Die Alice-Maschine: Figurationen der Unruhe in der Populärkultur [1. Aufl.] 9783476057068, 9783476057075

Lewis Carrolls Alice-Bücher gehören zu den Klassikern der Kinderliteratur. Die Nonsense-Erzählungen wurden immer wieder

515 82 4MB

German Pages X, 300 [300] Year 2020

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-X
Einleitung (Christine Lötscher)....Pages 1-15
Front Matter ....Pages 17-17
Elemente, Hintergründe und Voraussetzungen der Alice-Maschine (Christine Lötscher)....Pages 19-61
„The divine lunacy we call nonsense“* (Christine Lötscher)....Pages 63-92
Materialität des Sinns, Hermeneutik des Unsinns (Christine Lötscher)....Pages 93-151
Alice als Leserin oder die Poiesis des Unsinn-Lesens (Christine Lötscher)....Pages 153-181
Front Matter ....Pages 183-183
Alice und die Populärkultur (Christine Lötscher)....Pages 185-198
Oberfläche als Medium der Wahrnehmung: Die Alice-Maschine im populären Kino der 1960er und 1970er-Jahre (Christine Lötscher)....Pages 199-237
Unmögliche Räume: Die Alice-Maschine in Fernsehserien der Gegenwart (Christine Lötscher)....Pages 239-274
Schluss: Alice posthuman (Christine Lötscher)....Pages 275-281
Back Matter ....Pages 283-300
Recommend Papers

Die Alice-Maschine: Figurationen der Unruhe in der Populärkultur [1. Aufl.]
 9783476057068, 9783476057075

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

S T U D I E N Z U K I N D E R - U N D J U G E N D L I T E R AT U R U N D - M E D I E N 6

Christine Lötscher

Die Alice-Maschine Figurationen der Unruhe in der Populärkultur

Studien zu Kinder- und Jugendliteratur und -medien Band 6

Reihe herausgegeben von Ute Dettmar, Frankfurt am Main, Deutschland Petra Josting, Bielefeld, Deutschland Caroline Roeder, Ludwigsburg, Deutschland

Die Kinder- und Jugendliteraturforschung hat sich seit ihrer Etablierung an den Universitäten in den 1960er-Jahren zu einer eigenständigen Disziplin der Literaturwissenschaft entwickelt. Angesichts der (inter- und trans-)medialen Entwicklungen im Erzählen und der zunehmenden Adaptionen kinder- und jugendliterarischer Stoffe (Filme, Serien, Hörbücher, Apps etc.) ist insbesondere auch eine (inter-)disziplinäre Weiterentwicklung in Richtung Medienwissenschaften notwendig. Die kulturwissenschaftliche Wende in den Geistes- und Sozialwissenschaften erfordert eine methodische Weiterentwicklung und eine konzeptionelle Öffnung des Forschungsfeldes, die aktuelle theoretische Positionen und Diskurse aufgreift. Die Reihe widmet sich diesen Forschungsfragen in Monographien und Sammelbänden. Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/16241

Christine Lötscher

Die Alice-Maschine Figurationen der Unruhe in der Populärkultur

Christine Lötscher Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft ISEK _ Populäre Kulturen Universität Zürich Zürich, Schweiz

Gefördert durch den Schweizerischen Nationalfonds SNF zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung. ISSN 2524-8634 ISSN 2524-8642  (electronic) Studien zu Kinder- und Jugendliteratur und -medien ISBN 978-3-476-05706-8 ISBN 978-3-476-05707-5  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-476-05707-5 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Umschlagabbildung: Lewis Carroll, Alice im Wunderland © akg-images/British Library Planung/Lektorat: Oliver Schütze J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Denn zwei Schritte hinter der wirklichen Welt […] tut sich ein unermesslicher Raum auf, schrecklich und schön, von dem man nichts weiß, weil davon selten erzählt wird, weil man hier alles zum ersten Mal sieht und hört und riecht und fühlt und dabei […] kurzfristig beide Augen schließt (Felicitas Hoppe: Hoppe. Frankfurt a. M. 2012, 217). Ein Buch existiert überhaupt nur durch das Außen und im Außen. Wenn ein Buch also selbst eine kleine Maschine ist, in welchem meßbaren Verhältnis steht dann diese literarische Maschine zu einer Kriegsmaschine, einer Liebesmaschine, einer Revolutionsmaschine, etc. – und zu einer abstrakten Maschine, die alle mit sich zieht? (Gilles Deleuze/Felix Guattari: Rhizom. Berlin 1977, 7).

Danksagung

Die vorliegende Arbeit entstand ihm Rahmen des vom Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung SNF finanzierten Projekts „Poetik des Materiellen. Neuerfindungen des Buchmediums in der ‚Kinderliteratur’“, sowie mit Unterstützung der Kolleg-Forschergruppe Cinepoetics – Poetologien audiovisueller Bilder an der Freien Universität Berlin, wo ich als Research Fellow nicht nur Zeit und Raum zum arbeiten, sondern auch ein überaus anregendes Umfeld vorfand. Mein ganz besonderer Dank geht an Ingrid Tomkowiak und Klaus Müller-Wille, die das SNF Projekt geleitet haben, sowie an die Cinepoetics­ Sprecher Hermann Kappelhoff und Michael Wedel. Sie alle haben mich bei meinem Arbeitsprozess freundschaftlich begleitet und unterstützt, inspiriert und motiviert, und standen mir bei ungeklärten Fragen und für klärende Diskussionen großzügig zur Verfügung. Ebenso danke ich meinen Kolleginnen und Kollegen im SNF-Projekt, Petra Bäni, Kathrin Hubli und Simon Messerli, für den regen Austausch, sowie Team und Fellows bei Cinepoetics für die intensive Zusammenarbeit. Wissenschaftliches Denken und Schreiben ist immer ein kollektives Unternehmen, deshalb gilt mein Dank allen, die mir in den Jahren, in denen ich in den Windungen der Alice-Maschine unterwegs war, als Gesprächspartner*innen zur Verfügung standen, die mitgedacht, nachgefragt, kritisiert, gegengelesen, redigiert und mich in der Zeit begleitet, insbesondere: Julian Ahmadi, Brigitte Frizzoni, Daniel Illger, Katharina Lötscher, Antonin Rohdich, Sophie Scharf, Eva Schmid-Gloor, und Noëmi Vollenweider.

VII

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Teil I  Lewis Carrolls Wunderland und die Alice-Maschine 2 Elemente, Hintergründe und Voraussetzungen der Alice-Maschine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2.1 Melancholische Quadrillen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2.2 Alice als Spiel- und Denkfigur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 2.3 „Good morning, Dolores. Bring yourself back online“ – Alice als Maschine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2.4 Denkdinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 2.5 Alice-Diskurse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 2.6 Karten, Genres, Machinen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 3 „The divine lunacy we call nonsense“* . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 3.1 Eins und eins und eins. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 3.2 Viktorianischer Nonsense . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 3.3 „A vigorous life of their own“ – Nonsense als Meta-Sprache. . . . . . 75 3.4 Unsinn als „Widergänger“ im hermeneutischen Regime. . . . . . . . . . 77 3.5 Hermeneutik: Sichabarbeiten an den Grenzen des Verstehens . . . . . 84 4 Materialität des Sinns, Hermeneutik des Unsinns. . . . . . . . . . . . . . . . . 93 4.1 Das Material der Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 4.2 „Dodgsons extreme perfectionism“: Lewis Carrolls Materialästhetik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 4.3 Figurationen der Bannung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 4.4 Die Alice-Maschine medienpraxeologisch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 5 Alice als Leserin oder die Poiesis des Unsinn-Lesens. . . . . . . . . . . . . . . 153 5.1 Die Poiesis des Filme-Sehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 5.2 Die Poiesis des Unsinn-Lesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 5.3 Alice als Leserin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162

IX

X

Inhaltsverzeichnis

Teil II  Die Alice-Maschine und das Nachleben eines Klassikers 6 Alice und die Populärkultur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 6.1 „Ihr müsst die Augen schließen, sonst werdet ihr nichts sehen“: Jan Švankmajers nečo z alenky. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 6.2 Metamorphose, Rausch und Psychedelik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 6.3 Figurationen und Konstellationen der Unruhe. . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 7 Oberfläche als Medium der Wahrnehmung: Die Alice-Maschine im populären Kino der 1960er und 1970er-Jahre. . . . . . . . . . . . . . . . . 199 7.1 The man with kaleidoscope eyes: Roger Cormans the trip (USA 1967). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 7.2 Im Spiegel gefangen: Mediales Begehren in Lucio Fulcis Giallo una lucertola con la pelle di donna (1971). . . . . . . . . . . . . 212 7.3 Llanfairpwllgwyngyllgogerychwyrndrobwllllantysiliogogogoch: barbarella als Alice einer feministisch-utopischen Zukunft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 8 Unmögliche Räume: Die Alice-Maschine in Fernsehserien der Gegenwart. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 8.1 Agent Coopers Träume: twin peaks (1990–2017). . . . . . . . . . . . . . . 242 8.2 Erkundungen im Upside Down: stranger things (2016–) . . . . . . . . 249 8.3 Unsinnige Maschinen: fargo (2014–). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 9 Schluss: Alice posthuman. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Siglenverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Verzeichnis der Abbildungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287

Kapitel 1

Einleitung

Es ist alles nur ein Traum. Oder doch nicht? Was Lewis Carrolls Alice erlebt, nach dem langen Fall durchs Kaninchenloch im Wunderland, nach dem Gang durch den Spiegel im Land dahinter, das träumt sie nur, wenn man den Rahmenerzählungen von Alice’s Adventures in Wonderland (1865) und Through the Looking-Glass and What Alice Found There (1871) glaubt. Weggedöst ist sie, aus purer Langeweile am Alltag viktorianischer Mädchen hat sich ihr Kopf für eine kurze Zeit aus der Wirklichkeit verabschiedet, um am Ende der Geschichten jeweils wieder zurückzukehren, als die gute alte Alice, und als eine Andere. Träumen in der Literatur, im Film, in den Künsten sollte man nicht über den Weg trauen. Im Traum wird das Unmögliche möglich, ohne wirklich geschehen zu sein – und doch hat es Konsequenzen.1 Denn was die Leserinnen, die Zuschauer am eigenen Leib erleben, was sie denken und fühlen bei der Lektüre, im Kinosessel oder vor dem Bildschirm, ist – als ästhetische Erfahrung – genauso real wie das, was unter den Vorzeichen hellwach-nüchternen Erlebens erzählt wird. Auch und gerade dann, wenn man nicht alles versteht, was man sieht oder liest. Traumsequenzen erfreuen sich in der Populärkultur der Gegenwart ungebrochener Beliebtheit – vielleicht gerade, weil sie ein Mittel sind, um das herrschende Verständlichkeitsdogma zu erfüllen und gleichzeitig zu unterlaufen.2 Denn: Verständlich, unter allen Umständen verständlich müssten Aussagen, Meinungen und Texte heute sein; so einfach wie möglich formuliert, ohne Nebensätze – von Schachtelkonstruktionen ganz zu schweigen; in jedem Fall aber sollen anschlussfähige

1Zum Traum in den Künsten vgl. die umfassende Darstellung von Stefanie Kreuzer: Traum und Erzählen in Literatur, Film und Kunst. Paderborn 2014; zum Traum in Kinder- und Jugendmedien vgl. Caroline Roeder (Hg.): Im Wunder-Schlummer-Land. Traum und Träumen in Kinder- und Jugendmedien. kjl&m 3/2016. 2Vgl. zum Beispiel das Gesamtwerk von David Lynch, Joss Whedons TV-Serie buffy, the vampire slayer (1997–2003) oder J. K. Rowlings Harry Potter-Reihe (1997–2007).

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lötscher, Die Alice-Maschine, Studien zu Kinder- und Jugendliteratur und -medien 6, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05707-5_1

1

2

1 Einleitung

Geschichten erzählt werden, ihr Wiedererkennungswert soll so hoch wie möglich sein. Im Zeitalter von Social Media wird Menschen, die schreiben und öffentlich reden, immer wieder und mit großer Dringlichkeit erklärt, Verständlichkeit sei die Regel Nummer eins. Was sich nicht in einer Twitter-Meldung auf den Punkt bringen lässt, solle besser ungesagt bleiben. Eine stringente Erzählung sei Plicht, ein Gedanke müsse aus dem anderen hervorgehen, um Thema und Botschaft herum dürfe nicht lange gerätselt werden. Selbst wenn mediale Formate eine Vielzahl von Deutungen zulassen, und dies auch noch auf eine provokative Weise, kann dies zum Problem werden. Eine Teenie-Serie wie 13 reasons why (Brian Yorkey, 2017–), die auf ebenso schonungslose wie formal einfallsreiche Weise nach den Hintergründen des Selbstmords einer Jugendlichen fragt, soll verboten werden, um Missverständnisse und Fehldeutungen zu verhüten.3 Und es wird ernsthaft darüber diskutiert, ob Märchen nicht aus dem Kanon der Kinderliteratur gestrichen gehören, wo der Prinz doch versäumt, Dornröschen um Erlaubnis zu fragen, bevor er sie aus dem hundertjährigen Schlaf wachküsst.4 Viel zu selten werden die Regeln dieses storytelling im öffentlichen Diskurs, sei es auf den Kultur- und Gesellschaftsseiten der massgeblichen Printmedien, sei es auf Facebook oder Twitter, als schematische Leitplanken auf ihre ideologischen Implikationen hin befragt. In den absolut gesetzten Regeln der Produktion hegemonialer Sinnzwänge, könnte man polemisch behaupten, spiegelt sich die Politik der Alternativlosigkeit.5 Hans Blumenbergs etwas reduktionistische Beschreibung des Erzählens als universelle kulturelle Aktivität erhält vor diesem Hintergrund eine neue Aktualität; insbesondere der zweite Teil des folgenden Zitats: „Geschichten werden erzählt um etwas zu vertreiben. Im harmlosesten, aber nicht unwichtigsten Fall: die Zeit. Sonst und schwererwiegend: die Furcht.“6 Wie soll da noch experimentiert werden, wie soll Neues entstehen? „Verstehe ich nicht“ ist nicht nur in Rezensionen und manchen Jurydiskussionen ein tödliches Verdikt. Schwer zugängliche, sich in Hinblick auf ihre Aussage oder gar Botschaft nicht ohne Weiteres erschließende Werke werden als Frechheit, als Zumutung für Konsumentinnen und Konsumentinnen empfunden, deren Zeit und Aufmerksamkeitsspanne doch ohnehin knapp bemessen sei. David Lynch

3Für

eine Zusammenfassung der Debatte vgl. Carolin Ströbele: Tote Mädchen vor Gericht. https://www.zeit.de/kultur/film/2018-05/tote-maedchen-luegen-nicht-2-staffel-netflix (20.04.2020); zur Ästhetik der Serie vgl. Christine Lötscher: Melodrama, Paranoia, Coming-ofAge. Genretheoretische Überlegungen zu Kinder- und Jugendmedien am Beispiel der NetflixSerie 13 Reasons Why. In: Ute Dettmar/Caroline Roeder/Ingrid Tomkowiak (Hg.): Schnittstellen de Kinder- und Jugendmedienforschung. Aktuelle Positionen und Perspektiven. Stuttgart 2019, 101–117. 4Vgl. etwa Nora Zukker: Sind Grimms Märchen out? https://www.migrosmagazin.ch/sindgrimms-maerchen-out (20.04.2020). 5Vgl. Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung: Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt a. M. 2012, 11. 6Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt a. M. 1990, 40.

1 Einleitung

3

mit seiner zunehmend rätselhaften Bildsprache, die in der dritten Staffel von twin peaks (2017) ihren Höhepunkt erreicht, kann als die Ausnahme durchgehen, welche die Regel bestätigt. Umso mehr, wenn man die Interpretationen der Fans zu Rate zieht, die mehr mit verschwörungstheoretischen Obsessionen zu tun haben als mit der Lust am unauflösbaren Geheimnis der lynchschen Bildsprache.7 Es scheint eine an Panik grenzende Angst vor der Mehrdeutigkeit in Kunst und Medien umzugehen, vor Missverständnissen und unsichtbaren Manipulationen mit unabsehbaren, vielleicht tödlichen Konsequenzen. Wie immer in der Geschichte der Medien schlagen sich diese Ängste in Forderungen nach Schutz der Jugend nieder. Und dies, obwohl das Erzählen doch, wie Albrecht Koschorke argumentiert, ebenso die Aufgabe hat, Sinn in die Welt zu tragen, wie Sinnbezüge abzubauen.8 Denn Erzählungen schaffen – nach der Devise fact follows fiction – durchaus Fakten.9 Schaut man jedoch etwas genauer hin, scheint sich ein beträchlicher Teil der Populärkultur der Gegenwart quer durch alle Genres mit unverhohlener Lust auf Poetiken der Verstörung eingeschworen zu haben.10 Radikale Inszenierungen filmischer Welten fallen auf, die sich jedem Verständnis entziehen. Der zweiteilige ­Drogenmafia-Thriller sicario (Regie Denis Villeneuve, USA 2016) sowie sicario. day of the soldato (Stefano Sollima, USA 2018), Krimi-Serien wie broadchurch (Creator Chris Chibnall, GB 2013–2017) und Superhelden-Serien wie Marvels the punisher (Creator Steve Lightfoot, USA 2017–) – um einigermassen willkürliche Beispiele herauszugreifen – gestalten eine zutiefst verstörende Wirklichkeit, in der die Handlungsmacht des Subjekts angesichts undurchschaubarer Verästelungen eines Systems, das wie ein lovecraftscher Tentakel-Organismus in die Wirklichkeit eingreift, zusammenbricht. Kein konkreter Gegner kann bekämpft werden, weil niemand verantwortlich gemacht werden kann. Wenn der Punisher, als Kriegsheld aus Afghanistan in die USA zurückgekehrt, alle am korrupten, kriminellen System Beteiligten mit systematischem Furor ausschaltet, erinnert er an einen Herkules, der vielleicht die nachwachsenden Köpfe der Hydra, nicht aber ihren Körper in

7Vgl. zum Beispiel sogenannte Fantheorien auf http://welcometotwinpeaks.com/category/ theories/(20.04.2020). 8Koschorke 2012, 11. 9Koschorke spricht von epistemologischer Rückkopplung und beschreibt die Produktivität des Erzählens wie folgt: „Vor allen Dingen muss [eine Erzähltheorie] der Erkenntnis Rechnung tragen, dass das Erzählen nicht bloß eine reproduktive, den erzählten Inhalten gegenüber nachrangige Tätigkeit ist, kein bloßes Rekapitulieren after the fact. Die Pointe des linguistic turn, in dessen Folge auch das Erzählen als semiotische Aktivität interessant wurde, liegt vielmehr in seinem aktivischen Verständnis von Bezeichnungsvorgängen: Das Bezeichnen interveniert in die Welt, die es scheinbar nur widerspiegelt, und lässt sie in einem kreativen Aneigungsprozess in gewisser Weise überhaupt erst entstehen. So bildet nicht nur das Zeichen den zu bezeichnenden Weltsachverhalt nach, sondern auch umgekehrt gestaltet sich das Bezeichnete entsprechend der ordnenden Kraft der verwendeten Zeichen.“ Ebd., 22. 10Vgl. dazu Ingrid Tomkowiaks Interview zu Poetiken der Verstörung: https://www.footnoters.de/ poetiken-der-verstoerung/(20.04.2020).

4

1 Einleitung

den Blick bekommt. Die Metapher ließe sich in lovecraftscher Manier weitertreiben bis zur Behauptung, Herz und Hirn seien überhaupt nicht mehr als Organe eines Körper lokalisierbar, sondern überall, in jeder Zelle vorhanden. Auf Englisch gibt es dafür einen Ausdruck, der die abgründe Realität des Virtuell-Abstrakten zur Sprache bringt: They went viral. Solche Poetiken der Verstörung treten aber nicht nur in Reinform auf, da, wo Horror, Paranoia und Suspense zusammenspielen. Eine in gewisser Weise noch destablisierende Insistenz entfalten sie da, wo sie mit Modalitäten des Komischen und des Exzentrischen in einem paradoxen Verhältnis enggeführt werden, namentlich mit Spielarten des Unsinnigen. Nicht-Verstehen bedeutet hier nicht nur Verzweiflung und Ohnmacht angesichts undurchschaubarer Verhältnisse, sondern zugleich auch Lust am Ausbruch, an der Befreiung von den Regeln des Verhaltens und Redens, des Denkens und Fühlens. Die ästhetische Gestaltung des Nicht-Verstehens wird so zur Voraussetzung für Theoriearbeit, für das spekulative Denken an den Rändern des Undenkbaren und darüber hinaus.11 Während die Poetiken der Verstörung eine Gemengelage aus Alternativlosigkeit und Unübersichtlichkeit in Form einer Zeitdiagnose gestalten und kritisch verhandeln, öffnen paradoxe Figurationen neue Räume des Denkens. Etablierte Diskurse, kausallogische und dialektische Denkbewegungen können dabei nicht über Bord geworfen werden, doch da, wo ihre Grenzen und Aporien sind, gehen Sprengsätze hoch und schaffen spekulative Räume. Um dies zu ermöglichen, braucht es einen radikalen Zugang, den man kindlich nennen könnte – wobei das Adjektiv „kindlich“ sich weder auf das Verhalten realer Kinder noch auf eine kulturelle Konstruktion von Kindheit bezieht, sondern eine Haltung meint, die Deleuze und Guattari mit K ­ ind-Werden beschreiben: Ein MinoritärWerden als unabschließbarer Prozess der Öffnung.12 Die Alice-Maschine ermöglicht ein Kind-Werden in diesem Sinne; ihre Protagonistin ist neugierig, voller Eifer dabei, Theorien aufzustellen, ohne auf einen verlässlichen Fundus des Wissens zurückgreifen zu können. Mutig und unverfroren ist sie, etwas idiosynkratisch auch, bereit, bei jeder Begegnung – egal ob mit lebenden Wesen, mit Wörtern oder Dingen – diese auf ihre Möglichkeit zum Spiel abzutasten. Was dabei herauskommt, spielt keine Rolle. Es kann etwas Harmonisches, Produktives sein, es kann aber auch Streit entstehen oder einfach nur Unsinn. In dieser Studie möchte ich zeigen, dass diese paradoxen Figurationen ausgerechnet von einem kleinen Mädchen aus der viktorianischen Epoche ausgehen

11Hier

bewege ich mich in der Randzone des Spekulativen Realismus, insofern er sich für die vom Menschen und seinem Denken unabhängige Verfasstheit der Realität und, vor allem, deren Zugänglichkeit durch Spekulation interessiert. Vgl. Graham Harman: Speculative Realism. An Introduction, Cambridge 2018; Armen Avanessian u. a. (Hg.): Abyssus Intellectualis. Berlin 2013; Quentin Meillassoux: Nach der Endlichkeit. Versuch über die Notwendigkeit der Kontingenz. Zürich 2008. 12Gilles Deleuze/Félix Guattari: Tausend Plateaus. Berlin 1992, 396–397.

1 Einleitung

5

und bis heute wirken in populären Literaturen und Medien. Wenn von einem kleinen Mädchen die Rede ist, ist damit eine hochgradig konstruierte Mädchenfigur gemeint: Alice als Projektionsfläche für die Sehnsucht nach dem Unmöglichen. Eine Projektionsfläche, die vibriert vor widerständiger Energie. Schwankend zwischen kindlicher Freude am Unsinn und Schrecken davor, setzt diese Alice eine Maschine in Gang, die bis heute in der Populärkultur wirkt. Die Alice-Maschine, die mit dem Erfolg von Lewis Carrolls Alice’s Adventures in Wonderland (1865) und Through the Looking-Glass, and What Alice Found There (1871) ihre Produktion aufnahm, ermöglicht eine paradoxe Erfahrung: Sie macht das NichtVerstehen, das Denken und Fühlen an der Grenze der Sinngebung zwischen Freiheit und Verstörung ästhetisch geniessbar. Die Alice-Maschine ist – bewusst offen und spekulativ – als Metapher für eine dynamische Konstellation ästhetischer Figurationen zu verstehen, die sich vom ursprünglichen Stoff, Carrolls Alice-Büchern, lösen und, im Sinne einer Transmission, in anderen Medien und durch immer neue Genremodalitäten produktiv werden kann, um von dort weiter zu zirkulieren. Ihre Bestandteile sind heterogener, als es einer funktionstüchtigen Maschine guttun kann, doch gerade dies garantiert, dass sie nicht zur Ruhe kommt. Die Alice-Maschine ist abstrakt und erst in ihren Produkten zu erkennen, wobei die Produkte selbst niemals fertig sind, sondern sich erst in der Rezeption realisieren – die ihrerseits nur als Prozess beschrieben werden kann. Wenn man die Maschine dennoch konkret visualisieren wollte, ließe sie sich am ehesten mit einem der Apparate aus Jean Tinguelys Werkstatt vergleichen, welche ganz unterschiedliche Dinge scheinbar unabhängig voneinander in Bewegung setzen.13 Man muss sich die ­Alice-Maschine weniger als harmonisches Zusammenspiel denn als Ensemble von heterogenen, antagonistischen, disjunktiven Bewegungen vorstellen, deren Aufgabe es ist, ein Spannungsfeld in der Schwebe zu halten. Lewis Carrolls Alice-Bücher sind zur Zeit der Industrialisierung und der damit einhergehenden, sich rasant beschleunigenden Technik des Buchdrucks und des expandierenden Buchmarkts entstanden. Technologie, Kapitalismus, Konsum und die damit verbundenen gesellschaftlichen und kulturellen Dynamiken sind die Parameter, welche die Alice-Maschine in Betrieb setzten. Ihre Aktionen inszenieren Fragen nach der Identität und Handlungsfähigkeit des verstörten Subjekts in einem Raum, der keinen kausallogischen, möglicherweise aber unbekannten, schwer durchschaubaren Gesetzen folgt. Sie lassen die Verstörung aber niemals überhandnehmen. Im Gegenteil: Verspieltheit, verbunden mit einer Idealisierung des neunmalklugen kleinen Mädchens, herrscht vor, gestaltet durch wechselnde Modi im Feld der Komik des Nonsense, des Grotesken und des Absurden. Zur Alice-Maschine gehört ganz wesentlich die Inszenierung der Materialität des Mediums. Der Versuch, das Medium in den Prozess der Sinngebung

13Sehr

schön sind die disjunktiven Bewegungen am Tinguely-Brunnen in Basel zu sehen: www. youtube.com/watch?v=xkAMghD67Zw (21.02.2020).

6

1 Einleitung

einzubeziehen, wird vom Nonsense der Sprache permanent unterlaufen. Es gehören ästhetische Figurationen wie Spiegelungen und Doppelungen, Ornamente und Arabesken, Oxymora, Chiasmen und Kippfiguren dazu, ebenso wie scheinbar beliebige Vektoren, unkoordinierte Spielzüge auf der Oberfläche, wie sie Gilles Deleuze in Logik des Sinns beschreibt: Wachsen und Schrumpfen, Bewegungen vorwärts und zurück, wie in einem selbstbezogenen Tanz. Scheinbar unabhängig davon, aber doch unsichtbar mit allem verdrahtet, dreht sich die Figur der Alice selbst. Das unschuldige und zugleich altkluge Kind, das um Kontrolle über seinen Körper und seine Sprache ringt. Die Figur des kleinen Mädchens, die heraustritt aus dem Buch, sich selbstständig macht und neu vernetzt – als Puppe, Spielfigur, kulturelle Ikone, bei der man nicht so recht weiß, wo sie im Rezeptionsfeld zu verorten ist: romantisches Fantasma des unschuldigen Kindes, frühe Suffragette und Großmutter von Pippi Langstrumpf sowie aller starken Mädchen – oder doch Opfer eines pädophilen viktorianischen Schreibtischtäters? Teil der Alice-Maschine ist nicht zuletzt die – in einer maximalistischen Auslegung des Begriffs als fantastisch zu bezeichnende – Anlage der Texte selbst: Die Inszenierung der Spannung zwischen einer vertrauten Alltagswelt und einem unbekannten Territorium, das Alice im Traum betritt und dessen Gesetzmässigkeiten so verdreht und kompliziert sind, dass die Begegnung mit dem Wunderland und dem Land hinter den Spiegeln die Regeln der viktorianischen Gesellschaft zur Kenntlichkeit entstellt. Die Alice-Maschine als dynamische Konstellation von Figurationen hat ihre Matrix im Werk Lewis Carrolls und wird in den Künsten ebenso wie in populären Unterhaltungsformaten immer wieder aufgegriffen und neu ausgestaltet. Doch längst nicht alle Bücher mit intertextuellen Alice-Bezügen, längst nicht alle Adaptionen fürs Kino, fürs Fernsehen oder als Videospiel sind Produkte der Alice-Maschine. Oft ist genau das Gegenteil der Fall. Denn im Gegensatz zu ­Alice-Adaptionen für Kinder oder für die ganze Familie, welche die Irritationsmomente des Originals durch ein vertrautes und nachvollziehbares Handlungsschema, durch Erklärung und Deutung, durch Psychologisierung und Kontextualisierung aus dem Weg schaffen, aber auch im Gegensatz zu Versionen, die Alices Abenteuer explizit unter den Vorzeichen von Gewalt, Missbrauch und Horror interpretieren und die in sich widersprüchliche Affektpoetik der Vorlage auf diese Weise ruhigstellen, sorgt die Alice-Maschine für Unruhe. Sie deutet und erklärt nicht, sondern reproduziert die ästhetische Erfahrung der Alice-Bücher in einem neuen Umfeld. Sie lässt sich nicht über repräsentierte Themen und Inhalte bestimmen, sondern nur über das Zusammenspiel der genannten Figurationen. Die Transmission der Alice-Maschine verläuft über die Parameter von Kapitalismus, Medienwandel und Konsum; am intensivsten und interessantesten wirkt sie im Kino um 1968 – der Zeit der Globalisierung der Populärkultur – sowie in Fernsehserien, die in den sich digitalisierenden Medienkulturen des 21. Jahrhunderts entstehen. Dabei gibt es bestimmte Genremodalitäten, welche die AliceMaschine durch ihren eigenen Hang zur Widersprüchlichkeit in Schwung bringen und selbst gern an die Grenzen des guten Geschmacks gehen: Exploitation zum Beispiel oder der spekulativ poetische Modus des New Weird. Die Funktion der

1 Einleitung

7

Alice-Maschine besteht darin, alles in der Schwebe zu halten – und damit meine ich wirklich: alles in einem existentiellen Sinn. Deshalb ist sie nur indirekt an der humoristischen Seite der Alice-Bücher beteiligt; sie ist verantwortlich dafür, dass Realität als Fantasma erscheinen kann und Traum als Wirklichkeit, dass die Suche nach dem Sinn hinter, unter, zwischen den Erscheinungen immer nur ein Wahnsystem generieren kann. Innerhalb der „grotesken Dreifaltigkeit von Kind, Dichter und Wahnsinnigem“,14 von der Gilles Deleuze spricht, tun sich Abgründe auf. Auch wenn die Alice-Maschine sich nur auf eine ganz spezifische Rezeptionslinie bezieht, hängen ihre Voraussetzungen doch eng mit dem gesamten Nachleben der Alice-Bücher zusammen. Denn Alice im Wunderland darf als eine der populärsten Figuren der Kinderliteratur bezeichnet werden, der Literatur überhaupt. Und des Kinderkinos, des Kinos überhaupt. Sie erscheint auf Theater- und Opernbühnen, in der Musik unterschiedlichster Stilrichtungen, im Fernsehen, in Videospielen und Apps; in der Werbung, in allen Spielarten des Merchandising – und in der Philosophie. Die schiere Aufzählung aller Beispiele würde ein ganzes Buch füllen; ein paar wenige müssen deshalb genügen: Vladimir Nabokov hat Alice’s Adventures in Wonderland ins Russische übersetzt und sich, mag er es noch so sehr bestreiten, in Lolita heftig an seiner Fantasie von Lewis Carrolls Liebe zu kleinen Mädchen abgearbeitet.15 James Joyces und Virginia Woolfs Inspiration war ganz ästhetischer Art;16 mit Deleuze denkend könnte man sagen, das Anders-Werden ihrer Sprache wurzle zumindest teilweise in Carrolls Nonsense.17 Antonin Artaud beschimpfte das Nonsense-Gedicht „Jabberwocky“ aus Through the Looking-Glass und seinen Autor in einem Brief an den Alice-Übersetzer Henri Parisot wüst und leistete damit seinen Beitrag zu den Bemühungen, die Alice-Maschine zum Stillstand zu bringen:

14Gilles

Deleuze: Logik des Sinns. Frankfurt a. M. 1993, 110. die Frage des Interviewers Alfred Apple, Jr., ob er Gemeinsamkeiten zwischen Carrolls „Begriff des Nonsens“ und den Schein- oder „Misch“-Sprachen sehe, die er selbst in Das Bastardzeichen oder Fahles Feuer verwende, antwortet Nabokov: „Nein, ich glaube nicht, daß seine erfundenen Sprachen irgendwelche Wurzeln mit meinen gemein haben. Er steht H. H. ergreifend nahe, aber ein sonderbarer Skrupel hat mich davon abgehalten, in der Lolita auf seine elende Perversion und jene zweideutigen Photos anzuspielen, die er in trüben Zimmern machte. Er kam davon, wie so viele andere Viktorianer mit Päderastie und Nympholepsie davonkamen. Seine kleinen Nymphchen waren traurig und mager, abgerissen und halb entkleidet, oder vielmehr halb enthüllt, as nähmen sie an einer schrecklichen und staubigen Charade teil.“ Vladimir Nabokov: Deutliche Worte. Interviews – Leserbriefe – Aufsätze. Hg. von Dieter E. Zimmer. Gesammelte Werke Bd. XX. Reinbek 1994, 131–132. 16Vgl. Juliet Dusinberre: Alice to the Lighthouse. Children’s books and radical experiments in art. Basingstoke 1987. 17Vgl. Gilles Deleuze: Kritik und Klinik. Frankfurt a. M. 2000, 16: „Leichter wird sichtbar, was die Literatur in der Sprache macht: Sie entwirft in ihr, wie Proust sagt, eben eine Art Fremdsprache, die weder eine andere Sprache noch wiederentdeckter Dialekt, sondern ein AndersWerden der Sprache ist, eine Minorisierung jener großen Sprache, ein Delirium, das sie fortreißt, eine Hexenlinie, die aus dem herrschenden System ausbricht.“ 15Auf

1 Einleitung

8

Wenn man die Kacke des Seins und seiner Sprache ausgräbt, muss das Gedicht stinken, und Jabberwocky ist ein Gedicht, das dessen Autor sich schön gehütet hat, im uterinen Sein des Leidens zu belassen, in das jeder große Dichter eingetaucht ist und wo er, wenn er niederkommt, stinkt. Es gibt im Jabberwocky fäkale Passagen, aber das ist eine Fäkalität eines englischen Snobs, der das Obszöne in sich wie Löckchen mit dem Brenneisen frisiert… […]18

Ein Nachleben hat Alice auch in der Musik; von György Ligeti über Jefferson Airplane bis Tom Waits suchen klassische Komponisten, Rockbands und ­Singer-Songwriter nach Klängen, um ihre Erfahrungen mit dem Wunderland einer erweiterten Wirklichkeit zum Ausdruck zu bringen. Und es scheint eine Affinität von neuen Medien zu Alice zu geben: Ein erster Stummfilm war ihr bereits 1903 gewidmet,19 und in den letzten zwanzig Jahren wurde sie zu einem beliebten Avatar für Videospiele, die den Spielerinnen und Spielern erlauben, sich, recht buchstäblich, in digital-interaktiven Versionen des Wunderlands durchzuschlagen.20 Als der iPad von Apple neu auf den Markt kam, dauerte es nicht lange, bis eine Alice-App im Angebot war; ein interaktives Ebook, entstanden auf der Basis von Scans der Illustrationen aus einer „incredibly old copy of Alice in Wonderland“.21 Filmadaptionen der Alice-Bücher22 gab es seit Beginn des 20. Jahrhundert immer wieder neue, bis Walt Disneys Animationsfilm von 1951 zum Polarstern des Universums wurde, dessen Expansion bereits im 19. Jahrhundert begonnen hatte. Schon kurz nach Erscheinen von Alice’s Adventures in Wonderland setzte eine Flut von Imitationen ein, zusammen mit ersten Klagen über die Seuche der nicht nachlassenden Nachahmungen.23 Alice erweist sich gewissermassen als eine

18Antonin Artaud:

Briefe aus Rodez. Postsurrealistische Schriften. München 1979, 12–14. Regie: Cecil Hepworth/Percy Stow, GB 1903. 20Vgl. insbesondere American McGees Alice (2000) sowie das Sequel, Alice: Madness Returns (2011); zurzeit ist Alice 3: Asylum in Arbeit (vgl. https://www.americanmcgee.com (21.04.2020)). 21Vgl. Chris Stevens: Making Alice for the iPad. http://theliteraryplatform.com/magazine/ 2010/04/making-alice-for-the-ipad (29.04.2020). 22Die Alice-Bücher, das sind zunächst einmal Alice’s Adventures in Wonderland von 1865 [AAW] und die Fortsetzung, die 1871 unter dem Titel Through the Looking-Glass and What Alice Found There erschien [TLG]. Sozusagen als Ur-Alice gehört das handgeschriebene, eigenhändig illustrierte und gestaltete Exemplar dazu, das Carroll Alice Liddell 1962 als Weihnachtsgeschenk überreichte, bzw. die Faksimile-Ausgabe von 1887: Alice’s Adventures Under Ground [AAUG]. Die vierte unter den Alices schließlich ist die Fassung für Kleinkinder, die der Autor 1890 publizierte: The Nursery Alice [NA]. Die Adaptionen beziehen sich in der Regel auf die beiden zentralen Werke, Alice’s Adventures in Wonderland und Through the Looking-Glass. 23Der Autor und Literaturkritiker Andrew Lang beklagte sich bereits 1895 über den Drang zur Nachahmung, auch vor dem Hintergrund eines Plagiatsvorwurfs an Carroll: 1887 warf ihm ein Kritiker vor, er habe bei Tom Hoods From Nowhere to the North Pole abgekupfert, dabei liegt der Fall genau umgekehrt; Hoods Roman erschien erst 1875. Zu den frühesten Nachahmungen gehören ausserdem Jean Ingelows Mopsa the Fairy (1869), Christina Rossetti’s Speaking Likenesses (1874) und Charles E. Carryl’s Davy and The Goblin, or What Followed Reading ‘Alice’s Adventures in Wonderland’ (1885). Vgl. dazu Carolyn Sigler: Alternative Alices. Visions and revisions of Lewis Carroll’s Alice books. An anthology. Lexington 1997, 206–222. 19alice in wonderland.

1 Einleitung

9

Vorläuferin der Harry Potter-Reihe (1997–2007), der Twilight-Saga von Stephenie Meyer (2005–2008) oder von Suzanne Collins’ The Hunger Games (2008–2010) – Stoffen also, die in kürzester Zeit zu global erfolgreichen Medienverbünden vermarktet wurden und eine ganze Industrie von Imitationen nach sich zogen. Seit 2010 hat Disney für die Ausweitung des Sterns zu einem Sternbild gesorgt – mit Tim Burtons alice in wonderland und dem von Burton produzierten alice through the looking glass (2016). Neue Alice-Romane entstehen in den letzten Jahren vor allem in der Kategorie Crossover und „Romantic Fantasy“. Wenn Gena Showalter Alice in ihren White Rabbit-Chronicles (2012–2015) die Welt von Zombies befreien lässt, A. G. Howard in der Splintered-Trilogie (2013–2015) eine Nachfahrin von Alice mit dem Familienfluch – Wahnsinn oder übersinnliche Begabung? – kämpfen lässt, oder wenn Marissa Meyer in Heartless (2016) die Geschichte der Roten Königin aufrollt, nehmen sie kaum auf Carroll Bezug, sondern auf Burtons Adaption, die Alice als junge Erwachsene, auf der Flucht vor einer arrangierten Heirat, noch einmal ins Wunderland zurückkehren lässt und dem Stoff eine Fantasy-Heldenreise einzieht. Allein die Aufzählung der Rezeptionslinien macht deutlich, wie umfassend sich der Alice-Stoff in den gut 150 Jahren seit Erscheinen von Alice’s Adventures in Wonderland in die unterschiedlichsten kulturellen Schichten eingeschrieben hat. Dabei gehören die Alice-Bücher zu den Texten, die, überspitzt ausgedrückt, alle kennen, die aber niemand gelesen hat. Ähnlich wie bei den Märchen – ob sie nun aus dem Korpus der Grimmschen Kinder- und Hausmärchen, von Charles Perrault oder aus der Sammlung 1001 Nacht stammen – ist Disney die erste und mächtigste Vermittlungsinstanz, mit globaler Reichweite. Nun interessiert sich die Forschung zu populären Medienkulturen stark für Figuren und Motive, die sich von ihren literarischen Vorlagen lösen, für deren Neugestaltung in Literatur, Filmen, Fernsehserien und Videospielen sowie für die Praktiken und Taktiken der Aneignung, die sich in Online-Fankulturen explosionsartig verbreiten, differenzieren und verästeln.24 Kaum erforscht sind dagegen Formen dieser Praktiken und Taktiken,

24Vgl.

Henry Jenkins: Fans, Bloggers and Gamers: Exploring Participatory Culture. New York 2006, sowie Henry Jenkins u. a.: Spreadable Media. Creating Value and Meaning in a Networked Culture. New York/London 2013. Spezifisch zu Harry Potter vgl. Vera Cuntz-Leng: Harry Potter que(e)r: Eine Filmsaga im Spannungsfeld von Queer Reading, Slash-Fandom und Fantasyfilmgenre. Bielefeld 2015.

10

1 Einleitung

die sich nicht als Figuren, Themen, Motive oder Diskurse fassen lassen; die im Gegenteil aus dem Blick geraten, wenn der Fokus auf deren Repräsentation liegt.25 Wir haben es also mit einem riesigen, ausufernden sowohl organisch gewachsenen als auch mit Marketingkalkül ausgebauten und nicht mehr überschaubaren Medienverbund zu tun, der sich längst vom Originaltext und der Original-Alice gelöst hat. Unter Bezugnahme auf die Adaptionsgeschichte spinnt er sich nach den Gesetzmässigkeiten des Marktes, aber auch nach weniger leicht durchschaubaren eigenen Regeln fort.26 Doch darum soll es, wie gesagt, hier nicht gehen. Ebensowenig soll das weitverzweigte Flechtwerk der intertextuellen Bezüge, Verweise und Zitate im Fokus stehen, die Carrolls Nonsense von Dada über den Surrealismus bis in die Populärkultur der Gegenwart am Leben erhalten. Denn auch zur Rezeptionsgeschichte von Carrolls Werk in den Avantgarden wurde bereits umfassend geforscht.27 Der Graben zwischen der sogenannten Hochkultur, die an ästhetischen Kriterien bemessen wird, und Populärkultur, die leichte Unterhaltung bieten soll, erweist sich für die Erforschung von Alices Nachleben als epistemologisches

25Michel

de Certeau bezeichnet Taktik im Gegensatz zu Strategie, die einen eigenen Raum voraussetzt, als „ein Kalkül, das nicht mit etwas Eigenem rechnen kann und sonmit nicht mit einer Grenze, die das Andere als seine sichtbare Totalität abtrennt. Die Taktik hat nur den Ort des Anderen. Sie dringt teilweise in ihn ein, ohne ih vollständig erfassen zu können und ohne ihn auf Distanz halten zu können. Sie verfügt über keine Basis, wo sie ihre Gewinne kapitalisieren, ihre Expansionen vorbereiten und sich Unabhängigkeit gegenüber den Umständen bewahren kann. Das ‘Eigene’ ist ein Sieg des Ortes über die Zeit. Gerade weil sie keinen Ort hat, bleibt die Taktik von der Zeit abhängig; sie ist immer darauf aus, ihren Vorteil ‘im Fluge zu erfassen’. Was sie gewinnt, bewahrt sie nicht. Sie muß andauernd mit dne Ereignissen spielen, um ‘günstige Gelegenheiten’ daraus zu machen. Der Schwache muß unaufhörlich aus den Kräften Nutzen ziehen, die ihm fremd sind. Er macht das in günstigen Augenblicken, in denen er heterogene Elemente kombiniert […] allerdings hat deren intellektuelle Synthese nicht die Form eines Diskurses, sondern sie liegt in der Entscheidung selber, das heißt, im Akt und in der Weise, wie die Gelegenheit ‘ergriffen wird’.” de Certeau: Kunst des Handelns. Berlin 1988, 23–24. 26Zur Adaptionsgeschichte liegt eine ganze Reihe von Studien vor: vgl. Sigler 1997; Will Brooker: Alice’s adventures. Lewis Carroll and Alice in popular culture. New York 2004; Christopher Hollingsworth (Hg.): Alice Beyond Wonderland: Essays for the Twenty-First Century. Iowa City 2009; Cathlena Martin: „Wonderland’s become quite strange“: From Lewis Carroll’s Alice to American McGee’s Alice. In: Phyllis Frus/Christy Williams (Hg.): Beyond Adaptation. Essays on Radical Transformations of Original Works. Jefferson 2010, 133–143; Zoe Jaques/Eugene Giddens: Lewis Carroll’s Alice’s Adventures in Wonderland and Through the Looking-Glass. A Publishing History. Surrey 2013; Christine Lötscher/Ingrid Tomkowiak: Referentielle Verspieltheit. Funktion und Potential der Musik in Alice-Adaptionen. In: Thomas Möbius u. a. (Hg.): Kinder-und Jugendliteratur im Prozess der Medienkonvergenz. Adaption – Hybridisierung – Intermedialität. Frankfurt a. M. 2014, 45–58; Anna Kérchy: Alice in Transmedia Wonderland. Curiouser and Curiouser New Forms of a Children’s Classic. Jefferson 2016. 27Vgl. z. B. Dusinberre 1987; Harold Bloom (Hg.): Lewis Carroll. New York: Chelsea 1987; Morton N. Cohen: Lewis Carroll. A Biography. London, Pos. 253; Rüdiger Tiedemann: Alice bei den Surrealisten. In: Arcadia. Internationale Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Bd. 17/2015, Heft 1–3, 61–80.

1 Einleitung

11

Hindernis.28 Denn während sich die Meinung durchgesetzt hat, dass hochkulturelle Werke einen Stoff mit kritischem Impetus überschreiben würden, Schicht für Schicht, und der Auseinandersetzung damit eine originelle Gestalt und ein individualpoetisches Gepräge gäben, welche sich wiederum mit dem Instrumentarium der Intertextualität analysieren ließen, lebten Stoffe in der Populärkultur von Wiederholung und Variation, von einem ausgewogenen Verhältnis zwischen Wiedererkennungseffekten und neuen Elementen. Die analytischen Zauberworte sind Genre und Medienverbund. Jede neue Alice-Adaption nimmt Bezug auf die gesamte Remediations-Geschichte des Stoffes, lässt sich leicht als Genremix beschreiben und fügt sich ein in ein transmediales Universum; mit Fankulturen, die, im Geist dessen, was Henry Jenkins convergence culture nennt, ihrerseits neue Produkte hervorbringen, die wiederum Fanaktivitäten hervorrufen und so weiter.29 Das mag überzeugend klingen. Und doch bleibt ein ganz wesentlicher Aspekt des Nachlebens der Alice-Bücher unsichtbar. Bisher stehen zu dessen Beschreibung zwei Kategorien zur Verfügung: die literatur- und medienwissenschaftliche, die sich auf die Analyse intermedialer Palimpseste versteht, und die medienkulturwissenschaftliche, deren Erkenntnisinteresse hyperkonnektiven transmedialen Netzwerken gilt.30 Es gibt aber noch eine dritte Art, wie Alice in der Kultur, insbesondere in der Populärkultur, weiterlebt: die Alice-Maschine. Anders als bei den kritisch-originellen Palimpsesten und den wiederholenden und variierenden Adaptionen liegt den Produkten der Alice-Maschine keine hermeneutische Aktivität, zumindest nicht nach einem herkömmlichen Verständnis, zugrunde. Sie sind keine Interpretationen des Alice-Stoffs, sie schließen ihn nicht ab, sondern lassen eine in den Alice-Büchern angelegte Grundstruktur weiterwirken, ohne sie ruhigzustellen. Dies bedarf einer genaueren Erläuterung. Wenn James Joyce Carrolls ­Nonsense-Verfahren in Finnegan’s Wake (1939) zum Einsatz bringt, lassen sich die Bezüge zu Alice zwar nachverfolgen, doch der Autor eignet sie sich so sehr an, dass sie ganz in seine literarische Welt eingehen. Wenn Tim Burton und seine Drehbuch-Autorin Linda Woolverton den „Jabberwocky“, das berühmte Nonsense-Gedicht aus dem zweiten Alice-Buch Through the Looking-Glass ­

28Hier beziehe ich mich auf Hans-Otto Hügel, der Kunst und Unterhaltung zwar durchaus unterscheidet, aber betont, dass es auch bei der Unterhaltung um ästhetische Erfahrung geht: „Unterhaltung ist nicht Zerstreuung, die nichts sagt. Jede artistische Erfindung erweitert das körperliche Sein des Menschen bzw. das, was wir bis dahin dafür gehalten haben.“ Hans-Otto Hügel: Lob des Mainstreams. Zu Begriff und Geschichte von Unterhaltung und populärer Kultur. Köln 2007, 21. Vgl. zu dieser Diskussion auch Thomas Kühn/Robert Troschitz: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Populärkultur. Perspektiven und Analysen. Bielefeld 2017, 9–17, 10 sowie Kaspar Maase: Populärkulturforschung. Eine Einführung. Bielefeld 2019, 25. 29Vgl. Jenkins 2006a. 2006b sowie 2013. 30Zum Begriff der Hyperkonnektivität vgl. Ute Dettmar: Kinder- und Jugendliteratur und Populärkultur. Eine Beziehungsgeschichte. In: Ute Dettmar/Ingrid Tomkowiak (Hg.): Kinderund Jugendliteratur und -medien im Feld des Populären. Berlin/Bern 2019, 17–37, 28 f.

12

1 Einleitung

and What Alice Found There (1871), nicht als Parodie auf eine Helden-Ballade, sondern im Gegenteil als codierte Anweisung zur Rettung der Welt interpretieren und daraus eine Blockbuster-taugliche Queste zimmern, vertreiben sie den Unsinn und damit alle offenen Fragen aus dem Wunderland – im epischen Narrativ hat alles seinen Platz und Grund. Wo hingegen die Alice-Maschine wirksam ist, bleibt die Unruhe erhalten. Sie kann sich zur Verstörung steigern, etwa in den Adaptionen von Jonathan Miller (alice in wonderland, UK 1966) und Jan Švankmajer (neco z alenky, CSSR 1988), sie kann sich mit Exploitation-Poetiken verbinden wie in Roger Vadims barbarella (F/I 1968), Roger Cormans the trip (USA 1967) und anderen frei zwischen Nonsense und Psychedelik flottierenden Filmen der späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre; sie kann Hand in Hand gehen mit Genremodalitäten des New Weird, wie in David Lynchs twin peaks (USA 1990/91, 2017) oder in der Netflix-Serie stranger things (2016–). In der dritten Staffel der Anthologie-Serie fargo (USA 2014–) realisiert sich die Alice-Maschine sogar in einer unsinnigen Maschine, die trotz oder gerade wegen ihrer Funktionslosigkeit zur zentralen Akteurin einer Folge wird. Die Alice-Maschine kann in Medien am Werk sein, die sich bereits im Paratext als direkte Adaptionen von Carrolls Büchern deklarieren, aber auch in solchen, die explizit nur nebenbei auf Alice anspielen – oder gar nicht. In der ersten Folge von stranger things zum Beispiel wird White Rabbit, der Song von Jefferson Airplane, als extradiegetischer Soundtrack eingesetzt, als Eleven, eine der kindlichen Protagonistinnen, zum ersten Mal ihre psychokinetischen Superkräfte zum Einsatz bringt, in einem Akt der Selbstverteidigung gegen ihre Peiniger: ein von Sicherheitskräften begleitetes Team von Wissenschaftlern, die das Mädchen als Versuchskaninchen für ihre Waffenentwicklung im Kalten Krieg ausbeuten. Die Musik lässt aufhorchen, sie wirkt wie ein Signal, denn die ganze Serie, zumindest die erste Staffel, erinnert auf eine schwer fassbare Weise an Alice und ihre Abenteuer auf der anderen Seite. Die Alice-Maschine ist vereinzelt immer am Werk, doch es gibt Phasen, in denen ihre Produkte wie Pilze aus dem Boden schiessen: Am auffälligsten in den popkulturell hochdynamischen 1960er- und 1970er-Jahren sowie in den krisenhaften Jahren seit der Jahrtausendwende, die mit den Schlagworten Globalisierung, Digitalisierung, Singularisierung charakterisiert werden und im Zeichen populistischer Strömungen, verbunden mit dem Niedergang der Demokratie und der Verarmung breiter Bevölkerungsschichten seit dem Börsencrash von 2008 stehen. Man könnte das Wirken der Alice-Maschine also an einer großen Zahl einzelner Texte, Filme, Serien oder Spiele aus den letzten 150 Jahren verfolgen. Indessen habe ich mich entschieden, das Wirken der Alice-Maschine anhand der beiden genannten populärkulturellen Ballungen exemplarisch zu untersuchen, die mir nicht zuletzt erlauben, das in unserer Gegenwart virulente Verstörungspotential der Maschine in einer kulturwissenschaftlichen Perspektive herauszuarbeiten. Es ist davon auszugehen, dass durch diese populärkulturelle Arbeit der Alice-Maschine auch Carrolls Alice-Bücher sich verwandeln. In Rede steht allerdings nicht die Chronologie der Einflussnahme; was vorher war und

1 Einleitung

13

was nachher kommt. Vielmehr geht es darum, dass durch die medialen Transmutationen, die die Alice-Maschine hervorbringt, tatsächlich eine neue Alice entsteht – eine Alice, die man nicht umstandslos aus Carrolls Werken herausdestillieren kann, sondern die man nur mit und durch die anderen Medien denken kann, in denen sie ihren Auftritt hat. So verändern sich auch die Texte Lewis Carrolls: Nicht nur wird Alices Schatten in der Populärkultur sichtbar, sondern Carrolls Alice erscheint als Schatten der Populärkultur des 20. und 21. Jahrhunderts. Was Hans-Jost Frey für Beziehungen zwischen literarischen Texten formuliert, gilt auch für die transmediale Dimension, mit der wir es bei der Alice-Maschine zu tun haben:31 Die transmedialen Beziehungen entstehen nicht zwischen festen Grössen, sondern in ihnen verändern sich die Medien, zwischen denen sie sich herstellen:32 Niemand wird bestreiten, daß es eine Chronologie der Texte gibt, wohl aber kann die Verbindlichkeit dieser Abfolge für das Verständnis der Texte in Frage gestellt werden. Wenn die Veränderung des Kontextes einen Text verändert, so ist er gegen die Bezugnahme späterer Texte auf ihn nicht immun, sondern unterliegt seinerseits ihrem verändernden Einfluß.33

Was die Alice-Maschine vor allem ausmacht, ist, dass sie zunächst nur atmosphärisch zu fassen ist. Ein seltsames Gefühl der Fremdheit stellt sich ein: als sei alles plötzlich in Bewegung, auf eine zugleich unheimliche und befreiende Art. Denn die Alice-Maschine betrifft weder die Karriere des blonden viktorianischen Mädchens mit der Schürze auf Bühne und Leinwand, Bildschirm und Touch Screen, noch die Implikationen von Carrolls Logik- und Sprachspielen an der Grenze des Denk- und Repräsentierbaren, wie sie in den Künsten aufgenommen werden. Vielmehr bezeichnet sie eine Konstellation, ein Spannungsfeld ästhetischer Figurationen, die Lewis Carrolls Alice-Bücher organisiert und bis heute immer wieder neue Texte und audiovisuelle Bilder hervorbringt. Sie löst sich als etwas Abstraktes, Diagrammatisches aus dem Kontext der Bücher, und weckt doch ein Gefühl für Historizität und Aktualität des viktorianischen Ballasts, den sie mit sich durch die Zeit schleppt. Doch um dem Wirken der Alice-Maschine auf die Spur zu kommen, muss zunächst die Alice-Maschine, wie sie in den Alice-Büchern selbst am Werk ist, beschrieben und in ihren divergierenden Bestandteilen aufgefaltet werden. Das werde ich im ersten Teil meiner Studie tun; im zweiten Teil analysiere ich

31Vgl.

Hans-Jost Frey: Der unendliche Text. Frankfurt a. M. 1990, 18–23. „Der Text, der nicht mehr von einer als fest angenommenen Instanz abhängig gemacht wird [der Absicht des Verfassers, Anm. CL], ist entwurzelt. Er hat keinen festen Ort mehr, sondern kann in vielfältige Zusammenhänge gebracht werden, welche die seiner jeweiligen Leser sind. Diese Verschiebungen verändern den Text. Zwar bleibt der Text als Organisation von Zeichen derselbe, aber die Wörter können ihre Bedeutung ändern, und die Dinge, von denen die Rede ist, können unter neuen Bedingungen eine andere Rolle spielen oder verschwinden, so daß alles, was der Text sagt, in neuem Licht erscheint.“ (18) 32Ebd., 19. 33Ebd., 19–20.

14

1 Einleitung

die Alice-Maschine und ihre Produktivität anhand von audiovisuellen Schwerpunkten aus den letzten fünfzig Jahren: dem Exploitation-Kino der späten 1960er und frühen 1970er-Jahre und aktuellen TV-Serien, die durch Genremodulationen zwischen Krimi, Horror, Science Fiction und Comedy geprägt sind. Wenn man sie unter einem Label kategorisieren wollte, wäre es am ehesten das des New Weird. Ein eigener kleiner Schwerpunkt bildet die Serie twin peaks von David Lynch und Mark Frost, deren erste beiden Staffeln die Welt 1990 und 1991 in Atem hielten. Fünfundzwanzig Jahre später warfen die Macher der Serie die Alice-Maschine noch einmal an, um die offenen Rätsel in der dritten Staffel nicht etwa aufzulösen, sondern noch undurchschaubarer zu machen. Um in der Populärkultur immer wieder produktiv werden zu können, auch transmedial, braucht die Alice-Maschine offensichtlich Genremodalitäten, mit denen sie sich verbinden kann; Modalitäten, die in ihrer Zeit virulent und in der Lage sind, aktuelle Ängste und Konflikte zu gestalten und sie für Leserinnen und Leser, Zuschauerinnen und Zuschauer erfahrbar zu machen. ­Exploitation-Poetiken rufen unvereinbare, widersprüchliche Affekte hervor; die Kombination von Sex und Gewalt, um das eingängigste Beispiel zu nennen, erzeugt gleichzeitig voyeuristisches, vielleicht gar sadistisches Begehren und Widerwillen gegenüber der eigenen Lust; oder anders gesagt: das Exploitation-Kino hat „die Neigung, die moralischen Stützpfeiler, welche es mit der einen Hand aufrichtet, mit der anderen wieder umzustürzen“.34 Es zielt darauf, „in der Verletzung der ästhetischen Ordnung und des Wahrnehmungsempfindens ihres Publikums die Grundlage des moralischen Bewusstseins in Frage zu stellen“.35 Der Modus des Weird hat seinen Ursprung im literarischen Genre der Weird Tale, einer Spielart des Fantastischen zwischen übernatürlichem Horror, Science Fiction und Fantasy, die in den 1920er-Jahren durch die gleichnamige Zeitschrift Kult wurde und später durch die Erzählungen H. P. Lovecrafts Berühmtheit und eine Unzahl von Nachahmern erlangte. Die Erzählungen, Comics, Podcasts, Filme, Serien und Videospiele, die unter dem Label New Weird figurieren, entstanden zu weiten Teilen aus der durchaus kritischen Auseinandersetzung mit Lovecrafts Werk und versuchen, sich das als rassistisch und frauenfeindlich verrufene Genre unter den Vorzeichen eines avancierten, für Fragen von Diversität sensibilisierten Zugriffs zu eigen zu machen.36 Für die Alice-Maschine ist der Modus des New Weird gerade da interessant, wo er sich jeder klaren Aussage und Positionierung entzieht – durch ästhetische Verfahren der Irritation, der

34Vgl.

Daniel Illger: Träume für die Toten. Mario Bava und die Gespenster des italienischen Horrorfilms. In: Thomas Koebner (Hg.): Gespenster. München 2014, 150–188, 176. 35Hermann Kappelhoff: Realismus. Das Kino und die Politik des Ästhetischen. Berlin 2008, 161. 36Vgl. Jeffrey Weinstock: The New Weird. In: Ken Gelder: New Directions in Popular Fiction. Genre, Distribution, Reproduction. London: Palgrave Macmillan 2016, 177–199; Carl A. Sederholm/Jeffrey A. Weinstock u. a. (Hg.): The Age of Lovecraft. Minneapolis 2016.

1 Einleitung

15

Destablisierung, der Verstörung. Diese zeichnen nicht erst das New Weird aus, sondern sind bereits im Kern von Lovecrafts Affektpoetiken aktiv.37 Die Alice-Maschine bringt also in Verbindung mit anderen Genremodalitäten immer neue Versionen und Variationen ihrer selbst hervor. Diesen „nomadische[n] poetische[n] Abstammungslinien“38 möchte ich nachgehen. Zur Methode ist zu sagen, dass ich die Elemente der Alice-Maschine in immer neuen Anläufen herauspräparieren und mit unterschiedlichen theoretischen Ansätzen zu fassen versuchen werde. Um der Alice-Maschine gerecht zu werden, habe ich mich entschieden, deren paradoxe Anlage aus Hyperkonnektivität und Non Sequitur auch zu meinem Arbeitsprinzip zu machen. Da die Maschine eben gerade nicht als Ganze in den Blick kommen kann und darf, da ich der in ihr wirkenden Verführung, das große Rätsel ein für alle Mal zu lösen, um es ins Leere laufen zu lassen, widerstehen muss, um zu verstehen, konzentriere ich mich in den Kapiteln des ersten Teils auf jeweils unterschiedliche Aspekte. Dabei verlangt die analytische Arbeit zunächst eine gewisse Abstinenz der Interpretation und des Formulierens von Zusammenhängen, sodass manches unverbunden nebeineinander zu stehen scheint. Ohne dieses vom Non Sequitur des Nonsense inspirierte Verfahren liefe das Vorhaben Gefahr, die Alice-Maschine wiederum ruhigzustellen. Stattdessen werde ich sie explorativ als Prozess beschreiben. Dazu gehört auch der ständige Wechsel zwischen Analyse und Theoriediskussion. In den konkreten Analysen des zweiten Teils soll die Alice-Maschine in ihren möglichen Funktionsweisen nachvollziehbar werden, und zum Schluss werde ich zusammenführen, was ich sozusagen auf verschiedenen Kanälen entwickelt habe, mich an einer Synopse versuchen und die theoretischen Zugänge, die mir eine Annäherung an die Alice-Maschine erlaubt haben, als Instrumentarium für die Beschreibung von Maschinen in der Populärkultur diskutieren. Da sich die Alice-Maschine nur immer wieder in der sinnlichen Konkretion einzelner medialer Ausformungen beschreiben lässt, möchte ich mit einem Beispiel aus der Gegenwartsliteratur beginnen: mit Haruki Murakamis Roman Die Ermordung des Commendatore.39

37Vgl.

Graham Harman: Weird Realism. Lovecraft and Philosophy. Winchester/Washington 2012. Darüber hinaus ist Lovecraft – als „writer of gaps between objects and their qualities“ – für Harmans Theorie einer objektorientierten Ontologie (object oriented ontology OOO) – von großer Relevanz. Vgl. Ebd., 4. 38Deleuze/Guattari: Konkrete Regeln und abstrakte Maschinen. In: Dies. 1992, 708. 39Haruki Murakami: Die Ermordung des Commendatore I. Eine Idee erscheint. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Köln 2018 [2018a].

Teil I

Lewis Carrolls Wunderland und die ­Alice-Maschine

Kapitel 2

Elemente, Hintergründe und Voraussetzungen der Alice-Maschine

2.1 Melancholische Quadrillen Japan, Ende des 20. Jahrhunderts. Ein Geschwisterpaar erkundet eine Windhöhle. Allein; weil der Onkel, bei dem die Kinder ihre Ferien verbringen, lieber vor dem Eingang wartet und liest. Bei Haruki Murakami, dem Meister der glatten, opaken Oberflächen voll symbolischer Fallstricke, ist man darauf gefasst, dass ein Gang in die Tiefe ein Gang hinauf ist: auf eine Metaebene. Und tatsächlich, plötzlich fragt die Schwester ihren Bruder: „Guck mal, […] sieht das nicht aus wie die Höhle von Alice?“1 Komi, so heisst das Mädchen, sei ein „leidenschaftlicher Fan von Carrolls Alice im Wunderland“,2 informiert uns der Ich-Erzähler viele Jahre später. Die Szene ist als Rückblende gestaltet, wie sie in der Erinnerung des Bruders aufgehoben ist. Dabei muss man sagen, dass der gesamte zweiteilige Roman, Die Ermordung des Commendatore (2017; deutsch 2018), als Erinnerung an eine unheimliche, andersweltliche Erfahrung erzählt wird, scheinbar von einem sicheren Ort aus. Damals schwebte das Leben des Ich-Erzählers für symbolschwangere neun Monate in der Krise – in einem Liminalzustand. Aus heiterem Himmel hatte ihn seine Frau verlassen und er, Maler von Beruf, zog sich wie ein Eremit ins leerstehende Atelier eines an Demenz erkrankten Meisters seiner Zunft zurück, um endlich seinen ureigenen künstlerischen Ausdruck zu finden. Viele Jahre sind, wie gesagt, seit dem Tag in der Windhöhle vergangen, und Komi ist schon längst tot. Dem Bruder und Ich-Erzähler geraten seine Wirklichkeit und seine Fiktionen, vielleicht müsste man präziser sagen: seine ästhetischen

1Haruki Murakami: Die Ermordung des Commendatore I. Eine Idee erscheint. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Köln 2018 [2018a], 353. 2Ebd.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lötscher, Die Alice-Maschine, Studien zu Kinder- und Jugendliteratur und -medien 6, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05707-5_2

19

20

2  Elemente, Hintergründe und Voraussetzungen

Erfahrungen, bedrohlich durcheinander.3 Dass die Erinnerung an die Schwester mit so viel Wucht an die Oberfläche seines Bewusstseins schiesst, ist Teil dieser Entgrenzungserfahrung. Die Geschichte von Alice wird als Medium evoziert, in dem die bedrohliche Realität der Geschwister – sie ahnen, dass sie bald durch den Tod getrennt werden – in einen unruhigen Ruhezustand gerät. Das Lebensgefühl der beiden schwingt sich so sehr ein in die nervöse, widerspenstige Dynamik der Alice-Maschine, dass der mediale Zwischenraum, den man mit Winnicott auch den intermediären Raum nennen könnte, einen eigenen ontologischen Status erlangt.4 Er ist weder mit fantastischen Parallelwelten zu vergleichen noch mit dem Traumzustand, in dem Alice das Wunderland und die Welt hinter den Spiegeln erkundet, sondern legt den Grundstein für die ästhetische Entgrenzungserfahrung des Künstlers, um die es in Die Ermordung des Commendatore letztlich geht. Sie ließe sich etwa so zusammenfassen: Kunst, Literatur kann, ja muss real werden, wenn sie von lebenden, denkenden und fühlenden Körpern wahr- und aufgenommen wird. Bevor die Erinnerungen an Komi und Alice aufsteigen, wird ein Gemälde für den homodiegetischen Erzähler auf verstörende Weise lebendig. Vor Besucherblicken versteckt, lagert es gut verpackt auf dem Dachboden. Umso intensiver ergreift es den Erzähler, als er, weil er mit seiner Arbeit nicht vorankommt, die dunklen Winkel des Hauses erkundet und dabei zufällig „Die Ermordung des Commendatore“ findet. Es ist ein unbekanntes Bild von Tomohiko Amada, dem dementen Besitzer des Hauses. Einige Tage bleibt das Werk in Packpapier eingeschlagen, und der Erzähler starrt es an.5 Als er es endlich auspackt – „langsam und vorsichtig, als würde ich den Verband eines Menschen mit schweren Brandverletzungen lösen“6 –, schwankt er in seinem Redefluss zwischen professioneller kunsthistorischer Analyse und drastischer Bildsprache; als sei das Gemälde in der Tat zugleich ein Kunstwerk und ein Mensch mit schweren Brandverletzungen. Denn der Anblick des Bildes versetzt dem Betrachter einen „gewaltigen Schrecken“, es wirkt derart brutal, dass es ihm den Atem nimmt.7 Erst nach einer weiteren Passage, die sich der Kunst Tomohiko Amadas im Allgemeinen widmet, die vorzeitliche Harmonie und utopisches Zusammenleben heraufbeschwört, kehrt der Erzähler zu seiner gewaltigen ästhetischen Erfahrung

3Ästhetische

Erfahrung verwende ich hier im Sinne John Deweys als gesteigerte Form jeder menschlichen Erfahrung. Die Ästhetik dringt „nicht von außen in die Erfahrung ein […], weder über eitlen Luxus noch über eine transzendentale Idealität, sondern daß sie die geläuterte und verdichtete Entwicklung von Eigenschaften ist, die Bestandteil jeder normalen ganzheitlichen Erfahrung sind.“ John Dewey: Kunst als Erfahrung. Frankfurt a. M. 1988, 59. 4Donald Winnicott: Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart 1993, 24. Für das Buch und seine Lektüre als Übergangsobjekt vgl. Christine Lötscher: Das Zauberbuch als Denkfigur. Lektüre, Medien und Wissen in zeitgenössischen Fantasy-Romanen für Jugendliche. Zürich 2014, 123–132. 5Murakami 2018a, 93 f. 6Ebd., 96. 7Ebd., 96.

2.1  Melancholische Quadrillen

21

zurück – der er in seiner Erzählung die Form einer Ekphrasis, einer höchst anschaulichen Bildbeschreibung, gibt:8 Doch auf dem Bild mit dem Titel Die Ermordung des Commendatore floss Blut. Echtes Blut, in Strömen. Es zeigte zwei Männer – einen jüngeren und einen älteren – im Kampf mit schweren altertümlichen Schwertern. Es sah nach einem persönlichen Duell aus. Der jüngere Mann, mit einem schmalen, schwarzen Schnurrbart und in einem salbeifarbenen Rock, hatte dem älteren, weiß gewandeten sein Schwert tief in die Brust gestoßen. Letzterer trug einen vollen, weißen Schnurrbart und um den Hals eine Perlenkette. Sein Schwert war ihm entglitten, hatte jedoch den Boden noch nicht erreicht. Aus seiner Brust schoss Blut und färbte sein weißes Gewand rot. Die Klinge hatte ihn offenbar mit großer Gewalt durchbohrt. Sein Mund war schmerzverzerrt. Die Augen waren weit aufgerissen und schienen vor Entsetzen aus den Höhlen zu quellen. Er wusste, dass er geschlagen war. Doch der wahre Schmerz hatte ihn noch nicht heimgesucht.9

So geht es weiter. Die Komposition des Bildes wird als Figurenkonstellation geschildert, als Konstellation von Blicken. Denn die Szene wird innerhalb des Bildes beobachtet; von einem Mann und einer Frau. Und schließlich von einem Kopf, der am linken unteren Bildrand aus einer in den Boden eingelassenen Klappe hervorschaut. Der Erzähler klassifiziert ihn aber nicht als Zeugen, sondern vergleicht ihn mit einer Fussnote.10 Diese stört das Gleichgewicht der Komposition, die sich als Adaption der Szene aus Mozarts Oper Don Giovanni für die Asuka-Zeit erweist: Die Titelfigur ermordet den Komtur, den Commendatore; die beiden Zeugen sind Donna Anna und Leporello, der Diener des Wüstlings.11 Das Wiedererkennen beruhigt den Betrachter aber nicht im Geringsten. Die Erkenntnis wirft nur neue Fragen auf – und macht die Fussnote zu einem bedrängenden Rätsel. In der Ekphrasis vollzieht sich die Wandlung von Repräsentationen in lebendige Figuren, von Farbe in Blut, von einer künstlerischen Komposition in eine physisch gegenwärtige Konfliktsituation. Die Beschreibung des Bildes durch den Ich-Erzähler sticht mit geradezu lebenspraller Aufdringlichkeit aus den sich nebelhaft entziehenden, weißen oder pastellfarbenen Oberflächen hervor, die Murakamis fast obsessiv deskriptive Sprache ansonsten hervorbringt; und die Leserin, der Leser wundert sich keineswegs, als der Commendatore aus dem Bild plötzlich im Atelier des Malers erscheint und ihn in ein Gespräch verwickelt. Die Ekphrasis gipfelt – konsquenterweise – in einer Metalepse, dem metafiktionalen Verfahren schlechthin.12 Die Szene verbindet sich mit der Erinnerung an Komi

8Vgl. Emil Angehrn: Beschreibung zwischen Abbild und Schöpfung. In: Gottfried Boehm/ Helmut Pfotenhauer (Hg.): Beschreibungskunst, Kunstbeschreibung: Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart. München 1995, 59–74. 9Murakami 2018a, 97. 10Ebd., 99 11Ebd., 101. 12Zur Metalepse vgl. Gérard Genette: Die Erzählung. München 1994, 167–169.

2  Elemente, Hintergründe und Voraussetzungen

22

und ihre Leidenschaft für Alice, in der eine ähnliche Verwandlung passiert; beide Passagen bilden zusammen den poetologischen Kern des Romans. Die Alice-Lektüre der Geschwister war selbst gemessen an kindlicher Liebe zur Wiederholungs-Rezeption exzessiv: An die hundert Mal, erinnert sich der homodiegetische Erzähler, habe er Komi Alice im Wunderland vorgelesen, obwohl sie es schon längst auswendig gekannt habe. Am besten habe ihr der Hummertanz gefallen – the lobster-quadrille. Auch er könne diese Stelle bis heute auswendig.13 Das bleibt ohne Kommentar stehen, einfach so, reiht sich aber ein in eine Serie von Rätselhaftigkeiten, die Murakamis Roman durchzieht. Rätsel, die mit Methode angeordnet sind – in einer stolpernden Struktur, von der man ohne zu übertreiben behaupten kann, dass sie Rhythmus und Choreographie des Hummertanzes in Alice’s Adventures in Wonderland aufnimmt. In Alice’s Adventures in Wonderland ist dem Hummertanz ein ganzes Kapitel gewidmet, The Lobster-Quadrille. Er folgt auf das auf den ersten Blick viel witzigere Gespräch über die Gepflogenheiten der Menschenschule, die Alice besucht, und jene der school in the sea, an die sich der Gryphon und die Falsche Suppenschildkröte voller Nostalgie erinnern und dabei die schönsten Wortwitze – treffender charakterisiert mit dem englischen Wort puns – zum Besten geben: „We called him Tortoise because he taught us“, oder: „‘That’s the reason they’re called lessons,‘the Gryphon remarked: ‚because they lessen from day to day.’“14 Wir haben es hier mit einem Glanzstück der Carrollschen Kunst affektiv gegenläufiger Modalitäten zu tun: Durch die Spannung zwischen dem puren Nonsense der Äußerungen und der Ernsthaftigkeit der beiden Wesen, aber auch durch Alices mal trockene, mal neugierige Interventionen, erscheint die lustvolle Hingabe an die Nostalgie bei den Geschöpfen des Wunderlands grotesk: Die Falsche Suppenschildkröte schwärmt begeistert von der Schönheit des Hummertanzes, während ihr noch die Tränen über die Wangen laufen. Hier lässt sich der „ludistische Grundimpuls“ der Ornamentgroteske, wie sie die Renaissance gemäss Günter Oesterle hervorbrachte, als „Fluidium von Schönem, Fantastischem, Bizarrem“, beobachten.15 Die Alice-Bücher nehmen nicht auf die drastische, drollige Tradition grotesker Schelmereien Bezug, sondern auf das graziöse und schwerelose Spiel der Einbildungskraft, das Giorgio Vasari in seinen Künstler-Biographien (Le Vite, 1550–1558) beschreibt.16 Dabei zeigt sich in Carrolls Texten eine Verwandtschaft zum Capriccio, entstanden aus der „Lizenz der Einbildungskraft zur Extravaganz“, das launenhaft von einer Idee zur nächsten springt – ebenso wie zum „Bewusstsein der Gefährdung durch launenhafte Melancholie, die sich bis zum Wahn steigern kann.“17 Die Alice-Bücher sind beteiligt am Prozess der „intensiven

13Murakami

2018a, 101.

14Ebd. 15Günter

Oesterle: Das Groteskkomische. In: Uwe Wirth (Hg.): Komik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart 2017, 35–42, hier 36. 16Ebd. 17Ebd.

2.1  Melancholische Quadrillen

23

Wiederkehr“ des Komischen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, das in der Romantik ausgetrieben worden und durch eine Ästhetik des Schauers, des Gothic, ersetzt worden sei.18 Oesterle verweist auf Friedrich Theodor Vischers Analyse des Grotesken in dessen Schrift Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen (1847): Das Groteske sei das Komische in Form des Wunderbaren.19 Damit habe er die prekäre Situation des Wunderbaren und Grotesken in der Moderne zum Ausdruck gebracht, dem angesichts der wissenschaftlichen Aufklärung nur noch wenig Spielraum geblieben sei. Es gelte, Verfahrensweisen zu entwickeln, die „nicht auf drastische Weise fantastische Welten konstruieren, sondern auf unmerkliche Weise das ‚Umögliche möglich‘ machen“.20 Hier wird die Balance zwischen Traum und Wirklichkeit angesprochen, die in den Figurationen der Alice-Maschine immer in der Schwebe bleibt. An der L ­ obster-Quadrille lässt sich zeigen, wie das Groteske sich fortpflanzt, mit verwandten, im Spiel des Schreibens sich verwandelnden Konstellationen zusammenwächst. Die Ambivalenz des Groteskkomischen spiegelt sich in der in sich gegenläufigen Form des Gedichts zwischen Zaudern und schwungvollem Tanz. Denn der Hummertanz spielt sich tatsächlich, wie so vieles in den Alice-Büchern, doppelt ab: Zuerst beschreiben ihn die Falsche Suppenschildkröte und der Gryphon wortreich und verwirrend, enervierend gespickt mit Nachfragen der irritierten Alice; dann erst wird der Tanz aufgeführt: So they began solemnly dancing round and round Alice, every now and then treading on her toes when they passed too close, and waving their fore-paws to mark the time, while the Mock Turtle sang this, very slowly and sadly […]21

Die Leserinnen und und Leser hören keinen Gesang, sie lesen ein Gedicht. Es erzählt von Fischen und Meeresgetier beim Tanz; die einen machen begeistert mit, die andern zieren sich. Entscheidend ist der Rhythmus: Die vier Zeilen der drei Strophen schreiten schwungvoll voran, gefolgt vom Refrain, in dem das Hin- und Her, das Zaudern auf der Schwelle, Sich-Verweigern in zweifacher Wiederholung zum Ausdruck kommt: „Will you walk a little faster?“ said a whiting to a snail, „There’s a porpoise close behind us, and he’s treading on my tail. See how eagerly the lobsters and the turtles all advance! They are waiting on the shingle – will you come and join the dance? Will you, won’t you, will you, won’t you, will you join the dance? Will you, won’t you, will you, won’t you, will you join the dance?”22

18Ebd., 19Ebd.,

38. 39.

20Ebd. 21AAW, 22Ebd.

77.

2  Elemente, Hintergründe und Voraussetzungen

24

„Will you, won’t you, will you, won’t you, will you join the dance?” – dieser im Zaudern sich einschwingende Rhythmus, das tänzelnde, durchaus lustvolle Verharren in der Übergangszone zwischen Land und Meer, zwischen Realität und Traum, Kunst und Wirklichkeit sowie in der Ambivalenz von Freizügigkeit der Einbildungskraft und Gefährdung durch die Melancholie ist eine Figuration der AliceMaschine, die einem immer wieder begegnet und ganz unterschiedliche Gestalt annehmen kann. In den Träumen von Agent Cooper in Lynchs ­TV-Serie twin peaks wächst sich eine Parallelmontage zwischen der Realitätsebene und der spirituellen Welt, zu der Coopers Unbewusstes offenbar Zugang hat, zu einem wilden Flackern aus (vgl. Abschn. 8.1), und die Serie stranger things (vgl. Abschn. 8.2) inszeniert den Hummertanz auf allen Ebenen – lässt ihn nicht zuletzt durch einen Song der Punkband The Clash von 1982 rocken: Should I Stay or Should I Go. Joseph Vogl hat dem Zaudern als Schatten, der den kulturellen Imperativ des Handelns begleitet, einen Essay gewidmet.23 Er zeichnet nach, wie das Zaudern in der abendländischen Tradition „immer wieder auf die Seite der Unentschlossenheit genötigt und damit als eine launische Vereitelung ‚des Werks‘ disqualifiziert wurde“, stellt es aber als „aktive Geste des Befragens“ in ein neues Licht, „in der das Werk, die Tat, die Vollstreckung nicht unter dem Aspekt des Vollzugs, sondern im Prozess ihres Entstehens und Werdens erfasst sind.“24 In dieser Perspektive markiert das Zaudern weder Schwäche noch Müßiggang, sondern vielmehr einen widerständigen Raum der Reflexion in einer „Kultur der Tat“ und des Werks;25 es setzt den Akzent auf dem Stocken, der Pause, dem Anhalten, der Unterbrechung.26 Möglicherweise ist die Alice-Maschine eine Agentin der kulturellen „Zauderfunktion“27, die Vogl beschreibt. Und sie lässt eine andere Lesart des Wunderlands zu – das nicht mehr als regressive Pause im Prozess des Erwachsenwerdens, als Verweigerung des notwendigen Wachsens in eine Richtung erscheint, sondern als Reflexionsraum, der das im Fall von Alice ziel-, zweck- und pflichtorientierte Leben immer als Schatten begleitet. So erklärt sich auch, warum ausgerechnet ein viktoranisches Mädchen als paradigmatische Figur durch die Populärkultur geistern kann: Alice, das Wunderland und der Nonsense stehen für das Weiterinisistieren der Fragen, deren Antworten längst zu handfester Wirklichkeit geronnen sind: Das Zaudern ersucht um Revision. In ihm artikuliert sich ein komplizierender Sinn, der weniger die Antworten zu den Fragen und die Lösungen zu den Problemen sucht, sondern unterstellt, dass in den gegebenen Antworten und Lösungen unerledigte Fragen und Probleme weiterhin insistieren. Man ist von Lösungen umstellt und findet die dazugehörigen Probleme nicht unbedingt.28

23Joseph Vogl: 24Ebd. 25Ebd. 26Ebd.,

31. 30. 28Ebd., 135. 27Ebd.,

Über das Zaudern. Zürich/Berlin 2014 [2007], 30.

2.1  Melancholische Quadrillen

25

Indem die Choreographie der Falschen Suppenschildkröte und des Gryphons am Rand der Tanzfläche zur Figuration wird, entsteht erst die Bewegung in der genannten Übergangszone. Begründen lässt sich dies mit den Überlegungen zur Analogie zwischen Dichtung und Tanz, die Caroline Torra-Mattenklott auf der Basis der antiken Rhetorik und deren Sensibilität für Körperhaltungen anstellt: So wie der Körper sich immer in einer bestimmten Stellung befindet, ist nach Quintillian in einem allgemeineren Sinne jede Form des sprachlichen Ausdrucks eine Figur. Die Figur im engeren Sinne wird in Analogie zu den besonderen Körperhaltungen wie dem Liegen, Sitzen oder Zurückschauen als eine gezielte Abweichung von der gewöhnlichen sprachlichen Erscheinungsform bestimmt.29

Die Analogie zwischen Dichtung und Tanz lasse sich aber auch insofern mit dem rhetorischen Figurenbegriff in Verbindung bringen, als weder die Dichterin noch der Tänzer die direkteste Formulierung bzw. den kürzesten Weg über die Bühne wählen. Schließlich gehe es nicht um die Ökonomie der Übermittlung, sondern um einen komplexen Prozess der sprachlichen Gestaltung: „Gerade in den Abweichungen von der geraden Linie, im Umweg […], liegt die Artifizialität des Sprechens wie des Tanzens“.30 Rhetorische Figuren lassen sich, wie Torra Mattenklott bei Paul Valéry herausarbeitet, als Tanzfiguren des Geistes begreifen: Die poetische Sprache wird hier zum Medium eines Denkens, das sich von den Beschränkungen der alltäglichen, zweckrationalen Kommunikation befreit und sich hoch über dem Boden der Vernunft eine eigene Welt erschafft – einen Raum, in dem es sich nach eigenen Gesetzen und in seinem eigenen Rhythmus entfalten und verwandeln kann.31

Anders als in Valérys L’âme de la danse, wo der Tanz als „reiner Akt der Metamorphosen“ erscheint und in seiner schwerelosen Anmutung alle Hindernisse und Schwierigkeiten des Denkens vergessen lässt,32 gestaltet die Hummerquadrille vielmehr die Sehnsucht nach der Freiheit des Tanzes. Denn das Meeresgetier, das sich zum Tanz trifft, zeichnet sich nicht durch anmutiges Überwinden der Schwerkraft aus, sondern stolpert als groteske Ansammlung von Wesen, die buchstäblich nicht in ihrem Element sind, ungeschickt herum. Das Wimmelbild, das auf der visuellen Ebene evoziert wird, steht in einem Spannungsverhältnis zum fast schunkelnden Rhythmus des Gedichts. Diese gegenläufige Tendenz von Visuellem und Auditivem lässt sich auf allen Ebenen der ­Alice-Bücher beobachten; sie ist ein zentrales Element im Wirken der Alice-Maschine.

29Caroline

Torra-Mattenklott: Poetik der Figur. Zwischen Geometrie und Rhetorik: Modelle der Textkomposition von Lessing bis Valéry. Paderborn 2016, 371. 30Ebd. 31Ebd. 32Ebd., 402–403.

2  Elemente, Hintergründe und Voraussetzungen

26

Ein schwarzer, leerer Raum Should I stay or should I go – das ist auch die Frage, die sich für Komi nach dem Erlebnis in der Windhöhle stellt. Vielleicht ist die Hummerquadrille deshalb ihre Lieblingspassage. Das Wunderland, das sie findet, ist ein rundes Zimmer, eine Höhle „auf dem tiefsten, tiefsten Meeresgrund“, ein „Raum nur für mich“.33 A room of one’s own in einer eher auf mystisches Leerwerden, Sich-Auflösen denn auf künstlerische Kreativität zielenden Lesart – denn Komi wäre am liebsten an diesem stillen Ort geblieben, für immer: Und das Tollste an diesem Raum ist, dass er so dunkel ist, dass er dunkler nicht werden kann. Es ist eine Dunkelheit, die man mit Händen greifen kann. Man bekommt in ihr das Gefühl, der eigene Körper würde sich langsam auflösen und verschwinden. Aber weil es so dunkel ist, kann man das selbst nicht sehen. Man weiß auch nicht, ob der Körper noch da ist oder nicht. Aber selbst wenn man verschwunden ist, bleibt etwas von einem zurück. Wenn die Grinsekatze verschwindet, aber ihr Grinsen zurückbleibt. Ist das nicht seltsam? Aber es kommt einem dort überhaupt nicht seltsam vor. Ich wäre am liebsten für immer geblieben […]34

Dieser Abschnitt lässt sich als dunkle Spiegelszene der erwähnten Ekphrasis lesen: Während auf dem Bild alles Bunte in der Beschreibung immer lebendiger wird, spricht Komi hier von einem Prozess der Auflösung, des Vergehens. Nicht einmal die Anwesenheit des Körpers als Bedingung der Möglichkeit ästhetischer Erfahrung ist noch sicher. Und doch beschreibt Komi das Substanzloswerden des sinnlichen Körpers und, im Gegenzug, den Prozess der Materialisierung der Dunkelheit nicht als Tod im Sinne eines Endpunktes. Vielmehr ist es eine radikale Form der Metamorphose, die sie beschreibt. Hier kommt eine zweite Figuration der Alice-Maschine ins Spiel: Das Grinsen der Katze, das zurückbleibt, nachdem die Katze bereits verschwunden ist. Auf Dieter Merschs materialitätstheoretische Lektüre der Anwesenheit ohne Gegenwart werde ich später eingehen;35 bei Murakami ist das Grinsen der Katze als ein Glanz, ein Abglanz eines Körpers zu verstehen, der gestorben ist und, in Murakamis literarischem Universum, als Erinnerung überdauert. Erinnerungen und Kunstwerke verfügen in Die Ermordung des Commendatore über die Macht, Verlorenes lebendig und Unfassbares dingfest zu machen, und es dabei immer auf der Schwelle zwischen Sein und Nichtsein zaudern zu lassen: will you, won’t you, will you, won’t you, will you join the dance. Als gäbe es eine medienontologische Verbindung zwischen einer Realität „hinter“ dem Bild und der Abbildung derselben, die sich bis in die Sprache des Romans hinein fortsetzt.36 Wobei zu

33Murakami

2018a, 356.

34Ebd. 35Vgl.

Dieter Mersch: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. München 2000 [2000a]. dazu Dominik Schreys kritische Diskussion der Indexikalitätsdebatte in der Medienwissenschaft. Indexikalität, analoge Aufzeichnungsverfahren und die Aura des Kunstwerks, argumentiert er, würden als nostalgische Kategorien in eins gesetzt, um Mediengeschichte

36Vgl.

2.1  Melancholische Quadrillen

27

sagen ist, dass Murakami die Sprache seines Erzählers durchaus affirmativ mit den Einschreibeverfahren von Wirklichkeit auflädt, um ihr – wie den beobachtenden Figuren auf der Darstellung der Ermordung des Commendatore – den Status der physischen Zeugenschaft für das Verlorene zu geben. Allerdings, wie die verspielte, durchaus etwas alberne Überführung rhetorischer in handelnde Figuren zeigt, nicht ohne Ironie. Bis zu dem Tag, an dem der Commendatore aus dem Bild heraus und ins Leben des Erzählers hinein trat, changierte das Grinsen der Katze, und die Figuren aus Alice blieben tänzelnd auf der Schwelle. Nach der Todeserfahrung in der Höhle erklärt Komi dem Ich-Erzähler, dass das Grinsen der Katze auch ohne ihren Körper genauso real sei wie die Katze selbst: „Weißt du“, sagte meine Schwester leise, als sollte kein anderer es hören (obwohl ja sowieso niemand anders dort war). „Alice gibt es wirklich. Sie ist keine Erfindung. Auch den Märzhasen, das Walross, die Grinsekatze und die Spielkartensoldaten, die gibt es alle wirklich.“ „Möglich wär’s“, sagte ich.37

Jahre später erst versteht er, was Komi damals gemeint hatte: Jedenfalls war das, was meine Schwester in der Windhöhle mir zugeflüstert hatte, als wäre es ein Geheimnis, die Wahrheit, dachte ich – nun sechsunddreißig Jahre alt – wieder einmal. Alice gab es wirklich. Auch den Märzhasen, das Walross und die Grinsekatze gab es wirklich. Und natürlich den Commendatore.38

Komi beschreibt den Tod oder den Vorgeschmack darauf mit einer paradoxen Figuration aus den Alice-Büchern. Das körperlose Grinsen der Katze wird zur Chiffre für die Erinnerung: Diese, wie der Erzähler zu Beginn des Romans mit einigem Pathos erläutert, sei instabil und unverlässig; wie die Dinge und Ereignisse des Augenblicks sei sie ständig in Bewegung, veränderte und entzöge sich.39 Die schwarze Leere, die in Murakamis Roman in diversen Höhlen inszeniert wird, Chiffre für die Abwesenheit jeder Realität hinter der Erinnerung. Was die Analyse der Alice-Maschine in der Ermordung des Commendatore paradigmatisch sichtbar macht, ist die Leere – die Kaninchenhöhle, das buchstäbliche schwarze Loch – die das Ensemble der Figurationen umkreist.40 Die AliceBücher selbst nähern sich dieser Leere auch in den sogenannten death jokes und der makabren Komik an, die sich mit dem Schrumpfen, Vertilgen, Vergehen und Rückwärtsleben – im Fall der Falschen Suppenschildkröte – verbindet.41

angesichts der Digitalisierung als Verfallsgeschichte zu erzählen. Schrey: Analoge Nostalgie in der digitalen Medienkultur. Berlin 2017, 196–211, hier 207. 37Murakami 2018a, 356. 38Ebd., 358. 39Ebd., 13. 40Ich danke Antonin Rohdich für den Hinweis auf das schwarze Loch im Herzen der Maschine. 41Nabokovs berühmte Reflexion über unser Leben als „Lichtspalt zwischen zwei Ewigkeiten des Dunkels“ und den Abgrund vor der Geburt, dem wir in der Regel mit grösserer Gelassenheit begegnen als jenem nach dem Tod, könnte von seiner Alice-Lektüre inspiriert sein. Vladimir

28

2  Elemente, Hintergründe und Voraussetzungen

Die Figurationen der -Maschine verbinden sich in Murakamis Roman mit der Melancholie als Modus der Affizierung sowie der Reflexion.42 Als der Erzähler das Porträt von Marie, einem Mädchen, das ihn an seine Schwester erinnert, malt, weiß er sehr wohl, dass sie nichts als eine Spiegelung des körperlosen Grinsens der Katze ist; die Sehnsucht nach der lebendigen Gegenwart Komis dagegen ist realer als alles andere. In dieser Perspektive könnte man den Einsatz der AliceMaschine in den Romanen als Dekonstruktion einer Medienontologie deuten, die eine teilbare Wirklichkeit „hinter“ den Bildern behauptet. Die Wirklichkeit, die der Erzähler in seiner Kunst an die Oberfläche holen will, entsteht erst im Prozess des Malens. Murakami setzt die Alice-Maschine ein, um die Grenzen zwischen Alltagsrealität und Kunst, zwischen Erinnerung und Gegenwart – nicht aufzulösen, sondern zu einem Zwischenraum zu machen, einem Raum für die Kunst. Er öffnet ihn durch die Frauenfiguren, die sich ineinander spiegeln, durch das Grinsen der Katze und durch melancholische Hummertänze. Die Ermordung des Commendatore ist ein besonders interessanter Fall, weil die Alice-Maschine die poetologische Grundstruktur produziert und gleichzeitig metafiktional, in der Romanhandlung selbst, verhandelt wird. Wie um ein schwarzes Loch dreht sich alles um die Frage, die auch Alice im Wunderland und hinter den Spiegeln verfolgt: Wer bin ich? Verfahren des Nonsense,43 des Absurden und Grotesken dienen dazu, die zentrifugale Qualität der Wirklichkeitserfahrung zu gestalten – jede Subjektposition, von der aus die Dinge in ein Ordnungssystem gebracht werden könnten, löst sich auf. Am Ende ist es der Ich-Erzähler selbst, der als Alice durch seine neun Monate dauernde Schwellenphase stolpert, nicht mehr wissend, wer er heute ist und gestern war: „‘I could tell you my adventures – beginning from this morning,‘ said Alice a little timidly; ‚but it’s no use going back to yesterday, because I was a different person then.‘“44 Gerade weil die Unruhe der Alice-Romane Interpretationsräume aufmacht, die sich auf Angst vor Veränderungen mit unabsehbaren Folgen beziehen ließen – Angst vor dem Heranwachsen, Angst vor sozioökonomischen Umwälzungen im Zuge der Industrialisierung – dabei aber jeden Versuch einer Festschreibung lächerlich aussehen lassen, ist sie, wie das Beispiel Murakami zeigt, äusserst präsent in der Populärkultur, in der Nostalgie seit einigen Jahren bekanntlich ein Comeback feiert.45

Nabokov: Erinnerung, sprich. Wiedersehen mit einer Autobiographie. Deutsch von Dieter E. Zimmer. Gesammelte Werke, Bd. 22. Reinbek 1991, 19. 42Hauke Lehmann: Affektpoetiken des New Hollywood: Suspense, Paranoia und Melancholie. Berlin 2017, 188. 43Vgl. ausführlich zur Theorie des Nonsense bzw. des Unsinns Kap. 3. 44AAW, 80. 45Schrey 2017, 9.

2.1  Melancholische Quadrillen

29

Murakamis zweibändiger Roman lässt sich durchaus dem Corpus von Texten und Filmen zuordnen, an denen Nostalgie als zentrales Charakteristikum gegenwärtiger Medienkulturen sichtbar wird – und zwar, wie Dominik Schrey aufzeigt, im Zusammenhang mit der rasant verlaufenden Digitalisierung.46 Dabei ist Nostalgie nicht etwa eine Gegentendenz zur Modernisierung, sondern deren Komplement.47 Dass vermeintlich „obsolete“ oder gar „tote“ Medien die Gegenwartskultur geisterhaft heimsuchen48 – auch in Gestalt der Alice-Maschine, wie insbesondere im Zusammenhang mit dem als 8­0er-Jahre-Nostalgie-Serie rezipierten stranger things noch zu zeigen sein wird – ist vor diesem Hintergrund nicht verwunderlich. Hauke Lehmann konturiert die verwischten begrifflichen Grenzen zwischen Nostalgie und Melancholie, indem er Nostalgie als Sehnsucht nach der Vergangenheit, Melancholie dagegen als Zeiterfahrung von Vergänglichkeit definiert.49 Die vorherrschende Stimmung in Murakamis Romanen ist demnach eine melancholische. Denn Melancholie als ästhetischer Modus fragt nach der Grundlage, auf welcher sich der Zusammenhang von Welterfahrung und ästhetischer Erfahrung denken lässt.50 Lehmann entwickelt sein Konzept am Kino des New Hollywood, doch die Beobachtung, dass im Modus der Melancholie Ideen von Geschichtlichkeit entworfen werden, lässt sich auch auf die Literatur des 19. Jahrhunderts übertragen. Auch wenn Alices Abenteuer alles andere als melancholisch anmuten mögen, so ist die Rahmung der Alice-Bücher im Paratext durch Nostalgie nach dem goldenen Zeitalter der Kindheit geprägt, die sich zu einer eigentlichen Geschichtsmelancholie auswächst. Im Widmungsgedicht in Alice’s Adventures in Wonderland schlägt das lyrische Ich einen ganz anderen Ton an als der Erzähler von Alices Geschichte; anstelle von Nonsense erklingt hier der hohe Ton der viktorianischen Lyrik im Stile Alfred Tennysons. Das Pathos steigert sich bis zur letzten Strophe: Alice! A childish story take, And, with a gentle hand, Lay it where Childhood’s dreams are twined In Memory’s mystic band, Like pilgrim’s wither’d wreath of flowers Pluck’d in a far-off land.51

Bevor die Leserin die Geschichte überhaupt zu hören bekommt, ist diese schon zur Erinnerung geronnen, wird Teil eines nostalgischen Arrangements aus getrockneten Blumen, die einst auf einer Pilgerfahrt in ein fernes Land gepflückt

46Ebd. 47Ebd.,

10.

48Ebd. 49Lehmann

2017, 86–87. 184. 51AAW, 4. 50Ebd.,

2  Elemente, Hintergründe und Voraussetzungen

30

worden waren.52 Wir haben es hier mit einer Figuration im Futur II zu tun, einem Moment des Glücks, der immer schon Erinnerung gewesen sein wird – einer melancholischen Figuration des immer schon im Fluss der Zeit Vergangenen, Verlorenen. Am Ende von Alice’s Adventures in Wonderland, nachdem Alice aus ihrem Traum erwacht ist und alles ihrer großen Schwester erzählt hat, legt die namenlose Schwester ihren Kopf in die Hand und träumt in dieser melancholischen Haltung alles noch einmal, wovon Alice ihr erzählt hat – und wir gerade gelesen oder vorgelesen bekommen haben. In der Schwester spiegelt sich Alice, und in den Leserinnern und Lesern setzt sich das Spiegelbild bis zur Mise en abîme fort. Die Welt um die Schwester herum vermischt sich, wie bei Murakamis Erzähler, mit den Erzählungen der kleinen Schwester; und auch hier werden die erzählten Figuren lebendig: „[…] the whole place around her became alive with the strange creatures of her little sister’s dream.“53 Merkwürdigerweise erlebt die Schwester ihren Traum nicht, wie Alice, indem sie in eine visuell dominierte onirische Parallelwelt eintaucht, sondern über das Ohr: The long grass rustled at her feet as the White Rabbit hurried by – the frightened Mouse splashed his way through the neighbouring pool – she could hear the rattle of the teacups as the March Hare and his friends shared their never-ending meal, and the shrill voice of the Queen ordering off her unfortunate guests to execution – once more the pig-baby was sneezing on the Duchess’ knee, while plates and dishes crashed around it […]54

Anders als Alice befindet sich die Schwester in einem Halbdämmer. Im Rascheln und Plantschen, im Klappern, Schreien und Niesen realisiert sich die Materialität des Wunderlands noch einmal auf einer anderen Ebene. Doch das Bewusstsein, dass sie sich nicht wirklich im Wunderland befindet, sondern „in dull reality“,55

52Vgl.

Angelika Zirker: Der Pilger als Kind. Spiel, Sprache und Erlösung in Lewis Carrolls Alice-Büchern. Münster 2009, 12–13. Zirker untersucht den Vergleich mit dem Blumenkranz des Pilgers, der zum einen auf traditionelle Traumerzählungen in der englischen Literatur verweist (Langlands Piers Plowman und Bunyans The Pilgrim’s Progress), zum anderen die Wegmetapher eines Lebens aufnimmt, das sich ständig von der Kindheit und damit von seiner „ursprünglichen Intaktheit“ wegbewegt. Die Erinnerung an den kindlichen Zustand könne ihn jedoch wieder „zu den Träumen kindlicher Glückseligkeit“ zurückführen. Die Erzählung werde so selbst zum Weg – zu „einer Pilgerschaft, die zurück in die Kindheit, in eine Welt des Spiels führen soll: Die Erzählung ist als Aufforderung an den erwachsenen Leser zu verstehen, eine Kinderwelt zu betreten. Zirker liest diese Pilgerfahrt in die Kindheit im Kontext von Dodgsons christlichem Glauben und formuliert die These, dass der Erzähler nicht nur an die Existenz eines Rückwegs in die Kindheit glaubt, sondern sich davon Erlösung im religiösen Sinn verspricht (268). Mit der Alice-Maschine und ihren Figurationen versuche ich zu zeigen, dass der Wunsch nach einer Rückkehr in die Kindheit in den ­Alice-Büchern äusserst ambivalent gestaltet wird – wiederum als ein Verharren auf der Schwelle zu einer Welt, die nur so faszinierend und begehrenswert erscheint, weil die Schwelle nicht überschritten werden kann und muss – weder in die eine noch in die andere Richtung. 53AAW, 96. 54Ebd. 55Ebd., 97.

2.1  Melancholische Quadrillen

31

verlässt sie nie. So kann sie sich dem Zauber des Wunderlands nur in einer nostalgisch-melancholischen Stimmung hingeben: Lastly, she pictured to herself how this same little sister of hers would, in the after-time, be herself a grown woman; and how she would keep, through all her riper years, the simple and loving heart of her childhood; and how she would gather about her other little children, and make their eyes bright and eager with many a strange tale, perhaps even with the dream of Wonderland of long ago; and how she would feel with all their simple sorrows, and find a pleasure in all their simple joys, remembering her own child-life, and the happy summer days.56

Das sentimentale Ende liest sich wie eine Todesvision – die kleine Schwester von Murakamis Erzähler scheint die Alice-Bücher tatsächlich auf einer tiefen Ebene verstanden zu haben. Auf seltsame Weise wird das zukünftige Leben das vergangene Leben – als wäre die Schwester nicht ein junges Mädchen, sondern eine alte Frau, die auf dem Sterbebett all dem, was einstmals war, nachträumt – nur eben verschoben auf das Leben, das Alice gelebt haben wird. Wie die verspielte Geschichte von Alice im Wunderland eingelassen ist in melancholische Reflexionen über das Vergehen der Zeit, so scheint das Konzept von Kindheit wie ein unverbundener, unberührbarer Kern ins Fruchtfleisch der Geschichte eingelegt zu sein. Das stillgestellte Bild von Alice, welches das lyrische Ich im Gedicht und am Ende der Erzähler durch die Augen der Schwester heraufbeschwört, lässt sich kaum zur Deckung bringen mit dem quirligen, überdies permanent wachsenden und schrumpfenden Mädchen, dem der Erzähler ins Wunderland folgt.57 Es gibt einen Bruch im Erzählton, der so offensichtlich ist, dass er Teil der Poetik, mithin Teil der Alice-Maschine sein muss. Dazu gehört auch die selbstreflexive Volte, zu welcher der Erzähler auf der letzten Seite noch ausholt. Als Alice aus ihrem Traum, der den Leserinnen und Lesern gerade erzählt worden ist, erwacht, wird sie selbst zur Erzählerin und berichtet ihrer Schwester im Detail, was sie erlebt hat: „‚Oh, I’ve had such a curious dream!‘ said Alice. And she told her sister, as well as she could remember them, all these strange Adventures of hers that you have just been reading about […]“58 Der Erzähler öffnet durch die Mise en abîme einen metanarrativen Raum: Zwischen der Geschichte, die wir gerade gelesen haben, und der Version, die Alice ihrer Schwester erzählt und die bei ihr eine melancholische Form des Tagträumens auslöst. Wie Alice ihre Geschichte erzählt, erfahren wir nicht; kommt sie selbst in der Erzählung vor, oder beschreibt sie die Eigenheiten der Kreaturen, denen sie im Wunderland begegnet ist, ohne ihre eigene Perspektive in den Vordergrund zu rücken? Die beiden Erzählweisen hinterlassen jedenfalls ganz unterschiedliche Stimmungen; eine unsinnig-verspielte und eine melancholische. Auf der diskursiven Ebene tut der Erzähler aber so, als wären Alices Abenteuer, unsere

56Ebd. 57Zirker 58AAW,

2009, 13. 96.

2  Elemente, Hintergründe und Voraussetzungen

32

Leseerfahrung und jene der Schwester ein- und dieselbe, während die Erzählmodi doch klar divergieren. Solche Disjunktionen beschreibt Deleuze in Logik des Sinns für die Alice-Romane auf der Wortebene, doch sie lassen sich auch in der Erzähltechnik und in der Affektpoetik beobachten.59 So lässt uns Alice’s Adventures in Wonderland letztlich weder in spielerisch-vergnügter noch in melancholischer Stimmung zurück, sondern in der unendlichen Bewegung des Hin- und Her.

2.2 Alice als Spiel- und Denkfigur Es ist wahr, wenn auch nicht ganz so, wie es sich die tote Schwester des homodiegetischen Erzählers aus Die Ermordung des Commendatore vorstellt: Alice, den Märzhasen, das Walross und die Grinsekatze gibt es wirklich. Erfindungen sind sie sehr wohl, doch haben sie sich aus dem Kontext von Alice’s Adventures in Wonderland bzw. Through the Looking-Glass gelöst und je einen eigenen Weg durch die Wirklichkeit der Künste und der Populärkultur eingeschlagen. Begegnen kann man den Figuren überall: in einem Song der Beatles, in mad max (Regie: George Miller, USA 1979), einem Klassiker des postapokalyptischen Kinos, in der bereits erwähnten medienphilosophischen Studie von Dieter Mersch oder diversen Analogiebildungen der Naturwissenschaften. Nur ein Beispiel: 1973 formulierte der Evolutionsbiologe Leigh Van Valen die sogenannte R ­ ed-Queen-Hypothese: Um die einmal errungene Position zu behaupten, muss sich eine Spezies permanent verändern.60 Mersch inspirierte die Grinsekatze zu seinen Überlegungen rund um Materialität und Präsenz, während in mad max ein Fahrzeug der Main Force Patrol auf den Namen The March Hare hört und der Beatles-Song I Am The Walrus (1967) dem grausamen, Baby-Austern verschlingenden Monster eine zweite Chance gibt. Die drei Beispiele sind beliebig gewählt, und doch sind sie paradigmatisch für das Nachleben der ­Alice-Bücher. John Lennon soll beim Schreiben des Songtextes im psychedelischen N ­ onsense-Modus nicht einmal gewusst haben, dass und welcher Verbrechen sich das Walross in Through the Looking-Glass schuldig macht. George Miller, Regisseur und Drehbuchautor von mad max, kümmerte der Bezug zum Gesamtuniversum der Alice-Bücher ebenso wenig wie Dieter Mersch, wenn er sich anschickt, mit dem körperlosen Grinsen der Katze Anwesenheit ohne Gegenwart zu denken.61 Denn die Figuren aus den Alice-Büchern unterscheiden sich grundlegend von literarischen Figuren, deren Geschichte in der Diegese aufgefaltet wird, die handeln, leiden, sich entwickeln, um am Ende vielleicht, wie Pinocchio, „ein richtiger Junge“ zu werden. Bei Alice ist es gerade andersherum: Die Falsche

59Deleuze 60Vgl.

1993, 92–93. Lee van Valen: A new evolutionary law. In: Evolutionary Theory. Bd. 1. Chicago 1973,

1–30. 61Mersch

2002a, 11.

2.2  Alice als Spiel- und Denkfigur

33

Suppenschildkröte weint pausenlos, weil sie früher einmal eine richtige Schildkröte war.62 Das Paradies liegt unbedingt in der Vergangenheit. Das Walross, der Märzhase, aber auch das Weiße Kaninchen, die Rote Königin, Humpty Dumpty und allen voran Alice selbst sind Spielfiguren, aber auch Denkfiguren. Dass beide Alice-Bücher mehr oder weniger stark durch die Metaphorik des Spiels strukturiert sind, macht sie zu literarischen Sonderfällen. In Alice’s Adventures in Wonderland interagiert und streitet Alice mit den Figuren eines Kartenspiels; in Through the Looking-Glass avanciert das Spiel zum Schauplatz: ein Schachbrett, auf dem sich die Figuren Zug um Zug bewegen. Nun geht es in den Alice-Büchern aber gerade um die Spannung zwischen regelgeleitetem Spiel und Transgression, die in den Texten konstant am Flirren gehalten wird und die Lesenden nervös macht, wie die unmittelbare Nähe einer Hochspannungsleitung. Damit das gelingen kann, braucht es die Verbindung von Spielfiguren und Denkfiguren sowie die innere Spannung, die damit einhergeht. Die Spielfigur darf sich nach bestimmten Regeln im Raum bewegen und setzt damit den Rahmen für die theoretisch-ästhetische Arbeit der Denkfigur. Unter Denkfigur, und hier stütze ich mich auf Caroline Torra-Mattenklotts Definitionsvorschlag, verstehe ich im Zusammenhang mit Carrolls Alice-Büchern eine fixe oder bewegliche Anordnung disparater Elemente, eine Disposition, Konstellation oder Konfiguration:63 In der Geometrie ebenso beheimatet wie in der Rhetorik, in der bildenden Kunst und im Tanz, können Figuren gleichermaßen als visuelle wie als sprachliche und kinetische Formen gedacht werden; sie lassen sich einerseits als Raumgestalten, andererseits durch ihre Hervorbringung, d. h. als Bewegungen, Gesten oder Sprechakte beschreiben.64

Figuren schreiben der Alice-Maschine ihre Dynamik ein. Denn integraler Bestandteil ihrer Spiel- und Denkfiguren sind ihre Bewegungs-, Handlungs- und Denkmuster, ihre Beziehungen und Sprechakte. Dabei interessiert mich vor allem ein Element: Die zentrale Figur, Alice, lässt sich, wie ich noch zeigen werde, als eine Denkfigur verstehen, aus deren Bewegungen eine Praxeologie des Lesens und des Medienkonsums herausgelesen werden kann. In Alice’s Adventures in Wonderland kommentiert sie alles, was ihr widerfährt, und wühlt dabei recht wahllos in den Wissensbeständen, die sich durch die lessons der viktorianischen Didaktik in diversen Fächern willkürlich in ihr abgelagert haben – ohne irgendeine kognitive oder emotionale Anbindung an bestehendes Wissen.65 So entsteht eine Disposition zum Nonsense, die von der Erzählinstanz und von den Kreaturen des Wunderlands lustvoll ausgeschlachtet wird. Während Alice langsam, langsam durchs

62„‚Once,‘

said the Mock Turtle at last, with a deep sigh, ‚I was a real Turtle.‘“ AAW, 72. 2016, 61.

63Torra-Mattenklott 64Ebd.,

14. viktorianischen Didaktik vgl. Gillian Beer: Alice in Space. The Sideways Victorian World of Lewis Carroll, Chicago/London 2016; Kimberley Reynolds/Nicola Humble: Victorian Heroines: Readings and Representations of Women in ­Ninteenth-Century Literature and Art. New York 1993; Ginger Frost: Victorian Childhoods. Victorian Life and Times. Westport 2009. 65Zur

34

2  Elemente, Hintergründe und Voraussetzungen

Kaninchenloch ins Wunderland fällt und überlegt, was sie wohl auf der anderen Seite der Erdkugel erwarten könnte, fallen ihr statt Antipoden Antipathien ein66 – eine anklingend-assoziative Wortverdrehung, die später in den Erzählungen der Falschen Suppenschildkröte und des Gryphons zum Prinzip erhoben wird. Schulfächer unter dem Meer waren nämlich unter anderem „Reeling and Writhing“, „the different branches of Arithmetic – Ambition, Distraction, Uglification, and Derision“ und, auch Meerestiere mögen es klassisch, „Laughing and Grief“.67 Das Wortpaar „reeling and writhing“ – taumeln und sich winden –, mitsamt seinem Spiegelbild „reading and writing“ verweist direkt auf die Verbindung von Figuren der Bewegung und Figuren der Schrift, der Schriftbildlichkeit. Auffällig ist der Bezug zu körperlichen Aktivitäten, Eigenschaften und Zuständen von Alice, der eine weitere Serie bilden:68 Immer, wenn sie etwas konsumiert, wenn sie isst oder trinkt, wächst oder schrumpft sie. Jedes Mal muss sie sich in ihrer Körperlichkeit neu im Raum orientieren, denn fixe Proportionen gibt es im Wunderland nicht. Was es aber gibt, ist eine parallele Serie auf der Ebene des Verhältnisses von Körper und Sprache, die „große orale Dualität essensprechen“.69 Wenn Alice Gedichte aus dem Gedächtnis aufsagt, wozu sie, wie zuhause im Unterricht, von den Kreaturen des Wunderlands ständig aufgefordert wird, manifestiert sich ihre Verwandlung körperlich, in der Stimme, die sie nicht als die ihre erkennt: „[…] but her voice sounded hoarse and strange, and the words did not come out the same as they used to do […]“.70 Rhythmus und Klang des Gedichts – seine Materialität – bleiben unberührt, doch der Inhalt verwandelt sich ohne Alices Wissen. So kommt es, dass aus ihrem Mund eine wüst-parodistische Fassung eines erbaulichen Kinderlieds aus der Feder des Theologen und Autors Isaac Watts (1674–1748) tönt.71 Alice erscheint als desorientiertes, instabiles Subjekt mit fluktuierendem Körper und einer Sprache, die eng an die situativen physischen Zustände gebunden ist – das Wissen und die Verhaltsregeln, die sie aufgrund ihrer viktorianischen Erziehung reproduzieren kann, erscheinen in ihrer Beliebigkeit ebenso absurd wie die Gepflogenheiten des Wunderlands. Alice als Spiel- und Denkfigur wirkt in der Alice-Maschine also dergestalt, dass sich die Logik des Wunderlands unmittelbar in Alices Körperlichkeit ausdrückt. So wird die Denkfigur von Alice als Leserin zu einem Dispositiv, das innerhalb der Maschine in Eigenregie das Denken übernimmt.72

66AAW,

8. 74. 68Deleuze faltet die Oberfläche der Alice-Bücher in Serien von Paradoxa auf. Vgl. Deleuze 1993. 69Deleuze 1993, 114. 70Martin Gardner (Hg.): The Annotated Alice. New York 2000, 23 [TAA]. 71TAA, 23–24. 72Deleuze 1993, 61. 67Ebd.,

2.3  „Good morning, Dolores. Bring yourself back online“ – Alice als Maschine

35

Durch die Integration der Figur von Alice als Leserin fungiert die ­ lice-Maschine als poetologisches Modell. Sie gestaltet die Performanz der A Lektüre und übernimmt zugleich eine diagrammatische Funktion, indem sie einen schematischen Überblick über die literarische Form als ganze bietet.73

2.3 „Good morning, Dolores. Bring yourself back online“ – Alice als Maschine Die Figuren in der Alice-Maschine sind nicht zu vergleichen mit Figuren wie Odysseus oder Orpheus, die das Erzählen seit der Antike prägen und als Formeln für ganze Erzählanlagen wirksam sind; ebenso unterscheiden sie sich von ­seriell-transmedialen Figuren wie Sherlock Holmes – obwohl Alice selbst zur Kategorie der Protagonisten gehört, die den Kontext ihres Buches verlassen und, nicht zuletzt als Merchandising-Artikel, in der medial geprägten Alltagskultur ein Eigenleben annehmen. Alice als Teil der Alice-Maschine ist selbst keineswegs eine Maschine. Sie wird erst zu einer Funktion dieser Maschine, wenn sie – wie ich in Bezug auf die Alice-Bücher zeigen werde – als Leserin des Buches, dessen Protagonistin sie ist, agiert. Und doch erscheint Alice in der Populärkultur auch als Maschine. Als Androidin, als automatische Puppe in der Tradition der Schwarzen Romantik, spielt sie eine zentrale Rolle in westworld, einer der meistdiskutierten TV-Serien der letzten Jahre. Die HBO-Serie westworld (Jonathan Nolan/Lisa Joy, 2016–), basierend auf dem gleichnamigen Roman und seiner Film-Adaption von Michael Crichton (USA 1973), spielt in einem von Androiden bevölkerten Themenpark – der Westworld eben –, der reichen Besuchern ein exquisites Freizeitvergnügen liefert. Für ein paar Tage leben sie in einer Welt, die sie aus Westernfilmen kennen. Mit Sheriffs, Saloons und Ganoven, Schießereien, Ritten durch die Wüste, Prostituierten und einer Damsel in Distress, die gerettet – aber auch vergewaltigt werden kann. „We sell complete immersion in a hundred interconnected narratives, a relentless fucking experience“,74 erklärt Lee Sizemore, Chef des „narrative department“, das Konzept des Parks. Der Schauplatz konzentriert sich auf zwei gleichermaßen artifizielle Parallelwelten: den Park selbst, den die Zuschauerinnen und Zuschauer als seltsame, weil mit einem melodramatischen

73Deleuze

1993, 61: „[…] stets im Doppelsinn sprachlicher und visueller Gestalten oder Raumkonstellationen, denen der Prozess ihrer Hervorbringung als zeitliche Dimension eingeschrieben ist – auch textkonstitutive Funktionen erfüllen: Als rhetorische oder typographische Figuren, als abstrakte Sujets und Motive oder als Formprinzipien und Strukturelemente stellen sie Zusammenhänge und Korrespondenzen her, bestimmen die rhetorische bzw. narrative Struktur eines Textes, markieren Wendepunkte oder strukturieren die fiktive Welt.“ 74westworld Staffel 1, Folge 1: 00:27:10.

2  Elemente, Hintergründe und Voraussetzungen

36

Soundtrack durchspülte Westernkulisse erleben, und der Ort, an dem die Westworld gemacht wird – das Gebäude des Konzerns mit seinen Büros und Laboratorien. Der Wechsel von Genremodalitäten vermittelt von Anfang an den Eindruck, die Androiden seien lebendige, fühlende Menschen, während die Mitarbeiter des Konzerns im kalten Licht der Laborbeleuchtung wie Roboter wirken. Es sind immer wieder Momente des Aufwachens, und zwar in beiden Welten, welche die Serie strukturieren und die sich sowohl auf der Ebene des Spiels wie auch hinter den Kulissen überlagern: Indem sie von Anfang an in einem Chiasmus ausstellt, wie das programmierte Leben der Androiden mit ihrer bewussten Existenz, die Zeit, die sie zur Reparatur und zum Überschreiben von Erinnerungen im Labor verbringen, jedoch mit so etwas wie ihrem Unbewussten korrespondiert. Die Pilotfolge setzt mit einer Schwarzblende ein. Eine Stimme sagt: „Bring her back online.“75 Dann gehen allmählich die Lichter an, und ein kalter Raum wird sichtbar. Darin zeigen sich die Umrisse einer nackten Frau auf einem Stuhl. Langsam nähert sich ihr die Kamera. Zunächst glaubt man, einer Folterszene beizuwohnen; der apathische Blick und die Verletzungen im Gesicht deuten darauf hin, auch die Fliege, die sich ungestört auf die Stirn der Frau setzt. Eine männliche Stimme beginnt einen Dialog mit ihr und spricht sie als Dolores (Evan Rachel Wood) an – ein Voice-over, das offensichtlich aus einer anderen Szene stammt. Denn die Dolores, die wir sehen, ist noch nicht online, noch nicht wach. Das Gespräch geht weiter, während uns ein Schnitt auf der Bildebene vom Labor auf die andere Seite, in die Westworld, befördert: Dolores liegt in einem von warmem Sonnenlicht durchfluteten Zimmer im Bett und wacht auf. Mit den Mitteln des Voice-over und mit dem Soundtrack werden die Übergänge zwischen den Ebenen ebenso buchstäblich wie systematisch überspielt; damit nimmt die Serie ästhetisch vorweg, was auf der Handlungsebene passieren wird – nämlich, dass sich die Grenze zwischen „natürlichen“ und „künstlichen“ Menschen mehr und mehr aufzulösen beginnt. Dolores gehört zu den ersten Figuren, die sich nicht mehr kontrollieren lassen. Sie ist, mit ihrem blauen Kleid und den blonden Haaren, mit ihrem wachen Blick und ihrer liebenswürdigen, wenn auch leicht aufmüpfigen Neugier, als erwachsene, melancholische Alice inszeniert, die sich in einem ganz und gar fremden Umfeld orientieren muss (Abb. 2.1). Die Serie bemüht sich, den Bezug zur Kinderbuchheldin herauszustellen. Etwa in der Struktur, indem jede Folge mit einer Szene des Aufwachens beginnt. Nur auf den ersten Blick wirkt dies wie eine Umkehrung; denn im Wachzustand des Spiels in der Westworld verhält sich die Androidin nach Plan, also passiv; eine neugierige Alice ist sie erst hinter den Kulissen, im Labor. Das gilt auch für die dritte Folge, in der Alice’s Adventures in Wonderland explizit vorkommt. Dolores erwacht im Laboratorium, wo sie der Ingenieur und Android Bernard Lowe (Jeffrey Wright) – der sich selbst zu diesem Zeitpunkt noch für einen durch

75westworld

1,1; 00:01:45.

2.3  „Good morning, Dolores. Bring yourself back online“ – Alice als Maschine

37

Abb. 2.1  Die Androidin Dolores (Evan Rachel Wood) im blauen Alice-Kleid

biologische Reproduktion entstandenen und von einer Frau geborenen Menschen hält, mit einem Text erwartet. Bernard: I brought you a gift. I used to read this story to my son at night. I thought you might enjoy it. Try this passage. Dolores: Dear, dear, how queer everything is today. I wonder if I’ve been changed in the night. Bernard: Does the passage make you think of anything? Dolores: It’s like the other books we read. Bernard: How so? Dolores: It’s about change. Seems to be a common theme. Bernard: I guess poeple like to read about the things that they want most and experience the least.76

Die Kamera zeigt, im Schuss-Gegenschuss-Verfahren, die Gesichter von Bernard und Dolores als Close-Ups. Das Gespräch ist mit der melancholischen, fast elegischen Musik von Ramin Djawadi unterlegt; sie drängt sich stark in den Vordergrund der Zuschauer- und Zuhörerinnenwahrnehmung. In dieser Szene wiederholt sich um eine kleine Arabeske, gespielt von einem Cello mit elektronischer Anmutung. Dolores liest weiter vor aus dem Buch. Diesmal handelt es sich um die Passage im zweiten Kapitel von Alice’s Adventures in Wonderland. Alice ist bereits

76westworld

1,3: 00:02:14–00:03:20.

38

2  Elemente, Hintergründe und Voraussetzungen

geschrumpft und in die Höhe geschossen und weiß nicht mehr ein und aus; die Tür zum Garten, die ihr als Ausweg erscheint, ist viel zu klein. Sie weint, und weil sie so groß ist, sammelt sich bald ein See aus Tränen um sie herum. Bevor sie darin herumzuschwimmen beginnt und dort seltsamen Wunderland-Tieren begegnet, denkt sie über ihre zerfließende Identität nach und darüber, was es wohl bedeuten könnte, dass sie sich permanent verändert. An dieser Stelle setzt Dolores ein beim Vorlesen. Der audiovisuelle Rhythmus nimmt klar melodramatische Qualitäten an und steigert sich zu einer eigentlichen Klimax.77 Bevor Dolores zum letzten Satz der Passage kommt –„Who in the world am I?“ –, blättert sie die Seite um; eine Geste, bei der die Materialität der Buchseiten stark zu Geltung kommt, auch im Geräusch des Blätterns. Obwohl sie, anders als Bernard in der siebten Folge, auf die ich weiter unten zu sprechen kommen werde, wörtlich aus dem Buch vorliest, dreht sich durch die Inszenierung der Vorleseszene die Affektpoetik der Alice-Passage radikal um. Denn wie immer, wenn Alice philosophische Fragen formuliert, moduliert der Text sofort in eine möglichst alberne Tonart: Carroll lässt die Gedanken seiner Alice abschweifen, lässt sie über Adas Haare und Mabels Dummheit räsonieren, und schon ist sie wieder vergnügt. Carroll besitzt in diesen Dingen ein derart virtuoses Rhythmusgefühl, dass der existentielle Satz – „Who in the world am I“ – keinen Raum bekommt, sich zu entfalten. Er stellt seinen schweren Schuh niemals auf den Boden und bleibt stattdessen in der Luft schweben. Das ist eine Funktion der Alice-Maschine, die in westworld mit seiner Maschinen-Alice Dolores gerade nicht zum Einsatz kommt. Aus dem Zusammenhang gerissen und vom melodramatischen Soundtrack begleitet, dienen die paradoxen Sätze aus Alice einer für die Serie adäquaten, wenn auch höchst verstörenden, Evokation bodenloser Wirklichkeit. westworld arbeitet Elemente heraus, die in den Alice-Büchern zweifellos vorhanden sind – wie ich am Beispiel der Nostalgie und Melancholie ausgeführt habe –, nimmt aber nicht auf die A ­ lice-Maschine und ihre Lust an der Verstörung Bezug, sondern liefert vielmehr eine schlüssige und insofern abschließende Interpretation von Alices Erfahrungen im Wunderland. Und doch realisiert sich die Alice-Maschine in der Figur von Dolores als Maschinen-Alice. Denn eine ganz wesentliche Figuration der Maschine ist Alice als Leserin ihrer selbst; und genau dies verkörpert Dolores.

Ain’t no grave In der siebten Folge spiegelt sich die Alice-Lektüre-Szene mit Dolores in einer Erinnerung Bernards an seinen toten kleinen Sohn. Auch diese Episode beginnt

77Zum

audiovisuellen Wahrnehmungszusammenhang musikalischer und visueller Rhythmen vgl. Jan-Hendrik Bakels: Audivisuelle Rhythmen. Filmmusik, Bewegungskomposition und die dynamsiche Affizierung des Zuschauers. Berlin 2016, 95–201.

2.3  „Good morning, Dolores. Bring yourself back online“ – Alice als Maschine

39

mit einem Moment des Aufwachens, doch diesmal liegt sie sowohl ausserhalb der beiden Schauplätze als auch in der Vergangenheit. Wie bei Murakami ist Alice’s Adventures in Wonderland für die melancholische Stimmung verantwortlich; auch hier inkarniert sich die verlorene Kindheit in einem toten Kind. Es ist der Sohn Bernard Lowes, dessen Stimme wir über der Schwarzblende hören: „Dad! Wake up, wake up!“, ruft der Junge, Charlie. Der Vater scheint beim Vorlesen aus Alice’s Adventures in Wonderland eingeschlafen zu sein. Er blättert im Buch, die Kamera zeigt eine kolorierte Illustration, die sich aber Carrolls Buch allerdings nicht zuordnen lässt, und setzt beim verrückten Hutmacher ein: „Of course. The Hatter, who says: ‚If I had a world of my own, everything would be nonsense, nothing would be what it is, because everything would be what it isn’t.‘“78 Der Junge ist irritiert, und der Vater sucht nach einer witzigen Stelle im Buch. Da stirbt Charlie unvermittelt. Es folgt ein Schnitt, und wir sind wieder in der Gegenwart: Bernard schießt hoch aus einem Albtraum. Später erfährt Bernard, und mit ihm das Publikum, dass er selbst ein Android ist. Er gehört zu den privilegierten Lieblingen von Dr. Robert Ford (Anthony Hopkins), dem Erfinder des Western-Parks. Dieser benutzt ihn, um alle Androiden zu kontrollieren und dafür zu sorgen, dass sie den Rahmen ihrer vorgegebenen Storylines niemals verlassen. Für Bernard bedeutet die Erkenntnis, selbst zu den Anderen zu gehören, einen radikalen Identitätsverlust. Nicht nur, weil er über viel weniger Handlungsoptionen verfügt, als er dachte, sondern auch, weil seine Erinnerungen an Charlie und die Trauer über dessen Tod nicht auf realer Erfahrung beruhen. Sie wurden ihm einprogrammiert, um ihn echter, glaubwürdiger zu machen. Doch obwohl Bernard sich nur im Modus des Als-ob erinnert, fühlt sich die Trauer für ihn echt an. Das tote Kind hat niemals existiert, außer in der fiebrigen Fantastie des Erschaffers einer fiktionalen Welt, die intensivere und damit realere Erfahrungen ermöglichen soll als die Wirklichkeit. Der tote Charlie ist nicht nur für Bernard eine schmerzliche Gegenwart, sondern er geistert von der ersten Folge an durch westworld, noch bevor wir überhaupt etwas von Bernard Erinnerung erfahren. Im Abspann der ersten Folge, in der es unter anderem um untote Erinnerungen der Androiden an frühere Rollen geht, wird Johnny Cashs Version des Songs Ain’t no Grave eingespielt: There ain’t no grave can hold my body down There ain’t no grave can hold my body down When I hear that trumpet sound I’m gonna rise right out of the ground Ain’t no grave can hold my body down79

Erst durch seinen Tod ist Charlie in Bernards fiktionaler Erinnerung lebendig geworden, und die sogenannten „hosts“, die Figuren der Westworld, sterben tausend Tode in Saloon-Schießereien und anderen Gewaltexzessen, die sich die Kunden in ihrem exklusiven Urlaub gönnen – aber nur, um mit jeder Auferstehung, jeder Wiederholung menschlicher zu werden.

78westworld 79westworld

1,7: 00:01:40–00:02:20. 1,1: 01:04:09.

2  Elemente, Hintergründe und Voraussetzungen

40

Doch zurück zur Vorleseszene an Charlies Sterbebett. Die Passage, die Bernard vorzulesen vorgibt, steht nirgends in den Alice-Büchern. Die Sätze stammen aus der bekanntesten Alice-Adaption überhaupt, nämlich aus Disneys Animationsfilm von 1951 (Regie: Clyde Geronimi/Wilfred Jackson/Hamilton Luske). Und es ist auch nicht der verrückte Hutmacher, der sich seine eigene Welt vorstellt, sondern Alice selbst. Der Film beginnt mit einer vergnügten Vorleseszene im Grünen; die Gouvernante liest aus einem staubtrockenen Geschichtswerk, während sich Alice langweilt. „In my world“, meint sie, einen der ersten Sätze von Alice’s Adventures in Wonderland frei paraphrasierend,80 „books would be nothing but pictures.“81 Der Film, in dem sie selbst auftritt, erfüllt alle ihre Wünsche – vom Augenblick an, in dem sie durch das Kaninchenloch ins Wunderland fällt, übernimmt sie mit ihrer kindlichen Einbildungskraft die Regie. In westworld, im Kontext der Probleme des Konzerns mit den Androiden, die sich allmählich aus ihrer Marionettenrolle befreien und ihrerseits die Fäden zu ziehen beginnen, und im Krankenzimmer des sterbenden Jungen, den es in Wirklichkeit niemals gab, hat das Zitat in seiner Unschärfe eine verstörende Wirkung – gerade weil es die Situation recht treffend beschreibt. Das vermeintlich so unhinterfragt sinnhafte, weil ganz von der Logik der vorgegebenen Erzählstränge bestimmte Leben der Androiden in westworld entpuppt sich als sinnentleert, sobald man deren Perspektive einnimmt. Nichts ist, was es zu sein scheint. Die Alice-Maschine ist in westworld insofern am Werk, als sie Alice als ein hybrides Wesen inszeniert, das auf eine verstörende, vernünftigen Argumenten nur schwer zugängliche Weise gleichzeitig eine Maschine ist und ein Mensch. Das Zaudern zwischen zwei möglichen Handlungen weitet sich hier melodramatisch aus zum existentiellen Entweder-Oder zwischen zwei Welten, zwei Seinsweisen. Bis zum Ende der ersten Staffel löst es sich innnerhalb der Diegese mehr und mehr auf, bis zum Ausbruch der offenen Rebellion der Androiden, und existiert – genauer: insistiert – nur noch im Medialen. Dort realisiert sich das Zaudern als Schatten im Sinne Vogls im medialen Erfahrungsraum für die Zuschauerin, den Zuschauer. Die Melancholie der Alice-Maschine besteht hier darin, dass die Entscheidung zwischen den beiden Welten nach der Erkenntnis, dass es ein Vor- und ein ­Hinter-den-Kulissen gibt, nicht mehr möglich ist. An Alice, dies zeigt der Blick auf westworld, können sich komplexe Figurationen festmachen, wenn sie als Figur durch mediale Artefakte mit Verstörungspotential zirkuliert.

80”…]

‘and what is the use of a book,’ thought Alice, ‘without pictures or conversations?’” AAW,

9. 81westworld

1,7: 00:02:52.

2.4 Denkdinge

41

2.4 Denkdinge Um die Alice-Maschine mit ihren auf seltsame Weise analogen, zugleich divergierenden und disjunktiven Elementen zu beschreiben, unterscheide ich zwischen Figuren im Sinne der oben beschriebenen Spiel- und Denkfiguren auf der einen Seite und abstrakteren Figurationen andererseits. Der Begriff geht ursprünglich auf Augustinus zurück, der unter figuratio die Fleischwerdung des Wortes verstand. In der Verwendung, die Sybille Krämer vorschlägt, schwingt die Spannung zwischen Abstraktion und dem Streben nach der Verwirklichung in körperlichen Surrogaten immer mit: Stellen wir uns vor, wir könnten geistige Kompetenzen erwerben und befördern, indem das gelungene Zugreifen in der Welt der Körperdinge fruchtbar gemacht wird für das Verhalten in der Welt der Wissensgegenstände: Theoretische Entitäten sind das, was sie sind, weil sie nicht raum-zeitlich situiert, nicht sinnlich wahrnehmbar, nicht zu ergreifen sind. Und doch: Der Kunstgriff, von dem der menschliche Geist – jedenfalls ist das unsere Vermutung – zehrt und beflügelt wird, besteht (auch) darin, abstrakten Entitäten körperliche Surrogate zu verschaffen und sie damit hineinzuholen in die raum-zeitlich situierte, materielle Welt, sodass wir sie in dieser ihrer verkörperten Form eben nicht nur präsentieren, speichern und zirkulieren, sondern vor allem auch explorieren und erforschen können. So werden reale, aber als körperliche Anhaltspunkte fungierende Gegenstände zu Passierstellen, um eine Beziehung aufzunehmen zu abwesenden und vor allem: zu ‚rein‘ geistigen Objekten.82

Krämer denkt an philosophische Entitäten, doch lässt sich ihre Idee auf kulturelle Prozesse und künstlerische Arbeit übertragen, von denen sich ebenfalls sagen ließe, dass sie abstrakte Entitäten in die raum-zeitlich situierte, materielle Welt überführen. Die konkret-sinnliche Umsetzung der abstrakten Alice-Maschine in der Gegenständlichkeit des Buchmediums oder in Bewegungsbildern audiovisueller Medien sind jeweils Beispiele dafür. Die Figurationen der Alice-Maschine sind von Anfang an in die Gegenständlichkeit des Buches eingebunden und nicht davon zu trennen. Dieser Hang zum Einsatz der Materialität des Buchmediums kann sich in typographischen Elementen manifestieren; in den Asteriksen zum Beispiel, die in Alice’s Adventures in Wonderland für die Wachs- und Schrumpfbewegungen der Protagonistin und in Through the Looking-Glass für das Springen von einem Feld des Schachbretts zum anderen stehen. Man könnte sagen, dass sie den ­ sprunghaft-episodischen Charakter der Erzählung repräsentieren; die ornamentalen Sternkonstellationen vergegenwärtigen das Capriccio. Und dann hat

82Sibylle

Krämer: Figuration, Anschauung, Erkenntnis. Grundlinien einer Diagrammatologie. Berlin 2016, 11.

42

2  Elemente, Hintergründe und Voraussetzungen

Carroll eine Obsession mit überlangen Gedankenstrichen. Sie dienen dazu, Sätze zu unterbrechen und halb fertig in der Luft stehen zu lassen, sodass im linearen Text eine chaotische Polyphonie entsteht; atmosphärisch scheint der Raum voller aufgeregt durcheinander redender Stimmen zu sein.83 Ihre Funktion ist nicht in erster Linie, wie man erwarten würde, die einer Ellipse, sondern die eines Scharniers, das Unzusammenhängendes zu verbinden vermag. Ohne direkt zu den Verfahren zu gehören, die üblicherweise dem Nonsense zugeordnet werden, sind diese Gedankenstriche ein Signal für ein literarisches Non Sequitur. Komik entsteht dadurch, dass die Wesen des Wunderlands einander ins Wort fallen, mit völlig unangemessenen, unzusammenhängenden Kommentaren. Die ornamentale Spielart der Arabesken sind eine weitere auf der Ebene von Typographie und Layout angesiedelte Figurationenkategorie. Dazu gehören von Ranken verzierte Initialen und Bilder, vor allem in der Urfassung, dem von Hand geschriebenen, gezeichneten und gebastelten Manuskript Alice’s Adventures Under Ground von 1864. Zum Teil sind die Illustrationen, die Lewis Carroll für das Manuskript angefertigt hat, selbst groteske Ornamente. Die augenfälligste Arabeske, in den drei ersten Alice-Büchern enthalten,84 ist der aus sich verjüngenden Buchstaben gemachte Schwanz der Maus – the mouse’s tale – im Kapitel „A caucus-race and a long tale“.85 Bei den typographischen und ornamentalen Figurationen zeigt sich, wie sehr die Sprache als Instrument von Kognition und Erkennen in den Vordergrund gerückt wird – während die Funktion der Kommunikation und Verständigung ad absurdum geführt wird. Man kann sich wundern, dass ausgerechnet eine Reihe von Kinderbüchern diesen Hang zu komplexen Figurationen aufweist. Doch das ist die konsequente Folge der Experimentierlust, welche die Phase der Neuerfindung der Kinderliteratur im 19. Jahrhundert auszeichnet. Dieses Phänomen ist nicht auf Großbritannien beschränkt, was Klaus Müller-Wille am Beispiel Hans Christian Andersens aufgearbeitet hat.86 Charles Lutwidge Dodgson war bekanntlich Mathematiker und zeit seines Lebens Dozent am Christ Church College in Oxford, was auch sein Alter Ego Lewis Carroll nicht unberührt ließ; es ist kein Zufall, dass ausgerechnet die Kinderbücher aus der Feder eines Mathematikers einen starken Hang zur Gestaltung von diagrammatischen Figurationen haben. Denn einfache mathematische Operationen lassen sich als Grundmodell für die Verwandlung abstrakter Entitäten in körperliche bzw. materielle Surrogate verstehen:

83Zum Beispiel im Kap. 7, „A Mad Tea-Party“ (AAW, 52–59) oder im unsinnigen Gerichtsverfahren in den letzten beiden Kapiteln von AAW, „Who Stole the Tarts?“ und „Alice’s Evidence“ (84–95). 84In der Nursery Alice fiel die Geschichte in Form eines Mauseschwanzes Carrolls Streichungen zum Opfer. 85AAW, 24. 86Vgl. Klaus Müller-Wille: Sezierte Bücher. Hans Christian Andersens Materialästhetik. Paderborn 2017.

2.5 Alice-Diskurse

43

Das Rechnen zeigt auf elementare Weise: Geistige Tätigkeiten können so eingerichtet bzw. formatiert werden, dass sie in Gestalt handgreiflicher Aktivitäten, situiert im Materialitätskontinuum der beobachtbaren Welt, vollzogen werden können. Es gibt ein Handwerk des Geistes.“87

Neuere nicht-kognitivistische Geisttheorien gehen ebenso wie eine auf Leibniz gründende philosophische Tradition davon aus, dass Denken und Erkennen überhaupt erst möglich werden, „weil ‚Denkdinge‘ und ‚Denkzeuge‘ in unserer Außenwelt vergegenständlicht werden und dort sinnlich und operativ zugänglich sind.“88 So ein Denkding, wenn auch kein mathematisches, sondern ein ästhetisches, ist die Alice-Maschine. Noch konkreter lässt sich dieser Zusammenhang auf die Alice-Maschine beziehen, wenn man das Spielfeld hinzunimmt, in dem sich die Vergegenwärtigung geistiger Entitäten in wahrnehmbare Zeichen gemäss Krämer abspielen muss: So wie ein Spielfeld am Boden verzeichnet wird, so bedürfen auch geistige Aktionen, die im Medium wahrnehmbarer und manipulierbarer artifizieller Surrogate vollzogen werden, eines Spielfeldanalogons. Es genügt nicht, dass geistige Tätigkeiten ausserhalb des Kopfes mit Einsatz von Augen und Händen geleistet werden: Es muss auch einen korrespondierenden Aktionsraum geben, der dieses Tun in seinen Richtungen festlegt und begrenzt, und dies umso mehr, je mehr die geistige Tätigkeit eine intersubjektiv geteilte, eine kooperative Aktionenfolge ist.89

Die Alice-Maschine als Konstellation heterogener Figurationen lässt sich als ein Denkding, oder vielmehr als eine Assemblage diverser Denkdinge begreifen. Sie setzt dabei auf Materialästhetik, konkret auf die Verbindung zwischen Denken und Schreiben – auf Graphismus als visuelles und taktiles Phänomen.90 Worauf es aber letztlich ankommt ist das, was Oesterle das „ludistische Fludium“ nennt: In der Konstellation der Figurationen lässt sich das Wirken der ­Alice-Maschine nicht mehr kontrollieren – und so beginnt sie selbst zu denken.

2.5 Alice-Diskurse Genrefragen: Kunstmärchen oder Nonsense? Mit Alice’s Adventures in Wonderland beginnt eine neue Entwicklung in der englischsprachigen Kinderliteratur. Aus dem viktorianischen Kunstmärchen

87Krämer

2016, 12. 13. 89Ebd, 14. 90Ebd, 15. 88Ebd.,

44

2  Elemente, Hintergründe und Voraussetzungen

heraus in eine neue, experimentierfreudige und verspielte Richtung der fantastischen Literatur.91 Doch die Neuerfindung des Buchmediums92 in, mit und durch Alice’s Adventures in Wonderland, hat noch eine weit spannendere und in der umfangreichen Forschungsliteratur zu Carrolls viktorianischem Nonsense bisher erst wenig berücksichtigte Dimension. Alles, was mit der Materialität des Buches zu tun hat – von so handfesten Dingen wie Buchgestaltung, Layout und Typographie über performative Aspekte bis hin zur Selbstreferentialität –, wurde im Lauf der Publikations- und der Rezeptionsgeschichte mehr und mehr ausgeblendet. Ein neues Interesse daran entstand in den Literatur- und Kulturwissenschaften erst im Zuge des material turn, und es setzte eine intensive und innovative Auseinandersetzung mit dem Medium Buch ein – auch und gerade in Bezug auf die Kinderliteratur des 19. Jahrhunderts.93 Bisher dominieren zwei Herangehensweisen: Zum einen werden die ­Alice-Bücher als proto-avantgardistische Monolithen betrachtet, auf der anderen Seite wurde immer wieder versucht, das gesamte literarische Werk Carrolls als Genrehybrid aus literarischem Nonsense, Märchen und Fantastik zu beschreiben.94 Das Konzept der Genrehybridität scheint mir jedoch ebenso problematisch wie die ahistorische Idealisierung des genialen Werks, wenn auch aus ganz anderen Gründen, denn es basiert auf einem starren Gattungsverständnis, das typische Merkmale im Sinne einer Regelpoetik taxonomisch zu erfassen versucht.95 Auf der Grundlage einer dynamischen Genretheorie dagegen lässt sich der enorme Einfluss der Alice-Bücher auf die Kinderliteratur, auf die Avantgarden und auf die Populärkultur neu verstehen. Die Alice-Bücher stechen offensichtlich aus dem Gros der viktorianischen Kinderliteratur heraus – zumindest aus heutiger Sicht. Sie sind weitgehend frei von der üblichen Sentimentalität, und vor allem, worauf Carroll selbst besonderen

91Vgl.

Stephen Prickett: Victorian Fantasy. Hassocks 1979, 114. Prickett sieht im Nonsense von Edward Lear und Lewis Carroll eine neue Kunstform, die sich aus dem Märchen, aber auch anderen Formen heraus entwickelt hat: „For them the popular tradition with its zany humour, and delight in puns, irony and double meanings offered the seeds of a new art form. In childhood, dreams and the frontiers of consciousness, in the marvellous, the grotesque, and the monstruous they discovered the possibility of quite different rules from those of the prevailing consensus.“ 92Vgl. dazu das von Ingrid Tomkowiak und Klaus ­Müller-Wille geleitete SNF-Projekt Poetik des Materiellen: Neuerfindungen des Buchmediums in der ‚Kinderliteratur‘, in dessen Rahmen diese Studie entstanden ist. https://www.pdm.uzh.ch/de.html (25.04.2020). 93Zu Hans Christian Andersen vgl. M ­ üller-Wille 2017, zu Tove Jansson: Kathrin Hubli: Kunstprojekt (Mumin-)Buch. Tove Janssons prozessuale Ästhetik und materielle Transmission. Tübingen 2018; zu Elsa Beskow: Petra Bäni: Bilderbuch – Lesebuch – Künstlerbuch: Elsa Beskows Ästhetik des Materiellen. Tübingen 2018. 94Für die Diskussion um die Alice als Märchen vgl. Jan Susina: The Place of Lewis Carroll in Children’s Literature. New York 2010, 26–30. 95Für eine ausführliche Kritik der Genrepoetik in der filmwissenschaftlichen Genretheorie vgl. Hermann Kappelhoff: Genre und Gemeinsinn. Hollywood zwischen Krieg und Demokratie. Berlin 2016, 85–97.

2.5 Alice-Diskurse

45

Wert legte, von jeder Form der moralischen Unterweisung.96 Doch trotz ihrer Originalität sind die Alice-Bücher Produkte ihrer Zeit. Das gilt auch für ihre Gattungszugehörigkeit. Exzentrisch und frei von Bezugnahme auf die (kinder) literarische Tradition, betont Susina, erschienen die Texte nur, wenn man sie ohne ihren historischen Kontext betrachte.97 Von den Zeitgenossen wurden sie mit Begeisterung aufgenommen, aber keineswegs als etwas bahnbrechend Neues oder gar Avantgardistisches empfunden. Die Kritiker von Alice’s Adventures in Wonderland waren mehrheitlich angetan und auch gar nicht um Worte verlegen, wenn es darum ging zu beschreiben, was der Erzähler mit seiner Figur und mit der Sprache erschaffen hatte.98 Dennoch erleben heutige Leserinnen und Leser den Unterschied zwischen der süsslich-belehrenden, wolkigen Erzählweise in den Kinderbüchern von George MacDonald, Charles Kingsley oder Christina Rossetti und dem frischen, klaren Ton der Alice-Bücher als radikal.99 Das mag, wie Susina überzeugend argumentiert, mit der Gattungsfrage und der veränderten Perspektive darauf zu tun haben. Alice’s Adventures in Wonderland sei aus der Auseinandersetzung mit dem viktorianischen Kunstmärchen heraus entstanden und müsse auch als solches gelesen werden.100 Nicht zuletzt bezeichnete auch Carroll selbst die Geschichten in seinen Tagebucheinträgen wiederholt als „tale“101 oder „fairy tale“102; für ihn scheint es klar gewesen zu sein, dass er sich mit Alice in einer Traditionslinie bewegte.103 Dazu muss man sich vergegenwärtigen, dass zur Zeit der Niederschrift von Alice’s Adventures in Wonderland eine spektakuläre Renaissance des Märchens im Gang war. Ihren Anfang hatte sie mit der Übersetzung der Kinderund Hausmärchen der Brüder Grimm in den 1820er-Jahren genommen, und als Hans Christian Andersens Märchen 1846 erstmals auf Englisch erschienen, nahm sie noch einmal Fahrt auf. Mit der Andersen-Rezeption begann sich die Idee einer modernen fantastischen Kinderliteratur in England durchzusetzen, wie sie in

96Cohen

2015, Pos. 247. 2010, 26. 98„Alice’s Adventures in Wonderland was widely reviewed and earned almost unconditional praise. Charles’s diary lists nineteen notices.“ Es sei „The most original and most charming“ unter den aktuellen Kinderbüchern, schrieb The Publisher’s Cicular, und der Guardian fand den Nonsense „so graceful and full of humour that one can hardly help reading it through.“ Cohen 2015, Pos. 2484–2492. 99Vgl. George MacDonald: Dealings With the Fearies (1867); Charles Kingsley: The WaterBabies (1863); Christina Rossetti: Goblin Market and Other Poems (1862). 100Susina 2010, 26. 101To Tom Taylor, December 20, 1863. In: Morton N. Cohen (Hg.): The Selected Letters of Lewis Carroll. Basingstoke 2015, 27. 102To Tom Taylor, June 20, 1864. In: Letters of Lewis Carroll 2015, 29. 103Lewis Carroll’s Diaries: The Private Journals of Charles Lutwidge Dodgson. Hg. von Edward Wakeling. 10 Bde., Luton 1993–2007, Bd. 1, 181–188. 97Susina

46

2  Elemente, Hintergründe und Voraussetzungen

Texten von John Ruskin, George MacDonald, Charles Dickens, Christina Rossetti und anderen erprobt wurde.104 Das Märchenhafte in der Art, wie es in den Kunstmärchen Ludwig Tiecks gestaltet ist, macht die Alice-Bücher ebenso aus wie die Spielereien mit Sprache und ihren Bedeutungsnuancen. Erwiesenermassen kannte Carroll eine Vielzahl viktorianischer Kunstmärchen und hielt sich über die aktuelle literarische Produktion auf dem Laufenden.105 Mit Volksmärchen dagegen haben die AliceBücher wenig zu tun. Das Narrativ von deren Entstehung aus einer oralen Fabuliersituation heraus inspirierte Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler jedoch immer wieder dazu, Alice als Volksmärchen zu lesen – bis hin zur Anwendung der Proppschen Formelanalyse auf den Text.106 In der Forschung entspann sich eine kontroverse Diskussion, auf die ich hier nicht näher eingehen kann; sie ist bei Susina umfassend dargestellt.107 Relevant für die AliceMaschine ist allein die Tatsache, dass sich die Alice-Bücher als eine Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Genres lesen lassen; mit dem viktorianischen Kunstmärchen und den sogenannten „christmas pantomimes“ ebenso wie mit Gedichten und Kinderversen.108 Lewis Carroll setzte sich in den Alice-Büchern mit zeitgenössischen Genres und Debatten auseinander, grenzte sich davon ab und schuf darin etwas Neues, das sich mit mit den Begriffen der herkömmlichen Genretaxonomie nicht fassen lässt.

Viktorianisches Obwohl der exzentrische Mathematiker Charles Lutwidge Dodgson, besser bekannt unter seinem nom de plume Lewis Carroll, immer schon als bemerkenswertes Produkt der viktorianischen Zeit galt, kratzte lange niemand am Bild des einsamen, solipsistischen, idiosynkratischen Junggesellen, der, den Diskursen der Gegenwart entzogen, in seinem College in Oxford seltsamen Hobbies frönte.109 Am liebsten soll er als Bettlerinnen und historische Figuren verkleidete Mädchen in der Latenzphase fotografiert haben, die er, wenn es die Eltern erlaubten, am allerliebsten

104Hugh

Haughton: Notes to Alice’s Adventures in Wonderland. London: Penguin 1998, 306. Susina sind darunter Catherine Sinclaris Holiday House (1839), John Ruskins The King of the Golden River (1851), William Thakerays The Rose and the Ring (1855), Charles Kinglseys The Water Babies, George MacDonalds Dealings with the Fairies (1867), Mark Lemons Tinykins Tranformations (1867), Mary de Morgans On a Pincushion an Other Fairy Tales (1877), Juliana Horatia Ewings The Brownies and Other Tales (1877), Mary Louisa Molesworths Christmas-Tree Land (1884), Grimm (ergänzen), Felix Summerlys Home TreasurySerie und Andersen, Aesop sowie japanische und russische Märchen. Susina 2010, 28. 106Vgl. Susina 2010. 107Ebd., 25–27. 108„Christmas Pantomimes“: Ruth Berman in The Carrollian 11, 2003. Zit. nach Susina 2010, 27. 109Beer 2016, 3. 105Gemäss

2.5 Alice-Diskurse

47

ganz nackt vor seiner Kamera drapierte. Ausserdem schrieb er seinen kleinen Freundinnen Briefe, in denen er lustige Spiele entwarf: „nonsense“ zum puren Vergnügen.110 Die schon zu seinen Lebzeiten brodelnde Gerüchte- und Projektionsküche rund um Dodgsons pädophile Neigungen verdichtete sich ebenfalls zu einem Element der AliceMaschine, wie ich in Abschn. 4.2 näher beleuchten werde. Allerspätestens seit der ikonischen Szene in Michelangelo Antonionis blow up (GB/I/ USA 1966), in der Geschlechtsakt und Akt des Fotografierens verschmelzen, bis das Klicken der Kamera den Orgasmus anzeigt, ist ein von optischen Instrumenten verstärkter männlicher Blick immer voyeuristisch codiert; die Beschwörung kindlicher Unschuld im vorpubertären Mädchenkörper macht die Sache nicht besser, im Gegenteil. So weit zu den Fantasmen, die sich um Dodgson/Carrolls Kunst und Sexualität ranken. Doch wie es sich für den Autor der Alice-Bücher gehört, hat die Carroll-Forschung in den letzten Jahrzehnten Informationen zutage gefördert, die sich nicht widerspruchsfrei in das Bild des verkorksten Exzentrikers einfügen lassen. Spätestens seit Erscheinen der zehnbändigen Tagebuch-Ausgabe zwischen 1993 und 2007,111 und dank Charlie Lovetts Studie über Dodgsons Bibliothek,112 kann man davon ausgehen, dass die Interessen des Mathematikers und Schriftstellers breit gefächert waren. Carrolls Werk entstand in einer Zeit der „ungewöhnlichen wirtschaftlichen und militärischen, zum Teil auch kulturellen Vorherrschaft“113 Großbritanniens, und er nahm regen Anteil an den großen Themen seiner Zeit. Regelmäßig fuhr er nach London, besuchte Theateraufführungen (um sich dieses Vergnügen zu ermöglichen, verzichtete er auf den zweiten Weihegrad als Priester und blieb Diakon),114 las literarische und wissenschaftliche Neuerscheinungen. Sein besonderes Interesse galt Philosophie, Recht, Sprachen, Theologie und Naturwissenschaften – im Bereich der letzteren insbesondere Darwins Evolutionstheorie.115 Die Carroll-Forschung der letzten Jahre widmete sich denn auch intensiv der Frage nach dem Verhältnis seines Werks zur natural history des 19. Jahrhunderts; so sind in Bezug auf die zu Carrolls Zeit kontrovers debattierte Evolutionstheorie eine ganze Reihe Alice-Analysen erschienen.116 Wenn man Celia Browns

110Vgl.

The Selected Letters of Lewis Carroll 2015. Wakeling 1993–2007; siehe auch Wakelings Studie über Carrolls Netzwerk: Lewis Carroll and His Circle. London 2015. 112Vgl. Charlie Lovett: Lewis Carroll Among His Books. A Descriptive Catalogue of the Private Library of Charles L. Dodgson. Jefferson 2005. 113Vgl. Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München 2009. 114Cohen 2015, Pos. 3727. 115Beer 2016, 4. 116Vgl. Beer 2016; Laura White: The Alice Books and the Contested Ground of the Natural World. New York 2017; Melanie Keene: Science in wonderland: the scientific fairy tales of Victorian Britain. Oxford 2015 sowie das Kapitel „Lewis Carroll, scientific nonsense, and literary parody“ in Jessica Straleys Evolution and Imagination in Victorian Children’s Literature. Cambridge 2016, 86–117. 111Vgl.

2  Elemente, Hintergründe und Voraussetzungen

48

Alice hinter den Mythen. Der Sinn in Carrolls Nonsense hinzunimmt,117 scheint eine kulturwissenschaftliche, historisch kontextualisierende Perspektive das lange vorherrschende, vor allem durch den linguistic turn angeregte Verständnis von Carrolls Nonsense als sprachphilosophische Versuchsreihe an den Grenzen des Semiotischen abgelöst zu haben. Unsinn, so der Tenor der einschlägigen Studien, verwandelt sich in Sinn, wenn es uns nur gelingt, die Wissenswelten des viktorianischen Lesepublikums rekonstruieren zu können. Traditionell wurden Dodgson und Darwin wegen ihrer radikalen Angriffe auf das biedere viktorianische Weltbild als Parallelfiguren betrachtet, obwohl Dodgson, wie seine Tagebücher zeigen, als tief gläubiger, geradezu gottesfürchtiger Christ und geweihter Diakon der anglikanischen Kirche ein erklärter Gegner des Naturforschers war.118 Die Untersuchungen der letzten Jahre betonen nun, die Behauptung einer Verwandtschaft sei ein Kurzschluss, und lesen Carrolls Nonsense als Widerspruch gegen die Evolutionstheorie. Jessica Straley stellt die Alice-Bücher in den Kontext der pädagogischen Debatten um die Bedeutung von Naturwissenschaften für die Schulbildung von Kindern und betont, dass Dodgson sich auf die Seite des populären Autors Matthew Arnold geschlagen habe. Dieser amtete als Schools Inspector und machte sich für Literatur und Sprache im Unterricht stark.119 Parodie und Nonsense sieht Straley als eine Form des empowerment angesichts der Ohnmacht des Menschen als Objekt, als Spielball der Evolution: For Carroll, a noted skeptic of evolution, evolutionary theory destabilized the natural order, even our sense of self, but it offered no methods by which to manage the disturbance that it created. Parody, and to a lesser extent nonsense, in contrast, negotiates questions of change and continuity, language and meaning, and self and volition. Wonderland demonstrates that adeptness with language and literature recovers the human agency that new biological theories were threatening to take away.120

Auch wenn sich Straley nicht für das Irritationspotential der Alice-Bücher interessiert, macht ihre Interpretation einen wichtigen Punkt deutlich: nämlich, dass der Carrollsche Nonsense ohne Darwin nicht möglich gewesen wäre. In ihrer Studie Alice in Space versucht sich Gillian Beer an einer Darstellung von Dodgsons vernetzter Existenz und liest die Alice-Bücher als Knotenpunkt zeitgenössischer Diskurse.121 Beer, Autorin einer einflussreichen Studie über Darwins Evolutionstheorie und deren Einfluss auf das Erzählen des 19. Jahrhunderts,122 faltet die Wissenswelten auf, die in die Alice-Bücher einfließen und

117Brown,

Celia: Alice hinter den Mythen. Der Sinn in Carrolls Nonsense. Paderborn 2015. A. Dwight Culler: The Darwinian Revolution and Literary Form. In: George Levine William Madden (Hg.): The Art of Victorian Prose. Oxford 1968, 224–246. 119Straley 2016, 88. 120Ebd., 88. 121Beer 2016, 4. 122Vgl. Gillian Beer: Darwin’s Plots: Evolutionary Narrative in Darwin, George Eliot and Nineteenth-Century Fiction. Cambridge 1983. 118Vgl.

2.5 Alice-Diskurse

49

im Wunderland, losgelöst vom Kontext, durcheinandergewirbelt aufblitzen. Dabei, betont sie, behalte Carrolls Wissen über Mathematik und Logik, über Sprache und Pädagogik immer eine „schwindellerregende Präsenz“.123 Die Offenheit der ­Alice-Bücher, der Raum, den sie ihren Leserinnen und Lesern bieten und der zu vielfachen Interpretationen, Relektüren und Remediationen, auch gegen den Strich, einlädt, macht Beer an der Haltung der Protagonistin fest. Alices bodenständige und hoffnungsfrohe Art, ihre Neugier und ihre Bereitschaft, sich für alles, was ihr begegnet, seriös und mit Verve zu interessieren, lasse eine lichte, artifizielle, antipsychologische Atmosphäre entstehen, die dazu einlädt, den Raum zu füllen, der einem geboten wird.124 Soweit würde ich Gillian Beer zustimmen. Doch die Schatten, die das Licht von Nonsense und Humor wirft, die insistierende Abwesenheit von Erklärungen und Zusammenhängen, diese Atmosphäre der Fremdheit und des Artifiziellen, die Spannung zwischen Momenten der Präsenz und dem Grundgefühl, bei aller Sinnlichkeit von Sprache und Buchgestaltung das Wesentliche nicht in den Blick, nicht zu fassen zu bekommen, leisten einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Affektpoetik der Alice-Bücher. Sobald man sich fragt, wie sich ein kleines Mädchen ganz allein unter Verrückten fühlen muss, ohne die leiseste Ahnung, wie es jemals wieder nach Hause zurückfindet, tritt wie bei einem Vexierbild die andere Alice hervor: die Protagonistin einer Horrorgeschichte. Dieses Vexierbildhafte mag für den aussergewöhnlichen Klassikerstatus der Alice-Bücher mitverantwortlich sein, für die eigenartige Fremdheit der Texte und das Bedürfnis, darauf mit neuen Spielarten der Geschichte zu antworten; erzählend ans Licht zu holen, was im Dunkeln liegt. Mit der Alice-Maschine ist aber, wie gesagt, gerade nicht dieses für das Nachleben von Klassikern charakteristische Ausfüllen von Leerstellen gemeint,125 wie es in literarischen und filmischen Relektüren und Remediationen ebenso wie in der Fankultur zu beobachten ist, mit Fanfictions, die alles Unerzählte oder Angedeutete aufspüren, um es abzuschließen.126 Denn der Zugang zu Klassikern der Kinderliteratur und ihrem Nachleben in Literatur, audiovisuellen Medien und Fankultur ist im Grunde eine kulturwissenschaftliche Weiterentwicklung der Hermeneutik in der Tradition Hans-Georg Gadamers.127 Der Bezug zwischen den Texten verschiedener Epochen wird im Modell von Frage und Antwort gesehen. Dabei gilt es, die Frage zu rekonstruieren, auf die ein Text antwortet, und damit die ästhetische Erfahrung, die er ermöglicht. Es handelt sich dabei um ein Verfahren, das Christian Kiening wie folgt beschreibt:

123Beer 124Ebd.,

2016, 245. 249.

125Ebd. 126Vgl.

Jenkins 2006 und 2013; Cuntz-Leng 2015. Hans Georg Gadamer: Warhheit und Methode. Tübingen 1975 [1960]; Matthias Jung: Gadamers Rückwendung zur geschichtlichen Überlieferung. In: Ders.: Hermeneutik zur Einführung. Hamburg 2001, 116–135. 127Vgl.

50

2  Elemente, Hintergründe und Voraussetzungen Den Sinn eines Textes zu erschließen, heißt die Erwartungshorizonte des Textes, der Gattung und späterer Rezeptionssituationen zu erschließen, um so in einer sukzessiven Überbrückung des Zeitabstands, einer ‚Verschmelzung von Horizonten’, Dimensionen eines zugleich historischen wie gegenwärtigen Verstehens zu eröffnen.128

Auf den ersten Blick scheinen Alice-Relektüren und Remediationen dem Modell von Frage und Antwort zu folgen: die angestrengte Heiterkeit des Nonsense und die Überbelichtung der scheinbar unverbundenen Oberflächenphänomene in den Alice-Büchern lenken den Blick auf die Schatten, die andere Seite des Vexierbilds, die blinde Rückseite des Spiegels und provozieren dergestalt unheimliche Versionen, wie wir sie in der Literatur bei Thomas Ligotti oder im Film bei Jan Švankmajer finden. Meine These ist nun, dass die Alice-Maschine mindestens so einflussreich ist wie die hermeneutischen Adaptionen und Remediatisierungen, dass sie aber das Vexierbild, die Kippfigur, nicht auf der einen oder anderen Seite fixieren will. Was sie interessiert, ist der Kippmoment, aus dem sie einen schwankenden, zaudernden, zitternden Hummertanz macht: „Will you, won’t you, will you, won’t you, will you join the dance“ – und so einen Reflexionsraum des widerständigen Zauderns öffnet. Produkte der Alice-Maschine versuchen nicht, die Geschichte von Alice neu oder anders zu erzählen; sie beziehen sich auch nicht auf repräsentierte oder eben nicht repräsentierte Inhalte, wollen der Kette der Neuinterpretationen kein neues Glied hinzufügen, lassen sich nicht auf einen hermeneutischen Zirkel ein. Es wäre auch falsch zu behaupten, dass sich in der Alice-Maschine die Poetik von Carrolls Büchern reproduziere, denn die Alice-Maschine interessiert sich nicht für die Poetik als eine Matrix des Originals, sondern für die dynamische Poiesis einer gestaltenden Rezeption in den Künsten. Sie funktioniert nicht nach den Gesetzmäßigkeiten der Intertextualität, sondern in der Art einer Genremodalität, wie sie neuere filmwissenschaftliche Genretheorien formulieren.129 Das Bild, das sich mit der Alice-Maschine verbindet, ist also nicht das Palimpsest und auch nicht die Serie, obwohl Wiederholung und Variation durchaus eine Rolle spielen. Zentral sind dagegen zwei Konzepte, denen ich detaillierter nachgehen werde: Poiesis als das poetische Machen im Akt der Rezeption,130 und Materialität als die Gestaltung des Buches in seiner Gegenständlichkeit.131 Die Alice-Maschine lässt uns die Figurationen des Nonsense, des Grotesken und der Parodie weder als eigentliche Ermächtigung noch als passiv erlebte Ohnmacht erfahren. Nicht wir kontrollieren die Sprache, auch wenn Humpty

128Christian Kiening: Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur. Frankfurt a. M. 2003, 11. 129Vgl. Christine Gledhill: Rethinking Genre. London 2000; Kappelhoff 2016. 130Vgl. Hermann Kappelhoff: Kognition und Reflexion. Zur Theorie filmischen Denkens. Berlin 2018. 131Vgl. Carlos Spoerhase: Linie, Fläche, Raum. Die drei Dimensionen des Buches. Göttingen 2016.

2.5 Alice-Diskurse

51

Dumpty, zumindest für sich selbst, das Gegenteil behauptet;132 die Sprache macht mit uns, was sie will. Doch, wie Alice immer wieder neu unter Beweis stellt, gibt sie uns die Möglichkeit, ins Spiel einzusteigen und bei der Poiesis der N ­ onsense-Produktion mitzumachen. Gerade weil niemand Herr und Meister ist, lässt sich die Grenzerfahrung in ihrer zugleich befreienden und verstörenden Dimension genießen.

Frau-Werden Carrolls Texte sind vor dem Hintergrund eines epistemologischen Wandels zu verstehen, der die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts durch den Siegeszug des naturwissenschaftlichen Denkens prägte. Mit der Umwälzung der Wissensordnungen ging ein medialer Wandel einher, den Klaus Müller-Wille im Zusammenhang mit Hans Christian Andersens Werk nachzeichnet: Die Materialität des Buches rückt im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks in den Vordergrund.133 Carroll entwirft nicht nur eine Poetik des Buches als Gegenstand, der seine Leserinnen und Leser in Spiele verwickelt und dabei die Grenze der Erkenntnis erfahren lässt, sondern er entfaltet die Poiesis des Unsinn-Lesens an der Figur von Alice, die eben nicht nur als „dream child“134, sondern als Kind ihrer Zeit, als zeitgenössische Leserin, durch das Wunderland und die Welt hinter dem Spiegel irrt. Der epistemologische Charakter der Alice-Maschine zeigt sich bereits in Carrolls Büchern und dient audiovisuellen Medien gerade deshalb als Referenzpunkt, weil sich das Kino, aber auch die ­TV-Serie seit den 1990er-Jahren als Produkt einer epistemischen Moderne verstehen lässt.135 Die Lektüre der Alice-Bücher als Geschichte einer weiblichen Ermächtigung, wie sie häufig praktiziert wird und an deren Ende ein stabiles weibliches Subjekt steht, verstellt letztlich den Blick auf die Vielschichtigkeit und Unabschließbarkeit der Texte. Solche Deutungen unterliegen derselben Bewegung wie diejenigen Adaptionen, die nach einer einsinnigen, runden Interpretation streben. Eingeschränkt gilt das sogar für die deleuzianisch-feministische Lesart von Patricia Pisters, die ich für eine der interessantesten halte. Deleuzes Interpretation, dass

132„‚When I use a word,‘ Humpty Dumpty said, in rather a scornful tone, ‚it means just what I choose it to mean – neither more nor less.‘ ‚The question is,‘ said Alice, ‚whether you can make words mean so many different things.‘ ‚The question is,‘ said Humpty Dumpty, ‚which is to be master – that’s all.“ TLG, 161. 133Müller-Wille 2017, 35. 134Im Widmungsgedicht, das AAW vorangestellt ist, wird Alice als „The dream-child moving through a land/ Of wonders wild and new“ bezeichnet. AAW, 5. 135Oliver Fahle: Im Diesseits der Narration. Zur Ästhetik der Fernsehserie. In: Frank Kelleter (Hg.): Populäre Serialität. Narration – Evolution – Distinktion. Zum seriellen Erzählen seit dem 19. Jahrhundert. Bielefeld 2012, 169–182, hier 171.

52

2  Elemente, Hintergründe und Voraussetzungen

Alice in ihren Wachstums- und Schrumpfbewegungen das reine Werden verkörpert, extrapoliert Pisters in Richtung auf die Utopie des devenir femme, des Frau-Werdens.136 Sie verbindet es mit Donna Haraways Idee einer CyborgAlice, die über eine besondere Aufmerksamkeit für das mikroskopisch Kleine, für unsichtbare Zusammenhänge und Verbindungen verfügt. Nicht Identität und Herkunft sind die Bezugspunkte einer Cyborg-Alice, sondern die Politiken des Werdens.137 Pisters verfolgt die Spur der Cyborg-Alice, die weibliche FilmProtagonistinnen seit den 1970er-Jahren geprägt haben, in Wim Wenders’ alice in den städten (BRD 1974), Marguerite Duras’ aurélia steiner-Filmen (F 1979/80), Sally Potters Adaption von Virginia Woolfs orlando (GB 1992) und insbesondere in Lars von Triers ­„Goldenheart“-Trilogie138, und arbeitet heraus, wie die Filme das Frau-Werden gerade in ihrer Inszenierung von Zeitlichkeit gestalten. Je stärker die Technologie unser Umfeld prägt, folgert Pisters, umso grösser werde der Reiz, unsere Gegenwart und Zukunft durch Alice zu verstehen. In Carrolls Paradoxa seien neurowissenschaftliche Konzepte avant la lettre angelegt, ebenso wie sich die Möglichkeit auflösender Übergänge zwischen Mensch und Maschine, Mensch und Medien andeute.139 Das Befreiende an der Figur von Alice sei, [that she] discovers that the rules and good manners she has learned do not serve her at all in a world full of paradoxic becomings; but she remains at a distance from that world, observing everything in wonder.140

In ihrer Eigenschaft als Cyborg öffne uns Alice die Augen für die unsichtbaren Dimensionen der Welt und sei, im Kino des späten 20. Jahrhunderts, an Prozessen des Frau-Werdens beteiligt. Dabei seien die weiblichen Protagonistinnen dieses Kinos in vielerlei Hinsicht paradoxe Figuren, was sie zu wegweisenden Modellen für ein zeitgenössisches feministisches Denken mache: They are all examples of the effects and affects of becoming-woman. They share the paradoxic fact that they all initiate a process of becoming by entering a zone of proximity of the historically defined subject position of women, with the effect of precisely criticinzing and breaking away from traditionally defined segments and molar systems. In this respect, I agree with Donna Haraway and with Jerry Aline Flieger that paradox is what we will have to come to terms with if we want to make a rhizomatic connection between feminism and Deleuze, feminism and many contemporary films, and feminism and contemporary society.141

Die feministische Spur, die Pisters verfolgt, verweist auf ein zentrales Element, das in der Alice-Maschine wirksam ist und das über den feministischen Ansatz

136Vgl. Patricia Pisters: The Matrix of Visual Culture. Working with Deleuze in Film Theory. Stanford 2003, 106–140. 137Ebd., 118–119. 138breaking the waves (DK u. a. 1996) idioten (DK u. a. 1998), dancer in the dark (DK u. a. 2000). 139Pisters 2003, 128. 140Ebd., 130. 141Ebd., 140.

2.6  Karten, Genres, Machinen

53

hinausreicht, nämlich das in alle zeitlichen und räumlichen Richtungen offene, nicht kausallogisch strukturierte Werden. Was bei der technologieaffinen und zukunftsorientierten Lektüre nicht untergehen darf, ist das romantische Element in der Alice-Maschine: die melancholische Sehnsucht nach dem immer schon Verlorenen, dem Paradies der Vorzeit, von der im Zusammenhang mit dem Wirken der Alice-Maschine in Murakamis Die Ermordung des Commendatore die Rede war. Sie verschmilzt nicht mit der epistemisch-modernen; die eine bleibt als Widerspruch der anderen präsent. Die Alice-Bücher machen dabei ein komplexes kulturtheoretisches Spannungsfeld sichtbar: zwischen der Sehnsucht nach einer Welt, in der die göttliche Ordnung unbestritten herrscht und dem Menschen dabei Zonen des produktiven, wenn nicht sogar mystischen Nicht-Verstehens zuweist, und der Neugier auf eine neue Wissensordnung, zu deren Verständnis es keinen Schlüssel zu geben scheint. Paradoxerweise löst Alice ihre Probleme durchaus mit Hilfe ihres elementaren, halb- oder gar nicht verdauten Schulwissens, das ihr gerade in seiner lustvollen Verdrehtheit hilft, im Wunderland zu navigieren. Auf einen Moment der Ermächtigung am Ende von Alice’s Adventures in Wonderland möchte ich aber doch zu sprechen kommen. Alice entgeht der selbstherrlichen Gerichtsverhandlung und dem Todesurteil der Roten Königin – „‚Off with her head!‘ the Queen shouted at the top of her voice“142 –, indem sie das Spiel einfach verlässt. Dadurch bewerkstelligt sie, dass sie die Figuren als das bezeichnet, was sie ausserhalb des Spiels sind: „You’re nothing but a pack of cards!“143 Weder ihre Weiblichkeit noch ihre Menschlichkeit retten Alice aus der brenzligen Situation, sondern ihr Bewusstsein, sich in einem Spiel zu befinden – und in einem Medium, das ohne die Involviertheit der Rezipientin gar nicht existieren würde.

2.6 Karten, Genres, Machinen Cross-mapping Das Konzept der Alice-Maschine hat diverse kulturanalytische Vorläufer. Am Anfang solcher Versuche steht wohl Aby Warburgs Pathosformel, die zirkulierende Affekte – Uraffekte – die in der visuellen Kultur in Serien dynamischer Bewegungsfigurationen ihren Ausdruck finden.144

142AAW,

95.

143Ebd. 144Vgl. Aby Warburg: Dürer und die italienische Antike. In: Ders.: Werke in einem Band. Auf der Grundlage der Manuskripte und Handexemplare Hg. und kommentiert von Martin Treml u. a. Berlin 2010, 176–184; Kappelhoff 2016, 6.

54

2  Elemente, Hintergründe und Voraussetzungen

Bereits erwähnt wurde Patricia Pisters’ produktive Cyborg Alice sowie das Zaudern als Schatten einer die Tat idealisierenden Kultur, wie es Joseph Vogl herausgearbeitet hat. Pisters‘ deleuzianisch-feministischer Zugang lässt sich als ein Element der Maschine integrieren; Vogls Zauder-Funktion allerdings greift viel weiter aus in eine Theorie der kulturellen Zirkulation von Figurationen. Ähnlich verhält es sich mit Elisabeth Bronfens Konzept des cross-mapping, das ebenfalls eine ideelle Verwandtschaft mit der Alice-Maschine aufweist. Bronfen geht vom Konzept der Umschrift als kultureller Kraft aus, „die die ästhetischen Werke den Tod ihrer Autoren und das Ableben der Kultur, aus der sie entstammen, überleben lässt“.145 Das Interpretationsverfahren, das es erlaubt, Denkfiguren quer durch Zeiten und Genres hindurch zu analysieren und aufeinander zu beziehen, nennt sie ­cross-mapping: Ich bezeichne damit das Aufeinanderlagern oder Kartographieren von Denkfiguren. Bei solch einer Lektüre sollen Ähnlichkeiten zwischen ästhetischen Werken aufgezeigt und festgehalten werden, für die keine eindeutigen intertextuellen Beziehungen im Sinne eines explizit thematisierten Einflusses festgemacht werden können. Dabei geht es auch um die Transformation, die sich durch die Bewegung, von einer historischen Zeit in eine andere, ergibt, und ebenso auch um die Bewegung von einem medialen Diskurs in einen anderen. Mein Interesse an dieser Art Überlagerung von Texten entstammt einem Wunsch, das zeitgenössische Nachleben bestimmter Denkfiguren aufzuspüren, jedoch nicht im klassischen Sinne des komparatistischen Textvergleiches. Dabei geht es nicht nur um die Frage, warum eine Denkfigur überlebt, sondern auch, welchen Transfer in ein anderes Medium sie im Laufe dieses Nachwirkens erfahren hat. Dabei lässt sich sowohl das Zeitgenössische eines historischen Textes erkennen wie auch die Brisanz der Umschrift. Denn es zwingt einen zu fragen, warum eine bestimmte Refiguration im Laufe dieses kulturellen Transfers unternommen wurde, bzw. was an der Refiguration für die Frage nach zeitgenössischer Wirkungskraft wichtig ist. Vom medialen Überleben bestimmter Denkfiguren auszugehen erlaubt einem auch weniger gängige Entwicklungsbögen innerhalb unserer Kulturgeschichte nachzuziehen, Akzente anders zu setzen, und somit Figuren – personal wie rhetorisch – in Texten zu entschlüsseln, die sonst keine Beachtung finden würden.146

Um Refiguration und mediales Überleben geht es auch in dieser Studie; auch sie will einen Beitrag zur Theorie zirkulierender Formen in der Kultur leisten. Von einem verwandten Interesse geleitet, möchte ich wie Bronfen die Wege verfolgen, die Denkfiguren durch unterschiedliche Genres nehmen. Methodisch möchte ich allerdings einen anderen Akzent setzen, indem ich die Analyse von Figurationen mit einer dynamischen Genretheorie verbinde. Sie erlaubt es mir, die Verbindung von Figurationen und ihren Konstellationen mit Affektpoetiken präzise zu beschreiben.

145Elisabeth Bronfen: Liebestod und Femme fatale. Der Austausch sozialer Energien zwischen Oper, Literatur und Film. Frankfurt a. M. 2004, 11. 146Ebd.

2.6  Karten, Genres, Machinen

55

Genres als Medien geteilter Weltwahrnehmung Ich habe bereits erwähnt, dass die Alice-Bücher unter dem Einfluss verschiedener Genres entstanden sind, habe aber auch betont, dass eine Beschreibung dessen, was gerne Genrehybridität genannt wird, über diese Feststellung hinaus kaum neue Erkenntnisse bringt. Dennoch ist Genre für die Alice-Maschine als transmediales, seit über 150 Jahren aktives Vehikel ein zentraler Begriff. Nicht im Sinne eines taxonomischen Auseinanderdröselns generischer Eigenheiten und Mischverhältnisse, sondern im Sinne einer Bezugnahme auf die Geschichte dynamischer Genremodalitäten. Dazu möchte ich Hermann Kappelhoffs filmwissenschaftliche Genretheorie, die er in seiner Studie über den Kriegsfilm entwickelt hat, für die Alice-Maschine fruchtbar machen, um sie über die Materialität des Medialen als ein transmediales Phänomen beschreiben zu können. Kappelhoff leitet Genres aus generischen Formen des poetischen Machens selbst her und nicht aus den Taxonomien konventioneller Ordnungssysteme.147 In dieser Perspektive sind Genres als Medien geteilter Weltwahrnehmung zu verstehen.148 Ausgangspunkt ist Stanley Cavells genretheoretische Argumentation, die unter anderem an den Frauenfiguren des Melodramas entwickelt wurde. Für Cavell sind Filme Explorationen der sozial und kulturell geprägten Erscheinungsweisen unseres Zusammenlebens.149 Darin bringen sie die Individualität als „particular ways of inhabiting a social role“150 zur Geltung und verfolgen den Zweck, neue Individualitäten zu entdecken: „Neue Individualitäten aber lassen Zyklen von Filmen entstehen, in denen das Kino sich in immer neuen Genres ausdifferenziert.“151 Von zentraler Bedeutung für Kappelhoffs Ansatz ist aber auch Warburgs Pathosformel.152 Kappelhoff versteht die wiederkehrenden, sich wandelnden Ausdrucksformeln im Film als zirkulierende Affekte, die sich als generische Formen eines kollektiven Empfindens begreifen lassen, die sich in Serien von Expressivitäten manifestieren.153 Das Melodrama rekonstruiert Kappelhoff als sentimentales Geniessen,154 und im Hollywood-Kriegsfilm sieht er eine doppelsinnige Pathosformel am Werk, die

147Kappelhoff

2016, 82. ebd.,, 80–82. 149Ebd., 79. 150Stanley Cavell: The World Viewed. Reflections on the Ontology of Film. Cambridge/M./ London 1979, 33. 151Kappelhoff 2016, 80. 152Vgl. Warburg 2010. 153Kappelhoff 2016, 6. 154Vgl. Hermann Kappelhoff: Matrix der Gefühle. Berlin 2004. 148Vgl.

2  Elemente, Hintergründe und Voraussetzungen

56

einen tiefen moralischen Zwiespalt artikuliert – zwischen Empörung und andachtsvollem Erinnern, zwischen Anklage und Pathos des Gedenkens an die gefallenen Soldaten.155 Die Pathosformel des ­shell-shocked-face – das Gesicht des Soldaten auf der berühmten Fotografie Don McCullins aus dem Vietnamkrieg – beschreibt er als einen neuen Typ von Subjektivierung. Wobei sich das Unvereinbare – der Schmerz des einzelnen Soldaten und das Interesse der Gemeinschaft – in einem Bild verdichtet: Zum einen ist es die Opferimago, in der die Schrecken, die Agonie des Soldaten zum Sujet einer sinnträchtigen Ikone des Leidens ausgeformt worden sind. Zum anderen stellt es ein filmisches Bild dar, das diese Leiden als nichts anderes zu bezeugen sucht, denn eben als ein nacktes physisches Leiden; es ist ein Zeugnis vernichteten menschlichen Lebens, dem kein Sinn zugeschrieben werden kann. Zum einen also wird dieses Gesicht zum Sinnbild, das auf die Mythologie der Gemeinschaft verweist, die im Opfer des Einzelnen in ihrem Wert sich bestätigt sieht. Zum anderen verweist es auf die schier unermessliche Menge an fotografischen und filmischen Bildern, in denen die Gewaltopfer der Kriege und Massenmorde des vergangenen Jahrhunderts dokumentiert sind.156

Das zwiespältige Leidensbild des Soldaten artikuliert gemäß Kappelhoff eine Widersprüchlichkeit, die dadurch an die Grundfeste der politischen Kultur Amerikas rührt, als die Vernichtung individuellen Lebens den zentralen Wert verletzt, der den Zweck der politischen Gemeinschaft selbst begründet.157 Die Pathosformel lässt sich mithin als generische Form fassen, die auf einen konstitutiven Konflikt des Gemeinwesens zurückweist. Paradoxerweise wird sie aber überhaupt erst in einer Serie von Filmen ausgefaltet – was wiederum die Voraussetzung dafür ist, dass sie überhaupt den Status einer gemeinschaftlich geteilten Wirklichkeit gewinnt.158 Für das Genrekino im Allgemeinen gilt, wie Kappelhoff betont, dass das Auftauchen neuer Individualitäten immer einhergeht mit dem aufbrechenden Bewusstsein von den Grenzen des Gemeinsinns.159 Die Maschinen-Metapher spielt in Kappelhoffs Genretheorie durchaus eine Rolle, wenn auch in einer anderen Weise. Er bezieht sich nämlich auf Christine Gledhills dynamisches Verständnis des Melodramas als „genre-producing machine“.160 Damit ist eine kulturell konditionierte Weise der Wahrnehmung und der ästhetischen Zirkulation gemeint, wobei sich das Melodramatische in dieser Perspektive als ein basaler Modus der westlichen Unterhaltungskultur erweise, der die unterschiedlichsten Genresysteme und Genres strukturieren könne.161 Kappelhoff schließt sich Gledhills These, das Melodramatische sei der

155Kappelhoff

2016, 5.

156Ebd. 157Ebd. 158Ebd.,

80.

159Ebd. 160Gledhill

2000, 227. 2016, 98.

161Kappelhoff

2.6  Karten, Genres, Machinen

57

ästhetische Erfahrungsmodus moderner Unterhaltungskultur schlechthin, zwar nicht an, folgt ihr aber insofern, als sie in ihrer Auseinandersetzung mit dem Melodrama ein grundlegend neues Verständnis moderner Genrepoetik skizziere, die der taxonomischen Ordnung konventioneller Genretheorie diametral entgegengesetzt sei. Ziele es doch genau auf die historische Dynamik des genrepoetischen Machens, welche der taxonomischen Ordnung notwendig entgehen müsse:162 Tatsächlich wird im Melodrama der kulturgeschichtliche Bruch zwischen der regelpoetischen Tradition höfischer Kultur und der modernen Unterhaltungskultur greifbar. Das generische Prinzip des melodramatischen Modus bezeichnet in seinem Gegensatz zum taxonomischen Prinzip der regelpoetischen Ordnungen präzise die historische Sollbruchstelle.163

Mit der neuen Konfiguration des Verhältnisses von Poetik und Politik könne die Pluralität individuierter Perspektiven und Empfindungsweisen in Gestalt heterogener Rede- und Ausdrucksmodi auftauchen, die alle auf ein- und derselben Darstellungsebene verortet seien: „Im Prinzip sind damit Welten denkbar und darstellbar geworden, die durch eine vielstimmige, gleichberechtigte Rede strukturiert werden.“164 Also auch Welten, in denen die Stimme ansonsten stummer, dekorativ in ihren Kleidchen knicksender Mädchen zu hören ist. Was die Alice-Maschine in ihrer Zirkulation durch die Populärkultur macht, lässt sich weder als generischer Modus noch als eine Pathosformel beschreiben, dafür ist die Maschine zu abstrakt, in sich zu heterogen und zu disjunktiv. Dennoch folgt sie, als eine Konstellation von Figurationen, dem Prinzip der generischen Dynamik, die Kappelhoff entwirft. Die Alice-Maschine ist kein eigenes Genre, sondern lässt sich als eine Kombination generischer Modi165 beschreiben, die gemeinsam auftreten und für eine spezifische Affektpoetik der Unruhe verantwortlich sind. Kappelhoffs Genretheorie erlaubt es, die Konstellation von Figurationen nicht einfach mit rhetorischen und philosophischen Begriffen als abstraktes Arrangement zu begreifen, sondern als dynamische Maschine, die ihre Leserinnen und Zuschauer affiziert. Kappelhoff unterscheidet streng zwischen der ästhetischen Erfahrung von Lektüre auf der einen und von audiovisuellen Bildern auf der anderen Seite, wenn er festhält: „Die verschiedenen

162Ebd.,

99. 100. 164Ebd., 101. 165Christine Gledhill bezeichnet Modi als „spezifische Muster ästhetischer Organisation medialer Strukturen, in denen unterschiedliche Erfahrungsweisen von Raum und Zeit, von Körpern, Sprachspielen und sozialen Kräfteverhältnissen realisiert werden und eine gewisse Stabilität ausbilden“ (zit. nach Kappelhoff 2016, 98). „The notion of modality, like register in sociolinguistics, defines a specific mode of asthetic articulation adaptable across a range of genres, across decades, and across national cultures. It provides the genre system with a mechanism of ‚double articulation‘, capable of generating specific and distinctively different generic formulae in particular historical conjunctures, while also providing a medium of interchange and overlap between genres.“ Gledhill 2000, 229. 163Ebd.,

2  Elemente, Hintergründe und Voraussetzungen

58

Künste und Medien bezeichnen zunächst einmal nichts anderes als eben unterschiedliche Modi, sich auf die Welt zu beziehen.“166 Auf diese Unterschiede und auf die Möglichkeit einer transmedialen Perspektive der dynamischen Genretheorie werde ich in Abschn. 5.2, Die Poiesis des ­ Unsinn-Lesens, ausführlich zurückkommen. Der Maschine liegt die in den Alice-Büchern angelegte sprachphilosophische Erkenntnis zugrunde, dass wir uns, wenn wir miteinander reden, auf kein gesichertes Wissen um die Beschaffenheit der Realität stützen können; dass wir uns im Gegenteil eher fragen müssen, wie es gelingt, uns auf eine gemeinsame Welt zu beziehen, die von Situation zu Situation neu zu aktualisieren ist – und wie sich eine konsistente gemeinsame Welt überhaupt herstellen lässt.167 Kappelhoffs Nachdenken über das Genrekino ermöglicht, auch wenn er dezidiert von audiovisuellen Bildern und nicht von Literatur spricht, ein neues, auf die komplexen Affektpoetiken zielendes Verständnis der Alice-Bücher: Jede Bedeutungsgebung, jedes Verstehen des Films gründet immer schon in der Verkopplung des filmischen Bildes mit dem Wahrnehmungskörper der Zuschauer im audiovisuellen Rhythmus. Das wird gerade dort greifbar, wo die Spannungsdramaturgie sich auf die Abläufe der dargestellten Handlung bezieht. Noch der Thrill und der Suspense gehen aus dem Rhythmus der Wandlungen des Bildraums und keineswegs aus den repräsentierten Handlungsverläufen hervor.168

Maschinen Gilles Deleuze bringt es in den Eingangssätzen zu Logik des Sinns (1993; das französische Original erschien 1969 unter dem Titel Logique du sense) auf den Punkt: Das Werk Lewis Carroll enthält alles, um dem zeitgenössischen Leser zu gefallen: Bücher für Kinder, besonders für kleine Mädchen; herrliche, ungewöhnliche, esoterische Wörter; Interpretationsraster, Kodes und Dekodierungen; Zeichnungen und Photos; tiefe psychoanalytische Einsichten, einen beispielhaften logischen und linguistischen Formalismus. Und über dieses zeitgemäße Vergnügen hinaus noch etwas anderes, ein Wechselspiel von Sinn und Unsinn [frz. sens und non-sens, wie der Übersetzer in der Fussnote anmerkt, CL], einen Chaos-Kosmos.169

Bemerkenswert an Deleuzes Beschreibung von Carrolls Büchern ist die Betonung des zeitgemässen Vergnügens – wobei offensichtlich nicht die viktorianische Zeitgenossenschaft, sondern jene der Leserinnen und Leser im 20. Jahrhundert gemeint ist, in den politisch und philosophisch bewegten späten 1960er-Jahren.

166Kappelhoff

2016, 82. ­Jean-Jacques Lecercle: Philosophy of Nonsense. The intuitions of Victorian Nonsense Literature. New York 1994. 168Kappelhoff 2016, 132. 169Deleuze 1993, 13. 167Vgl.

2.6  Karten, Genres, Machinen

59

Davon hebt sich die Zeitlosigkeit des Wechselspiels zwischen Sinn und Unsinn ab. Der Eindruck eines „Chaos-Kosmos“ entsteht aber gerade auch durch die disjunktiven Konjunktionen der Elemente, die den „zeitgenössischen“ Leserinnen und Lesern gefallen: Interpretationsraster und Kodes, die keinen Schlüssel für die Poetik der Texte bieten, sondern geradezu arabesk auf der Oberfläche arrangiert sind. Man könnte auf die Idee kommen, diese Organisation mit dem Konzept der Assemblage von Deleuze und Guattari fassen zu wollen, und tatsächlich lässt sich beim Heterogenen, Disjunktivischen eine Entsprechung finden. Doch die Alice-Maschine ist dynamisch und produktiv. Ohne ein Genre zu sein oder ein generischer Modus, ohne Bindung an eine Figur oder eine Handlung, greift sie in Stoffe und in Genremodalitäten ein, die nach Unruhe streben, um ihnen den Takt vorzugeben. Was die Maschine antreibt, sind Probleme, Spannungen, Konflikte, die in allem, was im Arsenal ästhetischer Figurationen vorhanden ist, ihre Gestaltung finden können. Die Maschine ist eine Metapher, mit der sich das Hin- und Her, das Oszillieren, das Zaudern, diese unruhig flirrende Atmosphäre der Alice-Bücher begreifen lässt. Im Anti-Oedipus (1972) beschreiben Deleuze und Guattari die Maschine als Verblüffungsapparatur und Verwirreinrichtung,170 und das trifft auch für die AliceMaschine zu. Ihre disjunktiven Elemente hat Deleuze bereits 1969 in Logique du sens analysiert, in Serien von Sinnparadoxa, welche die Oberfläche organisieren und somit eine Theorie des Sinns bilden: Wir stellen Serien von Paradoxa vor, die die Theorie des Sinns bilden. Dass diese Theorie sich nicht von Paradoxa trennen lässt, ist ganz einfach zu erklären: Der Sinn ist eine ­nicht-existierende Entität und unterhält sogar ganz besondere Beziehungen zum Unsinn. Die Sonderstellung Lewis Carrolls beruht darauf, dass er die erste große Untersuchung, die erste große Inszenierung der Sinnparadoxa vornimmt, indem er sie entweder sammelt oder erneuert, entweder erfindet oder umarbeitet.171

Die Oberfläche, das ist Deleuzes unhintergehbare Erkenntnis zu den ­Alice-Büchern, ist der eigentliche Schauplatz von Alices Bewegungen, Handlungen und Transformationen, der vermessen wird und auf dem sich die Logik des Sinns befindet.172 Gemäß Deleuze erobert Alice nach und nach Oberflächen, nach einem Kampf in den Tiefen: Bei Lewis Carroll beginnt alles mit einem schrecklichen Kampf. Es ist ein Kampf mit den Tiefen: Dinge bersten oder machen uns bersten, Schachteln sind zu klein für ihren Inhalt, Speisen sind giftig oder verdorben, Gedärm dehnt sich, Ungeheuer schnappen nach uns. Ein kleiner Bruder bedient sich seines kleinen Bruders als Köder. Die Körper mischen sich, alles mischt sich in einer Art Kannibalismus, der Essen und Exkrement vereint. Selbst die Wörter werden gegessen. Dies ist das Gebiet von Aktion und Passion der Körper: Dinge und Wörter verstreuen sich in alle Richtungen oder verschmelzen umgekehrt zu unzerlegbaren Blöcken. Alles ist schrecklich in der Tiefe, alles ist Unsinn.173

170Deleuze/Guattari: Anti-Oedipus. 171Deleuze

1993, 13. 172Ebd., 24. 173Deleuze 2000, 35.

Kapitalismus und Schizophrenie I. Frankfurt a. M. 1977, 8–9.

2  Elemente, Hintergründe und Voraussetzungen

60

An der Oberfläche schafft Alice Flächen; die Bohr- und Schürfbewegungen weichen „sanften lateralen Gleitbewegungen“. Im blossen Dahingleiten kann man auf die andere Seite gelangen, indem man wie ein Linkshänder vorgeht und indem man die Seiten verkehrt: Die von Carroll beschriebene Börse des Fortunatus ist das Möbiusband, auf dem ein und dieselbe Linie beide Seiten durchläuft. Die Mathematik ist heilsam, weil sie Flächen einrichtet und eine Welt befriedet, deren Gemische in der Tiefe schrecklich wären: Caroll als Mathematiker oder Carroll als Photograph. Aber die Welt der Tiefe rumort noch unter der Oberfläche und droht, sie zu durchstoßen: Selbst ausgebreitet und auseinandergefaltet suchen uns die Ungeheuer heim.174

Der Ausdruck, den die Ungeheuer auf der Oberfläche finden, liegt in der Sprache, im Exekutionsbefehl der Roten Königin, der da lautet: „Off with her head!“175 Doch nicht in der Exekution selbst, die ja niemals exekutiert wird, artikuliert sich das Grauen, sondern gerade im Abgrund zwischen der Performanz des Befehls und seiner Folgenlosigkeit. Einem Abgrund, der sich niemals schließt und der als unkalkulierbare Drohung präsent bleibt – wie das Grinsen ohne Katze. Ganz wesentlich für die Alice-Maschine ist die Materialität und Medialität der Bücher – und später der audiovisuellen Bilder –, in der sie wirkt. Deleuze und Guattari, aus ihrer Beschäftigung mit Avantgarde-Literatur heraus, beschreiben in der Einleitung zu Tausend Plateaus das Buch, das nicht klassisch hermeneutisch gelesen wird, als Maschine: Man frage nie, was ein Buch sagen will, ob es nun Signifikat oder Signifikant ist; man soll in einem Buch nicht etwas verstehen, sondern sich vielmehr fragen, womit es funktioniert, in Verbindung mit was es Intensitäten eindringen läßt oder nicht, in welche Mannigfaltigkeiten es seine eigene einführt und verwandelt, mit welchen organlosen Körpern es seinen eigenen konvergieren lässt. Ein Buch existiert nur durch das und in dem, was ihm äußerlich ist. Wenn das Buch selber also eine kleine Maschine ist, in welchem meßbaren Verhältnis steht dann diese literarische Maschine zu einer Kriegsmaschine, einer Liebesmaschine, einer Revolutionsmaschine etc. – und zu einer abstrakten Maschine, die sie alle erfaßt? Uns ist vorgeworfen worden, dass wir uns zu oft auf Literaten berufen. Aber beim Schreiben braucht man nur zu wissen, an welche andere Maschine die literarische Maschine angeschlossen werden kann und muß, um zu funktionieren. Kleist und eine verrückte Kriegsmaschine, Kafka und eine unerhört bürokratische Maschine… […].176

Die Alice-Maschine ist nicht dazu da, ein Produkt herzustellen, das als solches einen eigenen Zweck erfüllt, sondern um den Prozess immer neu ablaufen zu lassen; um seiner selbst Willen. Ihr Kern gleicht der most useless machine, deren einzige Funktion darin besteht, sich selbst auszuschalten. Sie ist zugleich Antagonistin und Verbündete von Chief Gloria Burgle, als sie in der dritten Staffel von fargo (2014–) nach Hollywood fliegt, um dort nach den Hintergründen für

174Ebd. 175AAW,

72.

176Deleuze/Guattari

1992, 13.

2.6  Karten, Genres, Machinen

61

einen Mord zu forschen. In ihrem Hotelzimmer erwartet sie, in Form einer kleinen Holzschachtel, die Unsinnige Maschine: Gloria schaltet sie ein, und die Maschine schaltet sich wieder aus. Ein, aus, ein aus – will you, won’t you, will you won’t you… Das wars dann schon mit dem Tanz. Gloria Burgle als Alice im Land der medial sich überlagernden und sich geisterhaft ineinander spiegelnden Bildern ist Abschn. 8.3 gewidmet. Der Zugang über die Alice-Maschine verhindert, dass ich sämtliche Begegnungen, Dialoge und Wortspiele der Alice-Bücher in der Analyse von ihrer unsinnigen, absurden, grotesken, verstörenden Energie befreie, indem ich sie in die passenden diskursgeschichtlichen Zusammenhänge stelle. Weit aussagekräftiger als einzelne Deutungsversuche scheint mir die Erkenntnis, dass die Alice-Bücher zwar dazu einladen, das große Rätsel zu lösen, jede Interpretation aber ins Leere laufen lassen. Hier zeigt sich wiederum das Maschinenhafte an der Funktionsweise der Texte: Es spielt sich ein Verfahren ab, das um seiner selbst willen laufen muss; das Produkt, das dabei herauskommt, ist nur dazu da, die Maschine von Neuem anzuwerfen. Die Alice-Maschine hält einen paradoxen Prozess am Laufen, sie ist zugleich hyperkonnektiv und ohne Zusammenhang – und beide dieser Pole neigen zum Unsinn. Die Hyperkonnektivität bringt unter anderem die berühmten Kofferwörter hervor, die Zusammenhanglosigkeit dagegen Non Sequiturs aller Art. Mit dem Konzept des Alice-Maschine schlage ich unter anderem auch eine Alternative zur Reduktion der Alice-Bücher auf die Kategorie des Nonsense vor. Ursprünglich war mein Plan, die anglistischen Ansätze, die sich mit dem Genre des Nonsense befassen, mit materialitätstheoretischen Ansätzen aus der Germanistik und der deutschsprachigen Medientheorie zu verbinden, um dergestalt ein Instrumentarium zur Beschreibung und Analyse der Alice-Maschine zu entwickeln. Ich ging von der These aus, dass Nonsense, ebenso wie das Herausstellen der Materialität des Buches sowie seines Entstehungs- und Rezeptionsprozesses, zwei Seiten der gleichen Medaille sind – zwei Verfahrensweisen, welche die Gegenständlichkeit und Gemachtheit der Literatur auf unterschiedliche Weise gegen das hermeneutische Regime in Stellung bringen. Davon möchte ich auch nicht grundsätzlich abrücken. Doch gerade die Untersuchung der Schnittstellen zwischen Arbeiten zum Nonsense und Studien zur Materialität macht deutlich, dass es sich mit der von unterschiedlicher Seite behaupteten Zäsur von 1800 komplizierter verhält.177

177Damit meine ich vor allem zwei einflussreiche Stimmen: Jacques Rancière, der eine Wende von der regelpoetisch organisierten Repräsentationsliteratur zu einer politischen Literatur behauptet, durch welche die Welt neu aufgeteilt erfahren werden könne. Vgl. Jacques Rancière: Politik der Literatur. Wien: Passagen 2011, sowie Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900. München 1995.

Kapitel 3

„The divine lunacy we call nonsense“*

Viel war bisher von Nonsense und Unsinn die Rede, ohne dass ich mich um die Implikationen der Begriffe, um ihre Unterscheidung und ihre Geschichte gekümmert hätte. Die Entdeckung der Alice-Maschine, die mit ihren heterogenen Elementen disjunktiv an der Oberfläche und transmedial zwischen Oberflächen wirkt, könnte Nonsense als Begriff für ein Genre, einen Modus, eine Reihe von Verfahren – je nach Definition – vielleicht sogar obsolet machen. Sie verlangt aber mit Sicherheit nach einer Auseinandersetzung mit Nonsense, was immer das sein mag; denn immerhin hat sich die Kategorie praktisch unhinterfragt etabliert. Dass sich die Carroll-Forschung so problemlos darauf einigen kann, im Zusammenhang mit den Irritationen, die Alice im Wunderland erlebt, mit den Wortspielen und (un)logischen Rätseln, von Nonsense zu reden, liegt aber keineswegs an der Klarheit der Definitionen. Die Begriffe Nonsense und Unsinn sind im Gegenteil so offen und unbestimmt wie die Alice-Bücher selbst. Umstritten ist in der Forschungsliteratur vor allem die Frage, wie viel Sinn sich hinter dem Unsinn versteckt. Von Martin Gardner und Celia Brown, die in jedem Wortspiel einen intertextuellen Bezug, in jedem Satz eine Anspielung auf die politische, soziale und kulturelle Aktualität um die Mitte des 19. Jahrhunderts entdecken,1 über Gilles Deleuze und Jean-Jacques Lecercle, die sich für Poetik und Philosophie des Nonsense interessieren, bis zu Winfried Menninghaus, der die Verbindungen zur Materialitätsdebatte in den Künsten herausarbeitet, ist ein weites Feld abgesteckt. Das Gros der Forschungsliteratur zum Nonsense bzw. zum literarischen Unsinn neigt allerdings auf eine etwas unproduktive, selbstgenügsame Weise zum 1Vgl. Martin Gardners Kommentare in TAA sowie Celia Brown: Alice hinter den Mythen. Der Sinn in Carrolls Nonsens. Paderborn 2015.

*Mervyn Peake: Alice, Tenniel and Me, 22. Zit. Nach R. W. Maslen: Introduction. In: Mervyn Peake: Complete Nonsense. Hg. von R. W. Maslen und G. Peter Winnington. Manchester: Fyfiel Books Carcanet 2011, 4

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lötscher, Die Alice-Maschine, Studien zu Kinder- und Jugendliteratur und -medien 6, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05707-5_3

63

64

3  „The divine lunacy we call nonsense“

Taxonomischen.2 Es werden Kataloge von unsinnigen Verfahren erstellt und linguistisch beschrieben, womit aber nichts erklärt ist; und auf die Deutungen, warum Nonsense ausgerechnet die Viktorianer entzückte, wäre man auch ohne strukturale Analyse gekommen. Dennoch: Als generische, aber auch als historisch-philosophische Zuschreibung ist Nonsense bzw. Unsinn für die Rezeption der Alice-Bücher absolut zentral. Allein das Phänomen, dass in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine ganze Reihe von sich gegenseitig, auch über Sprachgrenzen hinweg, teilweise kritisch rezipierende Studien zum Nonsense entstanden sind, ohne dass sich eine verbindliche wissenschaftliche Definition des Begriffs abgezeichnet hätte, macht hellhörig. Es scheint in der kulturellen DNA des Wortes zu liegen, dass es sich einem definitorischen Zugriff entzieht; gleichsam als sprachlicher Widerstandspunkt gegen die viktorianischen Bemühungen, die Welt zu klassifizieren und, lehrreich in Sammlungen geordnet, hinter Vitrinen präsentieren zu können. Allein schon die Alltagssprache weigert sich, auf die Vieldeutigkeit der Vokabel zu verzichten, als sei sie der lebende Beweis für die sprachphilosophische Annahme, dass Bedeutung nur situativ und performativ generiert werden könne. Denn ­ Unsinn/Nonsense/non-sense wird auf der ganzen Skala vom harmlosen Quatsch über Blöd-, Irr- und Wahnsinn bis zur Kategorisierung alternativer Fakten, Fake News, Verschwörungstheorien und Lügen verwendet. Nicht zuletzt bezeichnete Carroll selbst seine Alice-Bücher nicht ohne Stolz als Nonsense, und entsprechend wird das Wort auch in den Texten selbst so oft und in so unterschiedlichen Bedeutungsnuancen erwähnt, dass man sich fragen muss, wie das metapoetologisch zu verstehen sei. Und schließlich gehört das gesamte Wortfeld von Unsinn und Nonsense zu den zentralen Antriebskräften der Alice-Maschine, obwohl sie gemäss ihrer heterogenen Logik über gar kein Zentrum verfügen kann – was wiederum zu ihrer paradoxen Funktionsweise passt. Wenn man den Fokus von Definitions- und Klassifikationsfragen, die ausgerechnet (und vielleicht in der Tat konsequenterweise) bei Nonsense einen Hang

2Wim

Tigges’ Anatomy of Literary Nonsense (Amsterdam 1988) tut im Großen und Ganzen genau das, was der Titel verspricht: Er seziert die Unsinnspoesie von Edward Lear über Carroll bis zu Christian Morgenstern und Flann O’Brien und erstellt ein Repertoire von Verfahren, die in der Nonsense-Poesie zur Anwendung kommen: Spiegelung, Unschärfe, Serialität, Simultaneität, Wortspiele, Schachtelwörter (portmanteau-words), Neologismen und Arbitrarität sind die Aspekte, die er analysiert (vgl. Tigges 1988, 56–70). Diese Taxonomie des Repertoires hat sich allgemein durchgesetzt in der Literatur über den viktorianischen Unsinn. Auch Winfried Menninghaus schreibt ihm, im Einklang mit der gesamten Carroll-Forschung (vgl. Tigges 1988; Jean-Jacques Lecercle: Philosophy Through the Looking Glass. La Salle 1985 sowie Lecercle 1994; Susan Stewart: Stewart, Susan: Nonsense. Aspects of Intertextuality in Folklore and Literatur. Baltimore/London 1978; Elisabeth Sewell: The Field of Nonsense. London 2015) eine Reihe spezifischer Charakteristika zu – prägnante Verfahren auf der Ebene des Wortes, des Satzes, der Satzreihung und des Verses: Lautersetzungen und -umkehrungen, asemantische Wortkombinationen, Literalisierungen und Entzug von Kontexten, Wahl bestimmter Reimwortpaare, beliebige Füllung und Wiederholung fester Schemata (vgl. Winfried Menninghaus: Lob des Unsinns. Über Kant, Tieck und Blaubart. Frankfurt a. M. 1995, 15.)

3.1  Eins und eins und eins

65

zur Pedanterie haben, auf das, was sich diesen Versuchen entzieht, verschiebt, findet man in der Nonsense-Forschung viele Gedanken und durchaus konkrete Hinweise auf Figurationen, die für die Alice-Maschine von Bedeutung sind. Vor allem in Deleuzes Logik des Sinns, einem Buch, das allerdings ganz andere Fragen stellt als das Gros der Arbeiten zum Nonsense. Eine der wichtigsten den Unsinn betreffenden Voraussetzungen für die Alice-Maschine ist denn auch die von Deleuze formulierte Idee, dass Alice nach und nach aus der Tiefe die Oberflächen erobert. Die Tiefe bleibt aber dennoch präsent und wirksam in den Alice-Büchern, auch in Hinblick auf den Unsinn: Nicht, daß die Oberfläche weniger Unsinn enthielte als die Tiefe. Aber das ist nicht derselbe Unsinn. Der Unsinn der Oberfläche ist gleichsam die ‚Strahlung‘ der reinen Ereignisse, jener Entitäten, die fortwährend auftauchen und verschwinden. Die reinen und ungemischten Ereignisse leuchten oberhalb der vermischten Körper, oberhalb ihrer verworrenen Aktionen und Passionen. Wie Dunstschleier aus der Erde setzen sie an der Oberfläche ein Unkörperliches, ein reines ‚Ausgedrücktes‘ der Tiefen frei: nicht das Schwert, sondern das Aufblitzen des Schwertes, das Aufblitzen ohne das Schwert wie das Grinsen ohne Katze. Es ist das Besondere an Carroll, daß er nichts über den Sinn vermittelt, sondern alles in den Unsinn hinüberspielt, da die Vielfalt des Unsinns hinreichend das ganze Universum, seine Schrecken und seine Herrlichkeiten wiedergibt: die Tiefe, die Fläche, das Volumen oder die aufgewickelte Oberfläche.3

An die Stelle des körperhaften Sinns tritt auf den Oberflächen der körperlose Unsinn. Die Mechanik der Alice-Maschine verbindet den körperlosen Unsinn mit dem Material des Mediums; sie lässt die Oberflächen sich berühren und macht einen für hermeneutische Prozesse nicht zugänglichen Zwischenraum erfahrbar. Doch bevor ich diesen Faden aufnehme, um ihn mit materialitätstheoretischen Ansätzen zu verbinden, möchte ich ausführlicher auf die Rezeption der ­Alice-Bücher als Nonsense eingehen.

3.1 Eins und eins und eins Ob es sich beim Nonsense um ein Genre, einen Modus oder eine beliebig kombinierbare Reihe bestimmter Verfahren handelt, ist in der Forschung umstritten – wobei die meisten Autorinnen und Autoren von einem nicht näher definierten und diskutierten Genrebegriff ausgehen. In einem wesentlichen Punkt treffen sich die unterschiedlichen Ansätze: Nonsense arbeitet sich an der Regelhaftigkeit und an der Materialität der Sprache ab, spielt mit Rhythmus und Klang, mit der visuellen Gegenständlichkeit der Zeichen.4 Und wichtiger noch: Nonsense ist durch und durch kontextabhängig. Unsinn im Sinne von Nonsense kann nur dort entstehen, wo eine Idee von Sinn zur Debatte steht, die ebenso von

3Deleuze 4Vgl.

2000, 36. Stewart 1978; Sewell 2015; Tigges 1988; Lecercle 1985 und 1994; Menninghaus 1995.

3  „The divine lunacy we call nonsense“

66

historischen Umständen abhängt – was durch den Unsinn für die Leserinnen und Leser erst erfahrbar gemacht wird: […] Unsinn bezeichnet etwas durch und durch Relatives: nämlich alle Äußerungen, Handlungen und Gegebenheiten, die zu einem bestimmten Zeitpunkt und in einem bestimmten Kontext als nicht einer bestimmten Vorstellung von ‚Sinn‘ entsprechend beurteilt werden.5

Die Grenzen zwischen Sinn und Unsinn sind denn auch flüchtig und instabil, […] sie müssen sich permanent in Wiederholungen bestätigen und werden ebenso permanent verschoben. Wo immer diese Arbeit an der Grenze verläuft, für jede Artikulation von ‚Sinn‘ wird sie notwendig vorausgesetzt. Der liminale Bereich, der Rand, wo Sinn an Unsinn stößt und beide ineinander übergehen, ist Definiens nicht nur des Unsinns, sondern auch des Sinns.6

Trotz teilweise massiver Unterschiede in der literaturwissenschaftlichen Einordnung der Unsinnspoesie im 19. Jahrhundert gehen Klaus Reichert, Wim Tigges und Jean-Jacques Lecercle in ihren Studien ähnlich vor. Reichert betont die Einzigartigkeit des viktorianischen Nonsense und grenzt ihn scharf von der Tradition der antiken und mittelalterlichen Spielereien mit verkehrter Welt ab; auch das Komische sieht er als unabhängige Kategorie.7 Den grundlegenden Unterschied zwischen Komik und Nonsense erkennt er darin, dass die Formen der Inkongruenz, die das Komische konstituieren, sich „an der Realität als Norm oder an der Homogenität des erzählten Vorgangs, die plötzlich unterbrochen wird“, bemessen.8 Es sei gerade das Wesen der komischen Inkongruenz, dass der Leser sie sofort durchschaue: „Der durchschaubare Mechanismus des Komischen, die Doppelwelt Norm-Kontranorm, ist das Gegenteil der Verselbständigung der Inkongruenzen des Unsinns.“9 Im Gegensatz zu Narrenreden, Scherz- und Spottliedern, Fatrasien und Resverien, die in der Umkehr des Sinns immer durchschaubaren Regeln folgen, sei Unsinnspoesie nicht mehr in etwas Dahinterliegendes auflösbar, sondern verweise nur auf sich selbst.10 Der Gegenbegriff zum Unsinnigen sei nicht „normaler“ Sinn, sondern „das ­Nicht-Unsinnige als Sinn des Unsinns“.11 Dieses Nicht-Unsinnige meint. […] unerwartete, entautomatisierte, im strikten Wortsinn unkonventionelle Zusammenhänge, die ex negativo als unsinnige vorgeführt werden. Das Nicht-Unsinnige ist nicht ‚vorgegeben‘, es ist, vom Unsinn her, erst zu konstruieren.12

5Ebd.,

10. 11; vgl. Kimberley Reynolds: Radical Children’s Literature New York 2007, 45. 7Klaus Reichert: Lewis Carroll. Studien zum literarischen Unsinn. München 1974, 9. 8Ebd., 12. 9Ebd. 10Ebd., 9. 11Ebd. 12Ebd., 9 f. 6Ebd.,

3.1  Eins und eins und eins

67

Dieses Verfahren gilt gemäss Reichert einzig und allein für den viktorianischen Unsinn, der keine Gegenwelt, sondern eine andere Welt erschaffe, „die aus den Teilen dieser Welt, wie aus ihren Trümmern, zusammengesetzt ist.“13 Was hier aufhorchen lässt, ist die dem Unsinn immer wieder zugeschriebene Entautomatisierung der Sprache, die als Gegenargument gegen die Alice-Maschine ins Feld geführt werden könnte. Doch auch hier greifen die Paradoxa der Maschine: Selbst die Entautomatisierung wird ein Automatismus. Wie sehr eine Logik des Nonsense am Werk ist, lässt sich etwa am Gedicht „The Jabberwocky“ oder am Dialog zwischen Alice und Humpty Dumpty zeigen. Insofern lädt der Nonsense gewissermassen zum Kategorisieren ein. Die taxonomische Bewegung ist durchaus Teil der Alice-Maschine; sie gerät aber auf den Holzweg, wenn man sie von den gleichzeitig ablaufenden disjunktiven Bewegungen trennt. Elisabeth Sewell bezeichnet die Elemente des Nonsense als Trümmer, die völlig hierarchiefrei angeordnet seien. „One and one and one“, schreibt Sewell, sei das Motto des Genres.14 Und Reichert führt aus: Jedes Ding, jedes Wort ist gleich wichtig – oder gleich unwichtig. […] Das je Einzelne hat Priorität vor dem Ganzen. Alles liegt nebeneinander, in einer Ebene. Ding- und Wortzusammenhänge sind dissoziiert, jedes isolierte Einzelne kann beliebig zu jedem in Beziehung gesetzt werden, und zwar gilt jede solche Verbindung nur für den Moment, einmalig (darum nicht automatisierbar), und kann sofort wieder aufgelöst werden. Diese Ver-rücktheit der Dinge und ihrer erwarteten Zusammenhänge ebenso wie deren Verkapselung sind vor allem anderen für den Unsinnseffekt verantwortlich.15

Das Prinzip des Eins und eins und eins, sich auffaltend und arrangierend auf der einen Ebene: Was in den meisten Theorien des Nonsense auf rein sprachlicher Ebene diskutiert wird, hatte seine Entsprechung schon im Umfeld des deutschen frühromantischen Unsinns in Ornamenten, in den Grotesken und Arabesken der Kunst und der Buchgestaltung, die Edgar Allan Poe später explizit zum poetischen Programm machen würde.16 Das Prinzip des Eins und eins und eins, gerade in der Kombination von Nonsense und Materialität, war äusserst folgenreich für die Avantgarden, man findet es bei Dada, im Surrealismus und im Autorenkino der 1960er und 1970er-Jahre; ganz explizit in Jean-Luc Godards one  + one (F 1968). Dieser Film funktioniert als eine Collage aus radikal heterogenen Elementen, bei der eins dem anderen hinzugefügt wird, ohne dass die Montage der Bilder und Klänge einer narrativen, ideologischen – ja, irgendeiner Logik folgen würde. Es wird keine Summe gezogen; es gibt keine Anweisung, wie die einzelnen Teile aufeinander zu beziehen oder wie sie zu bewerten sind.17 Es scheint zum Eins und 13Ebd.,

10. Sewell 2015; Lecercle 1994, 204. 15Reichert 1974, 19. 16Günter Oesterle: Groteske. In: Hans Richard Brittnacher/Markus May (Hg.): Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart 2013, 293–299, hier 296–297. 17Vgl. Hermann Kappelhoff: Auf- und Abbrüche – Die Internationale der Pop-Kultur. In: Hermann Kappelhoff/Christine Lötscher/Daniel Illger (Hg.): Filmische Seitenblicke. Cinepoetische Exkursionen ins Kino von 1968. Berlin 2018, 1–41, hier 4. 14Vgl.

68

3  „The divine lunacy we call nonsense“

eins und eins zu gehören, dass es nicht nur praktiziert, sondern programmatisch herausgestellt wird – auch das verbirgt sich hinter der fast refrainartigen Wiederholung des Wortes Nonsense in den Alice-Büchern. Mit dem Prinzip des Eins und eins und eins und seiner Programmatik wäre eine weitere Figuration der Alice-Maschine bezeichnet.

3.2 Viktorianischer Nonsense Und nicht nur das: Obwohl es verlockend wäre, ein zentralperspektivisch organisiertes Bild der Nonsense-Forschung zu zeichnen und am Ende mit einer handlichen Definition aufzuwarten, verzichte ich ganz bewusst darauf. Man kann die Alice-Maschine nicht begreifen, indem man ihr Herrin zu werden versucht; ebenso tut man dem Unsinn und dem Nonsense Gewalt an, wenn man sie in einem schlüssigen Narrativ fasst. Nach dem Prinzip des Eins und eins und eins möchte ich mich dem Nonsense und dem Unsinn auch in einer historischen Perspektive nähern. Legt die Gattungsbezeichnung Victorian nonsense doch nahe, dass es sich zunächst einmal um ein Phänomen des viktorianischen Zeitalters handelt. Hier gilt es zunächst festzuhalten, dass der deutsche Begriff Unsinn und der englische Begriff Nonsense nicht deckungsgleich sind. Nonsense wird tendenziell als Genre-Bezeichnung für ein klar überschaubares Korpus verwendet, das im viktorianischen England entstanden und dessen Produktion nur unter den spezifischen Bedingungen der Zeit überhaupt denkbar ist.18 Nonsense muss deshalb als historischer Begriff behandelt werden – denn er bezeichnet auch die Rezeptionsbedingungen, unter denen die Zeitgenossen Carrolls dessen Bücher lasen. Nonsense werde ich demzufolge als engeren Begriff verwenden, während literarischer Unsinn alles umfasst, was als „Widergänger“ des Nonsense im hermeneutischen Paradigma erscheint.19 So scheint es folgerichtig, dass dem viktorianischen Nonsense in den maßgeblichen Studien unter den literarischen Unsinnstexten eine Sonderstellung zugeschrieben wird. Dabei gibt es zwei Hauptstoßrichtungen, die sich nicht unbedingt widersprechen, sondern in vielen Arbeiten zum Nonsense parallel geführt, selten auch miteinander verbunden werden: die linguistischstrukturalistische, die das Phänomen als ein ganz und gar Sprachliches in den Fokus nimmt, und die kulturwissenschaftlich an zeitgenössischen Diskursen interessierte, die in der spezifisch britischen Ausprägung des Nonsense im 19. Jahrhundert eine exzentrische Reaktion auf die Zwänge der viktorianischen Gesellschaft sieht.20 Es sei eine Sehnsucht nach Eskapismus, die in der Affinität

18Vgl.

Reichert 1974; Menninghaus 1995, 15. 45. 20Nonsense and Politics. In: Elisabetta Tarantino/Carlo Caruso (Hg.): Nonsense and Other Senses. Regulated Absurdity in Literature. Newcastle upon Tyne, 357–380, 360. 19Ebd.,

3.2  Viktorianischer Nonsense

69

der Viktorianer zu unsinnigen Texten zum Ausdruck komme, meint Dieter Petzold, ein Vertreter des historisch-kontextualisierenden Zugangs zum Nonsense: Zugrunde liegt der Popularität des Nonsense im 19. Jahrhundert […] das Bedürfnis nach einer temporären geistigen Fluchtmöglichkeit aus den Beschwernissen des Alltags und vor den eigenen weltanschaulichen Zweifeln; ein Ausweg, welcher gleichzeitig nicht zum Nachdenken über diese Schwierigkeiten veranlasste und keine wirkliche Kritik des bestehenden Systems bedeutete.21

Stephen Prickett geht etwas weniger hart mit den Viktorianern ins Gericht und hält fest, dass Nonsense ihnen eine alternative Sprache geboten habe, um mit den Bedingungen einer plötzlich überaus komplex und zugleich repressiv gewordenen Welt zurechtzukommen.22 Klaus Reichert geht noch einen Schritt weiter. Er will den viktorianischen Nonsense als Ausdruck der Sprachlosigkeit gegenüber aktuellen Entwicklungen verstanden wissen. Obwohl Reicherts Studie nichts von Rancières Konzept der Aufteilung des Sinnlichen und Kappelhoffs unter anderem darauf Bezug nehmender Genretheorie wissen kann, lässt sich an diesen Punkt anschließen: Nonsense als generischer Modus macht ein höchst ambivalentes Lebensgefühl erfahrbar. Denn in Reicherts Deutung trägt die Literatur des Nonsense gerade nicht zur Affirmation und Stabilisierung der Zustände bei, sondern wirkt eher verunsichernd und destablisierend. Der Unsinn des 19. Jahrhunderts messe sich im Gegensatz zur Literatur der k­ omisch-karnevalistischen Tradition, wie sie Michail Bachtin nachzeichnet,23 nicht an einer verlässlichen Norm.24 Beim Nonsense seien die Brüche und Inkongruenzen zum Prinzip erhoben, „dergestalt, dass Norm nur mehr von Bruch zu Bruch als kurzlebige Erwartung sich einstellt und jeweils durch den nächsten Bruch sich erledigt. (Oder anders: die Bedeutungen gleiten, wie im Traum).“25 Diese „fortschreitende Verneinung“ von ­Norm-Bruch-Norm-Bruch sei die Bedingung des Nonsense: „[…] das Material der jeweiligen Norm wird auf seine Möglichkeit untersucht, zu Brüchen zu führen, wodurch sich zwangsläufig der nie vorhersehbare narrative Fortgang ändert.“26 Die Beispielanalysen zu Alice’s Adventures Under Ground und The Nursery Alice werden diesen Befund bestätigen (vgl. Abschn. 4.2 und 4.3). Der durchschaubare Mechanismus des Komischen, die „Doppelwelt Norm-Kontranorm“, erweist sich gemäss Reichert als das Gegenteil der Ver­ selbständigung der Inkongruenzen im viktorianischen Nonsense. Den Lesenden werde nichts mehr geboten, woran sie sich halten könnten, „da alles ins Rutschen

21Dieter

Petzold: Formen und Funktionen der englischen Nonsense-Dichtung im 19. Jahrhundert. Nürnberg 1972, 206. 22Prickett 1979, 146. 23Vgl. Michail Bachtin: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Frankfurt a. M. 1990. 24Ebd. 25Ebd. 26Ebd.

70

3  „The divine lunacy we call nonsense“

kommt und jede Norm augenblicklich in den Schock umschlagen kann.“27 Mit dem Schock spricht Reichert Walter Benjamins Kunstwerk-Aufsatz an, ohne dass er dem Nonsense aber die Wirkung unterstellen möchte, die Benjamin etwa in dadaistischen Lautgedichten und Collagen sieht.28 Zumal gerade Carroll die Sprache nicht zu Abfall macht, sondern, wie ein Zauberer, vor den staunenden Kinderaugen eine alternative Semantik hervortreten lässt. Die Spielregeln seiner Kombinatorik machen aus der butterfly eine bread-and-butterfly; und, um das Gespräch zwischen dem Gryphon und der Falschen Suppenschildkröte noch einmal aufzugreifen, die ihren Namen – Mock Turtle – und damit ihre Geschichte nach demselben Prinzip bekommen hat: hier zitiert die Falsche Suppenschildkröte die Stundentafel der Unterwasserschule durch, indem sie die Spielmöglichkeiten der Homophonie auslotet: aus latin and greek wird laughing and grief, und der Lehrer heisst tortoise – „because he taught us“.29 Als historisches Phänomen sei der viktorianische Nonsense deswegen eine transitorische Erscheinung, „eine Reaktion auf bestimmte, historisch eingrenzbare Bedingungen, die ihren Sinn verlor, sobald diese Bedingungen durchschaut und ‚nicht-unsinnig‘ beschreibbar wurden.“30 Begonnen habe sie 1846 mit Edward Lears Book of Nonsense; mit Carrolls Tod 1898 sei sie auch schon zu Ende gewesen. Überlebt hätten – im Surrealismus, im Dadaismus, bei James Joyce – konkrete Figuren, ohne dass der viktorianische Unsinn an der Entstehung der Moderne beteiligt gewesen wäre.31 Dem kann man, was die Literatur der Moderne betrifft, nicht widersprechen; was aber keineswegs bedeutet, dass die veränderten soziokulturellen Bedingungen das flackernde Unruhepotential der Alice-Bücher in der Populärkultur gelöscht hätten. Es stellt sich auch die Frage, ob denn diese Bedingungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht eine gewisse Verwandtschaft aufweisen mit der Zeit der Industrialisierung und der Krise der britischen Kolonialherrschaft im 19. Jahrhundert – zumindest lässt sich sagen, dass sich das 19. Jahrhundert, insbesondere mit der Durchsetzung des Kapitalismus und Marx‘ Kritik daran, für das Gefühl einer Bedrohung durch Unübersichtlichkeit und Desorientierung als Projektionsfläche anbietet. In der Tat wird der viktorianische

27Ebd. 28Walter

Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Illuminationen. Ausgewählte Schriften. Frankfurt a. M. 1977, 165: „In der Tat wird der Assoziationsablauf dessen, der diese Bilder betrachtet, sofort durch ihre Veränderung unterbrochen. Darauf beruht die Chockwirkung des Films, die wie jede Chockwirkung durch gesteigerte Geistesgegenwart aufgefangen sein will.“ Siehe dazu auch 163–164: „Auf die merkantile Verwertbarkeit ihrer Kunstwerke legten die Dadaisten viel weniger Gewicht als auf ihre Unverwertbarkeit als Gegenstände kontemplativer Versenkung. Diese Unverwertbarkeit suchten sie nicht zum wenigsten durch eine grundsätzliche Entwürdigung ihres Materials zu erreichen. Ihre Gedichte sind ‚Wortsalat‘, sie enthalten obszöne Wendungen und allen nur vorstellbaren Abfall der Sprache.“ 29AAW, 73. 30Reichert 1974, 7. 31Ebd., 8.

3.2  Viktorianischer Nonsense

71

Nonsense in diesem Kontext gelesen. Wim Tigges sieht darin eine Reaktion auf den Zuwachs an industriellen Gütern: Im Zuge der industriellen Revolution und der Etablierung des kapitalistischen Wirtschaftssystems seien viktorianische Haushalte mit Dingen überschwemmt worden.32 In der Austauschbarkeit von Geld und Gütern spiegle sich eine Eigenschaft des Nonsense wider: The capitalist market, in contrast with the older forms of exchange of commodities, has a nonsensical quality, in its seemingly pointless exchange of commodities, in its suggestions of meaning in the form of employment and profit, a meaning which is simultaneously taken away in the form of exploitation, unemployment, bankruptcy and poverty, and in its refusal to allow any emotional value to be attached to the products to be exchanged, which is a marked difference with earlier craftsmanship. Factories and department stores have become the concrete equivalents of dictionaries, with their infinite series of simultaneously presented goods of the utmost variety.33

Auch Reichert stellt die „Vereinzelung, Beziehungslosigkeit, Desintegration, das Aus-dem-Zusammenhang-Gerissen-Sein“34 von ­ Nonsense-Texten in eine Reihe mit Phänomenen, die typisch sind für das 19. Jahrhundert, insbesondere im viktorianischen England. Dazu gehören Tableau Vivant, Museum, Wörterbuch, Weltausstellung und Orbis Pictus.35 Die Anordnung der Ausstellungsstücke im Schaukasten des Museums zum Beispiel sei ohne metasprachliche Legende unsinnig: Der Betrachter sieht nicht, was da ist, sondern was er sehen soll. In gewisser Weise befindet sich der Leser von Nonsense-Texten in einer Situation, die sich mit der eines Museumsbesuchers vergleichen lässt, der vor unbeschrifteten Schaukästen steht. Er müsste nun selber sehen, was es zu sehen gibt, fühlt sich aber stattdessen um den Sinn betrogen. Was er sieht, ist für ihn wertlos (‚Kinderliteratur‘), da er einen zweiten Sinn, der für ihn der erste und einzige ist, zu erwarten gelernt hat.36

Jean-Jacques Lecercle geht die Frage nach Norm und Abweichung von der Norm differenzierter an, als Reichert es tut; das ermöglicht ihm sein dezidiert linguistischer Ansatz. Lecercle verweist dabei auf die Obsession der Nonsense-Literatur mit Regeln. Denn Nonsense hebt die Regeln der Sprache ­ ans Licht, von der Morphologie über die Syntax bis zur Pragmatik. Indem sie die Sprache von ihren pragmatischen Alltagsfunktionen befreit, lenkt die Nonsense-Literatur unsere Aufmerksamkeit auf die Funktionsweise der Sprache, ihr abstraktes Regelwerk. Dabei entsteht die Illusion, einen Blick ins eigene Gehirn werfen und ihm bei der Arbeit zusehen zu können. Insofern kann die NonsensePoesie als Vorläuferin avangardistischer Lyrikformen des 20. Jahrhunderts gelten,

32Vgl.

Tigges 1988, 233; Werner Sombart: Wirtschaft und Mode. Ein Beitrag zur Theorie der modernen Bedarfsgestaltung [1902]. In: Silvia Bovenschen (Hg.): Die Listen der Mode. Berlin 1986, 80–105. 33Tigges 1988, 233. 34Reichert 1974, 20. 35Ebd. 36Ebd., 21.

3  „The divine lunacy we call nonsense“

72

die mit Unsinn nur auf dieser materiellen Ebene zu tun haben: dazu gehören Oulipo ebenso wie surrealistische oder konkrete Poesie. Lecercle ist einerseits der radikalste Formalist unter den Nonsense-Forschern, andererseits ist literarische Sprache in seiner Optik immer politisch. Lecercle begreift Nonsense als einen der Vektoren der viktorianischen Ideologie – bot er doch eine Form, durch welche die Zeitgenossen eine imaginäre Beziehung mit den realen Bedingungen ihres Lebens erfahren konnten.37 Seine Beschreibung des Nonsense als „konservativ-revolutionäres Genre“, das in sich paradox sei, ist ein hilfreicher Ansatz für die Alice-Maschine: […] subverting but also comforting language, given free rein to our linguistic imagination, but also imposing the constraints of a regular language on us with a vengeance. The commonplace view of nonsense is that it presents us with the charming disorder of freedom. Alice is liberated, during her stay in Wonderland, from the constraints of a Victorian education; the text is freed from the usual rules of language. This is not a false, but a partial and therefore naive conception of nonsense.38

In dieser Perspektive ist Alice also eine Figur, die Freiheit und Unfreiheit – in einer oszillierenden Bewegung – in sich vereint. Lecercle präzisiert: I speak language, in other words I am master of the instrument which allows me to communicate with others, and yet it is language that speaks: I am constrained by the language I inhabit to such an extent that I am inhabited, or possessed, by it. The grandeur of nonsense, as a literary genre, is that it foregrounds the predicament of every speaker of language: we are torn apart between the two opposite poles of the paradox and yet we must, somehow, hold them together. What I am suggesting is that nonsense itself, if this is the core of it, is a paradoxical object.39

Nonsense als paradoxes Objekt, das sichtbar macht, wie wir die Sprache gleichzeitig sprechen und von ihr gesprochen werden: Auch wenn ich mit dem Begriff „Objekt“ nicht glücklich bin, überzeugt die These Lecercles, dass Nonsense unserer paradoxen Erfahrung mit Sprache Gestalt verleiht. Das Material der Sprache entfaltet eine Eigendynamik, was wiederum nur als Regelbruch oder Grenzüberschreitung überhaupt wahrgenommen werden kann – sodass sich die Regeln neu in ihr Recht gesetzt sehen. Wenn Alice Gedichte aufsagt und eine krud-parodistische Verballhornung dabei herauskommt, wird sie von der Sprache gesprochen, und nichrt umgekehrt.40 Wenn sie die Kreaturen des Wunderlands dagegen ins Gespräch verwickelt und geradezu virtuose Adaptionsleistungen an den Tag legt, um ihnen zu kontern, sie dabei nicht selten so provoziert, dass sie ganz aus dem Häuschen geraten, bewegt sich Alice auf eine komplexere Weise in dem Paradox, das Lecercle beschreibt. Und dies allein schon, weil die Alice-Bücher – das kann man nicht oft genug betonen – nicht allein aus Sprache

37Lecercle 38Ebd.,

1994, 196.

25.

39Ebd. 40AAW,

16.

3.2  Viktorianischer Nonsense

73

gemacht sind. In der performativen Dynamik des Textes faltet sich das Paradoxon in eine Figuration des Spiels an den Rändern der Sinngebung auf. Die Erfahrung des Paradoxen ist nur ein Aspekt der Desorientierung, die Alice erfährt; und die strukturalistische Analyse Lecercles kommt hier an ihre Grenze. Erweitert man sie aber mit Michel de Certeaus Konzept der Taktik, erhält man ein Instrument, mit dem sich die Dynamik der Figuration besser beschreiben lässt.41 Konsumentinnen und Konsumenten sind für de Certeau keineswegs eine passive und manipulierbare Masse. Vielmehr verfügen sie über die Konsum-Taktiken, sind „verkannte Produzenten, Dichter ihrer eigenen Angelegenheiten und stillschweigende Erfinder eigener Wege durch den Dschungel der funktionalistischen Rationalität“.42 Weil die Taktik nur „den Ort des Anderen“43 hat, weil sie ihr Eigenes aus dem Vokabular der gängigen Sprachen und der vorgeschriebenen Syntax entwickeln muss,44 ist sie eine Praxis der Unruhe: […] sie ist immer darauf aus, ihren Vorteil ‚im Flug’ zu erfassen. Was sie gewinnt, bewahrt sie nicht. Sie muß andauernd mit den Ereignissen spielen, um ‚günstige Gelegenheiten’ daraus zu machen. Der Schwache muss unaufhörlich aus den Kräften Nutzen ziehen, die ihm fremd sind. Er macht das in günstigen Augenblicken, in denen er heterogene Elemente kombiniert […].45

Die grammatikalischen und pragmatischen Regeln der Sprache stecken den Rahmen der Strategie ab, in der Alice, das Kind, mit ihrer Taktik Freiräume auslotet. Hier zeigt sich ein Bezug von de Certeaus Taktik-Konzept zur ­Alice-Maschine, der auch in Lecercles politischer Deutung des Nonsense aufscheint. Er vergleicht das Kind mit dem Proletarier, der seine Sprache in der Sprache der Anderen findet: „Nonsense is what gives voice to the common sense of the underdog, be she the child who emerges as a speaker and a new social subject […]“46 Für Tigges ist literarischer Nonsens ein Phänomen der Romantik und Post-Romantik.47 Aufgrund der Gemeinsamkeiten, die kanonische NonsenseTexte wie Edward Lears Book of Nonsense und Carrolls Texte aufweisen, arbeitet Tigges einen Katalog von Genre-Charakteristika heraus, wobei er den GenreBegriff bewusst offen hält, um ein Instrumentarium zur Verfügung zu stellen, mit dem auch Nonsense-Elemente in generisch nicht unsinnigen Texten analysiert werden können.48 Was aber nichts daran ändert, dass es sich beim Nonsense seiner Meinung nach um ein Genre handle, als dessen Archetypen die Texte von Edward

41de

Certeau 1988, 21–24. 21. 43Ebd., 23. 44Ebd., 22. 45Ebd., 23–24. 46Lecercle 2009, 372. 47Tigges 1988, 2. 48Ebd., 3. 42Ebd.,

3  „The divine lunacy we call nonsense“

74

Lear und Lewis Carroll gelten dürfen.49 Nicht formale Charakteristika definieren das Genre, sondern die Art der Kommunikation, die in der nicht auflösbaren Spannung zwischen Anwesenheit und Abwesenheit von Sinn besteht, ebenso in der nicht auflösbaren Spannung zwischen Form und Inhalt – und letztlich zwischen Sprache und Wirklichkeit.50 In dieser Spannung lokalisiert Tigges die Essenz des Nonsense, der sich dadurch von solchen Formen des Unsinns unterscheidet, wie sie der Dadaismus und teilweise auch der Surrealismus hervorgebracht haben: Its essence […] is that it maintains a perfect tension between meaning and absence of meaning. Such a balance cannot be successfully maintained if a text appears to be meaningless from the very start. In suggesting an initial meaning, the most successful nonsense texts set up a playful framework of themes and motifs which appeal to the reader’s imagination, to his sense of language, as well as to his knowledge and appreciation of literary conventions of form and theme, plot and character. The success, and hence the intrinsic interest of nonsense depends on the creativity and intelligence with which these elements are presented. That it appeals to children does not automatically entitle us to relegate it to an inferior category of literature labelled ‘juvenile’ or ‘trivial’. Its assumed simplicity is often as deceptive as that of much modern abstract art. It is often easier to fill a space than to leave it empty.51

Tigges stützt sich stark auf Susan Stewarts Studie von 1978. Diese versteht Nonsense als Spiel in einem abgesteckten sozialen Spielfeld und schreibt dem literarischen Nonsense vier Eigenschaften zu: die erwähnte ungelöste Spannung zwischen An- und Abwesenheit von Sinn, emotionale Distanz, Verspieltheit und die zentrale Rolle der Sprache.52 Halten wir fest: Von Bedeutung für die AliceMaschine ist vor allem das Element der ungelösten Spannung. Ein weiterer interessanter Ansatz findet sich in Kimberley Reynolds‘ gendersensibler Auseinandersetzung mit Nonsense. Es handle sich dabei um einen vornehmlich männlichen Modus mit dem Ziel, die Kluft zwischen dem Wort und seiner Bedeutung auszuloten. Dadurch eröffne sich die Möglichkeit, das Ich durch ein anderes Wort zu ersetzen, also ein alternatives Ich zu erschaffen. Im Nonsense äussere sich die Sehnsucht nach einer nicht-hegemonialen Form von Männlichkeit: Often this takes the form of a modified regression; not back to actual pre-oedibal experience (if this were possible), but to an idealisied, metaphoric version of it – Romantic childhood.53

Wie die Fallanalysen zur Alice-Maschine noch zeigen werden, produziert und reproduziert diese eben gerade nicht das Frau-Werden, das Patricia Pisters in ihren Cyborg Alices sieht, sondern ein Wesen, das so weit wie möglich ausserhalb geschlechtlicher Bestimmung zu werden versucht: das romantische Kind.

49Ebd.,

48. 87. 51Ebd., 4 f. 52Vgl. Stewart 1978, 199. 53Reynolds 2007, 55. 50Ebd.,

3.3  „A vigorous life of their own“ – Nonsense als Meta-Sprache

75

3.3 „A vigorous life of their own“54 – Nonsense als Meta-Sprache Dem beschriebenen Mainstream der Nonsense-Forschung steht die Tendenz entgegen, den Nonsense gerade keiner definitorischen Taxonomie zu unterziehen, um ihn nicht zu Tode zu analysieren. Mervyn Peake, der als Autor den viktorianischen Nonsens im 20. Jahrhundert revitalisert und als Künstler seine eigenen Illustrationen zu den Alice-Büchern geschaffen hat,55 weigert sich in einem BBC-Vortrag von 1954, Nonsense zu definieren. Stattdessen bemüht er sein ganzes rhetorisches Arsenal und zieht eine Reihe von Vergleichen herbei: In Alice there is no horror. There is only a certain kind of madness, or nonsense – a very different thing. Madness can be lovely when it’s the madness of the imagination and not the madness of pathology. Nonsense can be gentle or riotous. It can clank like a stone in the empty bucket of fatuity. It can take you by the hand and lead you nowhere. It’s magic – for to explain it, were that possible, would be to kill it. It swims, plunges, cavorts, and rises in its own element. It’s a fabulous fowl. For non-sense is not the opposite of good sense. That would be ‘Bad Sense’. It’s something quite apart – and isn’t the opposite of anything. It’s something far more rare. Hundreds of books are published year after year. Good sense in many of them: bad sense in many more – but non-sense, oh no, that’s rarity, a revelation and an art worth all the rest. Perhaps one book in every fifty years glitters with the we call nonsense.56

Was zunächst wie eine Mystifizierung klingt, birgt auf den zweiten Blick einen Kern, an dem sich mit der Alice-Maschine anschließen lässt. R. W. Maslen, der Herausgeber von Peakes gesammeltem Nonsense, verfolgt die ausgelegte Spur weiter: Words chosen for their sound and rhythm (or for the startling images or actions they conjure up) acquire a vigorous life of their own, determining the direction of a narrative in verse or prose – leading writer and reader by the hand, to adopt Peake’s metaphor – and thereby making a statement which is a peculiar combination of tight control and wild randomness, the promptings of the unconscious given shape and logic by the craftsman’s close attention.57

„A vigorous life of their own“ gewinnen Wörter nur, wenn sie mehr als blosse Instrumente sind, mit deren Hilfe sich Botschaften mitteilen oder Geschichten erzählen lassen. Wenn Nonsense ein literarischer Modus oder der literarische Modus schlechthin ist, der den Zeichen ein Eigenleben verschaffen oder sie zu einem autonomen Wirken befreien kann, so tut er es über die Materialität der

54Ebd. 55Lewis

Carroll: Alice’s Adventures in Wonderland and Through the Looking Glass. Illustrations by Mervyn Peake, Introductions by Zadie Smith and Will Self. New York 2003. 56Mervyn Peake: Alice, Tenniel and Me, 22. Zit. Nach R. W. Maslen: Introduction. In: Mervyn Peake: Complete Nonsense. Hg. von R. W. Maslen und G. Peter Winnington. Manchester 2011, 4. 57R. W. Maslen: Introduction. In: Mervyn Peake: Complete Nonsense. Hg. von R. W. Maslen und G. Peter Winnington. Manchester 2011, 4.

3  „The divine lunacy we call nonsense“

76

(geschriebenen und gesprochenen) Sprache – all dem, was zur Sprache gehört, aber als überschüssig erscheint, wenn man vom Sinn, von der Bedeutung des Gesagten ausgeht. Das Hauptinteresse des Nonsense ist gemäss Lecercle aber die Erforschung der Sprache, und zwar ihrer formalen Aspekte: And because the exploration is careful and systematic, nonsense is not merely concerned with language, but also functions as metalanguage – it dwells within the paradoxical necessity and impossibility of a metalanguage for natural languages. The linguist needs a metalanguage in order to talk about language and yet, in spite of his sometimes feeble and sometimes strong attempts to formalisation, he always has to resort to natural language in order to talk about it.58

Nonsense sei nicht einfach auf Wortschöpfung spezialisiert, sondern auf Wortschöpfung nach Regeln.59 Dabei entstehen bei Carroll linguistische Monster – Wortschöpfungen wie „bread-and-butter-fly“ oder ­ „rocking-horse-fly“ beruhen auf einer Sprachanalyse, die uns zwingt, etwas zu analysieren, das bereits einmal analysiert wurde – „with the result that the visual monster, or chimera, that results form Tenniel’s attempt at representing the rocking-horse-fly is in reality the best representation of a linguistic monster, an impossible double analysis“.60 Der linguistische Terminus dafür sei metanalysis und die linguistischen Monster des Nonsense fleischgewordene Metanalysen.61 Am Beispiel von Carrolls zusammengesetzten Sprachmonstern62 zeigt Lecercle also, wie aus der Ausschlachtung der Regeln ein neues Tier entstehen kann, das sich im Universum des Nonsense selbstständig macht, das agieren und sprechen kann. In dieser Perspektive wird Nonsense zu einem zentralen Element des Weltenbaus – und somit zu einem Meta-Genre: „Nonsense […] is not only exploiting a rule of the English language, but also reflecting on our attitude to grammar.“63 Und verweist darüber hinaus auf die s­prachlich-mediale Gemachtheit unserer Welt. Lecercle liest aus der Unsinnspoesie eine implizite Philosophie heraus: Non-Sense sei immer auch Meta-Sense. In Carrolls A ­ lice-Büchern sieht er philosophische Erkenntnisse und Debatten des 20. Jahrhunderts vorweggenommen.64 Das negative Präfix im Wort Un-Sinn steht in seiner Lesart nicht für Verneinung, sondern für Reflexion65: „This reflexion is embodied in the intuitions of the genre. Nonsense texts are not explicitly parodic, they turn parody into a theory of serious literature.”66 Ausgehend von der Feststellung, dass Nonsense ein konservativrevolutionäres Genre sei, sich sklavisch an die Regeln der Grammatik sowie des

58Lecercle

1994, 35. 40. 60Ebd., 41 f. 61Ebd., 42. 62Lecercle nennt sie „linguistic monsters“. Ebd., 41. 63Ebd., 43. 64Ebd., 2.. 65Ebd. 66Ebd. 59Ebd.,

3.3  „A vigorous life of their own“ – Nonsense als Meta-Sprache

77

Anstands haltend, sieht Lecercle in einer systematischen linguistischen Lektüre den erfolgversprechendsten Versuch, mit Nonsense zurechtzukommen.67 Die Basis dieser Lektüre ist die Saussuresche Ordnung von langue und parole, signifiant und signifié.68 Daraus geht automatisch eine Zähmung des Nonsense hervor, der plötzlich nicht mehr Un- oder Wahnsinn ist, sondern auf den vier Ebenen der Phonetik, der Morphologie, der Syntax und der Semantik untersucht werden kann. Was die linguistische Struktur diesseits der Bedeutung – phonetisch, morphologisch, syntaktisch – angehe, argumentiert Lecercle, sei zum Beispiel der „Jabberwocky“ absolut nachvollziehbar und verständlich. Erst die semantische Ebene bringt uns in die Bredouille. Hier verstehen wir, genau wie Alice, nur schemenhaft, worum es geht. Der Lektüreversuch wird durch die Abwesenheit von Sinn unterlaufen und bricht auf seinen wackligen Füssen zusammen.69 Materielle Implikationen weist jedoch sicher das Spiel mit Umkehrung und Spiegelung auf – wenn wir mit Alice Spiegelschrift zu entziffern haben, wie zu Beginn von Through the Looking Glass –, ebenso die rabiaten Leerstellen, die sich in Form von Lücken oder leeren Seiten manifestieren; Phänomene, die bei Tigges unter die Kategorie „Unschärfe“ fallen.70 Serialität oder Unendlichkeit, wie Tigges diesen Aspekt nennt, hat immer dann einen Bezug zu Materialität, wenn die Serie in Form als Text-im-Text oder als Mise en abîme selbstreferentiellen Charakter annimmt. Die Materialität des Zeichens kommt bei Wortspielen aller Art zum Tragen – von Homonymen bis zu Metaphern, die durch die kontextuelle Sinnlosigkeit lebendig werden. Allerdings gibt es auch bei Tigges Verbindungen zur Materialität von ­Nonsense-Texten. Zum Beispiel erwähnt er gleich zu Beginn seiner Studie die leere Seite, die Lawrence Sterne in Tristram Shandy einfügt, und unterscheidet einmal mehr zwischen Nonsense und Unsinn: Wir hätten es dabei mit einem Nonsense-Verfahren zu tun, schreibt er, ohne dass der Roman deswegen als ­ Unsinn bezeichnet werden könne.71

3.4 Unsinn als „Widergänger“ im hermeneutischen Regime Wie ich gezeigt habe, gilt Nonsense in der Literaturwissenschaft als ein Phänomen der viktorianischen Literatur, als Urphänomen und später Spezialfall der Unsinnspoesie.72 Menninghaus widerspricht nun der allgemeinen Annahme,

67Ebd.,

21.

68Ebd. 69Ebd.,

22. 1988, 57. 71Ebd., 2.. 72Vgl. Reichert 1974; Menninghaus 1995. 70Tigges

78

3  „The divine lunacy we call nonsense“

Unsinn als positive poetische Kategorie sei eine Erfindung der viktorianischen Ära und legt dar, dass es bereits in der deutschen Frühromantik eine Poetik des Unsinns gab, die „allerdings kein eigenes Genre begründet, einen anderen theoretischen Status und auch eine andere Semantik hat“.73 Im Gegensatz zu den Romantik-Forschern sei die Bezugnahme der Viktorianer auf Unsinn als eine romantische Kategorie den Carroll- und Lear-Forschern zumindest in ihren Andeutungen klar gewesen.74 Doch, wie Menninghaus selbst festhält, ist das Verhältnis zwischen Carrolls stark regelgeleitetem Nonsense auf der einen Seite und Novalis‘ Ideal von „Gedichte[n…] ohne allen Sinn und Zusammenhang“75 oder Tiecks „Forderung nach einem ‚Buch ohne allen Zusammenhang‘, voller ‚widersprechendem Unsinn‘ und ‚Spectakel um nichts‘“76 auf der anderen Seite, doch komplizierter. Mag die Literatur der viktorianischen Ära auch stark von der Rezeption der deutschen (Früh)Romantik beeinflusst sein – die theoretischen Implikationen sind doch ganz andere. Denn gerade das Ornamentale in den AliceBüchern ist keineswegs als „Spectakel um nichts“ inszeniert. Dennoch lohnt sich ein genauerer Blick auf Menninghaus‘ Argumentation. Denn im Gegensatz zu den meisten Untersuchungen zum viktorianischen Nonsense beschreibt sie einen Konvergenzpunkt zwischen Poetiken des Unsinns und der Materialität des Buches und weist darauf hin, dass dieser für die deutsche Unsinnspoesie der Frühromantik offen zutage liege. Menninghaus folgt der These Kittlers, dass das Aufschreibesystem um 1800 von Rhetorik auf Hermeneutik, und damit auf die Entschlüsselung des Sinns hinter der Oberfläche der Zeichen, umgestellt wurde, und modifiziert sie: Der Unsinn, den Kittler nicht im Auge hat, sei „als Widergänger (im doppelten Sinn)“ des Sinns zu verstehen.77 In diesem Verständnis bildete sich Unsinn als poetische Kategorie „im Grenzgebiet von später Aufklärung und frühester Romantik“ heraus, gegen den Horizont des Aufschreibesystems; gegen den hermeneutischen Imperativ, der sich zu der Zeit gerade durchsetzte.78 Um 1800, schreibt Kittler, gelte die Liebe zum Wort, die Philologie, „weder dem Wort noch jenen asignifikativen Elementen, die da Phoneme oder Buchstaben heißen. Sie gilt einzig dem Geist oder Signifikat der Sprache […].“79 Während vor 1800 eine fast unendliche Kombinatorik von „Sprachhandgreiflichkeiten“, von Serien und Montagetechniken möglich war, gilt im Aufschreibesystem 1800 das Gebot, „die Möglichkeit sinnloser

73Ebd.,

14. 15. 75Novalis: Schriften. Hg. von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mühl und Gerhard Schulz. Stuttgart 1960 ff., Bd. 3, 223, zit. nach Menninghaus 1995, 7. 76Ebd., 9. 77Ebd., 14. 78Ebd., 11. 79Kittler 1995, 55. 74Ebd.,

3.4  Unsinn als „Widergänger“ im hermeneutischen Regime

79

Buchstaben- und Wortversetzungen gar nicht erst zu ignorieren.“80 Am Beispiel von Schulfibeln zeigt Kittler auf, wie um 1800 ein „Kinderkreuzzug“ gegen Kombinationsspiele einsetzt, die Unsinn produzieren: „Es geht also um die Beseitigung des Gedankenlosen, das im Materiellen und Kombinatorischen aller Schrift stets möglich und drohend ist.“81 Kinder lernen nicht mehr mit den Silben ba, be, bi, bo, bu lesen; Minimalsignifikanten müssen nun „Sinnwörter“ sein wie Bad, Brett, Hof, Teig, Zahn, Mehl, Hut, Dorf.82 Die frühromantische Poetik des Unsinns könne, folgert Menninghaus, demnach als einer der vielfältigen Widerstandspunkte gelesen werden, die gemäss Foucault überall in einem Machtnetz präsent sind.83 Sie liegen nicht ausserhalb des neuen Sinn-Paradigmas, sind aber auch nicht nur dessen „parasitäre Negativform“.84 Mit seiner Bestimmung des Unsinns als Widerstandspunkt, als „Widergänger“, holt Menninghaus die Kategorie der Materialität ins hermeneutische Regime herein. Er beschreibt sie als intrinsisches Element desselben. Dies ist aber nicht als grundsätzliche Kritik an Kittlers Behauptung, die Ordnung der Repräsentationen habe die Repräsentabilität des Produktionsaktes ausgeschlossen, zu verstehen.85 Menninghaus betont, dass der Begriff des Unsinns überhaupt erst als korrelierender Begriff zur Kategorie des Sinns geboren werden konnte: Die Rhetorik-gestützte Poetik fragte mehr als zweitausend Jahre lang danach, ob Literatur schön oder nicht schön, ob sie erhaben, herzrührend, überwältigend, reinigend, besänftigend, schmerzlösend, unterhaltend oder nicht ist; ob sie in Wortwahl, Satz und Vers bestimmte virtutes dicendi erfüllt oder nicht; ob sie kanonische Vorbilder erreicht oder nicht. Mit dem Bruch des rhetorischen Paradigmas und der Emergenz des hermeneutischen ergeht dagegen vor allem ein Anspruch an die Literatur: unendlich sinnvoll zu sein. Erst mit diesem Anspruch wird auch der korrelierende Begriff des Unsinns als eine relevante Kategorie der Poetik geboren. Das System der Literatur musste erst auf ‚Sinn‘ als ihr Programm und ihr Qualitätskriterium umgestellt werden, bevor komplementär ein eigenes Genre kreiert werden konnte, das ausdrücklich den Begriff des Nonsense als seinen eigenen Namen instituiert.86

Das leuchtet ein. Nur wird die Radikalität dieser Zäsur zwischen rhetorischem und hermeneutischem Regime ausgerechnet in der materialitätstheoretisch informierten Literaturwissenschaft in Frage gestellt. Christian Benne kritisiert sowohl Jacques Rancières These von der Politik der Literatur, der radikalen Neuaufteilung des Sinnlichen zur Zeit der Französischen Revolution, als auch Kittlers

80Menninghaus 81Ebd.,

1995, 58.

59.

82Ebd. 83Ebd.,

10. Menninhaus bezieht sich auf Der Wille zum Wissen, den ersten Band von Michel Foucaults Sexualität und Wahrheit. Frankfurt a.M. 1977, 116–117. 84Menninghaus 1995, 10. 85Kittler 1995, 22. 86Menninghaus 1995, 14.

3  „The divine lunacy we call nonsense“

80

Ansatz.87 Denn um das politische Potential der Literatur im Sinne Rancières würdigen zu können, komme es auf die Lesenden genauso an wie auf die Verfasser.88 Bennes Fokus liegt auf der Rolle literarischer Handschriften für die Umstellung von Poesie und die ihr zugehörigen Rezeptionspraktiken auf Literatur und die ihr entsprechende Lektüre – und auf einem epistemologischen Wandel des Lektüreverständnisses.89 Rhetorische Lektürepraktiken seien nicht so rasch verschwunden, wie Rancière dies postuliere, sondern seien im Gegenteil in das philologisch-hermeneutische Verständnis eingeflossen: Die neue Lektüre entstand im Austausch von Philologen und Enthusiasten, Gelehrten und Ästheten, Künstlern und bildungsorientiertem Bürgertum. Es ist deshalb ein wissenschaftshistorischer Anachronismus, der Philologie um 1800 die Hermeneutik bereits als voll ausgebildetes Kerngeschäft zu unterstellen: Sammlung, Archivierung, Edition bleiben auf lange Zeit hinaus, und nicht nur dem Umfang nach, bedeutsamer.90

Dieser Anachronismus habe allerdings, vor allem durch Kittlers Thesen, beträchtlichen Einfluss auf die Einordnung der Epoche ausgeübt. In diesem Schema werde Hermeneutik mit der Abwendung von jeglicher Gegenständlichkeit verbunden und eine scharfe Trennung zwischen der bloss materiellen Oberfläche und der eigentlich interessanten Tiefendimension unterschieden.91 Hier, wie auch posthermeneutische Materialitätstheoretiker argumentieren, liege der Ursprung der Materialitätsvergessenheit, die bis in die 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts angedauert habe.92 Benne hält dagegen, dass die antihermeneutischen Bewegungen der letzten Jahrzehnte sich gegen die philosophische Grundlage der Hermeneutik als einer massgeblichen Theorie des 20. Jahrhunderts richteten und diese fälschlicherweise rückwärts auf die Kunstlehre der Hermeneutik um 1800 übertrügen.93 Unabhängig von Menninghaus‘ These vom Unsinn als „Widergänger“ sei die Philologie um 1800 keineswegs ausschließlich am Sinn ausgerichtet gewesen. Gerade für die englische Literatur, die auf keine idealistische Tradition zurückblickt, fällt dieses Argument ins Gewicht:

87Vgl.

Jacques Rancière: Die Politik der Literatur. Wien 2011. Benne: Die Erfindung des Manuskripts. Zur Theorie und Geschichte literarischer Gegenständlichkeit. Berlin 2015, 331. 89Ebd. 90Ebd. 91Ebd. 92Vgl. Hans-Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Frankfurt am Main 2004 sowie Präsenz. Frankfurt a. M. 2012; Aleida Assmann: Im Dickicht der Zeichen. Berlin: Suhrkamp 2015; sowie Mersch 2002a; Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M. 2002 [2002b] und Posthermeneutik. Berlin: Akademie Verlag 2010. 93Benne 2015, 332. 88Christian

3.4  Unsinn als „Widergänger“ im hermeneutischen Regime

81

Die Entdeckung des Sinns als eines hinter der Oberfläche verborgenen Tiefsinns war keineswegs eine Erfindung der romantischen Hermeneutik bzw. der von ihr konditionierten Literatur um 1800. Die Technik der dissimulatio, die Tradition der Allegorese – sie reichen weit in die Antike zurück.94

Im selben Atemzug verweist Benne auf die Tradition des wit in der englischen Literatur, die von der Spannung zwischen verstecktem Sinn und scheinbar unbedeutender Oberfläche lebte.95 Dem Witz wurde die Neigung zugeschrieben, ausser Kontrolle zu geraten, was Methoden der philosophischen Bändigung auf den Plan rief; namentlich die Herabstufung zum blossen Hilfsmittel für die eigentliche Erkenntnis.96 In seinem Essay Concerning Human Understanding beschreibt John Locke wit als blosse Ansammlung von Ideen, in der erst die Urteilskraft analystische Ordnung schaffen müsse.97 Die Vorstellung des „Tiefsinns“ im 18. Jahrhundert sei, betont Benne, eng mit dem Material der Medien verbunden, vor allem mit Manuskripten und den zugehörigen Schreibpraktiken.98 Der Autor werde durch die Selbstlektüre, die Relektüre eigener Manuskripte, zum Entdecker seiner selbst auf dem Gebiet der Schreibspuren.99 So gesehen steht Carrolls Schreibprozess zwischen mündlichem Erzählen, Fotografieren, ständiger Überarbeitung der Manuskript- und der Druckfassungen von Alice (vgl. Kap. 4) in einer langen Tradition. Benne führt noch ein weiteres Gegenargument ins Feld: Sowohl die Praxis des Lesens als auch die zeitgenössischen theoretischen Schriften widersprechen der Vorstellung „einer imperialistischen Hermeneutik um 1800“.100 Weniger die romantischen Schriften als immer noch Kant und Schiller prägten die Anleitungen zum Lesen im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert.101 Statt lediglich auf den Geist abzuzielen, hätten im Gegenteil Empfindungen und ästhetische Urteile eine zentrale Rolle gespielt.102 Die Gefühlsexzesse empfindsamer Lektürerituale, die Benne erwähnt, analysieren

94Ebd.,

334.

95Ebd. 96Stefan

Willer: Witz. In: Uwe Wirth (Hg.): Komik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart 2017, 11–16, hier 12. 97Willer 2017, 12 98Benne 2015, 334. 99Ebd., 343 f. 100Ebd., 335. 101Das belegt auch die nachhaltige Wirkung der Lesediätetik und Fantasiepädagogik, vgl. dazu Lötscher 2014. 102Benne bezieht sich unter anderem auf Johann Adam Bergks Die Kunst, Bücher zu lesen (1799) sowie auf Karl Heinrich Ludwig Pölitz’ Practisches Handbuch zur statarischen und cursorischen Erklärung der teutschen Classiker für Lehrer und Erzieher (1828). „Maßstab der ästhetischen Beurteilung ist, im Geiste Schillers, weniger die Suche nach Sinn als vielmehr das Gelingen der Versinnlichung des Ausdrucks, der Schillerschen Freiheit der Bewegung.“ (337)

82

3  „The divine lunacy we call nonsense“

auch Koschorke und Kappelhoff in ihren Studien zur Mediologie des 18. Jahrhunderts beziehungsweise zum Melodrama.103 Wichtig für das Verständnis des Alice-Maschine ist die Feststellung, dass nicht der Ertrag an Sinn im Mittelpunkt der Leseerfahrung steht, sondern „das Kunsterlebnis selbst, das den Menschen verändert und erst durch den explizit so bezeichneten ‚Gegenstand‘ ausgelöst wird.“104 Menninghaus beginnt sein Lob des Unsinns bezeichnenderweise mit Paragraph 50 aus Kants Kritik der Urtheilskraft und dessen Feststellung, dass Einbildungskraft ohne Urteilskraft nur Unsinn hervorbringe.105 Dieser „Politik der Beschneidung“, dieser „Kantischen Zucht“, die seit dem Einsetzen der Kritik am Kraftgenie des Sturm und Drang in den ­1770er-Jahren Gültigkeit hat, sei die romantische Literatur für einen kurzen Moment in der Geschichte entlaufen – zwischen 1795 und 1797.106 Der Unsinn assoziierte sich mit kleinen Formen, mit der Ästhetik von Ornament, Arabeske und Märchen.107 Die frühromantische Poetik des Unsinns, die Menninghaus beschreibt, lässt sich offensichtlich nicht einfach auf Carrolls Nonsense in den Alice-Büchern übertragen, die über ein halbes Jahrhundert später in einem ganz anderen kulturellen und historischen Kontext entstanden sind. Dennoch kehren gewisse Figurationen und Konstellationen, die Menninghaus herauspräpariert, in der Alice-Maschine wieder. Von Bedeutung ist dabei die Feststellung, dass die Poetik des Unsinns zwei „polare Abhänge der Einbildungskraft gleichzeitig zu beschreiten versucht“108: Die romantische Poetik des Unsinns kann „die Produktionslogik der Einbildungskraft in Gegensatz zu ihrer Realitätsfunktion bringen“ – oder sie kann „in der Ent-Setzung sinnvoller Zusammenhänge eine Art Realitätszeichen sehen: ein Durchschlagen der unverfügbaren Wirklichkeit ‚an sich‘ in die symbolischen Ordnungsstrukturen, ein Phantom des Realen“.109 Genau das geschieht, wie ich noch zeigen werde, in Carrolls Alice-Büchern: Der Nonsense steigert sich ins

Als Verbindungsstück zwischen „zugleich rhetorisch wie schillerisch inspirierter Interpretation zeitgenössischer Dichtung und moderner Hermeneutik“ lässt er Wilhelm von Humboldts Aufsatz über Goethes Hermann und Dorothea von 1799 gelten, an dem deutlich werde, „wie stark die Lektürepraxis, ganz entgegen der These von ihrer ausschließlichen Sinnfixierung, am Erlebnischarakter und damit an der Gegenständlichkeit von Dichtung interessiert ist.“ Ebd. 103Vgl. Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München: 1999; Kappelhoff 2004. 104Benne 2015, 335. 105„Reich und original an Ideen zu sein, bedarf es nicht so notwendig zum Behuf der Schönheit, aber wohl der Angemessenheit jener Einbildungskraft in ihrer Freiheit zu der Gesetzmäßigkeit des Verstandes. Denn aller Reichtum der ersteren bringt in ihrer gesetzlosen Freiheit nichts als Unsinn hervor; die Urteilskraft ist aber das Vermögen, sie dem Verstande anzupassen.“ Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Frankfurt a.M. 1974, 257. 106Menninghaus 1995, 7. 107Ebd. 108Ebd., 8. 109Ebd., 8–9..

3.4  Unsinn als „Widergänger“ im hermeneutischen Regime

83

Traumhafte, Rauschhafte, Fantastische – und macht die Unverfügbarkeit der Wirklichkeit dadurch erst erfahrbar. Ergiebig für das Verständnis der Alice-Maschine erweist sich Winfried Menninghaus‘ medienhistorische Analyse der Verwandtschaft von literarischem Unsinn und (deutschem) Kunstmärchen. In Lob des Unsinns arbeitet er heraus, dass der Hang zum Unsinn Teil der Gattungspoetik des Märchens sei.110 Ausserdem erlaubt der Blick auf die Entwicklung des Märchens im 19. Jahrhundert ein Verständnis der Alice-Bücher aus dem Kontext der zeitgenössischen viktorianischen Literatur heraus. Die Poetik des Unsinns konnte sich, zusammen mit der Poetik des Traums, nur vor dem gattungsgeschichtlichen Hintergrund des Kunstmärchens mit einer Poetik des Materiellen verbinden. Menninghaus zeigt auf, wie sich das Märchen in der Frühromantik zur unsinnigen Gattung par excellence entwickelte. Friedrich Schlegel, Novalis und Tieck sehen im Märchen wegen seiner chaotischen Form, seiner Abwesenheit von Zusammenhang den Inbegriff der Poesie.111 „In einem ächten Märchen muss alles unzusammenhängend sein“, postulierte Novalis.112 Die Faszination der Frühromantiker für das Märchen sei gerade vor dem Hintergrund der in der Aufklärung verbreiteten Kritik an dessen Unsinnigkeit zu verstehen. Insbesondere Kant, dem Menninghaus ein ganzes Kapitel widmet, verbannt den Begriff des Unsinns in eine pathologische Ecke: Der Imperativ des unendlichen Sinns verfolgt, wie die Zucht des Kraftgenies, eine Politik nicht so sehr der völligen Ausschließung des Unsinns als seiner Einkörperung durch Überwältigung. Diese Einkörperung jedoch führt ihrerseits – teils untergründig, teils offen – zu Unterbrechungen des unendlichen ästhetischen Sinns: in der Affinität von Geschmack und Groteske ebenso wie in der Lizenz von Lachen und Laune oder in der ‚nichts bedeutenden‘ Musik. Phänomene, die zuvor keine prägnante Beziehung auf die Unterscheidung von Sinn und Unsinn hatten, werden vor dem normativen Horizont unendlichen ästhetischen Sinns unversehens zu Vehikeln eines neuen Typs von Unsinn.113

Solche Einschlüsse von Unsinn im Strom des Sinns liest Menninghaus als Widerstandspunkte im Sinne Foucaults: „Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand. Und doch oder vielmehr gerade deswegen liegt der Widerstand niemals außerhalb der Macht.“114 Sie sind in den Machtbeziehungen. die andere Seite, das nicht wegzudenkende Gegenüber. Darum sind sie auch unregelmäßig gestreut; die Widerstandspunkte, -knoten und -herde sind mit größerer oder geringerer Dichte in Raum und Zeit verteilt, gelegentlich kristallisieren sie sich dauerhaft in Gruppen oder Individuen oder stecken bestimmte Stellen des Körpers, bestimmte Augenblicke des Lebens, bestimmte Typen des Verhaltens an.115

110Vgl.

Ebd., 191–246. 46.

111Ebd., 112Ebd. 113Ebd.,

44. Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I. Frankfurt a.M. 1977, 116. 115Ebd., 117. 114Michel

84

3  „The divine lunacy we call nonsense“

Einen solchen Widerstandspunkt erkennt Menninghaus in der frühromantischen Poetik des Märchens.

3.5 Hermeneutik: Sichabarbeiten an den Grenzen des Verstehens Die Frage, inwieweit Nonsense als Genremodalität mit spezifischen Verfahren hilft, die Alice-Maschine zu beschreiben und ihre Produktivität zu analysieren, kann dahingehend beantwortet werden, dass Nonsense, weil er sich einem herkömmlich hermeneutischen Zugriff entzieht, das Spiel mit klanglichen, rhythmischen, im weitesten Sinn materiellen Qualitäten der Sprache in den Vordergrund rückt. Die Ansätze der Nonsense-Forschung können aber erst in der Verbindung mit Theorien der Materialität produktiv werden. Nicht zuletzt aus dem einfachen Grund, dass Nonsense und die Materialität des Mediums – zunächst einmal des Buches – schon in den Alice-Büchern nicht zu trennen sind, wie ich in Kap. 4 zeigen werde. Diese Verbindung schlägt sich aber auch in der Theorie nieder. In den diskutierten Nonsense-Kategorien finden sich auf Schritt und Tritt Konvergenzpunkte zur Materialität der Sprache, unter Umständen sogar implizit zur Materialität des Buchmediums – was den Autoren selbst in der Regel nicht auffällt oder ihnen zumindest nicht der Rede wert zu sein scheint. In Tigges’ Repertoire aus vier Kategorien ist ausserdem die Materialität der Sprache für Wortspiele aller Art zentral, ebenso wie die Metafiktionalität; und er erwähnt, unter dem Oberbegriff der Simultaneität, die Bedeutung von Fussnoten, Illustrationen und Collagen.116 Hilfreich ist auch Tigges’ Gedanke, dass die sprachliche Natur des Nonsense das übliche Repräsentationsverhältnis von Sprache und Welt umkehre: Im Nonsense repräsentiere Sprache nicht die Welt, sondern der Unsinn erschaffe die Welt, indem er eine Eigendynamik entfalte.117 Hier ließe sich wiederum der Bogen zu Kappelhoffs Genretheorie schlagen, zum Paradoxon, dass Genres, indem sie unsere Wahrnehmung gestalten, uns die Welt, in der wir leben, überhaupt erst erfahren lassen.

116Tigges unterscheidet: 1) Mirroring: Inversionen, Umdrehungen, Verkehrungen, Spiegelungen aller Art; oft auf lexikalischer Ebene (Palindrome, Schüttelreime und Rätsel). 2) Imprecision: Vermischung, Hybridisierung, Spiel mit Grenzen. Verschiedene Elemente fließen ineinander (Metalepsen, Mise en abîme und andere Formen der Metafiktion; Überschuss von Bedeutung oder deren Unterdeterminiertheit). 3) Infinity: Serialität. Serien ohne Ursache und Wirkung (Alphabete, Limerick-Sequenzen, Bildergeschichten, Listen und Aufzählungen aller Art, Zirkularität). 4) Simultaneity: gemäss Tigges „the strongest semiotic device of nonsense literature“; Simultanität der Form: Fussnoten, Collage, Illustrationen; Diskontinuität: Kombination disparater Elemente; Rätsel und Wortspiele; Portmanteau-Wörter. 117Tigges 1988, 55.

3.5  Hermeneutik: Sichabarbeiten an den Grenzen des Verstehens

85

Nonsense und Unsinn, das wird aus der Diskussion der Forschungsliteratur klar, sind als Begrifflichkeiten so vage wie der in ihnen enthaltene Gegenpart. Bevor ich mich der posthermeneutischen Materialitätstheorie zuwende, möchte ich deshalb noch einen kleinen Abstecher in die Hermeneutik unternehmen. Denn immerhin war sie, als Motor des Lesens und des Interpretierens, am Ende wohl mindestens so produktiv wie die Alice-Maschine selbst, führt man sich die Menge der Forschungsliteratur zu Carrolls Kinderbuchklassikern vor Augen. Und fragt man nach dem Sinn und seiner Bedeutung, zeigt sich bald, dass diese Vagheit weniger eine Ungenauigkeit ist, als dass sie eine dem Prozess der Sinngebung angemessene Offenheit bezeichnet: „Sinnvoll oder sinnlos, mit einem spezifischen Sinn ausgestattet oder nicht, ist Realität nur als menschlich angeeignete, im Lichte humaner Interessen und ihrer Symbole gedeutete Realität.“118 In der modernen Hermeneutik lassen sich gemäss Matthias Jung drei Bedeutungsebenen des Sinnbegriffs unterscheiden: Sprachlicher Sinn, Handlungssinn und Lebenssinn. Die Bedeutungsschichten des Sinnbegriffs werden dabei von der symbolischen Vermitteltheit des menschlichen Realitätszugangs zusammengehalten – der Tatsache, „dass in jeder symbolischen Repräsentation Wirklichkeit nicht einfach widergespiegelt, sondern gedeutet wird.“119 Die elementare Struktur des Sinnverstehens besteht darin, dass „etwas als etwas“ verstanden wird.120 Wie sehr Lewis Carroll auf dieser Basis seine Sprachspiele treibt, zeigt sich in den Alice-Büchern beim Wörtlichnehmen von Aussagen oder bei der bereits erwähnten Homophonie von tale und tail im dritten Kapitel von Alice’s Adventures in Wonderland. Das Missverständnis zieht sich weiter in einem aufgeregten Dialog zwischen Alice und der Maus; während Letztere sich ärgert, dass Alice ihrer Erzählung (tale) nicht aufmerksam zugehört hat, und ihr bittere Vorwürfe macht, bemüht sich Alice nach Kräften, die Maus zu versöhnen: “I beg your pardon,” said Alice very humbly: “you had got to the fifth bend, I think?” “I had NOT!” cried the Mouse, sharply and very angrily. “A knot!” said Alice, always ready to make herself useful, and looking anxiously about her. “Oh do let me help undo it!” “I shall do nothing of the sort,” said the Mouse, getting up and walking away. “You insult me by talking such nonsense!” “I didn’t mean it!” pleaded poor Alice. “But you’re so easily offended, you know!”121

Alice und die Maus sprechen zwar dieselbe Sprache, gehen aber dennoch von zwei unterschiedlichen Vorstellungen des Verstehens von Erzählungen aus. Die

118Matthias

Jung: Hermeneutik zur Einführung. Hamburg 2010, 17.

119Ebd. 120Ebd. 121AAW,

25.

3  „The divine lunacy we call nonsense“

86

Maus besteht auf einem semantischen Zugang zu ihrer Geschichte; alles andere ist „nonsense“, während Alice zu einer sinnlich-gegenständlichen Lesart neigt. Die Gestaltung der Buchseite – das Schriftbild der Geschichte der Maus ist schwanzförmig dargestellt – gibt beiden Parteien Recht. Sie illustriert, wie explizit sich die Alice-Bücher mit Fragen der Hermeneutik beschäftigen – auf der Ebene des Spiels und auf der Metaebene. Das Verdikt „nonsense“ markiert wiederum den ­meta-hermeneutischen Diskurs. Die Verbindung zur grotesken Ornamentik ist offensichtlich. Lars Spuybroeks Studien zu John Ruskins kunsttheoretischen Schriften machen denn auch deutlich, dass es eine innere Verbindung zwischen viktorianischem Nonsense und der Faszination der Arts and Crafts-Bewegung für Ornamente und deren Materialität gibt.122 Darauf werde ich später zurückkommen – für den Moment genügt es festzuhalten, dass das in sich verwobene Spannungsverhältnis zwischen sinnlich-materieller Erfahrung und hermeneutischer Aktivität zu den Figurationen der Alice-Maschine gehört; als Variation von „will you, won’t you, will you, won’t you“ oder „should I stay or should I go“. Wie sehr das Schwanken im Dazwischen auch die Beziehung von Unsinn und Materialität bestimmt, möchte ich mit Hilfe von Emil Angehrns philosophischer Auseinandersetzung mit Sinn näher erläutern.

Das Material verstehen „Wir verstehen das Bild, nicht die Leinwand, auf der es gemalt ist.“123 Mit diesem Satz beginnt Emil Angehrns Buch Sinn und Nicht-Sinn, eine Studie zur Hermeneutik, die von der Unhintergehbarkeit des Sinns im menschlichen Weltverhältnis ausgeht, auch im sinnlichen Erfahren der Welt. Angehrn weiß natürlich genau, dass die Leinwand ein Teil des Bildes, ein Teil des material-medialen Dispositivs ist und nicht nur ein Trägermedium. Und er betont, dass es auch andere Arten der Bezugnahme auf die Welt gibt als die des Verstehens: Nicht jede Art des Aufnehmens, Erfassens und Erkennens ist ein Verstehen. Verstehen heißt etwas von anderem her und im Licht von anderem erfassen: es in seinem Kontext einordnen, es von einer Regel oder einem Gesetz her begreifen, es aus seiner Genese oder über seine Ursache verständlich machen.124

Umso dringender stellt sich die Frage, was es zu bedeuten hat, wenn die Leinwand sich in den Vordergrund drängt: Wenn die Buchseite in Carrolls ­Alice-Büchern durch ihre performative Funktion, konkret durch das Umblättern der Seiten, symbolisch eine solche Aufladung erfährt, dass sie, wie zum Beginn von Through

122Vgl. Lars Spuybroek: The Sympathy of Things. Ruskin and the Ecology of Design. London/ Oxford u. a. 2016. 123Emil Angehrn: Sinn und Nicht-Sinn. Das Verstehen des Menschen. Tübingen 2010, 21. 124Ebd., 19.

3.5  Hermeneutik: Sichabarbeiten an den Grenzen des Verstehens

87

the Looking-Glass, zu einem Spiegel wird, und weiter zu einem Portal in eine fantastische Parallelwelt. Im Zug dieses Prozesses, der die Buchseite sowohl mit Präsenz als auch mit Bedeutung versieht und sie damit dem hermeneutischen Prozess zugänglich macht, denkt das Buch über seine eigene Beschaffenheit und Funktionsweise, über seine eigene Medialität nach. Gleichzeitig wird es mit Eigenschaften eines Mediums ausstattet, das es 1871 noch gar nicht gibt:125 Das Umblättern der Seite nimmt das Montageprinzip des Films vorweg. Mit der Grundthese, dass Verstehen „ein Sichabarbeiten an den Grenzen des Verstehens“126 sei, etabliert Angehrn die Basis aller Fragen nach dem Unsinnigen in Literatur und audiovisuellen Medien; sie soll als Bindeglied zwischen der philosophisch-anthropologischen Dimension des Verstehens und dem epistemologischen Spiel dienen, das unter dem Label Nonsense künstlerisch gestaltet wird. Darüber hinaus denkt Angehrns Studie Hermeneutik und Materialität zusammen und bietet so einen kulturtheoretisch anschlussfähigen Zugang zum Phänomen des literarischen Nonsense.127 Dabei greift der Autor auf die aristotelische Formel vom Menschen als ζωον λογον εχων und deren aktuelle Auslegung in den Kulturwissenschaften zurück, da sich die Frage reflektiere, „wieweit Sinn auch außerhalb des Logos konstitutiert wird, im Verständnis des Menschen als eines nicht nur ‚logischen‘, sondern leiblichen, affektiven, naturalen Lebewesens.“ Angehrn formuliert den Satz des Aristoteles neu: […] der Mensch ist ein verstehendes und sich über sich verständigendes Wesen im Medium des leiblichen Erlebens und affektiven Fühlens ebenso wie des Handelns, des sprachlichen Ausdrucks und des zwischenmenschlichen Gesprächs.128

Er unterscheidet drei Hauptbedeutungen von Sinn: Sensus, Sinn als Organ des Verstehens; hermeneutischer Sinn als Gegenstand des Verstehens; und normativer sowie teleologischer Sinn.129 Als Paradigma des Sinngebildes bezeichnet Angehrn die sprachliche Äußerung als das Verstehbare par excellence; Idealtypus des Sinns sei die semantische Bedeutung.130 Verstehbar seien aber auch der Gesichtsausdruck,

125Der

Fotograf  Eadweard Muybridge fertigte 1872 erstmals Serienfotografien eines galoppierenden Pferdes an. Vgl. dazu Christoph Benjamin Schulz: Poetiken des Blätterns. Hildesheim/Zürich/New York 2015, 262. Zum Buch als Supermedium, das sich im Rückgriff auf Literaturtheorien der deutschen Frühromantik mit Eigenschaften von jeweils neuen Medien auflädt vgl. Lötscher 2014. 126Angehrn 2010, 1. 127Zunächst, indem er zwischen sinnhaftem und nicht-sinnhaftem Weltbezug unterscheidet: „Einen Text oder eine AffektÄußerung können wir – im Prinzip – verstehen, den Aufbau eines Kristalls oder die Veränderung des Klimas können wir analysieren oder kausal erklären, doch nicht in gleicher Weise in ihrem Sinn ‚verstehen’. Wir verstehen das Bild, nicht die Leinwand, auf der es gemalt ist.“ Angehrn 2010, 21. 128Ebd., 4. 129Ebd., 9–12. 130Ebd., 11.

3  „The divine lunacy we call nonsense“

88

die Körpersprache, der affektive Zustand des Menschen; verstehbar seien Handlungen, Lebensformen, Traditionen und Rituale, gesellschaftliche Praktiken und Einstellungen, verstehbar seien künstlerische Werke, Ausdrucksformen und Stilrichtungen, verstehbar seien aber auch Ereignisse und Geschichten, dem Gläubigen der Sinn der Schöpfung, dem Naturforscher das große Buch der Natur.131 Wir erfahren Sinn als Differenzphänomen – zwischen Sinnpräsenz und Sinnentzug. Vor dem Hintergrund des Nicht-Sinns erscheint er als unsicherer, bedrohter, begrenzter Sinn.132 Sinn ist konstitutiv auf sein Anderes, auf den NichtSinn und die Grenze des Sinns, bezogen: Hermeneutik als Kunst der Deutung hat mit dem Verständlichmachen dessen zu tun, was sich dem Verstehen zunächst entzieht, mit dem Unbekannten und Fremden, dem Dunklen und Unverständlichen; hermeneutische Arbeit ist […] ein Sichabarbeiten an den Grenzen des Verstehens. Zum Sinnphänomen selbst gehört, dass es in eigentümlicher Differenz zum Nicht-Sinn auftritt.133

Zentral für Angehrns hermeneutischen Zugang ist die Voraussetzung, dass die Grenzen der Sprache nicht die Grenzen des Sinns sind.134 Es gibt sinnhaftes Verhalten und Vernehmen im Nicht-Sprachlichen, diesseits und jenseits der Sprache, ohne dass der Sinn das Ganze des menschlichen Seins umgriffe. Vielmehr hat dieses in vielfacher Weise mit der Erfahrung des Nicht-Sinns zu tun, sowohl als äußere Grenze und Herkommen aus Nichtsinnhaftem wie als inneres Infragegestelltsein der Sinnhaftigkeit des Meinens und Tuns. Die Auseinandersetzung mit dem Nichtverstehen betrifft alle, die sprachlichen wie die nichtsprachlichen Dimensionen des Sinns; auch emotionales, ästhetisches und gestisches, bildliches und musikalisches Verstehen ist in prägnanter Weise mit der Schwelle von Verstehen und Nichtverstehen konfrontiert. Die Begegnung mit dem Anderen des Sinns beleuchtet eine Tiefenschicht des Problems des Verstehens im Ganzen.135

Denn der Mensch verstehe sich im Medium des leiblichen Erlebens und affektiven Fühlens ebenso wie im Handeln, im sprachlichen Ausdruck und im Gespräch.136 Das subjektive Selbstverständnis wird nun aber durch die Konfrontation mit dem Anderen des Sinns gebrochen: Dabei sind nicht nur die verdeckten Zonen im Selbst und die Endlichkeit reflexiven Verstehens im Spiel. In Frage steht, wieweit der verstehende Welt- und Selbstbezug grundsätzlich mit Sinnentzug und Sinnlosigkeit, ja der Sinnwidrigkeit des Negativen zu tun hat. Sich über sich verständigen schließt den Bezug zu dem ein, von dem kein wirkliches Verständnis, zu welchem kein positiver Sinnbezug möglich ist: zum Tod, zum Leiden, zum Bösen.137

131Ebd. 132Ebd.,

244.

133Ebd. 134Ebd., 135Ebd. 136Ebd. 137Ebd.

4.

3.5  Hermeneutik: Sichabarbeiten an den Grenzen des Verstehens

89

Angehrns negativistische Hermeneutik trägt wesentlich zum Verständnis der verstörenden Seite der Alice-Maschine bei, indem sie den Abgrund hinter dem ins Komische gedrehten Spiel mit den Missverständnissen, dem Aneinandervorbeireden und dem Nichtverstehen im Modus des Nonsense ins Licht rückt – also alles, was die Theorien des Nonsense mit ihrem Fokus auf sprachspielerische Verfahren nicht richtig in den Griff bekommen. Gemäss Angehrn verweist das Verstehen immer auf eine existentielle Auseinandersetzung mit dem Negativen. Die Widerständigkeit des Negativen ist so nicht nur eine letzte Herausforderung, sondern macht den innersten Kern des Verstehens und Verstehenwollens aus.138 Angehrn zeigt auf, wie Sinn und Verstehen, […] obwohl sie nicht in Sprache aufgehen, in dieser ihren Kern und Horizont haben, inwiefern auch affektives, bildliches oder musikalisches Verstehen, die einer je eigenen Logik folgen, im genuinen Sinne verstehend sind als Dispositionen eines Wesens, das über die Sprache verfügt, in welcher Weise die Öffnung auf Sprache und die Teilhabe an Sprache die anderen Dimensionen zu spezifischen Sinndimensionen werden lässt – aber umgekehrt ebenso, inwiefern sprachliches Verstehen nicht dem Binnenraum des Logischen entstammt, sondern im praktischen Leben und in der sinnlich-leiblichen Existenz der Menschen wurzelt.139

Alles Verstehen sei mithin „ein Verstehen des Menschen in dem zweifachen Sinne, dass es in der menschlichen Existenz wurzelt und dass in ihm der Mensch sich selbst versteht und auslegt, dass Verstehen sich immer auch als Verständigung über sich selbst vollzieht.“140 Der Fluchtpunkt sei die Idee einer negativen Hermeneutik des Selbst. Angehrn spricht von einer Mehrdimensionalität des Sinnverstehens, […]  das sich vom leiblichen Erleben über den praktischen Existenzvollzug zur ­sprachlich-reflexiven Selbstinterpretation erstreckt, zum anderen in der Brechung durch die Endlichkeit des Verstehens und die Auseinandersetzung mit erlebter Negativität und den Grenzen des Sinns. Das Bild des Menschen konstituiert sich in einem Prozess reflexiver Verständigung, die sich zugleich auf die Frage nach dem Sinn und die Auseinandersetzung mit dem Anderen des Sinns einlässt.141

Angehrns Konzept des Verstehens will die Hermeneutik nicht als unzulänglich zurückzulassen, wie das die posthermeneutischen Ansätze von Hans Ulrich Gumbrecht und Aleida Assmann, vor allem aber von Dieter Mersch tun.142 Vielmehr löst er die Philosophie des Verstehens von der Idee, dass eine im Kunstwerk verborgene Botschaft zu entschlüsseln sei. Indem er ihren verstehenskritischen Kern herausarbeitet, entwickelt er die Hermeneutik weiter. Sich auf die Radikalität des hermeneutischen Ansatzes zu berufen ist nicht neu; Peter Szondi hat dies bereits in seiner Einführung in die literarische Hermeneutik

138Ebd.,

5.

139Ebd. 140Ebd.,

5–6. 6. 142Vgl. Gumbrecht 2004 und 2012; Assmann 2015; Mersch 2002a und 2002b. 141Ebd.,

90

3  „The divine lunacy we call nonsense“

getan. Der hermeneutische Zirkel, argumentiert er, sei in der Literaturwissenschaft zu einem Beruhigungsmittel geworden, obwohl er doch eigentlich ein Skandalon sei. Denn die Suchbewegung selbst müsse immer einer erkenntniskritischen Analyse unterworfen sein.143 Szondi beschreibt zu Beginn seiner Vorlesung, wie sich die Hermeneutik seit Dilthey von der „materialen Interpretationslehre“ – damit meint er die philologische Lehre – zur philosophischen Hermeneutik entwickelt habe. Die literarische Hermeneutik könne nun nicht mehr dahinter zurück.144 Für Szondis Entwurf einer literarischen Hermeneutik bedeutet das, dass die „Regeln und Kriterien der philologischen Interpretation im Lichte des heutigen Dichtungsverständnisses revidiert werden“ müssten. Der ästhetische Charakter werde nicht erst in der Würdigung, die auf die Auslegung folgt, berücksichtigt, sondern werde zur Prämisse der Auslegung selbst.145 Unter literarischer Hermeneutik, schreibt Szondi, wolle er zwar keine unphilologische, „aber die Philologie mit der Ästhetik versöhnende Auslegungslehre“ verstehen.146 Obwohl Angehrn zwischen dem Sinn als Organ des Vernehmens und dem Sinn als Gegenstand des Verstehens unterscheidet, kommt es bei ihm nicht zur Dichotomie zwischen Sinnlichkeit und Sinn in der Art, wie sie sich durch die gesamte Materialitätsdiskussion zieht und schließlich immer wieder in die Aporie führt. Für Angehrn ist der Sinn in seiner sensorischen Bedeutung im Gegenteil „in hohem Maße hermeneutikrelevant“,147 da in ihr nicht nur die Fähigkeit des Wahrnehmens liegt, sondern auch die Zuwendung des Interesses, etwa die Empfänglichkeit für ästhetische Sachverhalte.148 Der Sinn in dieser Bedeutung sei. Voraussetzung des Verstehens der Welt und seiner selbst. Wem der Sinn für soziales Verhalten – oder für affektives Berührtsein, für moralisches Unrecht, für künstlerische Prägnanz, für Naturschönheit usw. – abgeht, wird die anderen, die Welt und sich selbst nur in beschränkter Weise verstehen.149

Praktisch nichts von dem, was über Nonsense geschrieben wurde, bezieht die in der Folge des material turn gewonnenen Erkenntnisse mit ein. Wenn man die Gestaltung der Alice-Bücher in ihrer Materialität aber ernst nimmt (vgl. Kap. 4), verschiebt sich die Perspektive auf Carrolls Nonsense noch einmal. Die Spiele mit Sinn und Unsinn erscheinen nicht mehr als Merkmale eines taxonomisch auf eine Reihe von Verfahren reduzierbaren Genres, sondern als ein integraler Bestandteil der Arbeit mit dem Material des Buches – die Figurationen rund um das Verschwinden der Grinsekatze veranschaulichen es. Dies geht weit über

143Peter Szondi: Einführung in die literarische Hermeneutik. Studienausgabe der Vorlesung. Frankfurt a.M. 1975, 13. 144Ebd. 145Ebd. 146Ebd., 22. 147Angehrn 2010, 9. 148Ebd. 149Ebd.

3.5  Hermeneutik: Sichabarbeiten an den Grenzen des Verstehens

91

den wissenschaftlichen common sense hinaus, dass Nonsense vom Spiel mit der Materialität der Sprache lebt. „Take care of the sense and the sounds take care of themselves“,150 sagt die Herzogin zu Alice, doch ihr aus leeren Worthülsen montiertes Geschwätz steht – als Parodie der netten Konversation beim Tee – für das Gegenprogramm zum Unsinn, den Alice im Dialog mit den meisten Figuren produziert. Im Text verhält es sich nämlich genau umgekehrt: Klang und Reim bestimmen, was die Figuren sagen und was aufs Papier kommt – sie machen sich selbstständig. Und bringen die Kreaturen des Wunderlands dazu, alles wörtlich zu nehmen – an der „mad tea party“ in Alice’s Adventures in Wonderland oder in Alices Gespräch mit Humpty Dumpty in Through the Looking-Glass. Nonsense als Spiel mit dem Material der Sprache ist in den Alice-Büchern Teil der divergierenden Figurationen. Erst ins Verhältnis gesetzt mit Illustrationen, Elementen der Schriftbildlichkeit sowie Aufforderungen zur haptischen Handhabung des Buchmediums, erst in der Poeisis des dreidimensionalen Lesens realisiert sich die Alice-Maschine – ein Prozess, zu dem die absurden Sprachspiele ebenso gehören wie Dodgsons laienhaftes Herumbasteln mit Leim und Schere und die zunehmend professionelle Überarbeitung des Buches.151 Je mehr die AliceBücher zum M ­ eta-Buch werden, umso interaktiver ist ihre Anlage; in The Nursery Alice (1890), dem letzten der Alice-Bücher, materialisiert sich das angesprochene Kind als Figur, die sich zugleich innerhalb und ausserhalb des Textes befindet. Entsprechend ist Alice selbst Protagonistin und Leserin ihrer Geschichte, und als Leserin wird sie, nach der Logik der sich verselbständigenden Materialität, gleichsam zur Autorin. Denn alles, was sie sich vorstellt, geschieht auch wirklich – „everything you can think of is true“, wie Tom Waits in einem seiner AliceSongs festhält.152 Ihr Fantasieren, das Tun-als-Ob, das Rollenspiel, das sie so liebt, präformiert jeweils die Ereignisse im Wunderland und hinter den Spiegeln. Wenn Alice sich etwas bildhaft vorstellt oder ihre Katze zum Spiel auffordert – „let’s pretend!“153 –, realisiert es sich im Wunderland in beängstigendem Tempo. Ganz ähnlich verhält es sich mit Carrolls Umgang mit den Materialien, vom Schriftzeichen über die Buchseite bis zum Buch als ganzem Objekt. Unsinn und Materialität lassen sich in der Alice-Maschine nicht voneinander trennen. Letztlich sind sie Resultat eines Prozesses, zu dem die spontanen, absurden Einfälle ebenso gehören wie die Entstehungsgeschichte des Buches. Die materielle Poetik der Alice-Bücher versetzt alle Elemente des Buches in einen Zustand, der es erlaubt, sie nach Belieben mit Bedeutung aufzuladen. Das gilt

150AAW,

69. die Faksimileausgabe von Alices Adventures Under Groundmit Carrolls Zeichnungen sowie die Vorlage für „the mouse’s tale“: Alice’s Adventures Under Ground by Lewis Carroll. A facsimile of the 1864 manuscript Hg. von Martin Gardner. New York 1965. 152Tom Waits: Alice. USA 2002. 153TLG, 108: „Kitty dear, let’s pretend […]“, sagt Alice zu ihrer Katze, kurz bevor sich der Spiegel in Dunst auflöst. 151Vgl.

3  „The divine lunacy we call nonsense“

92

für Buchstaben, typographische Zeichen, die Rahmung der Illustrationen, Ornamente, den Weißraum sowie den Akt des Umblätterns. Das Zusammenspiel von Nonsense und Materialität produziert nicht etwa eine posthermeneutische Poetik, sondern überwindet vielmehr die Aporien der Materialitätsdebatte, ganz im Sinne von Christian Bennes Befund: Sie „sind dann gegenstandslos, wenn Materialität nicht mehr schlicht mit Stofflichkeit gleichgesetzt wird, Sinn aber auch nicht mehr mit reiner Repräsentation.“154 Doch nun ist es an der Zeit, den Materialitätsbegriff zu klären und zu untersuchen, inwiefern der Fokus auf die Materialität des Mediums erlaubt, die Funktionsweise der Alice-Maschine zu verstehen.

154Benne

2015, 107.

Kapitel 4

Materialität des Sinns, Hermeneutik des Unsinns

4.1 Das Material der Literatur Im letzten Kapitel habe ich gezeigt, wie sehr es auf der Hand liegt, Theorien des Unsinns mit Theorien der Materialität verbinden zu wollen. Denn unsinnige Verfahren scheinen eine ästhetische Erfahrung zu ermöglichen, die einer auf die Materialität der Literatur – der Künste überhaupt – bezogenen Rezeptionshaltung verwandt ist. In Emil Angehrns Negativistischer Hermeneutik gibt es hilfreiche Ansätze, die als Basis für ein material- und materialitätssensibles, aber immer noch innerhalb des Hermeneutischen anwendbares Analyseinstrumentarium dienen. So inspirierend die posthermeneutischen Theorien auch sind, die in der Folge des material turns entstanden und zu Recht gegen eine Mainstream-Hermeneutik angetreten sind, der es um die Enthüllung des ver­ borgenen Sinns hinter jedem Text ging, so wenig praktikabel erweisen sich ihre Kategorien bei der Arbeit mit Texten und audiovisuellen Bildern. In der medienund kulturanalytischen Praxis kann es gerade nicht darum gehen, „das Narrative“ oder das hermeneutisch Zugängliche vom materiell-ästhetischen zu trennen, sondern vielmehr einen Weg zu finden, um den Prozess des Lesens, des Verstehens, des meaning making zu beschreiben. Dennoch ist es keine leichte Aufgabe, ein doch recht flüchtiges, sich philologischen Instrumenten wie der expliziten Intertextualität entziehendes Phänomen wie die Alice-Maschine mit Hilfe von materialitätstheoretischen Ansätzen zu denken. Es geht mir auch keineswegs darum, anhand der Alice-Bücher so etwas wie eine materielle Intertextualität – eine Intermaterialität –1 nachzuweisen.

1Zum Konzept der Intermaterialität siehe Thomas Strässle: Einleitung – Pluralis materialitati In: Ders./Christoph Kleinschmidt/Johanne Mohs (Hg.): Das Zusammenspiel der Materialien in den Künsten. Theorien – Praktiken – Perspektiven. Bielefeld 2013, 11–16.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lötscher, Die Alice-Maschine, Studien zu Kinder- und Jugendliteratur und -medien 6, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05707-5_4

93

94

4  Materialität des Sinns, Hermeneutik des Unsinns

Was mich interessiert, sind gerade Verfahren und Figurationen, in denen sich materielle und semiotische Elemente verbinden. Doch zunächst muss geklärt werden, was denn mit dem Material der Literatur überhaupt gemeint ist. Im nächsten Kapitel über die Alice-Bücher im Kontext der viktorianischen material culture gehe ich von der buchstäblichen Materialität des Buches aus; dazu gehören Schriftbild, Layout, Illustrationen, Haptik und Gestaltung des Buches, von der Papierqualität bis zum Cover.2 Doch dies ist nur ein Aspekt der Materialität. Klaus Müller-Wille beobachtet neben der buchstäblichen Materialität drei weitere Herangehensweisen: eine prozessuale (poststrukturalistische) und eine widerständige (posthermeneutische) Materialität sowie schließlich Materialität als historisches Phänomen.3 Das Desiderat posthermeneutischer Ansätze besteht darin, die radikal andere, nicht dem Bedeutungsprozess unterworfene und unterwerfbare Seite des Kunstwerks in den Blick zu rücken – Präsenz,4 Ereignis,5 Störung;6 Materialität ist hier gerade das, was sich nicht (an)fassen lässt. Diese wiederum müssen vor dem Hintergrund einer Literaturtheorie und Literaturgeschichtsschreibung gesehen werden, die sich seit der von Kittler diagnostizierten „hermeneutischen Wende“7 um 1800 nicht (mehr) für die im weitesten Sinn materielle Gestalt und Erscheinungsform von Texten interessieren. Im hermeneutischen Regime war Literatur, zugespitzt gesagt, ganz und gar unabhängig von ihrem Material und ihrem medialen Dispositiv: Der Sinn liegt hinter dem Text, in der Tiefe verborgen und muss von der Leserin ergründet werden. Die zentralen Paradigmata der Literaturtheorie des 20. Jahrhunderts – das gilt für die Psychoanalyse ebenso wie für marxistische Theorie, Strukturalismus und Semiotik, Dekonstruktion und Diskursanalyse – postulierten zwar andere Zugänge zu Texten, die mit ihrem Verständnis einer Konstruktion von Sinn zumindest teilweise weniger auf die Tiefe und mehr auf Gemachtheit und Oberfläche zielten als die klassische Hermeneutik, die historische, kulturelle und soziale Diskurse ins Spiel brachten, doch das Material der Literatur blieb lange unberücksichtigt. Die kulturwissenschaftliche (Populär)Literatur- und Medienwissenschaft, zu der ich mit diesem Buch einen Beitrag leisten möchte, hat ihre Stärke in einem Kulturverständnis, das sich nicht für herausragende Einzelwerke als solche interessiert, sondern für Genres, Modi und Poetiken, die synchron und diachron aufeinander

2Vgl.

­Müller-Wille 2017 sowie Ders.: Das Lesen neu erfinden. Zu Aspekten der Materialität in der Kinder- und Jugendliteratur. In: Ute Dettmar/Caroline Roeder/Ingrid Tomkowiak (Hg.): Schnittstellen de Kinder- und Jugendmedienforschung. Aktuelle Positionen und Perspektiven. Stuttgart 2019, 11–26. 3Müller-Wille 2017, 17–33. 4Vgl. Gumbrecht 2004 und 2012. 5Vgl. Mersch 2002a; Benne 2015, 137. 6Vgl. Mersch 2002b, 63. 7Kittler 1995, 110.

4.1  Das Material der Literatur

95

Bezug nehmen; dazu gehört auch der Austausch zwischen sogenannter Hoch- und Populärkultur.8 In den letzten beiden Jahrzehnten wurde, besonders auch in der Kinder- und Jugendmedienwissenschaft,9 intensiv zu Inter- und Transmedialität sowie zu Medienverbundphänomenen geforscht. Doch auch hier gelangte der Aspekt der Materialität erst kürzlich stärker in den Fokus.10

Materialität – ein Forschungsüberblick In einem Handbuchartikel zur Visualität und Materialität der Literatur gliedert Stephan Kammer die vielfältigen und schwer auf einen Nenner zu bringenden materialitätstheoretischen Zugänge in drei Gruppen. Erstens fasst er medientheoretische und medienhistorische Ansätze zusammen, die „nicht länger von der Neutralität des ‚Kanals‘ gegenüber den von ihm transportierten ‚Inhalten‘ ausgehen wollen“, zweitens sprachtheoretisch und semiotisch begründete Ansätze, „die in der Schrift nicht mehr nur ein Derivat gesprochener Sprache sehen wollen“, und drittens produktionsästhetisch oder entstehungsgeschichtlich orientierte Ansätze, „die den Logiken und Eigenlogiken schriftlicher Arbeitsprozesse“ nachspüren.11 Dementsprechend liegt der Fokus der deutschsprachigen Materialitätsforschung auf medientheoretischen und produktionsästhetischen Zugängen, während im angelsächsischen Bereich – neben Jerome McGanns Auseinandersetzung mit der Bedeutung der konkreten Buchgestaltung für die

8Vgl. Hügel 2007; Ingrid Tomkowiak: Postmodern Storytelling in Traditional Popular Genres. Gore Verbinski’s Movies as Reflections on Narrative Patterns. In: Narrative Culture 1,2 (2014), 175–190; Ingrid Tomkowiak: Lili Marleen auf Latein. Umberto Eco und das Populäre. In: Thomas Forrer, Angelika Linke (Hg.): Wo ist Kultur? Perspektiven der Kulturanalyse. Zürich 2014, 127–145. 9Vgl. z. B. Gina Weinkauff, Ute Dettmar, Thomas Möbius, Ingrid Tomkowiak (Hg.): Kinder- und Jugendliteratur in Medienkontexten. Adaption – Hybridisierung – Intermedialität – Konvergenz. Frankfurt a.M. u. a. 2014; Ute Dettmar, Ingrid Tomkowiak, (Hg.): Spielarten der Populärkultur. Kinder- und Jugendliteratur und -medien im Feld des Populären. Kinder- und Jugendliteratur und -medien im Feld des Populären. Frankfurt a.M. u. a. 2018. 10Vgl. Ingrid Tomkowiaks Studien zu Materialität im (Animations)film und im Bilderbuch, die im Rahmen des Projekts „Poetiken des Materiellen“ entstanden sind: „Ein Grinsen ohne Katze!“ Materialität, Medialität und Metamorphose in Alice-Animationsfilmen. In: Julia Eckel, Erwin Feyersinger, Meike Uhrig (Hg.): Im Wandel… – Metamorphosen der Animation. Heidelberg: Springer VS 2018, 103–122; „… die Klangfülle des malerischen Instruments…“. Sensorische Strategien im Gesamtkunstwerk Bilderbuch. In: Lars Oberhaus/Mareile Oetken (Hg.): farbe klang reim rhythmus. Interdisziplinäre Zugänge zur Musik im Bilderbuch. Bielefeld: transcript 2017, 23–54; Präsenz des Stofflichen. Materialität im Animationsfilm. In: 1001 buch 1/2018, 38–39; „It’s all made by hand.“ Ästhetik und Inszenierung des Handgemachten in Animationsfilmen. In: Ute Dettmar/Ingrid Tomkowiak (Hg.): Spielarten der Populärkultur. Kinder- und Jugendliteratur und -medien im Feld des Populären. Frankfurt a.M. u. a. 2018. 11Stephan Kammer: Visualität und Materialität der Literatur. In: Literatur und visuelle Kultur, Hg. von Claudia Benthien und Brigitte Weingart, Berlin/New York 2014, 31–47, hier 33.

96

4  Materialität des Sinns, Hermeneutik des Unsinns

Interpretation literarischer Texte12 – gerade in der Kindermedienforschung vor allem die material culture, der Umgang mit und die Inszenierung von Dingen sowie des Körpers in der Literatur im Mittelpunkt des Interesses steht. Alice und ihr wachsender und schrumpfender Körper, Alice und die Dinge sind bereits erschöpfend untersucht worden.13 Die deutschsprachige materialitäts- und medientheoretische Forschung ist jedoch noch wenig in neuere ­ Alice-Lektüren eingeflossen.14 Den Anfang der Materialitätsdebatte in den Geistes- und Kulturwissenschaften markiert der Band Materialität der Kommunikation von 1988, herausgegeben von Hans Ulrich Gumbrecht und Karl Ludwig Pfeiffer. Längst vergriffen, gehört das dicke Taschenbuch der Reihe Suhrkamp Wissenschaft zu den heiss begehrten Bibliotheksbüchern; antiquarisch sind nur wenige Exemplare im Umlauf, die zu stolzen Preisen ab hundert Euro angeboten werden. In der Zentralbibliothek Zürich wartetet man monatelang auf den mit Bleistiftnotizen und Kaffeeflecken arg traktierten Band, nur um das abgegriffene Exemplar nach der minimalen Ausleihzeit wieder zurückbringen zu müssen; es gibt immer eine Warteschlange. Unterdessen sind die Beiträge des Bandes aber längst in die Forschung zur Materialität eingearbeitet worden; zu erwähnen ist hier der von Sigrid G. Köhler u. a. herausgegebene Band Materie. Grundlagentexte zur Theoriegeschichte (2013) sowie die beiden von Thomas Strässle u. a. herausgegebenen Sammelbände Poetiken der Materie. Stoffe und ihre Qualitäten in Literatur, Kunst und Philosophie (2005) und Das Zusammenspiel der Materialien in den Künsten (2013). Neuere Monographien aus dem deutschsprachigen Raum stammen von Dieter Mersch, Monika Wagner, Christian Benne und Klaus Müller-Wille, wobei sich hier (wie auch in den Sammelbänden von Strässle) das weite Feld der Materialitätsforschung auftut: Monika Wagners kunsthistorische Perspektive beleuchtet haptisch-konkrete Aspekte des Materials in den Künsten und bildet sozusagen einen Gegenpol zu Merschs medienphilosophischer Herangehensweise.15 Christian Bennes Zugang ist zunächst ein editionstheoretischer; ausgehend von der These, dass der Buchdruck die Handschrift keineswegs überflüssig gemacht hatte, sondern im Gegenteil einen neuen, am Autographen ausgerichteten

12Jerome

McGann: The Textual Condition. Princeton/New Jersey 1991. Vgl. dazu auch MüllerWille 2017, 21–22. 13Vgl. z. B. Roderick McGillis: „Nonsense“. In: Richard Cronin/Alison Chapman/Anthony Harrison (Hg.): A Companion to Victorian poetry. Oxford: Blackwell 2002, 155–170; Reynolds 2007; Beer 2016. 14Eine Ausnahme ist Monika Schmitz-Emans, die sich bereits in den 1990er-Jahren für die Ästhetik des Buchobjekts interessierte, unter anderem im Werk Jean Paul. Vgl. Schmitz-Emans, Monika: Die Buchkörper als Träger ästhetischer Botschaften. Von Jean Pauls Bücherphantasien zur modernen Buchkunst. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 2014, 265–284. Vgl. auch: Zwischen planen und gebogenen Oberflächen. Zu Lewis Carrolls Alice. In: Kurt Röttgers/ Monika Schmitz-Emans: Oben und Unten. Oberflächen und Tiefen. Essen 2013, 161–176. 15Vgl. Monika Wagner: Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne. München 2001a.

4.1  Das Material der Literatur

97

Literaturbegriff provozierte, kritisiert er die unproduktive Polarisierung zwischen ausschließlich sinnlich erfahrbarem Material auf der einen und hermeneutisch zugänglichem Textinhalt auf der anderen Seite. Müller-Wille geht von ähnlichen Voraussetzungen aus und begreift die Materialität der Literatur als ein historisches Phänomen, dem man in Form einer Diskursgeschichte nachgehen kann, die ihrerseits in Relation zu den jeweiligen Medienpraktiken und Medientechniken der Zeit gesetzt werden muss.16 Einen aktuellen Überblick über den Forschungsstand findet sich denn auch bei Benne und bei Müller-Wille; Thomas Strässles Einleitung in Das Zusammenspiel der Materialien in den Künsten sowie Monika Wagners Artikel im Handbuch Ästhetische Grundbegriffe von 2001 erweist sich als hilfreich, was die Geschichte der Stellung des Materiellen in den Künsten und in den Geisteswissenschaften betrifft. Unter dem Lemma „Material“ setzt sie den Begriff von der philosophischen Grundlagenkategorie der Materie ab, deren Geschichte, die seit der griechischen Antike im Spannungsverhältnis zur Kategorie der Form steht, sich Sigrid Köhler in der Einleitung zum Sammelband Materie annimmt.17 „Material“ löst sich erst in der Neuzeit allmählich aus „Materie“ heraus; zur ästhetischen Kategorie wird es überhaupt erst im 20. Jahrhundert:18 Allgemein bezeichnet Material im Unterschied zu Materie nur solche natürlichen und artifiziellen Stoffe, die zur Weiterverarbeitung vorgesehen sind. Als Material sind Stoffe und Objekte Gegenstand der Veränderung durch Bearbeitung, sodass der Stand der Produktivkräfte bzw. der jeweilige historische Umgang ablesbar ist. Im engeren Sinne bezeichnet Material den Ausgangsstoff jeder künstlerischen Gestaltung. Unter diesem Gesichtspunkt steht auch Material, wie Materie, in Wechselbeziehung zu Form und Idee, den Inbegriffen schöpferischer Gestaltung.19

Bis ins 20. Jahrhundert hinein galt Material in einer sich auf Platon und Aristoteles berufenden idealistischen Tradition der ästhetischen Theorie als das, was „von der Kunst als Gestaltung überwunden bzw. transformiert zu werden hatte.“20 Erst vor dem Hintergrund einer medialen Entwicklung, die dazu führte, dass digitale Texte und Bilder dieselbe materiale Beschaffenheit annehmen, gerate auch das Material, aus dem ein Werk besteht oder in dem es sich realisiert, unter neuen Gesichtspunkten in den Blick: „Insofern verwundert es kaum, dass erst mit der Infragestellung und dem postulierten Verschwinden physisch-taktiler Ebenen des alten Materialbegriffes das Material in den engeren Reflexionshorizont der Ästhetik

16Müller-Wille

2017, 33. G. Köhler: Einleitung. In: Dies. u. a. (Hg.): Materie. Grundlagentexte zur Theoriegeschichte. Berlin 2013, 11–24. 18Monika Wagner: Material. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Hg. von Karlheinz Barck/Martin Fontius/Dieter Schlenstedt/Burkhart Steinwachs/Friedrich Wolfzettel, Bd. 3, Harmonie – Material. Stuttgart 2001b, 866–882, hier 886. 19Ebd. 20Ebd. 17Sigrid

4  Materialität des Sinns, Hermeneutik des Unsinns

98

gelangt.“21 Wagner verweist in diesem Zusammenhang auf die Hierarchie der Sinne in der europäischen Geschichte, die Hören und Sehen, den sogenannten Fernsinnen, eine höhere Position zusprachen, weil sie der Erkenntnis Gottes am nächsten kamen: je immaterieller das Material, desto höher der Grad der ­Erkenntnis: Die Hierarchie der Künste, wie sie die Philosophie und Ästhetik entwickelt hatten […], orientierte sich seit der Antike an der Überwindung des je nach Kontext als roh, hässlich, natürlich oder auch weiblich – jedenfalls als niedrig – bewerteten Materials. An seiner ‚Vernichtung‘ (Schiller), ‚Aufhebung‘ (Hegel) oder ‚Immaterialisierung‘ (Lyotard) durch die Form misst sich bis heute das, was allgemein als Kunst gilt.22

In der bildenden Kunst provoziert die immaterielle Pixel-Ästhetik dagegen eine Gegenreaktion, deren Geschichte Wagner in ihrer Monographie Das Material der Kunst (2001a) erzählt.23 Sie beobachtet eine bemerkenswerte Veränderung im alltäglichen Umgang mit Material, eine massive Aufwertung, welche von den Künsten modellhaft vorgenommen worden sei: „Das Bild, das über die Massenmedien eine unvergleichliche Verbreitung erfährt, wird in den Bereichen, in denen Versprechen von Authentizität oder Beglaubigungen von Echtheit eine Rolle spielen, durch physische Stoffe abgelöst.“24 Die Erfolgsgeschichte des Bildes, das sich der Abstraktion von den physischen Dingen und ihrer Materialität verdanke, sieht sie heute im medialen Alltag fortsetzt. Das Bild in der Kunst dagegen habe seine unangefochtene Stellung verloren. An seine Stelle seien Environments, Installationen, Objekte und Assemblagen getreten, „deren physische Beschaffenheit ausschlaggebend für ihre Charakterisierung ist.“25 Für diesen neuen „Ding- und Materialfetischismus“ entwickelt sie in ihrer Monographie ein kunsthistorisches Instrumentarium. Bedeutsam für die Frage nach der Beziehung von literarischem Unsinn und Materialität in der Alice-Maschine sind Wagners Einsichten da, wo sie etwas zum analytischen Werkzeugkasten für die Buchgestaltung bei Lewis Carroll beitragen. Er selbst, wie vielfach bezeugt ist, maß der materiellen Gestaltung seiner AliceBücher ebenso viel Bedeutung bei wie der Geschichte, die darin erzählt wird.26 Alles könne zum Material der Kunst werden, betont Wagner, und so muss der Text, der sprachliche Nonsense der ­Alice-Bücher, als Teil eines Ganzen gesehen

21Ebd. 22Wagner

2001a, 11. dazu auch Schrey 2017. 24Wagner 2001a, 10. 25Ebd. 26Der Briefwechsel mit seinem Verleger Alexander Macmillan gibt einen Einblick in Dodgson/ Carrolls Interesse an jedem Detail der Buchgestaltung, vgl. Morton N. Cohen/Anita Gandolfo: Lewis Carroll and the House of Macmillan. Cambridge 1987; Zoe Jaques und Eugene Giddens zeichnen im Kapitel „The Origins of Alice“ den Entstehungsprozess der Bücher minutiös nach. Jaques/Giddens 2013, 7–60. 23Vgl.

4.1  Das Material der Literatur

99

werden, zu dem auch Papier- und Druckqualität gehören.27 Obwohl Carrolls Leidenschaft für jedes Detail seiner Originalausgaben bekannt war und der einschlägige Briefwechsel mit seinem Verlager Alexander Macmillan auch in der bereits in Carrolls Todesjahr 1898 erschienenen, hagiografisch geprägten Biographie, die sein Neffe Stuart Dodgson Collingwood verfasste, Erwähnung fand, verschwand die Sensibilität für das Zusammenspiel der Materialien in den AliceBüchern auf eine aus heutiger Sicht schwer nachvollziehbare Weise aus dem Bewusstsein. Das Umblättern von Seiten zum Beispiel, das Carroll als integralen Bestandteil der Lektüreerfahrung eingesetzt sehen wollte, entglitt schon in den Neuauflagen Ende des 19. Jahrhunderts der Aufmerksamheit der Verleger, und die doch kaum zu übersehenden Umblätter-Effekte verschwanden aus den Alice-Ausgaben. Erst der material turn in der Editions- und Buchwissenschaft rückte sie wieder ins Zentrum der verlegerischen Aufmerksamkeit. Der materialitätstheoretische Zugang der Kunstwissenschaft ist gemäss Thomas Strässle eins von drei unterschiedlichen methodisch-theoretischen Anliegen, welche die Materialitätsdebatte prägen.28 Im Zuge des Perspektivenwechsels, der sich in der materialikonographischen Kunstwissenschaft vollzog, verschwand, als späte Reaktion auf die „vehemente Materialitätsbetonung“ der Avantgardekünste seit Beginn des 20. Jahrhunderts, das Primat der Form. An seine Stelle trat die Betrachtung der Form als variable Grösse und als Ergebnis materialer Eigenschaften und Energien.29 Als zweites Anliegen macht er die neue Aufmerksamkeit der Medien-, Literatur- und Musikwissenschaft für die Tatsache fest, […] dass sämtliche Aufschreibe-, Darstellungs- und Übermittlungssysteme wie Sprache, Schrift, Bild, Ton, Klang eines materiellen Trägers bedürfen und dass daher die spezifische Materialität des jeweiligen Mediums die Bedeutungsspielräume des Aufgeschriebenen, Dargestellten und Übermittelten überhaupt erst bedingt und damit zumindest mitbestimmt.30

Der dritte Zugang spricht dem Material jede Vorgängigkeit ab und liest es, im Anschluss an Judith Butlers Bodies that Matter (1993), als Produkt performativer diskursiver Prozesse.31 Hier möchte ich ergänzen, dass die Frage nach der Vorgängigkeit und mehr noch nach der Agentialität des Materials in der – posthumanistischen, neomaterialistischen – feministischen Philosophie und Medientheorie weit über Butlers Theorie hinaus Kreise gezogen hat.32 Rosi Braidotti und Anna Lowenhaupt Tsing, Patricia MacCormack und Patricia Pisters gehen von Deleuzes/Guattaris Konzept des Werdens aus und verfolgen das Ziel,

27Wagner

2001a, 10. Strässle 2013, 7–23. 29Strässle 2013, 8. 30Ebd., S. 8–9. 31Ebd., 9. 32Vgl. Karen Barad: Agentieller Realimus. Über die Bedeutung materiell-diskursiver Praktiken. Berlin 2012; Donna Haraway: Staying With the Trouble. Making Kin in the Cthulhucene. Durham/London 2016. 28Vgl.

100

4  Materialität des Sinns, Hermeneutik des Unsinns

einen neuen, nicht-dichotomischen und nicht-dialektischen Blick auf die Welt zu entwickeln, beziehungweise Künste und Populärkultur neu zu lesen.33 Zentral ist bei Barad das Konzept des Apparats, bei Braidotti und Lowenhaupt Tsing jenes der Kooperation bzw. der Assemblage; Haraways Buch über eine neue Epoche, die sie weder dem Posthumanismus noch dem Anthropozän zuordnen will – Staying with the Trouble: Making Kin in the Chthulucene (2016) –, spricht, zumindest in der deutschen Übersetzung, explizit die Unruhe an: Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän.34 Alle drei Zugänge tragen etwas zum Verständnis der Alice-Maschine bei, vor allem im Film und in TV-Serien. Im Schlusskapitel sowie in Abschn. 7.3 werde ich im Zusammenhang mit Roger Vadims erotischem Weltraumabenteuer barbarella (F/I 1968) noch einmal darauf zurückkommen und diskutieren, wie und ob sich feministische posthumanistisch-neomaterialistische Theorien mit medientheoretischen Ansätzen zusammendenken lassen.

Nach und diesseits der Hermeneutik Die Materialitätstheorie, deren Grundpfeiler Gumbrecht und Pfeiffer im ihrem Sammelband eingeschlagen haben, strebt nach einem nicht-, antioder ­ post-hermeneutischen Verständnis von Sinn. Die in Materialität der Kommunikation gelegten Grundlagen entwickelte Hans Ulrich Gumbrecht in Diesseits der Hermeneutik (2004), Stimmungen lesen. Über eine verdeckte Wirklichkeit der Literatur (2011) und Präsenz (2012) weiter. Im Kern seiner Argumentation stehen die begrifflichen Oppositionspaare Sinn vs. Präsenz, Hermeneutik vs. unmittelbare Erfahrung. Dabei erscheinen Sinn und Präsenz oder Sinn und Sinnlichkeit zwei getrennte Zugänge zu einem Artefakt, zwischen denen die Rezipientin immer nur hin- und her oszillieren kann, ohne sie jemals miteinander zu verbinden. Indem Gumbrecht Elemente des Sinnbildungsprozesses in seiner Analyse aus der Verschlungenheit der ästhetischen Erfahrung als Ganzer löste, um sie gegeneinander auszuspielen, trug er wesentlich zur Fixierung auf eine Kippfigur, die sich praktisch durch die gesamte posthermeutische Materialitätsdiskussion durchzieht, und damit zur Aporie der Materialitätstheorie bei. Vielfach wurde kritisch auf einen Punkt hingewiesen, der für meinen Ansatz zentral ist, nämlich darauf, dass auch das Material der Sprache, des Buches, des Mediums mit

33Vgl.

Rosi Braidotti: Politik der Affirmation. Berlin 2018; Anna Lowenhaupt Tsing: The Mushroom at the End of the World. On the Possibiliy of Life in the Ruins of Capitalism. Princeton/Oxford 2015; Patricia MacCormack: Lovecraft’s Cosmic Ethics. In: Carl H. Sederholm/Jeffrey A. Weinstock (Hg.): The Age of Lovecraft. Minneapolis/London 2016, 199– 214; Pisters 2003. 34Donna Haraway: Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän. Frankfurt a.M. 2018.

4.1  Das Material der Literatur

101

Bedeutung aufgeladen ist; das eingängigste Beispiel sind dabei Klang und Rhythmus.35 Problematisch an posthermeneutischen Zugängen ist nicht nur die Unhaltbarkeit ihrer theoretischen Voraussetzung – nämlich die Trennung von Sinn und Präsenz, Sinn und Sinnlichkeit, kognitiver und verkörperter Sinnkonstruktion in der ästhetischen Erfahrung –, sondern, damit verbunden, auch ihre Abstraktion. Sie ist so radikal, dass sich kaum konkrete Beispiele finden, an denen sich nachprüfen lässt, wie sie bei der Rezeption zwischen Sinn- und Präsenzeffekten oszillieren,36 oder Gemälde, Musik oder Texte, deren Materialität „sich zeigt“37. Eine überzeugende Kritik an posthermeneutischen Ansätzen leistet wie gesagt Christian Benne, und vor allem entwickelt er aus seiner Auseinandersetzung mit Materialitätstheorien ein literaturwissenschaftliches Analyseinstrumentarium. Das Denken der Materialität finde erst dann aus der substanzdualistischen Sackgasse heraus, wenn das Materiale nicht mehr als statische Stofflichkeit oder res extensa im weitesten Sinne, sondern als erlebter Prozess konzipiert werde.38 Benne ersetzt ‚Materialität‘ durch den Begriff der Gegenständlichkeit: Die Gegenständlichkeit der Literatur ist deshalb […] nie allein von einer ontologischen Analyse der Materie der Literatur als ihrer reinen Stofflichkeit herzuleiten, sondern muss bereits die Rolle dieser Stofflichkeit in ihrer kulturellen Signifikanz und Affordanz umfassen, die sich im Erlebnis manifestieren, aber nicht darin erschöpfen.39

Ich möchte zwar gerade am Begriff der Materialität in seiner Offenheit festhalten, ohne mich für eine definitorische Verengung zu entscheiden, weil in der AliceMaschine alle möglichen Spielarten von Materialität im Spiel sind. Bennes Herangehensweise aber eignet sich für mein Vorhaben allein schon deshalb, weil gerade Visualität und Haptik der Alice-Bücher mit Bedeutung aufgeladen sind und eben gerade keinen Unsinn produzieren.

35„Darüber

hinaus vollzieht Gumbrecht durch seine starke Fokussierung auf Elemente des Präsentischen innerhalb ästhetischer Erfahrung oder ästhetischen Erlebens eine unter ästhetischen Gesichtspunkten problematische Annäherung, indem er über die Sinn-Effekte schweigt und indem er sich auf das Nicht-Semantische konzentriert. Gerade am Beispiel der Dichtung sieht man doch, dass Klang und Rhythmus ebenfalls mit Bedeutung und Sinn aufgeladen sind. Es lässt sich bezweifeln, dass im Falle von Sprachkunstwerken überhaupt ein ­nicht-signifikatives Volumen existiert.“ Roberto Sanchiño Martínez: Die Produktion von Präsenz. Einige Überlegungen zur Reichweite des Konzepts der ‚ästhetischen Erfahrung‘ bei Hans Ulrich Gumbrecht“. In: Sonderforschungsbereich 626 (Hg.): Ästhetische Erfahrung: Gegenstände, Konzepte, Geschichtlichkeit. Berlin 2006, 9. 36Vgl. Gumbrecht 2004, 126. 37Vgl. Mersch 2002. 38Benne 2015, 134–35. Am Beispiel einer Vignette aus Ernst Blochs Spuren zeigt Benne auf, was die Spezifik des literarischen Textes ausmacht. Sie „liegt im Spannungsverhältnis seiner Gegenständlichkeit zu einem Symbolsystem, das zwar Teil des Gegenstands ist, aber zugleich auf andere raumzeitliche Koordinaten verweist, in die der Gegenstand ebenfalls eingeht und in denen seine Gegenständlichkeit eine andere Rolle gespielt haben mag.“. 39Ebd., 135.

4  Materialität des Sinns, Hermeneutik des Unsinns

102

Benne kritisiert die Aporie der posthermeneutisch orientierten Materialitätsdiskussion, betont aber auch, dass sein eigener Zugang mit der Materialitätstheorie von Dieter Mersch verwandt sei. Im Begriff des Sich-Zeigens führe sie eine dynamisch-temporale Dimension ein, die geeignet sei, die Statik der Materialitätsaporie dauerhaft prozessontologisch zu brechen.40 Merschs Materialitätsbegriff meine nicht die Materialität der Materie, sondern das, was sich vom Stofflichen her ereigne.41 Benne bezieht sich auf den Doppelcharakter, den Mersch den Zeichen gegen Hegels Vorstellung der Verschmelzung von Stoff und Form zuschreibt: Zeichen haben immer eine Materialität jenseits des Bezeichneten, eine Präsenz als Überschussphänomen.42 Wie es sich mit materialen oder präsentischen Überschussphänomenen verhält, wird im Zusammenhang mit der Alice-Maschine noch zu diskutieren sein. Doch meine These wäre, dass diese – also insbesondere affektive, atmosphärische Aspekte der ästhetischen Erfahrung – ebenso am Prozess der Bedeutungsproduktion beteiligt sind wie semiotische Zeichensysteme. Tatsächlich grenzt sich Benne in diesem Punkt von Mersch ab, indem er festhält, dass uns ‚materielle‘ Ereignisse nur ergreifen, weil sie zu entsprechenden Signifikationsdomänen gehören: „Der Rhythmus eines Gedichts mag uns […] völlig unabhängig von seinem Sinngehalt berühren, wir erleben ihn aber nur, weil wir das Gedicht als Gedicht wahrnehmen.“43 Benne greift Merschs Konzept der Spur auf, um es als Gegenbegriff zu Sybille Krämers Medienbegriff zu etablieren: Medien werden durch ihre Funktion der Übertragung gekennzeichnet, während bei der Spur zunächst die Materialität zutage tritt und der Sinn erst durch die Analyse erschlossen werden muss.44 Auf dieser Basis verbindet Benne Krämers Medienmetaphysik mit H ­ ans-Jost Freys Konzept der Zwischentextlichkeit, das als eine Art materialitätssensible Weiterentwicklung von Intertextualität gelten kann. Literarische Texte seien für Frey immer bereits Zwischentexte, Spuren anderen Materials. Der ‚Spurcharakter‘ der Zwischentextlichkeit offenbart sich der Lektüre nicht unter der Optik der Überarbeitung, sondern im Prozess der Überarbeitung selbst: „Im Umgeschriebenwerden ist das Gedicht zwischen sich und sich die Spur seiner selbst.“45 Und: „Texte sind nicht, was sie bedeuten, sondern sie bedeuten. Sie sind Spur. Der Dichter hinterlässt nicht Sinn, sondern Spuren. Sein Werk ist die Spur.“46 Spuren zu produzieren, folgert Benne, sei eine Form des in die Zukunft projizierten Erinnerns.47

40Ebd.,

137.

41Ebd. 42Ebd. 43Ebd.,

138. S. 139. 45Ebd., 140; Zitat aus Frey 1990, 105. 46Frey 1990, 122. 47Benne 2015, 141. 44Ebd.,

4.2  „Dodgsons extreme perfectionism“: Lewis Carrolls Materialästhetik

103

Bennes prozessualer Spurbegriff erweist sich für die Alice-Maschine als produktiv, weil jedes neue Produkt, das sie hervorbringt, seinerseits Spuren aller früheren Alice-Lektüren aktiviert. In diesem Sinn, schreibt Benne, seien Interpretationen tatsächlich den Werken eingeschrieben, „nämlich als Überreste einer anderen Zeit.“48 Wie ich in Kap. 5 zeigen werde, begegnet sich Alice im Wunderland und in der Welt hinter dem Spiegel als Leserin selbst, sodass eine Reflexion des Entstehungs- und Deutungsprozesses im Text selbst immer schon gegeben ist – als Teil der Alice-Maschine.

4.2 „Dodgsons extreme perfectionism“: Lewis Carrolls Materialästhetik Es gibt neben Alice’s Adventures in Wonderland wohl kaum einen literarischen Klassiker, dessen Entstehungsgeschichte so berühmt geworden ist wie das Buch selbst. Eine ähnliche Karriere hat höchstens Matthew M. Barries Peter Pan erlebt. Jede Einleitung zum Text, jede Abhandlung über Charles Lutwidge Dodgson beziehungsweise Lewis Carroll, wie der Mathematik-Don aus Oxford sein schreibendes alter ego nannte, misst einem Ausflug mit drei kleinen Mädchen eine zentrale Bedeutung für die Genese des Werks bei. Bis heute kursiert der Mythos der kindlichen Inspiration und der spontanen Eingebung im Dialog zwischen Kind und Künstler hinter der Entstehung eines der erfolgreichsten Kinderbücher aller Zeiten. Er ist zu einem Aspekt der Alice-Maschine geworden, der eng mit Dodgsons Materialästhetik zusammenhängt – was nur auf den ersten Blick als Widerspruch erscheinen mag. Im Folgenden werde ich aufzeigen, inwiefern die Arbeit an und das Spiel mit der Materialität des Buchmediums die Poetik von Lewis Carrolls Alice-Büchern prägt. Carroll gestaltete seine Bücher von Anfang an als dreidimensionale, multisensorische Kunstobjekte:49 Visuellen und haptischen, klanglichen und rhythmischen Elementen kommt eine zentrale Bedeutung zu. Man kann die Bücher, in der ersten Dimension, sukzessiv und linear lesen.50 Die aufgeschlagenen Doppelseiten – mit Text und Illustrationen – lassen sich aber auch als (Schrift)Bild wahrnehmen; sie entfalten zumindest einen Teil der Möglichkeiten ihrer zweidimensionalen Visualität. Die dritte Dimension, also Volumen und Haptik des Buches, wird unter anderem im Akt des Blätterns inszeniert.

48Ebd. 49Vgl.

Spoerhase 2016. 11.

50Ebd.,

4  Materialität des Sinns, Hermeneutik des Unsinns

104

Arbeit am Mythos: Die Entstehung von Alice’s Adventures in Wonderland Die Geschichte der sechsjährigen Protagonistin – die hinter einem weißen Kaninchen herläuft und durch ein Loch ins Wunderland fällt, wo sie wächst und schrumpft, mit allerlei seltsamen Geschöpfen ins Gespräch kommt und Gedichte aufsagt (die sich ohne ihr Zutun in puren Unsinn verwandeln), um am Ende aufzuwachen und festzustellen, dass alles nur ein Traum war –, die Geschichte von Alice sei eigentlich, so geht die Sage, als mündliche Improvisation entstanden: auf jener berühmten Bootsfahrt auf dem Isis genannten Teil des River Thames, die am 4. Juli 1862 von Oxford aus unternommen wurde. Die Bootsfahrt fand statt, keine Frage.51 Verbürgt ist auch, dass Dodgson zusammen mit seinem Kollegen, dem Reverend Robinson Duckworth, die drei Töchter von Henry George Liddell, dem Dekan des Christ Church College, auf die Spazierfahrt mit Picknick ausführte. In seinem Tagebucheintrag vom 4. Juli 1862 rekapituliert er die Begebenheit wie folgt: Duckworth and I made an expedition up the river to Godstow with the three Liddells: we had tea on the bank there, and did not reach Christ Church again till quarter past eight, when we took them on to my rooms to see my collection of micro-photographs, and restored them to the Deanery just before nine.52

Erst am 10. Februar 1863 ergänzte Dodgson auf der gegenüberliegenden Seite des Eintrags vom 4. Juli 1862, dass auf der Bootsfahrt eine Geschichte erzählt worden sei: On which occasion I told them the fairy-tale of Alice’s Adventures Underground which I undertook to write out for Alice, and which is now finished (as to the text) though the pictures are not yet nearly done.53

Dass er an Alice’s Adventures arbeitee und dass deren Ursprung auf den Bootsausflug zurückgehe, hatte er allerdings schon viel früher erwähnt. Am 6. August 1862 notierte er, er sei im Begriff, den Liddells die „interminable fairy-tale of Alice’s Adventures“ weiterzuerzählen,54 und am 13. November folgte der Eintrag, er habe nun begonnen, den Text aufzuschreiben: „Began writing the fairy-tale for Alice, which I told July 4, going to Godstow – I hope to finish it by Christmas.“55 Die drei Mädchen – Lorina, Alice und Edith – waren zum Zeitpunkt der Bootsfahrt dreizehn, zehn und acht Jahre alt; die Familie Liddell gehörte seit 1856 zum engsten Freundeskreis des Mathematik-Dozenten und Diakons Dodgson, wie

51Jaques/Giddens 52Wakeling

2013, 8. 1993–2007, Bd. IV, 94–95.

53Ebd. 54Ebd., 55Ebd.,

185. 188.

4.2  „Dodgsons extreme perfectionism“: Lewis Carrolls Materialästhetik

105

sich an der Reihe von Fotografien der Liddell-Schwestern nachprüfen lässt.56 Das Lieblingsmodell des Amateurfotografen war die 1852 geborene Alice. Er ließ sie in verschiedenen Verkleidungen posieren, wobei vor allem „The Beggar Maid“ von 1858 Berühmtheit erlangte – und er schickte sie, verwandelt in sein „dream child“57, ins Wunderland und hinter die Spiegel. Die kleine Alice Liddell soll nach der Bootsfahrt so lange insistiert haben, bis Dodgson nachgab, sich hinsetzte und die Geschichte aufzuschreiben und zu illustrieren begann.58 Tatsächlich pflegte Dodgson zur Zeit der legendären Bootsfahrt seinen Stil des „weirdly perverse nonsense“59 schon seit Jahren. Schon als Jugendlicher hatte er seine literarischen Versuche in einem selbstgemachten Familienmagazin und im Schulmagazin der Rugby School publiziert.60 Wenn es eine Muse gab in seinem Leben, die ihn zum Schreiben ermunterte, war das nicht Alice, sondern sein Dichterfreund George MacDonald; die beiden haben sich in ihren Gesprächen über Literatur, insbesondere über das Kunstmärchen, gegenseitig ermutigt.61 Dodgson begann 1855 als 23-jähriger Tagebuch zu führen und blieb bis zu seinem Tod 1898 dabei.62 Er schrieb ausführliche Briefe, die von Anfang an von literarischem Ehrgeiz zeugten. Erkennbar wird bereits hier ein ausgesprochenes Interesse für die Materialität der Schrift und das Spiel mit Schriftbildlichkeit. Die Briefe an seine child-friends enthalten häufig Akrosticha – vertikal gelesen, ergeben die ersten Buchstaben jeder Gedichtzeile zusammengenommen den Namen der Empfängerin des Briefes.63 In anderen Briefen fügte er Bildrätsel und kleine Zeichnungen ein, schrieb so klein wie die Elfen oder so zitterig wie jemand, der sich zu Tode fürchtet. Schreiben war für Dodgson ein alle graphischen Mittel umfassendes Spiel. Doch sein Interesse an der Materialität des Medialen beschränkte sich nicht auf das Schreiben. Bereits 1856 erwarb er eine Kamera und investierte viel Zeit in seine unter Einsatz des Kollodium-Nassplatten-Verfahrens entstandenen Porträtfotografien, für die er seinen Freundeskreis und vor allem die Kinder aus seinem Umfeld mobilisierte.64 Nebenbei pflegte er ein eigentliches Unterhaltungsprogramm für die Kinder, die für seine Fotografien Modell sassen,

56Cohen

2015, Pos. 1316. 5. 58„It was not until 1862, when he was thirty, that he first told the story of Alice’s Adventures in Wonderland to the three daughters of his college dean as they rowed languidly on the River Isis. Even then, it took another three and a half years before the story could be read by all.“ HughHaughton: Introduction. In: Lewis Carroll: Alice’s Adventures in Wonderland. London 1998, ix–lxv, hier xiii. 59Haughton 1998, liv. 60Cohen 2015, Pos. 638. 61Ebd., Pos. 1548; Susina 2010, 29 f.. 62Vgl Wakeling 1993–2007. 63Vgl. Lewis Carroll: Interviews and Recollections. Hg. von Morton N. Cohen. Basingstoke: Macmillan 1989; z. B. das Akrostichon für Lorina, Alice und Edith Liddell zu Weihnachten 1861, 25. 64Vgl. Helmut Gernsheim: Lewis Carroll, Photographer. New York 1969, 13. 57AAW,

4  Materialität des Sinns, Hermeneutik des Unsinns

106

und ließ sie am Entwicklungsprozess der belichteten Platten in der Dunkelkammer teilhaben.65

Alice Liddells Verschwinden, ihre Vervielfachung und die Romantisierung der Welt Dodgson galt als einer der großen Porträt-Fotografen seiner Zeit.66 Gemäss Helmut Gernsheim ist er nicht nur einer der Pioniere der britischen Amateur-Fotografie, sondern der herausragendste Kinderfotograf seiner Zeit.67 Auch lange nach dem mysteriösen Bruch mit der Familie Liddell 1863, dessen Ursachen sich nicht mehr rekonstruieren lassen, weil die Nachkommen von Dodgsons Verwandten die betreffenden Seiten aus seinem Tagebuch herausgerissen hatten,68 fotografierte er weiter: Kinder und Erwachsene, verkleidete Mädchen und Prominente, von Prinz Leopold, einem der Söhne von Königin Victoria, bis zum poet laureate Alfred Tennyson. Die Position des Fotografen – als beobachtender und reflektierender Außenseiter mittendrin im gesellschaftlichen Leben – scheint für den notorisch schüchternen Stotterer als ideale Kompromissbildung funktioniert zu haben. Erst 1880 gab er sein Hobby auf, weil er sich nicht mehr auf die neue ­Gelatine-Trockenplatte-Technologie umstellen wollte.69 Mit Blick auf Dodgsons extensive künstlerische und kunsthandwerkliche Produktion – von den Tagebüchern über die Briefe bis zu Fotografie und Nonsense-Literatur – muss man sich wundern, dass die Beziehung zu Alice ­ Liddell so sehr ins Zentrum der Wahrnehmung durch die Nachwelt gerückt ist. Dodgsons Anspruch bei der Gestaltung der Alice-Bücher war von Anfang an hoch, was nicht nur im Briefwechsel mit seinem Verleger Alexander Macmillan zum Ausdruck kommt, sondern sich vor allem auch darin zeigt, wie aus seiner leidenschaftlichen und perfektionistischen Arbeit am Material Kunst wurde. Ich vertrete die These, dass dieses durchaus handfeste Machen, die Poiesis im aristotelischen Sinne, den Glutkern seines Schaffens bildet. Nicht nur beim Schreiben, auch beim Fotografieren lässt sich eine regelrechte Obsession für den Prozess nachweisen. Die durchaus auch pädagogische Arbeit mit den Modellen, die, je nach Lichtverhältnissen, immerhin motiviert werden mussten, unter Umständen minutenlang stillzusitzen, gehört ebenso dazu wie die Pflege des Materials und der Chemikalien – und natürlich die Vorbereitung und Sensibilisierung der Platte und der aufwendige Entwicklungsprozess.

65Ebd., 66Ebd.,

19. 7.

67Ebd. 68Dodgsons

Familie riss die einschlägigen Seiten aus seinem Tagebuch und die Mutter Liddell zerstörte die Korrespondenz zwischen Alice und Dodgson. Vgl. Cohen 2015, Pos. 2001. 69Gernsheim 1969, 34.

4.2  „Dodgsons extreme perfectionism“: Lewis Carrolls Materialästhetik

107

Alice Liddell diente dem von technischen Apparaten faszinierten Dodgson eher als Projektionsfigur, an deren Körper sich seine ästhetischen Ideen realisieren ließen, denn als Objekt des Begehrens. Alice war das Medium für die Romantisierung der Welt – ein Projekt, das man Dodgson durchaus zuschreiben darf.70 Wenn er im sentimentalen Duktus des Viktorianers in unterschiedlichen Zusammenhängen von seinem „dream child“,71 seinem „ideal childfriend“72 sprach, lud er dabei Alice und seine Beziehung zu ihr emotional auf, um ein stabiles Scharnier zwischen der Alltagsrealität und seinen künstlerischen Fantasmen zu schaffen. Eine ähnliche Funktion hatten das Tagebuch, die Briefe und die Fotografien – sie erlaubten Dodgson, sich in einen konstanten Prozess des Verwandelns von Alltag, von Menschen, Dingen und Erfahrungen in Kunst zu verwickeln. Darin steckt ein für die Alice-Maschine zentrales Paradoxon: Für das Einfangen, Erlegen und Bannen des flüchtigen Lebendigen braucht es den Akt des Tötens, dessen Resultate aber wiederum dazu da sind, den Alltag ästhetisch zu überhöhen und in der Auflösung der Grenzen zwischen Kunst und Wirklichkeit vital zu machen.73 Mit seinen Fotografien will Dodgson die Mädchen vor dem Vergehen der Zeit retten, die sie unaufhaltsam in Frauen verwandeln und ihre Spielmöglichkeiten auf eine einzige Rolle beschränken wird. Der drastischste Beleg für das Verschwinden des Mädchens aus dem von den sozialen Umständen determinierten Leben der Frau findet sich auf dem Friedhof von Lyndhurst, wo Alice Liddell begraben ist. Ihr Name ist verchwunden, beziehungsweise doppelt überschrieben worden – durch den ihres Ehemanns und den der Romanfigur. Auf dem Grabstein steht: The Grave of Mrs. Reginald Hargreaves The „Alice“ in Lewis Carroll’s Alice in Wonderland.74

Wie so vieles in den Alice-Büchern erscheint auch der Verwandlungsakt in mehrfacher Gestalt. Alice Liddell wird nicht nur zum Verschwinden gebracht und in eine literarische Figur verwandelt; Alice vervielfältigt sich auch. Ein seltsamer

70Vgl.

dazu Carrolls Vorwort zu AAUG: „The ‚Why?‘ of this book cannot, and need not, be put into words. Those for whom a child’s mind is a sealed book, and who see no divinity in a child’s smile, would read such words in vain. […] No deed […] is really unselfish. Yet if one can put forth all one’s powers in a task where nothing of reward is hoped for but a little child’s whispered thanks and the airy touch of a little child’s pure lips, one seems to come somewhere near to this.“ (unpaginiert). 71AAW, 5. 72Cohen 2015, Pos. 1535. 73Vgl. Schrey 2017, 11. 74Alice Hargreaves Garbtafel: https://de.wikipedia.org/wiki/Alice_Liddell#/media/File:Alice_Liddell_grave_in_Lyndhurst2.jpg (26.04.2020).

108

4  Materialität des Sinns, Hermeneutik des Unsinns

Abb. 4.1 Alice Liddells Fotografie in Carrolls handschriftlicher Urfassung und die Zeichnung, die sich dahinter verbarg

Kopierakt beschließt das Manuskript Alice’s Adventures Under Ground. In der ursprünglichen Fassung zeichnete Dodgson unten auf der letzten Textseite ein Porträt von Alice Liddell, umrankt von selbstgezeichneten Ornamenten. Doch dann überklebte er die Zeichnung aus nicht überlieferten Gründen mit dem Foto, das ihm offensichtlich als Vorlage gedient hatte. Die verborgene Zeichnung wurde erst 1977 entdeckt; heute macht eine Klappe beide Versionen abwechslungsweise zugänglich (Abb. 4.1).75 Alice erscheint als Doppelgängerin ihrer selbst, sie versteckt sich als Gespenst hinter der Fotografie. Dabei hat das kleine Mädchen auf der Zeichnung eine weichere, verträumtere Haltung als die hellwache, etwas keck in die Kamera blickende Alice Liddell. In den Augen der gezeichneten Alice verwandelt sich die zarte Unverfrorenheit in ein Moment des Schreckens. Es ist, als hätte die gezeichnete Alice etwas gesehen, das sie die Augen erschrocken aufreissen lässt. Man könnte spekulieren, dass diese Alice gerade das Abgründige des Wunderlands erkennt, das eine dritte Version ihrer selbst, nämlich die Protagonistin Alice, in ihrer pragmatischen Art nicht zur Kenntnis nimmt oder nehmen will. Ob Carroll sie deswegen hinter dem Foto der realen Alice Liddell verschwinden lässt? Alice als halbe Doppelgängerin spielt in Through the Looking-Glass die zentrale Rolle der anwesenden Abwesenden, obwohl oder gerade weil sie immer nur als eine Person vorkommt. Ihr Spiegelbild, das in der Anfangsszene des Buches implizit da ist, verschwindet im Augenblick, als sich der Spiegel a­ uflöst

75AAUG,

2008.

62–63; Alice’s Adventures Under Ground. British Library Treasures in Focus. London

4.2  „Dodgsons extreme perfectionism“: Lewis Carrolls Materialästhetik

109

und sie auf die andere Seite passieren lässt. Dabei entsteht ein Verwirrspiel. Man könnte nämlich auch sagen, dass das Spiegelbild nun die Funktionen der lebendigen Alice übernimmt und jene als leere Hülle im Wohnzimmer zurücklässt – schlafend oder tagträumend. So blieb sie auch schon im ersten Teil schlafend neben der lesenden Schwester zurück, während ihre Doppelgängerin im Wunderland unterwegs war. Alices Verdoppelung durch die Traumexistenz im Schlaf und durch die Spiegelung mag zwar kein Thema sein in der Diegese – dass Alice aber dazu neigt, doppelt und mehrfach vorhanden zu sein, kommt immer wieder zur Sprache. Alice, erfahren wir, spielt mit Begeisterung, dass sie sie zwei Personen ist: „[…] for this curious child was very fond to be two people“.76 Es gibt im Kapitel „A Mad Tea Party“ eine seltsame Passage. Die Dormouse, die für ein paar Sätze am unsinnigen Gespräch teilgenommen hatte, versinkt allmählich wieder in ihren natürlichen Schlafzustand. Kurz vor dem endgültigen Wegdriften spricht sie noch orakelhaft ein paar kryptische Sätze: The Dormouse had closed its eyes by this time, and was going off into a doze; but, on being pinched by the Hatter, it woke up again with a little shriek, and went on: “– that begins with an M, such as mouse-traps, and the moon, and memory, and muchness –you know you say things that are ‘much of a muchness’ – did you ever see such a thing as a drawing of a muchness?77

Durch die Verwandlung von Alice Liddell in „Alice“ im Wunderland öffnete sich für Carroll ein Raum für sein poetisches Machen. Diese These erklärt auch, warum Dodgson den Mythos des mündlichen Ursprungs von Alices Abenteuern mit so viel Verve begründet hatte. In der Widmung der handgeschriebenen und von ihm selbst illustrierten Urfassung Alice’s Adventures Under Ground (1863) spielt Carroll auf den Nachmittag im Boot an, ebenso wie beim Cover die im viktorianischen England äusserst beliebte kalligraphische und ornamentale Kunst mittelalterlicher Codices imitierend: „A Christman Gift to a Dear Child in Memory of a Summer Day“.78 Aus der mündlichen Erzählung sei das von Hand geschriebene und eigenhändig illustrierte Manuskript hervorgegangen; nicht für die Öffentlichkeit, sondern nur für die kleine Alice bestimmt. Dodgson überreichte es ihr am 26. November 1864. Nach einer längeren Odyssee durch Auktionshäuser und Privatsammlungen – Alice Hargreaves-Liddell hatte es 1928 wegen Geldknappheit durch Sothebys versteigern lassen und bekam dafür 15.000 Pfund – gelangte das Manuskript durch eine Schenkung in die British Library, wo es heute in einer Vitrine der Raritätenausstellung besichtigt werden kann, wenn es sich nicht gerade auf Welttournee befindet.79

76AAW,

12. 58. 78AAUG, I. 79Ebd., X. 77Ebd.,

110

4  Materialität des Sinns, Hermeneutik des Unsinns

Bereits im Prolog-Gedicht zur überarbeiteten Druckausgabe von 1865, die unter dem Titel Alice’s Adventures in Wonderland erschien, wächst sich die ursprüngliche Widmung zu einem verträumt-nostalgischen Gedicht aus, das im Gegensatz zum innovativ gestalteten Rest des Buches ganz dem viktorianischem Lyrik-Mainstream verpflichtet ist. Das entspannte Dahingleiten im Boot wird beschworen, das Betteln der drei Mädchen nach einer Geschichte, das den Erzähler aus seinem Dämmerzustand reisst, und schließlich wird die Entstehungsgeschichte von Alice’s Adventures in Wonderland zum Teil des Gedichts und damit der Erzählung selbst: […] Thus grew the tale of Wonderland Thus slowly, one by one, It’s quaint events were hammered out – And now the tale is done. And home we steer, a merry crew, Beneath the setting sun.80

Carroll stellte, indem er die Entstehungsgeschichte zu einem Teil des Paratextes machte, die Weichen für eine Alice-Rezeption, die notorisch daran scheitern würde, Autor und Werk auseinanderzuhalten.81 Es ist tatsächlich gar nicht so leicht zu sagen, wo Charles Lutwidge Dodgson aufhört und Lewis Carroll anfängt, weil der Autor in seinen Tagebüchern, Briefen und Essays die beiden selbst durcheinanderbrachte. In den letzten 150 Jahren kristallisierte sich eine zweigleisige Rezeption heraus: Die Alice-Bücher werden als Kunstwerke mit großem Einfluss auf die Kinderliteratur, die Populärkultur und die Avantgarden des 20. Jahrhunderts gewürdigt. Der Autor hingegen gilt als Sonderling, abseits der ästhetischen Diskurse seiner Zeit; Dodgson/Carroll hat, zumindest in der Literaturwissenschaft, das Image eines durch die viktorianischen Zwänge verkrümmten, perversen Exzentrikers, dessen literarische und fotografische Arbeiten dazu dienten, seine pädophilen Neigungen gegenüber kleinen Mädchen zu sublimieren.82 Obwohl die Quellenlage keine Schlussfolgerungen erlaubt und sich das Kindheitsbild sowie der Umgang mit Kindern seit dem 19. Jahrhundert so dramatisch verändert haben, dass es praktisch unmöglich ist, die Schichten der Diskurse und der Zeit auch nur einigermassen transparent zu machen, gehen so prominente Literaturwissenschaftler wie Richard Ellman selbstverständlich davon aus, dass Carroll pädophil war; seine Briefe an kleine Mädchen, seine Fotografien sprächen eine unwiderlegbare Sprache.83 Auch Äußerungen von einflussreichen

80Lewis

Carroll: Alice’s Adventures in Wonderland. London 1998, 6. tut sie unter anderem auch, weil die Carroll-Forschung von Anfang an stark von sogenannten gentlemen scholars geprägt war, „Acafans“ – wie Henry Jenkins sich und andere nennt – avant la lettre. 82Cohen 2015, Pos. 3519–3537. 83Richard Ellmann: Spass und Spiele für Alice und andere. In: NZZ, Beilage Literatur und Kunst, 29./30.09.1979, 65. 81Das

4.2  „Dodgsons extreme perfectionism“: Lewis Carrolls Materialästhetik

111

Persönlichkeiten, etwa Vladimir Nabokov, der die Fotografien als eindeutige Beweise von Dodgsons krimineller Perversion sieht, tragen ihren Teil dazu bei.84 Etwas vorsichtiger gehen Carrolls Biographen sowie die kinderliterarische CarrollForschung mit der Faszination für kleine Mädchen um. Hier dominiert die psychoanalytisch inspirierte These, Dodgson/Carroll habe seine sexuellen Fantasien so stark sublimiert, dass sie gar nicht in den Bereich seiner bewussten Wahrnehmung dringen konnten.85 Interessanterweise sind es gerade Studien aus dem Bereich der Fotografiegeschichte und der visual culture studies, die eine differenziertere, den historischen Kontext stärker berücksichtigende Perspektive einnehmen.86 Die Art, wie Dodgson seine Kinder-Modelle inszenierte, war zu seiner Zeit nichts Besonderes, sondern eher traditionell, denn Kinder galten in der Zeit vor Freud als nicht-sexuelle, unschuldige Wesen, die man vor der Pubertät problemlos nackt fotografieren konnte.87 Dass erwachsene Männer sich zu sehr jungen Mädchen hingezogen fühlten, war zu Dodgsons Zeit weit verbreitet; Kimberley Reynolds führt eine Reihe von Beispielen an – darunter John Ruskin, der führende Kunsttheoretiker der viktorianischen Ära, der eine Obsession für die elfjährige Rose La Touche entwickelte – und erklärt das Phänomen dadurch, dass Männer aus der Mittel- und Oberschicht kaum Kontakt mit Frauen ihres Standes hatten, da sie von Gouvernanten aufgezogen und später auf Internate geschickt wurden, die Jungen vorbehalten waren. Zusammen mit allgegenwärtigen Warnungen vor den mit Geschlechtsverkehr verbundenen Gefahren – von Geschlechtskrankheiten bis zur transgressiven Selbstverschwendung – habe die männliche Erziehung zu ausgeprägten Ängsten vor sexuellen Kontakten mit Frauen und zur Idealisierung von engelsgleichen Mädchen geführt.88 Reynolds beschreibt in diesem Zusammenhang auch ein Paradox, das in den viktorianischen Künsten allgegenwärtig ist:

84Vladimir

Nabokov: Deutliche Worte. Reinbek 1993, 13–132. Thomas: Lewis Carroll. A Portrait with Background. London 1996, 2. 86Vgl. Lindsay Smith: „Take Back your Mink“. Lewis Carroll, Child Masquerade and the Age of Consent. Art History 16/3, 1993, 369–385. 87Vgl. Jeanne Willette: Through the Looking-Glass with Lewis Carroll. https:// arthistoryunstuffed.com/through-the-looking-glass-with-lewis-carroll/ (29.04.2020): „A man of many talents, Carroll was also a photographer and belonged to the ranks of gifted amateurs that features prominently in England at the end of the nineteenth century. Today there is no equivalent to the „amateur“ of Victorian times; one is either a fine art photographer or a commercial photographer. But in the time of Carroll, there was a respected tradition of the wellto-do upper class hobbyists who had serious careers in photography, dating all the way back to William Henry Fox Talbot (1800–1877) and including his contemporary Julia Margaret Cameron (1815–1879). These amateurs tended to use friends and family and neighbors as subjects. Many of these images show the Victorian penchant for performance and dressing up. For example, Roger Fenton (1819–1869) photographed Queen Victoria’s children dressed up for amateur theatricals.“. 88Reynolds 2007, 52. 85Donald

4  Materialität des Sinns, Hermeneutik des Unsinns

112

[…] there is a paradox in Victorian arts and letters which is how, at a time which is widely characterised as sexually repressive, images that to post-Freudian eyes seem unmistakeably erotic could regularly be shared in public and domestic spaces. Visually such images include the languorous paintings of Alma Tadema, or Lord Leightons’s ‘Flaming June’, in which the sleeping subject’s gossamer dress reveals as much as it conceals. Similarly striking is the way young women would read to their parents, companions, and suitors from popular works of the day, including such voluptuous verse as Tennyson’s love lyrics in The Princess (1847), with their images and lexical evocations of penetrating and unfolding.89

Reynolds vergleicht das Phänomen der paradoxen viktorianischen Erotik in den und im Umgang mit den Künsten mit der Kippfigur, einem Bild, das durch einen Wechsel in der Wahrnehmung zwei oft widersprüchliche Gestalten zeigt. Das bekannteste Beispiel ist das Bild, auf dem entweder eine alte Frau mit hexenhaften Zügen oder eine junge Schönheit zu sehen ist. Die viktorianische Lektüreerfahrung sei als literarisches Äquivalent dieser Kippfigur zu verstehen, bei der je nach Erwartungshaltung das eine wahrgenommen wird, während das andere unverhüllt präsent sei, ohne bewusst gehört zu werden.90 Teil der ästhetischen Erfahrung ist es allemal. Aus dem feministischen Lager schlägt Dodgson/Carroll kaum Kritik entgegen; Dodgson gilt als queerer, androgyner Autor mit stark ausgeprägten weiblichen Seiten, und seine Alice als selbstbewusstes, emanzipiertes Mädchen – Camille Paglia findet das „tough cookie“ Alice sogar „bad-ass“.91 Ähnliche Argumente findet man in der Forschung zu den fotografierten Mädchen: Gerade Xie Kitchin, ein der Mädchen, das ihm regelmäßig für seine Fotografien Modell sass, sei anzusehen, dass sie eine aktive Rolle bei der Inszenierung gespielt habe, wie Lindsay Smith schreibt.92 Es kristallisiert sich also eine Frontlinie heraus: zwischen einer traditionell männlich geprägten Literaturwissenschaft, die glaubt, die Spannung zwischen dem verklemmten Wüstling und dem genialen Werk aushalten zu müssen, und einer queer-feministischen Betrachtungsweise, die Dodgson/Carroll als performative Figur versteht, die sich gerade nicht in heteronormative Vorstellungen von Identität und Sexualität einfügt. Die Frage, ob Dodgson nun ein pädophiler Gewalttäter oder ein queerer Held war, sagt so gesehen mehr über heutige Debatten rund um Identität, Sexualität und Gewalt aus als über den viktorianischen Autor selbst. Seine Fotografien kleiner Mädchen wurden jedenfalls erst im Lauf des 20. Jahrhunderts als pervers beziehungsweise skandalös empfunden; eine Welle psychoanalytischer Lektüren (frei bis sehr frei) nach Freud trug ebenso dazu bei wie ein verändertes Kindheitsbild und ein anderer Umgang mit Nacktfotos von Kindern. Diese erlebten zwar nach 1968 noch einmal eine Modewelle, wie man in

89Ebd.,

49.

90Ebd. 91Vgl.

Camille Paglia: Alice as Epic Hero. In: Vamps & Tramps. New Essays. New York 1994, 312–316, hier 313. 92Lindsay Smith: Lewis Carroll. Photography on the Move. London 2015, 15–17.

4.2  „Dodgsons extreme perfectionism“: Lewis Carrolls Materialästhetik

113

Familienfotoalben von nach 1968 Geborenen leicht nachprüfen kann, hatten ihren Ort dank Kleinkameras aber klar im Raum der Familie.93 Der Mythos um die spontane, von der kleinen Muse Alice inspirierte Entstehung des Textes verdichtete und vervielfältigte sich schon unmittelbar nach Dodgsons Tod 1898 noch einmal: Mit Hilfe der viele Jahre später protokollierten Erinnerungen von Alice Liddell und Robinson Duckworth stilisierte Carrolls erster Biograph, sein Neffe Stuart Dodgson Collingwood, den goldenen Nachmittag zu einer Urszene kinderliterarischen Schreibens.94 Der Mythos vom mündlichen Erzählen erweist sich wohl deswegen als überlebensfähig, weil er die Entstehung von Alices Abenteuern vom Raum des Künstlers in den Raum der Interaktion eines Erwachsenen mit Kindern verlegt;95 den für Carroll genuin ästhetischen Raum. Der Anteil am Raum des Kindlichen erlaubt es ihm zu spielen, oder, wie es die ganz ähnlich, wenn auch unter der Flagge des Unbewussten operierenden Surrealisten im 20. Jahrhundert ausdrücken würden, sich der Traumlogik hinzugeben. Deshalb war es Carroll so wichtig zu betonen, dass ihm seine Ideen einfach so zufallen, wie im Traum: […] every such idea and nearly every word of the dialogue, came of itself. Sometimes an idea comes at night, when I have had to get up and strike a light to note it down – sometimes when out on a lonely winter walk, when I have had to stop, and with ­half-frozen fingers jot down a few words which should keep the new-born idea from perishing – but whenever or however it comes, it comes of itself. […] “Alice” and the ­“Looking-Glass” are made up almost wholly of bits and scraps, single ideas which came of themselves.96

In seinem Vorwort zu Sylvie and Bruno spricht er von einem langen, nicht steuerbaren Schaffensprozess, in den immer wieder Ideen mit einer „transitory suddenness“ einschneiden:

93Nachzuprüfen

unter anderem auch in meinen eigenen Kindheitsalben. 1998. 95Für Dodgson/Carroll sind Kinder unschuldige Wesen, an deren göttlicher Reinheit Erwachsene nur durch die aufrichtige Liebe zu einem dieser Kinder teilhaftig werden können. Im Vorwort zu AAUG schreibt er: „Those for whom a child’s mind is a sealed book, and who see no divinity in a child’s smile, would read such words in vain: while for any one that has ever loved one true child, no words are needed. For he will have known the awe that falls on one in the presence of a spirit fresh from God’s hands, on whom no shadow of sin, and but the outermost fringe of the shadow of sorrow, has yet fallen: he will have felt the bitter contrast between the haunting selfishness that spoils his best deeds and the life that is but an overflowing love – for I think a child’s first attitude to the world is a simple love for all living things: and he will have learned that the best work a man can do is when he works for love’s sake only, with no thought of name, or gain, or earthly reward. No deed of ours, I suppose, on this side of the grave, is really unselfish: yet if one can put forth all one’s powers in a task where nothing of reward is hoped for but a little child’s whispered thanks, and the airy touch of a little child’s pure lips, one seens to come somewhere near this.“ AAUG, V–VI. 96Lewis Carroll: Alice on the Stage. In: Alice’s Adventures in Wonderland. London 1998, 293– 298, hier 294. 94Vgl. Haughton

114

4  Materialität des Sinns, Hermeneutik des Unsinns

As the years went on, I jotted down, at odd moments, all sorts of odd ideas, and fragments of dialogue, that occurred to me – who knows how? – with a transitory suddenness that left me no choice but either to record them then and there, or to abandon them to oblivion.97

Und er beschreibt dieses assoziative Verfahren – bei dem ihm die Einfälle oft ohne erkennbaren Anlass zufliegen – noch genauer:98 Sometimes one could trace to their source these random flashes of thought – as being suggested by the book one was reading, or struck out from the ‘flint’ of one’s own mind by the ‘steel’ of a friend’s chance remark – but they had also a way of their own, of occurring, à propos of nothing – specimens of that hopelessly illogical phenomenon, ‘an effect without a cause’.99

Im Mythos um die spontane Eingebung eines der erfolgreichsten literarischen Texte des 19. Jahrhunderts verbirgt sich ein wichtiger Aspekt von Carrolls Poetik. Seine Verfahren des Nonsense scheinen aus Assoziationen, zum Teil sogar aus Träumen zu kommen. Der Autor der Alice-Bücher erweist sich nicht nur in der Spielerei mit Sprache und Logik, sondern auch in der Beschreibung seiner Arbeitsweise als ein Vorläufer der surrealistischen Produktionsästhetik.100 Die Beschwörung der puren Inspiration ist aber nur ein Element in Carrolls Beschreibung seines Arbeitsprozesses. Nach einer langen Zeit des Wartens auf Ideen, des Sammelns und Notierens, kommt die harte Arbeit. Wiederum am Beispiel von Sylvie and Bruno schildert Carroll das Schreiben des Buches als aussichtslosen Kampf gegen einen chaotischen Berg von Sprachmaterial: And thus it came to pass that I found myself at last in possession of a huge unwieldy mass of litterature – if the reader will kindly excuse the spelling – which only needed stringing together, upon the thread of a consecutive story, to constitute the book I hoped to write. Only! The task, at first, seemed absolutely hopeless, and gave me a far clearer idea, than I ever had before, of the meaning of the word ‘chaos’: and I think it must have been ten years, or more, before I had succeeded in classifying these odds-and-ends sufficiently to see what sort of a story they indicated: for the story had to grow out of the incidents, not the incidents out of the story.101

Nun ist Carrolls Interesse an Materialien und materiellen Prozessen in der Erforschung seines Werks nichts Neues. Im Zuge des material turn in den Kulturwissenschaften war es sozusagen neu entdeckt worden.102 Carrolls Begeisterung

97Lewis

Carroll: Preface to Sylvie and Bruno. In: Sylvie and Bruno; Sylvie and Bruno Concluded. Hg. von Ray Dyer. Kibworth Beauchamps 2015, 6. 98Carroll 2015, 7. 99Carroll 2015, 7. 100Haughton 1998, xxxiii. 101Carroll 2015, 10. 102In der Forschung der letzten Jahre wird Carroll eine grundlegend vom Visuellen geprägte Ästhetik attestiert, sein Spiel mit dem Buch als Objekt wird als Teil der ästhetischen Erfahrung gewürdigt. Vgl. Jaques/Giddens 2013; Lawrence Gasquet: Lewis Carroll, writer and photographer. Clearing up a few myths. In: Pascale ­Renaud-Gosbras u. a. (Hg.): Lewis Carroll et les mythologies de l’enfance. Rennes 2005, 183–194, hier 183; Schulz 2015, 262–276.

4.2  „Dodgsons extreme perfectionism“: Lewis Carrolls Materialästhetik

115

für die Materialität des Mediums Fotografie, für das Spiel mit Sprache, für das Zusammenspiel von Text und Bild erweist sich dabei als veritable Fundgrube. Und das Manuskript, das 1886 noch zu Lebzeiten Dodgsons und unter seiner Ägide als Faksimile gedruckt wurde, lässt ein enormes Interesse an Buchgestaltung und Layout, an der haptischen und visuellen Seite des Buchmediums erkennen. Zoe Jaques und Eugene Giddens, welche die Entstehungs- und Publikationsgeschichte der Alice-Bücher umfassend aufgearbeitet haben, betonen deshalb: „We argue against the popular conception, encouraged by Carroll’s nephew, that the author composed the story in a single day.“103 Ganz im Gegenteil attestieren sie Dodgson ein aussergewöhnliches Interesse an der Materialität des Buches: Carroll’s diary, in recording the stages of crafting the book, discloses how meticulous he was about it, and how long it took – over two years – to finalize the presentation copy for the real-life Alice. Such detailed attention to the material text would characterize all of Carroll’s subsequent attempts at disseminating it.104

Die Bedeutung von John Tenniels Illustrationen für die Alice-Bücher wurde zwar immer mitbedacht in der Rezeption und in der Forschung, allerdings ohne sie darum als Künstlerbücher in Betracht zu ziehen. Die Entstehungsgeschichte, vom handgeschriebenen Urexemplar bis zur gedruckten Originalausgabe, wurde minutiös aufgearbeitet, und die Tatsache, dass Lewis Carroll sich der Gestaltung seiner Bücher, vom Layout über die Typographie bis zur Druckqualität, mit großer Leidenschaft, ja geradezu mit zwanghafter Detailversessenheit widmete, ist gut dokumentiert – und doch wird die Buchgestaltung alles in allem als nettes Beiwerk wahrgenommen, das dem Text für die Analyse nichts Neues hinzuzufügen habe.105 Jaques und Giddens legten mit der zitierten Untersuchung, in der die bisher vorliegende materialitätsrelevante Forschung zu den Alice-Büchern zusammengetragen und diskutiert wird, die Grundlage für eine auf Materialität und Medialität fokussierte Analyse der Alice-Bücher.106 Was bisher fehlt, ist eine Auseinandersetzung mit den Alice-Büchern im Kontext des wissenschaftlichen Diskurses um die selbstreflexive Poetik des Machens, wie ihn Christian Benne in Die Erfindung des Manuskripts beschreibt.107 Mitte des 19. Jahrhunderts sei „ein neuartiger Begriff des Schreibens“ nicht nur entdeckt, sondern zum poetologischen Programm erhoben worden: „An die Stelle des abgerundeten Kunstwerks tritt der Prozess seiner Entstehung – er wird zum eigentlichen Werk.“108 Ansätze dazu finden sich bei Christoph Benjamin Schulz, der die Alice-Bücher vor dem

103Jaques/Giddens

2013, 4. 9. 105Für einen aktuellen Überblick vgl. Ebd. 106Jan Susina zeigt auf, dass Alice’s Adventures in Wonderland ein Meilenstein in der Geschichte des viktorianischen Verlegens war – insofern, als Dodgson und Macmillan sich des kommerziellen Potentials von Kinderbüchern sehr bewusst waren. Vgl. Susina 2010, 62–63. 107Vgl. Benne 2015. 108Ebd., 19. 104Ebd.,

116

4  Materialität des Sinns, Hermeneutik des Unsinns

­ intergrund ihrer Produktionsästhetik als Bühne versteht, „auf der die Leser die H Werke in der Lektüre aufführen“.109 Wie so oft bei Carroll begegnen wir auch hier wieder einem Paradox: Es gelingt dem konservativen Vorreiter der Moderne und der Avantgarden, in den Alice-Büchern ein Werk zu schaffen, das gerade deswegen abgerundet ist, weil es seine eigene Entstehung reflektiert, sein eigenes Buch-Sein ausstellt. Die ­Alice-Bücher sind das Resultat eines Integrationsprozesses von Widersprüchlichkeiten; wobei die Integration durch die Hervorhebung der Poiesis des Büchermachens und Bücherlesens überhaupt erst möglich wird. Vielleicht ist diese Spannung innerhalb der Alice-Bücher an der Produktivität des Stoffes beteiligt; möglicherweise trägt sie dazu bei, dass die Geschichte von Alice in zahllosen Adaptionen immer wieder neu erzählt und inszeniert werden muss. Es ist, als ob das „Neben-, Mit- und Gegeneinander der Medien“,110 das Benne mit Rüdiger Schnell der von McLuhan postulierten Abfolge von Kulturstufen entgegensetzt, sich in den Alice-Büchern materialisierte. Mein Ziel ist es, die Poetik der Alice-Bücher als eine Poetik des Materiellen erkennbar zu machen, in welcher Verfahren der literarischen Moderne vorgezeichnet sind und die in populärkulturellen Artefakten bis heute reproduziert wird. Deshalb wende ich mich zunächst dem handgeschriebenen, von Carroll selbst illustrierten und eigenhändig gestalteten Manuskript zu, das als Weihnachtsgeschenk für Alice Liddell gedacht war. Dabei gehe ich von Bennes Feststellung aus, dass Handschrift und Druck an der Schwelle zur Moderne nicht länger in ihren jeweils genau abgezirkelten Bereichen bleiben, sondern sich berühren und einander wechselseitig auf vielfältige Weise beeinflussen: Durch die Befreiung der Handschrift von der Aufgabe der vervielfältigenden Publikation werden Buchkultur und Manuskriptkultur paradoxerweise Teil desselben Phänomens. Das handschriftliche Material generiert Druckerzeugnisse, ohne im Anschluss zu verschwinden. Vielmehr wachsen aus demselben Boden neue Druckerzeugnisse nach, die wiederum das handschriftliche Material befruchten, verändern und erweitern. Die Drucklegung wird zum Moment eines übergeordneten Schreibprozesses, der erst mit dem Tod des Autors endet; in einigen Fällen noch nicht einmal dann. Denn wenn die Philologen posthum übernehmen und das handschriftliche Material neu ordnen und herausgeben, ist dies nur die Fortsetzung einer zentralen Technik des Autors selbst.111

Ein solcher Fall ist The Annotated Alice, die von Martin Gardner herausgegebene und kommentierte Ausgabe. Fast jeder Satz, passagenweise sogar jedes Wort wird erklärt, kontextualisiert, auf Intertexte abgefragt. Die Menge an Marginalien wirkt sich massiv auf die visuelle Gestaltung der Buchseiten aus: Der Text wird von

109Schulz

2015, 275. Schnell: Handschrift und Druck. Zur funktionalen Differenzierung im 15. und 16. Jahrhundert. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 32, 1, 66–11, hier 70. 111Benne 2015, 28. 110Rüdiger

4.2  „Dodgsons extreme perfectionism“: Lewis Carrolls Materialästhetik

117

einem Heer krabbelnder Zeichen-Ameisen auf eine schmale Spalte in der Seitenmitte zusammengedrängt.112 Interessanter für meine Fragestellung ist hingegen, wie Carroll Eigenschaften seiner handschriftlichen Fassung in die Druckfassung einfließen lässt.113 Viele dieser Verfahren konnte Carroll nur in der handschriftlichen, beziehungsweise handwerklichen Arbeit am Manuskript überhaupt erfinden oder entdecken. Die Transformation in die gedruckte Fassung verlangte teilweise komplizierte technische Vorgänge.

Alice’s Adventures Under Ground Dodgson scheute weder zeitlichen noch finanziellen Aufwand, um die vier Alice-Bücher ganz genauso zu gestalten, wie er sie haben wollte, in allen drei Dimensionen114: von der Typographie über die Illustrationen bis zum Layout, von der Buchgrösse, der Farbe des Leineneinbandes bis zur Covergestaltung. Im viktorianischen Großbritannien gab es verschiedene Finanzierungsmöglichkeiten, um Bücher auf den Markt zu bringen, doch er entschied sich bewusst dafür, selbst für sämtliche Kosten aufzukommen. Das erlaubte ihm, die Kontrolle über jedes kleinste Detail zu behalten. Sein Arbeitsprozess lässt sich zum Beispiel an der Gestaltung des Mauseschwanzes (Abb. 4.2) nachvollziehen:115 Dodgson’s extreme perfectionism could make working with him, at times, a distinctly wearying experience. Christ Church library still possesses his elaborate plan of the illustrations for the published book; several of his own designs for the title page; his carefully corrected proof pages; and his own, undulating, pasted mock-up of the entirely new ‘Mouse’s Tail’ poem […].116

Das Manuskript von Alice’s Adventures Under Ground spielt dabei eine wichtige Rolle. Es gibt einen Einblick in die immer schon multimodale Arbeitsweise des Künstlers. Neben der bereits erwähnten ornamentalen Gestaltung von Titelblatt und Kapiteltiteln kommen typographische Variationen zum Einsatz: Wörter werden unterstrichen oder in Grösse und Stil hervorgehoben. Was vor allem auffällt, ist, wie sehr die handschriftliche Gestaltung von Buchstaben und Satzzeichen die Typographie des gedruckten Buches beeinflusste. Die im gedruckten Text regelrecht strukturbildenden Ellipsen, durch lange Gedankenstriche ausgedrückt, haben ihren Ursprung im Manuskript, ebenso wie die Asterisken, die das Layout

112Vgl. dazu Davide Giuriato: Prolegomena zur Marginalie. In: Giuriato, Stingelin, Zanetti (Hg.): „Schreiben heißt: sich selber lesen.“. Schreibszenen als Selbstlektüren. München 2008, 177–198. 113Christian Benne weist nach, wie die spezifisch literarische Handschrift die „naive, rein mediale (statt mediologische) Dichotomie von Manuskript und Druck“ auflöst. Benne 2015, 409. 114Vgl. Spoerhase 2016. 115Jaques/Giddens 2013, 16. 116Sally Brown: Introduction. In: Alice’s Adventures under Ground. A Facsimile. By Lewis Carroll. London: The British Library 2008, 4–29, hier 19.

118

4  Materialität des Sinns, Hermeneutik des Unsinns

Abb. 4.2  Lewis Carrolls Collage als Vorlage für the mouse’s tale/tail und die Version aus Alice’s Adventures Under Ground

bei Alices Wachstums- und Schrumpfungsschüben durchbrechen. Am deutlichsten kann man den Einfluss des Experimentierens am Übergang von Handschrift und Zeichnung im Fall der „Mouse’s tale“ beobachten: Aus handschriftlichen Zeichen lässt sich elegant eine geschwungene Linie gestalten, eine Mischung aus Arabeske und masoretischer Figur. Für den Druck collagierte Carroll in mühsamer Ausschneide- und Klebarbeit eine Vorlage, nach der die Druckseite dann Buchstabe für Buchstabe gesetzt wurde. Im Kopf des Mädchens formt sich aus der Homophonie von tale und tail angesichts des langen Mauseschwanzes ein Text, der sich über die Buchseite hinschlängelt. Die kleine Szene ist nebenbei auch eine Reflexion über mediale Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Denn während Alice hört, was die Maus erzählt, bildet sich vor ihrem geistigen Auge ein Bild, das zugleich ein Text ist. Beides bietet einen Ansatzpunkt für hermeneutische Aktivität, ohne dass die beiden Dimensionen dadurch aber ganz und gar ineinander aufgehen würden. Im Gegenteil, es tut sich ein Riss auf. Hier wird die Materialität des Mediums noch einmal auf eine andere Weise sichtbar, nämlich, indem sie „sich zeigt“. Dieses SichZeigen versteht Dieter Mersch als ein Ereignis aus der Negativität heraus, „als

4.2  „Dodgsons extreme perfectionism“: Lewis Carrolls Materialästhetik

119

d­ asjenige, was dem Semiotischen oder Semiologischen entgeht“.117 Der Abgrund, der sich auftut beim Versuch, das Mauseschwanzbild visuell und narrativ zu verstehen, ist Teil des „Nichtmediatisierbaren, das zwar erst angesichts seiner Mediatisierung zum Vorschein gelangt, das dennoch ihm notwendig vorausgeht.“118 Nichtsdestotrotz kann man sagen, dass die Alice-Bücher die buchstäbliche Materialität119 des Mediums in seinen drei Dimensionen hervorheben und sie einem hermeneutischen Prozess zugänglich machen. Die von Carroll angefertigten Illustrationen, die er selbst für dilettantisch hielt, und die für die gedruckte Ausgabe von John Tenniel, dem damals schon berühmten Karikaturisten der Satire-Zeitschrift Punch, übernommen wurden, sind produktionsästhetisch aufschlussreich. Dass die Geschichte von Alice und den Kreaturen des Untergrunds von Anfang an als Verbindung von Text, Schriftbildlichkeit und Illustrationen realisiert wurde, weist auf das untrennbare Zusammenspiel von Zeichnen und Schreiben hin. In jedem Fall lässt sich festhalten, dass die Geschichte von Alice, so wie wir sie kennen, auf dem Papier entstanden ist. Über das Papier hinaus wirkte sich auch die Idee des Buches auf die Gestaltung aus. Als Alice vor Verzweiflung einen ganzen See aus Tränen weint, müssen die Leser das Buch drehen, um das im Querformat platzierte Bild des schwimmenden Mädchens zu sehen; ebenso, als sie dort, ein paar Seiten später, Gesellschaft von allerlei Tieren bekommt.120 Für die Szene, in der Alice von der blauen Raupe aufgefordert wird, das Gedicht „You are Old, Father William“ aufzusagen, wechselt Carroll das Genre und fügt, wiederum im Querformat, eine Art Comic ein: das Bild auf der oberen Seite wird – über vier Doppelseiten – begleitet von zwei Gedichtstrophen. Der Genre- oder sogar Medienwechsel gilt für fast alle Illustrationen, die eine ganze Seite einnehmen; da sie alle im Querformat gezeichnet sind, haben sie die Anmutung von Bildern in einer Ausstellung oder dem entsprechenden Katalog – mit der Drehung des Buches um 90 Grad verändert die Leserin ihre Position gegenüber dem Medium im Raum. Ein letzter bemerkenswerter Punkt ist die Rahmung der Illustrationen. Während die Bilder im Querformat von einem zarten Strich eingerahmt sind, überlappen sich die integrierten Illustrationen mit dem Text; die Fussspitzen des weißen Kaninchens zum Beispiel dringen in die Zeilenabstände ein,121 oder Alice, überdimensional in die Höhe geschossen, muss den Kopf zur Seite neigen, um den Text nicht zu verdecken.122 Im Layout gestaltet sich das klaustrophobische Gefühl

117Mersch

2002a, 16. 17. 119Mit Müller-Wille unterscheide ich zwischen buchstäblicher, prozessualer, widerständer (posthermeneutischer) Materialität und Materialität als historischem Phänomen. Vgl. Abschn. 2.2. in: Müller-Wille: 2017, 20–32. 120AAUG, 19 und 23. 121Ebd., 13. 122Ebd, 36. 118Ebd.,

120

4  Materialität des Sinns, Hermeneutik des Unsinns

Abb. 4.3  Alice im Layout-Rahmen

des grotesk aus allen Massen herauswachsenden und schrumpfenden Mädchens (Abb. 4.3).123 Dem Bild, auf dem Alice im Haus des Kaninchens so stark wächst,

123Zur Bedeutung des Grotesken in der viktorianischen Kultur für Kinder vgl. Marilynn Olson: John Ruskin and the Mutual Influence of Children’s Literature and the Avant-Garde. In: Elina Druker/Bettina Kümmerling-Meibauer: Children’s Literature and the ­Avant-Garde. Amsterdam/ Philadelphia 2015, 19–44, hier 25: „When looking at some of the images that inspired grotesque avant-garde productions, it is relevant to realize that a robust thread of violent and grotesque images was part of ordinary nineteenth-century child life, a site with which every painter would have some acquaintance. Some of the most distinctive motifs used by avant-garde artists in the fin-de-siècle were borrowed from playthings and pastimes of the most conventional, traditionbound, childhood nature, so that it appears to have taken conscious thought to perceive them as unconventional and rebellious. Indeed, the nature of children’s culture as a repository of castoff traditions, united with its perceived status as ‘untouched’ by social conditioning, made it a particularly rich source of subversive images when rightly perceived.“ Olson bezieht sich hier auf die Theorie des Grotesken von Wolfgang Kayser (1963), der das Groteske als Begegnung oder Aufeinanderprallen von Gegensätzen beschreibt. Manchmal sei diese Spannung in einem Objekt oder einer Beschäftigung (pastime) inhärent, es könne aber auch durch den Kontrast zwischen einem zärtlich-liebevollen Blick auf Kindheit und seiner Realität entstehen. Als Beispiel nennt sie Puppen, die furchteinflössend wirken können, weil sie wie versteinerte Menschen, wie Fetische wirken – oder weil sie die schmerzliche Eigenschaft haben, alles auszuhalten, was Kinder nicht aushalten: „[…] thus contrasting one vision of childlike innocence with another vision of imaginative childhood violence“ (26).

4.2  „Dodgsons extreme perfectionism“: Lewis Carrolls Materialästhetik

121

dass sie es fast sprengt, widmet Carroll eine ganze Seite. Hier weiß man gar nicht mehr, wie das Buch zu drehen und zu wenden ist: Hält man es auf herkömmliche Weise, steht das grotesk im Bildrahmen einquetschte Mädchen auf dem Kopf, auf ein Meer von Haaren gebettet. Dreht man das Buch so wie bei den anderen Bildern im Querformat, scheint Alice in einer Schublade zu liegen (Abb. 4.3).124

Carrolls Buchgestaltung im Kontext der viktorianischen material culture Der Einsatz von Ornamenten, die Arabeske in der geschwungenen Linie – das alles sind Figurationen, die in der viktorianischen material culture weit verbreitet waren. In diesem Kontext erscheint Carrolls literarische und buchgestalterische Arbeit nicht mehr als solipsistische Spielerei, sondern auf der Höhe der Zeit, beeinflusst durch die avantgardistische Ästhetik der Präraffaeliten, durch den viktorianischen Kunsttheoretiker John Ruskin, durch William Morris und die Arts and Crafts-Bewegung.125 Die Ornamentik von Cover und Widmung der Urfassung kann als ein Beispiel dafür dienen.126 Dabei ging es ihm nicht allein um ästhetische Kriterien, sondern um die sinnliche Wirkung des Buches auf kindliche Leserinnen und Leser. Am 11. November 1864 schrieb Dodgson an seinen Verleger Alexander Macmillan: Dear Sir, I have been considering the question of the colour of Alice’s Adventures, and have come to the conclusion that bright red will be the best – not the best, perhaps, artistically, but the most attractive to childish eyes. Can this colour be managed with the same smooth, bright cloth that you have in green? Truly yours, C.L. Dodgson127

124Olson

2015, 37. Ebd., 37. 126Vgl. Lorraine Janzen Kooistra: Charting Rocks in the Golden Stream. Or Why Textual Ornaments Matter to Victorian Periodicals Studies. In: Victorian Periodicals Review, 49/3 2016, 375–395, hier 382: „Textual ornaments have been remediated in various forms ever since the invention of the printing press, when moveable type displaced the illuminated manuscript as the primary means of recording and disseminating information, ideas, and expression. In permanent objects of beauty and utility, such as printed books, the embellishment of letterpress with graphic ornament marks the cultural value of a work intended for careful preservation and repeated use. However, the widespread use of pictorial initials and other graphic ornaments in the mass-produced pages of inexpensive and ephemeral Victorian periodicals signals a different kind of cultural valuing. In the ­fast-paced, industrialized world of nineteenth-century magazines, graphic ornaments can be conceptualized as interlacing ribbons of time, asserting continuity over ephemerality by connecting historical makers and readers to each other, as well as to past, and even future, cultural practices.“. 127Selected Letters of Lewis Carroll, 2015, 31. 125Vgl.

4  Materialität des Sinns, Hermeneutik des Unsinns

122

„Attractive to childish eyes“ müsse die Farbe des Einbands sein; rot schien Dodgson geeigneter als das grüne Leinen, in das Charles Kingsleys The Water Babies (1863) gebunden war und das Macmillan Dodgson als Modell für Alice schmackhaft zu machen versuchte.128 Der Autor akzeptierte die Vorschläge Macmillans, aber nur in stark modifizierter Form; sein Buch sollte unter anderem ein kleineres Format aufweisen als die Water Babies. Obwohl er sich Mühe gab, dem Wissen und der Erfahrung des Verlegers respektvoll zu begegnen, hatte Dodgson doch fixe Vorstellungen, was die Erscheinungsform seines Buches betraf, von denen er nur ungern abließ.129 Die Schriften des Kunstkritikers John Ruskin geben Auskunft über den zeitgenössischen Diskurs zur spezifischen Sinnlichkeit des kindlichen Auges. Ruskin schreibt dem innocent eye des Kindlichen ein besonderes Sensorium für die Materialität zu, das sich unter anderem in der Wahrnehmung von Farbe manifestiert: We see nothing but flat colours; and it is only by a series of experiments that we find out that a stain of black or grey indicates the dark side of a solid substance, or a faint hue indicates that the object in which it appears is far away. The whole technical power of painting depends on our recovery of what may be called the innocence of the eye; that is to say, of a sort of childish perception of these flat stains of colour, merely as such, without consciousness of what they signify – as a blind man would see them if suddenly gifted with sight. […] We go through such processes of experiment unconsciously in childhood; and having once come to conclusions touching the signification of certain colours, we always suppose that we see what we only know, and have hardly any consciousness of the real aspect of the signs we have learned to interpret. Very few people have any idea that sunlighted grass is yellow.130

Doch im welchem Verhältnis steht Carrolls Leidenschaft für die materielle Gestaltung der Alice-Bücher zu seiner Inspirationstheorie? Die Frage ist nicht nur in Hinblick auf ein besseres Verständnis der Alice-Bücher relevant, denn diese Polarität zwischen traumhafter Eingebung auf der einen Seite und ebenso handfester wie medienreflexiver Arbeit am Material auf der anderen Seite ist ein Element der Alice-Maschine, das unter anderem die surrealistische Produktionsästhetik im 20. Jahrhundert auszeichnen wird. Gerade in der Aussage, er habe seinen Büchern nichts hinzuzufügen, könne nicht erklären, was dies oder jenes zu bedeuten habe – „for all such questions I have but one answer: ‚I don’t know!‘“131 –, liegt ein Hinweis auf die Poetik der Alice-Bücher. Der Autor sieht sich selbst als ein Medium, durch das die Kunst zu einem Ausdruck findet, den die Orientierung an Gattungspoetiken mit ihren Gesetzmässigkeiten gerade verhindern würde.132 Carroll imaginiert sich als Kind,

128Jaques/Giddens

2013, 16.

129Ebd. 130Vgl.

Olson 2015, 22. on the Stage, 295. 132Ebd., 294. 131Alice

4.2  „Dodgsons extreme perfectionism“: Lewis Carrolls Materialästhetik

123

das über die Lockerung seiner Einbildungskraft in freier Assoziation und Traumlogik mit einer reinen Sprache in Verbindung kommt, die nur in der Kindheit zu erfahren ist, in den „happy hours of childhood, when all is new and fair, and when Sin and Sorrow are but names – empty words signifying nothing!“.133 Diese leeren Worte mögen als Material für Wortspiele aller Art dienen und eine Quelle des Humors sein, tragen aber vor allem zur grotesken, mitunter verstörenden Atmosphäre der Alice-Bücher bei: als leere Drohungen der Königin der Herzen – „off with her head“ – oder als Worthülsen, wie sie die Herzogin verwendet: „Oh,’tis love,’tis love, that makes the world go round!“,134 und im Mise en abîme der unsinnigen Hermeneutik, wie sie Humpty Dumpty betreibt, wenn er das Nonsense-Gedicht „Jabberwocky“ auf radikal idiosynkratische Weise interpretiert.135 Das Fantasma einer künstlich geschaffenen Welt aus reinem Kinderspiel, genährt von der Nostalgie für eine Kindheit, die es so niemals gegeben hat, mag als Antrieb für Carrolls Werk wirksam gewesen sein. Tatsache ist, dass sich der Traum, kaum materialisiert er sich auf Papier, jederzeit in einen Albtraum verwandeln kann. Genau das ist ein Element der Alice-Maschine: dass sich romantische Fantasmen als Kippfiguren zwischen Utopie und Horror erwiesen. Adaptionen des Alice-Stoffs entscheiden sich in der Regel für die eine oder andere Seite, für das vergnügliche Spiel oder für das Grauen; die Kippfigur dagegen findet sich häufig in Texten, Filmen oder Fernsehserien, die auf den ersten Blick nicht viel mit Alice und dem Wunderland zu tun haben. Insbesondere in der Netflix-Serie stranger things macht diese Kippfigur den Kern der Poetik aus. Der Fokus auf Dodgsons Handwerk des Büchermachens hat bereits eine ganze Reihe von Figurationen der Alice-Maschine hervortreten lassen. Ein Aspekt besteht im Widerspruch zwischen Dodgsons handfester Arbeit an allen drei Dimensionen des Buches, die im Widerspruch zum sorgsam gepflegten Mythos von der mündlichen Erzählung steht, inspiriert durch die Muse Alice Liddell. Ohne die Freundschaft mit der historischen Alice Liddell – ein weiterer Widerspruch –, hätte Dodgson die Geschichte von Alice niemals geschrieben, und doch kann Carroll das Buch nur schaffen, weil er Alice Liddell verschwinden lässt und mit „Alice“ überschreibt. Dies wiederum spiegelt sich im Widerspruch zwischen der Inspiration aus heiterem Himmel und der perfektionistischen Arbeit am Material. In den Alice-Büchern verwandeln sich diese Widersprüche in Kippfiguren und lösen bei ihren Leserinnen und Lesern einen Prozess aus, der nicht zur Ruhe kommt. Die Versuchung besteht, Dodgson und Carroll als ein Doppelgängerpaar à la Dr. Jeckyll und Mr. Hyde zu deuten. Doch Dodgson weiß genau, was Carroll tut; die beiden tauschen sich bei hellem Tageslicht aus, arbeiten gemeinsam an ihren Projekten – und niemand weiß, wo die Grenze zwischen beiden verläuft.

133Ebd.,

295. 68. 135Ebd., 162–164. 134AAW,

4  Materialität des Sinns, Hermeneutik des Unsinns

124

4.3 Figurationen der Bannung (Vor)geschriebene Lektüre: The Nursery Alice Die Alice-Bücher sind, wie ich im letzten Kapitel gezeigt habe, als interaktive Medien konzipiert, denen das Wissen um die eigene Materialität nicht nur eingeschrieben, sondern auch buchstäblich eingezeichnet und eingebunden ist. Das macht sie zu Meta-Büchern.136 Sie sind so angelegt, dass der Prozess des Lesens immer auch ein Nachdenken über den Akt des Lesens mit sich bringt. Insofern können die Alice-Bücher als Entwurf einer Medienpraxeologie gedeutet werden – als eine Theorie der Praxis des Lesens in drei Dimensionen. Interaktiv ist grundsätzlich jedes Buch, sobald es gelesen wird. So argumentiert Benne: Leserinnen hinterlassen Spuren, unter anderem in ihrer handschriftlichen Aneignung des Textes, und erschaffen damit ein eigenes Genre von Büchern mit ihren Anstreichungen und Kommentaren, ihren Interlinearkommentaren und Glossen: Es [das Genre handschriftlicher Aneignung] zeigt exemplarisch die enge Verbindung der Tätigkeit der Hand und des tiefen Eindringens in einen Text an, sein buchstäbliches Be- und Ergreifen. Die Lesespuren indizieren ein bis dahin bloß materielles Artefakt aus Papier und Druckerschwärze als Dokument eines vergangenen Leseprozesses, dessen Verlauf sie oft noch lange danach zu evozieren vermögen. Ein durch manuelle Lesespuren – und seien es nur Eselsohren – modifiziertes Buch ist bereits kein reines Druckerzeugnis mehr, sondern ähnelt, metaphorisch gesprochen, einem Palimpsest, in dem der gedruckte Text lediglich die unterste Schicht ausmacht. Das Buch ist schon früh ein interaktives Medium, weil es zur physischen Modifizierung und Spezifizierung durch den Lesenden einlädt, der es sich mit der Hand erschließt und es deshalb zumindest teilweise in ein eigenes Manuskript zurückführt.137

Carrolls ständige Überarbeitung der Alice-Bücher, die Selbstvermarktung, bzw. das Alice-„Branding“, das er betrieb, lässt sich als eine spezifisch populär-marktorientierte Weiterentwicklung der Manuskript-Kultur verstehen. ­ Auch auf Seiten der Rezeption verlangte das kindliche Publikum nach einer Verwandlung der Lesepraktiken, die das Material noch stärker ins Zentrum rückt: Statt zum Anstreichen und Kommentieren werden die Leserinnen zum Spielen aufgefordert. Am deutlichsten lässt sich diese Verwandlung in The Nursery Alice nachverfolgen. Der Erzähler gibt den kleinen Zuhörerinnen und Zuhörern Anweisungen, wie das Buch zu lesen sei – wobei man sich Lesen in diesem Fall als eine Kombination aus Zuhören, Schauen und Handhaben vorstellen muss. Ausgerechnet die Nursery Alice, die Version für die Kleinsten, bietet von den vier Alice-Büchern am wenigsten Potential für Leselust. Der Erzähler spricht die Kinder immer wieder an, nimmt mögliche Fragen vorweg und erklärt ihnen

136Vgl.

dazu auch Schulz 2015, 262–276. 2015, 36.

137Benne

4.3  Figurationen der Bannung

125

Dinge, die in der Originalfassung allzu elliptisch erscheinen könnten. Er erklärt seine Witze und weist auf Dinge hin, die gemessen an der Alltagswirklichkeit der Kinder unsinnig oder unmöglich sind. Gerade aus den Versuchen des Erzählers, den eigenen Text ruhigzustellen, lassen sich wertvolle Hinweise für die ­Alice-Maschine gewinnen. Vor allem aber erlaubt die Nursery Alice einen Einblick in die Gestaltung der Fantasie einer kleinkindlich-handfesten Lektüre im Schreibprozess selbst. Nur um die Materialität des Buches geht es im Paratext; im Vorwort – „adressed to any mother“138 – erklärt der Autor seine Ambition, auch von „Children aged from Nought to five“139 gelesen zu werden. Dabei betont er die notwendige Sensibilität für die materielle Gestalt des Buches – „a book’s bookness“140, wie sie Johanna Drucker nennt. Carroll schreibt: To be read? Nay, not so! Say rather to be thumbed, to be cooed over, to be dog’s-eared, to be rumpled, to be kissed, by the illiterate, ungrammatical, dimpled Darlings that fill your Nursery with merry uproar, and your inmost hearts with a restful gladness!141

In der kleinkindlichen Lesepraxis, wie sie sich Carroll vorstellt, lässt das Buch seine Buchhaftigkeit sogar hinter sich und wandelt sich zum Spielzeug, das geknuddelt und geküsst werden kann und soll. Im Text selbst steht dennoch der visuelle Zugang im Zentrum: Die Erzählung entwickelt sich entlang von zwanzig Illustrationen, die zum Teil koloriert sind. Der Erzähler hebt zwar im Märchenton zu erzählen an – „Once upon a time, there was a little girl called Alice: and she had a very curious dream“142 – um dann gleich in ein Frage- und Antwortspiel mit den Kindern einzusteigen: „Would you like to hear what it was that she dreamed about?“143 Die sogenannte Anschlusskommunikation mitsamt Anleitung zur Leseanimation ist zum Teil der Erzählung geworden – die Erzählstimme braucht nur noch von einer erwachsenen Person verkörpert zu werden. Was zu fragen und zu erklären ist, steht bereits im Text. Dabei scheint der Erzähler von einer Vorlesesituation auszugehen, in der die Kinder Zeit haben, bei den Illustrationen zu verweilen – manche Kapitel, allen voran „The Mad Tea Party“, das in Alice’s Adventures ganz auf Nonsense-Dialoge und Wortspiele setzt, geraten ihm zur Bildbeschreibung, sogar zu einer eher didaktischen als vergnüglichen Übung in Bildbetrachtung. Zu erzählen gibt es hier so gut wie nichts. Im ersten Kapitel, als das Weiße Kaninchen vor Angst zitternd an Alice vorbeihastet, hat die Vorleserin bereits umgeblättert – doch vielleicht hält sie die Buchseite so, dass die Kinder das Kaninchen auf der ersten Seite betrachten können. Hier spricht der Erzähler die Kinder zum ersten Mal auf ein Bild an:

138NA,

Preface, (unpaginiert).

139Ebd. 140Johanna

Drucker: The Century of Artists’ Books. New York 2004, 9. Preface (unpaginiert). 142Ebd., 1. 143Ebd., 1. 141NA,

126

4  Materialität des Sinns, Hermeneutik des Unsinns

So the poor thing was frightened as frightened could be (Don’t you see how he’s trembling? Just shake the book a little, from side to side, and you’ll soon see him tremble) […].144

Der Körper des Kaninchens auf Tenniels koloriertem Holzschnitt ist angespannt; die Haltung der Ohren verrät es, aber auch die Art, wie es seinen Schirm verkrampft unter den Arm klemmt, die Hand zur Faust geballt. Es starrt, leicht nach vorne gebeugt, auf die Taschenuhr. Anspannung, Nervosität, Angst – all das vermag die Illustration auszudrücken, nicht aber das Zittern des Kaninchens. Dieses aber scheint dem Erzähler besonders wichtig zu sein, und er fordert die Kinder auf, das Bild durch Schütteln des Buches zu animieren. Für die ästhetische Erfahrung in ihrer ganzen Fülle braucht es das Buch als Gegenstand, die Illustrationen und den Text ebenso wie den Körper, die Stimme der vorlesenden und mit den Kindern im Namen des Buches interagierenden Person – und die Kinder selbst, deren implizite Fragen und Antworten die Erzählung schon im Prozess des Schreibens vorantreiben. Das Zittern des Kaninchens produzieren die Kinder selbst, indem sie ihre Körper zum Einsatz bringen und das Buch schütteln. Gleichzeitig, und hier realisiert sich wiederum die Alice-Maschine, ist es ein TunAls-Ob: In keinem Augenblick kann die Illusion entstehen, dass sich das Kaninchen wirklich bewegt. Die dreidimensionale, multimodale Leseerfahrung ist eine verkörperte, und doch bleibt sie gespielt, gewissermassen abstrakt. Der Umgang der Erzählerstimme mit den Illustrationen bestätigt diese Beobachtung noch einmal. Denn der Erzähler verweist die Kinder permanent auf die Bilder hin, die zum Teil auf derselben Doppelseite zu sehen sind, häufig aber ein Umblättern erfordern. Im zweitletzten Kapitel, „Who stole the tarts?“, müssen sie ganz bis zum Anfang zurückblättern; dort erst finden sie die Illustration zur Gerichtsszene.145 Immer wieder gibt es Verweise auf konkrete Bilder – hier würden die Kinder sehen, wie groß Alice gewachsen146 und da, was ein Gryphon147 sei. Genauso häufig weist der Erzähler die Kinder auf die Diskrepanz zwischen Bild und Text beziehungsweise auf die Vorstellung, die er als Erzähler von einer Sache hat, hin. Im Kapitel „How Alice grew tall“ kommt die Protagonistin zu einem Tisch, auf dem sie das Fläschchen mit der Aufschrift „DRINK ME“ findet. Im Text wird der Tisch als dreibeinig beschrieben, Tenniel hingegen deutet das dritte Bein nur an. Eigentlich hat der Tisch nur die Funktion des fixen Massstabs gegenüber der wachsenden und schrumpfenden Alice, doch der Erzähler weist ausgerechnet an einem unwichtigen Detail auf die Spannung zwischen Text und 144Ebd.,

2–3. if you look at the big picture, at the beginning of this book, you’ll see what a grand thing a trial is, when the Judge is a King!“ Ebd., 50. 146„Just look at the picture and you’ll see how tall she got.“ Ebd., 8. 147„You don’t know what a Gryphon is? Well! Do you know anything? That’s the question. However, look at the picture. That creature with a red head, and red claws, and green scales, is the Gryphon. Now you know.“ Ebd., 47. Diese Stelle gibt es bereits in Wonderland, allerdings in einer Kurzversion, als Klammerbemerkung: „(If you don’t know what a Gryphon is, look at the picture.)“ AAW, 71. 145„Now,

4.3  Figurationen der Bannung

127

Illustration hin: „However, after a little while she came to a little table, all made of glass, with three legs (There are two of the legs in the picture, and just the beginning of the other leg, do you see?) […]“148 Noch expliziter wird er, als Alice in den See aus ihren eigenen Tränen fällt: „Now look at the picture, and you’ll soon guess what happened next. It looks just like the sea, doesn’t it? But it really is the Pool of Tears – all made of Alice’s tears, you know!“149 Es gibt offensichtlich ein Wissen, das leichter im Erzähltext als im visuellen Medium der Illustration vermittelt werden kann. Die Verlorenheit hingegen, die das Bild ausstrahlt – Alice, kleiner als die Maus, schwimmt im scheinbar unendlichen Meer, der Horizont ist bedrohlich grau –, greift der Erzähler nicht auf, er konterkariert sie geradezu, als er anfügt: „Doesn’t Alice look pretty, as she swims across the picture? You can just see her blue stockings, far away under the water.“150 Die Kinder haben keine Gelegenheit, sich in ihrem eigenen Rhythmus auf das Bild einzulassen. Der Erzähler führt ihren Blick recht streng, und nicht nur das: Sie werden an ihre Betrachterposition erinnert, die es ihnen erlauben soll, einen Schritt zurückzutreten und sich bewusst zu werden, dass sie ein Buch in der Hand halten, aus Papier, auf dem eine Zeichnung zu sehen ist. Auch hier zeigt sich die seltsame Abstraktion in der Haltung gegenüber dem Konkreten, Materiellen. Das Buch in seinen drei Dimensionen scheint sich der Macht der sprachlichen und visuellen Rhetorik zu verweigern. Denn Alice ist offensichtlich in Not, sie droht in ihrem eigenen Tränenmeer zu ertrinken – doch weder Mitleid noch eine lebendige Vorstellung davon, was es bedeutet, von der selbst produzierten Körperflüssigkeit überwältigt zu werden, ist hier gefragt, sondern das Bewusstsein, dass man es mit einem Buch zu tun hat; deshalb dürfen und sollen sich die Kinderaugen an den hübschen blauen Strümpfen der Heldin erfreuen, anstatt sich vom Grauen packen zu lassen, das Alice’s groteske Körperlichkeit – sie so klein, die Tränen so groß – auslösen müsste. Doch gerade weil der Erzähler davon ablenkt, bleibt das Grauen präsent: als andere Seite der Kippfigur. Auf der einen Seite ist die bedrohliche Metapher vom Tränenmeer, auf der anderen das Pochen auf der scheinbar harmlosen Buchstäblichkeit der medialen Materialiät, welche die Betrachterin keineswegs von der Zumutung des Grotesken erlöst. Um die Spannung aufzulösen, müssten sich die beiden Seiten integrieren, miteinander versöhnen lassen, doch gerade das ist nicht möglich; was die metaphorische und die materielle Ebene der Leseerfahrung verbindet, ist einzig der Prozess des Lesens, der sich wiederum als ein ständiges Arbeiten am Material erweist. Ein weiterer Aspekt dieser Kippfigur ist Alices eigenes Reaktionsmuster, das sich immer gleich bleibt und aus dem der Text auch seine Funken des Nonsense schlägt: Während der Erzähler ihre missliche Situation beklagt – „poor Alice!“ – lässt sie die Spielregeln, die sie kennt, mit denen der seltsamen Situationen und Kreaturen im Wunderland kollidieren. Irgendwann hat sie genug und geht. Diese Bewegung – vom Versuch, sich zu verständigen zur Erkenntnis, das sei doch alles 148NA,

6. 11.

149Ebd., 150Ebd.

128

4  Materialität des Sinns, Hermeneutik des Unsinns

Unsinn, utter nonsense, kommt bereits in Alice’s Adventures Under Ground zu einem Ende, als Alice die Königin und ihren Hofstaat als Spielkarten entlarvt und benennt: „You’re nothing but a pack of cards! Who cares for you?“151 Das Spiel hört in dem Moment auf, in dem das Spielzeug zum unbeseelten Objekt wird. Bei Carroll verfügen die Kinder über diese Macht – was die literarische Figur Alice kann, sollen auch die Kinder lernen, welche das Wunderland über die Nursery Alice kennenlernen. Wenn es ihnen zu viel wird, gibt es immer die Möglichkeit, ihren Blick auf die Gemachtheit des Buches zu lenken. Einen entscheidenden Schritt weiter in Richtung Materialitätstheorie geht The Nursery Alice am Ende des Kapitels „The Cheshire Cat“. Hier verbinden sich in der Leseanweisung Bildbetrachtung und Handhabung wiederum zu einer Kippfigur, die zugleich performativ von Kinderhand gebannt werden soll. In der Nursery Alice weist der Erzähler auf einen Aspekt der Materialität hin, der in Alice’s Adventures in Wonderland bereits gestaltet ist, aber unkommentiert bleibt. Alice ist soeben der Küche mit der furiosen Herzogin entkommen, und auch den Säugling, den sie gerade noch auffangen konnte, als ihn die Herzogin durch die Küche warf, ist sie glücklich losgeworden: Er hat sich in ein Ferkel verwandelt und ist friedlich in Richtung Wald davonspaziert. Gerade als Alice darüber nachdenkt, welche Kinder aus ihrer Schule sich gut als Schweine machen würden und ins Spekulieren gerät, „if one only knew the right way to change them–“,152 erschreckt sie der Anblick der Cheshire-Cat auf einem Ast. Alice fragt die Katze nach dem Weg und erfährt, dass es ganz gleich sei, welche Richtung sie einschlage – verrückt seien alle: „[…] we’re all mad here. I’m mad. You’re mad.“153 Auf dieser Seite nimmt Tenniels Illustration mehr Raum ein als der Text; wie ein Ausschnitt aus einem breiten Rahmen umgibt sie den Text (Abb. 4.4). Auf der nächsten Seite scheint ein Ausschnitt der Illustration noch einmal abgebildet, diesmal im üblichen rechteckigen Format. Doch nur noch das Gesicht der Katze ist zu sehen, mit seinem riesigen, zahnreich grinsenden Mund (Abb. 4.4). Die Katze verschwindet, um noch zweimal aufzutauchen und jeweils eine Frage zu stellen; während sie sich selbst in Luft auflöst, interessiert sie sich für die Verwandlung des Säuglings in ein Schwein.154 Beim ihrem letzten Erscheinen beklagt sich Alice; das Erscheinen und Verschwinden mache sie schwindlig. Also löst sich die Katze ganz langsam auf: 151AAUG,

88. 48. 153Ebd., 49. 154„Alice was not much surprised at this, she was getting so well used to queer things happening. While she was still looking at the place where it had been, it suddenly appeared again. ­‚By-the-bye, what became of the baby?‘ said the Cat. ‚I’d nearly forgotten to ask.‘ ‚It turned into a pig,‘ Alice answered very quietly, just as if the Cat had come back in a natural way. ‚I thought it would,‘ said the Cat, and vanished again. […] As she said this, she looked up, and there was the Cat again, sitting on a branch of a tree. ‚Did you say ‚pig‘ or ‚fig‘? said the Cat. ‚I said ‚pig‘, replied Alice; ‚and I wich you wouldn’t keep appearing and vanishing so suddenly: you make one quite giddy!‘ ‚All right,‘ said the Cat; and this time it vanished quite slowly, beginning with the end of the tail, and ending with the grin, which remained some time after the rest of it had gone.“ Ebd., 50. 152AAW,

4.3  Figurationen der Bannung

129

Abb. 4.4  Der Rahmen ist gleichzeitig Inhalt: Die Ceshire Cat in The Nursery Alice “[…] I wish you wouldn’t keep appearing and vanishing so suddenly: you make one quite giddy!” “All right,” said the Cat; and this time it vanished quite slowly, beginning with the end of the tail, and ending with the grin, which remained some time after the rest of it had gone. “Well, I’ve often seen a cat without a grin,” thought Alice; but a grin without a cat! It’s the most curious thing I ever saw in my life!”155

Wie so oft im Wunderland wird Alices Wunsch erfüllt – wenn auch nicht ganz so, wie sie es sich vorgestellt hat. Der Nonsense entsteht hier auf der Ebene der Sprache, indem die Kategorien durcheinandergeraten. Das Grinsen wird wie ein Körperteil unter anderen behandelt, als sei es der Kopf, der Mund oder das Gesicht der Katze. Unsinnig und unheimlich wird die Szene erst, weil das Grinsen, ein mimisch-affektiver Ausdruck, sich vom Körper der Katze löst und synekdochisch für eine Art Schatten des Ganzen der Katze steht. Wie gesagt, spielt sich die Szene nicht nur auf der Ebene der Sprache ab. Tenniel betont einen anderen Aspekt des Verschwindens, nämlich den Akt des Sich-Auflösens, des transparent Werdens: Wir sehen den Kopf der Katze nur noch als Hauch von Umrissen, als Skizze. Das Grinsen selbst löst sich nicht vom Körper. In der Originalausgabe waren die beiden Illustrationen so angeordnet, dass das Verschwinden der Katze durch Umblättern der Seite performativ nachvollzogen werden konnte. Im Gegensatz zu Alice, die den Kapriolen der Katze

155Ebd.,

S, 59.

4  Materialität des Sinns, Hermeneutik des Unsinns

130

ausgeliefert ist, können die Leserinnen des Buches die Katze eigenhändig verschwinden lassen und wieder zurückholen – sie können Freuds Fort-da-Spiel aus Jenseits des Lustprinzips nach Belieben spielen, indem sie das Buch als haptisch-visuelles Medium zum Einsatz bringen. So halten die Leserinnen dem unsinnig-unheimlichen Geistern des Grinsens performativ eine sinnhafte Handlung entgegen, ohne aber die Vorstellung vom Grinsen verschwinden lassen zu können. Sie kommt weder in den Illustrationen noch in ihrer Handhabung vor. Der Abgrund, der sich zwischen den unvereinbaren Sinnebenen des dreidimensionalen Buches auftut, gehört ebenso zu dieser Figuration wie die Kontrollund Bannungshandlung, die sich um Umblättern vollzieht. Alice verabschiedet sich auch in der Nursery-Version von der Katze, die langsam verschwindet, bis nur ihr sprichwörtliches Lächeln zurückbleibt: So this time the Cat vanished quite slowly, beginning with the tail, and ending with the grin. Wasn’t that a curious thing, a Grin without any Cat? Would you like to see one? If you turn up the corner of this leaf, you’ll have Alice looking at the Grin: and she doesn’t look a bit more frightened than when she was looking at the Cat, does she?156

Auch hier geht es wieder um Angst. Über dem oben zitierten Text sehen wir einen Ausschnitt aus dem Bild, das auf der vorletzten Seite zu sehen war, noch einmal; doch diesmal verliert sich der Körper der Katze im Blätterwerk. Wir können nur noch ein Echo des grinsenden Katzenkopfes erkennen. Nun dient die Anleitung des Erzählers zum Umblättern aber nicht, wie man aufgrund der entsprechenden Stelle in Alice’s Adventures in Wonderland erwarten könnte, dazu, das allmähliche Verschwinden der Katze zu animieren. Die Kinder werden genaugenommen auch nicht zum Umblättern, sondern zum Falten angeleitet: sie dürfen nicht nur, sondern müssen sogar an der unteren Ecke der Seite ein Eselsohr falten, denn nur so sehen sie, wie Alice in der gleichen furchtlos-entschlossenen Haltung vor dem Grinsen und der Katze steht. Wieder ist es die visuelle Dimension des Lesens, diesmal unterstützt durch die haptische des Faltens, die dem Kind eine interaktive Einflussnahme auf das Medium verspricht. Dem Faltbild als Figuration einer versuchten Bannung kann es aber nicht gelingen, die Unruhe der Kippfigur zum Verschwinden zu bringen, denn es enthält diese immer schon – dafür sorgt die Affordanz der Buchseite, die umgeblättert werden will, selbst dann noch, wenn ein Kind zu Leim und Schere griffe, um auf Kosten des Buches Fakten zu schaffen und den performativen Akt des Faltens zu bannen, indem es ein Bild klebt. In den späteren Auflagen von Alice’s Adventures in Wonderland ging der Blättereffekt verloren, obwohl er Carroll offensichtlich so sehr am Herzen lag, dass er ihn in der Nursery Alice explizit herausstellte und für die kleinen Kinder modifizierte. Dass die Materialitätsvergessenheit als solche erkannt wurde, belegt die Prachtausgabe, die Macmillan zum 150. Jubiläum von Alice’s Adventures in Wonderland herausbrachte: hier kehrt der Blättereffekt zurück, sozusagen auf der großen Bühne.

156AAUG,

36.

4.3  Figurationen der Bannung

131

Was das Grinsen der Katze betrifft, werden in einzelnen Neuillustrationen Versuche unternommen, es auch visuell vom Körper des Tiers zu isolieren. Anthony Browne nimmt die Szene auf, in der die Katze zum ersten Mal erscheint – die Küchenszene mit der Herzogin und dem schreienden Säugling –, und gestaltet die Verwandlung des Babys in ein Schwein analog zur Auflösung der Katze. Dazu bedient er sich bei der Ästhetik des Comic und zeigt in drei gleich großen, in einer Reihe angeordneten Panels zunächst eine physisch ganz anwesende Katze. Auf dem mittleren Panel ist sie transparent, und auf dem dritten ist nur noch ihr Grinsen, das heisst ihre Zähne und der nach oben gezogene Ausdruck des Mundes, zu sehen (Abb. 4.5).157 Besonders gut eignet sich das Pop-up-Buch für die Inszenierung von Verwandlungen. Auf der Basis von Tenniels einschlägigen Illustrationen hat Jenny Thorne den Umblättereffekt in ein einziges Bild integriert. Wenn man an der mit einem Pfeil bezeichneten Lasche zieht, erscheint hinter der körperhaft präsenten Katze das leere Geäst des Baumes und das transparente Gesicht der Katze. Überzeugend ist der Prozess des Verschwinden- und Wiedererscheinenlassens aber nur für die Hand, die ihn durch Ziehen und Schieben in Gang bringt; für das Auge bringt die Übergangsphase von einem Zustand dagegen nur ein unstrukturiertes, sinnloses Chaos von Farben und Formen hervor.158 Es ist nicht möglich, das Verschwinden mit Hilfe von Papier, Farbe und Klebestoff zu animieren, ohne die Materialität des Mediums Buch unhintergehbar herauszustellen. Anders als beim Film, wo wir die Schnitte kaum wahrnehmen, fällt der Blick hier auf das Scheitern des Unternehmens. Beim Umblättern der Seite in der Originalausgabe von Alice’s Adventures in Wonderland sowie in der Nursery Alice haben wir es doch mit einer Poiesis zu tun, die wir zwar mit einem Handgriff in Bewegung setzen, die aber im Wesentlichen als ein symbolischer Akt zu verstehen ist, im Zusammenspiel mit dem Nonsense der Trennung von Katzenkörper und Grinsen. Doch beim Pop-Up-Buch zeigt sich die Materialität des Buchmediums in der radikalen Weise, wie sie Dieter Mersch in seiner Studie Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis theoretisch fasst. Die Cheshire-Cat dient Mersch zum Einstieg in seine Fragestellung. Er versteht die Passage aus Alice’s Adventures in Wonderland als paradoxe Figuration einer Anwesenheit ohne Gegenwart und macht sie zum sinnbildlichen Nukleus seiner Materialitätstheorie: Immateriell und ohne Präsenz, die seine Kontur hielt, blieb es anwesend, um nur allmählich zu verblassen. Diese Unmöglichkeit einer Anwesenheit ohne Gegenwart – Halbschatten oder undeutlichen Atmosphären vergleichbar, die nirgends festzumachen sind –, war der Anlass, über die Frage des Doppelsinns der Zeichen nachzudenken, die zwar etwas zu bezeichnen oder zu bedeuten vermögen, das abwesend ist, die dabei aber dennoch notwendig ihrer eigenen Präsenz bedürfen, um das A-Präsente, die Absenz zu

157Lewis

Carroll/Anthony Browne: Alice im Wunderland. Oldenburg 1989, 56 und 59. Pop-Up-Büchern vgl.: Christian A. Bachmann/Laura Emans/Monika Schmitz-Emans (Hg.): Bewegungsbücher: Spielformen, Poetiken, Konstellationen. Berlin 2016. 158Zu

4  Materialität des Sinns, Hermeneutik des Unsinns

132

Abb. 4.5  Anthony Browne lässt die Katze von Panel zu Panel verschwinden

r­e-präsentieren. Ihre eigene Gegenwart behaupten sie vorzugsweise durch ihre Materialität, durch den Laut der Sprache, die Spur, die als Abdruck eines Vorübergegangenen dessen Gewesenheit aufbewahrt oder die Stofflichkeit des Materials, derer sich der Künstler bedient, um sein Bild, seine Skulptur oder sein Objekt zu schaffen, oft im Widerstreit zu dieser, indem er ihr seine eigenwillige Gestalt, seine Form aufzuprägen versucht.159

Im Pop-Up-Buch behauptet sich im Akt des Verschwindenlassens der Katze die Stofflichkeit des Materials, aus dem das Buch gemacht ist. Sie verhält sich widerständig dem Effekt gegenüber, der gestaltet und nachvollzogen werden soll. Der Versuch der Bannung, den das Pop-Up-Buch mit dem Verschwindenlassen der Katze in Angriff nimmt, dreht sich in sein Gegenteil und gestaltet – im Vergleich mit anderen Alice-Adaptionen – einen Moment, in dem die Materialität sich am offensichtlichsten zeigt.

Philologische Bannung: Martin Gardners The Annotated Alice Doch bekanntlich sind Alice’s Adventures Under Ground, Alice’s Adventures in Wonderland und Through the Looking-Glass nicht nur Kinderbücher. Als idealtypische Beispiele für kinderliterarische Doppelsinnigkeitverfügen sie über eine Ebene, die sich an Erwachsene einer bestimmten Klasse und damit verbunden

159Mersch

2002a, 11.

4.4 Die Alice-Maschine medienpraxeologisch

133

eines bestimmten Bildungsniveaus richtet.160 Sie deklinieren sämtliche Spielarten der Intertextualität durch, von der Anspielung zur Parodie, sie sind voller Rätsel und sprachphilosophischer Verwirrspiele. Damit provozieren sie die Lust, sich auf das Spiel einzulassen, gleichermassen wie den philologischen Furor, den Unsinn wegzuerklären. Die Kommentierwut mancher Lesenden hat eine gedruckte Ausgabe mit dem Anspruch hervorgebracht, die Rätsel des Textes zu lösen, die Ellipsen zu füllen: Martin Gardners The Annotated Alice. Wie bereits erwähnt nehmen Gardners Marginalglossen so viel Raum ein, dass sich die schriftbildliche Anmutung der Buchseiten gegenüber der unkommentierten Buchausgabe massiv verändert. Auch Carrolls Einsatz der haptischen Gegenständlichkeit geht verloren; Gardners Interesse gilt allein traditionell philologischen und intertextuellen Fragen. Die Fülle macht das Buch flach. Dennoch beleuchtet The Annotated Alice einen Aspekt der Alice-Maschine; ist seinerseits Teil einer Kippfigur in der Rezeption. Denn in der Adaptionsgeschichte gibt es mehr Versuche, die flirrende, ruhelose Offenheit der Alice-Bücher ruhigzustellen, als sie neu zu realisieren. Gardners Annotated Alice ist einer davon. Gardner füllt die Zwischenräume buchstäblich auf mit seinen Erklärungen und verweigert sich damit der Poiesis des Lesens, welche die Alice-Bücher in ihrer Eigenschaft als Meta-Bücher provozieren. Hier zeigt sich einmal mehr, dass es zwei Möglichkeiten gibt, mit der Alice-Maschine umzugehen, in den Künsten ebenso wie in der Alice-Forschung: Man kann sich auf ihre Prozesshaftigkeit, ihre Unruhe, ihr Oszillieren einlassen, oder man kann die Figurationen der Desorientierung auszuschalten versuchen.

4.4 Die Alice-Maschine medienpraxeologisch Es gehöre zur Funktionsweise der Alice-Maschine, könnte man vermuten, dort Unsinn zu produzieren, wo eigentlich Sinn entstehen müsste – auf der Ebene der Zeichen –, und umgekehrt die materiellen Dimensionen des Buches und seiner Handhabung mit Bedeutung aufzuladen. Tatsächlich entsteht Sinn durch die Begegnung des Buches mit dem Leser, der Leserin, denn die Alice-Romane sind so gestaltet, dass der Akt des Lesens in den Vordergrund rückt und, durchaus physisch, haptisch gesehen, Sinn produziert: Materialität des Sinns, Hermeneutik des Unsinns. Diese Dimension der Alice-Bücher wird erst durch eine materialitätstheoretische Perspektive auf die spezifisch Carrollsche Form des viktorianischen Unsinns sichtbar, wie ich sie in in Kap. 3 aufgefaltet habe. In den Alice-Büchern wird die „Tätigkeit der Hand“ ebenso wie das „tiefe Eindringen“ in den Text auf eine Weise inszeniert, die der eingeübten, automatisch ablaufenden Praxis des Seitenumblätterns beziehungsweise des Verstehens von

160Vgl. Lena Hoffmann: Crossover. Mehrfachadressierung in Text, Markt und Diskurs. Zürich 2018.

134

4  Materialität des Sinns, Hermeneutik des Unsinns

Wörtern, Sätzen und Passagen ihre Selbstverständlichkeit nehmen.161 Wir sehen uns plötzlich von aussen seltsame Dinge tun, und es geht uns wie Alice mit den Kreaturen des Wunderlands: Alles kommt uns absurd vor. In ihrer Gestaltung lässt uns die Alice-Maschine die Grenzen der Zeichen als Bedeutungsträger und in der Hervorhebung der sinnlichen Seite des Lesens die Unmöglichkeit der reinen Materialität erfahren. Sie bestätigt Bennes Argumentation, dass Materialität, oder Gegenständlichkeit, wie er es nennt, die Gesamtheit des Buches umfasst. Stofflichkeit erscheint so nicht als der textuellen Bedeutung entgegengesetze Materialität, sondern in ihrer ganzen kulturellen Signifikanz und Affordanz.162 Im Folgenden werde ich zeigen, wie die Alice-Maschine in den Alice-Büchern mit der Inszenierung von Nonsense in Verbindung mit der Materialität und Medialität des Buches zusammenhängt, indem sie einen paradoxen Prozess in Gang setzt. Dieser zielt darauf ab, die vermeintliche Kippfigur von immateriellem Zeichen und Sinn einerseits und von Materialität des Mediums und Präsenz andererseits zu unterlaufen, bisweilen sogar aufzulösen. Dieses Verfahren führt dazu, dass unvereinbare medienphilosophische Konzepte sich ineinander verschlingen: die reale Buchseite, die man als Leserin eigenhändig umblättert, die man auch herausreissen könnte, wenn man wollte, wird immateriell-symbolisch (denn da hilft auch das Herausreissen nichts, ganz im Gegenteil), während die Zeichen sich permanent in lebendige Wesen verwandeln, deren Geschwätz alles an den Rand drängt, was von einem kausallogisch sich entwickelnden Plot übrig sein mag. Dies illustriert die Sequenz mit der blauen Raupe in der DisneyAdaption. Hier werde eine Form von Kommunikation gezeigt, die Seitens des Senders nicht auf konventionell dekodierbaren Zeichen beruhe, sondern auf der konkreten Materialität singulärer Zeichen, die nicht einmal bei Alice ankommen, schreibt Ingrid Tomkowiak in ihrer Analyse der Szene: „Die Buchstaben sind da und nicht da, sie bedeuten etwas und sie bedeuten nichts“.163 Im Wechselverhältnis zwischen Bild und Schrift, zwischen Textur und Textualität würden Schrift, Bild, Bewegung und Musik hier in Einklang gebracht – „der dann aufgebrochen wird, als aus diesen Schriftzeichen Kommunikation bzw. Sinn werden soll und dies scheitert.“164 So lässt sich die Alice-Maschine auch als Entwurf einer Medienpraxeologie lesen, und Carroll erweist sich als Pionier des seine Materialität und Medialität inszenierenden Meta-Buches, das im 20. Jahrhundert in Gestalt von

161Benne

2015, 36. Ebd. Der Begriff geht auf den amerikanischen Psychologen James J. Gibson zurück, der Affordanz als „Eigenschaften von Gegenständen bzw. einer konkreten Umwelt, die es Lebewesen ermöglichen, bestimmte Handlungen auszuführen, etwas sie zu bestimmten Zwecken zu funktionalisieren.“ (130) Als affordant für die Existenz von Manuskripten nennt Benne etwa biegsame organische Materialien (131). 163Tomkowiak 2018a, 115. 164Ebd. 162Vgl.

4.4 Die Alice-Maschine medienpraxeologisch

135

a­vantgardistischen Künstlerbüchern und postmodernen Bilderbüchern seinen großen Auftritt haben würde.165

Oszillieren Carrolls Inszenierung des Lesens lässt sich somit gleichsam als Gegenentwurf zu den Dichotomien und Kippfiguren verstehen, die im Kontext der Materialitätsdebatte regelmäßig auftauchen. Diese spalten Lektüre theoretisch auf, indem sie Materialität, Präsenz und Ereignis als nicht-hermeneutische Kategorien behaupten, narrative Strukturen und rhetorische Figuren dagegen dem Hermeneutischen zuordnen. Lesen wird dementsprechend in einer ganzen Reihe von Ansätzen – zum Teil explizit, häufiger aber implizit – zwar als ein komplexes Verfahren beschrieben, das in seiner materiell-haptischen Dimension sehr wohl über das Verstehen von Zeichen hinausgeht. Dennoch bleiben die Sphären des Sinns und der Sinnlichkeit konzeptionell getrennt, und die dualistischen Tendenzen, gegen die der material turn ursprünglich angetreten ist, werden noch verstärkt. Das sei, schreibt Christian Benne, die Aporie der Materialität.166 Ein Ansatz, der hermeneutisches Lesen radikal von sinnlichem Lesen trennt, findet sich in Hans Ulrich Gumbrechts Konzept des Oszillierens zwischen Sinnund Präsenzeffekten. Präsenz und Sinn, schreibt er, träten stets zusammen auf und stünden immer in einem Spannungsverhältnis zueinander.167 Da wir in einer „Sinnkultur“ leben, könnten Präsenzphänomene immer nur als ephemere Präsenzeffekte daherkommen: Es mag zwar grundsätzlich richtig sein, daß alle unsere (menschlichen) Beziehungen zu den Dingen dieser Welt sowohl auf Sinn als auch auf Präsenz beruhen müssen, aber dennoch behaupte ich, daß wir unter den heutigen Kulturverhältnissen einen bestimmten Rahmen benötigen (nämlich die Simulation der ‚Insularität‘ un die Einstellung der ‚fokussierten Intensität‘), um die produktive Spannung, das Oszillieren zwischen Sinn und Präsenz, wirklich zu erleben, anstatt die Präsenzseite einfach einzuklammern, wie wir das in unserem überaus cartesianischen Alltagsleben offenbar ganz automatisch tun.168

Am Beispiel der Lyrik verweist er auf Gadamer, der das „Volumen“ der Lyrik als zusätzliche, der Hermeneutik nicht zugängliche Dimension herausstrich.169 Womit sich Gumbrecht, die Aporie der Materialität berührend, letztlich doch, wenn auch ex negativo, bei den Hermeneutikern einreiht.

165Vgl. Müller-Wille 2017; Schulz 2015; Hiloko Kato: Vergessen gegangene Materialität. Inszenierungen des Buchs als Buch in Jörg Müllers Das Buch im Buch im Buch. In: Interjuli 2/2015, 6–24. 166Benne 2015, 95. 167Gumbrecht 2004, 126. 168Ebd., 127. 169Ebd., 128.

136

4  Materialität des Sinns, Hermeneutik des Unsinns

Bei der Lektüre von Lyrik zum Beispiel, argumentiert er, sei man gezwungen, permanent hin- und herzuwechseln, von der Interpretation einer Metapher zur Musik der Sprache als reinem Klang.170 Das ist aber nur die Spitze des Eisbergs seines kulturanalytischen Standpunkts, der darauf besteht, das hermeneutisch Zugängliche vom Nicht-Hermeneutischen trennen zu wollen. Gegen „hermeneutische Maximalisten“ wie Gianni Vattimo, die am Universalitätsanspruch der unendlichen Interpretation festhalten, die das Sein schließlich zum Verschwinden bringt, führt er die „Substantialität des Seins“ ins Feld.171 Seine Behauptung, Weltaneignung durch Begriffe sei nicht mit Weltaneignung durch die Sinne, Erfahrung nicht mit Wahrnehmung kompatibel,172 beruht auf einer Auseinandersetzung mit Subjekt und Objekt und der Krise der Repräsentation im 19. Jahrhundert, die den Beobachter dazu verdammte, sich selbst beim Akt des Beobachtens zu beobachten.173 Die Entstehung dieser „selbstreflektierten Schleife in Gestalt des Beobachters zweiter Ordnung“ führte dazu, dass jedes Wissen und jede Darstellung von der Perspektive des Beobachters abhängig sein würde, was wiederum unendlich viele Wiedergabemöglichkeiten für jeden potentiellen Bezugsgegenstand gab.174 Verkürzt gesagt, erwuchs daraus gemäß Gumbrecht eine Geisteswissenschaft, durch die Sinn und Sprache „als Orte und Werkzeuge der Weltkonstruktion begriffen wurden“, und schließlich zum Konstruktivismus führten.175 Er schließt sich implizit der Kritik an der Philosphie nach Descartes an, die Heidegger in Sein und Zeit formuliert; Husserls Phänomenologie sei „lediglich der Endpunkt einer tausendjährigen philosophischen Entwicklung“ gewesen, „in deren Rahmen das Subjekt/Objekt-Paradigma die abendländische Kultur in einen Zustand der extremen Weltentfremdung geführt hatte“,176 wobei das menschliche Dasein als rein geistige Sphäre, die Welt als rein materielle Sphäre verstanden worden sei. Man fragt sich, warum Gumbrecht die sinnlich-materiellen Elemente nicht ins Ganze der ästhetischen Erfahrung einbezieht, was auf der Basis des Heideggerschen In-der-Welt-Seins durchaus nahe läge, sondern auf dem Oszillieren zwischen Sinn und Präsenz beharrt. Auf die philsophischen Voraussetzungen von Gumbrechts These kann ich hier nicht weiter eingehen, doch was ich anhand der Alice-Maschine zeigen werde, ist, dass die Literatur des 19. Jahrhunderts, und zwar ein ausgesprochen verspielter, als spezifische Kinderliteratur konzipierter Text, das Axiom von der vermeintlichen Unmöglichkeit der Konvergenz von begrifflichem Denken und sinnlicher Wahrnehmung konterkariert, indem gerade das Umblättern der Seiten, zum Beispiel, die Handlung vorantreibt, während die Sprache ihre klanglichen Qualitäten

170Ebd. 171Ebd.,

75. 58–59. 173Ebd., 57. 174Ebd. 175Ebd., 62. 176Ebd., 86. 172Ebd.,

4.4 Die Alice-Maschine medienpraxeologisch

137

in den Vordergrund rückt. Bei der Lektüre der Alice-Bücher ist es gerade nicht das immer tiefer, nach immer neuen Nuancen schürfende Deuten, das den „Sinn“ ausmacht, sondern ein Machen, eine Poiesis, an der die Körper der Lesenden beteiligt sind wie das Buch selbst. So wenig sich der Text im Akt des Lesens vom Buch trennen lässt, so wenig verlässt der Geist den Körper, wenn er liest. Das Problem von Gumbrechts Oszillationsthese und seiner Behauptung, beim Lesen sei die Sinndimension, beim Musikhören dagegen die Präsenzdimension dominant,177 zeigt sich beim handfesten Anwendungsversuch. Gerade ein Gedicht wie der „Jabberwocky“, das man mit Gumbrecht leicht in die Schublade der Präsenzphänomene packen könnte, oszilliert nicht, sondern erzählt eben über seine Form eine Geschichte, die man versteht – auch wenn die einzelnen Wörter kaum Sinn ergeben.

Kippen In eine ähnliche, wenn auch theoretisch aus anderen Quellen unterfütterte Richtung geht Aleida Assmann mit ihrer Beschreibung von Lektüre als Kippfigur: Entweder fokussiere man beim Lesen das Medium in seiner Materialität oder das Dargestellte; beides zusammen sei nicht möglich.178 Ihre Fragestellung zielt auf die „wilde Semiose“, als deren Virtuosen Shakespeare „Wahnwitzige, Poeten und Verliebte“ erkannt habe; dem „weite[n] Feld, das sich zwischen den Polen des Pathologischen und des Kreativen ausdehnt“.179 Mit Lacan versucht sie die wilde Semiose als Auseinanderbrechen der Signifikantenkette zu beschreiben: […] dem Schizophrenen (wie dem Künstler, dem Liebenden, und man kann noch hinzufügen: dem Mystiker) wird der Gegenstand der Betrachtung prä-sent, das heißt, er wird aufdringlich und bleibt vor seinen Sinnen stehen. Solche Umperspektivierungen, die mit plötzlichen Einblicken und Durchblicken verbunden sind, haben, wie Frederick [sic! Zitiert wird Fredric Jamesons Postmoderne. Zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus, CL] Jameson betont, eine stark affizierende Wirkung: ‚Derart vereinzelt, überwältigt die Gegenwart das Subjekt plötzlich mit unvorstellbarer Vitalität: Eine überwältigende Materialität der Wahrnehmung kommt auf, die wirkungsvoll die Macht des ­sprachlich-materiellen oder genauer des buchstäblichen Signifikanten in seiner Vereinzelung in Szene setzt.‘180

Die wilde Semiose durchbricht die Logik der Zeichen, wie wir sie aus der Semiotik kennen, die „ein gegenseitiges Ausschlussverhältnis von Anwesendem und Abwesendem“ herstellt.181 Die Aufgabe der Zeichen sei paradox; sie müssen etwas zeigen, sich selbst aber gleichzeitig entziehen – je expressiver und sinnlicher 177Ebd.,

130. 2015, 219. 179Ebd., 18. 180Ebd., 19. 181Ebd., 20. 178Assmann

4  Materialität des Sinns, Hermeneutik des Unsinns

138

ein Zeichen ist, desto geringer ist seine Möglichkeit, präzise semantische Inhalte zu transportieren. Repräsentationen haben Zeichencharakter, Objekte nicht.182 Die wilde Semiose strebt nun danach, die Grundpfeiler der etablierten Zeichenordnung zum Einsturz zu bringen, indem sie auf die Materialität des Zeichens ausgerichtet ist und die Präsenz der durch die Zeichen auf Distanz gehaltenen Welt wiederherstellt. In jedem Fall erzeugt sie Störungen und Unordnung im bestehenden Beziehungssystem der Konventionen und Assoziationen. Sie stellt neue, unmittelbare Bedeutung her, sie unterläuft, verzerrt, vervielfältigt, sprengt die vorgegebenen Raster der Sinnbildung.183

Es mag sein, dass das Gelingen der Alltagskommunikation davon abhängt, dass alle Beteiligten sich an die Regeln dieser Zeichenordnung halten, und doch scheint mir die Annahme, wir hätten es mit einer ganz und gar unsichtbaren Norm zu tun, die nur in Extremzuständen in Frage gestellt werde, konstruiert zu sein. In der Literatur, aber auch im alltäglichen Sprachgebrauch sind beide Modi gleichzeitig gegenwärtig; das zeigt sich im Spracherwerb von Kindern, die in Sprachspielen die Regeln erkunden, überhaupt im Spiel mit Worten und Metaphern, das nicht etwa als Ausbruch aus der Norm, sondern gerade als normales Navigieren in und Ausprobieren von Möglichkeiten und Grenzen zu verstehen ist. Auch der literarische Nonsense lässt sich hier elegant als Gegenargument ins Feld führen: denn ihm ist es darum zu tun, „Störungen und Unordnung“ zu stiften – ohne aber das System umzuwerfen. Vor diesem Hintergrund des Entweder-Oder von Normalität und Störung entwirft Assmann ihr Modell des Lesens. Wo Gumbrecht die Erkenntnistheorie heranzieht, um das auf Dualismen und Dichotomien basierende westliche Denken zu vergegenwärtigen und zu kritisieren, greift Assmann auf die Geschichte der Schrift und auf Zeichentheorien zurück. Im Großen und Ganzen kommt sie dabei zur selben Erkenntnis: Die hinter den Dingen nach Sinn suchende Hermeneutik habe sich aus der Trennung von Geist und Materie heraus entwickelt.184 Besonders einflussreich habe die Basisopposition von Aussen und Innen auf das Zeichensystem gewirkt. Dem Aussen sei das Niedrige, das Materielle, die Oberfläche, das Sinnliche, der Schein und der Tod zugeordnet, dem Innen hingegen das Hohe, das Geistige, die Tiefe, das Übersinnliche, das Sein, die Substanz und das Leben – und dies spiegle sich in der Vorstellung der absoluten Intransparenz des Zeichens und der Hermeneutik der Tiefe.185 Daraus zieht Assmann den Schluss, dass Schrift in zwei unterschiedlichen Modi rezipiert werden kann. Dem des decodierenden Lesens, bei dem die Zeichen transparent werden und man ganz in eine Erzählung eintauchen kann, und dem des Schauens – hier sind die Zeichen intransparent, die Aufmerksamkeit bleibt

182Ebd. 183Ebd., 184Ebd., 185Ebd.

22. 65.

4.4 Die Alice-Maschine medienpraxeologisch

139

bei der Materialität, beim ikonischen Mehrwert des Zeichens hängen.186 Assmann ersetzt dabei den Begriff der Hermeneutik durch den der Kreativität und lokalisiert einen Moment des Umschlags „vom bewussten Lesen zur Magie der rezeptiven Imagination“.187 Ihre Argumentation stützt sie durch Beispiele aus literarischen Texten, in denen Leserinnen und Leser sich zunächst mühsam am Entziffern von Buchstaben abarbeiten – bis „die bildproduzierende Kraft der Imagination im Prozess der Lektüre anspringt“.188 Beim Buch als Schwelle zu einer Parallelwelt handelt es sich um eine metafiktionale Figuration, die in der Romantik und in der Postmoderne omnipräsent war und nach wie vor ist – gerade in der fantastischen Literatur für Kinder und Jugendliche erfreut sie sich als Vehikel der Medienreflexion auch heute großer Beliebtheit.189 Assmann unterteilt den Prozess des Kippens in die Lektüre hinein in drei Stufen: Zunächst richtet sich der Blick des lesenden Subjekts auf ein (Schrift)Bild, auf einen optischen Gegenstand. In einem zweiten Schritt wird das starre Bild animiert, „Das Dargestellte beginnt, sich zu bewegen, es verwandelt sich, wie wir heute sagen können, in einen Film“; und schließlich kommt es zum Sprung ins Bild hinein.190 Assmann verwendet das Bild gleichzeitig im buchstäblichen Sinn – der Text als Schriftbild – und im übertragenen Sinn: Im Leserinnenkopf entstehen beim Durchdringen der Zeichen bewegte Bilder, wie in einem Film. Sobald das Medium Schrift aber selbst zum Gegenstand einer literarischen Inszenierung werde, was in der Gegenwartsliteratur häufig der Fall sei, setze das Medium dem „Drang zum Transzendieren“ einen materiellen Widerstand entgegen: Durch Hervorhebung, Umgestaltung und Verbildlichung der Buchstaben ensteht eine Form der Verdichtung, die das Medium aber nicht nur opak macht, sondern auch ganz neue Dimensionen zur sinnlichen Steigerung und semantischen Komplexität des Dargestellten erschließt. Durch den Einsatz ikonischer, selbstreferentieller und indexikalischer Zeichen kann die Schrift zum Bild werden und ergänzt damit die sprachliche Ebene um weitere Schichten, die die Expressivität der Darstellung verstärken.191

Die Sensiblität für die mediale Verfasstheit von Literatur habe sich auch in der literaturwissenschaftlichen Praxis niedergeschlagen – seit den 1980er-Jahren habe das „Lesen“ das „Interpretieren“ verdrängt, es wurde zum neuen Schlüsselbegriff der Literaturwissenschaft.192 Lesen sei nun nicht mehr resultatorientiert auf der Suche nach der Aussage hinter den Zeichen, sondern:

186Ebd.,

209. 218. 188Ebd., 215. 189Vgl. dazu Sonja Klimek: Paradoxes Erzählen. Die Metalepse in der fantastischen Literatur. Paderborn 2010, sowie Lötscher 2014. 190Assmann 2015, 215. 191Ebd., 231. 192Ebd., 302. 187Ebd.,

140

4  Materialität des Sinns, Hermeneutik des Unsinns

Lesen findet statt, indem es sich ständig über sich selber aufklärt, indem es sich Rechenschaft ablegt über seine medialen Grundlagen, die Formen der Bedeutungsbildung und die gesellschaftlichen Operationen, die solcher Bedeutungsbildung zugrunde liegen. Durch eine Radikalisierung von Sprache und Schrift werden die Konventionen und Schematismen der Sinnbildung durchleutet, wird der sich bemächtigende Charakter von Sinn offenbart und de- oder rekonstruiert. Lesen zum Grundbegriff der Literaturwissenschaft erheben heißt also vor allem eines: Verlangsamung, Radikalisierung und Absolutsetzung ihrer Basisaktivität, die als solche ebenso grundsätzlich und unhintergehbar ist wie das Leben selbst. Nicht mehr darauf scheint es anzukommen, wie man mit Sinn und Verstehen beladen aus den Texten wieder aufsteigt, sondern wie man immer tiefer in diese eindringt und sich im Dickicht der Zeichen verstrickt.193

Ob sich die Kippfigur des Lesens mit den Avantgarden und postmodernen Verfahren, mit der Radikalisierung von Sprache und Schrift auflöst im Dickicht der Zeichen, bleibt in Assmanns Argumentation unklar. Die Verstrickung scheint sich immer noch in der Tiefe abzuspielen. Mit Benne könnte man fragen, „worin denn die eigentliche Signifikanz der ‚materialen‘ Befunde bestehe“, die „weder für die Sinnerschließung noch das spezifisch literarische ästhetische Erlebnis benötigt werden“, wenn man den Ansätzen von Gumbrecht und Assmann folgt.194 Die Alice-Maschine widerlegt das Gumbrechtsche Oszillieren. Sie produziert ihre Unruhe nicht im Entweder-Oder, sondern im Sowohl-als-Auch, im Als-Ob – in den Zwischenräumen.195 Zu ihren Eigenschaften gehört es, den „Sprung in den Text“ und damit jede Form der Immersion zu verhindern. Hier ist alles, wie Deleuze sagt, Oberfläche; die Frage, was dahinter ist, führt nicht weiter. Gerade wenn die Zeichen eine widerständige Präsenz an den Tag legen, lösen sie einen Prozess des Lesens als Machen aus, als Poiesis. Bevor Alice, gerade hinter dem Spiegel angekommen, den „Jabberwocky“ überhaupt lesen kann, starrt sie den Text verständnislos an (Abb. 4.6): Was für Gumbrecht ein reiner Präsenzeffekt wäre, figuriert bei Assmann unter dem Terminus Verdichtung. Sie schreibt solchen Hervorhebungen und Verbildlichungen von Buchstaben „neue Dimensionen zur sinnlichen Steigerung und

193Ebd.,

303. 1995, 82. Aus diesem Grund tragen Gumbrecht und Assmann wenig bei zu einem materialitätstheoretischen Verständnis des Unsinnsmodus. Hilfreicher ist Sybille Krämers Konzept der Schriftbildlichkeit. Sie betont das Doppelleben, das alle Schriften führen „im Spannungsverhältnis von Materialität und Interpretierbarkeit. Dieses Spannungsverhältnis ist verbunden mit einer grundständigen Gleichrangigkeit beider Seiten. […] Schriften evozieren den Sinnlichkeits- und den Sinneffekt gleichermaßen und gleichrangig.“ Sybille Krämer: Schriftbildlichkeit. Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Notationen. Berlin 2012, 25. 195Ein ähnliches Paradox beobachtet Aleta-Amirée von Holzen in ihrer Dissertation zu Superhelden, wenn sie folgendes Fazit zieht: „Im Hinblick auf die Thematisierung von Identität in den Geschichten um maskierte Helden, die narrativ sowohl das ‚Wahr-falsch-Paradigma‘ als auch das ­‚Einheit-in-Vielheit-Paradigma‘ bespielen, lässt sich somit folgern: Die maskierten Helden verkörpern diese paradoxe prosopische Einheit, in. der das Sowohl-als-Auch das Entweder-Oder nicht ausschließt.“ Vgl. ­Aleta-Amirée von Holzen: Maskierte Helden. Zur Doppelidentität in Superheldencomics und Pulp Novels. Zürich 2019, 326. 194Benne

4.4 Die Alice-Maschine medienpraxeologisch

141

Abb. 4.6  „[…] it’s all in a language I don’t know“ (TLG, 113): Der „Jabberwocky“ in Spiegelschrift

semantischen Komplexität“ zu.196 Doch dies ändert nichts daran, dass Lesen immer noch aufgespalten bleibt in zwei Techniken, die teilweise vom (Buch) medium, teilweise von der Leserin bestimmt werden und sich nicht vereinbaren lassen. Carrolls Texte unterlaufen diese Trennung. Denn Alice gelingt es nach einer kurzen Schrecksekunde, den spiegelverkehrten Jabberwocky-Text zu lesen – allerdings nicht, indem sie hinter die Zeichen eintaucht oder sich in ihrem Dickicht verstrickt. Sie geht pragmatischer vor und identifiziert das Buch in ihrer Hand als „looking-glass book“.197 Die nächste Stufe der Annäherung an den Text erlaubt ihr, das Gedicht zu lesen, aber immer noch, ohne es im herkömmlichen Sinn zu verstehen. Die Erfahrung, die ihr der eigenwillige, am ehesten im Sinne Angehrns negativistisch-hermeneutische Zirkel erlaubt, auf den sie sich einlässt, lässt sich nicht in „Sinn“ und „Sinnlichkeit“ aufspalten; im Gegenteil macht sie Alice, die vor wenigen Minuten noch gegen den Schlaf ankämpfte, zu einer hellwachen handelnden Figur. Im Kapitel über Alice als Leserin werde ich ausführlich auf diese Szene zurückkommen.

Spiegeln Auch Dieter Mersch spricht von Kippbewegungen, wenn der Blick bei der „medialen Betrachtung, die sich ganz dem Dargestellten hingibt, auf das angeschaute Medium“ umschlägt und es „selbst ansichtig werden lässt“.198 Solche Kippbewegungen geschähen regelmäßig dort, wo Störungen des Materiellen vorliegen, etwa, wenn das Glas vor einem Kunstwerk zurückspiegelt oder Laufwerkgeräusche beim Abspielen einer CD oder DVD zu hören sind. Diese Figur 196Assmann

2015, 231. 114. 198Mersch 2002b, 63. 197TLG,

142

4  Materialität des Sinns, Hermeneutik des Unsinns

des Rauschens lässt sich nach Mersch als Spur der Materialität auffassen, die am Medium sowohl das Unfügliche als auch das Unverfügbare hervorhebt. So erweise sich die Materialität des Mediums als Ort buchstäblicher Reflexion, als Ort der Medienreflexion.199 Auch wenn Merschs negativer Materialitätsbegriff für die Text- und Buch-Analyse wenig ergiebig ist, trägt er doch ein wesentliches Element zum Verständnis der Alice-Maschine bei. Denn Mersch verlässt die Bahnen der „substanzdualistischen Sackgasse“, wie sie Benne nennt, und beschreibt das Materiale nicht mehr als statische Stofflichkeit, sondern als erlebten Prozess – als Ereignis.200 Konkret analysiert Schrey die Figur des Rauschens am Beispiel der Logo-Sequenz des Pay-TV-Senders HBO.201 Auch wenn er in HBO-Serien tendenziell die von Engell und Vogl beschriebene Tendenz am Werk sieht, anästhetisch zu werden, also „sich selbst und ihre konstitutive Beteilung an diesen Sinnlichkeiten“202 zu löschen, betont er, dass genau dieses Rauschen den Möglichkeitsraum schafft für die Produktionen von HBO, die „der televisuellen Beliebligkeit eine Form aufprägen und so etwas schaffen, was bewusst beobachtet werden kann.“203 Der Spiegel in Through the Looking-Glass ist so ein Ort der buchstäblichen Reflexion und der Medienreflexion. Gerade weil die Buchseite durch Tenniels Illustration zu einem Spiegel wird – in der Originalausgabe nimmt er einen großen Teil der Seite ein – und dann, durch die Umblätter-Bewegung der Leserin, wieder zu einer Buchseite, um schließlich wieder ein Spiegel zu werden. Der gezeichnete Spiegel ist allerdings ein blinder Spiegel: was wir sehen, sind Grautöne, feine Striche, von oben nach unten gerastert. Dass es sich um einen Spiegel handelt, sehen wir auf der einen Seiten an der Reflexion, die Alice wirft. Auf der anderen Seite, im Land hinter den Spiegeln, scheint der Arm, dunkel schraffiert, wie er ist, noch im Spiegel drin zu sein – oder davor. Wenn man auf der ersten Seite ganz genau hinschaut, zeichnet sich der Kopf der Grinsekatze als zarter Umriss zwischen Alices Kopf und ihrem weiß leuchtenden Arm ab. Der Spiegel als Medium weist eine Spur des Kopfs der grinsenden Katze auf – der auch das Spiegelbild der Leserin sein könnte, die ins Buch schaut. Die großformatige Jubiläumsausgabe von Macmillan aus dem Jahr 2015 inszeniert den ­Umblätter-Effekt schon auf dem festeren Vorsatzblatt, das den Übergang zwischen dem ersten und dem zweiten Alice-Band markiert. Ein Spiegel, rund wie ein Kaninchenloch, etwa so groß wie eine CD-Rom, reflektiert zwar keine scharfen Konturen, lässt die Leserin ihr Gesicht aber in Umrissen erkennen, rund um Alice, die einsteigt ins Rund der glänzenden Folie – und, hat man einmal umgeblättert – wieder aus dem Spiegel heraustritt. Die Alice-Bücher machen die Leserinnen und

199Ebd.,

66. 2015, 137. 201Schrey 2017, 271. 202Engell, Lorenz/Vogl, Joseph: Vorwort. In: Claus Pias u. a. (Hg.): Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard. Stuttgart 1999, 8–11, hier 10. 203Schrey 2017, 271. 200Benne

4.4 Die Alice-Maschine medienpraxeologisch

143

Leser gleichsam zu handfesten Akteurinnen und Akteuren der Sinnproduktion; das Grinsen der Katze in Tenniels gezeichnetem Spiegel und der Umriss der Leserin in der Spiegelfolie der Macmillan-Ausgabe verweisen nicht nur auf die Spur des materiellen Datenträgers im Medium, sondern auch auf die Präsenz der lesenden Person im Buch selbst. In dem Maße, wie die Nonsense-Rhetorik der Texte uns zwingt, alles wörtlich zu nehmen, werden konventionalisierte, mechanisch ablaufende Techniken des Lesens mit Sinn aufgeladen. Beim Umblättern einer Buchseite katapultieren wir Alice durch den Spiegel in eine Parallelwelt, was uns wiederum dazu bringt, den Akt des Umblätterns überhaupt wahrzunehmen und zu reflektieren. Zu Beginn von Through the Looking-glass versucht Alice ihre Katze Kitty – die Tochter von Dinah, von der in Alice’s Adventures in Wonderland sehr zum Ärger der ­Wunderland-Tiere immer wieder die Rede ist – davon zu überzeugen, mit ihr Schach zu spielen. Aber nicht auf dem Brett, sondern als lebendige Figuren: „Let’s pretend that you’re the Red Queen, Kitty!“204 Die Katze lässt sich, sprichwörtlich nach Katzenart, natürlich nicht einspannen, und so hält Alice das renitente Tier zur Strafe vor den Spiegel: Kitty soll selbst sehen, wie mürrisch sie aussieht. Alice droht: „[…] if you’re not good directly, […] I’ll put you through into Lookingglass House. How would you like that?“205 Die Katze bleibt ungerührt, doch bei Alice selbst löst die ausgesprochene Drohung ein Fantasieren über das Haus hinter dem Spiegel aus; sie stellt sich die Räume auf der anderen Seite in allen Details vor und fordert die Katze noch einmal zum Spiel auf: „Let’s pretend the glass has got all soft like gauze, so that we can get through.“206 Im selben Augenblick löst sich der Spiegel tatsächlich in eine Art Nebel auf (Abb. 4.7): ‘Why, it’s turning into a sort of mist now, I declare! It’ll be easy enough to get through –‘ She was up on the chimney-piece while she said this, though she hardly knew how she had got there. And certainly the glass was beginning to melt away, just like a bright silvery mist.207

Wir sehen Alice von hinten, wie sie auf dem Kaminsims kniet. Unter dem Bild stehen nur ein paar Zeilen Text: „And certainly the glass was beginning to melt away, just like a bright silvery mist. In another moment Alice was through the…“208 Und hier blättern wir, damit Alice durch den Spiegel gleiten und auf der anderen Seite wieder auftauchen kann – „glass“209.

204TLG,

124. 125. 206Ebd., 127. 207Ebd. 208Ebd., 109. 209Ebd., 110. 205Ebd.,

144

4  Materialität des Sinns, Hermeneutik des Unsinns

Abb. 4.7  Einmal umblättern, und Alice geht durch den Spiegel

Am Ende des Buches vollzieht sich dieselbe Bewegung noch einmal, in umgekehrter Reihenfolge (Abb. 4.8):210 Die Schachfigur, die im Land hinter dem Spiegel lebendig wurde, entpuppt sich als Kitty, die Katze – und wieder war alles war geträumt. Man kann dieses mit einer erzählerischen Funktion aufgeladene Umblättern wie Aleida Assmann und Christoph Benjamin Schulz Animation nennen, im Sinne des Daumenkinos: Die blätternde Hand der Leserin animiert, was der Text erzählt.211 Tatsächlich unterscheidet sich die Welt hinter dem Spiegel vor allem durch ein Detail von der Welt vor dem Spiegel: dahinter ist alles lebendig. Alice, die übrigens nicht spiegelbildlich verkehrt wird, hält die Spiegelwelt deswegen zunächst für ebenso chaotisch wie animiert: Then she began looking about, and noticed that what could be seen from the old room was quite common and uninteresting, but that all the rest was as different as possible. For instance, the pictures on the wall next the fire seemed to be all alive, and the very clock on the chinmey-piece (you know you can only see the back of it in the Looking-glass) had got the face of a little old man, and grinned at her. “They don’t keep this room so tidy as the other,” Alice thought to herself, as she noticed several of the chessmen down in the hearth among the cinders […].212

Die lebendige, chaotische Spielwelt auf der anderen Seite des Spiegels verweist darauf, dass beim Seitenumblättern doch etwas anderes geschieht als beim 210TLG,

235–237. Vgl Schulz 2015, 268–270. 269. 212TLG, 110. 211Ebd.,

4.4 Die Alice-Maschine medienpraxeologisch

145

Abb. 4.8  „Shaking“ – „Waking“

Daumenkino. Als Leserinnen animieren wir Alices Weltenwechsel nicht nur, wir machen ihn. Das Umblättern der Seite an entscheidender Stelle verändert die gesamte Welt, in der Alice ihre Abenteuer erlebt – und damit die Wirklichkeit der Lektüre, in der wir uns befinden. Bei einer kursorischen Lektüre kann es leicht passieren, dass wir die Stelle überblättern, und so zwar hinter den Spiegel gelangen, aber eben nicht mit derselben haptischen Erfahrung. Der Text lässt in der Folge, das ist wahr, absolut keinen Zweifel daran, dass wir uns in einer Welt befinden, wo die Dinge anderen Regeln unterworfen sind, wo die Figuren von einer Episode zur nächsten hüpfen, wie auf einem Schachbrett. Und doch ist der Moment, in dem wir die Seite mit Daumen und Zeigefinger in der Schwebe halten – im dreidimensionalen Raum, der sich im Radius der aufgeschlagenen Buchdeckel auftut – zwischen hier und dort nur über die Handhabung der Buchseite zu haben. Die Nuance des Should I stay or should I spielt auch hier in die Bewegung hinein. Das Gleiten auf der Oberfläche, das Deleuze beschreibt, die „Kontinuität des Drinnen und Draussen, des Oberen und Unteren, des Vorderen und Hinteren, auf der Jabberwocky sich in beide Richtungen zugleich ausbreitet“,213 wird in dieser Perspektive durch die Eröffnung der dritten Dimension des Buches unterbrochen.

213Deleuze

1993, 291.

4  Materialität des Sinns, Hermeneutik des Unsinns

146

„Let’s do pretend“: Das Als-Ob als schwarzes Loch der ­­AliceMaschine Die Alice-Maschine würde ihrer Ambivalenz produzierenden und verstörenden Funktion nicht gerecht, wenn sie die Kippfigur von Materialität und Präsenz auf der einen und Zeichen und Sinn auf der anderen Seite einfach zu einem letztlich doch wieder Gumbrechtschen Chiasmus umbauen würde: Nur, dass die stringente Erzählung auf der gegenständlichen Ebene stattfände, während die Sprache nur dazu da wäre, mit Rhythmus und Klang und Schriftbildlichkeit „Präsenzeffekte“ zu produzieren, die sich dem hermeneutischen Zugriff entziehen. Wenn man die Carrollschen Spiele mit der Materialität des Buches nämlich genauer betrachtet, muss man feststellen, dass hier etwas nicht stimmt, und zwar ganz fundamental. Die Erzählung, in der episodisch berichtet wird, wie Alice durch ein Kaninchenloch ins Wunderland bzw. im zweiten Buch durch einen Spiegel ins Land dahinter gelangt und dort mit merkwürdigen Wesen zu kommunizieren versucht, wiederholt strukturell gesehen immer dasselbe: das Scheitern von Alices Versuchen, die Welt zu verstehen, man könnte auch sagen: zu lesen, und angemessen auf sie zu reagieren. Wann immer Alice ein Gedicht aufsagt, kommt eine bitterböse Parodie auf einen Kinderreim oder ein bei Carrolls Zeitgenossen beliebtes Gedicht heraus; manchmal erkennt das Mädchen nicht nur die Worte, sondern auch die eigene Stimme nicht mehr. „[…] her voice sounded hoarse and strange, and the words did not come the same as they used to do.“214 Intradiegetisch erlebt Alice eine Krise des Lesens. Auf der materiell-performativen Ebene der Bücher hingegen sind wir selbst Teil der ­ ­Lektüre-Inszenierung: Wir blättern anleitungsgemäss um, drehen und schütteln das Buch auf Geheiß des Erzählers, der hier auch immer ein Buchgestalter ist, und erleben damit am eigenen Leib, welche Gesten und Handlungen zum Lesen gehören, auch wenn wir ihnen in der Regel keine Aufmerksamkeit schenken. Das Problem ist, dass wir dies nicht wirklich am eigenen Leib erfahren, sondern nur so tun, als ob; wenn der Erzähler uns etwa in The Nursery Alice auffordert, das Buch ordentlich zu schütteln, um besser zu spüren, wie das Kaninchen vor Angst zittert, ist das zwar ein origineller Effekt, doch alles in allem verhindert er eher, dass wir die Angst des gehetzten Tieres physisch zu spüren bekommen.215 Gerade die Anschaulichkeit – und, je nach dem, die Anfasslichkeit – führt nicht auf eine mimetische, sondern auf eine medienreflexive Fährte. Ein Buch schütteln, um die Angst einer erfundenen Figur, die wir aus einer Reihe von Zeichen, aus Text und Illustration, zusammensetzen, besser zu spüren? Ist das, medientheoretisch gedacht, nicht purer Unsinn, utter nonsense, wie Alice zu sagen pflegt? Die Herausstellung der performativen Ebene scheint das haptisch-visuelle Lesen als Basis für die imaginative und hermeneutische Aktivität erfahrbar zu

214AAW, 215NA,

16. 2–3.

4.4 Die Alice-Maschine medienpraxeologisch

147

machen, gleichzeitig aber zu zeigen, dass es keine Verbindung gibt zwischen dem körperlichen Akt des Lesens und den Prozessen, die im Kopf ablaufen. Was Carroll inszeniert, ist eben gerade kein sogenanntes Gesamtkunstwerk, in dem sich die Dichotomie von Materialität und Hermeneutik auflöst. In den Alice-Büchern zeigt sich der prekäre Status, den Stephan Kammer bei literarischen Szenen beobachtet, die ihre eigene Medialität thematisieren und reflektieren: Wenn (zumal literarische) Texte ihre materialen Bedingungen auf diese Weise thematisieren, bieten sie Kommentare eines Zusammenhangs, dessen Teil sie gleichzeitig sind – und doch zumindest zu sein vorgeben: Sie beanspruchen gewissermaßen Text und Metatext zugleich zu sein. Nicht die visuelle Materialität erschließt sich so, sondern vielmehr deren mögliche Semantisierungen.216

Als Leserinnen und Leser der Alice-Bücher werden wir mit der Unmöglichkeit, die Dinge – Zeichen, Handlungen, Eindrücke – unverstanden, ungedeutet zu lassen, konfrontiert. Denn genau das wäre der einzige Ausgang aus dem unendlichen Lektüreprozess. Die Alice-Bücher tun so, als ob sie ihn, indem sie ihn ausstellen, zum Erliegen bringen könnten. Es gibt keinen kompletten Nicht-Sinn, und kein anderer literarischer Modus weiß das besser als der des Nonsense. Die ­Alice-Bücher treiben die mediale Erfahrung an eine Grenze der Sinngebung, die nicht überschreitbar ist; hinter dem Medialen als Apriori unserer Welterfahrung zeigt sich ein Abgrund.217 Diesem Als-Ob kann man sich theoretisch von unterschiedlichen Seiten her annähern. Zum einen über die Dekonstruktion der Vorstellung, die Buchseite sei eine Fläche. Flächen, schreibt Sibylle Krämer, gebe es empirisch nämlich gar nicht. Vielmehr behandeln wir Oberflächen – die als Außenhaut eines voluminösen Körpers gegeben sind – so, als ob sie flach seien. Diese Verwandlung einer Oberfläche mit Tiefe in eine Fläche ohne Tiefe geschieht, indem Oberflächen etwas eingetragen oder aufgetragen wird. So entstehen Texte und Bilder und die mannigfachen Mixturen zwischen ihnen. Für alle inskribierten Flächen gilt: Nicht mehr zählt, was unter der Oberfläche verborgen liegt, sondern nur noch, was auf der Fläche sichtbar wird. Im Bereich unserer symbolischen Artefakte wird eine Kulturtechnik der Verflachung wirksam, und das gilt auch für unsere technischen Artefakte, deren ‚Telos‘ in immer flacheren Versionen technischer Apparate besteht.218

Ein anderer Erklärungsansatz erlaubt es, die Bewegungen des Oszillierens, des Zauderns der Alice-Maschine – will you, won’t you, will you, won’t you – zusammen mit dem schwarzen Humor, den „death jokes“, die den Abgrund des Todes humoristisch um- und überspielen, zusammenzuziehen. In den ­Alice-Büchern wirken die Todesmetaphern eher grotesk als bedrohlich; Alice vergleicht sich beim Schrumpfen mit einer Kerze, die abbrennen könnte, bis nichts übrigbleibt, oder mit einem Fernrohr, das sich zusammenschieben – aber eben

216Kammer

2014, 44. Krämer: Medien, Bote, Übertragung. Berlin 2008, 25. 218Krämer 2016, 15. 217Sybille

148

4  Materialität des Sinns, Hermeneutik des Unsinns

auch wieder ausziehen lässt, was dem Tod seinen irreversiblen Charakter nimmt. Das Groteske, die Drastik des schwarzen Humors sind kleine Exorzismen, die uns erlauben, über den Tod zu lachen.219 Doch in der Alice-Maschine entfaltet der comic relief niemals eine befreiende Wirkung; es ist wieder dieses Gefühl des Zauderns oder Oszillierens, das uns als Gefangene im Dazwischen ausweist, zwischen der Schwärze des Nichtwissens vor der Geburt und jener nach dem Tod, die Nabokov, Carroll in Hassliebe verbunden, zu Beginn seiner Autobiographie Erinnerung, sprich! als zweiköpfiges Grauen benennt: Die Wiege schaukelt über einem Abgrund, und der platte Menschenverstand sagt uns, daß unser Leben nur ein kurzer Lichtspalt zwischen zwei Ewigkeiten des Dunkels ist. Obschon die beiden eineiige Zwillinge sind, betrachtet man in der Regel den Abgrund vor der Geburt mit größerer Gelassenheit als jenen anderen, dem man (mit etwa viereinhalbtausend Herzschlägen in der Stunde) entgegeneilt. Ich weiß jedoch von einem Chronophobiker, den so etwas wie Panik ergriff, als er zum ersten Male einige Amateurfilme sah, die ein paar Wochen vor seiner Geburt aufgenommen worden waren.220

Nabokov lässt die Zeit für den „platten Menschenverstand“ in beide Richtungen auf einen Abgrund zulaufen, der in den Alice-Büchern als medialer Abgrund immer anwesend ist. Denn das Innere der Alice-Maschine ist schwarz. Darin markiert es den Ort dessen, das nur durch Abwesenheit existiert, und dies auf so vielschichtige und widersprüchliche Weise wie die Maschine selbst.221 Die Schwärze kann der dunklen Materie Bedeutung entlocken, wenn sie als Tinte Zeichen und Zeichnungen herstellt, und dabei wieder neue Dunkelheit herstellen: die Dunkelheit der Bedeutung hinter den Zeichen.222 Die Tinte bearbeitet den Weißraum des Papiers und lässt die Buchseite so erst als solche erscheinen, als Spiegel aus senkrechten Strichen, zum Beispiel. Dieses Hin- und Her zwischen Leere und Bedeutung, Schwarz und Weiß, Dunkelheit und Licht hört niemals auf, solange die Alice-Maschine arbeitet. Erst in Variationen, etwa bei Murakami, schwingt sich eine bestimmte Stimmung ein: In der Beschwörung der Erinnerung an die tote Schwester des Ich-Erzählers verwandelt Murakami die Leere in bittersüsse Melancholie, ganz nach dem Motto, das Alain Badiou in seiner Studie über die Nicht-Farbe Schwarz nennt: „[…] singing of black despair is some consolation for having to endure it.“223 Was sich hier zeigt, ist auch nicht das Unverfügbare der Materialität, von dem Mersch spricht, sondern der unversöhnliche und unüberbrückbare Abgrund, der sich in jeder, und nicht nur in medialer und ästhetischer, Kommunikation auftut. Carrolls Alice-Bücher tun so, als seien sie wundersame Beschwörungen 219Alain

Badiou: Black. The brilliance of a non-colour. Cambridge 2017, 67. Nabokov: Erinnerung, spricht! Wiedersehen mit einer Autobiographie. Deutsch von Dieter E. Zimmer. Reinbek 1967, 19. 221Badiou 2017, 65. 222Vgl. ebd., 15: „Oh, the miracle of a clear and possibly elegant sentence emerging from the sticky ink and wendig its way between the blots! It is the black of meaning wrung from the black of matter.“. 223Ebd., 5. 220Vladimir

4.4 Die Alice-Maschine medienpraxeologisch

149

paradiesischer Kindheitsabenteuer in romantischer Tradition; doch eine materialitätstheoretische Lektüre legt einen neuen Aspekt frei. Carrolls performative Medienreflexion zerstört systematisch sämtliche ästhetischen Illusionen – etwa, um noch einmal auf das Beispiel vom Anfang zurückzukommen, indem er das romantische Eintauchen in eine imaginäre Welt durch handfestes Umblättern einer Seite ersetzt. Die Poiesis des Lesens hat hier weniger mit einer humoristischen Form von Unsinn zu tun, sondern mit Materialität und einer Form der Verunsicherung, die verstörende Dimensionen annehmen kann. Klaus Reichert weist auf das Irritationspotential der Alice-Bücher hin und spricht von einem Schock, einem que ne sais quoi, der die Erfahrung des Unsinnigen ausmacht: Diese Forschung [gemeint ist alles, was Gardner in The Annotated Alice zusammengetragen hat, CL], so findig und fündig sie im einzelnen auch war, behandelte die Texte als allegorische, indem sie deren Verständnis als von Außenkenntnissen abhängig bestimmte. Sie mogelte sich damit aber gerade um den Schock dieser Texte herum. Das Phänomen Unsinn bleibt von solcher Explikation ganz unberührt. Man muss sich darauf einlassen, dass beim Unsinn, genau wie bei der Poesie, ‚etwas hinzukommt‘, das in gar keiner Weise, auf einen Sachgehalt etwa, reduziert oder in einem anderen Zusammenhang transformiert werden kann. […] Es ist interessant, aber für das Phänomen Unsinn ohne Belang, dass sich Alicens absurde Multiplikationen mathematisch rechtfertigen lassen.224

Die Alice-Bücher trieben die mediale Erfahrung an eine Grenze der Sinngebung, die nicht überschreitbar sei. Ein Seitenblick auf Carrolls Kinderfotografien, für die er zu seiner Zeit fast genauso bekannt war wie für seine Alice-Romane (vgl. Abschn. 4.2), soll das Paradigmatische an Carrolls Inszenierung des Mediums an der Grenze des Denkens zeigen. Wir sehen hier ein paar Beispiele von Mädchen, die als populärkulturelle Figuren verkleidet posieren (Abb. 4.9a und b). Dodgsons Mädchen posieren in fremden Rollen. Das fällt ihnen leicht, denn sie wissen ja nicht, wer sie dann jeweils sind. Doch sie wissen Bescheid über die Welt der Erwachsenen. Das verrät ihr Blick: streng, herausfordernd und etwas aufmüpfig. Ihre Augen scheinen, im Chor mit zigtausenden von Geistermädchen, zu sagen: Ich kann Königin sein und machen, was ich will – und ihr habt keine Ahnung. Glaubt, ich sei brav! Je leidenschaftlicher sich die Mädchen ins Rollenspiel werfen, umso begeisterter klatschen die Zuschauer Applaus und lassen die kleinen Schauspielerinnen alles durchprobieren, von Maria mit Jesuskind bis zum Tanz der Prinzessin Salome mit dem Kopf des Jochanaan. Auf dem Theater geht alles: Sogar das Familiensilber darf mitspielen. Mich erwischt ihr nie, sagen die Geistermädchenaugen. Betrachtet man die Bilder in ihrem historischen Kontext, ist nur noch von Vätern die Rede und von Künstlern, die ihre toten Vaterfiguren beeindrucken wollen, und das alles in endlosen Schachtelsätzen: Alice Liddell (1852–1934) posiert als Bettlerkind, mit zerissenem Kleid und lässig geöffneter Hand für milde Gaben; Xie Kitchin (1864–1925) gibt eine Penelope Boothby, die ihren

224Reichert

1974, 18–19.

150

4  Materialität des Sinns, Hermeneutik des Unsinns

Abb. 4.9  a Alice Liddell als Bettlerkind, b Xie („Ecksy“) Kitchin als Penelope Boothby („Dodgson’s first, or ‘seated,’ portrait of the costumed Xie is directly influenced by one of the greatest child portraits of the Georgian Era, Sir Joshua Reynolds’s painting of Penelope Boothby (1785–1791). Penelope, the only child and heir of Sir Brooke Boothby, the seventh baronet, and his wife, Susanna, was painted at the age of three in Reynolds’s London studio in July 1788. By all accounts, Reynolds enjoyed the company of small children as much as Dodgson and had a fine relationship with the young Penelope throughout their sessions. Art historians attribute the endearing quality of the painting to their brief but strong personal bond.“ Vgl. Roy Fluckinger: For his most famous child portrait, Charles Dodgson (aka Lewis Carroll) drew inspiration from an eighteenth-century painting: https://blog.hrc.utexas.edu/tag/penelope-boothby/ (27.04.2020)) nach dem Vorbild eines Kinderporträts aus dem 18. Jahrhundert

eigenen Tod um einige Jahre überlebt hat. Dodgson war, wie viele Künstler des 19. Jahrhunderts, so fasziniert von Joshua Reynolds’ Porträt der vierjährigen Penelope Boothby (1785–1791) – der Tochter des Dichters, Übersetzers und Rousseau-Freundes Brooke Boothby (1744–1824), die ihre Verwandlung in ­ ein Kunstwerk nur um knapp zwei Jahre überlebt hatte und dergestalt ganz mit dem Idealbild des unschuldigen Kindes verschmolz, das den viktorianischen Romantiker berühren konnte wie nichts anderes in seiner gefallenen Welt –, dass er sie immer wieder im neuen Medium der Fotografie, zu dessen britischen Pionieren er gehörte, auferstehen lassen musste. Als sei die Kunst eine hungrige Dämonin, die ihrem Diener nur dann Ideen und Energie für neue Werke vor die Füsse wirft, wenn er bereit ist, ihr das Blut junger Mädchen in Silbersalzkelchen zu servieren. Doch das Grauen von Poes Erzählung The Oval Portrait (1842) – die Transfusion allen Lebens von der porträtierten Frau auf die vom männlichen

4.4 Die Alice-Maschine medienpraxeologisch

151

Genie beackerte Leinwand – verwandelt sich im viktorianischen Mädchenporträt in eine seltsame, rührend-makabre Rettungsaktion. Was die kleinen Mädchen nämlich nicht wissen in ihren Luftschlössern, ist, dass das Rollenrepertoire bald auf Korsettgrösse zusammenschrumpfen wird. Was bleibt, ist die Bühne der Hysterie. Dodgsons Fotografien machen die posierenden Mädchen zu Pflanzen. Damit befreien sie zwar nicht die Mädchen selbst, vielleicht aber ihre Bilder vom Korsettzwang und ersparen ihnen eine Zukunft als Hysterikerinnen, die sich nur spüren, wenn sie sich Theater spielend im Spiegel bewundern. So ist Alice Liddell nicht gestorben, als sie Mrs. Reginald Hargreaves wurde. Dodgsons Fotografien, seine ­Alice-Bücher, alles, was dazu ausgedacht und darüber geschrieben wurde, lassen ihr Bild durch Raum und Zeit wuchern, wie die Ranken eines Ornaments. Carroll setzt die Technik des Fotografierens auf eine ähnliche Weise ein wie die Gegenständlichkeit des Buches: Die Kinder sind offensichtlich Kinder, die verspielt in eine andere Rolle schlüpfen und damit auf die Konstruiertheit von Kindheit und Weiblichkeit hinweisen; gleichzeitig aber scheint die Fotografie ihnen alles Kindliche auszutreiben – als wären sie ihre eigenen Ahnen; Gespenster, die sich selbst heimsuchen. Am Beispiel der Kinderfotografie zeigt sich wiederum ganz deutlich, dass wir es bei der Alice-Maschine nicht mit Kippfiguren zu tun haben, sondern mit einer nicht zu trennenden Gleichzeitigkeit des Unvereinbaren. Wie bei der Inszenierung des Buches sehen wir zugleich den Ausbruchsversuch aus den Grenzen des Denkens, der ein Gefühl des Spiels und der Freiheit vermittelt, und das radikal Unvereinbare, Unverständliche, Unfassbare, das uns im Fall der Kinderfotografien als kalter Schauer über den Rücken läuft. Das Freiheitsgefühl sorgt dafür, dass die Alice-Bücher so lustvoll zu lesen sind – mit ihrem Unsinn und ihrer Spielerei erlauben sie es, in den Abgrund zu schauen, der sich durch den Zwang auftut, nur über Zeichen und Medien kommunizieren zu können, gleichsam darin gefangen zu sein: in ihn hineinzuschauen, ohne dabei wahnsinnig zu werden.

Kapitel 5

Alice als Leserin oder die Poiesis des Unsinn-Lesens

Die Annäherung an die Figurationen der Alice-Maschine über die Auseinandersetzung mit Theorien des Unsinns beziehungsweise des Nonsense und der Materialität hat ergeben, dass die Alice-Bücher in der Inszenierung ihrer haptischen Materialität ihre eigene Medialität, vor allem aber auch ihren Gebrauch, ihre Handhabung durch die Leserin reflektieren. Doch sind es keineswegs post- oder nicht-hermeutische Erfahrungen, die man als Leserin mit den Alice-Büchern macht; vielmehr fordert das Spannungsfeld zwischen Nonsense und Inszenierung der Materialität ein Nachdenken heraus – ein Theoretisieren über die Produktion von Sinn, über die prozesshafte, nicht zu Ruhe kommende Bewegung zwischen Verstehen und Nicht-Verstehen, zwischen ­ Nicht-Verstehen-Wollen und doch Sinn-Machen-Müssen. Verstehen kann, in seiner Tendenz zur Hyperkonnektivität, ebenso bedrohlich wie beruhigend sein, Nicht-Verstehen, zum Non Sequitur tendierend, ebenso befreiend wie beängstigend. So ist es nicht verwunderlich, dass Angehrn, der den Ausschluss der sinnlich-materiellen Erfahrung aus der hermeneutisch zugänglichen Ebene der Künste scharf kritisiert, mit seiner negativistischen Hermeneutik das für das Verständnis der Alice-Maschine produktivste Konzept formuliert hat.1 Auch wenn die Alice-Maschine nur deshalb Unruhe herstellen kann, weil ihre Figurationen nicht hierarchisch organisiert sind und sich ihre Teile disjunktiv bewegen, gibt es dennoch ein Element, das die Maschine zusammenhält: eine Figur, die verstehend und nicht-verstehend in der Raumzeit des Textes, beziehungsweise der audiovisuellen Bilder handelt. Dieses Handeln besteht zur Hauptsache darin, mit Erfahrungen in der Welt in Beziehung zu treten, um es möglichst neutral auszudrücken. An der Figur der Alice realisiert sich die Poiesis des Lesens – als Poiesis des Unsinn-Lesens.

1Vgl. Angehrn

2010.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lötscher, Die Alice-Maschine, Studien zu Kinder- und Jugendliteratur und -medien 6, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05707-5_5

153

154

5  Alice als Leserin oder die Poiesis des Unsinn-Lesens

Zunächst bezieht sich das Konzept der Poiesis, wie es Kappelhoff ausgehend vom aristotelischen Begriff formuliert hat, allein auf das verkörperte „Machen“ audiovisueller Bilder. Zentral ist dabei die Erkenntnis, dass das filmische Bewegungsbild selbst ein Produkt ist, das von der Poiesis des Filme-Sehens hervorgebracht wird. Darin unterscheidet es sich kategorial von jedem Bild, das als Artefakt greifbar ist.2 Kann man, wenn das so ist, überhaupt von einer Poiesis des Lesens sprechen? Das Buch als Artefakt ist vorhanden, es lässt sich in die Hand nehmen und im eigenen Rhythmus der Leserin, des Lesers rezipieren. Folglich unterscheidet sich das Lesen gemäss Kappelhoff grundlegend vom Sehen audiovisueller Bilder, denn die Bildräume audiovisueller Bewegtbilder werden von den Rezipienten körperlich erschlossen, „sie werden verkörpert, als seien es Wahrnehmungsfigurationen der Alltagsrealität – ohne mit der Alltagswahrnehmung identisch zu sein“.3 So gesehen stehe das filmische Sehen der träumerischen Halluzination von Wahrnehmungsbildern näher als der Imagination des Lesenden, sofern man Imagination als eine rein mentale Vorstellung begreift.4 Die medial generierten Wahrnehmungsprozesse des audiovisuellen Bewegtbildes seien zuerst ein reales, physisch-sinnliches Erleben und würden dann in imaginäre Vorstellungen transformiert, denen man Bedeutung zuschreiben und Sinn abgewinnen könne.5 In Hinblick auf die Alice-Maschine begreife ich Imagination im Prozess des Lesens gerade nicht als nur mentale Vorstellung. Denn wenn man Imagination auch beim Lesen als eine verkörperte Vorstellung versteht, an der die Materialität des Buches oder des Lesegerätes ebenso Anteil hat wie die Ideen und Bilder, die im Kopf entstehen, lassen sich Kappelhoffs Überlegungen zur Poeisis des FilmeSehens durchaus auf die Poiesis des Lesens übertragen.6 Sicher ist das physischsinnliche Erleben der Lektüre ein wesensmässig anderes als das Affiziertwerden von audiovisuellen Rhythmen, Formen und Farben. Und doch kann der Prozess des Imaginierens nicht losgelöst vom haptischen Umgehen mit dem Buchobjekt, dem Umblättern der Seiten, der Choreographie des Blicks auf den beschriebenen, vielleicht illustrierten Seiten, und schließlich von der musikalischen und atmosphärischen Dimension gedacht werden. Im Rahmen dieser Studie ist es mir nicht möglich, die Resultate der disziplinär weit gespannten Leseforschung zu diskutieren, um die heuristische These, es gebe eine Poiesis des Lesens, zu unterfüttern. Das wäre ein Vorhaben für sich. Hier soll es nur darum gehen, mit dem Konzept der Poiesis des Lesens ein Instrument in die Hand zu bekommen, mit

2Kappelhoff

2018, 13 f. 54. 4Vgl. zum halluzinatorischen Modus Raymond Bellour: Hypnose und Film. In: Gertrud Koch/ Christiane Voss (Hg.): – kraft der Illusion. Paderborn 2005, 17–38. 5Kappelhoff 2018, 54. 6Vgl. Kittlers Bemerkungen zur „halluzinatorischen Sinnnlichkeit“ der Literatur, inbesondere den Befund zu Texten im Aufschreibesystem 1800, die „in audiovisueller Sinnlichkeit schwelgen“. Kittler 1995. 149–150. 3Ebd.,

5  Alice als Leserin oder die Poiesis des Unsinn-Lesens

155

dem sich die Alice-Bücher als Entwurf einer Medienpraxeologie lesen lassen.7 Es würde sich in einem anderen Zusammenhang lohnen, ausgehend von Kappelhoffs medientheoretischem Ansatz und in Auseinandersetzung mit der kognitionspsychologischen Leseforschung eine allgemeine Theorie des Lesens zu entwickeln. Hier kann es aber, wie gesagt, lediglich darum gehen, die Alice-Maschine als ­Theorie-Apparat zu analysieren, dessen Funktion sich nicht in einer Reflexion der Medialität erschöpft: weil sie immer wieder neue, spekulative Ideen davon hervorbringt, wie Medienkonsum funktionieren und wie er unsere Wahrnehmung von Wirklichkeit und Gemeinschaft mitgestalten könnte. Die Alice-Bücher verweigern sich, wie ich im letzten Kapitel gezeigt habe, den Modellen, die Lektüre als Kippfigur zwischen Sinnlichkeit und Sinn zu fassen versuchen. Stattdessen inszenieren sie das Lesen in allen drei Dimensionen des Buches als eine Erfahrung, an welcher die Körperhaltung und die Hände ebenso beteiligt sind wie die Augen und das Gehirn – ohne dass aus dem Zusammenspiel eine in sich harmonische, abgerundete Erfahrung würde, wie sie zum Beispiel Elsa Beskow mit ihren Kinderbüchern anstrebte,8 oder wie sie das Kino ermöglicht. Es gibt einen Abgrund, der zwischen dem Als-Ob der medialen Erfahrung liegt und dem, was man als Leserin wirklich tut und erlebt. Genau darin realisiert sich die Poiesis des Unsinn-Lesens. Dennoch: Die Idee, anhand von Kappelhoffs Film- und Genretheorie einen anderen Blick auf das Buch zu gewinnen, könnte vor dem Hintergrund ihrer erhöhten Sensibilität für Mediendifferenzen geradezu absurd erscheinen: Warum wiederum auf Text beziehen, was sich gerade von der Textbezogenheit lösen will? Tatsächlich gilt es, die medienästhetischen, auf Medienpraxen bezogenen Unterschiede zwischen Literatur, Film und Fernsehen im Auge zu behalten; insbesondere beim Versuch, einen transmedialen Ansatz herauszuarbeiten, welcher der Materialität unterschiedlicher medialer Dispositive und der damit verbundenen Rezeptionspraktiken gerecht werden soll. Der Anstoss für meinen Versuch, das Konzept vom Denken der Bilder mit materialitätstheoretischen Ansätzen zu verbinden, kommt aus der Diskussion über Materialität selbst. Die Verbindung von filmwissenschaftlichen Konzepten mit einem materialitätstheoretischen Ansatz könnte einen Beitrag dazu leisten, die medientheoretisch orientierte Materialitätsdiskussion aus der Sackgasse zu befreien und daraus eine Grundlage für einen methodischen Zugang zu machen, der es erlaubt, Bücher in ihrem ­semiotisch-materiellen Zusammenspiel zu analysieren. Ich möchte also versuchen, eine Brücke zur Literatur, zum Akt des Lesens von literarischen Texten zu schlagen. Der Literaturbegriff, mit dem ich arbeite,

7Zu Medienpraxeologie vgl.: Faye D. Ginsburg/Lila Abu-Lughod/Brian Larkin (Hg.): Media Worlds. Anthropology on New Terrain, Berkeley/Los Angeles 2002; Thomas Hensel/Jens Schröter: Die Akteur-Netzwerk-Theorie als Herausforderung der Kunstwissenschaft. Eine Einleitung. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 57 (1), 2012, 5–18; Erhard Schüttpelz/Tristan Thielmann (Hg.): Akteur-Medien-Theorie. Bielefeld 2013. 8Vgl. Bäni 2018.

156

5  Alice als Leserin oder die Poiesis des Unsinn-Lesens

versteht das Buch als dreidimensionales Medium – Linie, Fläche, Raum.9 Das Zusammenspiel von Materialität und Zeichen realisiert sich als Medium aber erst in der Lektüre durch eine Leserin, einen Leser. Der ohnehin bereits multimodale hermeneutische Prozess zwischen Zeichen, Schriftbildlichkeit und, wie in der Kinderliteratur üblich, Illustration, verbindet sich mit der Haltung der Leserin, ihren Gesten, ihrer Handhabung des Buches beim Umblättern. Wie sich der Leineneinband, der Schutzumschlag, das Papier an den Fingerspitzen anfühlen, wie schwer es in der Hand liegt, wie das Buch riecht, welche Geräusche beim Umblättern entstehen – all das trägt zur Atmosphäre einer Lektüre und schließlich zur ästhetischen Erfahrung des Lesens bei.10 Die Lektüre an elektronischen Interfaces – am Bildschirm eines Laptops, am Touch-Screen eines Tablets oder SmartPhones, eines E-Readers – unterscheidet sich atmosphärisch, aber auch ganz praktisch, durch die Materialien, durch die Berührungsflächen zwischen Auge, Fingerspitzen und Interface und durch die Handhabung. Ein E-Reader oder Tablet verändert die Temperatur, je nachdem, wie lange man liest; die Wischbewegung auf dem Touch-Screen evoziert ein Gefühl der Glätte, der gelesene Text verschwindet aus dem Sicht- und Berührungsfeld, sodass die Leseerfahrung in gewisser Weise linearer wirkt. Gleichzeitig ist sie durch den Hypertextcharakter – jedes Wort ist mit einem Wörterbuch verbunden –, durch die Suchfunktion und die Möglichkeit, alle Markierungen und Notizen in einem Dokument sozusagen synoptisch zu überblicken, bestimmt. Wenn man sich vorstellt, auf welche Art sich Bücher beziehungsweise E-Reader zerstören lassen, treten die Unterschiede in ihrer Materialität und Funktionsweise deutlich vor Augen: Bücher und Lesegeräte vertragen sich schlecht mit Feuer und Wasser. Bücher kann man zerreissen, dafür aber mehr oder weniger unbeschadet mit einem Hammer traktieren, mit einem Auto überfahren oder von einem Hochhaus auf die Strasse fallen lassen, während man bei Lesegeräten keine Seiten herausreissen kann, gewaltsame Einwirkung und Stürze für sie dafür fatale Folgen haben. Zum Bücherlesen braucht man Licht, während das Lesegerät seine eigene Beleuchtung liefert; dafür braucht es regelmäßige Versorgung durch elektrischen Strom. Das Medium ist folglich weder das Buch – als von seiner Materialität und Affordanz unabhängiger Text – noch das Buch entsprechend einem materialitätstheoretisch erweiterten Literaturbegriff als dreidimensionales Objekt. Das Medium befindet sich, wie Sibylle Krämer abstrakt für alle Medien postuliert, im Raum zwischen der Leserin und dem Buchobjekt.11 In diesem Raum findet der Prozess des Lesens statt, in dem sich das Medium Literatur erst realisiert: die Poiesis

9Vgl.

Spoerhase 2016. Begriff der Atmosphäre vgl. Gernot Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik. Berlin 2013; sowie Zoé Iris Schlepfer/Michael Wedel: Atmosphäre/Stimmung. IV. Kategorien der Filmanalyse. In: Britta Harmann u. a. (Hg.): Handbuch Filmwissenschaft 2018. Stuttgart 2018. 11Sibylle Krämer: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität. Frankfurt a.M. 2008, 27–28. 10Zum

5.1  Die Poiesis des Filme-Sehens

157

des Lesens. Dieses Konzept leite ich vom Kernstück der Film- und Medientheorie Kappelhoffs ab, das sich in der Formel der „Poiesis des Filme-Sehens“ zusammenfassen lässt.

5.1 Die Poiesis des Filme-Sehens Mit der Poiesis des Filme-Sehens hat Hermann Kappelhoff einen theoretischen Ansatz entwickelt, der die Aktivität des Zuschauens, der Rezeption audiovisueller Bilder aus der Blackbox des Repräsentationsmodells freisetzt.12 In ihrem „selbstverständlichen Verstehen“13 würden filmische Bilder in aller Regel einem Repräsentationsregime zugeordnet, das einerseits von dem Modell der Abbildlichkeit, andererseits von der Sprachförmigkeit menschlicher Kommunikation ausgeht. Dabei gingen die medialen Differenzen zwischen audiovisuellen Bewegtbildern, statischen Bildern und sprachlichen Erzählungen verloren. Kappelhoffs Ziel besteht nun gerade darin, das Denken audiovisueller Bilder aus dem Regime sprachlicher Kommunikationsformen und der Repräsentation zu befreien, das in filmwissenschaftlichen Medientheorien perpetuiert wird und das den Blick auf die spezifischen Modalitäten der Zuschaueraffizierung verstellt. Er nennt vier zentrale Paradigmen zur Erklärung des Wirklichkeitsbezugs audiovisueller Bilder, die sich in der Filmtheorie herausgebildet haben: in den Realismuskonzepten die fotografische Abbildlichkeit, in den semiotischen und neoformalistischen Modellen der Text und die Narration, in der psychoanalytischen Filmtheorie die Konstruktion des Blicks und in der neophänomenologischen Schule die an die individuelle Leiblichkeit gebundene Wahrnehmungsform.14 Keiner der Ansätze ermögliche für sich genommen ein befriedigendes Modell des filmischen Erfahrungsmodus, und doch beschreibe jeder eine spezifische Dimension kinematographischen Erlebens.15 Kappelhoff begreift das Filme-Sehen als ein poetisches Machen im aristotelischen Verständnis. Poetisches Machen unterscheide sich vom Handeln darin, dass es auf der Techné gründet: […] den Techniken, Fertigkeiten und Übungen, derer es bedarf, um etwas für sich selbst Bestehendes hervorzubringen. Handeln hingegen weist auf eine Praxis, die ihren Zweck in sich selbst hat: die ‚gute Lebensführung‘, das Spielen eines Instruments oder die kulturelle Praxis des Kinos. Die Poiesis ist durch ein Ziel definiert, das von dem Machen selbst verschieden ist; eben durch ein Werk, in dem der Zweck des Machens sich so gründlich erfüllt wie die Bautätigkeit im fertiggestellten Haus.16

12Vgl.

Kappelhoff 2018, 55. 40. 14Ebd., 39 f. 15Ebd. 16Ebd., 13. 13Ebd.,

158

5  Alice als Leserin oder die Poiesis des Unsinn-Lesens

Das Werk, in dem die Poeisis des Filme-Sehens ihr Ziel habe, sei deshalb das Denken filmischer Bilder: Nicht die Filmproduktion per se, sondern der Kulturkonsum audiovisueller Bilder, die Poiesis des Filme-Sehens, bringt den Diskurs filmischer Bilder als ein sozial, kulturell und historisch situiertes ‚Denken der filmischen Bilder‘ hervor. Der Diskurs filmischer Bilder ist als Produkt der Poiesis des Filme-Sehens zu analysieren und zu rekonstruieren.17

Bevor audiovisuelle Bilder in ihren Sinngehalten analysiert werden können, müssen sie als Zeugnisse einer Poiesis des Filme-Sehens verstanden werden. Dabei sollen sie zunächst nicht in die sozio-ökonomischen, medien- und kulturgeschichtlichen oder regelpoetischen Kontexte ihrer Herstellung gerückt, sondern anderen Filmen, theoretischen Entwürfen, poetischen Konzepten etc. zugeordnet werden, in denen sich die Effekte einer historisch, kulturell und sozial situierten ‚Taktik des Bildkonsums‘ niederschlagen. Kappelhoff nimmt den Gedanken ernst, der seit Benjamins Kunstwerk-Essay zum medientheoretischen Mainstream gehört, ohne dass dies indessen grundlegende Auswirkungen auf die Analyse audiovisueller Bilder gehabt hätte: nämlich, dass unser Sinnesapparat ein Produkt der Geschichte der Medien menschlicher Wahrnehmung sei. Sehen, Hören, Fühlen wird zu einer Frage des Mediengebrauchs: Der Diskurs audiovisueller Bewegtbilder ist daher auf Seiten der Medienrezeption zu verorten: Was lässt sie uns sehen, hören, fühlen? Welche Wahrnehmung gibt sie uns zu denken? Sie entfaltet sich in der Aneignung audiovisueller Bewegtbilder als eine kulturelle Praxis, in der Menschen ihre subjektive Wahrnehmungswirklichkeit als Teil einer gemeinsam geteilten Welt zu fassen suchen.18

In diesem Verständnis sind filmische Bewegungsbilder für sich gar nicht greifbar. Die Artefakte, die wir vorfinden, sind medientechnisch animierte, audiovisuelle Bewegungsfigurationen, die erst im Filme-Sehen zu filmischen Bewegungsbildern werden: Das filmische Bild wird erst im Akt des Filme-Sehens hergestellt. Filme bilden die Wirklichkeit nicht ab, sondern sind an ihrer Entstehung massgeblich beteiligt: Audiovisuelle Medien modellieren und verändern die raum-zeitlichen Parameter und Schemata menschlicher Wahrnehmung; in ihren Bewegtbildern bringen sie beständig neue Rahmungen der kognitiven Prozesse hervor. Sie verändern und schaffen die Bedingungen, unter denen Menschen sich auf ihre erlebte Wirklichkeit als eine gemeinsam geteilte Welt beziehen, um sich über diese zu verständigen. […] Medien sind keineswegs bloße Mittel der Kommunikation gegebener Sachverhalte; vielmehr sind sie technische Erweiterungen menschlicher Wahrnehmung; sie verändern die apriorischen Bedingungen des Verstehens, Urteilens und Imaginierens.19

17Ebd.,

14. 10. 19Ebd., 9. 18Ebd.,

5.1  Die Poiesis des Filme-Sehens

159

Das filmische Bewegtbild muss folglich in der Analyse selbst erst konstituiert werden – „und zwar in der konstitutiven Differenz des je konkreten filmischen Bildraums zur Alltagswahrnehmung“.20 Überspringe man diesen Schritt, was in kognitionstheoretisch orientierten Filmanalysen meist der Fall sei, und lasse man die konkreten medialen und ästhetischen Bedingungen des filmischen Bewegungsbildes – konkret die Dynamik eines kontinuierlichen, medialisierten Wahrnehmungsprozesses – ausser Acht, dann analysiere man statt filmischer Bilder lediglich isolierte audiovisuelle Repräsentationen; etwa Figuren, Handlungen, Objekte, Orte oder eben Zeichen dieser Dinge. In Ermangelung der ästhetischmedialen Rahmung des filmischen Bewegungsbildes würden dann die isolierten audiovisuellen Repräsentationen mit Blick auf allgemeinste Gesetze unseres Verstehens und Denkens gedeutet – als ob die repräsentierten Sachverhalte innerhalb einer allumfassenden Alltagswelt situiert wären.21 „Man verfehlt dann gerade jenen Gegenstand, den man doch zu analysieren sucht: das filmische Bewegungsbild. Will man dieses Bild als ein Produkt der Poeisis des Filme-Sehens analysieren, wird man es im Rezeptionsprozess selbst verorten müssen.“22 Im weit verbreiteten materialitäts- und medialitätsvergessenen Umgang mit audiovisuellen Bildern spiegelt sich nicht zuletzt die in der Einleitung erwähnte Forderung nach der Produktion verständlicher, bereits bekannter Erzählungen: Als gäbe es nichts Beruhigenderes als die Vorstellung einer fixen Alltagswirklichkeit, auf die sich alle einigen können. Dass die Alice-Maschine mit ihrem Insistieren darauf, dass bei jedem Satz, jeder Setzung immer auch das Gegenteil gilt, gerade in den letzten Jahren so produktiv ist in der Populärkultur, kann wiederum als Gegenreaktion auf die Tendenz zur Bannung medialer Unruhe gedeutet werden. Die Poiesis des Unsinn-Lesens als eine Figuration der Alice-Maschine betont denn auch die Subjektivität jeder medialen Erfahrung. Eine Analyse audiovisueller Bilder, betont Kappelhoff, werde deshalb – das sei ihr hermeneutisches Erbe – auch nicht von der subjektiven Erfahrung der Forschenden absehen können. Die Analyse audiovisueller Bewegtbilder impliziere immer eine Selbstanalyse des eigenen Wahrnehmens und Denkens in filmischen Bewegungsbildern; genau das, was Alice bei ihren Abenteuern ständig tut, wenn sie das Erlebte kommentiert oder mit den Figuren des Wunderlands und der Welt hinter den Spiegeln interagiert. Kappelhoff verweist aber auch auf das strukturalistische Erbe der Filmanalyse, ohne das auch diese Studie in ihrem Fokus auf ästhetische Figurationen und deren Dynamik nicht auskommt. Jeder Bewegung, jedem Lichtreflex, jedem Rauschen werde ein Ort innerhalb der Logik der Raum-Zeit-Konstruktion zugewiesen. Was das konkret bedeutet, beschreibt Kappelhoff wie folgt: Worin kann eine solche Produktion des (Medien-)Konsums bestehen? Mit Sicherheit impliziert sie eine eigensinninge Intervention, mit der die audiovisuellen Bilder zum Zweck eines Genießens angeeignet werden, das sich auf das Bedürfnis bezieht, sich selbst

20Ebd., 21Ebd. 22Ebd.

56.

160

5  Alice als Leserin oder die Poiesis des Unsinn-Lesens

in seiner lebendigen Subjektivität zu erleben. Man mag es Unterhaltung, Vergnügen, auch ästhetische Freude nennen. In den audiovisuellen Bildern wird ein Raum erschlossen, in den man sich mit seinen Sinnen und Lüsten einnistet und ihn besetzt – so wie Judy und Jim in rebel without a cause (…denn sie wissen nicht, was sie tun, USA 1955) in ein fremdes Haus eindringen und sich für ein paar Stunden dort provisorisch einrichten: Einbrecher, die Bewohner spielen. Man fädelt sich mit seinen Gefühlen und Gedanken in die Bewegung der Bewegtbilder ein, lässt sich in sie verwickeln und lässt aus dieser Verwicklung ungesehene und unerhörte Bildräume des eigenen Empfindens entstehen. Man macht sich zum Sensorium der Dynamiken der Bilder, ihres audiovisuellen Rhythmus’; lässt ihren Pulsschlag in der Muskelspannung des eigenen Körpers vibrieren, in den Erregungskurven affizierter Sinnesorgane und Körperzonen sich fortsetzen, sich verkoppeln mit den Intervallen des eigenen Nervensystems, um sich zu lösen in der Lust des Selbstempfindens, der Wahrnehmung des Ich-Selbst als lebendiges, eigensinniges, denkendes Wesen. D.h., dass die Praxis des Medienkonsums darauf gerichtet ist, in der Marginalität des Konsumierens Subjektivtätseffekte zu generieren.23

Die Subjektivität, die dabei ins Spiel komme, sei immer instantan; an die Dauer des ästhetischen Genießens gebunden, lässt sie sich nicht als Selbsterfahrung akkumulieren und in einem festen Selbstbild stabilisieren. Dass die A ­ lice-Bücher genau das inszenieren, trägt ebenfalls zur Produktion von Unruhe in der ­Alice-Maschine bei. Vor diesem theoretischen Hintergrund lassen sich Alices Abenteuer im Wunderland neu lesen – nicht (nur) als literarische Repräsentation einer entwicklungspsychologisch bedingten Instablität des Selbst- und Körperbildes,24 sondern als Gestaltung von Alices medialer Wahrnehmung, die erst in der Praxis der Lektüre durch die Leserinnen und Leser erfahrbar wird. Die Alice-Bücher machen die Poiesis des Unsinn-Lesens zur Quelle der Poiesis des Büchermachens und spielen den Lesenden an der Figur von Alice gleichsam vor, was sie selber gerade tun – nicht als Spiegel, sondern vielmehr in der Figuration der Mise an abîme in Konstellation mit dem Als-ob, das ich herausgearbeitet habe. Was Kappelhoff für den Film formuliert, gilt auch für die ­Alice-Maschine: So oder so, das Ganze des filmischen Bewegungsbildes, das Ganze eines Films, eines Videos etc., erschließt sich den Rezipienten im Modus des ‚Als-ob‘: Sie müssen sich in ihrer Sinnestätigkeit zwingend an eine sinnliche Erlebenswelt assimilieren, die nicht ihre eigene ist, die sie aber doch physisch-sinnlich erleben, als ob es ihre eigene alltägliche Sinnesrealität wäre – obwohl sie sich in ihrer poetischen Logik gerade durch die Differenz zur gemeinen Wahrnehmungswirklichkeit erschließt.25

Die Alice-Maschine vervielfacht diese Erfahrung des Als-ob und und macht den Zwischenraum zwischen alltäglicher und medialer Erfahrung für die Rezipientinnen zu einem Erfahrungsraum, der wiederum nur im Modus des Als-ob erlebt werden kann.

23Ebd.,

12. These vertrat als eine der ersten Nina Auerbach: Alice and Wonderland. A Curious Child. In: Victorian Studies 17/1973, 31–47. 25Kappelhoff 2018, 57. 24Diese

5.2  Die Poiesis des Unsinn-Lesens

161

5.2 Die Poiesis des Unsinn-Lesens Der Poiesis-Begriff baut, wie die Auseinandersetzung mit Kappelhoffs Theorie gezeigt hat, auf Konzepten von Erfahrung, Affizierung und Verkörperung auf. Obwohl die Affizierung durch sich in der Zeit entfaltende audiovisuelle Bilder auf den ersten Blick nicht mit der scheinbar kognitionslastigen hermeneutischen Aktivität des Lesens vergleichbar ist, bieten sich Verbindungen zu materialitätstheoretischen Lesetheorien an. Leserin und Buch – dies gilt auch für Leserin und Interface – berühren sich in erster Linie auf der visuellen und auf der haptischen Ebene, wobei auch ein auditives und ein olfaktorisches Moment mitspielt. Die Variation an Körperhaltungen beim Lesen ist beschränkt; auf die Dauer eignen sich Sitzen und Liegen sicher besser als Stehen; im Gehen lässt sich zwar bewerkstelligen, ist aber mit Gefahren für Leib und Leben verbunden. Wenn man den Poiesis-Begriff auf den Prozess des Lesens übertragen will, kann man also nicht von einem Zwischenraum zwischen Leserin und Buch reden, sondern von einem Berührungsraum. Auch in literarischen Texten, die zwar als Ganze in der Hand der Leserin, des Lesers liegen, entfalten sich Affektpoetiken in der Zeit. Im Zusammenhang mit der Alice-Maschine geht es mir darum zu zeigen, inwiefern die Poiesis des Unsinn-Lesens als ein Aspekt der Alice-Maschine gesehen werden muss. Denn Carroll schickt Alice als Leserin ins Wunderland und hinter die Spiegel. Die Orientierungsversuche des Mädchens in den ebenso hermetischen wie kontingenten Szenerien lassen sich als Lese-Szenen begreifen, wie sie Müller-Wille analog zu Rüdiger Campes Definition der Schreib-Szene beschreibt: Alices Begegnungen mit Wesen, Dingen und Schrift im Wunderland beziehungsweise hinter dem Spiegel erinnern an die vielfältigen Relationen, „die sich während des rätselhaften Akts der Lektüre zwischen dem Buch als materiellem Gegenstand, dem Text als Zeichenfolge, dem Körper und der Vorstellungswelt des Lesenden entfalten können.“26 Wie die Schreib-Szene lässt sich auch die Lese-Szene als „nicht-stabiles Ensemble von Sprache, Instrumentalität und Geste“ bezeichnen, als „problematisches Ensemble“.27 Insofern lässt sich das Konzept der Lese-Szene der Poiesis des Lesens verbinden; von Alices unermüdlichen hermeneutischen Anstrengungen über den Einsatz einer Subjektivität, die permanent bedroht ist, bis zu ihrer verkörperten Affizierung im Wachsen und Schrumpfen. Aus Alices Poiesis des Unsinn-Lesens hat sich im Prozess der Remediatisierung eine Haltung herauskristallisiert, die gerade in aktuellen Erzählungen eine neue Blüte erlebt. Besonders deutlich wird dies, wie bereits erwähnt, in Murakamis Roman Die Ermordung des Commendatore. Alices Abenteuer legen sich für den Erzähler wie eine Landkarte über seine Lebensgeschichte. Sie wird dadurch nicht

26Müller-Wille

2017, 41. Campe: Die Schreibszene. Schreiben. In: Sandro Zanetti (Hg.): Schreiben als Kulturtechnik. Berlin 2012, 269–282, hier 271. 27Rüdiger

5  Alice als Leserin oder die Poiesis des Unsinn-Lesens

162

etwa lesbar in Hinblick auf eine sinnvolle Narration; doch der Ich-Erzähler wird in eine Haltung versetzt, die ihn wie Alice die Welt in einem poetischen Machen erfahren lässt. Ein zweites Beispiel ist die bereits erwähnte Folge (The Law of ­Non-Contradiction) der dritten Staffel der TV-Serie fargo (2014–). Die Polizeichefin Gloria reist von Minnesota nach Hollywood, um dort die Hintergründe für ein Verbrechen zu recherchieren. Sie gerät in eine Welt voller Zeichen, die keinen Sinn ergeben und die sie – durchaus buchstäblich, mit Hilfe eines Science ­Fiction-Romans – zu lesen versucht (vgl. Abschn. 8.3).

5.3 Alice als Leserin Die Alice-Bücher bemühen sich, obwohl spezifisch an ein kindliches Publikum adressiert, nicht, ihre Metafiktionalität zu verbergen – sie liegt offen zutage. Man denke nur an den Satz, den die gelangweilte Alice gleich zu Beginn in ihrem Kopf formuliert: „[…] and what is the use of a book without pictures or conversations?“28 Die Bücher selbst artikulieren eine Vorstellung davon, was für eine Art Medium sie sind und mit welchen Gattungen der Kinderliteratur sie nichts zu tun haben wollen; zu Letzteren gehören Schulbücher ebenso wie pädagogische Lektüren, die mit erhobenem Zeigefinger moralische Botschaften übermitteln. Später, als die Tiere darüber nachdenken, wie sie nach dem Bad in Alices Tränensee ihre nassen Felle und Federn trocknen könnten, kommt eins dieser Lehrbücher für viktorianische Kinder zum Einsatz. Bezeichnenderweise haben die Tiere keinerlei Verwendung für den Inhalt des Buches; es ist die Materialität des ermüdend trockenen Stils, die Abhilfe schaffen soll. Die Maus rezitiert aus dem Kopf „the driest thing I know“,29 eine Passage, die vom Herausgeber von Carrolls Tagebüchern, Roger Lancelyn Green, als Zitat aus Havilland Chepmells Short Course of History (1862) indentifiziert wird. Das Buch kam im Unterricht der Liddell-Töchter zum Einsatz.30 Der Animationsfilm aus dem Hause Disney (USA 1951) montiert das Zitat, wie in Abschn. 2.3 bereits angedeutet, in die Rahmenhandlung hinein und lässt den Film damit beginnen, dass Alice sich zu Tode langweilt, während ihre Gouverante aus besagtem Werk vorliest. Damit macht der Film schon einmal klar, dass es zwei Arten von Nonsense gibt: Aufgeblasenes Geschwafel, das für Kinderohren rein gar nichts bedeutet, und das vergnügte Spiel mit der Sprache und den Dingen. In der Welt, von der Alice daraufhin singend zu träumen beginnt, ist alles lebendig, alles in Beziehung, alles auf eine magische

28AAW,

7.

29„William

the Conqueror, whose cause was favoured by the pope, was soon submitted to by the English, who wanted leaders, and had been of late much accustomed to usurpation and conquest. Edwin and Morcar, the earls of Mercia and Northumbria – […]“ Ebd., 21. 30TAA, 31.

5.3  Alice als Leserin

163

Weise verständlich, auch wenn es – bezogen auf die Alltagsrealität – Unsinn sein mag: Cats and rabbits Would reside in fancy little houses And be dressed in shoes and hats and trousers In a world of my own All the flowers Would have very extra-special powers They would sit and talk to me for hours When I’m lonely in a world of my own There’d be new birds Lots of nice and friendly how-de-do birds Everyone would have a dozen blue birds Within that world of my own I could listen to a babbling brook And hear a song that I could understand I keep wishing it could be that way Because my world would be a wonderland.31

Die Disney-Adaption nimmt die Kritik der kleinen Alice an langweiliger Lektüre auf und suggeriert, dass es sich beim Wunderland um die Inszenierung der Fantasiewelt in Alices Kopf handelt. Der kindliche Traum wird zum alternativen Medienentwurf. Doch während der Disney-Film sich direkt auf die romantische Tradition,32 insbesondere das romantische Kindheitsbild bezieht – der plappernde Bach, dessen Lied Alice versteht, klingt wie ein Zitat aus Hoffmanns Kunstmärchen Das fremde Kind (1817)33 – bleibt in den Alice-Büchern immer eine Spannung, eine Unvereinbarkeit zwischen den medialen Fantasien und Leserinnenaktivitäten des Kindes und dem Medium, das die Leserinnen und Leser in der Hand halten, bestehen. Dessen ungeachtet beruht Disneys Alice auf einer genauen und sensiblen Lektüre; sie nimmt zentrale Aspekte der Bücher auf und findet eine überzeugende Bildsprache dafür. Dazu gehört nicht zuletzt auch die Materialität der Sprache und der Zeichen, der Buchstaben. Als die blaue Raupe wissen will, wer Alice ist, was das ständig wachsende und schrumpfende Kind selbst schon längst nicht mehr weiß, steigen die Rauchringe der Wasserpfeife, mit der die Raupe es sich auf einem Pilz gemütlich gemacht hat, in Form von

31alice in wonderland,

00:04:22. dazu Lötscher/Tomkowiak 2014, 48. 33„Das fremde Kind klatschte in die Hände, da sumste das goldene Dach des Palastes – Goldkäferchen hatten es mit ihren Flügeldecken gewölbt – auseinander und die Säulen zerflossen zum rieselnden Silberbach, an dessen Ufer sich die bunten Blumen lagerten und bald neugierig in seine Wellen guckten, bald ihre Häupter hin und her wiegend auf sein kindisches Plaudern horchten.“ E. T. A. Hoffmann: Das fremde Kind. In: Die Serapionsbrüder I. Gesammelte Erzählungen und Märchen Bd. 4. Leipzig 1985, 572–619, hier 589. 32Vgl.

164

5  Alice als Leserin oder die Poiesis des Unsinn-Lesens

­ uchstaben auf – „U R U“ – und tanzen um Alice herum, bedrängen sie so sehr, B dass sie husten muss.

„Nonsense“ als metafiktionales Signalwort Um zu verstehen, wie sich Alice als Leserin durch das Wunderland bewegt, muss ich noch einmal auf den Nonsense zurückkommen. Denn die Alice-Bücher sind nicht nur „undisputed classics of nonsense literature“;34 sie operieren so offensiv und systematisch mit dem Begriff, dass man von Meta-Nonsense reden muss. Wenn man mit Lecercle davon ausgeht, dass Nonsense immer schon eine selbstreflexive Komponente in sich trägt, hätten wir es beim Nonsense der AliceMaschine mit einem Meta-Verfahren zweiter Stufe zu tun. Regelmäßig lässt der Erzähler seine Figuren darüber debattieren, welche Äußerungen und Handlungen nun sinnvoll oder eben unsinnig seien. Das Wort nonsense spannt einen Rahmen vom Gedicht im Paratext bis zum Moment, in dem Alice aus dem Wunderland-Traum aufwacht. Performativ spricht ihr Ausruf „nonsense!“ das Verdikt – nicht nur für die absurde Gerichtsverhandlung, die der König und die Königin der Herzen im letzten Kapitel führen, sondern für ihren ontologischen Status – „you’re nothing but a pack of cards!“ – und jenen des Wunderlands überhaupt.35 Das Widmungsgedicht zu Beginn von Alice’s Adventures in Wonderland erzählt bekanntlich die Entstehungslegende des Buches; wie es während einer Bootsfahrt auf das Drängen der drei Liddell-Schwestern hin mündlich improvisiert wurde. Ohne Rücksicht auf die Mattheit ihres Begleiters verlangen die drei Mädchen – „ah, cruel Three!“ –an einem heissen Sommernachmittag nach einer Geschichte. Mit herrischem Ton die Älteste, etwas milder Secunda, leicht als Alice, die mittlere der drei ­ Liddell-Schwestern zu identifizieren: „In gentler tone Secunda hopes/there will be nonsense in it!“36 Nonsense wird, noch bevor die Geschichte beginnt, als ein Element benannt, das sich in Geschichten einfügen lässt, als sei es eine eigenständige Entität – ein Ornament, das sich überall nach Belieben unterbringen lässt. Dass das Ornamentale für viktorianische Poetiken keineswegs folgenlos, geschweige denn rein dekorativ ist, dass es im Gegenteil die Idee der Assemblage ins Spiel bringt, erläutert Lars Spuybroek in seiner Auseinandersetzung mit John Ruskin, insbesondere seinem Essay The Nature of Gothic, den er auf eine Weise interpretiert, die man neo-materialistisch, posthumanistisch nennen könnte. Alle Materie sei für Ruskin lebendig, die Ornamente der Gothic-Architektur zeugten von den Leben der Arbeiter, die sie angefertigt haben.37 Ruskins Vitalismus sei zutiefst

34Haughton

1998, ix–lxv, hier x. 95. 36Ebd., 3. 37Spuybroek 2016, 17. 35AAW,

5.3  Alice als Leserin

165

romantisch, im Sinne William Blakes, der Gothic als „living form“ bezeichnet hatte,38 und der zu den von Carroll am tiefsten verehrten Vorbildern gehörte.39 Lewis Carroll legte, wie bereits mehrfach erwähnt, allergrößten Wert darauf, dass seine Alice-Bücher von den Zeitgenossen als vergnügliche, spielerische Unterhaltung wahrgenommen wurden – ohne pädagogische Absicht, ohne tieferen Sinn. Das Zauberwort dafür war Nonsense. Was die Nachwelt nicht im Geringsten daran hinderte, die Interpretationsmaschinerie auf Hochtouren laufen zu lassen, um zwischen den Zeilen verborgene Botschaften zu orten und intertextuelle Rätsel zu knacken. Wundersamerweise kommt dabei, scheinbar automatisch, wiederum Unsinn heraus. Auch in Martin Gardners The Annotated Alice lässt sich dies leicht überprüfen; die schiere Menge an Marginalien scheint den Primärtext allein schon visuell zu bedrängen, und die meisten Kommentare – sei es zur Namensgebung der Katzen in Alice Liddells Familie,40 sei es zu Spekulationen, über welche Klassiker beziehungsweise Werke von Zeitgenossen sich Carroll in welchem Satz eventuell mokieren könnte – sind eher dazu angetan, Wissen um seiner selbst Willen anzuhäufen, als den Text in irgendeiner Weise zu erhellen. Wie das Marginalienwesen zur Unsinnsproduktion beiträgt, lässt sich schön an Gardners Kommentar zum sentimentalen Ausbruch der Duchess zeigen, im Kapitel „The Mock Turtle’s Story“ in Alice’s Adventures in Wonderland: „Oh,’tis love,’tis love, that makes the world go round!’41 Der Satz soll sowohl auf ein populäres französisches sowie ein altes englisches Lied, Dantes Paradiso und Dickens’ Our Mutual Friend – sowie „endless other expressions of the sentiment in English literature“ Bezug nehmen. Die doch recht unterschiedlichen Intertexte überlagern sich dergestalt, dass der Satz der Duchess am Ende alles oder nichts bedeuten kann. Dass Carrolls Text Bedeutungsangebote macht, die ins Leere laufen, indem er uns dazu auffordert, ihn auf geradezu exzessive Weise aufzuladen, lässt sich als eines der für die Alice-Maschine zentralen Verfahren immer wieder beobachten. Dabei haben wir es allerdings nicht mit einer klassischen Operation des Nonsense zu tun, sondern mit einem Verfahren der deutschen Frühromantik, das wiederum auf die Materialität des Medialen verweist: der Arabeske.42 Im Kontext der orientalisierenden Märchenmode des 18. Jahrhunderts entstanden, dehnt sich das Muschel- und Laubwerk der Arabeske im Rocaille-Ornament vom Rahmen auf das Gerahmte aus. Von einem orientalisch inspirierten Rand- und Rahmenornament

38Lars

Spuybroek: Gothic Ontology and Sympathy: Moving Away From the Fold. In: Sjoerd Van Tuinen (Hg.): Speculative Art Histories. Edinburgh 2017, 131–161, hier 136. 39Cohen 2015, Pos. 2108. 40TAA, 14, Marginalie 5. 41AAW, 68. 42Vgl. dazu: Günter Oesterle: Arabeske. In: Karlheinz Barck u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Stuttgart 2000–2005, Bd. 1, 272–286; Susi Kotzinger/Gabriele Rippl (Hg.): Zeichen zwischen Klartext und Arabeske. Amsterdam/Atlanta 1994; Torra Mattenklott 2016.

5  Alice als Leserin oder die Poiesis des Unsinn-Lesens

166

wandelte sie sich zu einem zentralen Formprinzip des Kunstwerks selbst.43 Das Ornament wurde zum Bildgegenstand mit räumlicher Tiefendimension, ohne aber ganz in den Bildmodus einzugehen.44 Im Changieren zwischen O ­ rnament- und Bildmodus bringt die Umwertung einer ornamentalen Rahmenform eine „eigene Welt“ hervor, wie Menninghaus betont – eine Bewegung der „Idealisierung“ und Absorption von Repräsentation mit einer ironischen Distanzierung der Kunst von sich selbst.45 Auf die Debatte um die Arabeske und ihre (Nicht-)Bedeutung kann ich hier nicht eingehen, verweise aber auf Menninghaus’ ausführliche und TorraMattenklotts pointierte Zusammenfassung der Diskussion.46 Entscheidend ist, dass sich die Autonomie der Kunst in der Figuration der Arabeske exemplarisch ausprägt.47 In neomaterialistisch-posthumanistischen Theorien gewinnt die Arabeske eine neue Dimension, indem sie sich mit dem Konzept der Assemblage verbindet, das nach allen Seiten offene und sich in Bewegung befindliche Ansammlungen von Entitäten aller Art und aller Materialitäten bezeichnet.48 Spuybroek entdeckt in seiner Ruskin-Neulektüre Verbindungen zwischen der digitalen Ästhetik und dem Handwerk, das aus „lebendiger“ Materie animierte Ornamente hervorbrachte. Die Ontologie des Gothic definiert er als […] a special relationship between figures and configurations, in which the figures are active parts that have a certain freedom to act, though only in relation to others and in order to form collaborative entities. This concept transcends the aesthetic opposition of structure and ornament, making the Gothic ‘a beauty that works’, one that lead to a much broader notion of an aesthetics based on sympathy. Sympathy, in my briefest definition, is what things feel when they shape each other.49

Das Ornamentale, als „frühe Form des Pop“, wird zu einem wegweisenden Modell für ein kulturanalytisches Denken, das sich nicht in den Aporien der Materialitätsdebatte verliert, sondern Heterogenität radikal zu denken versucht: […] if we are […] in fact to consider a return to ornament, we will necessarily need to consider the impure, heterogenous state of matter, since ornament is profoundly related to matter and the way it structures itself while undergoing forces, be they natural or technological. Ornament and its close relative, texture, share the traces of being-made, or of being in-the-making.50

Wie ich in den filmanalytischen Skizzen zeigen werde, sind das Ornamentale und die Assemblage die bevorzugten Figurationen der Alice-Maschine in der Populärkultur der Gegenwart; entsprechende Ansätze reichen aber bis ins B-Kino der 43Torra-Mattenklott 44Menninghaus 45Ebd.,

2016, 45. 1995, 94–95.

95. Ebd., 94–118; Torra-Mattenklott 2016, 45–47. 47Torra-Mattenklott 2016, 45. 48Lowenhaupt Tsing 2015, 22–23. 49Spuybroek 2017, 18. 50Spuybroek 2016, 54. 46Vgl.

5.3  Alice als Leserin

167

1960er-Jahre zurück. Entscheidend für die Alice-Maschine, bereits in Carrolls Büchern, ist das, was Spuybroek „being made“, „being in the making“ nennt – die Poiesis: Our first task is to resist thinking of ornament as something applied to a plain surface, i.e., to resist the thought of an underlying, truthful nakedness, and to see both form and ornament as interdependent. After doing so, we will find matter is constantly active and in formation, taking on form and textural pattern simultaneously.51

Ornamente begegnen uns in den Alice-Büchern immer wieder in typografischen Elementen und in der schriftbildlichen Gestaltung. Sie spielen aber auch auf der sprachlichen Ebene eine Rolle, etwa, wenn der Erzähler von Alices skurrilen Abenteuern berichtet und nicht müde wird, die Leserinnen und Leser auf die komischen Reaktionen des eifrigen kleinen Mädchens aufmerksam zu machen. Dieser Erzähler lässt seine Protagonistin die Merkwürdigkeiten des Wunderlands mit einer Reihe von Adjektiven des Erstaunens und der Irritation – darunter auch die sprichwörtliche falsche Steigerungsform „curiouser and curiouser“ – qualifizieren, und er legt ihr, wie gesagt, auch gern das Wort nonsense in den Mund. Daraus entsteht eine dynamische Serie von Wiederholung und Variation. In Alice’s Adventures in Wonderland wird das Wort nonsense acht Mal verwendet, sieben Mal in Through the Looking-Glass –, was die Frage aufwirft, was das Wort denn im jeweiligen Kontext bedeute und ob sich so etwas wie eine textimmanente Theorie des Nonsense herausdestillieren lasse, die neue Einsichten in die Funktionsweisen der Alice-Maschine erlauben würde. Das ist aber gerade nicht der Fall; vielmehr hat der Ausruf „nonsense!“ eine performative Funktion: Er bricht eine Episode ab, ohne dass sie zu einem abgerundeten Ende käme, und macht Platz für die nächste. In den meisten Fällen ist es Alice selbst, die Ereignisse im Wunderland sowie Handlungen und Äußerungen seiner Bewohner als nonsense qualifiziert. Im zweiten Kapitel, „The Pool of Tears“, das eben mit dem berühmten fehlerhaft gebildeten Komparativ „curiouser and curiouser!“52 beginnt, schiesst Alice nach dem Genuss des Kuchens, den sie mit der Aufforderung „EAT ME“ vorfindet, so sehr in die Höhe, dass ihre Füße in der Tiefe verschwinden. Sie denkt besorgt darüber nach, wie sie in Zukunft nur Schuhe und Socken anziehen soll; arabeskenhaft machen sich ihre Gedanken – wie lebendige Wesen, wie die Wasserspeier der Ruskinschen Arbeiter – selbstständig und schmieden Pläne, um die weit entfernten Extremitäten günstig zu stimmen, damit sie sich nicht gänzlich und von der Kommandozentrale in Alices Kopf lösen. Immer zu Weihnachten, beschließen Alices Gedanken, will sie den Füssen ein Paar neue Stiefel zukommen lassen, durch einen Boten:

51Ebd. 52AAW,

13. „‘Curiouser and curiouser!’ cried Alice (she was so much surprised, that for the moment she quite forgot how to speak good English).“.

5  Alice als Leserin oder die Poiesis des Unsinn-Lesens

168

„[…] how funny it’ll seem, sending presents to one’s own feet! And how odd the directions will look! Alice’s Right Foot, Esq. Hearthrug, near the Fender, (with Alice’s love). Oh dear, what nonsense I’m talking!“53

„Funny“, „odd“ und schließlich „nonsense“ – Alice ist sich sehr wohl bewusst, dass das Wunderland sie auf eine merkwürdige Weise verwandelt. Unsinnige Spielerei und schriftbildliche Arabeske sind in den Augen der Leserinnen und Leser nicht voneinander zu trennen; die Anordnung der Briefzeilen auf der Buchseite produziert Weißraum und gestaltet die Seite geometrisch: sie ließe sich zu einem Parallelogramm extrapolieren. Hier produziert die Alice-Maschine eine – im Sinne Sybille Krämers – unmögliche Fläche, die man bei der Lektüre zunächst gar nicht bewusst wahrnimmt, die aber zur Irritation beiträgt. Alles, was sich Alice, gleichsam als Produkt ihrer eigenen Lektüre des Wunderlands ausdenkt, und sei es der grösste Unsinn, schlägt sich im Buch nieder – und strebt danach, die Grenzen seiner medialen Möglichkeiten zu überschreiten. Die beiden Alice-Bücher sind so gestaltet, dass sie bei jeder Lektüre aufs Neue entstehen – eine Inszenierung dessen, was Kappelhoff als Poiesis beschreibt. Durch das Umblättern von Seiten befördern wir Alice ins Land hinter dem Spiegel und holen sie wieder zurück, oder wir folgen den im Schriftbild realisierten Assoziationen in eine lebendige Arabeske hinein. Wie der in die Höhe schiessende Körper der Auslöser für den Brief an den rechten Fuss war, ist es bei der Schlangenlinien-Arabeske des Mauseschwanzes ein falsch verstandenes Wort. Die Maus holt aus, um „a long, sad tale“ zu erzählen – Alice aber kann nur an den „long, sad tail“ des Tieres denken. Getreu dem Titel des von Tom Waits für sein Alice-Musical komponierten Nonsense-Song – Everything you Can Think of is True – kann aus allem, was sich, um noch einmal Spuybroek zu zitieren, sympathisch ist, in der Verwandlungsfähigkeit und Wildheit, die in allem vibriert, etwas Neues entstehen.54 Ob es das Schöne und das Wahre ist, sei dahingestellt – doch die sinnliche Berühung von Materialien bringt immer neue Schriftbilder, Metaphern, Ornamente und Assemblagen hervor. Bei Waits sind es, im bewährten Nonsense-Modus, Rhythmus und Reim, die durch ihre „Sympathie“ Unerhörtes hervorbringen: everything you can think of is true before the ocean was blue you were lost in a flood run red with your blood’s nigerian skeleton crew everything you can think of is true the dish ran away with the spoon dig deep in your heart for that little red glow we’re decomposing as we go

53Ebd., 54Vgl.

14. Spuybroek 2016.

5.3  Alice als Leserin

169

everything you can think of is true and fishes make wishes on you we’re fighting our way up dreamland’s spine with black flamingos, expensive wine everything you can think of is true the baby’s asleep in your shoe your teeth are buildings with yellow doors your eyes are fish on a creamy shore.55

Wir haben immer wieder gesehen, wie viel Konfliktpotential in Alices Begegnungen mit Wunderland-Kreaturen steckt, und dass Missverständnisse zu den produktivsten Quellen des Nonsense gehören. Wenn es stimmt, dass Alices Abenteuer als eine Poiesis des Unsinn-Lesens zu begreifen sind, liegt es auf der Hand, dass das Nicht-Verstehen oder Falsch-Verstehen im Zentrum des Lektüreprozesses stehen muss. Dazu gehört die Bewegung in den Räumen des Wunderlands und hinter dem Spiegel ebenso wie das Berühren von Objekten, das Tasten und Schmecken. Im Sich-Einverleiben von Kuchen, Pilzen und Flüssigkeiten wird die Poiesis als verkörperter Prozess der ästhetischen Erfahrung auf handfeste Weise gestaltet – was Jan Švankmajer in neco z alenky aufnimmt und zur Poetik seiner Adaption macht. Die Alice-Bücher aber, die wir in der Hand halten, sind aus der intradiegetisch ablaufenden Poiesis des Unsinn-Lesens hervorgegangen, zu der auch Alices – im Sinne Angehrns – hermeneutische Aktivität gehört. Die Szene mit der Maus, die ihre lange, traurige Geschichte erzählen will, während Alice alles falsch versteht und sich ihr eigenes (Schrift)Bild macht, ist vielleicht die intrikateste Poiesis-Szene in den Büchern – was auch daran liegen mag, dass der Erzähler, anders als bei der Jabberwocky-Szene, auf die ich später eingehen werde, sich in keinerlei Erklärungen ergeht. Was wiederum eine Voraussetzung dafür ist, dass die Alice-Maschine voll zum Einsatz kommen kann. Nach dem ganzen Trubel mit den Tieren im Tränenteich und dem ­Proporz-Wettlauf – „Alice thought the whole thing very absurd“56 – nagt immer noch das schlechte Gewissen an ihr: Mit ihren Bemerkungen über Hunde und Katzen hatte sie die arme, ohnehin schon freudlose Maus (dieselbe, die sich aufs Rezitieren historischer Lehrbücher für Kinder des viktorianischen Bürgertums versteht) in Panik versetzt. Um es wieder gut zu machen, bittet sie das Nagetier, doch nun seine Geschichte zu erzählen. „Mine is a long and a sad tale!“ said the Mouse, turning to Alice, and sighing. „It’s a long tail, certainly,“ said Alice, looking down with wonder at the Mouse’s tail: „but why do you call it sad?“ And she kept on puzzling about it while the Mouse was speaking, so that her idea of the tale was something like this: —57

Hier überlagern sich mehrere Ebenen, die sich an einem lautsprachlichen Knotenpunkt – tale/tail – berühren, um disjunktiv auseinandergerissen zu werden: Die

55Tom

Waits: Alice. USA 2002. 22. 57Ebd., 23. 56AAW,

5  Alice als Leserin oder die Poiesis des Unsinn-Lesens

170 Abb. 5.1  The mouse’s tail/ tale

Maus erzählt eine Geschichte, Alice reimt sich eine zweite zusammen und im Buch wird eine dritte Version davon gestaltet. Ich habe bereits auf das Spiel der Unvereinbarkeit von mündlicher und schriftlicher Materialität der Sprache hingewiesen, welches durch Spuybroeks Sympathie-Begriff einen zusätzlichen Dreh erfährt: Angesichts all der Dinge, die sich für sie nicht einordnen lassen, entwickelt Alice als Leserin eine hyperkonnektive Haltung. Sie hört das Wort „tale/ tail“ und sieht den langen Schwanz der Maus, und schon entstehen aufgrund dieser „Sympathien“ in ihrem Kopf neue Bilder. Das sieht dann so aus (Abb. 5.1):58 Man kann die Mauseschwanz-Arabeske medientheoretisch analysieren, in Hinblick auf den Riss, in dem das Mediale sich zeigt – dem Riss, der sich zwischen dem Bild, das zugleich ein Text ist, und dem Bild in Alices Kopf auftut, deuten, wie ich das in Abschn. 4.1 versucht habe. Man kann sie aber auch als Inszenierung

58Ebd.,

24.

5.3  Alice als Leserin

171

der Poiesis des Unsinn-Lesens verstehen. Die Maus erzählt eine grausige Geschichte: Sie wird von „Wut“ aus heiterem Himmel vor Gericht geschleift und zum Tode verurteilt, erfreut sich paradoxerweise aber bester Gesundheit, ohne zu erklären, wie es dazu gekommen ist. Was die Maus wirklich erzählt, wissen wir nicht – wir erfahren nur, dass die Geschichte in Alices Kopf zu einem alle Spielarten der Materialität nutzenden Gedicht wird: Der Text reimt sich, bewegt sich in einem harten Rhythmus voran und nimmt im Schriftbild die Gestalt einer arabesken Schlangenlinie an, die sich, wie der Schwanz der Maus, nach unten verjüngt. Während Alice beim Zuhören, im Prozess der Poiesis herumrätselt – „she kept on puzzling about it“59 –, entsteht ein Bild in ihrem Kopf, das nicht sie selbst aufs Papier bringt, sondern der Erzähler und Buchgestalter. Er wiederum findet in der Tradition des emblematischen Gedichts eine Form, um die Poiesis des UnsinnLesens, die sich im Körper des kleinen Mädchens realisiert, zu inszenieren. Zum einen wird für die Leserin deutlich, dass die Maus eine grausame Geschichte erzählt, deren Wucht aber von der Sinnlichkeit des Spiels mit der Materialität des Buchmediums beinträchtigt wird und die ganz ohne Konsequenzen bleibt. Was aber nicht bedeutet, dass sie ohne Wirkung bliebe – sie wirkt, ähnlich wie das angedeutete Parallelogramm beim Brief an den Fuss, gerade durch die isolierte Erstarrung verstörend. Und zum anderen wird deutlich, dass mit Poeisis eben gerade nicht ein idiosynkratisches Fantasieren gemeint ist, sondern eine Affizierung über die Bezugnahme auf Formen, Figurationen und Modalitäten anderer literarischer Texte. Ein Dreh kommt noch hinzu. Dass Alice abschweift beim Zuhören, bleibt nicht unbemerkt, und die Maus massregelt das Mädchen: „You are not attending!“ said the Mouse to Alice, severely. „What are you thinking of!“ „I beg your pardon,“ said Alice very humbly: „you had got to the fifth bend, I think?“ „I had not!“ cried the Mouse sharply and very angrily. „A knot!“ said Alice, always ready to make herself useful, and looking anxiously about her. „Oh do let me help undo it!“ „I shall do nothing of the sort,“ said the Mouse, getting up and walking away. „You insult me by talking such nonsense!“60

Mit dem Verdikt „nonsense!“ endet die Szene, ohne dass sich eine Lösung des Konflikts abzeichnet – wobei die Maus Alice die Vorlage für das Machtwort liefert, das sie am Ende des ersten Buches sprechen wird, um dem Wunderland ein Ende zu machen. Doch der Knoten bleibt bestehen. Alice hat Recht, die Maus war bei der fünften Kurve des Gedichts angelangt. Für Alice ist es ein (langer, trauriger) Mauseschwanz, und so ist die Vorstellung, dass er sich verknotet haben könnte, gar nicht so absurd. Vor allem verhindert die Vorstellung vom verknoteten Mauseschwanz, dass Alice die Gefahr erkennt, die von der immer wütender werdenden Maus ausgeht. Und weil wir eine Geschichte über das Lesen lesen, entscheidet nicht der Erzähler, sondern Alices Wahrnehmung darüber, wie es weitergeht: Die

59Ebd., 60Ebd.,

28. 29.

172

5  Alice als Leserin oder die Poiesis des Unsinn-Lesens

Maus läuft davon, ohne sich selbst in Fury, die Wut, zu verwandeln, und hinterlässt ein weiteres Rätsel, das ungelöst bleiben muss und dadurch eine umso intensivere und vielschichtigere ästhetische Erfahrung ermöglicht – als radikales Gegenprogramm zum geheimnislosen Text aus dem Geschichtsbuch.61 Die Alice-Bücher reflektieren ihre eigene Gemachtheit und inszenieren ihr Wissen um die Poiesis des Unsinn-Lesens als eines sich seiner Prozesshaftigkeit bewussten Machens.62 Hermeneutische Verstehensansätze vereiteln sie mit den linguistischen Mitteln des Nonsense,63 produzieren dafür auf der Ebene des Materiellen, des Visuellen und Haptischen, andere Bedeutungsebenen – und lassen sie durch die Leserinnen und Leser auf einer zweiten Ebene produzieren. Damit verweisen sie auf die Medialität des Buches, das man als Artefakt zwar in die Hand nehmen kann, das aber, um sein Potential zu entfalten, genau wie eine DVD ein kluges Abspielgerät braucht: die Leserin oder den Leser.

„It seems very pretty, but it’s rather hard to understand“ Die Alice-Bücher legen, wie sich gezeigt hat, eine Spur, die gut sichtbar an der Oberfläche liegt, in der Carroll-Forschung aber weitgehend übersehen wurde. Sie inszenieren Alice als Leserin, hinter der wir, die Leserinnen und Leser des Buches, in dem sie unterwegs ist, herhoppeln wie sie selbst im ersten Buch hinter dem weißen Kaninchen. Die Poiesis-Szene mit dem Mauseschwanz aus Alice’s Adventures in Wonderland hat eine Entsprechung, oder vielleicht müsste man eher sagen, eine Fortsetzung, in Through the Looking-Glass. Die Metapoiesis, die im ersten Buch in der Assemblage aus verschiedenen Elementen des Buchmediums zutage tritt, wird im zweiten Teil explizit gemacht und erläutert. Als Alice durch den Spiegel, durch die Buchseite ins Spiegelland gerät, findet sie ein Buch: There was a book lying near Alice on the table, and while she sat watching the White King […] she turned over the leaves, to find some part that she could read, „for it’s all in some language I don’t know,“ she said to herself.64

Was sie sieht, ist das Gedicht „Jabberwocky“ in Spiegelschrift, was ihr – genau wie den Leserinnen des Buches – bald einmal klar wird. Im Gegensatz zu Alice

61Besonders

mächtig wirkt die Alice-Maschine in dieser Weise in einem Roman der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, der das Spannungsfeld zwischen von Non Sequitur und Hyperkonnektivität radikal auslotet, bis zur Grenze der Verschwörungstheorie und des Wahns, und zwar mit den Genremodalitäten des Thrills und der Paranoia: Die Stunde zwischen Frau und Gitarre von Clemens Setz (2015). 62Vgl. Schulz 2015. 63Vgl. Menninghaus 1995, 15: „Lautersetzungen und –umkehrungen, Hinzufügung oder Entzug von Lauten, asemantische Wortkombinationen, Literalisierungen und Entzug von Kontexten, Wahl bestimmter Reimwortpaare, beliebige Füllung und Wiederholung fester Schemata.“. 64TLG, 113.

5.3  Alice als Leserin

173

sehen wir zwar nicht das ganze Gedicht – Carroll hätte es zwar gerne so gehabt, doch drucktechnisch war es zu aufwändig, mehr als eine Strophe abzudrucken.65 Die Spiegelschrift konfrontiert uns mit einer Erfahrung der Ratlosigkeit gegenüber einem Text, der es uns erlaubt, für einen Augenblick (solange wir noch nicht begriffen haben, was hier los ist), die buchstäbliche Materialität der Zeichen zu sehen – soweit das überhaupt möglich ist –, uns aber auch zugleich dabei zu beobachten, wie wir sofort in hermeneutische Aktivität ausbrechen. Dabei bleibt die Entfremdung des Textes von sich selbst immer erhalten. Bei Alice führt dies dazu, dass sie das Buch vor den Spiegel hält und liest, was wir zeitgleich mit ihr in der geradegerückten Version, im Spiegel der vor uns aufgeschlagenen Buchseite, lesen können: ’Twas brillig, and the slithy toves Did gyre and gimble in the wabe: All mimsy were the borogoves, And the mome raths outgrabe. “Beware the Jabberwock, my son! The jaws that bite, the claws that catch! Beware the Jubjub bird, and shun The frumious Bandersnatch!” He took his vorpal sword in hand; Long time the manxome foe he sought— So rested he by the Tumtum tree And stood awhile in thought. And, as in uffish thought he stood, The Jabberwock, with eyes of flame, Came whiffling through the tulgey wood, And burbled as it came! One, two! One, two! And through and through The vorpal blade went snicker-snack! He left it dead, and with its head He went galumphing back. “And hast thou slain the Jabberwock? Come to my arms, my beamish boy! O frabjous day! Callooh! Callay!” He chortled in his joy.

65„Carroll

was interested in adopting new textual and illustrative techniques in his second Alice book. He was particularly keen to see reversed type printed, so that his readers would require an actual looking glass to read passages the right way around. He asks Macmillan as early as 24th January 1968, ‘Have you any means, or can you find any, for printing a page or two, in the next volume of Alice, in reverse?’” Ein Jahr später kommt er auf seinen Wunsch zurück und macht sogar Lösungsvorschläge; das Vorhaben wird aber als zu aufwendig aufgegeben, sodass in der Originalausgabe nur eine Strophe, als feiner Holzschnitt, in Spiegelschrift gedruckt erscheinen kann. Jaques/Giddens 2013, 46.

174

5  Alice als Leserin oder die Poiesis des Unsinn-Lesens

’Twas brillig, and the slithy toves Did gyre and gimble in the wabe: All mimsy were the borogoves, And the mome raths outgrabe.66

Leider, und das ist hier die Pointe, versteht Alice immer noch nichts, wenn auch auf eine ganz andere Weise als beim ersten Leseversuch. Sie liest den Text still für sich. Da es sich um ein Gedicht handelt und erst noch um eines, bei dem man zwar schnell begreift, worum es geht, aber dabei paradoxerweise kaum ein Wort versteht, obwohl Klang- und Rhythmus richtig eingängig sind, kann man von einem langsamen Lesetempo ausgehen. Alice liest nur so schnell, dass sie die stimmliche Realisierung im Kopf hören kann. Das Gedicht gewinnt durch seine klang-ornamentale Form eine performative Dimension und lädt zur theatralischen Aufführung ein, wie eine Vielzahl von Hörbuch-Aufnahmen der Interpretationen von Stars auf Youtube zeigen – von Sir John Gielgud über Christopher Lee bis zu Benedict Cumberbatch.67 Für Lecercle ist diese Lust am Rezitieren leicht nachvollziehbar: On the phonetic level, we shall note that the text is eminently readable, an excellent choice for public reading. All the words can be pronounced, even the coined ones because they all conform to the phonotactics of English.68

Der Text in Spiegelschrift ist vor dem Text da;69 ähnlich wie beim Schritt durch den Spiegel durch Umblättern steckt im Raum zwischen dem zweifachen Schriftbild – einmal Spiegelschrift, einmal reguläre Ausrichtung – eine implizite Bewegung, die mit der Vorstellung zusammenhängt, dass wir auf die andere Seite des Textes gelangen können, hinter den Text. Diese Bewegung lässt sich wiederum als Metapher – und zugleich als Entlarvung der Metapher – für den Akt des Deutens verstehen, genauer, für die Bodenlosigkeit des hermeneutischen Unterfangens, „dahinter“ zu kommen – hinter den Text, hinter die Zeichen. Für den Jabberwocky heisst das: Vor der Lektüre des Textes waren wir bereits hinter dem Text. Lecercle deutet das dreifache Vorkommen der ersten Strophe – einmal in Spiegelschrift, dann als erste und letzte Strophe des vollständig abgedruckten Gedichtes – als Ausdruck eines Wiederholungszwangs, der die Bedeutungslosigkeit des musikalischen Gebildes noch einmal betone: Carroll himself noted the ‚curious phenomenon‘ (which the reader can easily test for himself) that if you repeat a word a great many times in succession, however suggestive it may have been when you began, you will end by divesting it of every shred of meaning, and almost wondering you could ever have meant anything by it.70

66TLG,

114–116. Gielgud: https://www.youtube.com/watch?v=KjOj970ZJC8; Lee: https://www.youtube.com/watch?v=GVoBra0I4jU; Cumberbatch: https://www.youtube.com/watch?v=Q_Um3787fSY (21.04.2020). 68Lecercle 1994, 21. 69Ebd., 23. 70Ebd., 23. 67Vgl.

5.3  Alice als Leserin

175

Das Gedicht ist sowohl auf der phonetischen, der morphologischen als auch der snytaktischen Ebene absolut schlüssig – bei der Semantik hingegen kann man nur kapitulieren. Der Sinn steckt in der Grammatik der Sätze, in der narrativen Kohärenz, die in der Form des Gedichts angelegt ist; die normalerweise Bedeutung tragenden Wörter dagegen sind in ihrer ornamentalen Machart so verstellt, dass sie beinahe blank wirken.71 Alice selbst kommentiert ihre Leseerfahrung wie folgt: It seems very pretty,“ she said, when she had finished it, „but it’s rather hard to understand!“ (You see she didn’t like to confess, even to herself, that she couldn’t make it out at all.) „Somehow it seems to fill my head with ideas – only I don’t exactly know what they are! However, somebody killed something: that’s clear, at any rate–72

Alices Reaktion auf die Lektüre des Jabberwocky sei die beste Beschreibung der ästhetischen Erfahrung von Nonsense, meint Lecercle und schlägt eine Lesart vor, an die sich mit der Poiesis des Unsinn-Lesens anschließen lässt. Sie geht von den semantischen Leerstellen aus. Die neuen Wortkombinationen funktionierten als eine Art linguistisches punctum, indem sie die sprachliche Fantasie der Lesenden in Gang setzen, anstatt Bilder zu generieren.73 So werde die Sprache selbst zum Sprechen gebracht. Beim Jabberwocky beobachtet Lecercle eine zweigleisige Lektüre – „The poem, therefore, is a balancing act between an orderly and a disorderly reading.“74 Das führt ihn zur Schlussfolgerung, dass Nonsense ein „konservativ-revolutionäres“ Genre sei; dass wir es mit einem textuellen ­double-bind oder Paradox zu tun hätten. Der „Jabberwocky“ zeige so deutlich wie kaum eine andere Passage der Alice-Bücher, wie sehr Freiheit und Zwang ineinander verkeilt seien:75 The orderly character of the poem on the other linguistic levels is seen as a failed attempt to conceal or deny the pervasive attraction of the coinages. And if we look at the poem as a whole, we shall notice two things. The first stanza, which everybody knows by heart, is so memorable because of the sheer abundance of coined words in it; the other stanzas, although they contain a number of coinages, are more ‘conventional’ in that they narrate a recognisable tale, a tale of quest, ordeal and triumphant return which corresponds to the usual pattern of fairy tales and would be susceptible of a Proppian analysis.76

71„All

we have is the global coherence of discours: something is being said, only I do not know exactly what.“ Ebd., 22. 72TLG, 116. 73„They fascinate the reader much more efficiently than the snake-like Jabberwock, a rather banal dragon, hardly saved from utter triviality by the fact that, in Tenniel’s illustration, he happens to be wearing a waistcoat. The semantic blanks compel us to look at the text in a new way, to read it anew. They are not only duplicated even before the narrative begins, they also replicate the text, i. e. fold it on to itself – because they compel us to go from a visual to a linguistic form of imagination. […] But the semantic blanks are not meant to be visulalised. They are meant to be playfully explored, or exploited, by our linguistic imagination, which is boundless.“ Lecercle 1994, 23–24. 74Ebd., 24. 75Ebd., 25. 76Ebd., 23.

5  Alice als Leserin oder die Poiesis des Unsinn-Lesens

176

Weiter erwähnt er die – zwanghafte – Wiederholung als ein Unsinn produzierendes Verfahren, insbesondere die Wiederholung in der Inversion durch die Spiegelschrift, in welcher der „Jabberwocky“ Alice erstmals begegnet.77 Texte wie der „Jabberwocky“ zeichneten sich dadurch aus, dass sie zwei Arten der Lektüre ermöglichen. Die erste ist die systematische strukturalistische Analyse, die sich die vier Ebenen der Sprache – Phonetik, Morphologie, Syntax und Semantik – einzeln vornimmt:78 It shows that grammatical analysis can afford to treat sense as a black box and proceed in blissfull ignorance of it. The linguist need not actually understand the language he studies; he may exclaim, like Alice: ‘it’s all in some language I don’t know’. Such a reading comforts the grammatical structure of language by making it manifest. This structuralist practice, however, soon causes unease. One of the structural levels is void: this may preserve the coherence of the reading, but it makes its completeness impossible. The lack of analysis on the semantic level will soon threaten to destabilise the coherent reading I have engaged in, together with the linguistic order on which it is based and which it reveals. The langue reading of the text is subverted by the absence of sense, and a second reading is induced.79

Diese zweite Lektüre geht von den semantischen Leerstellen aus. Es behandelt sie nicht wie ein Abfallprodukt (residue), sondern als zentralen Aspekt des Textes. Bevor wir den Text überhaupt lesen können, werden die semantischen Leerstellen verdoppelt. Gleichzeitig replizieren sie den Text – „fold it on to itself“, – da sie uns zwingen, von einer visuellen zu einer linguistischen Form von Imagination überzugehen.80 Humpty Dumptys absurde Interpretation des „Jabberwocky“ im 6. Kapitel von Through the Looking-Glass treibt unsere Vorstellung in diese Richtung: They try to make us visualise those toves, a thing which is either impossible (if, as is the case with the Snark, the creature’s ‘unmistakable marks’ are paradoxical or contradictory) or trivial (Tenniel does represent a tove, a chimera-like combination of badger, lizard and corkscrew).81

Doch die semantischen Leerstellen seien gerade nicht dazu da, mit Bildern ausgefüllt zu werden, […] they are meant to be playfully explored, or exploited, by our linguistic imagination, which is boundless. […] The reading is no longer systematic and rational, but desultory and playful. […] By focusing on the semantic gaps, this second reading lets language play on its own – it lets language speak. This is no longer a langue reading, but, in Lacanian terms, a lalangue reading.82

77Ebd. 78Ebd.,

22.

79Ebd. 80Ebd., 81Ebd. 82Ebd.

24.

5.3  Alice als Leserin

177

Lecercles Schlussfolgerung ist interessant: Er verbindet die l­ inguistischpsychoanalytische Analyse mit Todorovs Fantastiktheorie und arbeitet heraus, dass der Modus des Nonsense eine Gleichzeitigkeit des Wunderbaren und des Unheimlichen möglich macht. Auf der narrativen Ebene könnte man das Gedicht dem Wunderbaren, auf der ästhetischen dagegen dem Unheimlichen zuordnen:83 „Language is both more real and more terrible than the tame dragons of our nightmares.“84 Aus diesem Grund ist der „Jabberwocky“ für Lecercle ein Emblem des Nonsense als Genre.85 Aus seiner Sicht macht die Begegnung mit literarischem Unsinn ein Stück conditio humana sinnlich erfahrbar: Wir kontrollieren die Sprache, setzen sie gezielt als Kommunikationsmittel ein, und gleichzeitig ist es die Sprache, die durch die Menschen spricht und sie gleichsam beherrscht. Nonsense ist das Genre, das es uns ermöglicht, diese Zerrissenheit und den Versuch, die beiden Pole zusammenzuhalten, überhaupt zu denken. Lecercles überzeugende Analyse lässt aber die Materialität und Medialität des Buches ausser Acht. Erst wenn man die zweite Dimension, die Gestaltung der Doppelseite, auf der das Gedicht abgedruckt ist, miteinbezieht, wird die Poiesis des Unsinn-Lesens sichtbar. Ich habe behauptet, dass wir, die Leserinnen und Leser des Buches, in der gleichen Position seien wie Alice, die das Buch im Buch in der Hand hält – in der Figuration einer Mise en abîme. Tatsächlich stimmt das nur, wenn man Tenniels Illustration ausblendet. Das Bild, das der Illustrator sich vom Jabberwocky macht, sieht Alice nämlich nicht, das sehen nur wir. Wie bei der Mauseschwanz-Szene kommt es hier zu einer disjunktiven Überlagerung verschiedener Ebenen. Da ist das Buch im Buch, dessen Text für uns wiederholt wird („This was the poem that Alice read“86). Und da ist eine Illustration, die uns ein kleines Mädchen – zweifellos Alice – zeigt, wie es ausholt, um einem Ungeheuer den tödlichen Schlag zu versetzen. Wenn wir umblättern, erklärt uns der Erzähler zwar, wie Alice die Lektüre des Gedichtes erlebt hat – „it’s very pretty, but rather hard to understand“ –, lässt uns aber im Unklaren, was den Status der Illustration angeht. Ist es nichts weiter als ein Bild, das der Illustrator sich ausgedacht hat, also gewissermassen Paratext? Oder sehen wir eins der Bilder, die Alice beim Lesen durch den Kopf gingen – „Somehow it seems to fill my head with ideas – only I don’t know exactly what they are“? Wenn die Poiesis des Unsinn-Lesens sich dadurch auszeichnet, dass in der ästhetischen Erfahrung über Genremodalitäten Bezug auf die Literaturgeschichte genommen wird, lässt sich Tenniells Illustration als Veranschaulichung des Leseprozesses deuten. Das Bild des wütenden Drachen und des kleinen Ritters, der ihn mit einem riesigen Schwert zu bekämpfen versucht, reiht sich zusammen mit dem Text recht

83Ebd. 84Ebd. 85Ebd., 86TLG,

25. 114.

5  Alice als Leserin oder die Poiesis des Unsinn-Lesens

178

schlüssig in die Reihe von Märchen-, Sagen- und Legendenhelden ein, die ausziehen, um ein Ungeheuer zu besiegen. Erklärt ist damit wiederum nichts. Die Irritationsmomente treten im Gegenteil noch deutlicher hervor: Der Drachentöter – im Text unmissverständlich als männliches, wenn auch namenloses Wesen angesprochen – ist in der Illustration die an ihrer Haartracht erkennbare Alice – auch hier scheint sie ins Buch im Buch, genauer: ins Buch im Buch im Buch, hineingelangt zu sein. Alice liest nicht nur, sie wird auch gelesen. Das bedeutet, dass es ihr hier genauso geht wie uns einige Seiten davor: dass sie nämlich doppelspurig liest – visuell und sprachlich. Sie stellt sich vor, wie sie selbst als Heldin gegen den Jabberwocky in den Kampf zieht, während in ihrem Kopf schwerer zu fassende Ideen sich formieren. Wenn man die Buchgestaltung und die Illustration in die Analyse einbezieht, ist Lecercles Lesart nur noch bedingt haltbar. Sogar der Jabberwocky selbst hat eine doppelte Gestalt: Der Name bezieht sich auf das Gedicht und auf den Drachen. Das Wort „Jabberwocky“ an sich bedeutet nichts, es ist eine Wortschöpfung, in der als einziger semantischer Hinweis „to jabber“ – quasseln, brabbeln, plappern – vorkommt. Was das Wort repräsentieren soll, erfahren wir einzig aus dem Zusammenhang und aus dem Bild; gleichzeitig passt der Name ganz gut zur selbstgenügsamen Geschwätzigkeit des Gedichts, das sich an seinen eigenen skurrilen Einfällen zu erfreuen scheint. Für die Leserin kommt noch eine weitere Dimension hinzu: Der Text liest sich selbst. Der Jabberwocky wird interpretatorisch zweimal durchgenommen; zuerst in Tenniels Illustration, dann, fünf Kapitel später, im legendären Dialog zwischen Alice und Humpty Dumpty, in dem das sprechende Ei als selbsternannter Experte für Wörter und ihre Bedeutungen erklärt, er bestimme ganz allein, was Wörter zu bedeuten hätten. Als Alice zum Beispiel fragt, was toves seien, ist Humpty Dumpty nicht um eine Antwort verlegen: „Well, ‘toves’ are something like badgers – they’re something like lizards – and they’re something like corkscrews.“87 Es ist eine merkwürdige Sache mit den Wörtern, denen man eine beliebige Bedeutung zuschreiben kann. Die Text-Bild-Assemblage bei Alices Jabberwocky-Lektüre lässt uns ähnlich irritiert zurück wie Humpty Dumptys ­ Interpretation. Das liegt an der eigentümlichen Leseerfahrung, die wir machen, ohne sie richtig fassen zu können. Die Sinnlichkeit des Gedichts – „it seems very pretty“ – ist interessanter als die Geschichte, die erzählt wird – „somebody killed something: that’s clear, at any rate“ – auch wenn die Ideen, mit denen es Alices und unseren Kopf zu füllen scheint, ornamentalen Charakter haben und nicht recht fassbar werden. Hier leuchtet für einen Augenblick die Vorstellung auf, man könne Unsinn denken – richtigen Unsinn, der frei ist vom Spiel mit den Regeln der Sprache, möglicherweise frei vom Symbolischen überhaupt. Auch das gehört zur Poeisis des Unsinn-Lesens – ebenso wie die Erfahrung, dass solche spekulativen Freiräume nur über Genremodalitäten überhaupt denkbar sind.

87Ebd.,

162.

5.3  Alice als Leserin

179

Wie sich in der Auseinandersetzung mit der Jabberwocky-Szene gezeigt hat, sind in der Alice-Maschine Verfahren wirksam, die einander theoretisch ausschließen: Die Poiesis des Unsinn-Lesens, die sich als Kombination aus materialitätsorientierter Medientheorie, verkörperter ästhetischer Erfahrung und negativistischer Hermeneutik begreifen lässt, und die posthermeutische Erfahrung des medialen Als, wie sie Mersch beschreibt. Denn über Lecercles Paradox des gleichzeitigen Herr-und-Sklave-der-Sprache-Seins sowie über das Paradoxon des Lesens und Gelesenwerdens hinaus öffnet sich in den beiden ­Jabberwocky-Passagen ein Abgrund des Medialen, der darauf verweist, welche Rolle die Figurationen des Nonsense in der Alice-Maschine spielen. Mit der paradoxen Erfahrung des Nonsense geht die unter anderem von Mersch vertretene Einsicht einher, dass es im Zeichen und im Medium etwas Widerständiges gibt, das sich jeder Deutung verweigert – und das die Zerrissenheit in die Leserin, den Leser hinein verlegt. Nonsense ist ein Modus der Erfahrung und ein Modus des Denkens zugleich, dessen Leistung es unter anderem ist, Dichotomien undenkbar und Paradoxa denkbar zu machen. Die für einen Augenblick aufblitzende Möglichkeit, das Unmögliche zu denken, zielt, wenn man die Passage mit Mersch liest, über die Sehnsucht nach einem von den Fesseln des Symbolischen befreiten Denkens indirekt auf die Spur des Unverfügbaren im Zeichen. Dieses Unverfügbare siedelt Mersch in der Sphäre des Nicht-Signifizierbaren an, weshalb es nur sozusagen über die Bande überhaupt erkennbar werden kann.88 In seiner Perspektive ist nicht das Oszillieren zwischen Sinn und Präsenz der zentrale Punkt, sondern die Tatsache, dass die Zeichen, bevor sie überhaupt bedeuten können, sind; dass sie eine sinnliche Existenz haben, die sich aber nur in der Negativität zeigt; in dem, was sich dem Semiotischen entzieht. „Es gibt ein Nichtmediatisierbares, das zwar erst angesichts seiner Mediatisierung zum Vorschein gelangt, das dennoch ihm notwendig vorausgeht.“89 Sinn, zitiert Mersch Cassirer. Sinn wurzelt in Sinnlichkeit – einer Sinnlichkeit, die nicht signifizierbar ist; ein Nichtsinn im Sinn, „der die Zeichen und ihre Ordnungen stört, sich widerständig und unberechenbar einmischt, das Gefüge des Symbolischen umstürzt oder modifiziert und mit dem Sinn seine eigenen Spiele spielt.“90 So erfinden die Alice-Bücher das Buchmedium neu. Aus dem Medium des Sinns, zu dem sich die Literatur unter dem hermeneutischen Regime entwickelt hatte – zumindest in der Tendenz –, wird ein Medium der in sich widersprüchlichen, heterogenen, disjunktiven Erfahrung. Die Alice-Bücher sind mehr als der Ausdruck eines Unbehagens – oder eines unbehaglichen Behagens – in der viktorianischen Kultur. Durch die Modulierung der ästhetischen Erfahrung formen sie eine Leserposition und damit eine Leserin in- und ausserhalb des Buches, die ihren Platz in der Gemeinschaft radikal in Frage stellt. Das Kind, das Alice verkörpert, ist

88Mersch

2002a, 13. 17. 90Ebd., 19. 89Ebd.,

180

5  Alice als Leserin oder die Poiesis des Unsinn-Lesens

gefangen zwischen Regelsystemen, die es nicht versteht – und hängt damit im Raum zwischen Panikattacke und Freiheitseuphorie fest: „Should I stay or should I go?“ Carrolls scheinbar regressive (um nicht, kalauernd, zu sagen reaktionäre) Reaktion auf die rasanten sozialen, wissenschaftlichen und technologischen Entwicklungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der Rückzug ins Kindliche, haben auch eine progressive, radikale Seite, wenn man mit Rancière davon ausgeht, dass das Ästhetische seinem Wesen nach politisch ist.91 Die Alice-Bücher lassen die beengte Situation des unfreien Kindes zu einem Zwischenraum explodieren, in dem es keine gültigen Narrative, keinen Grund der Wahrheit gibt, der trägt. Sie lassen sich als Einspruch gegen die metaphysische Kritik der Oberfläche und der Äusserlichkeit lesen; dagegen, die Ordnung der Erscheinungen zugunsten einer, wie Jean-Luc Nancy schreibt, „eigentlichen Wirklichkeit (die tief, lebendig, ursprünglich ist – und immer der Ordnung des Anderen angehört)“ zu negieren.92 Das Leben, das Spiel, die Freiheit findet aber gerade im Dazwischen statt, wenn auch ohne Nähe, Harmonie und Geborgenheit. Man kann das als reine Horrorvision sehen oder aber als Ansicht einer Existenz, die Nancy in seiner Gemeinschaftstheorie als das Mit-Sein beschreibt, wobei das schwer zu fassende „Mit“ das Sein ausmacht; das „Mit“, nicht das Subjekt, ist im Zentrum des Seins. Dieses Sein lässt sich nicht fixieren, sondern es ereignet sich – in der Begegnung von Wesen, die einander seltsam, oder, mit Alice gesprochen, „curious“ erscheinen. Und damit mündet die Gemeinschaftstheorie in die Medien- und Materialitätstheorie ein – und umgekehrt. Lewis Carrolls Alice-Bücher deklinieren Sinn und Unsinn fast systematisch in allen Bereichen des menschlichen Verstehens durch: Auf der sprachlichen Ebene setzt der Text eine ganze Reihe von Verfahren ein, um die Grenzen der alltäglichen Verständigung auszuloten, während Alices Körper sich gleichzeitig immerzu verändert. Im Wachsen und Schrumpfen verschiebt sich nicht nur ihre sinnliche Wahrnehmung und damit die Bedingung der Möglichkeit einer Reflexion über sich selbst, sondern sie kommt der Negativität verstörend nahe, im Nachdenken darüber und in der leiblichen Erfahrung. Als sie im ersten Kapitel von Alice’s Adventures in Wonderland den Inhalt des mit „DRINK ME“ beschrifteten Fläschchens trinkt und immer kleiner wird, macht sie sich Sorgen, wohin das Schrumpfen führen könnte: […] she felt a little nervous about this; ‘for it might end, you know,’ said Alice to herself, ‘in my going out altogether, like a candle. I wonder what I should be like then?’ And she tried to fancy what the flame of a candle looks like after the candle is blown out, for she could not remember ever having seen such a thing.93

Vor dem Hintergrund der negativistischen Hermeneutik, wie sie Angehrn formuliert, gerät das Verstörende dieser Bedrohung durch das Nichts, dieser Nahtoderfahrung erst richtig in den Blick. Der unbekümmerte Ton des Erzählers,

91Vgl.

Rancière 2011. Nancy: singulär plural sein. Zürich 1996, 88. 93AAW, 11. 92Jean-Luc

5.3  Alice als Leserin

181

sein offensichtliches Entzücken angesichts von Alices kindlicher Reaktion wirkt auf die Leserin grotesk. In dieser Hinsicht erinnert die Szene an die Grausamkeit der Anekdote, die Carroll im Vorwort zur Nursery Alice erzählt. Sie steht in einem eigenartigen Spannungsverhältnis zum Pathos der Mutterliebe, die er davor beschworen hat: […] a child I once knew, who – having been carefully instructed that one of any earthly thing was enough for any little girl; and that to ask for two buns, two oranges, two of anything, would certainly bring upon her the awful charge of being ‘greedy’ – was found one morning sitting up in bed, solemnly regarding her two little naked feet, and murmuring to herself, softly and penitently, ‘deedy!’.94

Unsinn-Lesen im Sinne einer Poiesis erscheint als ein immer zugleich gelingender und misslingender Versuch, die mediale Verfasstheit der Welt in einer ästhetischen Erfahrung zu fassen. Dass Alice selbst als Leserin inszeniert wird, verdoppelt diese Erfahrung noch einmal.

94NA,

Preface (unpaginiert).

Teil II

Die Alice-Maschine und das Nachleben eines Klassikers

Kapitel 6

Alice und die Populärkultur

Die Lektüre von Carrolls Alice-Büchern, wie ich sie im ersten Teil dieser Studie betrieben habe, wäre ohne die Produktivität der Alice-Maschine im 20. und 21. Jahrhundert nicht möglich gewesen. Die – psychedelische, sexualisierte, monströse, erwachsene, männliche – Alice der Populärkultur hat die Konturen der Alice-Maschine überhaupt erst erkennbar gemacht. Insofern ist die Abfolge der Analysen weniger als Chronologie zu verstehen (und schon gar nicht als kausallogische Abfolge), sondern eher als aufgeschnittene Spirale, die theoretisch an jeder beliebigen Stelle betreten werden kann. Im Sinne des ins Transmediale übertragenen Konzepts der Zwischentextlichkeit, das Hans-Jost Frey formuliert hat, wird nicht nur der spätere Text vom früheren her gelesen, sondern auch der frühere vom späteren her.1 Das Nachleben der Alice-Bücher in den Künsten und in der Populärkultur wurde, wie bereits erwähnt, ausgiebig erforscht. Auf dieser Basis lässt sich sagen, dass Alice-Adaptionen für Theater, Oper, Musical, Film und Videospiel grundsätzlich dazu neigen, die ­Alice-Maschine ruhigzustellen, die Textvorlage durch sinnstiftende Erzählmuster zu vereinnahmen und zu verdrängen. Bevor ich im letzten Kapitel auf die Produktivität der Alice-Maschine – also ästhetischer Figurationen, die sich weitgehend vom Stoff, seinem Schauplatz und seinen Figuren gelöst haben – zu sprechen kommen werde, möchte ich in zwei kleinen Skizzen auf Beispiele eingehen, in denen die Figurationen der Unruhe mit expliziter Bezugnahme auf die Alice-Bücher auf ganz unterschiedliche Weise produktiv sind. Das erste ist Jan Švankmajers surrealistische Alice-Verfilmung,2 das zweite betrifft die Karriere des Pilzes, der Alice wachsen und schrumpfen lässt, in der populären Kultur.

1Frey 2Vgl.

1990, 20. Lötscher/Tomkowiak 2014, 45.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lötscher, Die Alice-Maschine, Studien zu Kinder- und Jugendliteratur und -medien 6, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05707-5_6

185

6  Alice und die Populärkultur

186

6.1 „Ihr müsst die Augen schließen, sonst werdet ihr nichts sehen“: Jan Švankmajers nečo z alenky Jan Švankmajers nečo z alenky (CSSR 1988) gestaltet die Poiesis des Unsinn-Lesens mithilfe der Stop-Motion-Technik auf überzeugende Weise im ­ Medium des Films. Die Rahmenhandlung des Films spielt in der Natur, an einem Bach, der zwar nicht wie im Disney-Song romantisch mit Alice plaudert, aber doch einen Anteil hat an ihren Abenteuern. Der Bach plätschert also vor sich hin, etwa eine halbe Minute lang, fließt von rechts nach links durch den Kader und füllt ihn ganz, während die Kamera gegen den Strom auf seiner Oberfläche entlanggleitet. Wir hören das Plätschern, ab und zu zwitschert ein Vogel. Irgendwann stört ein Stein, der ins Wasser fällt, den Fluss des Baches; die Stille des Films lenkt die Aufmerksamkeit auf die Geräusche, die dabei entstehen.3 Die Kamera folgt der Flugbahn des Steines in die andere Richtung und zeigt uns zwei paar Füsse und dann zwei Mädchen, die auf der ersten Blick dasitzen wie Puppen. Da kommt die Kamera zur Ruhe. Das grössere der beiden Mädchen liest ein Buch, während das kleinere die Verursacherin der Unruhe im Bach ist: Sie hat einen Haufen Steine gesammelt, die jetzt in ihrem Schoss liegen, und wirft sie in regelmäßigen Abständen ins Wasser. Als alle aufgebraucht sind, greift sie in die Seiten des Buches, während die Schwester es zu lesen versucht – eine Bleiwüste, „without pictures or conversations“, möchte man ergänzen. Laut hören wir das Flattern der dicken, leicht angegilbten Buchseiten – was Musik in den Ohren Bibliophiler sein mag, lässt die Kleine jedoch kalt. Die Schwester, deren Kopf übrigens abgeschnitten ist im Bild („off with her head!“), schlägt ihr auf die Hand, Alenkas schmollendes Gesicht füllt den Kader. Die Kamera zoomt auf ihren Mund, der zu sprechen beginnt: „Alice dachte bei sich…“.4 Das ist der Moment, in dem der Film zu ihrer, zu Alices Geschichte wechselt. Markiert wird der Übergang durch den Filmtitel, der, weiß auf schwarzem Grund, eingeblendet wird, gefolgt von den Credits. Dazu erklingt – in einem Film, der ausserhalb der Rahmung hier und am Ende ganz ohne Musik daherkommt – Klaviermusik, jemand, wohl ein Kind, übt Tonleitern. Und Alenkas Mund, der immer wieder zwischen die Credits montiert ist, klärt uns darüber auf, was uns erwartet: „Ihr seht jetzt einen Film […] für Kinder […] vielleicht, […] aber etwas hätte ich fast vergessen: […] ihr müsst die Augen schließen, […] sonst […] werdet ihr nichts sehen.“5 Alenka schließt die Augen, um sich selbst die Geschichte von Alice im Wunderland zu erzählen; ihre Version davon. Wie die Textvorlage selbst inszeniert der Film das Mädchen als Leserin ohne Buch; die Poiesis des Unsinn-Lesens wird bei Švankmajer in der Erfahrung des Sehens, Hörens und Fühlens gestaltet. Die Materialität der Dinge in Alenkas Wunderland, ihre Haptik, ihre Texturen, die

3Ebd.,

51.

4nečo z alenky, 5Ebd.,

00:01:17–00:01:20. 00:01:33–00:02:11.

6.2  Metamorphose, Rausch und Psychedelik

187

Geräusche, die sie machen, wenn man sie berührt, in die Hand nimmt, steht im Zentrum des Films; die Dinge werden insofern lebendig, als ihre Materialität sich, wie der Klang der Sprache im Nonsense, selbstständig macht und die Bewegung des Films bestimmt. In der ersten Einstellung nach Alenkas Anweisung finden wir uns an einem anderen Ort, aber auch in einer anderen Zeitlichkeit wieder. Eine Uhr tickt, und doch zeichnet sich dieser andere Raum im Gegensatz zum Alltagsraum gerade dadurch aus, dass man das Vergehen der Zeit, ihr unendlich langsames, von der Langeweile ins Unendliche gedehnte Fließen, nicht mehr spürt. Hier zählt die Gleichzeitigkeit, die Fülle, die Heterogenität. In aller Ruhe tastet die Kamera den Raum ab, und wo sie hinschaut, gibt es etwas zu sehen: Topfpflanzen, Kochutensilien, Essensreste, Konservengläser, Sammlungen toter Käfer und Schneckenhäuser, Spielsachen. Das Prinzip des Films ist die Assemblage, die immer in Bewegung ist, bereit zu spielen, aber auch zu gewaltsamen Übergriffen im Stande. Wenn man Spuybroeks Ruskin-Lektüre zu Rate zieht, erscheint Švankmajers Verfahren als eine surrealistische Weiterentwicklung einer viktorianischen Idee: Life, simply put, means that things are not just there, but are being made and unmade; moreover, that these three stages of existence should be understood in connection to one another. Ruskin states that ‘[n]othing that lives is, or can be, rigidly perfect; part of it is decaying, part of it is nascent’. Instead of looking at the object in space, he looks at the object in time.6

Švankmajer lässt die Alice-Maschine zunächst durch die ins Paradoxe gedrehte Mise en abîme des Buches im Film, der haptisch ist wie kaum ein anderer, sich aber quasi immateriell hinter geschlossenen Augen im Kopf des Mädchens abspielen soll, arbeiten; der Rahmen mit Alenka als Erzählerin und die audiovisuell in Szene gesetzte Materialität des Sammelsuriums, aus dem sich sein Wunderland zusammensetzt, lässt den Abgrund des Medialen weiter aufklaffen als in jeder anderen Alice-Adaption. Dazu gehört auch das ständige Hin- und Her zwischen Realfilm und Stop-Motion-Technik; Alices Metamorphosen sind immer auch als materielle und medientechnische Wechsel inszeniert. Auf diese Weise macht der Film erfahrbar, wie Innen und Aussen zugleich untrennbar verbunden sind – und absolut getrennt.

6.2 Metamorphose, Rausch und Psychedelik Warum wächst oder schrumpft Alice, wenn sie an ihrem Pilz knabbert? Die Frage inspiriert Adaptionen und Variationen der Alice-Bücher zu immer neuen Höhenflügen oder Höllenfahrten – gerade, weil sie innerhalb der Märchen- und

6Spuybroek

2017, 13.

188

6  Alice und die Populärkultur

Nonsense-Logik von Carrolls Kinderbuchklassiker keine Rolle spielt. Dort dreht sich alles um ein anderes, sehr viel pragmatischeres Rätsel: Welche Seite des runden Pilzes lässt Alice in die Höhe schiessen, welche macht sie klein? Da wir uns bereits im fünften Kapitel von Alice’s Adventures in Wonderland befinden, „Advice from a Caterpillar“, kann Alice auf eine gewisse Erfahrung mit größenverändernden Substanzen zurückblicken. Sie war schon einmal so klein, dass sie sich Sorgen machen musste, ganz und gar zu erlöschen, wie eine Kerze, und das ständige Hin und Her lässt sie sehr an ihrer Identität zweifeln.7 Als die blaue Raupe wissen will, wer sie ist – „who are you?“, weiß sie keine rechte Antwort: „I – I hardly know, Sir, just at present – at least I know who I was when I got up this morning, but I think I must have been changed several times since then.“8 Nachdenken, rätseln, analysieren – es hilft alles nichts: „Alice remained looking thoughtfully at the mushroom for a minute, trying to make out which were the two sides of it; as it was perfectly round, she found this a very difficult question.“9 Die einzige Option ist Ausprobieren. Das Vorgehen ist lebensgefährlich, führt aber doch zu einer Taktik des Austarierens zwischen Knabbern und Wachsen, Knabbern und Schrumpfen: However, at last she stretched her arms round it as far as they would go, and broke off a bit of the edge with each hand. „And now which is which?“ she said to herself, and nibbled a little off the right-hand bit to try the effect. The next moment she felt a violent blow underneath her chin: it had struck her foot! She was a good deal frightened by this very sudden change, but she felt that there was no time to be lost, as she was shrinking rapidly: so she set to work at once to eat some of the other bit. Her chin was pressed so closely against her foot, that there was hardly room to open her mouth; but she did it at last, and managed to swallow a morsel of the left-hand bit.10

Die Substanzen des Wunderlands sind, wie es sich für die Alice-Maschine gehört, tödlich und vollkommen harmlos zugleich. Denn die Rädchen der Maschine drehen immer weiter: Alices Erlebnisse können noch so drastisch sein, das Spiel ist niemals aus; nicht, solange sie im Wunderland oder im Land hinter den Spiegeln bleibt. Der Vergleich mit der Faksimilieausgabe der handgeschriebenen und von Lewis Carroll selbst illustrierten Urfassung, Alice’s Adventures Under Ground, macht deutlich, dass Carroll die groteske Wirkung der Passage bei der Überarbeitung weiter zuspitzte, indem er die Beschreibung von Alices ungemütlicher Lage und ihrer Gefühle dabei auf ein Minimum reduzierte.11 Die beiden Illustrationen der Urfassung hingegen, unter anderem wegen Carrolls Amateurstatus als Zeichner wohl der Gipfel des Grotesken in den Alice-Büchern, sind in

7AAW,

11. 34. 9Ebd., 40. 10Ebd., 40–41. 11Ebd., 62. 8Ebd.,

6.2  Metamorphose, Rausch und Psychedelik

189

Abb. 6.1  Alice als Kopffüsslerin. Zeichnung von Lewis Carroll

der gedruckten Ausgabe ersatzlos verschwunden. Sie zeigen Alice einmal als Kopf ohne Körper (Abb. 6.1), der direkt in ein Paar Füsse übergeht, und einmal als Kopf auf einem langen, direkt aus dem Boden wachsenden Hals. In der Druckfassung wechselt die Tonart radikal, als Alice mit dem Kinn auf den Füssen aufschlägt. Hier wird der Text von typographischen Zeichen abgelöst, einem nach links und rechts potentiell unendlich sich fortsetzenden, rhombisch organisierten Ornament von Asterisken, wie es bereits bei Alices Wachstums- und Schrumpfschüben im ersten Kapitel zum Einsatz kommt, als sie eine Flasche mit der Aufschrift „DRINK ME“ findet, deren Inhalt sie schrumpfen lässt, und später einen mit „EAT ME“ beschrifteten Kuchen, der wiederum ein Wachstum auslöst:12 *

* *

*

12AAW,

* *

*

* *

*

11–12, die folgenden Asterisken: Ebd., 41.

* *

*

*

190

6  Alice und die Populärkultur

Was geschieht in diesen drei Zeilen? Was wir uns vorstellen sollen, schildert der Erzähler in aller Ausführlichkeit, sobald der Text wieder einsetzt; überhaupt gehören die Szenen, in denen Alice sich in einem verwandelten Körper wiederfindet, zu den bildhaftesten. Für die Produktion der Bilder ist nicht der Erzähler, sondern Alice selbst, mit ihrer Poiesis-Aktivität, zuständig; sie vergleicht sich mal mit einer Kerze, mal mit einem Teleskop, mal mit einer Schlange – lauter Bilder, die sich aufeinander häufen, ohne sich zu einem konsistenten Ganzen zu fügen. Das Ereignis des Wachsens oder Schrumpfens selbst bleibt dagegen ausgespart; es wird typograhisch gestaltet, in größtmöglicher Abstraktion. Was die Leserinnen und Leser sehen, ist mehr als nur eine Aufforderung an die Vorstellungskraft. Auf dem Ornament aus Asterisken hin- und hergleitend, entsteht für die Leseraugen eine Kippfigur: einmal sehen sie ein Band von liegenden Rhomben, einmal eine Reihe von Andreaskreuzen. Darüber lagert sich eine zweite, dreidimensionale Kippfigur: Einmal treten die Zeichen hervor, einmal der Weißraum dazwischen. Was die Leserin sieht, führt sie weg von der Bildhaftigkeit des grotesken Mädchenkörpers und verwickelt sie in ruheloses Hin- und Her zwischen in sich selbst unbeweglichen geometrischen Figuren; als sei der Prozess, in dem sich die eben geschilderte Erfahrung des Sehens und eine hermeneutische Lektüre überlagern, von Erstarrung im Abstrakt-Geometrischen bedroht. Überlagern – nicht verbinden: Die Anhäufung von Kippfiguren im typographischen Ornament sowie die unvereinbaren Metaphern in der Erzählung erfahren in ihrer Konstellation eine Steigerung, die keine abschließende Interpretation mehr zulässt. In der Konstellation aus unauflösbaren Figurationen ist die Alice-Maschine am Werk, deren Funktion es ist, analytische und hermeneutische Verfahren sowie affektive Modi in der Schwebe und dadurch am Laufen zu halten, ohne sie jemals zur Ruhe kommen zu lassen. Dadurch rückt der Prozess des Lesens als Poiesis auch hier wieder selbst in den Vordergrund. Die ­Alice-Maschine verwickelt die Lesenden auf eine Weise in diesen Prozess, die sie den in der Rezeption immer wieder neu entstehenden Raum des poietischen Machens erfahren lässt. Im Anschluss an Vivian Sobchacks neophänomenologisches Konzept der Verkörperung könnte man sagen, dass das Buch üblicherweise im Prozess, in der Poiesis des Lesens als Teil des Subjekts inkorporiert wird, sodass der oder die Lesende keine Trennung zwischen Subjekt und Medium wahrnimmt.13 Die Hauptfunktion der Alice-Maschine besteht darin, dies zu verhindern und den Akt des Lesens in den Vordergrund zu rücken, ihn als solchen erfahrbar zu machen. In der ästhetischen Erfahrung erscheint eine Trennlinie zwischen Medium und Rezipient, ein Interface zwischen Buch und Leserin. Diesem Prozess ist seine eigene Metaphorizität eingeschrieben, deshalb entzieht sich das Medium, das Interface immer wieder, um in einer neuen Spielart aufzutauchen.

13Vivian

Sobchack: A Leg To Stand On: Prosthetics, Metaphor, and Materiality. In: The Prosthetic Impulse: From a Posthuman Present To A Biocultural Future. Cambridge 2006, 17–41, hier 23.

6.2  Metamorphose, Rausch und Psychedelik

191

Wenn diese Maschine durch die Populärkultur vagabundiert, so tut sie dies immer als Konstellation aus abstrakten und konkreten Figurationen. Die Anhäufung von Bildern, die sich nicht schlüssig aufeinander beziehen lassen, ist eine der wichtigsten Figurationen in der transmedialen Zirkulation der ­Alice-Maschine; aber, wie sich gezeigt hat, eine, die in der Inszenierung von Alices Poiesis des Unsinn-Lesens bereits angelegt war.

„Go ask Alice“: Jefferson Airplanes Hippie-Hymne ‚White Rabbit‘ Die Bedeutung der Alice-Romane für die Popkultur der 1960er-Jahre zeigt sich im Bekenntnis eines der grössten Stars der Zeit, nämlich John Lennons, ein Alice-Fan zu sein. Die beiden Songs Lucy in the Sky with Diamonds und I am the Walrus sind beide aus der Auseinandersetzung Lennons mit Alice entstanden, und auf dem Cover von Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band (1967) ist Carroll eine von siebzig Persönlichkeiten, denen die Beatles in ihrem Versuch, bewusstseinsverändernd auf die Welt einzuwirken, einen Einfluss auf ihr Denken und ihre Musik zuschrieben.14 1966 wurde auf BBC alice in wonderland, eine psychedelische Schwarzweiß-Adaption von Jonathan Miller, ausgestrahlt – mit Sitar-Musik ­ von Ravi Shankar, die den Rhythmus für den Einsatz von Arabesken vorgibt, angefangen beim Schriftzug des Filmtitels über die Inszenierung von Pflanzenranken bis zu Alices Haaren, die sich, im Gegensatz zu ihrer schlafwandlerisch eingefrorenen Mimik, ständig verändern. Wie bei den allermeisten Adaptionen, legt auch Miller eine Interpretation der Alice-Bücher vor, mit der die AliceMaschine ruhiggstellt wird: Alice erlebt keine Abenteuer im Wunderland, sondern schlafwandelt wie auf einem Drogentrip durch eine Welt, die als Karikatur einer rigiden viktorianischen Gesellschaft erscheint. In der Popkultur der 1960er wurde Alice zur Chiffre für Entgrenzung. So bekam der Knabberpilz der Raupe eine neue Bedeutung als psychedelischer Pilz, der das ganze Wachsen und Schrumpfen im Kopf ablaufen lässt. Die blaue Raupe, die Alice mit der Gebrauchsanweisung für den Champignon versieht – „one side will make you grow taller, and the other side will make you grow shorter“15 –, scheint sich schon bei Carroll bzw. Tenniel mit bewusstseinserweiternden Substanzen auszukennen; sie zieht selbst genüsslich an einer Wasserpfeife. Mit dem leicht abgewandelten Zitat „One pill makes you larger and one pill makes you small“16 beginnt denn auch der Alice-Song der Hippie-Kultur: White Rabbit von Grace Slick, ein psychedelischer Rocksong, mit dem die Band

14Lötscher/Tomkowiak

2014, 53. 40. 16Jefferson Airplane: White Rabbit. Surrealistic Pillow, 1967. 15AAW,

6  Alice und die Populärkultur

192

Jefferson Airplane 1967 in die Charts kam und zwei Jahre später einen legendären ­Woodstock-Auftritt haben würde.17 Seither vagabundiert das Weiße Kaninchen in musikalischer Gestalt kreuz und quer durch die Populärkultur, zieht Verbindungsfäden zwischen Filmen und Fernsehserien, die ansonsten nichts miteinander tun haben. Der Song, eingängig und intensiv sich auf eine Klimax hin steigernd wie Ravels Bolero, provoziert in seiner mimetischen, fast onomatopoetischen Rauschhaftigkeit die Produktion immer neuer filmischer Bilder. Er beginnt mit einem Marschrhythmus, der von einer arabesken Melodie umspielt wird, steigert sich dann in einem einzigen Crescendo und Accelerando auf den Höhepunkt zu, der zugleich Schlusspunkt ist: der Schlag auf den Kopf, der komatöse Schlaf, der die Ekstase auslöscht. Grace Slick röhrt: „Remember what the Dormouse said: Feed your head, feed your head!“, und der Song endet mit der letzten Silbe, Gitarre, Bass und Drums sind schon seit einigen Takten in einem minimalistischrhythmischen Ostinato erstarrt. Der Text bezieht sich konkret auf Episoden der Alice-Bücher und deutet sie nach Bedarf um. Alice wird den Zuhörern als Autorität im Bereich psychedelischer Drogentrips empfohlen: One pill makes you larger and one pill makes you small and the ones that mother gives you don’t do anything at all go ask Alice when she’s ten feet tall. And if you go chasing rabbits, and you know you’re going to fall Tell’em a hookah-smoking caterpillar has given you the call And call Alice, when she was just small When the men on the chessboard get up and tell you where to go And you’ve just had some kind of mushroom, and your mind is moving slow Go ask Alice, I think she’ll know When logic and proportion have fallen sloppy dead And the white knight is talking backward And the red queen, she’s off with her head Remember what the dormouse said Feed your head, feed your head, feed your head.18

Dass der Song in den letzten 50 Jahren so häufig in Soundtracks auftaucht, lässt sich nicht nur mit seiner Popularität und seinem ikonischen Status als Aufforderung zum Drogenkonsum begründen. Er ist insofern Teil der ­Alice-Maschine, als er alles andere als eindeutig zu verstehen ist – der Marschrhythmus, die ekstatische Steigerung scheint einen anderen Trip zu meinen, als ihn die verträumt-selbstvergessenen Klänge Ravi Shankars heraufbeschwören; gleich­ zeitig verdreht der Text die Mahnung, sich vor Drogen und anderem Unheil zu hüten, in ihr Gegenteil, nutzt aber unheimliche Bilder aus den Alice-Büchern, um

17Lötscher/Tomkowiak 18Jefferson Airplane

2014, 53. 1967.

6.2  Metamorphose, Rausch und Psychedelik

193

diese andere Welt lebendig werden zu lassen. Die Botschaft der Mahnung ist also keineswegs klar; nur, dass Alice Bescheid weiß, scheint unbestritten zu sein. Wenig überraschend kommt der Song in Filmen und TV-Serien als extradiegetische Untermalung von Drogenexzessen zum Einsatz, etwa in fear and loathing in las vegas (Terry Gilliam, USA 1998) und platoon (Oliver Stone, USA 1986). Oder, wenn sich das Leben plötzlich in einen bösen Traum verwandelt: In the game (David Fincher, USA 1997) setzt er ein, als Van Orton (Michael Douglas) sein Haus gespenstisch verwandelt vorfindet – fremde, unheimliche Räume voller Graffiti, durch eine Lichtshow in Szene gesetzt. Und Zack Snyder lässt seine Protagonistin Babydoll (Emily Browning) in sucker punch (2011) zu Emiliana Torrinis Coverversion von White Rabbit in eine Horrorvision eintauchen, in eine vom Krieg zerstörte Gothic-Landschaft aus rauchenden Ruinen. Auch in der Mystery-Serie supernatural (2005–) signalisiert White Rabbit die Gefahr, man könne durch die Begegnung mit einer Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit jederzeit den Verstand verlieren. Die Tonspur evoziert in einem vermeintlich sicheren Setting ein Gefühl von Bedrohung: Ein ungesund aussehender Jugendlicher erzählt einem Psychiater, dass er nicht nur elektrokinetische Fähigkeiten habe, sondern auch eine Stimme im Kopf, die ihm befiehlt, sie zum Töten einzusetzen; durch bloße Berührung habe er die Katze der Nachbarn gegrillt.19 Der differenzierteste Einsatz von White Rabbit findet sich in der ­HBO-Mafia-Serie the sopranos (David Chase, 1999–2007). Der Song umrahmt die siebte Folge der ersten Staffel und changiert affektpoetisch zwischen Panik und Euphorie.20 Der Song wird hier doppelt eingesetzt, was sich als Chiffre für das paradoxe Doppelleben des Mafioso lesen lässt: zuerst als eine Art Proustsche Madeleine und später als Droge mit kurzzeitig befreiender, eskapistischer Wirkung. Die Einnahme der allmorgendlichen Dosis Prozac löst bei Capo Tony Soprano die Assoziation zum Song White Rabbit aus – in seinem Kopf (und im Soundtrack) läuft die Musik von Jefferson Airplane. Was bei Tony wiederum die mémoire involontaire, einen Erinnerungsflash, auslöst – und auf der Ebene der Handlung eine Rückblende in seine Kindheit. Er erlebt noch einmal den Tag, an dem er erkannte, dass sein Vater ein Mafioso ist. Tonys pubertierender Sohn macht dieselbe Erfahrung wie sein Vater damals; er hat Probleme in der Schule, die eventuell auch mit Pillen (die Rede ist von Ritalin) zu behandeln sind. Die Frage, was aus seinem Sohn werden soll und kann, angesichts seines mafiösen Umfelds, stürzt Tony in eine schwere Krise. Am Ende der Episode ist White Rabbit noch einmal zu hören, wobei die Funktion des Songs jetzt eine ganz andere ist: Vater und Sohn brüten beide über ihren Sorgen. In der Küche treffen sie sich zu einer Instant-Party, einer Variation der Tea Party des verrückten Hutmachers: Wortlos, aber in glücklicher Vater-Sohn-Harmonie, schaufeln sie Eis und Schlagsahne in sich hinein,

19supernatural. 20Vgl.

Eric Kripke 2005–, Staffel 2/Folge 10. Lötscher/Tomkowiak 2014, 54.

194

6  Alice und die Populärkultur

zum Groove von Jefferson Airplanes White Rabbit: „Feed Your Head“ – von Prozac über Alkohol bis zum profanen Süssigkeitenrausch. Ganz ähnlich hat Eleven, eine der kindlichen Protagonistinnen und Protagonisten der Netflix-Serie stranger things (Matt und Ross Duffer, 2016–), in der Pilotfolge gerade einen kulinarischen Exzess in einem Diner hinter sich, mit Burger, Pommes und einem großen Becher Eis, als White Rabbit zum Einsatz kommt. Zu diesem Zeitpunkt sehen die Zuschauerinnen und Zuschauer das Mädchen zum ersten Mal und können aufgrund des geschorenen Schädels und des Krankenhauskittels nur ahnen, dass es aus einer psychiatrischen Anstalt geflohen ist. Im Lauf der Serie wird Elevens Geschichte aufgefaltet: In der Schwangerschaft hatte ihre Mutter an einem Experiment teilgenommen, das bewirkte, dass das Kind mit telekinetischen Fähigkeiten begabt sein würde. Alle Kinder wurden ihren Müttern weggenommen und als Versuchskaninchen in Laboratorien zur Erforschung von Waffentechnologien missbraucht – wir befinden uns 1983, mitten im Kalten Krieg. Die Kinder verfügen nur über ein rudimentäres Vokabular und haben keinen Namen; nur die eintätowierte Nummer auf ihrem Arm. Als wir Eleven in Benny’s Diner das erste Mal sehen, ist sie ausgehungert; Benny gibt ihr zu essen und versucht herauszufinden, wer sie ist, woher sie kommt und was passiert ist. Er ruft das Jugendamt an, und schon ahnen die Zuschauerinnen und Zuschauer, dass es nicht mit rechten Dingen zugeht. Nicht nur, weil ein Junge auf mysteriöse Weise verschwunden ist; von Anfang an wechselt die Serie zwischen einer Atmosphäre des Unheimlichen und der Paranoia auf der einen Seite und gemütlichen Szenen in der Familie und in der Schule. Die Szene mit Benny und Eleven wird in drei Teilen erzählt; dazwischen wird zu anderen Erzählsträngen gewechselt. Gegen Ende der Folge sitzt Eleven bei Benny in der Küche. Es ist dunkel, die Gäste scheinen alle gegangen zu sein, und Benny räumt auf. Eleven sitzt mit einem großen Becher Eis auf der Küchenablage; im Hintergrund läuft White Rabbit in der Jefferson Airplane-Version. Die Musik scheint, intradiegetisch, aus dem Radio zu kommen – man könnte sie, würde man sie und das Zitat der Eis-Orgie in the sopranos nicht erkennen, leicht ausblenden. Auch wenn die Welt rundherum vor die Hunde geht, so könnte man die Szene in der Küche der Sopranos deuten, ist für diesen einen rauschhaften Moment alles in Ordnung. Doch in stranger things hat der wohlige Rausch keine Zeit, sich auszubreiten: Es klopft an der Tür. Das „Jugendamt“ erscheint in Gestalt einer Mitarbeiterin des Labors, in dem Eleven gefangen gehalten worden war. Sobald Benny ihr den Rücken zudreht, zückt sie die Pistole und erschiesst ihn. In diesem Moment schwillt die Lautstärke der Musik an – also doch kein Küchenradio, oder eines, das ebenfalls telekinetischen Kräften unterliegt. Jefferson Airplane ist nun in der letzten Strophe angelangt; als der Schuss fällt, singt Grace Slick: „when logic and proportion have fallen sloppy dead […]“. Eleven versucht davonzulaufen, wird aber von zwei bewaffneten Männern aufgehalten. Nach einem Schnitt zurück zur Frau vom „Jugendamt“, jetzt von einer Gruppe wichtiger Herren in Anzügen umgeben, hören wir die Musik seltsam verzerrt – da, wo Slick „and the red queen, she’s off with her head“ singt – und begleitet von ersticken Schreien.

6.3  Figurationen und Konstellationen der Unruhe

195

Bei „remember what the dormouse said“ sehen wir die beiden Männer tot auf dem Boden liegen. Eleven ist verschwunden, und mit „feed your head“ endet die Szene.21 Wie ich am Beispiel des Asterisken-Ornaments gezeigt habe, gibt es in den Alice-Büchern abstraktere, teilweise offensiv an der Oberfläche ausgestellte Figurationen, die bisher wenig analytisches Echo hervorgerufen haben, aber dennoch präsent sind und in der Populärkultur zirkulieren; durch Wiederholung und Variation werden sie in der ästhetischen Erfahrung aktualisiert. Ein Beispiel dafür sind die Spuren, die das vagabundierende weiße Kaninchen in Gestalt von White Rabbit hinterlässt. Es geht bei den erwähnten Szenen nicht um eine Auseinandersetzung mit Drogen. Um sie zu verstehen, ja überhaupt wirklich zu sehen, braucht es vielmehr einen oberflächlichen Blick: eine Aufmerksamkeit für die Formen, Texturen und Bewegungen der Oberfläche. Im disjunktiven Zusammenspiel von Musik und bewegten Bildern tritt die Wirklichkeit für einen rauschhaften – oder vielleicht gerade nüchternen – Moment aus sich selbst heraus; es öffnen sich keine Türen oder Spiegel zu einer anderen Welt, sondern es zeigt sich die Abgründigkeit der einen Welt, die wir zu kennen glauben. Das Verstörende in the sopranos ist die absolute Unvereinbarkeit der Liebe, die Tony Soprano für seine Familie und, vielleicht noch stärker, für Tiere hegt, mit den brutalen Regeln seines Geschäfts; in stranger things berührt das Neben- und Ineinander einer Gemeinschaft, die solidarisch zusammenhält, und eines menschenverachtenden Überwachungssystems den Rand des kollektiven Wahnsinns.

6.3 Figurationen und Konstellationen der Unruhe Das unentschiedende beziehungsweise sehr entschiedene Schwanken zwischen widersprüchlichen Polen; Kippfiguren, die sich zu Erfahrungsräumen weiten; die bis zum Mise en abîme gesteigerte Doppelung, Spiegelung, Vervielfältigung; das Als-ob, das sich zu einer Poiesis des Unsinn-Lesens auffaltet und dabei den Zwischenraum zwischen alltäglicher und medialer Erfahrung zu einem Erfahrungsraum macht, der wiederum nur im Modus des Als-ob erlebt werden kann; die Tendenz zu Ornamenten und Assemblagen, die das Objekt an sich unsinnig und verspielt überschreiben, sodass es sich wiederum verdoppelt und vervielfacht erfahren lässt — Hier gehört ein Geviertstrich hin, eins der typografischen Elemente, die Carroll so gerne verwendet in seinen Alice-Büchern. Denn mit der Aufzählung der Figurationen, die ich bei der Analyse der Alice-Bücher herauspräpariert habe, ist noch nicht sehr viel über die Alice-Maschine gesagt. Nicht nur, weil die Figurationen äusserst heterogen sind, teilweise auf unterschiedlichen Ebenen

21stranger things,

Staffel 1/Folge 1, 00:39:00–00:40:27.

6  Alice und die Populärkultur

196

wirksam sind oder sich sogar ausschließen, sondern weil sie immer in eine Form des Zusammenwirkens verstrickt sind, die wiederum nur im Prozess der Rezeption zu begreifen und zu beschreiben ist. Deshalb waren auch heterogene theoretische Ansätze notwendig, um eine – durchaus spekulative – Annäherung an die ­Alice-Maschine zu beschreiben: von Theorien des Unsinns und der Materialität bis hin zu neomaterialistischen Ansätzen, welche Assemblagen in den Fokus rücken; Angehrns negativistische Hermeneutik, Kappelhoffs Genretheorie und, damit verbunden, seine Theorie einer Poiesis des Medienkonsums. Die Eigenheit der Alice-Maschine, habe ich bereits in der Einleitung behauptet, bestehe darin, alles in der Schwebe zu halten und dafür zu sorgen, dass Realität als Fantasma erscheinen kann und Traum gleichzeitig als Wirklichkeit, dass die Suche nach dem Sinn hinter, unter, zwischen den Erscheinungen an die Grenze des Verstehen führt und nie zu einem Abschluss kommt. Die Alice-Maschine ist nicht dazu da, ein Produkt herzustellen, sondern um den Prozess immer neu ablaufen zu lassen. In ihrer Konstellation aus ästhetischen Figurationen ist die Alice-Maschine als eine Art übergeordneter ästhetischer und generischer Modus zu begreifen; insofern verwende ich die Maschine als Metapher. Zugleich hat das Konzept der Maschine durchaus seine buchstäbliche Seite, und zwar in der Art, wie Christine Gledhill das Melodrama als „genre-producing machine“22 bezeichnet. Dabei bezieht sie sich auf ein Konzept, das im Melodrama einen paradigmatischen Darstellungsmodus moderner Unterhaltungskunst sieht, der in der Lage ist, alles in sich aufzunehmen und sich mit diversen neu entstehenden Genres zu verbinden.23 Interessant ist vor allem Gledhills Verweis auf die Materialität populär- und alltagskultureller Artefakte und Praktiken, die ins Melodrama einfließen und dabei neue Subgenres generieren.24 Die Alice-Maschine wäre in Gledhills Sinn als ein Modus zu verstehen, der im Zusammenspiel mit unterschiedlichen Genres eine bestimmte Form

22Gledhill

2000, 227.

23Ebd. 24„[…]

visual effects and sensations are generated before and supersede the word; and actors serve the mechanical wonders and pictorial effects of mise en scène and moving scenery. The subgenres which melodrama produces cohere around any one, or combination, of these mechanical features and aesthetic effects: in England, ­ water-tanks at Sadler’s Wells give rise to acquatic and nautical melodrama, the circus ring at Astley’s to equestrian and military meldorama, Drury Lane’s status as a legitimate theatre favours domestic, romantic, and society melodrama, while on the Surreyside the ‚Bloody Vic‘ specialises in murders. Other subgenres abound, inculding gothic, society, cloak-and-dagger, cape-and-sword, sensation melodrama and, in the USA, frontier, backwoods, civil war, temperance melodrama, and so on. These melodramatic subgenres, specialising in particular materials, effects, and spectator address, compete for the loyalty of differentiated audiences, while each production site, through mixed programmig, and, in the absence of copyright laws, trough adaptation, plagiarism, and piracy, seek to maximise them. Out of this institutional context, aesthetic, cultural, and ideological features coalesce into a modality which organises the disparate sensory phenomena, experiences, and contradictions of a newly emerging secular and atomising society in visceral, affective, and morally explanatory terms.“ Ebd., 227–229.

6.3  Figurationen und Konstellationen der Unruhe

197

der medialen Selbstinszenierung und -reflexion hervorbringt und dabei das Verspielte des kinderliterarischen Ursprungstextes beibehält, beziehungsweise dessen Genuss- und Verstörungspotential in die Populärkultur für Erwachsene ausgreifen lässt. Konsequenterweise sind Kategorien des Unsinns und der Materialität in allen Figurationen der Alice-Maschine enthalten, und zwar auf eine Weise, die ihr Zusammenspiel und ihre Widersprüche ständig in einem Zustand der Unruhe hält. Der Nonsense steigert sich ins Traumhafte, Rauschhafte, Fantastische – und macht die Unverfügbarkeit der Wirklichkeit dadurch erst erfahrbar. Denn ein Punkt muss hier noch einmal betont werden, auch wenn sich die Alice-Machine gerade nicht durch eine hierarchische Organisation auszeichnet. Nämlich, dass Alice träumt. Die Feststellung mag banal klingen, wenn man bedenkt, dass die Rahmenerzählungen von Alice’s Adventures Under Ground, Alice’s Adventures in Wonderland und Through the Looking-Glass Alice ins Reich der Träume entschwinden lassen, bevor das Abenteuer beginnen kann. Doch schon die nacherzählende Formulierung verrät, dass Träumen in der Literatur keineswegs gleichzusetzen ist mit nächtlichem Traumerleben im Bett. Jan Švankmajers Alenka weiß, dass es beim Träumen in der Literatur oder im Film darum geht, einen Raum für die kindliche beziehungsweise künstlerische Einbildungskraft zu schaffen, wenn sie sagt: „Ihr müsst die Augen schließen, sonst werdet ihr nichts sehen“.25 Ausserdem wird die Behauptung des Erzählers der Alice-Bücher, wir hätten es zu Beginn der Romane jeweils mit einem wegdösenden Kind zu tun, durch die vitale Präsenz und die konfliktfreudige Schlagfertigkeit der in jeder Hinsicht hellwachen Wunderland-Besucherin konterkariert. Der Traumzustand ist ein literarischer Kniff, der dazu da ist, ein episodisches, einer assoziativen, sprunghaften Logik folgendes Erzählen zu legitimieren. Die eigentliche Traum-Figuration in den Alice-Büchern ist die Metamorphose. Das unablässige Wachsen und Schrumpfen der Protagonistin, die fremde Stimme, die aus ihrem Mund verdrehte Gedichtzeilen aufsagt, die Produktivität der Sprache im Sinne der Liedzeile von Tom Waits: „Everything you can think of is true“. Die Traumlogik orientiert sich eher an den Regeln eines Spiels denn an jenen der narrativen Kohärenz.26 Die träumerische Metamorphose als Figuration verbindet sich mit der Poiesis des Unsinn-Lesens, indem die Traumlogik einen Raum des Alb-Ob eröffnet, in dem das poietische Machen im Prozess der Medienrezeption zugleich stattfinden und medial inszeniert werden kann. Alles ist real, und alles ist nur ein Traum, ebenso wie die verkörperte ästhetische Erfahrung uns im Modus des Als-ob real erleben lässt, was nur eine literarische beziehungsweise mediale Inszenierung ist. In dieser Figuration des Mise en abîme bündelt und organisiert die Alice-Maschine ihre Elemente – mit dem Resultat, dass das Flirren über dem medialen Abgrund im vervielfältigten Als-Ob erfahrbar wird.

25nečo z alenky,

00:02:11. Poetik des Spiels in den Alice-Büchern vgl. Virginie Iché: L’esthétique du jeu dans les Alice de Lewis Carroll. Paris 2015, sowie Zirker 2010. 26Zur

198

6  Alice und die Populärkultur

Das Wirken der Alice-Maschine in ihrer poietischen Dynamik lässt sich allerdings nur an konkreten Beispielen begreifen. Deshalb sind die nächsten beiden Kapitel einer Reihe von filmanalytischen Skizzen zu audiovisuellen Medien seit den 1960er-Jahren gewidmet.

Kapitel 7

Oberfläche als Medium der Wahrnehmung: Die Alice-Maschine im populären Kino der 1960er und 1970er-Jahre

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts interessierten sich vor allem die Avantgarden für die ästhetischen Aspekte der Alice-Bücher. Die Alice-Maschine mit ihrem Potential zur Unruhe und ihren disjunktiven Affektpoetiken nahm in der Populärkultur erst so richtig Fahrt auf, als diese, um 1968 herum, zu einem globalen Phänomen wurde. Dabei verband sie sich mit bestimmten Genres und generischen Modi, zu denen, meist über Nonsense und Materialität, Affinitäten bestanden. Im letzten Teil dieser Studie, die der Alice-Maschine der Populärkultur seit den 1960er-Jahren gewidmet ist, möchte ich diese Schauplätze des Zusammenspiels im Kino und in TV-Serien in den Blick nehmen. Dabei fällt auf, dass die Alice-Maschine zwar nicht gerade in Blockbustern zum Einsatz kommt, aber doch in populären Formaten mit Kultpotential und einem Hang zum Schrägen. In den 1960er- und 1970er-Jahren findet man sie im B-Kino, in den 2010er-Jahren in sogenannten Quality TVSerien. Die Bereiche, in denen die Alice-Maschine am Werk ist, sind in den Grenzzonen des Horror-Genres im weitesten Sinne angesiedelt und lassen sich grob unter den Kategorien des Psychedelischen, der Exploitation und des New Weird fassen – wobei Modi wie Suspense und Paranoia immer schon hineinspielen. In jüngster Zeit hat sich die Alice-Maschine außerdem ein neues Feld erobert: posthumanistische Ausdrucksformen im Spannungsfeld zwischen Science Fiction und Horror. Im Ausblick ganz am Ende werden mit der Zombie-Alice aus the girl with all the gifts (Colm McCarthy, GB 2016) noch einmal neue Fragen aufgeworfen.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lötscher, Die Alice-Maschine, Studien zu Kinder- und Jugendliteratur und -medien 6, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05707-5_7

199

200

7  Oberfläche als Medium der Wahrnehmung

7.1 The man with kaleidoscope eyes: Roger Cormans the trip (USA 1967) Obwohl ich immer wieder betont habe, dass sich die Produktivität der ­Alice-Maschine gerade nicht an klassischen literaturwissenschaftlichen Kategorien und Entitäten wie Motiven oder Figuren festmachen lässt, muss ich festhalten, dass die Poiesis des Unsinn-Lesens immer eine Figur braucht, die sich einer unvertrauten, potentiell verstörenden Zone aussetzt. Dort kommt sie mit ihrem Wissen, ihrer Sprache nicht weiter, dort wird ihr der Boden unter den Füssen weggezogen, dort erfährt sie die Lust am Nicht-Verstehen und die Angst vor dem Verrücktwerden als ein untrennbares Gewirr von Gefühlen. Häufig geht die Poiesis des Unsinn-Lesens von einer jungen weiblichen Figur aus, einer ebenso neugierigen und klugen wie naiven Alice−Variation. Doch es gibt Ausnahmen. Eine davon ist der zwar noch junge, aber doch schon etwas abgebrühte und vom Leben gebeutelte Werbefilmer Paul Groves (Peter Fonda) in Roger Cormans LSD-Film the trip. Er begibt sich, wie der Filmtitel verspricht, auf einen Drogentrip, wirft eine LSD-Pille ein, erfährt seine Hallzinationen ebenso wie die Begegnungen mit Menschen ausserhalb seines Kopfes als eine Reihe von bizarren Episoden – alles wird ihm zum psychedelischen Wunderland. Wenn es stimmt, dass die Alice-Maschine ihr Potential in jedem Transmissionsprozess auf eine andere Weise ausschöpft, dann treibt Cormans Film das Zusammenschiessen von Traum- und Alltagswelt, von Spiel, Als-ob und Wirklichkeit auf die Spitze. Dabei steigert sich das Hin- und Her zwischen unvereinbaren, disjunktiven Elementen zu einem flackernden medialen Zwischenraum, der schließlich zum einzigen möglichen Raum wird. Man könnte das Hin- und Herflackern zwischen Rausch und Realität, zwischen Innenwelt und Aussenwelt am Ende des Films so interpretieren, dass Groves nicht mehr von seinem Trip herunterkommt – oder aber, dass die Drogenerfahrung seine Wahrnehmung absolut verändert. Mit dem Resultat, dass ihm die Wirklichkeit fortan in einer viel höheren Komplexität begegnet. Wie bei den Alice-Büchern behauptet der Paratext das eine, die materielle Poetik des Films dagegen etwas ganz anderes. Die „Handlung“ des Films lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Der Werbefilmer Paul Groves, ansässig im peace−and−love-bewegten Kalifornien der 1960er-Jahre, probiert zum ersten Mal LSD aus und erlebt einen psychedelischen Trip, der ihn mal sanft und verführerisch, mal mit roher Gewalt, ins Reich seiner tiefsten Ängste und innersten Wünsche katapultiert. Zu beschreiben, was in den 78 min, die der Film dauert, im Einzelnen passiert, erweist sich dagegen als echte Herausforderung, weil sich Cormans Inszenierung nicht nur gegen eine Nacherzählung, sondern bei näherer Betrachtung auch gegen jede psychologische Deutung sperrt. Hier, ebenso wie bei der episodischen Struktur, werden erste Bezüge zu den Alice-Büchern sichtbar. Die Zuschauerinnen und Zuschauer wissen nicht einmal genau, was sie da sehen und hören, obwohl – oder vielleicht gerade

7.1  The man with kaleidoscope eyes: Roger Cormans the trip (USA 1967)

201

weil – sie der Film strenggenommen gar nicht auf einen psychedelischen Trip mitnimmt – genauso wenig wie Alice einen Traum träumt.1 Traum und Psychedelik erlauben es sowohl den Alice-Büchern als auch dem Film vielmehr, einer assoziativen, aus der Materialität der Sprache beziehungsweise der audiovisuellen Bilder hervorgehenden ästhetischen Logik zu folgen. Insofern funktioniert the trip wie eine Versuchsanordnung, die dem Publikum die Rolle des Beobachters zuweist, die es ohnehin schon hat oder zu haben glaubt. Zu diesem Zweck installiert der Film sozusagen zwei Kameraperspektiven, um die wechselnden Phasen von Groves’ Rauschzustand so umfassend wie möglich einzufangen. Die eine Perspektive zeigt den Protagonisten von aussen; wie er sich entspannt, wie sich immer wieder ein glückliches, fast kindlich-unschuldiges Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitet, wie er in zugedröhntem Zustand durch Los Angeles stolpert und lauter Unerhörtes erlebt; aber auch, wie er in Panik aus der intensiven Bilderflut in seinem Kopf auszubrechen versucht, sich die Kleider vom Leib reisst, vor dem Spiegel irre zu werden droht, weil ihm dort erneut die Bilder begegnen, die sein von Substanzen vorübergehend umorganisiertes Gehirn zu produzieren scheint. Die zweite Kameraperspektive wiederum widmet sich ganz dieser exzessiven Produktion von Bildern. Sie ist in Groves’ Kopf installiert und lässt die Zuschauerinnen und Zuschauer an den Räumen und Landschaften teilhaben, durch die er sich auf LSD bewegt. Oder, um genau zu sein: an audiovisuell rhythmisierten Bildern von Landschaften und Räumen, von Sex- und Horrorfantasien, die wir allesamt kennen, aus eigener Erfahrung. Nicht aufgrund eigenen Drogenkonsums, sondern aufgrund von medialen, ästhetischen Erfahrungen mit Kino- und Fernsehfilmen. Denn so viel die Alice-Bücher von der ästhetischen Praxis und Erfahrung des Lesens erzählen, ist the trip ein Film über die Produktion und den Konsum medialer Bilder – und über die Gestaltungsräume, die sie eröffnen oder verschließen. Man könnte auch sagen: ein Film über die Poiesis des Filme-Sehens und ihre Paradoxien. Die Alice−Maschine erlaubt es zu verstehen, dass die Innen- und die Aussenperspektive in der Montage letztlich auf ein- und derselben Ebene liegt, weil sich sowohl die Rauschbilder als auch die Bilder eines Berauschten jeweils auf andere filmische Bilder, auf bekannte filmische Erfahrungsmodi beziehen. Und dies bis in die Einzelheiten ihrer Materialität, was Farbe, Gesten und Musik betrifft. So, wie Nonsense nur in Relation zu einer Idee sinnhaften Redens unsinnig sein kann, braucht der über den Traum als tertium comparationis dem Nonsense verwandte Modus des Psychedelischen den Bezugspunkt einer nüchternen, das heisst bekannten Genremodalitäten entsprechenden Filmsprache, um überhaupt als rauschhaft erfahrbar zu sein. In den Alice-Büchern sorgt die Stimme des Erzählers mit Kommentaren wie „poor Alice!“ oder durch Ansprache der Leserinnen und

1Vgl.

Christine Lötscher: „You’re really into some beautiful stuff, man”: Roger Cormans the trip (1967). In: Martin Poltrum, Bernd Rieken (Hg.): Trinker, Junkies, Kokser, Kiffer, Spieler, Sexsüchtige. Rausch, Ekstase und Sucht in Film und Serie. Berlin 2019, 191–202.

202

7  Oberfläche als Medium der Wahrnehmung

Leser für das Gefühl, an einer zuverlässigen, nüchternen Hand durch die seltsamsten Situationen geführt zu werden. Auch Alice selbst beruft sich mit ihren „Nonsense!“-Ausrufen gern auf die eigene Vernunft – was sie aber keineswegs daran hindert, sich auf die verrücktesten Dialoge und Spiele mit den Kreaturen des Wunder- und Spiegellands einzulassen. Wie Alice begibt sich auch Paul Groves als Leser beziehungsweise als Zuschauer auf seinen Trip. Die Poiesis des ­Unsinn-Lesens im psychedelischen Modus besteht darin, dass sowohl Alice als auch Paul sich immer bewusst sind, dass sie in einer anderen Zone unterwegs sind, dass aber dieselben Erfahrungen, die sie – einigermassen nüchtern – kommentieren können, sie auf eine unkontrollierbare Weise verändern. Das Subjekt der Poiesis bleibt ein Subjekt – aber ein verwandeltes. Das Psychedelische als ästhetisches Prinzip von the trip erlaubt es, sowohl eine utopische Dimension zu berühren – in welche Sphären menschlichen Glücks können uns mediale Bilder (ent)führen? – und zugleich ­antiutopisch-medienkritische Fragen aufzuwerfen; im klaustrophobischen Gefühl, dass es ausser medialen Bildern nichts gibt, keinen festen Boden. Paul Groves fungiert als eine Art psychedelisches Mischpult; qua LSD, aber auch qua seiner Arbeit als Werbefilmer, die ihn bestens für diese Rolle vorbereitet. the trip ist ein Film, in dem sich zwei Spielarten der Sehnsucht und der entsprechenden Desillusionierung überlagern und ineinander verschlingen: die Sehnsucht nach neuen, nach alternativen Bildern in einer erweiterten Realität – und die Sehnsucht nach einem anderen, intensiveren Leben. Das psychedelische Kaleidoskop im Kopf des Protagonisten kombiniert lauter Szenen, die aus dem Genrekino bekannt sind, während das wilde Partyleben in Los Angeles nach einem ähnlichen Prinzip inszeniert scheint, setzt es sich doch aus Werbebildern zusammen, die den Konsum als Rausch ohne Ende feiern. Der Ausbruchsversuch wirft Paul, vor allem aber die Zuschauerinnen und Zuschauer, auf das zurück, was im (Medien)Alltag präsent ist bis zur Unsichtbarkeit. Das klingt nun in der Tat nach radikaler Medien- und Konsumkritik. Was the trip zu einer schillernden, verstörenden Kinoerfahrung macht, ist jedoch die fast kindliche Energie des Protagonisten Paul, die ihn immer weiter und weiter vorantreibt. Diese Alice-Energie kristallisiert sich in den unschuldig leuchtenden blauen Augen Peter Fondas, die ihrerseits wie Kameras ins Bild gerückt werden, die uns eine andere Welt sehen lassen könnten – „the man with caleidoscope eyes“, könnte man ihn in Anlehnung an den ebenfalls 1967 (auf dem Album Sergeant Pepper’s Lonely Hearts Club Band) veröffentlichten Beatles-Song Lucy In The Sky With Diamonds nennen. Interessant ist übrigens die produktionsästhetische Verbindung des als LSD-Song rezipierten Lieds mit Carolls Alice: In einem Interview mit Playboy betonte John Lennon, dass es in Lucy In The Sky With Diamonds überhaupt nicht um einen LSD-Trip gehen sollte; vielmehr seien es die (in den ­ 1960er-Jahren wohl schon hinreichend psychedelisch wirkenden) TennielIllustrationen aus Through the Looking−Glass and What Alice Found There gewesen, die ihn zum Schreiben des Songs inspiriert haben. Im Mittelpunkt steht die Metamorphose:

7.1  The man with kaleidoscope eyes: Roger Cormans the trip (USA 1967)

203

The images were from Alice In Wonderland. It was Alice in the boat. She is buying an egg and it turns into Humpty-Dumpty. The woman serving in the shop turns into a sheep, and the next minute they are rowing in a rowing boat somewhere and I was visualising that. There was also the image of the female who would someday come save me – a ‚girl with kaleidoscope eyes’ who would come out of the sky. It turned out to be Yoko, though I hadn't met Yoko yet. So maybe it should be Yoko In The Sky With Diamonds.[…] It was purely unconscious that it came out to be LSD. Until somebody pointed it out, I never even thought of it. I mean, who would ever bother to look at initials of a title? It's not an acid song. The imagery was Alice in the boat.2

Recherche auf Drogen und der Traum vom absoluten Film Es scheint im Klima der Zeit naheliegend gewesen zu sein, Alices Abenteuer in die Nähe psychedelischer Erfahrung oder zumindest psychedelischer Ästhetik zu rücken. John Lennons Alice-Inspiration ist ein Beleg dafür, ebenso wie Jonathan Millers Alice-Adaption, die 1966 im BBC ausgestrahlt wurde und den Traum des viktorianischen Mädchens als psychedelischen Trip inszeniert, mit Sitar-Klängen von Ravi Shankar.3 Als König des B-Kinos, der schnell heruntergekurbelten Schockstreifen,4 hatte Roger Corman (1926 geboren) als Regisseur und Produzent seine Nase im Wind und witterte, welche Stoffe Kultpotential haben könnten. Eine kleine Auswahl an Filmtiteln vermittelt einen guten Eindruck von Cormans kinematographischem Flair: attack of the crab monsters (1957), the viking woman and the sea serpent (1959), s ­ he-gods from shark reef (1958), the brain eaters (1958), a bucket of blood (1959), queen of blood (1966), slumber party massacre (1982). Niemand in Hollywood, heisst es, könne auf eine vergleichbare Karriere als Legende des Show Business zurückschauen. Das gilt sowohl für die Langlebigkeit von Cormans Erfolg als auch für die Breite des Spektrums von Filmen, die er produzierte und bei denen er Regie führte. Als Regisseur zeichnet Corman, zwischen 1954 und heute, für fünfzig Low-Budget-Filme verantwortlich; produziert hat er etwa zehnmal so viele.5 Mit seinen Edgar Allan Poe-Adaptionen aus den ­1960er-Jahren – u. a. the fall of the house of usher (1960), pit and the pendulum (1961), the masque of the red death (1964) – prägte er eine ganze Generation von Horrorfans, und kurz darauf gelang es ihm, den rebellischen Geist der Studentenbewegung aufzunehmen. Immer wieder habe er Wege gefunden, „to blend action, sex, humor and message into hip entertainments“.6 Dabei legte er 2Zit. nach Catherine Nichols: Alice’s Wonderland. A Visual Journey Through Lewis Carroll’s Mad, Mad World. New York 2014, 147–148. 3alice in wonderland. Regie: Jonathan Miller, GB 1966. 4vgl. John Hiscock: Roger Corman is still prolific at the age of 87. In: The Telegraph, 19.9.2013. https://www.telegraph.co.uk/culture/film/film-news/10318784/Roger-Corman-is-still-prolific-atage-of-87.html (27.04.2020). 5Beverly Gray: Blood-Sucking Vampires, Flesh-Eating Cockroaches and Driller Killers. Roger Corman. An Unauthorized Life. New York: Thunder’s Mouth Press 2000, XIII. 6Gray 2000, XIII.

204

7  Oberfläche als Medium der Wahrnehmung

auch durchaus ambitionierte Filme vor, die in der Filmwissenschaft entsprechend gewürdigt werden.7 the wild angels (USA 1966) sorgte dann für eine neue Nuance von Cormans Ruf, nämlich ein radikaler Regisseur zu sein – und prägte ein neues Genre, den Biker-Film, der mit easy rider (Dennis Hopper, USA 1969) Kult werden würde. Corman allerdings machte sich in seinem nächsten Projekt, eben the trip, zusammen mit Peter Fonda auf, die Drogenkultur zu erkunden. Und zwar ohne Kompromisse – wobei das Originaldrehbuch von Chuck Griffith, einem leidenschaftlichen Anhänger halluzinogener Drogen, insbesondere von LSD, ihm dann aber doch zu extrem war.8 Der Schauspieler Mel Welles erinnert sich, wie Cormans Biographin Beverley Gray berichtet, dass Corman letztlich nicht die Nerven hatte, das Drehbuch in seiner ganzen Radikalität zu realisieren. So bekam Jack Nicholson – der erst in den 1970er-Jahren als Schauspieler Weltruhm erlangen würde – den Auftrag, eine neue Version zu schreiben, die dann tatsächlich zur Grundlage für the trip wurde.9 Gray erzählt, dass Peter Fonda darauf bestanden habe, den „fundamentally straitlaced“, wenn nicht gar puritanischen Corman dazu zu bringen, selbst LSD zu nehmen, „as a way of proving his connection to the material“:10 In his usual methodic way, Roger researched LSD, and then arranged to sample himself. On July 19, 1967, at a New York press conference covered by Weekly Variety, he claimed his experiment with acid had taken place under strict medial supervision, with a stenographer on hand to record the episode.11

Corman erlebte seinen eigenen Trip – und das ist auch der Grund, warum hier so ausführlich auf die Produktionszusammenhänge eingegangen wird – als Vision des idealen Films. In einem Interview berichtet er von seiner Drogenerfahrung: While I was lying on the ground it occured to me that the way to create was to spread yourself out against the ground so as much of your body touched it as possible. Then you could create the piece of art in your mind, and anybody who wanted to partake of that art could lie against the earth anyplace else and the image would form in their mind; this would be a pure art form, simply from the mind of the creator to the mind of the spectator-participant, and there could be one or one hundred million spectator-participants who took part in the creation and the experience of art. I felt it was a pretty good idea. I didn’t know exactly how to do it.12

Auf seinem LSD-Trip träumt Corman von einem Kunstwerk ohne Medium, nur mit der Erdoberfläche als Transmissionsriemen. Was bei the trip tatsächlich herausgekommen ist, hat nicht mehr viel mit diesem Traum zu tun. Und doch ist

7Vgl.

Paweł Aleksandrowicz: The Cinematography of Roger Corman. Exploitation Filmmaker or Auteur? Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars Publishing 2016, 3. 8Gray 2000, 87. 9Ebd. 10Ebd. 11Ebd. 12J. Philip di Franco: The Movie World of Roger Corman. New York/London 1979, 48–49.

7.1  The man with kaleidoscope eyes: Roger Cormans the trip (USA 1967)

205

der Film gerade in seiner Inszenierung von medialer Mittelbarkeit ein Film über den Konsum von Bildern.

„A shocking commentary“ Zunächst tut the trip aber so, als wolle er die Zuschauerinnen und Zuschauer mit didaktischem Gestus an der Hand nehmen und mit den Mitteln des Unterhaltungskinos über die Gefahren halluzinogener Drogen informieren. Denn bevor Paul Groves’ Trip beginnt, wird ausführlich gewarnt, in dicken weißen Buchstaben vor schwarzem Hintergrund. Das, was es zu lesen gibt, wird gleichzeitig von einer sonoren Männerstimme aus dem Off vorgetragen, die keinen Spass zu verstehen scheint. Die Warnung lautet wie folgt: You are about to be involved in a most unusual motion picture experience. It deals fictionally with the hallucinogenic drug, LSD. Today, the extensive black-market production of this and other “mind-bending” chemicals, is of great concern to medial and civil authorities. The illegal manufacture and distribution of these drugs is dangerous and can have fatal consequences. Many have been hospitalised as a result. This picture represents a shocking commentary on a prevalent trend of our time, and one that must be of great concern to all.13

Dieses Caveat hatte der Regisseur nicht vorgesehen, ebenso wenig wie die Einblendung eines gesprungenen Spiegels am Ende des Films. Es war eine Massnahme der Produzenten: Die Produktionsfirma AIP hatte entschieden, dem gewagten Streifen einen moralisch unzweifelhaften Rahmen zu geben. In den Augen Cormans hatte sie ihn damit zerstört.14 Der Regisseur hätte sich aber keine Sorgen zu machen brauchen. Denn der didaktische Prolog trägt im Gesamtkontext eher zur Steigerung der Zuschauerirritation bei als zu deren Beruhigung. Schon der Übergang zur ersten Szene – einem Film im Film, wie sich herausstellen wird – verleiht der Warnung einen ironischen Beigeschmack. Wir sehen, wie sich ein Hochzeitspaar – schwarzer Smoking, weißes, glänzendes Kleid – vor einer blauen Himmelskulisse küsst. Verträumt wendet sich die Braut von ihrem Liebsten ab und der Kamera zu und sagt: „Anything is possible when you use April in Paris perfume“. Dann greift sie wieder nach dem Mann, und die beiden küssen sich innig weiter. Die Kamera fährt zurück, und man sieht, dass sie im seichten Wasser stehen.15 Da geschieht die erste psychedelische Bewegung in the trip: Die Kamera, die offensichtlich einen Werbespot aufnimmt, macht einen schwindelerregenden Schwenk nach rechts und einen Hügel hinauf, bleibt schließlich auf dem Filmteam stehen: zwei Männer hinter der Kamera, einer davor, mit Funkgerät in der Hand. Er muss der Regisseur sein. Was wir gerade gesehen haben, ist in Wirklichkeit nicht der Spot, den die drei aufgenommen haben, sondern die

13the trip,

00:00:00–00:00:50. Franco 1979, 50. 15the trip, 00:01:00–00:01:18. 14di

7  Oberfläche als Medium der Wahrnehmung

206

Bilder, die eine weitere Kamera produziert – eine, die imstande ist, verschiedene Ebenen zu einer Figuration des Mise en abîme zu verbinden; den Film mit dem Film im Film. Der Take sei gelungen, beschließt Regisseur Groves. Er geht einer Frau entgegen, die in ihrem grell−pinken Hosenanzug seltsam hervorsticht aus der sandgrauen Strandlandschaft, und bildet mit ihr ein zweites, kontrastierendes Paar. Der Dialog informiert uns darüber, dass Paul und seine Frau Sally (Susan Strasberg) sich scheiden lassen; er hat gerade einen Termin beim Anwalt verpasst. Sally macht ihm Vorwürfe, er entschuldigt sich; sie schauen sich an, als liebten sie sich noch, und nach einem Moment des verlegenen Schweigens wiederholt sich die Werbeszene auf eine melancholische Weise, die Heillosigkeit der Liebe inszenierend: Sally zieht Paul zu sich heran und küsst ihn. Als sie geht, schaut er ihr hinterher wie ein geschlagener Hund. Ob April in Paris Perfume hier noch helfen könnte? Damit wieder alles möglich wird, braucht es schon härtere Substanzen. Ein Werbefilmer, der sich von seiner hübschen Frau scheiden lässt: Das ist alles, was man über Paul und sein Leben erfährt. Ein Mann in der Krise, ganz klar. Woran seine Ehe gescheitert ist, ob ihn die Arbeit als Werbefilmer erfüllt oder ob er vielleicht davon träumt, Spielfilme zu drehen, ob er möglicherweise sogar die Sehnsucht nach einer buchstäblich un-mittelbar geteilten ästhetischen Erfahrung ohne mediales Dispositiv kennt, die Cormans eigener LSD-Trip beim Regisseur geweckt hat – darüber können wir nur spekulieren. In diesem Moment könnte Paul mit seinen drückenden Erwachsenenproblemen kaum weiter von Alices kindlicher Offenheit und ernsthafter Spielfreude entfernt sein. Doch in der Art, wie sich die Liebesträume des Werbefernsehens im Schmerz realer Beziehungen spiegeln, ist die Möglichkeit angelegt, sich dem Spiegellabyrinth und seiner Logik von medialer Wiederholung und Variation zu überlassen. Hier zeigt sich ein erstes Mal die Arbeit der Alice-Maschine. In den nächsten Szenen faltet sich L. A. als Party- und Freizeit-Paradies auf. Paul trifft John, und die beiden eilen, seltsam gegenläufig zur entspannten ­60er-Jahre-Musik, zu einem Termin – in einem ganz im Hippie-Stil eingerichteten Haus. Junge Leute sitzen im Kreis; während Musik im Stil von Ravi Shankar läuft, macht ein Joint die Runde. Sie finden alles „groovy“, und die Kamera lässt sich anstecken, sie dreht und dreht sich im Kreis. Der schon leicht bekiffte Paul begegnet einer blonden Frau (Salli Sachse), die – genau wie die Zuschauer – wissen will, was ihn zum LSD-Ausprobieren bewogen hat. „Insight“, antwortet er, „I really think that, um… I’ll find out something about myself.“16

Ein Therapie-Setting läuft aus dem Ruder So wenig wir über Pauls Probleme erfahren, so klar ist es doch, dass sein Trip professionell angegangen wird, wie eine therapeutische Massnahme. Dafür sorgen 16Ebd.,

00:07:09.

7.1  The man with kaleidoscope eyes: Roger Cormans the trip (USA 1967)

207

Pauls Freunde John und Max, gespielt von Bruce Dern und Dennis Hopper; sie haben Erfahrung mit LSD; als Betreiber einer Art bunt bemalter und mit viel Firlefanz ausgestatteter Drogenhöhle organisieren sie ein sicheres Setting für den Trip. Nicht nur um der Kundenzufriedenheit willen, wie wir später erfahren, sondern auch, um Konflikte mit der Polizei zu vermeiden. Ihr sehr geschäftsmässiges Verhalten lässt bald einmal den Verdacht aufkommen, dass es ihnen mindestens so sehr um die lukrative Einnahmequelle wie um die Weltanschauung geht. Bevor es losgeht, geben sie Paul gute Ratschläge und erklären, was er tun und was er lassen soll; sich hinlegen, sich entspannen, eine Maske über die Augen ziehen – beinahe so didaktisch wie die Warnung zu Beginn des Films an die Zuschauerinnen und Zuschauer. Sobald Paul die Maske aufsetzt, wechselt die Kamera in seinen Kopf. Alles wird schwarz, bis sich langsam Farbmuster aus der Dunkelheit zu lösen beginnen: Es ist, als führe die Kamera in einen Kosmos aus ständig die Farbe wechselnden Kaleidoskopen hinein; gebrochene Sterne blitzen auf, Punkte, Streifen, Ornamente. Zwischen den fließenden Mustern flackern Strandbilder auf. Die audiovisuelle Gestaltung erscheint wie ein Äquivalent zum Nonsense, in dem sich die Materialität des Mediums selbstständig zu machen sucht. Gleichzeitig entspricht die Umsetzung von Pauls psychedelischen Visionen ziemlich genau dem, was der LSD-Erfinder Albert Hofmann von seinen Selbstversuchen mit der Droge berichtet: Kaleidoskopartig sich verändernd, drangen bunte, fantastische Gebilde auf mich ein, in Kreisen und Spiralen sich öffnend und wieder schließend, in Farbfontänen zersprühend, sich neu ordnend und kreuzend, in ständigem Fluß. Besonders merkwürdig war, wie alle akustischen Wahrnehmungen, etwa das Geräusch einer Türklinke oder eines vorbeifahrenden Autos, sich in optische Empfindungen verwandelten. Jeder Laut erzeugte ein in Form und Farbe entsprechendes, lebendig wechselndes Bild.17

Die Sequenz dauert nur kurz – dann scheint Paul tiefer in den halluzinogenen Rausch einzutreten. Was die Zuschauerinnen und Zuschauer nun sehen, ist wiederum ein Film im Film: Paul klettert auf einen Fels, wo ihn Glenn, die hübsche Blondine, schon erwartet; die Serie von Paaren scheint sich auch auf der anderen Seite der Wirklichkeit fortzusetzen. Genau wie der literarische Nonsense über den formalen Rahmen verfügt, um alles aufnehmen und in sein Spiel einzubauen, so kann der Film in Pauls delirierendem Kopf auf scheinbar unendliche kombinatorische Optionen zurückgreifen. Wenn man den psychedelischen Modus als audiovisuelle Spielart des Carollschen Nonsense betrachtet, wird deutlich, wie sehr der sogenannte Unsinn seine Ordnung anhand der materiellen Dynamik von Klang und Farbe, Geste und Rhythmus entwickelt. Dann wechselt die Kamera wieder zur Aussenperspektive. Wenn die Wände nicht bunt bemalt wären und mit Lametta verziert, könnte man die Szene leicht mit einer Therapiesitzung verwechseln: Paul setzt sich auf seiner Couch auf und

17Albert

33–34.

Hofmann: LSD – mein Sorgenkind. Die Entdeckung einer Wunderdroge. Stuttgart 2010,

208

7  Oberfläche als Medium der Wahrnehmung

liefert John, der sich ganz in Analytikerpose geworfen hat, einen ersten Zwischenbericht. „I feel like everything’s alive; whole…whole energy levels and fields… flowing.“ Und John kommentiert: „You’re really into some beautiful stuff, man. Just let it run on“.18 Das erinnert nun stark an Alices Beschreibung ihrer Erfahrung von Nonsense nach der Lektüre des „Jabberwocky“: „‚It seems very pretty,‘ she said, when she had finished it, ‚but it’s rather hard to understand! […] Somehow it seems to fill my head with ideas – only I don’t exactly know what they are!‘“.19 Bei Paul zieht sich das Hin- und Her zwischen Faszination und Verstörung, das Alice in einem Satz formuliert, über eine längere Sequenz hin. Zunächst begeistert er sich für das wunderschöne, vibrierende Leben einer Orange, mit der er auf den Balkon stürmt – gefolgt vom zunehmend besorgter dreinblickenden John. Der Trip, den Paul erlebt, scheint das therapeutische Setting sprengen zu wollen. Bevor es dann wirklich zum Ausbruch aus dem Therapieraum kommt, werden Pauls Halluzinationen immer intensiver. Er schläft mit seiner Frau, während Glenn nackt neben den beiden sich windenden Körpern im Bett liegt und zuschaut; danach ist sie an der Reihe. Projektionen aus bunt sich bewegenden Formen und Farben streifen über Paare, lassen sie zu einem Knäuel zusammenschmelzen, das sich verdoppelt, sich kaleidoskopisch vervielfacht, sodass die Bewegungen der Körper bald wie ein Schlangennest, bald wie ein abstraktes Spiel aus Formen und Farben erscheinen. Nach einer Schwarzblende und einem Schnitt wechselt die Kamera wieder zur Aussenansicht: Melancholisch liegt Paul am Rand des Pools, der sich im Haus befindet, und sagt: „It’s true I love her, but I don’t know what that means – for which I’m sure I’ll suffer. I don’t wanna suffer, man.“20 Die nächsten Halluzinationen wenden sich ins Bedrohliche – Paul wird von Reitern in schwarzen Kutten verfolgt, gelangt in einen Folterkeller und wird dort erhängt; wandert, unerlöst, durch endlose Dünen einer Wüste und beteiligt sich an blutigen Ritualen. Dabei arbeitet the trip mit der Figuration des Als-ob: Der Film tut so, als würde er die Erfahrung eines LSD-Trips als Zuschauererfahrung simulieren. Sogar die Warnung zu Beginn trägt ihren Teil dazu bei: „You are about to be involved…“. In Wirklichkeit verlieren die Zuschauerinnen und Zuschauer aber niemals den Boden unter den Füssen; sie wissen immer genau, wo sie sind: Entweder zeigt uns die Kamera Paul von aussen, oder aber wir sehen die inneren Bilder, die sein Gehirn halluziniert – und von denen wir wissen, dass sie filmisch inszenierte Bilder sind. Wie die kleinen Kinder, die lustvoll The Nursery Alice schütteln, um die Angst des Kaninchens besser zu spüren, ganz genau wissen, dass sie nur tun, als ob. Die Machart von Pauls Halluzinationen lässt sie nicht so sehr als Bilder der totalen Entgrenzung, sondern vielmehr als Ausdruck einer psychedelischkaleidoskopartigen Umorganisation von Bildern aus der Geschichte und

18the trip,

00:14:35–00:14:46. 116. 20the trip, 00:19:34. 19TLG,

7.1  The man with kaleidoscope eyes: Roger Cormans the trip (USA 1967)

209

Gegenwart des Kinos erscheinen: Was er erlebt, orientiert sich in der Inszenierung an wechselnden Genremodalitäten, die sich für die Zuschauerinnen und Zuschauer leicht einordnen lassen: die Sexfantasien stammen aus erotischen Filmen, und wenn Paul im Wald von schwarz verhüllten, an Tolkiens Ringgeister erinnernde Gestalten zu Pferd verfolgt wird, befinden wir uns im Fantasy-Modus. Im Keller ist es das Gothic-Genre, das die Regie übernimmt, wobei Corman sich selbst, beziehungsweise seine Poe-Adaptionen aus den 1950er-Jahren zitiert; im Verbund mit Filmen, die mit einem Hauch der Ästhetik des Marquis de Sade versehen sind – sie erinnern insbesondere an die Gothic-Inszenierungen des italienischen Regisseurs Mario Bava, der in den 1960er-Jahren zum Kultregisseur des B-Horrorkinos wurde.21 Die Bilder, egal ob die Kamera gerade innerhalb oder außerhalb von Pauls Kopf angebracht ist, lassen sich nicht zu einer stringenten, psychologisch deutbaren Geschichte verbinden, auch wenn Paul zwischendurch immer wieder versucht, John seine Erfahrungen mitzuteilen und sie in eine sprachliche und somit in eine der Deutung zugängliche Form zu bringen. Die Tatsache, dass dies nicht gelingt, sondern dass die Gefühle, die Paul auf dem Trip erlebt, zusehends auf die Gesprächssequenzen mit John übergreifen und dazu beitragen, die Trennlinie von Innen und Aussen immer mehr aufzulösen, sorgt dafür, dass Paul in Panik ausbricht;22 Todesangst ergreift ihn. In der nächsten Episode betrachtet er sich im Spiegel. Im Schuss-Gegenschuss-Verfahren zeigt die Kamera Paul von aussen und von innen; abwechslungsweise sehen wir das kindliche, leicht verstörte Gesicht und eins, das, kaleidoskopisch gebrochen und vervielfältigt, als Projektionsfläche für Farben und Formen in Bewegung ein verwegeneres, wie mit lebendiger Kriegsbemalung versehenes Ich sichtbar macht. Das innere Erleben Pauls scheint das äussere Geschehen verwandelt zu haben – aus dem therapeutischen Setting ist ein Übergangsritual geworden, von dem man nicht sicher sagen kann, ob es sich genau nach den Regeln abspielt, die Victor Turner beschreibt, oder ob das Chaos so sehr überhandnimmt, dass der Initiand nie wieder ganz zurückkehren wird in die Ordnung.23 In der nächsten Szene findet Paul sich in einem seltsamen Kabinett, in dem Max (Dennis Hopper) der Meister zu sein scheint; und der Richter im Scheidungsprozess – Paul plädiert auf unschuldig. Bilder aus Filmen, aber auch Artefakte wie

21Vgl.

Illger 2014, 150–188. Verunsicherung der scheinbar selbstverständlichen Trennung zwischen Innenwelt und Aussenwelt durch Emotionen vgl. Monique Scheer: Topographien des Gefühls. In: Ute Frevert u. a. (Hg.): Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne. Frankfurt a.M./New York 2011. 41–64, hier 41: „[Emotionen] scheinen sowohl ‚innen drin’ zu entstehen als auch von ‚außen’ kommen zu können. Ob sie sich ganz im ‚Inneren’ verbergen lassen, ist fraglich, da sie den Leib mit beanspruchen und sichtbar werden können. Es will nicht einleuchten, dass die ‚Introjektion’ des Gefühlslebens ein für alle Mal geklärt ist; aus historischer Perspektive muss sie im Rahmen einer alltäglichen Gefühlspraxis immer wieder hergestellt werden, wodurch sie Verschiebungen, Modifikationen und Aktualisierungen ausgesetzt ist.“ 23Vgl. Victor Turner: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Frankfurt a.M. 2013. 22Zur

7  Oberfläche als Medium der Wahrnehmung

210

Dollarnoten und eine amerikanische Flagge ziehen vorbei. „Everything is familiar. But I feel separate“,24 sagt Paul. So geht es den Zuschauerinnen und Zuschauern auch.

Medienrausch Doch dann, in der zweiten Hälfte des Films, entwischt Paul aus der ­Hippie-Therapiezone und mischt sich in Los Angeles unter die Leute. Auslöser ist ein Schockmoment: Für einen Augenblick griffen die Halluzinationen auf die Wirklichkeit über, und Paul glaubte, John tot, mit einer Einschusswunde, in seinem Sessel sitzen zu sehen, während dieser eine neue Flasche Apfelsaft holt – die einzige Substanz übrigens, die Paul während des Trips zusätzlich zu sich nimmt. Weil er sich für den Mörder hält, ergreift er die Flucht und verlässt die schützende Zone des Trip-Hauses. Zu den Episoden, die sich in Pauls Kopf abspielen und die ein Grundmuster von Wiederholung und Variation bilden, gehören zwei seltsame Begegnungen mit Menschen. Unter anderem dringt Paul in ein Einfamilienhaus ein, in dem alle schlafen. Er macht den Fernseher an und starrt so lange auf den Bildschirm, auf dem eine Nachrichtensendung über den Vietnamkrieg läuft – übrigens der einzige explizite Hinweis auf die politisch aufgeheizte Situation in den USA –, bis ein kleines Mädchen verschlafen im Nachthemd die Treppe heruntergestolpert kommt, um in grösster Selbstverständlichkeit – auch sie eine kleine Alice – um ein Glas Milch zu bitten, das sie sich von dem fremden Mann gern servieren lässt. Für einen Moment sitzen die beiden friedlich vor dem Fernseher und unterhalten sich. Bemerkenswerterweise ist es das erste vernünftige Gespräch, das im Film geführt wird. Doch dann wacht der Vater des Mädchens auf und will sein trautes Heim gegen den Eindringling verteidigen. Wieder ergreift Paul die Flucht. In der nächsten Episode läuft er zu Free Jazz-Klängen durch die Partymeile von Los Angeles. Lichter und Werbebilder stürmen im ekstatischen Rhythmus der Musik auf ihn ein. Was in Pauls Kopf vorgeht, wissen die Zuschauer nicht, doch die audiovisuellen Bilder des berauschten Flaneurs suggerieren, dass die psychedelische Logik auch unsere Wirklichkeit verändert hat, und so werden sie zu einem Trip der ganz eigenen Art – einem medialen Rausch für das Publikum. Hier erlauben es die Figurationen der Alice-Maschine einmal mehr, einen Raum im Dazwischen erfahrbar zu machen: Will you, won’t you, will you, won’t you – wir brauchen uns gar nicht zu entscheiden, ob wir mittanzen wollen, denn wir sind immer mitten drin in der ästhetischen Erfahrung und zugleich ausserhalb. Ruhe kehrt erst wieder ein, als Paul einen Waschsalon betritt. Hier spielt sich die zweite seltsame Begegnung ab. Fasziniert lauscht und starrt er in die – ihm wohl lebendig erscheinenden – Waschmaschinen hinein. Eine Frau, mit

24the trip,

00:34:57.

7.1  The man with kaleidoscope eyes: Roger Cormans the trip (USA 1967)

211

Lockenwicklern und einer lächerlichen Haube auf dem Kopf, wartet auf ihre Wäsche und verwickelt Paul in ein Gespräch. Wie die Begegnung mit dem kleinen Mädchen scheint auch diese eine andere, weniger oberflächliche Qualität zu haben als diejenigen mit John und Max, Sally und Glenn. Vernünftig kann man den Dialog zwischen Paul und der Frau mit den Lockenwickeln aber nicht nennen; er erinnert in seiner Absurdität an die Gespräche, die Alice mit der Falschen Suppenschildkröte und dem Gryphon führt. Danach, auf dem Spaziergang durch die nächtliche Stadt, steigert sich der Rhythmus, in dem Pauls Halluzinationen seine Wahrnehmung überlagern, bis zu einem Flackern. Der Film selbst wird immer ekstatischer, je mehr er den Konsumrausch des Party-Lebens in Restaurants, Bars und Clubs mit Pauls Halluzinationen engführt. Es entsteht im Hin- und Herflackern ein wahrhaft psychedelischer Zwischenraum. Der mediale Rausch und die seltsam ruhigen Szenen im Einfamilienhaus beziehungsweise im Waschsalon gehören zusammen: Darin entwickelt der Film zwei Spielarten eines neuen Sehens. Der LSD-Trip erweist sich, anders als der Titel und die Warnung zu Beginn erwarten lassen könnten, lediglich als ein Katalysator für eine entfesselte, sozusagen bewusstseinserweiterte Kamera; der Modus des Psychedelischen erlaubt es wie der Modus des Nonsense, an die Grenzen der diskursivierbaren Wahrnehmung zu gehen. Am Ende fährt Paul in einem Cabriolet davon, wiederum mit Glenn, der blonden Schönheit. Auf der Fahrt und auch danach, im Bett der Blonden, wirbeln die Bilder in seinem Kopf so wild durcheinander, dass die psychedelische Montage nun doch auf die Zuschauerin übergreift. Sie erhält eine derart bedrängende Intensität, dass sich der Abgrund des Medialen, den Corman auf seinem Trip weghalluziniert hatte, auf fast gewaltsame Weise auftut. Am Ende fragt Glenn Paul, ob der Trip ihm nun wirklich Erkenntnis gebracht habe. „Yeah. I think I like… I love you“. „And everybody else“, antwortet Glenn. Und Paul wiederholt: „And everybody else“.25 Die Paare vom Anfang – das glückliche Hochzeitspaar aus dem Werbefilm und das Paar in Trennung – vervielfältigen sich wieder und wieder in der Mise en abîme des psychedelischen Kaleidoskops. the trip, ließe sich resümieren, will weder das Gehirn eines Menschen auf LSD abbilden noch die Auswüchse des Konsumrausches im Kalifornien der 1960er-Jahre verhandeln, sondern aus dem Material audiovisueller Bilder eine neue Sprache erfinden, mit der sich über die Gesellschaft, die Drogen und die Medien nachdenken lässt. Dabei bedient er sich bei den paradoxen Figurationen der ­Alice-Maschine: Das Subjekt bleibt bestehen, indem es sich verwandelt und ins Unendliche vervielfacht, das Als-ob lässt sich nicht mehr vom Eigentlichen trennen und die Bilder, die aus anderen Bildern gemacht sind, formen die Wahrnehmung, das Denken und das Fühlen.

25Ebd.,

01:14:00.

212

7  Oberfläche als Medium der Wahrnehmung

Der filmische Drogentrip erlaubt keinen Ausbruch aus der Realität, sondern öffnet uns erst die Augen für die Realität, wie sie sein könnte, wenn die Ordnung der Trennung zwischen Subjekt und Objekt zusammenbricht, wenn innere und äussere Bilder sich überlagern, wenn legitime und verbotene Wünsche, Ideen vom richtigen und vom falschen Leben ebenso heillos wie befreiend ineinander kollabieren – wenn die unvereinbaren Gegensätze zusammenfallen. So wie die Werbebilder des glücklichen Brautpaars zu Beginn ihren Schatten in Gestalt des unglücklichen Paars im Prozess der Scheidung werfen, so sind die erotischen Fantasien auf dem Trip untrennbar mit den Folter- und Todesfantasmen verbunden. Denn alles, was sich die Menschen vorstellen können an Glück und an Grauen, so die Erkenntnis des Films, stellen sie sich in medialen Bildern vor.

7.2 Im Spiegel gefangen: Mediales Begehren in Lucio Fulcis Giallo una lucertola con la pelle di donna (1971) Vier Jahre nach Cormans the trip, 1971, kam Lucio Fulcis una lucertola con la pelle di donna – a woman in a lizard’s skin (I/E/F) in die Kinos. Es handelt sich dabei um einen Giallo, wie die spezifisch italienische Spielart des Psychothrillers genannt wird.26 Gialli wurden ab Mitte der 1960er-Jahre, vor allem aber in den 1970er-Jahren produziert und gelten mittlerweile als Kultfilme.27 Auf den ersten Blick mag es weithergeholt erscheinen, die Alice-Maschine in einem Genre am Werk zu sehen, das sich in erster Linie durch den exzessiven Einsatz einer hochgradig ästhetisierten Kombination von Sex und Gewalt auszeichnet.28 Und doch gibt es eine Verbindung zwischen der verrückten und verstörenden Schönheit von Fulcis lucertola und Carrolls Alice-Büchern. Sie besteht, wie ich zeigen möchte, auch hier zunächst in der Diskrepanz zwischen einer Rahmenerzählung, die auf ihrer rationalen Logik besteht, und Inszenierungsmodalitäten, die eine ganz andere, von den Regeln des Nonsense und des Psychedelischen geprägte Wirklichkeit behaupten: Alice hat ihre Abenteuer nur geträumt, und Fulcis Protagonistin Carol Hammond (Florinda Bolkan), die uns zunächst als Opfer bösartiger Machenschaften präsentiert wird, erfährt am Ende ihre Enttarnung als raffinierte Killerin – alles, was wir gesehen haben, war Inszenierung; nichts ist so, wie es

26Peter

Scheinpflug: Formelkino. Medienwissenschaftliche Perspektiven auf die Genre-Theorie und den Giallo. Bielefeld 2017, 7. 27Vgl. Xavier Mendik: Bodies of Desire and Bodies in Distress: the Golden Age of Italian Cult Cinema 1970–1985. Newcastle Upon Tyne 2015. 28Vgl. zur Ästhetik des Giallo Daniel Illger: Die Stadt und die Leere. Antonionis Frühwerk, der Gangsterfilm und der Giallo. In: Jörg Glasenapp (Hrsg): Michelangelo Antonioni. Wege in die filmische Moderne. München/Paderborn 2012, 13–37.

7.2  Im Spiegel gefangen

213

scheint. Nicht nur ihr Umfeld und die Polizei hat sie hinters Licht geführt, sondern vor allem auch die Zuschauerinnen und Zuschauer. Man könnte Fulcis lucertola als schwarzen Doppelgängerfilm von Cormans the trip betrachten: In beiden Filmen entfaltet die Materialität des Mediums eine Eigendynamik. the trip hält eine medientheoretische Erfahrung bereit, die durchaus unheimlich und abgründig ist – indem er die Abgeschlossenheit des buchstäblich von medialen Bildern durchströmten und belichteten Subjekts in Frage stellt. Oder ästhetisch ausgedrückt: Das dynamische Ornament aus Licht, Farbe, Form und Bewegung überlagert die menschlichen Körper nicht nur, es bricht sie auf und verwandelt sie. una lucertola con la pelle di donna hingegen weist den Zuschauerinnen und Zuschauern eine kriminalistische Rezeptionshaltung zu, setzt immer wieder Spuren und Hinweise ins Bild – um ihnen am Ende jeden Boden unter den Füssen wegzuziehen, sie jeden Vertrauens in die eigene Wahrnehmung zu berauben. Gemeinsam ist beiden Fällen, dass sie sich mit der Poiesis des Unsinn-Lesens begreifen lassen. Sie vereinen jeweils Elemente von Zwang und Anarchie. Für Ernest Mathijs und Xavier Mendik steht das alternative europäische Kino, zu dem der Giallo gehört, für den Widerstand gegen „a range of ways of thinking, politically and ideologically“; es vertrete, „almost anarchically, a call for liberty.“29 Die Alice-Maschine bewirkt sowohl in den Alice-Büchern als auch in Cormans the trip und Fulcis lucertola dieses Gefühl, in unseren kleinen Gehirnen gefangen zu sein; verspricht aber, dass wir daraus ausbrechen zu können – wenn wir die Zwänge der narrativen Logik oder der kriminalistischen Beweisführung hinter uns lassen und uns an die Materialität des Medialen und seine Produktivität halten. Es gilt, an die Grenzen der Erkenntnis zu gelangen und, spekulativ, darüber hinaus. In allen Produkten der Alice−Maschine öffnet sich die Kippfigur zwischen Klaustrophobie und unbegrenzter Freiheit allmählich, in der ständigen Bewegung – „will you, won’t you“ – zu einem im Prozess der ästhetischen Erfahrung bewohnbaren Zwischenraum. Vor diesem Hintergrund erscheint Fulcis Giallo nicht mehr als Krimi. Vielmehr wirft er die Frage auf, ob wir das Reich des rationalen Denkens verlassen können, ohne wahnsinnig zu werden, und ob wir unsere Sinne überhaupt für die Welt der Dinge empfänglich machen können, ohne alles deuten zu müssen, was wir sehen, hören und fühlen. Der Giallo gehört zu den Genres, die einen unvergleichlichen Kult der Oberflächen und Materialien zelebrieren. Dazu gehört die unverhohlene Lust an Architektur und an der stilbewussten Ausstattung der Räume, das Flair für extravagante Kostüme und Frisuren, Autos und Apparate aller Art. Dazu gehört aber auch die Inszenierung eines Spiels der Farben und Formen, die, im Groove der genretypischen Elektro-Jazz-Klänge, immer im Begriff sind abzuheben ins Abstrakt-Ästhetische. Dabei lassen sie die betont kolportagehaften Sorgen und

29Ernest

Matthijs/Xavier Mendik: Introduction. In: Dies. (Hg.): Alternative Europe: eurotrash and exploitation cinema since 1945. London 2004, 4.

214

7  Oberfläche als Medium der Wahrnehmung

Nöte der Figuren in den Hintergrund rücken.30 Auch hier ist die Alice-Maschine am Werk, indem sie das Materielle, das Ornament, ohne eindeutige semantische Zuschreibung zur Hauptsache macht. Schauplatz und Setting sind in lucertola denn auch weit mehr als Dekoration: Als Angehörige der Londoner High Society ist die Protagonistin Carol Hammond eine Art desperate housewife: Sie lebt in Luxus und Angst mit ihrem Mann Frank (Jean Sorel) zusammen, einem Partner im Anwaltsbüro ihres Vaters. Frank hat eine adoleszente Tochter aus erster Ehe, die er über alles liebt und verwöhnt. Carol ihrerseits pflegt eine intime, unschwer als ödipal zu erkennende Beziehung zu ihrem Vater (Leo Genn), der als Anwalt nicht nur reich, sondern als Mitglied des Unterhauses auch mächtig ist. All das wird vor allem über ein Blickregime im Paranoia-Modus deutlich:31 Die Kamera zeigt lauernde, beobachtende Gesichter voller Angst, Feindseligkeit und Berechnung. Doch die bürgerliche Fassade ist brüchig, sogar ausgehöhlt: Im Haus, in dem Carol und Frank leben, prallt die Welt der Upper class mit einer Hippie-Welt aus Sex, Drogen und Rock’n’Roll zusammen. In der Nachbarswohnung feiert die lebenslustige Julia Dürer (Anita Strindberg) orgiastische Partys, während die Hammonds verkrampft und mit indignierten Minen dinieren und so tun, als ließe sie der skandalöse Lebenswandel der Nachbarin kalt. Eines Nachts träumt Carol von Julia Dürer, und so bekommt auch das Kinopublikum Zugang zur Dürerschen Wohnung: Die Kamera schiebt sich durch das Partygetümmel und zeigt schließlich, wie sich die beiden Frauen, Carol und Julia Dürer, lieben; dann tötet Carol ihre Geliebte mit einem Brieföffner. Verstört erzählt sie am nächsten Tag ihrem Psychoanalytiker Dr. Kerr (George Rigaud) von ihrem Traum, und er nimmt alles auf Tonband auf, was ihm seine Patientin erzählt. Ein paar Stunden später erfährt Carol, dass Julia Dürer tatsächlich tot ist: erstochen mit einem Brieföffner.

Kriminalistischer Nonsense Hier setzt das Investigationsnarrativ ein, und zwar auf mehreren Ebenen. Nicht nur die Polizei will den Mörder fangen; eine Reihe von Amateur-Detektiven – der Psychotherapeut, Carols Ehemann und ihr Vater – stellen ebenfalls Ermittlungen an. Letzterer fürchtet nämlich, Carol habe Julia Dürer ermordet, ihre Erinnerung

30Während

sich die ­Giallo-Forschung vor allem für das Genre als Trash-Phänomen (Mathijs/ Mendik 2004) bzw. für dessen populäre Rezeptionsformen interessiert (Mikel J. Coven: La dolce morte. Vernacular Cinema and the Italian Giallo Film. 2006) arbeiten Johannes Binotto und Daniel Illger jeweils die Verwandtschaft zum Autorenkino heraus – Binotto beschreibt, wie Argento die Filme Fritz Langs ausweidet (vgl. Johannes Binotto: TAT/ORT. Das Unheimliche und sein Raum in der Kultur. Zürich 2013); Illger arbeitet vor allem die Bezugnahme auf Antonionis Raumgestaltung heraus (vgl. Illger 2012). 31Vgl. Lehmann 2017. Lehmann beschreibt Paranoia als ästhetischen Modus, der die Krise der Wahrnehmung gestaltet (121); der paranoide Stil zeichnet sich durch eine bestimmte Art und Weise aus, das Fragmentarische zu ordnen (128).

7.2  Im Spiegel gefangen

215

an das Verbrechen aber so stark verdrängt, dass sie sich ganz von ihrem Bewusstsein abgespalten habe. Er heizt den Paranoia-Modus noch einmal an, indem er suggeriert, der Mord hätte eine Inszenierung von Carols Einträgen in ihrem Traumtagebuch sei können – in die Tat umgesetzt, um sie anzuschwärzen. Die Repräsentanten männlicher Macht, stellt Mendik fest, fallen auf Carols Spiel herein. Sie bringt Strategien zum Einsatz „that equate femininity with neurosis and paranoia in order to detract a ‘male’ police investigation away from the sexual murder that she has committed.“32 Die letzte Szene des Films erinnert an die Struktur von Agatha Christies Krimis: Am Ende erklärt Hercule Poirot oder Miss Marple dem oder den Schuldigen, und dabei den Zuschauerinnen und Zuschauern, wie er beziehungsweise sie den Fall gelöst hat. Dass Carol tatsächlich die Mörderin ist, kommt als Überraschung. Denn die Beweislage gegen sie war schon die ganze Zeit erdrückend und damit viel zu offensichtlich. Der Film inszeniert lustvoll, wie die Indizien am Tatort verstreut sind und wie die Polizei die Spuren sichert, fotografiert und dokumentiert. Carols Pelzmantel und ihr Brieföffner werden im Blitzlicht der Polizeikameras gezeigt, und es wird uns vorgeführt, wie perfekt Carols Fingerabdrücke mit denjenigen übereinstimmen, die am Tatort gesichert wurden. Dennoch trauen wir unseren Augen nicht. Bereits von der ersten Sekunde des Films an glauben wir dem Offensichtlichen nicht – darauf eingestellt, dass der Giallo unsere Lust am Sehen zwar exzessiv bedienen wird, dass wir aber nicht mit einem kausallogisch stimmigen Plot rechnen könnnen, mit Zeichen, die tatsächlich das bedeuten, was sie zu bedeuten vorgeben. Mit den Figurationen der Alice-Maschine könnte man auch sagen, dass wir schon so sehr darauf eingestellt sind, ein Grinsen ohne Katze zu sehen, dass wir erschrecken, als es sich tatsächlich als Ausdruck der Katze erweist. una lucertola con la pelle di donna kann als Meta-Kommentar zum doppelten Spiel verstanden werden, das der Giallo mit dem Krimi – dem Inbegriff rationalen Erzählens – spielt; eingebettet und widersprochen von unzähligen rätselhaften, mitunter psychedelisch anmutenden Elementen, die sich nicht auflösen lassen, die sich in ihrem unsinnig-ornamentalen Status der Deutung entziehen. Dabei darf der Krimi-Plot nicht als Kontrapunkt zur unsinnigen Ästhetik des Giallo verstanden werden; seine Inszenierung hat wesentlichen Anteil an der Zuschauererfahrung. Nicht etwa Carol Hammond ist Alice in diesem Film, sondern wir, die Zuschauerinnen und Zuschauer, die erst allmählich begreifen, dass unser Blick gar nicht an den Blick der Protagonistin gebunden ist – sondern an ihre Intrige. Sie führte immer schon Regie, um uns auf die falsche Fährte zu locken. Es ist, als ob die Kamera im Bann von Florinda Bolkans faszinierendem, zugleich ausdruckvollem und sphinxenhaften Gesicht zur Komplizin der Täterin geworden wäre. Das Publikum weiß dabei immer weniger, was es da zu sehen und zu hören bekommt. Und die Verbindung von rationalistischem Investigationsnarrativ und

32Xavier

Mendik: Detection and Transgression. The Investigative Drive of the Giallo. In: Andy Black (Hg.): Necronomicon, Book One. The Journal of Horror and Erotic Cinema. London 1996, 35–54, 35.

216

7  Oberfläche als Medium der Wahrnehmung

audiovisuellen Figurationen, die sich – unsinnig und ornamental, wie sie sind – nicht auflösen lassen oder auf eine ganz andere Geschichte hindeuten, die wir mangels Informationen nicht verstehen können, spalten die Zuschauerinnen und Zuschauer auf: Sie sehnen sich zunehmend danach, den Mordfall zu vergessen, sich genüsslich zurückzulehnen und sich dem Rot des Blutes, den aufblitzenden Messerklingen, der Musik, kurz, den audiovisuellen Ornamenten hinzugeben, die – mit oder ohne Traumzustände und Drogentrips der Figuren – in psychedelischen Konvulsionen ablaufen. Und doch zwingt uns die Komposition des Films, bei der Suche nach dem Mörder mitzurätseln. Nicht, weil es so spannend wäre, den wichtigen und mächtigen Männern zuzuhören, die den Fall ausführlich diskutieren, um die Situation unter Kontrolle zu bekommen. Die Zuschauerposition, die der Film anbietet, ist die eines Amateurdetektivs, der zwischen zwei Glasscheiben gefangen ist. Buchstäblich – wie der Schriftsteller Sam Dalmas (Tony Musante) in Dario Argentos l’uccello dalle piume di cristallo (I 1970), der Zeuge eines Mordes wird.33 Er kann weder dem Opfer zu Hilfe eilen noch die Polizei alarmieren: So, wie die gläsernen Wände zugleich für den Blick offen, für den Körper aber geschlossen sind, so ist auch die Situation des Schriftstellers höchst paradox. Er ist Zeuge – und kann doch nicht an das beobachtete Verbrechen heran. Er ist eingeschlossen – und doch exponiert. Wie die gläserne Wand auf widersprüchliche Weise Ausgeschlossenheit mit Sicherheit kombiniert, so uneindeutig ist all das, was man aus solchem Blickwinkel sieht. Der Mordversuch, den der Schriftsteller durchs Glas der Wand beobachtet hat, (so wird er am Ende des Films erkennen müssen) ist eine Mischung aus Wahrheit und Täuschung gewesen, eine Illusion, unheimlich zwischen Fakt und Fiktion changierend.34

Wir verfügen über eine Menge Informationen, und doch: wer ist es, die sie uns liefert? Oder, genauer gesagt: wer verbirgt sich hinter der Kamera? Kontrollieren wir die Medientechnologie, auf die lucertola so gerne anspielt, oder verhält es sich umgekehrt? Giallo-Forscher sind sich einig, dass es im Giallo immer um das Versagen des Blicks geht: „[…] the Giallo makes a point about the failings of ­ iallo-Sehens besteht gerade vision as a source of authority“.35 Die Erfahrung des G darin, dass die Zuschauer sich im Abgrund zwischen dem, was uns der Film weismachen will, und dem, was wir sehen, befinden – womit eine zentrale Figuration der Alice-Maschine realisiert wäre. Das gilt für das Giallo-Genre generell; doch in Fulcis lucertola kann man die Alice-Maschine gerade darin am Werk sehen, dass die Aufklärung des Verbrechens tatsächlich gelingt – und zwar in der Art und Weise, wie Alice am Ende der beiden Bücher aus dem Traum erwacht: Wir bekommen eine Erklärung, die auf der Erfahrungsebene wiederum gar nichts erklärt.

33Binotto

2013, 263. 2013, 262. 35Gary Needham: Playing with genre. An introduction to the Italian giallo. In: Ernest Mathijs/ Xavier Mendik (Hg.) The Cult Film Reader. Maidenhead/New York, 294–300, 295. 34Binotto

7.2  Im Spiegel gefangen

217

Mendik betont, dass es für den Detektiv oder Ermittler im Giallo grundsätzlich unmöglich sei, die symbolische Ordnung wiederherzustellen: „The inability to successfully detect“, schreibt er, „indicates the fundamental insecurity that surrounds identity in these texts“.36 Damit hat er Recht: Auch wenn Inspector Corvin (Stanley Baker) am Ende herausfindet, dass Carol Hammond selbst die Mörderin ist, erklärt die Auflösung des Rätsels nichts. Ganz im Gegenteil: Die Zuschauerinnen und Zuschauer sind wie vor den Kopf gestossen. Ein Gefühl des Unbefriedigtseins bleibt zurück. Das einzige, was man dagegen tun kann, ist, den Film noch einmal zu sehen und dabei fasziniert festzustellen, dass er vor dem Hintergrund des gelösten Falls viel mitreißender ist. Denn anstatt bei der Frage mitzurätseln, wer der Mörder sei, konzentrieren wir uns auf ein weit spannenderes Rätsel: Wessen Auge verbirgt sich hinter der Kamera? So bringt uns der Film mit den Figurationen der Alice-Maschine dazu, die Poiesis des Filme-Sehens, wie sie sich an unserem Körper realisiert, auf der Meta-Ebene zu beobachten und zu analysieren.

Im Abgrund der Bilder una lucertola con la pelle di donna etabliert drei Serien von Bildern, die ich nun genauer anschauen möchte. Die erste Serie habe ich bereits erwähnt: Es handelt sich um die Inszenierung von Spuren und Beweisen – aber nicht so, wie sie die Polizei vorfindet, sondern wie sie durch Medientechnologie hervorgebracht werden. Wo immer männliche Diskurse vorherrschen in lucertola, sind auch Medien aller Art nicht fern: Kameras, Tonband-Aufnahmegeräte, Projektoren. Wir werden gezwungen zu akzeptieren, dass Männer ihre Fantasien auf schöne Frauen wie Carol projizieren und versuchen, diese, und damit ihre überbordende Begierde, in abgeschlossenen, von männlichen Autoritäten kontrollierbaren Räumen ruhigzustellen; als Ehefrau, psychiatrische Patientin oder Kriminelle. Doch das ist nicht die letzte Wahrheit über den Film – es ist nur ein Mittel, das er einsetzt, um unsere Zuschauerposition zu destabilisieren. Die zweite Serie gehört zu Carol, ihren Ängsten und Visionen. Hier überlagern sich, ähnlich wie in Cormans the trip, Bilder der Alltagsrealität mit Traumbildern. Diese Serie arbeitet mit der für die Alice-Maschine typischen Parallelmontage von Innen- und Aussenwelt: Auf praktisch jede Einstellung, die in Carols Kopf eindringt, antwortet eine, in der wir ihr Gesicht sehen – in Angst oder mit einem undefinierbaren Ausdruck. Manchmal, zum Beispiel, als die Hammonds zum ersten Mal von der Polizei verhört werden, sehen wir Carol doppelt.37 Die Kamera ruht auf ihrem Gesicht, als wolle sie ihre Gedanken ergründen; gleichzeitig wird die Kamerabewegung von einem Rauschen begleitet, das sich mit

36Mendik

1996, 41.

37una lucertola con la pelle di donna,

00:23:00.

218

7  Oberfläche als Medium der Wahrnehmung

einer akustischen Erinnerung an ein Gewitter überlagert – als hätten wir es mit einem doppelten, sich vervielfältigenden Kamerablick zu tun, der teilweise von Carols Gedanken ferngesteuert ist. Etwas Ähnliches spielt sich beim Essen ab: Carol bringt keinen Bissen herunter und starrt vor sich hin. Unser Blick ist auf ihre Augen gerichtet. Plötzlich, als sie die um den Tisch versammelten Familienmitglieder betrachtet, beginnt die Kamera herumzurasen – wiederum, als werde sie von Carols Augen gesteuert. Gleichzeitig gibt es eine andere Kamera, die offensichtlich in ihr Gesicht verliebt ist. Mit dem Kamerablick meine ich hier nicht etwa einen male gaze im Sinne Mulveys, der sich im Kern des Mediendispositivs etabliert hat,38 sondern – materialitätstheoretisch – den technischen Apparat, dem der Film erlaubt, seine Möglichkeiten auszuspielen und vorzuführen. Diese Serie konzentriert sich offensichtlich auf die Frage nach der Wahrheit der Bilder. Denn wenn es etwas gibt, das nicht in Frage gestellt werden kann in diesem Film, ist es die Tatsache, dass Carol bei allen anderen Figuren Begehren weckt – und von ihrem eigenen gequält wird. Dabei handelt es sich gar nicht so sehr um sexuelles Begehren, obwohl sich Fulci beim Fundus des erotischen Films bedient, sondern um etwas, das ich mediales Begehren nennen würde. Hier greift die Alice-Maschine mit ihren Disjunktionen ein: wenn eine Kamera nichts anderes will, als Florinda Bolkans Gesicht zu streicheln, die tut, als ob sie Carol Hammond wäre, und eine andere Kamera genau dieses schöne Gesicht zerstören und in den Kopf der Figur eindringen will. Die Frage nach der Wahrheit der Bilder gestaltet sich im Wunsch zu sehen, was hinter den Dingen ist, und es gleichzeitig unter keinen Umständen erfahren zu wollen – deshalb der Schock, den die Anagnorisis am Ende des Films auslöst. Wir wissen im Grunde von Anfang an, dass Carol die Täterin ist, aber – es ist uns egal, wir wollen in unserem Filmgenuss nicht gestört, wollen damit nicht behelligt werden. Dafür konzentrieren wir uns auf die Ästhetik der Oberflächen und Arrangements, mögen sie noch so blutig und grausam sein, und machen uns lustig über die spiessigen Wichtigtuer, die alles und jedes als Zeichen – als Symbol, Index, Ikon – sehen wollen. An der Gestaltung dieser Erfahrung ist nicht zuletzt die Exploitation-Logik beteiligt, mit welcher der Giallo operiert und damit eine gespaltene Zuschauerposition hervorbringt:39 das eigene Geniessen von Sex- und Gewaltszenen, aber auch von Ornamenten, die alles, was dahinter sein könnte – und nicht zuletzt jede Form von Wahrheit – auf Nimmerwiedersehen überwuchern, ist untrennbar verbunden mit dem Entsetzen über die eigene Lust am Medium Film. Die dritte Serie von Bildern nun versetzt die Zuschauerinnen und Zuschauer in einen grotesken Schockzustand – wir sehen etwas, das gleichzeitig grauenhaft ist und schön. Noch einmal: „It seems very pretty, but it’s rather hard to understand“. Das erste Bild in dieser Serie ist die tote Julia Dürer. In der Assemblage aus rotem

38Vgl.

Laura Mulvey: Visuelle Lust und narratives Kino. In: Franz-Josef Albersmeier (Hg.): Texte zur Theorie des Films. Stuttgart 1998, 389–409. 39Vgl. Kappelhoff 2008, 161.

7.2  Im Spiegel gefangen

219

Satin, schwarzem Leder, nackter Haut, Blut und Haaren betrachten wir sie wie ein Kunstwerk in Hinblick auf die Komposition der Farben und das Zusammenspielt der Materialien und Texturen. Das zweite ist ein Tierversuch, den Carol in der psychiatrischen Anstalt, in die sie gesteckt wird, zu sehen bekommt: Mit aufgeschlitzten Bäuchen und verbunden durch eine wirre Zahl von blutigen Plastikschläuchen hängen Hunde an einem Garderobeständer. Was wir sehen, sieht nach sinnloser Gewalt um ihrer selbst willen aus – in der Rahmung getarnt als wissenschaftliches Experiment. In diesen Bildern zeigt sich vor allem die Macht der Medien, konkret des Mediums Kino, uns zu verstören und in eine Poiesis zu verwickeln, die uns in gleichsam psychedelische Grenzzonen des Fühlens und des Denkens katapultiert. Wenn dann die Polizei übernimmt, mit ihren Erklärungen und Rationalisierungen, kommt sie einem vor wie die Vertreter einer biederen, auf sogenannten harten Fakten basierende Medienpädagogik, die jede ästhetisch-intellektuelle Auseinandersetzung mit Transgression unterbinden will40 – obwohl sich gerade darin, und in den Produkten der Alice-Maschine überhaupt, die Poiesis des Medienkonsums begreifen ließe. Fulcis lucertola setzt Figurationen der Alice-Maschine ein, um eine sinnliche Erfahrung des Unheimlichen, ja des Bösen in Medien und einer durch Medien hervorgebrachten Welt zu gestalten. Hier möchte ich noch einmal auf den Unterschied zwischen „zeigen“ und „sich zeigen“ hinweisen, den Mersch für die Avantgarde-Kunst herausgearbeitet hat;41 man wird in dieser Hinsicht gerade auch im B-Genre-Kino der 1960er- und 1970er-Jahre und seiner Neigung zum Ornamentalen und Medienreflexiven fündig. Das ausdrucksvolle Zeigen der Oberflächen in ihrer Materialität bedingt, dass das Mediale selbst sich zeigt – auf eine in Bezug auf ästhetische Figurationen erstaunlich ähnliche Weise wie in Carrolls Alice-Büchern. Es gibt im Film einen konkreten Hinweis, der meine These stützt. Inspektor Corvin hat eine seltsame Gewohnheit. Er pfeift ständig, selbst in unpassenden Situationen. Es liegt etwas Dissozitatives in diesem Pfeifen, in der Art seiner Inszenierung. Zunächst kommt es aus Corvins Mund, doch dann wechselt es auf die extradiegetische Ebene und wird Teil des Soundtracks. Corvin erscheint so gleichzeitig als Figur der Handlung und als Mitglied des Filmteams. Nicht nur die Kamera zeigt sich, sondern auch der Schauspieler. Film, lässt sich folgern, hat seinen Grund im menschlichen Körper ebenso wie im technischen Dispositiv – womit wir wieder bei der Poiesis des Filme-Sehens angelangt wären.

40Vgl.

etwa die Arbeiten von Manfred Spitzer, die sich auf die „harten Fakten“ der Hirnforschung berufen. Der Alarmismus dieser medienpädagogischen Haltung wird an einer kleinen Auswahl von Titeln aus den letzten Jahren deutlich: Die Smartphone-Epidemie. Gefahren für Gesundheit, Bildung und Gesellschaft. Stuttgart 2018; Cyberkrank! Wie das digitalisierte Leben unsere Gesundheit ruiniert. München 2015; Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen. München 2012. 41Vgl. Mersch 2002a.

220

7  Oberfläche als Medium der Wahrnehmung

So bleiben wir als Zuschauerinnen und Zuschauer ohne Ausweg gefangen zwischen Argentos ikonischen Glasscheiben in seinem stilbildenden Giallo l’ucello dalle piume di cristallo. Wir sehen alles und beobachten alles, wir können die audiovisuellen Bilder analysieren, sezieren, interpretieren – und doch verstehen wir nicht, was wir da sehen.

7.3 Llanfairpwllgwyngyllgogerychwyrndrobwllllantysili ogogogoch: barbarella als Alice einer ­feministischutopischen Zukunft42 „Llanfairpwllgwyngyllgogerychwyrndrobwllllantysiliogogogoch“ mag wie der Höhepunkt eines unsinnigen Neologismus anmuten, ist aber eigentlich der Name eines real existierenden walisischen Dorfes. In Roger Vadims erotischem Weltraumabenteuer barbarella (F/I 1968) kommt das unaussprechbare und insofern radikal auf seine Materialität zurückgeworfene Wort im Modus des Nonsense zum Einsatz; es dient einer extraterrestrischen Rebellengruppe als Codewort. Es darf aber durchaus als paradigmatisch für die Machart des gesamten Films gelten. Während die Oberflächen, Ornamente, Assemblagen im Giallo im Zusammenspiel mit der Musik zu in sich stimmigen, betörend künstlichen Welten komponiert werden, feiert barbarella die Materialität der Science-Fiction-Welt als nicht nur künstlich, sondern durchaus als geschmacklos und übertrieben – auf eine ironische Weise. Die Kombination von psychedelisch wabernden Bildern mit Nonsense der albernen Sorte erreicht nicht nur im Codewort „Lanfairpwllgwyngyllgogerychw yrndrobwllllantysiliogogogoch“, sondern im Film als Ganzem einen Höhepunkt. Dabei sind die (ironischen) Bezüge zu Carrolls Kinderbuch-Klassiker zweifellos beabsichtigt. Der Regisseur selbst soll die notorisch halbnackte Agentin und Botschafterin eines Planeten Erde, auf dem längst love and peace herrschen, als „Alice der Zukunft“43 bezeichnet haben. Eine Analogie, die in der Kritik freudig aufgegriffen wurde, Lewis Carroll im Geist der sexuellen Revolution ganz entspannt und en passant pädophile Neigungen unterstellend: […] behind the whole Candy-coloured, tangerine-flavoured fantasy one can clearly detect echoes of another less expected source. A leading science fiction authority has claimed that if Lewis Carroll had lived today he would inevitably have written not

42Eine

kürzere Version dieses Kapitels ist unter dem Titel: Unerhörte Philosophien. Utopie, Feminismus und Erotik in Roger Vadims barbaraella erschienen in: Hermann Kappelhoff/ Christine Lötscher/Daniel Illger (Hg.): Filmische Seitenblicke. Cinepoetische Exkursionen ins Kino von 1968. Berlin 2018, 303–316. 43Patricia Bosworth: Jane Fonda. The public life of a private woman. London 2011, 251.

7.3  Barbarella als Alice einer feministisch-utopischen Zukunft

221

Alice’s Adventures in Wonderland but Lolita. He might perhaps equally well have written Barbarella.44

Das allein wäre noch lange kein Grund, die Alice-Maschine in barbarella am Werk zu sehen. Die zitierte Rezension mag höchstens als Hinweis darauf gelesen werden, dass die Maschine mächtig in Fahrt ist bei der episodischen Gestaltung des Weltraumabenteuers und den Begegnungen Barbarellas mit äusserst seltsamen und ziemlich übergriffigen Kreaturen – liebestolle, wenn auch freundliche Fellmänner gehören ebenso dazu wie bissige Horrorpuppen und eine mörderische viskose Substanz namens Mathmos, die alles in seine kleinsten Bestandteile auflöst. Barbarella bewegt sich als neugierige, mit ihrem sich in Kleider, Räume, andere Körper, Substanzen und Maschinen einfaltenden Körper und allen Sinnen engagierte Leserin auf den fremden Planeten. Dabei gibt es immer wieder Metamorphosen durch Kontakt mit Materialien und Dingen, und Momente des Zögerns und Zauderns. Entscheidend ist aber die unaufgelöste Ambivalenz des Films zwischen recht robuster Männerfantasie und visionärer feministischer Utopie – eins ironischer als das andere. Die Alice-Maschine sorgt, im Zusammenspiel mit der ebenfalls zweischneidigen Logik des Exploitation-Modus, für eine Affektpoetik der vergnügten Verstörung, die niemals zur Ruhe kommt. Diese Unruhe ist so stark, dass sie über die Star-Persona von Jane Fonda, die an ihrer Rolle als Barbarella vielfache Qualen litt,45 bis in die Populärkultur der Gegenwart hinein nachwirkt, namentlich bis in die von Fonda mitproduzierte Netflix-Serie grace and frankie. Deshalb möchte ich die Analyse von barbarella gleichsam von hinten, über grace and frankie, aufrollen.

Meine Maschine gehört mir Zwei ältere Damen bewohnen gemeinsam ein traumhaftes Strandhaus bei San Diego. Doch hinter der freundlichen Fassade liegen nicht nur Ordnung und Chaos, Bürgerlichkeit und Bohème im Kampf miteinander; es wabern da auch Wut und Frustration. Denn Grace (Jane Fonda) und Frankie (Lily Tomlin) sind unfreiwillig in dieser Wohngemeinschaft gelandet. Nach vierzig Jahren Ehe wurden sie von ihren Ehemännern – beide Partner in einem Anwaltsbüro, beide spezialisiert auf Scheidungen – verlassen. Die beiden Herren nämlich liebten sich zwei Jahrzehnte lang im Geheimen, bevor sie sich zum Coming Out durchringen konnten. Die verlassenen Frauen hingegen gehen einander fürchterlich auf die Nerven, und das auch schon seit über zwanzig Jahren. Grace, immer perfekt gestylt, kultiviert ihre Zwangsneurosen, während Frankie ihr esoterisch verschwurbeltes Alt-Achtundsechzigertum mit Hippie-Outfits, Joints und Ausdrucksmalerei ­ zelebriert. 44Jack

Ibberson: Barbarella. Monthly Film Bulletin; London Bd. 35, Ausg. 408, (Jan 1, 1968), 168. 45Vgl. Jane Fonda: My Life so Far. New York 2005.

222

7  Oberfläche als Medium der Wahrnehmung

Wir haben es bei grace and frankie mit einer Comedy-Serie zu tun (entwickelt von Martha Kauffman und Howard D. Morris, USA 2015–); deshalb stellt sich bald heraus, dass die beiden Frauen in Wirklichkeit ganz anders sind, als sie scheinen; gute Kumpels alle beide. Grace ist in Wahrheit genauso eigensinnig, wild und kreativ wie Frankie; ausserdem säuft sie wie ein Loch. Frankie wiederum kann durchaus zupacken und Konflikte mutig angehen, selbst wenn sie einen Joint geraucht oder Meskalin und andere bewusstseinserweiternde Substanzen ausprobiert hat, und so verwandelt sich die Notgemeinschaft der Ausgemusterten in eine lebendige, kooperative Frauenfreundschaft. Die ganze Energie, die sich in den Jahren des unerfüllten Ehelebens aufgestaut hat, bricht sich jetzt Bahn, findet im Kosmos des permanenten, ebenso konflikthaften wie lustvollen Aushandelns ihre Kanäle, um produktiv zu werden. So produktiv, dass Grace und Frankie gemeinsam einen Vibrator für Seniorinnen mit empfindlichen Handgelenken erfinden: „Ménage à moi“ heisst das gute Stück; es ist lila genoppt und von beträchtlicher Größe.46 Die spezifische Form des anarchischen Zusammenlebens erlaubt es Grace und Frankie, aus ihren Rollen auszubrechen und ihre – ganz unterschiedlichen – Weiblichkeiten im fortgeschrittenen Alter neu zu entdecken. Insofern gestaltet die Netflix-Serie eine nicht-sexuelle, komödiantische, popkulturelle Variante jenes gemeinsamen, produktiven weiblichen Werdensprozesses, den Rosi Braidotti als paradigmatisch für eine Politik der Affirmation beschreibt. In deren Kern steht der – deleuzianisch unterfütterte – Prozess des nomadischen Werdens nachhaltiger Subjekte.47 Dieses nachhaltige Subjekt ist. […] ein Stück lebendiger, empfindsamer Materie: ein selbsterhaltendes System, das von einem fundamentalen Lebenstrieb ausgedrückt wird.[…] Dieses Subjekt ist physiologisch in die körperliche Materialität des Selbst eingebettet und so ist dieses verleiblichte, intensive oder nomadische Subjekt ein Dazwischen: eine Einfaltung äußerer Einflüsse und ein gleichzeitiges Entfalten von Affekten nach Außen. Als eine räumlich und zeitlich mobile Entität sowie als verleiblichte Form von Gedächtnis ist dieses Subjekt in einem Prozess begriffen, doch es ist ebenso in der Lage, durch unterschiedliche diskontinuierliche Variationen hindurch anzudauern und sich dabei selbst ausgesprochen treu zu bleiben.48

Kreativität sei insofern ein nomadischer Prozess, als sie zu einer Verschiebung von Identität, Erinnerung und Identifizierung führe. Nomadisches Werden bedeute eine Affirmation der positiven Struktur der Differenz, herausgelöst aus dem binären System, das die Differenz traditionellerweise der Gleichheit gegenüberstellte:

46Einen

Eindruck bekommt man in diesem fiktiven Werbeclip auf der Facebook-Fanseite der Serie: https://www.facebook.com/GraceandFrankie/videos/introducing-the-m%C3%A9nage%C3%A0-moi/698092203708556/ (27.04.2020). 47Braidotti 2018, 24. Für eine ausführlichere Auseinandersetzung mit dem nomadischen Werden vgl. Braidotti: Nomadic Subjects: Embodiment and Sexual Difference in Contemporary Feminist Theory. New York 2011. 48Braidotti 2018, 24.

7.3  Barbarella als Alice einer feministisch-utopischen Zukunft

223

Differenz als Positivität beinhaltet einen vielfältigen Wandlungsprozess, das heißt ein Spiel der Komplexität, der das Prinzip des Nicht-Eins ausdrückt. Dementsprechend ist das denkende Subjekt weder Ausdruck tiefer Innerlichkeit, noch ist es die Umsetzung transzendentaler Modelle reflexiven Bewusstseins. Es ist ein kollektives Gefüge und die Schaltstelle eines Netzes komplexer Beziehungen, die die zentrale Rolle jener Identitätsbegriffe verschiebt, die stets nur auf ein Ich verweisen.49

Das Individuum, betont Braidotti, sei ein vorübergehendes Moment in einer Kette des Seins, und die Kohärenz und Einheit des Selbst erscheine als ein Resultat von Wiederholung oder orchestrierter Wiederkehr – „Momente: ­ Raum-Zeit-Zonen, Schrittmacher, die flüchtig und kontingent sind.“50 Intensive Freundschaft basiert folglich auf einer nicht-unitären Subjektauffassung; das Selbst ist „mit übergreifenden inneren und äußeren Beziehungen verknüpft“.51 Realisiert habe sich die intensive Freundschaft nomadischer Subjekte in der Beziehung zwischen Virginia Woolf und Vita Sackville-West. Nun wäre es lächerlich zu behaupten, die doch stark hedonistisch angehauchten Kalifornierinnen Grace und Frankie seien geistige Enkelinnen von Virginia Woolf und Vita Sackville-West. Vielleicht ließe sich Donna Haraways handfestere, spekulativ-feministische Vision des Staying with the trouble – auf Deutsch unruhig bleiben52 – leichter auf die Situation der beiden Damen applizieren; immerhin betont Haraway die Notwendigkeit, Gemeinschaften jenseits der traditionellen Familie zu bilden und dabei nicht auf eitel Harmonie zu hoffen, sondern auf durchaus auch konfliktreiches „Werden mit“, bei Haraway Sympoesis genannt.53 Grace und Frankie sind tatsächlich weit davon entfernt, sich ineinander aufzulösen oder zu verschmelzen – zu sehr schlägt das Comedy-Genre seine Funken aus dem Aufeinanderprallen gegensätzlicher Figuren. Gleichzeitig ist die Produktion von Komik und Witz aber genau das, worum es in diesem Raum des Werdens letztlich geht, den grace and frankie um die beiden Protagonistinnen herum entstehen lässt – was uns wieder zu Braidottis Konzept der Kreativität produzierenden intensiven Freundschaft zurückführt. Der Vibrator – „Ménage a moi“ – in seiner ­albern-grotesken Erscheinungsform kann als Chiffre dafür gelten.54 Zumal er, in weiblicher Kooperation zur weiblichen Lustbefriedigung entstanden, ironischerweise eben doch letztlich als Konsumprodukt den Markt erobern soll. Selbst als eine alte Dame beim Einsatz von „Ménage a moi“ vor Lust stirbt, nützt es dem Geschäft mehr, als es ihm schadet. Ist das der Gipfel des Empowerment: vor Lust sterben, unabhängig und frei? Vor fünfzig Jahren, als Jane Fonda in barbarella

49Ebd.,

71–72. 92–93. 51Ebd., 99. 52Vgl. Haraway 2016. 53„Sympoiesis is a simple word; it means ‘making-with.’ Nothing makes itself; nothing is really autopoietic or self-organizing.” Ebd., 58 f. 54Vgl. zum Raum des Werdens Braidotti 2018, 100. 50Ebd.,

224

7  Oberfläche als Medium der Wahrnehmung

die Hauptrolle spielte, war es noch die Frau, die mit ihrer unendlichen Lust eine mörderische Orgasmusmaschine zum Explodieren brachte, und nicht umgekehrt. Und sie tat es nicht für sich, sondern brachte kraft ihrer Weiblichkeit Frieden über das gesamte Universum. Radikale Konsumkultur und zweckfreies, kooperatives Handeln sind in grace and frankie ineinander verzahnt, ohne wirklich verbunden zu sein. Gerade darin weht der Geist von 1968 weiter, das Nebeneinander von Gesellschaftsutopien und Konsum in der Internationale der Popkultur.55 Aber nicht als Geist, sondern ganz konkret in den Taktiken der Figuren, mit denen sie sich Spielräume verschaffen in einer Realität, in der alte Frauen und ihre Wünsche höchstens als Abfallprodukte vorgesehen sind. Der gemeinschaftliche Raum des Werdens entsteht durch die Mise-en-Scène, durch die Bewegungen der Kamera, den Rhythmus der Montage und durch den Einsatz der Musik, beziehungsweise durch den Einsatz der Sprache im Modus der Screwball Comedy, und lässt sich als eine Atmosphäre der verspielten, immer leicht überdrehten Lust am gemeinsamen Sein und Tun in der Welt beschreiben. Die feministische Haltung von grace and frankie manifestiert sich meines Erachtens gar nicht so sehr in der Repräsentation älterer Frauen als handelnde und begehrende Subjekte, die es sich nicht nehmen lassen, ihrer Umgebung gehörig den Stempel aufzudrücken, sondern sie artikuliert sich in einer verspielten Affektpoetik, welche die Zuschauerinnen und Zuschauer an der Sympoiesis teilhaben lässt. Vor diesem Hintergrund könnte man sagen, Jane Fonda und Lily Tomlin hätten, als Stars und als Co-Produzentinnen von grace and frankie, den Faden von Barbarellas Geschichte wieder aufgenommen, um ihn in einer un-utopischen Zeit weiterzuspinnen, bis in die unwahrscheinlichsten Räume hinein – zu denen die Seniorinnen-WG unbedingt gehört. Anders als 1968 steht heute, nicht zuletzt durch Rosi Braidottis posthumanistisch-feministische Arbeiten, das Rüstzeug zur Verfügung, um barbarella gegen den Strich der erotischen Männerfantasie zu lesen – als Inszenierung einer kooperativen weiblichen Panerotik, die keinen Unterschied macht zwischen „Entitäten, Geschlechtern, vergeschlechtlichten Körpern, Spezies und Kategorien“.56 Eins kommt zum anderen und berührt sich – ohne dass ein Drittes daraus werden muss.

An- und Ausziehen Unter anderem deshalb kann man barbarella heute nicht mehr sehen, ohne an grace and frankie zu denken – insbesondere an Jane Fondas Entwicklung vom Sexsymbol in der Reihe Bardot, Deneuve & Fonda (unter diesem Titel sind

55Vgl.

Hermann Kappelhoff: Auf- und Abbrüche: Die Internationale der Pop-Kultur. In: Kappelhoff/Lötscher/Illger: Filmische Seitenblicke. Cinepoetische Exkursionen ins Kino von 1968. Berlin 2018, 1–42. 56Braidotti 2018, 14.

7.3  Barbarella als Alice einer feministisch-utopischen Zukunft

225

Vadims Erinnerungen in der englischen Übersetzung erschienen)57 über die politische Aktivistin und die Prophetin der Aerobic-Welle zur Feministin, die weibliche Selbstoptimierung zwar durchaus praktiziert, aber auch anprangert, und dabei offen über Essstörungen, Sportexzesse und Schönheitsoperationen spricht.58 barbarella gehört für Fonda zu einer sowohl rauschhaften als auch schwierigen Vergangenheit, in der sie sich selbst entfremdet war: „There I was, a young woman who hated her body and suffered from terrible bulimia, playing a scantily clad – sometimes naked – sexual heroine.“59 Außerdem erinnert sie sich an das Gefühl, buchstäblich im falschen Film zu sein. Die Amerikaner führten Krieg in Vietnam, die Studentinnen und Studenten revoltierten, und Fonda partizipierte an einem Projekt, das ihr albern und kindisch vorkam: „Filming barbarella at a time when so much substantive change was taking place in the world had acted as yeast to my malaise. Who was I? What did I want from life?“60 Unabhängig von Fondas Bedenken zirkulierte Barbarella, ­Weltraum-Agentin einer Erde der Zukunft, durch die Popkultur und wurde Kult, als leichtbekleidetes Sexsymbol. Das gilt für den Film ebenso wie für die Comic-Vorlage von JeanClaude Forest (1964). Dort hüpfen Barbarella bei jedem noch so kleinen Körpereinsatz die Brüste aus den Kleidern. Im Film hingegen wird sie an- und ausgezogen wie eine Puppe; innerhalb von Sekunden wechselt sie von einem Outfit ins andere. sodass jedem Zuschauer, jeder Zuschauerin klar wird: der schnelle Wechsel muss mehr mit kühler Montagetechnik als mit dem möglicherweise erotisch konnotierten An- und Ausziehen eines weiblichen Körpers zu tun haben. Es scheint der Film selbst zu sein, der Barbarella die Kleider vom Leib reißt, um sie gleich wieder neu einzukleiden, in die extraterrestrischen, von Paco Rabanne inspirierten Kreationen (Kostüme: Jacques Fonteray). Dabei erinnert Barbarella mit ihren neugierigen blauen Augen, ihrem Blondhaar und dem Gehirn, das in jeder Lebenslage wie am Schnürchen fleißig angelerntes Wissen reproduziert, ikonographisch an Alice. Im Gegensatz zur viktorianischen Kinderbuchheldin hat Barbarella allerdings eine (geheime) Mission; als 5-star Astro-Navigatrix vom Planeten Erde ist sie unterwegs, um den verschollenen Forscher Durand-Durand zu finden und zurück auf die Erde zu bringen. Obwohl auf der Erde längst love and peace herrschen, hat ­Durand-Durand eine Waffe gebaut, mit der er die Welt vernichten kann. Nun gilt es zu verhindern, dass selbige in die falschen Hände kommt, denn sie besitzt „the power to shatter the loving union of the universe“.

57Roger

Vadim: Bardot, Deneuve & Fonda. The Memoirs of Roger Vadim. New York 1987. Die Taschenbuchausgabe wirbt auf dem Cover mit folgenden Verlockungen: „Pillow talk and behind the sets-secrets of three legendary film stars from the man who loved them all.“ Das französische Original erschien unter dem Titel D’une étoile à l’autre. 58Vgl. Fonda 2005. 59Ebd., 422. 60Ebd., 437.

7  Oberfläche als Medium der Wahrnehmung

226

Noch bevor die Zuschauerin, der Zuschauer überhaupt erfährt, worum es geht, entfaltet der Film einen ebenso unsinnig-albernen wie erotisch aufgeladenen Raum der Berührungen und etabliert damit seine Poetik. Es handelt sich um eine Erotik der Materialien, der Formen, Rhythmen und Bewegungen, die sich im permanent seine Gemachtheit zur Schau stellenden Weltraum ineinander verschlingen, sich ein- und ausfalten, ohne auch nur eine Spur ihrer Heterogenität aufzugeben. Der Film beginnt in der nahezu völligen Stille eines königsblauen ­Weltraum-Meers. Von Vakuum keine Spur – es scheint Blasen zu werfen, muss also aus einer viskosen Substanz bestehen. Die Kamera nähert sich einem Flugobjekt, das an Bauklötze erinnert, oder an eine Seifenkiste; aus Brettern zusammengenagelt und mit futuristisch anmutenden, kugeligen Düsen versehen. Dazu vernimmt man, leise zunächst, ein Geräusch wie von Maschinen, das in ein nervöses Sirren übergeht, als die Kamera durch das Fenster des Raumschiffs ins Innere vordringt. Für einen Moment ist die Kamera, sind wir, geblendet von Licht: hell leuchtet das Zentrum, wie aus Blasen sich teilender Zellen, umgeben von einem bläulichen Hof, hinter dem sich, in tieferen, dunkleren Blautönen, ein Raum abzeichnet. Aus der unteren linken Ecke schwebt eine schwerelose Gestalt, in einen Raumanzug aus mehreren Plastikschichten verpackt, in den Kader hinein, und das Sirren verwandelt sich in das Intro zu einem Song. Die Musik nimmt Fahrt auf, als die Figur sich verführerisch aus der Verpackung zu schälen beginnt – zuerst die Hände, zarte, manikürte Frauenhände, dann ein Paar perfekt geformte Beine. Das Visier des Helms, eine Glaskugel, öffnet sich und offenbart einen blonden Haarschopf, blaue Augen in einem verträumt-lasziven Gesicht. Sobald die Augen erscheinen, hebt der Sänger zum Lob der Astronautin an, sekundiert durch einen Chor von Frauenstimmen, der zwischen jeder Phrase ein laszives „ahhh“ stöhnt: „It’s a wonder – ahhh – Wonder Woman – ahhh – you’re so wild – ahh – and wonderful, – ahh –’cause it seems whenever we’re together the planets all stand still.“ Die Musik dauert an, bis der berühmte Striptease in der Schwerelosigkeit vollendet wird: „Barbarella psychedella, there’s a kind of cockle shell about you. You dazzle me with rainbow colours, fade away the duller shade of living, get me up high, teach me to fly, electrify a night with starry light above the stratosphere […].“61 Eine Liebesszene, ganz klar – doch wer sind die Beteiligten, wer bringt da zusammen die Planeten zum Stillstand? Inszeniert der Film vielleicht einen Flirt zwischen Barbarellas nackten Extremitäten und dem Blick der Zuschauerinnen und Zuschauern? Dazu kommt es nicht. Die Affizierung durch Komik und Nonsense hält die Erotik in Schach, zelebriert sie dafür auf eine seltsame Weise, der ich im Folgenden nachgehen möchte. Dazu gehört, dass Barbarellas schwereloser Striptease an den Zeitlupen-Fall von Carrolls Alice durchs Kaninchenloch denken lässt – zumal Barbarella nach der Sequenz mit einem Plumps auf dem

61barbarella,

00:00:12–00:04:41.

7.3  Barbarella als Alice einer feministisch-utopischen Zukunft

227

teddybärbraunen Kunstfell landet, das zur Auskleidung der Raumkapsel verwendet wurde.

Sex ohne Sex: Wiederholung und Variation Die Inszenierung der Striptease-Szene gibt den Zuschauerinnen und Zuschauern zu verstehen, dass es hier Sex zu sehen geben wird – und doch sieht man absolut nichts davon. Jedenfalls nicht so, wie man sich heute eine Sexszene aus der Zeit um 1968 vorstellt. Zunächst einmal verhindern die über Barbarellas nackten, sich in der Schwerelosigkeit räkelnden Körper laufenden Credits den freien Blick auf ihre Brüste – bezeichnenderweise sind es die Buchstaben „David Hemmings as Dildano“, welche die Aussicht im entscheidenden Moment blockieren. David Hemmings, dem Publikum bekannt als der ennuierte, ziellos sehnsüchtige Fotograf Thomas aus Antonionis blow up (GB/I/USA 1966), wird später als besagter Dildano mit Barbarella den avancierten, von der terrestrischen Zivilisation zur Förderung des Weltfriedens und mit Hilfe von Pillen entwickelten Hand-Sex praktizieren. Bevor es so weit kommt, inszeniert der Film in immer neuen Episoden immer wieder neue Liebesszenen, die sich auf einer formalen Ebene als Konstellationen von Materialien beschreiben lassen, die nicht zusammenpassen und gerade dadurch eine Spannung zum Ausdruck bringen. Was in der Kapsel mit Kunstpelz, einem Gemälde, einer Bronzestatue, viel Plastik und Barbarellas Körper begann, wiederholt sich und wird zu einer Serie: Kunstpelz, Barbarellas mal erdbeerblond, mal feuerrot leuchtende Haare, das metallische Blinken und Biepen des Bordcomputers, und dazwischen das Cockpit, das den Blick freigibt in die Weite der viskosen Masse des blubbernd-blauen Weltraums. Die Frisuren der bösartigen Zwillingsschwestern Stomoxys und Glossina auf dem Planeten Tau Ceti mit seinen Schneefeldern, aufragenden Kristallen und Trockeneisnebeln treten wie der schwarze Nullpunkt im Tanz der Materialien aus dem Hintergrund hervor. Man kann das mit Susan Sontag als Camp bezeichnen.62 Nicht nur, was Künstlichkeit, Übertreibung und das Zelebrieren der Oberflächen angeht, sondern auch hinsichtlich der ambivalenten Zuschauererfahrung, die Sontag wie folgt beschreibt: „I am strongly drawn to Camp, and almost as strongly offended by it.“63 Dabei möchte ich, bei aller Albernheit und Ironie von Plot und Schauspiel, die Materialkonstellationen ernst nehmen – in ihrem Versuch, eine utopische Dimension von Eros als Zusammenspiel und Berührung zu realisieren. BarbarellaAlice spielt darin eine wichtige Rolle, weil sie durch ihre Offenheit noch den

62„Indeed

the essence of camp is its love of the unnatural: of artifice and exaggeration”, schreibt Susan Sontag 1966 in ihrem Essay Notes on ‘Camp’. New York 2018, 1. 63Ebd., 1.

7  Oberfläche als Medium der Wahrnehmung

228

bizarrsten Figuren und Praktiken gegenüber die Berührung der Materialien überhaupt erst möglich macht. Vor dem Hintergrund der Materialitätsdebatte erscheint Vadims Film plötzlich als avantgardistisches Unternehmen, als populärkulturelles Pendant zu Harald Szeemanns inzwischen in die Annalen der Kunstgeschichte eingegangener Ausstellung „Wenn Attitüden Form werden“, die ein Jahr später, 1969, in Bern gezeigt wurde. Sie sprengte den Kunstbegriff nicht nur in Richtung Installation und Happening auf, sondern beschritt auch durch die Materialien, welche die beteiligten Künstlerinnen und Künstler verwendeten, Neuland. Von der Kritik wurden sie sogleich „sprachlich in Abfall transformiert“ – „Aschehaufen“, „Zementbrocken“, „geschmierte Kochbutter“.64 barbarella zelebriert zwar keineswegs das kunstlose Material, sondern gerade das künstlich hergestellte, arbeitet aber an einem verwandten Projekt: Materialien und Körper bilden in der Zeitlichkeit der audiovisuellen Rhythmen immer wieder neue Intensitäten auf einer Oberfläche, die keine Tiefe braucht. Was Gilles Deleuze in seiner 1969 erschienenen Logique du sens für Carrolls Alice-Bücher beschreibt, ließe sich auch auf Vadims barbarella übertragen: Es geht um den Sinn und den Doppelsinn der Oberfläche.65 Nur der Plot und der einheitlich dem Lounge-Stil der 1960erJahre verpflichtete Soundtrack sorgen für das Gefühl, es mit einem Pop-Märchen und nicht mit einem Werk der Avantgarde zu tun zu haben. Barbarella rettet schließlich den Frieden, indem sie dem Mad Scientist Durand-Durand das Handwerk legt und seine Pläne, das Universum zu unterjochen, vereitelt. Ihre wahren Abenteuer aber sind erotischer Art. Die zentralen Episoden gipfeln je in einer sexuellen Begegnung: mit dem Kinderfänger Mark Hand (Ugo Tognazzi), einer pelzigen Version des Vogelfängers Papageno aus Mozarts Zauberflöte; mit Pygar (John Philip Law), dem Engel, dem der Wille zum Fliegen abhanden gekommen ist (und den er dank Barbarellas beherztem Eingreifen wieder zurückerlangt); mit dem Revolutionär Dildano (wie gesagt: David Hemmings) – und schließlich mit einer Maschine, dem Orgasmotron, in dem sie, so will es der verrückte Durand-Durand, vor Lust sterben soll. In keiner dieser Szenen sieht man einen sexuellen Akt zwischen zwei Menschen oder zwischen Mensch und Maschine; vielmehr verwandeln sich die Konstellationen aus Materialien zu immer neuen Formen, modulieren und intensivieren sich. Mark Hand rettet Barbarella vor einer Horde von Monsterpuppen, und sie möchte sich revanchieren. Er zögert nicht lange: „You could make love to me“. Und Barbarella, wie ein braves, wohlerzogenes Mädchen, ist sofort dazu bereit. Die Vorbereitungen gestalten sich aber nicht ganz unkompliziert; es gilt, sich Klarheit über unterschiedliche kulturelle Gepflogenheiten beim Geschlechtsakt zu verschaffen. Barbarella, als Angehörige und Botschafterin einer fortschrittlichen Zivilisation, kennt die rohen Sitten der physischen Begattung nur vom

64Wagner

2001a, 9. 1993, 27. Zu Alice, Deleuze und Frau Werden im Film vgl. auch Pisters 2004, 106–

65Deleuze:

140.

7.3  Barbarella als Alice einer feministisch-utopischen Zukunft

229

Hörensagen; sie verlässt sich auf die erwähnte hochentwickelte psychedelische Technologie. Je nach Psychokardiogramm wird errechnet, wer zusammenpasst. Dann schlucken die beiden Liebespartner eine Pille und berühren sich mit den Handflächen. Barbarella versucht Hand zu erklären, wie das geht: „Well, on Earth, when our psychocardiogram readings are in harmoy and we wish to, make love, as you call it, we take an exultation transference pellant and remain, like this.“ Doch er besteht auf der traditionellen Vorgehensweise – und Barbarella wird den kleinen Rückfall in die Barbarei nicht bereuen (immerhin kennzeichnet sie ihr Name als „kleine Barbarin“). Solange der Dialog – ganz in der Tradition von Carrolls Nonsense – andauert, erweckt das Schuss-Gegenschuss-Verfahren den Eindruck, die beiden seien nicht in einem gemütlichen kleinen Segelschlitten vereint, sondern getrennt, in unverbundenen Räumen. Durch die Alice-Maschine ist es möglich, dass die beiden, paradoxerweise, zugleich getrennt sind und zusammenkommen: Barbarella sitzt in einem sich ins Unendliche fortsetzenden, halbtransparenten Schlauch auf Kunstfell, ein unruhiges Patchwork aus Haaren, Glitzerkostüm, zerrissener schwarzer Strumpfhose und blutenden Stellen, die sich dem Angriff der Killerpuppen verdanken. Auf der anderen Seite haben wir, noch unerreichbar, Mark Hand, mit Fellkostüm und Vollbart eingebettet in dunkle Brauntöne, hinter ihm Holz und eine beschlagene Fensterscheibe. Barbarella nähert sich ihm mit der Pille, streckt die Handfläche aus, um ihm zu zeigen, wie man sich auf der Erde liebt – und lädt dabei die Zuschauerinnen und Zuschauer ein, die Handfläche auf die Leinwand oder den Bildschirm zu legen, um ihre Handfläche zu berühren. Das ließe sich leicht als medienreflexiv-kritischer Kommentar zur Verschiebung erotischen Begehrens vom Zwischenmenschlichen in die Zone medialen Konsums interpretieren – es lässt sich auf einer komplexeren Ebene aber auch als Inszenierung davon verstehen, dass erst audiovisuelle Bilder unserem Fühlen und Begehren eine Form geben. In dieser erwartungsvollen Haltung bleibt Barbarella einen Moment, bis der Rhythmus der Montage schneller wird, und wir sie und Hand endlich im gleichen Kader sehen. Die Diskussion geht, wieder im Schuss-Gegenschuss-Verfahren, noch ein wenig weiter; dann schlängelt sich Hand aus seinem Fellgewand – nur um darunter einen ebenso dichten Pelz an Brusthaar zu offenbaren.66 Da verzieht sich die Kamera aus dem Liebesnest, und wir sehen, wie das Gefährt wild über die Eisfläche gleitet. Ihre Krönung erfährt die Szene, wenn Barbarella sich nach dem Liebesakt ganz verträumt anzieht: Ein scharzweißes Kuscheltier mit langen Haaren ist das nächste Outfit, und bevor sie es sich überzieht, umarmt sie es liebevoll. Die Liebesnacht mit Pygar hingegen spielt sich zwischen zwei Schnitten ab. Schauplatz ist buchstäblich ein Nest, das der blinde Engel im Labyrinth der City of Night bewoht.

66barbarella,

00:22:10–00:25:00.

7  Oberfläche als Medium der Wahrnehmung

230

Dieses Labyrinth besteht aus Stein, abgestorbenen Pflanzenresten, Spinnweben und Menschen, die in Materialien eingeschlossen sind, zum Teil in immerwährender Umarmung, als seien sie für alle Ewigkeit im Tartaros gefangen. Somit illustriert das Labyrinth gleichsam die höllische Variante der Materialberührung. Barbarella und Pygar sehen wir allerdings nicht in der Umarmung: der Film schneidet vom Moment, in dem Pygar seine Besucherin entschlossen an der Hand Richtung Nest zieht, direkt zum Morgen danach: Barbarella liegt nackt auf dem trockenen Gras des Engelsnests und summt das Lied aus den Anfangscredits, während sie sich mi teiner Feder über das Gesicht streichelt.67 Sie ist Teil eines Arrangements aus Gras, Federn, glänzenden Materialien (ob Engel mit Elstern verwandt sind?), und entdeckt dabei den Engel, der am Himmel seine Kreise zieht. Bald fliegen Barbarella und Pygar gemeinsam davon, auf in die nächste Etappe des Abenteuers in der Stadt Sogo. Die Materialien der Stadt sind nicht weich und flauschig wie die „natürlichen“ und künstlichen Felle Mark Hands oder das Federkleid Pygars, sondern glatt und kalt; harter Plastik, Metall, Glas. Ausserdem ist Sogo voller Foltermaschinen und mörderischer Kammern, in denen Barbarella den Tod finden soll. Doch genau wie Alice versteht sie sich ausgezeichnet darauf, eine Episode abzubrechen, wenn es ihr zu bunt wird. Barbarella begibt sich in den Untergrund, zu Dildano, dem Revolutionär. Er ist ganz versessen darauf, sie auf die fortschrittliche Art der Erdbewohner zu lieben. Recht unromantisch wühlt er, auf der Suche nach der Pille, in seinen Sachen herum, und als er sie endlich gefunden hat, begeben sich die beiden ohne viel Aufhebens in Position – sie tun als ob, und dabei erweist sich die seltsame (a)sexuelle Begegnung in ihrem Als-ob doch als echte ästhetische Erfahrung. Die Kamera zieht sich in den Hintergrund zurück, sozusagen um Anlauf zu nehmen, psychedelische Musik setzt ein, und wir zoomen auf die aneinandergelegten Hände zu. Nichts scheint zu passieren, die Musik verstummt – doch dann beginnen Barbarella und Dildano seltsam zu ruckeln, während ein knatterndes Geräusch ertönt, und ein Wind aus dem Nirgendwo fährt ihnen in die Haare. Barbarela sieht als, als hätte sie mit Lockenwicklern unter der Haube gesessen, Dildanos Haare stehen wüst zu Berge. Zwischen den Handflächen steigt ein Räuchlein auf (Abb. 7.1).68

„Wait until the tune changes!“ Doch es ist eine Maschine, kein Mann und keine chemische Substanz, die Barbarella zur höchsten sexuellen Ekstase treibt. Auch hier haben wir es mit einem Fall von Taktik zu tun, denn eigentlich hat der verrückte Wissenschaftler Durand-Durand (Milo O’Shea) das Orgasmotorin als Hinrichtungsapparatur

67Ebd., 68Ebd.,

00:38:20–00:38:35. 01:01:23–01:04:16.

7.3  Barbarella als Alice einer feministisch-utopischen Zukunft

231

Abb. 7.1 Futuristischer Sex über das Interface der Handflächen: Barbarella (Jane Fonda) und Dildano (David Hemmings)

gebaut:69 Es soll Frauen an ihrer eigenen Lust zugrunde gehen lassen. Barbarella allerdings widersteht – und verwandelt die Todesqualen in Genuss. Die Maschine geht in Flammen auf. Eingeführt wird die Orgasmotron-Episode mit Akkorden, die an Bachs Toccata und Fuge in d-moll erinnern und dabei Assoziationen an finstere ­Gothic-Szenarien wecken, derweil die Kamera über ein Notenblatt mit bunten geometrischen Formen streift. Beschwintger Elektrosound – schon sind wir wieder in den 1960er-Jahren – löst die Orgelklänge ab, und allmählich, als hätten wir es auch hier mit einem Striptease zu tun, enthüllt die Kamera Durand-Durand, der eine gelbe Plastikklaviatur betätigt. Diese produziert nicht nur Musik, sondern versetzt eine schwarze Maschine aus Gummi in Bewegung, in die er Barbarella gesteckt hat. Nur noch ihr Kopf lugt heraus. Die „sonata for executioner and various young women“ werde gespielt, informiert er, und wie um zu beweisen, dass seinen Worten Taten folgen (anders als bei der Roten Königin, deren „off with her head!“ unbeachtet verhallt), gibt die Totale gibt den Blick auf einen Haufen aus achtlos weggeworfenen Kleidern und Frauenleichen frei. Während triumphale Trompetenfanfaren ertönen, sehen wir im Schuss-Gegenschuss-Verfahren – wie zu Beginn des Films bei Mark Hand und Barbarella – den Organisten als Henker bei der Arbeit und Barbarellas Gesicht, das aus den sich wellenförmig auf und ab bewegenden Maschinenteilen herausstrahlt. Noch mehr als bei der Liebesszene mit Hand wird die Montage von Schuss-Gegenschuss ihrer üblichen Funktion, zwei Gesprächspartner zu verbinden, entfremdet – als Figuration der ­Alice-Maschine realisiert sie nämlich die paradoxe Situation, dass zwei verschmelzen und dabei getrennt bleiben. Barbarellas Gesicht, das aus den sich wellenförmig auf und ab bewegenden Maschinenteilen herausstrahlt. Dabei findet schon wieder ein Strip statt, diesmal den Augen des Publikums entzogen; eins nach dem anderen wirft das Orgasmotron Barbarellas Kleidungsstücke und Accessoires aus. In der Inszenierung der in die Maschine eingefalteten Frau setzt sich die Serie der

69Vgl.

de Certeau 1988, 23–24.

7  Oberfläche als Medium der Wahrnehmung

232

Arrangements aus weiblichem Körper und extraterrestrischen Materialien fort. Nur, dass Barbarella hier zum ersten Mal ihre vergnügte Contenance verliert. Die Todesmassage beginnt einigermaßen harmlos: „It’s… sort of nice, isn’t it?“, gluckst Barbarella, und Durand-Durand erwidert, mit der künstlich sanften Stimme des Bösewichts: „Wait until the tune changes. It may change your tune as well.“ In der Tat nimmt die Musik Tempo auf, steigert sich zum Crescendo und verliert sich schließlich in einem Wirrwarr aus unkoordinierten Rhythmen, von verschiedenen Perkussionsinstrumenten gespielt. Darunter mischen sich Stöhnlaute, die ein Chor von ewig Verdammten hervorzubringen scheint. Wiederum im Schuss-Gegenschuss-Verfahren sehen wir die schweißüberströmte, in Ekstase die Augen rollende Barbarella in der Maschine und Durand-Durand, der den Apparat bedient, mit immer wilder werdendem Gesichtsausdruck. Anstatt ihren Geist auszuhauchen, widersteht Barbarella, und die Maschine fängt Feuer, explodiert. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, kommentiert Durand-Durand, was gerade geschehen ist: Wretched girl, what have you done to the excessive machine! You’ve undone it! […] You’ve burned out the excessive machine, you’ve blown all it’s fuses! You’ve exhausted it’s power, it couldn’t keep up with you. Incredible, what kind of girl are you! Have you no shame? Shame, shame on you!70

Und er droht ihr mit noch unerhörteren Foltermethoden: „I’ll do things to you that are beyond all known philosophies“ – ob er mit den Philosophien vielleicht jene des Marquis de Sade meint, bleibt sein Geheimnis. Durand-Durand hat aber keine Ahnung, was sich wirklich abspielt. Aus der Perspektive der Zuschauerinnen und Zuschauer haben wir es mit einer recht verstörenden Sequenz zu tun. Wir sehen gleichzeitig zwei unheilbar unvereinbare Ereignisse, die sich weder auseinanderdividieren noch zu einer sinnvollen Einheit verbinden lassen: eine Vergewaltigung und eine autoerotische Ekstase. Das geht nicht zusammen, darf nicht zusammen gehen. Die Szene folgt teilweise der Exploitation-Logik, indem sie eine gespaltene Zuschauerposition inszeniert – wir geniessen die Qualen der in der Maschine gefangenen Frau, während wir uns über das eigene Geniessen empören –,71 dreht aber noch ein paar Rädchen weiter an der Komplexitätsspirale. Durch ihre Lustexplosion, die zur Zerstörung der Orgasmusmaschine führt, rettet Barbarella die Welt – denn kein von Männern gebauter Apparat, keine Waffe kommt an gegen die weibliche Lust, die sich mit ihrer panerotischen Affinität in alle Räume und ihre Materialien einzufalten vermag, seien es fellige Höhlen, Engelsnester, Revolutionszellen oder feindlich gesinnte Maschinen. Linda Williams sieht in barbarella die feministische Feier des klitorialen Orgasmus und damit die biologische Überlegenheit der weiblichen Sexualität realisiert, die sich in Vadims Film zu einer Utopie aufschwingt, die

70barbarella, 71Vgl.

01:08:13. Kappelhoff 2008, 161.

7.3  Barbarella als Alice einer feministisch-utopischen Zukunft

233

nicht ganz so ironisch zu verstehen ist, wie sie aufgrund des Exzesses von Albernheiten wirkt.72 Denn Barbarellas Autoerotik ist, wie die Analyse ihrer Einfaltungen in den kinematographischen Raum gezeigt haben, als eine Panerotik zu verstehen, die noch den tödlichsten Raum in einen Raum des Werdens zu verwandeln vermag. Barbarella vermag die Galaxis aber nicht allein in ihrer Eigenschaft als Sexsymbol zu verwandeln. Voraussetzung ist die Kombination ihrer erotischen Adaptionsfähigkeit mit der Neugier des unschuldigen, ebenso gelehrigen wie eigenwilligen Mädchens, die sie tatsächlich zu einer Urenkelin von Alice macht. Die „Sex“-Szenen in Barbarella wirken ungefähr so erregend wie das Gespräch zwischen Alice und Humpty Dumpty in Through the Looking−Glass, und die seltsame Kombination aus komischen und schräg-grotesken Modalitäten trägt dazu bei, die Erotik auf eine ästhetische Ebene zu verschieben. Vielleicht hat ­Durand-Durand gar nicht so unrecht mit seinen unerhörten Philosophien, wenn auch anders, als er meint: Das Denken der Bilder in barbarella lässt uns den Weltfrieden als medial-erotische, raumzeitliche Berührungszone von Farben, Formen, Materialien erfahren, die in ihrer Heterogenität koexistieren, ohne homogenisiert zu werden. Das erinnert zum einen an die flüssigen, sich niemals mischenden Substanzen in der Lavalampe der Marke Mathmos, die in den späten 1960er- und 1970er-Jahren zum stylischen Interieur gehörten – und zum anderen an die Gestaltung der Szene mit der Cheshire Cat in der Alice-Adaption von William Hanna und Joseph Barbera (the new alice in wonderland or what’s a nice kid like you doing in a place like this, USA 1966). Hier wird der Katzenkörper transparent und vervielfältigt sich so oft, bis die Farben und Formen wie eine viskose Flüssigkeit anmuten.73 Wir legen, ohne es zu merken, unsere Handfläche an jene, die uns Barbarella entgegenhält, auf dass wir uns durch das Interface von ihr elektrifizieren lassen können. Die Alice-Maschine kommt in den 1960er-Jahren nicht nur in ihrer medienanalytischen Eigenschaft zum Zug, sondern fördert auch eine Utopie der Materialien zutage, die in den Alice-Büchern angelegt ist. Auch sie hat eine abgründige Seite, auf die ich noch zurückkommen werde.

Maschinen und Assemblagen Barbarella ist eine utopische neue Frau – buchstäblich die Frau der Zukunft. Sie besiegt die männliche Maschine, so scheint es, durch pure Lust, die in der ­Star-Persona von Jane Fonda ein halbes Jahrhundert in die Hibernation abtaucht, um in Gestalt des „Ménage à moi“ zur von Frauengeist erfundenen Lustmaschine aufzublühen. Sie wird zum Symbol für weibliche Selbstermächtigung

72Linda

Williams: Screening Sex. Durham 2008, 168. 2017a, 109.

73Tomkowiak

7  Oberfläche als Medium der Wahrnehmung

234

Abb. 7.2  „I am Harriet“: Grace (Jane Fonda) und Frankie (Lili Tomlin)

bis in den selbstbestimmten Lusttod hinein. Mit der I am Harriet-Kampagne wird die Maschine zum Ich, wie man auf den T-Shirts sehr schön sehen kann (Abb. 7.2). Der Tod selbst wird aus der Position der radikalen Negation alles Lebendigen befreit und, um Rosi Braidotti zu zitieren, in den großen Fluss des Werdens integriert; er ist „ein wesentlicher Bestandteil der generativen Zyklen des Lebens“.74 Barbarella, die das Orgasmotoron zur Explosion gebracht und damit die männliche Maschinenordnung unterlaufen hat, arbeitetet, wohl ohne es zu wissen, gemeinsam mit den 68er-Aktivistinnen, die gegen den Machismo ihrer Kollegen revoltierten, an der Verwandlung des dialektischen Denkens – Fremdbestimmung und Aneignung, Herrschaft und Befreiung – in ein Denken der Assemblage mit. Als Begriff geht Assemblage auf Deleuze/Guattari zurück, wobei ich hier nicht auf die verwickelte Begriffsgeschichte von agencement und assemblage eingehen, sondern behaupten möchte, dass Assemblagen Maschinen ohne Dialektik und ohne gewaltsame Auseinandersetzungen in sich aufnehmen, um sie in Agenten des Friedens zu verwandeln.75 Das schönste Beispiel ist wiederum die Metamorphose des Orgasmotrons, mit der sich in sein Inneres einfaltenden Frau, in den Vibrator, der sich perfekt an die weibliche Anatomie anpasst. An Assemblagen kann gemäss Lowenhaupt Tsing alles beteiligt sein: Menschen, Tiere, Pflanzen, Dinge und Maschinen. Entscheidend ist, dass Assemblagen produktiv sind – „assemblages don’t just gather lifeways; they make them“76: Thinking through assemblage urges us to ask: How do gatherings sometimes become „happenings“, that is, greater than the sum of their parts? If history without progress is indeterminate and multidirectional, might assemblages show us its possibilities? Patterns of unintentional coordination develop in assemblages. To notice such patterns means watching the interplay of temporal rhythms and scales in the divergent lifeways that gather.77

74Braidotti 75Zur

2018, 45. Theoriegeschichte der Assemblage vgl. Manuel de Landa: Assemblage Theory. Edinburgh

2016. 76Lowenhaupt 77Ebd.

Tsing 2015, 23.

7.3  Barbarella als Alice einer feministisch-utopischen Zukunft

235

Vor dem Hintergrund eines Kapitalismus, der elaborierte Techniken, oder eben Maschinen, entwickelt hat, um alles in Ressourcen zu verwandeln, ganz egal ob Mensch, Tier, Pflanze oder Ding, werden hier Denkansätze entwickelt, um dieser Kampf- und Verwertungslogik zu entkommen und eine andere Perspektive auf die Welt zu gewinnen. Lowenhaupt Tsing arbeitet heraus, wie der Kapitalismus, um in Maschinen, Unternehmen, Ideen, Menschen investieren zu können, alles von allem trennen – marxistisch gesagt: entfremden – muss. Denn wenn alles für sich allein steht, verschwinden die Verwicklungen lebendiger Materie aus dem Sichtfeld, das ganz darauf fixiert ist, die artifiziellen Grenzziehungen zu naturalisieren. Ein Teil der 68er-Aktivistinnen versuchte in den 1970er-Jahren bekanntlich, eine weibliche Gegenwelt zu erschaffen, irgendwo auf dem Land, im Einklang mit der Natur und der zyklischen Zeit eines neu entdeckten Matriarchats. Die Autorin Verena Stefan schildert den Prozess der Aneignung ihres im Zeichen der sexuellen Befreiung objektivierten Körpers eindrücklich in Häutungen von 1974, einem Text, der für einige Zeit zum Kultbuch der Frauenbewegung avancierte, dann ebenso resolut vergessen wurde und sich seit ein paar Jahren neuer Aufmerksamkeit von jungen Leserinnen erfreut. Mit ein wenig spekulativer Abenteuerlust könnte man behaupten, Stefan und der Kreis der Feministinnen um sie herum hätten die Poetik der Assemblage aus Körpern und Materialien – wie sie in Filmen wie barbarella, die 1968 hervorgebracht hat, entwickelt wurde – aus dem Macho-Kontext gelöst und weitergeschrieben. Zunächst in Texten über utopische Gemeinschaften von Frauen in der Natur oder in die Antike versetzt wie im Fall von Kassandra von Christa Wolf (1983) – dann in Romanen und Erzählungen, die das Analyseinstrumentarium auf die ganze globalisierte, nomadische Gesellschaft des 21. Jahrhunderts anwenden. Vor diesem Hintergrund scheint es gar nicht mehr so paradox, dass die Assemblage-Utopien von 1968 einen Widerhall in wonder woman (Patty Jenkins, USA 2017), einem Blockbuster der Gegenwart, finden. Die Szene, in der die Amazone Diana (Gal Gadot) in London Kleider anprobiert, mit denen sie auf der Strasse nicht auffällt, ist als Assemblage von widerspenstigem weiblichem Körper, der jagen und reiten will, und Texturen aller Art inszeniert – wobei die Frage mitschwingt, wie man denn Amazone sein kann, wenn kratzige Lodenröcke aus muskulösen Beinen einen Fischschwanz machen und die Seidenbluse reisst, wenn man nur noch schon Arm heben will. Vor allem finden die Assemblage-Utopien der 1960er-Jahre einen Widerhall in der feministischen Philosophie der Gegenwart, namentlich im posthumanistischen oder neo-materialistischen Feminismus von Rosi Braidotti und anderen Denkerinnen. Hier werden keine dialektischen Hebel mehr herumgerissen, es wird nicht gekämpft und besiegt. Stattdessen wird der Ausbruch aus dem Dualismus zwischen Harmonie und Unterwerfung erprobt. Rosi Braidotti und Donna Haraway als Philosophinnen oder Anna Lowenhaupt Tsing als Anthropologin entwickeln Konzepte kollaborativen Lebens. Ein zentraler Begriff bei Lowenhaupt Tsing ist Prekarität – „precarity is the condition of our

7  Oberfläche als Medium der Wahrnehmung

236

time“,78 schreibt sie, und nicht etwa nur der Zustand derer, die, als Ausnahme, aus dem System herausfallen. Die Welt als ein Mosaik von Assemblagen ist an sich prekär, und die Zeit sei heute endlich reif, um dies sehen zu können. Dies impliziert auch andere Zeitlichkeiten: das Voranschreiten des Fortschritts, das alles andere seinem Regime unterwirft, übertönt andere Rhythmen: Without that driving beat [of progress, CL], we might notice other temporal patterns. Each living thing remakes the world through seasonal pulses of growth, lifetime reproductive patterns, and geographies of expansion. Within a given species, too, there are multiple time-making projects, as organisms enlist each other and coordinate in making landscapes.79

Die Einsicht, dass Assemblagen naturgemäss prekär sind, in ihrer Affirmation des Lebens und des lebendigen Werdens aber einen Hauch Utopie mit sich tragen, hilft uns dabei zu verstehen, warum grace and frankie eine so seltsam befreiende Wirkung auf ihre Zuschauerinnen entfaltet. Comic relief allein kann es nicht sein, dazu sind Alter, Krankheit und Verfall doch zu ernst und zu schmerzlich gegenwärtig in der Serie. Doch die Lebensfreude pulsiert weiter – es wird in der Assemblage um die beiden alten Damen, um noch einmal Rosi Braidotti zu zitieren, eine „fluide Sensibilität“ aktiviert –; deshalb fließen literweise Wodka und Martini, deswegen machen Frankies Joints die Grenzen gegenüber der Aussenwelt porös. Womit wir wieder bei der kleinen Lustmaschine gelandet sind, der „Ménage à moi“, die viel mehr ist als ein Gerät zur Erregung und Befriedigung sexueller Lust: Sie ist die Maschine, die aus der Assemblage heraus entstanden ist und diese weiter am Vibrieren hält. Doch was bedeutet es, wenn Alice als Barbarella von Planet zu Planet jettet und den Frieden bringt, indem sie sich auf alle möglichen Sexualpraktiken einlässt, ohne sich dem patricharchalen System zu unterwerfen – und auch ohne dass die erotischen Abenteuer Konsequenzen hätten für ihr Leben? Einzige Ausnahme ist der Engel Pygar, mit dem sie am Ende in den Sonnenuntergang hineinfliegt – aber auch nur, weil es so gut aussieht, wenn sie plötzlich Flügel hat. Die Alice-Maschine manifestiert sich hier in der Spannung zwischen dem utopischen Verfahren der Assemblage auf der einen und der trotz oder gerade wegen ihrer Harmlosigkeit doch recht schlüpfrigen, in gewisser Weise auch unheimlichen Erotik. In the trip und una lucertola con la pelle di donna ist Sexualität explizit als etwas Abgründiges und vor allem als etwas aus medialen Bildern Gemachtes inszeniert. Es scheint, als hätten sich Alices ständige Metamorphosen in der kinematographischen Transmission auf die Ebene des erotischen Begehrens in Verbindung mit medialen Fantasmen verschoben, um die Instabilität, Durchlässigkeit und Abhängigkeit der Subjektposition erfahrbar zu machen. barbarella

78Ebd., 79Ebd.,

27. 21.

7.3  Barbarella als Alice einer feministisch-utopischen Zukunft

237

arbeitet dagegen einen Aspekt der Alice-Bücher heraus, den man – bei aller gebotenen Vorsicht, wenn es um biographische Interpretationen geht – als Lewis Carrolls (ich sage bewusst nicht: Charles Dodgsons) Traum bezeichnen könnte. Indem er den abwesenden, heranwachsenden und schließlich alternden und sterbenden Körper von Alice Liddell mit seiner literarischen Alice überschreibt, verleiht er dem Mädchen nicht nur Unsterblichkeit. Seine Alice bleibt immer ein Kind. Niemals kommt sie in die Pubertät, und aus der Latenzphase, in der sie sich mit ihren sechs, beziehungsweise sieben Jahren befindet, wird durch Wiederholung und Variation in jedem Abenteuer, das eine Mädchen-Alice antritt, ein zumindest ästhetisch gestaltbarer Zwischenraum – ganz so, wie wir es bei den Kippfiguren der Alice-Maschine gesehen haben. Die Figuration der Mise an abîme setzt sich auch hier fort. Das Unheimliche der Erotik von barbarella hat seinen Ursprung im disjunktiven Auftritt der Protagonistin: Barbarella funktioniert als Sexsymbol, und zugleich ist und bleibt sie als Alice immer asexuell. So wird sie selbst zu einer paradoxen feministischen Denkfigur: Zum Mädchen, das im Geist und im Herzen Mädchen bleibt, auch wenn es längt das Leben einer geschlechtsreifen Frau führt.

Kapitel 8

Unmögliche Räume: Die Alice-Maschine in Fernsehserien der Gegenwart

Es scheint, dass die Alice-Maschine in der Populärkultur immer Verbündete braucht. So, wie sie sich in den 1960er- und 70er-Jahren mit dem Modus des Psychedelischen, der Exploitation und dem Zelebrieren von Oberflächen verband, nistet sie sich im 21. Jahrhundert – und, zumindest bei David Lynch, auch schon in den 1990er-Jahren – auf zum Teil ganz ähnliche Weise im Modus des New Weird ein und schreibt ihm eine unsinnige und verspielte Dimension ein, ohne aber ganz auf seine verstörende Wirkung zu verzichten. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie sich die Alice-Maschine auf die kosmische Angst, die H. P. Lovecraft in seinen Erzählungen zu erzeugen versuchte, bezieht. In den Romanen und Erzählungen, die sich dem seit Ende des 20. Jahrhunderts aufblühenden New Weird zuordnen lassen, werden immer wieder neue Versuche unternommen, Affektpoetiken der kosmischen Angst oder des kosmischen Horrors zu schaffen.1 In den 1990er-Jahren, als die ersten beiden Staffeln von twin peaks ausgestrahlt wurden, war der Modus des Weird allerdings noch weitgehend ein literarischer; damals entstand die Bezeichnung The New Weird, für Erzählungen und Romane von Autorinnen und Autoren, die, zum Teil mehr, zum Teil weniger programmatisch, eine kritische Anknüpfung an Lovecraft unternahmen. Diese Anknüpfungsversuche kennzeichnet zum einen das Bemühen, Lovecrafts Poetik von seiner reaktionären politischen Haltung abzulösen und in einen avancierten differenztheoretischen Diskurs einzubinden; zugleich zielen sie darauf, Lovecraft aus der trivialen Schmuddelecke herauszuholen, um ihn in eine Reihe mit Kafka und Borges als Vertreter der modernen literarischen Fantastik zu stellen.2 Dabei werden Lovecrafts Geschichten rund um solipsistische, voll und ganz auf ausserirdische, übernatürliche Entitäten und die

1Vgl.

Weinstock 2016, 177–199, hier 183–184. bekanntesten Autoren, die in diesem Zusammenhang genannt werden, sind China Miéville, Thomas Ligotti, Laird Barron und Jeff VanderMeer. 2Die

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lötscher, Die Alice-Maschine, Studien zu Kinder- und Jugendliteratur und -medien 6, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05707-5_8

239

240

8  Unmögliche Räume: Die Alice-Maschine in Fernsehserien der Gegenwart

ihnen geltenden Kulte fokussierte Männer permanent umgeschrieben – im New Weird geht es weniger um die Erfahrung der absoluten Verlorenheit in einem von grausigen Mächten beherrschten Kosmos, der für den menschlichen Geist nicht zu ermessen ist, sondern um ein weirding einer für die Leserinnern und Leser als ihre eigene erkennbare Alltagsrealität.3 In den meisten Fällen äussert sich dieses weirding in Versuchen, eine Welt der politischen Alternativen zu erfinden,4 und/ oder literarische Räume aus einem nicht-anthropozentrischen, mitunter posthumanistischen Blickwinkel erfahrbar zu machen – wobei die Körperlichkeit der Figuren und die Materialität der Welt, in der sie leben, ins Zentrum gerückt werden.5 An diesem Punkt schaltet sich die Alice-Maschine mit ihren heterogenen Figurationen ein: Die für das New Weird konstitutive mediale Selbstreflexion, ihr Hang dazu, die Dinge so sehr von Ornamenten überwuchern zu lassen, dass beide miteinander verschmelzen, sowie die Art und Weise, wie Berührungszonen zwischen einer vermeintlich verbindlichen Alltagswirklichkeit und einer traumartig−verrückten Parallelwelt gestaltet werden, sorgen insbesondere in audiovisuellen Bildern für eine Atmosphäre der Unruhe in der Zone des unentschiedenen „will you, won’t you“, das nicht abgestellt werden kann. Dass es sich dabei um Fernsehserien handelt, ist keineswegs Zufall. Ich habe immer wieder auf die Bedeutung von Serialität im Zusammenhang mit der Alice−Maschine hingewiesen; anders als Filme und Romane, die den Kniff der Rahmenerzählung – alles war nur ein Traum – brauchen, um das serielle Erzählen zu einem Ende führen zu können, ohne es abschließen zu müssen, sind Fernsehserien auf sich potentiell endlos wiederholende Elemente angewiesen, auch auf der Ebene ästhetischer Figurationen. Am Beispiel von drei äußerst erfolgreichen Serien, die einem audiovisuellen New Weird zugerechnet werden können, nämlich twin peaks (David Lynch, Mark Frost 1990–2018), stranger things (Matt und Ross Duffer, 2016–) sowie fargo (Noah Hawley 2014–), möchte ich nachvollziehbar machen, wie Figurationen der Alice−Maschine zum Einsatz kommen, wenn es um das weirding der Welt geht – und wie sie es gleichzeitig möglich macht, dass der Modus des Horrors nie ganz überhandnimmt. Alle drei Beispiele zeichnen sich trotz grausamer Verbrechen, skrupelloser Bösewichte und bedrohlicher Monster durch einen Hang zum Nonsense aus; durch Verspieltheit, Humor und einen Zauber des Märchenhaft−Fantastischen.

3Weinstock

2016, 181. Miéville: Long Live the New Weird. The 3rd alternative 35. 2003, 3. 5„Lovecraft’s cosmic worlds, from the intimate Gothic genealogies emergent within the substance of strange earth, expansive beneath slimy seas, or the infinite collaps of time and space in the simultaneity of Ancient and Elder, alien and terrestrial, share certain features that, in spite of the horrors they frequently strike within those doomed to acknowledge their place in this infinite, also command an apprehension (though without comprehension) of an ecosophical multiplicity-become-single-plane that operates via an ultimate harmony of all differing intensities of the universe.” MacCormack 2016, 200. 4China

8  Unmögliche Räume: Die Alice-Maschine in Fernsehserien der Gegenwart

241

Kosmische Angst und die Ästhetik des Bodenlosen Doch zunächst möchte ich etwas ausführlicher auf die Weird Tale beziehungsweise die kosmische Angst eingehen – um vor diesem Hintergrund besser herausarbeiten zu können, was die seriellen Produkte der Alice-Maschine auszeichnet. Lovecraft ging es, wie sein Essay Supernatural Horror in Literature verdeutlicht, um den affektpoetischen Kern der Weird Tale: The true weird tale has something more than secret murder, bloody bones, or a sheeted form clanking chains according to rule. A certain atmosphere of breathless and unexplainable dread of outer, unknown forces must be present; and there must be a hint, expressed with a seriousness and portentousness becoming its subject, of that most terrible conception of the human brain – a malign and particular suspension or defeat of those fixed laws of Nature which are our only safeguard against the assaults of chaos and the daemons of unplumbed space.6

Lovecraft grenzt die Weird Tale nicht nur gegen die Regelpoetik der landläufigen Gespenstergeschichte ab, sondern beschreibt die kosmische Angst als etwas Atmosphärisches, als Reaktion auf den Zusammenbruch aller menschlichen Wissensordnungen, der sich vollzieht angesichts des kosmischen Chaos mit seinen grausig-primordialen Gottheiten, deren Nähe jeden menschlichen Geist dem Wahnsinn anheimfallen lässt. Zu Beginn von The Call of Cthulhu lässt Lovecraft den Ich-Erzähler die Stellung des Menschen im Universum wie folgt beschreiben: The most merciful thing in the world, I think, is the inability of the human mind to correlate all its contents. We live on a placid island of ignorance in the midst of black seas of infinity, and it was not meant that we should voyage far. The sciences, each straining in its own direction have hitherto harmed us little; but some day the piecing together of dissociated knowledge will open up such terrifying vistas of reality, and of our frightful position therein, that we shall either go mad from the revelation or flee from the deadly light into the peace and safety of a new dark age.7

Was die kosmische Angst vor allem auszeichnet, ist ihre Ambivalenz. Daniel Illger hat herausgearbeitet, dass es sich bei der kosmischen Angst um einen Affekt von Grauen vor dem Unvorstellbaren und gleichzeitiger Lust an der Auflösung handelt. Dieses Oxymoron aus Lust und Grauen verbindet den Modus des Weird mit der Alice-Maschine – doch es gibt, wie mir scheint, einen entscheidenden Unterschied. In der Alice-Maschine besteht der Genuss im Spielerischen, das auch an den Grenzen des Denkbaren noch möglich ist. Von einem Spiel kann aber nur dann die Rede sein, wenn es Regeln gibt, so verrückt sie auch sein mögen; und zum Wesen der Spielregeln gehört es, dass sie nach einiger Irritation und einigem Knobeln letztlich immer nachvollziehbar sind – für die Leserinnen und für die Zuschauer. Ganz anders bei der kosmischen Angst. Im Modus des Weird im

6H. P.

Lovecraft: The Annotated Supernatural Horror in Literature. Hg. von S. T. Joshi. New York 2012. Ebook, Pos. 250. 7H. P. Lovecraft: The Call of Cthulhu. In: The Call of Cthulhu and Other Weird Stories. London 2002, 139–169, hier 139.

242

8  Unmögliche Räume: Die Alice-Maschine in Fernsehserien der Gegenwart

Lovecraftschen Sinn sind die Regeln des Universums, sollte es welche geben, für den Menschen unbegreiflich. Die Sprache ist einzig dazu da, einen Moment der kosmischen Angst zu erzeugen, wie Lovecraft wiederum in Supernatural Horror in Literature erläutert: The one test of the really weird is simply this – whether or not there be excited in the reader a profound sense of dread, and of contact with unknown spheres and powers; a subtle attitude of awed listening, as if for the beating of black wings or the scratching of outside shapes and entities on the known universe’s utmost rim. And of course, the more completely and unifiedly a story conveys this atmosphere, the better it is as a work of art in the given medium.8

Die Weird Tale gilt seit ihren Ursprüngen im Umfeld der Zeitschrift Weird Tales in den 1920er-Jahren als notorisch undiagnostizierbar, als das „Genre zwischen den Genres“, zwischen Horror, Science Fiction und Fantasy.9 Da das Verfahren, Texte einerseits in den Kontext aktueller Theorien zu stellen und sie andererseits strikt auf der Repräsentationsebene zu lesen, in der Forschung zur populären Fantastik weit verbreitet ist, wird das, was das Weird im Grunde ausmacht, nämlich seine Affektpoetik, oft übersehen. Stattdessen hängt die Forschung fest in unproduktiven Oppositionsbildungen zwischen einer sogenannten Normalität und sogenannten Abweichungen von ebendieser Normalität – und fällt damit ausgerechnet in die theoretischen Prämissen zurück, die sie in den Theorien, die sie zur Kontextualisierung verwendet, streng von sich weist.10 Man kann zu Recht behaupten, dass die Alice−Maschine die radikale Ästhetik der kosmischen Angst relativiert, indem sie die Erfahrung des „profound sense of dread” als eine genuin mediale Erfahrung gestaltet. Damit verliert sie zwar etwas von ihrer existentiellen Wucht, wird aber im Sinne eines literarischen Theoretisierens und Spekulierens umso interessanter. Die Erfahrung der transzendenten Bodenlosigkeit wird durch die Alice−Maschine sozusagen im Horizontalen der Immanenz mobilisiert, als Serie von kleinen Türen zu einer anderen Wirklichkeit, die überall und jederzeit aufgehen können.

8.1 Agent Coopers Träume: twin peaks (1990–2017) Die Figur, die von der Alice-Maschine geprägt ist wie kaum eine andere in der Populärkultur der Gegenwart, ist Special Agent Dale Cooper, FBI (Kyle MacLachlan), der Protagonist von David Lynchs und Mark Frosts Serie twin

8Lovecraft

2012, Pos. 386. 2016, 181: „Weird Fiction along the Lovecraftian model is thus not about recognising ourself in the other, but rather the undoing of egocentrism. The universe is a much stranger place than we ever imagined and does not really give a damn about us et all.“ 10Ein Versuch, den Modus des Weird als atmosphärisches Phänomen zu begreifen, findet sich bei Mark Fisher: The Weird and the Eerie. London 2017. 9Weinstock

8.1  Agent Coopers Träume: twin peaks (1990–2017)

243

peaks.11 Er ist – zumindest in den ersten beiden Staffeln – elegant wie James Bond und exzentrisch wie Sherlock Holmes. Statt Wodka Martini trinkt er Kaffee, „black as the sky on a moonless night“, und seine investigativen Vorgehensweisen sind, gelinde gesagt, intuitiv. Die Methoden der Forensik und Kriminologie dienen ihm in erster Linie zur Überprüfung eines Wissens, das buchstäblich im Schlaf über ihn kommt. Der Traum ist der Königsweg zur Lösung seiner Fälle. Dabei träumt er nicht wie andere Leute; also gerade nicht seine neurotischen Konflikte verschiebend und verdichtend, wie Freud es in der Traumdeutung beschreibt. Im Traum betritt er eine Welt, die sich auf seltsam verdrehte und verfremdete Weise auf die Alltagsrealität bezieht, und die Lynch und Frost in surrealen, oft auch – was die Dialoge betrifft – unsinnig anmutenden Szenen gestalten, vornehmlich über das Mise en scène. Die Stimmen der skurrilen Figuren, die in den Träumen auftreten, sind ebenso verzerrt wie die Proportionen der Räume, sodass die Szenen in ihrer Affektpoetik an die weniger humoristischen, sondern eher verstörenden Episoden in Through the Looking−Glass erinnern – an das Kapitel „Wool and Water“ mit der Weißen Königin oder die Debatten mit dem Löwen und dem Einhorn. Zum Teil gibt es direkte Anspielungen auf die Alice−Bücher. Etwa, wenn die tote Laura Palmer im roten Salon rückwärts spricht, und Cooper, wie Alice bei der Lektüre des „Jabberwocky“ in Spiegelschrift, ihre Sätze dekodieren muss, um mehr über ihren Mörder zu erfahren: Cooper entfaltet seine eigene Poiesis des Unsinn−Lesens. Erkennbar wird die Alice−Maschine in twin peaks nicht zuletzt im obsessiven Einsatz von Materialität – Licht, Farbe, Ausstattung – zum Zweck der Verfremdung und Irritation. Jede Figur zeichnet sich durch einen idiosynkratischen Kleidungsstil aus; Lucy, die Polizeisekretärin, trägt einen Wasserfall von Haaren auf dem Kopf und hüllt sich in übergroße Strickpullover, während Audrey, die Tochter des Hotelbesitzers Benjamin Horne, wie aus einem Hollywood−Film 50er−Jahre entlaufen zu sein scheint. Die Materialität ihrer Kostüme und Frisuren macht sie als Bewohnerinnen und Bewohner zweier Welten erkennbar. Man könnte also behaupten, dass Cooper, wann immer er einschläft, durchs Kaninchenloch fällt oder durch den Spiegel geht; nur wird die Struktur von Rahmenerzählung, Einschlafen und Aufwachen – mit dem Wunderland−Traum Hauptteil in der Mitte – sozusagen serialisiert. So, wie die Alice−Bücher eine Geschichte in der Geschichte verpacken, baut twin peaks eine Serie in der Serie ein.

11In

Fan-Foren zu twin peaks ist das Entdecken von Bezügen der Serie zu kinderliterarischen Klassikern eine beliebte Aktivität. Im Fokus steht vor allem Frank L. Baums Roman The Wonderful Wizard of Oz (1900), der seinerseits als eine amerikanische, modernisierte Version von Carrolls Alice-Büchern gilt (vgl. Michael Patrick Hearn (Hg.): The Annotated Wizard of Oz. New York 1973, 38). Auch die Alice-Bücher selbst werden untersucht. Was dabei an Bezügen herauskommt, bezieht sich vor allem auf Tenniels Illustrationen sowie auf die Inszenierungen der betreffenden Szenen in Disneys alice; Lynch und Frost, heisst es, hätten sich von der surrealistischen Traumlogik der Bilder inspirieren lassen. Vgl. https://welcometotwinpeaks.com/ references/alice-in-wonderland-twin-peaks-connections/ (27.04.2020).

244

8  Unmögliche Räume: Die Alice-Maschine in Fernsehserien der Gegenwart

Das Entscheidende ist aber, dass sich Cooper im kleinen Städtchen Twin Peaks, nahe an der kanadischen Grenze im US−Bundestaat Washington gelegen, bewegt wie Alice im Wunderland und hinter den Spiegeln: „curiouser and curiouser“. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass allein das Intro, auf dem keine Menschen, sondern Wasser und Wälder zu sehen sind, die Märchenhaftigkeit des Schauplatzes etabliert, doch ohne Agent Coopers Art, sich als Fremder in einer seltsamen Welt voller Unsinn und Ungereimtheiten zu bewegen, ohne seinen Blick, seine mythopoetische Kriminalistik, die alles wie zum ersten Mal sieht, es analysiert und zugleich verzaubert, könnten sich Twin Peaks und seine Bewohner nicht in derselben Weise mit Magie aufladen. Wenn Cooper wie Alice mit der Haltung „it seems very pretty but rather hard to understand“ an den zu lösenden Fall herangeht, so weiß er immer, dass es eine zweite Realität gibt. Doch anders als bei Alice ist das nicht die Alltagswelt, zum Beispiel die FBI−Zentrale, sondern eine grauenvolle dämonische Zone, die immer da ist auf der anderen Seite der Wirklichkeit, und die jederzeit in sie einwirken kann. Hier faltet sich die Figuration des „will you, won’t you“ auf komplexe Weise auf – bis Cooper sich am Ende der zweiten Staffel nicht mehr gegen die Dämonendimension zur Wehr setzen kann und, in der dritten Staffel, zu seinem eigenen Doppelgänger wird. Was ich hier genauer untersuchen möchte, sind Agent Coopers Träume. In ihnen begegnet uns eine surreale, an Carrolls Wunderland erinnernde raumzeitliche Gestaltung, die mit der Zeit immer stärker auf die Alltagsrealität in der Serie überzugreifen und einen weirden Raum zu schaffen scheint. Coopers Träume bilden den poetologischen Kern der ersten Staffel von twin peaks; in ihrer Montage aus heterogenen, sich wiederholenden Elementen, zu denen auch ontologisch unvereinbare Räume gehören, bildet sie eine Serie in der Serie, von der man sich Aufschluss über die Geheimnisse von Twin Peaks erhofft. Die Träume sind aber eher dazu angetan, alles noch mehr zu verrätseln. Sie lassen Cooper als einen Verwandten von Alice erscheinen, der durch unzusammenhängende, unsinnige Zonen navigiert, ohne sich aber jemals aus der Ruhe bringen zu lassen. Zu Coopers Verwandtschaft gehört neben Alice aber noch ein anderer Viktorianer, nämlich Sherlock Holmes. Mit dem kleinen Unterschied, dass die Genialität des FBI−Agenten nicht auf Deduktion, sondern auf Divination beruht. In der dritten Folge der ersten Staffel, vor der ersten großen Traumszene, versammelt Cooper sein Team zu einem Briefing im Wald, mit obligatem Kaffee und Donut−Türmen auf einem Campingtisch. Seine investigative Methode, erzählt er, sei ihm buchstäblich im Traum geschenkt worden: By way of explaining what we’re about to do, I am first going to tell you a little bit about a country called Tibet. An extremely spiritual country. For centuries, the leader of Tibet has been known as the Dalai Lama. In 1950, communist China invaded Tibet. And while leaving the Dalai Lama nominally in charge they in fact seized control of the entire country. In 1959, after a Tibetan uprising against the Chinese, the Dalai Lama was forced to flee to India for his life and has lived in exile ever since. Following a dream I had three years ago, I have become deeply moved by the plight of the Tibetan people and filled with a desire to help them. I also awoke from the same dream realizing that

8.1  Agent Coopers Träume: twin peaks (1990–2017)

245

I had subconsciously gained knowledge of a deductive technique involving mind–body coordination operating hand in hand with the deepest level of intuition.12

Coopers Träume sind Botschaften von der anderen, der unsichtbaren, dunklen und dämonischen Seite der Welt. Ihre Macht über die Menschen von Twin Peaks ist vergleichbar mit jener, welche die Psychoanalyse dem Unbewussten zuschreibt; sie hat mit Psychologie aber nichts zu tun. Coopers Träume sind codiert – und die Kunst der Investigation besteht für ihn darin, die Traumbilder mit einer äusserst seltsamen kriminalistischen Methode auf die Vorkommnisse in Twin Peaks zu beziehen. Auch wenn Cooper in einer Art von tibetischer Weisheit und Spiritualität spricht, die an die Transzendentale Meditation erinnert, als deren Wanderprediger sein Erfinder David Lynch durch die Lande zieht, gelingt es der Serie immer, haarscharf an der Esoterik vorbei zu manövrieren.13 Denn die Prozesse der Investigation, wenn man ihre ästhetische Gestaltung betrachtet, haben mehr mit der Materialität von Sprache und Bildern, mit der Poiesis des Unsinns−Lesens, zu tun, als mit den wasserdichten Kausalketten von Verschwörungstheorien. In derselben Folge werden wir Zeugen eines fast siebenminütigen Traums. Die Traumsequenz beginnt mit einer Parallelmontage, die uns in der Auseinandersetzung mit der Alice−Maschine schon öfter begegnet ist, namentlich in Cormans the trip und Fulcis una lucertola con la pelle di donna: Wir sehen Cooper abwechslungsweise von außen, wie er in seinem holzgetäfelten Zimmer im Great Northern Hotel schlafend im Bett liegt, und sozusagen von innen, indem uns die Bilder gezeigt werden, die er träumt. Da treten zunächst Bob und Mike auf, die dämonischen Wesen von der anderen Seite. Später erfahren wir, dass Bob sich immer einen menschlichen Körper sucht, in dem er mörderisch aktiv werden kann; niemand merkt etwas davon. Nur, wenn dieser Mensch in den Spiegel schaut, sieht er anstelle des eigenen Konterfeis das von langen grauen Strähnen gerahmte Gesicht Bobs – wie in Through the Looking−Glass macht der Blick in den Spiegel die andere Seite der Alltagswelt sichtbar. Allerdings ist es in twin peaks nicht der Raum, der auf die andere Seite kippt, sondern, noch verstörender, das Subjekt. Doch zurück zum träumenden Cooper: Ein stroboskopisches Lichtgewitter rhythmisiert den Traum, bis wir Cooper, gealtert, in einem Raum mit geometrisch gemustertem Teppich und rotem Vorhang im Hintergrund sehen.14 Wir wissen nicht, ob wir uns vor oder hinter dem Vorhang befinden, und erhaschen niemals einen Blick auf die andere Seite. Aus dem Rot des Vorhangs löst sich eine Figur, der Zwerg, und redet in einer verzerrten Sprache auf Cooper ein. Eine Frau, von der nicht ganz klar ist, ob sie die ermordete Laura Palmer selbst oder nur ein Abbild der Toten ist, redet ebenfalls verzerrt. Sie flüstert Cooper den Namen ihres Mörders ins Ohr; er aber kann sich nach dem Aufwachen nicht

12twin peaks

Staffel 1/Folge 2; 00:20:44–00.26:26. diesem Video spricht Lynch über die Segnungen der Tranzendetalen Mediation: https://www. youtube.com/watch?v=z2UHLMVr4vg (28.04.2020). 14Dieser Raum erscheint später in der Serie, und bis in die dritte Staffel hinein, als black lodge. 13In

246

8  Unmögliche Räume: Die Alice-Maschine in Fernsehserien der Gegenwart

mehr daran erinnern. Dennoch ruft er sofort den Sheriff an, um ihm zu sagen, der Fall sei gelöst – so verwandelt sich „it seems very pretty, but it’s rather hard to understand“ im Modus des Krimis. Die Musik, zu der der Zwerg im Traum tanzt und die auch nach Coopers Erwachen nie ganz verklingt, schwillt wieder an und verbindet die beiden Seiten miteinander. So übernimmt sie die Aufgabe, die in den Alice−Büchern bei den Leserinnen und Lesern liegt, wenn sie die Seiten umblättern. Die blätternde Hand verbindet und trennt zugleich; und die Musik, welche einen Bogen über die unterschiedlichen Sequenzen der Parallelmontage spannt, verweist gerade dadurch wiederum auf die Schnitte – denn die Zuschauer fragen sich unwillkürlich, in welche Sequenz sie ursprünglich gehört. Die Jazzklänge, die aus Coopers Traum, aus dem surrealen roten Salon, in den Alltag von Twin Peaks hinüberschwappen, verwandeln Letzteren in einen seltsamen Ort. Coopers Traum, und hier kommt die Alice−Maschine noch einmal mit einer anderen Figuration ins Spiel, ist symbolisch so stark aufgeladen, scheinbar so übermässig verrätselt, dass jeder Versuch der Deutung ins Leere läuft. Der Traum fordert ein Rätselraten heraus, das sich in der Unmöglichkeit des Verstehens um sich selbst zu drehen beginnt und in einem hermeneutischen Kollaps enden muss. Es gibt auch keine alternative Art des Verstehens, etwa im Sinne einer Erfahrung von Präsenz; die Serie legt nahe, dass Coopers Träume den Schlüssel zum Verständnis der wahren Wirklichkeit in sich bergen, dass wir diesen Schlüssel aber niemals zu fassen bekommen werden. So realisiert sich die kosmische Angst bei Lynch und Frost – aber nur für die Zuschauerinnen und Zuschauer. Und genau das ist wichtig, um das Zusammenwirken der Alice−Maschine mit dem Modus des Weird zu verstehen. Anders als bei Lovecraft, wo die Figuren tief in den Abgrund des Kosmos und der Zeit schauen, um dann wahnsinnig zu werden, lässt sich Cooper von seiner Traumerfahrung nicht irritieren. Für ihn scheinen die Oberfläche und ihre Kehrseite auf einer Ebene zu sein; wie Alice gleitet er von einer Seite auf die andere. Was Deleuze in Logik des Sinns über Alice hinter den Spiegeln schreibt, lässt sich auch für twin peaks fruchtbar machen: die alte Tiefe ist nichts mehr „und wird auf die Kehrseite der Oberfläche“ reduziert.15 In Kritik und Klinik beschreibt Deleuze das Gleiten auf der Oberfläche, indem er das Bild der Möbiusschleife aufnimmt, das Carroll in den Sylvie und Bruno−Romanen explizit ins Spiel bringt: Die von Carroll beschriebene Börse des Fortunatus ist das Möbiusband, auf dem ein und dieselbe Linie beide Seiten durchläuft. Die Mathematik ist heilsam, weil sie Flächen einrichtet und eine Welt befriedet, deren Gemische in der Tiefe schrecklich wären […]. Aber

15Deleuze

1993, 25. „Durch bloßes Gleiten erreicht man die andere Seite, da die andere Seite nur die umgekehrte Richtung ist. Und wenn es hinter dem Vorhang nichts zu sehen gibt, dann deshalb, weil das Sichtbare oder eher das ganze mögliche Wissen eben die Fläche des Vorhangs ist und es ausreicht, ihr weit genug und eng genug, oberflächlich genug zu folgen, um seine Rückseite hervorzukehren […].“

8.1  Agent Coopers Träume: twin peaks (1990–2017)

247

die Welt der Tiefe rumort noch unter der Oberfläche und droht, sie zu durchstoßen: Selbst ausgebreitet und auseinandergefaltet suchen uns die Ungeheuer heim.16

Agent Coopers Traum wiederholt sich im Lauf der Serie immer wieder. Durch die Wiederholung wird der Traum aber wie gesagt nicht aufgeschlüsselt; dass Cooper sich irgendwann an den Namen des Mörders erinnert, hat mehr mit der sich intensivierenden Praxis des Hin− und Hergleitens zu tun; die Erinnerung kommt aus dem Raum dazwischen, den die Alice−Maschine auch hier produziert und die nur durch den Rhythmus der zaudernden Wiederholung – „will you, won’t you“ – entstehen kann. An twin peaks wird deutlich, dass sich die Figurationen der Alice−Maschine kinematographisch unter anderem in der Parallelmontage realisieren, sowie in der Vervielfältigung und Serialisierung der betreffenden Sequenzen. Der Schnitt macht es möglich, beide Seiten des Spiegels, des Vorhangs, der Buchseite als eine Oberfläche zu sehen – zwar nicht gleichzeitig, doch in schneller, sich beschleunigender, schließlich flackernder Abfolge. Aus dem rasanten Hin− und Hergleiten wird eine Assemblage in der Zeit. Die Montage als klassisches Prinzip der Gestaltung des Raumes in der Zeit erlaubt es hier, unmögliche, gleichsam weirde Räume erfahrbar zu machen.

Die Tür nach innen Dieses flackernde Gleiten nimmt die Figuration des „Will you, won’t you“ aus Through the Looking-Glass auf: In der Überlagerung des Spiegels mit der Buchseite im Akt des Umblätterns realisiert sich bereits eine Konstruktion von unmöglichen Räumen – mit dem Verweis darauf, dass wir, die Leserinnen und Leser, es sind, die diese Räume machen, die nirgendwo anwesend sind und doch in der ästhetischen Erfahrung real. Denn der mit der Spiegelmetapher aufgeladene Akt des Umblätterns führt uns nach innen, tiefer ins Buch hinein, in einen Raum im Raum, der auf den ersten Blick als perfektes Spiegelbild erscheint. Doch wie wir gesehen haben, erkennt Alice auf der anderen Seite eine gewisse Unordnung „They don’t keep this room as tidy as the other“.17 Die Lektüre der Spiegel-Szene in Through the Looking-Glass durch Agent Coopers Traum hindurch eröffnet eine neue Perspektive auf die alte Diskussion über den ontologischen Status der Spiegelwelt bzw. des Wunderlands in den ­Alice-Büchern; wenn eine Protagonistin wegdöst und träumt, was Alice in beiden Teilen ihrer Geschichte bekanntlich tut, kann ein Text streng genommen nicht

16Deleuze

2000, 35. 110. Vgl. dazu meine Ausführungen auf 145. Thomas Ligotti, einer der bekanntesten Horror-Autoren der Gegenwart, widmet dieser Unordnung eine ganze Erzählung, Alice’s Last Adventure. In: Songs of a Dead Dreamer and Grimscribe. New York 2015, 27–44. 17TLG,

248

8  Unmögliche Räume: Die Alice-Maschine in Fernsehserien der Gegenwart

fantastisch sein. Doch das ist die ordentliche Unordnung der klassischen Fantastik; die Weird Tale dagegen will das Unmögliche, nämlich wissen, oder genauer noch: sehen und fühlen, was auf der anderen Seite ist. Auch was das bedeutet, lässt sich an Agent Coopers onirischen investigativen Verfahren aufzeigen. Wenn Cooper einen Fall übernimmt, führt er keine gewöhnliche Untersuchung durch, sondern macht sich auf eine seltsame, gefährliche Weise durchlässig für den Ort, im konkreten Fall für Twin Peaks, und die Menschen, die dort leben. Das funktioniert ausgezeichnet, denn schon nach dem ersten Drittel der zweiten Staffel ist der Fall gelöst. Das liegt erstens natürlich daran, dass Cooper einen privilegierten Zugang zur anderen Seite hat, und zweitens, dass es weniger um die Aufklärung des Verbrechens geht als um diese andere Seite selbst, einfach nur um die Möglichkeit, sie zu erfahren und sich von ihr verwandeln zu lassen – ganz egal, was das Erlebte zu bedeuten hat und welche Konsequenzen es zeitigen wird.18 Anders als bei Lovecraft gibt es keine klare Gegenüberstellung einer menschlichen Welt, einer „placid island of ignorance”, und dem unfassbaren, unendlichen Universum, den „black seas of infinity”. Und anders als im Modus der Fantasy, wie Illger ihn definiert, gibt es keine Sekundärwelt mit eigenem ontologischem Status.19 Ebenso wenig haben wir es mit einer pygmalionartigen Hierarchie zwischen den Welten zu tun, wie sie in westworld gestaltet ist. In twin peaks wird deutlich sichtbar, wie die Alice-Maschine dafür sorgt, dass der ontologische Status von Primär- und Sekundärwelten radikal ungeklärt bleibt. Wenn man mit Agent Cooper auf die Alice-Bücher schaut, kann man sagen, dass die Anordnung der Welten immer schon weird im Sinne von seltsam, unsinnig und unheimlich war. Die Alice-Maschine öffnet nicht separate Räume aufeinander hin, sondern macht es mit ihren paradoxen Figurationen möglich, dass wir immer in der Immanenz bleiben: die Türen zur anderen Seite gehen nach innen auf und verwischen die Trennungslinie zwischen Innen und Aussen im ständigen Hinund Herflackern. Sie offenbaren die dunkle Seite, die Gewalt, das Grauen, die Omnipräsenz von Tod und Zerstörung als immer schon gegenwärtig, in einem Kontinuum, für das die Grenzen des Subjekts gar nicht zu existieren scheinen. Insofern ist es vielleicht auch kein Zufall, dass sich die Tür im Versuchslabor zu Beginn der Pilotfolge von stranger things nach innen, also in Richtung der Zuschauerinnen und Zuschauer, öffnet, als ein panischer Wissenschaftler einem unsichtbaren, aber in der Tonspur umso besser hörbaren Monster zu entkommen versucht.

18Darum

geht es in der dritten Staffel, die alles in allem aber näher an surrealistischen Verfahren ist als am Nonsense der ­Alice-Maschine. 19Vgl. Daniel Illger: Unter grünen Sonnen. Überlegungen zu einer Poetik der Fantasy. Vortragsmanuskript zur Cinepoetics-Ringvorlesung „Genre und Affekt” an der Freien Universität Berlin, 29.05.2017.

8.2  Erkundungen im Upside Down: stranger things (2016–)

249

8.2 Erkundungen im Upside Down: stranger things (2016–) Die Netflix-Serie stranger things (Matt und Ross Duffer, 2016–) ist in einem vollkommen anderen medienkulturellen Kontext entstanden als twin peaks. Lynch und Frost gelten weitherum als Pioniere eines Quality-TV, das längst Mainstream geworden ist und seine eigenen Selbstbezüglichkeiten zelebriert.20 stranger things ist ein gutes Beispiel dafür – praktisch jede Einstellung lässt sich als Zitat von Filmen, Serien und Musik vor allem der 1980er Jahr entlarven. Wie wir bereits gesehen haben, arbeitet die Serie auch mit expliziten Verweisen auf Alice. Die telepathischen Reisen der weiblichen Hauptfigur Eleven in eine leere, schwarze Zone, die sich scheinbar zwischen den Welten befindet, schreiben sich dabei in die lange Reihe von Horror-Interpretationen des Alice-Stoffs ein.21 Namentlich aber stellt sich die Serie in die Tradition Carrolls, wenn sie die AliceMaschine ihre verstörende Arbeit machen lässt, um dabei dennoch eine recht erbauliche Geschichte zu erzählen. Die Ausgangslage von stranger things ist uns aus sogenannten ­Mystery-Serien,22 die als Titel den Namen einer Kleinstadt tragen, bekannt, von twin peaks bis broadchurch: In einer scheinbar harmonisch und solidarisch funktionierenden, überschaubaren Gemeinschaft geschieht ein Verbrechen, dessen Aufklärung alle dunklen Geheimnisse an die Oberfläche spült, alle verdrängten Konflikte ausbrechen lässt. In twin peaks wird die Leiche von Laura Palmer, in Plastik gewickelt, am Seeufer angespült; in Hawkins, Indiana, dem Schauplatz von stranger things, sind es zwei Dinge, die sich am Abend des 6. November 1983 – Ort und Datum werden gleich zu Beginn eingeblendet – ereignen: Im Versuchslabor des US-Energiedepartements kommt es zu einem Zwischenfall. Eine monsterähnliche Kreatur scheint ausgebrochen zu sein. Zeitgleich wird Will Byers auf dem Heimweg von einem Pen-and-Paper-Rollenspieltreffen von einem Monster verfolgt und entführt. Die Serie lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass die beiden Ereignisse in direkter Verbindung stehen, auch wenn es zunächst keine Hinweise auf eine Kausalität gibt; wie in twin peaks kommt auch hier die Tonspur als gleichermaßen verbindendes und trennendes Element zum Einsatz. Die raspelnden, klickenden Monsterlaute gehen nach dem Schnitt über auf den Rasensprinkler im Garten von Familie Wheeler. Und wenn Mikes Stimme, noch während die Kamera den Rasensprinkler vor dem Einfamilienhaus im Visier hat, beschwörend raunt: „Something

20Vgl.

David Bianculli: Twin Peaks. In: David Lavery (Hg.): The Essential Cult TV Reader. Lexington 2010, 299–306. 21Dazu gehören u. a. Angela Carters Wolf-Alice im Erzählband The Bloody Chamber (1979) und Ligottis Alice’s Last Adventures, aber auch die Videospiele von American MacGee: American MacGee’s Alice und Madness Returns. 22Zur komplexen Begriffsgeschichte vgl. Simon Spiegel: Das große Genre-Mysterium: Das Mystery Genre. In: Zeitschrift für Fantastikforschung, 1/2014, 2–26.

8  Unmögliche Räume: Die Alice-Maschine in Fernsehserien der Gegenwart

250

is coming. Something hungry for blood“, sind wir für einen Augenblick versucht, ihn als extradiegetischen Erzähler einzuordnen, dessen Geschichte eine Erklärung für die Anfangsszene bietet. Erleichterung stellt sich ein – für kurze Zeit nur –, als wir sehen, dass alles nur ein Spiel ist. Hier wird so getan, als ob: vier Jungs tief im Flow einer Dungeons & Dragons-Mission. Mit solchen Täusch- und Schreckmanövern in der Montage arbeitet die Serie immer wieder, und gerade im Spiel mit dem Als-ob, das jederzeit ins Reale kippen kann, zeigt sich die Alice-Maschine von Anfang an. Zum Beispiel, ebenfalls in der Pilotfolge, wenn der Vorhang von Wills Versteck im Wald, „Castle Byers“ genannt, heftig im Wind flattert, und, nach einem Schnitt, in der nächsten Sekunde ein Burger zischend auf die Herdplatte in der Küche eines Diners geworfen wird.23 Oder wenn, in der zweiten Folge, der Jeep von Sheriff Hopper ein lautes Geräusch macht beim Anfahren, das direkt ins laut ploppende Hervorspringen der Waffeln aus dem Toaster von Familie Wheeler übergeht.24 Hier ist eine ästhetische Hyperkonnektivität am Werk, die ein Gefühl von Irritation, fast Paranoia auslöst – gerade weil Bedeutung nur auf der Ebene der audiovisuellen Materialität suggeriert wird, ohne sich hermeneutisch fassen zu lassen. Manchmal geraten bei den Zuschauerinnen und Zuschauern für einen Augenblick die Realitätsebenen durcheinander; manchmal wird eine Szene, etwa beim Vorhang und dem Burger, mit einem Überschuss an Bedeutung aufgeladen, sodass ein hermeneutischer Überdruck und damit ein Gefühl der prinzipiellen Uneingelöstheit von Bedeutung, ihrer trügerischen, verräterischen Seite, entsteht – ein Verfahren, das wir von Carrolls Nonsense kennen. Man könnte bei stranger things von einer Jabberwocky-Montage reden. Sie gibt vor, eine nachvollziehbare Geschichte zu erzählen, macht dabei aber das Operieren mit der medialen Grammatik audiovisueller Bilder zur zentralen Aussage. Damit stellt sie die Poiesis des Filme-Sehens heraus: Ihr erschreckt an dieser Stelle nicht, weil gleich einer der spielenden Jungen entführt werden wird, sondern weil in der Montage die Affektpoetik des Schock-Horrors aufgerufen wird. Obwohl das Interesse der Serie für ihre eigene Materialität und Medialität kaum schöner und offensichtlicher inszeniert sein könnte, dreht sich die Diskussion um stranger things vor allem um ihr Verweissystem auf die Populärkultur der 1980er- und 1990er-Jahre. Es werden Zitate, auf der Ebene der Figuren und Figurenkonstellationen, aber auch auf der Ebene der Inszenierung, zusammengetragen, um zu zeigen, dass sich die Serienmacher nicht zufälligerweise „the Duffer Brothers“ nennen. Vielmehr wird nachgewiesen, dass sie mit einem den Brüdern Grimm vergleichbaren Eifer angetreten seien, um wirkmächtige Erzählungen der US-amerikanischen Populärkultur zu sammeln – dazu gehören unter anderem Filme wie Spielbergs jaws und e.t., die alien-Reihe, die Slasher-Filme, die nach John Carpenters halloween von 1978 entstanden sind,

23stranger things 24Ebd.,

Staffel 1/Folge 1, 00:27:00. Staffel 1/Folge 2, 00: 08:44.

8.2  Erkundungen im Upside Down: stranger things (2016–)

251

Romane von Stephen King, allen voran It, Klassiker der Kinderliteratur, aber auch Verschwörungstheorien rund um die CIA – und zu etwas Neuem zu verweben, das bei den Zuschauerinnen und Zuschauern Nostalgie wecken soll. In Stranger Things – The Companion schreibt Nick Blake: “stranger things” wears its eighties nostalgia proudly on its sleeve right from the start with the kids playing Dungeons & Dragons and hopping on their bikes in the moonlight – all this playing like scenes straight out of E.T. The Extraterrestrial. The synth score by Kyle Dixon and Michael Stein feels like an homage to John Carpenter and the title font could have been lifted from an old Stephen King paperback of the era.25

Mehr als ein exzessives Name-Dropping in Sachen Who ist Who der 1980er kommt bei diesem Zugang zur Serie allerdings nicht heraus, ebenso wenig wie bei dem heiteren Zitateraten und -sammeln, das die Fans im Netz veranstalten.26 Interessanter als die Frage, welche intermedialen Bezüge zu entdecken sind, scheint mir die nach der nostalgischen Affektpoetik zu sein, die stranger things und andere Filme und Serien der letzten Jahre auszeichnet – etwa den Horrorfilm it follows (2014) von David Robert Mitchell oder die deutsche Hörspielserie Monster 1983 von Ivar Leon Menger, die unabhängig von stranger things entstanden ist, aber im gleichen Jahr, 1983, spielt. Es sind spezifische Inszenierungsmodalitäten, die den nostalgischen Affekt hervorrufen: In E.T. (1982) spiegeln sich die staunenden Kinderaugen in den großen Augen des gestrandeten Ausserirdischen; Spielberg schafft aus den höchst intensiven Blicksequenzen eine Serie, die den Film konsequent rhythmisiert. Ein ganz ähnliches Verfahren verwendet stranger things, wenn es um die Begegnung der Jungsgruppe mit Eleven geht, dem seltsamen Mädchen mit geschorenem Schädel und Krankenhaus-Hemd, das scheinbar aus dem Nichts auftaucht. Die Nostalgie der Zuschauerin, des Zuschauers bezieht sich insgesamt wohl weniger auf das freudige und stolze Wiedererkennen, was sie zu einem Teil der Gemeinschaft derer macht, die in den 80er-Jahren Teenager waren, sondern auf die Sehnsucht nach einem Zuschauergefühl, wie es Spielberg und andere damals mit ihren Filmen hervorriefen. Vielleicht geht es bei der vermeintlichen Nostalgie aber auch um etwas ganz anderes. Für die Alice-Maschine spielt die obsessive Bezugnahme auf die Popkultur zwar eine Rolle – ich habe das an der Art, wie der Jefferson Airplane-Song White Rabbit in verschiedenen Filmen und Serien zum Einsatz kommt, diskutiert; bezogen auf stranger things ist die Inszenierung der anderen Seite, des sogenannten Upside Down, jedoch am aufschlussreichsten. Die Unruhe der Alice-Maschine manifestiert sich in twin peaks und stranger things in der paradoxen Tatsache, dass die grösste Angst und die grösste Sehnsucht sowohl der

25Nick

Blake: Stranger Things. The Companion. 2016, Pos. 493. Videos belegen im Splitscreen-Verfahren, wie sich die Duffer Brothers an konkreten Einstellungen aus 80er-Jahre-Filmen orientiert haben. Zum Beispiel: https://www.imdb.com/list/ls025720609/videoplayer/vi3595548953?ref_=tt_ ecw_stranger_i_2 (27.04.2020). 26Zahlreiche

252

8  Unmögliche Räume: Die Alice-Maschine in Fernsehserien der Gegenwart

Protagonisten als auch der Zuschauerin darauf gerichtet ist zu sehen, was sich auf der anderen Seite verbirgt – auf der Rückseite der audiovisuellen Bilder, des medialen Als-ob, das uns im Grinsen ohne Katze begegnet. Wie in der Spiegelund Umblätterszene zu Beginn von Through the Looking-Glass kann diese andere Seite auch in stranger things durch eine Tür betreten werden, die nach innen aufgeht; das scheint eine Figuration zu sein, die sich in transmedialer Perspektive als eine Art materiell-mediale Fantastik beschreiben ließe.

Konjunktionen als Disjunktionen versucht sich ganz direkt an der Inszenierung der paradoxen Vorstellung, dass in allen Dingen unserer Wirklichkeit deren Rückseite als eine andere Welt eingefaltet ist. Während Neil Gaimans Novelle Coraline (2002) – und Henry Selicks Stop Motion-Adaption von 2009 – Carrolls zwei Welten-Modell als eine helle und eine dunkle Seite der Wirklichkeit weiterspinnt, macht stranger things aus dem Hin und Her zwischen der einen, alltäglichen, und der anderen, unheimlichen Seite, eine Serie in der Serie – genau wie twin peaks mit Coopers Träumen. Die Serie gibt vor, das Rätsel um das Upside Down und das darin hausende Monster nach und nach aufzulösen. Drei Gruppen von Figuren führen, bis ganz am Ende unabhängig voneinander, Investigationen durch: Der Sheriff und Joyce decken die unmenschlichen Machenschaften des Forschungslabors auf und dessen Plan, Elevens telekinetische Fähigkeiten zu benutzen, um eine Superwaffe für den Einsatz im Kalten Krieg zu entwickeln, während Jonathan und Nancy den Actionteil der Monsterjagd übernehmen; sie verwandeln das Haus der Familie Byers in eine Monsterfalle. Mike, Dustin und Lucas schließlich sind, mit Hilfe ihres Lehrers Mr. Clarke, für die wissenschaftlichen Fragen zuständig, wobei sich ihr naturwissenschaftliches Wissen völlig organisch mit ihrer ­ Tolkien-Lektüre und ihrer Fan-Expertise rund um star wars, Superheldencomics und natürlich Dungeons & Dragons verbindet. Durch Funkgeräte und durch Elevens telepathische Fähigkeiten versuchen sie, Kontakt mit Will im Upside Down aufzunehmen. Die Serie lässt die Zuschauer an der Akkumulation von Wissen über das unvorstellbare Grauen teilhaben; ein Wissen, das sich als valable theoretische Grundlage für den erfolgreichen Kampf gegen das Monster bewährt, sich gleichzeitig aber als Illusion erweist. Schon die Bezeichnung Upside Down im amerikanischen Original ist irreführend; denn viel eher müsste von Inside Out oder von einer Spiegelachse, wie in Through the Looking-Glass, die Rede sein. Die Inszenierung jedenfalls legt nahe, dass die andere Seite auf einer horizontalen Ebene liegt, denn aus der Horizontalen bricht das Monster in der Regel ein. Wenn die Figuren hingegen das Upside Down zu erklären versuchen, verwenden sie Medien oder abstrakte Modelle und überschreiben die andere Seite dabei mehr und mehr, bis wir uns gar nichts mehr darunter vorstellen können; nur das unheimliche Gefühl des Ungereimten bleibt. Als Eleven – die das stranger things

8.2  Erkundungen im Upside Down: stranger things (2016–)

253

Upside Down von den telepathischen Reisen, die sie als Versuchskaninchen im Forschungslabor unternehmen musste, als strahlend schwarzen Nicht-Raum kennt – den Jungen erklären will, dass ihr Freund Will im Upside Down gefangen ist, verwendet sie die schwarze Rückseite des Dungeons & Dragons-Spielbretts. Ihre ausladende Geste beim Umdrehen des Brettes erinnert an eine Magierin, die das Resultat eines Zaubertricks enthüllt – und genau wie beim Zaubern befinden wir uns auch hier ganz im Modus des Als-ob: Alle wissen, dass die schwarze Fläche nichts als bemalte Pappe ist, und doch durchläuft uns ein unheimlicher Schauer, als Eleven den Demagorgon, ein schauerliches Monster aus dem Spiel, in die Mitte des Upside Down stellt. Der Lehrer Mr. Clarke versucht sich in der fünften Episode an einer rationalen Erklärung des Upside Down; im Gespräch mit den Jungen kommt die vierte Dimension im Sinne des Astronomen und Exobiologen Carl Sagan zur Sprache, dessen populärwissenschaftliche Bücher Mike und seine Freunde begeistert zu lesen scheinen; dann die Many Worlds-Interpretation des Physikers Hugh Everett; und schließlich verwendet der Lehrer verschiedene, nicht vereinbare Analogien und Modelle, um zu erklären, wie die Reise in eine Paralleldimension theoretisch möglich wäre. Das eine ist das Modell vom Seiltänzer und dem Floh, bei dem sich die andere Seite unterhalb des Seils befindet. Der Akrobat kann sich auf dem Seil nur vor- und rückwärts bewegen, während der Floh auch auf die Unterseite des Seils gelangen kann. Damit auch der Akrobat das Upside Down erreichen könnte, müsste er unter Einsatz einer unvorstellbar großen Menge an Energie ein Loch in die Welt reissen. In der Möbiusschleife, einem zweiten Erklärungsmodell von Lehrer Clarke, sind beide Dimensionen verbunden; man braucht nur von einer Seite auf die andere zu gleiten. In der Anhäufung von Bildern und Modellen, die das Upside Down erklären sollen, findet die Serie eine medienspezifische Form zur Gestaltung jenes verzerrten, sich nicht nur jeder Eindeutigkeit, sondern auch jeder Bedeutung entziehenden Überschusses, wie ich ihn in Lovecrafts Beschreibungen und in Agent Coopers Traum gefunden habe. Man könnte hier auch das mathematisch Erhabene im Sinne Kants anführen: „Erhaben ist, was auch nur denken zu können ein Vermögen des Gemüts beweiset, das jeden Maßstab der Sinne übertrifft.“27 Vor allem aber haben wir es mit einem Nonsense-Verfahren zu tun, das uns auf den Spuren der Alice-Maschine immer wieder begegnet ist. Die Erklärungsversuche der Figuren erinnern an Humpty Dumptys Interpretation des „Jabberwocky“; wenn er „toves“ zu beschreiben versucht – „Well, ‚toves’ are something like badgers – they're something like lizards – and they're something like corkscrews“28 – gibt sich Lovecrafts Erzähler plötzlich wie ein verbiesterter Enkel des seinerseits schon völlig humorlosen Humpy Dumpty zu erkennen.

27Vgl.

Kant 1974, 172. 162.

28TLG,

254

8  Unmögliche Räume: Die Alice-Maschine in Fernsehserien der Gegenwart

Hier lohnt sich ein zweiter Blick auf Lovecrafts weird-Verfahren und ihre Rezeption in der neomaterialistischen, objektorientierten Philosophie. Denn in der Figuration des Überladens, des Überschreibens eines Phänomens mit sprachlichem Material lässt sich die atmosphärisch und affektpoetisch spürbare Verwandtschaft zwischen Carrolls Nonsense und dem Modus des Weird festmachen – die sich in twin peaks und in stranger things einen genuin audiovisuellen Ausdruck sucht. In einer frühen Erzählung mit dem Titel Dagon (1917) widerfährt einem schiffbrüchigen Ich-Erzähler etwas Entsetzliches, das ihn zum Wahnsinn treibt: Während er schläft, wird der Meeresboden an die Oberfläche gestülpt. Beim Aufwachen erwartet ihn ein unbeschreibliches Grauen, das ihn Lovecraft wie folgt beschreiben lässt: When at last I awaked, it was to discover myself half sucked into a slimy expanse of hellish black mire which extended about me in monotonous undulations as far as I could see […]. The region was putrid with the carcasses of decaying fish, and of other less describable things which I saw protruding from the nasty mud of the unending plain. Perhaps I should not hope to convey in mere words the unutterable hideousness that can dwell in absolute silence and barren immensity. There was nothing within hearing, and nothing in sight save a vast reach of black slime; yet the very completeness of the stillness and the homogeneity of the landscape oppressed me with a nauseating fear.29

Zu diesem Zeitpunkt hat der Ich-Erzähler noch keine Ahnung, wo er gelandet ist. In der Hölle vielleicht, wie er in einem der berüchtigten Lovecraft-Adjektive anklingen lässt? Wichtig ist der Unsagbarkeitstopos, omnipräsent in Lovecrafts Texten: neben den verrottenden Fischen liegen auch „weniger beschreibbare“ Dinge herum – die Sprache, „mere words“, versagt vor den unbeschreiblichen Abscheulichkeiten, die in absoluter Stille und öder Unermesslichkeit hausen. Immerhin können Nomen, so abstrakt sie auch daherkommen, nach Belieben mit Adjektiven versehen werden; zumindest hierin, im Vertrauen auf die Syntax, erhält sich Lovecrafts misanthropische Prosa vielleicht doch noch eine Prise Hoffnung. Seine Kunst zielt darauf, abstrakte Vorstellungen wie die Abscheulichkeit einer absoluten Stille, eines Nichts, durch die Hinzufügung von Adjektiven nicht etwa konkreter zu machen, sondern sie im Gegenteil so oft zu überschreiben, dass er an die Grenze dessen gelangt, was an Unschärfe und Verschwommenheit, bei gleichzeitiger symbolischer Überladenheit, durch Sprache inszeniert werden kann.30 Eines der beliebtesten Verfahren Lovecrafts besteht hierbei darin, Konjunktionen zu verwenden, um Disjunktionen zu schaffen.31 Sehr schön lässt sich das an seiner Beschreibung des grausig-monströsen Gottes Cthulhu in der Erzählung The Call of Cthulu zeigen.

29H. P. Lovecraft: Dagon. In: The Call of Cthulhu and Other Weird Stories. Hg. von S. T. Joshi. London 2016, 1–6, hier 1–2. 30Vgl. Harman 2012, 3. 31Ebd., 58.

8.2  Erkundungen im Upside Down: stranger things (2016–)

255

If I say that my somewhat extravagant imagination yielded simultaneous pictures of an octopus, a dragon, and a human caricature, I shall not be unfaithful to the spirit of the thing… but it was the general outline of the whole which made it most shockingly frightful.32

Der Ich-Erzähler sucht Vergleiche für etwas, das sich eben gerade nicht beschreiben lässt, für das es keine Kategorien gibt. Wenn Fans sich Cthulu also als einen Oktopus-Drachen-Hybriden vorstellen, haben sie den Text nicht richtig gelesen, denn in Ermangelung von Worten und Konzepten legen sich lediglich approximative Bilder übereinander.33 Das Grauenhafte, wie uns der Ich-Erzähler versichert, ist aber gerade das Abstrakte, die „general outline“ des Ganzen. Die aktuelle Lovecraft-Rezeption findet nicht nur in der Literatur, in audiovisuellen Bildern, Comics, Podcasts etc. statt, sondern auch in der Philosophie, insbesondere bei Theoretikern des Posthumanismus und des Spekulativen Realismus. Avanessian und Quiring sehen die Motive der Weird Tale als „verfallene Theologoumena, als theologische Topoi im Zustand des Ruins“:34 [Lovecrafts] Pantheon der totalen Fremdartigkeit wimmelt von untoten Figurationen einer dem Menschen feindlich gesinnten oder indifferent gegenüberstehenden, übermächtigen Welt, denen sich der Erzähler bis zum Ende der Geschichte gewöhnlich mit einer Inbrunst ergibt, für die der italienische Schriftsteller Giorgio Manganelli die Wendung ‚Orgasmus des Grauens‘ geprägt hat.35

Besonders interessant in Hinblick auf die Alice-Maschine erscheint mir aber der Zugang Graham Harmans zu sein. Harman liest Lovecraft als Philosophen, als „eminenten Vertreter der objektorientierten Ontologie“; dabei unterzieht er Lovecrafts Stil einem close reading. Lovecraft, schreibt er, gehöre zu den Autoren, die Löcher in der Welt finden, wo zuvor keine waren: „between objects and the power of language to describe them, or between objects and the qualities they possess.“36 Durch diese Löcher drängt die andere Seite durch.

Should I Stay or Should I Go Die Berührungen der Figuren von stranger things mit dem Upside Down werden wiederum in Serien gestaltet, nach dem Muster von Wiederholung und Variation. Das lässt sich an einer Sequenz am Ende der zweiten Folge paradigmatisch zeigen. Die Serie schneidet, im bewährten Zopfmuster-Verfahren, zwischen drei

32H. P.

Lovecraft: The Call of Cthulhu. In: The Call of Cthulhu and Other Weird Stories. Hg. von S. T. Joshi. London 2016, 139–169, hier 169. 33Zur Verteidigung der Fans muss man ergänzen, dass Lovecraft selbst sich zu einer Zeichnung von Cthulhu hat hinreissen lassen. 34Avanessian/Quiring 2013, 13. 35Ebd., 13–14. 36Harman 2012, 3.

256

8  Unmögliche Räume: Die Alice-Maschine in Fernsehserien der Gegenwart

Erzählsträngen hin- und her. Es ist Abend, Hawkins liegt im Dunkeln. Steve, der coole Teenie-Schönling, der Mikes Schwester Nancy verführen will, hat sturmfrei und veranstaltet mit einem befreundeten Paar, Nancy und ihrer besten Freundin Barbara, eine Party. Die Teenager trinken Bier und springen kreischend in den blau leuchtenden Pool, zum Groove von I’ll Stop the World and Melt With You (1982) der Post Punk-Band Modern English. Um den Garten herum schleicht, inszeniert wie ein Killer aus einem Slasher-Film, Jonathan mit seiner Kamera, während seine Mutter Joyce zuhause einen Telefonanruf bekommt – für einen Moment ist Wills verzerrte Stimme am anderen Ende zu hören, bevor der Hörer verkohlt, als hätte der Blitz ins Telefon eingeschlagen. Bei der Party am Pool hatte sich Barbara beim Versuch, eine Bierdose mit dem Messer zu perforieren, am Finger verletzt. Die Wunde hatte sie behelfsmässig versorgt, doch das Blut tropfte langsam in den Pool, als sie verlassen auf dem Sprungbrett sass – während sich Steve anschickte, aus der Dunkelheit von Jonathan fotografiert, Nancy zu entjungfern. Das Monster zieht Barbara auf die andere Seite, ins Upside Down und jagt sie. Die Art, wie Barbaras vergeblicher Fluchtversuch vor dem Monster mit der Teenie-Sexszene vernäht ist, stellt sowohl die Gegensätzlichkeit der Situationen wie auch ihre Ähnlichkeit heraus. Die Montage ist nicht ohne Komik; als ob sie sich über die naheliegende psychoanalytische Lesart lustig machen würde, die die Serie uns aufdrängt: dass am Heimeligen, dem Kuschelsex mit Kuschelrock in der sturmfreien Villa, immer schon das Unheimliche klebt. Dennoch gibt es auch hier ein Element von kosmischer Angst, das durch den comic relief der Küchenpsychologie, mit der die Slasherfilme der 70er- und 80er-Jahre gerne spielen, noch verstärkt wird. Die Inszenierung lässt uns die absolute Einsamkeit der drei Jugendlichen erfahren, eine radikale Gleichgültigkeit der Menschen und der Welt – als sei es ein und dasselbe, ob zwei miteinander im Bett liegen oder der eine die andere mit Schleim überzieht, um sie besser verschlingen zu können. Im Zusammenschnitt der Szenen haben wir es mit einer gleichzeitigen Überlagerung und Umkehrung von Genremodalitäten zu tun, als ob die Serie ihr eigenes generisches Upside Down gestalten wollte: der Stalker hat nicht vor, die feiernden Jugendlichen umzubringen wie Michael Myers in halloween oder Freddy Krueger in a nightmare on elm street (Wes Craven, USA 1984), sondern Jonathan ist eine der sympathischsten Figuren der Serie, der man die Prinzessin gerne gönnen würde. Joyce schreit derweil klagend in ihr Telefon wie eine verlassene Geliebte und rennt hysterisch durch die Räume wie eine von einem Killer verfolgte Frau in einem Horrorfilm – ihr Gesichtsausdruck erinnert an Shelley Duvall, wie sie in Kubricks the shining (USA 1980) als Ehefrau des wahnsinnigen Schriftstellers Jack vor dessen Axt flieht. In der Szene mit Joyce scheinen sich das Monster und Will auf der Tonspur einen Wettkampf zu liefern, der sich zu einer Kakophonie auswächst – die andere Seite verschafft sich mit Hilfe elektronischer Geräte Zugang zu Joyces Realität. Wills Präsenz äussert sich unter anderem darin, dass er auf dem Ghetto Blaster seines Bruders seinen Lieblingssong laufen lässt, Should I stay or should I go (1982). Der Junge befindet sich unmittelbar auf der anderen Seite der Wirklich-

8.2  Erkundungen im Upside Down: stranger things (2016–)

257

keitsmembran, Joyce könnte ihn berühren; aber immer nur so, wie wir unsere Hand auf Barbarellas Handfläche legen, über das Interface des Bildschirms. Auch wenn die mediale Inszenierung die Nähe noch so spürbar werden lässt, befinden wir uns doch im Modus des Als-ob – die schönste Denkfigur dafür ist immer noch das kleine Kind, das die The Nursery Alice schüttelt, um sich gehörig zu fürchten. Wenn man den Text des Songs der britischen Punkband The Clash ernst nimmt – Should I stay or should I go – könnte man leicht auf die Idee kommen, sie als Ausdruck von Wills Unentschiedenheit zwischen den Welten zu verstehen; vor allem wenn man bedenkt, wie oft sein Wunsch sich zu verstecken im Lauf der Serie erwähnt wird. In der Inszenierung der Berührungsversuche von Will und seiner Mutter realisiert sich die kosmische Angst als Mischung aus dem Grauen vor der monströsen Seite der Wirklichkeit und aus der Lust, sich eben darin zu verkriechen, ein Teil davon und selbst Monster zu werden. Die Szene wird im Lauf der Serie immer wieder aufgenommen und variiert; mit der Zeit beginnt Joyce ihr Haus mit Hilfe von Lichtern in eine Kommunikationsstation umzubauen, in der sie die Signale ihres auf der anderen Seite gefangenen Sohnes nicht nur empfangen, sondern auch so weit verstehen kann, dass gleichsam an den Rand des Upside Down gelangt. Sowohl Will als auch das Monster drücken sich gegen die gummizellenhaft aufgeweichten Wände, sodass Joyce sie berühren kann; wie sich ein Ungeborenes durch die Aussenseite des mütterlichen Bauches berühren lässt, wenn es sich bewegt: Im Upside Down fallen Orkus und Mutterleib, Ort der Auslöschung und Ort der produktiven Geborgenheit in eins. „Should I stay or should I go“ – die Frage stellt sich hier nicht nur vom Leben her in Richtung auf den Tod, sondern auch vom Noch-ungeboren-Sein in Richtung auf das Leben. Besonders deutlich wird dies in der letzten Folge. Joyce wandert zusammen mit Sheriff Hopper in einer langen Sequenz durch die verfallene, mit Monsterschleim arabeskenhaft verklebte dunkle Seite von Hawkins und findet dort schließlich ihren Sohn, dessen Metamorphose bereits begonnen hat. Die Befreiung des Jungen von einer Riesenschnecke, die tief in seine Eingeweide gekrochen ist, und aus den Schleimgeweben der Monstermatrix, mutet wie eine rabiate Geburtsszene an. Die Figuration des „Will you, won’t you“, beziehungsweise des „Should I stay or should I go“, wie sie in stranger things in der Parallelmontage realisiert ist, suggeriert die gleichzeitige Anwesenheit und absolute Getrenntheit der einen und der anderen Seite. Wie das Umblättern der Seite in Through the Looking-Glass die Illusion hervorruft, dass uns die Materialität des Mediums in der ästhetischen Erfahrung etwas zeigt, das wir eigentlich gar nicht sehen können, nämlich was auf der Rückseite des Spiegels oder des Bildes oder auf der Innenseite der Haut ist, wird in der schnellen Parallelmontage die Membran zwischen der einen und der anderen Seite als Leerstelle präsent. In einem konventionellen Verständnis gilt Montage als die Organisationsform der filmischen Bilder in der Zeit. Die ­Alice-Maschine hingegen nutzt sie, um die Idee eines undenkbaren Raumes zu gestalten. Eine Steigerung der Parallelmontage ist das rhythmische Flackern des Lichts in der letzten Folge der ersten Staffel von stranger things – die Membran ist

258

8  Unmögliche Räume: Die Alice-Maschine in Fernsehserien der Gegenwart

durchbrochen, die Dinge sind durcheinandergeraten: Joyce, Hopper und Will sind im Upside Down, während das Monster sich zum großen Showdown im Schulhaus einstellt. Doch vor dem letzten Kampf des Monsters gegen Eleven kommt es zu einer weiteren Liebesszene: Ausgelaugt vom Einsatz ihrer telekinetischen Kräfte gegen die Leute vom Versuchslabor, liegt Eleven auf einer Schulbank. Mike beruhigt und tröstet sie; er verspricht ihr, wie einer melodramatischen Heroine am Sterbebett oder einem sterbenden Soldaten im Kriegsfilm, dass alles gut wird, und dass sie gemeinsam zum Schulball gehen werden. „Promise?“, fragt Eleven, „Promise“, antwortet Mike. Die Serie arbeitet mit verschiedenen Spielarten des Flackerns – dem Backflash, der Hoppers Assoziation des von einer Riesenschnecke intubierten Will mit seiner todkranken Tochter zeigt, und Mikes Bemühungen, die von ihren telekinetischen Aktionen ausgelaugte, immer wieder wegtauchende Eleven in der Welt zu halten, während die Lampen an- und ausgehen. Hell wird es erst wieder, als sowohl das Monster als auch Eleven verschwunden sind und die Öffnungen zur anderen Seite sich schließen. Solange der rhythmische Wechsel zwischen Hell und Dunkel anhält, sind wir im Zwischenraum zwischen den Welten gefangen – kein Versprechen, und sei es noch so ernst gemeint, kann etwas dagegen ausrichten. Das Flackern erinnert an das stroboskopische Blitzgewitter in Agent Coopers Traum. Dort ermöglicht die Parallelmontage das Hin- und Hergleiten auf der Oberfläche der Möbiusschleife – und genau das ist die Fähigkeit, die Agent Cooper auszeichnet. So wie es für Mike, Lucas, Dustin und Will keinen Unterschied gibt zwischen populärkulturellem und naturwissenschaftlichem Wissen, so sieht Cooper die Methoden der Kriminalistik und der Divination als Kontinuum. In der zweiten Staffel von stranger things kommt die Alice-Maschine übrigens zu einem abrupten Halt: Das disjunktive Verhältnis zwischen Alltagswelt und Upside Down wird aufgelöst und das unruhige Flackern zu Tode erklärt. Die Monster von der anderen Seite sind, erfährt man, ein einziger Organismus, der nach den Prinzipien der Schwarmintelligenz funktioniert und, einmal enttarnt, mit einigem Aufwand zur Strecke gebracht werden kann. Was die Produkte der Alice-Maschine von Lovecrafts Weird Tales unterscheidet, ist der Umgang der Figuren mit der anderen Seite. Bei der ­Alice-Maschine werden sie nicht sofort wahnsinnig, wenn die Türen nach innen aufgehen. Sie stellen sich, ganz nach dem Vorbild von Alice, darauf ein, dass es nichts zu verstehen gibt, und arbeiten damit. Die Tür zur anderen Seite geht aber auch bei Lovecraft nach innen auf – es gibt kein Aussen als jenes, das wir uns in unseren Ängsten und Fantasmen, in Kunst und Wissenschaft ausdenken und rechnend extrapolieren. Die ebenso ohnmächtige wie eloquente Beschwörung von unvorstellbar grausigen primordialen Gottheiten verfolgt das letztlich unerreichbare Ziel, die Leser lustvoll das Undenkbare denken zu lassen, nämlich das radikale Gefangensein in einem von Raum, Zeit und Körperlichkeit begrenzten Denken und schließlich die eigene Auslöschung. Posthumanistische Ansätze mögen versuchen, die lustvolle Seite des Weird zu betonen – dass wir Tiere sind, Dinge, Maschinen, auf eine unsere Subjektivität weit übersteigende Weise wundersam miteinander verbunden. Doch kaum gedacht, lässt uns der scheinbar

8.3  Unsinnige Maschinen: fargo (2014–)

259

so befreiende Gedanke auf die andere Seite der Möbiusschleife einbiegen, und ein Gefühl von Panik kommt auf: Schließlich sitzen wir trotz allem in unseren vergänglichen Körpern fest, für die es kein Entrinnen gibt. Wenn die Alice-Maschine undenkbare Räume schafft, ist die philosophische Dimension immer auch mit einer politischen verbunden. Das ließe sich bei Lovecraft und seinen Zeitgenossen in Bezug auf die Situation in den 1920erund 1930er-Jahren zeigen; bei stranger things scheint mir das Gefühl der Alternativlosigkeit im Kapitalismus mit schwindender Demokratie und Abbau des Sozialstaates zum Ausdruck zu kommen. Etwa darin, dass die Monster zwar Angst und Schrecken, aber auch etwas befreiend Anarchisches nach Hawkins, Indiana bringen: Nur marginalisierte und unglückliche Figuren, allen voran die Kinder, kommen mit der aufgebrochenen Ambivalenz des Upside Down zurecht. Vor diesem Hintergrund könnte die 1980er-Nostalgie, die Begeisterung der Fans fürs Entdecken von Zitaten und Bezügen als ein Versuch gedeutet werden, sich bei aller Unübersichtlichkeit ein Stück Expertentum über die eigene Geschichte anzueignen. Wenn sich Agent Cooper als postmoderne Alice aufmacht, unterschiedliche Traum- und Wirklichkeitsebenen miteinander in Berührung zu bringen, bedeutet das, dass die Türen nach innen aufgehen und die andere Seite auf der Oberfläche offenbaren. Die dunklen Geheimnisse der Einwohnerinnen und Einwohner von Twin Peaks kommen allesamt ans Licht, aus dem Spiegel schaut eine hässliche Fratze zurück. Die Alice-Maschine gestaltet die andere Seite gerade nicht als das Transzendente; es gibt nur die unendliche Ambivalenz und Widersprüchlichkeit eines Lebens, in dem alles Schöne auch eine schreckliche Seite hat, wie wir in der Teenie-Sexszene und der Kinder-Liebesszene gesehen haben. Eines Lebens, in dem der Tod immer schon gegenwärtig ist, und das so nur möglich ist, weil es den Tod gibt. Das ist es, was die Alice-Maschine für die Zuschauerinnen und die Leser erfahrbar und, vor allem, genießßbar macht.

8.3 Unsinnige Maschinen: fargo (2014–) Zu Beginn der dritten Staffel der Anthologie-Serie fargo (Noah Hawley, USA 2014–) dreht sich die Welt für einen Augenblick ganz unvermittelt um. An einer Party in der Villa des reichen Unternehmers Emmit Stussy (Ewan McGregor) schaut die Kamera plötzlich von oben auf die Köpfe der Sekt schlürfenden und Häppchen knabbernden Gäste, dann gleitet sie langsam zur Seite – wie auf einer Möbiusschleife – bis die Welt Kopf steht. In fargo gibt es kein Hin und Her, kein Flackern mehr; die andere Seite ist ganz mit der Alltagsrealität verwoben. Man braucht die Dinge nicht einmal umzudrehen, um ihre unheimliche, abgründige Seite sehen zu können. Die Serie hat zu Recht den Ruf, sich in ihrer Ästhetik hart an der Grenze zum Bizarren, Grotesken, Surrealen zu bewegen; in der Inszenierung der kleinstädtischen Gesellschaft im Mittleren Westen der USA arbeitet sie mit Zuspitzung und Übertreibung. Alles hat zwei Gesichter,

260

8  Unmögliche Räume: Die Alice-Maschine in Fernsehserien der Gegenwart

und immer sind paradoxerweise beide gleichzeitig präsent. Mir fällt kein anderer Film, keine andere Serie ein, die unvereinbare ästhetische Modalitäten in dieser Weise verbinden kann. Am greifbarsten wird dieses Phänomen in der Art, wie die ironische Haltung der Serie ihren Figuren und ihrer menschlichen Unzulänglichkeit gegenüber mit einer tiefen Trauer einhergeht, die mitunter an die Wucht des antiken Dramas denken lässt. Dafür sorgt die Alice-Maschine. Es gibt in der zweiten Staffel von fargo einen expliziten Verweis auf die Alice-Bücher: der Killer einer der sich gegenseitig bekriegenden Mafia-Organisationen rezitiert, während er sich für die große Schlacht bereitmacht, den „Jabberwocky“. Als Teil des Spannungaufbaus – wir sehen in einer fast kaleidoskopartigen Montage mit Splitscreen-Verfahren, wie alle Beteiligten sich auf den Weg machen, besorgt, nervös – trägt das Nonense-Gedicht zum Gefühl bei, die Eskalation sei durch nichts mehr zu bremsen.37 Die Alice-Maschine dagegen wird hier noch in Schach gehalten. Erst am Beispiel von Emmit und Ray Stussys Bruderzwist, um den sich die dritte Staffel von fargo auffaltet, wird das Prinzip deutlich, das die ­Alice-Maschine hervorbringt. Der reiche, bürgerliche Emmit und der abgerockte Ray, als Bewährungshelfer immer in Geldnöten, verkörpern zwei Seiten einer gespaltenen Figur, Zwillinge wie Tweedledum und Tweedledee, die sich selbst ebenso wenig ertragen können wie den anderen. Dass sie Doppelgänger sind, wird schon dadurch herausgestellt, dass beide von Ewan McGregor gespielt werden. Ein paradoxes Verhältnis zwischen den Brüdern ist angelegt: Sie bekämpfen sich wegen eines Erbstreits bis aufs Blut, und gleichzeitig suggeriert die Inszenierung, dass sie eins werden sollten – was dabei herauskommen könnte, bleibt allerdings unklar. Diese Sehnsucht nach Vereinigung mitsamt dem Schmerz der Getrenntheit wird im disjunktiven Zusammenspiel zwischen der elegischen Musik mit SoloCello und den unsinnig-ironischen Bewegungen der Kamera erfahrbar – zum Beispiel in der erwähnten Anfangssequenz. In solchen Verfahren bewirkt die Alice-Maschine, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer affektiv vom Abgrund der zwei Seiten angegriffen werden; obwohl die Oberfläche der fargo-Welt so einheitlich wirkt, scheint sie zu flirren. Es stellt sich das Gefühl einer von lauter Kippfiguren bevölkerten Welt ein – man müsste, denkt man, nur den richtigen Schalter finden, um sie aus ihrer Unruhe zu erlösen. Tatsächlich rückt eine Reihe von Kippschaltern ins Bild – deren Betätigung aber auf den ersten Blick gar nichts bewirkt. Diese leere Geste des Kippens ist die zentrale Figuration der dritten Episode der Staffel, The Law of Non-Contradiction, auf die ich genauer eingehen möchte. Es geht mir darum herauszuarbeiten, wie sich die Verfahren der Alice-Maschine im Kontext von Krimi- und Thriller-Modalitäten auf eine Weise selbstständig machen, dass sie als Figuren sichtbar, ja mit einer sinnlichen Wucht gegenwärtig werden. Das geschieht bereits beim erwähnten Kamera-

37fargo,

Staffel 2/Folge 6, 00:10:03–00:11:01.

8.3  Unsinnige Maschinen: fargo (2014–)

261

schwenk, der die Welt auf den Kopf stellt; über die gesamte Staffel faltet sich eine Serie solcher kinematographischen Figurationen auf. Nicht, dass in den ersten Minuten der Staffel ein Gefühl einer auch nur ansatzweise heilen Welt aufgekommen wäre. Auf den verstörenden und scheinbar völlig zusammenhangslosen Prolog, der in Ostberlin spielt, im Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen, werde ich noch zu sprechen kommen. Doch auch das Gespräch unter erfolgreichen Geschäftsleuten, das während der besagten Party im Arbeitszimmer des Hausherrn stattfindet, trägt wenig zur Entspannung bei. In der ersten Einstellung ist Stussys Kopf abgeschnitten, man hört ihn sozusagen von oben herab in den Bildraum hineinreden. Und dann schwingt er sich zusammen mit seinem Mitarbeiter Sy Fletz (Michael Stuhlbarg) in einen seltsamen ­Nonsense-Singsang ein, wie eine Verdoppelung des brüderlichen Tweedledumund Tweedledee-Paars: „Just clicks and buzzers, klicks and buzzers“38 – das hätten sie bei den Versuchen, ihren Geldgeber zu kontaktieren, am anderen Ende der Leitung gehört: ein akustisches Grinsen ohne Katze. Die leeren Kippmomente in fargo sind immer so inszeniert, dass die Materialität des Mediums sich zeigt – und die Figuren scheinen schon zu wissen, dass ihnen aus dieser Leere heraus eine tödliche Gefahr droht. Denn gerade in der Tatsache, dass scheinbar nichts passiert beim Umkippen des Schalters, steckt das Abgründige: In der seriellen Anordnung unsinnig scheinender Figurationen spiegeln sich die Eskalationen von Gewalt und Zerstörung, um die es in der ganzen Staffel geht. Irgendwo hat jemand einen Schalter umgelegt, und es ist tatsächlich etwas geschehen; aber niemand kann rekonstruieren, an welchem Punkt die Dinge schief gegangen sind.

Verschachtelungen In der dritten Staffel von fargo gibt es eine Folge, die sich an Prokofjews Kindermärchen Peter und der Wolf (1936) orientiert. Und es gibt eine Alice-Folge – die allerdings nicht als solche deklariert wird. In ihr, es handelt sich um die bereits erwähnte dritte Episode, spielen Kippschalter und unsinnige Maschinen eine zentrale Rolle. Die Folge (Regie: John Cameron; Drehbuch: Matt Volpert und Ben Nedivi) verweist mit dem Titel The Law of Non-Contradiction indirekt auf den Logiker Dodgson, denn beim Satz vom Widerspruch handelt es sich um ein Prinzip der klassischen Logik, das besagt, dass zwei einander widersprechende Aussagen nicht gleichzeitig zutreffen können. Ausser natürlich, wie wir gesehen haben, wenn die Alice-Maschine in Betrieb ist. In der Folge gibt es auch eine Alice, die sich in der Poiesis des ­Unsinn-Lesens übt. Es handelt sich um eine erwachsene Frau und Mutter eines Sohnes: Gloria

38fargo,

Staffel 3/Folge 1, 00:08:30.

262

8  Unmögliche Räume: Die Alice-Maschine in Fernsehserien der Gegenwart

Burgle (Carrie Coon), die Polizeichefin von Eden Valley, Minnesota. Sie ermittelt im Mordfall an ihrem Stiefvater Ennis Stussy. Der Mörder, wie die Zuschauerinnen und Zuschauer bereits wissen, hatte eigentlich den Auftrag, den reichen Unternehmer Emmit Stussy zu töten, der in Eden Prairie wohnt. Auftraggeber ist Emmits Bruder Ray. Leider beauftragt er einen nicht besonders zuverlässigen Drogenabhängigen, den er als Bewährungshelfer unter seinen Fittichen hat, mit dem blutigen Geschäft. Unterwegs zu Emmit war dem Mörder in spe aber der Zettel mit den Angaben zum Wohnort des Opfers verloren gegangen; und so wird ihm der abwesende Papierfetzen zum Verhängnis. Er kann sich nur noch an den Namen Stussy in Eden irgendwas erinnern und landet mit Hilfe eines Telefonbuchs bei einem Ennis Stussy in Eden Valley – Glorias Stiefvater. Er bricht ins Haus des alten Mannes ein und ermordet ihn grausam. Gloria, als Polizeichefin und Stieftochter doppelt an der Lösung des Falls interessiert, findet beim Durchsuchen von Ennis’ Wohnung heraus, dass sie eigentlich nichts über den zweiten Mann ihrer Mutter weiß. Dass der Mord an dem alten Mann purer Zufall und vollkommen unsinnig sein könnte – daran denkt sie keine Sekunde. Vielmehr vermutet sie, dass der Schlüssel in der Vergangenheit liegt. Tatsächlich kommt sie einer abenteuerlichen Geschichte auf die Spur: Mit richtigem Namen hiess Ennis Thaddeus Mobley und feierte in den 1970er-Jahren einigen Erfolg als Autor von populären Science Fiction-Romanen. Eine Spur führt sogar nach Hollywood, wo Mobley 1975 mit dem Golden Planet ausgezeichnet worden war. Gloria, froh, einmal aus Eden Valley herauszukommen, nachdem ihr Mann sie für einen anderen Mann verlassen hat und ihr wegen Sparmaßnahmen bei der Polizei ein rüpelhafter Macho vor die Nase gesetzt worden ist, beschließt, der Sache auf den Grund zu gehen. Und so fliegt sie nach Los Angeles. Die Alice-Maschine kommt in der Gestaltung einer Konstellation von Figurationen zum Einsatz: das Kippen im Modus des Als-ob verbindet sich mit einer Mise en abîme, die sich in einer matrjoschkaartigen Ineinanderschachtelung von Schachteln realisiert. Das ist zum Teil ganz buchstäblich gemeint; die Reise nach Hollywood beginnt aber mit einer Schachtelung im übertragenen Sinn. Nicht nur, dass eigentlich ein anderer Stussy ermordet werden sollte und sich in dem toten Stussy wiederum ein anderer, nämlich der Science-Fiction-Autor Mobley, verbirgt. In einer gut versteckten Schachtel in Stussys/Mobleys Haus findet Gloria obendrein seine Romane; einen davon nimmt sie mit auf ihre Reise. Unterwegs wird er als Buch in der Serie eine Geschichte erzählen und Gloria dabei von einer Wirklichkeit in die andere wechseln lassen – genau so, wie wir es in anderen Filmen und Serien, in denen die Alice-Maschine wirksam ist, gesehen haben. Die Folge setzt gleich mit einer medialen Verschachtelung ein: einem Film in der Serie, einer Rückblende. Wir befinden uns mit Thaddeus Mobley in Hollywood, im Jahr 1975. Nach der Preisverleihung des Golden Planet für seinen Roman The Planet Wyh begegnet Thaddeus dem Produzenten Zimmerman, der ihm Flausen in den Kopf setzt: Er sehe – und es geht weiter mit den medialen Verschachtelungen – seinen Roman im Kopf schon als Film; eine Space Opera, mit Robert Redford als Roboter. Er lädt Mobley ein, ihn in seiner Produktionsfirma zu besuchen. Die nächste Begegnung findet in einem Vorführraum statt, inszeniert,

8.3  Unsinnige Maschinen: fargo (2014–)

263

Abb. 8.1  Der Android MNSKY schaltet sich selbst aus

natürlich, als eine Schachtel. In der Schachtel, auf einer Leinwand, ist die Aufzeichnung eines Castings zu sehen. Als Tad den Raum betritt, erscheint darauf das Gesicht einer blonden Schönheit. Auf Geheiss von Zimmermann erhebt sich die Schauspielerin in der ersten Reihe, sodass sie doppelt, ja sogar dreifach erscheint: Ihr Bild wird sowohl auf die Leinwand hinter ihr als auch auf ihren Körper, der vor der Leinwand steht, projiziert. Sie ist als lebendiger Mensch und als mediales Bild gleichzeitig anwesend, dabei ist ihr Körper sozusagen verpuppt im filmischen Bild.39 Die kaleidoskopische Ästhetik nimmt hier offensichtlich Bezug auf das psychedelische Kino der 1960er- und 1970er-Jahre (vgl. Abschn. 7.1 zu Roger Cormans the trip), und tatsächlich gerät der arme Mobley in einen selbstvergessenen Rausch. Zimmermann hatte nämlich nie vor, eine Space Opera zu produzieren. Doch Mobley in seiner Unerfahrenheit und Gutgläubigkeit ließ sich, die Realität des Show Business nicht mehr von den medial induzierten Illusionen eines Lebens als Star unterscheiden könnend, leicht dazu überreden, sein ganzes Geld, als „Vorschuss“ herzugeben. Auf die Szene im Kino folgt eine rhythmisierte Rausch-Sequenz, inszeniert im Stil eines Videoclips, in der wir den unauf­ haltsamen Absturz Mobleys mitverfolgen können. Wir sehen ihn beim Unterschreiben von Schecks, bald mit Schnurrbart und immer schicker gekleidet; dazwischen im Split Screen die begehrenswerte Schönheit. Die beiden lächeln sich an, quer durch einen Raum; wir sehen das Paar aber nicht, wie üblicherweise, im ­Schuss-Gegenschuss-Verfahren, sondern nebeneinander – jeder ist auf seiner Seite des Bildraums gefangen.40 Nach einer Nacht mit Sex und Drogen setzt sich Mobley dann an seine Schreibmaschine und tippt den Anfang des Drehbuchs: „From small dreams, huge civilizations arose, thought the Android MNSKY.“ Hier wird ein weiterer Film im Film ins Schachtelsystem der Episode eingebaut: Wir sehen die Geschichte vom Planeten Wyh nicht als „major motion

39Ebd., 40Ebd.,

Staffel 3/Folge 3, 00:03:21–00:03:43. 00:06:10–00:06:16.

8  Unmögliche Räume: Die Alice-Maschine in Fernsehserien der Gegenwart

264

picture“, wie Zimmerman das Projekt großspurig angekündigt hatte, sondern als low-budget Animationsfilm:41 einfache Strichmännchen vor einem aus unterschiedlichen Papiersorten collagierten Hintergrund lenken die Aufmerksamkeit auf die Materialität und Gemachtheit der S ­ cience-Fiction-Erzählung. Der Übergang von der Schreibmaschine mit ihren auf vergilbtes Papier prasselnden Typenhebeln zum Animationsfilm hat zunächst eine nostalgische Vintage-Anmutung, und man wähnt sich als Zuschauerin sicher auf der Metaebene medialer Selbstinszenierung.42 Doch dann erweist sich ausgerechnet die Irrfahrt des aus Strichen skizzierten Androiden MNSKY als eine der berührendsten Geschichten im gesamten fargo-Universum. Um zu erklären, warum das so ist, muss ich ein wenig ausholen. Die Zeichen, die Mobley tippt, wechseln in doppelter Hinsicht den Kanal – sie verwandeln sich in Strichmännchen und werden auf der Tonspur von einer weiblichen Stimme, Glorias Stimme, in eine Erzählung transformiert. Eine Schwarzblende schließt den ersten Teil der Animationssequenz ab. Sie dauert lange genug, um in ihrer Leere als solche identifiziert zu werden – die Materialität des Mediums zeigt sich auch hier für einen Augenblick. Dann verwandelt sich die Schwärze des Nicht-Bildes in ein anderes Material: den Stoff einer Sitzlehne in einem Flugzeug. Die Kamera gleitet daran hoch und gibt den Blick auf Gloria frei, die Mobleys Roman Planet Wyh liest. Die Montage suggeriert, dass sie in der Poiesis des Lesens nicht nur den Animationsfilm mitsamt Erzählstimme herstellt, sondern sich auch die Geschichte des schreibenden Mobley vorstellt. Als Alice-Figur und als Kriminalistin versteht sie sich doppelt darauf, im Akt des Lesens aus Fragmenten eine Geschichte zu machen, oder sie zumindest in einer Assemblage zueinander in Bezug zu setzen. Die Geschichte, die wir im Animationsfilm sehen, scheint also aus Glorias Nachdenken über den seltsamen Mordfall heraus zu entstehen. Und tatsächlich lässt sie sich in ihrer Gleichnisstruktur auf alles andere beziehen, was wir in der Folge zu sehen bekommen. Gerade weil sich die Materialität des Mediums in der Animation und der Art, wie sie in Glorias Ermittlungen hineinmontiert ist, zeigt, löst die Inszenierung der Episode eine hyperkonnektive Produktion von Sinn aus. Doch worum geht es überhaupt? Ein Roboter, der Android MNSKY, irrt während Jahrmillionen durch die Welt. Der Astronaut, mit dem er ursprünglich unterwegs war, kam bei einer Bruchlandung zu Beginn der Mission um, und MNSKY ist auf sich selbst gestellt. Er möchte helfen – mit einer quietschigen Stimme wiederholt er immer wieder „I can help“ – und muss doch hilflos zuschauen, wie sein Meister stirbt. Denn MNSKY, liest Gloria, ist ein Prototyp und als solcher noch unvollkommen, „created to observe and report; his programming not yet complete. A child in other words.“ MNSKY – diesen Teil des Animationsfilms sehen wir allerdings erst später in der Folge – wandert mutterseelenallein durch die Zeit, wie das arme Kind in Büchners Märchen aus

41Ebd., 42Vgl.

00:08:36–00:09:52. Schrey 2017, 302.

8.3  Unsinnige Maschinen: fargo (2014–)

265

Abb. 8.2  Gloria findet auf ihrer Reise in die Vergangenheit eine Maschine, die nur eins kann: sich selbst ausschalten

Woyzeck, auf der Suche nach einer Aufgabe. Unterwegs wird er Zeuge der ganzen Erdgeschichte, und immer versucht er, seine Beobachtungen an die Zentrale seines Heimatplaneten zu übermitteln. Vergebens. Nach Millionen von Jahren – MNSKY ist mittlerweile das älteste Wesen der Galaxie – landet ein Raumschiff. Die Daten können nun endlich übermittelt und ausgewertet werden und MNSKYs Mission ist erfüllt. Er wird aufgefordert, sich selbst auszuschalten. Sein runder Kopf mit den treuherzig leuchtenden blauen Augen wird erstmals im Close-up gezeigt, und er sagt ein letztes Mal: „I can help!“ Dann öffnet er ergeben seine metallene Schädeldecke und legt den Kippschalter um (Abb. 8.1). Das grüne Licht, das in seinem Kopf leuchtet, wird rot, der Deckel schließt sich, und seine Augen erlöschen. Das Oxymoron aus ironischem Wissen um die Gemachtheit des Medialen und der affektiv berührenden Qualität der Szene erreicht hier einen Höhepunkt; man könnte sagen, dass der Serie hier die perfekte audiovisuelle Umsetzung der Poiesis des Unsinn-Lesens gelingt, wie wir sie in den Alice-Büchern gesehen haben. Denn MNSKY steht, in der fantastischen Verkehrung, für die unzähligen Menschen ein, die Varga zufolge zu nichts gebraucht werden; die, um W. G. Sebald zu zitieren, sozusagen von Geburt an überzählig sind.43 Sie wollen vielleicht das Gute und das Richtige, wollen helfen, aber dieser Wunsch – und die sich darin offenbarende Sehnsucht nach Anerkennung und Zuneigung – verhallt ungehört, wird verhöhnt und schließlich im brutalen Utilitarismus des Abschalt-Kommandos – das wohl auch die Botschaft der Vargas dieser Welt ist – negiert.

Der Kippschalter Als Gloria in Los Angeles ankommt, folgt eine unsinnige Episode auf die andere – als sei sie überhaupt nie aus dem Lektüretraum im Flugzeug aufgewacht.

43W. G.

Sebald: Campo Santo. München 2003, 37.

266

8  Unmögliche Räume: Die Alice-Maschine in Fernsehserien der Gegenwart

Während sie sich an der Rezeption des schäbigen Hotels, in dem sie unterkommt, erklären lässt, was für ein schönes Zimmer sie erwarte – man könne das Meer zwar nicht sehen, aber immerhin riechen („there is a view?“ – „there’s a smell“) – schnappt sich ein Dieb, als Weihnachtsmann verkleidet, den kleinen Trolley; bald ist nämlich Weihnachten, und das Hotel dient als Veranstaltungsort einer ­ Weihnachtsmänner-Konferenz. Genauso seltsam – „curiouser and curiouser“ – wie die Weihnachtsmänner und der Mann an der Rezeption ist auch der Polizist, der sich um den Diebstahl kümmert – wunderschön ist die Szene an der Bar, in der er mit Gloria zu flirten versucht, während sie auf seine verbalen Annäherungsversuche mit Nonsens-Antworten reagiert. Noch seltsamer wird es, als sie das Hotelzimmer betritt: Die Tür öffnet sich nach innen, denn wir, die Zuschauerinnen und Zuschauer, befinden uns bereits im Raum. Die Kamera zeigt uns die Rückseite der Tür, mit den üblichen Feuerschutz-Informationen und einer Schließvorrichtung. Wir sehen Gloria, wie sie eintritt und die Tür hinter sich schließt – und folgen dann ihrem verwunderten Blick. Hinter dem Vorhang, der die Garderobe vom Raum trennt, schaut ein Paar Männerschuhe hervor. Doch als sich Gloria fachmännisch anpirscht und den Vorhang zur Seite reisst, ist da niemand; nur das Paar Schuhe, als hätte ein Witzbold die Polizistin zum Narren halten wollen. Der Geist des Mannes, der nicht in seinen Schuhen steht, bleibt umso gegenwärtiger. Und die Vorstellung, dass sich da einer hinter dem Vorhang versteckt, verbindet sich im Kopf der Zuschauerin mit der gespenstischen Präsenz von Thaddeus Mobley, der 1975 in genau diesem Zimmer abgestiegen war. Dann fällt Glorias Blick auf etwas anderes: Im Schuss-Gegenschuss-Verfahren bekommen wir zu sehen, dass an der Wand eine kleine Holzschachtel steht, mit nichts als einem Schalter alter Schule ausgestattet. Gloria stellt die Schachtel aufs Bett, kniet sich hin wie vor einen Altar und betätigt den Schalter. Es öffnet sich der Deckel, grünes Licht leuchtet auf, und sogleich wird der Hebel von innen betätigt (Abb. 8.2). Das Licht wechselt auf rot, und der Deckel schließt sich wieder. Wir sehen Gloria und die Schachtel von der Seite, können deshalb nicht genau erkennen, wie der Schalthebel betätigt wird. Bis die verstörte Polizistin einen zweiten Versuch startet. Im Close-up offenbart sich nun die Funktionsweise der kleinen Maschine. Eine Hand aus Plastik, mit ausgestrecktem Zeigefinger, legt den Schalter um, sobald sich der Deckel öffnet. Da, wo das Handgelenk sein müsste, sehen wir Metallteile und Drähte: eine Maschine, die sich in ihrer Materialität und Funktionsweise zeigt. Nur, wofür sie gut sein soll, weiß niemand. Bei der Schachtel handelt es sich um eine Kuriosität, „Useless Machine“ oder „Leave Me Alone Box“ genannt. Weil der einzige Zweck der Maschine darin besteht, sich selbst auszuschalten, wird sie auch „Ultimate Machine“ genannt. Die Maschine geht auf eine Idee von Marvin Minsky (1927–2016) zurück, einem Erforscher der Künstlichen Intelligenz am MIT; in gewisser Weise einem Vater des Androiden MNSKY. Claude Shannon, Pionier der Informationstheorie und ebenfalls MIT-Professor, baute eigene Versionen der Maschine. Eine davon stand auf

8.3  Unsinnige Maschinen: fargo (2014–)

267

seinem Schreibtisch und fand Eingang in einen Text des S ­ cience-Fiction-Autors Arthur C. Clarke.44 Dieser beschreibt sie wie folgt: Nothing could be simpler. It is merely a small wooden casket, the size and shape of a cigar box, with a single switch on one face. When you throw the switch, there is an angry, purposeful buzzing. The lid slowly rises, and from beneath it emerges a hand. The hand reaches down, turns the switch off and retreats into the box. With the finality of a closing coffin, the lid snaps shut, the buzzing ceases and peace reigns once more. The psychological effect, if you do not know what to expect, is devastating. There is something unspeakably sinister about a machine that does nothing – absolutely nothing – except switch itself off.45

Losgelöst vom Kontext der audiovisuellen Inszenierung erschiene die Schachtel als das, was Heinz von Foerster eine triviale Maschine nennt, wenn auch ad absurdum geführt, wie Johannes Binotto aufzeigt: Eine triviale Maschine ist eine, bei der ein bestimmter Input immer denselben Output ergibt. Wer einen Lichtschalter drückt, darf erwarten, dass das Licht angeht; wer einen Ball in die Luft wirft, kann darauf wetten, dass dieser wieder runterfällt. Triviale Maschinen sind berechenbar, ganz bestimmt praktisch, aber auch ziemlich langweilig. Nichttriviale Maschinen hingegen sind solche, bei denen die Verarbeitung eines Inputs unter anderem den Effekt hat, dass sich der innere Zustand der Maschine und dabei ihre Funktionsweise verändert, deren internes Feedback sie laufend umbaut. Und während bei trivialen Maschinen das Ergebnis immer dasselbe ist, kommen nichttriviale Maschinen zwangsläufig zu immer neuen, unerwarteten Outputs.46

Dass der Android MNSKY genau diesen grün oder rot umleuchteten Kippschalter im Kopf hat, wissen zu diesem Zeitpunkt weder Gloria noch das Publikum. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass die Sinnlosigkeit der Maschine mit dem Kippschalter die affektive Dynamik der Folge vollkommen auf den Kopf stellt, ganz im Gegenteil. Gerade weil uns die existentielle Dimension des Schalthebels erst in der Metapher – bei MNSKYs Tod – in ihrer ganzen Wucht bewusst wird, verstört uns die Materialität des Medialen, die sich hier zeigt, auf eine seltsam radikale Weise. Als MNSKY seinen Schalter ausmacht, verschwindet nämlich auch der Animationsfilm. Was bleibt, ist wieder eine Schwarzblende, auf welcher unsere Augen die verschwundenen Bilder zu sehen meinen; ein Grinsen ohne Katze.

44„Several

copies of the machine were made and given to executives of AT&T, the parent company of Bell Labs. The above picture of the Machine depicts it be approximately suitcase size, so it is possible that more than one size was produced. I haven’t been able to locate any other images. When asked about the Ultimate Machine Minsky says: ‘I worked with Shannon at Bell Labs in the summer of 1952. I suggested this machine, Shannon liked it, and he got the company to build a bunch of them and gave them to various executives. I asked for a patent release on it, and they said no, and I didn’t pursue it.’” N. J. A. Sloane/A. D. Wyner (Hg.): Claude E. Shannon. Collected Papers. Piscataway 1993, 52. 45Arthur C. Clarke: Voice Across the Sea. The Story of Deep Sea Cable Laying. London 1958, 103. 46Johannes Binotto: Feedback. Zur Theorie der Serie. In: ETH Graphische Sammlung (Hg.): On Series, Scenes and Sequences, Zürich: Edition Fink 2017, 535–547, hier 546.

268

8  Unmögliche Räume: Die Alice-Maschine in Fernsehserien der Gegenwart

Blinde Maschinen und Verhörräume mit Aussicht Maschinen spielen in der gesamten dritten Staffel von fargo eine merkwürdige Rolle. Gloria wird als eine Polizistin eingeführt, die von Maschinen und Automaten nicht wahrgenommen wird. Vor automatischen Türen muss sie regelmäßig stehen bleiben. Sie kann noch so wild mit den Armen fuchteln, um den Sensor auf sich aufmerksam zu machen – es passiert nichts.47 In einer solchen SlapstickSituation begegnen wir ihr auch zum ersten Mal. Wir sehen sie durch die Glastür des Tante-Emma-Ladens, in dem ihr Stiefvater (der bald ermordet werden wird) und ihr Sohn arbeiten. Glorias Konturen sind unscharf; im Fokus steht das Schild „Caution. Automatic Door. Move in front to operate“.48 Erst als sie klopft und ihr Sohn sich der Innenseite der Tür nähert, gelangt sie, halb tiefgefroren im scheinbar ewigen Winter Minnesotas, in die Wärme des Ladens. Auch elektronische Seifenspender, Wasserhähne und Händetrockner ignorieren sie konsequent.49 Doch die Antipathie beruht durchaus auf Gegenseitigkeit. Während die Maschinen Gloria ignorieren, verweigert sie sich dem digitalen Zeitalter. Auf diese Weise gelingt es Gloria, V. M. Varga (David Thewlis), den geldwaschenden Bösewicht der dritten Staffel, zu unterlaufen. Dieser besitzt einen zugleich vorsintflutlich und hypertechnologisch anmutenden Überwachungswagen; ein regressives Refugium mit Stalin-Porträt an der Wand und einer unidentifizierbaren vergilbten Fotografie. Als er Gloria im Internet suchen will, findet er nichts, auf keiner Suchmaschine: „We couldn’t find anything for Gloria Burgle.“50 Auch über den Polizeiposten von Eden Valley erfährt Varga online nichts; die Computer warten seit Jahren in ihren Originalverpackungen im Abstellraum auf ihren Einsatz. Der Prolog zur Staffel, ganz zu Beginn der ersten Folge, etabliert dieses Thema bereits, das in den weiteren Folgen variiert werden wird – und zwar gleichsam als ein musikalisches. Ein verängstigter Mann wird ins Büro eines Stasi-Offiziers gebracht und dort mit jemandem verwechselt, der er nicht ist. Das Verstörende an der Szene besteht darin, dass er keine Chance hat, zu widersprechen, seine Identität zu behaupten. Das Gespräch erinnert an Kafkas Prozess, aber auch an Szenen aus der Nonsense-Literatur, namentlich an die Gespräche, die Alice mit diversen Bewohnern des Wunderlandes führt. Entscheidend ist dabei, dass der Nonsense des Dialogs nicht harmlos ist, nur weil er keinen Sinn ergibt. Die absurde Maschinerie des totalitären Staates lässt die Welt in der Inszenierung plötzlich Kopf stehen – wie der Kippschalter, mit dem alles auslöscht werden kann: Sie sind Juri Gurka. Nein. Mein Name ist gottseidank Jakob Ungerleider. Das ist ein Missverständnis. Sie wohnen an der Hufelandstrasse 349.

47fargo

Staffel 3/Folge 4, 00:17:46. Staffel 3/Folge 1, 00:21:15. 49Ebd., Staffel 3/Folge 4, 00:18:37–00:21:07. 50Ebd., 00:20:52. 48Ebd.,

8.3  Unsinnige Maschinen: fargo (2014–)

269

Ja, Herr Oberst. Hm. Juri Gurka ist an der Hufelandstrasse 349 als Mieter gemeldet. Wenn das Ihre Adresse ist, dann sind Sie Juri Gurka. Ein 20jähriger Austauschstudent aus der Ukraine. Nein. Ich bin in Schwerin geboren und Bürger der Deutschen Demokratischen Republik. Und wie Sie unschwer erkennen können, ist es ne Weile her, dass ich 20 Jahre alt war. Wenn ich etwas anmerken darf: Die Wohnung, die wurde mir vor sechs Monaten vom Amt zugewiesen. Vielleicht hat dieser Juri ja vor mir… Ts, ts, ts… Das ist ein Problem. Nur damit wir uns richtig verstehen. Sie wollen mir damit sagen, dass die Behörde einen Fehler gemacht hat und dass der Staat falsche Informationen hat. Ist es das, was sie mir erklären wollen? Nein, Herr Oberst. Gut. Gut. Dann geben Sie also zu, dass sie Juri Gurka sind und ihre Freundin Helga Albracht heisst. Nein. Nein, nein, das hab ich nicht gesagt. Meine Frau heisst tatsächlich Helga, ja. Hervorragend. Nicht Albracht… So, jetzt kommen wir der Sache etwas näher. War es heute morgen oder gestern Abend, dass Sie sie erdrosselt haben? Was? Ihre Freundin, Helga Albracht. War es heute morgen oder gestern Abend, dass Sie sie umgebracht haben? Gar nicht. Ich mein, Herr Oberst, ich bitte Sie. Wie ich es ihnen gerade schon gesagt habe, ich hab keine Freundin, sondern eine Ehefrau. Zufälligerweise heisst sie Helga, ja, aber Helga Ungerleider. Und sie ist, also ich kann ihnen versichern, sie ist am Leben. Als mich ihre Männer gerade abgeholt haben, vor einer Stunde, da war sie zuhause; sie hat ihren Männern sogar Tee angeboten. Und wir haben nun einen Frauenkörper, der heute Morgen gefunden wurde. Helga Albracht. Erwürgt am Ufer der Spree zurückgelassen. Herr Gurka, machen Sie es sich doch nicht so schwer. Ich habe Ihnen eine Leiche gezeigt. Kalt, und das Gesicht blau angelaufen. Ich habe diese Leiche mit eigenen Augen gesehen. Ihr Tod ist eine Tatsache. Was Sie hier die ganze Zeit erzählen, ist eine Geschichte. Sind nur leere Worte. Diese meine Frau, die am Leben ist, mit einem anderen Nachnamen. Ich nenne das eine Geschichte. Wir sind nicht hier um Geschichten zu erzählen, wir sind hier um die Wahrheit zu sagen. Verstanden?51

Der Verhörraum, in dem der Oberst hinter einem Schreibtisch sitzt und eine Stulle isst, an der er noch während der – übriges in der Originalfassung der Serie auf Deutsch geführten – Befragung kaut, ist in einem kalten Blauton gehalten; durch die Fenster fällt Licht herein. Dass es schneit, wird nur in der Fallbewegung im Schatten des Lichtes sichtbar. Die Szene endet nicht etwa, indem Ungerleider abgeführt wird. Die Kamera verlässt den Raum, aber weder durch Tür noch Fenster, sondern durch eine kleine Fotografie, die an der Wand hinter Ungerleider hängt. Die Kamera bleibt einen Augenblick auf dem verzweifelten Gesicht der Kafka-Figur stehen, wendet sich dann seitlich von ihr ab und der Fotografie zu, die ihrersseits am oberen Rahmen des von leisem Schnee bewegten Lichtparallelogramms klebt, das durch das Fenster auf die Wand fällt. Während die Kamera das Bild langsam heranzoomt, erklingt das Hauptmotiv des fargo-Soundtracks, elegische Cello-Musik. Der Schriftzug, mit dem jede Folge der bisher drei Staffeln

51Ebd.,

Staffel 3/Folge 1, 00:02:10–00:06:20.

270

8  Unmögliche Räume: Die Alice-Maschine in Fernsehserien der Gegenwart

beginnt, wird eingeblendet: „This is a true story“. Nach einigen Sekunden verschwindet er wieder, und die Kamera gleitet in die Schneelandschaft hinein, die auf der Fotografie zu sehen ist. Sie lässt den Rahmen, und damit den Verhörraum in Ostberlin, 1988, hinter sich, und bewegt sich seitwärts auf den recht herrschaftlichen Eingang eines Hauses zu, in dem Emmit Stussy eine Party feiert. Ein Schriftzug informiert uns darüber, dass sich die „dargestellten Ereignisse“ 2010 in Minnesota abgespielt haben.52 Die Serie kommt danach nicht mehr auf die Szene in Ost-Berlin zurück, zumindest nicht auf der Ebene der Handlung. Umso mehr kann sie als Hinweis darauf verstanden werden, dass es ein wichtigeres serielles Organisationsprinzip gibt als das Erzählen einer Geschichte: ein audiovisuell gestaltetes musikalisches Thema, das wiederholt, variiert und, in der allerletzten Szene der Staffel, gespiegelt wird. Diese spielt fünf Jahre nach der Haupthandlung, also 2016. Wir befinden uns wieder in einem Verhörraum – er gleicht zum Verwechseln jenem der Stasi –,53 in einem scheinbar unterirdischen Gebäude, mit nackten Wänden, Röhren und Kabeln an der Decke und, wie Geräusche des Öffnens und Schließens ahnen lassen, mit Sicherheitstüren. Zunächst, auf dem Weg zum Verhörraum, folgt die Kamera, direkt über den Fussboden schwebend, einem Paar Füsse, das durch den Flur geht, in einem finsteren grünen Licht. Die Füsse gehören zu einer uniformierten Person, deren Rücken, mit der Aufschrift DHS (Departement of Homeland Security), wir weiter folgen. Der zugehörige Kopf, es ist Gloria Burgle, wird erst sichtbar, als sie auf einen identisch uniformierten Mann trifft und sich mit ihm unterhält. Die Kamera nimmt jetzt die Perspektive Glorias ein und gibt den Blick auf den Flur frei; dunkel, gegen Ende von einer nichtidentifizierbaren Lichtquelle erleuchtet, mit einer hellblau gerahmten Tür, die ihr Spiegelbild auf den glatten Fussboden wirft. Es ist, als seien wir als Zuschauer plötzlich in Glorias Körper geraten; wie ein Avatar aus einem Ego-Shooter, wenn auch ohne Gewehr im Anschlag, gehen wir, unsere eigenen, beziehungsweise Glorias Schritte hörend, auf die Tür zu. Als noch mindestens fünfzehn Meter fehlen, schneidet die Serie mit einer fast brutalen Plötzlichkeit: Die Kamera wartet hinter der Tür, die Gloria gleich betreten wird, und wir sehen durch ein kleines Fenster in den Flur hinaus. Glorias Kopf erscheint, und die – elektronische – Sicherheitstür geht nach innen auf. In der Inszenierung wiederholt sich also die

52Ebd.,

00:06:23–00:07:30. des offenen Endes wurde Noah Hawley, der Creator der Serie, in Interviews nach seinem Plan gefragt, und tatsächlich sind die Dimensionen des amerikanischen Verhörraums in der Serie auf jene in der D ­ DR-Szene abgestimmt: „Yeah, I knew very early on that the season was gonna end in that room and it was gonna end with us looking at a clock and the door and it was gonna end with the audience having to make a choice as to whether they believed this was gonna end well or badly. Then, as it came time to design that final room, we did design that final interview room to have the exact same dimensions as the opening room. Obviously it’s a very different room, but there was a sense, an echo, that we were looking for.“ Vgl. Daniel Fienberg: ‚Fargo’ Creator Goes Inside Season 3 Finale and Offers Hope for Franchies’s Future: https:// www.hollywoodreporter.com/fien-print/fargo-season-3-finale-explained-1015844 (27.04.2020).

53Wegen

8.3  Unsinnige Maschinen: fargo (2014–)

271

Szene, in der Gloria in Hollywood das Hotelzimmer mit der nutzlosen Maschine betritt. Doch diesmal folgt die Kamera nicht ihrem Blick, sondern begleitet sie von der Seite, als sie durch den Raum geht – dabei wird sie zu einem schwarzen Schatten. Im Vordergrund erscheint ein zunächst verschwommener Kopf, der sich gleich als V. M. Varga erweisen wird.54 Anders als die Verhörszene in Ost-Berlin, in welcher der Oberst und das unschuldige Opfer immer nur im Schuss-Gegenschuss-Verfahren zu sehen sind, zeigt die Kamera Gloria und Varga, einander an einem Tisch gegenübersitzend, von der Seite. Da auf beiden Seiten des Verhörraums verspiegelte Fenster angebracht sind, setzt sich die Szene ins Unendliche fort. Die Figuration des Mise an abîme, die durch die ganze Staffel geistert, ist hier so offensichtlich ausgestellt, dass man sie nicht übersehen kann. Die beiden Figuren sitzen im Halbdunkel; wenn sie sich zurücklehnen, verschwinden sie im Schatten; sobald sie ins Licht rücken, sind sie Teil der unendlichen Reihe von Spiegelbildern ihrer selbst. Der Dialog in diesem Verhör verläuft ganz anders als bei der DDR-Staatssicherheit; es spielt sich ein vordergründig zivilisierter, beinah ­ freundlicher, jedenfalls ironischer Machtkampf zwischen der Vertreterin des Staates und dem global vernetzen Großkriminellen ab. Varga dreht die Fragen Glorias ins Philosophische, räsonniert über den ontologischen Status der Realität und geht ganz selbstverständlich davon aus, dass sein Habitus, Herr der Wirklichkeit zu sein, sie nicht nur als einziger zu kennen, sondern sie nach seinem Willen zu schaffen, auch hier seine Wirkung nicht verfehlen wird. Varga insistiert darauf, dass es keine Fakten gibt, die sich mit Sicherheit von Gerüchten, Fehlinformationen, Meinungen unterscheiden lassen: „We see what we believe, not the other way around.“55 Erst so entstehe das, was im Nachhinein Faktizität erlangt. Und Menschen, anders als Katzen, die uns Freude bereiten, hätten abgesehen vom Geld, das sie verdienen, keinerlei Wert. Gloria hält ihm unverdrossen ihre Version entgegen, in der sich Vargas Zukunft in einer Gefängniszelle abspielen wird, angeklagt wegen Geldwäscherei und Mordkomplott in sechs Fällen. Sie hingegen wird mit ihrem Sohn auf einer Kirmes (state fair) Geburtstag feiern: „So, while you’re eating mashed potatoes from a box in a dark room, think of me among the amber waves of grain.“56 Die bernsteinfarbenen Getreidewellen sind ein Zitat aus dem patriotischen Lied America the Beautiful, einer inoffiziellen Nationalhymne, das die Schönheit der amerikanischen Landschaft preist und Gott bittet, seine Gnade über dem Land zu vergiessen und seine Güte mit Brüderlichkeit zu krönen – „from sea to shining sea“.57 Eine besondere Bedeutung bekommt Glorias Zitat, weil darin Barack

54fargo

Staffel 3/Folge 10, 00:41:41–00:42:40. Ganze Schlusszene: 00:41:41–00:49:35. 00:44:12. 56Ebd., 00:47:19. 57Der Text stammt von Katharine Lee Bates und wurde ersschien 1895 als Gedicht, die Melodie komponierte Samuel A. Ward bereits 1882; das Lied wurde 1910 publiziert. 55Ebd.,

272

8  Unmögliche Räume: Die Alice-Maschine in Fernsehserien der Gegenwart

Obamas berühmte New Hamshire-Rede von 2008 anklingt: „And, together, we will begin the next great chapter in the American story, with three words that will ring from coast to coast, from sea to shining sea: Yes, we can.“58 Der Rest des in den USA über alle Massen populären Liedes schwingt in Glorias Vorstellung einer Gesellschaft mit, die sie gerade nicht als amerikanischen Traum, sondern als amerikanische Wirklichkeit beschreibt: Man denke an das Ende der zweiten Strophe, „confirm thy soul in self control, thy liberty in law“, oder jenes der dritten: „America, America! May God thy gold refine, / till all success be nobleness, and ev’ry gain divine.“59 Dass sie explizit nur die Stelle mit dem wogenden Getreide zitiert, als Argument aber die harmlosen Vergnügungen der Kirmes ins Feld führt – „Have you ever guessed a pig’s weight? Or had a fried snickers bar? There’s no better way to spend a saturday in this our great American experiment“60 – ist entscheidend: Es ist letztlich die Alltagskultur der Gemeinschaft, die Amerika ausmacht, nicht die hehren Ideale. Auf die Ideale, die in der zweiten und dritten Strophe von America the Beautiful formuliert werden, kommt nicht Gloria zu sprechen, sondern Varga – indem er sie, im Wortsinn dia-bolisch, in ihr Gegenteil verkehrt. Das Gesetz erklärt er für kontingent und sinnlos, und einen dem Menschen inhärenten Wert gebe es nicht. Und darum ist er sich sicher, dass er gleich durch einen unantastbaren Vorgesetzten Glorias auf freien Fuss gesetzt werden wird. Zum ersten Mal gewinnt Varga nicht. Denn Gloria verweigert sich seiner Logik radikal, mit ihren frittierten Snickers, ihrem Amerika der gemeinschaftlichen populären Vergnügungen. Varga unterliegt aber auch nicht. Die Staffel endet mit einer Pattsituation. Wie bei einem Schachspiel zwischen ebenbürtigen Gegnern kommt keiner der beiden weiter. Dabei verdunkelt sich der Verhörraum zusehends, und die Kamera wechselt im Schuss-Gegenschuss-Verfahren zwischen den Gesichtern der Opponenten hin und her. Während Varga das letzte Wort hat – nun sei alles gesagt, erklärt er –, erscheint sein Gesicht von dunklen Schlagschatten grotesk verzerrt, sodass es nur noch aus Nase und Stirn besteht. Glorias Gesicht dagegen wird hell und gleichmässig ausgeleuchtet. Zum Schluss schließt Varga die Augen und sagt leise „goodbye“61 – und als sei er tatsächlich der Herr der Wirklichkeit, als sei er derjenige, der berechtigt ist, den Kippschalter zu betätigen, verdunkelt sich der Raum, bis sein Kopf nur noch als schwarze Silhouette zu sehen ist – wie Glorias Gestalt zu Beginn. Während sich die Kamera zur Seite bewegt, zur Tür hin, beginnt er den Anfang des ersten Satzes von Beethovens Klaviersonate „Appassionata“, Nr. 23 in f-moll, zu summen; nach ein paar Takten übernimmt ein extradiegetisches Klavier das Thema und spielt bis zum Ende der SchauspielerCredits weiter. Vor der Schwarzblende aber wechselt die Kamera noch einen

58https://www.nytimes.com/2008/01/08/us/politics/08text-obama.html

(27.04.2020). (27.04.2020).

59https://kids.niehs.nih.gov/games/songs/patriotic/america-the-beautiful/index.htm 60fargo 61Ebd.,

Staffel 3/Folge 10, 00:46:59. 00:48:50.

8.3  Unsinnige Maschinen: fargo (2014–)

273

langen Augenblick auf Glorias Gesicht, wir sehen sie vielsagend lächeln. Die Schlusseinstellung dann zeigt die geschlossene Tür, über der eine Uhr hängt. Die Mise an abîme des verspiegelten Fensters, die statische Kamera auf der tickenden Uhr – alles weist darauf hin, dass Gloria und Varga bis in alle Ewigkeit in der finsteren Verhörzelle sitzen bleiben könnten. Bleibt die Frage nach der Musik, nach den letzten Liedern, die von den beiden Opponenten angestimmt werden. Geben sie einen Hinweis darauf, wer am Ende gewinnt? Glorias Musik ist eine inoffizielle Nationalhymne der USA, Vargas eine Klaviersonate von Beethoven, die 1807 uraufgeführt wurde. Die düsteren ersten vier Takte, in einer Unisono-Bewegung, werden von einem gebrochenen f-Moll Dreiklang geprägt; in Takt 3 und 4 wechselt die Tonart nach C-Dur und hellt die Dunkelheit auf. In den darauffolgenden Takten lässt sich ein Klopfmotiv ausmachen, das ans sogenannte Schicksalsmotiv der 5. Sinfonie erinnert.62 Die Klaviersonate erklingt nicht zum ersten Mal. In der sechsten Folge, The Lord of no Mercy, übernimmt sie in einer Szene, in der Emmit Stussy und V. M. Varga miteinander telefonieren, eine überbrückende Funktion. Während die Räume, in denen die beiden Männer sich befinden, voneinander getrennt und nur durch Montage verbunden sind, spannt die Musik, die schon einsetzt, als Stussy, der gerade seinen Bruder Ray umgebracht hat, Vargas Nummer wählt, einen Bogen. Wir sehen Stussy mit seinem Handy am Ohr, und werden durch einen Schnitt in Vargas fahrbare Überwachungszentrale versetzt. Zur virtuosen Klaviermusik fährt die Kamera durch den schlauchförmigen Wagen auf die Schaltzentrale zu, in der Lichter blinken, und mit ein paar Sekunden Verzögerung beginnt das Telefon zu klingeln. Als sich Varga meldet, kommt der nächste Schnitt: Wir sind wieder am Schauplatz des Mordes und sehen Emmit, während Vargas Stimme, gleichsam als Teil von Beethovens Musik, zu monologisieren beginnt: Mr. Stussy, do you know what Lenin said about Beethovens’s Piano Sonata no. 23? Wladimir Iljitsch Uljanow. Not the bloody walrus. He said I know nothing that is greater than the Appassionata. But I cannot listen to it too often, it affects one’s nerves and makes one want to say kind stupid things, and pat the little heads of people who, living in a foul hell, can create such beauty. Better to beat the person unmercifully over the head.63

Varga liegt, im Lichtschatten eines Gitters, auf dem Fussboden, als sei er in einer Gefängniszelle eingesperrt. Als er sich aufsetzt, ohne dass sich die Kamera bewegt, steht die Welt noch einmal für einen Augenblick Kopf – darin wiederholt sich die Bewegung, die in der Partyszene zu Beginn der Staffel so auffällig daran erinnerte, dass alles, was wir sehen, medial gemacht ist. Emmit Stussy und V. M. Varga glauben daran, dass sie die Welt wirklich auf den Kopf stellen können und verstehen nur allzu gut, dass sie in einer Welt des medialen Als-ob leben. Aber, wenn man bedenkt, dass die beiden doch Figuren in einer Fernsehserie sind, sind am Ende wohl die Zuschauerinnen und Zuschauer das Problem, die solchen

62Siegfried

Mauser: Beethovens Klaviersonaten. Ein musikalischer Werkführer. München 2001,

106. 63fargo,

Staffel 3/Folge 6, 00:34:33–00:35:40.

8  Unmögliche Räume: Die Alice-Maschine in Fernsehserien der Gegenwart

274

Männern Kameras und Kippschalter an die Hand geben und sie darin bestärken, dass es eine Realität hinter den Bildern gibt, die se manipulieren können. Vielleicht liegt es an ihnen, sich für Alice zu entscheiden – im konkreten Fall für Gloria. Sie ist die liberale Ironikerin, die Rorty als Teil einer Kultur beschreibt, die nicht an ihren philosophischen Grundlagen gemessen wird, sondern sich bewusst ist, dass alle Werkzeuge des Denkens und Redens von Menschen geschaffen wurden:64 Eine ästhetisierte Kultur wäre eine, die nicht darauf beharrt, dass wir die echte Wand hinter den gemalten Wänden finden, die echten Prüfsteine der Wahrheit im Gegensatz zu Prüfsteinen, die nur kulturelle Artefakte sind. Sie wäre eine Kultur, die gerade dadurch, dass sie zu schätzen weiß, dass alle Prüfsteine solche Artefakte sind, sich die Erschaffung immer vielfältigerer und vielfarbigerer Artefakte zum Ziel setzte.65

Das affektpoetische Oxymoron von Ironie und Trauer und das Medium, das sich, etwa im Kippschalter in und ausserhalb des Androiden MNSKY, zeigt und dabei die Zuschauer affiziert, als ob das animierte Strichmännchen unser bester Freund wäre – die Konstellation von Figurationen, in denen die Alice-Maschine in fargo wirksam wird, mündet schließlich auch in die Gestaltung der politischen Situation am Ende der 2010er-Jahre. Am Ende der Prolog-Szene in Ost-Berlin findet die Kamera aus der geschlossenen Schachtel des DDR-Verhörraums durch die Metalepse in die Fotografie an der Wand einen Ausgang in die Zukunft. Was die Zukunft nach 2016 bringen wird, bleibt hingegen offen: Ist es Vargas Raubtierkapitalismus oder Glorias im Rortyschen Sinne liberale Vision? Die Schwarzblende verweist uns, wie bei Švankmajers Alenka, auf die eigene Vorstellungskraft: Schließt die Augen, sonst könnt ihr nichts sehen.

64Richard 65Ebd.,

Rorty: Kontingenz, Ironie, Solidarität. Frankfurt a.M. 1992, 98. 99.

Kapitel 9

Schluss: Alice posthuman

Die Alice-Maschine ist dazu da, die Dinge vibrierend in der Schwebe zu halten. Sie ist für das unruhige, mit vielen Eskapaden verbundene Hin und Her verantwortlich – verstehen und nicht verstehen, bleiben und gehen, wachsen und schrumpfen. Wie diese Unruhe über Konstellationen heterogener und disjunktiver ästhetischer Figurationen produziert wird, wie sie in der Populärkultur zirkuliert und wie sie den Blick auf die Texte Carrolls verändert, habe ich in der Analyse von Lewis Carrolls Alice-Büchern selbst und, exemplarisch, in analytischen Skizzen zum nonsense-affinen populären Kino der 1960- und 1970er-Jahre sowie zu neueren Fernsehserien, die durch den Modus des Weird eine ästhetische Verwandtschaft zum Unsinn aufweisen, herausgearbeitet. Was Klaus Müller-Wille in den Märchen von Hans Christian Andersen erkennt, trifft auch auf die Alice-Bücher des eine Generation jüngeren Lewis Carroll zu, vielleicht sogar noch radikaler: Insgesamt wird das Lesen nicht allein als semiotischer Prozess gedeutet, sondern als eine Praktik, die durch sehr heterogene und zum Teil einander widersprechende Elemente von Sprache (Semantik des Lesens), Instrumentalität (Technologie des Lesens) und Geste (Körperlichkeit des Lesens) bestimmt wird.1

Andersen verbindet diese komplexe Auffassung des Lesens – wie später Walter Benjamin – mit dem Fantasma einer undisziplinierten kindlichen Lektürepraktik.2 Bei Carroll wird das lesende Kind, genauer: das lesende Mädchen, zu einer Figuration der Maschine, die das Lesen zur Zentralmetapher für das Denken macht. Ihre Heterogenität und Widersprüchlichkeit hat die Alice-Maschine denn auch von dem Konzept des Lesens, das mit der Neuerfindung der Kinderliteratur im 19. Jahrhundert definiert und in allen drei Dimensionen des Buches inszeniert wird.

1Müller-Wille 2Ebd.,

2017, 330–331.

331.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lötscher, Die Alice-Maschine, Studien zu Kinder- und Jugendliteratur und -medien 6, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05707-5_9

275

9 Schluss: Alice posthuman

276

Dabei wirkt die Maschine nicht genealogisch, sondern vielmehr zirkulär. Erst die neue Alice der Populärkultur seit 1968 hat die Alice-Maschine bei Carroll sichtbar gemacht, oder mit Hans-Jost Frey gesagt: In der Beziehung erst sind die Texte, Filme und Serien für einander durchlässig geworden; sie dehnen sich in die anderen hinein aus.3 Um zu zeigen, welche Bedeutungsangebote die AliceMaschine in Zeiten des – medialen, politischen, ökonomischen – Umbruchs hervorbringt, war es sinnvoll, dass ich mich auf wenige exemplarische Analysen aus spezifischen Zeiträumen – um 1968 und seit 2008 – konzentriert habe. In den Analysen ließ sich meine These erhärten, dass die Unruhe der ­Alice-Maschine den Leserinnen und Zuschauern einen eigentümlichen ästhetischen Genuss erlaubt: Sie öffnet Räume, in denen wir – hyperkonnektiv – alles mit allem verbinden können, ohne es zu verstehen, in denen wir das Undenkbare zwar nicht denken, aber mitdenken können, wenn es sich selber denkt. Vor allem aber können wir uns selbst bei unseren Bewegungen des Bezüge-Machens, Deutens und Verstehens beobachten. Was im Alltag eine Qual ist, wird in der ästhetischen Gestaltung zum Vergnügen, das mitunter rauschhafte Züge annehmen kann. Die Alice-Maschine, könnte man folgern, verwandelt das Leiden an Kontingenz und Unzulänglichkeit in Genuss – wo eine Grenze ist, muss es auch eine andere Seite geben. Nicht, dass uns die Alice-Maschine tatsächlich einen Blick hinüber erlauben würde. Darum geht es auch gar nicht; vielmehr öffnen sich bisher unsichtbare Türen auf der einen Seite, und es falten sich andere Dimensionen der Wirklichkeit auf. Dies ließ sich mithilfe materialitäts- und medientheoretischer Konzepte zeigen, die von der Materialität des Medialen diesseits von (wenn auch verwoben mit) Sinn und Bedeutung ausgehen, beziehungsweise eine im Körper der Zuschauerin, des Zuschauers sich vollziehende Poiesis des Filme-Sehens nachweisen. Was aber bedeutet die Unruhe der Alice-Maschine als kulturelles Fantasma? Welche Vorstellungen von Gemeinschaft gestaltet sie? Die Serie fargo spitzt sich ganz explizit daraufhin zu: In der Schlussszene der dritten Staffel erlaubt es der Einsatz der Alice-Maschine, den Ausgang des Kampfes zwischen Freiheit und Totalitarismus, stellvertretend ausgefochten durch die liberale Ironikerin Gloria und den zynischen Großkapitalisten V. M. Varga, offen, in der Schwebe zu lassen. Die beiden schweigen und warten. Es erklingt zwar Vargas Musik, Beethovens Klaviersonate „Appassionata“, Nr. 23 in f-moll, doch auf der visuellen Ebene ist es Gloria, die sozusagen das letzte Wort hat; kurz bevor das Bild abblendet, ist ein leises Lächeln in ihrem Mundwinkel zu erkennen. Ob sie gewinnen wird, wissen wir nicht. Doch was in der grauen Zelle am Ende bleibt, ist die lebendige Vorstellung von harmlosen, wunderbar zweckfreien Freizeitvergnügungen. Man geht auf die Kirmes, einfach nur um gemeinsam Zeit zu verbringen, Mutter und Sohn und alle, die in der Gegend leben. So, wie sich Alice

3Frey

1990, 22.

9 Schluss: Alice posthuman

277

vom sich diktatorisch gerierenden Humpty Dumpty abwendet und ihn einfach aus ihrer Geschichte verschwinden lässt, unterwegs zu immer neuen Türen, die zu öffnen sind, lässt Gloria die Zuschauerinnen und Zuschauer mit dem Bild vergnügter, frittierte Snickers knabbernder Menschen zurück (der Android MNSKY hat sich bestimmt auch unter die Menge gemischt), das allein schon wegen des kulinarischen Nonsense im Gedächtnis bleibt – als Alternative zur Herren- und Sklaven-Gesellschaft, als die Varga die Welt beschreibt. Man könnte Glorias Vision des Zusammenlebens als bescheiden und wenig ambitioniert bezeichnen. Doch wenn wir sie in den Kontext der feministischen Theorien Braidottis, Haraways und Lowenhaupt Tsings stellen, als Assemblage aus den unterschiedlichsten Menschen, der Kulturlandschaft, in der sie leben („amber waves of grain“ im wörtlichen Sinn) und ihren geteilten, vielleicht auch unterschiedlich ausbuchstabierten amerikanischen Träumen (noch einmal: „amber waves of grain“, metaphorisch diesmal), kann man sagen, dass die Alice-Maschine in der gegenwärtigen Populärkultur im Begriff ist, neue Figurationen hervorzubringen. Die Pattsituation am Ende der dritten fargo-Staffel könnte man zwar auf den ersten Blick als Gefrierpunkt deuten, als Erstarrung des flirrenden Unruhezustandes. Vielleicht verabschiedet sich die Alice-Maschine tatsächlich von der Gestaltung des „Will you, won’t you“, des „Should I stay or should I go“ – dies aber nur, um sich auf die Assemblage zu verlegen und so wiederum eine neue Alice hervorzubringen. Wie diese neue Alice aussieht, möchte ich an einem letzten Filmbeispiel diskutieren. Es handelt sich um den Zombiefilm the girl with all the gifts (Colm McCarthy, GB/USA 2016), der auf dem gleichnamigen Roman von M. R. Carey von 2014 basiert. Die andere Seite, auf die er sein Publikum führt, hat zunächst alle Eigenschaften eines postapokalyptischen Albtraums, einer Welt nach dem Ende der Welt. Doch selbst das kann täuschen, wenn die Alice-Maschine am Werk ist. Die Alice-Maschine wäre nicht die Unruhestifterin, als die ich sie zu beschreiben versucht habe, wenn sie ihre disjunktiven Rädchen nicht weiter und weiter drehen ließe, bis zum bitteren Ende und darüber hinaus. Das Ende der Welt heisst in der Populärkultur bekanntlich Postapokalypse oder Dystopie – und ist seinerseits ungeheuer produktiv. Angesichts der mittlerweile unüberschaubaren Menge an dystopischen Romanen, Filmen und Serien scheint es geradezu absurd, von einem Ende zu reden, wo es doch nichts zu geben scheint, was die kulturelle Fantasietätigkeit und die Fabulierlust so sehr anregt wie die Vorstellung vom Zusammenbruch aller Ordnungen.4 Genau dieses Paradoxon zieht auch die Alice-Maschine an – wie in den 1960er-Jahren der Modus des Psychedelischen

4Manuela Kalbermatten spricht deshalb von Future Fiction. Vgl. Manuela Kalbermatten: „The World May Need You, One Day“. Kulturkritik, Identität und Geschlecht in aktueller Future Fiction für Jugendliche. In: Jugendliteratur im Kontext von Jugendkultur. Wiener Vorlesungen zur Kinder- und Jugendliteratur, Bd. 1. Hg. Von Wynfrid Kriegleder, Heidi Lexe, Sonja Loidl und Ernst Seibert. Wien 2016, 161–186.

9 Schluss: Alice posthuman

278

und der Exploitation, wie in den Fernsehserien seit den 1990er-Jahren die Kombination aus Weird und Serialität. Sie dreht munter mit bei diesen Versuchen, über das Ende, über den Abgrund hinaus zu erzählen. Die Konstellation von Figurationen, aus der sie gemacht ist, nähert sie dabei mimetisch ihrem Gegenstand an, der Welt nach dem Menschen und seinen Artefakten, indem sie die Maschine in Assemblagen arbeiten lässt. Damit spinnt sie einen Faden weiter, oder eher ein wirres Fadenknäuel, das bereits in den ­1960er-Jahren, exemplarisch mit barbarella, ausgelegt worden war. Insofern bleibt sich die Alice-Maschine treu – ebenso wie dem ihr eigenen selbstreflexiven Dreh. An der Situation der in einer Abfolge von Episoden durch unbekanntes Terrain navigierenden Alice scheint sich nichts geändert zu haben; verseuchte oder von Zombies verstellte Zonen scheinen die Alices der posthumanistischen Fantasmata am Ende vor ähnliche Herausforderungen zu stellen wie die träumenden und von bewusstseinserweiternden Substanzen angetriebenen. Der Satz, es sei ja alles nur ein Traum gewesen, war schon immer eine Illusion. Worauf es ankommt, ist das Verlorengehen und das Navigieren, das Entwickeln von Taktiken und das ­Sich-Einfalten in die Räume, um sie sich in der Poiesis des Lesens anzueignen. Diese Poiesis des Unsinn-Lesens wird in den posthumanistischen Assemblagen zu Haraways Sympoiesis: Sympoiesis is a simple word: it means „making-with“. Nothing makes itself; nothing is really autopoietic or self-organizing.[…] Sympoiesis is a word proper to complex, dynamic, responsive, situated, historical systems. It is a word for worlding with, in company. Sympoiesis enfolds autopoiesis and generatively unfurls and extends it.5

Sympoiesis. Machen-Mit: Ein Werden in Assemblagen aus allem, was die „Ruinen des Kapitalismus“6 hinterlassen haben. In der Figur der Zombie-Alice, um die es gleich gehen wird, verwandelt sich die Poiesis des Unsinn-Lesens in die radikalere Form der Sympoiesis, an der die in ebenso eindrücklichen wie seltsamen Bildern präsentierten Pilz-Ornamente auf ihre Weise mitlesen und mitschreiben. the girl with all the gifts beginnt in einer Militärbasis in der Nähe von London. Dort werden zwanzig Kinder gehalten, die kurz nach der Infektionswelle geboren wurden, welche die meisten Erwachsenen dahingerafft beziehungsweise in hungrige Untote verwandelt hat. Diese Kinder sind teilweise immun gegen den Pilz, der das Gehirn der Infizierten durchaus ornamental umwuchert. Sie denken, sprechen, fühlen und verhalten sich wie normale Kinder, ernähren sich aber, wie Zombies, von Menschenfleisch. Kaum riechen sie warmes, pulsierendes Blut, können sie sich nicht mehr kontrollieren; der Jagdinstinkt, das Tier in ihnen, ist stärker. Das macht sie für die wenigen überlebenden Menschen gefährlich, aber auch interessant. In der Militärbasis werden sie, in Rollstühlen festgeschnallt, von einer Lehrerin so lange zu Forschungszwecken unterrichtet, bis sie im

5Haraway 6Vgl.

2016, 58. Lowenhaupt Tsing 2015.

9 Schluss: Alice posthuman

279

Labor seziert werden, um aus ihrem Gehirn und Rückenmark einen Impfstoff zu gewinnen. Im Zentrum steht eine schwarze Alice: Melanie. Sie bewundert ihre Lehrerin grenzenlos und lernt eifrig im Unterricht, auch wenn ihr, als in einem Bunker gefangenem Kind, alles so seltsam erscheinen muss wie Alice das Wunderland. Bei jeder Gelegenheit bettelt sie um eine Geschichte, und die Lehrerin erzählt gerne aus der griechischen Mythologie. Einmal dürfen die Kinder selbst eine Geschichte schreiben. Mit Leidenschaft kombiniert Melanie Genremodalitäten aus den Geschichten, die sie aufgesogen hat, und lädt sie mit ihren eigenen Sehnsüchten auf: Eine Frau wird im Wald von einem Monster angegriffen und von einem kleinen Mädchen gerettet. Die Szene spielt sich zu Beginn des Films ab. Kurz darauf wird die Militärbasis von Zombies überrannt und eine Gruppe Überlebender schlägt sich unter abenteuerlichen Umständen nach London – oder dem, was davon übriggeblieben ist – durch. Melanie verhält sich so, als sei sie eine Figur in einer Erzählung; sie versteht sich auf die Poeisis des Unsinn-Lesens und arrangiert ihre Wirklichkeit, als sei sie aus Genreelementen gemacht, ordnet die Fragmente zu ihrer eigenen Geschichte. Melanie ist ein Kind der Assemblage. Als die Seuche ausbrach, war ihre Mutter hochschwanger. Beide wurden angesteckt. Anstatt ihr Kind auf herkömmliche Weise zu gebären, verwandelte sich die Mutter in eine Untote – und Melanie frass sich den Weg ins Leben frei. Ganz nach dem Prinzip der Assemblage, wie es Lowenhaupt Tsing definiert – manchmal fressen die unterschiedlichen Elemente einander, manchmal arbeiten sie zusammen, manchmal lassen sie einander einfach in Ruhe.7 Melanie erschließt sich die Welt gleichzeitig auf animalisch-sinnliche Weise und als Kind, das in der Poiesis des Unsinn-Lesens geübt ist; wobei sich die beiden Zugänge für sie gerade nicht widersprechen, ja sich nicht einmal voneinander trennen lassen. Widersprüchlich, ja regelrecht unsinnig für Melanie hingegen die Kategorien der anderen, der alten, untergegangenen Welt, die sie mit ihrem neuen Assemblage-Denken hinter sich lässt. Hungriges Tier und hochintelligentes, neugieriges Menschenkind zu sein, ist für sie kein Widerspruch; der Pilz in ihrem Kopf verträgt sich bestens mit ihrem Gehirn – das Problem stellt sich nur für die Überlebenden der früheren Generation von Menschen. Es schwingt sich auch hier ein Pattzustand zwischen Melanie und den anderen Kindern auf der einen und den Erwachsenen auf der anderen Seite ein. Wie die Alice-Maschine hier arbeitet, wird in der Spannung erfahrbar, die der Film in den Bildern gestaltet: Sie nehmen auf die lange Reihe von Zombie-Filmen, die seit George A. Romeros night of the living dead (USA 1968) entstanden sind, Bezug; Untote, die zubeissen, stehen für Grauen und Ekel, für das Abjekte. Wenn wir hingegen Melanie sehen, wie sie ihre Zähne ins Fleisch eines Menschen schlägt, werden die bekannten Affekte auf unvereinbare und verstörende Art von einer Mischung aus

7Ebd.,

22–23, vgl. auch meine Ausführungen zur Assemblage in Abschn. 7.3.

9 Schluss: Alice posthuman

280

Sorge um ihr Wohlergehen – dem Wunsch, dass sie sich sattessen möge – sowie ungläubigem Entsetzen überlagert. Fast gelingt es der Forscherin, die für die Entwicklung eines Impfstoffs verantwortlich ist, Melanie davon zu überzeugen, dass sie ein Monster ist. Das Gespräch, in dem sie Melanie ihre fehlende Menschlichkeit darlegt, erinnert an die Szene mit der Taube im fünften Kapitel von Alice’s Adventures in Wonderland, die Alice wegen ihres (vorübergehend) langen Halses als Schlange beschimpft.8 In the girl with all the gifts geht es, auch für das Publikum, gerade darum, den eigenen Augen nicht (mehr) zu trauen. Aber den Ohren vielleicht. Melanies Stimme klingt einfach nur wie die eines kleinen Mädchens, besonders, wenn sie Geschichten erzählt. Als die Lehrerin einmal auszieht, um etwas Essbares nach Melanies Geschmack zu finden, kommt sie ohne Nahrung zurück. Um sich vom knurrenden Magen abzulenken, liest Melanie laut aus einem Buch vor, das sie gefunden hat: Alice’s Adventures in Wonderland. Die Szene ist so dunkel, dass man die Figuren kaum sehen kann. Der Singsang von Melanies vorlesender Stimme sorgt für einen Augenblick der Geborgenheit in einer feindlichen Welt.9 Dabei findet eine folgenreiche Synthese zwischen Buch und Kind statt. Indem sich der Alice-Text im Akt des Vorlesens im Körper, in der Stimme des Mädchens materialisiert, wird Melanie nicht nur Alice – es beginnt auch ein deleuzianisches Kind-Werden. Sie ist, als unbestimmtes Wesen zwischen Tier und Mensch, ein deterritorialisiertes Subjekt, das durch ein deterritorialisiertes Medium angestossen wird: Alles Werden ist ein Minoriär-Werden.[…] Ein minoritäres Werden existiert nur durch ein deterritorialisiertes Medium und ein deterritorialisiertes Subjekt, die so etwas wie seine Elemente sind. Ein Subjekt des Werdens gibt es nur als deterritorialisierende Variable einer Minderheit. Was uns in ein Werden hineintreibt, kann irgend etwas sein, etwas ganz Unerwartetes oder Unbedeutendes. Man weicht nur dann von der Mehrheit ab, wenn es ein kleines Detail gibt, das immer wichtiger wird und von dem man mitgerissen wird.10

Am Ende holt Melanie zu einem Befreiungsschlag aus, für sich und die anderen Kinder, aber gewissermassen auch für das Publikum: Sie zündet die Pilzgewächse an, die Türme und Antennenmaste überwuchern, und befreit die Sporen aus ihren Kapseln. Wer auch nur einen Atemzug nimmt, verwandelt sich in einen Hungry, wie die Zombies des Films genannt werden. Jetzt kommt auch der Moment, um die Geschichte von der Heldentat des kleinen Mädchens wahr zu machen und die Lehrerin zu retten: Die letzte Einstellung zeigt uns eine Klasse gelehriger (und gefrässiger) Kinder, die sich vor einem Gebäude versammelt haben, in dem die Lehrerin aus einem Gebäude mit Sauerstoffzelt heraus unterrichtet. So gelangt das Wissen aus der alten Welt in die neue – und erzeugt vielleicht neuen Unsinn; etwa so, wie das fragmentarische Schulwissen, mit dem Carrolls Alice die Phänomene des Wunderlands noch aberwitziger erscheinen lässt, als sie ohnehin schon sind.

8AAW,

47–48.

9the girl with all the gifts 10Deleuze/Guattari

00:54:35–00:44:15. 1992, 396–397.

9 Schluss: Alice posthuman

281

Zum Schluss lässt sich Folgendes festhalten: Die Alice-Maschine setzt in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein und gerät mit dem Fall eines kleinen Mädchens durch ein Kaninchenloch in Bewegung. Dieses Mädchen erkundet auf eigene Faust, sich – nicht ohne einen Hauch von Grössenwahn – auf den eigenen Intellekt verlassend, eine andere Welt. Diese Welt scheint in sich hermetisch, erweist sich jedoch in ihrer Ontologie so unendlich offen, dass sie gleichzeitig als Traumwelt, fantastische Parallelwelt, psychedelischer Drogentrip, zur Kenntlichkeit verzerrtes Spiegelbild der (viktorianischen) Wirklichkeit, als absolute Oberfläche, als spekulativer Raum des Nicht-Verstehens, als Assemblage und damit als radikale Alternative zu jeder Form des kausallogischen und dialektischen Denkens gedeutet werden kann. Verankert ist diese ansonsten jeden festen Boden scheuende Vieldeutigkeit in der Figur von Alice als Leserin und in der Poiesis des ­Unsinn-Lesens, die, wie sich im populären Kino und im Fernsehen verfolgen lässt, zu einer Chiffre medialer Erfahrung wird. Gerade die posthumanistischen Produkte der Alice-Maschine machen, wie the girl with all the gifts ahnen lässt, eine unauflösliche Spannung erfahrbar, die der westlichen, vielleicht vor allem der europäischen Kultur, zutiefst eingeschrieben ist. Ich meine damit die gewaltsame Unterdrückung von Frauen und Kindern, deren Spuren auch heute noch lange nicht getilgt sind, Sklaverei, Kolonialherrschaft, Völkermord, die Verherrlichung von Nationalismus, Chauvinismus und Krieg. Wann immer sich ein kleines Mädchen aufmacht, eben gerade nicht Frau, sondern Kind zu werden, um die Welt mit neuen Augen zu sehen und sich als ein Teil von ihr in sie einzufalten, entsteht ein philosophisches Hochgefühl – ja, das Leben lässt sich anders denken! –, doch ist es immer begleitet von einem Schatten, dem zwangsläufigen Scheitern. Daher die Ohnmacht, und daher der ästhetische Genuss, wenn die Alice-Maschine immer und immer wieder neue Anläufe unternimmt, andere Räume zu gestalten, die uns das Gefühl geben, in unseren Köpfen lebendig zu sein und frei. Am Ende war alles nur ein Traum. Einer, der wiederkehrt.

Siglenverzeichnis

AAW Alice's Aventures in Wonderland. In: Lewis Carroll: Alice in Wonderland. Authoratitive Texts of Alice's Adventures in Wonderland, Through the Looking-Glass, The Hunting of the Snark. Backgrounds. Criticism. Hg. von Donald J. Gray. Norton Critical Edition. New York/London: W. W. Norton & Company 2013, 1–97. TLG Through the Looking-Glass and What Alice Found There. In: In: Carroll Lewis: Alice in Wonderland. Authoratitive Texts of Alice’s Adventures in Wonderland, Through the Looking-Glass, The Hunting of the Snark. Backgrounds. Criticism. Hg. von Donald J. Gray. Norton Critical Edition. New York/London: W. W. Norton & Company 2013, 99–208 AAUG Alice's Adventures Under Ground. By Lewis Carroll. A facsimile of the 1864 manuscript. Hg. von Martin Gardner. New York: Dover Publications 1965. NA The Nursery Alice. London: Macmillan 2015. TAA The Annotated Alice. The Definitive Edition. Hg. von Martin Gardner. NewYork: Norton 2000.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lötscher, Die Alice-Maschine, Studien zu Kinder- und Jugendliteratur und -medien 6, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05707-5

283

Verzeichnis der Abbildungen

Abb. 2.1 Still aus westworld. Creators: Jonathan Nolan/Lisa Joy. USA 2016– Abb. 4.1 Alice, fotografiert und gezeichnet. Alice's Adventures Under Ground. Faksimile, New York 1965, 90; Alice's Adventures Underground. Treasures in Focus. London: British Library 2008, 62 Abb. 4.2  Collage und Schriftbild von Lewis Carroll. The mouse's tale/tail, Alice's Adventures Under Ground, 28. Faksimile, New York 1965, 28 Abb. 4.3  Illustration von Lewis Carroll. Alice's Adventures Under Ground. Faksimile, New York 1965, 36–37 Abb. 4.4 Illustration von Charles Tenniell. The Nursery Alice. Faksimile der Originalausgabe von 1890. London: Macmillan 2015, 34 und 36 Abb. 4.5 Illustration von Anthony Browne. Lewis Carroll: Alice im Wunderland. Übersetzt von Christian Enzensberger. Illustriert von Anthony Browne. Oldenburg: Lappan 2005, 59 Abb. 4.6 Der Jabberwocky in Spiegelschrift. Through the Looking-Glass, London 2013, 114 Abb. 4.7 Illustrationen von John Tenniel. Through the Looking-Glass, London 2013, 109–110 Abb. 4.8 Illustrationen von John Tenniel. Through the Looking-Glass, London 2013, 204–205 Abb. 4.9a Fotografie von Charles Dodgson. Lewis Carroll: Photographien. Hg. von Karl Steinorth. Schaffhausen: Edition Stemmle 1991, 47 Abb. 4.9b Fotografie von Charles Dodgson. Lewis Carroll: Photographien. Hg. von Karl Steinorth. Schaffhausen: Edition Stemmle 1991, 37 Abb. 5.1 Mouse's tale/tail. Alice's Adventures in Wonderland. London 2013, 24 Abb. 6.1 Illustration von Lewis Carroll. Alice's Adventures Underground. Faksimile, New York 1965, 62

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lötscher, Die Alice-Maschine, Studien zu Kinder- und Jugendliteratur und -medien 6, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05707-5

285

286

Verzeichnis der Abbildungen

Abb. 7.1 Still aus barbarella. Regie: Roger Vadim, F/I 1968 Abb.  7.2 Still aus grace and frankie. Creators: Martha Kauffman/Howard D. Morris. USA 2015 Abb. 8.1 Still aus fargo. Creator: Noah Hawley, USA 2014 Abb. 8.2 Still aus fargo. Creator: Noah Hawley, USA 2014

Literatur

Werke von Lewis Carroll Carroll, Lewis: Alice in Wonderland. Authoratitive Texts of Alice’s Adventures in Wonderland, Through the Looking-Glass, The Hunting of the Snark. Backgrounds. Criticism. Hg. von Donald J. Gray. Norton Critical Edition. New York/London 2013. Carroll, Lewis: Alice on the Stage. In: Alice’s Adventures in Wonderland and Through the ­Looking-Glass. The Centenary Edition. Hg. von Hugh Haughton. London 1998, 293–242. Carroll, Lewis: Alice’s Adventures in Wonderland and Through the Looking Glass. Illustrations by Mervyn Peake, Introductions by Zadie Smith and Will Self. New York 2003. Carroll, Lewis: Alice’s Adventures under Ground. A Facsimile. By Lewis Carroll. London Library 2008. Carroll, Lewis: Die Jagd nach dem Schnark. Agonie in acht Krämpfen / The Hunting of the Snark. An Agony in Eight Fits. Zweisprachige Ausgabe. Übersetzt und ausgeleitet von Klaus Reichert. Mit Illustrationen von Henry Holiday. Frankfurt a.M.: Insel 1982. Carroll, Lewis: Interviews and Recollections. Hg. von Morton N. Cohen. Basingstoke 1989. Carroll, Lewis: Photographien. Hg. von Karl Steinorth. Schaffhausen: Edition Stemmle 1991. Carroll, Lewis: Preface to Sylvie and Bruno. In: Sylvie and Bruno; Sylvie and Bruno Concluded. Hg. von Ray Dyer. Kibworth Beauchamps: Matador 2015. Carroll, Lewis: The Annotated Alice. The Definitive Edition. Hg. von Martin Gardner. New York 2000. Carroll, Lewis: The Nursery Alice. London: Macmillan 2015. Carroll, Lewis/Browne, Anthony: Alice im Wunderland. Oldenburg 1989. Alice’s Adventures Under Ground by Lewis Carroll. A facsimile of the 1864 manuscript. Hg. von Martin Gardner. New York 1965. Cohen, Morton N. (Hg.): The Selected Letters of Lewis Carroll. Basingstoke 2015. Lewis Carroll’s Diaries: The Private Journals of Charles Lutwidge Dodgson. Hg. von Edward Wakeling. 10 Bde., Luton: Lewis Carroll Society 1993–2007.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Lötscher, Die Alice-Maschine, Studien zu Kinder- und Jugendliteratur und -medien 6, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05707-5

287

288

Literatur

Primärliteratur Artaud, Antonin: Briefe aus Rodez. Postsurrealistische Schriften. Aus dem Französischen von Franz Lochler; mit einer Marginalie von Bernd Mattheus. München 1979. Carter, Angela: The Bloody Chamber. London 1979. Fonda, Jane: My Life So Far. New York 2005. Gaiman, Neil: Coraline. London 2002. Hoffmann, E. T. A.: Das fremde Kind. In: Die Serapionsbrüder I. Gesammelte Erzählungen und Märchen Bd. 4. Leipzig 1985, 572–619. Hoppe, Felicitas: Hoppe. Frankfurt a.M. 2012. Howard, A. G.: Splintered-Trilogy: Splintered (Bd. 1, 2013); Unhinged (Bd. 2, 2014); Ensnared (Bd. 3, 2015). New York 2013–2015. Ligotti, Thomas: Songs of a Dead Dreamer and Grimscribe. New York 2015. Lovecraft, H. P.: The Call of Cthulhu and Other Weird Stories. Hg. von S. T. Joshi. London 2016. Lovecraft, H. P.: The Annotated Supernatural Horror in Literature. Hg. von S. T. Joshi. New York (Ebook). Menger, Ivar Leo: Monster 1983. Hörspiel. 2 Staffeln, D 2016–2017. Meyer, Marissa: Heartless. London: Macmillan 2016. Murakami, Haruki: Die Ermordung des Commendatore I. Eine Idee erscheint. Aus dem Japanischen von Ursula Graefe. Köln 2018a. Murakami, Haruki: Die Ermordung des Commendatore II. Eine Metapher wandelt sich. Aus dem Japanischen von Ursula Graefe. Köln 2018b. Nabokov, Vladimir: Erinnerung, sprich. Wiedersehen mit einer Autobiographie. Deutsch von Dieter E. Zimmer. Gesammelte Werke, Bd. 22. Reinbek 1991. Nabokov, Vladimir: Deutliche Worte. Interviews – Leserbriefe – Aufsätze. Hg. von Dieter E. Zimmer. Deutsch von Kurt Neff, Gabriele Forberg-Schneider, Blanche Schwappach und Dieter E. Zimmer. Gesammelte Werke Bd. XX. Reinbek 1993. Novalis: Schriften. Hg. von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mühl und Gerhard Schulz. Stuttgart 1960ff. Peake, Mervyn: Complete Nonsense. Hg. von R. W. Maslen und G. Peter Winnington. Manchester 2011. Rowling, J.K: Harry Potter. 7 Bde. London 1997–2007. Sebald, W. G.: Campo Santo. München 2003. Setz, Clemens: Die Stunde zwischen Frau und Gitarre. Berlin 2015. Showalter, Gena: The White Rabbit-Chronicles: Alice in Zombieland (Bd. 1, 2012); Through the Zombie Glass (Bd. 2, 2013); The Queen of Zombie Hearts (2014); A Mad Zombie Party (2015). Toronto 2012–2015. Stefan, Verena: Häutungen. München 1975. Vadim, Roger: Bardot, Deneuve & Fonda. The Memoirs of Roger Vadim. New York: Isis Books 1987. Wolf, Christa: Kassandra. Darmstadt 1983.

Sekundärliteratur Aleksandrowicz, Paweł: The Cinematography of Roger Corman. Exploitation Filmmaker or Auteur? Newcastle upon Tyne 2016. Angehrn, Emil: Beschreibung zwischen Abbild und Schöpfung. In: Gottfried Boehm/Helmut Pfotenhauer (Hg.): Beschreibungskunst, Kunstbeschreibung: Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart. München 1995, 59–74.

Literatur

289

Angehrn, Emil: Vom Sinn des Sinnlosen. Die Herausforderung der Psychoanalyse für die Philosophie. In: Freuds Aktualität. Würzburg 2006, 85–96. Angehrn, Emil: Negativistische Hermeneutik. Zur Dialektik von Sinn und Nichtsinn. In: Andreas Hetzel (Hg.): Negativität und Unbestimmtheit. Beiträge zu einer Philosophie des Nichtwissens. Festschrift für Gerhard Gamm. Bielefeld: Transcript 2009, 21–40. Angehrn, Emil: Sinn und Nicht-Sinn. Das Verstehen des Menschen. Tübingen 2010. Assmann, Aleida: Im Dickicht der Zeichen. Berlin 2015. Auerbach, Nina: Alice and Wonderland. A Curious Child. In: Victorian Studies 17/1973, 31–47. Avanessian, Armen/Quring, Björn (Hg.): Abyssus Intellectualis. Berlin 2013. Badiou, Alain: Black. The Brilliance of a Non-Colour. Cambridge 2017. Bachmann, Christian A./Emans, Laura/Schmitz-Emans, Monika (Hg.): Bewegungsbücher: Spielformen, Poetiken, Konstellationen. Berlin 2016. Bachtin, Michail: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Übersetzt von Alexander Kaempfe. Frankfurt a.M. 1990. Bäni, Petra: Bilderbuch – Lesebuch – Künstlerbuch: Elsa Beskows Ästhetik des Materiellen. Tübingen 2018. Bakels, Jan-Hendrik: Audivisuelle Rhythmen. Filmmusik, Bewegungskomposition und die dynamsiche Affizierung des Zuschauers. Berlin 2016. Barad, Karen: Agentieller Realismus. Über die Bedeutung materiell-diskursiver Praktiken. Übersetzt von Jürgen Schröder. Berlin 2012. Barringer, Tim/Rosenfeld, Jason: Victorian Avant-Garde. In: Tim Barringer/Jason Rosenfeld/Alison Smith (Hg.): Pre-Raphaelites: Victorian Art and Design. New Haven 2012, 9–23. Beer, Gillian: Darwin’s Plots: Evolutionary Narrative in Darwin, George Eliot and ­Nineteenth-Century Fiction. Cambridge 1983. Beer, Gillian: Alice in Space. The Sideways Victorian World of Lewis Carroll. Chicago/London 2016. Bellour, Raymond: Hypnose und Film. In: Gertrud Koch/Christiane Voss (Hg.): Kraft der Illusion. Paderborn 2005. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Illuminationen. Ausgewählte Schriften. Frankfurt a.M. 1977, 136–169. Benjamin, Walter: Der Sürrealismus. In: Angelus Novus. Ausgewählte Schriften II. Frankfurt am Main 1988, 200–215. Benne, Christian: Die Erfindung des Manuskripts. Zur Theorie und Geschichte literarischer Gegenständlichkeit. Berlin 2015. Berman, Ruth: Alice as Fairytale and Non-Fairytale. In: The Carrollian: The Lewis Carroll Journal, 11 (Spring 2003), 52–53. Bianculli, David: Twin Peaks. In: David Lavery (Hg.): The Essential Cult TV Reader. Lexington 2010, 299–306. Binotto, Johannes: TAT/ORT. Das Unheimliche in der Kultur. Zürich 2013. Binotto, Johannes: Feedback. Zur Theorie der Serie. In: ETH Graphische Sammlung (Hg.): On Series, Scenes and Sequences. Zürich 2017, 535–547. Blake, Nick: Stranger Things. The Companion. Kindle Edition 2016. Bloom, Harold (Hg.): Lewis Carroll. New York 1987. Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos. Frankfurt a.M. 1990. Blumenfeld, Walter: Sinn und Unsinn. München 1933. Boehm, Gottfried/Pfotenhauer, Helmut (Hg.): Beschreibungskunst, Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart. München 1995. Böhme, Gernot: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik. Berlin 2013. Bosworth, Patricia: Jane Fonda. The public life of a private woman. London 2011.

290

Literatur

Braidotti, Rosi: Nomadic Subjects: Embodiment and Sexual Difference in Contemporary Feminist Theory. New York 2011. Braidotti, Rosi: Politik der Affirmation. Übersetzt von Elisa Barth. Berlin 2018. Bronfen, Elisabeth: Liebestod und Femme fatale. Der Austausch sozialer Energien zwischen Oper, Literatur und Film. Frankfurt a.M. 2004. Brown, Celia/Mangelsdorf, Marion (Hg.): Alice im Spiegelland. Wo sich Kunst und Wissenschaft treffen. Bielefeld 2012. Brown, Celia: Alice hinter den Mythen. Der Sinn in Carrolls Nonsense. Paderborn 2015. Brooker, Will: Alice’s Adventures. Lewis Carroll and Alice in Popular Culture. New York 2004. Campe, Rüdiger: Die Schreibszene. Schreiben. In: Sandro Zanetti: Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte. Berlin 2012, 169–282. Cavell, Stanley: The World Viewed. Reflections on the Ontology of Film. Cambridge, Mass./London 1979. de Certeau, Michel: Kunst des Handelns. Übersetzt von Roland Voullié. Berlin 1988. Clarke, Arthur C.: Voice Across the Sea. The Story of Deep Sea Cable Laying. London 1958. Cohen, Morton N./Gandolfo, Anita: Lewis Carroll and the House of Macmillan. Cambridge 1987. Cohen, Morton N.: Lewis Carroll. A Biography. London (ebook). Cott, Jonathan (Hg.): Beyond the Looking-Glass: Extraordinary Works of Fairy Tale & Fantasy. New York 1973. Crary, Jonathan: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur. Übersetzt von Heinz Jatho. Frankfurt a.M. 2002. Culler, A. Dwight: The Darwinian Revolution and Literary Form. In: George Levine/William Madden (Hg.): The Art of Victorian Prose. Oxford 1968, 224–246. Cuntz-Leng, Vera: Harry Potter que(e)r: Eine Filmsaga im Spannungsfeld von Queer Reading, Slash-Fandom und Fantasyfilmgenre. Bielefeld 2015. Cutolo, Raffaele: Into the Woods of Wicked Wonderland. Musicals Revise Fairy Tales. Heidelberg 2014. de Landa, Manuel: Assemblage Theory. Edinburgh 2016. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Rhizom. Übersetzt von Dagmar Berger u. a. Berlin 1977. Deleuze, Gilles: Logik des Sinns. Übersetzt von Bernhard Dieckmann. Frankfurt a.M. 1993. Deleuze, Gilles: Kritik und Klinik. Übersetzt von Joseph Vogl. Frankfurt a.M. 2000. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Anti-Oedipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. Übersetzt von Bernd Schwibs. Frankfurt a.M. 1977. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Übersetzt von Gabriele Ricke und Ronald Voullié. Berlin 1992. Dettmar, Ute: Kinder- und Jugendliteratur und Populärkultur. Eine Beziehungsgeschichte. In: Ute Dettmar/Ingrid Tomkowiak (Hg.): Kinder- und Jugendliteratur und -medien im Feld des Populären. Berlin/Bern 2019, 17–37. di Franco, J. Philip: The Movie World of Roger Corman. New York/London 1979. Dewey, John: Kunst als Erfahrung. Übersetzt von Christa Velten u. a. Frankfurt a.M. 1988. Douglas-Fairhurst, Robert: The Story of Alice. Lewis Carroll and the Secret History of Wonderland. Cambridge 2015. Drucker, Johanna: The Century of Artists’ Books. New York 2004. Druker, Elina/Bettina Kümmerling-Meibauer (Hg.): Children’s Literature and die Avant-Garde. Amsterdam/Philadelphia 2015. Dusinberre, Juliet: Alice to the Lighthouse. Children’s books and radical experiments in art. Basingstoke 1987. Eilers, Tobias: Robert Gernhardt. Lyrik und Theorie. Erfolgreiche komische Literatur in ihrem gesellschaftlichen und medialen Kontext. Münster 2011. Ellmann, Richard: Spass und Spiele für Alice und andere. In: NZZ, Beilage Literatur und Kunst, 29./30.09.1979, 65. Engell, Lorenz/Vogl, Joseph: Vorwort. In: Claus Pias u. a. (Hg.): Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard. Stuttgart 1999, 8–11.

Literatur

291

Ewers, Hans Heino (Hg.): Komik im Kinderbuch. Erscheinungsformen des Komischen in der Kinder- und Jugendliteratur. Weinheim 1992. Fahle, Oliver: Im Diesseits der Narration. Zur Ästhetik der Fernsehserie. In: Frank Kelleter (Hg.): Populäre Serialität. Narration – Evolution – Distinktion. Zum seriellen Erzählen seit dem 19. Jahrhundert. Bielefeld 2012, 169–182. Filmer, Kath: The Victorian Fantasists. Essays on Culture, Society and Belief in the Mythopoetic Fiction of the Victorian Age. Bastingstoke 1991. Fisher, Mark: The Weird and the Eerie. London 2017. Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I. Übersetzt von Ulrich Raulff und Walter Seitter. Frankfurt a.M. 1977. Frey, Hans-Jost: Der unendliche Text. Frankfurt a.M. 1990. Friese, Inka: Alice im Wörterwald. Lewis Carrolls ‚Alice im Wunderland’ und die Probleme bei der Übersetzung. In: Bettina Hurrelmann (Hg.): Klassiker der Kinder-und Jugendliteratur. Frankfurt a.M. 1995. 107–110. Frost, Ginger S.: Victorian Childhoods. Victorian Life and Times. Westport u. a. 2009. Garn Howard, Jeffrey: „What is the use of a book … without pictures?“ Images and Words in Alice’s Adventures in Wonderland. In: The Explicator 73:1, 2015, 13–15. Gasquet, Lawrence: Lewis Carroll, writer and photographer. Clearing up a few myths. In: Pascale Renaud-Gosbras u. a. (Hg.): Lewis Carroll et les mythologies de l’enfance. Rennes 2005, 183–194. Genette, Gérard: Die Erzählung. Übersetzt von Andreas Knop. München: Fink 1994. Genette, Gérard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Übersetzt von Dieterd Hornig. Frankfurt a.M. 2001. Giele, Enno/Jörg Peltzer/Melanie Trede: Rollen, Blättern und (Ent)falten. In: Thomas Meier/ Michael R. Ott/Rebecca Sauer (Hg.): Materiale Textkulturen. Konzepte – Materialien – Praktiken. Berlin 2015, 677–693. Ginsburg, Faye D./Abu-Lughod, Lila/Larkin, Brian (Hg.): Media Worlds. Anthropology on New Terrain, Berkeley/Los Angeles 2002. Giuriato, Davide: Prolegomena zur Marginalie. In: Giuriato, Stingelin, Zanetti (Hg.): „Schreiben heißt: sich selber lesen.“. Schreibszenen als Selbstlektüren. München 2008, 177–198. Gledhill, Christine: Rethinking Genre. In: Dies./Linda Williams (Hg.): Reinventing Film Studies. London/New York 2000, 221–243. Goldthwaite, John: The Natural History of Make-Believe. A Guide to the Principal Works of Britain, Europe and America. New York 1996. Greiner, Bernhard: Die Komödie. Eine theatralische Sendung: Grundlagen und Interpretationen. Tübingen 1992. Gray, Beverly: Blood-Sucking Vampires, Flesh-Eating Cockroaches and Driller Killers. Roger Corman. An Unauthorized Life. New York 2000. Gumbrecht, Hans-Ulrich: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Frankfurt am Main 2004. Gumbrecht, Hans-Ulrich: Stimmungen lesen. Über eine verdeckte Wirklichkeit der Literatur. München 2011. Gumbrecht, Hans-Ulrich: Präsenz. Berlin 2012. Haraway, Donna: Staying with the Trouble. Making Kin in the Cthulhucene. Durham/London 2016. Harman, Graham: Weird Realism. Lovecraft and Philosophy. Winchester/Washington 2012. Harman, Graham: Speculative Realism. An Introduction. Cambridge 2018. Haughton, Hugh: Introduction. In: Alice’s Adventures in Wonderland and Through the ­Looking-Glass. London: Penguin 1998, IX–LXV. Hearn, Michael Patrick (Hg.): The Victorian Fairy Book. New York 1988. Hearn, Michael Patrick (Hg.): The Annotated Wizard of Oz. New York 1973.

292

Literatur

Hensel, Thomas/Schröter, Jens: Die Akteur-Netzwerk-Theorie als Herausforderung der Kunstwissenschaft. Eine Einleitung. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 57 (1), 2012, 5–18. Hoffmann, Lena: Mehrfachadressierung in Text, Markt und Diskurs. Zürich 2018. Hofmann, Albert: LSD – mein Sorgenkind. Die Entdeckung einer Wunderdroge. Stuttgart 2010. Hollingsworth, Christopher (Hg.): Alice Beyond Wonderland: Essays for the Twenty-First Century. Iowa City 2009. Hubli, Kathrin: Kunstprojekt (Mumin-)Buch. Tove Janssons prozessuale Ästhetik und materielle Transmission. Tübingen 2018. Hügel, Hans-Otto: Lob des Mainstreams. Zu Begriff und Geschichte von Unterhaltung und populärer Kultur. Köln 2007. Ibberson, Jack: Barbarella. In: Monthly Film Bulletin; London Bd. 35. 408, Jan 1, 1968, 168. Iché, Virginie: L’esthétique du jeu dans les “Alice” de Lewis Carroll. Paris 2015. Illger Daniel: Die Stadt und die Leere. Antonionis Frühwerk, der Gangsterfilm und der Giallo. In: Jörg Glasenapp (Hrsg): Michelangelo Antonioni. Wege in die filmische Moderne. München/Paderborn: Fink 2012, 13–37. Illger, Daniel: Träume für die Toten. Mario Bava und die Gespenster des italienischen Horrorfilms. In: Thomas Koebner (Hg.): Gespenster. München: Edition Text und Kritik 2014, 150– 188. Illger, Daniel: Unter grünen Sonnen. Überlegungen zu einer Poetik der Fantasy. Vortragsmanuskript zur Cinepoetics-Ringvorlesung “Genre und Affekt” an der Freien Universität Berlin, 29.05.2017. Jahraus, Oliver/Mario Grizelji (Hg.): Vor der Theorie. Immersion, Materialität, Intensität. Würzburg 2014. Janzen Kooistra, Lorraine: Charting Rocks in the Golden Stream. Or Why Textual Ornaments Matter to Victorian Periodicals Studies. In: Victorian Periodicals Review, 49/3 2016, 375– 395. Jaques, Zoe/Eugene Giddens: Lewis Carroll’s Alice’s Adventures in Wonderland and Through the Looking-Glass. A Publishing History. Surrey 2013. Jenkins, Henry: Convergence Culture. Where Old and New Media Collide. New York/London 2006 [2006a]. Jenkins, Henry: Fans, Bloggers and Gamers: Exploring Participatory Culture. New York/London 2006 [2006b]. Jenkins, Henry/Ford, Sam/Green, Joshua: Spreadable Media. Creating Value and Meaning in a Networked Culture. New York/London 2013 [2013]. Jung, Matthias: Hermeneutik zur Einführung. Hamburg 2001. Kalbermatten, Manuela: „The World May Need You, One Day“. Kulturkritik, Identität und Geschlecht in aktueller Future Fiction für Jugendliche. In: Jugendliteratur im Kontext von Jugendkultur. Wiener Vorlesungen zur Kinder- und Jugendliteratur, Bd. 1. Hg. Von Wynfrid Kriegleder, Heidi Lexe, Sonja Loidl und Ernst Seibert. Wien: Praesens 2016, 161–186. Kammer, Stephan: Visualität und Materialität der Literatur. In: Claudia Benthien/Brigitte Weingart: Handbuch Literatur und visuelle Kultur. Berlin/New York 2014, 31–47. Kammer, Stephan/Roger Lüdeke (Hg.): Texte zur Theorie des Textes. Stuttgart 2005. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. Hg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 1974. Kappelhoff, Hermann: Matrix der Gefühle. Das Kino, das Melodrama und das Theater der Empfindsamkeit. Berlin 2004. Kappelhoff, Hermann: Realismus. Das Kino und die Politik des Ästhetischen. Berlin 2008. Kappelhoff, Hermann: Genre und Gemeinsinn. Hollywood zwischen Krieg und Demokratie. Berlin 2016. Kappelhoff, Hermann: Auf- und Abbrüche: Die Internationale der Pop-Kultur. In: Hermann Kappelhoff/Christine Lötscher/Daniel Illger (Hg.): Filmische Seitenblicke. Cinepoetische Exkursionen ins Kino von 1968. Berlin 2018, 1–42. Kappelhoff, Hermann: Kognition und Reflexion. Zur Theorie filmischen Denkens. Berlin 2018.

Literatur

293

Kato, Hiloko: Vergessen gegangene Materialität. Inszenierungen des Buchs als Buch in Jörg Müllers Das Buch im Buch im Buch. In: Interjuli 2/2015, 6–24. Keene, Melanie: Science in Wonderland: The Scientific Fairy Tales of Victorian Britain. Oxford 2015. Kelleter, Frank (Hg.): Populäre Serialität. Narration – Evolution – Distinktion. Zum seriellen Erzählen seit dem 19. Jahrhundert. Bielefeld 2012. Kérchy, Anna: Alice in Transmedia Wonderland. Curiouser and Curiouser New Forms of a Children’s Classic. Jefferson 2016. Kiening, Christian: Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur. Frankfurt a.M. 2003. Kittler, Friedrich: Aufschreibesysteme 1800/1900. München 1995. Klimek, Sonja: Paradoxes Erzählen. Die Metalepse in der fantastischen Literatur. Paderborn 2010. Köhler, Sigrid G./Hania Siebenpfeiffer/Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.): Materie. Grundlagentexte zur Theoriegeschichte. Berlin 2013. Koschorke, Albrecht: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999. Koschorke, Albrecht: Wahrheit und Erfindung: Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Fischer 2012. Krämer, Sybille/Horst Bredekamp: Kultur, Technik, Kulturtechnik: Wider die Diskursivierung der Kultur. In: Dies. (Hg.): Bild, Schrift, Zahl. München 2003, 11–22. Krämer, Sybille: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität. Frankfurt am Main 2008. Krämer, Sybille: Schriftbildlichkeit. Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Notationen. Berlin 2012. Krämer, Sibylle: Figuration, Anschauung, Erkenntnis. Grundlinien einer Diagrammatologie. Berlin 2016. Kotzinger, Susi/Rippl, Gabriele (Hg.): Zeichen zwischen Klartext und Arabeske. Konferenz des Konstanzer Graduiertenkollegs „Die Theorie der Literatur“, veranstaltet im Oktober 1992. Amsterdam/Atlanta 1994. Kreuzer, Stefanie: Traum und Erzählen in Literatur, Film und Kunst. Paderborn 2014. Kühn, Thomas/Troschitz, Robert: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Populärkultur. Perspektiven und Analysen. Bielefeld 2017, 9–17. Kümmerling-Meibauer, Bettina: Klassiker der Kinder-und Jugendliteratur. Ein internationales Lexikon, Bd. 1, A-G. Stuttgart 2004. Lecercle, Jean-Jacques: Philosophy Through the Looking Glass. La Salle 1985. Lecercle, Jean-Jacques: The Violence of Language. New York 1990. Lecercle, Jean-Jacques: Philosophy of Nonsense. The intuitions of Victorian Nonsense Literature. New York 1994. Lecercle, Jean-Jacques: Nonsense and Politics. In: Elisabetta Tarantino/Carlo Caruso (Hg.): Nonsense and Other Senses. Regulated Absurdity in Literature. Newcastle upon Tyne 2009, 357– 380. Lehmann, Hauke: Affektpoetiken des New Hollywood: Suspense, Paranoia und Melancholie. Berlin 2017. Lötscher, Christine/Tomkowiak, Ingrid: „Feed Your Head“. Funktion und Potential der Musik in Alice-Adaptionen. In: kjl&m 2012.extra, 104–114. Lötscher, Christine: Das Zauberbuch als Denkfigur. Lektüre, Medien und Wissen in der zeitgenössischen Fantasy für Jugendliche. Zürich 2014. Lötscher, Christine/Tomkowiak, Ingrid: Referentielle Verspieltheit. Funktion und Potential der Musik in Alice-Adaptionen. In: Thomas Möbius/Ingrid Tomkowiak/Gina Weinkauff/Ute Dettmar (Hg.): Kinder-und Jugendliteratur im Prozess der Medienkonvergenz. Adaption – Hybridisierung – Intermedialität. Frankfurt a.M. u.a 2014. 45–58.

294

Literatur

Lötscher, Christine: Geteilte Albträume. Träumerische Horrorszenarien und ihre Poetik in Film und TV-Serien für Jugendliche. In: Im Wunder-Schlummer-Land. Traum und Träumen in ­Kinder- und Jugendmedien. kjl&m 3/2016, 65–72. Lötscher, Christine: Unerhörte Philosophien. Utopie, Feminismus und Erotik in Roger Vadims barbaraella erschienen in: Hermann Kappelhoff/Christine Lötscher/Daniel Illger (Hg.): Filmische Seitenblicke. Cinepoetische Exkursionen ins Kino von 1968. Berlin 2018, 303–316. Lötscher, Christine: Technik des Sinns. Hermeneutik des Unsinns. Materialität, Medialität und ästhetische Erfahrung in Lewis Carrolls Alice-Romanen. In: David Magnus/Sergej Rickenbacher (Hg.): Technik – Ereignis – Material. Berlin 2018, 69–84. Lötscher, Christine: “You’re really into some beautiful stuff, man”: Roger Cormans the trip (1967). In: Martin Poltrum/Bernd Rieken (Hg.): Trinker, Junkies, Kokser, Kiffer, Spieler, Sexsüchtige. Rausch, Ekstase und Sucht in Film und Serie. Berlin 2019, 191–202. Lötscher, Christine: Melodrama, Paranoia, Coming-of-Age. Genretheoretische Überlegungen zu Kinder- und Jugendmedien am Beispiel der Netflix-Serie 13 Reasons Why. In: Ute Dettmar/ Caroline Roeder/Ingrid Tomkowiak (Hg.): Schnittstellen de Kinder- und Jugendmedienforschung. Aktuelle Positionen und Perspektiven. Stuttgart 2019, 101–117. Lovett, Charlie: Lewis Carroll Among His Books. A Descriptive Catalogue of the Private Library of Charles L. Dodgson. Jefferson 2005. Lovett, Charles C.: Alice on Stage. A History oft he Early Theatrical Productions of Alice in Wonderland. Westport 1990. Lowenhaupt Tsing, Anna: The Mushroom at the End of the World. On the Possibility of Life in Capitalist Ruins. Princeton/Oxford 2015. Maase, Kaspar: Populärkulturforschung. Eine Einführung. Bielefeld 2019. MacCormack, Patricia: Lovecraft’s Cosmic Ethics. In: Carl H. Sederholm/Jeffrey A. Weinstock (Hg.): The Age of Lovecraft. Minneapolis 2016, 199–214. Martin, Cathlena: „Wonderland's become quite strange“: From Lewis Carroll's Alice to American McGee’s Alice. In: Phyllis Frus/Christy Williams (Hg.): Beyond Adaptation. Essays on Radical Transformations of Original Works. Jefferson 2010, 133–143. Maslen, R. W.: Introduction. In: Mervyn Peake: Complete Nonsense. Hg. von R. W. Maslen und G. Peter Winnington. Manchester 2011. Mathijs, Ernest/Mendik, Xavier: Alternative Europe. Eurotrash and exploitation cinema since 1945. London 2004. Mauser, Siegfried: Beethovens Klaviersonaten. Ein musikalischer Werkführer. München: 2001. McGann, Jerome: The Textual Condition. Princeton/New Jersey 1991. McGillis, Roderick: „Nonsense“. In: Richard Cronin/Alison Chapman/Anthony Harrison (Hg.): A Companion to Victorian poetry. Oxford 2002, 155–170. Meillassoux, Quentin: Nach der Endlichkeit. Versuch über die Notwendigkeit der Kontingenz. Übersetzt von Roland Frommel. Zürich 2008. Mendik, Xavier: Detection and Transgression. The Investigative Drive of the Giallo. In: Andy Black (Hg.): Necronomicon, Book One. The Journal of Horror and Erotic Cinema. London 1996, 35–54. Mendik, Xavier: Bodies of Desire and Bodies in Distress: The Golden Age of Italian Cult Cinema 1970–1985. Newcastle Upon Tyne 2015. Menninghaus, Winfried: Lob des Unsinns. Über Kant, Tieck und Blaubart. Frankfurt am Main 1995. Mersch, Dieter: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. München 2002 [2002a]. Mersch, Dieter: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M. 2002 [2002b]. Mersch, Dieter: Posthermeneutik. Berlin 2010. Miéville, China: Long Live the New Weird. The 3rd alternative 35, 2003. Müller, Lothar: Weiße Magie. Die Epoche des Papiers. München 2012. Müller-Wille, Klaus: Hans Christian Andersen und die Dinge. In: Klaus Müller-Wille (Hrsg): Hans Christian Andersen und die Heterogenität der Moderne. Tübingen 2009, 132–160.

Literatur

295

Müller-Wille, Klaus: Krakel Spektakel. Sprachspiel und Medienreflexion in skandinavischen Kinderbüchern der 1940er- und 1950er-Jahre. In: Ingrid Tomkowiak (Hg.): Perspektiven der Kinder- und Jugendmedienforschung. Zürich 2011, 11–38. Müller-Wille, Klaus: Collagen, Wortdinge und stumme Bücher. Hans Christian Andersens (inter) materielle Poetik. In: Thomas Strässle u. a. (Hg.): Das Zusammenspiel der Materialien in den Künsten. Theorien – Praktiken – Perspektiven. Bielefeld 2013, 18–32. Müller-Wille, Klaus: Sezierte Bücher. Hans Christian Andersens Materialästhetik. Paderborn 2017. Müller-Wille, Klaus: Das Lesen neu erfinden. Zu Aspekten der Materialität in der Kinder- und Jugendliteratur. In: Ute Dettmar/Caroline Roeder/Ingrid Tomkowiak (Hg.): Schnittstellen der Kinder- und Jugendmedienforschung. Aktuelle Positionen und Perspektiven. Stuttgart 2019, 11–26. Mulvey, Laura: Visuelle Lust und narratives Kino. In: Franz-Josef Albersmeier (Hg.): Texte zur Theorie des Films. Stuttgart 1998, 389–409. Nancy, Jean-Luc: singulär plural sein. Übersetzt von Ulrich Müller-Schöll. Zürich 1996. Nichols, Catherine: Alice’s Wonderland. A visual Journey Through Lewis Carroll’s Mad, Mad World. New York 2014. Oesterle, Günter: Arabeske. In: Karlheinz Barck u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 1. Stuttgart 2000–2005, 272–286. Oesterle, Günter: Groteske. In: Hans Richard Brittnacher/Markus May (Hrsg): Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart 2013, 293–299. Oesterle, Günter: Das Groteskkomische. In: Uwe Wirth (Hg.): Komik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart 2017, 35–42. Olson, Marilynn S.: John Ruskin and the Mutual Influence of Children’s Literature and the Avant-Garde. In: Elina Druker/Bettina Kümmerling-Meibauer (Hg.): Children’s Literature and the Avant-Garde. Amsterdam/Philadelphia 2015, 19–44. O’Sullivan, Emer: Kinderliterarische Komparatistik. Heidelberg 2000. Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München 2009. Paglia, Camille: Alice as Epic Hero. In: Vamps & Tramps. New Essays. New York 1994, 312– 316. Petzold, Dieter: Formen und Funktionen der englischen Nonsense-Dichtung im 19. Jahrhundert. Nürnberg 1972. Pisters, Patricia: The Matrix of Visual Culture. Working with Deleuze in Film Theory. Stanford 2003. Prickett, Stephen: Victorian Fantasy. Hassocks 1979. Rackin, Donald: Alice’s Adventures in Wonderland and Thorugh the Looking-Glass. Nonsense, Sense and Meaning. New York 1991. Rancière, Jacques: Die Politik der Literatur. Übersetzt von Richard Steurer. Wien 2011. Reichert, Klaus: Studien zum literarischen Unsinn. München 1974. Reynolds, Kimberley/Humble, Nicola: Victorian Heroines: Readings and Representations of Women in Ninteenth-Century Literature and Art. New York 1993. Reynolds, Kimberley: Radical Children’s Literature. New York: Palgrave Macmillan 2007. Roeder, Caroline (Hg.): Im Wunder-Schlummer-Land. Traum und Träumen in Kinder- und Jugendmedien. kjl&m 3/2016. Rorty, Richard: Kontingenz, Ironie, Solidarität. Übersetzt von Christa Krüger. Frankfurt a.M. 1992. Rose, Frank: The Art of Immersion. How the Digital Generation Is Remaking Hollywood, Madison Avenue and the Way We Tell Stories. New York 2011. Sanchiño Martínez, Roberto: Die Produktion von Präsenz. Einige Überlegungen zur Reichweite des Konzepts der ‚ästhetischen Erfahrung’ bei Hans Ulrich Gumbrecht“. In: Sonderforschungsbereich 626 (Hg.): Ästhetische Erfahrung: Gegenstände, Konzepte, Geschichtlichkeit. Berlin 2006.

296

Literatur

Scheer, Monique: Topographien des Gefühls. In: Ute Frevert u. a. (Hg.): Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne. Frankfurt a.M./New York 2011, 41–64. Scheinpflug, Peter: Formelkino. Medienwissenschaftliche Perspektiven auf die Genre-Theorie und den Giallo. Bielefeld 2017. Schlepfer, Zoé Iris/Wedel, Michael: Atmosphäre/Stimmung. IV. Kategorien der Filmanalyse. In: Britta Harmann u. a. (Hg.): Handbuch Filmwissenschaft. Stuttgart 2018. Schmitz-Emans, Monika: Zwischen planen und gebogenen Oberflächen. Zu Lewis Carrolls Alice. In: Kurt Röttgers/Monika Schmitz-Emans: Oben und Unten. Oberflächen und Tiefen. Essen 2013, 161–176. Schmitz-Emans, Monika: Die Buchkörper als Träger ästhetischer Botschaften. Von Jean Pauls Bücherphantasien zur modernen Buchkunst. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 2014, 265–284. Schmitz-Emans, Monika: Plays around Surfaces and Depths: Transitions between Two- and Three- Dimensionality Reflected by Wordplays and Puns. In: Angelika Zirker/Esme ­Winter-Froemel (Hg.): Wordplay and Metalinguistic/Metadiscursive Reflection Authors, Contexts, Techniques, and Meta-Reflection. Berlin 2015, 245–268. Schmitz-Emans, Monika: Bücher für Kinder, Künstlerbücher, neuere Buchliteratur. Konzepte, Analogien, Beispiele. In: Ute Dettmar/Caroline Roeder/Ingrid Tomkowiak (Hg.): Schnittstellen der Kinder- und Jugendmedienforschung. Aktuelle Positionen und Perspektiven. Stuttgart 2019, 27–45. Schnell, Rüdiger: Handschrift und Druck. Zur funktionalen Differenzierung im 15. und 16. Jahrhundert. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 32, 1, 66–11. Sederholm, Carl H./Weinstock, Jeffrey A.: (Hg.): The Age of Lovecraft. Minneapolis 2016. Smith, Lindsay: “Take Back your Mink“. Lewis Carroll, Child Masquerade and the Age of Consent. In: Art History 16/3, 1993, 369–385. Smith, Lindsay: Lewis Carroll. Photography on the Move. London 2015. Spiegel, Simon: Das große Genre-Mysterium: Das Mystery Genre. In: Zeitschrift für Fantastikforschung ZfF, 1/2014, 2–26. Schrey, Dominik: Analoge Nostalgie in der digitalen Medienkultur. Berlin 2017. Schüttpelz, Erhard/Thielmann, Tristan (Hg.): Akteur-Medien-Theorie. Bielefeld 2013. Schulz, Christoph Benjamin: Poetiken des Blätterns. Hildesheim/Zürich/New York 2015. Sewell, Elizabeth: The Field of Nonsense. London 2015. Sigler, Carolyn: Alternative Alices. Visions and revisions of Lewis Carroll's Alice books. An anthology. Lexington 1997. Sloane, N. J.A./Wyner, A. D. (Hg.): Claude E. Shannon. Collected Papers. Piscataway 1993. Sobchack, Vivian: A Leg To Stand On: Prosthetics, Metaphor, and Materiality. In: Marquard Smith/Joanne Morra (Hg.): The Prosthetic Impulse: From a Posthuman Present To A Biocultural Future. Cambridge 2006, 17–41. Sombart, Werner: Wirtschaft und Mode. Ein Beitrag zur Theorie der modernen Bedarfsgestaltung [1902]. In: Silvia Bovenschen (Hg.): Die Listen der Mode. Berlin 1986, 80–105. Spoerhase, Carlos: Linie, Fläche, Raum. Die drei Dimensionen des Buches in der Diskussion der Gegenwart und der Moderne. Göttingen 2016. Spuybroek, Lars: The Sympathy of Things. Ruskin and the Ecology of Design. London/New York 2016. Spuybroek, Lars: Gothic Ontology and Sympathy: Moving Away From the Fold. In: Sjoerd Van Tuinen (Hg.): Speculative Art Histories. Edinburgh 2017, 131–161. Steiner, Uwe C.: Vom Materialismus zur Materialität. Wie die Literatur des 19. Jahrhunderts handlungsmächtige Dinge entdeckt. In: Herbert Kalthoff/Torsten Cress/Tobias Röhl (Hg.): Materialität. Herausforderung für die Sozial- und Kulturwissenschaften. Paderborn 2016, 143–151. Stewart, Susan: Nonsense. Aspects of Intertextuality in Folklore and Literatur. Baltimore/London 1978.

Literatur

297

Strässle, Thomas/Kleinschmidt, Christoph/Mohs, Johanne (Hg.): Das Zusammenspiel der Materialien in den Künsten. Theorien – Praktiken – Perspektiven. Bielefeld 2013. Straley, Jessica: Evolution and Imagination in Victorian Children’s Literature. Cambridge 2016. Susina, Jan: The Place of Lewis Carroll in Children’s Literature. New York 2010. Szondi, Peter: Einführung in die literarische Hermeneutik. Studienausgabe der Vorlesung. Frankfurt a.M. 1975. Thomas, Donald: Lewis Carroll. A Portrait with Background. London 1996. Tiedemann, Rüdiger: Alice bei den Surrealisten. In: Arcadia. Internationale Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Bd. 17/2015, Heft 1–3, 61–80. Tigges, Wim: An Anatomy of Literary Nonsense. Amsterdam 1988. Tomkowiak, Ingrid: Postmodern Storytelling in Traditional Popular Genres. Gore Verbinski’s Movies as Reflections on Narrative Patterns. In: Narrative Culture 1,2 (2014), 175–190 [2014a]. Tomkowiak, Ingrid: Lili Marleen auf Latein. Umberto Eco und das Populäre. In: Thomas Forrer, Angelika Linke (Hg.): Wo ist Kultur? Perspektiven der Kulturanalyse. Zürich 2014, 127–145 [2014b]. Tomkowiak, Ingrid: „… die Klangfülle des malerischen Instruments …“. Sensorische Strategien im Gesamtkunstwerk Bilderbuch. In: Lars Oberhaus/Mareile Oetken (Hg.): farbe klang reim rhythmus. Interdisziplinäre Zugänge zur Musik im Bilderbuch. Bielefeld 2017, 23–54. Tomkowiak, Ingrid: „Ein Grinsen ohne Katze!“ Materialität, Medialität und Metamorphose in Alice-Animationsfilmen. In: Julia Eckel, Erwin Feyersinger, Meike Uhrig (Hg.): Im Wandel… – Metamorphosen der Animation. Heidelberg VS 2018, 103–122 [2018a]. Tomkowiak, Ingrid: Präsenz des Stofflichen. Materialität im Animationsfilm. In: 1001 buch 1/2018, 38–39 [2018b]. Tomkowiak, Ingrid: „It’s all made by hand.“ Ästhetik und Inszenierung des Handgemachten in Animationsfilmen. In: Ute Dettmar/Ingrid Tomkowiak (Hg.): Spielarten der Populärkultur. Kinder- und Jugendliteratur und -medien im Feld des Populären. Frankfurt a.M. u. a. 2019. Torra-Mattenklott, Caroline: Poetik der Figur. Zwischen Geometrie und Rhetorik: Modelle der Textkomposition von Lessing bis Valéry. Paderborn 2016. Turner, Victor: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Übersetzt von Sylvia M. ­Schomburg-Scherff. Frankfurt a.M. 2013. van Valen, Lee: A New Evolutionary Law. In: Evolutionary Theory. Bd. 1. Chicago: University of Chicago Press 1973. Vogl, Joseph: Über das Zaudern. Zürich/Berlin 2014 [2007]. von Holzen, Aleta-Amirée: Maskierte Helden. Zur Doppelidentität in Superheldencomics und Pulp Novels. Zürich 2019. Wagner, Monika: Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne. München 2001 [2001a]. Wagner, Monika: Material. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Hg. von Karlheinz Barck/Martin Fontius/Dieter Schlenstedt/Burkhart Steinwachs/ Friedrich Wolfzettel, Bd. 3, Harmonie-Material. Stuttgart: Metzler 2001, 866–882. [2001b]. Wakeling, Edward: Lewis Carroll and His Circle. London: Tauris 2015. Warburg, Aby: Dürer und die italienische Antike. In: Ders.: Werke in einem Band. Auf der Grundlage der Manuskripte und Handexemplare Hg. und kommentiert von Martin Treml u. a. Berlin 2010, 176–184. Weinkauff, Gina/Dettmar, Ute/Möbius, Thomas/Tomkowiak, Ingrid (Hg.): Kinder- und Jugendliteratur in Medienkontexten. Adaption – Hybridisierung – Intermedialität – Konvergenz. Frankfurt a.M. u. a. 2014. Weinstock, Jeffrey Andrew: The New Weird. In: Ken Gelder: New Directions in Popular Fiction. Genre, Distribution, Reproduction. London 2016, 177–199. White, Laura: The Alice Books and the Contested Ground of the Natural World. New York 2017. Willer, Stefan: Witz. In: Uwe Wirth (Hg.): Komik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart 2017, 11–16.

298

Literatur

Williams, Linda: Screening Sex. Durham 2008. Willis, Gary, “Two Different Kettles of Talking Fish: The Nonsense of Lear and Carroll,” Jabberwocky, 9 (1980), 87–94. Winnicott, Donald: Vom Spiel zur Kreativität. Übersetzt von Michael Ermann. Stuttgart 1993. Wullschläger, Jackie: Inventing Wonderland. The Lives and Fantasies of Lewis Carroll, Edward Lear, J. M. Barrie, Kenneth Grahame, and A. A. Milne. London 1995. Zirker, Angelika: Der Pilger als Kind. Spiel, Sprache und Erlösung in Lewis Carrolls „Alice“-Büchern. Münster 2010. Zipes, Jack (Hg.): Victorian Fairy Tales. The Revolt of the Fairies and Elves. New York 1987.

Online-Quellen Fienberg, Daniel: ‚Fargo’ Creator Goes Inside Season 3 Finale and Offers Hope for Franchies’s Future: https://www.hollywoodreporter.com/fien-print/fargo-season-3-finale-explained-1015844 (28.04.2020). Fluckinger, Roy: For his most famous child portrait, Charles Dodgson (aka Lewis Carroll) drew inspiration from an eighteenth-century painting: http://blog.hrc.utexas.edu/tag/penelope-boothby/ (27.04.2020) Hiscock, John: Roger Corman is still prolific at the age of 87. In: The Telegraph, 19.09.2013. http://www.telegraph.co.uk/culture/film/film-news/10318784/Roger-Corman-is-still-prolificat-age-of-87.html (27.04.2020). Peitz, Dirk: Stranger Things. Die Zitat-Kinderzimmerhölle. https://www.zeit.de/kultur/film/201710/stranger-things-2-staffel-rezension (19.04.2020). Stevens, Chris: Making Alice for the iPad. http://theliteraryplatform.com/magazine/2010/04/ making-alice-for-the-ipad (29.04.2020). Ströbele, Carolin: Tote Mädchen vor Gericht. https://www.zeit.de/kultur/film/2018-05/tote-maedchen-luegen-nicht-2-staffel-netflix (29.04.2020). Tomkowiak, Ingrid: Poetiken der Verstörung. Gespräch mit der Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Christine Lötscher. https://www.footnoters.de/theorie/ (27.04.2020). Willette, Jeanne: Through the Looking-Glass with Lewis Carroll. http://arthistoryunstuffed.com/ through-the-looking-glass-with-lewis-carroll/ (29.04.2020). Zukker, Nora: Sind Grimms Märchen out? https://www.migrosmagazin.ch/sind-grimms-maerchen-out (27.04.2020).

Sonstige Alice: Asylum – American McGee bittet weiter um Unterstützung für sein Alice-3-Projekt: https://www.americanmcgee.com (21.04.2020). Alice Hargreaves’ Grabtafel: https://de.wikipedia.org/wiki/Alice_Liddell#/media/File:Alice_Liddell_grave_in_Lyndhurst2.jpg (21.04.2020). America the Beautiful, Liedtext: https://kids.niehs.nih.gov/games/songs/patriotic/america-the-beautiful/index.htm (21.04.2020). Barack Obama’s New Hampshire Primary Speech: https://www.nytimes.com/2008/01/08/us/politics/08text-obama.html (21.04.2020). Down the Snowshoe Rabbit Hole: The Major Connections Between Twin Peaks and Alice’s Adventures in Wonderland: https://welcometotwinpeaks.com/references/alice-in-wonderland-twin-peaks-connections/ (21.04.2020) Facebook-Fan-Seite von grace and frankie: https://www.facebook.com/GraceandFrankie/videos/ introducing-the-m%C3%A9nage-%C3%A0-moi/698092203708556/ (21.04.2020).

Literatur

299

Fanseite zu twin peaks: http://welcometotwinpeaks.com/category/theories/ (27.04.2020). Jabberwocky-Interpretationen (21.04.2020): John Gielgud: https://www.youtube.com/ ­ watch?v=KjOj970ZJC8; Benedict Cumberbatch: https://www.youtube.com/watch?v=Q_ Um3787fSY Christopher Lee: https://www.youtube.com/watch?v=GVoBra0I4jU. Shot for Shot: Movie Scenes that Inspired Stranger Things Season 2: https://www.imdb.com/list/ ls025720609/videoplayer/vi3595548953?ref_=tt_ecw_stranger_i_2 (21.04.2020). Tinguely-Brunnen in Basel: www.youtube.com/watch?v=xkAMghD67Zw (21.04.2020).

Filmographie Filme alice in wonderland.

Regie: Cecil Hepworth/Percy Stow, GB 1903. Regie: Jonathan Miller, GB 1966. alice in wonderland. Regie: Clyde Geronimi u. a., USA 1951. alice in wonderland. Regie: Tim Burton, USA 2010. alice through the looking-glass. Regie: James Bobin, USA 2016. a nightmare on elm street Regie: Wes Craven, USA 1984. barbarella. Regie: Roger Vadim, F/I 1968. blow up. Regie: Michelangelo Antonioni, GB 1966. coraline. Regie: Henry Selick, USA 2009. e.t. Regie: Steven Spielberg, USA 1982. fear and loathing in las vegas. Regie: Terry Gilliam, USA 1998. halloween. Regie: John Carpenter, USA 1978. it follows. Regie: David Robert Mitchell, USA 2014. l’uccello dalle piume di cristallo. Regie: Dario Argento, I 1970. mad max. Regie: George Miller, USA 1979. neco z alenky. Regie: Jan Švankmajer, CSSR 1988. night of the living dead. Regie: George A. Romero, USA 1968. platoon. Regie: Oliver Stone, USA 1986. sicario. Regie. Denis Villeneuve. USA 2015. sicario 2: day of the soldado. Regie: Stefano Sollima, USA 2018. sucker punch Regie: Zack Snyder, USA 2011. the game. Regie: David Fincher, USA 1997. the girl with all the gifts. Colm McCarthy, GB/USA 2016. the new alice in wonderland or what’s a nice kid like you doing in a place Alex Lovy, Produktion: William Hanna und Joseph Barbera USA 1966. the shining. Regie: Stanley Kubrick, USA 1980. the trip. Regie: Roger Corman, USA 1967. una lucertola con la pelle di donna Regie: Lucio Fulci, I 1971. wonder woman. Regie: Patty Jenkins, USA 2017. alice in wonderland.

Serien broadchurch.

Creator: Chris Chibnall, GB 2013–2017. Creator: Joss Whedon, USA 1997–2003. fargo. Creator: Noah Hawley, USA 2014–. grace and frankie. Creators: Martha Kauffman/Howard D. Morris. USA 2015–. stranger things. Creators: Matt Duffer/Ross Duffer, USA 2016–. supernatural. Eric Kripke, USA 2005–. buffy, the vampire slayer.

like this,

Regie:

300

Literatur

the punisher.

Creator Steve Lightfoot, USA 2017–. Creators Mark Frost/David Lynch, USA 1990–1991; 2017. westworld. Creators: Jonathan Nolan/Lisa Joy, USA 2016–. reasons why. Creator Brian Yorkey, USA 2017– twin peaks.

Spiele Alice for the iPad. Atomic Antelope, Oceanhouse Media, USA 2010. American McGees Alice. American McGee. Rogue Entertainment, Electronic Arts, USA 2000. Alice: Madness Returns. American McGee. Spicy Horse, Electronic Arts, USA 2011.

Musik Jefferson Airplane: White Rabbit. Lyrics: Grace Slick. Surrealistic Pillow, USA 1967. Tom Waits: Alice. USA 2002. The Beatles: Lucy In the Sky With Diamonds. Sergeant Pepper’s Lonely Hearts Club Band, GB 1967. The Beatles: I am the Walrus. Sergeant Pepper’s Lonely Hearts Club Band, GB 1967. Modern English: I’ll Stop the World and Melt With You. After the Snow. GB 1982. The Clash: Should I stay or should I go. Combat Rock. GB 1982.