert: Der zukünftige doppelgeschlechtliche bzw. übergeschlechtliche Mensch werde: »durch seine auf der Höhe ihrer Vollkommenheit angelangten Sprechorgane sich selbst – seinesgleichen – hervorbringen […]. Die Sprechorgane enthalten also in sich gegenwärtig keimhaft die zukünftigen Fortpflanzungsorgane.« (GA 11: 230)
Die künftige Fortpflanzung als Sprachakt ist in die Logik des anthroposophischen Erlösungsversprechens auf göttlichen Geist und Licht eingereiht. Hier treffen sich übersinnliche Weisheit, Reinheit und männliche Schöpfungspotenz als eine in die anthroposophische Physiologie verlagerte farbsymbolische Weißheit des vergeistigten Menschen der Zukunft. Das Weiße hegemoniale Rassesubjekt, Träger dieser Entwicklung, hat sein rassisch männliches Weißsein
19 | Zur Fortschrittsrelevanz heteronormativer Zweigeschlechtlichkeit vgl. GA (11: 81); GA (54: 348). 20 | Zur Geschlechterpolarität vgl. u.a. GA (56: 94); GA (120: 177). Zu wechselnden geschlechtlichen Inkarnationen vgl. GA (120: 178-181). 21 | Zur entwicklungsbedingten Notwendigkeit des materialistischen Denkens vgl. GA (131: 201-203).
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transzendiert bzw. an seine konstitutiven symbolischen und abstrakten Entstehungsbedingungen rückgebunden.
Schlussfolgerung Wie ich dargestellt habe, beschreibt die Krise bei Steiner in ihrer doppelten Form von Materie und Materialismus eine notwendige Etappe der Entwicklung des Weißen männlich codierten Rassesubjekts hin zur Erlösung. Zugleich werden die Krisen in Bildern des rassisierten ›Anderen‹ analogisiert und externalisiert, Begriffe des zeitgenössischen Krisendiskurses wie jener der Degeneration spiritualistisch umgedeutet. Erlösung erscheint als ›weiße Rasse‹ figuriert: Der dem rassentheoretischen Denken zugrunde liegende Prozess einer ›kulturellen Menschwerdung Gottes‹ – der Weißsein farb- und geschlechtssymbolisch der Konstruktionslogik nach konstituiert – wird bei Steiner spiritualistisch re-inszeniert. Der zutiefst christlich geprägte Zusammenhang von Sünde, Leiden und Erlösung ist neognostisch und vermeintlich kultur- und gender-kritisch gewendet. In die Kritik an der ›männlichen Kultur‹ als Mangel – gepaart mit einer Rhetorik des selbstmitleidigen Bedauerns – sind Ermächtigungsstrategien und Re-Manifestationen Weißer männlicher Hegemonie eingelagert, die sich als »Privileg der Krise«22 beschreiben ließen. Sie beinhalten eine Aneignung idealisierter Weiblichkeit als notwendiger polarer Ergänzung – der Kultur und des inneren männlichen Selbst – und sind zugleich sexistisch geprägt.23 Die Rede von der Krise der ›männlichen Kultur‹ ist nur vor dem Hintergrund einer politischen Intervention und Umbruchssituation europäischer Geschlechterverhältnisse zu verstehen (vgl. von Schnurbein 2001) – ein kulturpolitischer Kampf, welcher in Steiners Konzept der ›Ergänzung‹ und ›Ganzheitlichkeit‹ letztlich kosmologisch-spiritualistisch abgeschwächt, und in dem die ›männliche Kultur‹ zur entwicklungsbedingten Notwendigkeit wird. Schließlich verweist Steiners okkultes Denksystem, eingebunden in die »Verwissenschaftlichung des Okkultismusdiskurses« (Dornhof 2006: 179) seiner Zeit, aber eben auch auf die Mythen und symbolischen Traditionen, welche den westlich positivistischen Konstruktionen des Weißen hegemonialen Rassesubjekts und dem hier wirksamen Zusammenhang von Krise und Erlösung zugrunde liegen.24
22 | Siehe den Artikel von Haschemi Yekani in diesem Band. 23 | Eine Dynamik, auf welche Sven Glawion am Beispiel C.G. Jungs aufmerksam macht. Siehe den Artikel von Glawion in diesem Band. 24 | Ich danke meinen Mitherausgeber-/innen Elahe Haschemi Yekani und Sven Glawion sowie Francisca Hoffmann-Axthelm für das Lektorat und ihre hilfreichen Hinweise.
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»Enlightened Imperialism« – Der englische Gentleman-Hero als Erlös(t)er Elahe Haschemi Yekani Männlichkeit wird immer wieder erzählt als etwas, das nicht einfach gegeben ist, sondern als eine Position, die erreicht und stabilisiert werden muss. Männlichkeit – verstanden als wandelbar und historisch sowie lokal spezifisch – unterliegt somit bestimmten Erzählmustern. Als für die Moderne paradigmatisch erscheint die Rede von der ›Krise der Männlichkeit‹. Walter Erhart erläutert anschaulich, wie der Begriff der Krise mehr und mehr zum Gemeinplatz der Männlichkeitsforschung geworden ist und argumentiert, »daß die sogenannte Krise ein implizites Konzept der Männlichkeit selbst ist, ein Narratem, das in die Geschichte jeder Männlichkeit gewissermaßen als deren ureigenster Bestandteil integriert ist« (2005: 222). Diesen vieldiskutierten Begriff der Krise möchte ich verstärkt in Bezug auf Konstruktionen von Race und den Kolonialismus thematisieren. Denn im permanenten Oszillieren zwischen (Wieder)Herstellung und Scheitern einer modernen Männlichkeit wird die hegemoniale Weiße Position – auch im Scheitern – ein ums andere Mal bekräftigt, und so erscheint der Krisendiskurs als ein Kennzeichen einer privilegierten Position. Wie dieses Scheitern von ›heldenhaften‹ kolonialen ›Krisenmännern‹ mit dem Konzept der Erlösung zusammenhängt, liegt im Fokus meiner Betrachtung. Die Auffassung von Krisenhaftigkeit, auf die ich mich dabei beziehe, beschreibt Stefanie von Schnurbein folgendermaßen: »Das, was sich um die Jahrhundertwende erstmals als ›männliche Identität‹ diskursiv formiert, ist von Anfang an ›krisenhaft‹ konstituiert. Bis zu diesem Zeitpunkt wurde der Mann als Vertreter des universell Menschlichen betrachtet, die Frau hingegen allein als geschlechtlich bestimmtes Subjekt.« (von Schnurbein 2001: 10)
1 | Walter Erhart spricht von »narrative[n] Erzeugungsprinzipien von Männlichkeit und Weiblichkeit« (2005: 170).
98 | E l ahe H aschemi Yek ani Auch Judith Butler identifiziert Momente der Stabilisation und Destabilisation der männlichen Krisen-Figur in diesem Sinne: »This is a figure of disembodiment, but one which is nevertheless a figure of a body, a bodying forth of a masculinized rationality, the figure of a male body which is not a body, a figure in crisis, a figure that enacts a crisis it cannot fully control.« (1993: 48-49)
Männer können Männlichkeit niemals vollständig gerecht werden, da das Konstrukt ›Männlichkeit‹ zwischen Körperlichkeit und Nicht-Körperlichkeit mäandriert. Die Krise dieser paradoxen Norm von Männlichkeit ist ein vorherrschendes Erzählmuster des Kolonialismus und blendet andere Perspektiven kategorisch aus. Anne McClintock spricht in ihrer psychoanalytisch inspirierten Studie »Imperial Leather« auch von »a crisis in male imperial identity« (McClintock 1995: 27). Wie der Titel des Beitrags »Erlös(t)er« suggeriert, wird der krisenhafte Held jedoch zeitgleich zum einen zum Erlöser und zum anderen zum Erlösten, was seinen Ausdruck in der Erhöhung der eigenen Überwindungsgeschichten findet. Dies möchte ich exemplarisch an zwei auf die hier angesprochenen Aspekte zugespitzten Lesarten kolonialer Erzählungen demonstrieren. Ich beginne mit jenen erfolgreichen Überwindungsphantasien, wie sie in Henry Rider Haggards adventure novels durchexerziert werden, und wende mich anschließend Joseph Conrads düsterem »Heart of Darkness« und seinem heroischen Scheitern zu.
Haggard: »King Solomon’s Mines« Henry Rider Haggards mehr als 50 Abenteuerromane waren Bestseller und bis heute ist der 1885 erschienene Roman »King Solomon’s Mines« durchweg erhältlich geblieben. Rebecca Stott charakterisiert diesen Erfolg wie folgt: »Haggard’s African romances and the genre of imperialist fiction thus appealed to the ›schoolboy imperialist‹ fantasizing about his initiation into manhood out in the African bush and to the British man, fantasizing about the freedom to act without cultural restraints […]. Africa becomes the testing ground for white male adventure, the landscape of adolescent fantasy.« (1989: 70)
»King Solomon’s Mines«, gewidmet »all the big and little boys who read it« (Haggard 1989: 3) , erzählt die phantastische Geschichte des Heldentrios bestehend aus Großwildjäger Allan Quatermain, Squire Sir Henry Curtis und Captain John Good. Auf der Suche nach dem auf seiner Jagd nach den legendären Minen des König Salomons verschollenen jüngeren Bruder von Curtis reisen sie nach Afrika. Hierfür benötigen sie selbstverständlich Unterstützung durch ›einheimische‹ Helfer. Unter ihnen ist der Schwarze Mann Umbopa, der als »a very tall, handsome-looking man, […] very light-coloured for a Zulu« (KSM: 46) 2 | Im Folgenden als KSM abgekürzt.
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beschrieben wird. Auffallend häufig sind die kooperierenden sympathischen ›Natives‹ wie Umbopa von hellerer Hautfarbe. Ihre Bereitschaft, sich von den Weißen Männern ›erleuchten‹ – also enlighten – zu lassen, wird buchstäblich auf ihre Hautfarbe übertragen und so die moralische Überlegenheit mit Helligkeit assoziiert. Nachdem die Vorbereitungen getroffen sind, kann das Abenteuer beginnen und entsprechend der Genre-Konvention wird eine action-geladene Geschichte entfaltet. Die drei Helden stellen sich auf ihrer Suche der Bedrohung durch Fieber und den Gefahren durch die weiblich konnotierte Landschaft. Dabei wird das Motiv des beinahe erlittenen Todes der Helden mehrfach ausführlich durchgespielt. Während einer Elefantenjagd wirft sich ein ›Zulu Junge‹ vor seinen ›Master‹, um diesen vor dem sicheren Tod durch ein heranstürzendes Tier zu bewahren. Der Tod des Jungen wird nur lapidar kommentiert: »›Ah well,‹ he said presently, ›he is dead, but he died like a man‹.« (KSM: 62) In dem Akt des Selbstopfers zum Schutz des Weißen Mannes bekommt der Schwarze Junge den Status der Männlichkeit verliehen, ein Privileg, das den erwachsenen Schwarzen Männern permanent vorenthalten wird. Im Kontext dieser Narrative ist das Abenteuer in der Regel nur für den Weißen Mann eine körperliche Belastung, wie bei dem folgenden Marsch durch die Wüste deutlich wird: »We were literally being baked through and through. The burning sun seemed to be sucking our very blood out of us.« (KSM: 78) Im Gegensatz hierzu steht Ventvögel (einer der Schwarzen Träger bei der Expedition), »on whom, being a Hottentot, the sun had no particular effect« (KSM: 79). Während für ihn die Durchquerung der Wüste ein Kinderspiel zu sein scheint, sind die Weißen Männer nach der Reise »utterly worn out in body and mind« (KSM: 80). Es gelingt innerhalb der Erzählung, diese vermeintliche körperliche Unterlegenheit der Weißen Männer in eine Überlegenheit umzudeuten. Ihr Durchhaltevermögen, das sie trotz der immensen körperlichen Strapazen immer wieder beweisen, zeichnet ihre Virilität aus. Die Schwarzen Männer überleben ob ihrer ›natürlichen‹ Stärke, die Weißen Männer aber erreichen etwas. Ihre Überlegenheit ist aber vor allem eine geistige und moralische. Wie diese mit der Gewalttätigkeit des kolonialen Regimes zu vereinbaren ist, wird ebenfalls in den Abenteuerromanen thematisiert. Während eine bestimmte Art des Kolonialismus scharf kritisiert wird – nämlich jene, die sich nur um den kapitalistischen Profit schert – wird die ›zivilisatorische Mission‹ des Weißen Gentleman heroisch überhöht. Der gute Imperialist – also der Gentleman – ist genuin interessiert an Land und Leuten und bestrebt, den ›Native‹ von seiner ›unzivilisierten Rückständigkeit‹ zu erlösen. Richard Dyer bemerkt hierzu:
3 | Siehe zu diesem Themenkomplex auch den Artikel von Jana Husmann-Kastein in diesem Band. 4 | Für eine ausführlichere Diskussion der weiblich konnotierten Landschaft bei Haggarad vgl. McClintock (1995: 241-244); Stott (1989) und Stiebel, die von Afrika als einer »sexualised bodyscape« (2001: 80) in Haggards Werken spricht.
100 | E l ahe H aschemi Yek ani »[T]he civilising mission […] did not question the presence of the British in the empire, but did challenge the actual behaviour of the rulers towards the ruled, either in terms of Christian principle or because such rudeness and cruelty itself set a bad example of moral refinement.« (1997: 186)
Es geht also um moral refinement – sprich moralische Kultiviertheit – bei diesem Konzept von Männlichkeit und nicht bloß um ein Ausagieren körperlicher Stärke. Die immer wieder behauptete Superiorität des Weißen Mannes bzw. sein Status als die Verkörperung der menschlichen Norm ist Teil einer rassistischen, sexistischen und heteronormativen Struktur. Sozialdarwinistische Denkweisen beeinflussen Erzählungen dieser Männlichkeit, die als am weitesten entwickelt gedacht wird. Weiblichkeit und Nicht-Weißsein werden entsprechend als weniger fortgeschritten auf der Evolutionsleiter eingestuft; der zivilisierteste Status ist Weiß und männlich konnotiert. McClintock konstatiert zu den Verschränkungen von Race und Gender: »The white race was figured as the male of the species and the black race as the female.« (1995: 55) Die Reise nach Afrika wird in dieser Logik demnach als eine Reise in ›unsere‹ Vergangenheit konstruiert – eine Erzählung, die bis heute anhält und Afrika immer wieder als das archaische und geschichtslose ›Andere‹ hervorbringt, welches missioniert und zivilisiert werden muss. In diesem Kontext spricht McClintock von der Trope des »anachronistic space«: »According to this trope, colonized people – like women and the working class in the metropolis – do not inhabit history proper but exist in a permanently anterior time within the geographic space of the modern empire as anachronistic humans, atavistic, irrational, bereft of human agency – the living embodiment of the archaic ›primitive‹.« (McClintock 1995: 30)
In seinem Einsatz in den Kolonien ist die Überlegenheit des Weißen Mannes allerdings fortwährend gefährdet: Der Kontrollverlust und die ›Degeneration‹ – am deutlichsten natürlich in der Gestalt der ›Rassenvermischung/miscegenation‹ figuriert – drohen. Und so kann zwar eine keusche Liebesgeschichte zwischen einem der Helden und einer Schwarzen Frau angedeutet werden, diese kommt aber nie zum Vollzug, da die afrikanische Frau – nicht ganz ungelegen 5 | Aus Darwins Evolutionstheorie folgt eigentlich eher eine linear offene Vorstellung von Entwicklung (die also nicht mehr theologisch-teleologisch konzipiert ist) sowie die grundsätzliche Verwandtheit der menschlichen ›Rassen‹ – gerade dieser Gedanke stellt eine große Verunsicherung der viktorianischen Weißen Norm dar. Sie ist daher nicht zu verwechseln mit sozialdarwinistischem Denken, wie es beispielsweise Herbert Spencer mit seinem ›survival of the fittest‹ proklamiert, welches um die Jahrhundertwende breit rezipiert wird. Kerstin Palm (vgl. 2006) hat anschaulich herausgearbeitet, dass es bereits um 1900 neben den theologischen Einwänden und der sozialdarwinistischen Rezeption auch eine ausgeprägte inner-biologische Debatte mit starken anti-darwinistischen Tendenzen gab.
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für die Verfechter der ›Rassenreinheit‹ – genretypisch bei dem Versuch, ihren Geliebten zu retten, getötet wird. Die Zivilisiertheit des Weißen Mannes spiegelt sich auch in seiner Fähigkeit, körperliche Hygiene und gepflegte Kleidung beizubehalten. Dies hat zur Folge, dass sich in dem eher ›männlich‹ konnotierten Genre des Abenteuerromans erstaunlich detaillierte und ausufernde Beschreibungen von Reinigung, Morgentoilette und Kleidungspflege finden. In »King Solomon’s Mines« ist es Captain Good, der zum Inbegriff dieser Reinlichkeit wird: Nach dem Bad in einem Fluss z.B. ist er »actively employed in making a most elaborate toilet. He had washed his gutta-percha collar, thoroughly shaken out his trousers, coat, and waistcoat, and was now folding them up neatly till he was ready to put them on.« (KSM: 109) Quatermain beschreibt ihn auch als »the neatest man I ever had to do with in the wilderness« (KSM: 54). Goods komisch übertriebenes Insistieren auf seinem gepflegten Äußeren bringt die Männer allerdings auch wiederholt in Schwierigkeiten. Es scheint also so etwas wie eine zu zivilisierte Männlichkeit zu geben. Männlichkeit wird hier – im Gegensatz zu Weiblichkeit, die schon immer an das Artifizielle geknüpft ist – wieder mit dem ›Natürlichen‹ in Verbindung gebracht. Während es also auf der einen Seite wichtig ist, sich von den ›Wilden‹ abzusetzen, erscheint die ›effeminierte‹ Männlichkeit des viktorianischen Dandys für einen wahren Helden ebenfalls unangebracht. Dieses Konzept von manliness muss also heteronormativ jeden Verdacht einer ›unangebrachten Weiblichkeit‹ von sich weisen: »›Manliness‹ has almost always been a good quality, the opposite of childishness and sometimes of beastliness, counter not so much to womanliness as to effeminacy.« (Vance 1985: 8) Im Verlauf der Geschichte gelingt es den Helden, die Reichtümer von King Solomons Minen zu finden, ihren Schwarzen Gefolgsmann als den rechtmäßigen König des Königreiches zu installieren und den vermissten Bruder zu finden. Männliche Hegemonie ist auf allen Ebenen gesichert und hinzukommt, dass Umbopa verspricht, in dem afrikanischen Dorf Recht und Ordnung in englischer Manier zu etablieren – etwa indem er den ›barbarischen‹ Opferritualen seiner Vorväter abschwört. Der ›Aberglaube‹ ist überwunden und die christliche Mission von Erfolg gekrönt. Die bedrohte und somit zunächst als krisenhaft gezeichnete Weiße Männlichkeit ist am Ende erfolgreich, die patriarchale Ordnung in ihrer Gültigkeit bestätigt und, so resümiert auch Richard Patteson, »the effort to establish order is perhaps the sine qua non of the imperialist romance« (1978: 118). In Bezug auf Haggards Schreiben spricht Morten Cohen von der Idee des »enlightened imperialism« (Cohen 1960: 76). Das Konzept der Erlösung und damit einhergehend die Vorstellung der Selbstüberwindung ist hier allgegenwärtig. Wendy Katz nennt in diesem Zusammenhang den Helden auch einen »Beauftragten der Erlösung«: »When he is portrayed most dramatically, the hero is an agent of redemption, someone who comes, often from elsewhere, to restore a symbolically barren land; hence his regenerative nature. From the regenerative act emerges the hero as deliverer, a role that not only
102 | E l ahe H aschemi Yek ani accommodates itself to paganism, Judaism, Christianity, or Islam, but comes to confer a religious significance on what are fundamentally secular acts.« (Katz 1987: 71)
Das säkulare Projekt des Imperialismus wird so mit religiöser Bedeutung aufgeladen. Auffallend ist immer wieder die unendliche Überhöhung der Leidensfähigkeit dieser Helden, die gleichzeitig an einen Gestus der Bescheidenheit gekoppelt ist, wie er an der Figur des Allan Quatermain zu beobachten ist. Während seiner Abenteuer betont er immer wieder, dass er ein einfacher Mann sei und seine Heldentaten ganz selbstverständlich und nicht außergewöhnlich seien. Diese Attribute des Understatements sind einer spezifisch englischen Konstruktion von Männlichkeit eingeschrieben, denn nur der Gentleman ist in der Lage, seinen »Durst nach Eroberung« zugunsten von »Gerechtigkeit und Ordnung« zu zügeln. Diese vornehmlich englische Tradition des Imperialismus kommentiert Haggard in seinen nicht-fiktionalen Schriften. An einer Stelle schreibt er: »We Englishmen came to this land […] with ›a high mission of truth and civilization.‹ […] We alone of all the nations in the world appear to be able to control coloured races without the exercise of cruelty. […] It is our mission to conquer and hold in subjection, not from thirst of conquest but for the sake of law, justice and order.« (H.R.H. »The Transvaal« Macmillan’s Magazine, XXXVI (May 1877), S. 71-79 zitiert in Cohen 1960: 64-65)
Hinter diesem Gestus der Erlösung erscheint der imperiale Eroberungswahn als ein gerechtes und moralisch einwandfreies Unterfangen. Wie McClintock ausführt, kann dies als eine »Weißwaschung«, ein »soft-soaping«, des Empires verstanden werden (vgl. McClintock 1995: 207-231). Das englische fair play wird vermeintlich auf das Schlachtfeld des Kolonialismus ausgeweitet und bleibt dabei natürlich immer nur zynische Fiktion, in der Macht- und Gewaltverhältnisse klar verteilt sind. Populäre Männlichkeitskonstruktionen, wie sie in Gestalt von Haggards Helden in Erscheinung treten, waren dabei kein unbedeutender Teil dieser Mission. Auch Patteson weist auf die theologischen Implikationen dieser Männlichkeitserzählungen als Teil der Hegemoniesicherung hin und bezeichnet die imperial romance als »the canonical literary form for the fantasy religion of white male hegemony« (Patteson 1978: 122). Erlösung hat im Kontext dieser Erzählungen jedoch zwei Konnotationen. Zum einen geht es um die bereits erwähnte Erlösung in Form der ›Zivilisierung der Wilden‹, zum anderen kann in den Kolonialromanen aber auch eine Erlösung von der als weiblich und bedrohlich empfundenen Kultur ›zu Hause‹ in England ausgemacht werden. Der hegemoniale Status von Männlichkeit war in einer Zeit, die zusammenfällt etwa mit der Forderung nach dem Wahlrecht für Frauen, in England keineswegs unhinterfragt. Auch antikolonialer Widerstand war insbesondere durch die Rebellionen in Indien 1857 und Jamaika 1865 medial präsent. In den Kolonialromanen schwingt somit auch eine nostalgische, eskapistische Note mit. Patrick Brantlinger spricht in seiner Studie »Rule of Darkness« von einem »mourning
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the loss of adventure, heroism, [and] true nobility« (Brantlinger 1988: 42) und davon, wie: »The vanishing of frontiers, the industrialization of travel and warfare, the diminishing chances for heroism, the disillusionment with civilization and the civilizing mission – these late Victorian and early modern themes point insistently toward another: the decline of Britain’s position as an industrial, military, and imperial power.« (Brantlinger 1988: 43-44)
Der Krisendiskurs imperialistischer Weißer Männlichkeit speist sich meines Erachtens maßgeblich aus diesen sozio-historischen Prozessen. In Haggards eher eskapistischen Abenteuern reüssieren die Helden am Schluss noch immer – sie werden erlöst von den Herausforderungen der Moderne, während sie zugleich zu Überbringern einer erlösenden (christlichen) Zivilisation stilisiert werden. Das heldenhafte Scheitern hingegen, das auch das Konzept der Erlösung radikaler infrage stellt, charakterisiert das Schreiben Joseph Conrads.
Conrad: »Hear t of Darkness« Im Kontrast zu Haggards formelhaftem Stil wird Conrad eher mit stilistischer Innovation in Verbindung gebracht und zudem als einer der Wegbereiter der literarischen Moderne bezeichnet. Auch Conrads Schreiben lässt sich mit dem Krisendiskurs in Verbindung setzen. Seine kolonialen Protagonisten sind jedoch keine strahlenden Erlöser mehr – sie sind gebrochene Helden, die weder vollständig erlöst werden, noch als erlösende Überbringer der Zivilisation gedeutet werden können. Nichtsdestotrotz bleibt der Weiße Mann in seinem Scheitern mit dem eingangs erwähnten Universalitätsanspruch verbunden. Das Scheitern bleibt sein Privileg und kann als integral für die Erlöserkonzeption gedeutet werden. Am Beginn von Conrads berühmtester Novelle »Heart of Darkness« von 1899 berichtet ein unidentifizierter erster Erzähler von einem Treffen mit dem Protagonisten Marlow, der seine Geschichte während der Fahrt auf der Nellie, einem Schiff, das die Themse herunterfährt, erzählt. Marlow bringt das kolonialistische Unterfangen mit Gewalt in Verbindung und bemerkt sardonisch: »The conquest of the earth, which mostly means the taking it away from those who have a different complexion or slightly flatter noses than ourselves, is not a pretty thing when you look into it too much.« (Conrad 2002: 107) Der Kindheitstraum eines ›aufrichtigen Imperialismus‹, der das Leben vieler viktorianischer Männer (auch in Form der populären Abenteuerromane Haggards) beeinflusst hatte, gehört nunmehr der Vergangenheit an. Auch Marlow teilte einst diese jugendliche Begeisterung:
6 | Im Folgenden als HD abgekürzt.
104 | E l ahe H aschemi Yek ani »Now when I was a little chap I had a passion for maps. […] At that time there were many blank spaces on the earth, and […] I would put my finger on it and say, When I grow up I will go there. […] [But it] had got filled since my boyhood with rivers and lakes and names. It had ceased to be a blank space of delightful mystery – a white patch for a boy to dream gloriously over. It had become a place of darkness.« (HD: 108)
Das Paradoxe an dem Wunsch nach Entdeckung ist also, dass dieser immer auch das eigene Ende in sich birgt. Denn zu viel Erforschung zerstört dieses »delightful mystery«, das an die weißen Stellen auf der Landkarte geknüpft ist. Marlow sinniert darüber, wie er Kapitän eines Schiffes in Afrika wurde, um den mysteriösen Mr. Kurtz zu finden, der zuvor den Kontakt zur Handelskompanie abgebrochen hatte. Vor seinem Aufbruch wird Marlow von einem Arzt inspiziert, der ihm folgenden Rat gibt: »›Avoid irritation more than exposure to the sun. […] In the tropics one must before everything keep calm‹.« (HD: 112) Es ist also erneut die Angst vor dem Kontrollverlust, die wie ein Damoklesschwert über der Weißen Männlichkeit schwebt. »Heart of Darkness« kreist um eben diesen Abgrund, der durch die angenommene ›Dunkelheit‹ des afrikanischen Kontinents symbolisiert wird. Dabei spielt Conrad auf die Tradition des Abenteuerromans an; tatsächlich sind seine Helden jedoch grundsätzlicher bedroht, als dies in den konventionellen Texten des Genres der Fall ist. Während sie bei Haggard spielerisch jedes noch so große Hindernis überwinden (was Teil des Lesevergnügens ausmacht), ist bei Conrad das existentielle Scheitern – allen voran durch Kurtz verkörpert – Teil der Erzählung hegemonialer Männlichkeit. Auch in »Heart of Darkness« spielt die bereits beschriebene Darwin’sche Evolutionstheorie (bzw. ihre Rezeption) eine entscheidende Rolle. Marlows Reise kommt einer Reise in eine prähistorische Vergangenheit gleich: »Going up that river was like travelling back to the earliest beginnings of the world.« (HD: 136) Dieses narrative Muster wird in dem Text auf drei Ebenen sichtbar: erstens als temporale Kluft – eine Reise in die Vergangenheit –, zweitens als geographische Reise zum Erdinnersten und drittens im Sinne von Metaphern von Helligkeit und Dunkelheit – eben eine Reise ins voraufklärerische Herz 7 | Für eine ausführliche Genealogie dieses Konzepts vgl. Brantlingers Kapitel »The Genealogy of the Myth of the ›Dark Continent‹« (1988: 173-197). 8 | In ihrem Buch »Joseph Conrad and the Imperial Romance« analysiert Linda Dryden, wie Conrad sich in seinen frühen Malay tales auf die Abenteuertradition bezieht – für die Haggard und Rudyard Kipling wichtige Vertreter waren – und Tropen der romance subvertiert. Auch wenn »Heart of Darkness« nicht im Zentrum ihrer Studie steht, so ist auch dieses Werk durch diese Muster geprägt. 9 | Kenneth Bruffee sieht Conrad als den Wegbereiter eines neuen Genres – der elegiac romance – einer »twentieth-century version of quest romance« (1983: 37), in welcher der Verlust des Heldenideals des 19. Jahrhunderts aufgearbeitet wird, wobei er die Frage nach den damit verbundenen Männlichkeitskonstruktionen nicht ausführlich thematisiert.
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der Dunkelheit. Afrika wird erneut dekontextualisiert und zu einer symbolischen Vorhölle – in der der Weiße Mann mit seiner eigenen ›Unzivilisiertheit‹ konfrontiert wird. In diesem Narrativ hat marginalisierte Männlichkeit, aber auch Weiblichkeit, nur sehr begrenzt Platz, wie der nigerianische Autor Chinua Achebe kritisiert hat. Bereits 1975 moniert er, dass Conrad »[has] set Africa up as a foil to Europe, as a place of negations at once remote and vaguely familiar, in comparison with which Europe’s own state of spiritual grace will be manifest« (1977: 2). Seine Kritik, in der er maßgeblich Conrads persönliche Politik zum Gegenstand macht, hat zu einer langwierigen Debatte geführt, die ich hier nicht weiter ausführen kann.10 Mir geht es, wie auch schon bei Haggard, nicht so sehr um die (personalisierte) Politik eines einzelnen Autors als vielmehr um die Struktur des Diskurses der männlichen Krise in Relation zu Vorstellungen von Erlösung und Privileg. Diese Krisenerzählung bleibt insofern eine privilegierte, als sie den ›Anderen‹ den menschlichen Status kontinuierlich aberkennt. »Heart of Darkness« ist sowohl stilistisch (durch die verschiedenen Erzählebenen) als auch in seiner Haltung zum Imperialismus ambivalent. Daher kann der Text in Brantlingers Formulierung paradoxerweise als »an anti-imperialist novel that is also racist« (Brantlinger 1988: 265) beschrieben werden. Kolonialismus scheint über weite Strecken nur insoweit ein Problem darzustellen, als durch ihn die moralische Integrität des englischen Mannes erschüttert wird – nicht, weil er die Leben von Afrikaner-/innen kostet. Achebe fragt zu Recht: »Can nobody see the preposterous and perverse arrogance in thus reducing Africa to the role of props for the break-up of one petty European mind?« (Achebe 1978: 8) Sich auf eben diese Passage beziehend wendet der Literaturwissenschaftler Cedric Watts ein, dass Achebe Kurtzs repräsentative Signifikanz ignoriere, wenn er ihn als »one petty European« betitelt (vgl. Watts 1983). Mit diesem Hinweis deutet Watts unbeabsichtigt auf einen zentralen Punkt hin. Es ist genau diese universelle Signifikanz, die dem Scheitern Weißer Männlichkeit zugesprochen wird, die den Krisendiskurs zu einem privilegierten macht. War es bei Haggard das Privileg der Männlichkeit, als Erlös(t)er in Erscheinung zu treten, so ist es bei Conrad das Privileg der Männlichkeit, an der Unerfüllbarkeit eben dieses Anspruches zu verzweifeln. Die Krise – und nicht mehr die Erlösung von ihr – wird zum Selbstzweck. Diese Krisenhaftigkeit Weißer Männlichkeit manifestiert sich unter anderem in ihrem Versagen, Differenzen aufrecht zu halten und dem damit verbundenen Kontrollverlust. Marlow kämpft auf seiner Suche nach Kurtz beständig mit dem Gefühl der Isolation und ist immer wieder kurz davor, die Fassung zu verlieren. Auf der Fahrt wird das Schiff vom Ufer aus attackiert. Der inzwischen von Kurtz besessene Marlow befürchtet dessen Tod und in einem Anfall, welcher der Attacke folgt, wirft Marlow einen Schuh über Bord – er scheint einem Nervenzusammenbruch nahe: »I couldn’t have felt more of lonely desolation somehow, had I been robbed of a belief or had missed my destiny in life.« (HD: 151) Dieser Anfall stellt in der Tat Marlows Männlichkeit infrage, denn wie wir 10 | Vgl. Mongia (2001) für eine ausführliche Beschreibung dieser Debatten.
106 | E l ahe H aschemi Yek ani wissen, schildert er diese Geschichte einem männlichen Publikum an Bord der Nellie in London. Doch gerade im Akt des retrospektiven Erzählens stellt sich seine männliche Integrität wieder her und das Wiedererlangen der Kontrolle kann als geradezu heldenhaft erscheinen: »Now I think of it, it is amazing I did not shed tears. I am, on the whole, proud of my fortitude.« (HD: 152) Schlussendlich tritt Marlow Kurtz gegenüber und sein Anblick erfüllt ihn mit Schaudern. »The wilderness had patted him [Kurtz] on the head […]; it had taken him, loved him, embraced him, got into his veins, consumed his flesh, and sealed his soul to its own by the inconceivable ceremonies of some devilish initiation.« (HD: 153)
In dieser Passage wird deutlich, dass Kurtz den Evolutionsvorsprung verloren hat, er ist in eine ›frühere‹ nicht-Weiße, nicht-männliche Phase verfallen. Wenn bisher von ›hegemonialer Männlichkeit‹ und ›marginalisierter Männlichkeit‹ als ihrem Gegenüber die Rede war, dann sind diese nicht als starre dichotome Kategorien zu verstehen. Es ist ja gerade die Gefahr, die Differenz zu verlieren, die einen Teil des Krisendiskurses ausmacht. In diesem Kontext spricht Homi Bhabha von Hybridität.11 Hybridität verweist in seiner Konzeption auf die untrennbare Verwobenheit von Marginalität und Hegemonialität. Als etwas Hybrides wird also nicht die Mischung zweier zuvor als stabil und separat gedachter Entitäten verstanden, sondern die besagte Instabilität der vermeintlich unterscheidbaren Ausgangskategorien. Diese Instabilität, die Bhabha aus marginalisierter Perspektive einen positiven »Dritten Raum« nennt, umreißt aus hegemonialer Sicht eine mögliche Destabilisation der besagten Hegemonie. Ist Hybridität somit in gewisser Weise auch immer mit der Krise der Hegemonie verbunden? Aus marginalisierter Sicht markiert Hybridität quasi einen viel versprechenden Aufstieg, aus der hegemonialen Position eher einen bedrohlichen Abstieg. In diesem Verständnis können also diejenigen Weißen Männer, die Differenz nicht aufrechtzuerhalten vermögen, in ihrem Scheitern als hybrid bezeichnet werden. Kurtz wurde vom Dschungel kontaminiert, was sich sogar körperlich manifestiert. Er hat seine Weiße Überlegenheit verloren und ist zu einem ›Hybrid der Kolonien‹ mutiert. In seiner Beschreibung verwendet Conrad eine sexualisierte Sprache, die suggeriert, dass Kurtz durch die gefährliche Umgebung penetriert und somit – im Sinne heteronormativer Codierungen – feminisiert wurde. Seine Maskulinität ist im Gegensatz zu dem ordentlichen Erscheinungsbild von Captain Good aus Haggards »King Solomon’s Mines« gründlich aus den Fugen geraten. Als Sohn einer halb-englischen Mutter und 11 | Als ein ursprünglich rassistischer Terminus wurde Hybridität von Bhabha aufgegriffen und positiv neu besetzt. Allerdings gab es in den letzten Jahren viel berechtigte Kritik an dem Konzept, die in ihm einen privilegierten Diskurs der Metropolen manifestiert sieht. Ich versuche, den Begriff insofern produktiv zu machen, als dass ich die Hegemonie destabilisierenden Aspekte in den Vordergrund rücke und es mir nicht um »kulturellen Differenzkonsum« von Hybridität geht, den Kien Nghi Ha zu Recht kritisiert (vgl. Ha 2005).
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eines halb-französischen Vaters verkörpert Kurtz das Scheitern Europas im Angesicht des ›Wettlaufs um Afrika‹. Er kann darin als eine mephistophelische Figur gelesen werden, der sich Marlow stellen muss und der er widerstehen muss, um in die Weiße Zivilisation zurückkehren zu können, was ihm schlussendlich gelingt. Er kann im Gegensatz zu Kurtz der drohenden Hybridisierung scheinbar entkommen. Doch auch nach seiner Rückkehr nach England kann Marlow nicht loslassen von diesen Erinnerungen – er wird nicht erlöst. Es gibt also keine vollständige Wiederherstellung der Weißen männlichen Ordnung. Angesiedelt zwischen dem Abenteuerroman des 19. Jahrhunderts und der Ästhetik der literarischen Moderne markiert Conrads Text eine Wende im Schreiben über das Empire. Nichtsdestotrotz unterliegt »Heart of Darkness« auch der Vorstellung einer heroischen Weißen und vor allem universellen Männlichkeit. Brantlinger bezeichnet dies als konservative und nihilistische Tendenz in Conrads Werk: »Conrad’s critique of empire is never strictly anti-imperialist. Instead, in terms that can be construed as both conservative and nihilistic, he mourns the loss of the true faith in modern times, the closing down of frontiers, the narrowing of the possibilities for adventure, the commercialization of the world and of art, the death of chivalry and honor.« (1988: 274)
Was Conrad also als moralisches Menschheitsdilemma konstruiert, kann auch als Manifestation der Krise Weißer Männlichkeit gedeutet werden – eine Krise, die mit ausgelöst wird durch die Gräueltaten eben dieser Männer im Namen des Imperialismus. Der Fokus auf das moralische Scheitern deutet zugleich auf die mit dieser Männlichkeit verbundene Erhabenheit hin. Dieser substantielle Zusammenhang von Scheitern und Erlösung zeigt sich entsprechend im Privileg des Kolonialherrn, in der eigens geschaffenen Position eines gescheiterten unerlösten Erlösers zu verharren.12
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12 | Ich danke meinen Mitherausgeber-/innen Sven Glawion und Jana HusmannKastein sowie Beatrice Michaelis und Kerstin Palm für ihre wichtigen und hilfreichen Hinweise.
108 | E l ahe H aschemi Yek ani Brantlinger, Patrick (1988): Rule of Darkness. British Literature and Imperialism, 1830-1914, Ithaca/London: Cornell University Press. Bruffee, Kenneth A. (1983): Elegiac Romance. Cultural Change and Loss of the Hero in Modern Fiction, Ithaca/London: Cornell University Press. Butler, Judith (1993): Bodies That Matter. On the Discursive Limits of ›Sex‹, New York/London: Routledge. Cohen, Morton (1960): Rider Haggard. His Life and Works, London: Hutchinson. Conrad, Joseph (2002): Heart of Darkness and Other Tales, Oxford/New York: Oxford University Press. Darwin, Charles (1985): The Origin of Species by Means of Natural Selection or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life, London: Penguin. Darwin, Charles (2004): The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex, London: Penguin. Dawson, Graham (1994): Soldier Heroes. British Adventure, Empire and the Imagining of Masculinities, London/New York: Routledge. Dyer, Richard (1997): White, London/New York: Routledge. Erhart, Walter (2001): Familienmänner: Über den literarischen Ursprung moderner Männlichkeit, München: Fink. Erhart, Walter (2005): »Das zweite Geschlecht: ›Männlichkeit‹, interdisziplinär«. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 30/2, S. 156-232. Ha, Kien Nghi (2005): Hype um Hybridität. Kultureller Differenzkonsum und postmoderne Verwertungstechniken im Spätkapitalismus, Bielefeld: transcript. Haggard, Henry Rider (1989): King Solomon’s Mines, Oxford/New York: Oxford University Press. Johnson, Robert (2003): British Imperialism, Basingstoke: Palgrave Macmillan. Kappert, Ines (2002): »Krisendiskurs ›Mann‹. Ermächtigung auf Umwegen«. In: Katharina Baisch/Ortrud Gutjahr et al. (Hg.), Gender Revisited. Subjektund Politikbegriffe in Kultur und Medien, Stuttgart: Metzler, S. 251-267. Katz, Wendy R. (1987): Rider Haggard and the Fiction of Empire. A Critical Study of British Imperial Fiction, Cambridge: Cambridge University Press. Mangan, James A./Walvin, James (Hg.) (1987): Manliness and Morality. Middle-Class Masculinity in Britain and America 1800-1940, Manchester: Manchester University Press. McClintock, Anne (1995): Imperial Leather. Race, Gender and Sexuality in the Colonial Contest, New York/London: Routledge. Mongia, Padmini (2001): »The Rescue: Conrad, Achebe, and the Critics«. In: Conradiana 33/2, S. 153-163. Palm, Kerstin (2006): »Anti-Darwin: Biologischer Lebensbegriff und Männlichkeit um 1900«. Vortrag gehalten auf der Konferenz: »Produktion und
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Dimensionen des Erlösens als konstitutives Moment der (Behinder ten)Pädagogik. Jean Itards Bericht über die Entwicklung Victors von Aveyron Anke L angner In jeder Wissenschaft gibt es ein Selbstverständnis, das mehr oder weniger offen diskutiert wird, sich etabliert hat oder sich implizit durch die Wissenschaft zieht. In dem vorliegenden Beitrag soll anhand einer historischen Quelle nach Dimensionen des Erlösens gefragt werden, die leitend für das Selbstverständnis der Behindertenpädagogik sind, deren Gegenstand die Pädagogik, die Bildung und Erziehung von Menschen mit Behinderung, chronischer Krankheit und anderen pädagogischen ›Abweichungen‹ ist. Über das Selbstverständnis dieser Professionen wird nur begrenzt reflektiert, da ihr ›das Gute zu tun‹ inhärent zu sein scheint. ›Das Gute zu tun‹ ist dabei orientiert an der Annahme, dass Menschen mit Behinderungen leiden und von diesem Leid erlöst werden müssen. Es stellt sich die Frage, warum und wie die Idee des Erlösens es ermöglichte, eine Sonderanthropologie (auf der die Behindertenpädagogik beruht) zu etablieren (vgl. Dederich 2002). Bezogen auf das Feld der Behindertenpädagogik könnte das Erlösen ein konstitutives Element sein, welches zur ›Schöpfung‹ der Behindertenpädagogik beigetragen hat, denn es hat eine pädagogische Theorie und Praxis eingeführt, die über die Kategorie der Bildsamkeit verhandelt 1 | In diesem Artikel steht der Begriff Behindertenpädagogik für Sonder-, Heil- und Rehabilitationspädagogik, dabei beziehe ich mich auf die Hauptströmung der Behindertenpädagogik. Ansätze der 70er Jahre wie vor allem die kritische Behindertenpädagogik (vgl. Jantzen 2000) sind aus der Betrachtung ausgenommen. 2 | ›Bildsamkeit‹ ist ein zentraler Begriff in der Frage nach Grenzen und Möglichkeiten des pädagogischen Denkens und Handelns. Wie der Begriff seit Ende des 18. Jahrhunderts verwendet wird, formuliert er einen universalistischen anthropologischen Anspruch (vgl. Tenorth 2006).
112 | A nke L angner werden. Zudem könnten sich gewaltvolle (offene und verdeckte) pädagogische Methoden über die Idee des Erlösens etabliert haben, die bestimmt sind von der Dichotomie ›Natur‹ versus ›Kultur‹ oder ›Anlage‹ versus ›Umwelt‹. Die Untersuchung der Dimensionen des Erlösens ist demnach für die Professionalisierungsdiskussion innerhalb der (Behinderten)Pädagogik bedeutungsvoll, weil sie nach der Legitimation (behinderten)pädagogischen Handelns und nach Differenzierungspraktiken, die auf der Idee des Erlösen basieren, fragt. Folglich können im Aufspüren des Erlösens u.a. auch die Ursprünge der Diffe renzierung zwischen ›behindert‹ und ›nicht-behindert‹, die immer noch das (behinderten)pädagogische Arbeiten prägen, aufgedeckt werden. Zudem lässt sich fragen, wie Behinderung in Erlösungs-Praktiken als sozio-ökonomisches und kulturelles Phänomen – als welches sie in den Disability Studies verstanden wird (vgl. Weisser 2005) – konstruiert wurde und wird. Den Spuren des Erlösens soll exemplarisch im Entwicklungsbericht von Jean Itard über Victor, das wilde Kind von Aveyron (1801/1806), gefolgt werden. In diesem zeigt sich, dass sich die Wissensproduktion des pädagogischen Handelns nicht nur in philosophischen und anthropologischen Auseinandersetzungen, sondern vor allem in der Praxis bzw. in den Theorien aus der Praxis entwickelt hat. Der Entwicklungsbericht über Victor stellt eine der ersten historischen Quellen dar, in der es um den pädagogischen Umgang mit Abweichungen geht. Er kann also durchaus als erstes Dokument eines pädagogischen Handelns gegenüber ›abweichenden‹ Menschen (Behinderung) betrachtet werden. Durch eine kritische Analyse des Entwicklungsberichts von Itard soll das Aufscheinen der Dimensionen des Erlösens und ihr Einfluss auf die (behinderten)pädagogische Praxis herausgearbeitet werden. Zuvor wird kurz auf die Geschichte Victors und seines Lehrers Jean Itard eingegangen wie auch auf die besondere Situation der Humanwissenschaft, in der die Medizin zu einer Referenzwissenschaft für die Erziehung wird. Vor diesem wissenschaftshistorischen Hintergrund aus lässt sich verstehen, warum sich der Gedanke des Heilens, der Befreiung vom Leid, des Erlösens als zentrales Moment der Behindertenpädagogik ›unbemerkt‹ einschleichen konnte.
3 | Itard verfasste 1801 das erste Gutachten und 1806 (1807 gedruckt) einen Bericht über die Weiterentwicklung des Victor von Aveyron. Zitiert werden sie aus der Veröffentlichung »Die wilden Kinder« (vgl. Itard1974), in der beide unter dem Titel »Gutachten und Bericht über Victor von Aveyron« publiziert wurden. Itard verfasste das Gutachten und den Bericht für den Minister des Inneren, Champagny, d.h. sie stellen eine Dokumentation seiner Erziehungsversuche an Victor dar. Sie sind bedeutsame Quellen für die Erziehungswissenschaften, auf ihnen bauen unterschiedlichste Pädagogen ihre Erziehung auf. Der besondere Stellenwert dieser Quelle wird durch ihre Verfilmung von François Truffaut mit dem Titel »L’enfant sauvage« (1970) [»Der Wolfsjunge«] unterstrichen.
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Victor von Aveyron und Jean Itard Itard war von 1801 an Chefarzt des späteren kaiserlichen Taubstummen-Instituts. Er lehrte in dieser Anstalt die Lautsprache und das Lippen lesen bei Taubstummen, womit er sich gegen die Vermittlung einer Gebärdensprache positionierte. Mit seinen Arbeiten gilt er als Mitbegründer der Gehörlosenpädagogik. Durch seine pädagogische Praxis mit Victor ging er in die Geschichte als erster Pädagoge der Oligophrenie ein, nicht zu letzt weil sich Séguin, der Gründungsvater der Behindertenpädagogik, auf Itard bezieht. Mit ca. elf oder zwölf Jahren wurde Victor auf Geheißen des Ministers Champagny zu Itard gebracht – nachdem Victor zum dritten Mal in den Wäldern von Aveyron eingefangen wurde (vgl. Itard 1974: 107f.). Itard charakterisiert das erste Erscheinungsbild von Victor, der mit ca. vier Jahren ausgesetzt wurde, wie folgt: »Einen Knaben von ekelerregender Schmutzigkeit, von spastischen Krämpfen und Zuckungen geschüttelt, ein Kind, das sich unauf hörlich hin und her wiegte wie manche Zirkustiere, das diejenigen biß und kratzte, die ihn betreuten; das ansonsten allen Dingen gleichgültig gegenüberstand und keiner Sache Aufmerksamkeit schenkte.« (Itard 1974: 118)
Als erster Arzt untersuchte Pinel Victor und kam, wie auch Itard, zu dem Schluss, dass Victors Sinnesfunktionen sich in einem Zustand der »Stumpfheit« befanden und die geistigen Funktionen stark beschränkt waren. »[M]it einem Wort, seine ganze Existenz bestand in einem rein animalischen Leben.« (Itard 1974: 120) Pinel kam – im Gegensatz zu Itard – zu dem Ergebnis, dass es sich bei Victor um einen ›jungen Idioten‹ handelte. Dies implizierte zu dieser Zeit, dass der Junge zu keiner Art von Bildung fähig sei. Itard suchte hingegen in Victors Biographie nach den Ursachen für den Zustand der sogenannten Idiotie. Für ihn war Victor »ein Kind von zehn oder zwölf Monaten [kognitiver Zustand, A.L.], noch dazu ein Kind, das durch jene asozialen Gewohnheiten, eine beharrliche Unaufmerksamkeit, wenig angepaßte Organe und eine durch die Ereignisse abgestumpfte Sensibilität behindert war.« (Itard 1974: 124)
Somit war Victor für Itard ein ›medizinischer Fall‹, der prinzipiell lernfähig war und mit Hilfe der moralischen Medizin, einer Medizin, die sich mit psychischen Störungen auseinandersetzte, behandelt werden musste.
Das medizinische Wissen als Referenz wissen der Er ziehung Die Medizin nahm sich im 19. Jahrhundert Entwicklungsproblemen an, der sich die noch sehr junge Pädagogik noch nicht gewidmet hatte. Durch das Kon-
114 | A nke L angner zept der ›physiologischen Wahrheit‹ und mithilfe diagnostischer Verfahren der Medizin wurde auf diesem Wege ein Differenzierungsprozess in die Pädagogik eingeführt, dessen Ergebnis die ›Schöpfung‹ der Behindertenpädagogik war. Dabei wurde sich in Theorie und Praxis an der Medizin orientiert. Diese Bezugnahme hinterließ Spuren des Erlösens, denn eine Vorstellung der Medizin des 18. Jahrhundert war eine »dogmatische Medizinisierung der Gesellschaft durch eine quasi religiöse Bekehrung und die Einsetzung eines Klerus der Heilkunst« (Foucault 1999a: 49). Die Geschichte Victors bzw. das Agieren von Itard zwischen Pädagogik und Medizin fiel in eine Zeit, in der sich die Medizin als Humanwissenschaft und als Möglichkeit einer neuen »Machttechnologie« etablierte (vgl. Foucault 1999b: 284ff.) – also in eine Zeit, in der sich vor allem die Politik für neue Erkenntnisse über den Menschen interessierte und diese im Sinne der eigenen Machtmanifestation vorantreiben wollte. So war es nicht verwunderlich, dass die Betreuung und das Studium von Victor durch den damaligen Minister Champagny in die Hände von Itard gelegt wurden, der diesem zur Rechenschaft verpflichtet war. Die hervorgehobene Rolle der Medizin als »Lehrmeisterin für die psychischen und moralischen Beziehungen zwischen dem Individuum und seiner Gesellschaft« (Foucault 1999a: 52) gewährte ihr, regulativ auf die Pädagogik zu wirken. Zudem hatte sich Mitte des 18. Jahrhunderts der Blick auf das Erziehungsobjekt verändert: Mit der Aufklärung entsteht ein Konzept von Kindheit, in dem Kinder nicht mehr als kleine Erwachsene erachtet werden. Das aufklärerische Bildungsideal, formuliert von John Locke, ging von einem Menschen aus, der bei seiner Geburt ein leeres Blatt sei. Das Kind war zunächst ein Nichts und erst die Erziehung eröffnete alle weiteren Möglichkeiten (vgl. Koch 1997). Dem folgte Itard, wenn er das Kind als etwas charakterisierte, welches sich noch »nicht über die anderen Lebewesen [erhebt] […]. Alle seine intellektuellen Fähigkeiten liegen in dem engen Kreis seiner körperlichen Bedürfnisse beschlossen. Nur für sie bilden sich seine Geistestätigkeiten aus. Dann muß sich die Erziehung ihrer annehmen und sie für seine Bildung nutzen […].« (Itard 1974: 150)
Alle Fähigkeiten erwuchsen erst aus der Erziehung. Die Mediziner Itard – und vorher Pinel – nahmen sich der ›Wilden‹ an, sie eigneten sich damit notwendigerweise einen pädagogischen Fall an, denn nach Itard musste sich die Pädagogik von der modernen Medizin erleuchten lassen, sie ist für ihn die Wissenschaft, 4 | Die Erziehung ist demnach abhängig von einem Entwicklungsplan. Wenn die sensible Entwicklungsphase für das Erlernen einer bestimmten Fähigkeit vorbei ist, kann diese nur sehr mühsam angeeignet werden. 5 | Es entstanden erste Ideen einer heutigen Sozialisationstheorie – damit verbunden war die Feststellung, dass Kinder kindliche Bedürfnisse (und nicht die von Erwachsenen) haben, dass sie ein Lernumfeld brauchen, welches ihren Fähigkeiten angepasst wird.
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»die von allen Naturwissenschaften am stärksten zur Vervollkommnung der menschlichen Art beitragen kann, da sie die organischen und geistigen Anomalien des Indivi duums beurteilt und von da aus festlegt, was die Erziehung für es zu tun vermag und was die Gesellschaft von ihm erwarten darf.« (Itard 1974: 162)
In Viktors Fall entstand eine Verknüpfung von medizinischem und erzieherischem Einwirken, welche für die spätere Behindertenpädagogik leitend sein wird. Diese Verbindung schien plausibel, denn Viktor war für Itard ›Natur‹ und sein Leben ohne ›Kultur‹ habe seiner Entwicklung geschadet; es habe ihn krank gemacht. Die Doppelrolle als Pädagoge und Mediziner zwang Itard sowohl den Ansprüchen der Naturwissenschaften – also dem Beobachten und Analysieren – und denen der Pädagogik – dem Bewerten und Intervenieren – zu genügen und sie miteinander zu verbinden. Die Pädagogik diente dabei als Experimentierfeld und basierte auf folgender Idee des Mensch-Seins: »Der Mensch, ohne Körperkräfte und ohne eingeborene Ideen auf diesen Erdball geworfen und außerstande, aus eigener Kraft den in ihm angelegten Gesetzen seiner Organisation zu gehorchen, die ihn dazu berufen, im System der Schöpfung den ersten Platz einzunehmen […].« (Itard 1974: 114)
Zugleich eröffnete die Medizin der Pädagogik einen neuen Blick bzw. sie ermöglichte die Transformation des medizinischen/ärztlichen Blicks (vgl. Foucault 1999a) in die Erziehungspraxis. Damit veränderte sich der Blick auf das Erziehungsobjekt als Erkenntnisobjekt und als Objekt der Praxis, indem anthropologische Auseinandersetzungen wie Fragen nach der Mündigkeit zugunsten des Studiums der menschlichen Natur und der Etablierung von Erziehungsund Bildungsmethoden in den Hintergrund gerieten.
Dimensionen des Erlösens Wie bereits eingangs erwähnt, werden im Folgenden drei Lesarten von Dimensionen des Erlösens aus Itards Entwicklungsbericht vorgestellt. Victors Erlösung Das Ziel der Erziehung Itards war die Zivilisierung der Natur, denn Victor musste ihm zufolge unter seinem ›Wildsein‹, seinem ›animalischen Zustand‹ leiden, da er »ein elendes Dasein führt, ohne Intelligenz wie ohne Gemütsbewegungen« (Itard 1974: 161). Der Ausgangspunkt für Itard war seine Diagnostik, welche erst den Raum für ein Erlösen eröffnete. Denn der Befund, dass es sich bei Victor nicht um einen Idioten – wie in Pinels Diagnostik – handelte, ließ ihn tätig werden (vgl. Itard 1974: 174). Dafür diktierte Itard folgende fünf Schwerpunkte für Victors Erziehung, in der dieser von seinem Zustand ›animalischer Wildheit‹ erlöst werden und die ›Zivilisation‹ als sein Heil erkennen sollte: (1) Er sollte für das Leben in der Gemeinschaft gewonnen wer-
116 | A nke L angner den (2) durch die Sensibilisierung »seiner Nerven durch kräftige Stimulantien und zuweilen durch heftige seelische Erschütterungen« (Itard 1974: 124) sowie (3) durch das Aneignen neuer Bedürfnisse, die seine Beziehung zur Umwelt bereichern. Für seine Gesellschaftsfähigkeit sollte er (4) sprechen lernen und sich nicht nur einer »pantomimischen Sprache« (Itard 1974: 148) bedienen, die Victor so gut verstand, wie er sie auch sprach. Diese »Aktionssprache« (Itard 1974: 149) reichte Itard nicht, denn sie stellte für ihn die einfachste Sprache der Menschheit dar. Der Mensch nutzte sie »bevor die Arbeit von Jahrhunderten das System der Sprache ordnete und dem zivilisierten Menschen ein schöpferisches und sublimes Mittel der Vervollkommnung an die Hand gab« (Itard 1974: 149). Zudem war Sprache für ihn ausschlaggebend, um sein fünftes Erziehungsziel verfolgen zu können: die Geistestätigkeit von Victor auszudehnen und damit seine Vervollkommnung zu verwirklichen. So war Itard davon überzeugt, dass auch für Victor die Zeit käme, in der er die Notwendigkeit verspüre, sich der Lautsprache zu bedienen, denn nur mit ihr – so dachte Itard – könnte er komplexere Handlungen ausdrücken. Um diesen Erziehungsplan umzusetzen, bediente sich Itard einer experimentellen Anordnung, die er selbst als pädagogisches Experiment charakterisierte. Durch Isolierung des Zöglings in einem Erziehungslaboratorium sollte ein planvolles und kontrolliertes Handeln möglich werden (vgl. Koch 1997: 48f.). Als Victor bei der Übung zur Anbahnung von Vokalen eine Fröhlichkeit und Ausgelassenheit entwickelte, die ihn nach Itard unkonzentriert machte, sah sich dieser gezwungen, die Emotionen zu unterdrücken, indem er u.a. mit einem Trommelstock auf Victors Finger schlug, wenn dieser sich irrte. Dahinter stand die Idee, dass durch die Angst der Ernst des Lernens vermittelt und der Lernwille gesteigert würde. Es war jedoch auch bekannt, dass Strafen nur bedingt eine förderliche Wirkung hatten; so empfahlen die Philanthropen zu dieser Zeit einen abwägenden Einsatz der Prügelstrafen (vgl. Koch 1997: 48f.). Mit dem Ziel des ›Austreiben des Animalischen‹ (vgl. Itard 1974: 120) orientierte sich Itard nicht nur an Disziplinierungsmaßnahmen, sondern knüpfte in der Wahl seiner Methoden an die Tradition von Philippe Pinel an. Er versuchte, psychisch kranke Menschen vor allem mit körperlichen Behandlungsmethoden zu heilen. Der Zugriff auf den Körper diente auch hier der »Erschütterung der Seele« (Koch 1997: 48f.). So wollte Itard z.B. Victors Wahrnehmung von Temperatur durch heiße Bäder entwickeln. Hinter diesen medizinischen und durch Itard in die pädagogische Praxis transformierten Praktiken stand die Vorstellung, dass durch eine Entkörperung ein Erlösen von dem Leid – bei Pinel von dem psychischen Leid und bei Itard von dem durch die Wildnis hervorgebrachten ›Schwachsinn‹ – erfolgen könnte. Die Idee der Heilung durch Entkörperung wurde die Legitimation für einen totalen Zugriff auf den Körper durch den Arzt und Pädagogen. Itard »verordnete ihm auch täglich ein sehr heißes Bad von zwei oder drei Stunden, bei dem ihm auch häufig der Kopf mit heißem 6 | Dieser Zusammenhang von verbal vorhandener Sprache und Denkfähigkeit, war lange Zeit bestimmend für die Praxis der Behindertenpädagogik.
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Wasser übergossen wurde« (Itard 1974: 129f.). Zugunsten der Befreiung von vermeintlichem Leid wurden pädagogische Praktiken etabliert, die den Körper züchtigen. »[D]ie Gewißheit, die Nacht in einem kalten und feuchten Bett zu verbringen, veranlaßte ihn, aufzustehen, um seine Notdurft zu verrichten.« (Itard 1974: 130) In der Wahl der pädagogischen Praktiken wurde kein Halt vor der körperlichen und seelischen Integrität des Kindes gemacht. Dies folgte der Annahme, dass in dem Zögling kein Bildungsdrang vorhanden sei, sondern dass dieser erst durch Sensibilisierung geweckt werden müsse, notfalls durch Züchtigung. Auf diesem Wege nahm das pädagogische Handeln auch explizit gewaltvolle und unterdrückende Züge im Umgang mit dem ›abweichenden‹ Zögling an. So lag die Prämisse in der Erziehung von ›Schwachsinnigen‹ auf der Vermittlung von Gehorsam, der als bedingendes Element der Bildsamkeit von z.B. Séguin betrachtet wurde. »Der Gehorsam hatte also der Freiheit vorauszugehen, um den ›Idioten‹ aus seinem erbärmlichen Zustand zu befreien.« (Tenorth 2006: 518) Die Ausbildung des Gehorsams versuchte Itard durch das Brechen von Victors Emotionalität zu erreichen. Die Emotionen waren in die Methoden mit eingeplant, im Sinne eines von Hypothesen geleiteten und experimentellen Vorgehens. Nicht immer war sein Vorgehen ein solch gezieltes und vorausschauendes, oft ging er auch nach der Methode von Versuch und Irrtum vor, wie z.B. in der Anwendung der Schockmethode. Ihre Anwendung schien Itard notwendig, da er die Wutanfälle von Victor nicht mehr unter Kontrolle hatte, denn diese wurden, als er nicht mit Hartnäckigkeit auf sie reagierte, immer heftiger und häufiger. Victor verfiel in Krampfanfälle; diese versuchte Itard ihm mit Hilfe des Schockverfahrens auszutreiben. Itard bediente sich dazu der Höhenangst Victors, indem er Victor aus dem Fenster des dritten Stocks heraushielt, kurz bevor es zu einem Anfall kam. Dies hatte auf längere Sicht Erfolg: Victors Wille war gebrochen. Zudem erreichte Itard mit diesem Verfahren, dass Victor das erste Mal weinte. In der Vorstellung über die Zivilisierung und den anzuwendenden Methoden ließ sich Itard von einer Hierarchie der Sinne leiten. So spielte bei der Entwicklung des Menschen das Gehör nach Itard die größte Rolle. Um dieses zu entwickeln, schaltete er andere Sinne von Victor aus, indem er ihm z.B. eine Augenbinde anlegte (vgl. Itard 1974: 167). Es wird deutlich, dass Victor ein geeignetes Objekt war, um eine Zivilisierung – verstanden als das Aufwecken des Bildungsdrangs über eine Sensibilisierung – einzuleiten. Er war nach Itard nicht empfindsam für Wärme und Kälte, er konnte nicht weinen und auch schlecht hören, obwohl er fähig war, das Knacken einer Nuss auf hunderten von Metern zu vernehmen. Weder letzteres noch die Tatsache, dass Victor fähig war, mit Hilfe seines Geruchssinnes einen toten Vogel auf seine Genießbarkeit zu testen, ließen Itard von seiner Hypothese abrücken, dass Victor unterentwickelte Sinne hatte. Itards theoretisches Modell, nach dem Victors Zustand der ›Wild7 | Es handelt sich dabei um ein Verfahren der Psychiatrie zu dieser Zeit, dessen Ziel eine tiefe Erschütterung des Menschen war – verbunden mit physischen und psychischen Folgeerscheinungen (vgl. Koch 1997: 91-94).
118 | A nke L angner heit‹ als naturhaft ein pädagogisches Einwirken in Form einer Sensibilisierung benötigt, ließ Itard blind werden für Victors Fähigkeiten. Jene Kompetenzen, die er sich während seines Lebens in der Natur angeeignet hatte, hätten den Mythos des Pädagogen zerstört, denn allein er war fähig und befähigt, Wissen und Fähigkeiten zu vermitteln. Die hier benannten Fähigkeiten von Victor waren keine, über die Itard verfügte, die er somit auch nicht hätte lehren können. Die Anerkennung dieses Könnens würden auch die Position Itards als Erlöser in Frage stellen, dessen erlösende Wirkungskraft begrenzt war, wie er in seinem zweiten Bericht (fünf Jahre später) konstatieren musste. Erlösen als »männliche Herrschaft« Erlösen als geschlechtlich konnotierte Struktur bzw. Strukturierung weist im Entwicklungsbericht von Itard zwei Dimensionen auf: die des Arrangements des Geschlechterverhältnisses in der Erziehung von Victor und die des Umgangs mit dem Heranwachsen eines jungen Mannes. Zunächst soll der Blick auf das Geschlechterverhältnis der Betreuenden von Victor geworfen werden. In dem Bericht stilisiert sich Itard über seine erzieherische und lehrende Arbeit mit Victor zu dem Erlöser ›des Wilden‹, wohingegen er die Arbeit seiner Haushälterin Madame Guérin nur am Rande benennt. Ihre physische und psychische Pflege von Victor schien ihm unbedeutsam zu sein. Alle Fragen der Bildung waren sein Bereich, nur das Alltagswissen über Erziehung musste er mit Madame teilen. Diese geschlechtliche Trennung war kein Zufall: Itard beschrieb, dass Madame Guérin die entwicklungsnotwendige emotionale Bindung aufbauen musste, denn dies war ›von Natur aus‹ die Aufgabe der Mutter – ihr war es ins Blut gegeben (vgl. Itard 1974: 125). Sie beschritt den »humaneren Weg«, indem sie »mit der ganzen Geduld einer Mutter« (Itard 1974: 125) tätig wurde. D.h. sie ließ Victor seine Gewohnheiten leben und bediente sich dieser auch, um ihn glücklich zu machen – indem sie ihm z.B. sein Lieblingsessen zubereitete und ihm auf Spaziergängen seine Streifzüge in das Unterholz gestattete. So entwickelte Victor zu ihr eine Beziehung wie »ein zärtlicher Sohn« (Itard 1974: 204). Itard hingegen übernahm die Rolle des Vaters, vor dem Victor Reue zeigen musste und mit dem nur bedingt ein Austausch von Gefühlen stattfand. Der Umgang mit dem heranwachsenden jungen Victor scheint paradox. Itard erwähnt in seinen Entwicklungsberichten keine körperliche Veränderung von Victor, die einen Beginn der Pubertät abzeichnen könnte, sondern stellt bei seinem 16 Jahre alten Schüler lediglich eine neue Unruhe fest. Die Annahme einer physiologischen Wahrheit, die die Sinnesfunktionen zeitlich stark be8 | Die männliche Herrschaft als eine paradoxe Unterwerfung ist ein Effekt der symbolischen Gewalt. Eine Form der Gewalt, die für die Opfer unbemerkt, unsichtbar scheint und über rein »symbolische Wege der Kommunikation und des Erkennens« vermittelt wird. Mit ihr verbunden ist ein Prozess der »Verwandlung der Geschichte in Natur, des kulturellen Willkürlichen in Natürliches«, auf einem solchen basiert das Prinzip der Differenz zwischen ›männlich‹ und ›weiblich‹ (vgl. Bourdieu 2005: 8f.).
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grenzt, galt nicht für die Auseinandersetzung mit Sexualität. Sie war vielmehr ein eindeutiges Produkt der Zivilisation, denn die Begierde nach dem anderen Geschlecht entstand erst durch die Erziehung. Dies war für Itard die Erklärung für die Tatsache, dass Victor trotz seines Alters keine Pubertät durchlebte, denn er hielt ihm eine Unterweisung in die Unterschiede zwischen Mann und Frau vor. Itard tabuisierte damit das von ihm wahrgenommene Begehren Victors, weil er befürchten musste, dass Victor sein Bedürfnis öffentlich zu befriedigen suchte (vgl. Itard 1974: 214). Dies spiegelt eine Form der pädagogischen Praxis im Umgang mit Sexualität wider, wie sie auch heute noch in der Behindertenarbeit oft anzutreffen ist (vgl. Walter 2002). Nicht nur das Streben nach diesem subtilen Herrschen ist Teil der behindertenpädagogischen Praxis, sondern vor allem auch die weibliche Konnotierung des professionellen Handelns in der Schule mit dem Förderschwerpunkt ›geistige Entwicklung‹, wie Hack-Zürn (vgl. 1994) zeigt. Trotz ›beruflicher Geschlechtergleichheit‹ sind kaum männliche Pädagogen an Schulen mit dem Schwerpunkt geistige Entwicklung zu finden (im Gegensatz z.B. zum Gymnasium), womit sich bis heute u.a. Itards Vorstellung, die Erziehungsaufgaben geschlechtlich zu differenzieren, widerspiegelt. Darin zeigt sich eine fach- und institutionsspezifische Struktur, in welcher der wissenschaftshistorische ›Ursprung‹ und der die Natur überwindende Logos männlich, die reproduktive Arbeit und der ›Dienst‹ weiblich konnotiert sind. Allerdings kann auch unter dem Deckmantel sich aufopfernder ›weiblicher‹ Fürsorge eine Hegemonie des vermeintlich ›Gesunden‹ und ›Heilen‹ repressiv durchgesetzt werden. Ein Wechselspiel zwischen dem ›Selbsterlöser‹ Itard und dem ›Erlöser‹ Victor Es ist in der Analyse der Aufzeichnungen von Itard kaum trennbar, ob Itard sich über den Versuch der Heilung von Victor selbst erlöst oder ob nicht Victor Itard erlöst. Eine Antwort auf die Frage scheint möglicherweise in der Wahl der Perspektive auf die Geschehnisse zwischen Victor und Itard zu liegen – Erlösung erscheint hier als ein sich bedingendes Wechselspiel. Durch die Annahme des ›Falls‹ Victor kann Itard sich aus seiner Praxis als Taubstummenlehrer und Arzt zurückziehen. Mit Victor hat er ein medizinisches Erkenntnis- und Erziehungsobjekt gewonnen, an dem er angesehene wissenschaftliche Arbeit leisten kann. Auch wenn Itard teilweise gescheitert ist in seiner Erziehung, so hat ihn sein Experiment mit Victor europaweit bekannt gemacht. Auch heute ist sein Text eine klassische historische Quelle der Erziehungswissenschaft. Itard hat sich damit als Überwinder von ›Natur‹ und ›Wildheit‹ und als Stifter von Heil und Heilung in die Wissenschaftsgeschichte eingeschrieben. In seinen Gutachten über Victor findet sich auch das immer noch behinder9 | Itard als Vertreter der Vermittlung von Lautsprache und Lippen lesen, konnte sich aus dem Streit ›Gebärdensprache versus Lautsprache‹, der Mitte des 19. Jahrhunderts zwischen Frankreich und Deutschland entbrannte, über seine pädagogische Praxis mit Victor entziehen.
120 | A nke L angner tenpädagogische Ziel des Rehabilitierens bei Organdysfunktion wieder. Ungeachtet der Gefahr, die Kinder durch Normierungspraktiken zu de-individualisieren und die Integrität der Kinder und Jugendlichen anzutasten, wird rehabilitiert. Dieses vermeintliche Erlösen durch Andere baut auf der Annahme auf, dass unter Behinderung/›Wildsein‹ gelitten wird, und, dass diese eine Minimierung des Lebensgenusses bedeuten. Das eigene Erlösen durch Andere wird als Dienst am Nächsten verschleiert und als ›missionarischer Auftrag‹ legitimiert, dessen Notwendigkeit aus dem Leiden der Anderen entsteht. So wird im behindertenpädagogischen Kontext auch von einer Kultur des Helfens als einem Akt des Ertragen-Könnens von Leid bzw. des »Helfens als des Tuns des nächstliegend Notwendigen« (Speck 1998: 188) gesprochen. Inwiefern durch das Helfen eigene verdeckte Bedürfnisse oder eine Befreiung von Sünde und Schuld – wie es evangelische und katholische Professionalisierungsbegründungen in der Behindertenpädagogik vor allem der 50er Jahre proklamiert haben (vgl. Bleidick 1984: 406ff.) – gestillt werden oder inwiefern mit dieser Form der Professionalisierung des Helfens die Nächstenliebe zu einer Ware wird, kann an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Es bleibt zu vermuten, dass individuelle Motive eine zentrale Rolle spielen und durchaus an einem Selbsterlösen durch Selbstaufopferung orientiert sein können. Festgehalten werden muss, dass sich die Behindertenpädagogik einer Sonderanthropologie bedient, die darauf aufbaut, dass Leid sinnlos ist und sich Wert mindernd auf das Leben auswirkt. Der Ausgangspunkt ist eine Analogisierung von Behinderung mit Leid, deren Anfänge bei Itard zu erahnen sind (vgl. Dederich 2000). Die Behindertenpädagogik konstituiert sich darüber auch als Rückzugsraum bzw. fordert für sich ein, ein gesellschaftlicher Schonraum zu sein, nicht nur für die Zu-Erziehenden, sondern vor allem auch für die Erzieher-/innen. In diesem Sinne war Victor auch ein Erlöser Itards. Über sein pädagogisches Handeln konnte sich Itard zum Teil den Ansprüchen der Zivilisation entziehen und vor allem konnte er bereits Vergessenes wieder genießen, etwa wenn er schildert, mit wie viel Lust er Victor zuschaute, als dieser sich über heftige Gewitter freute.
Spuren des Erlösens in der Behinder tenpädagogik Dieser Artikel zielt nicht darauf ab, Itards Praktiken zu verurteilen, sondern seine Bezugspunkte aufzuzeigen. Diese verbinden – neben einem medizinischen Erklärungsmodell von menschlicher Entwicklung – aufklärerische Ideale (die Erhellung des Menschen aus seinem animalischen Naturzustand) mit christlichen Vorstellungen (die deutlich werden in den pädagogischen Praktiken, die an der Körperüberwindung ausgerichtet sind). In Bezug auf die Geschichte der Behindertenpädagogik können Parallelen gezogen werden zwischen christlichen Werten und Normen und jenen des professionellen Handelns. In der frühen Behindertenpädagogik kann ein säkulares wissenschaftliches Pendant zum Christentum erkannt werden. Durch die Studie von Itard wurde der Raum für eine pädagogische Bewegung geöffnet, die an das Phänomen der Heilbarkeit und Erlösung – in diesem Fall innerweltlich durch Erziehung – glaubte. Sie
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nahm sich Kindern und Jugendlichen mit ›Abweichungen‹ an – vor allem aus Erkenntnisinteresse an der menschlichen Natur. Damit gewährten sie Menschen mit Behinderung gleichzeitig einen ersten Bildungsweg, worin die historischen Ursprünge des Selbstverständnisses der Behindertenpädagogik liegen.10 Itard ging nicht von einer Behinderung der Erziehung oder von einer Behinderung der Pädagogik (vgl. Bleidick 1984) aus, sondern versuchte, Kenntnisse über Phänomene und Symptome zu sammeln und einen Weg zu finden, trotz der »Widerständigkeit der Organe« eine Erziehung anzustreben. Der Blick Itards auf Behinderung war in diesem Sinne zwar ein defizitorientierter, jedoch zugleich ein noch nicht stigmatisierender wie in der Behindertenpädagogik Ende des 20. Jahrhundert üblich. »Die Behinderung ist eine deskriptive, hinzukommende Variable, die den Erziehungsprozeß graduell je nach vorhandenen Bedürfnissen verändert.« (Bleidick 1984: 99) Das Resultat der Behinderung ist eine »Behinderung der Erziehung – als Erschwerung des Lernens und der sozialen Eingliederung« (Bleidick 1984: 101). Diese Konstruktion einer »Behinderung der Erziehung« folgt der Herausbildung der Kategorie der Bildsamkeit als strukturelle und strategische Kategorie (vgl. Tenorth 2006). Der Ursprung dieser Kategorie als praxisrelevantes Kriterium kann jedoch ohne Frage in der Erziehungspraxis Itards gesehen werden. Denn er trägt mit seiner Annahme, dass sich Erziehung über erzieherisches Einwirken (die Umwelt) vollzieht, zu der in der Pädagogik immer noch bestehenden Auffassung über die Determination der Erziehung durch Anlagen versus Umwelt bei. Auch die Annahme einer Determination des Erziehungsobjektes über die Umwelt, wie sie Itard konstruiert, basiert auf der Idee einer Notwendigkeit der Erhebung des Kindes aus seinem animalischen Ursprung. Eine solche verabsolutierende Auffassung, wie aber auch jene der biologischen Vorbestimmtheit (Anlagen), begünstigt eine Kultur des Helfens im Umgang mit Menschen mit Beeinträchtigungen. Im Falle von Victor sollte dessen vermeintliches Leid an seiner ›Wildheit‹ überwunden werden. Für die Behindertenpädagogik ist das übertragbar auf alle Formen von Behinderung und chronischer Krankheit. Dem zugrunde liegt die seit Herausbildung der Humanwissenschaften bestehende Annahme des Gegensatzpaares von Gesundheit und Krankheit, welches Behinderung einschließt. Im 18. Jahrhundert wurde Behinderung als Naturphänomen konstruiert, welches sich inzwischen als sozio-ökonomisch-kulturelles Phänomen in der immer gegenwärtigen Differenzierung zwischen Behinderten und Nichtbehinderten etabliert hat. Vor allem die Kategorie der Bildsamkeit als Unterscheidungsmerkmal zwischen ›normal‹ und ›behindert‹ und ihre damit verbundene Entscheidungsmacht zwischen Inklusion und Exklusion haben diesen Prozess mit genährt (vgl. Dederich 2000). Durch die Vorstellung des Heilens von Behinderung und der daraus folgenden notwendigen Konstituierung einer gesonderten Pädagogik, die sich der Behinderung annimmt, verfestigt sich diese Differenz. 10 | Die Verbundenheit der Behindertenpädagogik in ihrer Entstehung mit der Medizin und der Sozialgeschichte (vgl. dazu auch Dederich 2000) lässt sich an dem Bericht von Itard sehr gut explizieren.
122 | A nke L angner Denn es besteht nicht die Notwendigkeit, Behinderung als gesellschaftliches, kulturelles und sozio-ökonomisches Phänomen anzuerkennen und als Teil dieser Gesellschaft zu akzeptieren. Vielmehr legitimiert die erzeugte Dichotomie von gesund versus krank/behindert eine Ausgrenzung von Menschen mit Behinderung sowie ihre Unterdrückung (vgl. Jantzen 2000; Weisser 2005).
Literatur Bleidick, Ulrich (1984): Pädagogik der Behinderten, Berlin: Carl Marhold. Bourdieu, Pierre (2005): Die männliche Herrschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Dederich, Markus (2000): Behinderung Medizin Ethik, Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Foucault, Michel ([1963] 1999): Die Geburt der Klinik, München: Fischer. Foucault, Michel (2001): In Verteidigung der Gesellschaft, Vorlesungen am College de France (1975-1976), Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Hack-Zürn, Ingeborg (1994): Sonderschullehrerinnen als professionelle Mütter? Die Sonderschule als Bildungsinstitution mit Familiencharakter, Bielefeld: Kleine. Itard, Jean (1974): »Gutachten und Bericht über Victor von Aveyron«. In: Lucien Malson/Jean Itard et al. (Hg.), Die wilden Kinder, 2. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 105-220. Jantzen, Wolfgang (1999): »Aspekte struktureller Gewalt im Leben geistig behinderter Menschen. Versuch, dem Schweigen eine Stimme zu geben«. In: Michael Seidel (Hg.), Gewalt im Leben von Menschen mit geistiger Behinderung Reutlingen: Diakonie, S. 45-65. Jantzen, Wolfgang (2000): »Behinderung und Feld der Macht. Bemerkungen zur Methodologie einer Soziologie der Behinderung«. In: Friedrich Albrecht (Hg.), Perspektiven der Sonderpädagogik. Disziplin- und professionsbezogene Standortbestimmungen, Neuwied: Luchterhand, S. 58-73. Koch, Friedrich (1997): Das Wilde Kind: Die Geschichte einer gescheiterten Dressur, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt. Niedecken, Dietmut (1998): Namenlos – geistig Behinderte verstehen, Berlin: Luchterhand. Speck, Otto (1998): System Heilpädagogik, München: Reinhard. Tenorth, Heinz-Elmar (2006): »Bildsamkeit und Behinderung – Anspruch, Wirksamkeit und Selbstdestruktion einer Idee«. In: Heinz-Elmar Tenorth/ Michael Hüther et al. (Hg.), Erziehung und Bildung heute, Berlin: GDA. Walter, Joachim (1994): »Sexualität und geistige Behinderung. Referat in der Lehranstalt für heilpädagogische Berufe in Götzis.« In: bidok – Volltextbibliothek. In: URL: http://bidok.uibk.ac.at/libary/walter-sexualitaet.html, 08.07.2002, gesehen am: 08.01.2006.
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Weisser, Jan (2005): »Disability Studies und die Sonderpädagogik«. In: Jan Weisser/Cornelia Renggli (Hg.), Disability Studies. Ein Lesebuch, Zürich: SZH Edition, S. 27-30.
Über windung, Aneignung und Vergessen
Die unerlösten Geschlechter Kakaniens. Geschlechterpolitische Utopien in Rober t Musils »Mann ohne Eigenschaf ten« Eva Johach In Kapitel 108 von Robert Musils »Mann ohne Eigenschaften« räsoniert General Stumm über die »unerlösten Nationen Kakaniens« und die neue Konjunktur, die die »Wortgruppe Erlösen« unter seinen Zeitgenossen besitze. Angesichts einer von »seelischer Unfruchtbarkeit« gekennzeichneten Zeit empfänden viele starke Sehnsucht nach einem Erlöser – einem Messias der Medizin, der Dichtung oder einem »Messias der starken Hand für das Ganze« (MoE: 520). Auf diese Sehnsüchte reagieren nicht nur die zahlreichen potenziellen und verhinderten Erlöser(innen)figuren des Romans, sondern auch die Protagonisten der sogenannten »Parallelaktion«, deren Suche nach einer vereinigenden patriotischen ›Idee‹ für die von innerem Zerfall bedrohte k. und k. Monarchie das satirische Zentrum des ersten Buchs bildet. Zum ausfransenden Ende des Romans hin entspinnt sich jedoch eine vorrangig geschlechterpolitische Erlösungsphantasie. Der Protagonist Ulrich tritt nun nicht mehr vorrangig als intellektuell-distanzierter Spötter und Seismograph der gesellschaftlichen Krise auf, sondern muss seine eigenen Erlöserqualitäten unter Beweis stellen. In der utopischen Gemeinschaft mit seiner Schwester gilt es, die Bedingungen für einen »anderen Zustand« zu schaffen, in dem sich erlösende Kräfte für die unbefriedigend und krisenhaft gewordenen Geschlechterverhältnisse entfalten sollen. Schon in den ersten Skizzen zum Roman ist das Thema der Erlösung eng mit dem Motiv der Zwillingsschwester verquickt. Den »Doppelgänger im an1 | Zitiert wird im Folgenden aus Musil (1978). Zitate aus den veröffentlichten Teilen des Romans werden mit »MoE« ausgewiesen, die übrigen Zitate tragen die entsprechende Bandangabe dieser Ausgabe. 2 | Seit 1905 verfasste Musil erste Entwürfe zum Roman, die unter den Titeln »Die doppelte Bekehrung«, »Der Teufel«, »Der Antichrist« sowie »Der Erlöser« firmierten; längere Zeit hielten sich »Der Spion« und »Die Zwillingsschwester«. 1930 erschien der
128 | E va J ohach deren Geschlecht« zu finden, gehöre zu den ältesten und urtümlichsten Wünschen der zweigeschlechtlichen Menschheit (vgl. MoE: 905). Im unvollendeten zweiten Buch des Romans übernimmt dieser Mythos eine tragende Rolle: Aus dem imaginierten Zwilling wird eine mehr oder minder ›reale‹, vergessene oder verlorene, um fünf Jahre jüngere Schwester, der Ulrich beim Tod des Vaters im Haus ihrer Kindheit wieder begegnet. Jede Untersuchung über das Ziel dieses Erlösungsprojekts hat sich jedoch der Tatsache zu stellen, dass es sich bei Musils Roman um ein gigantisches Fragment handelt. In seinen veröffentlichten Teilen umfasst die Beziehung zwischen Ulrich und Agathe einige hundert Seiten Gespräche (vor allem über Liebe, Mystik und Moral), unveröffentlicht blieben etwa tausend Seiten Skizzen, Entwürfe, Varianten, Gedankenbilder und Assoziationen, die sich um die Vorbereitung und mögliche Ausgestaltung der Vereinigung drehen. Obgleich die inzestuöse Anlage der Geschwisterbeziehung klar erkennbar ist, findet der reale Vollzug des Inzests in den veröffentlichten Teilen des Romans nicht statt – ein »Skandal des ausbleibenden Endes« (Gilla 2004: 152), der die Musilforschung intensiv beschäftigt hat. Angesichts dieser Unabgeschlossenheit muss in jedem Fall vermieden werden, der Geschwistergeschichte eine zwingende Teleologie zu unterlegen. Was es im Folgenden zu untersuchen gilt, ist die geschlechtertheoretische Heuristik der Suche nach einem »anderen Zustand«, die an den programmatischen Sehnsüchten des Protagonisten Ulrich dennoch ablesbar ist. In der mythisch unterlegten Zivilisations- und Rationalitätskritik der Zeit um 1900 ist ein starker Zug der Entrückung der ›Geschlechterfrage‹ ins Urzeitliche zu beobachten. Die realen Emanzipationsbestrebungen verleiten offenbar dazu, den anstehenden Transformationen im Verhältnis der Geschlechter epochale Dimensionen zu verleihen. Diffuse Feminisierungswünsche werden zum Ausgangspunkt geschichtsphilosophischer Debatten und zyklischer Kulturtheorien, wonach – wie etwa Bachofen prophezeit – die Wiederkehr mutterrechtlicher Gesellschaftsformen bevorstehe (vgl. Bachofen 1993). Der emphatische Rekurs auf die erlösende Kraft des Weiblichen steht dabei meist in keinerlei Verbindung zu den Forderungen der Frauenbewegung – lässt sich der zeitgenössische Feminismus doch (übrigens auch von Seiten weiblicher Proterste Band unter dem Titel »Der Mann ohne Eigenschaften«, dem 1932 der erste Teil des zweiten Bandes (38 Kapitel) folgte. Auf Drängen seines Verlegers gab Musil 1937/38 weitere 20 Kapitel in Druck, zog diese jedoch vor der Veröffentlichung zurück. Bis zu seinem Tod 1942 arbeitete Musil an Korrekturen und Alternativen zu diesen Druckfahnenkapiteln. Der mehrere tausend Seiten umfassende Nachlass enthält zum Großteil Entwürfe und Skizzen zum Romanprojekt. Vgl. Corino (2003); zur Veröffentlichungsgeschichte außerdem Fanta (2000). 3 | Eine Synopse der Forschungspositionen zur Figur der Agathe findet sich in Zingel (1999: 61). Wie Ulrich ist auch Agathe von den übrigen Figuren durch eine Unbestimmtheit unterschieden, die die Voraussetzung für die ›ekstatischen Versuche‹ darstellt, um die es im Folgenden gehen wird.
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agonistinnen ) als Ergebnis eines verfälschenden, die »weibliche Substanz« gefährdenden Modernismus betrachten, der die Frauen zur Mimikry männlicher Verhaltensweisen gezwungen habe (vgl. Bovenschen 1979: 28). Die Erlösungssehnsucht richtet sich vielmehr auf eine »imaginierte Weiblichkeit« (Bovenschen 1979), die komplettierend auf eine in einseitigen Rationalismus getriebene Männlichkeit bezogen ist. Die Energien, die die Frauenbewegung und die zunehmende weibliche Präsenz im Berufsleben freisetzen, werden gewissermaßen rückwärts ins Mythische umgeleitet (vgl. Fanelli 1999: 163). In der Literatur der Jahrhundertwende, aber auch in zahlreichen Wissenschaften von der Altertumskunde bis zur Psychiatrie, haben Mythen von der ursprünglichen Doppelgeschlechtlichkeit des Menschen Konjunktur (vgl. Schoene 1997). Das Androgyniemotiv verschränkt sich dabei häufig mit dem des Inzests, so dass sich beide in ein erweitertes Verständnis symbolischer Inzestproblematik integrieren lassen. »In der Geschwisterliebe kann sich symbolisch gesehen die Suche nach einem androgynen Zustand, d.h. nach einer Ganzheitserfahrung im innerpsychischen Sinne ausdrücken. Gerade die Scheu, das Inzesttabu zu durchbrechen, wird dann zum Hilfsmittel für eine Bewusstseinserweiterung. Die Schwester repräsentiert für den Mann die ideale Frau, gerade weil ihr Körper tabuisiert ist und sie die ›reine‹ (d.h. körperlose, nicht-sexuelle) Seele, die Jung in seiner Forschung als Anima bezeichnet, repräsentiert.« (Schoene 1997: 14)
Alles in allem lässt sich diese Grundstruktur auch in Musils »Mann ohne Eigenschaften« wieder finden – auch wenn es dem Autor wichtig war, dass Agathe und Ulrich nicht aufgrund eines gesellschaftlichen oder moralischen Tabus auf die sexuelle Vereinigung verzichten. Die »heiligen Gespräche« sind Ausdruck der erwähnten zeittypischen Rückverlagerungen der ›Geschlechterfrage‹ in archetypische Urszenen im Jung’schen Sinne. Anstatt jedoch die zahllosen mystischen und mythischen Quellen des »anderen Zustands« im Einzelnen aufzuschlüsseln (vgl. u.a. 4 | Zur Rezeption Bachofenscher Mutterrechtstheorie durch die völkische Frauenbewegung vgl. Ziege (2002). 5 | Den Geschlechterutopien Musils widmet sich Bovenschen (1990) insbesondere in ihrem Vorwort zur Neuausgabe des Sammelbandes »Die Frau von morgen wie wir sie wünschen« von 1929. 6 | Einen umfassenden Überblick gibt Aurnhammer (1986). Vgl. außerdem Garber (1995: 207-236). 7 | »Sie wollten es beginnen, aber die Gebärden des Fleisches waren ihnen unmöglich geworden, und sie fühlten eine unbeschreibliche Warnung, die mit den Geboten der Sitte nichts zu tun hatte.« (MoE: 1083) 8 | So die Bezeichnung der Kapitel, die sich an die Beerdigung des Vaters anschließen (Kap. 11 »Heilige Gespräche. Beginn« und Kap. 12 »Heilige Gespräche. Wechselvoller Fortgang«).
130 | E va J ohach Fuld 1976; Müller 1983), sollen sich die folgenden Ausführungen auf zwei zusammenhängende Fragekomplexe konzentrieren: Inwiefern zielt der »andere Zustand« auf eine Überwindung bestehender Geschlechtermodelle ab? Worin liegt sein geschlechterpolitisches Potenzial? Soll es um eine Überschreitung, Neumischung oder Synthetisierung eines ›dritten Geschlechts‹ gehen? Und zum zweiten: Wie verhält sich der darin präsente Androgynitätswunsch zu den hegemonialen Konzepten heterosexueller Polarität? Geben die literarischen Experimente Musils Auskunft über das Verhältnis von imaginierter Weiblichkeit und Androgynie? Und schließlich: Welche Perspektiven eröffnet der »andere Zustand« für die Überwindung krisenhafter Männlichkeit? Was an den utopischen Suchbewegungen Ulrichs vorgeführt wird, ist das symbolische Arsenal imaginierter Androgynie. Ausgangspunkt für die Suche nach einem ›anderen‹ Geschlechterverhältnis ist eine sich unvollständig fühlende Männlichkeit, die durch Vereinigung mit ihrer verlorenen (aber prinzipiell wieder findbaren) weiblichen Hälfte einen Zustand ursprünglicher Ganzheit wieder herzustellen sucht. Wie Christina von Braun gezeigt hat, folgt dieses Streben nach Ganzheit dem Muster der »Einverleibung« – wobei diese jedoch gerade als eine Entleiblichung und scheinbare Desexualisierung inszeniert wird. Die unbedingte Reinheit der Geschwisterliebe wird bei Musil mit dem Zustand mystischer »Eigenschaftslosigkeit«10 in Verbindung gebracht, einer Form seelischer Ekstase, die keiner sexuellen Rauschzustände mehr bedarf und es den Geschwistern ermöglichen könnte, ihr gesellschaftlich festgeschriebenes Geschlecht abzustreifen. Die von Schoene erwähnte innerpsychische Vereinigung stellt auch insofern den Kern dieses Verhältnisses dar, als der physische Inzest durch ein endloses Gespräch ersetzt wird – und einiges dafür spricht, dass Agathe der Konstruktion nach aus nichts anderem als den ausgelagerten weiblichen Anteilen Ulrichs besteht.
Agathe und Ulrich: Erlösung in der Geschwisterlichkeit Dass Agathe dem Muster eines imaginären »Doppelgängers im andern Geschlecht« (MoE: 905) entspricht, wird bereits in der ersten Begegnung deutlich. Am Morgen nach der Ankunft im Trauerhaus findet sich Ulrich einem weiblichen Alter Ego gegenüber, das »durch geheime Anordnung des Zufalls« (MoE: 676) in einem ganz ähnlichen Aufzug erscheint wie er selbst: Beide tragen einen gemusterten Pierrotanzug, ein Kleidungsstück also, das die Geschlechterdifferenz optisch weitestgehend nivelliert. Diese prominent eingeführte Symbolik könnte darauf hindeuten, dass es in der hier entworfenen Utopie um eine 9 | Nach Christina von Braun (1989) besteht eine Verbindung zwischen geschlechtlicher und rassistischer Inzestthematik: der ›Entkörperung‹ der Frau zur Schwester (und ihre Einverleibungen ins ›Eigene‹ des Mannes) entspricht die Verkörperung des ›Fremden‹ im Juden. 10 | Siehe zum mystischen Begriff der »Eigenschaftslosigkeit« die noch immer erhellende Studie von Schmidt (1975).
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Überwindung des Geschlechterdualismus geht. Der Erzähler beschreibt den Anblick, den Agathe ihrem Bruder bietet, folgendermaßen: »Sie hatte weder etwas Emanzipiertes, noch etwas Bohemehaftes an sich, obgleich sie da in weiten Hosen saß, in denen sie den unbekannten Bruder empfangen hatte. Eher etwas Hermaphroditisches, so kam ihm jetzt vor; das leichte männliche Kleid ließ in der Bewegung der Gespräche mit der Halbsichtigkeit eines Wasserspiegels die zärtliche Formung ahnen, die sich darunter befand, und zu den frei-unabhängigen Beinen trug sie das schöne Haar frauenhaft aufgesteckt. Das Zentrum dieses zwiespältigem Eindrucks bildete aber noch immer das Gesicht, das den Reiz der Frau in hohem Maße besaß, doch mit irgendeinem Abstrich und Vorbehalt, dessen Wesen er nicht herausbekommen konnte.« (MoE: 686)
Die in Agathe verkörperte imaginierte Weiblichkeit changiert zwischen fremd und vertraut, ihr Körper weicht von dem ihres Bruders in minimalen, geschlechtsbedingten Differenzen ab. Wie eine »traumhafte Veränderung seiner selbst« (MoE: 694) kommt sie ihm vor. Aufgrund einer gewissen geschlechtlichen Unterbestimmtheit entspricht sie glücklicherweise keinem der ihm bekannten und zunehmend unangenehm gewordenen Frauentypen. Für Ulrich bedeutet die Begegnung mit seiner ›verlorenen‹ Schwester zunächst eine Erlösung vom altbekannten Muster bisheriger Liebesaffären. Sein Körper habe den Frauen zwar stets eine »gangbare Männlichkeit« vorgetäuscht, für die Komplexität seiner Person sei darin jedoch zu wenig Platz (vgl. MoE: 876). Die neue Dimension der Geschwisterlichkeit stellt nun in Aussicht, das Muster von Fisch und Angel zu durchbrechen und den Mann vom Zwang zum »Harpunieren« zu befreien.11 Bestandteil von Ulrichs Unbehagen an den gegenwärtigen Geschlechterverhältnissen ist jedoch auch eine zur »Ideologie« erhobene Geschlechterpolarität: »Die Liebe ist ursprünglich ein einfacher Annäherungstrieb und Greifinstinkt. Man hat sie in die zwei Pole Herr und Dame zerlegt, mit irrsinnigen Spannungen, Hemmungen, Zuckungen und Ausartungen, die dazwischen entstanden sind. Wir haben von dieser aufgeschwollenen Ideologie heute genug, die fast schon lächerlich ist wie eine Gastrosophie. Ich bin überzeugt, die meisten würden es gern sehn, wenn diese Verbindung eines Hautreizes mit dem gesamten Menschentum wieder rückgängig gemacht werden könnte, Agathe! Und bald oder später kommt ein Zeitalter schlichter sexueller Kameradschaft herauf, wo Knabe und Mädchen einträchtig-verständnislos vor einem alten Hau11 | Extrem zugespitzt schildert Musil dies anhand einer (späten!) Episode, in der Ulrich wie zwanghaft einer Prostituierten auf der Straße folgen muss. »Ohne zu überlegen, kehrte auch er nach wenigen Schritten um, der Frau zu folgen; es geschah noch ganz mechanisch als Folge der Berührung durch ihren Blick. Er sah ihre Gestalt unter dem Kleid wie einen großen weißen Fisch vor sich, der nahe der Wasseroberfläche ist. Er wünschte sich, ihn männlich zu harpunieren und zappeln sehen zu können, und es lag darin ebensoviel Abneigung wie Verlangen.« (MoE: 877)
132 | E va J ohach fen zerbrochener Triebfedern stehen werden, die früher Mann und Frau gebildet haben!« (MoE: 940)
Noch deute sich zwar, so Ulrich, keine neue Perspektive an; am Horizont scheint jedoch eine Utopie der Geschwisterlichkeit auf, die als Imaginäres in jeder »gewöhnlichen Liebe« (MoE: 908) enthalten sei. Bei aller Betonung des Geschwisterlichen bleibt die Erotisierung des Blicks auf Agathe als Frau jedoch unverkennbar. »›Sie ist mein Freund und stellt mir entzückend eine Frau vor‹«, freut sich Ulrich. »›Welche realistische Verwicklung, daß sie wirklich eine ist!‹« (MoE: 941) Ist die Geschwisterbeziehung, die sich im väterlichen Trauerhaus entspinnt, also nichts als eine erotische Maskerade, die Angleichung und vermeintliche Neutralisierung der Geschlechterdifferenzen lediglich ein frivoles Spiel mit dem Tabu des Inzests? Einen entsprechenden Verdacht formuliert auch Agathe: »›Vielleicht macht es dir nur Spaß […], Bruder und Schwester zu spielen, weil du vom Mann und Frau Spielen übergenug hast?!‹ ›Auch‹, sagte Ulrich und sah ihr zu.« (MoE: 940) Nicht nur die schier endlosen Gespräche, die den Fortgang der Begegnung bestimmen – und so den physischen Vollzug des Inzests buchstäblich verdrängen –, sondern auch die Überschrift des zweiten Buches deuten darauf hin, dass es um weit mehr geht. Folgt man dem Titel, dann hängt vom Gelingen dieser »letzten Liebesgeschichte, die überhaupt möglich ist« (MoE: 1094), nicht weniger ab als das Eintreffen des Tausendjährigen Reiches.12 Als Auserwählte könnten die Geschwister durch eine ›stellvertretende‹ Vereinigung zugleich die Erlösung der gesamten Menschheit herbeiführen – allerdings, wie der Untertitel andeutet, über den Weg des Verbrechens. Der Topos vom tausendjährigen Reich der Liebe wird hier weniger im Sinne einer religiösen als einer geschlechterpolitischen Heilserwartung aufgegriffen: als Anbruch eines Zeitalters, worin die Menschen von den Zwängen gegenwärtiger Geschlechterverhältnisse befreit wären. Den Schlüssel zu dieser schier gigantischen Erlösungsvorstellung bildet eine neo-gnostische Inzestphantasie, wonach durch Wiederholung des Sündenfalls eine Rückkehr ins Paradies erreichbar wäre. Diese Vorstellung war Anfang des 19. Jahrhunderts durch den romantischen Natur- und Religionsphilosophen Franz von Baader in Umlauf gebracht worden, der den biblischen Sündenfall mit dem Verlust der ursprünglichen Androgynie Adams in Verbindung brachte und sich dabei auf den christlichen Mystiker Jakob Böhme berief (vgl. Baader 1829). Mit den Erlösungssehnsüchten der Jahrhundertwende stimmte dieses 12 | Der Topos des Tausendjährigen Reichs entstammt der christlichen Offenbarung (vgl. Off b 20,2.6). In Musils Roman nimmt das Motiv die Gestalt einer säkularisierten Heilserwartung an: die Vereinigung der Geschwister könnte eine »Kraft« freisetzen, die zugleich die Menschheit zur »ekstatischen Sozietät« hinführt. »›Vielleicht‹«, so fragt sich Ulrich an einer Stelle, »›ist der Inhalt des Tausendjährigen Reichs nichts als das Anschwellen dieser Kraft, die sich anfänglich nur zu zweien zeigt, bis zu einer brausenden Gemeinschaft aller…?‹« (MoE: 876)
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neo-gnostische Heilsversprechen offenbar gut zusammen – erhält das Inzestmotiv hier doch jenes überdimensionale Erlösungspotenzial, das eine Kehrtwende in der Menschheitsgeschichte mit einer Lösungsperspektive für die Krise des hegemonialen männlichen Subjekts verbindet. In Musils Geschwisterprojekt wird dieses Heilsversprechen mit dem Anspruch verknüpft, sich durch ein Höchstmaß an »Geist« von den inflationierten neo-mystischen Einheitssehnsüchten seiner Zeit abzuheben. Der anvisierte »andere Zustand« muss immer umfassenderen Vorbereitungen und theoretisch-experimentellen Prüfungen unterzogen werden. Zahllose Versuche, sich dem Eingang ins Paradies zu nähern, enden in Enttäuschung und Erbrechen. »Ich war doch kein Narr, als ich das Paradies suchen wollte«, fragt sich Ulrich in einem der Entwürfe. »Ich konnte ihn bestimmen, wie man einen unsichtbaren Planeten aus bestimmten Wirkungen erschließt. Und was ist geschehn? Es hat sich in eine seelisch-optische Täuschung aufgelöst und in einen wiederholbaren physiologischen Mechanismus. Wie bei allen Menschen!« (Musil 1978, Bd. 5: 1674)
In der Wiederholbarkeit des »anderen Zustands« würde sich erweisen, dass die Geschwister nicht die Auserwählten sind. Dass der Inzest nicht körperlich vollzogen wird, verdankt sich damit weit eher der Tatsache, dass Musil das hier durchgespielte Erlösungsprojekt schier zu ernst genommen hat, als dass der (in der Literatur ohnehin vielfach präsente) Tabubruch eine Lösung hätte sein können. Um der menschheitsgeschichtlichen Tragweite des Projekts gerecht zu werden, bleibt als ›geschlechterpolitische‹ Aufgabe nur die Sublimation. »Die Frucht bleibt am Ast, ob man sie gleich schon im Mund meint: das ist wohl das Geheimnis der taghellen Mystik.« (MoE: 1089)
Einheit, Zweiheit, Dreiheit. Gender mapping des »anderen Zustands« Die Frage wäre nun, welche erotischen Möglichkeiten sich aus diesem Wechselspiel von Geschlechtlichkeit, Sublimation und Geschwisterlichkeit ergeben. »Weißt du, dass wir in das Tausendjährige Reich einziehen?«, gibt Ulrich zur Antwort, als ihm Agathe für das künftige gemeinsame Zusammenwohnen erotische Freizügigkeit in Aussicht stellt: »in Liebesdingen bleibt natürlich jeder frei. Du wenigstens bist unbehindert!« (MoE: 801) Wie sich hier andeutet, sind erotische Dreiecke konstitutiver Bestandteil von Musils Geschlechterutopie. Einige Entwürfe zum »anderen Zustand« deuten die Möglichkeit einer Auflösung der bestehenden Geschlechterpolarität im Modus der Geschwisterlichkeit an. So heißt es in einer Skizze von 1928: »Es ist ein Zustand voll ungeheurer Macht des Inneren, die ganz mit der Macht der Welt in einem lieget. Aber Herr dieses Zustands werden zu wollen, kam U. jetzt oft ganz lä-
134 | E va J ohach cherlich vor. – Ich bin ja seine Frau geworden – sagte er sich – Wir sind 3 Schwestern, Ag. ich u[nd] dieser Zustand.« (Musil 1978, Bd. 5: 1523)
Musil entwirft hier ein erotisches Dreieck, dessen Eckpunkte durch das Ich, die Schwester und die Welt markiert sind. Da der Modus der Liebe als »schwesterlich« bestimmt wird, macht das Beziehungsgefüge auch eine Verweiblichung Ulrichs denkbar. Für ihn schließt sich an das Szenario die Frage an, wie er in jenem Zustand seine Schwester lieben müsste: »[S]etzen wir den Fall, Ag. würde vor der Männerliebe Abscheu empfinden. So müßte ich mich doch, wenn ich ihr als Mann gefallen wollte, wie eine Frau benehmen. Ich müßte zärtlich zu ihr sein, ohne sie zu begehren. Ich müßte ebenso gut zu allen Dingen sein, um ihre Liebe nicht zu erschrecken. Ich dürfte nicht einen Stuhl fühllos auf heben, um ihn an eine andere Stelle eines nervenlosen Wesens Raum zu bringen. […] Ich habe gesagt, wir sind Schwestern. Du hast nichts dagegen, daß ich die Welt liebe, aber ich muß sie lieben wie eine Schwester, nicht wie einen [sic!] Mann, oder wie ein Mann eine Frau. […] Nur wie ein Künstler darf ich die Erde nicht betrachten oder wie ein Forscher: da mache ich sie mir zu eigen, u[nd] wir bilden ein Paar, das dich als dritten ausschließt.« (Musil 1978, Bd. 5: 1524)
Der Liebesmodus der Schwesterlichkeit soll die Schließung zum Paar verhindern und ein freies Zirkulieren erotischer Energien zwischen den drei Polen ermöglichen. Auf diese Weise wird zugleich ein utopisches Begehren freigesetzt, das gesellschaftlich festgeschriebene Geschlechterrollen unterläuft: Als »Frau« kann Ulrich in seinem Gedankenexperiment »die Welt« nicht nur als Schwester lieben, sondern auch als »einen Mann«. Noch komplizierter wird die Begehrensstruktur des anderen Zustands dadurch, dass Agathe hier versuchsweise homosexuell konnotiert wird. Dadurch entsteht zwar Raum für ein potenziell gleichgeschlechtliches Begehren, jedoch setzt sich Ulrich – indem er Agathe weiterhin »als Mann« gefallen will – sogleich an die Stelle eines möglichen homosexuellen Gegenübers. Der »andere Zustand« scheint seinen Reiz gerade daraus zu gewinnen, dass dem Spiel erotischer Überschreitung erneut eine heterosexuelle Begehrensstruktur unterlegt wird. Die implizierten gleichgeschlechtlichen Möglichkeiten werden damit allenfalls in vermittelter Weise zugelassen. Ein solcher ›Umweg‹ wird dadurch notwendig, dass beide bereits zu Beginn ihrer Begegnung jegliche homosexuelle »Neigung« vehement von sich weisen. Mit Blick auf zeitgenössische psychiatrische Diskurse konstatiert Ulrich: »Man hat das natürlich schon diagnostiziert. […] Inzestuöse Neigung, ebenso früh in der Kindheit nachweisbar wie unsoziale Anlage und Proteststellung zum Leben. Vielleicht sogar nicht genügend gefestigte Eingeschlechtlichkeit, obwohl ich – ›Ich auch nicht!‹ warf Agathe ein und lachte nun wieder, wenn auch eigentlich nicht mit Willen. ›Ich mag Frauen gar nicht!‹« (MoE: 944)
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Das geschwisterliche Projekt wird so von einer im medizinischen Sinne pathologischen Grundlage freigesprochen. Es wird nicht nur gegen jegliche bi- oder homosexuelle Motivierung abgeschlossen, sondern muss zugleich auch eine Alternative zum herkömmlichen heterosexuellen Beziehungsmuster bieten, denn »unter Gleichen möge man sich nicht ausstehen, und in der geschlechterweisen Verkreuzung liebe man sich mit einer wachsenden Auflehnung gegen die Überschätzung dieses Zwangs« (MoE: 877). Im Verlauf der Gespräche und Gedankengänge werden zahlreiche Bilder überwundener Fremdheit entwickelt, die sich an der Grenze zur Verschmelzung bewegen. Die Utopie, »bis ins letzte eins zu sein und zu zweien mit einer Seele zu leben« (Musil 1978, Bd. 5: 1347), wird in unzähligen Varianten durchgespielt und auf ihre physiologischen und psychologischen Bedingungen hin befragt. Eines dieser Modelle liefern etwa die synchronisierten Bewegungen zweier Goldfische in einem Glas. Auch wenn jeder von ihnen »unselbständiger Teil [einer] gemeinsam auf und ab steigenden Bewegung« sei – »Für einander werden sie vorerst jedenfalls zwei sein; dafür sorgen schon der Futterneid und das Geschlecht.« (Musil 1978, Bd. 5: 1346) Indem die Goldfische wie selbstverständlich heterosexuell vergeschlechtlicht werden, koppelt sich die notwendige Differenz, die den »anderen Zustand« von der Verschmelzung unterscheidet, an die Voraussetzung von Geschlechterpolarität. Ulrichs Utopie einer Erlösung von der Zweigeschlechtlichkeit zeigt sich damit in sich selbst wieder nach dem Modell einer nur heterosexuell denkbaren Polarität gestaltet. In einem anderen Gedankenexperiment stellt sich Ulrich vor, »wie es wäre, mit einem andern Menschen wirklich zusammengewachsen zu sein« (MoE: 909). »Er war wenig davon unterrichtet, wie solche zwei Nervensysteme arbeiten, die wie zwei Blätter an einem Stiel sitzen und nicht nur durch ihr Blut, sondern mehr noch durch die Wirkung der völligen Abhängigkeit miteinander verbunden sind. Er nahm an, daß jede Erregung der einen Seele von der anderen mitgefühlt werde, während sich der hervorgerufene Vorgang an einem Körper vollziehe, der in der Hauptsache nicht der eigene sei. […] ›Was geht es dich an, wen deine Schwester küßt? Aber ihre Erregung, die mußt du mit ihr lieben! Oder du bist es, der liebt, und nun mußt du sie irgendwie daran beteiligen, du kannst doch nicht bloß sinnlose physiologische Vorgänge in sie werfen…!?‹ Ulrich fühlte einen starken Reiz und ein großes Unbehagen von diesen Gedanken; es kam ihm schwer vor, hier die Grenze zwischen neuen Ansichten und Verzerrung der gewöhnlichen richtig zu ziehen.« (MoE: 909)
Offenbar ist sich Ulrich also bewusst, dass sich seine utopischen Entwürfe mitunter allzu nah an trivialen erotischen Phantasien bewegen, bei denen ein Dritter als »Regulator der Sinnlichkeit zweier Liebenden wirkt« (Musil 1978, Bd. 8: 987). Darüber hinaus jedoch wird hier endgültig klar, dass zwischen den Polen seiner Dreiecke auch homoerotisches Begehren fließt. An der Vorstellung ›Siamesischer Zwillinge‹ reizt Ulrich der Gedanke, durch die körperliche Verwachsenheit die Lust seiner Schwester mit einem anderen Mann zu teilen (MoE: 909). Für Ulrich ergibt sich somit die Möglichkeit, indirekt in den Genuss ho-
136 | E va J ohach moerotischer Begehrensströme zu kommen. Das verdrängte homoerotische Begehren nimmt den Weg durch den Körper der Schwester. Die Entwürfe zum »anderen Zustand« fügen sich damit in eine Grundstruktur ein, die Eve Kosofsky Sedgwick (1985) in ihrer Theorie erotischer Dreiecke herausgearbeitet hat: Durch die Triangulierung des Begehrens stellt sich, vermittelt über die Frau, eine Verbindung zwischen den männlichen Polen des Dreiecks her, die sie als »homosocial bond« bezeichnet. Aus dieser für den modernen westlichen Liebesdiskurs typischen Struktur leitet sie die These ab, dass es gerade das ausgeschlossene homosexuelle Begehren ist, das zur Konstitution heterosexueller Beziehungen unter patriarchalen Bedingungen beiträgt (Sedgwick 1985: 25). Unter der Maßgabe, dass das Projekt weder auf Seiten Ulrichs noch Agathes durch homosexuelle »Neigungen« motiviert wird (vgl. MoE: 944, 899; Musil 1978, Bd. 5: 1430), fließt hier ›offiziell‹ ausschließlich heterosexuelles Begehren. Die nachdrückliche Einführung von imaginären, stets jedoch männlichen13 »Dritten« deutet jedoch darauf hin, dass diesen eine über die Szenarien mystischer Schwesterlichkeit hinausreichende Funktion zukommt. Ulrich beansprucht offenbar keine ›zweite Frau‹ neben Agathe, obwohl ihm das von seiner Schwester sogar explizit zugestanden wird (vgl. MoE: 801). Die imaginäre Stimulation durch einen männlichen Dritten geht dagegen mitunter so weit, dass Ulrich für Agathe Prostitutionsphantasien entwickelt.14 Musils erotische Dreiecke folgen dem Schema eines »traffic in women« (Rubin 1975; Girard 1990), worin Agathe als Durchgangspunkt eines zweifachen männlichen Begehrens fungiert. Unterscheiden lassen sich dabei ein mystisches und ein (homo-)soziales Dreieck, die Ulrich eine doppelte Weise der Komplettierung ermöglichen: im einen zirkuliert »schwesterliches«, im anderen homosexuelles Begehren, die sich über Agathe vermitteln und an der Position Ulrichs 13 | In einem der Entwürfe findet sich zwar auch ein umgekehrtes Experiment, dieses scheitert jedoch sogleich. »›Kannst du dir denken, daß du einen Geliebten mit einer anderen Frau gemeinsam hättest?‹ fragte Ulrich. ›Ich kann es mir denken‹ behauptete Agathe. ›Ich kann es mir sogar sehr schön denken! Ich kann mir bloß die Frau dazu nicht denken.‹« (Musil 1978, Bd. 5: 1430) Der Grund liegt in ihrer mehrfach betonten »Abneigung gegen Frauen«, wodurch die Möglichkeit einer weiblichen »Dritten« für das Projekt ausgeschlossen wird. 14 | In einer der zahllosen Studien, in denen es um das Scheitern der Erlösungsperspektive körperlicher Vereinigung geht, versucht Anders (der später Ulrich heißt) seiner Schwester Agathe einen Geliebten aufzudrängen und imaginiert sie dabei zugleich als Prostituierte: Tage würden kommen, »als ob du in einem Bordell auf das Knarren der Treppen warten würdest: wird es ein Feldwebel oder ein Bankbeamter sein. Den dir das Schicksal schicke, um dein Leben in Bewegung zu halten. Und doch meine Schwester bleibst. […] Aber sind wir nicht mehr ein Mensch?? fragte sie traurig. – Auch der einige Mensch hat beides in sich. – Aber wenn ich dich liebe?! – schrie Ag[athe] auf. – Wir müssen leben. Ohne einander – für einander. Willst du den Kunsthistoriker?« (Musil 1978, Bd. 5: 1674)
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zusammenfließen. Zwar ist es Musil um die Bewahrung heterosexueller Polarität als Motor der Zirkulation zu tun; die Anlage seiner Dreiecke macht jedoch deutlich, dass ein bisexuelles Begehren an der Position Ulrichs die Schnittstelle bildet. Dem imaginären erotischen Dreieck liegt das Strukturprinzip der Bisexualität zugrunde (vgl. Garber 1995: 428). Ulrichs mystisch-erotische Gedankenexperimente basieren – auch und gerade wenn sie mit Ansätzen einer Verweiblichung einhergehen – keineswegs auf feministischen Beweggründen, worauf Agathe nachdrücklich hinweist (vgl. MoE: 727, 899). Was hier exemplarisch an Ulrich durchgespielt wird, sind Versuche zur Erlösung krisenhafter Männlichkeit, die zugleich unter dem Vorzeichen einer möglichen Erlösung der Menschheit stehen. Der aus den utopischen Versuchen potenziell hervorgehende ›Erlöser‹ steht weiterhin inmitten einer heterosexuellen Matrix, hat diese jedoch in dreierlei Hinsicht erweitert: Die (sublimierte) Erotik der Geschwisterbeziehung fungiert als heterosexuelle Spannungsquelle; der Modus mystischer »Schwesterlichkeit« ermöglicht den Zugewinn verschollener weiblicher Anteile; der männliche Dritte als Geliebter der Schwester schließlich sorgt für einen Zugewinn homosexuellen Begehrens. Erreichbar wird so die Stabilisierung einer Männlichkeit, die mit Hilfe eines Programms imaginierter Androgynie den höchstmöglichen Grad an Vollständigkeit realisieren kann.
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Dichter_in in der Psychiatrie oder Messianismus in der Moderne. Ver textung der (Trans-)Männlichkeit bei Piotr Odmieniec Włast (»Maria Komornicka«) K arolina K rasuska »Du, armes Polen! Noch niemand hat dich bis jetzt geliebt.« (Włast: 120) In solchen plakativen Versen, aber auch mit subtileren Mitteln, nimmt die fast 500seitige unpublizierte Gedichtssammlung »W Grabowie podczas wojny. Księga poezji idyllicznej« [»In Grabów während des Krieges. Buch der idyllischen Poesie«] von Piotr Odmieniec Włast, ehemals Maria Komornicka, die Thematik des Nationalen auf. Damit schreibt sich der/die Autor_in in die (romantische) Tradition der polnischen Literatur ein, die im Fokussieren auf das Nationale messianische Motive erschafft und das Schicksal des von Österreich, Preußen und Russland geteilten Polens mit der Leidensgeschichte Christi gleichstellt. Angesichts der verbreiteten literaturwissenschaftlichen Perspektive, welche die polnische Literatur als eine nationale Allegorie oder ein Dokument des verein-
1 | Alle polnischen Zitate in eigener Übersetzung; Seitenzahl nach dem Manuskript. Die einzelnen Passagen des Manuskripts sind nicht näher datiert, die folgenden Zitate enthalten daher keine Jahresangaben. 2 | Das ›Nationale‹ hat Florian Smutny als die deutsche Übersetzung von nationness und nationhood vorgeschlagen, damit die Konstruiertheit der ›Nation‹ hervorgehoben wird (vgl. 2004). 3 | Diese Schreibweise folgt Steffen Kitty Herrmanns Vorschlag: »Der _ markiert einen Platz, den unsere Sprache nicht zulässt. Er repräsentiert all diejenigen, die entweder von einer zweigeschlechtlichen Ordnung ausgeschlossen werden oder aber nicht Teil von ihr sein wollen. Mit Hilfe des _ sollen all jene Subjekte wieder in die Sprache eingeschrieben werden, die gewaltsam von ihr verleugnet werden.« (2005: 64, Fn. 19)
140 | K arolina K rasusk a heitlichten ›Polentums‹ betrachtet, scheint diese Behauptung unspektakulär – bis der kritische Blick auf die Gender-Aspekte in diesem Text gerichtet wird.
Abbildung 1: Titelseite des Manuskripts »W Grabowie podczas wojny. Księga poezji idyllicznej« von Piotr Odmieniec Włast, Mikrofilm, Muzeum Literatury, Warszawa. 1907 verbrannte Maria Komornicka, eine um die Jahrhundertwende bekannte Schriftstellerin, ihre feminine Kleidung und nahm eine männliche Identität an. Sie/Er nannte sich nun nach einem ihrer/seiner Vorfahren – einem bedeutenden Comtes im Mittelalter, den eine Legende von königlicher dänischer Herkunft umgibt (vgl. Boniecki 1996) – Piotr Włast. Dabei markierte der Beiname »Odmieniec« (»der Andere«), den sie/er sich zusätzlich gab, in vielfacher Hinsicht ihre/seine Differenz. Kurz nach diesen Ereignissen wurde Komornicka/ Włast von den Verwandten in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen. Trotz zahlreicher Versuche, die in der Korrespondenz dokumentiert sind, durfte sie/ er erst zu Kriegsausbruch zum Familiensitz in Grabów zurückkehren. 19171927 schrieb sie/er die Gedichte, die im sorgfältig kalligraphisch abgefassten Manuskript »W Grabowie podczas wojny« zu finden sind. Auf der Titelseite des Manuskripts wird die frühere (Autorinnen-)Identität, 4 | Für die Formulierung des Zusammenhanges zwischen Literatur und dem Nationalen vgl. Chow (2000). 5 | Mit dem Namen Komornicka/Włast möchte ich die Geschlechterdifferenz im Verlauf der Biographie und der Autorschaft kennzeichnen. ›Komornicka‹ bzw. ›Włast‹ verwende ich aus heuristischen Gründen, wenn auf eine der ›Phasen‹ des Werkes hingewiesen werden soll.
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Maria Komornicka, in Anführungszeichen und Klammern gesetzt. Der GenderWechsel der Autorschaft von Komornicka zu Włast bleibt somit kenntlich. Der Text lässt sich als ein Versuch deuten, männliche Transgender-Autorschaft zu inszenieren, indem eine messianische Erzählung eingesetzt wird. Darüber hinaus wird die Gedichtsammlung zur Vertextung einer (trans-)männlichen (lyrischen) Subjektivität. Dies zeigt sich offensichtlich in dem Entwurf eines durchgehend grammatikalisch maskulinen lyrischen ›Ichs‹ und der gleichzeitigen Hervorhebung von dessen weiblicher ›Gender-Vorgeschichte‹. Die metapoetischen Elemente – Stilisierung des ›Ichs‹ als Dichter – und zahlreiche biographische Verweise in Gedichten verbinden die beiden Ebenen. Das ›Ich‹ bleibt aber ein Entwurf der/des Autors_in, an dem vor allem die spezifischen (diskursiven) Mechanismen der Gender-, bzw. Männlichkeitsinszenierung deutlich werden. Wenn hegemoniale naturalisierte und stabilisierte Gender-Modelle einerseits als zwangsläufige Garanten des Nationalen erscheinen und andererseits selbst stets durch die Figuren inszeniert werden, die emblematisch für das Nationale stehen, wirft ein Text, in dem es um Transgender-Performanz geht, neue Fragen über die gegenderte (messianische) nationale Erzählung auf. Wie werden die Interdependenzen von nationaler Identität, Gender und Religion in diesem polnischen poetischen Text der Moderne von Transgender-Elementen auf der Ebene der Autorschaft sowie auf der Ebene des lyrischen ›Ichs‹ durchkreuzt, bewegt und geprägt?
»Fünf Wunden Christi«: Gender-Logik des Messianismus Der Begriff ›polnischer Messianismus‹ wurde im Verlauf seiner Geschichte komplex besetzt und in verschiedenen Texten (re)konstituiert. Als ein Kon- strukt, das die Auserwähltheit und eine besondere Mission der Nation postuliert, hat der polnische Messianismus zahlreiche Parallelen in anderen Nationalismen. Man kann den Messianismus als eine textuelle Konfiguration betrachten, als eine Art Erzählung oder ein Phantasma, das – um mit Maria Janion zu sprechen – im kollektiven Imaginären haftet und dieses gestaltet (vgl. Janion 1991). Die beiden Ebenen bleiben dabei in einer notwendigen Beziehung zueinander. 6 | Zur ideologischen Funktion der Literatur in der Produktion der Subjektivität vgl. Macherey/Balibar (1981); zu subversiven Möglichkeiten der Lyrik vgl. Adorno (1991). Den Hintergrund meiner Überlegungen bildet Butler (1997; 2005). 7 | Vgl. Sikora (1967); Walicki (1970; 2006); zu messianischen Motiven in der Moderne vgl. Ratajska (1998). 8 | Zu Analogien zum slawischen Messianismus aber auch zum messianischen Gedanken in Westeuropa vgl. Walicki (2006); generell zur Auserwähltheit der Nation vgl. Smith (1992). Nach heutigem Forschungsstand wurde der romantische Messianismus kulturell gedacht (vgl. Fn. 7). Mir geht es jedoch vor allem darum, den biologistischen Elementen bei Komornicka nachzuspüren, die auf ein verändertes Verständnis des Nationalen deuten.
142 | K arolina K rasusk a Wenn aber im Folgenden von Messianismus die Rede sein wird, so geschieht dies nicht, um Einflüsse und historische Verbindungen zwischen jenen Texten nachzuspüren, die den Begriff des Messianismus gezielt entworfen haben. Vielmehr geht es darum, die Hauptelemente der messianischen Erzählung zu beleuchten, ihre spezifischen Inhalte in den ausgewählten Texten zu analysieren und schließlich auf die notwendigen ›Makel‹, Verschiebungen und auf die Resignifikationen aufmerksam zu machen. Die Schüsselfragen lassen sich folgendermaßen formulieren: Welchem Zweck dient die messianische Erzählung in einem literarischen Text, und was kann mit ihr ausgedrückt werden? Welche Funktion fällt den Gender-Modellen im Text zu? Mit Blick auf die spezifischen Rollen, die der Dichtung und dem Dichter selbst innerhalb des Messianismus zugewiesen werden, stellen sich die Fragen: Wie werden jene Aufgaben und Rollen im Text aufgegriffen? Und schließlich: Welche Verschiebungen ergeben sich aus dem modernen Kontext? Und welche Konsequenzen haben die Transgender-Spuren für die Erzählung? Es lohnt sich, zuerst auf eine romantische Umsetzung der messianischen Erzählung zurück zu blicken, um die Gender-Codes von Messianismus-Szenarien herauszudestillieren. Besonders deutlich werden sie in der populären Version von Messianismus entworfen, wie folgender Auszug aus einem anonymen Gelegenheitslied zeigt. Dieses entstand im Februar 1861 nach einer polnischen Demonstration für die nationale Unabhängigkeit in Warschau – der damaligen Hauptstadt des von Russland streng regierten Kongress-Polens – welche fünf Opfer gefordert hatte: »I spojrzał z niebios wysoki Pan Na te pięć trumien z cierni godłami Co na wzór pięciu Chrystusa ran Poniosły niebu prośbę za nami.« (Janion/Żmigrodzka 1978: 549) [»Und der hohe Herr schaute aus dem Himmel Auf die fünf Särge mit Dornenwappen, Die ganz nach dem Muster von fünf Wunden Christi Brachten hin zum Himmel für uns ein Gebet«].
Die ›fünf Toten‹ lassen sich metonymisch als ›unser‹ Leiden – das Leiden der ganzen polnischen Volksnation – deuten. Durch den Vergleich von Särgen mit den Wunden Christi wird das polnische Volk – als Kollektivkörper – zum Körper des Erlösers. In diesem Bild findet eine Überlagerung von zwei Aspekten statt: des materiellen Leibes Christi, den er von der Jungfrau bekam, und seines geistigen Körpers. Es ist aber der letztere – der säkularisierte »mystische Körper« – der für die Einheit und Unsterblichkeit der Gemeinschaft steht (vgl. von Braun 2001: 294f.). Der Gruppencharakter des Kollektivkörpers und seine Materialität bleiben hingegen weiblich codiert. Dies spiegelt sich in bekannten symbolischen Darstellungen der Nation als einer Frau, in diesem Fall ›Polonia‹,
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wider. Die Verbindung beider Aspekte wird auf den Bildern der gekreuzigten Polonia deutlich, die dann nur scheinbar Gender-Unordnung suggerieren. Entlang dieser Gender-Codes lassen sich die fünf Toten – als Teil des Kollektivskörpers – als symbolische Söhne Polonias verstehen. Man kann hier zwei Ebenen unterscheiden: die der biologischen und die der kulturellen Reproduktion der Nation. Aber die Bilder von Polen als Mutter, der symbolischen Repräsentation der Nation, und die der Mutter-Polin,10 ihrer biologischen Garantin, verschmelzen und bedingen einander. So können die Attribute Polonias in die konkreten reproduktiven und erzieherischen Aufgaben der Mutter-Polin übersetzt werden. Damit werden zwei Elemente, welche die gemeinsame Sprache und die Abstammung bzw. ›Rasse‹ umkreisen, zur Herstellung der »fiktiven Ethnizität« oder des »Volkes« eingesetzt und dienen damit der Konstruktion der »ideellen Nation« (vgl. Balibar 1991: 96f.). Die Mutter-Polin sichert das Fortbestehen der ethno-kulturell gefassten Nation, gewährleistet die Reproduktion jener heldenhaften Männer und der an ihnen fest gemachten Männlichkeit, die zugleich zum Leiden für sie bereit sind. Die Söhne andererseits sichern das ›Überleben‹ von Polen, der Nation, die sie zur Erlösung führen sollen, zu welcher sie vorbestimmt sei.
Der Dichter als Erlöser Eine Version jener polnischen hegemonialen romantischen Männlichkeit, die die Erlösung der polnischen Nation bedingt, ist der Dichter. Ihm wird eine besondere Rolle in der Vision des Leidens Polens zugeteilt. Auch wenn Maria Ja nion und Maria Żmigrodzka die Vielfältigkeit der Realisierung der literarischen messianischen Szenarien in der polnischen Romantik betonen, formulieren sie übergreifend: »Indem der Dichter-Prophet [poeta-wieszcz] die Geschichte seines Geistes darlegte und die Wahrheiten veranschaulichte, die ihm offenbart wurden, spürte er gleichzeitig das auf, was die Wahrheit der Gemeinschaft war, was noch undeutlich das kollektive Bewusstsein und das Unbewusste bewegte.« (1978: 8)
Der Dichter bildet die Quintessenz der kreativen autonomen Subjektivität. Als wieszcz – Prophet, etymologisch ›der Wissende‹ – besetzt er eine privilegierte Stelle in der Wissensordnung. Es ist das Absolute, das seine Position sichert: Sein Wissen stammt von Gott, es wurde ihm offenbart, ist wahr und nur ihm zugänglich. Seine Biographie beschreibt den Weg zu diesem Wissen. Sein Werk, die Literatur, dient nicht nur dazu, seine Subjektivität zu konstituieren, sondern 9 | Vgl. Mosse (1985); Yuval-Davis (1998). Für den polnischen Kontext vgl. Janion (1996; 2000). 10 | Die ›Mutter-Polin‹ ist ein von Mickiewicz im Gedicht »Do matki Polki« [»Zur Mutter-Polin«] popularisierter, inzwischen feststehender Begriff, mit dem das Muttersein als die Essenz jeder Polin betont wird.
144 | K arolina K rasusk a auch notwendigerweise dazu, die ethnische Verortung (vgl. Hall 1992: 258) zu garantieren. Damit wird ein generelles Subjektivitätsschema für die Gemeinschaft konstruiert. In anderen Worten: In den Aussagen des Dichters wird das enthüllt, was zu universellen Wahrheiten aufgewertet werden soll. Der skizzierte Kontrast zwischen dem Dichter und der Gemeinschaft verweist auf ihre gegenseitige Ergänzung. Und wieder werden hier die komplementären Gender-Raster aufgerufen und wiederholt, die diese beiden Pole markieren: wieszcz/Geist/Männlichkeit und Gemeinschaft/(Kollektiv-)Körper/ Weiblichkeit. Dabei fungiert der wieszcz, ein auserwähltes Individuum in der phallogozentrischen Ordnung, als derjenige, der den Kollektivkörper liest und ihm die wahren Bedeutungen verleiht oder seine geistige Einheit produziert. Der besondere individuelle Status des polnischen wieszcz stützt sich darauf, dass er ein Teil des göttlichen Erlösungsplans Polens ist. In »W Grabowie podczas wojny« finden sich zahlreiche Beispiele für eine stabilisierende Inszenierung der (Trans-)Männlichkeit, die diese kohärente Konfiguration vom prophetischen Wissen eines auserwählten Individuums, das zum Opfer für die Nation bereit ist, zitieren.
»Armes Polen« In seinem langen Manuskript bedient sich Włast einer Vielzahl von Perspektiven, aus denen das lyrische ›Ich‹ in den Gedichten spricht, sowie Stimmen, die der grammatikalisch maskuline Sprecher imitiert: Das Buch beinhaltet Texte wie den visionären Zyklus »Hymny nadziei« [»Hymnen der Hoffnung«], die in der Perspektive des Familienmitglieds verfassten Genrebilder und Erinnerungen eines Krankenhauspatienten. Dieser Wissensexhibitionismus soll einen Beweis für einen besonderen Status der/des Dichters_in liefern. Eine ähnliche Funktion fällt den am Ende des Werkes hinzugefügten »Uwagi do niniejszej Księgi« [»Bemerkungen zu diesem Buch«] zu, die den elitären Charakter des damit vermittelten Wissens unterstreichen. Nicht jedermann gehört zu Własts Zielpublikum: »Dla uniknięcia zbytecznych nieporozumień, ostrzegam przystępujących do czytania tej xięgi, że jest ona dostępną jasnemu zrozumieniu jedynie tych, którzy mają już poza sobą pierwsze okresy egzystencyi ludzkiej, co mniej więcej da się oznaczyć wiekiem lat pięćdziesięciu.« (Włast: 495) [»Um unnötige Missverständnisse zu vermeiden, warne ich die Leser, die mit der Lektüre angefangen haben, dass sie nur von denjenigen klar verstanden werden kann, die die erste Periode der menschlichen Existenz hinter sich gebracht haben, die ungefähr mit fünfzig Jahren markiert werden kann«].
Der besondere Status des/der Dichters_in wird zudem verdeutlicht, wenn ihm/ ihr als Wissendem/r spezielle Kenntnisse zugeschrieben werden. Hierzu zählt die Kenntnis vom Schicksal der ›auserwählten‹ Volksnation. Der am Anfang
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zitierte Text »Biedna Polska« [»Armes Polen«] erscheint als eine Demonstration des prophetischen Wissens des/der Dichters_in über die Zukunft Polens. Dabei werden zusammen mit der Thematik des Nationalen die mit dem ›Polentum‹ verschränkten Gender-Normen umgesetzt. Der Text entwirft Polen als eine Mitleid erweckende weibliche Figur, der bis dahin die Liebe verwehrt geblieben ist. Dies zeigt sich im schon angeführten Auftakt: »Du, armes Polen! Noch niemand hat dich bis jetzt geliebt.« (Włast: 120) Wie sich aber gleich darauf herausstellt, wird hier eigentlich nicht eine romantische Liebe besungen, sondern, ganz nach der bürgerlichen Moral des Nationalismus, eine Ehe, in der, wie es später heißt, »die Erzengelsflügel der Obhut« (Włast: 120) um Polen ausgebreitet werden. Damit einhergehend wird die der Nation angemessen erscheinende Position installiert: »Wenn du, Polen! In Genius’ Herz gelangen würdest […]/ Würdest du unter anderen Völkern entzückt emporkommen/Und mit unbekanntem Hymnus ins Alldasein donnern.« (Włast: 120) Włast endet jedoch nicht mit einer Diagnose eventueller Hoffnungen. Durch die verschränkten Diskurse um Familie/Ehe – den Garanten des Nationalen – wird eine prunkvolle Zukunft skizziert: »Ale czekaj, czekaj Polsko! Twórca twój się zbudzi! Ten, któremu będziesz żywym do dzieła marmurem, Który ze śpiącej twojej ziemi wskrzesi Klan Nadludzi.« (Włast: 120) [»Aber warte, warte Polen! Dein Schöpfer wird erwachen! Dieser, für den du zum lebendigen Marmor für sein Werk wirst, Der aus deinem schlafenden Boden den Übermenschenklan belebt«].
In der symbolischen Ehe, die dem nationalen Interesse dient, wird die Sphäre der Sexualität ›korrekt‹ auf die Reproduktionsdomäne beschränkt und ihr unterworfen. Der ›Schöpfer‹ tritt hier auch im biologischen Sinne als Schöpfer auf: Er ist der ›Produzent‹, der die Mutter, den Boden, befruchtet. Diese besondere Verbindung wird den »Übermenschenklan« hervorbringen.11 Der prekäre Verweis auf die Körperlichkeit des »Genius« (Włast: 120) wird durch den Rückgriff auf das Kunstvokabular minimiert und so ins Ästhetische verschoben. Der ›Rasse‹-bezogene biologistische Diskurs, in dem sich die Sonderstellung der Volksnation begründet, wird aber durch eine üppige religiös gefärbte Vision ergänzt, die der Legitimierung dient: »I jak głowa ponad ciałem, jak najwyższa Wieża Stanie pośród Europy Najjaśniejszą Górą, 11 | Obwohl der »Übermensch« sich nicht automatisch auf den biologistischen Diskurs beziehen muss, eröffnet die Präsenz von diskursiven biologistischen Spuren, die in anderen Texten von Komornicka reichlich vorhanden sind, auch die Interpretation in diese Richtung. Vgl. dazu Komornicka (1905); »Przejściowi«. In: Komornicka (1996: 45f.).
146 | K arolina K rasusk a Która w bezkres dwukolny nowy blask rozszerza Lecz swą własną tajemnicę zwierza tylko chmurom: Tę najwyższą Tajemnicę, którą Twoim barkom Pan Wszechludów zlecił, Polsko! Wszechprzymierza Arko!« (Włast: 121) [»Und wie das Haupt über den Körper, wie der höchste Turm Wird mitten in Europa als der hellste Berg stehen, Der in die Unendlichkeit zweirädrigen neuen Glanz erweitert, Aber sein eigenes Geheimnis nur den Wolken anvertraut Dieses höchste Geheimnis, mit dem Der Herr der Allvölker Deinen Schultern auferlegte, Polen! Die Allbundeslade!«].
Wenn man sich die Konstruktion des lyrischen ›Ichs‹ anschaut, sollte dieser visionäre Moment, der die messianischen Hauptelemente zitiert, der Clou des Gedichts sein. In »Biedna Polska« lüftet die/der Dichter_in das »Geheimnis«, das allerdings offen ist: Denn die messianische Erzählung kann als bekannt vorausgesetzt werden. Der Zweck würde eigentlich darin bestehen, ein nur scheinbar esoterisches Wissen zu re-präsentieren, möglichst genau zu wiederholen, damit dessen Konstruktion aufrechterhalten bleibt. Inwiefern würde ein romantisches Schema in der zweiten oder dritten Dekade des 20. Jahrhunderts glaubwürdig wirken? Włast versucht hier, die Argumentation in zeitgemäßes Vokabular zu übersetzen. Der Akzent wird vom religiösen Diskurs und dem Auserwähltsein von Gott in die Richtung eines ›Rasse‹-bezogenen Diskurses und ›rassischer Überlegenheit‹ verlagert. Das (potenzielle) Polentum, das Włast zu erreichen sucht, wird nun mit ›Übermenschen‹ gleichgesetzt. Dabei wird – wie im vorangegangenen Zitat – das religiöse Denken nicht desavouiert, sondern seine Konsequenzen werden durch neue säkulare ›Beweise‹ bestätigt und gestärkt.
»Christ, mein Bruder« Das Thema der Herkunft und der Zugehörigkeit zu der biologisch gedachten auserwählten Volksnation zieht sich zusammen mit den biographischen Motiven und der besonderen Rolle, die den Figuren der adeligen und als adelig stilisierten Familie zukommt, durch »W Grabowie podczas wojny« durch. Obwohl die Familienkonstellationen in Komornicka/Własts Werk viel diskutiert worden sind, fanden sie als Ort der Konstruktion der »fiktiven Ethnizität«, der biologischen und kulturellen Reproduktion des Nationalen, kaum Beachtung (vgl. Helbig-Mischewski 2005; Kralkowska-Gątkowska 2002). Die Familienmitglieder tauchen nicht nur immer wieder in Gedichten auf, sondern sie sind auch auf anderen Ebenen präsent. In »Uwagi do tej Księgi« [»Bemerkungen zu diesem Buch«], wo die/der Autor_in ihre/seine Inspirationen auflistet, sich bedankt und Interpretationshinweise gibt, wird die Familie nicht als eine unterstützende Instanz anerkannt, sondern vielmehr als gleichrangig mit anderen Wissensquellen eingestuft (vgl. Włast: 496). Sowohl der Titel, der den Ortsnamen des Familiensitzes enthält, als auch die Widmung und der männliche Na-
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me des Vorfahrens, unter welchem – wenn auch durch den Beinamen modifiziert – die/der Autor_in das Manuskript verfasst hat, kreisen um die Genealogie Komornicka/Własts. In den Gedichten wird diese Thematik aufgegriffen, wenn königliche Motive, in denen das religiöse und biologisch-genealogische Denken ineinander fließen, in den Vordergrund treten. Der Mechanismus der Interdependenzen zwischen Gender und (Volks-)Nation, ihre zwangsläufige gegenseitige Artikulation, kann am Beispiel des Gedichts »Czoło i łysina« [»Stirn und Glatze«] am besten aufgeschlüsselt werden. Der Text weist darauf hin, wie durch die Anerkennung der Abstammung oder ›Rasse‹, die mit der völkischen Auffassung des Nationalen untrennbar verbunden ist, Gender – hier konkret hegemoniale Männlichkeit – inszeniert werden kann. In einer regulären, gereimten Form erzählt das Gedicht die Geschichte eines Mannes, der »[s]eine schöne Stirn […] nicht zeigen [wollte]/Weil sie dem Volk eine höhere Rasse erkennen ließ« (Włast: 427) und er sie deshalb mit seinem Pony zudeckte. Jedoch »das Schicksal wurde auch stur« und »schuf eine Glatze und entdeckte diese reine/Und so verhüllte, strahlende Stirn« (Włast: 428). Die Anekdote durchzieht ein rassistisch-biologistischer Diskurs, in dem ästhetische Standards des menschlichen Körpers mit einer »höheren Rasse« in Verbindung gebracht werden. Zugleich spielen in der Charakterisierung Reinheit und Licht als Attribute Gottes eine Rolle. Die »höhere Rasse« wird offensichtlich mit einer unerlässlichen (sozialen) Mission zusammen gedacht. Während das Gedicht über das Verbergen der wahren Herkunft als »Feigsein« spricht, wird die Anerkennung und das zur Schau stellen des ›wahren‹ Gesichts mit dem Tragen eines »Wappenschildes« verglichen – eine Symbolik, an die sich notwendiger Weise die »Tapferkeit des Ritters« anschließt (Włast: 427). Mit derartigen gender-spezifischen Vergleichen wird die schwer zu tragende ›gute Herkunft‹ mit Mannhaftigkeit und dementsprechend mit einer bestimmten Männlichkeit in Verbindung gebracht. Dabei scheinen jene Referenzen zu vormodernen Zeiten, die auf eindeutige und starre soziale Hierarchien verweisen, eine Stabilisierungsabsicht zu begleiten, die auch die Gender-Domäne erfasst. Welches Fazit lässt sich daraus ziehen? Wenn die »hohe Rasse« unausweichlich heldenhafte Männlichkeit verlangt, kann umgekehrt gerade eine offensichtliche Vorführung der als elitär gedachten ethnischen Zugehörigkeit, die in der volksnationalen Konstellation notwendigerweise auch auf einer gemeinsamen Genealogie beruht, der Männlichkeitsinszenierung dienen. Damit wird ein Inszenierungspotenzial aufgemacht, das dann in der Interaktion mit anderen Subjektivierungselementen in Machtverhältnissen unterschiedlich verortet werden kann. Diese Korrelation zeigt sich auf anschauliche Weise, wenn erneut der religiöse Diskurs rhetorisch eingesetzt wird. Braucht der Dichter in der Moderne auch keine göttliche Legitimation mehr, so tritt die Erlöserfigur dennoch als ein nützlicher metaphorischer Referenzpunkt zutage, welcher – wie im Gedicht »Wszechobecność« [»Allanwesenheit«] – auf den gehobenen Status des Dichters verweist:
148 | K arolina K rasusk a »Jestem wszędzie – Jestem nawet w Niebie Przez Ciebie, Chryste Bracie, I przez siebie –.« (Włast: 228) [»Ich bin überall – Ich bin sogar im Himmel Durch Dich, Christ, mein Bruder Und durch mich selbst – «].
In wenigen Zeilen und in drei Schritten bewegt Włast die Position des ›Ichs‹ hin zu Christus; durch Abhängigkeit, Ähnlichkeit und die Verwandtschaftsmetapher der ›Bruderschaft‹ bis hin zur Gleichheit. Damit wird ein modernes Motiv aufgenommen, eben jenes des Künstlers als Erlöser, das die/der Autor_in als Komornicka schon früher bearbeitet hat (vgl. Komornicka 1905).
»Ant wor t des Dichter s« Eine notwendige Ergänzung der messianischen Konfiguration bilden Schriften, welche die Opferbereitschaft des ›Ichs‹ für die Nation betonen. Hierzu zählt »Odpowiedź poety« [»Antwort des Dichters«], ein Text, der sich als Rechtfertigung des grammatikalisch männlichen ›Ichs‹ gegenüber der personifizierten polnischen Nation lesen lässt. Das ›Ich‹ rechtfertigt sich dafür, dass es am Ersten Weltkrieg, in dem es um die Unabhängigkeit Polens gegangen sei, nicht teilnahm. Als Beweis ruft der Sprecher eher unbestimmte Leiden auf, die »sicherlich kein Mensch kennt« (Włast: 126). Auch wenn der Anfang sich als eine Serie von ›Ausweichmanövern‹ vor dem »prüfenden Blick« (Włast: 126) Polens, der symbolischen Mutter, anhört, so entwickelt sich die Antwort des Dichters zum Entwurf einer gleichwertigen Alternative gegenüber üblichem patriotischen Verhalten, das mit der Teilnahme an militärischen Handlungen verbunden ist. Die Alternative zum Kampf bildet das ebenfalls hingebungsvolle Erlangen des Wissens: »Ziemi m zatrwożone tętno czuł, Gdy się jeszcze nie bal nikt o trony; I w codziennym jarzmie klęsk jak wół Wiedzę m orał, krwawy i znużony.« (Włast: 126) [»Ich spürte den zittrigen Puls der Erde Als noch niemand Angst um Throne hatte Und im täglichen Joch der Niederlage ackerte ich Das Wissen wie ein Ochse, blutig und müde«].
Es geht hier um das Vertrautsein mit den höchsten Wahrheiten, die allen Interpretationen zugrunde liegen: Das ›Ich‹ wird unter anderem mit Faust und
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Natschiketas verglichen (vgl. Włast: 126). Passend zum Dichter wird die Aneignung des Wissens als die Erkennung des sprachlichen Grundcodes geschildert: »reduziert zu der EINFACHHEIT EINER MONADE/lernte ich das Alphabet der Ewigkeit« (Włast: 126, Hervorhebung im Original). Welche Ereignisse und Orte sind hier genau gemeint? Włast zeichnet nur weit gestreute Parallelen: »Fast die Hölle, fast das Empyreum/Auf den Wolken und auf Seegrasbetten«; erwähnt »die bittere […] Elementarschule außerhalb der Welt«, deren Attribut auch »Gitter« bilden (vgl. Włast: 126). Diese Metaphern deuten auf den Zwang und auf die Disziplin hin, die in einem Satz auf den Punkt gebracht werden, der an Polen gerichtet ist: »Ich wünsche dir keine solche Ferien.« (Włast: 125) Bei der Interpretation dieser Passagen helfen andere Texte aus der Sammlung sowie der Rückbezug auf den biographischen Kontext, der sich durch den Band zieht. Sie lassen vermuten, dass hier die Aufenthalte in den ›Heilanstalten‹ thematisiert werden, welche nach dem Gender-Wechsel von Komornicka/Własts Familie erzwungen wurden. Unter den Gedichten, die detailliert dramatische leidvolle Szenen aus den Anstalten (re)konstruieren, findet sich ein Text, der Hinweise auf die Ursachen des Aufenthalts zutage befördert: Er thematisiert den »Geschlechtstransgress« (Ritz 2000: 89; Helbig-Mischewski 2005: 15), fokussiert Transgender und zeigt so die Diskontinuitäten in der hier angebotenen Männlichkeitskonstruktion auf.
»Frauen und ich« Mit »Panie i ja« [»Frauen und ich«] bietet Włast eine einmalige skizzenhafte biographische Gesamterzählung an, in der ein konsequent maskulines ›Ich‹ in der Beziehung zu Frauen – weiblichen Personen, deren Identität kontextgebunden bleibt – entworfen wird. Daran erinnert die entsprechend deklinierte Phrase »Frauen und ich«, die regelmäßig allen drei Zeilen angehängt wird. So präsentiert sich das ›Ich‹ immer in einer (zwangsläufigen) Verbindung, aber auch (notwendigen) Distanz zu den weiblichen Figuren.12 Der ganze Text, der das Leben des ›Ichs‹ in vier Abschnitte aufteilt, wird gesellschafts- und gender-kritisch konzipiert. Der erste wird zur Kritik der sexuellen Erziehung zur Frau, die hier lediglich auf diesen Aspekt reduziert bleibt: »Chcieliśmy dorosnąć co najprędzej Włożyć gorset, suknie z złotej przędzy – Panie i ja.
12 | Es sollte festgehalten werden, dass die Inszenierung des ›Nationalen‹, des ›Polentums‹, auch in der notwendigen Relationalität zum ›Anderen‹ und dessen Ausgrenzung verläuft. Hier wäre zu untersuchen, welche Rolle die orientalistischen Elemente und ihre beabsichtigte vermeintliche Verschmelzung mit dem ›Eigenen‹ spielen (vgl. z.B. Włast: 496).
150 | K arolina K rasusk a Wreszcie przyszła chwila upragniona – Fiszbin ścinał pół-dziecinne łona – Paniom i mnie Zaczęliśmy szukać ›Ideału‹, Badać czar całowań, schadzek, szału – Panie i ja.« (Włast: 452) [»Wir wollten so schnell wie möglich erwachsen werden Das Korsett, das goldene Kleid anziehen – Frauen und ich Und endlich kam der ersehnte Moment – Fischbein schnitt halb-kindliche Schoße – Frauen und mir Wir fangen an, das ›Ideal‹ zu suchen, Den Zauber der Küsse, Abenteuer, des Wahnes zu untersuchen – Frauen und ich«].
Die Periode endet aber mit der (zwangsläufigen) Enttäuschung und dem Begräbnis der »Liebesillusion«, wobei die Sexualität aus dem Text ab dieser Stelle verschwindet. So beginnt die Zeit der »Verzweiflung« und der erfolglosen Bekämpfung des »Philisters« (Włast: 453). Die beiden Phasen lassen sich als Rebellion gegen die erstarrten sozialen Normen, etwa der tugendhaften Weiblichkeit und bürgerlichen Gesellschaft, deuten. Ähnlich lässt sich dann die nächste Phase interpretieren, die vom Gender-Wechsel markiert ist. Diese Transgression ist allerdings mit ›Strafkonsequenzen‹ – also mit der Psychiatrie – verbunden, in der das maskuline ›Ich‹ als geistig kranke Frau eingestuft wird: »I znaleźliśmy się znowu razem – Choć stąd wzajem czuliśmy obrazę – Panie i ja. Wprawdzie ja już w spodniach – a zaś one W kaftanikach cienkich lub z moltonem – Panie i ja. Lecz pod jedną wzięci kategoryę, o się zowie ›umysłowo chore‹ – C Panie i ja.« (Włast: 453) [»Und wieder waren wir zusammen – Auch wenn wir böse aufeinander waren – Frauen und ich
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Zwar ich schon in der Hose – und sie dagegen In leichten Röcken oder Moltonkleidern – Frauen und ich Aber in eine Kategorie genommen, Die heißt ›geistig krank‹ – Frauen und ich«].
Der letzte Abschnitt, dargestellt aus der zeitgenössischen Perspektive, bietet vor allem sarkastische Reflexionen, welche die psychiatrischen Anstalten zu grausamen Sozialisierungsanstalten stilisieren (vgl. Włast: 453). Die Erzählung, die dem Gedicht »Panie i ja« zugrunde liegt, lässt den Gender-Wechsel auch als eine soziale Rebellion deuten: als einen konsequenten emanzipatorischen Schritt nach dem gescheiterten Feminismus und dem erfolglosen Versuch der Partizipation an der männlichen Domäne in Gestalt eines ›gender-neutralen‹ Engagements gegen Spießertum.13 Dabei werden Gesellschaft und Nation getrennt gedacht, was auch in Bezug auf den Dichter, dem im nationalen Imaginären eine entscheidende Rolle zukommt, deutlich wird. Real gesellschaftlich wird dieser hingegen vernachlässigt, wie im Gedicht »Poeci a społeczeństwo« [»Dichter und Gesellschaft«] thematisiert wird (vgl. Włast: 336-337). Das Argument, das das Gedicht bestimmt, zeigt die unentrinnbare Logik der Interdependenz zwischen den hegemonialen Gender-Modellen und dem Nationalen: Das Subjekt eignet sich Männlichkeit an, weil es öffentliche Sichtbarkeit und Handlungsmöglichkeit, auch in der Form der potenziellen Umsetzung der revolutionären bzw. messianischen Ideen, erreichen will. Die Glaubwürdigkeit bedarf dabei jener Männlichkeitsinszenierung, die genau durch den Rückbezug zum Nationalen, hier als messianische Erzählung, gesichert werden kann – und muss. So wird das Leiden gegen die gesellschaftlichen Zwänge in der Psychiatrie zum Leiden für die imaginäre nationale Sache – aber auch zum »Kampf um Subjektivität« (von Schnurbein 2002: 16). Die persönlichen und nationalen Geschichten verstricken sich. Diese verquickten persönlichen und öffentlichen Funktionen der Subjektivierung hat Komornicka in »Księga mądrości tymczasowej« [»Buch der vorläufigen Weisheit«] auf den Punkt gebracht: »Den männlichen Charakter, oder Mannhaftigkeit, gewinnt man nur durch die männliche Erfahrung oder die Erfahrung der Mannhaftigkeit.« (Komornicka 1996: 269) 14 Der umfangreiche Text »W Grabowie podczas wojny« legt aber auch andere Spuren. Werden durch die distanzierte Perspektive in Gedichten sowohl Gender als auch das Nationale zur Groteske? Wird das Nationale durch das Einsetzen 13 | Zur Komornickas Engagement (auch mit feministischen Akzenten) in gesellschaftlichen Debatten über Literatur und Nationalismus der Jahrhundertwende vgl. Filipiak (2004); Podraza-Kwiatkowska (2000). 14 | Vgl. das polnische Original: »Męski charakter, czyli męstwo, zdobywa się tylko przez męskie doświadczenie, czyli doświadczenie męstwa«.
152 | K arolina K rasusk a mehrerer Sprachen – Französisch, Russisch, Deutsch – und durch die Parodie des patriotischen Liedes, das zur Nationalhymne geworden ist, nicht destabilisiert (vgl. Włast: 435)? Und werden in »Panie i ja« nicht die ›Unzuverlässigkeit‹ von Gender und die Möglichkeit von gender bending auf den Punkt gebracht, die die Transgender-Performanz ermöglicht? Oder ist gerade in der Moderne die offene Vereinnahmung und Auflösung dieser verschiedenen Brüche eine notwendige erlösende Strategie, um eine erschütterte aber auch umkämpfte Subjektivität zu installieren?15
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15 | Für Kommentare zu früheren Fassungen des Aufsatzes möchte ich mich bei Christina von Braun, Claudia Brunner, Bożena Chołuj, German Ritz und Stefanie von Schnurbein bedanken. Ein besonderer Dank für ihr präzises Denken und sorgfältiges Lesen gilt den Herausgeber-/innen dieses Bandes – Elahe Haschemi Yekani, Sven Glawion und Jana Husmann-Kastein.
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›Ganze Männer‹ zwischen C.G. Jung und Jesus. Über windungsphantasien der ›Männerbewegung‹ Sven Glawion »Unsere Zeit ist reif für den anderen, für den wirklichen Jesus.« (Alt 1991: 13) Mit diesem Satz beginnt der Journalist Franz Alt sein 1989 erstmalig erschienenes Buch »Jesus – der erste neue Mann«. Der Jesus, von dem Franz Alt erzählt, war der Überwinder einer ›alten‹ Männlichkeit, »der erste ganzheitliche, das heißt seine männlichen und weiblichen Seelenanteile lebende Mann der Geschichte« (1991: 34). Das Buch war ein großer Erfolg und darin kein singuläres Ereignis. Ende der 80er Jahre gewinnt auf dem westdeutschen und bald schon gesamtdeutschen Büchermarkt das Genre des spirituellen und religiösen ›Männer-Buchs‹ – ausgewiesen als Sachbuch oder Ratgeber – an Bedeutung, wobei es sich oft um übersetzte Publikationen aus den USA handelt. Im Fokus dieser Bücher – beispielhaft zu nennen wären Titel wie »Eisenhans« von Robert Bly (1991) oder »Feuer im Bauch« von Sam Keen (1992) – stand die Suche nach einem ›neuen‹, spirituellen und ganzheitlichen Mann. Christliche Autoren wie Richard Rohr oder Franz Alt erkannten dabei in Jesus ihr Vorbild für ein verändertes MannSein – eine Perspektive, die auch in aktuellen Publikationen zu finden ist. In diesem Text möchte ich fragen, was die Faszination dieser erfolgreich vermarkteten Bücher ausmacht(e) und welche Männlichkeitsmodelle sie anbieten – wobei ich mich auf in Deutschland erfolgreiche Publikationen beschränke. Dabei interessieren mich besonders die auf Jesus zielenden Texte: Wer ist dieser Jesus? Welche Sehnsüchte und Überwindungsvorstellungen werden über ihn artikuliert? Was hat der Rückgriff auf den Mann, an den Christ-/innen als ihren Erlöser glauben, mit männlicher Hegemonie zu tun? Dabei biete ich auch eine kritische Lesart zu dem theoretischen Hintergrund an, der diesen ›Männer-Texten‹ gemeinsam ist: der Tiefenpsychologie C.G. Jungs. 1 | Die angegebenen Jahreszahlen markieren die Erstveröffentlichungen in Deutschland. 2 | Besonders auf Alt (1991); Grün (2005); Rohr (1992; 1993; 2005).
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Männliche Spiritualität Die Faszination, die von den spirituellen und religiösen ›Männer-Büchern‹ ausging und ausgeht, kann – so möchte ich es vorschlagen – mit einem Mangel an Spiritualität im Leben vieler Männer zusammenhängen, der wiederum nicht von der historischen Entwicklung des Geschlechterverhältnisses und seiner symbolischen Ordnung zu lösen ist. Männlichkeit wurde im Prozess einer »Polarisierung der Geschlechtscharaktere« (Hausen 1976) in kapitalistisch-patriarchalen Gesellschaften über Eigenschaften wie Rationalität, Vernunft und Wissen codiert. Da Frömmigkeit und Spiritualität mit ihren Charakteristika wie Vertrauen, Hingabe, Emotionalität und Sinnlichkeit aber mit ›Rationalität‹ kontrastieren, konnten sie nur schwer als ›männlich‹ gelten. In den christlichen Kirchen entwickelten sich in Folge dessen spezifische Gender-Codes: die Theo logie, das Wissen und das Amt galten als ›männlich‹ und blieben größtenteils Männern vorbehalten, religiöses Gefühl, Frömmigkeit und Hingabe galten als ›Frauensachen‹. Besonders in der katholischen Kirche wird noch aktuell von einer »Allianz von Priestern und Frauen« (Hofer 2005: 110) gesprochen und eine Abwesenheit männlicher Laien in der spirituellen Praxis konstatiert. Das Interesse an ›männlicher‹ Spiritualität weist darauf hin, dass der Mangel an ihr (nicht nur von Männern) als Verlust erfahren wird. Die Verwerfungen, die mit der Kopplung von Ratio, Macht und Wissen an Männlichkeit einhergehen, scheinen auch Bedürfnisse – z.B. nach Glaube und Vertrauen, Ritus und Emotionalität – zu produzieren. Gleichzeitig partizipiert die Thematisierung ›männlicher‹ Spiritualität an einem Emanzipationsdiskurs, der wesentlich von zwei Entwicklungen geprägt ist: zum einen von der im Kontext der westdeutschen Frauenbewegung entstandenen feministischen Theologie und Religionswissenschaft, in denen Glaube und Religiosität mit Patriarchats- und Rationalitätskritik verbunden wurden; zum anderen von der sogenannten westdeutschen ›Männerbewegung‹, die in Solidarität mit der Zweiten Frauen- sowie der Zweiten Schwulenbewegung entstand (vgl. Brzoska 1996). Damit wurden assoziative Verknüpfungen von alternativer Spiritualität mit Emanzipation sowie von ›neuer Männlichkeit‹ mit Pro-Feminismus diskursmächtig, die auch noch in den 90er Jahren verfügbar und aktiv waren. Das Auftreten und die Vermarktung der spirituellen und religiösen ›Männer-Bücher‹ vollzog sich deshalb vielfach unter dem Duktus von ›neuer Männlichkeit‹, ›neuer Spiritualität‹ und ›Emanzipation‹, womit die Ausrichtung dieser Bücher – besonders derjenigen der sogenannten Mythopoeten in Folge von Robert Bly – allerdings unzutreffend eingeschätzt wurde: ›Neu‹ stand hier nämlich für eine Rückbesinnung auf das 3 | So argumentiert auch Rohr (vgl. 1992: 36f.). 4 | Vgl. u.a. von Schnurbein (1997); Schottroff/Schroer (1997); Stephan (1997: 37ff.). Das, was ich hier als ein Diskursfeld bezeichne, ist allerdings in sich sehr heterogen strukturiert: Es variiert nicht nur nach religiös-spiritueller Zuordnung (christlich, pagan, pantheistisch etc.), sondern auch nach unterschiedlichen Orten (z.B. Universität, Kirche, Frauenzentrum etc.).
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›Alte‹, für eine Renaissance von Männerbünden, ›Emanzipation‹ meint(e) kein pro-feministisches Wirken, sondern vielmehr eine ›Emanzipation‹ vom Feminismus und einer vermeintlich ›verweiblichten Kultur‹. Die Mythopoeten sind damit die religiös-spirituelle Variante einer Strömung, die als »Maskulismus« bezeichnet wird und bereits Mitte der 70er Jahre sowohl in den USA als auch in Deutschland an Einfluss gewann. Indem die Probleme, die Männer im Patriarchat haben, hier als Resultate einer ›Diskriminierung‹ und nicht als »Konsequenz männlicher Privilegierung« (Schnabl/Lehner 2006: 325) gesehen werden, blieben und bleiben die Maskulisten weit hinter feministischen Analysen zurück oder ersetzen diese sogar restaurativ durch eine Opferrhetorik. Die Tiefenpsychologie C.G. Jungs ist für die Mythopoeten zentral. Sie stehen damit im Kontext einer Jung-Rezeption, deren Einfluss ab den 70er Jahren von Strömungen der feministischen Theologie über die Bibelexegese Eugen Drewermanns bis hin zu esoterischen Tendenzen in der Friedens- und Ökologiebewegung reicht und sowohl ein sich politisch als ›links‹ verortendes Spektrum als auch die Neue Rechte nachhaltig prägte. Auch der Rückgriff auf Jesus in den Publikationen von Franz Alt, Richard Rohr und Anselm Grün basiert auf Jungs Archetypenlehre und Geschlechtermodell und bezieht sich oft positiv auf die Mythopoeten. Jesus gilt hier als der erste oder prototypische ›animaintegrierte Mann‹, der seine weiblichen Seelenanteile in eine Ganzheitlichkeit integriert habe – eine Deutung, die bereits 1975 von der feministischen Jungianerin Hanna Wolff vorgelegt wurde.10 Das besondere Interesse an C.G. Jung mag daran liegen, dass für dessen Psychologie religiöse und mythologische Dimensionen konstitutiv sind – anders als z.B. in der Psychoanalyse des Atheisten Sigmund Freud. Geschlechtertheoretisch wird jedoch meistens die feministische Kritik an der Archetypenlehre ausgeblendet, die besonders gegen Jungs Essentialisierung der Geschlechterdifferenz gerichtet ist.11 Andreas Ebert, der 5 | Vgl. dazu Brzoska (1996); Falludi (1991); Newton (2005); von Schnurbein (1997). Eine Kritik an den Mythopoeten setzte in Deutschland – zumindest von universitärer Seite – später ein als in den USA. Neben der Anbindungsfähigkeit dieser Texte an ein bewegungspolitisch vorstrukturiertes Assoziationsfeld, mag die Ursache dafür damit zu tun haben, dass religiös-spirituelle Entwicklungen außerhalb von Wissenschaft und Institutionen in Deutschland weniger Bedeutung beigemessen wird. 6 | Hegemoniale Männer haben – so möchte ich hier ergänzen – nicht nur Probleme aufgrund dieser Konsequenzen, sondern sind primär Nutznießer patriarchal verfasster Gesellschaften. 7 | Vgl. Brzoska (1996); Falludi (1991); von Schnurbein (1997). 8 | Einige Vertreterinnen, z.B. Hanna Wolff und Christa Mulack, sind sowohl für ihre geschlechtertheoretischen Implikationen als auch für ihre teilweise antijüdischen Tendenzen kritisiert worden. Vgl. u.a. Brockmann (1991); Brumlik (1986; 1991: 86ff.); Schottroff/Wacker (1996). 9 | Vgl. dazu Brumlik (1986); Gess (1994). 10 | Vgl. kritisch dazu Brockmann (1991); Heiligenthal (2006: 64ff.). 11 | Vgl. Baumgardt (1987); Moltmann-Wendel (1989: 57ff.); Stephan (1997: 37ff.).
158 | S ven G l awion viele Bücher Rohrs in Deutschland herausgibt, nimmt 1992 im Vorwort zu »Der wilde Mann« die Kritik kurz auf und formuliert seinen Einwand: »Viele Feministinnen lehnen Jung ab, weil seine Begrifflichkeit auf sie festlegend wirkt. […] Die Kritikerinnen Jungs übersehen oft, daß, wie Jung betont, jeder Mensch in sich weibliche und männliche Anteile hat und daß zur Selbst- und Ganzwerdung gerade die Entdeckung und Integration der gegengeschlechtlichen Anteile gehört.« (Ebert 1992: 19)
Ich möchte Ebert hier widersprechen und seine Darstellung der tiefenpsychologischen ›Ganzwerdung‹ direkt mit C.G. Jung konfrontieren.
Animus und Anima C.G. Jung prägte den Begriff des kollektiven Unbewussten und bezeichnete damit eine Dimension des Menschen, in der die über mehrere tausend Jahre von der Menschheit gemachten Erfahrungen gespeichert, dem Bewusstsein jedoch nicht zugänglich sind. Inhalte dieses kollektiven Unbewussten sind die universalen Archetypen als Sedimentation eines bis in die ›Urzeit‹ reichenden Erfahrungsschatzes, zu denen auch Animus und Anima – die jeweils gegengeschlechtlichen Kräfte in Mann und Frau – gehören (vgl. Jung 1976b). Die Ganzwerdung eines Menschen vollzieht sich nach Jung darüber, dass der gegengeschlechtliche Archetypus in die Psyche des Individuums integriert wird, wobei die männliche Psychologie als vom Logos, die weibliche als vom Eros strukturiert betrachtet wird. Der Mann soll also seine Anima integrieren und damit gefühlvoller werden, die Frau soll sich dem Animus widmen und sich stärker geistig orientieren. Dabei hat Jung allerdings nicht den Abbau männlicher Macht im Sinn – er plädiert sogar für Gewalt, sollte die Frau den Animus zu stark integrieren: »Bei der Frau […] bildet der Eros einen Ausdruck ihrer wahren Natur, während ihr Logos nicht selten einen bedauerlichen Zwischenfall bedeutet. Er erregt im Familien- und Freundeskreise Missverständnisse und ärgerliche Interpretationen, weil er nämlich, statt aus Überlegungen, aus Meinungen besteht. […] In vielen Fällen hat der Mann das Gefühl (und hat nicht ganz unrecht damit), dass einzig Verführung oder Verprügelung oder Vergewaltigung noch die nötige Über-zeugungs-kraft [sic!] hätten.« (Jung 1976d: 23f.)
Wie sehr die ›Ganzheitlichkeit‹ zwischen Animus und Anima am Mann orientiert bleibt, zeigt besonders Jungs Text »Die Frau in Europa« (Erstveröffentlichung 1927), dessen geschlechtertheoretischen Aussagen über Jahrzehnte von Jung als gültig bestätigt wurden. Jung hat in diesem Aufsatz die in den Städten lebende, bürgerliche Frau vor Augen, welche – so Jung – durch das Ergreifen vormals Männern vorbehaltender Tätigkeiten und Berufe in ihrer Seele ›vermännlicht‹. Da sie jedoch unter der Macht des Eros stehe, müsse das misslingen: Zu viel Animusintegration führe bei ihr zu Gefühllosigkeit, Frigidität, Aggressivität und Homosexualität (vgl. Jung 1976a: 141f.) – ein Bedrohungsszenarium für heterosexuelle Män-
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ner. Jung empfiehlt ein pragmatisches Eingehen auf die Veränderung der Frau, nicht aus Solidarität, sondern nur »um nicht hoffnungslos und knabenhaft bewundernd der vorausgehenden Frau nachlaufen zu müssen, auf die Gefahr hin, von ihr in die Tasche gesteckt zu werden« (Jung 1976a: 148). Das alles scheint jedoch weniger als reine Strategie, sondern als das archetypische Wirken (hier des weiblichen Einflusses der Anima im Mann) zu verstehen zu sein. Nur: Ihm selbst, Jung, ist diese Veränderung bewusst. Anders sei das bei den Frauen und dem Animus. Jung schreibt: »Wenn daher die Frau der Gegenwart den strengen Zusammenhalt der Ehe bewusst oder unbewusst durch geistige oder ökonomische Selbständigkeit lockert, so geschieht dies nicht aus persönlicher Laune, sondern aus einem ihr weit überlegenen Lebenswillen der Gesamtheit, der sie, die einzelne Frau, zu seinem Werkzeug macht.« (Jung 1976a: 150)
Hier handeln nicht kluge und kämpferische Frauen, sondern der männliche Archetypus und damit auch das männliche Logosprinzip in ihnen. Archetypische männliche Kraft bringt die Geschichte vorwärts und bedient sich der – unbewusst agierenden – Frauen, die gar nicht anders handeln können, denn: »Männlichkeit heißt: Wissen, was man will, und das Nötige tun, um das Ziel zu erreichen.« (Jung 1976a: 149) Jung weicht mit dieser Argumentation den Veränderungen des Geschlechterverhältnisses durch die intellektuelle und ökonomische Emanzipation der bürgerlichen Frauen nicht aus, aber er setzt den damit verbundenen Krisen bürgerlich-heterosexueller Männer, die fortan selbst zu einer Veränderung genötigt werden, eine Erzählung patriarchaler Sinnstiftung entgegen, in der die Geschlechterhierarchie erhalten bleibt. Handelnde Frauen werden in ein übergeordnetes Konzept fortschreitender humaner Entwicklung eingespeist, in der sie nur noch Werkzeuge einer männlichen, unbewussten Kraft sind: Historischer Fortschritt bleibt ›männlich‹, in seiner Sinnhaftigkeit dient er dem Mann. Die Animusintegration der Frau erhält darin etwas Tragisches, Lächerliches und Gefährliches; die Animaintegration des Mannes tut diesem hingegen gut und sichert seine Privilegien und seine Machtposition. Ursula Baumgardt, selbst Analytikerin jungianischer Prägung, hat auf den Androzentrismus des Animus-Anima-Modells aufmerksam gemacht, denn der weibliche Pol »ist von vornherein dadurch definiert, dass er nichts anderes als eine systemgerechte Entsprechung zu sein hat« (Baumgardt 1987: 73).12 Die geschichtsnotwendige Entwicklung von Männern und Frauen kann sich dabei nur in der gegenseitigen Abhängigkeit voneinander vollziehen, hat aber auch klare Grenzen: »Da aber der Mensch Männliches und Weibliches in seiner Natur vereinigt, so kann ein Mann Weibliches und eine Frau Männliches leben. Jedoch steht dem Manne das Weibliche im Hintergrund, so wie der Frau das Männliche. Lebt man nun das Gegenge-
12 | Vgl. dazu auch Garber (1995) und Roth (2003).
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Die ›Ganzheit‹ der Animus- bzw. Animaintegration soll sich demnach also ausschließlich in den Grenzen einer heterosexualisierten Ergänzung vollziehen. Dabei vermeidet Jung in seiner Argumentation historische und politische Analysen, verschweigt seine Quellen, ignoriert die Debatten der zeitgenössischen Frauenbewegung und essentialisiert das bürgerliche Geschlechterverhältnis, indem er es auf die Achse einer nebulösen Vor- und Über-Zeitlichkeit projiziert. Jung umkreist jedoch nicht nur den Sinn des bürgerlichen, heterosexuellen Mannes, sondern auch den des Weißen Mannes. Er universalisiert europäische Strukturen als allgemeine Archetypen, wie schon Frantz Fanon kritisierte (1967: 190) 13, und zeichnet darüber hinaus ein Bedrohungsszenarium: »Der Europäer, unbekümmert um seine geistige Höhe, kann nicht ›ungestraft‹ in Afrika unter Negern leben, denn unbemerkt geht deren Psychologie in ihn ein, und er wird – dagegen hilft kein Sträuben – unbewusst zum Neger.« (Jung 1976a: 143)
Weißsein wird bei Jung – wie der Animus – zum Pol, von dem aus ein Gegenteil hergestellt wird. Die Weiße geistige ›Höhe‹ und der rassisierte ›Abstieg‹ korrespondieren als rassistisches Pendant zur misogynen Ausarbeitung des AnimusAnima-Modells, wobei das Handeln der Kolonisierten als Gefahr für den Weißen Mann gilt. So kann Jung die Gewaltverhältnisse verdreht darstellen: Der Weiße ist jetzt nicht mehr Verursacher, sondern potentielles Opfer des Kolonialismus.14 Jungs Geschlechtermodell des Archetypischen braucht die Polarität und die Integration und kann diesen Widerspruch nur über eine kontrollierte und begrenzte, gegenseitige Anpassung lösen. Da dabei immer schon vorher klar ist, was ›männlich‹ und was ›weiblich‹ bedeutet und beides nicht in seiner gesellschaftlichen Dimension, sondern als überzeitlicher, archetypischer Ist-Zustand gesehen wird, muss die Animus- und Animaintegration zur ständigen Wiederholung binärer, hierarchischer Geschlechtercodes führen. Die Essentialisierungen über die Archetypen neigen außerdem strukturell zum Ausbau rassistischer Polarisierung. Aus diesen Gründen ist der Anschluss der spirituellen
13 | Dementsprechend erkennt Fanon in Jungs Konzept des kollektiven Unbewussten keine anthropologische Konstante, sondern Zuschreibungen, die das ›Böse‹ und ›Dunkle‹ mit dem rassisierten ›Anderen‹ identifizieren: »The collective unconscious is not dependent on cerebral heredity; it is the result of what I shall call the unreflected imposition of a culture.« (1967: 191) Jung verortet die destruktiven Kräfte im Archetypus des »Schatten« (vgl. Jung 1976c), mit Toni Morrison (vgl. 1993) ließe sich hier auch von einem »Afrikanismus« sprechen (zum Verhältnis von Rassisierung, Geschlecht und Farbsymbolik vgl. außerdem Husmann-Kastein 2006). 14 | Elahe Haschemi Yekani spricht zur kritischen Markierung einer solchen Weißen Opfer-Rhetorik vom »Privileg der Krise« (vgl. ihren Beitrag in diesem Band).
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und religiösen ›Männer-Bücher‹ an Jung kritisch zu sehen. Wer begehrt hier also welche Emanzipation? Und: Welche Rolle spielt hier Jesus?
Jesus und die ›neue Männlichkeit‹ Während die Mythopoeten sich stark auf Märchen, Mythologie und auch auf Ethnologie beziehen, suchen christliche Männer wie Alt, Rohr und Grün nach Vorbildern in der Bibel und der kirchlichen Tradition. Der Jesus, von dem sie sprechen, ist dabei nicht deckungsgleich mit dem historischen Jesus, über den sich auch wenig Gesichertes aussagen lässt.15 Alt suggeriert, er würde historische Aussagen über Jesus machen, während es Rohr und Grün nicht um Fakten, sondern um Botschaften, nicht um Wissen, sondern um Glauben geht. Der Jesus, der in den 90er Jahren auf der Bühne der ›Männerbewegung‹ erscheint (und dort bis heute steht), ist also ein erzählter Jesus, der letztendlich auch Aussagen über seine Erzähler und deren Vorstellung von Geschlecht produziert: Alt, Rohr und Grün erzählen von einem geschlechtlich ›ganzheitlichen‹ und ›animaintegrierten‹ Jesus, der allerdings auffällig ›männlich‹ bleibt. Allen drei Texten gemeinsam – das verbindet sie mit dem Großteil der nicht-christlichen, spirituellen ›Männer-Bücher‹ (vgl. von Schnurbein 1997) – ist eine binäre Figuration von ›Macho‹ und ›Softie‹, wobei sich die eigentliche ›Emanzipation‹ dazwischen abspielen soll (und bei Jesus auch abgespielt habe). Ich denke, dass sich hier eine Angst artikuliert, mit der Hinwendung zur Spiritualität an ›Männlichkeit‹ zu verlieren und als ›irrational‹, ›fromm‹ und ›affektiert‹ zu gelten. Die Spiritualität, die in Anschluss an diesen Jesus gesucht wird, wird deutlich von den ›Frauensachen‹ abgegrenzt, womit teilweise auch misogyne und homophobe Tendenzen einhergehen16: Die Spiritualität soll weich, doch nicht zu weich, tatkräftig und durchgreifend sein und ›wissen, was sie will‹. Die Verschränkungen von Mann-Sein mit Stärke und Leistung wird dabei als essentielle, archetypische ›männliche Eigenschaft‹ betrachtet. Hierbei wird übersehen, dass sich diese Männlichkeit auch über einen Ausschluss und eine Abwertung von vermeintlich ›weiblichen Eigenschaften‹ – inklusive derjenigen von ›unmännlichen Männern‹, die durch diese Normierung ausgeschlossen werden – konstituiert und damit Teil einer hierarchisch verfassten Geschlechterordnung ist. Um nach einer emanzipativen ›männlichen‹ Spiritualität zu suchen, die patriarchale Geschlechtermuster nicht aus-, sondern abbaut, müsste also nach der gesellschaftlichen Herstellung, Bewertung und Kontextualisierung von ›Männlichkeit‹ gefragt werden. Dabei würde es – so möchte ich vorschlagen – nicht darum gehen, ›Natur‹ und ›gesellschaftliche Konstruktion‹ gegeneinander auszuspielen. Produktiv wäre es vielmehr, nach neuen Erklärungen zu suchen, »die zeigen oder begründen sollen, warum bestimmte Organisationsstrukturen so sind, wie sie sind, warum bestimmte Dinge als ›normal‹ angesehen oder 15 | Vgl. dazu u.a. Heiligenthal (2006); Theißen (2001). 16 | Z.B.: »Aber wir dürfen den ersten wirklich neuen Mann nicht mit einem unmännlichen, weibischen Mann verwechseln.« (Alt 1991: 90)
162 | S ven G l awion als inakzeptabel verworfen oder ausgeschlossen werden« (Hof 2006: 111). Gegenstand der Suche wäre demnach nicht eine verloren gegangene, vermeintlich ›ur-männliche‹ Spiritualität, sondern eine veränderte Form, ›Geschlecht‹ zu denken – auf der Basis einer macht- und hegemoniekritischen Analyse der Historizität einer binären und hierarchischen Geschlechterordnung. Der Rückgriff auf C.G. Jungs Modell von Animus und Anima mit dem ihm inhärenten Zwang zur Wiederholung binärer und misogyn verfasster Geschlechterzuschreibungen verstellt jedoch den Blick für gewachsene und veränderbare Strukturen. Die Autoren fragen, was ›männlich‹ bedeutet und wie es gelebt werden könnte, blicken dabei aber kaum auf die konkrete, gesellschaftliche und kirchliche Gegenwart, sondern auf vermeintlich urzeitlich geformte Archetypen. Das in die Zukunft weisende Moment, das im christlichen Glauben mit Jesus Christus verbunden ist, weist in diesen Texten also in die Zeitlosigkeit eines kollektiven Unbewussten, nach der die Zukunft sein wird wie die Vergangenheit war. Besonders restaurativ sind in diesem Kontext die Bücher von Franz Alt.17 In seinem Buch »Jesus – der erste neue Mann« geht es nur vordergründig um die Überwindung einer patriarchalen Männlichkeit. Jesus verkörperte für Alt die »Erotik des wirklichen Lebens« (1991: 19) und sah in der Erlösung den »Sinn und Ziel der Liebeslust und Liebesumarmung« (1991: 62). Das, was sich zunächst als Programm einer neuen männlichen Sinnlichkeit lesen ließe, stützt bei Alt jedoch lediglich Lebensmodelle wie die Ehe, deren eigene patriarchale Geschichte nicht mehr reflektiert wird. Der Mann soll, wie Jesus, Frauen zuhören und seine Schwäche zulassen, denn: »Das Schwache ist das Weibliche in uns.« (1991: 67) Dabei schreibt Alt nicht über männliche Privilegien oder alltägliche Formen von Dominanz und setzt sich nicht mit feministischen Gesellschaftsanalysen auseinander, vielmehr löst er ›männliche Spiritualität‹ aus konkret-sozialen Bezügen heraus und projiziert C.G. Jungs archetypische Fixierung von Animus und Anima in die neutestamentliche Zeit.18 ›Neue Männlichkeit‹ ist damit lediglich eine Erweiterung des Bestehenden, eine Verbesserung durch die Animaintegration, die keine grundlegend veränderte Geschlechterordnung, sondern nur die Lebensqualität des hegemonialen Mannes im Sinn hat: »Männerbefreiung heißt in erster Linie: die Seele entdecken und pflegen.« (Alt 1991: 94) Die »urjesuanisch männliche Härte« (Alt 1991: 72) soll dabei nicht vernachlässigt werden. Im Zentrum steht aber mehr als eine Entspannung von Ehemännern unter dem Motto von Emanzipation: Alt versucht nicht weniger als eine Neuerzählung deutscher, christlicher, männlicher Identität. Der animaintegrierte Jesus hat für ihn auch eine Ordnung überwunden, die er als »männlich-jüdisch arrogant« (Alt 1991: 67) bezeichnet. Jesus wurde nicht – so Alts Erzählung – als animaintegrierter Mann geboren, sondern bedurfte dazu der Anregung durch eine Frau. In der Begegnung mit der Samariterin am Brunnen (Joh 4, 1-42) kam es dabei zu dem (er)lösenden Moment in Jesus: »Noch ganz in der jüdischen 17 | Zu Alts Verortung in rechten politischen Kontexten vgl. Geden (1999: 100). 18 | Er rezipiert hier besonders Hanna Wolff und Christa Mulack.
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Tradition verhaftet, glaubt Jesus zunächst an den ›Gott der Juden‹. Erst in der Konfrontation mit dieser Frau wird ihm klar, wie eng sein eigenes Gottesbild war.« (Alt 1991: 67) Für Alt ist der Gott des Alten Testaments der Inbegriff an Grausamkeit, Statik und Patriarchat, während der Gott Jesu für ihn der liebevolle, lebensbejahende Vater-Gott ist. Micha Brumlik hat Alts Antijudaismus, der im Judentum stets das ›Alte‹ und die zu überwindende Stagnation verortet, umfassend herausgearbeitet (vgl. 1991). Seine Thesen weiterführend, spricht mit Alt ein deutscher Spätgeborener (Jahrgang 1938), der – schwankend zwischen unerledigtem ›Vatermord‹ und Sehnsucht nach väterlicher Liebe – die Schuld christlicher Deutscher vergessen möchte: »Anstatt sich mit den eigenen, den wirklichen Vätern auseinanderzusetzen, sucht ein Teil dieser Generation – so meine Vermutung – ihr Heil im Haß gegen einen jüdischen Vater und in der Hinwendung zu einer unwirklichen Gurugestalt.« (Brumlik 1991: 100)
Alt fügt also über Jesus den spezifisch (Weißen, christlich-)deutschen Familienroman, in dem die Nazi-Väter ihre späte Rache fordern, in einen Diskurs über ›männliche Emanzipation‹ ein. Damit schreibt er auch (unter anderen Vorzeichen) Jungs Antisemitismus fort, denn dieser propagierte – völkisch orientiert – einen nicht-jüdischen Christus gnostischer Tradition als »Archetypus des Selbst« (Jung 1976e: 47).19 Alts Jesus, der kein Jude mehr sein darf, erlöst den christlich-deutschen Mann. In dieser Narration eines entjudaisierten und archetypischen Jesus erhält die ›Männeremanzipation‹ eine überhistorische Mission: Geschlecht, Religion und Nation verschränken sich in einer Überwindungsphantasie, die so lediglich einen bestimmten ›neuen Mann‹ ins Zentrum setzt. Frauen kommt, wie der Samariterin im Johannesevangelium, die klassische Ergänzungsfunktion des Animus-Anima-Modells zu: Sie erlösen den einzelnen – hegemonialen – Mann, weshalb dieser ihnen zuhören soll. Die Männer erledigen dann den Rest: In den Spuren Jesu retten sie, animaintegriert, die ganze Welt vor den ökologischen Katastrophen, zu denen das reine Logosprinzip unweigerlich führen muss – wie Alt es in »Der ökologische Jesus« (2002) weiterführt. In dieser Heldengeschichte wird auch eine Theologie des jüdisch-christlichen Dialogs, die den gekreuzigten Jesus fokussiert und nach der Bedeutung von Scheitern, Leid und Tod fragt, zum Schweigen gebracht. Weitaus weniger restaurativ sind die Bücher des Franziskanerpaters Richard Rohr, der franziskanische Tradition und Befreiungstheologie miteinander verbindet. In seinen ›Männer-Büchern‹ ist er jedoch auch C.G. Jung verpflichtet und arbeitet – nicht frei von exotistischen Projektionen in ›andere Kulturen‹ (darin sowohl Jung als auch den Mythopoeten ähnlich) – das Modell der Initiation aus: Um Animus und Anima ausbalancieren zu können, bedarf es männlicher Vorbilder und einer Trennung von den Einflüssen der Frauen. Rohr verortet sich zwar zwischen essentialistischer und konstruktivistischer Perspektive 19 | Zu Jungs Antisemitismus vgl. Gess (1994); Maidenbaum/Martin (1991); Noll (1994).
164 | S ven G l awion auf Geschlecht, über die Archetypenlehre ist die essentielle Grundlage aber dominierend: Initiation ist kein Modus zur Reflexion des männlichen GewordenSeins, sondern die Verfestigung eines männlichen Seins, das aus der Relation zu Frau-Sein herausgelöst wird und so frei über dem historisch gewachsenen und sozialpolitisch dynamischen Geschlechterverhältnis schwebt. Die Animaintegration führt bei Rohr – besonders in den frühen Texten (vgl. Rohr 1992) – kaum zum Dialog mit Feministinnen, stattdessen zur Figur des »wilden Mannes« (kein ›Macho‹, kein ›Softie‹), der in Jesus seinen Fluchtpunkt findet, womit Rohr die dadurch zitierte Heilsgeschichte geschlechtsspezifisch fokussiert. Mit diesem Jesus wird – parallel zu Jung – eine erneuernde, männliche Kraft etabliert: ein ›wilder‹ Erlöser und in seinen Fußspuren Männer, die sich von weiblichen Einflüssen lösen und ihr Heil nicht in der Demontage männlicher Privilegien und männlicher Gewalt, sondern in der Optimierung männlicher Lebensqualität suchen. Die so für Männer erreichbare ›Ganzheit‹ basiert auf einer Halbierung von Kirche und Gesellschaft, denn Frauen sind in dieser Erzählung nur Abgrenzungsfolie, Störfaktoren oder Erlösungshelferinnen, als (heraus)fordernde Kritikerinnen treten sie kaum auf. Der Benediktiner Anselm Grün hat Jung, Alt und Rohr in seinem Buch »Kämpfen und lieben« (2005) zusammengedacht und ihre Bedeutung und Relevanz damit bestärkt. Seine an der Archetypenlehre orientierten Portraits biblischer Männer, in denen Jesus – hier der »Heiler« – die Rolle zukommt, alle Männlichkeiten in sich zu vereinigen, individualisiert die Geschlechterthematik weitaus stärker als Alt oder Rohr. Problematisch ist nicht nur, dass Grün seine Quellen keiner Kritik unterzieht (und damit z.B. dem Antisemitismus Jungs oder Alts nicht widerspricht), sondern auch, dass er die gesellschaftliche Geschlechterhierarchie ausblendet oder verharmlost. Grün wünscht allen Männern, dass sie ihr Mann-Sein »nicht auf Kosten der Frau« entfalten, sondern sich vom »Geheimnis der Frau faszinieren« lassen und Frauen »neugierig« auf »authentisches Mannsein« machen (Grün 2005: 186). Zu einem Zeitpunkt, an dem so etwas wie eine pro-feministische ›Männerbewegung‹ kaum mehr existiert, werden ›Mann‹ und ›Frau‹ hier jeglicher Politisierung enthoben und zu archetypisch tiefgründigen ›Geheimnissen‹ erklärt, die nicht mehr nach Veränderungen, sondern nur noch nach einer Ausbalancierung streben. Eine diesem Jesus folgende Animaintegration ›heilt‹ damit die Verunsicherung, die eine Umarbeitung des Geschlechterverhältnisses für Männer mit sich bringt, nicht aber das kirchliche und gesellschaftliche Geschlechterverhältnis selbst. Der Rückgriff auf C.G. Jungs Archetypenlehre sowie auf ein jungianisch verfasstes Jesus-Bild bietet sich – so möchte ich abschließend zusammenfassen – nicht für eine auf Veränderung zielende Auseinandersetzung mit männlicher Spiritualität und Religiosität an, obwohl die genannten Bücher dies suggerieren. Dadurch, dass Jungs Animaintegration der Polarität bedarf, neigen Autoren wie Alt, Rohr und Grün – ebenso wie die Mythopoeten – eher zum Ausbau einer Differenz, die archetypisch essentialisiert wird. Diese Essentialisierung verstellt auch den Blick dafür, dass diese Differenz als Effekt spezifisch historischer Entwicklungen hierarchisch organisiert ist. In den spirituellen und religiösen
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›Männer-Büchern‹ figuriert ein ›animaintegrierter Jesus‹ – Abziehbild patriarchal generierter Männlichkeitsvorstellungen – eine ›Ganzheit‹, in der Männer sich eine ›Neue‹ Spiritualität aneignen können, ohne sich als Subjekte im kirchlichen und gesellschaftlichen Geschlechterverhältnis verändern zu müssen. Innerkirchliche Konzepte einer »Theologie jenseits der Geschlechterdifferenz« (Karle 2006) oder einer »geschlechterbewussten Theologie« (Schnabl/Lehner 2006) könnten hier Wege zeigen, Geschlecht und Spiritualität/Religiosität nicht mehr einer patriarchal verfassten ›Ganzheit‹ unterzuordnen, sondern als eine auf Veränderung zielende Ethik zu begründen.20
Literatur Alt, Franz ([1989] 1991): Jesus – der erste neue Mann, München: Piper. Alt, Franz (2002): Der ökologische Jesus. Vertrauen in die Schöpfung, München: Riemann. Baumgardt, Ursula (1987): König Drosselbart und C.G. Jungs Frauenbild. Kritische Gedanken zu Animus und Anima, Olten/Freiburg i.Br.: Walter. Brockmann, Doris (1991): Ganze Menschen – Ganze Götter. Kritik der Jung-Rezeption im Kontext feministisch-theologischer Theoriebildung, Paderborn: Schöningh. Brumlik, Micha (1986): »Die Angst vor dem Vater. Judenfeindliche Tendenzen im Umkreis neuer sozialer Bewegungen«. In: Alphons Silbermann/Julius H. Schoeps (Hg.), Antisemitismus nach dem Holocaust. Bestandsaufnahme und Erscheinungsformen in deutschsprachigen Ländern, Köln: Verlag Wissenschaft und Politik, S. 133-162. Brumlik, Micha (1991): Der Anti-Alt. Wider die furchtbare Friedfertigkeit, Frankfurt a.M.: Eichborn. Brzoska, Georg (1996): »Männerpolitik und Männerbewegung«. In: Holger Brandes/Hermann Bullinger (Hg.), Handbuch Männerarbeit, Weinheim: Psychologie Verlags Union, S. 74-89. Ebert, Andreas (1992): »Vor-Rede zur deutschen Ausgabe«. In: Richard Rohr: Der Wilde Mann. Geistliche Reden zur Männerbefreiung, München: Claudius, S. 7-24. Faludi, Susan (1991): Backlash. The Undeclared War Against American Women, New York: Crown Publishers. Fanon, Frantz ([1952, frz.] 1967): Black Skin, White Masks, New York: Grove Press. Garber, Marjorie (1995): Vice Versa. Bisexuality and the Eroticism of Everyday Life, New York: Simon & Schuster. Geden, Oliver (1999): Rechte Ökologie. Umweltschutz zwischen Emanzipation und Faschismus, Berlin: Elefanten Press. 20 | Für Lektüre und Kommentare danke ich Wibke Backhaus, Elahe Haschemi Yekani, Jana Husmann-Kastein und Stefanie von Schnurbein.
166 | S ven G l awion Gess, Heinz (1994): Vom Faschismus zum Neuen Denken. C.G. Jungs Theorie im Wandel der Zeit, Lüneburg: Dietrich zu Klampen. Grün, Anselm ([2003] 2005): Kämpfen und lieben. Wie Männer zu sich selbst finden, Münsterschwarzach: Vier-Türme. Hausen, Karin (1976): »Die Polarisierung der ›Geschlechtscharaktere‹«. In: Werner Conze (Hg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart: Klett-Cotta, S. 363-393. Heiligenthal, Roman (2006): Der verfälschte Jesus. Eine Kritik moderner Jesusbilder, Darmstadt: WBG. Hof, Renate (2006): »Geschlechter(in)differenz: Einige Bemerkungen zur sozialen Konstruktion der ›Geschlechtervielfalt‹«. In: Sabine Lucia Müller/Sabine Schülting (Hg.), Geschlechter-Revisionen. Zur Zukunft von Feminismus und Gender Studies in den Kultur- und Literaturwissenschaften, Königstein/Taunus: Ulrike Helmer, S. 101-115. Hofer, Markus (2005): Männerspiritualität, Innsbruck/Wien: Tyrolia. Husmann-Kastein, Jana (2006): »Schwarz-Weiß. Farb- und Geschlechtssymbolik in den Anfängen der Rassenkonstruktionen«. In: Martina Tißberger/Gabriele Dietze et al. (Hg.), Weiß – Weißsein – Whiteness. Kritische Studien zu Gender und Rassismus, Frankfurt a.M.: Peter Lang, S. 43-60. Jung, C.G. ([1927] 1976a): »Die Frau in Europa«. In: Lilly Jung-Merker/Elisabeth Rüf (Hg.), Gesammelte Werke, Bd. 10, Olten: Walter, S. 135-156. Jung, C.G. ([1935] 1976b): »Über die Archetypen des kollektiven Unbewussten«. In: Lilly Jung-Merker/Elisabeth Rüf (Hg.), Gesammelte Werke, Bd. 9/I, Olten: Walter, S. 13-51. Jung, C.G. ([1951] 1976c): »Der Schatten«. In: Lilly Jung-Merker/Elisabeth Rüf (Hg.), Gesammelte Werke, Bd. 9/II, Olten: Walter, S. 17-19. Jung, C.G. ([1951] 1976d): »Die Syzygie: Anima und Animus«. In: Lilly JungMerker/Elisabeth Rüf (Hg.), Gesammelte Werke, Bd. 9/II, Olten: Walter, S. 20-31. Jung, C.G. ([1951] 1976e): »Christus, ein Symbol des Selbst«. In: Lilly Jung-Merker/Elisabeth Rüf (Hg.), Gesammelte Werke, Bd. 9/II, Olten: Walter, S. 4680. Karle, Isolde (2006): ›Da ist nicht mehr Mann noch Frau…‹. Theologie jenseits der Geschlechterdifferenz, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Maidenbaum, Aryeh/Martin, Stephan A. (Hg.) (1991): Lingering Shadows. Jungians, Freudians and Anti-Semitism, Boston/London: Shambhala Publications. Moltmann-Wendel, Elisabeth (1989): Wenn Gott und Körper sich begegnen: feministische Perspektiven zur Leiblichkeit, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Morrison, Toni (1993): Playing in the Dark. Whiteness and the Literary Imagination, New York: Vintage Books. Newton, Judith Lowder (2005): From Panthers to Promise Keepers. Rethinking the Men’s Movement, Lanham/MD: Rowman & Littlefield.
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Noll, Richard (1994): The Jung Cult. Origins of a Charismatic Movement, Princeton: Princeton University Press. Rohr, Richard ([1986] 1992): Der wilde Mann. Geistliche Reden zur Männerbefreiung, München: Claudius. Rohr, Richard (1993): Masken des Maskulinen. Neue Reden zur Männerbefreiung, München: Claudius. Rohr, Richard (2005): Endlich Mann werden. Die Wiederentdeckung der Initiation, München: Claudius. Roth, Wolfgang (2003): Einführung in die Psychologie C.G. Jungs, Düsseldorf/ Zürich: Walter. Schnabl, Christa/Lehner, Erich (2006): »Perspektiven für eine geschlechterbewusste Theologie. Bündelung und Ausblick«. In: Marie-Theres Wacker/Stefanie Rieger-Goertz (Hg.), Mannsbilder. Kritische Männerforschung und theologische Frauenforschung im Gespräch, Münster: LIT, S. 319-343. Schnurbein, Stefanie von (1997): »Mütterkult und Männerbund. Über geschlechtsspezifische Religionsentwürfe«. In: Richard Faber/Susanne Lanwerd (Hg.), Kybele – Prophetin – Hexe. Religiöse Frauenbilder und Weiblichkeitskonzeptionen, Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 249-270. Schottroff, Luise/Wacker, Marie Theres (Hg.) (1996): Von der Wurzel getragen. Deutschsprachige christlich-feministische Exegese in Auseinandersetzung mit Antijudaismus, Leiden: Brill Academic Publishers. Schottroff, Luise/Schroer, Silvia et al. (Hg.) (1997): Feministische Exegese. Forschungsbeiträge zur Bibel aus der Perspektive von Frauen, Darmstadt: Primus. Stephan, Inge (1997): Musen & Medusen. Mythos und Geschlecht in der Literatur des 20. Jahrhunderts, Köln/Weimar/Wien: Böhlau. Theißen, Gerd (2001): Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Wolff, Hanna (1975): Jesus der Mann. Die Gestalt Jesu in tiefenpsychologischer Sicht, Stuttgart: Radius.
Der »White Negro« als Erlöser figur: »Pretty Fly for a White Guy?« Carsten Junker Das Phänomen des »White Negroism« – die Faszination weißer Männer für ihre Vorstellungen von ›Schwarzsein‹ und die damit verbundenen Aneignungspraktiken und Vereinnahmungsstrategien (vgl. Levine 2003) – hat in den USA eine lange Tradition : Es lässt sich zurückverfolgen bis zu den »blackface minstrelsy«-Aufführungen im 19. Jahrhundert, den Unterhaltungsmaskeraden, für die sich weiße Schauspieler das Gesicht schwarz bemalten, um ein weißes Publikum mit Geschichten über rassistisch gezeichnete Figuren zu unterhalten. Es 1 | Übersetzt etwa: »Ziemlich gerissen für einen weißen Typen?« (Zitat aus »Pretty Fly«, einer Single auf dem Album »Americana« der Punkband The Offspring, Columbia Records, 1998). Der Song lässt sich als satirischer Kommentar auf das Phänomen weißer Rapkultur lesen. 2 | Der Begriff Schwarz ist dort groß geschrieben, wo er Prozessen politischer und kultureller Ermächtigung Rechnung tragen soll und verweist dort, wo er klein geschrieben ist, auf Kontexte problematischer Zuschreibungspraktiken. Weiß schreibe ich klein, um die Großschreibung von Schwarz, wo sie auf Selbstermächtigung verweist, nicht zu relativieren. In den Fällen, in denen ich den deutschen Begriff ›Rasse‹ gebrauche, setze ich ihn in einfache Anführungszeichen, um mich von seinen naturalisierenden Effekten zu distanzieren. Weil ich mich hier auf einen US-amerikanischen Kontext beziehe, gebrauche ich an manchen Stellen zudem den Begriff Race. Obwohl deutsch- und englischsprachige Gebrauchszusammenhänge nicht vergleichbar sind, sind doch in allen Kontexten rassistische Benennungspraktiken wirksam. Auch der Begriff Race bleibt in englischsprachigen Gebrauchszusammenhängen – zumindest außerhalb eines Rahmens hegemoniekritischer Wissensproduktion – weiterhin biologistisch und rassistisch konnotiert (vgl. Junker 2005). 3 | Mit dem Film »Bamboozled« (2000), der die Geschichte einer zeitgenössischen TV-»minstrel show« erzählt, erkundet der Filmemacher Spike Lee die anhaltende Relevanz rassistischer ›Mythologien‹ in der Populärkultur: »Racism is woven into the very fabric of American society. […] I think ›Bamboozled‹ demonstrates how interwoven rac-
170 | C arsten J unker artikuliert sich in der Begeisterung weißer Intellektueller wie Carl Van Vechten für den ›Primitivismus‹ Schwarzer Künstler während der Harlem Renaissance in den 20er und 30er Jahren, in denen sich zum ersten Mal eine Anerkennung kultureller Leistungen und Erfolge von Afroamerikaner-/innen durchsetzte. Es zeigt sich am Erfolg eines Sängers wie Elvis Presley, der Anleihen beim Schwarzen Gospel und Rhythm & Blues machte, und reicht bis hin zu den »wiggers«, weißen Vorstadtjugendlichen, die den Inszenierungsstilen Schwarzer Rapkultur nacheifern und sich weiße Rapper wie Eminem zum Vorbild nehmen. Der Begriff »White Negroism« leitet sich von dem Titel des Essays »The White Negro: Superficial Reflections on the Hipster« des US-amerikanischen Autors Norman Mailer aus dem Jahr 1957 ab. Diesen Text wertet Andrea Levine als »arguably the most famous twentieth-century academic example of the white appropriation of ›blackness‹« (2003: 62). Auf den ersten Blick scheint diese Aneignungsstrategie ein Versuch zu sein, sich aus einer hegemonialen weißen, männlichen Subjektposition ab- bzw. zu erlösen. So rücke ich im Kontext der Debatte um Bedeutungen von Erlöserfiguren die Figur des »White Negro« in den Vordergrund: Was hat eine weiße Aneignungspraxis von Schwarzsein, wie sie sich im »White Negro« artikuliert, mit Erlöserphantasien zu tun? Das heißt, wovon und auf welche Weise verspricht sich Mailers »White Negro« Erlösung? Hält eine genauere Lektüre des Essays der Vermutung stand, es handele sich hier um Erlösungsphantasien aus einer hegemonialen Subjektposition?
»White Boy« Zu Beginn seines Essays richtet sich Mailer an ein Publikum, das sich – ausgelöst durch den Holocaust und die Atombombe – in einer abgrundtiefen Krise befinde: »Probably, we will never be able to determine the psychic havoc of the concentration camps and the atom bomb upon the unconscious mind of almost everyone alive in these years.« (1959: 303) Angesichts dieser geopolitischen Ereignisse konstatiert Mailer traumatische Auswirkungen auf eine Art kollektives Unbewusstes und diagnostiziert ein allgemein um sich greifendes Gefühl der Angst und der Ohnmacht. Dieses Gefühl sei die Erklärung dafür, dass die Menschen sich einem ungeheuren Konformitätsdruck ausgesetzt sähen und Zuflucht in gesellschaftlicher Gleichmacherei suchten: »One could hardly maintain the courage to be individual, to speak with one’s own voice. […] No wonder then that these have been the years of conformity and depression. A stench
ism – or let’s just say race has been in this country, but people still want to deny it, or not deal with it.« (Crowdus/Georgakas 2001: 5) 4 | Für eine Genealogie und komplexe Analyse des »Wigger«-Begriffs (eine Wortbildung aus »white n*****«) und des damit verbundenen Phänomens, siehe Roedinger (1995); Vgl. auch Greg Tate, der von einer neuen Welle von »White Negroes« in Folge einer Popularisierung von Hip-Hop spricht (2003).
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of fear has come out of every pore of American life, and we suffer from a collective failure of nerve.« (1959: 303-304)
Mailer leitet aus dem krisenhaften Vertrauensverlust der Menschen ein gesteigertes Sicherheitsbedürfnis und eine damit verbundene Autoritätshörigkeit ab: »[W]hat haunts the middle of the twentieth century is that faith in man has been lost, and the appeal of authority has been that it would restrain us from ourselves.« (1959: 319) In den Nachkriegsjahren entfaltete sich der Wohlstand der weißen, mittelständischen Bevölkerung, die es sich in ihren normierten Vorstädten bequem machte. Dieser Prozess ging nicht zuletzt mit massiven militärischen Aufrüstungsbestrebungen einher, vor deren gefährlichen Auswirkungen selbst der scheidende Präsident Dwight D. Eisenhower in seiner Abschiedsrede 1961 mit dem Verweis auf den »militärisch-industriellen Komplex« und dessen fatale Folgen für demokratische Prozesse warnen sollte. Die US-amerikanische Nachkriegsgesellschaft begann im frühen Kalten Krieg nach Außen hin eine Einflusssphäre als Bollwerk gegen den Kommunismus zu schaffen, nach Innen hin nahm das politische Klima unter Senator McCarthys antikommunistischer Hetze dogmatische und repressive Züge an. Vor diesem Hintergrund entwirft Mailer in der sozialistischen Zeitschrift »Dissent« die Figur des sogenannten »Hipsters«. Der Hipster ist eine Instanz, die einen Ausweg aus der Konformität und der unkritischen Einfalt der US-amerikanischen Nachkriegsgesellschaft verspricht, die längst in den nächsten Krieg, den Kalten Krieg, eingetreten ist. Er gewinnt seine Bedeutung in Abgrenzung zur Figur des »Square«, die den normativen, mehrheitsfähigen Vorstellungen sozialen Verhaltens entspricht und sich unkritisch einem Konformitätsdruck beugt, dem der Hipster widerstehen will: »One is Hip or one is Square (the alternative which each new generation coming into American life is beginning to feel), one is a rebel or one conforms, one is a frontiersman in the Wild West of American night life, or else a Square cell, trapped in the totalitarian tissues of American society, doomed willy-nilly to conform if one is to succeed.« (Mailer 1959: 305)
Der Antrieb der Figur des Hipsters ist also, sich aus den als totalitär gedeuteten Strukturen der US-amerikanischen Gesellschaft zu lösen. Mailer stellt den Hipster dabei in den Kontext des formelhaften frontier Gründungsmythos. Die frontier ist ein Topos, der bereits immer die Bedingungen dafür bereit gestellt hat, Grenzen als verhandelbar zu deuten – etwa im Akt der Landnahme durch Kolonisatoren – wobei der »frontiersman« aus diesem Aushandlungsakt, der auch als ein Akt der Bewährung verstanden werden kann, in der Regel gestärkt hervorgeht. Durch die Verschiebung einer Außengrenze kann er alte Grenzen überwinden, nicht zuletzt indem er sich das, was außerhalb der Grenze liegt, einverleibt. Den Verhandlungsraum der Grenze verlagert der Hipster vom ländlichen Mittleren Westen in den imaginären Wilden Westen des Nachtle-
172 | C arsten J unker bens US-amerikanischer Großstädte. An genau diesem Sehnsuchtsort trifft der Hipster auf seine eigenen Vorstellungen des »Negro«. Hier kommt die Figur in Berührung mit ihrem Konzept schwarzer Männlichkeit, das durch den »Negro« verkörpert wird. In Folge der von Mailer diagnostizierten Traumatisierung durch Holocaust und Atombombe erklärt er den »Negro« im Essay zum Faszinosum, weil dieser seit jeher aufs blanke Überleben angewiesen gewesen sei. Auf ihn projiziert Mailer das in der Logik des Essays verklärte Ideal sozialer und kultureller Unterdrückung und Ausgrenzung. Der »Negro« wird so zur Projektionsfläche des Begehrens, zur Quelle des Neids und zum Idealbild nachahmenswerter Männlichkeit, die ›rassisch‹ markiert ist: »[I]f one is to be a man, almost any kind of unconventional action often takes disproportionate courage. So it is no accident that the source of Hip is the Negro for he has been living on the margin between totalitarianism and democracy for two centuries. […] The hipster had absorbed the existentialist synapses of the Negro, and for practical purposes could be considered a white Negro.« (1959: 305-306)
Mailers Version der weißen Hipsterfigur durchläuft so einen Prozess der Rassisierung und Vermännlichung, die in dem Entwurf des »White Negro« mündet. Mit dieser paradoxen Konstruktion eines weißen Schwarzen – mit ihr wird eine ›rassische‹ Differenz behauptet und zugleich in einer einzelnen Figur vereinigt – entwirft Mailer eine Identifikationsfigur. Sie hebt sich von der Mehrheitsgesellschaft ab, indem sie für sich in Anspruch nimmt und auf sich überträgt, was die weiße Mehrheitsgesellschaft als ihr schwarzes Äußeres markiert, abwertet und ausgrenzt. Schwarzsein bedeutet in der Gegenwart verhaftet zu sein, den Moment zu genießen, lustbetont zu leben. Mailers Konstruktion von Schwarzsein basiert auf der Annahme einer Lebenswirklichkeit schwarzer Männer, die folgendermaßen aussieht: »The Negro has the simplest of alternatives: live a life of constant humility or ever-threatening danger. In such a pass, where paranoia is as vital to survival as blood, the Negro had stayed alive and begun to grow by following the need of his body where he could. Knowing in the cells of his existence that life was war, nothing but war, the Negro (all exceptions admitted) could rarely afford the sophisticated inhibitions of civilization, and so he kept for his survival the art of the primitive, he lived in the enormous present, he subsisted for his Saturday night kicks, relinquishing the pleasures of the mind for the more obligatory pleasures of the body.« (1959: 306)
Mailer schreibt seine Behauptungen in einen kolonial-rassistischen Diskurs ein, der Schwarze in einer Objektposition einer Dichotomie verortet, in der Schwarzsein als sexuelle und aggressive Primitivität sowie als begehrliche und bedrohliche Körperlichkeit gegenüber zivilisiertem Weißsein erscheint. Mailer artikuliert dabei eine Form des sogenannten ›positiven Rassismus‹, der kolonialrassistische Zuschreibungen vermeintlich schwarzer Virilität und ungebändigter Überlebenskraft ambivalent besetzt: Er wertet Schwarzsein nicht ab, son-
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dern auf, bezieht diese Bewertung auf die Figur des »White Negro« und weist auf diese Weise auch dem Hipster eine Position der ›rassischen‹ Andersartigkeit zu. Dadurch stellt er implizit die vom Square getragene Mehrheitsgesellschaft als weiß her. Mailer meint nun, genau diese Gesellschaft aus einer Sphäre des Schwarzseins kritisieren zu können. Für den Square bedeutet Mailers Umwertung ›rassischer‹ Unterschiede eine Provokation und hat so das Potential einer besonders effektiven Strategie der Kritik. Indem Mailer die Figur des »White Negro« in einer Sphäre der Marginalität verortet, scheint er seine Hipsterfigur aus der Position ›zivilisierten‹ Weißseins erlösen bzw. sie von ihr ablösen und wegbewegen zu wollen. Zuerst einmal hätte die Selbstverortung in der Marginalität so die Funktion, die eigene hegemoniale Position zu überwinden. Es gelingt Mailer jedoch nicht, sein essayistisches Ich und seine Kunstfigur des »White Negro« von einer Sphäre des Weißseins abzugrenzen: Da er eine unreflektierte Perspektive auf das Konzept schwarzer Männlichkeit einnimmt, bindet er die Betrachterposition seines essayistischen Ichs an eine unhinterfragte normative Position von Weißsein. Indem er eine Sprecherposition einnimmt, von der aus er weiterhin die Deutungshoheit über gesellschaftliche Verhältnisse für sich beansprucht, behauptet er ein Konzept hegemonialer weißer Männlichkeit. Die Ambivalenzen der Mailerschen Race-Konstruktionen werden dadurch noch verstärkt, dass Gender-Zuschreibungen ebenfalls mehrdeutig lesbar bleiben: Das begehrenswerte Schwarzsein des »Negro« scheint eng an dessen virile Männlichkeit geknüpft. Der »Negro« wird aber nicht durchgängig als hypermaskulin gezeigt, sondern auch effeminiert. So weist Mailer ihm eine weibliche Position zu, wenn er eine Metapher der Heirat abruft und es dabei der »Negro« ist, der die Mitgift in die Ehe mitbringt: »[I]n this wedding of the white and the black, it was the black who brought the cultural dowry.« (1959: 306) In Abgrenzung zum weiblich kodierten »Negro« gewinnt der »White Negro« umso männlichere Züge. Die Heiratsmetaphorik verfestigt so seine Bindung an eine hegemoniale Position. Andererseits ließe sich auch argumentieren, dass eine Figur wie der »White Negro« es ermöglicht, eine nicht-hegemoniale Verkörperung von Männlichkeit durchzuspielen, die nicht an eine hegemoniale Begehrensstruktur geknüpft ist. Der ausschweifende Lebensstil eines Hipsters lässt auch gleichgeschlechtliches Begehren zu: Beiläufig und lapidar heißt es, »many hipsters are bisexual« (1959: 315). Oder reklamiert Mailer für den Hipster nur alternative sexuelle Lebensweisen, solange sie für ihn als verlockend provokant gelten, weil sie stigmatisiert sind? Auffallend ist, dass Mailer keine Kritik an dominanten Benennungspraktiken und Ausgrenzungsmechanismen übt und so heteronormative Herrschaftsverhältnisse stützt, die bestimmte Lebenswirklichkeiten überhaupt erst stigmatisieren: »Becoming a queer« schließlich zeichnet Mailer als bedrohliches Horrorszenario für sein ideales Männlichkeitsbild: »And of course, one can hardly afford to be put down too often, or one is […] impotent in the world of action and so closer to the demeaning flip of becoming a queer.« (1959: 317) Mailer leistet sich die Artikulation einer von ihm imaginierten »Blackness
174 | C arsten J unker without Blacks«, die weniger ein Interesse an der Lebenswirklichkeit Schwarzer Männer zeigt als vielmehr die Deutungshoheit über ein Konzept schwarzer Männlichkeit behauptet. Weder artikuliert Mailer explizit den Wunsch nach der Erlösung von den Privilegien und »Bürden« der sozialen Vormachtstellung eines weißen Subjekts, noch lehnt er es ab, als weiß identifiziert zu werden. Ich schlage auch vor, Mailers Aneignungsstrategie nicht als Mimikry von Schwarzsein im Sinne der Übernahme von konkreten, als Schwarz gedeuteten kulturellen Ausdrucksformen und Produktionsweisen zu lesen. Anders als etwa der Musiker Mezz Mezzrow, ein weißer Immigrant russisch-jüdischer Herkunft, der im Jazz Erfolge feierte, eignet sich Mailer Schwarzsein auf abstraktere Weise an: in der allegorischen Bedeutung, die das Konzept bei Mailer gewinnt, indem es auf eine soziale Außenseiterposition verweist. Mailer meint, mit der Figur des »White Negro« eine Legitimation für seine Kritik an der weißen Nachkriegsgesellschaft beziehen zu können. Um eine Position am Rand zu besetzen, instrumentalisiert er seine Auffassung schwarzer Männlichkeit als marginal und nimmt von dort kritisch das Zentrum in den Blick. Liest man Mailers Essay im Rahmen der Geschichte weißer Aneignungspraktiken von männlichem Schwarzsein, wie dies Levine vorschlägt (vgl. 2003: 59), so artikuliert der Text keine modische Gesellschaftskritik eines selbsternannten Außenseiters, der eine gesellschaftliche Krise behauptet und zugleich darum bemüht ist, sie zu überwinden. Mailer bietet eine rassisierende und vergeschlechtlichende Deutung sozialer Verhältnisse an, die an der Herstellung von ›rassisch‹ und geschlechtlich kodierten Herrschaftsverhältnissen beteiligt ist. Er konzipiert mit dem »White Negro« eine utopische Figur, mit der das Konzept weißer Männlichkeit, wie es der Square repräsentiert, überwunden werden soll. Man könnte argumentieren, dass er die Möglichkeit durchspielt, in dieser Figur vermeintlich ›rassische‹ Differenzen zu integrieren und letztlich aufzulösen. Diese de-essentialisierende Zielsetzung verfolgt Mailer mit seinem Essay jedoch nicht. Der Autor hinterfragt nicht die Möglichkeitsbedingungen der diskursiven Herstellung ›rassischer‹ Differenzen. Das heißt, sein essayistisches Ich reflektiert nicht seine eigene Sprecherposition und deren Eingebundenheit in kulturell und historisch eingebettete rassistische Diskurse – und setzt vermeintlich ›rassische‹ Differenzen so als gegeben fest. Mailer verortet das Konzept einer schwarzen männlichen Körperlichkeit im Hier und Jetzt: »[H]e 5 | Diese Formulierung geht auf den Buchtitel von Gilman (1982) zurück. 6 | Hier beziehe ich mich auf Rudyard Kiplings Vorstellung von einer Bürde und Last des weißen Mannes, die dieser im kolonialen Projekt auf sich nehme, vgl. sein Gedicht »The White Man’s Burden« (1899). 7 | Mezzrow schrieb in seiner Autobiographie Really the Blues von 1946, dass er sich durch seine Einbindung in die Jazzszene von Harlem ›rassisch‹ transformieren konnte: »I was going to be a musician, a Negro musician, hipping the world about the blues the way only Negroes can.« (Mezzrow 1990) Laut Gayle Wald bewunderte Mailer Mezzrow, und dessen Autobiographie inspirierte Mailer dazu, seinen Essay zu schreiben (vgl. Wald 2000: 59).
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[the Negro] lived in the enormous present.« (1959: 306) Dadurch werden die Eigenschaften der Figur naturalisiert. Schwarzsein selbst wird enthistorisiert, ähnlich wie entsprechend einer hegelianischen Logik dem ganzen Kontinent Afrika seine Geschichte abgesprochen worden ist, mit nachhaltiger Wirkung auf weißes westliches Denken. Mailer nimmt Teil am US-amerikanischen Race-Diskurs, ohne diesen jedoch an einen Kontext rassistischer Gewaltverhältnisse – der von der Sklaverei bis in die 50er Jahre reicht und darüber hinaus die sozialen Realitäten der US-amerikanischen Gesellschaft prägen sollte – anzubinden. So bleibt etwa die Schwarze Bevölkerung, die sich durch die Wahrnehmung ihrer staatsbürgerlichen Pflichten im Zweiten Weltkrieg Anerkennung in der US-amerikanischen Öffentlichkeit hatte erkämpfen können, nach dem Krieg weiterhin von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgegrenzt. Mailers Essay wird in einer Zeit veröffentlicht, in der die ›Rassentrennung‹ in den USA noch gesetzmäßig verankert ist und Schwarze keinen Zugang zur politischen Partizipation haben. Die »Jim Crow«-Gesetzgebung ist entsprechend dem Motto »separate but equal« noch nicht für verfassungswidrig erklärt. Auf diesem rassistischen Grundsatz basiert die Segregation, mit der ganze soziale, politische und wirtschaftliche Bereiche entlang einer schwarz/weißen Trennlinie voneinander abgespalten werden. Das alltägliche Leben der Schwarzen und weißen Bevölkerung ist davon geprägt, dass öffentliche Einrichtungen wie Schulen, Krankenhäuser, Verkehrsmittel und private Geschäfte getrennt sind oder Schwarze einen eingeschränkten Zugang zu ihnen haben. Die Aktivist-/innen und Protagonist-/innen der frühen Bürgerrechtsbewegung – etwa Ella Baker und Martin Luther King – sind bemüht, auf der Grundlage einer gemeinsamen Menschlichkeit und nationalen Zugehörigkeit den gleichen Zugang zu Bürgerrechten zu fordern. King beginnt in diesem Sinn 1955 eine Rede mit den Worten: »We are here […] because first and foremost we are American citizens and we are determined to apply our citizenship to the fullness of its means.« (1991: 48) Um institutionell verankerten Rassismus abzuschaffen, nutzt King eine Rhetorik, mit der er die Logik ›rassischer‹ Differenzen zu überwinden versucht. So gesehen war der Verweis auf eine alle umfassende Nationalität auch Teil eines Kampfes um die Deutungshoheit über symbolische und diskursive Bedeutungszuweisungen und Bewertungen ›rassischer‹ Unterscheidungen. Mailers Essay bemüht im Gegensatz zu den Aussagen der frühen Bürgerrechtler-/innen, die ›rassische‹ Differenzen als Fiktion enttarnen wollten, eine Rhetorik, die auf diese Differenzen pocht. Es mutet zynisch an, dass Schwarzsein für Mailer den Ausweg aus oder zumindest die Kritik an einer Gesellschaft bedeutet, um deren Teilhabe die Bürgerrechtsbewegung kämpft, und zwar zu einem Zeitpunkt, an dem diese sich – ein Jahrhundert nach der Abolitionismusbewegung – gerade erst zu etablieren beginnt. Mailers Enthistorisierung rassistischer Diskurse anhand der Konstrukti8 | Der afroamerikanische Journalist Louis Lomax kommentiert auf humoristische Weise die Komplexität der Interessenlage im Rahmen der Bürgerrechtsbewegung in einem Essay von 1961: »[U]nder segregation, the American Negro was a tragic figure; now,
176 | C arsten J unker on, Aneignung und Vereinnahmung eines geschichtslosen Schwarzseins wäre demnach als Strategie einer Abwendung von der Vergangenheit zu lesen, als ein Versuch, der den Wunsch zum Ausdruck bringt, Schuldgefühle abzuwehren, die aus der Verfangenheit in eine Geschichte der Sklaverei und der ›Rassentrennung‹ herrühren. Dies verweist auf den performativen Aspekt dieser Figur, in deren Konstruktionsprozess das Versprechen nach Erlösung eingeschrieben zu sein scheint. Ich komme zurück zum Ausgangspunkt von Mailers Essay und schlage eine weitere Lesart der Aneignungspraxis eines geschichtslosen Schwarzseins vor. Mailer beginnt seinen Essay mit einer Referenz auf die verheerenden psychischen Folgeschäden der Konzentrationslager. Er benennt explizit den Holocaust und ruft damit implizit dessen antisemitischen Begründungszusammenhang auf. Entsprechend der Genrekonventionen des Essays ist erwartbar, dass das Lesepublikum die Instanz des essayistischen Ichs eng an die Sprecherposition des realen Autors bindet. Mailers jüdische Herkunft mag dabei die Relevanz seiner Aussagen über den Holocaust unterstreichen. Welche Auswirkungen hat Mailers Perspektive im Rahmen einer solchen Deutungsmöglichkeit auf die Einschätzung seiner Faszination von schwarzer Marginalisierung? Lässt sie sich dann als ein Wunsch deuten, das Wissen um den Holocaust auszublenden? Ist sie ein Ausdruck des Begehrens danach, die Bedrohlichkeit antisemitischer Tendenzen zu neutralisieren oder sie zu überwinden, indem er ein anderes Herrschaftsverhältnis aufruft? Offensichtlich geht Mailer unterschiedlich mit verschiedenen Artikulationsformen von Marginalisierung um. Paradoxerweise verweist Mailer mit der Figur des »White Negro« auf einen Kontext, der ihn nicht rassistisch marginalisiert und in dem er sich selbst marginalisieren kann. Damit erlangt er die Handlungsfähigkeit, die er in antisemitischen Herrschaftsverhältnissen nicht hätte – mit der er jedoch wiederum Marginalisierungsprozesse vollzieht.
»Black Boy« Mailers Perspektive ist nicht unhinterfragt geblieben. Seitens afroamerikanischer Autor-/innen sind besonders Mailers Vorstellungen schwarzer Männlichkeit als verzerrte Konstruktionen herausgestellt worden, die mehr über den Blickwinkel Mailers sagen als etwas über die Lebenswirklichkeit oder das Selbstverständnis Schwarzer Männer. Der Schriftsteller James Baldwin legt mit »The Black Boy Looks at the White Boy« eine Replik auf den Essay seines Kollegen Mailer vor, die genau davon zeugt, dass Baldwin als ein kritischer Intellektueller nicht bereit war, problematische Vorannahmen über Schwarze unhinterfragt stehen zu lassen: »I could not, with the best will in the world, make any sense out of the White Negro.« (Baldwin 1961: 288) with integration coming, he is comic. He summons the nation’s highest court […] to kick down a door and let him into a burning building.« (1993: 80)
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Baldwins Replik auf Mailer ist Ausdruck der konfliktreichen Auseinandersetzung zwischen den beiden Schriftstellern, die William Weatherby als »reverse sides of the same coin« bezeichnet, als »representative figures of the Sixties, when blacks and whites were struggling creatively to understand each other« (1977: 218). Indem Baldwin seinen Text im ersten Absatz ironisch als »love letter« (1961: 216) an Mailer bezeichnet, legt er eine Kommunikationsstruktur an, die Mailer explizit als Adressaten seiner Kritik vorsieht. Gleich zu Beginn stellt Baldwin die Unterschiede zwischen sich und Mailer heraus: »I am a black boy from the Harlem streets, and Norman is a middle-class Jew.« (1961: 216) Baldwins Blick auf Mailer, den er im Titel noch als »white boy« anruft, modifiziert er hier durch seine Benennung Mailers als »middle-class Jew«. Die letztere Zuschreibung hat Auswirkungen auf Baldwins Lesart von Mailers Essay, der in seinem Text an keiner Stelle auf seine jüdische Herkunft verweist. Mailers Anrufung durch Baldwin könnte als Hinweis darauf gedeutet werden, dass Baldwin es ablehnt, Mailer als weiß zu lesen, zumal Juden im USamerikanischen Kontext nicht immer schon oder nicht notwendigerweise als weiß identifiziert worden sind (vgl. Gilman 1995). Weil Mailer es umgeht, sich selbst als Jude zu identifizieren, kann Baldwins Benennungspraxis von Mailer als »middle-class Jew« als Zurechtweisung gedeutet werden oder als Appell an Mailer, eine nicht hegemoniale jüdische Position als eigene Sprecherposition anzuerkennen und diese positiv zu besetzen. Baldwin erlöste Mailer dann in gewisser Weise von weißer hegemonialer Männlichkeit. Dies wäre zumindest eine Geste, mit der Baldwin Mailer auf sympathisierende Weise eine Möglichkeit aufzeigt, Ausschlussmechanismen weißer Vorherrschaft zu thematisieren und eine kritische Position gegenüber weißer Subjektivität einzunehmen. Das geht über das hinaus, was Mailer vorführt – die Auflösung starrer Zuordnungs praktiken, mit denen bestimmte rassisierte Körper an bestimmte Subjektpositionen geknüpft werden. Baldwins Anrufung kann aber auch als Kritik an Mailers Beharren auf einer manichäischen schwarz/weiß-Logik gedeutet werden. Jedenfalls verkompliziert er Mailers ›rassischen‹ Dualismus, indem er sich weigert, ihn darin zu verorten. Er gibt zu bedenken, dass ›rassische‹ Annahmen bereits immer schon mit Mutmaßungen über andere Kategorien wie etwa Religionszugehörigkeit verschränkt sind und deutet so auch auf unabschließbare Differenzierungsmöglichkeiten innerhalb von Weißsein hin. Mit Rekurs auf seine Erfahrungen macht Baldwin anschaulich, dass ›rassische‹ Labels ihre Bedeutung immer nur im Kontext rassistischer Strukturen erhalten. Aus dieser Erkenntnis rührt Baldwins kritische Haltung gegenüber Mailer, der kein Bewusstsein für rassistische Strukturen erkennen lässt und so womöglich seine Einbezogenheit in sie überwinden will. Baldwins Erfahrungsbegriff verweist darüber hinaus auf den Ort der Marginalität als Quelle widerständischen Denkens. Die afroamerikanische Kritikerin bell hooks greift zu einem späteren Zeitpunkt diesen Gedanken auf. Als »Space of Radical Openness« behauptet sie den Ort der Marginalität als Möglichkeitsbedingung für marginalisierte Gruppen, hegemoniekritische Gegendiskurse zu entwickeln (vgl. hooks 1990).
178 | C arsten J unker Im weiteren Verlauf seines Essays argumentiert Baldwin, dass die Position, die ihm als »Negro« zugewiesen wird, es für ihn notwendig macht, einen Blick zu entwickeln, der sein Überleben sichert. Zugleich bedeutet diese Positionierung auch ein gesteigertes Bewusstsein um gesellschaftliche Verhältnisse: »The world had prepared no place for you, and if the world had its way, no place would ever exist. Now, this is true for everyone, but, in the case of a Negro, this truth is absolutely naked: if he deludes himself about it, he will die. This is not the way this truth presents itself to a white man, who believes the world is theirs and who, albeit unconsciously, expect the world to help them in their achievement of their identity.« (1961: 232)
Weiße Subjekte können es sich also leisten davon auszugehen, dass die Welt von ihnen ein- und auf sie ausgerichtet sei, Schwarze Subjekte nicht: »I was black and knew more about that periphery he [Mailer] so helplessly maligns in ›The White Negro‹ than he could ever hope to know.« (1961: 218) Baldwin entwickelt so eine Epistemologie rassisierter Sichtachsen, die nicht auf essentialistischen Annahmen beruht und gleichwohl die Wirkmächtigkeit der Kategorie Race auf gesellschaftliche Zustände und auf deren Wahrnehmungsweisen berücksichtigt. Die »Wahrheit«, von der Baldwin spricht, bezieht sich auf die Erkenntnis, dass soziale Realitäten von Macht durchzogene Felder sind: »›I want to know how power works‹ Norman once said to me, ›how it really works, in detail.‹ Well, I know how power works, it has worked on me, and if I didn’t know how power worked, I would be dead. And it goes without saying, perhaps, that I have simply never been able to afford myself any illusions concerning the manipulations of that power.« (1961: 232-233)
Baldwins Beschreibung seiner Beziehung zu Mailer steht beispielhaft für seine Erkenntnis, dass weiße Subjekte sich dazu entschließen, ihre symbolisch aufgeladenen Vorstellungen von Schwarzsein, die sie auch als eigene Täuschungen oder Projektionen erkennen können, beizubehalten: »And the great gap between Norman’s state and my own had a terrible effect on our relationship, for it inevitably connected, not to say collided, with that myth of the sexuality of Negroes which Norman, like so many others, refuses to give up.« (1961: 220) Zu der Funktion des rassistischen Mythos von der sexuellen Überlegenheit schwarzer Männer schreibt der afroamerikanische Kritiker Calvin Hernton in seiner sozialpsychologischen Arbeit »Sex and Racism in America« von 1965: »Symbolically, the Negro at once affirms and negates the white man’s sense of sexual security. The racist is torn by repressed dreams of sexual virility. On the other hand, he is secretly haunted by fantasies of masculine inadequacy, because he cannot […] bring himself to act out his great dreams with the white woman. The racist needs the Negro to hate, blame, and fear. This is the only way he can keep from overtly hating, blaming and fearing himself. If the Negro did not exist the racist would be compelled to invent him. Indeed, this is precisely what the racist has done.« (1965: 112)
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Wenn Baldwin Mailer bescheinigt, dass dieser sich seinen »delusions and defenses« (1961: 232) hingibt, so macht er deutlich, dass Mailers Essay ein Beispiel für das Beharren auf problematischen Wahrnehmungsweisen ist – eine Abwehrstrategie gegenüber der Einsicht in die Komplexität gesellschaftlicher und psychologischer Zusammenhänge. Baldwin kritisiert Mailers unkritische Haltung gegenüber der von ihm reproduzierten Verbindung von Schwarzsein und Virilität, gerade weil Baldwin ihm die Fähigkeit zur Einsicht und Darstellung komplexer Zusammenhänge nicht abspricht. Er war sie bereits von Mailers früheren Arbeiten gewöhnt: »Norman knew better, had to know better. The Naked and The Dead, Barbary Shore, and The Deer Park proved it. In each of these novels, there is a toughness and subtlety of conception, and a sense of the danger and complexity of human relationships. […] No one is more dangerous than he who imagines himself pure in heart: for his purity, by definition, is unassailable.« (1961: 229)
Baldwin fordert von einem Schriftsteller wie Mailer Offenheit für Kritik ein. Man könnte sagen, dass diese Forderung auch Ausdruck von Baldwins Verständnis des Essays als einem Ort ist, der als Genre die Rahmenbedingungen für eine rigorose Selbstreflexion und Kulturkritik bereitstellt. Tavia Nyong’o interpretiert Baldwins Essay als »a kind of diva reading of Mailer’s macho, an arch dismissal of a condescending theory of ›race‹ that only perpetuates outmoded definitions of masculinity« (2005: 30). Nyong’o stellt so heraus, dass Baldwin Mailers »White Negro« als einen hilflosen Versuch vorführt, mit dem dieser Definitionsmacht zu behaupten versucht und letztlich auf fragwürdige Weise Komplexität reduziert. Im Prozess des kritischen Schreibens installiert und behauptet Baldwin zugleich ein spezifisches Konzept Schwarzer Männlichkeit: Es lässt zu, die Verschränkung von Differenzkategorien derart zu denken, dass sie sich klaren Bewertungsmöglichkeiten entziehen. Sein Konzept Schwarzer Männlichkeit ist somit nicht mehr vereinnahmbar. Mailer strebt danach, sich mit Hilfe seiner Figur des »White Negro« aus den »totalitarian tissues of American society« zu erlösen (Mailer 1959: 305). Er nimmt dazu in einer als schwarz imaginierten Sphäre der Marginalität eine Position der kritischen Intervention ein – und schreibt so eine rigide schwarz/ weiß-Dichotomie fest. Bei Baldwin ist er mit seiner Strategie, die eine Überwindung totalitärer Verhältnisse in Aussicht stellt, an der falschen Adresse.
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180 | C arsten J unker Gilman, Sander L. (1982): On Blackness without Blacks: Essays on the Image of the Black in Germany, Boston: G.K. Hall. Hansberry, Lorraine (1993): »The Negro Writer and His Roots: Toward a New Romanticism«. In: Gerald Early (Hg.), Speech and Power: The African-American Essay and Its Cultural Content, from Polemics to Pulpit, Hopewell: Ecco Press, S. 129-141. Hernton, Calvin C. (1965): Sex and Racism in America, Garden City: Doubleday. hooks, bell (1990): »Choosing the Margin as a Space of Radical Openness«. In: bell hooks, Yearning: Race, Gender, and Cultural Politics, Boston: South End Press, S. 145-153. Junker, Carsten (2005): »Weißsein in der akademischen Praxis: Überlegungen zu einer kritischen Analysekategorie in den deutschsprachigen Kulturwissenschaften«. In: Maureen Maisha Eggers/Grada Kilomba et al. (Hg.), Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Münster: Unrast, S. 415-431. King, Martin Luther (1991): »Speech at Holt Street Baptist Church«. In: Clayborne Carsen/David J. Garrow et al. (Hg.), The Eyes on the Prize Civil Rights Reader. Documents, Speeches, and Firsthand Accounts from the Black Freedom Struggle, New York: Penguin, S. 48-51. Levine, Andrea (2003): »The (Jewish) White Negro: Norman Mailer’s Racial Bodies«. In: Melus 28/2, S. 59-81. Lomax, Louis (1993): »The American Negro’s New Comedy Act«. In: Gerald Early (Hg.), Speech and Power: The African-American Essay and Its Cultural Content, from Polemics to Pulpit, Hopewell: Ecco Press, S. 73-81. Mailer, Norman (1959): »The White Negro: Superficial Reflections on the Hipster«. In: Norman Mailer, Advertisements for Myself, New York: Putnam, S. 302-322. Mezzrow, Mezz ([1946] 1990): Really the Blues, New York: Citadel Underground. Nyong’o, Tavia (2005): »Punk’d Theory«. In: Social Text 84-85, 23/3-4, S. 19-34. Roediger, David (1995): »Guineas, Wiggers, and the Dramas of Racialized Culture«. In: American Literary History 7/4, S. 654-668. Tate, Greg (2003): Everything but the Burden: What White People Are Taking from Black Culture, New York: Broadway Books. Wald, Gayle (2000): Crossing the Line: Racial Passing in Twentieth-Century U.S. Literature and Culture, Durham: Duke University Press. Weatherby, William J. (1977): Squaring off: Mailer vs Baldwin, New York: Mason/Charter.
Laster, Schuld und Neubeginn
Kommerzielle Sexualität als Erlösung. Die ›Frau‹ als Vehikel heterosexueller Maskulinität Sabine Grenz Baudrillards Ausführungen zur Konsumgesellschaft zufolge gilt, dass »the body […] today [has] become an object of salvation. It has literally taken over that moral and ideological function from the soul.« (1998: 129) In der Debatte über Prostitution wird nicht selten vertreten, dass die sexuelle Befriedigung für das allgemeine Wohlbefinden vonnöten sei. Dieser Ansicht zufolge leisten Sex-Arbeiterinnen einen Dienst an der Gesellschaft, weil sie den männlichen sexuellen Überschuss abfangen, Männer von dem Druck, der ansonsten zu Gewalttaten oder allgemeiner Frustration führen könne, befreien bzw. erlösen (vgl. Queen 1997). Baudrillards Gedanke könnte demnach dahingehend weitergeführt werden, dass zusammen mit dem Körper auch die Sexualität zu einem Objekt der Erlösung und Befreiung geworden ist. Dies schließt zum einen an die Thesen sexueller Befreiungsbewegungen an und zum anderen an Foucaults (1997) Kritik dieser Bewegungen sowie den Fragen nach sexuellen Identitäten. Die Verbindung von Erlösungsgedanken in Bezug auf den Körper und den Teilbereich der Sexualität ist in der Prostitution offenkundig, da es um den Konsum sexueller Dienstleistungen geht. Diese Dienstleistungen werden als erlösend vom ›Trieb‹, von Einsamkeit, Langeweile etc. dargestellt. ›Erlösung‹ beinhaltet aber nicht nur den Verlust eines Mangelgefühls, sondern das Erfülltsein von etwas anderem, das die Erlösung ermöglicht, etwas, das an die Stelle des Mangels tritt. Für dieses ›Etwas‹ wird bezahlt. Ausgehend von Bettina Mathes’ (2003) Arbeiten über die geschlechtlich codierte Kulturgeschichte des Geldes kann auch das Bezahlen in den Kontext der Erlösung gestellt werden. Geld entstand (in Europa) im Rahmen von Opferkulten als Ersatz für das Opfer an die Gottheit und war somit Ausdruck des Danks und der Suche nach einer Verbindung mit der jeweiligen Gottheit. Diese Bedeutungen des Geldes schwingen in der Prostitution immer noch mit. Da die Frau nach wie vor 1 | Vgl. Halperin (1993) zu Konsequenzen sexueller Identitäten und der Suche nach einem Wahrheitskern der Sexualität.
184 | S abine G renz mit dem Natürlichen assoziiert wird, symbolisiert sie auch in der Prostitution die Natur, mit der sich die Freier zu vereinigen suchen. Damit wird sich zum einen der geschlechtlichen Identität als heterosexueller Mann vergewissert, zum anderen wird aber auch die sexuelle Identität bestätigt, die sich aus einem Bedürfnis nach kommerzieller Sexualität und dem Begehren nach heterosexueller Männlichkeit zusammensetzt. Die Suche nach dieser Einheit wird schließlich zur ›Erlösung‹ geführt, zumindest in der Phantasie. Dieser Artikel behandelt daher kein Konzept eines männlichen Erlösers, sondern im Gegenteil die Suche nach Erlösung von Zuständen, die so dargestellt werden, als würden sie allein aufgrund des männlichen Körpers entstehen. Es soll beleuchtet werden, inwiefern der Gedanke der Erlösung Bedeutung für die Prostitution erlangt. Diese Frage wird anhand narrativer Interviews mit männlichen heterosexuellen Freiern untersucht, die im Rahmen einer Studie zum Konsum heterosexueller Dienstleistungen geführt wurden (vgl. Grenz 2007a). Dabei geht es zunächst um die Beziehung von Konsum und Identität, im Falle von kommerzieller Sexualität entsprechend um sexuelle Identität. Diese Beziehung berührt die Geschlechtlichkeit, die wiederum von zwei Seiten betrachtet werden kann: Zum einen wird die Präsenz der Sex-Arbeiterin zur Quelle der Erlösung, zum anderen können Freier selbst phantasieren, der Retter und damit Erlöser einer Sex-Arbeiterin zu sein. Im Wesentlichen wird es hier darum gehen zu zeigen, wie sich über den Konsum sexuelle und geschlechtliche Identität reproduzieren lässt. Dafür werde ich auf den Anspruch der Natürlichkeit der Sexualität und auf Sex als Konsum eingehen. Ihnen gemeinsam ist, dass die Gegenwart einer Frau benötigt wird, die von dem Mangelzustand des ›Triebes‹ erlöst.
Zur Methodik Diesem Artikel liegt eine Studie zugrunde, für die narrative Interviews mit 19 Freiern durchgeführt wurden, die 2001 überwiegend in Berlin auf eine Zeitungsannonce antworteten. Die Interviews dauerten zwischen 20 und 75 Minuten. Das Sample setzt sich aus verschiedenen Alters- und Berufsgruppen zusammen; etwa 1/3 der Befragten lebten zur Zeit des Interviews in einer festen Partnerschaft, während etwa 2/3 alleinstehend waren. Der jüngste Befragte war 27, der älteste 74 Jahre alt. Wie in der Studie von Kleiber und Velten (1994) häuften sich die Befragten in der Altersgruppe der 30- bis 50-Jährigen. Es waren verschiedene Berufsgruppen beteiligt, z.B. ein Einzelhandelskaufmann, ein LKW-Fahrer, ein Pfarrer und ein Psychologe. Allerdings waren Männer mit Hochschulabschluss bzw. Männer, die diesen gerade anstrebten, besonders
2 | Diesen Aspekt habe ich an anderer Stelle (vgl. Grenz 2007a: 194ff., 208ff.) ausgeführt. 3 | Vgl. Grenz (2007a: 37ff.) für eine detaillierte Darstellung und Reflexion der Interviewmethodik.
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häufig vertreten. Alle Interviews wurden anonymisiert und den Männern wurde zur leichteren Verfolgung einzelner Stimmen im Text ein Name gegeben, mit dem sie zitiert werden.
Zur ›Natürlichkeit‹ der Sexualität Obwohl (oder gerade weil) die Erlösung von körperlichen Bedürfnissen in der Prostitution im Vordergrund zu stehen scheint, muss zunächst darauf hingewiesen werden, dass es sich bei einem Sexualakt keinesfalls um einen rein körperlichen Akt handelt. ›Reine‹ Sexualität als vermeintlich bedeutungslose Sexualität ist eine pornographische Phantasie, mit der versucht wird, die kulturellen Bedeutungen auszublenden, durch die Sexualität gestaltet wird, und somit die Sexualität zu naturalisieren. Sex ist »not a natural act« (vgl. Tiefer 1995) und auch keine natürliche Notwendigkeit. Zwar wird von manchen Sexualmedizinern weiterhin von einem »Trieb« gesprochen (z.B. Beier/Bosinski et al. 2001: 196f.). Sie verstehen darunter aber einen physiologischen Prozess, der eine »Grundenergie« (2001: 196), also die grundsätzliche Potenz sexuellen Verlangens, darstellt, und zwar für Männer wie für Frauen. Er ist an der Entstehung sexueller Phantasien »beteiligt«, wird aber nicht als Ursache benannt (2001: 196). Andere (z.B. Both/Everaerd et al. 2005) lehnen den Begriff »Trieb« inzwischen gänzlich ab und ziehen den der »Appetenz« vor, um diese grundsätzliche Bereitschaft zu beschreiben. Damit es zu einer sexuellen Handlung kommen kann, müssen noch zwei weitere Ebenen berücksichtigt werden: die psychologische und soziale bzw. kulturelle. Aus der psychologischen Ebene ergibt sich eine sexuelle Motivation, und die sozialen wie kulturellen Faktoren lassen den Wunsch erst entstehen (vgl. Beier/Bosinski et al. 2001: 197). Both, Everaerd und Laan erklären, dass »[s]exuelle Motivation […] nicht durch ein Defizit [entsteht], das vom Hypothalamus registriert wird« (2005: 368). Es sind auch nicht die äußeren Reize, die sexuelle Emotionen auslösen. Vielmehr geht es immer um die Bedeutungen, die sowohl den inneren Zuständen als auch den äußeren Reizen gegeben werden (vgl. Both/Everaerd et al. 2005: 369). Dies führt sie zu dem Schluss, »dass man nicht deswegen Sex hat, weil man sexu4 | Die hohe Antwortbereitschaft von überdurchschnittlich gebildeten Freiern könnte zum einen damit erklärt werden, dass Zeitungsannoncen grundsätzlich lesende Freier ansprechen, also tendenziell auf ein höheres Bildungsniveau treffen und dass diesen Männern mehr Geld zur Verfügung steht (vgl. Kleiber/Velten 1994: 55), zum anderen damit, dass akademisch gebildete Männer weniger Berührungsängste mit universitärer Forschung haben. 5 | Repräsentative Querschnittsuntersuchungen über Freier sind gegenwärtig nicht möglich, da man nicht weiß, wie sich die Klientel zusammensetzt (vgl. Velten 1994: 82). Daher konzentriert sich meine qualitative Analyse auf die kulturellen und sozialen Bezüge, die in den Interviews zur Sprache kommen. Die Analyse zeigt, wie das FreierSein bzw. das von Freiern vorgebrachte ›Wissen‹ über Sexualität und Geschlecht in die Gesellschaft integriert ist.
186 | S abine G renz elles Begehren verspürt, sondern dass man sexuelles Begehren verspürt, weil man Sex hat« (2005: 368). In anderen Worten: Es entsteht sexuelle Stimulation, weil eine bestimmSituation sexuell kodiert ist. Diese Kodierungen entwickeln sich ebenso als te individuelle Vorlieben wie als kollektive Muster. D.h. in der Entwicklung und Ausübung der eigenen Sexualität wird individuell auf einen Fundus von kulturellen Konstruktionen der Geschlechter zurückgegriffen. In diesem Fundus werden Frauen häufig mit dem Natürlichen, Authentischen und Sozialen verknüpft. Ihre ›Natur‹ sei gleichsam asexuell und liebend. Männer werden hingegen nach wie vor häufig mit den kulturellen Leistungen verbunden. Ihr ›starker Sexualtrieb‹ ermögliche ihnen, kulturelle Leistungen, die Sublimationen – also Erhöhungen – als Ergebnis dieses Triebs darzustellen. Da Frauen der Trieb fehle, sei es ihnen auch nicht möglich, diese kulturelle Erhabenheit zu erreichen. Wenn in den Freier-Interviews von »Erlösung« o.ä. gesprochen wird, so bezieht sich dies auf Geschlechterkonstruktionen, die Teil jenes Begehrens sind, das Freier durch kommerzielle Sexualität zu befriedigen suchen. Weiterhin entsteht sexuelle Lust situativ, d.h. es wird nach der ›Erlösung‹ von einem Verlangen gesucht, das mehr oder weniger aktiv von Freiern angestrebt wird.
Freier und sexuelle Identität Wenn die Konstruktion von Heterosexualität untersucht wird, muss beachtet werden, dass diese sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zugleich mit der homosexuellen Identität herausgebildet hat. Beide Formen sexueller Identität erscheinen dabei in männlich und weiblich aufgespalten, wobei dem Männlichen ein starker und dem Weiblichen ein schwacher Trieb zugeschrieben wurde (vgl. Sedg- wick 1990). Mit diesen sexuellen Identitäten wurde auch die Identität des heterosexuellen Mannes als Freier geschaffen, des Mannes, dessen Frau aufgrund ihres ›schwächeren Triebes‹ weniger Sex wünschte als er. So konnte die Prostitution im 19. Jahrhundert auch als ein ›Anhängsel‹ der Ehe verstanden werden (vgl. Sarasin 2001: 375ff.) und war dementsprechend im Gegensatz zur Homosexualität in Deutschland seit dem Kaiserreich nicht verboten. Zudem wurde sie überwiegend zum Vorteil der Kundschaft reglementiert und organisiert (vgl. Gleß 1999: 53f.). Dennoch galt die Prostitution bis zur Gesetzesänderung im Oktober 2001 als sittenwidrig und wurde aufgrund der Promiskuität häufig als sexuelle Devianz thematisiert (vgl. Velten 1994: 33f., 62f.). Und obwohl in 6 | Zuletzt zusammengefasst von Groneberg (2007). Groneberg interpretiert Frauen allerdings als außerhalb der Dichotomie von Natur und Kultur stehend, während Männer durch die Konstruktion von Trieb und Sublimierung in ihr verfangen sind. Es ist aber eher so, dass Frauen der Konstruktion nach aufgrund ihres schwachen Triebs keine kulturellen Leistungen vollbringen. Sie befinden sich demnach nicht außerhalb der Dichotomie. Sie haben angeblich nur eine andere Natur, eine, die gar nicht erst kulturell erhoben werden, sondern sich allenfalls durch Liebe den Bereich des Sozialen aneignen könne.
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den Sexualwissenschaften wesentlich toleranter und permissiver Sexualität verhandelt wird, wird in manchen sexualmedizinischen Werken weiterhin von der Norm monogamer Beziehungen ausgegangen (vgl. Beier/Bosinski et al. 2001). Es ist gerade diese Ambivalenz von ›Devianz‹ und ›Normalität‹, welche die Frage aufwirft, ob Prostitutionskunden eine eigenständige sexuelle Identität als Freier entwickeln, die vergleichbar wäre mit der sexuellen Identität von Lesben und Schwulen, also einer weiteren sexuellen Identität neben der des heterosexuellen Mannes. Wäre dies der Fall, so könnte die Prostitution als notwendiges Hilfsmittel zur Befriedigung einer quasi authentischen Sexualität und damit als legitimes ›Erlösungsmittel‹ interpretiert werden. Die Konsumforschung gibt einen Hinweis darauf, dass Prostitution zumindest identitätsbildend ist, denn »the purchase, use and display of goods in some way expresses social identities« (Cronin 2000: 1). Im Falle der Prostitution trifft zwar nur zu, dass für ihre Gegenwart bezahlt wird und ihre sexuellen Dienste in Anspruch genommen werden. Das Vorzeigen der Frauen fällt in der Regel weg, aber die Spannung besteht häufig gerade im Geheimhalten, das genauso identitätsbildend sein kann. Obwohl einige Befragte sich mit ihrem Freier-Sein identifizierten, sagten viele von sich, dass sie »eigentlich gar kein Freiertyp seien« und lieber eine Freundin hätten (Christian). Manche setzten sich auch von anderen Freiern ab, etwa indem sie hervorhoben, wie sympathisch sie der Sex-Arbeiterin waren, »was nicht bei allen so sein kann« (Paul), wodurch auf die Konkurrenz unter Männern abgehoben und eine heterosexuelle männliche Identität reproduziert wird. Daraus kann geschlossen werden, dass die Prostitution sogenannten devianten sexuellen Verhaltensweisen zwar Raum bietet, es aber weniger um eine Identität als Freier geht, als vielmehr um ein Ausleben von mehr oder weniger normierten heterosexuellen Phantasien. Bezogen auf die Frage nach der Erlösung zeigt sich also erneut, dass das, was oder wovon ›erlöst‹ werden soll, erst in dem Prozess selbst geschaffen wird.
Sexualität als Konsum Als im christlichen Europa – in Baudrillards Worten (1998: 129) – noch die Seele erlöst werden sollte, war Sexualität nur im Rahmen des Fortpflanzungswillens gestattet. Sexualakte ausschließlich wegen des Genusses auszuüben, galt als sündhaft. Seither wird die Sexualität zunehmend von solcherart Unterdrückung befreit und das Sprechen über sie hat sich immer mehr ausdifferen7 | Vgl. Ahlemeyer (2002: 266), der sich auf Kleiber/Velten (1994: 11) bezieht. 8 | Vgl. Kulick (2004) zur Diskussion über die Möglichkeit und Entwicklung einer Freier-Identität in Schweden und Grenz (2007b) zur ausführlichen Diskussion der Möglichkeit einer Freier-Identität. 9 | Es gibt allerdings Ausnahmen, z.B. wenn betriebliche Feiern unter Männern im Bordell abgehalten werden, der Vorgesetzte seine Mitarbeiter oder Kunden einlädt oder Freunde miteinander ein Bordell besuchen.
188 | S abine G renz ziert10 – im Zusammenhang mit der Entwicklung der Sexualwissenschaft sowie im Rahmen sexueller Liberalisierungsbewegungen.11 Dementsprechend hat sich auch die Sex-Industrie entwickelt und zunehmend spezialisiert. In diesem Trend zeichnet sich eine Parallele zur Theorie Campbells über die Entwicklung des Konsums ab. Dieser stellt, ausgehend von Webers Arbeit über die Einbettung des Kapitalismus in die protestantische Ethik, die Frage, wie sich bei dieser anscheinend nur rationalen Ethik das Verlangen nach Konsum überhaupt entwickeln konnte (vgl. Campbell 1987). Er kam zu dem Ergebnis, dass sich Gefühle erst mit dem Protestantismus individualisierten. Denn Gefühle mussten kontrolliert werden, und wurde diese Kontrolle erst einmal beherrscht, erlaubte sie auch das Spielen mit und den Genuss von Emotionen. Zudem wurde durch die zunehmende Rationalisierung der Automatismus emotionaler Reaktionen auf Symbole aufgelöst: Z.B. löste das Symbol der Hölle Angst aus. Wird an die Hölle aber (mehrheitlich) nicht mehr geglaubt, so kann man das Erschauern an der Vorstellung genießen. Demnach trug gerade die Rationalisierung dazu bei, dass mit Emotionen gespielt werden konnte: »Before any emotion can possibly be ›enjoyed‹, therefore, it must become subject to willed control, adjustable in its intensity, and separated from its association with involuntary overt behaviour.« (Campbell 1987: 70) Werden die Entwicklung der Sexualität und die des Konsums zueinander in Beziehung gesetzt, lässt sich schlussfolgern, dass in der Prostitution sowohl mit dem Moment der Schuldhaftigkeit als auch dem Moment der Zwanghaftigkeit (und damit der Suche nach Erlösung) der Sexualität gespielt wird. Das ›Kribbeln des Verbotenen‹ und des Geheimnisses halten die Anrüchigkeit und Besonderheit eines gesellschaftlichen Raums aufrecht, der sich scheinbar außerhalb der Gesellschaft befindet, während die vermeintliche Zwanghaftigkeit das Privileg verschleiert, jederzeit auf einen großen Markt sexueller Dienstleistungen zurückgreifen zu können. Es geht also um die Fiktion einer männlichen Identität, die bei genauer Betrachtung auf dieses Privileg hin ausgerichtet wird. Diese Aspekte fanden auch im Interviewmaterial der zugrunde liegenden Freier-Studie Ausdruck: Peter: »Mhm wie soll ich das sagen, es ist mehr oder weniger … ehm … ja die Abwechslung vielleicht, ein bisschen das Kribbeln.«
Das ›Kribbeln‹ und die Abwechslung markieren hier die Besonderheit des Bordellbesuchs. Weiterhin benutzt Peter die Prostitution als ›Ventil‹, um wieder »klarer denken« zu können, wodurch auch er deutlich auf den Erlösungsgedanken anspielt. Peter hält die Besuche, die er meistens gemeinsam mit einem Freund abhält, vor seiner Frau geheim. Er macht also etwas scheinbar Verbotenes, das ihm zugleich aber gestattet ist. Das äußert sich auch in seinen Über10 | Vgl. Plummer (1995; 2003) für eine Diskussion der Ausdifferenzierung des Sprechens über Sexualität. 11 | Vgl. Foucualt (1997) zum permanenten Sprechen über Sexualität im Zuge der Entstehung der Sexualwissenschaft.
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legungen über das Fremdgehen. Er sieht sein Verhalten nicht als »Betrügen«, solange er dafür bezahlt. Der Prostitutionsbesuch befindet sich also diskursiv im Niemandsland, behält aber die Nähe zur geheimen Geliebten, wie es auch von Dieter, einem ebenfalls verheirateten Probanden, geäußert wird: Dieter: »ich sag einfach mal, reichere Leute würden sich eine Geliebte leisten. Ja, ja, das geht bei mir nicht, ist klar. Von der Zeit her geht es auch nicht.«
Campbells Untersuchungen gehen aber noch weiter. Er unterscheidet zwischen einem traditionellen und einem modernen Hedonismus. Der moderne Hedonismus zeichnet sich für ihn dadurch aus, dass sich der Schwerpunkt von der Sensation zur Emotion verlagert. Die Emotion verbindet die Sensation mit mentalen Bildern (vgl. 1987: 69), d.h. es geht nicht nur um eine körperliche Empfindung, sondern – wie in den Ausführungen über die sexuelle Appetenz – um die Verbindung dieser körperlichen Erfahrung mit kulturellen Inhalten. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch das folgende Zitat lesen, in dem Hans die Notwendigkeit der Gegenwart einer Frau zum Ausdruck bringt: Hans: »Eh irgendwann kommt dann so ein richtiger Anfall von der absoluten Einsamkeit. Man wäre bereit, wirklich alles, alles zu geben, dafür, dass irgendjemand die Nacht neben einem im Bett liegt. Da ging es nicht mal irgendwie um Sex, sondern einfach darum, dass jemand da ist. Und irgendwann habe ich mich halt dran gewöhnt und gesagt irgendwie: ›Erstens gibt es das nicht, zum einen, und zum andern würdest du das nicht bezahlen können, bei einem Tausender die Nacht‹. Also ich sage mal, das war es mir auch nicht wert.«
Mit dieser Erzählung, die so weitergeht, dass er schließlich für Sex bezahlte, obwohl es ihm eigentlich um Nähe ging, greift Hans ein Thema auf, dass Zilbergeld (2000) als Mythos über männliche Sexualität anführt. Zilbergeld beobachtete in seiner Praxis als Sexualtherapeut, dass Männer immer wieder, wenn sie eigentlich Nähe suchen, auf Sex als Erlösungsmittel von Einsamkeiten zurückgreifen. Dabei folgen sie bewusst oder unbewusst den Mythen, dass Berührungen letztlich immer sexuell sind und Männer immer Sex haben wollen und können. Hans sucht die Sensation, weil er sich die damit assoziierte Emotion wünscht, die er zugleich in die Situation projiziert. Dieses Beispiel verdeutlicht weiterhin die synekdochische Beziehung zwischen Penis und Mann: Der Penis steht ein für den ganzen Mann (vgl. Potts 2000: 85f.). Demzufolge kommt ein sich Kümmern um den Penis einem sich Kümmern um den ganzen Mann gleich. Es können aber auch noch ganz andere Mangelerscheinungen vorliegen wie z.B. Langeweile, wobei der Sexualakt ebenfalls nicht der Erlösung von einem vorab bestehenden sexuellen Begehren dient, sondern Ausdruck einer Suche nach Erlebnissen ist (vgl. Schulze 1992).12 12 | Vgl. Kleiber/Velten (1994: 75), die davon sprechen, dass Freier in der Prostitution Surrogatbeziehungen auf bauen. Dort wird allerdings zwischen sexuellen und sozi-
190 | S abine G renz Die beiden Hedonismen werden von Campbell noch weiter differenziert. Während der traditionelle Hedonist nach Campbell eine Erinnerung an einen Genuss in die Zukunft projiziert und deswegen Lust auf etwas bekommt, verwandelt der moderne Hedonist die Erinnerung so lange, bis sie ihm zusagt. »It is this highly rationalized form of self-illusory hedonism which characterizes modern pleasure-seeking« (Campbell 1987: 76) und: »In this sense the contemporary hedonist is a dream artist.« (Campbell 1987: 76) Er ist auf der Suche nach seinem Ideal der Phantasie.
Die Frau als Mit tel der Erlösung Wolf: »Wenn ich also sozusagen einen Drang spürte oder eine Erektion hatte, dann war das für mich sozusagen, erschien mir die Erlösung, wenn ich mal eine hätte, die ich so richtig durchficken, rannehmen kann, durchficken, nageln, und… Und das ist anstrengend, zu nageln […] da müssen Sie sich schon zusammenreißen. Müssen Sie schon was bei bringen. Und genau so, diese diese Sexualität, weil ich ja keine andere kannte, habe ich bei den Frauen da gesucht.«
Das Zitat von Wolf macht deutlich, dass sexuelle Lust keine Bedeutung per se hat und keine ›natürlichen‹ Konsequenzen nach sich zieht, sondern erst interpretiert werden muss. Weiterhin äußert er (was allen Probanden gemeinsam ist), dass zur ›Erlösung‹ eine Frau gebraucht wird. Anstatt dass er nach der Befriedigung eines physiologisch bedingten Triebes sucht, erschien ihm die ›Erlösung‹ darin zu liegen, ›mal eine zu haben‹. Die Lust entstand dabei völlig autonom; sie wurde seiner Erzählung zufolge nicht durch eine Frau, sondern durch die Phantasie angeregt, musste aber von einer Frau befriedigt werden bzw. es musste ein Frauenkörper als Feld der Betätigung für seine ›Erlösung‹ zur Verfügung stehen. Durch den Umstand, dass er sein Verlangen interpretiert, werden die weiter oben ausgeführten sexualmedizinischen Arbeiten von Beier u.a. (vgl. Beier/Bosinski et al. 2001) und Both u.a. (vgl. Both/Everaerd et al. 2005) bestätigt. Dieser Wunsch nach Erlösung muss aber enttäuscht worden sein, da Wolf sich inzwischen andere Ansichten über Sexualität angeeignet hat. Dies weist auf den von Campbell aufgezeigten Kreislauf von »desire-acquisition-use-disillusionment-renewed-desire« (1987: 90) hin, der beinhaltet, dass Phantasie und Realität aufeinander angepasst und weiter entwickelt werden. Die zitierten Probanden griffen mehr oder weniger direkt auf jene historisch entwickelte Geschlechterkonstruktion zurück, in welcher der Frau die Rolle der Mutter und Erlöserin zugeteilt und die analog zum Bild des triebhaften Mannes gebildet wurde. Maria Wolf analysiert die Geschlechterbilder des 19. Jahrhunderts und zitiert in diesem Zusammenhang exemplarisch aus Fichte: alen Bedürfnissen getrennt, während hier deutlich wird, dass beide Ebenen miteinander verbunden sind und es keinen Sexualakt ohne kulturelle Bezüge geben kann. Erst durch diese Verbindung kann der Sexualakt als Erlösung konstruiert und empfunden werden.
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»Dass ich alles kurz zusammenfasse: Im unverdorbenen Weib äußert sich kein Geschlechtstrieb, sondern nur Liebe; und diese Liebe ist der Naturtrieb des Weibes, einen Mann zu befriedigen. Es ist allerdings ein Trieb, der dringend seine Befriedigung erheischt: aber diese seine Befriedigung ist nicht die sinnliche Befriedigung des Weibes, sondern die des Mannes; für das Weib ist es nur die Befriedigung des Herzens.« (Fichte zitiert in Wolf 1995: 40f.)
Die Prostituierte ist selbstverständlich nicht das »unverdorbene Weib«, von dem Fichte spricht. Dennoch gibt es Übereinstimmungen, denn der Prostituierten kommt ebenfalls die Aufgabe zu, den Mann zu befriedigen. Sie ist das Mittel seiner Erlösung. Sie hat kein eigenes sinnliches Begehren; ihr ›Herz‹ soll (erst) dann befriedigt sein, wenn er sinnlich befriedigt ist. Das entspricht dem Bild der idealen Mutter, die sich selbstlos ihrem Kinde zuwendet und alle seine Begehren befriedigt. Die Ehefrau tut dies aus Liebe, während die Prostituierte es für Geld macht.13 Dass die Eigenschaften temporär auf die Prostituierte übertragen werden, wird dadurch ermöglicht, dass das Bild der ›Mutter‹ vollständig entsexualisiert wurde und reale Frauen dem Idealbild nicht entsprechen. Unter Umständen setzen sie sich sogar aktiv dagegen zur Wehr. Die Sex-Arbeiterinnen übernehmen daher jene Bereiche, denen sich Nicht-Prostituierte entziehen bzw. die sie vorübergehend nicht ausfüllen.14 So dienen sie als Projektionsfläche aller möglichen Wünsche. Damit lässt sich der von der feministischen Prostitutionskritik angeführte garantierte Zugriff auf den weiblichen Körper (vgl. Pateman 1988: 194) qualifizieren: Der Frauenkörper symbolisiert das Erlösende, Unterstützende, Liebende. In anderen Worten: Der Sex-Arbeiterin kommt quasi eine Mutterfunktion zu. Freier können sich angenommen fühlen, brauchen keine Angst davor zu haben, zurückgewiesen zu werden. Zumindest ist das die Phantasie. Das drückt sich auch darin aus, dass zwei der Probanden zu Prostituierten gegangen sind, um Erektions- bzw. Appetenz-›Störungen‹ zu beheben. Die Prostituierte wird zur Ressource, die potentiell zur Seite steht und Probleme behebt. Sie ist Ersatz für die ideale Frau, die den Bedürfnissen der Freier bestens angepasst ist. Anknüpfend an Campbells Theorie, dass sich Konsum auf ein Spiel mit Emotionen gründet, könnte dies auch so interpretiert werden, dass die Probanden in einem Bereich, der ganz eindeutig zwischen Liebe und Sexualität trennt, genau mit der Verknüpfung von beidem spielen. Dies entspräche der These Maiworms (1993), dass es sich bei kommerzieller Sexualität um ein Spiel mit dem Verliebtsein
13 | Vgl. Sarasin (2001: 375ff.) zu den Parallelen zwischen Ehefrau und Prostituierter im Bürgertum. 14 | Vgl. Rothe (1997), die den Prostitutionstourismus u.a. mit dem Machtverlust europäischer Männer begründet. Auch wenn ich mit der viel beschworenen ›Krise‹ der Männlichkeit, die auch bei ihr eine Rolle spielt, nicht übereinstimme, benennt sie damit ganz ähnliche Momente.
192 | S abine G renz handele.15 Dabei bleibt in allen diesen Fällen das männliche Bedürfnis isoliert, d.h. ohne weiblichen Gegenpart. ›Freier-Sexualität‹ scheint gewissermaßen autoerotisch zu sein – als befriedigten sie sich letztlich selbst in bzw. mit einer anderen Person. In manchen Interviews kommt dies sogar ausdrücklich zur Sprache: S.G.: »Wie empfindest Du die Frauen dann, also in dem Moment, wo ihr zusammen seid?« Andreas: »In dem Moment ist es halt nur eine Konzentration auf die Sache an sich.«
Vorher und nachher kann es schon auch Gespräche geben, aber während der sexuellen Aktivität selbst wird eigentlich »keine Beziehung aufgebaut« (Christian). Es stellt sich die Frage, was die »Sache an sich« eigentlich ist, wenn nicht Sex mit einer Frau. Einerseits wird die Gegenwart einer Frau als wünschenswert dargestellt, andererseits nehmen sie gar keinen Kontakt zu ihr auf. Das sind eindeutige Zeichen dafür, dass Frauen nicht als Subjekte, sondern als Medien der Lust und der ›Erlösung‹ von ihr erlebt werden.16 Folglich sind Frauen in den Interviews abwesend und anwesend zugleich. In den Erzählungen werden sie zum Ausdruck des Mangels, sie haben keinen Penis und einen nur schwachen Trieb. Sie werden aber gebraucht, um die ›Fülle‹ der Männlichkeit wieder reproduzieren zu können. Sie sind die Objekte des ›authentischen‹, ›natürlichen‹, ›wahren männlichen‹ Begehrens und Medien der Erlösung dieser Bedürfnisse.17
Fazit Campbell zufolge entfaltete sich das von ihm untersuchte Konsum-Phänomen besonders stark in der Romantik, also zeitgleich zur weiten Verbreitung von Liebesromanen und dem Aufkommen des Ideals der romantischen Liebe. »The romantic world-view provided the highest possible motives with which to justify day-dreaming, longing and the rejection of reality, together with the pursuit of originality
15 | Vgl. Grenz zum Verlieben (2007a: 122ff.), zum Verhältnis von Geld und sexueller Potenz (2007a: 155ff.) und zum Ritual (2007a: 198ff.). 16 | Hierzu gibt es auch Ausnahmen. Dass die Subjektivität der Frauen wahrgenommen und akzeptiert wird, ist vor allem in Interviews mit Männern der Fall, die sogenannte ›deviante‹ sexuelle Vorlieben wie z.B. Fußerotik haben, die ihnen den Zugang zu nicht-kommerzieller Sexualität erschweren. 17 | Die Suche nach Nähe und Intimität bzw. das Spiel damit bestimmt die Beziehung des Freiers zur Prostituierten. Dennoch muss beachtet werden: Auch wenn Sex-Arbeiterinnen in den Augen von Freiern zu Objekten oder von ihnen fetischisiert werden, bedeutet das jedoch noch nicht, dass die Freier unbeschränkt Macht über sie haben (vgl. Schuster 2003; Sanders 2006: 38f.; Grenz 2007).
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in life and art; and by so doing enabled pleasure to be ranked above comfort, counteracting both traditionalistic and utilitarian restraints on desire.« (Campbell 1987: 201)
Es ist sicher kein Zufall, dass parallel dazu die nach wie vor dominanten Geschlechterbilder als ›natürlich‹ etabliert wurden (vgl. Honnegger 1992), sich dadurch nicht nur geschlechtliche, sondern auch sexuelle Identitäten entwickelten und eine industrialisierte Form der Prostitution entstand – ein Konsumbereich, der sich wie alle anderen zunehmend diversifiziert. Dass es in diesem Bereich um die Erfüllung von Phantasien geht, wird immer wieder hervorgehoben (z.B. Schuster 2003; O’Connell/Davidson 1998) und hat sich auch hier gezeigt. So werden viele individuelle Phantasien in der Prostitution ausgelebt, in denen Frauen unersetzbar zu sein scheinen. Kennzeichen der Konsumgesellschaft ist weiterhin, dass der Erwerb von Konsumgütern Teil der Identität geworden ist. Konsum wird damit eine Notwendigkeit, durch ihn erfüllt sich Identität. In der Prostitution trifft sich dies mit der Etablierung sexueller Identitäten. Es geht in der Prostitution also um einen Austausch auf verschiedenen Ebenen, um sexuelle und geschlechtliche Identitäten, die gerade durch das Bezahlen miteinander verbunden werden. Dies geschieht zum einen über die Funktion des Konsums für die Identität, zum anderen über die geschlechtlich codierten Bedeutungen des Geldes, die hier nur einleitend skizziert werden konnten.18 Dadurch wird der Frau die Rolle der Erlöserin von einer Phantasie, einem Mangelzustand zugeschrieben, der sich in dem hier exemplarisch untersuchten Diskurs um den ›starken Trieb‹ des Mannes – also einem Diskurs der (durchaus gewünschten) Überfülle – Ausdruck verleiht. Dieser ›Trieb‹ ist ein Zeichen der Natürlichkeit des Mannes, die sich über den gänzlich mit dem Natürlichen assoziierten Frauenkörper konstituiert. Die Sex-Arbeiterin symbolisiert jene Natur, mit der sich die Freier zu vereinigen suchen. Damit wird zugleich nach einer Bestätigung geschlechtlicher Identität als heterosexueller Mann und der sexuellen Identität gesucht, die sich aus einem Bedürfnis nach kommerzieller Sexualität und dem Begehren nach heterosexueller Männlichkeit zusammensetzt. Die ›Erlösung‹ ist das Zusammentreffen dieser Aspekte. Diese Illusion ist dann perfekt, wenn die Sex-Arbeiterin zusätzlich zumindest den Anschein erweckt, ›natürlich‹ bzw. ›echt‹ positiv auf den Freier zu reagieren.
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194 | S abine G renz Both, Stephanie/Everaerd, Walter et al. (2005): »Sexuelles Begehren und sexuelle Erregung. Sexuelle Motivation aus psychophysiologischer Sicht«. In: Zeitschrift für Sexualforschung 18/4, S. 364-380. Braun, Christina von ([1985] 1999): NichtIch. Logik, Lüge, Libido, Frankfurt a.M.: Neue Kritik. Campbell, Colin (1987): The Romantic Ethic and the Spirit of Consumerism, Oxford: Blackwell. Cronin, Anne M. (2000): Advertising and Consumer Citizenship. Gender, Images and Rights, London: Routledge. Foucault, Michel ([1983] 1997): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd. 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Gleß, Sabine (1999): Die Reglementierung von Prostitution in Deutschland, Berlin: Duncker & Humboldt. Grenz, Sabine ([2005] 2007a): (Un)heimliche Lust. Über den Konsum sexueller Dienstleistungen, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Grenz, Sabine (2007b): »Heterosexuelle Freier. Zwischen Intimate citizenship und Sexismus. Ergebnisse einer qualitativen Interviewstudie«. In: Zeitschrift für Sexualforschung 20/1, S. 1-20. Groneberg, Michael (2006): »›Bullenmänner‹. Zur Biologisierung männlichen Begehrens«. In: Michael Groneberg (Hg.), Der Mann als sexuelles Wesen. Zur Normierung männlicher Erotik [L’homme – creature sexuelle. La normation de l’érotisme masculin], Freiburg (Schweiz): Paulus, S. 5-38. Honegger, Claudia (1992): Die Ordnung der Geschlechter, Frankfurt a.M.: Campus. Halperin, David M. (1993): »Is There a History of Sexuality?«. In: Henry Abelove/Michèle Aina Barale et al. (Hg.), The Lesbian and Gay Studies Reader, London: Routledge, S. 416-431. Hydra (Hg.) (1991): Freier. Das heimliche Treiben der Männer, Hamburg: Galgenberg. Kleiber, Dieter/Velten, Doris (1994): Prostitutionskunden. Eine Untersuchung über soziale und psychologische Charakteristika von Besuchern weiblicher Prostituierter in Zeiten von Aids, Bonn: Bundesministerium für Gesundheit. Kulick, Don (2005): »Four Hundred Thousand Swedish Perverts«. In: GLQ 11/2, S. 205-235. Maiworm, Heinrich (2003): »Erfahrungen mit Kunden von Prostituierten aus Sicht der Bordelleigentümer/-betreiber, insbesondere zu problematischen Verhaltensweisen und wünschenswerten Veränderungen«. Vortrag, agisra e.V. und der GTZ, Fachtagung Prostitutionskunden, Frankfurt. Mathes, Bettina (2003): »Vom Stieropfer zum Börsentier«. In: Bettina Wrede (Hg.), Geld und Geschlecht. Tabus, Paradoxien, Ideologien, Opladen: Leske & Budrich, S. 14-31. O’Connell Davidson, Julia (1998): Prostitution, Power and Freedom, Ann Arbor: University of Michigan Press. Pateman, Carole (1988): The Sexual Contract, Cambridge: Polity Press.
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Wahrheit und Versöhnung oder maskuline Erlösung am Kap? Religiöse Legitimierung nationaler Geschlechter formation Ulrike Auga Der Ver söhnungskompromiss der Truth and Reconciliation Commission In der von Kompromissen gekennzeichneten »negotiated revolution« Südafrikas (vgl. Adam/Moodley 1993) waren sowohl die Vergangenheit als auch die Versöhnung zum Objekt von Verhandlungen geworden. Forderungen nach einer gerichtlichen Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen standen denen nach einer Generalamnestie gegenüber. Das Mandat der Wahrheits- und Versöhnungskommission, die sich aus 17 parteipolitisch ungebundenen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens zusammensetzte, lautete schließlich, ›nationale Einheit‹ und ›Versöhnung‹ herbeizuführen. Die gespaltene Gesellschaft sollte sich als ›versöhnte‹ neue Gemeinschaft, als Nation konstruieren. In den Jahren von 1996-1998 führte die TRC 21.000 Untersuchungen durch. Viele Anhörungen waren öffentlich oder wurden über das Fernsehen ausgestrahlt, so dass die gesamte Bevölkerung starken Anteil nahm. Die südafrikanische Variante der Wahrheits- und Versöhnungskommission gilt in weiten Teilen von Forschung und Politik als Errungenschaft von weltpolitischer Bedeutung. Sie sei so erfolgreich, weil sie Vergangenheitsbewältigung, Verbrechensaufklärung sowie die Etablierung eines kollektiven Gedächtnisses mit der Bildung einer Nation zusammenschließe (vgl. Bacher 2004: 16). Am Ende des 20. Jahrhunderts gelang es, mit der ›Versöhnung‹ ein prominentes und global diskutiertes Konzept zu etablieren, das nicht nur politische, sondern auch theologische Konnotationen besitzt. Ich möchte meine Kritik – aus theologischer Perspektive – an folgenden 1 | Im Folgenden als Abkürzung für Truth and Reconciliation Commission verwen-
det.
198 | U lrike A uga miteinander verbundenen Punkten anbringen: Erstens wurde die TRC eta bliert, ohne dass bereits vorhandene ökumenische Botschaften, die vor einem Missbrauch des Versöhnungsgedankens warnten, angemessene Berücksichtigung fanden. Zweitens wurde Nationalismus religiös legitimiert, wofür Versöhnungsvorstellungen instrumentalisiert wurden. Drittens propagierte der TRC-Prozess das Konzept des Nation-Building, ohne auf die strukturelle und symbolische Hegemonie und die Gewalt hervorbringenden Prozesse der Natiogenese zu achten. So kam es, viertens, zu einer Wieder-Einschreibung einer hie rarchischen Geschlechterordnung, die hegemoniale Männlichkeit verbunden mit Erlösungsvorstellungen generiert. Am Beispiel der TRC lässt sich zeigen, wie einerseits eine Geschichte machtförmiger Differenz über die Instrumentalisierung von Religion eingeebnet und andererseits eine nationale Zukunft entworfen wird, die hierarchische essentialisierte Differenzen re-inszeniert. Religion wird jedoch nicht nur im Spannungsfeld von Emanzipation und Hegemonie politisiert. Religiöse Muster sind vielmehr grundlegend an der Produktion von Wissen und Macht – und damit an der Generierung von Diskursen hierarchischer Geschlechterordnung – beteiligt.
›Der Weg nach Damaskus‹. Gegen den Missbrauch des biblischen Ver söhnungsver ständnisses Als die TRC ins Leben gerufen wurde, besaß die (Missbrauchs-)Diskussion des biblischen Versöhnungsbegriffes im politischen Kontext in Südafrika bereits eine lange Geschichte, die auch in der internationalen ökumenischen Bewegung viel beachtet worden war. Der Apartheidstaat betonte christliche Werte und verstand sich ausdrücklich als Bollwerk gegen den atheistischen Sozialismus/Kommunismus in Afrika. Die nationale und internationale christliche Anti-Apartheidbewegung sah sich zunehmend vor ein Problem gestellt: Wird Widerstand gegen die (sich christlich ausgebende) Apartheid als Gegensatz zur christlichen Versöhnung aufgefasst oder ist der Widerstand gegen Gewaltstrukturen nicht gerade Verpflichtung gegenüber Gottes umfassender Versöhnung? Nach der Verabschiedung apartheidskritischer Beschlüsse während der Cottesloe Consultation 1960 traten die südafrikanischen Weißen reformierten Kirchen auf Druck der Regierung aus dem Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) aus. Eine Reihe von weiteren drastischeren theologischen Dokumenten stellten bekenntnishafte ökumenische Meilensteine im Kampf gegen die Apartheid dar, wie z.B. das Kairos-Dokument von 1985 (The Kairos Theologians 1987), das Damaskus-Dokument (Catholic Institute for International Relations und Christian Aid 1989) oder das Belhar-Bekenntnis (Nederduits Gereformeerde Sendingkerk 1987). Das Kairos-Dokument war eine grundsätzliche Absage an die Staatstheologie, die den status quo explizit mit Verweis auf die Versöhnung unterstützte. Gleichzeitig lehnte es auch die ›liberale Position‹ ab, welche die repressiven
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Aktivitäten des Staates zumindest duldete. Das Dokument trug dazu bei, dass ein großer Teil der südafrikanischen Kirchen zum Widerstand überging und dies mit dem Evangelium begründete. Die Botschaft des Kairos-Dokuments an die TRC hätte wie folgt verstanden werden können: Unsere Hoffnung auf Versöhnung und Frieden wird nicht Wirklichkeit, solange umfassende Gerechtigkeit verwehrt ist. Obgleich einige wichtige Köpfe der TRC, wie der Vorsitzende Desmond Tutu, bereits gedankliche Mitstreiter des Kairos-Dokuments waren, wurde in weiten Teilen des TRC Prozesses übersehen, wie dort hegemoniale Strukturen (wieder) eingeschrieben wurden (s.u.). Die Denkschrift »The Road to Damaskus« (1989) – benannt nach der Bekehrungsgeschichte des Saulus zum Apostel Paulus (Apg 9,1-5) – war ein Aufruf, Buße zu tun für den Machtmissbrauch und dessen ideologische Legitimation im Namen des christlichen Glaubens. Innerhalb der Ökumene hatte sich gezeigt, dass überall gleiche pseudo-theologische Rechtfertigungsmuster für Gewalt gebraucht wurden. Die ökumenische Damaskusgruppe kritisierte die häretische Verwendung der Versöhnungsvorstellung und eine gewisse ›blinde‹ Obrigkeitshörigkeit. Darüber hinaus enthielt die innerkirchlich umstrittene Denkschrift eine vehemente Kapitalismuskritik.
Auf dem Gender-Auge blind Die Geschlechterfrage spielte Ende der 80er Jahre indes keine Rolle. Die überragende Mehrheit der (kirchlichen) Vertreter der Apartheidopposition verzichtete gänzlich auf eine solche Auseinandersetzung. Die ›Mainstream‹ Opposition um den ANC hatte ihren Widerstand unter das Ziel der ›nationalen Befreiung‹ gestellt. Frauen wurden für den politischen Kampf für die zu befreiende Nation zwar politisch als symbolische Figuren für die Konstruktion der Nation benutzt, dann aber der männlichen Rolle nachgeordnet eingeschrieben. Diese Tendenz setzte sich in der TRC und darüber hinaus in der neuen Verfassung Südafrikas fort (vgl. Auga 2007). Die Konstruktion einer symbolischen Geschlechterordnung mit einer hegemonialen männlichen und einer nachgeordneten weiblichen Rolle ist für die Imagination der Nation grundlegend. Das Konzept der Nation konstituiert sich dabei entlang sakraler Muster, die den heiligen Körper als ihre phantasmatische Mitte zentrieren. Institutionalisierte christliche Kirche und Nation ähneln sich in Gemeinschaftskonstitution und Liminalität. Im ›neuen Südafrika‹ kam es dabei zu besonders pikanten gegenseitigen Promotionen.
2 | Als ›liberal‹ verstanden sich die englischsprachigen Kirchen wie auch der SOUTH AFRICAN COUNCIL OF CHURCHES (SACC) bis zum Auf kommen der Schwarzen Befreiungstheologie.
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Das Mandat des Nation-Building und seine religiöse Legitimation Die TRC ist historisch bedeutend, weil sie zum zentralen Instrument der Schaffung eines Gründungsmythos und eines nationalen Gedächtnisses im PostApartheid Südafrika werden sollte. Nicht nur das Mandat des Nation-Building wurde von der TRC dabei unhinterfragt übernommen – obwohl dessen Nationalismus symbolische und strukturelle Gewalttendenzen aufweist, wie ich später zeigen werde –, sondern der Kommissionsvorsitzende Bischof Tutu gab dem Mandat auch eine religiöse Legitimation. Die Friedens- und Konfliktforschung stellt fest, dass ›Religion‹ bei der Bearbeitung von Problemen eine wesentliche Rolle spielt. Für Südafrika wird die christliche Religion als »positive Rahmenbedingung« (Bacher 2004: 143) benannt. Der Umstand, dass sich etwa 92 Prozent der Weißen und 74 Prozent der Schwarzen Bevölkerung zum Christentum bekennen, war auch den Architekt-/ innen der Transition nicht entgangen. Daher sollten die TRC und insbesondere die Menschenrechtsanhörungen auf der Basis von christlichen Vorstellungen ausgerichtet sein (vgl. Boraine 2000a; 2000b). Hinzu kam, dass sowohl die Nachfahren der Kolonisator-/innen als auch die Führungselite des ANC christlich geprägt waren. Nelson Mandela ernannte mit dem anglikanischen Erzbischof von Kapstadt, Desmond Tutu, bewusst einen Kirchenführer zum Vorsitzenden der TRC, der dort auch stets in der Kleidung des kirchlichen Würdenträgers erschien. In den Anhörungen verwendete er ausgedehnte religiöse Formen, Sprache und Bilder und verband religiöse Versöhnung und Nation-Building. Der Prozess besaß folgende Stufen: eine Anerkennung des Leidens, die moralische Anerkennung des Leidens als notwendiges Opfer für die Befreiung der Nation und schließlich der Verzicht auf Revanche durch die Opfer – eine Bewegung, weg vom individuellen Zeugnis über Vergebung zum nationalen Zukunftsprojekt, das die Erlösung aus allen hegemonialen Strukturen versprach (vgl. Millward 1998). Um eine integrative Wirkung zu erzielen, wurden für die Repräsentation der neuen Nation prominente Bilder bemüht. So sei jede Person – inklusive der Täter-/innen – ein Opfer: »We have a nation of victims.« (TRC 1998: 124) Obwohl diese Ansicht kritisiert wurde (vgl. Kistner 2003), stellte Tutu eine Verbindung zwischen Leiden, dem Körper und der Nation her. Der ›kranke Körper‹ könne nur durch die TRC geheilt werden (vgl. Wilson 2001: 14-15). Die Nation sei wie die Gemeinde oder Kirche ein kollektiver Körper, der durch das Haupt gelenkt werde. Die Heilung des Körpers steht dabei parallel zum Nation-Building. Schließlich wird die südafrikanische Nation geheiligt, wenn Tutu wiederholt erklärt: »We are this Rainbow People of God.« (vgl. Tutu 1995) Der Regenbogen ist von jeher ein biblisches Symbol des Zeichens des Bundes, der Gemeinschaftskonstitution, den Gott bereits mit Noah schloss (vgl. 1Mo 9,9-17). 3 | In den Geschichten Ezechiels und der Offenbarung wird der Glanz des Regenbogens in Verbindung mit der Herrlichkeit Gottes genannt (Ez 1,28; Off b 4,3; 10,1).
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Allerdings wird deutlich, dass das Regenbogenbild einem essentialistischen Kulturalismus Vorschub leistete, wie er von Žižek aufgezeigt wurde. Žižek kritisiert einen Multikulturalismus, der durch die Feier der Diversität von Völkern doch nur ihre primordiale Unterscheidung re-institutionalisiert. Südafrikas proklamierter Multikulturalismus fördert keinen Verfassungspatriotismus, sondern einen Kulturalismus, der der multikulturellen Ideologie des globalisierten Kapitals aufsitzt. Žižek warnt, dass von den selbst erklärten Multikulturalist-/innen der oder die ›Andere‹ des Fundamentalismus, des Patriarchats und der Gewalt verdächtigt wird, während die Betrachter-/innen sich einer Selbst- evaluation ihres eigenen Kulturalismus von einer universalen Perspektive her entziehen (vgl. Žižek 1997: 28-51). Gleichzeitig ist dieser Multikulturalismus ein Anknüpfungspunkt für einen afrikanistisch orientierten Diskurs, dessen instrumentalisierter Kulturalismus der Gefahr ausgesetzt ist, ›Rasse‹ zu re-essentialisieren. Neben dem christlichen Versöhnungsgedanken wurde Ubuntu als indigenes afrikanisches Konzept der ethischen Konfliktlösung gesetzlich verankert. Ubuntu beschreibt den Menschen als ein soziales Wesen, das in einem Netz gegenseitiger Abhängigkeit lebt. Unrecht wird demnach als ein Schaden angesehen, welcher der gesamten Gemeinschaft zugefügt wird. Gegen diesen Grundgedanken von Ubuntu ist nichts einzuwenden. Problematisch erscheint jedoch die interessengerichtete Proklamation einer essentialisierten ›Africanness‹ (vgl. Maluleke 1997: 325, Fn.1; Marx 2001). Der Versöhnungsdiskurs generiert interessante Widersprüchlichkeiten. Zum einen wird erwartet, dass ›gute‹ Nationalist-/innen – gleich welcher (religiösen) Tradition – auf Vergeltung verzichten. Verweigerung der Versöhnung wird von Tutu als ›unafrikanisch‹ abgeurteilt (vgl. Wilson 2001: 16). Dann wiederum wird hervorgehoben, dass die afrikanische Ubuntu-Tradition dem christlichen Versöhnungsgedanken ähnlich sei. Die neo-traditionalistische, afrikanistische essentialisierende Komponente eines Kulturnationalismus erhielt dadurch willentlich einen Anschub. Mit Bezug auf christliche Vergebungsvorstellungen sowie auf Ubuntu wurde die Vergebung der Opfer verlangt, ohne dass der Komplexität der religiösen Dimension der Versöhnung Rechnung getragen würde. Dem Bekenntnis vieler Täter-/innen mangelte es an Ernsthaftigkeit. Auf Überlebende wurde Druck ausgeübt, zu vergeben, auch mit religiöser Begründung (vgl. Marx 2004: 116). Geistliches Versöhnungsgeschehen wurde einem politischen Versöhnungskompromiss untergeordnet. Zusammenfassend lässt sich konstatieren: Das TRC-Mandat des NationBuilding und der Versöhnung wurden von Tutu unhinterfragt propagiert. Das christliche Versöhnungskonzept wie auch das von Ubuntu bleiben konzeptionell unscharf und werden zur religiösen Legitimierung des eigentlich säkularen Mandates der TRC instrumentalisiert. Säkulare und religiöse symbolische Ordnungen und hegemoniale Konzepte überlagern sich. Das gilt insbesondere für hegemoniale Männlichkeit, wenn die verkürzten und instrumentalisierten Konzepte christlich kirchlicher Tradition und Ubuntu auf der Basis androzen
202 | U lrike A uga trischer und patriarchaler Logik und Symbolik bzw. die Natiogenese über die Generierung von hierarchisch geordneter Geschlechterdifferenz verlaufen.
Konstruk tion von Nation und Geschlecht Ich schließe mich einem konstruktivistischen Nationenverständnis an, dass die Nation auf ihre kollektiven Formationsmechanismen hin untersucht. »Die Nation ist jene zuerst ›gedachte Ordnung‹, die unter Rückgriff auf die Traditionen eines ethnischen Herrschaftsverbandes entwickelt und allmählich durch den Nationalismus […] als souveräne Handlungseinheit geschaffen wird.« (Wehler 2001: 13)
Anne McClintock erläutert, wie das Narrativ der Nation in seiner Dualität Geschlecht konstruiert. Nationale Narrative benutzen bevorzugt das Bild der Familie, obwohl die Familie als Institution in der Praxis gar keine nationale Macht besitzt. Nationen werden symbolisch als häusliche Genealogien dargestellt, denn dieses Schema birgt zwei ›Vorteile‹: Es bietet sich als eine ›natürliche‹ Größe an, um nationale Hierarchien zu sanktionieren, da man sich innerhalb einer gemeinsamen organischen Einheit versteht, und es entsteht eine ›natürliche‹ Trope, um die nationale Zeit darzustellen (vgl. McClintock 1997: 90-91). Der paradoxen Dualität des Narrativs der Nation entspricht auch das Gendering of Nation-Time. Bereits Walter Benjamin hatte darauf hingewiesen, dass, um Fortschritt darstellen zu können, die Erfindung von Bildern einer archaischen Zeit nötig sei, um verständlich machen zu können, was historisch neu ist (vgl. Benjamin 1991; Bhabha 1990a, b). McClintock zeigt nun, dass die gegensätzliche nationale Zeit durch die Repräsentation der Zeit als natürliche Teilung der Geschlechter dargestellt wird: »Women are represented as the atavistic and authentic body of natural division (inert, backward looking, and natural), embodying nationalism’s conservative principle of continuity. Men, by contrast, represent the progressive agent of national modernity (forwardthrusting, potent, and historic), embodying nationalism’s progressive, or revolutionary, principle of discontinuity.« (McClintock 1997: 92)
Die gespaltene Beziehung des Nationalismus zur Zeitvorstellung wird als eine natürliche Beziehung zu Geschlecht organisiert. Dieses findet seine paradoxe Widerspiegelung in der ›nationalen Familie‹ des Mannes. Der Mann erscheint als Träger des nationalen Fortschritts. Nationale Progression wird als öffentliche und männliche Sphäre der nationalen Familie abgebildet. Die Familie hingegen wird selbst als jenseits von Geschichtlichkeit dargestellt und mit der privaten und weiblichen Sphäre gleichgesetzt (vgl. McClintock 1997: 92-93). McClintock geht davon aus, dass mit der Säkularisierung spätestens im 19. Jahrhundert eine Fortschrittskonzeption entsteht, die die nationale Geschichte als natürlich teleologisch erscheinen lässt. Unpassende Diskontinuitäten werden verdrängt. Wenn jedoch festgestellt werden kann, dass religiöse Bedeutungen
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nicht ausgeblendet sind, sondern sich säkulare und religiöse symbolische Ordnungen und hegemoniale Diskurse überlagern, muss von einer verstärkten Wirkkraft des Nationalismus ausgegangen werden. Die aktive, zielorientierte hegemoniale Männlichkeit wird gleichzeitig als eine das Irdische überwindende Teleologie charakterisiert. Sie allein besitzt direkten Anteil an Kairos und Erlösung, weil sie nach ihrer symbolischen Konstruktion und über die Repräsentationsmechanismen, die Historisches und Symbolisches, Säkulares und Religiöses verbinden, allein die Kapazität hierzu besitzt.
Opfer, Müt ter, z weitklassige Zeuginnen und ihre erlösenden Helden Das Narrativ der neuen südafrikanischen Nation sollte sich entlang der geteilten, einander im Geständnis dargebrachten Erfahrungen der Apartheid entfalten. Nach Ansicht der TRC sollte das persönliche Zeugnis als ›story‹ erzählt werden, denn dieses würde einem heilenden Ritual gleichkommen (vgl. TRC 1998: 112). Da befürchtet wurde, dass die politischen und historischen Umstände keine geschlechtergerechte Befragung garantieren könnten, wurde am Anfang der Anhörungen gefordert: »[The Commission should] reject a gender-neutral approach towards the evidence […]. [Otherwise] gender issues, and women’s voices in particular, will not be heard.« (Goldblatt/Meintjes 1996: 1) Die Special Event Hearings, die sich mit den Gewalterfahrungen von Frauen beschäftigten , fanden in Kapstadt, Durban und Johannesburg von 1996 bis 1997 statt. Trotz und wegen der Spezialanhörungen führten die Gesprächsführung und Instrumentalisierung von Aussagen vor der Menschenrechtskommission dazu, dass Geschlecht generiert wurde (vgl. Ross 2003: 78). Erstens werden verschiedene Arten von Gewalt zu einer Geschichte sexueller Gewalt und Verletzung des weiblichen Körpers umgeschrieben. Es kommt zu einer Löschung der Vielheit der Erinnerungen. Gleichzeitig wird durch die körperliche Einschreibung eine Vertiefung der Erinnerung hervorgerufen. Der Fokus auf den Körper erlaubt eine mnemonische Übertragung als Verkörperung von Verletzung, die auch anderen zugefügt worden sein kann (vgl. Ross 2003: 100). Zweitens wird der Person ihr Subjektstatus entzogen und Frauen werden als ›passive Opfer‹ konstruiert. Auffällig ist die verkürzte Stereotypisierung aller Betroffenen als ›Opfer‹, was deren Anliegen, sich als aktiv ›Überlebende‹ zu verstehen, widerspricht: »Victims are acted upon rather than acting, suffering rather than surviving […]. [W]hen dealing with gross human rights violations committed by perpetrators, the person against
4 | Schwierigkeiten ergaben sich, weil die TRC sich nur mit politisch motivierter Gewalt auseinandersetzen. In diesem Definitionsschema ist es sehr schwierig, sexuelle Gewalt als politisch motiviert zu beschreiben. Die berichtete Gewalt gegen Frauen wurde hauptsächlich in die Kategorie ›schwere Misshandlung‹ eingeordnet, die wegen ihrer Unschärfe in der Kommission selber in die Kritik geraten war.
204 | U lrike A uga whom that violation is committed can only be described as a victim, regardless of whether he or she emerged as a survivor.« (TRC 1998: 59)
Drittens fällt bei der Anerkennung des politischen Opferstatus’ eine Rangordnung auf, die geschlechtliche Markierungen konstruiert. Politische Aktivitäten von Frauen im ANC-Widerstand werden als zweitrangig zur Mutterschaft dargestellt (vgl. Ross 2003: 90). Damit wird die eigenständige politische Wirksamkeit von Frauen hinter eine Rolle als Mutter gesetzt, die sie nicht selbständig, sondern in Abhängigkeit vom Ehemann und Sohn konstruiert (vgl. Yuval-Davis 1997). Viertens besitzt der TRC-Report eine spezielle Kategorie für Frauen und Kinder, jedoch keine für Männer, was deren universalistische Positionierung unterstreicht. Das ›Frauenkapitel‹ konzentriert sich auf Frauen als Opfer spezieller Menschenrechtsverletzungen. Beispielsweise generalisierte die Kommission »[t]hat ›women‹ were at risk of diverse bodiliy harms« (Ross 2003: 6). Ross unterstreicht: »›Woman‹ was not a neutral category but a category that carried assumptions about the nature and severity of particular harms, particular sexual violence.« (Ross 2003: 227) Es fällt auf, dass die Kommission sexueller Gewalt gegen und Vergewaltigung von Männern sowie homosexueller Gewalt keine spezielle Aufmerksamkeit widmete. Vergewaltigung und sexuelle Gewalt wurden einseitig als Gewalt gegen Frauen konstruiert (vgl. Ross 2005: 227). Das entspricht dem hegemonialen Männlichkeitskonzept in Post-Apartheid Südafrika, das maskulines potentes Handeln und Aggressivität verbindet und normalisiert. Sexuelle Gewalt an Frauen, die auf die symbolische Schwächung der Maskulinität der männlichen Gegner und die Erhöhung der eigenen Potenz abzielte, wird in der TRC nicht aufgearbeitet, da einerseits die verschiedenen Seiten der Konfliktparteien sexuelle Gewalt als Kampfmittel einsetzten und andererseits Kontinuitäten vorkolonialer, kolonialer und gegenwärtiger gewalttätiger Männlichkeitskonzepte diskutiert werden müssten. Sexuelle Gewalt zur symbolischen Grenzziehung in Selbstdefinitions-, Gruppenmarkierungs- und Rangordnungsprozessen sind in Südafrikas Geschichte durchgängig stark präsent (vgl. Schäfer 2005). Der TRC-Prozess konstruiert eine bestimmte Geschlechterordnung mit männlich hegemonialen und weiblich nachgeordneten Attributen. Gender Mainstreaming und die Women’s Hearings brachten der Gewalt gegen Frauen zwar mehr Aufmerksamkeit ein, trugen jedoch auch dazu bei, dass die Kategorie ›Frau‹ mit Attributen von Opferstatus, Passivität, Familiarität, Traditionalität und Körperlichkeit essentialisiert wurde. Die männliche Figur, als das Universale, muss dagegen nicht immer markiert sein. Die Symbolik der männlichen überlebenden Opfer als Besiegte tritt hinter das Bild der männlichen Toten zurück, welche die (nationalen) Feinde und sogar das Diesseits überwinden. Die Toten werden als anonyme männliche Helden erinnert, an welche die Attribute Aktivismus, Progressivität, Gesellschaftlichkeit und Erlösung geheftet sind. So werden Frauen nicht nur ›sekundäre Zeuginnen‹,
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weil sie über Männer aussagen, sondern sie werden tatsächlich als ›zweitklassige‹ Zeuginnen naturalisiert.
Religiöse Determinierung hierarchischer Geschlechterordnung und univer sale Ver söhnung Wenn deutlich ist, dass der TRC-Prozess symbolische und strukturelle Hegemonien und Ordnungen mit gewalttätigen Tendenzen generiert, verstößt dieses – bei allem Respekt für die Leistungen der TRC – gegen die Vorstellung der universalen Versöhnungstat Gottes. Mit einer historischen innerchristlichen Kritik, dem »Belhar-Bekenntnis« der Nederduits Gereformeerde Sendingkerk aus dem Jahr 1982 lässt sich Kritik an das Versöhnungskonzept der TRC richten. Die für die ›Nicht-Weißen‹ gebildete Tochterkirche der Weißen Nederduits Gereformeerde Kerk (NGK) erklärte die Apartheid als Sünde und für Christ-/innen zum status confessionis. Jedes (theologische) System, welches Theorie und Praxis der Apartheid rechtfertigt, wurde als Häresie bezeichnet, inklusive das Handeln der NGK. Das Belhar-Bekenntnis begründet den Kampf gegen Apartheid mit dem Hinweis auf die umfassende Versöhnung Gottes (2 Kor 5,17-21; Eph 2,1418; Kol 2,8-15). Das bedeutet letztlich: Weil Christus Versöhnung vollständig ermöglicht hat, existiert die Vorstellung von ein ›bisschen Versöhnung‹ nicht. Das Vertrauen auf das umfassende Versöhnungshandeln Gottes verpflichtet gleichzeitig auch zum Kampf gegen alle Strukturen in der menschlichen Gesellschaft, die diesem in den Weg gestellt werden, und zur Ablehnung aller ›billigen‹ Versöhnungsversuche (vgl. Kistner 1993). Der Versöhnungsprozess der TRC unterliegt dem Verdacht, ein manipulierter Versöhnungsversuch zu sein. Systematische und symbolische Aspekte der Gewalt des Apartheidsystems wurden nicht untersucht, um hegemoniale Kontinuitäten nicht aufzudecken, die bis in die vorkoloniale Zeit reichen. An der Geschichte der christlichen Versöhnungsvorstellung im südafrikanischen Kontext zeigt sich, dass nicht allein die politische Verkürzung der christlichen Versöhnungsvorstellung in der TRC das Problem ist, sondern die theologische Positionierung zu den hegemonialen Strukturen selbst. Dabei wird im südafrikanischen Nation-Building-Prozess besonders deutlich, wie patriarchale Strukturen durch die Überlappung und wechselseitige Stärkung säkularer und religiöser Strukturen fortgeschrieben werden und hegemoniale Männlichkeit als ›gottgegeben‹ dargestellt wird (vgl. Schäfer 2005: 203-208). Anderseits muss berücksichtigt werden, dass sich der Kontext fundamen5 | Vgl. zum Versöhnungsbegriff Breytenbach (1989: 223; 1993). 6 | Wenn Wüstenberg meint, »[p]olitische Versöhnung als nationales Zusammenwachsen erscheint nicht im versöhnungstheologischen Zusammenhang« (2003: 564), kann er dies nur, weil er übersieht, welche Unrechtsstrukturen die TRC generiert, da sowohl Nationalismus-, Kapitalismus-, als auch Geschlechterkritik in seinen Studien fehlen.
206 | U lrike A uga tal verschiebt. Der technische, ökonomische, politische, soziale und kulturelle Globalisierungsprozess stellt weltweit bestehende gesellschaftliche und religiöse Ordnungen, aber auch Geschlechterordnungen in Frage (vgl. Balibar 2006; Hardt/Negri 2000). Unter den Stichworten ›Pluralität‹, ›neue Sinnfrage‹ und ›interreligiöser Dialog‹ werden Neuausrichtungen gewagt. Auch geschlechtertheoretisch lassen sich Veränderungen beobachten. Mit einem ethical turn kommt die Gefährdetheit des ganzen Lebens zur Sprache (vgl. Butler 2005). Hier schließt sich der Kreis mit der Frage von Glauben als Lebensdeutungsangebot (vgl. Gräb 2006). Andere Autor-/innen weisen darauf hin, dass die interreligiöse Verständigung besser gelänge, wenn weniger vom theoretischen Überbau, der Lehre von Gott her gedacht wird, sondern vom Menschen (vgl. Feldtkeller 2006). Gesellschaft, Religion und Geschlechterordnung sind dramatischen Veränderungen unterworfen. In der Auseinandersetzung der Gesellschaften und Religionen spielt die Geschlechterordnung eine zentrale Rolle. Wie auch das Beispiel der TRC zeigt, sind symbolische Geschlechterordnungen mit bestimmten Wissensstrukturen und religiösen Ordnungen verwoben. Hier komme ich auf das Problem des Zeugnisses zurück. Die TRC hatte nicht im Blick, dass sowohl die Narrativität wie das Zeugnis des Geständnisdiskurses komplexe Mechanismen sind. Gegen deren Verheißung, Befreiung zu stiften, wurde bereits eingewendet, dass sie Geschlecht bzw. Machtdiskurse der Regulierung von Sexualität und Geschlecht hervorbringen. Deborah Posel untersucht das ethische Projekt der TRC und stellt fest, dass die südafrikanische Post-Apartheidgesellschaft vom Zeugnisablegen geradezu ›besessen‹ scheint. Der Mechanismus des Geständnisses will gegenseitige Anerkennung in der zutiefst gespaltenen Gesellschaft generieren. Gleichzeitig hofft der Geständnisdiskurs die Chance der globalen Anerkennung wahrzunehmen, denn das Geständnis der menschlichen Fragilität stilisiert die eigene Geschichte der Verletzung als Teil des weltweiten Leidens. Posel zeigt, dass ein Mechanismus wirkt, der Michel Foucaults Geständnisdiskurs folgt (vgl. Posel 2006: 8-9). Hier entspringt ein Diskurs, der Wahrheit in der Subjektivität sucht. Auch das den Women’s Hearings zugrunde liegende Vorhaben der Geschlechtergleichstellung geht davon aus, dass dieses befreite Subjekte hervorbringt, produziert jedoch die Macht, gegen die es angetreten war. Darüber hinaus ist der Geständnisdiskurs an sich fragwürdig. Für Foucault ist das Geständnis die zentrale Technik der Produktion des modernen Selbst, die jedoch mit Regulierungen einhergeht. Foucault verortet die Produktion des Selbst durch das Geständnis besonders an Institutionen wie Krankenhaus, Gefängnis oder Schule (vgl. Fou-
7 | Diese ›Wiederkehr des Menschen‹ wäre auch für die Dekonstruktion von Geschlecht fruchtbar, wenn sie nicht mit heteronormativen, teilweise biologistischen Verwandtschaftsvorstellungen gekoppelt wäre und so letztlich Maskulinität hegemonial generierte, wie z.B. bei dem zunächst viel versprechenden Ansatz von Feldtkeller (vgl. Feldtkeller 2006: 14).
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cault 1997). Er zeigt, dass die Wahrheit der Subjektivität in der Macht verortet ist. Die Erlösung des Selbst durch das Geständnis ist also infrage gestellt. Foucault sieht die Produktion des Selbst durch das Geständnis grundlegend mit Praktiken der Säkularisierung verbunden. Posel weist jedoch darauf hin, dass die Trennung zwischen religiös und säkular bei Foucault überzogen ist, denn: »[T]he modern enthusiasm for confession highlights the need for a more hybrid characterisation of the cultural dynamics of modernity: religious metaphors, symbols and repertoires inform the very practices presented as their antidote.« (Posel 2006: 8)
Diese Feststellung stärkt die hier vorgenommene Kritik an der verbundenen säkularen und religiösen Produktion hegemonialer Männlichkeit in der TRC. Die TRC hat – wie viele ähnliche Prozesse in der Welt – das emotionale, affektive und beschädigte Subjekt evoziert. Gleichzeitig wird ein Diskurs der erlösenden Kraft des Geständnisses generiert, der verstärkt auch religiös ›funktioniert‹. Es scheint, dass das beschädigte männliche Subjekt durch seine Bindung an die religiös erlösende Komponente aufgewertet werden soll. Es wird deutlich, dass der ›Cocktail‹ patriarchaler Geschlechterstrukturen nicht nur nachgeordnet religiös legitimiert wird, sondern bereits die Wissensproduktion religiös determiniert ist. Letztlich würde nur eine überarbeitete Universalismusvorstellung (vgl. Butler/Laclau et al. 2000), die ›universal‹ an ›historisch‹ koppelt, jedoch auch ›säkular‹ und ›religiös‹ zusammen denkt, hegemoniale Einschreibungen vermeiden und ›Versöhnung‹ ermöglichen.
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Zu den Autorinnen und Autoren
Ulrike Auga studierte Evangelische Theologie in Berlin, Cambridge und Genf. Sie promovierte im Fach Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Mehrjähriger Aufenthalt in Johannesburg, Bamako und Jerusalem. Seit 2005 lehrt sie in den Fächern Gender Studies und Kulturwissenschaft an der HU und als Gastdozentin für Interkulturelle und Interreligiöse Kommunikation an der FHTW Berlin. Sie ist assoziierte Kollegiatin des DFG-Graduiertenkollegs »Geschlecht als Wissenskategorie«. Forschungsschwerpunkte: Kritik der Intellektuellen, Geschlecht und Kollektivkörper, Geschlecht und Nationalismus in Transitionskontexten, Kulturelle Globalisierung, Religion und Sexualität. Gegenwärtiges Projekt: Sexualität als Wissensfeld am Ende des 20. Jahrhunderts. Ein Begriff und viele Gegenstände. Einwurf zur interreligiösen Diskussion. Publikationen u.a.: From Anti-Apartheid to African Renaissance (2002); Gender in Conflicts. Palestine – Israel – Germany (2006, hg. mit C. von Braun); Intellektuelle zwischen Dissidenz und Legitimierung. Eine kulturkritische Typologie im Kontext Südafrikas (2007). Sven Glawion studierte Neuere deutsche Literatur, Geographie und Gender Studies in Köln und Berlin. Als Stipendiat im DFG-Graduiertenkolleg »Geschlecht als Wissenskategorie« arbeitet er an seiner Dissertation zu narrativen Konstruktionen männlicher Heterosexualität in deutscher Literatur in Folge von 1968. Er war und ist Lehrbeauftragter für Germanistische Literaturwissenschaft und Gender Studies. Forschungsschwerpunkte: deutsche Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Religion und Literatur, Männlichkeitsforschung sowie Queer Theory. Publikationen u.a.: »Sauberkeit und Sozialismus. Heteronormativität, Männlichkeit und die DDR: Ein Blick in Siegfried Schnabls Mann und Frau intim«. In: R. Bauer/J. Hoenes et al. (Hg.), Unbeschreiblich männlich (2007). Sabine Grenz arbeitet zurzeit an einem Projekt zu Geschlecht und (Nach-)Krieg anhand von Tagebüchern aus dem 2. Weltkrieg. 2005-2006 Postdoktorandin im DFG-Graduiertenkolleg »Geschlecht als Wissenskategorie«. 2004 Promotion in Gender Studies an der Humboldt-Universität zu Berlin. Studium der Erziehungswissenschaft, Psychologie und Soziologie an der Universität Köln
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und der Gender Studies an der London School of Economics and Political Science (LSE). Forschungsschwerpunkte: Feministische Wissenschaftskritik, (Wissens-)Geschichte der Sexualität, Prostitution, Männlichkeitsforschung, qualitativ-empirische Sozialforschung. Publikationen u.a.: (Un)heimliche Lust. Über den Konsumsexueller Dienstleistungen (2005; 2. Auflage 2007); »Intersections of Sex and Power in Research on Prostitution: A Female Researcher Interviewing Male Heterosexual Clients«. In: Signs (2005); Verhandlungen im Zwielicht. Momente der Prostitution in Geschichte und Gegenwart (2006, hg. mit M. Lücke). Elahe Haschemi Yekani studierte Anglistik/Amerikanistik sowie Theaterwissen- schaft/Kulturelle Kommunikation an der Humboldt-Universität zu Berlin und der University of Westminster, London. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Anglistik und Amerikanistik an der HU Berlin und assoziierte Kollegiatin des DFG-Graduiertenkollegs »Geschlecht als Wissenskategorie«. In ihrer Dissertation The Privilege of Crisis beschäftigt sie sich mit Narrativen kolonialer und postkolonialer hegemonialer und marginalisierter Männlichkeiten in Großbritannien. Forschungsschwerpunkte: Queer Theory, Postcolonial Studies und Masculinity Studies. Publikationen u.a.: Quer durch die Geistes wissenschaften. Perspektiven der Queer Theory (2005, hg. mit B. Michaelis); »Transgender-Begehren im Blick: Männliche Weiblichkeiten als Spektakel im Film.« In: R. Bauer/J. Hoenes et al. (Hg.), Unbeschreiblich männlich (2007). Daniela Hrzán, Studium der Amerikanistik und Journalistik an der Universität Leipzig sowie der Africana Women’s Studies an der Clark Atlanta University, USA. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kulturwissenschaftlichen Seminar der Humboldt-Universität zu Berlin und Mitglied des Zentrums für transdisziplinäre Geschlechterstudien. Laufende Promotion zum Thema US-amerikanische Diskurse zu Female Genital Cutting (FGC) seit den 1990er Jahren: Eine Untersuchung unter dem Blickwinkel der Postcolonial und Critical Whiteness Studies. Assoziiert am DFG-Graduiertenkolleg »Geschlecht als Wissenskategorie«. Forschungsschwerpunkte: Gender Studies, Postcolonial Studies und Critical White- ness Studies, Kulturanthropologie, Transdisziplinarität. Publikationen u.a.: Weiß – Weißsein – Whiteness: Kritische Studien zu Gender und Rassismus (2006, hg. mit M. Tißberger, G. Dietze und J. Husmann-Kastein). Jana Husmann-Kastein studierte Kulturwissenschaft und Gender Studies an der Universität Bremen, der Humboldt-Universität zu Berlin und als Erasmus- Stipendiatin an der Brunel University of London. Sie promoviert im Fach Kulturwissenschaft zum Thema: Schwarz-Weiß: Farbsymbolik – Geschlechtssymbolik – Rassismus. Deutschsprachige Rassendiskurse 1800-1925. 2003 bis 2006 Promotionsstipendiatin der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Seit 2005 assoziierte Kollegiatin des DFG-Graduiertenkollegs »Geschlecht als Wissenskategorie«. Forschungsschwerpunkte: Critical Whiteness Studies, europäische Rassentheorie, Religionsgeschichte, Intersektionalität, Transdisziplinarität. Lehraufträge in
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der Kulturwissenschaft, den Gender Studies und Erziehungswissenschaften an der HU und FU Berlin. Publikationen u.a.: Weiß – Weißsein – Whiteness: Kritische Studien zu Gender und Rassismus (2006, hg. mit M. Tißberger, G. Dietze und D. Hrzán). Eva Johach, Studium der Biologie, Chemie und Kulturwissenschaft in Erlangen, Lüneburg und Berlin. 2006 Promotion am Kulturwissenschaftlichen Seminar der HU Berlin über die medizinische und politische Metaphorik der Krankheit Krebs im 19. Jahrhundert. Derzeit Postdoktorandin im DFG-Graduiertenkolleg »Geschlecht als Wissenskategorie«. Projekt: Das Geschlecht der sozialen Insekten. Eine Studie zur politischen Zoologie. Forschungsschwerpunkte: Cultural Science Studies, Natur- und Geschlechtergeschichte, Krankheitsbilder und Sozialpathologien. Publikationen u.a.: »Das Normale, das Pathologische und der Krebs. Zur medizinischen Konzeption von Geschwülsten im 19. Jahrhundert«. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 3/2005; »›Schicksalvolles Zauberbild‹. Maurice Maeterlincks Leben der Bienen zwischen Wissenschaft und Poesie«. In: Texte, Tiere, Spuren (Sonderheft der Zeitschrift für deutsche Philologie, 2007); »Der Bienenstaat. Geschichte eines politisch-moralischen Exempels«. In: A. von der Heiden/J. Vogl (Hg.), Politische Zoologie (2007). Carsten Junker studierte in Frankfurt a.M., Berlin, London und Ithaca, New York. Derzeit ist er Lehrbeauftragter am Institut für Anglistik und Amerikanistik der Humboldt-Universität zu Berlin und Promotionsstipendiat im DFGGraduiertenkolleg »Geschlecht als Wissenskategorie«. Seine Promotion in den Nordamerikanischen Literatur- und Kulturwissenschaften trägt den Titel: Rahmen der Wissensproduktion. Verhandlungen von Race und Gender in amerikanischen Essays des 20. Jahrhunderts. Forschungsschwerpunkte: Gender Studies, Rassismus- und Kritische Weißseinsforschung sowie Genretheorie. Publikationen u.a.: »Weißsein in der akademischen Praxis. Überlegungen zu einer kritischen Analysekategorie in den deutschen Kulturwissenschaften«. In: M.M. Eggers/G. Kilomba et al. (Hg.), Mythen, Masken und Subjekte (2005); »Was, wenn Bartleby eine Frau wäre?« (mit J. Miess, S. Neuenfeldt und J. Roth). In: G. Dietze/S. Hark (Hg.), Gender kontrovers (2006). arolina Krasuska studierte Germanistik und Amerikanistik an der Universi- K tät Warschau, dank verschiedener Stipendien mit Studien- und Rechercheaufenthalten in Freiburg, Kassel und Berlin. Sie promoviert im Fach Kulturwissenschaften an der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder als Stipendiatin der Heinrich-Böll-Stiftung, ist assoziierte Kollegiatin des Graduiertenkollegs »Geschlecht als Wissenskategorie« und Visiting Scholar am English Department, SUNY Buffalo. In ihrer Dissertation untersucht sie aus einer transnationalen gender-orientierten Perspektive »lyrische (In-)Subordinationen« bei Mina Loy, Maria Komornicka/Piotr Odmieniec Włast und Else Lasker-Schüler. Publikationen u.a.: »›Nobody knows me: isn’t it because it is hard to know what does not exist yet?‹ Undoing Gender Masquerade in Maria
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Komornicka/Piotr Odmieniec Włast.« In: U. Chowaniec/M. Rytkönen (Hg.), Masquerade and Femininity (2007); Polnische Übersetzung von Judith Butlers Gender Trouble (2007). Anke Langner studierte Rehabilitationspädagogik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihre Diplomarbeit diskutiert die In-vitro-Fertilisation als ein Instrument der Bio-Macht. Als Stipendiatin im DFG-Graduiertenkolleg »Geschlecht als Wissenskategorie« arbeitet sie an ihrer Dissertation zu Geschlecht und geistiger Behinderung in der Identitätsarbeit von Jugendlichen. Sie war und ist Lehrbeauftragte am Institut für Rehabilitationswissenschaft. Forschungsschwerpunkte: qualitative Methoden in der Behindertenpädagogik, Armutsforschung, Disability Studies und Theorien von Behinderung. Publikationen u.a.: »Geschlecht und geistige Behinderung. Transdisziplinarität in der Untersuchung zweier sozialer Konstruktionen«. In: I. Dölling/D. Dornhof et al. (Hg.), Transformationen von Wissen, Mensch und Geschlecht (2007). Beatrice Michaelis studierte Anglistik/Amerikanistik sowie Ältere deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin und der University of Westminster, London. Ihre Magisterarbeit behandelt die Repräsentation von Männlichkeiten und männlichen Körpern in der Krise in zeitgenössischer britischer und USamerikanischer Literatur. 2004 ko-organisierte sie die Konferenz Queering the Humanities – Quer durch die Geisteswissenschaften an der HU Berlin. Seit 2005 ist sie Stipendiatin des DFG-Graduiertenkollegs »Geschlecht als Wissenskategorie«. Ihr Dissertationsprojekt trägt den Titel: (Dis)Artikulationen von Begehren: Reden und Schweigen in Texten des Hoch- und Spätmittelalters. Publikationen u.a.: Quer durch die Geisteswissenschaften. Perspektiven der Queer Theory (2005, hg. mit E. Haschemi Yekani); Geschlecht als Tabu (erscheint 2007, hg. mit U. Frietsch, K. Hanitzsch und J. John). Stefanie von Schnurbein ist Professorin für Neuere Skandinavische Literaturen am Nordeuropa-Institut der Humboldt-Universität zu Berlin sowie Wigeland Gastprofessorin für Norwegisch an der University of Chicago. Forschungsschwerpunkte: skandinavische Literaturen des 19. und 20. Jahrhunderts, Geschlechterforschung, Queer Theory, Intersektionalität, Neuheidentum, Ideologie- und Mentalitätsgeschichte. Publikationen u.a.: Religion als Kulturkritik. Neugermanisches Heidentum im 20. Jahrhundert (1992); Krisen der Männlichkeit. Schreiben und Geschlechterdiskurs in skandinavischen Romanen seit 1890 (2001). Simon Strick studierte Amerikanistik, Kunstgeschichte und Philosophie in Köln und Berlin. Er arbeitet zurzeit an einer Dissertation zum Thema Pain as Cultural Capital, die sich mit der kulturellen und politischen Bedeutung von Schmerzen im Zusammenhang mit Konstruktionen von Race und Gender im Amerika des 19. Jahrhunderts beschäftigt. Er ist assoziierter Kollegiat am Graduiertenkolleg »Geschlecht als Wissenskategorie«. Publikationen u.a.: »Geschlecht als
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Gewinn: Zum Spektakel der Normierung in The Swan«. In: M. Goller/G. Heldt (Hg.), Plurale 5: Gewinn (2005); »Rap and Death«. In: M. Büsser (Hg.), testcard: Beiträge zur Popgeschichte 14: Discover America (2005). Sophie Wennerscheid, Studium der Skandinavistik, Neueren deutschen Literatur und Ev. Theologie an der Georg-August-Universität Göttingen und der Humboldt-Universität zu Berlin. 2007 promovierte sie mit einer Arbeit zum Thema Das Begehren nach der Wunde. Zum Wechselspiel von Schrift, Selbst und Männlichkeit im Werk Søren Kierkegaards. Sie arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Vergleichende Germanische Philologie und Skandinavistik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg sowie am Nordeuropa-Institut der Humboldt-Universität zu Berlin. In ihrem aktuellen Forschungsprojekt untersucht sie Figurationen eines weiblich codierten Vitalismus’ in Texten der frühen Moderne Nordeuropas. Publikationen u.a.: Jenseits des Poststrukturalismus? Eine Sondierung. (2005, hg. mit M. Lepper/S. Siegel); »Literarische Missbildung und hybride Eigentümlichkeit. Überlegungen zum Wechselspiel von Text und Subjekt im Werk Kierkegaards.« In: C. Barz/W. Behschnitt (Hg.), Bildung und anderes. Alterität in Bildungsdiskursen in den skandinavischen Literaturen seit 1800 (2006).
GenderCodes Ute Frietsch, Konstanze Hanitzsch, Jennifer John, Beatrice Michaelis (Hg.) Geschlecht als Tabu Orte, Dynamiken und Funktionen der De/Thematisierung von Geschlecht November 2007, ca. 260 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., ca. 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-713-4
Ulrike Brunotte, Rainer Herrn (Hg.) Männlichkeiten und Moderne Geschlecht in den Wissenskulturen um 1900 Oktober 2007, ca. 350 Seiten, kart., ca. 31,80 €, ISBN: 978-3-89942-707-3
Sven Glawion, Elahe Haschemi Yekani, Jana Husmann-Kastein (Hg.) Erlöser Figurationen männlicher Hegemonie September 2007, 218 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-733-2
Sabine Grenz, Martin Lücke (Hg.) Verhandlungen im Zwielicht Momente der Prostitution in Geschichte und Gegenwart 2006, 350 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-549-9
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de