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German Pages 222 Year 2015
Gudrun M. König, Gabriele Mentges, Michael R. Müller (Hg.) unter Mitarbeit von Svenja Adelt und Zuzanna Papierz Die Wissenschaften der Mode
Edition Kulturwissenschaft | Band 34
Gudrun M. König, Gabriele Mentges, Michael R. Müller (Hg.)
Die Wissenschaften der Mode
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Inhalt
Die Mode und die Wissenschaften Gudrun M. König, Gabriele Mentges, Michael R. Müller | 7
Die Angst der Forscher vor der Mode oder das Dilemma einer Modeforschung im deutschsprachigen Raum Gabriele Mentges | 27
Kostümgeschichten und frühe Modetheorien des 19. Jahrhunderts als Wissensordnungen der Moderne Elke Gaugele | 49
Mode, Markt, Modernität Beziehungen zwischen Kunstmarkt und Modeindustrie im Paris des neunzehnten Jahrhunderts Ulrich Lehmann | 81
Mode in der Literaturwissenschaft Eine germanistische Bestandsaufnahme Julia Bertschik | 97
Mode als museale Inszenierung Annelie Lütgens | 115
Die Mode in der aktuellen deutschen Presse Ein Kommentar Alfons Kaiser | 135
Sammler, Märkte und Artefakte Akteure der frühen Trachtenforschung im 19. Jahrhundert Andrea Hauser | 143
»Tracht« als Denkstil Zum Wissensmodus volkskundlicher Kleidungsforschung Lioba Keller-Drescher | 169
Apartheid der Mode Eine symboltheoretische Revision der formalen Modesoziologie Michael R. Müller | 185
Autorinnen, Autoren und Mitarbeiterinnen | 219
Die Mode und die Wissenschaften Gudrun M. König, Gabriele Mentges, Michael R. Müller
Die Mode als vestimentäre Praxis liefert ein eindrückliches Beispiel für die Komplexität des menschlichen Eingebundenseins in die materielle Kultur. Sie ist ein wirtschaftliches Prinzip steter Erneuerung produktiver und kommunikativer Industrien. Sie beeinflusst nicht nur das vestimentäre Alltagsverhalten, sondern konturiert den Umgang mit der materiellen Kultur in allen Bereichen. Entgegen dieser gesellschaftlichen Relevanz spielen Modetheorie und vestimentäre Kultur im wissenschaftlichen Kontext tendenziell eine marginale Rolle. Kulturwissenschaftliche Debatten in unterschiedlichen Disziplinen widmen sich zwar modeaffinen Thematiken der Kleidungs-, Körper- und Mediengeschichte, doch ohne einen subdisziplinären Status anzudenken. Dieser Band richtet daher die Perspektive auf die Modeforschung in unterschiedlichen Wissenschaftsfeldern. Zentral sind dabei die Fragen, wie einzelne Wissenschaften mit vestimentärer Mode als einem expressiven Schlüsselelement materieller Kultur umgehen, welche Zyklen wissenschaftlicher Aufmerksamkeit zu konstatieren sind, und was das für eine Modeforschung bedeuten kann.
D as Parl ament der M ode Die Aufnahme der Damenhose im Gefolge des Damenanzugs in den professionellen weiblichen Modealltag der 1960er Jahre beschreiben Pauline Terreehorst und Gerard de Vries – in Anlehnung an Bruno Latour – unter dem Titel »the parliament of fashion«.1 Diese Begriffsfügung wird hier genutzt, um auf die Macht und den Einfluss der Mode zu verweisen, die auf einem komplexen Zusammenspiel von Mensch und materieller Kultur basieren. Zum einen war es Yves Saint Laurents Modenschau im Frühjahr 1967, zum anderen das 1 | Pauline Terreehorst/Gerard de Vries: The Parliament of Fashion. In: Bruno Latour/ Peter Weibel (Hg.): Making Things Public. Atmospheres of Democracy. Karlsruhe u.a. 2005, S. 662-669.
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Modenschaupublikum, das den Designervorschlag in eine legitime Mode verwandelte.2 Die Zustimmung des Publikums integrierte die Damenhose in den beruflichen Alltag. Mode wird nur, was durch Konsum oder Konsumverweigerung zum Konsens wird. Der Schweizer Schriftsteller und Journalist Edwin Arnet betonte bereits in den 1950er Jahren neben der Rolle des Publikums den Einfluss von Modebotschaftern und Modemedien bei der Verbreitung der Moden und verwies auf die Funktion der »Pioniere, Boten und Richter der Mode«, die Mode nicht nur bekannt machten, sondern interpretativ mitgestalteten.3 Mode ist charakterisiert durch kommunikative Transfer- und materiale Transformationsprozesse. In diesem komplexen Geflecht kommt der historischen Epistemologie der Mode als Reflex, Transformator und Bedeutungsgenerator besonderes Gewicht zu. Der vorliegende, interdisziplinäre Sammelband nähert sich seinem Gegenstand wissenschaftshistorisch. Das klingt insofern paradox, als es insbesondere an deutschen Universitäten eine Modewissenschaft nicht gibt. Und mehr noch, nimmt man das jüngst erstarkte wissenschaftliche Interesse am Feld der Mode als Epiphänomen der gewachsenen Aufmerksamkeit an der Analyse materieller Kultur wahr, dann ist zu vermuten, dass es eine Modewissenschaft auch nicht geben kann, sondern nur disziplinär differente Perspektiven, Methoden und Analysen. Die neuere Wissenschaftsgeschichte hat vor einigen Jahrzehnten begonnen, über die Kontinuität der Denkstile ebenso nachzudenken wie über die zuweilen kurzlebigen Theorien.4 Wissenschaftliche Stile werden daher im Folgenden in Bezug auf Begriffe, Fragen und Erklärungsansätze vestimentärer Kultur untersucht. Das Phänomen Mode wurde von unterschiedlichen Disziplinen wie Germanistik, Romanistik, Soziologie, Kulturwissenschaft, Psychologie, Kunstgeschichte, Erziehungswissenschaft und Europäischer Ethnologie immer wieder zum Gegenstand der Forschung gewählt. Die hier präsentierte Relektüre der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Mode als kultureller Form und »Phänomen der Moderne«5 verfolgt die These, dass der Mode inhärente Wirkungsmechanismen wie Dynamisierung, Abwechslung, Rhythmisierung, Flüchtigkeit oder Serialität strukturelle Kennzeichen gesellschaftlicher Modernisierungs-
2 | Vgl. ebd., S. 664. 3 | Edwin Arnet: Pioniere, Boten und Richter der Mode. In: René König/Peter W. Schuppisser (Hg.): Die Mode in der menschlichen Gesellschaft. Zürich 1958, S. 225-266, vgl. bes. S. 225. 4 | Ilya Prigogine/Isabelle Stengers/Serge Pahaut: Die Dynamik – von Leibniz zu Lukrez. Eine Stilfrage. In: Dies./Michel Serres: Anfänge. Berlin 1991, S. 19-62, hier S. 20f. 5 | Hartmut Böhme: Zeiten der Mode. In: Kunstforum International Bd. 197 (2009), S. 48-83, hier S. 49.
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prozesse sind.6 Diese These stützt sich auf die Überlegung des Kölner Soziologen René König, dass Mode »eines der wesentlichsten Gestaltungsprinzipien der modernen Massengesellschaften« 7 darstellt. Der Hauptfokus dieses Bandes liegt auf der Bestandsaufnahme des Phänomens Mode in den Wissenschaften seit dem 19. Jahrhundert. In den vorgestellten Fachperspektiven wird nach der Konstruktion des Gegenstandes »Mode« in Abhängigkeit zu den favorisierten disziplinären Quellen, Theorien und Methoden gefragt. Damit geraten zunächst die beiden zentralen Begriffe »Mode« und »Moderne« in den Fokus der Aufmerksamkeit. Es ist zu vermuten, dass die mit ihnen erfassten Phänomene sich verändern, je nachdem aus welcher disziplinären Perspektive sie betrachtet werden.
M ode als M oderne Mode wie Moderne sind bedeutungsreiche Sammelbegriffe. Moderne bezeichnet vor den diversen disziplinären Hintergründen sowohl eine künstlerische als auch eine literarische Stilrichtung, sowohl ein rationales Verhalten zur Welt als auch eine historische Epoche, die je nach disziplinärem Kontext um 1500 als Paraphrase für die Neuzeit, um 1800 als Beginn des bürgerlichen Zeitalters oder um 1900 als selbstreflexives Etikett einsetzt.8 Mode umfasst sowohl Kleidung im Allgemeinen als auch Haute Couture im Besonderen, erweitert sich auf »artefaktische Signale«9 der Alltagskultur und annonciert mediale Kommentierungen, Inszenierungen und Repräsentationen. Das Themenfeld der Mode in den Wissenschaften behandelt somit eine komplexe kulturelle Form, die materielle, insbesondere vestimentäre Prozesse und Praktiken in gesellschaftliche Kontexte einbettet und alltägliches Verhalten ebenso wie mediale, wirtschaftliche und technische Konstellationen umfasst. Entgegen der zentralen soziokulturellen Stellung der Mode, so die Beobachtung, beschreiben Modegeschichte und Modetheorie periphere wissenschaftliche Felder. Im Hinblick auf die internationale Konjunktur des Themenfeldes »Mode« fällt seine wissenschaftliche Marginalisierung in Deutschland besonders auf. Zwar wurden Theorien, Ansätze und Methoden einer Modeforschung 6 | Vgl. Elizabeth Wilson: Fashion and Modernity. In: Caroline Evans/Christopher Breward (Hg.): Fashion and Modernity. Oxford 2005, S. 9-14. 7 | René König: Kleider und Leute. Zur Soziologie der Mode. Frankfurt a.M., Hamburg 1967, S. 15. 8 | Vgl. Christof Dipper: Moderne, Version: 1.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte, 25.8.2010, bes. S. 1-8. http://docupedia.de/zg/Moderne [Zugriff: 15.4.2014]. 9 | George Kubler: Die Form der Zeit. Anmerkungen zur Geschichte der Dinge. Frankfurt a.M. 1982, S. 56.
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in den Literatur- und Medienwissenschaften, in der Soziologie, Philosophie, Psychologie, Kunstgeschichte, Wirtschaftsgeschichte und den Ethnologien gepflegt, aber selten wurde gefragt, welchen Stellenwert sie systematisch im jeweiligen disziplinären Kontext innehaben und welche neuen Perspektiven sie eröffnen. Im vorliegenden Band wird das Phänomen Mode daher als kulturelle Figuration des Vestimentären in unterschiedlichen Wissenschaftsfeldern betrachtet. Jüngst wurde insbesondere von der Kunstgeschichte auf »die Geburt der Abstraktion aus dem Geiste des Textilen«10 hingewiesen. Mit dem Blick auf das Textile wurde auf beeindruckende Weise die klassische Hierarchie der Künste in Frage gestellt und seine Position im Gefüge der Künste grundsätzlich revidiert. In der Kunstgeschichte wurde somit offensichtlich, was eine Inspektion wissenschaftlicher Vorannahmen zu leisten vermag. Die klassischen Kostümgeschichten wiederum werden neuerdings zu Stilratgebern und ›Hagiographien‹ der Modedesigner,11 die ausgesprochen kenntnisreich sind, aber keineswegs den Anspruch erheben, dieses Wissen kulturanalytisch zu wenden. Die vestimentäre Kultur ist charakterisiert durch eine genderbasierte Dichotomie des Modekonsums. Der Feminisierung des Modekonsums steht die männlich dominierte Modekreation gegenüber. Diese Dichotomie des vestimentären Modekonsums wird durch die wissenschaftliche Zurückhaltung gegenüber der Mode als einem männlich relevanten konsumtiven Handlungsfeld verstärkt.12 Die Genderisierung der Mode ist gleichermaßen Ausgangspunkt und Produkt der gesellschaftlichen Geschlechterdichotomie. Die Auswahl und Zusammenstellung der Beiträge dieses Bandes nach dem Prinzip der guten Nachbarschaft in theoretischen Verweissystemen handlungsorientierter Wissenschaften ist ein Anfang auf dem Weg einer wissenschaftshistorischen Betrachtung. Gabriele Mentges kommentiert die hier ausgewählten Disziplinen historisch-systematisch und fragt programmatisch nach dem Sinn und den Möglichkeiten einer transdisziplinären Modeforschung. Elke Gaugele als ethnographische Modehistorikerin beleuchtet die Implikationen der Kostümgeschichte im 19. Jahrhundert und arbeitet ihre ko10 | Markus Brüderlin: Zur Ausstellung. Die Geburt der Abstraktion aus dem Geiste des Textilen und die Eroberung des Stoff-Raumes. In: Ders. (Hg.): Kunst & Textil. Stoff als Material und Idee in der Moderne von Klimt bis heute. Stuttgart 2013, S. 14-45. 11 | Fiona Ffoulkes: Mode lesen. Stile und Trends erkennen und verstehen. Bern u.a. 2010. 12 | Tina Dingel: »Frau Mode« als Waffe im männlichen »Lebenskampf« – Diskurse um (Herren-)Mode in Deutschland, 1920er bis 1950er Jahre. Tagung Geschlechterkonkurrenzen, AIM Gender, Stuttgart-Hohenheim 2006. https://www.fk12.tu-dortmund. de/cms/ISO/de/arbeitsbereiche/soziologie_der_geschlechterverhaeltnisse/Medien pool/AIM-Beitraege_vierte_Tagung/dingel.pdf [Zugriff: 12.11.2014].
Die Mode und die Wissenschaf ten
lonialen Argumentationsmuster heraus. Ulrich Lehmann spannt als Vertreter der Fashion Studies einen Bogen zwischen Literatur und Modetheorie. Julia Bertschik vertritt die Philologien, hier mit dem Erbe einer spezifisch nationalen Geringschätzung in der Germanistik, die etwa in der Romanistik und der vergleichenden Literaturwissenschaft weniger bemerkbar ist.13 Der Beitrag von Annelie Lütgens als Kunsthistorikerin beschreibt jene museale Rezeptionswelle, die im Zuge des wissenschaftlichen und künstlerischen Interesses an der materiellen Kultur auch die textile und vestimentäre Kultur verstärkt zur Anschauung bringt. Andrea Hauser und Lioba Keller-Drescher verfolgen als Empirische Kulturwissenschaftlerinnen die Dimensionen der fachspezifischen Dichotomie von Mode und »Tracht«. Hauser situiert das Museum als Konstrukteur der ländlichen Bekleidung und Katalysator der Binnenexotisierung um 1900. Keller-Drescher analysiert Denkstil und Wissensmodus volkskundlicher Kleidungsforschung. Sie diskutiert die These, dass die fachspezifische Fixierung auf »Tracht« die Etablierung einer generalistischen Kleidungsforschung verhindert habe. Michael Müller als kulturanthropologischer Soziologe parallelisiert die wissenschaftshistorische und gesellschaftsanalytische Entwicklung. Er beschreibt Mode als Ausdrucks- und Organisationsform und untersucht ihren Stellenwert insbesondere in symboltheoretischen Ansätzen. Eine seiner zentralen Thesen lautet, die Marginalisierung der Mode sei der Modetheorie selbst anzulasten. Mit dieser Konfiguration unterschiedlicher disziplinärer Perspektiven will der Band dazu beitragen, die Aufarbeitung einer Wissens- und Wissenschaftsgeschichte der Mode zu initiieren.
R elek türen Mode im Alltag, im Film, in der Konsumgeschichte, in Medien, in alten und neuen Metropolen sowie im Kontext der Globalisierung und Genderkultur sind Stichworte, welche die Relevanz des Phänomens als kulturelle Figuration in den unterschiedlichen Wissenschaftsfeldern verdeutlichen. Seit dem von Silvia Bovenschen herausgegebenen Band »Die Listen der Mode«14 lässt sich derzeit nach längerer Abstinenz eine zunehmende wissenschaftliche Präsenz der Mode registrieren.15 Die Sozial-, Kultur- und Geschichtswissenschaften entdecken sie zaghaft als maßgebliches Feld sozialen Handelns, als ästhetisch-medialen
13 | Gertrud Lehnert: Mode. Theorie, Geschichte und Ästhetik einer kulturellen Praxis. Bielefeld 2013; Barbara Vinken: Angezogen. Das Geheimnis der Mode. Stuttgart 2013. 14 | Silvia Bovenschen: Die Listen der Mode. Frankfurt a.M. 1986. 15 | Gertrud Lehnert/Alicia Kühl/Katja Weise (Hg.): Modetheorie. Klassische Texte aus vier Jahrhunderten. Bielefeld 2014.
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Komplex16 oder hochkulturelle Ausdrucksform. Im angloamerikanischen Bereich hat sich dagegen längst eine Forschungsrichtung etabliert, deren theoretische Ansätze und empirische Forschungsfelder in der Zeitschrift »Fashion Theory« (seit 1997), in »Textile. History of Cloth and Culture« (seit 2003) und »Fashion, Style & Popular Culture« (seit 2013) exemplarisch abgebildet werden. Diese Aufmerksamkeit ist ohne Entsprechung im deutschsprachigen Umfeld, wenngleich sich in den letzten Jahren hier einiges bewegt hat und nun in Publikationsreihen wie den kunsthistorisch motivierten »Textile Studies«17 das neue Interesse der Museen an den textilen Künsten begleitet wird. Die Volkskunde/ Europäische Ethnologie hat sich seit der Entstehung des Faches im 19. Jahrhundert intensiv mit Kleidung befasst, allerdings mit starker Konzentration auf regionale Kleidungsstile, lokale Moden und Alltagskleidung. Dabei ist Mode- und Kleidungskultur ein multidisziplinäres Feld par excellence, wie von deutscher Seite René König konstatierte.18 Aus der Sicht der französischen Mentalitätsgeschichte akzentuierte Fernand Braudel, die Mode sei ein »Orientierungsmittel für jede Kultur«.19 Mode ist omnipräsent und alltäglich. Sie macht uns historische Veränderungen sinnlich greifbar und erfahrbar. Ein Rückblick auf die Geschichte der Mode in den Wissenschaften lässt ein Auf und Ab des Interesses seit Ende des 18. Jahrhunderts erkennen, als Christian Garve mit seinem Essay »Über die Mode« eine erste, durchaus moderne Modetheorie verfasste.20 Mit dem Ende der Kleiderordnungen löste sich die Mode von den Diskursen über Ökonomie, Recht, Moral und Religion, um sich vestimentär zu verengen und ein Sujet verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen – der Kunst, Gestaltung, Medizin und Technik – zu werden. Gleichzeitig wurde Mode explizit Gegenstand einer philosophisch-soziologischen Betrachtungsweise und damit Teil wissenschaftlicher Debatten. Georg Simmels bis heute einflussreicher Essay »Die Mode«21 von 1911 nobilitierte das Thema für die Soziologie. Für Publizisten bot die Mode seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts ein ergiebiges Feld für feuilletonistische Überlegungen und verbale Attacken vor dem Hintergrund meist pessimistischer Kulturkritik. 16 | Birgit Richard: Die oberflächlichen Hüllen des Selbst. Mode als ästhetisch-medialer Komplex. In: Kunstforum International Bd. 141 (1998), S. 49-93. 17 | Vgl. Anna-Brigitte Schlittler/Katharina Tietze (Hg.): Mode und Bewegung. Beiträge zur Geschichte und Theorie der Kleidung (= Textile Studies; Band 5). Berlin 2013. 18 | Vgl. René König: Menschheit auf dem Laufsteg: Die Mode im Zivilisationsprozeß. Opladen 1999, S. 7. 19 | Fernand Braudel: Die Geschichte der Zivilisation: 15.-18. Jahrhundert. München 1971, S. 353. 20 | Christian Garve: Über die Moden. Frankfurt a.M. 1987 (1792). 21 | Georg Simmel: Die Mode. In: Ders.: Jenseits der Schönheit. Schriften zur Ästhetik und Kunstphilosophie. Frankfurt a.M. 2008 (1905), S. 78-106.
Die Mode und die Wissenschaf ten
Wenige Monate nach Beginn des Ersten Weltkriegs notierte der promovierte Publizist Norbert Stern: »wie ist es möglich, dass die deutsche Wissenschaft, die bis in die Kriegstechnik hinein alle Gebiete der Kultur einer sorgfältigen Forschung und Ordnung unterzogen hat, ein Bereich außer Acht lassen konnte, das so vielseitig, interessant und weittragend wie die Mode des Kleides sich erweist?«22 Die Kritik an der wissenschaftlichen Marginalität der Mode hat bereits eine Geschichte. Sie sekundiert die Ausdifferenzierung der Wissenschaften um 1900 und begleitet die Modetheoriegeschichte bis heute. Der Modesoziologe René König kritisiert mit seinem Diktum »die Mode geht mit der Macht« ihre sozialfigurative Allgegenwart, die sich als »universales Gestaltungsprinzip der Gesellschaft« manifestiert.23 Trotz wichtiger Theorieimpulse gilt jedoch immer noch der Hinweis von Almut Junker, die vor gut 20 Jahren mahnte, dass eine Sozialgeschichte der Mode noch kaum geschrieben sei.24 Insbesondere im deutschsprachigen Umfeld besteht das Desiderat weiterhin, auch wenn inzwischen ein Anwachsen relevanter Studien festzustellen ist, die theoretische Ansätze empirisch verifizieren.25 Neuere Untersuchungen lassen das kostümhistorische Bezugssystem hinter sich,26 das noch Änderungen und Entwicklungen verfolgte, aber nicht entscheiden konnte, welche Kleidungsstile gesamtgesellschaftlich gegolten haben.27 Es fehlt jedoch bis heute das, was der Schriftsteller Honoré de Balzac als »Vestignomie«28 bezeichnet hat − eine Kleiderlesekunst kultureller Physiognomien, die sozial und politisch zu buchstabieren ist. In Anlehnung an Marcel Mauss charakterisiert René König die Mode als ein »soziales Totalphänomen. Sie berührt nicht nur das Kleidungs- und Konsumverhalten des Menschen, sondern genauso seine Kultur«.29 Vor dem Hintergrund der Königschen Ausweitung der Mode als Paraphrase für kulturellen Wandel in allen gesellschaftlichen Sektoren steht hier die Mode als Kleidungs22 | Norbert Stern: Die Weltpolitik der Weltmode (= Der deutsche Krieg. Politische Flugschriften. Hg. v. Ernst Jäckh; Heft 30/3). Stuttgart, Berlin 1915, S. 7f. 23 | König: Kleider und Leute, S. 98. 24 | Almut Junker: »Revolution in der Mode«. In: Viktoria Schmidt-Linsenhoff (Hg.): Sklavin oder Bürgerin? Französische Revolution und neue Weiblichkeit 1760-1830. Marburg 1989, S. 520-525, hier S. 521. 25 | Vgl. zum Beispiel: Veronika Haberler: Mode(n) als Zeitindikator. Die Kreation von textilen Modeprodukten. Wiesbaden 2012. 26 | Gabriele Mentges/Birgit Richard (Hg.): Schönheit der Uniformität. Kleidung, Körper, Medien. Frankfurt a.M. 2005. 27 | Junker: »Revolution in der Mode«, S. 521. 28 | Honoré de Balzac: Physiologie des eleganten Lebens. Unveröffentlichte Aufsätze. München 1911, S. 110. 29 | König: Menschheit auf dem Laufsteg, S. 230.
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und Körperverhalten. In diesem konzentrierten Sinn ist Mode gleichwohl eine »totale gesellschaftliche Tatsache«30 und ihr, so ist festzustellen, mangelt es an wissenschaftlicher Aufmerksamkeit. Sie werde unterschätzt, konstatiert der Soziologe Pierre Bourdieu bereits vor über 30 Jahren, denn man meine sie leicht zu verstehen.31 Infolge der Konsolidierung des »material turns« und der »new museology« in den 1990er Jahren wächst jedoch derzeit das Interesse an der vestimentären Kultur. Vielleicht liegt es gerade daran, dass sie multipler wissenschaftlicher Perspektiven bedarf, denn Mode ist eben zugleich Kunst, Alltag, Stil, Gefühl, sozialer Ausdruck, Gestaltungsmittel, Ökonomie und Selbstinszenierung. Insofern kann Modeforschung zwar disziplinäre Schwerpunkte setzen, als kulturelles Phänomen jedoch bedarf sie einer integrativen Aufmerksamkeit und damit einer Synthese einzelner Perspektiven. Die aktuelle Konjunktur akademischer Modestudien, von Fiona Anderson als »new fashion history«32 bezeichnet, erhöhte den kulturellen Status der Mode, änderte Analysen, Interpretationen und das Ausstellen von Mode, Kleidung und Textilien. Die wissenschaftliche Distanz zum Themenfeld der Mode in Deutschland irritiert insbesondere im internationalen Kontext, da sich doch gerade seit wenigen Jahren auch hier abzeichnet, dass die Mode ein medial hochbesetztes Thema geworden ist. Gleichwohl hat der Journalist und Modekritiker Godfrey Deeny vor wenigen Jahren das Fehlen relevanter, diskursbestimmender Modezeitschriften als Ursache für eine kaum wahrnehmbare »deutsche Mode« ausgemacht.33 Dabei geht es nicht um Prozesse der Re-Nationalisierung, sondern vielmehr darum, dass Deutschland nicht als eine relevante Modenation anerkannt ist und daher nur sehr wenige deutsche Modejournalisten für einschlägige Modenschauen akkreditiert werden. Zwar gibt es international arbeitende deutsche Modemacher und Modemacherinnen von Karl Lagerfeld über Jil Sander bis Helmut Lang, doch eben keine international wahrgenommene »deutsche Mode«, sieht man von neuen ironisch-kritischen Nationalnarrati-
30 | Marcel Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften (1925). In: Ders.: Soziologie und Anthropologie, Bd. 2. Frankfurt a.M. 1989, S. 11-144, hier S. 137. 31 | Pierre Bourdieu: Die Metamorphose des Geschmacks (1980). In: Ders.: Soziologische Fragen. Frankfurt a.M. 1993, S. 153-164, hier S. 160. 32 | Fiona Anderson: Museums as Fashion Media. In: Stella Bruzzi/Pamela C. Gibson (Hg.): Fashion Cultures. Theories, Explorations and Analysis. London, New York 2000, S. 371-389, hier S. 371. 33 | Godfrey Deeny: Deutsche Mode? Ansichten eines Ausländers mit etwas Ahnung vom Geschäft. In: Welt am Sonntag, Nr. 37 vom 7.2.2010, S. 19.
Die Mode und die Wissenschaf ten
ven wie etwa die der Kölner Modedesignerin Eva Gronbach ab.34 Die in der wissenschaftlichen Literatur diskutierte These wäre hier zu erwägen, ob nicht neben dominanten Regionalkulturen Nachwehen nationalsozialistischer Vernichtungspolitik der jüdischen Textilindustrie, Warenhäuser, Künstler- und Medienszene mitzudenken wären.35 Der Frankfurter Journalist Alfons Kaiser hat diese historische Begründung als eine der Ursachen für die Marginalisierung der Mode hierzulande aufgegriffen.36 Er konstatiert einen Modeskeptizismus in der medialen Öffentlichkeit, deshalb ist er in diesem Band einer Wissenschaftsgeschichte des Themenfeldes Mode ebenfalls vertreten. Ohne Mediengeschichte ist die Modegeschichte kaum zu fassen, denn sie integriert in die Analyse der materiellen die visuelle und schriftliche Modekultur.37 Das neue Medieninteresse geht der Wissenschaftspräsenz jedoch derzeit eindeutig voraus.
Ä sthe tik der M ode Wie auch immer man die Frage nach ihrer Universalität38 beantworten mag, ihrem Charakter als kulturelles Phänomen entsprechend, sucht sich Mode je nach historischer Situation und je nach gesellschaftlicher Lage spezifische Ausprägungen. Drei der wissenschaftsgeschichtlich und gesellschaftsanalytisch markantesten Entwicklungen, mit denen sich die Modetheorie konfrontiert sah und sieht, sind erstens die strukturelle Demokratisierung der Mode und des Modekonsums seit Beginn des 19. Jahrhunderts,39 zweitens die Genese 34 | Siehe neuerdings zu der Perspektive auf Berlin als ›Modehotspot‹: Martina Rink: Fashion Germany. Kreative Stories Trends. München 2014. 35 | Uwe Westphal: Berliner Konfektion und Mode. 1836-1939. Die Zerstörung einer Tradition. Berlin 1986; Roberta S. Kremer (Hg.): Broken Threads. The Destruction of the Jewish Fashion Industry in Germany and Austria. Oxford, New York 2007. 36 | Vgl. Alfons Kaiser: Schlechte Passform. Die internationale Mode in deutschen Zeitschriften. In: Gertrud Lehnert (Hg.): Die Kunst der Mode. Oldenburg 2006, S. 298311, hier. S. 304. 37 | Gudrun M. König/Gabriele Mentges (Hg.): Medien der Mode (= Textil – Körper – Mode; Band 6). Berlin 2010. 38 | Vgl. René König: Macht und Reiz der Mode. Verständnisvolle Betrachtungen eines Soziologen. Düsseldorf, Wien 1971. 39 | Vgl. exemplarisch Liselotte Constanze Eisenbart: Kleiderordnungen der deutschen Städte zwischen 1350 und 1700. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte des deutschen Bürgertums. Göttingen u.a. 1962; Heide Nixdorf/Heidi Müller: Weiße Westen – Rote Roben. Von den Farbordnungen des Mittelalters zum individuellen Farbgeschmack. Berlin 1983; Diana Crane: Fashion and its social agendas: class, gender, and identity in clot-
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qualitativ neuer, teilweise als Trickle-up-Effekte gedeuteter Modeformen und -ästhetiken in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (»prêt-à-porter«, »casual wear«) bis hin zur Darbietung sogenannter Ästhetiken des Hässlichen, des Unfertigen, Verbrauchten, Zerrissenen, Asymmetrisch-Unproportionalen in den 1980er und 1990er Jahren,40 sowie drittens die gegenwärtig fortschreitende Medialisierung der Mode, unter anderem infolge des Bedeutungszuwachses von Mode-Blogs und blogartig gestalteten Onlineportalen.41 Die hier entstehenden, bildmedial geprägten Modeästhetiken treten nicht nur in Konkurrenz zu tradierten Emergenzformen von Mode wie Zeitschriften, analoger Modefotografie, Warenhäuser, sondern stellen auch kommunikativ neuartige Zentren – »sites«42 im ethnografisch-analytischen Sinne Anselm Strauss’ – der gesellschaftlichen Darbietung, der Beobachtung und des Konsums von Mode dar. Angesichts dieser und ähnlicher Entwicklungen fällt es umso mehr ins Gewicht, dass das unter anderem auf Georg Simmel zurückgehende Theorem der prinzipiellen »Gleichgültigkeit der Mode«43 gegenüber ihren Materialien und Ästhetiken immer wieder geradezu axiomatischen Charakter für die Theorie der Mode erlangt.44 Letztlich führt die Annahme, Mode sei lediglich an Neuhing. Chicago 2000; Cornelia Bohn: Kleidung als Kommunikationsmedium. In: Dies.: Inklusion, Exklusion und die Person. Konstanz 2006, S. 95-126; Angela Borchert/Ralf Dressel (Hg.): Das Journal des Luxus und der Moden: Kultur um 1800. Heidelberg 2004. 40 | Valerie Steele: Anti-Fashion: 1970s. In: Fashion Theory 1 (1997), Heft 3, S. 279296; Fred Davis: Fashion, Culture, and Identity. Chicago 1992; Ders.: Antifashion. In: Malcolm Barnard (Hg.): Fashion Theory. A Reader. Abingdon 2007, S. 91-102; Rebecca Arnold: Heroin Chic. In: The Journal of Dress, Body & Culture 3 (1999), Heft 3, S. 279-296; Sophie von Olfers: Introduction. Memory Test. In: Susanne Gaensheimer/Sophie von Olfers (Hg.): Not in fashion: photography and fashion in the 90s. Bielefeld 2010, S. 12-17. 41 | Vgl. exemplarisch Caroline Evans: Fashion at the edge, spectacle, modernity and deathliness. New Haven, London 200; Sophie Woodward: The Myth of Street Style. In: Fashion Theory 13 (2009), Heft 1, S. 83-102; Monica Titton: Mode in der Stadt. Über Street-Style-Blogs und die Grenzen der Demokratisierung von Mode. In: Texte zur Kunst (2010), Heft 78, S. 88-99; Agnés Rocamora: Personal Fashion Blog: Screens and Mirrors in Digital Self-portraits. In: Fashion Theory 15 (2011), Heft 4, S. 407-424; Mehita Iqani: Consumer Culture and the Media: Magazines in the Public Eye . Basingstoke 2012. 42 | Anselm Strauss: Social Worlds and Spatial Processes. An Analytic Perspective. In: W. Russell Ellis (Hg.): A Person-Environment Theory Series. The Center for Environmental Design Research Working Paper Series. Berkeley 1979. http://dne2.ucsf.edu/ public/anselmstrauss/pdf/work-socworlds_spatial.pdf [Zugriff: 20.3.2014]. 43 | Simmel: Die Mode, S. 82. 44 | Explizit und exemplarisch etwa König: Macht und Reiz der Mode, S. 123; vgl. auch Julia Bertschik: Mode in der Literaturwissenschaft: Eine germanistische Bestandsaufnahme, in diesem Band.
Die Mode und die Wissenschaf ten
heit interessiert und bereits durch anthropologische (Simmel), distinktionslogische (Bourdieu) oder kybernetische (Esposito) Formgesetze hinreichend erklärt, zu einer Marginalisierung der Mode ausgerechnet durch die Modetheorie. Dabei zeigen symboltheoretisch orientierte Forschungsarbeiten45, dass Mode gerade auch in ihrer ästhetisch-inhaltlichen Dimension strukturell gezielt – und medial differenziert – in die Wahrnehmungserwartungen und Normalitätsunterstellungen des Alltagslebens eingreift, das heißt strukturbildend wirkt. Mitnichten erschöpft sich die »Apartheid der Mode«46 in den »feinen Unterschieden«47 alltäglicher sozialer Distinktion. Die gesellschaftliche Dynamik von Mode manifestiert sich ebenso in ästhetischen Grenzüberschreitungen, welche die Alltagsordnung darstellerisch verkehren und innerhalb dieser Ordnung andere, außeralltägliche Wirklichkeitsbereiche – gesellschaftliche »Heterotopien«48 – konstituieren. Modewissenschaftlich notwendig wird also ein veränderter analytischer Zugang, in dessen Zentrum insbesondere auch die Ästhetik und symbolisch-rituelle bzw. mediale Verfasstheit von Mode stehen. Denn keineswegs beschränken sich modeästhetische Verkehrungen der Alltagsordnung auf den relativ eng gefassten Bereich der ›Mode-Kunst‹, der Haute Couture oder der Modefotografie. Gerade auch im Bereich des Modekonsums prägen fiktionale Ausdruckselemente, stilistische Exzentrik oder jeweilige Ästhetiken des ›Hässlichen‹ regelmäßig das gesellschaftliche Erscheinungsbild und die lebensweltliche Gegebenheit von Mode. Zu denken ist etwa an Modekollektionen und -inszenierungen (exemplarisch H&M), die auf die Konsumption solcher Ästhetiken zielen; an Ladenlokale, die in ihrer Architektur, Musik und Beleuchtung oder durch Bildprojektionen und Türsteher ritualtheoretisch beschreibbare Heterotopien realisieren49; und an Modeblogs, die Bildfiktion und Alltagsdarstellung ineinander überblenden und zu bildmedial geprägten
45 | Exemplarisch John Fiske: Understanding Popular Culture. London, New York 1989; Barbara Vinken: Mode nach der Mode. Geist und Kleid am Ende des 20. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. 1993; Anne Hollander: Anzug und Eros: eine Geschichte der modernen Kleidung. Berlin 1994. 46 | Michael R. Müller: Apartheid der Mode – Eine symboltheoretische Revision der formalen Modesoziologie. In: Sozialer Sinn: Zeitschrift für hermeneutische Sozialforschung 13 (2012), Heft 2, S. 257-280. 47 | Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a.M. 1987 (1979). 48 | Michel Foucault: Die Heterotopien/Der utopische Körper. Frankfurt a.M. 2005. 49 | Vgl. Sarah Schultz/Marlous van Rossum-Willems/Carmel McNamara: Powershop. New Retail Design, Bd. 1-4. Amsterdam 2009-2012.
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Streetstyle-Ästhetiken amalgamieren50. Es sind solch intermediäre Übergangsbereiche zwischen »reiner Ästhetik«51 und Alltagspragmatik, zwischen ModeKunst und Kleidungskonsum, in denen sich die ästhetische, kommunikative und gesellschaftliche Komplexität von Mode material erst voll entfaltet. Eine rekonstruktive Analyse solch intermediärer Emergenzformen von Mode und der Kultur- und Ordnungsbedeutung ihrer überaus komplexen Ästhetiken steht indes aus. Zwar widmen sich modegeschichtliche und konsumtheoretische Arbeiten, etwa von Colin Campbell52, Mike Featherstone53, Eva Illouz54 oder Hartmut Stöckl55, strukturell vergleichbaren ästhetischen Phänomenen oder Entwicklungen. Doch beziehen sich diese Arbeiten nur am Rande oder nur exemplarisch auf Mode, nicht aber auf deren empirisch-gesellschaftliche Komplexität. Spätestens dann aber, wenn die empirisch-gesellschaftliche Komplexität von Mode ins Zentrum des wissenschaftlichen Interesses rückt, berührt dies grundlagentheoretische Problemstellungen der sozial- und kulturwissenschaftlichen Ästhetik. Bereits für Simmel56 – und später auch für Pierre Bourdieu57 – stand diesbezüglich fest, dass das Ästhetische nicht nur eine oberflächliche Begleiterscheinung des gesellschaftlichen Lebens ist, sondern eine grundlegende Ausdrucks- und Vollzugsform desselben. Gleichwohl zeichnet sich in den Arbeiten beider Klassiker die Tendenz ab, zeitgenössische Stilbil50 | Vgl. u.a. Woodward: The Myth of Street Style; Titton: Mode in der Stadt; Michael R. Müller: Das Selbstbild in der Bilderwelt. Zur Soziologie transnationaler Bild- und Bewährungsordnungen. In: Hans-Georg Soeffner (Hg.): Transnationale Vergesellschaftungen. Verrhandlungen des 35. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Wiesbaden 2012, S. 323-337. 51 | Bourdieu: Die feinen Unterschiede, S. 24. 52 | Colin Campbell: Capitalism, Consumption and the Problem of Motives. Some issues in the understanding of conduct as illustrated by an examination of the treatment of motive and meaning in the works of Weber and Veblen. In: Jonathan Friedman (Hg.): Consumption and Identity. Chur 1994, S. 23-46. 53 | Mike Featherstone: Consumer Culture and Postmodernism . Los Angeles 2007 (1991). 54 | Eva Illouz: Emotionen, Imagination und Konsum: Eine neue Forschungsaufgabe. In: Heinz Drügh/Christian Metz/Björn Weyand (Hg.): Warenästhetik. Neue Perspektiven auf Konsum, Kultur und Kunst. Frankfurt a.M. 2011, S. 47-91. 55 | Hartmut Stöckl (Hg.): Werbung – Keine Kunst!? Phänomene und Prozesse der Ästhetisierung von Werbekommunikation. Heidelberg 2013. 56 | Georg Simmel: Soziologische Ästhetik (1896). In: Ders.: Jenseits der Schönheit. Schriften zur Ästhetik und Kunstphilosophie. Frankfurt a.M. 2008, S. 141-162. 57 | Pierre Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt a.M. 1974 (1970); Ders.: Die feinen Unterschiede.
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dungen und Moden theoretisch als Manifestationen anthropologisch fundierter Egalisierungs-/Individualisierungstriebe oder gesellschaftlicher Distinktionsmechanismen zu verhandeln. Im Vordergrund beider Theoriegebäude steht also die sozial typisierende und repräsentierende Funktion ästhetischer Darstellungs- und Orientierungsformen.58 Die gezielte ästhetisch-performative Außerkraftsetzung gesellschaftlicher Ordnung indes, wie sie unter anderem in den religionssoziologischen Arbeiten Émile Durkheims59 und Max Webers60 beschrieben wird und wie sie sich – in veränderter Form61 – auch in rezenten medien- und konsumästhetischen Ausprägungen der Mode wiederfindet, erfährt keine systematische Berücksichtigung. Gerade aber auch in Bezug auf den empirischen Untersuchungsgegenstand Mode muss bewusst bleiben, dass Mode nicht schon deshalb ein markantes ästhetisches Phänomen ist, weil ihre Hervorbringungen und Darbietungen unter stilistischen Gesichtspunkten beschreibbar sind – dies gilt im Prinzip für jedwedes Artefakt. Entscheidend ist vielmehr, dass Mode, ihrer kommunikativen Sinnstruktur nach, lebensweltlich eingeschliffene Wahrnehmungserwartungen oder Normalitätsunterstellungen symbolisch signifikant, das heißt deutlich wahrnehmbar, irritiert und in diesem enervierenden Sinne ästhetischen Reiz und Ausnahmecharakter besitzt.62 Wie die ästhetischen Enervationen indes ausfallen und innerhalb welcher gesellschaftlicher Sinnzusammenhänge sie kultiviert oder instrumentalisiert werden, ob sie also als Ausdruck sozialer Überlegenheit genutzt werden, als Anlass fiktionaler Selbstbildprojektionen, als quasi-politisches Skandalon oder in einem anderen, begrifflich hier noch gar nicht zu erfassenden Sinne, ist eine nur empirisch, das heißt historisch-rekonstruktiv zu klärende Frage.
58 | Vgl. Helmut Staubmann: Ästhetik – Aisthetik – Emotionen. Soziologische Essays . Konstanz 2008, S. 19 u. 70. 59 | Émile Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt a.M. 1998 (1968), S. 283-327. 60 | Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1. Tübingen 1988 (1920), S. 556; vgl. Werner Gephart: Religiöse Ethik und ästhetischer Rationalismus. Zur Soziologie der Kunst im Werk Max Webers. In: Sociologia Internationalis 31 (1993), S. 101-121. 61 | Vgl. Featherstone: Consumer Culture and Postmodernism. 62 | Alois Hahn: Kunst, Wahrnehmung und Sinndeutung. In: Anne Honer/Ronald Kurt/ Jo Reichertz (Hg.): Diesseitsreligion. Zur Deutung der Bedeutung moderner Kultur. Konstanz 1999, S. 153-182; Hollander: Anzug und Eros; Simmel: Die Mode.
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D ie I nspek tion der W issenschaf ten Die dem Band vorausgehende Tagung63 der Volkskundlichen Kommission für Westfalen und des Seminars für Kulturanthropologie des Textilen an der TU Dortmund setzte vor dem Hintergrund der genannten Problemlagen mit der Frage an, wann, wie, warum und in welchen historischen und wissenschaftlichen Konfigurationen sich das Interesse an dem Gegenstandsfeld Mode artikulierte und welche Themen und Theoriekonzepte disziplinär entworfen wurden. Die Kulturanthropologie des Textilen an der Dortmunder TU versteht sich als eine Wissenschaft, die sich auf die Analyse materieller Kultur spezialisiert hat.64 In Vorbereitung ist ein neuer Studienschwerpunkt »Kulturanthropologie der Moden«, der die Mode als kulturelles Phänomen und als Alltagspraktik, als Medialisierungseffekt und Diskursgegenstand fokussiert. Mit einem kulturanthropologischen Modeverständnis richtet sich der Blick sowohl auf die Haute Couture wie auf das alltägliche Verhalten, auf die historischen Prägungen wie auf gegenwärtige Formen. »Weit« ist dieser Modebegriff jedoch nicht nur in der integrativen Beobachtung hoch- und alltagskultureller Austauschprozesse, sondern auch in der Ausdehnung der vestimentären Kultur auf Körper-, Medien- und Transferprozesse. Bereits Braudel hat die »Mode im weiteren Sinn«65 beschrieben. Braudels weiter Modebegriff bezieht sich nicht nur auf die vestimentäre Kultur, sondern er reiht diese in die Realitäten der materiellen Kultur im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kontext ein: »In diesem umfassenden Sinn ist Mode gleichbedeutend mit der Ausrichtung einer Kultur und prägt das Denken ebenso wie den Aufzug, das gängige Schlagwort wie die kokette Geste, den Stil der Tischeinladungen wie das Versiegeln der Briefschaften.«66 Mode wird bei Braudel zum Modus kultureller Praktiken. Der französische Soziologe Charles Suaud, der lange Jahre im Umfeld Pierre Bourdieus arbeitete, weist daraufhin, wie sich die Welt auf der Basis individuellen Handelns immer wieder neu erschafft, wobei »der Körper beim Erlernen der praktischen Beherrschung sozialer Verhaltensformen« eine zen63 | Vgl. die Rezension von Dorothee Reichenberger: Mode als Moderne. Konjunkturen wissenschaftlicher Aufmerksamkeit. Eine interdisziplinäre Tagung der Volkskundlichen Kommission für Westfalen (LWL) in Zusammenarbeit mit dem Seminar für Kulturanthropologie des Textilen an der Technischen Universität Dortmund, 25. und 26. November 2011 in Dortmund. In: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde 57 (2012), S. 169-172. 64 | Grundlage für diese Ausrichtung war der 1991-2010 bestehende Magisterstudiengang »Vergleichende Textilwissenschaft/kulturgeschichtlich«. 65 | Fernand Braudel: Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts, Bd. 1: Der Alltag. München 1985, S. 351. 66 | Ebd.
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trale Rolle spielt.67 Versteht man mit Jennifer Craik »Mode als Körpertechnologie«68, dann wird ersichtlich, welche Bedeutung auch ihr als Zivilisierungsinstanz zukommt. Systematisch hat der Kulturanthropologe Grant McCracken Kleidung als ein multidimensionales Fallbeispiel der materiellen Kultur analysiert und ihren wissenschaftlichen Stellenwert destilliert. Spezifik und Nutzen erkennt er in der Feinjustierung kultureller Kategorien, Regeln und Prozesse.69 Ein kulturanthropologischer Modebegriff fokussiert die Kleidung mit ihrer Geschichte und umfasst die korporalen, identitären, kommunikativen, medialen, ökonomischen, technischen, visuellen und ästhetischen Prozesse der Kultur. Je nach Forschungszusammenhang treten die einzelnen Zuweisungssysteme der Bedeutung vor oder zurück, variieren die Forschungsfragen und Methoden. Die Inspektion der Wissenschaften im Zeichen einer historischen Epistemologie der Moden eruiert daher die Stellung ihres Gegenstandes in den Theorien und Methodologien disziplinärer Perspektiven. Die Chancen eines kulturtheoretischen Zugriffs, der die Dichotomie hoch- wie alltagskultureller Prägungen in Frage stellt, begleiten diese Erkundungen in einem komplexen Feld.
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67 | Charles Suaud: Zwischen Praxis und Reflexivität. Der Körper als Organ gesellschaftlicher Veränderung. In: Robert Schmidt/Wiebke-Marie Stock/Jörg Volberts (Hg): Zeigen. Dimensionen einer Grundtätigkeit. Weilerswist 2011, S. 73-88, hier S. 74. 68 | Jennifer Craik: Mode als Körpertechnik: Körperarbeit, Modearbeit. In: Gabriele Mentges (Hg.): Kulturanthropologie des Textilen. Berlin 2005, S. 287-304. 69 | Vgl. Grant McCracken: Culture & Consumption. New Approaches to the Symbolic Character of Consumer Goods. Bloomington, Indianapolis 1990, S. 57-61.
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Die Angst der Forscher vor der Mode oder das Dilemma einer Modeforschung im deutschsprachigen Raum Gabriele Mentges »Die Hierarchie der Forschungsobjekte dürfte einer der wichtigsten Gegenstände einer Soziologie der Erkenntnis sein. Denn diese Hierarchie der für forschungswürdig bzw. unwürdig gehaltenen Objekte ist einer der Kanäle, über die soziale Zäsur wirkt.«1
»Wissenschaften der Mode« – bereits eine solche Formulierung wird vermutlich auf Widerspruch stoßen, denn Mode gilt nach wie vor kaum als seriöses Feld für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung. Dennoch gab es historisch immer wieder Vorstöße das Thema in die verschiedenen Disziplinen einzubringen.2 Unterschiedliche disziplinäre Ansätze zu einer wissenschaftlichen Erforschung der Mode zu versammeln, ist daher das Anliegen des vorlie-
1 | Pierre Bourdieu: Haute Couture und Haute Culture. In: Ders.: Soziologische Fragen. Frankfurt a.M. 1993, S. 187-196, hier S. 187. 2 | Die allgemein bemerkbare wissenschaftliche Abneigung gegenüber dem Thema Mode ist, dies sollte vorausgeschickt werden, nicht in allen internationalen Wissenschaftskulturen gleichermaßen stark ausgeprägt. So lässt sich zumindest bei den verschiedenen angloamerikanischen scientific communities ein seit ca. 3 Jahrzehnten ausgesprochen differenziertes und inspirierendes wissenschaftliches Diskursfeld in Bezug auf Mode erkennen. Gründe für diese Stärke mögen zum einen in der sprachlichen Homogenität (Englisch) liegen, zum anderen auch in geschickten verlegerischen Strategien, die u.a. durch das New Yorker Fashion Institute of Technology von der Kuratorin Valerie Steele initiiert worden sind. Zu einer regelrechten theoretischen wie thematischen Plattform hat sich dabei die vom FIT seit 1997 herausgegebene Zeitschrift »Fashion Theory. Journal for Fashion, Body and Culture« entwickelt. Die Publikation von Gertrud Lehnert/Alicia Kühl/Katja Weise (Hg.): Modetheorie: Klassische Texte aus vier Jahrhunderten. Bielefeld 2014 erschien leider erst nach Fertigstellung des Manuskriptes und konnte daher nicht mehr eingearbeitet werden.
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genden Tagungsbandes.3 Er fragt danach, welche thematischen Topoi und welche methodischen Zugänge gewählt wurden und innerhalb welcher Diskurse4 das Thema Mode in Disziplinen wie die Germanistik, die Soziologie, die Volkskunde/Europäischen Ethnologie, die Kunstgeschichte (Kunstmuseum) oder in Design, Philosophie usw. eingebettet wurde. Dabei steht als langfristiges Ziel vor Augen, Gründe und Hintergründe für die allgemeine wissenschaftliche Scheu im Umgang mit Mode zu ermitteln und auf dieser Basis zu versuchen, einen systematischen Zugang zu entwerfen, der das Spektrum der interdisziplinären Felder mit ihren jeweiligen Diskurskernen erfasst. Eine solche Perspektive auf das Phänomen Mode ist zugleich Teil einer Geschichte des Wissens in seiner institutionellen Verfasstheit. Denn sie schließt grundsätzliche Fragen ein, wie jene nach den Bedingungen für die Reproduktion von institutionellen Wissensstrukturen, nach den Gründen für disziplinäre Hierarchiebildung sowie umgekehrt ihre Marginalisierungen. Sie erlaubt auch die Frage nach alternativen Wissensformen und -repräsentationen, die sich jenseits von etablierten Strukturen entwickeln und die bei der Mode auffällig oft vorkommen. Der Begriff der Konjunkturen im Tagungstitel war bewusst gewählt. Er lässt die Vermutung zu, dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit Mode nicht von Kontinuität geprägt ist, sondern sich Wellen von Aufmerksamkeit verdankt, die wiederum je nach Zeit und Kontext unterschiedlich begründet und aus variierenden Interessen gespeist sind. 3 | Die Tagung »Mode als Moderne – Konjunkturen wissenschaftlicher Aufmerksamkeit« fand vom 25.–26. November 2011 an der Technischen Universität Dortmund statt. Nicht alle bei dem Thema in Frage kommenden Disziplinen waren auf der Tagung vertreten – zum Beispiel fehlte die historische Wissenschaft, die in den letzten Jahren bemerkenswerte Beiträge zu Modethemen geleistet hat. Vgl. Sabina Brändli: »Der herrlich biedere Mann«. Vom Siegeszug des bürgerlichen Herrenanzuges im 19. Jahrhundert. Zürich 1998; Hans Medick: Weben und Überleben in Laichingen 1650-1900. Lokalgeschichte als allgemeine Geschichte. Göttingen 1996; Daniel Roche: La Culture des apparences. Une histoire du vêtement XVII-XVIII siècle. Paris 1989; nicht vertreten waren auch Ökonomie und Psychologe. 4 | Da der Diskursbegriff für folgende Ausführungen konstitutiv ist, sei er hier unter Bezugnahme auf Jürgen Link, der zur Weiterführung des Foucaultschen Konzeptes beigetragen hat, nochmals ausführlich definiert als eine »historisch-spezifische und spezielle, geregelte Formation von Aussagen, […] die einem spezifischen und speziellen Gegenstandsbereich zugeordnet sind.« Wichtig werden »die Materialität der Aussage«, die institutionellen Rahmenbedingungen sowie ihre »Kopplungsflächen zur Handlung« und der daraus hervorgehende »Machteffekt«. Vgl. Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. 2. aktual. und erw. Auflage. Opladen, Wiesbaden 1999, S. 50. Vgl. auch Achim Landwehr: Historische Diskursanalyse. Frankfurt a.M. 2008.
Die Angst der Forscher vor der Mode
Der diesem Tagungsband zugrunde gelegte Begriff von Mode versteht diese als kulturelle Kleidungspraxis und Kleidungskonzept, d.h. als eine spezifische Variante von Kleidungskulturen, die – je nach zeitlichem, gesellschaftlichem oder kulturellem Kontext – in unterschiedlichen Ausprägungen erscheinen können. Sich Kleiden – die Betonung liegt hier auf der Aktivität – wird als allgemeine Technik der Akkulturation und als eine Technologie des Körpers und des Selbst, also als eine umfassende Technik des Habitus5 verstanden, wobei der Kleidungsbegriff auch körperliche Schmuckpraktiken (Kosmetik, Bemalungen, Tätowierungen, Piercing usw.) einschließt.
M ode oder K leidung ? E ine begriffliche K l ärung Eine genaue Klärung des hier verwendeten Modebegriffes erscheint deswegen geboten, weil in jüngerer Zeit, insbesondere in der angloamerikanischen Forschung, immer wieder und zu Recht Kritik an der eurozentrischen Orientierung der Modedefinition geäußert wird, die Mode als eine europäische Erfindung begreife. Diese Kritik trifft vor allem eine wissenschaftliche Sicht auf traditionelle, nicht-westliche Kleidungskulturen, die diese als »traditional and unchanging reflections of social hierarchies, beliefs and customs« begreift.6 Diese Kritik, die z.B. Jennifer Craik klar resümiert, darf jedoch nicht vergessen lassen, dass das System Mode unter bestimmten historisch-gesellschaftlichen Bedingungen in Westeuropa entstanden ist. In einer historischen Perspektive zeigt sich Mode als ein hoch komplex angelegtes Feld, in dem Wechsel und Veränderungen – also das Spiel mit den Novitäten – zwar ein konstitutives Merkmal darstellen, das sich aber vor allem durch neue Distinktionsmuster, Wegfall des staatlichen Normierungsbedarfs und besonders durch eine massenhafte Bedarfsgestaltung auf der Grundlage industrieller Fertigung charakterisiert. Diese neue Art von Produktion verursacht eine grundlegende Umgestaltung der traditionellen Beziehung zwischen Akteur und vestimentärer Kultur. Ausschlaggebend für die Sinngebung und Bedeutungsaufladung der vestimentären Objekte wird von nun an die Aufwertung der Konsumption. In ihrem vielseitigen Sammelband, der Beiträge zu Aspekten traditioneller Textilkulturen wie auch denjenigen im Übergang zur Marktwirtschaft umfasst, sprechen die Anthropologinnen Annette Weiner und Jane Schneider von einer prägenden 5 | Sowohl Technik wie Habitus sind bereits erwähnt bei Marcel Mauss: Die Techniken des Körpers. In: Ders. Soziologie und Anthropologie, Bd. 2. Frankfurt a.M. 1989, S. 199-226; an Mauss lehnt sich Jennifer Craik: The Face of Fashion. Cultural Studies in Fashion. London, New York 1994, S. 9-15; Gabriele Mentges: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Kulturanthropologie des Textilen. Berlin, Dortmund 2005, S. 21-27. 6 | Vgl. Craik: The Face of Fashion, S. 18, und für eine weitere Diskussion S. 19-26.
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Zäsur bei der Herausbildung der »modernen Textilkulturen«. Diese Zäsur mache sich zum ersten Mal historisch in den frühen Handelsgesellschaften der europäischen Renaissance bemerkbar. Erstmalig erhält die Konsumption ein stärkeres Gewicht, wodurch den handwerklichen und manufakturellen Produzenten langfristig der Einfluss auf die Sinn- und Bedeutungsgebung ihrer textilen Produkte entzogen wird.7 In diesem ökonomisch-kulturellen System der Mode steckt bereits der hegemoniale Anspruch eines marktwirtschaftlichen und kulturellen Konzepts, das auf Expansion angelegt ist. Dazu gehören die Verbreitung westlicher Körperbilder, westlich geprägter Geschlechterbilder, westlicher Ästhetik und westlichen Habitus – wie sie im (bürgerlichen) Männeranzug eine augenfällige universelle Manifestation finden. Ein weiteres Beispiel ist die über Jahrzehnte währende Dominanz der französischen Haute Couture als maßgebliches Vorbild für Ästhetik und Geschmack, das über Partizipation und Exklusion von Modekulturen entschied.8 Die Teilhabe an Mode wird zu einem Ausweis von Modernität.9 Die heutigen globalen Entwicklungen und gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse haben die westliche Mode-Hegemonialität nicht zurückgewiesen, sie jedoch um- und anders reformuliert (Re-Orientalisierung) sowie neue, unbekannte ästhetisch-mediale Prozesse und Muster erzeugt. So machen nicht-europäische Modekulturen die eigene Historizität und den kolonialen Blick zum Gegenstand von Design- und Repräsentationsstrategien. Ästhetische Selbstorientalisierung wird als Strategie eingesetzt, um sich in der aktuellen Moderne mit kolonialen Kleidungsstereotypen innerhalb der globalen ästhetisch-medialen Prozesse zu behaupten.10 7 | Annette Weiner/Jane Schneider: Introduction. In: Dies. (Hg.): Cloth And Human Experience. Washington, London 1989, S. 4-36, hier insbesondere S. 11-13. 8 | Ausdrücklich zur französischen Hegemonie vgl. Yuniya Kawamura: The Japanese Revolution. Oxford, New York 2004. 9 | Dies war z.B. der Fall für das neue China nach der Mao-Ära, als Yves St. Laurent seine Modeschau zum ersten Mal in China vorführen durfte. »It was meant to boost modernization […]«, vgl. Xiaoping Ling: Fashioning the Body in Post-Mao China. In: Anne Brydon/Sandra Niessen: Consuming Fashion. Adorning the Transnational Body. Oxford, New York 1998, S. 71-90, hier S. 77. 10 | Grundlegend für die ›Orientalisierungsstrategien‹: Ann Marie Leshkowich/Sandra Niessen/Carla Jones (Hg.): Re-Orienting Fashion: The Globalization of Asian Dress. Oxford 2003; Kristin Knox: Culture to Catwalk. How World Cultures influence Fashion, London 2011; Jan Brand/José Teunissen (Hg.): Global Fashion – Local Tradition. On the Globalisation of Fashion. Arnhem 2005; zu kulturellen Umdeutungsprozessen vgl.: Karen Tranberg Hansen: Salaula. The World of Secondhand Clothing and Zambia. Chicago, London 2000; zu Afrika vgl.: Fashion Theory 13 (2009), Heft 2; vgl. allgemein Jean Marie Allman (Hg.): Fashioning Africa: Power and the Politics of Dress. Bloomington, India-
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Eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen Mode muss daher stets die Frage einblenden, wie sich diese eurozentrische Perspektive in der bisherigen wissenschaftlichen Beschäftigung mit Mode äußert und welchen Einfluss sie auf die Theoriebildung genommen hat. Beachtet werden sollte dies vor allem bei der oft thematisierten Beziehung von Mode und Modernität, die implizit unterstellt, dass die Modernisierungsprozesse nach westlichen Mustern verlaufen. Gerade die heutige Auseinandersetzung im globalen Fashion-Rahmen widerlegt solche Annahmen und verweist auf die Dialektik von Tradition und Modernisierung und problematisiert diese Dichotomie als gegenwärtige Konstellation dieser Beziehung. Dies sollte bei einer transdisziplinären Annäherung an Mode explizit bedacht werden. In diese Perspektive muss ebenfalls einfließen, dass Mode nie als ein nationales Projekt selbst im Sinne des westlichen Selbstverständnisses zu verstehen ist, sondern immer grenzüberschreitend und gelegentlich die nationalen Grenzziehungen destabilisierend. Modegeschichte sollte daher vor allem als Transfergeschichte und »entangled history« behandelt werden. Selbst wenn der allgemeine Sprachgebrauch sich den Begriff Mode eher pragmatisch angeeignet hat, wäre auf Dauer eine präzise begriffliche Differenzierung hilfreich, die Mode als wirtschaftlich-kulturelles Phänomen mit seiner besonderen Historizität von den allgemeinen kulturanthropologischen Phänomenen wie Kleidungs- und Textilkultur (Praktiken, Habitus, Repräsentation, Ästhetik, Medien) unterscheidet. Ein so gerichteter wissenschaftlicher Blick, der Mode von Beginn an als historisches und kontextuelles Phänomen identifiziert, könnte dazu beitragen, problematische Verallgemeinerungen und Übertragungen auf andere kulturelle Kontexte oder die Hypostasierung des europäischen Modells Mode zu vermeiden.
D iskursgeschichte Eine kurze Archäologie des Begriffes Mode verweist auf seine allmähliche Verfestigung für den Bereich der Kleidung, die sich erst im 18. Jahrhundert durchsetzte. In Mode steckt der Begriff des Modus, der z.B. im Französischen bereits im Mittelalter für Bereiche wie Musik, Grammatik, Religion und Lebensart eingesetzt wurde. Von da aus ist der Begriff in andere Sprachen gewandert.11 napolis 2004; vgl. auch Gertrud Lehnert/Gabriele Mentges: Fusion Fashion. Culture beyond Orientalism and Occidentalism. In: Dies. (Hg.): Fusion Fashion. Culture beyond Orientalism and Occidentalism. Frankfurt a.M. 2013, S. 7-14. 11 | Brunhilde Wehinger: Modisch/Mode. In: Karlheinz Barck (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 4. Stuttgart, Weimar 2003, S. 168-183, hier S. 169; zur Erweiterung: Daniel Devoucoux: Glanz und Schatten der
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Der Zusammenhang von Mode, Modernität und Postmoderne ist von vielen Seiten betont und erläutert worden.12 Er ist nicht nur einfache Alliteration, sondern besitzt, wie es Julia Bertschik in ihrem Beitrag betont, hohes epistemologisches Potenzial.13 Die wissenschaftliche Behandlung des Phänomens Mode ist vielseitig und reicht historisch weit zurück in das Ende des 18. Jahrhunderts. Sie ist seit Beginn der modernen Wissenschaften unsystematischer Bestandteil vieler heterogener wissenschaftlicher Diskurse. Wenngleich der eigentliche Tagungsgegenstand sich mit dem Umgang mit Kleidung im modernen wissenschaftlichen Sinne befasste, so scheint dennoch ein kleiner Rückblick auf die »Vorgeschichte« der Kleidungsforschung notwendig. Seit Ende des Mittelalters erscheinen regelmäßig Traktate, Erlasse und Edikte zur Kleidung, die diese vor allem als Gegenstand der Rechtswissenschaft, der Theologie (Liturgie) und des geschichtlichen Interesses ausweisen. »Das Kleid ist nämlich in erster Linie Rechtsobjekt, als Kauf-, Pfand- und Erbgegenstand Ziel des Zugriffs nicht nur in der alltäglichen Benutzung, sondern auch von Schuldnern und Gläubigern.« Sie seien, so der hier zitierte Volkskundler Christoph Daxelmüller, daher als »Kulturkommentare« zu betrachten.14 Die von Daxelmüller untersuchten Kulturkommentare des Barocks sind gedacht als Begründungen und Erklärungen für die gesellschaftliche Einstellung und Handhabung eines damals noch sehr wertvollen Gebrauchsgutes Kleidung und anderer Textilgüter. Sie folgen in ihrem Argumentationsmuster der ständischen Logik und beschreiben und beurteilen Kleidung vom Standpunkt der ständischen Eliten aus. Erkennbar werden in diesen Traktaten zwei fundamentale Beobachtungen von historischen Kleidungskulturen, die auch Mode. In: Wulf Köpke/Bernd Schmelz (Hg.): Das gemeinsame Haus Europa. Handbuch zur europäischen Kulturgeschichte. Hg. vom Museum für Völkerkunde. München 1999, S. 1131-1160, hier S. 1131; vgl. Ulrich Lehmann: Tigersprung. Fashion in Modernity. Cambridge, London 2000. 12 | Vgl. als maßgeblich für diese Thematisierung Elizabeth Wilson: In Träume gehüllt. Mode und Modernität. Hamburg 1989; vgl. auch Gertrud Lehnert (Hg.): Mode, Weiblichkeit und Modernität. Dortmund 1998; vgl. Ulrich Lehmann: Tigersprung. Fashion in Modernity. Cambridge, London 2000; Elizabeth Wilson: Fashion and the Postmodern Body. In: Juliet Ash/Elizabeth Wilson (Hg.): Chic Thrills. A Fashion Reader. Berkeley, Los Angeles 1993, S. 3-16. 13 | Vgl. Julia Bertschik in diesem Band. 14 | Christoph Daxelmüller: Nationen, Regionen, Typen. Ideologien, Mentalitäten und Argumentationstechniken der akademischen Kleider- und Trachtenforschung des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Helmut Ottenjann (Hg): Mode, Tracht, Regionale Identität. Historische Kleidungsforschung heute. Cloppenburg 1985, S. 23-36, hier S. 24.
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im folgenden 19. Jahrhundert die Diskurse über Kleidung bestimmen werden: Veränderung bzw. Wandel und die ästhetische wie kulturelle Verschiedenheit. Die dabei vorgenommenen Gleichsetzungen von kulturellem Wandel mit Sittlichkeit und kultureller Verschiedenheit mit geographischen Ordnungen zeigen, dass die Kategorien Zeit und Raum der damaligen gesellschaftlichen Vorstellung von Mode bereits zugrunde liegen. Diese Argumentationsmuster von Wandel und kultureller Verschiedenheit haben auch das Genre der seit der Renaissance immer wieder neu editierten Trachtenbücher dominiert, in denen die verschiedenen Kleidungskulturen von Regionen, den »nationes« einschließlich der fremden Kulturen in Form von Bildern einem interessierten, neugierigen Lesepublikum vorgestellt werden. Sie sind fester Bestandteil einer Kleidungsgeschichte, die allerdings ihren eigenen, ja selbständigen Diskursweg als sogenannte Kostümgeschichte eingeschlagen hat, der tief in das 19. Jahrhundert und bis hin zu den Anfängen des 20. Jahrhunderts führt.15 Dieser Diskurs wird wesentlich vom Medium des Bildes bestimmt, das in Form von Zeichnungen und farbigen Illustrationen Kleidungsgeschichte und -geographie visuell vermittelt. Eine tiefgreifende historische Wende in der Beschäftigung mit der Kleidung markiert Christian Garves Essay »Über die Moden«, publiziert im Jahre 1775.16 Der von ihm verwendete Plural »Moden« macht deutlich, dass er in erster Linie noch an die Praktiken des Gebrauchs denkt, nicht an ein spezifisches Gebrauchsgut, wobei auch Garve im Verlaufe seiner Argumentation den Begriff zunehmend auf Kleidung verengt. Seine entscheidende, sehr modern anmutende gedankliche Neuerung liegt in der Bestimmung der »Moden« als Bestandteil notwendiger gesellschaftlicher Kommunikation, die als ästhetische »Zeichen« gegen andere verabredet seien. Seine Idee, Mode als Kommunikation zu verstehen, begründet einen zentralen, auch in der Folgezeit immer wieder aufgegriffenen Kleidungsdiskurs der Moderne. Seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert haben sich die wissenschaftlichen Schriften zur Mode auffällig vermehrt. Jedoch nur wenige Studien haben sich bisher an Übersichten über diese Geschichte der Mode als Wissenschaft gewagt. Eine deutschsprachige Übersicht stammt von Silvia Bovenschen, die mit »Die Listen der Mode« (1986) wesentliche neue Impulse für die Beschäf15 | Siehe Elke Gaugele in diesem Band. Vgl. auch Albert Kretschmer. Das große Buch der Volkstrachten. 2. Aufl. Leipzig 2010 (1890); Carl Köhler, Die Trachten der Völker in Bild und Schnitt. Nürnberg 1871; Friedrich Hottenroth: Handbuch der deutschen Tracht. Stuttgart 1892-96. Für eine Übersicht über die Werke vgl. Andrea Mayerhofer-Llanes: Die Anfänge der Kostümgeschichte. Studien zu Kostümwerken des späten 18. und des 19. Jahrhunderts im deutschen Sprachraum. München 2006. 16 | Christian Garve: Popularphilosophische Schriften, Bd. 1. Stuttgart 1974, S. 381558.
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tigung mit dem Thema gegeben hat. Ihr Band versammelt kanonische Texte verschiedener Autoren mit unterschiedlichem disziplinärem Hintergrund wie z.B. von Georg Simmel, Thorstein Veblen, Werner Sombart, J.C. Flügel, Roland Barthes, Richard Sennett usw. ebenso wie Beiträge von publikumswirksamen historischen Akteuren wie Friedrich Theodor Vischer oder aus dem besonderen Zweig der Kostümgeschichte wie von Eduard Fuchs. Bovenschens einleitende Feststellung, dass das Nachdenken über Mode nur zu bestimmten Zeiten Mode sei, zeigt, wie schwierig es ist, diese Diskurse zu systematisieren. Vielmehr zeigt gerade dieser Band, wie tief Mode in die Sicht der verschiedenen Disziplinen eingebunden wird und die Reflexion darüber zwar pointierte und grundlegende Analysen hervorbringt, aber zumeist eine einmalige Leistung bleibt, ohne unmittelbar erkennbare wissenschaftliche Folgewirkung auf die Disziplin. Das Erscheinungsdatum reiht sich ein in eine Dekade, die sich, dank eines gewandelten, offenen Kulturbegriffes ohnehin an einer Rehabilitation der Mode versucht.17 Silvia Bovenschens einleitende Reflexionen über den Umgang mit Mode in Literatur, Philosophie und anderen Wissenschaften machen auf wichtige Besonderheiten in ihrer wissenschaftlichen Behandlung aufmerksam. Mode bleibt eine stets brauchbare Aporie für die Beziehung von Wechsel und Dauer und für Vergänglichkeit in Wissenschaft und Literatur. Mode dient sich daher als geeigneter Gegenbegriff zur Kunst als dem Ort des wahren Schönen an. »Durch die Bezichtigung der Mode kann der Kunstanspruch erhalten bleiben.«18 Mode wurde so als (abwertender) Gegenbegriff zur Kunst etabliert. »Fashion Foundations«,19 so lautet der Titel eines englischsprachigen Bandes, der Aufsätze zur Mode bis zum Jahre 1950 vorstellt. Der Band gruppiert die für die Herausgeberinnen maßgeblichen, bis heute einflussreichen (angloamerikanischen) Abhandlungen zusammen mit weniger bekannten Beiträgen zur Modeforschung nicht nach einer chronologischem, sondern einer thematischen Anordnung, die sich an den modernen Leitkategorien der Kleidungsforschung orientiert wie Körper und Identität und diese weiter untergliedert in Ursprünge und Motive, physische Beziehungen zwischen Körper und Kleidung, Identität und Konsum, Wechsel und Gewohnheit sowie Kleidungsreform. Dabei kommen auch ältere Autoren wie Montaigne (1575) zu Wort, dessen Abhandlung lange vor dem eigentlichen Modezeitalter entstanden ist, allerdings in einer Zeit, in der zum ersten Mal mit den Handelsgesellschaften der Renaissance eine Mode im modernen Verständnis bekannt wurde. 17 | Vgl. dazu Wehinger: Modisch/Mode, S. 168-169. 18 | Silvia Bovenschen: Über die Listen der Mode. In: Dies. (Hg.): Die Listen der Mode. Frankfurt a.M. 1986, S. 10-32, hier S. 25. 19 | Kim K. P. Johnson/Susan J. Torntore/Joanne B. Eicher (Hg.): Fashion Foundations. Early Writings on Fashion and Dress. Oxford, New York 2003.
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Diese Systematik allerdings wird durch das Thema »Kleidungsreform« unterbrochen, das eine besondere historische Kleidungsperiode bespricht. Dieser Bruch in der Systematik weist in diesem Fall auf ein grundsätzliches Dilemma bei der Darstellung einer Wissenschaft der Mode hin, nämlich: Wie kann die Beziehung zwischen Struktur und Ereignis angemessen erfasst werden?20 Anders formuliert, wie lassen sich Modestrukturen und Modegeschichte in eine plausible Systematik einbinden und wie lässt sich theoretisch die Beziehung von historischem Verlauf und strukturellen Prozessen begründen? Denn ein Ereignis, so belehrt uns Marshall Sahlins, beinhaltet eine Differenz, die darüber hinausgehend eine »coupure« beinhalten kann, »und zwar nicht nur [als] ein epistemologischer Bruch, denn wir erkennen das Ereignis an der Veränderung, die in der bestehenden Ordnung erfolgt«.21 Für eine konsequente Darstellung einer Mode- und Kleidungsgeschichte sollten daher auch die historischen »Ereignisse« nicht nur auf Thematik und zeitliche Abfolge, sondern auf ihre Brüche und ihren Stellenwert für eine Epistemologie der Mode als Feld der Wissenschaft genauer befragt werden. Ein weiterer Versuch, die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Mode nach übergreifenden historisch-thematischen Gesichtspunkten zu systematisieren, stammt von dem Literaturwissenschaftler Daniel Purdy. Er identifiziert verschiedene Schwerpunkte der wissenschaftlichen Reden über Mode und betont, wie sehr die einzelnen Modediskurse mit anderen verknüpft seien.22 Die komplexe Struktur seiner Argumentation folgt dem Muster, jeweils ein literarisches Umfeld aufzuspüren und abzustecken, in dem Mode als allgemeiner Modus von gesellschaftlichem Verhalten und von kulturellen Prozessen reflektiert wird. Diese Vorgehensweise legt die vielfältigen, oft nicht sichtbaren Verflechtungen der Mode mit scheinbar abseitigen Themen und Autoren frei und demonstriert, wie sehr diese Einzelreflexionen maßgebliche Inspirationen und Bausteine für spätere systematische und allgemeinere Abhandlungen zur Mode als allgemeinem Phänomen liefern. Purdys Versuch weist daraufhin, wie notwendig und hilfreich eine konsequente diskursanalytische Annäherung an die Mode als Thema der Wissenschaften wäre. Aufschlussreich ist nämlich nicht allein, was besprochen wird, sondern vor allem auch wie, wann und von wem, ebenso wie die Frage nach dem wissenschaftlichen Ort. Auf diese Weise ließen sich die diskursi20 | Marshall Sahlins: Die erneute Wiederkehr des Ereignisses. Zu den Anfängen des großen Fidschikrieges zwischen den Königreichen Bau und Rewa 1843-1855. In. Rebekka Habermas/Nils Minkmar (Hg.): Das Schwein des Häuptlings. Sechs Aufsätze zur historischen Anthropologie. Berlin 1992, S. 84-129, hier S. 93. 21 | Sahlins: Die erneute Wiederkehr, S. 93. 22 | Daniel Leonhard Purdy: The Rise of Fashion. A Reader. Minneapolis, London 2004, S. 9.
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ven Stränge und Übergänge ermitteln sowie die jeweiligen Dispositive, die die unterschiedlichen disziplinären Beschäftigungen mit der Mode untereinander verbinden. Als Beispiel mag hierfür Darwin dienen: Winfried Menninghaus versucht nachzuweisen, wie Darwins Theorie durchaus Anleihen bei ästhetischen Konzepten unternommen hat. Sein Konzept von Schönheit basierte, wie es Menninghaus aus den Schriften Darwins herausliest, vor allem auf von ihm selbst gesammelten ethnographischen Beispielen. Darwin, so Menninghaus, »rekurriert zur Kategorisierung […] auf zwei Kernbegriffe der Ästhetik des 18. Jahrhunderts: ›novelty‹ und ›variety‹« und zeigt die durch ästhetisch-sexuelle Selektion entstehenden Gemeinsamkeiten zwischen kulturellen Moden mit natürlichen Körpern auf.23 Darwin hatte, Menninghaus zufolge, seine Begriffe so gewählt, dass sie die disziplinären Grenzen zwischen Biologie, Kunst, Mode und Ästhetik verflüssigen und einen hybriden Diskurs entstehen lassen.24 Mode dient in diesem Fall wie so oft als Vehikel für die Popularisierung innovativer Wissenskonzepte. Popularisierung sollte man dabei nicht einfach, wie es Michael Hagner und Philippe Sarasin ausdrücklich hervorheben, als »top-down-Modell der Wissensdiffusion« abtun. Vielmehr ist sie als »›expository science‹ [zu] verstehen, ›also von unterschiedlichen Formen und Graden der Aus- und Darstellung von Wissenschaft … [gekennzeichnet]. In diesem Sinn ist Populärwissenschaft ein diskursiver und damit gesellschaftlicher Ort, an dem Wissenschaft in einer Form erscheint, die sich von akademischer Wissenschaft unterscheiden lässt…‹, entscheidend, so Hagner und Sarasin, sei, ›was an diesem Ort geschehe…‹.«25 Aus dieser besonderen Positionierung modischer Diskurse zwischen Wissenschaft und Popularwissen resultiert ihre häufige Funktion als Vermittlerin und als Stifterin neuen Wissens. Genau dies wäre für eine umfassende Untersuchung der Mode im und als wissenschaftliches Feld zu ergründen. Eine solche Untersuchung sollte gesondert die Dominanz des Bilddiskurses erfassen, der in Gestalt der zahlreichen und vielfältigen Kostümgeschichten seit der Frühen Neuzeit Mode als Geschichte und ästhetische Form 23 | Vgl. Winfried Menninghaus: Das Versprechen der Schönheit. Frankfurt a.M. 2007, S. 78 zu Darwin vgl. ebenfalls Gabriele Mentges, Darwin und die Mode. Versuch einer Annäherung, 2009, (1-7). www.modetheorie.de/fileadmin/Texte/m/Mentges_Darwin_ und_die_Mode_2009.pdf [Zugriff: 12.06.1014]. 24 | Menninghaus: Das Versprechen der Schönheit, S. 79-80. 25 | Philipp Sarasin/Michael Hagner: Wilhelm Bölsche und der Geist. Populärer Darwinismus in Deutschland 1887 – 1934. In: Nach Feierabend: Zürcher Jahrbuch für Wissensgeschichte, Bd. 4. Zürich, Berlin 2008, S. 47-67, hier S. 49, zitiert nach Mentges: Darwin und die Mode. (1-7), hier 5.
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sinnlich verbreitet hat oder als visuelle Ergänzungen Darstellungen zur Mode unterstützt hat. Diese gleichwertige Dominanz von sprachlichen wie bildlichen Diskursen kann als wesentliches Kennzeichen der Mode in ihrer wissenschaftlichen Darstellung gelten. In einem ersten Schritt scheint es für ein komparatistisches Vorgehen notwendig, die maßgeblichen Felder der Problematik durch folgende Leitfragen einzurahmen: 1. Im Blick auf die historische Dimension ist es zentral, nach dem Wann zu fragen. Seit wann lässt sich überhaupt eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Mode beobachten? Dieses Wann betrifft nicht nur die zeitliche Abfolge, sondern das aufmerksame Registrieren der Konjunkturen des Themas in den einzelnen Wissenschaften. So lässt sich z.B. feststellen, dass das Interesse an Mode in historischen Schwellensituationen zuzunehmen scheint. So kann man in Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – in Zeiten der verstärkten Industrialisierung, Urbanisierung und wissenschaftlicher Entdeckungen – ein auffälliges Interesse am Thema bemerken: Vischer, Fuchs, Sombart, Veblen und natürlich vor allem der bis heute fundamentale Essay des Kultursoziologen Georg Simmel, der eine beachtenswerte Theorie modischen Handelns begründet hat. Die wissenschaftlichen Entwürfe fallen weitgehend zusammen mit der Kleidungsreform gegen Ende des 19. Jahrhunderts, die von Reformern aus Kunst, Wissenschaft, Politik (Frauenbewegung) und anderen (Freikörperbewegung, Hygieniker) initiiert und getragen wurde. Man könnte hier von einer durchgreifenden Verwissenschaftlichung der Kleidungsforschung sprechen, die sowohl einen praktischen Charakter der konkreten Anwendung als auch eine wissenschaftliche Metareflexion beinhaltet. Geht man weiter zurück, so stößt man gegen Ende des 18. Jahrhunderts auf den bereits erwähnten Christian Garve, der mit seinem Essay »Über die Moden« von 1792 eine erste, modern anmutende philosophische Überlegung zur Mode als gesellschaftlichem Phänomen verbreitet hat. Sein Essay fällt in die Zeit der sich auflösenden ständischen Gesellschaft, die das Ende der Kleiderordnungen mit sich gebracht hat. Durch die Aufhebung des ständischen Ordo-Gedankens wurde die Kleidung als soziales Konzept aus ihrer festen Einbettung und Sinnbestimmung in die Diskurse von Recht, Wirtschaft und Religion gelöst und für eine neue Sinngebung freigestellt, wie, dies lässt sich an Lynn Hunts Studie zur Französischen Revolution auf eindrucksvolle Weise nachlesen. So machen die dort erwähnten Debatten während der Sitzungen der Nationalversammlung deutlich, wie sehr man geradezu mit sich rang, die Kleidung mit einer neuen Sinnbestimmung zu versehen. Als erste Referenz bot sich dafür die Antike an, die mit dem auf sie projizierten demokratischen Ideal historisch begründbare Formen und Stile anbot. Wichtig war den Revolu-
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tionären vor allem die Erfindung einer neuen Amtstracht, die klar und deutlich den Bruch mit dem Ancien Régime artikulieren sollte.26 2. Welcher Typus von Wissensakteuren hat sich mit Mode befasst? Lässt sich eine besondere Herkunft und Positionierung im Wissenschaftsbetrieb ausmachen? Auch hierfür kann die Person Georg Simmels Zeugnis geben von einer spezifischen Verfasstheit eines solchen Wissensakteurs, der das Wagnis auf sich nimmt, sich solch peripheren Themen wie Mode zuzuwenden. In ihrem Beitrag haben Susan B. Kaiser, Karyl Ketchum und Anna Kuhn die Aufmerksamkeit auf den Umstand gelenkt, dass es nicht selten gesellschaftlich randständige Subjekte des Wissenschaftsbetriebs waren, die sich mit Mode befassten. An den Personen von Walter Benjamin, Georg Simmel und Fred Davis erläutern sie detailliert Bedingungen und Rezeption der verschiedenen Akteure zu ihrer eigenen Zeit.27 Es lassen sich weitere Beispiele nennen wie Thorstein Veblen. Er steht ebenso wie die Genannten für die besonders geschärfte Wahrnehmung durch gesellschaftliche Außenseiter, die – Ethnographen vergleichbar – die sie umgebende Kultur mit dem distanzierten Blick des fremden Beobachters kritischspöttisch sezieren. Ähnliches lässt sich von Roland Barthes behaupten, dessen überaus erfolgreiche Rezeption oft vergessen lässt, dass er als Außenseiter begonnen hat, sich mit Kleidung zu befassen und hier wissenschaftlich wegweisend wurde. 3. In welcher Weise wird Mode zum Bestandteil wissenschaftlicher Aufmerksamkeit? In welche Diskurse wird sie eingebettet oder zu welchen neuen Diskursen, Wissensentwürfen und Wissenspraktiken hat die Beschäftigung mit ihr beigetragen? Anders verhält es sich bei den bildlichen Diskursen im Umfeld der Mode. Hier stellen sich andere Fragen, wie die nach der Art der Medien, nach dem Medienwechsel und seiner zeitlichen Verortung, dem Verhältnis zwischen Bild und Schrift in ihrer jeweiligen Verschränkung, Wechselwirkung oder ihrer Separierung. Dazu gehören des Weiteren die Fragen nach Bildurheber, Zirkulationsweisen und der Rezeption.28
26 | Lynn Avery Hunt: Symbole der Macht, Macht der Symbole. Die Französische Revolution und der Entwurf einer politischen Kultur. Frankfurt a.M. 1989. 27 | Susan B. Kaiser/Karyl Ketchum/Anna Kuhn: Mode: Poetische Dialektik? In: Gabriele Mentges (Hg.): Kulturanthropologie des Textilen. Berlin, Dortmund 2005, S. 265-286. 28 | Auf diese Eigenmacht der Bilder, die nicht nur Transporteure von modischem Wissen sind, sondern auch zu neuen inhaltlichen Formen der Mode inspirieren können, also selbst Gestalter der Mode werden, hat zuletzt Burcu Dogramaci aufmerksam gemacht.
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Die in diesem Band angeführten Beiträge werfen ein bezeichnendes Licht, auf das Was und Wie dieser Disziplinen im Umgang mit Mode. Besonders auffällig zeigt sich die Bedeutung der Mode als Wissenschaft bei der Entwicklung der verschiedenen Kostümgeschichten, die sich seit der Frühen Neuzeit als Genre der Kleidungsforschung verfestigten. Sie bilden eine Brücke zwischen einer sich entwickelnden Historiographie und einer kunstgeschichtlichen Betrachtungsform. Gleichzeitig sind sie als praktische Handhabungen für die Theaterkostümierung gedacht.29 Dabei wird, wie Elke Gaugele in ihrem Beitrag zeigt, die Kleidung zu einem zentralen Objekt des Wissens und entscheidendes Epistem der sich herausbildenden Wissenschaft Ethnographie. In ihrer Eigenschaft als Klassifizierungsinstrumentarium steht Kleidung als Kategorie an der Schnittstelle zwischen konkreter Beobachtung, materiellem Gehalt, Körperbezug und kulturellen Ordnungsmustern. Wie für die Ethnographie so wird auch für die Volkskunde/Europäische Ethnologie das Sammeln der vestimentären Dinge konstitutiv für ihre Herausbildung als wissenschaftliche Disziplin und ihre kulturellen Ordnungsschemata. Andrea Hauser erforscht diesen Zusammenhang zwischen Disziplinbildung und vestimentärer Regionalkultur am Beispiel der Sammlerpraktiken der Lüneburger Heide gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Die konkreten Personen der Sammler, ihre Praxis des Sammelns sowie die Vermittlungsagenturen Märkte und Museen fixieren die Träger der regionalen Kleidung als das bäuerliche (oder nicht-bürgerliche) Andere und bilden auf diese Weise die Dichotomie von Mode und Tracht heraus. Das Sammeln als eine Praxis des Rettens und Bewahrens wiederum, so argumentiert der daran anschließende Beitrag von Lioba Keller-Drescher, etabliert sich als fester Denkstil oder -modus und wird so gängiges Paradigma der volkskundlichen Kleidungsforschung, welche die Tracht auf eine ahistorische Vergangenheit und als Manifestation des kulturellen Anderen fixiert, vielfach selbst gegen bessere empirische Einsicht. Lioba Keller-Drescher weist damit auf ein folgenschweres Dilemma der volkskundlichen Kleidungsforschung hin, auf das auch Christoph Daxelmüller Bezug genommen hat. Denn schon die klassifizierenden kulturellen Techniken der barocken Traktate legen eine typisierende Vorstellung von regionaler Kleidung nahe, die bereits damals nicht der historischen Realität entsprach, aber in der Folgezeit weiterhin das Forschungsparadigma des 19. Jahrhunderts nachhaltig beherrschen wird.30 Vgl. Burcu Dogramaci: Wechselbeziehungen. Mode, Malerei und Fotografie im 19. Jahrhundert. Marburg 2011. 29 | Vgl. Kretschmer: Das große Buch der Volkstrachten. Köhler: DieTrachten der Völker in Bild und Schnitt; Hottenroth. Handbuch der deutschen Tracht. Vgl. für eine Übersicht über die Werke Mayerhofer-Llanes: Die Anfänge der Kostümgeschichte. 30 | Daxelmüller: Nationen, Regionen, Typen, S. 31.
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Diese Disziplinen haben die konkrete Handhabung des vestimentären Objekts gemeinsam sowie seine Einordnung in Sammlungskonzepte mit historischen und thematischen Systematiken. Hinter diesen Ordnungen steht jedoch, darauf weist Elke Gaugeles Beitrag hin, eine Auseinandersetzung mit dem fremden und dem eigenen Körper, die in den Kostümgeschichten eine ästhetische Bewertung finden. Der Kleidungsstil wird zum Maßstab für die Markierung von Differenz und moralisch-ästhetischer Wertung. Kleidungsforschung ist und bleibt ein wesentliches Forschungsfeld der beiden Disziplinen, vor allem der Volkskunde, und hat wesentliche Anregungen zur Theoriebildung innerhalb der materiellen Kulturforschung geliefert. Zurückhaltender hat sich die Kunstgeschichte bisher gegenüber dem Phänomen Mode verhalten. Entweder wurde die Kleidung bislang als marginales Objektfeld betrachtet oder als Instrumentarium zur ästhetisch-stilistischen und zeitlichen Bestimmung eingesetzt. Wenn neuerdings eine veränderte Sichtweise auf Mode und ihre Entdeckung als wichtiger Teil der modernen Bildwissenschaft entstanden ist, so verdankt sich dies vor allem den jüngeren Ausstellungen zur Mode, wie es Annelie Lütgens an verschiedenen Beispielen erläutert. Die Beschäftigung mit Mode im Museum hat dazu inspiriert, Kunst, Kulturgeschichte und Mode als Zusammenhang zu denken und in neue thematische Kontexte einzubetten. Eine explizite Verwandtschaft zwischen der Kunst und Mode stellt auch Ulrich Lehmann in seinem Beitrag heraus. Die heutige Beziehung von Mode und Kunst hat für ihn ein interessantes Amalgam Kulturindustrie ausgebildet, in dem sich beide gegenseitig durch marktwirtschaftliche Bewertungen ihrer materiellen Exponate dynamisieren. Darüber hinaus jedoch sieht er diese Verwandtschaft historisch-strukturell begründet. Sie liegt in dem Vorbildcharakter der Mode als besonders ausgeprägter Konsumpraxis, die dazu beigetragen hat, den Kunstmarkt in seiner heute gültigen Struktur zu konstituieren. Mode, ebenso wie der – von Lehmann beschriebene französische – Kunstmarkt haben als Strukturierungsprinzipien sowohl die Novität als auch die Spekulation gemeinsam. Diese Disziplinen haben bei aller Unterschiedlichkeit den konkreten Umgang mit dem vestimentären Objekt gemeinsam und damit die Kenntnisse und Erfahrungen von Materialität, die durch museologische Studien vertieft werden. Diese Materialität wird in der Europäischen Ethnologie vor allem durch die Beziehung zwischen Objekt und Akteur abgehandelt, in der Kleidung als eine jeweilige kulturelle und gesellschaftliche Praxis verstanden wird.31 Allerdings ist gerade in der Europäischen Ethnologie auffällig, wie zurückhaltend sie sich gegenüber der Haute Couture als einem traditionellen 31 | Vgl. für eine Zusammenfassung: Gitta Böth: Kleidungsforschung. In Rolf W. Brednich (Hg.): Grundriss der Volkskunde. Einführung in die Forschungsfelder der Europäischen Ethnologie. 2. überarb. und erw. Aufl. Berlin 1994 (1988), S. 211-228.
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Feld der sogenannten Hochkultur verhalten hat. Aus kunsthistorischer Sicht bleibt man weiterhin stark der Bildhaftigkeit der Mode verpflichtet oder der Mode als Ort für künstlerische Kreation und damit dem sogenannten hochkulturellen Bereich. Anders verhält es sich mit Disziplinen wie der Germanistik, der Soziologie oder der Philosophie. So führt Julia Bertschik am Beispiel des Schriftstellers Karl Ferdinand Gutzkow (1811-1878) vor, wie Mode und Modernität in deutschsprachigen Diskursen zusammengeführt werden. Gutzkows Besonderheit erkennt sie darin, dass er im Unterschied zu anderen wie z.B. Georg Simmel diese Verbindung positiv und produktiv interpretiert und Modernität nicht als Antithese zur Tradition begreift. Dennoch, selbst wenn die Mode in ihren kulturellen Figurationen in der Germanistik durchaus wahrgenommen wird, bleibt sie eine Randerscheinung. Julia Bertschik erklärt dies mit der Objektferne des Faches. Ignoranz gegenüber der konkreten Materialität modischer Erscheinungen bescheinigt auch Michael R. Müller den gängigen soziologischen Modetheoretikern wie Georg Simmel, Pierre Bourdieu oder sogar dem Semiotiker Roland Barthes. Mode wird einseitig auf Repräsentanz sozialer Ordnung hin ausgelegt. Jedoch gerade in der spezifischen Materialität der Moden (wie z.B. Szene- und Subkulturen) entdeckt Müller ihr eigentliches Potenzial, das in der Perspektive einer Theorie der Liminalität auf Transgression, Instabilisierung von Ordnungen und Um- und Verkehrung angelegt ist. Diese Betonung des transgressiven Momentes in der Mode durch Michael R. Müller kann in der Tat durch viele historische Beispiele belegt werden. Sie gründet nicht zuletzt darin, dass Mode durch performative und inszenatorische Medien kommuniziert wird, denen das Moment der Transgression und des Experiments inhärent ist. Alfons Kaiser, Kulturredakteur der FAZ, spricht aus der Sicht der medialen Praxis. Seine These, dass im deutschsprachigen Raum das Modefeuilleton seit jeher eine randständige Position innehabe, begründet er mit historischen Fakten, wie dem Verlust jüdischer Textilindustrien, dem Fehlen eines politischkulturellen Zentrums und einer durch protestantische Mentalität geprägten Zurückhaltung gegenüber der Mode als Ausdruck für Luxus, Verschwendung und Eitelkeit. Wie andere Beiträge in diesem Band (Lehmann, Bertschik) konstatiert er für die letzten Jahrzehnte eine neue Aufmerksamkeit der Mode gegenüber, die unter anderem durch die neuen Medientechnologien und die neue Berliner Präsenz in Sachen Modedesign bewirkt wird. Der Band wirft ein Licht auf das »Wie« bei der disziplinären Thematisierung von Mode, er kann jedoch für die Marginalisierung der Mode als wissenschaftlichem Thema keine befriedigende Erklärung geben. Er zeigt, dass die Marginalisierung in den Fächern unterschiedlich gehandhabt und verschieden begründet wird. Sie scheint tief verankert in institutionellen Traditionen und Mentalitäten. Ferne zum Objekt und damit zur Materialität des Feldes ist
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ein Grund für die Behinderung in einigen Disziplinen. Bei den objektstarken Fächern wie der Europäischen Ethnologie und der Kunstgeschichte haben kulturelle Hierarchen wie die Wertigkeit der Materialien und die »Tracht als Kleidung des Fremden« zu disziplinären Barrieren geführt. Daraus lässt sich allerdings folgern, dass die Objektferne nicht allein der ausschlaggebende Grund für die Distanz gegenüber der Mode sein kann. Eher könnte gerade die Nähe zum alltäglichen wie allgegenwärtigen Objekt Mode eine ungewollte Auseinandersetzung mit dem Selbstbild und der eigenen Körperlichkeit veranlassen, was man zu vermeiden sucht.32 Elke Gaugeles Überlegungen richten sich auf diesen Zusammenhang. Andrea Hauser kann diese Strategie einer binnenkulturellen Distanzierung bei den regionalen Kleidungsstilen nachweisen. Daraus resultieren, wie es Lioba Keller-Drescher im Anschluss daran in ihrem Beitrag aufzeigt, mentale Barrieren, die auf Denk- und Argumentationsmodus der damaligen Volkskunde Einfluss nehmen. Im Grunde bleibt das reale Objekt in Form, Schnitt, Material, Gebrauch und als konkretes biographisches Objekt meistens außerhalb selbst jener universitären Wissenschaften, die sich durch Objektnähe definieren. Es ist nach wie vor weitgehend den »Museumswissenschaften« überlassen, sich eingehend mit dieser Materialität auseinanderzusetzen.33 Auf der anderen Seite hat diese Nähe zum Alltagsgegenstand Mode und die eigene subjektive Betroffenheit bis heute ermutigt, sich in essayistischer und feuilletonistischer Form darüber auszulassen, ein Genre der Modekritik und -besprechung, für das bereits Friedrich Theodor Vischer Maßstäbe gesetzt hat. Die Nähe zum Format des Feuilletons ist ein Kennzeichnen mancher heutiger wissenschaftlicher Auseinandersetzungen mit Mode, die entweder zu pointierten, vorschnellen und simplifizierten Formulierungen über modische Gesetzmäßigkeiten, Regeln und Ereignisse neigen oder Modeforschung als Kompilation von theoretischen Ansätzen begreifen. Sie sind problematisch und fragwürdig, weil sie Mode als abstraktes Phänomen voraussetzen, ohne Bezug zur spezifischen Materialität, einen erkennbaren Quellenkorpus und entsprechendes methodisches Instrumentarium. Eine entscheidende Wende beim Zugang auf die Praxis- und Theoriefelder der Mode haben vor allem die Cultural Studies bewirkt. Ihre Neubewertung der Kultur als eigenständiges dynamisches gesellschaftliches Feld hat in der 32 | Diesen Sonderweg der Kleidung findet man auch in den Reformen des Kunsthandwerks um 1900, in denen die Kleidung eine Sonderrolle einnimmt, d.h. getrennt behandelt wird. 33 | Zu diesem Aspekt der Trennung zwischen Designwissenschaft und Kulturwissenschaft siehe auch Lou Taylor: Fashion and Dress History: Historical and Methodological Approaches. In: Sandy Black u.a. (Hg.): The Handbook of Fashion Studies. London u.a. 2013, S. 23-43, hier S. 24-25.
Die Angst der Forscher vor der Mode
Folge eine neue Historiographie der Kleidung34 bewirkt sowie eine produktive Verbindung von Genderstudies mit ethnographischer und kulturanthropologischer Mode/Kleidungsforschung vor allem im anglo-amerikanischen Raum zustande gebracht.35 Dauerhafte und nachhaltige Impulse für eine veränderte Sichtweise kommen dazu von außen, wie durch die neuen Medientechnologien und durch ungewohnte neue Orientierungen im Kulturbetrieb. Beispielhaft kann hier das Interesse an Phänomenen der Popularkultur oder die Eventisierung stehen, in dem die traditionellen kulturellen Hierarchien allmählich überwunden werden oder durch andere abgelöst werden. Gleichzeitig lassen die verschiedenen disziplinären Annäherungen einen Reichtum an Einsichten, Methoden und theoretischem Erkenntnisgewinn über Kleidung/Mode erkennen, der sich nicht auf einen einzigen modewissenschaftlichen Nenner bringen lässt. Im Gegenteil, diese Unterschiedlichkeit verdankt sich der Tatsache, dass die Beschäftigung mit Mode aus dem Kern der Disziplinen heraus erwächst und an ihn gebunden bleibt, methodisch wie inhaltlich.36 Eine Theorie der Mode kann und wird es daher nicht geben können, auch nicht eine Modewissenschaft. Dies schließt nicht transdisziplinäre Forschungen aus. Deren Gewinn kann mehrfacher Art sein. So können übergeordnete Fragestellungen an die kritischen Ränder der Disziplinen führen, deren disziplinäre Gewissheiten und Grenzziehungen zur Disposition stellen, ihre Sinnkonstituierung jenseits disziplinärer Grenzen befragen und damit zu einer neuen Begründung und Bestimmung herausfordern. Dafür bedarf es eines gezielten methodischen Instrumentariums, das die Beziehungen zwischen dem Feld Mode, den wissenschaftlichen Akteuren, den disziplinären Diskursen und ihre institutionellen Grenzziehungen und der gelebten, subjektiven Modepraxis untersucht. Im Blick auf Mode als Topos in Wissenschaft, Kunst, Literatur könnte man daher von einem geradezu klassischen Interdiskurs sprechen, der die wissenschaftlichen Spezialdiskur34 | Vgl. dazu beispielhaft Christopher Breward: Fashion Cultures. Oxford, New York 1995 und zahlreiche Beiträge zu historischen Themen in Fashion Theory. 35 | Aus ethnologischer Sicht waren die Publikationen von Ruth Barnes/Joanne B. Eicher (Hg.): Dress and Gender. Oxford 1993 und vor allem Weiner/Schneider (Hg.): Cloth And Human Experience, richtungsweisend. Vgl. auch beispielhaft: Tranberg Hansen: Salaula. Für eine neuere Übersicht, die die zahlreichen von modischen Phänomenen durchdrungenen kulturellen Felder auffächert, sind Sandy Black u.a. (Hg.): The Handbook of Fashion Studies, zu nennen. 36 | Ein einschlägiges Beispiel für diesen Gewinn der an die Disziplin gebundenen methodisch genauen Modestudien liefert z.B. die Mediävistik, die anhand der Romananalysen zu interessanten Befunden über die damalige Kleidungskultur gelangt.
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se untereinander verbindet, sie durchdringt und separiert. Ein historisches Beispiel dafür ist die Reformkleidung um 1900. Um sie kreist eine Vielzahl wissenschaftlicher und künstlerischer Schlüsseldebatten der Zeit, die sie als experimentelles Feld für neue Konzepte von Hygiene, Medizin, Körper und Ästhetik/Design ausprobieren. Als ubiquitäres Phänomen und wegen seiner Subjekt- und Körpernähe inspiriert Mode diese Diskurse zugleich als Kollektivsymbol.37 Wie dieser Zusammenhang zwischen diesen Spezialdiskursen der Wissenschaften durch die Mode geschaffen wird, wie und wo die disziplinären Trennungslinien verlaufen und wie Mode als Bild, Metapher, Allegorie oder Symbol die Disziplinen durchzieht, darüber könnte eine konsequent diskursanalytische Annäherung Aufklärung verschaffen. Sie führt dazu hin zu der grundsätzlichen Frage, woher die ablehnende Einstellung gegenüber textiler Kultur in der westlichen Moderne stammt und wie sie sich begründen lässt. Und welche Rückwirkungen sie auf die Positionierung textilen Wissens im institutionellen Wissenschaftsbetrieb ausgeübt hat? Eine eingehende Klärung dieser Fragen und Sachverhalte wäre für die Zukunft ein aufschlussreiches Forschungsanliegen.
L iter atur Allman, Jean Marie (Hg.): Fashioning Africa: Power and the Politics of Dress. Bloomington, Indianapolis 2004. Barnes, Ruth/Eicher, Joanne B. (Hg.): Dress and Gender. Oxford 1993. Black, Sandy u.a. (Hg.): The Handbook of Fashion Studies. London u.a. 2013, S. 23-43, hier S. 24-25. Bourdieu, Pierre: Haute Couture und Haute Culture. In: Ders.: Soziologische Fragen. Frankfurt a.M. 1993, S. 187-196. Bovenschen, Silvia: Über die Listen der Mode. In: Dies. (Hg.): Die Listen der Mode. Frankfurt a.M. 1986. 37 | Begriff und Definition des Interdiskurses ist an Jürgen Links diskurstheoretischen Überlegungen angelehnt. Sein Konzept des Interdiskurses galt einer Leerstelle im Foucaultschen Diskurstheorie, nämlich dem Problem, wie verschiedene Diskurse miteinander verbunden sind. Dafür hat er den Begriff des Interdiskurses entwickelt, der ein thematisches Netzwerk zwischen verschiedenen Spezialdiskursen anlegt. Vgl. Jürgen Link: Literaturanalyse als Interdiskursanalyse. Am Beispiel des Ursprungs literarischer Symbolik in der Kollektivsymbolik. In: Jürgen Fohrmann/Harro Müller (Hg.): Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Frankfurt a.M. 1988, S. 284-307. (Beispiel hier ist die Ballonfahrt). Vgl. zusammenfassend: Achim Landwehr: Historische Diskursanalyse. Frankfurt a.M. 2008, S. 63.
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Böth, Gitta: Kleidungsforschung. In: Rolf W. Brednich (Hg.): Grundriss der Volkskunde. Einführung in die Forschungsfelder der Europäischen Ethnologie. 2. überarb. und erw. Aufl. Berlin 1994 (1988). Brand, Jan/Teunissen, José (Hg.): Global Fashion – Local Tradition. On the Globalisation of Fashion. Arnhem 2005. Brändli, Sabina: »Der herrlich biedere Mann«. Vom Siegeszug des bürgerlichen Herrenanzuges im 19. Jahrhundert. Zürich 1998. Craik, Jennifer: The Face of Fashion. Cultural Studies in Fashion. London, New York 1994. Daxelmüller, Christoph: Nationen, Regionen, Typen. Ideologien, Mentalitäten und Argumentationstechniken der akademischen Kleider- und Trachtenforschung des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Helmut Ottenjann (Hg): Mode, Tracht, Regionale Identität. Historische Kleidungsforschung heute. Cloppenburg 1985, S. 23-36. Devoucoux, Daniel: Glanz und Schatten der Mode. In: Wulf Köpke/Bernd Schmelz (Hg.): Das gemeinsame Haus Europa. Handbuch zur europäischen Kulturgeschichte. Hg. vom Museum für Völkerkunde. München 1999, S. 1131-1160. Dogramaci, Burcu: Wechselbeziehungen. Mode, Malerei und Fotografie im 19. Jahrhundert. Marburg 2011. Fashion Theory 13 (2009), Heft 2. Garve, Christian: Popularphilosophische Schriften, Bd. 1. Stuttgart 1974, S. 381-558. Hottenroth, Friedrich: Handbuch der deutschen Tracht. Stuttgart 1892-96. Hunt, Lynn Avery: Symbole der Macht, Macht der Symbole. Die Französische Revolution und der Entwurf einer politischen Kultur. Frankfurt a.M. 1989. Johnson, Kim K. P./Torntore, Susan J./Eicher, Joanne B. (Hg.): Fashion Foundations. Early Writings on Fashion and Dress. Oxford/New York 2003. Kaiser, Susan B./Ketchum, Karyl/Kuhn, Anna: Mode: Poetische Dialektik? In: Gabriele Mentges (Hg.):Kulturanthropologie des Textilen. Berlin, Dortmund 2005, S. 265-286. Kawamura, Yuniya: The Japanese Revolution in Paris Fashion. Oxford, New York 2004. Knox, Kristin: Culture to Catwalk. How World Cultures influence Fashion. London 2011. Köhler, Carl: Die Trachten der Völker in Bild und Schnitt. Nürnberg 1871. Kretschmer, Albert: Das große Buch der Volkstrachten. 2. Aufl. Leipzig 2010 (1890). Landwehr, Achim: Historische Diskursanalyse. Frankfurt a.M. 2008. Ling, Xiaoping: Fashioning the Body in Post-Mao China. In: Anne Brydon/ Sandra Niessen: Consuming Fashion. Adorning the Transnational Body. Oxford, New York 1998, S. 71-90.
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Lehmann, Ulrich: Tigersprung. Fashion in Modernity. Cambridge, London 2000. Lehnert, Gertrud/Mentges, Gabriele: Fusion Fashion. Culture beyond Orientalism and Occidentalism. In: Dies. (Hg.): Fusion Fashion. Culture beyond Orientalism and Occidentalism. Frankfurt a.M. 2013. Leshkowich, Ann Marie/Niessen, Sandra/Jones, Carla: Re-Orienting Fashion: The Globalization of Asian Dress. Oxford 2003. Link, Jürgen: Literaturanalyse als Interdiskursanalyse. Am Beispiel des Ursprungs literarischer Symbolik in der Kollektivsymbolik. In: Jürgen Fohrmann/Harro Müller (Hg.): Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Frankfurt a.M. 1988, S. 284-307. Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. 2. aktual. und erw. Auflage. Opladen, Wiesbaden 1999. Mauss, Marcel: Die Techniken des Körpers. In: Ders. Soziologie und Anthropologie, Bd. 2. Frankfurt a.M. 1989, S. 199-226. Mayerhofer-Llanes, Andrea: Die Anfänge der Kostümgeschichte. Studien zu Kostümwerken des späten 18. und des 19. Jahrhunderts im deutschen Sprachraum. München 2006. Medick, Hans: Weben und Überleben in Laichingen 1650-1900. Lokalgeschichte als allgemeine Geschichte. Göttingen 1996. Menninghaus, Winfried: Das Versprechen der Schönheit. Frankfurt a.M. 2007. Mentges, Gabriele: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Kulturanthropologie des Textilen. Berlin, Dortmund 2005, S. 21-27. Mentges, Gabriele: Darwin und die Mode. Versuch einer Annäherung, 2009, (1-7). www.modetheorie.de/fileadmin/Texte/m/Mentges_Darwin_und_die _Mode_2009.pdf [Zugriff: 12.06.2014]. Purdy, Daniel Leonhard: The Rise of Fashion. A Reader. Minneapolis, London 2004. Roche, Daniel: La Culture des apparences. Une histoire du vêtement XVIIXVIII siècle. Paris 1989. Sahlins, Marshall: Die erneute Wiederkehr des Ereignisses. Zu den Anfängen des großen Fidschikrieges zwischen den Königreichen Bau und Rewa 1843-1855. In. Rebekka Habermas/Nils Minkmar (Hg.): Das Schwein des Häuptlings. Sechs Aufsätze zur historischen Anthropologie. Berlin 1992, S. 84-129. Sarasin, Philipp/Hagner, Michael: Wilhelm Bölsche und der Geist. Populärer Darwinismus in Deutschland 1887-1934. In: Nach Feierabend: Zürcher Jahrbuch für Wissensgeschichte, Bd. 4. Zürich, Berlin 2008, S. 47-67. Taylor, Lou: Fashion and Dress History: Historical and Methodological Approaches. In: Sandy Black u.a. (Hg.): The Handbook of Fashion Studies. London u.a. 2013, S. 23-43.
Die Angst der Forscher vor der Mode
Tranberg Hansen, Karen: Salaula. The World of Secondhand Clothing and Zambia. Chicago 2000. Wehinger, Brunhilde: Modisch/Mode. In: Karlheinz Barck (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 4. Stuttgart, Weimar 2003. Weiner, Annette/Schneider, Jane: Introduction. In: Dies. (Hg.): Cloth And Human Experience. Washington, London 1989, S. 4-36. Wilson, Elizabeth: In Träume gehüllt. Mode und Modernität. Hamburg 1989. Wilson, Elizabeth: Fashion and the Postmodern Body. In: Juliet Ash/Elizabeth Wilson (Hg.): Chic Thrills. A Fashion Reader. Berkeley, Los Angeles 1993, S. 3-16.
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Kostümgeschichten und frühe Modetheorien des 19. Jahrhunderts als Wissensordnungen der Moderne Elke Gaugele
Kostümgeschichten werden in der Forschung rückblickend oft als Produkte des Historismus bewertet, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihren direkten Gebrauchswert verloren.1 Noch Ende des 19. Jahrhunderts, 1881 schilderte der Kostümhistoriker Jacob von Falke den performativen Alltagsgebrauch von Kostümgeschichten folgendermaßen: »Die Costümgeschichte erfreut sich heute einer Theilnahme wie nie zuvor. Die zahlreichen Feste des Winters und des Sommers, die öffentlichen Aufzüge, die Kunst der Maler und Bildhauer, das Theater, die Culturgeschichte, sie alle können ihrer nicht enthalten, selbst die Moden von heute holen ihre Motive aus den Trachten der Vergangenheit.« 2
Forschungen zur Kostümgeschichte sind selten und begrenzen sich in ihren Analysen meist auf die historische Fundierung der Quellen.3 Demgegenüber hat Lou Taylor in »Establishing Dress History« aufgezeigt, wie sich Kostümgeschichten vom 16. Jahrhundert bis 1900 entwickelten und wie sich parallel dazu das Sammeln und die Musealisierung von Textilien als visuelle Evidenz
1 | Elke Brüggen: Kleidung und Mode in der höfischen Epik des 12.und 13. Jahrhunderts. Heidelberg 1989, S. 15f. 2 | Jacob von Falke: Costümgeschichte der Culturvölker. Stuttgart 1881, S. III. 3 | Andrea Mayerhofer-Llanes: Die Anfänge der Kostümgeschichte. Studien zu Kostümwerken des späten 18. und des 19. Jahrhunderts im deutschen Sprachraum. München 2006; Odile Blanc: Historiographie du vêtement: un bilan. In: Dies.: Le vêtement. Histoire, archéologie et symbolique vestimentaires au Moyen Age. Paris 1989, S. 7-33; Brüggen: Kleidung und Mode.
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eines exotischen mysteriösen Anderen historisch etablierte.4 Der folgende Beitrag zur Entwicklungen von Modetheorien und Kostümgeschichten in der Moderne schlägt vor, mit einer stärkeren wissenshistorisch zentrierten Perspektive den Prozess der Verwissenschaftlichung von Mode und Kleidung im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert zu verfolgen. Mit dem Verschwinden der Kleidungsordnungen löst sich die Mode am Ende des 18. Jahrhunderts aus den Feldern von Recht, Ökonomie, Moral und Religion und wird infolgedessen zum Sujet unterschiedlicher wissenschaftlicher bzw. akademischer Disziplinen.5 Abbildung 1: Titelblatt zu Robert von Spalart »Versuch über das Kostüm« 1. Abteilung 3. Teil 1798
An diesem zeitlichen Schnittpunkt setzt mein Interesse an den historischen Phasen der wissenschaftlichen Konjunkturen und Aufmerksamkeiten für 4 | Lou Taylor: Establishing Dress History. Manchester 2004. 5 | Vgl. Gudrun M. König/Gabriele Mentges: Tagungsinformationen zu: Mode als Moderne. Konjunkturen wissenschaftlicher Aufmerksamkeit. Eine interdisziplinäre Tagung der Volkskundlichen Kommission Westfalens in Zusammenarbeit mit dem Seminar für Kulturanthropologie des Textilen an der Technischen Universität Dortmund, 25.–26. November 2011.
Kostümgeschichten und frühe Modetheorien
Mode, Kostüm und das Textile an. Es richtet sich auf die Epistemologien der Bekleidung, d.h. genauer: die historischen Bedingungen und Mittel, durch die Kleidung zum Objekt des Wissens gemacht wurde und die Prozesse, die diese wissenschaftliche Erkenntnisgewinnung in Gang gesetzt haben.6 Welche epistemologischen Typiken und Schwellen lassen sich für die Kostümkunde, Mode- und Textiltheorien im 19. Jahrhundert erkennen? Welche Ordnungsdiskurse und Klassifizierungen entstehen dabei? Welche wissenschaftsgeschichtlichen Bezüge und interdiskursiven Scharniere eröffnet eine solche Perspektive? In Anlehnung an eine foucaultsche Archäologie des Wissens, die ihren Blick auf die jeweiligen Typiken, Schwellen und Brüche wissenschaftlicher Aufmerksamkeiten lenkt, lässt sich im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert von der Schwelle der Positivität sprechen, in der sich die Tendenz hin zu einem autonomen diskursiven Bereich der Kostümgeschichte durch das Sondieren und Abstecken eines Terrains abzeichnet.7 Dieser Phase geht der folgende Beitrag exemplarisch am ersten deutschsprachigen Kostümwerk, dem 15-bändigen »Versuch über das Kostüm« von Robert von Spalart aus dem Jahr 1796, nach.8 Das Werk markiert den Beginn einer modernen deutschsprachigen Kostümwissenschaft und soll im Folgenden im Hinblick auf die oben genannten Fragen beleuchtet werden. Im Anschluss daran werden abschließende Perspektiven für einen wissenshistorischen Zugang zu den Wissenschaften der Mode und deren unterschiedlichen Schwellen und Phasen im 19. Jahrhundert skizziert.
S chwelle der P ositivität : Terr ain und E igenständigkeit der K ostümgeschichte 1796 in seiner Vorrede zum ersten deutschsprachig verfassten Kostümwerk klagt der Autor Robert von Spalart über das unbefriedigte Bedürfnis nach einer vollständigen historischen Darstellung des Kostüms:
6 | Hans-Jörg Rheinberger: Historische Epistemologie zur Einführung. Hamburg 2007, S. 11. 7 | Michel Foucault: Geometrie des Verfahrens. Schriften zur Methode. Frankfurt a.M. 2009, S. 86. 8 | Robert von Spalart: Versuch über das Kostüm der vorzüglichsten Völker des Alterthums, des Mittelalters und der neuern Zeiten. Nach den bewährten Schriftstellern bearbeitet von Robert von Spalart, auf eigene Kosten herausgegeben von Ignatz Albrecht. Wien 1796-1811.
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Elke Gaugele »So entschieden das Bedürfnis des bildenden Künstlers, des Schauspielers und Schauspieldichters, des philosophischen Geschichtsforschers und des Erziehers ist, ein Werk zu besitzen, welches eine zuverlässige, und, so viel möglich, vollständige Darstellung des Kostüms der vorzüglichsten Völker des Alterthums, des Mittelalters, und der neuern Zeiten enthielte, so blieb dennoch dieses Bedürfniß bisher unbefriedigt.« 9
Mit seinem 15-bändigen »Versuch über das Kostüm« will Spalart dieses »Bedürfniß« freilich bedienen, zumal seinerzeit in Frankreich, Belgien und England bereits ähnliche Werke existierten. Als Wiener Ratsprotokollist am k.k. Appelationsgericht und Mitherausgeber des »Kritischen Theater-Journals von Wien« galt Spalart als einer der aktivsten Verfechter für eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem historischen Kostüm.10 Aufführungen antiker und historischer Stücke in modischer Kleidung wurden von Seiten der Theaterkritik vehement kritisiert, um stattdessen für die historische und ethnografische Übereinstimmung der Kostüme mit den Szenen zu plädieren.11 Teil dieser Phase um 1800, in der die Etablierung der Kostümgeschichte zu einem Feld für Maler und Kostümbildner wurde, ist auch Johann Christian von Mannlichs »Versuch über Gebräuche, Kleidung und Waffen der ältesten Völker bis auf Constantin den Grossen, nebst einiger Anmerkungen über die Schaubühne« von 1802.12 Parallel zu Spalart setzte sich auch Mannlich für eine Übertragung der Erkenntnisse der Altertumsforschung auf die Bühne ein und demonstrierte anhand von Schautafeln nicht nur Kleiderschnitte, sondern auch Posen für die Vorführungenvon Geschichte auf der Bühne und Gesten für die leiblichen Aneignungen antiker Kulturen.13 In seiner Kostümgeschichte formuliert Spalart wissenschaftliche Ansprüche an den Umgang mit dem Gegenstand, indem er »Genauigkeit und Deutlichkeit« zur Richtschnur nimmt: über den Nachweis von Quellen, durch Anmerkungen zum Text an den Seitenrändern, Inhalts- und Namenverzeichnis, bis hin zur einer Auflistung von Druckfehlern am Ende des Buches.14 Der erste Band seiner Kostümkunde beginnt nicht nur mit dem den Verweis darauf, die Schrift sei »[n]ach den bewährten Schriftstellern bearbeitet«, sondern auch mit der Nennung seiner zentralen Quellen: der »Oekonomisch-technologischen 9 | Spalart: Versuch über das Kostüm, 1. Abt. 1. Teil, S. X. 10 | Mayerhofer-Llanes: Die Anfänge der Kostümgeschichte, S. 91. 11 | Ebd., S. 54. 12 | Lou Taylor: Establishing Dress History, S. 33. 13 | Johann Christian von Mannlich: Versuch über Gebräuche, Kleidung und Waffen der ältesten Völker bis auf Constantin den Grossen nebst einigen Anmerkungen über die Schaubühne. München 1802. 14 | Spalart: Versuch über das Kostüm, 1. Abt. 1. Teil, S. 5.
Kostümgeschichten und frühe Modetheorien
Encyklopädie« von Johann Georg Krünitz (1773-1858), der deutschen Übersetzung von André Lens’ »Das Kostum der meisten Völker des Alterthums« sowie von 23 weiteren Werken aus Altertumsforschung, Kunstgeschichte, Philologie, Literatur, Pädagogik und Allgemeiner Geschichte, bzw. Universalgeschichte.15 Abbildung 2: Kostümtafel zur Antike, Johann Christian von Mannlich, 1802
Explizit benennt Spalart die verschiedenen akademischen Fächer und dokumentiert darin zugleich die impliziten disziplinären Spartenverschränkungen in der Zeit um 1800: Kunst, Theater, philosophische Geschichtsschreibung und Pädagogik. Seinen Untersuchungsgegenstand, das Kostüm, definiert Spalart im Kontext von Architektur, Kunst und (Volks-)kultur: »Unter Kostum verstehe ich nicht nur die Beschreibung der verschiedenen Kleidertrachten, sondern auch die Nachrichten von der Bauart, den Geräthen, den Feyerlichkeiten
15 | Johann Georg Krünitz: Oekonomisch-technologische Encyklopädie, oder allgemeines System der Land- Haus- und Staats-Wirthschaft in alphabetischer Ordnung; ab Bd. 33: allgemeines System der Staats-Stadt-Haus und Land-Wirthschaft, und der KunstGeschichte. Berlin 1773-1858; André Corneille Lens: Das Kostum der meisten Völker des Altertums, durch Kunstwerke dargestellt und erwiesen durch André Lens. Aus dem Französischen übersetzt, berichtigt mit Zusätzen und einer Vorrede begleitet von Georg Heinrich Martini. Dresden 1784; vgl. dazu auch Spalart: Versuch über das Kostüm, S. 5-8.
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Elke Gaugele und Gebräuchen jedes Volkes, nebst einer kurzen Übersicht des Zustandes der bildenden Künste unter demselben.«16
Das Kostüm wird in einem Beschreibungsschema von fünf Gegenstandbereichen fixiert: 1. Kostüm, 2. Architektur, 3. Gerätschaften, 4. Kunst sowie 5. Feste und Gebräuche eines spezifischen »Volkes«. Dabei ist für Spalart die philosophische Geschichtsschreibung das leitende Paradigma: Kostümkunde verortet er als einen »Zweig der Geschichte«.17
K ostümkunde als »Z weig der G eschichte « Mit seiner Positionierung der Kostümkunde als »Zweig der Geschichte«18 ist Spalarts »Versuch über das Kostüm« in mehrere wissenshistorische Umbrüche und in die Neuformierungen von Wissensgebieten um 1800 eingebunden. Die erste Phase der Akademisierung der modernen deutschsprachigen Kostümgeschichte begann mit der Rezeption des Kostümwerks des belgischen Historienmalers André Corneille Lens, »Le Costume de Plusiers Peuples de l’Antiquité« (1776), das 1784 unter dem Titel »Das Kostüm der meisten Völker des Altertums« in einer Übersetzung des Dresdner Philosophieprofessor Georg Heinrich Martini erschien.19 Martini hatte bei seiner Edition dem Streben nach einer historischen Wahrheit der Darstellungen oberste Priorität eingeräumt.20 Dieses stellte auch für Spalart das Leitmotiv dar, der anfangs sogar mit dem Titel »Versuch über Lens Kostüm« operierte.21 Er begann mit dem Vorsatz, Lens’ Darstellungen zu systematisieren und sie, in Anlehnung an Vitruv, an zeitgenössische, frühe archäologische Studien zu Pomeji und vor allem an Johann Joachim Winckelmann, um einen Teil zur Baukunst durch Beschreibungen antiker Theater, Orchester, Bühnen, Gärten oder Wohnstätten zu ergänzen.22 In Rezeption von Winckelmanns »Geschichte der Kunst des Alterthums« (Dresden 1764) und dessen Frage nach dem »Ursprung der Kunst und
16 | Spalart: Versuch über das Kostüm, 1. Abt. 1. Teil, S. 4f. 17 | Ebd., S. 3. 18 | Ebd. 19 | Lens: Das Kostum der meisten Völker des Altertums. 20 | Mayerhofer-Llanes: Die Anfänge der Kostümgeschichte, S. 72. 21 | Vgl. Tafelteil zu Robert von Spalart: Versuch über das Kostüm der vorzüglichsten Völker des Alterthums, des Mittelalters und der neuern Zeiten Bd. 1, Tafelband Th. 1/2. Wien 1796/97. 22 | Spalart: Versuch über das Kostüm, 1. Abt. 1. Teil, S. 8.
Kostümgeschichten und frühe Modetheorien
den Ursachen ihrer Verschiedenheit unter den Völkern«23 ging es auch Spalart um eine von der Antike ausgehende allumfassende historische Darstellung des Kostüms. Auch bei Winckelmann spielt Kleidung als Zeichen für die historische, soziale und geographische Einordnung der Kunstwerke eine elementare Rolle: »Eine Griechische und eine so genannte Römische Arbeit wird insgemein nach der Kleidung, oder nach deren Güte angegeben«.24 Bereits in der Vorrede zu seiner »Geschichte der Kunst des Althertums« stellt Winckelmann Kleidung in die Nähe zum Begriff »Vaterland«.25 Ein weiterer Kontext, der die Verwissenschaftlichung der Kostümgeschichte befördert, ist der Beginn einer deutschsprachigen Kulturgeschichte. Spalarts »Versuch über das Kostüm« steht inmitten eines universalgeschichtlichen Perspektivwechsels, der sich weg von der Naturgeschichte des Menschen hin zu dessen Kulturgeschichte bewegt. Der Kulturbegriff wird im 18. Jahrhundert zum Leitbegriff der aufklärerischen Geschichtsauffassung und zur normativen Pathosformel.26 Um 1760 kam es zu einer Historisierung des Kulturbegriffs, der – im Sinne einer Verbesserung, Veredelung und Kultivierung verstanden – zum Eingreifen in synchrone, auf die Gegenwart bezogene Szenarien sowie zu einem zentralen Terminus der Geschichtsauffassung bzw. der Geschichtsschreibung avancierte.27 In der Übertragung des Kulturbegriffs auf den Menschen wurden nicht nur Aspekte wie Erziehung oder Charakterbildung, sondern insbesondere auch die Kleidung als eine zentrale Ausdrucks- und Erscheinungsweise von Kultur neu bewertet.28 Johann Christoph Adelungs »Versuch einer Geschichte der Cultur des menschlichen Geschlechts« (1782) versteht Kultur als ein Ensemble von Faktoren, welche die Menschheit aus dem Naturzustand herausführen: »von der Verfeinerung der leiblichen Gestalt bis zur Zunahme der Vernunfttätigkeit«.29 Johann Gottfried Herders »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« (1784-1791) gilt als erster kulturhistorischer Entwurf in Deutsch, der versucht mit Blick auf die jeweiligen materiellen Lebensbedingungen die »Kulturen der Völker« systematisch und klassifizierend zu erfassen. Hier entwirft Herder ein Beschreibungssystem für die Geschichte der menschlichen Seele in »Zeiten und Völkern«, das Völker in ihrem Charakter darstellt, Kulturen vergleicht und Zivilisationen einteilt und dabei die Perspektive auf das Ver23 | Johann Joachim Winckelmann: Geschichte der Kunst des Alterthums. Dresden 1764, S. 3. http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/winckelmann1764 [Zugriff: 09.07. 2013]. 24 | Winckelmann: Geschichte der Kunst des Alterthums, S. XI. 25 | Ebd. 26 | Ute Daniel: Kompendium Kulturgeschichte. Frankfurt a.M. 2001, S. 198. 27 | Daniel: Kompendium Kulturgeschichte, S. 197. 28 | Ebd., S. 197. 29 | Ebd., S. 199.
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stehen des Eigensinns historischer Individualitäten lenkt.30 Herders Idee des »Volkscharakters« wird zum zentralen Begriff ethnologischer und anthropologischer Debatten des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts und liefert später auch die Grundlage für einen idealistisch-romantischen »Volksbegriff«.31 Spalarts Quellenangaben rekurrieren jedoch nicht auf Herder, sondern auf den österreichischen Pädagogen und Direktor des Wiener Waisenhauses Franz Michael Vierthaler, der entlang der methodischen Vorgaben der Göttinger Historiker Schölzer und Meiner zwischen 1784 und 1794 eine nach Völkern gegliederte Universalgeschichte in fünf Bänden verfasst hatte: eine »Philosophische Geschichte der Menschen und Völker«32. Zudem verweist Spalart auf Franz Joseph Mumelter von Sebernthals »Neuen Versuch über die allgemeine Geschichte«33 (Wien 1795), der – näher an Voltaire und Montesquieu argumentierend – seine »allgemeine Geschichte« als einen historischen Verlauf von den universalhistorischen Staaten bis hin zu Völkervereinen angeordnet hatte.34 Der Beginn der modernen Wissenschaften der Mode, für die Spalarts »Versuch über das Kostüm« hier exemplarisch steht, bewegt sich also nicht nur in engem Zusammenhang zu den Entstehungsgeschichten der modernen Kunstund Kulturgeschichte, sondern im Besonderen zur Ethnografie. Zu einem zentralen Objekt des Wissens wird das Kostüm an der Schwelle hin zu einer synchronistisch-ethnografischen Universal- bzw. Kulturgeschichte, der es darum ging, die räumlichen und gesellschaftsgeographischen Dimensionen von Kultur zu zeichnen, indem Völker zu einem Gegenstand der Geschichtswissenschaften avancierten. So kommt es einerseits zu Adaptionen des Volks-Begriffs aus der griechisch-römischen Antike, wo Völker als unpolitische (ethnische) Größe als Gruppen von Menschen verstanden wurden, die durch Abstammung, Sprache, Sitten, Eigenart und nicht zuletzt durch einen gemeinsamen Namen im Sinne von Ethnos, Genos/Geschlecht oder Stamm zusammenge-
30 | Eberhard Berg: Johann Gottfried Herder (1744-1803). In: Wolfgang Marschall: Klassiker der Kulturanthropologie. München 1990, S. 51-68, hier S. 51. 31 | Wolfgang Kaschuba: Einführung in die Europäische Ethnologie. München 2012, S. 32f. 32 | Thomas Nutz: Varietäten des Menschengeschlechts. Die Wissenschaften vom Menschen in der Zeit der Aufklärung. Köln, Weimar, Wien 2009, S. 81. 33 | Franz Mumelter von Sebernthal: Neuer Versuch über die allgemeine Geschichte, Bd. 1 und Bd. 2. Wien 1795. 34 | Joan Leopold: The Origins of Culture and Society within Universal History Writing at the End of the 18th Century. In: Britta Rupp-Eisenreich/Justin Stagl (Hg.): Kulturwissenschaft im Vielvölkerstaat. Zur Geschichte der Ethnologie und verwandter Gebiete in Österreich ca. 1780-1918. Wien 1995, S. 64-79, hier S. 67.
Kostümgeschichten und frühe Modetheorien
hören.35 In diesem Sinne wurde der Volksbegriff zu einer Schlüsselkategorie der Ethnografie, mit der heute noch gelegentlich gearbeitet wird: »Völker sind über Abstammung und Kultur miteinander verbunden und verfügen über eine Organisationsform, die nicht zwangsläufig staatlicher Natur sein muss.«36 Zu Beginn der 1770er Jahre tauchten die Begriffe »Völkerkunde« und »Ethnographie« im Rahmen der Wissensgebiete der Geographie (als raumbezogene Deskription) und der Statistik (als staatsbezogene Deskription) immer häufiger auf: »Die Völkerkunde (Ethnographie ehemals auch moralische Geographie genannt), betrachtet die menschlichen Bewohner der Erde in großen Familien oder Völker abgeteilt, und untersucht derselben Abstammung und Verwandtschaft, Sprache und Leibesgestalt und Leibesfarbe, so wie überhaupt die körperliche Beschaffenheit, moralischen Charakter, intellektuelle Fähigkeiten, Lebensart, Beschäftigung, Nahrung, Kleidung, Wohnung, Sitten, Gebräuche, Künste, Wissenschaften, religiöse Meinungen und Kultur überhaupt.« 37
Als Meilenstein für das neue Wissensgebiet gilt Theophil Friedrich Ehrmanns Aufsatz »Ueber Völkerkunde«, in der von ihm herausgebenen Zeitschrift »Bibliothek der neusten Länder und Völkerkunde« aus dem Jahr 1792, demnach Völkerkunde »alle Nationen, Völker, Völkerschaften und Horden, in welches das Menschengeschlecht zerteilt ist, bis zu den kleinen Häufchen von Menschenfamilien« fokussiert.38 Erst die »Verschiedenheiten« konstituieren eine Unterscheidung der menschlichen Gattung in »Völker«.39 Auch Friedrich Justin Bertuch, der Verleger des 1886 erschienen »Journals der Moden«, das ab dem 2. Jahrgang »Journal des Luxus und der Moden« hieß, war ein Akteur der neuen Ethnografie. In der Einleitung zu seinem »Allgemeine[n] Archiv für Ethnographie und Linguistik« – von dem 1808 nur der erste Band erschien – definierte er deren Grenzen zur Geographie und Statistik: »Ein ›Ethnogra-
35 | Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck: Volk, Nation, Nationalismus, Masse. In: Dies. (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland, Bd. 7. Stuttgart 1992, S. 141-423, hier S. 164. 36 | Dieter Haller: dtv-Atlas Ethnologie. München 2005, S. 95. 37 | Theophil Friedrich Ehrmann versuchte 1806 diese Definitionen von Völkerkunde/ Ethnografie in einem programmatischen Einleitungstext zu seiner Zeitschrift »Neueste Länder- und Völkerkunde. Ein geographisches Lesebuch für alle Stände«, Bd 1. Weimar 1806, S. 17f., zitiert nach: Thomas Nutz: Varietäten des Menschengeschlechts, S. 89f.; vgl. ebd. S. 87. 38 | Zit. Nach ebd., S. 90. 39 | Zit. nach ebd.
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phisches Journal‹ hat die ›physischen, moralischen und intellectuellen Eigenthümlichkeiten der Völker, und ihrer Abstammung‹ zum Gegenstand«.40 Mit den sich seit den 1770er Jahren neu formierenden Wissensgebieten einer Volks- und Völkerkunde und der Ethnografie wird das Kostüm zum Kerngegenstand historisch-ethnografischer Episteme und zu einem Objekt, entlang dessen Kultur (und Geschichte) verwissenschaftlicht werden. Dabei wirken auch zeitgenössische ethnografische Forschungen, wie die von Johann und Georg Forster bei Cooks zweiter Reise (1772-75) wieder auf Geschichtsdarstellungen zurück.41 Als visuelle Evidenz ethnografischer Vielfalt hatten die Forsters, denen es darum ging »Menschenstämme in ihrer eigenthümlichen Verschiedenheit« zu beschreiben, auf der Expedition unter anderem Kleidung, Waffen und Hausrat gesammelt.42 Am Kostüm als historisch-ethnografischem Klassifizierungssytem von Volk und Nation wird Kultur aufgezeigt und illustriert. Versteht man das Kostüm in Anlehnung an Rheinberger als epistemisches Ding, das der Verkörperung von Begriffen dient, so werden am Kostüm um 1800 historisch-ethnografische Begriffsversuche für Kultur entwickelt und imaginiert: »Nicht ein Begriff, der bereits fertig da wäre, bekommt einen Körper, sondern der Körper bekommt allmählich ein begriffliches Gewand; es werden ihm gewissermaßen Begriffsversuche angemaßt. Und in dieser Anmaßung treiben sich beide, epistemisches Ding und epistemisches Konzept, weiter. Sie bilden ein Amalgam, wenn man so sagen kann, von Materie und Zeichen.« 43
G eschichtsordnungen des K ostüms als e thnogr afische E pisteme Spalarts Kostümwerk ist in einem historischen Dreischritt »des Alterthums, des Mittelalters und der neueren Zeiten« angelegt. Jedoch konnten lediglich zwei dieser historischen Epochen realisiert werden, sodass die Bände zur Bekleidung der neueren Zeit nicht über ihre Ankündigung hinaus gekommen sind.44 Bereits beim Mittelalter bricht Spalart nach der Herausgabe von zwei 40 | Zit. nach ebd. 41 | Dieter Heintze: Georg Forster (1754-1794). In: Marschall: Klassiker der Kulturanthropologie, S. 69-87, hier S. 79. 42 | Taylor: Establishing Dress History, S. 70. 43 | Hans-Jörg Rheinberger: Epistemisches Ding und Verkörperung. In: André L. Blum/ John Michael Krois/Hans-Jörg Rheinberger (Hg.): Verkörperungen (= Preprint Max-PlanckInstitut für Wissenschaftsgeschichte; Band 416). Berlin 2011, S. 15-19, hier S. 15. 44 | Mayerhofer-Llanes: Die Anfänge der Kostümgeschichte, S. 91.
Kostümgeschichten und frühe Modetheorien
Bänden im Jahr 1800 und 1801 das Projekt ab, sodass der dritte 1804 und der vierte 1807 erschienene Teil vom Schriftsteller und Literaturprofessor Jakob von Kaiserer verfasst wurden. Spalart eröffnet seine historische Ordnung mit dem Begriff der Nation bzw. der »alten Nationen«45, der als Leitbegriff den historisch-diachronen Klassifikationen des Kostüms unterliegt. In den historischen Ordnungen des Kostüms spiegeln sich Vorlagen für ein universalgeschichtliches Gedächtnis wider, das – im Sinne einer Präsentation der ›Besten‹ – nicht nur eine klassifizierende Auswahl der »vorzüglichsten Völker« vornimmt, sondern ein ethnografisches Klassifikationssystem von Raum, Zeit und Zivilisation entwirft: als Nation, Volk oder Stamm. Während das »Alterthum« im ersten Teil unter dem Leitbegriff der Nation aus Abhandlungen zu Ägypten und den Griechen besteht, beginnt der zweite Teil mit der Kategorie der »Anderen«, der barbarischen Nationen, und behandelt danach Hebräer und »Indier«.46 Der dritte Teil zur Antike spiegelt demgegenüber das Repräsentationsmodell einer Römischen Nation mit partikularen Volksgruppen wider: Etruscer, Lateiner, Samniter, Marsen und Sabiner. Die Abhandlungen zum Mittelalter setzen zeitlich im 5. Jahrhundert mit dem Kostüm der Goten ein und vollziehen den historischen Verlauf bis ins 12. Jahrhundert anhand der Klassifikation eines Vielvölkermodells nach: Seuven, Vandalen, Gepiden, Makomanen, Quaden und Heruler, Hunnen, Angelsachsen und Dänen.47 Diese werden in den anthropologischen Klassifikationen von Stamm, Volk, Nation, oder auch als »Stammvölker verschwisterter Nationen« beschrieben.48 Die Klassifizierung des darauf folgenden Bandes nach den Völkern der Franken und Normannen drückt demgegenüber wiederum stärker die Idee der Nation aus,49 während die letzten beiden von Jakob Kaiserer zum Mittelalter verfassten Bände eine Geschichte des Ritterwesens für »alle Nationen Europas« vom 11. bis zum 15. Jahrhundert entwerfen und mit dem Kostüm der geistlichen Orden sowie einem kurzen Abriss zu den Türken im Mittelalter schließen. 45 | Spalart: Versuch über das Kostüm, 1. Abt. 1. Teil, S. 18. 46 | Im Band – 1. Abt. 3. Teil – rechtfertigt sich von Spalart gegen den Vorwurf eines Rezensenten seines ersten Bandes, wieso er die »unkultivierten Germanen« nicht aufgenommen habe. Spalart: Versuch über das Kostüm der vorzüglichsten Völker des Alterthums, des Mittelalters und der neuern Zeiten, 1. Abt. 3. Teil. Wien 1798. S. VII. 47 | Robert von Spalart: Versuch über das Kostüm der vorzüglichsten Völker des Mittelalters, 2. Abt. 1. Teil. Wien 1800; Robert von Spalart: Versuch über das Kostüm der vorzüglichsten Völker des Mittelalters, 2. Abt. 2. Teil. Wien 1802. 48 | Spalart: Versuch über das Kostüm, 2. Abteilung 1. Teil, S. 11. 49 | Robert von Spalart: Versuch über das Kostüm der vorzüglichsten Völker des Mittelalters 2. Abteilung 3. Teil: Geschichte des Ritterwesens im Mittelalter von Jakob Kaiserer. Wien 1804; 4. Teil. Wien 1807.
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Spalarts unvollendeter »Versuch über das Kostüm« veranschaulicht parallel zum Entwurf anderer universalhistorischer Geschichtsschreibungen historische Verlaufsstrukturen, die als plastische Imaginationen von Vergangenheit und einem aufklärerischen, auf die Zukunft gerichteten Nationalismus charakterisiert werden können.50 So rückte ›Volk‹ um 1800 im Deutschen nicht nur zu einem Grundbegriff auf, der darauf abzielte, die verschiedenen Staatsvölker zum ›Volk‹ zu einen, sondern erfuhr dabei auch eine Aufwertung, bei welcher der Begriff sowohl das Staatsvolk als ›Nation‹ wie auch die Bevölkerung umfassen konnte.51 Spalarts kostümhistorische Beschreibungen basieren auf spezifischen Konstruktionsgesetzen. Dem Prinzip der Vergleichbarkeit folgend wählt er ein Darstellungsschema einer völkerkundlich-ethnografischen Taxonomie mit konstanten Kategorien, die im Verlauf der Bände nur geringfügig modifiziert werden: Frauenkleidung, Männerkleidung, Waffen und Kriegsgeräte, Bauart, Gestalt, Charakter der Maler, Bildhauer und Musiker, Sitten und Gebräuche (auch: Religion, Ehe- und Hochzeit, Trauer). Diese machen das Kostüm zum Objekt in einem Klassifikationsverfahren innerhalb einer historisch-ethnografischen Ordnung mit den Überbegriffen Stamm, Volk und Nation.
U rsprungsmodelle zur »E rfindung der K leidung « Als begriffliches Phänomen von Kultur als Volk und Nation arbeitet Spalart das Kostüm in ein universalistisches anthropologisches Erklärungsmodell zum Ursprung der »Erfindung der Kleidung« ein. In seiner Einführung zum ersten Band beschreibt er die »Kunst, Kleider zu machen«52 und geht dabei davon aus, dass die Liebe zur Bekleidung eine »natürliche Neigung« sei.53 Diese fällt mit dem Begriff der Gestaltung der Nation zusammen: »Jede Nation, die irgend ein Land bewohnt, welches Materialien zum Putze enthält, und die einigermassen Geschicklichkeit besitzt, diese Materialien zu bearbeiten, zeigt soviel Scharfsinn, als […] [sich] aufs beste und vorteilhafteste zu schmücken und auszuzieren.«54 Damit setzt sich Spalart über zeitgenössische Positionen hinweg, die Kleidung mit Notwendigkeit oder Scham begründen. Er sieht demgegenüber die »Liebe zum Putz« und im Sinne der Aufklärung den »Hang zur Mannigfaltigkeit« als »natürlichen Trieb« und anthropologischen 50 | Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters. Frankfurt a.M. 1996, S. 70. 51 | Brunner/Conze/Koselleck: Volk, Nation, Nationalismus, Masse, S. 143 u. 149. 52 | Spalart: Versuch über das Kostüm, 1. Abt. 1. Teil, S. 2. 53 | Ebd., S. 6. 54 | Ebd., S. 4.
Kostümgeschichten und frühe Modetheorien
Faktor (aus dem historisch die »Sitte« entstand). Hierarchische Überlegenheit werde durch »äußere Zierde« zum Ausdruck gebracht.55 Aber auch in einem egalitären Sinn wird Kleidung im spalartschen Erklärungsmodell zum Ausdrucks- und Gestaltungsmittel von Vielfalt und Veränderung. Neue Erscheinungen oder auch neue Eindrücke auf die Sinne, Leidenschaften und Liebe (seitens des »weiblichen Geschlechts«) könnten nur entstehen, indem sich die menschliche Figur und Gestalt durch Kleidung »vermannigfaltige«.56 Vielfalt, Mannigfaltigkeit und Perfektibilität – die Leitmotive der Aufklärung – werden an der Kleidung als kulturelle Fähigkeiten evident. Spalarts Ursprungstheorie – eine integrative Geschichte der Entwicklung einer »Cultur« der menschlichen Gattung zu beschreiben, die der »Natur« bzw. den menschlichen Anlagen folgt – ist mit der Ambition verknüpft, auch die Materialität, den »Stoff der Kleidung« und die textilen Techniken entwicklungsgeschichtlich zu klassifizieren.57 Diese Entwicklungsgeschichte beginnt für ihn mit dem Flechten pflanzlicher Materialien. Blätter, Baumrinde, Rohr und andere Gewächse aber auch Felle sind für ihn die historisch ersten Stoffe zur Bekleidung. Sie sind der Ausgangspunkt eines Evolutionsmodells, bei dem sich die Verfeinerung von Kultur an unterschiedlichen Materialien und Techniken ablesen lässt. Erst später, so Spalart, sei die »Kunst« der Befestigung mittels Tiersehnen, Dornen oder spitzen Knochen entstanden. Eine weitere höhere Kulturstufe setzt er mit der Verarbeitung von Kamelhaaren und Schafwolle (in Palästina und Mesopotamien) fest. Die höchste Kulturstufe stellt für ihn der Anbau und die Verarbeitung von Flachs und Baumwolle zu Leinwand dar.58 Zwei naturwissenschaftliche Rückschlüsse werden auf der Folie dieser historischen Theorie gezogen: Erstens, dass »ein vierfacher allgemeiner Stoff der Kleidung« existiere, der sich in die folgenden hierarchischen Gattungen untergliedere: Vegetabile, d.h. pflanzliche Stoffe, Baumwolle, Tierfelle, Tierwolle.59 Diese vier Gattungen könnten, so Spalart weiter, einerseits in Relation zu zeitgenössischen Theorien gesetzt werden, die davon ausgingen, dass es auf der Erde vier »Menschenrassen« gebe. Im Gegensatz dazu nimmt Spalart jedoch als zweiten Schluss daraus eine ganz andere, eigensinnige Kulturtheorie auf: Die der »fünf Hauptgattungen der Menschen in Ansehung ihres Kleidungsstoffes«.60
55 | Ebd., S. 4 u. S. 6. 56 | Ebd., S. 6. 57 | Nutz: Varietäten des Menschengeschlechts, S. 83. 58 | Spalart: Versuch über das Kostüm, 1. Abt. 1. Teil, S. 10f. 59 | Ebd., S. 11. 60 | Ebd.
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Abbildung 3: Allgemeine Kleidungs-Karte der Weltbewohner 1796/97
A llgemeine K leidungs -K arte der W eltbe wohner : M aterialordnungen und V erwandschaf tsbeziehungen Diese Idee zu einer Weltkarte der »fünf Hauptgattungen der Menschen in Ansehung ihres Kleidungsstoffes« kopierte Spalart aus Friedrich Justin Bertuchs und G.W. Kraus’ »Pandora, Taschenbuch des Luxus und der Moden aller Völker« aus dem Jahr 1787. Der Kartograph Franz Ludwig Güssefeld hatte die dort abgedruckte »Allgemeine Kleidungs-Charte der Weltbewohner« entworfen, die Spalart nun in seinem »Versuch über das Kostüm« mit »einigen Verbesserungen« nachstechen ließ, um, wie er schrieb, »nun dem Auge auf einmal ein interessantes Tableau dar[zustellen], welches den Denker auf mancherlei Art beschäftigen kann.«61 Während Spalarts universalhistorische Darstellung des Kostüms nach Völkern und Nationen im Mittelalter endet, repräsentiert demgegenüber die »Allgemeine Kleidungs-Charte der Weltbewohner« die zeitgenössische europäischwestliche Geographie. Als »ein Tableau, das keine Rücksicht auf die Kolonisten und Küstenbewohner nimmt«, klassifiziert die Karte eine vestimentäre Welt nach folgenden Kriterien: »Roth, für vollkommene Nacktheit, Braun für Kleidung von Thierfellen, Gelb für Kleidung von Thierwolle, Violet für Kleidung von Baumwolle, Grün für Kleidung von anderen Pflanzenzeugen.«62 61 | Ebd., S. 13. 62 | Ebd., S. 13f.
Kostümgeschichten und frühe Modetheorien
Anhand der Karte werden eigensinnige Verwandtschaftsbeziehungen zwischen »Völkern« generiert: »Der Europäer und südliche Tatar kleidet sich in Thierwolle, er mag Tuch, glatten gezwirnten Zeug, Filz oder irgend einen Stoff, der aus Wolle gemacht wird, tragen.« Bei der Beschreibung der vestimentären bzw. stofflichen Ähnlichkeiten zwischen den Menschen unterschiedlicher Regionen entstehen gleichzeitig exotische Kostümbilder: »[D]er Nordasiate, Nordamerikaner, Patagonier, Feuerländer und Hottentotte ist ein Fellträger, er mag sich nun in eine Rentier-, Bären-, Schwanen- oder Fischhaut vom Scheitel bis zur Zehe einnähen, oder Quanico- oder Schaffelle um den Hals, und um die Lenden hängen, und übrigens halb nackt gehen.« 63
K opien als S chaubilder Die Bilder zu den zehn Textbänden des »Versuchs über das Kostüm« sind in fünf bzw. sechs Abbildungsbänden erschienen. Sie gehen nicht auf Spalarts eigene Studien an Originalen zurück, sondern wurden aus Publikationen übernommen, großteils aus Andre Lens’ »Kostüm der meisten Völker des Alterthums, durch Kunstwerke dargestellt«, aber auch von Calyus, Motfaucon, Berger, Hamilton und Winckelmann, die in den jeweiligen Bänden durch Widmungsillustrationen auf den Titelseiten repräsentiert sind.64 Objekte und Figuren wurden aus dem Kontext der Vorlage herausgelöst, nummeriert und zu neuen Schautafeln zusammengesetzt, die jedoch nur zum Teil mit den Beschreibungskategorien des Textes korrespondieren, sodass insbesondere im Abbildungsteil zur Antike eigene Objektwelten aus Säulen, Kopfbedeckungen, Waffen, Musikinstrumenten oder Möbeln erschaffen werden, die in dieser Dichte nicht den Beschreibungskategorien des Textes entsprechen. Für den Bildteil wurden Figuren kopiert, indem sie freigestellt und meist in ihrer Körperhaltung verändert wurden. Figuren wurden in einer neuen Zusammenstellung gruppiert und dabei durch Haltung und Gestik zueinander in Beziehung gesetzt. Alle Figuren wurden einheitlich auf einen Landschaftstreifen mit grünem Gras übertragen, auf dem sie in den Vordergrund treten. Damit deuten Spalarts Demonstrationstafeln historisch rückblickend bereits auf ein romantisches Re-Enactment von Geschichte hin. Volk und Nation, die historischen Ordnungen des Kostüms, wurden so als Teil ländlicher Szenen und ähnlicher Landschaftsräume inszeniert.
63 | Ebd., S. 14. 64 | Vgl. Mayerhofer-Llanes: Die Anfänge der Kostümgeschichte, S. 107.
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Abbildung 4: Antikes Kostümbild aus Standbild 119 (Villa Borghese) und Flora (Kapitol) 120 von Spalart nach Lens
Die genaueren kunsthistorischen Wanderungen von Figuren, die Spalart für seinen »Versuch über das Kostüm« kopierte, hat Andrea Mayerhofer-Llanes in ihrer Forschung über »Die Anfänge der Kostümgeschichte« herausgearbeitet und dabei auch ein Gemälde von Angelika Kaufmann identifiziert: »Die Nymphe Egeria reicht Numa Pompilius das Schild«.65 Während sich die Kostümdarstellungen im Textteil zur Antike im Wesentlichen auf Textquellen stützen und die Figuren und Schautafeln im Tafelteil bisweilen zur Evidenz dieser Kostümgeschichten herangezogen werden, werden in den Bänden zum Mittelalter die Verweise auf die Bilder dichter. Hier werden Kostüme nun entlang der Bilder aus Joseph Strutts »A Complete View of Dress
65 | Vgl. ebd., S. 106-109; insb., S. 108.
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and Habits of the People of England« beschrieben.66 Die Bildbeschreibungen vermischen sich immer stärker mit Bewertungen des Autors: »Die eigentlichen Sackärmel (les manches a poches) […] welche das Frauenzimmer von Range im 12ten Jahrhundert trug, hatten eine lächerliche Länge wie man an der 134sten und 135sten Figur bemerken kann.«67 Jakob von Kaiserer, der den »Versuch über das Kostüm« in den letzten beiden Bänden zum Mittelalter fortsetzt, übernimmt Spalarts Arbeitsweise des Kopierens. Er transferiert Figuren aus Hippolyt Helyots’ »Ausführlicher Geschichte aller geistlichen und weltlichen Kloster- und Ritterorden für beyderlei Geschlecht« auf den grünen Landschaftsstreifen und passt die Gewänder stilistisch an die Moden des 17. und 18. Jahrhunderts an.68 Abbildung 5: Janitscharen 1807
66 | Joseph Strutt: A Complete view of the Dress and Habits of the People of England, from the establishment of the Saxons in Britain to the present time. London Bd. 1: 1796; Bd. 2: 1799. 67 | Spalart: Versuch über das Kostüm, 2. Abt. 1. Teil, S. 305f. 68 | Hippolyt Pierre Helyots: Ausführliche Geschichte aller geistlichen und weltlichen Kloster- und Ritterorden für beyderlei Geschlecht, Bd. 1 und Bd. 2. Leizpig 1753; Vgl. Mayerhofer-Llanes: Die Anfänge der Kostümgeschichte, S. 108.
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Im Vergleich zu Spalart fallen die Bilder bei Kaiserer durch ihre stärker exotisierenden Darstellungen von Menschen und Kleidungsstücken auf. Zudem übernahm Kaiserer unverändert Darstellungen aus dem frühen druckgraphisch publizierten Trachtenbuch von Cesare Vecellio von 1590 und publizierte diese als Darstellungen für die Epoche des Mittelalters.69
K ostümgeschichten als D iskursfelder zur V erhandlung von V olks - und N ationalkörpern 1774 – zwei Jahre vor Erscheinen von Spalarts Kompendium – war bereits an der Wiener Akademie der Bildenden Künste eine Kostümsammlung für Maler und Bildhauer begründet worden.70 Dass diese auf Betreiben des Protektors der Akademie Fürst Kaunitz initiiert wurde, der am Hof Maria Theresias als Staatskanzler für Außenpolitik und innenpolitisch für die Durchsetzung absolutistisch-aufklärerischer Verwaltungsreformen zuständig gewesen war, dokumentiert auch den gouvernmentalen Hintergrund, auf dem sich die Kostümkunde als akademische Disziplin an Kunstakademien etablierte. Die erste Phase der modernen Kostümgeschichte kann als Teil eines historischen Prozesses eingeordnet werden, den Benedict Anderson als die »Erfindung der Nation« beschrieben hat.71 Auch Christian Garves »Über die Moden« aus dem Jahr 1792 spricht vom »ganzen Körper einer Nation«.72 Als Wissens-Produzenten wirken die Autoren von Kostümgeschichten bei der Erzeugung von Texten und Bildern vielfältiger genannter Volks- und Nationalkörper des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts mit. Die Rolle der Kostümgeschichten liegt dabei in der rückwirkenden »Invention of Tradition«, die in enger Rückkopplung mit den synchronen ethnografischen Beschreibungen von Kultur steht.73 Der ethnografische Blick auf die Kleidung und Körper ›anderer‹ Völker und Nationen verschränkte sich immer stärker mit den Beschreibungen der ›eigenen‹. Richtunggebend hierfür waren die Kriterien der Reisebeschreibung, 69 | Ebd., S. 109. 70 | Universitätsarchiv der Akademie der Bildenden Künste 21.326-C: Kostümsammlung/Kostümkunde an der Akademie der bildenden Künste. 71 | Bendedict Anderson: Die Erfindung der Nation: Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Frankfurt a.M. 1996. 72 | Christian Garve: Über die Moden. Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Litteratur und dem gesellschaftlichen Leben. Frankfurt a.M. 1987 (1792), S. 20. 73 | Eric Hobsbawm/Terence Ranger (Hg.): The Invention of Tradition. Cambridge 1983; Eric Hobsbawm: Nationen und Nationalismus: Mythos und Realität seit 1780. Frankfurt a.M. 1991.
Kostümgeschichten und frühe Modetheorien
die mit denen der frühen Ethnografie korrelierten.74 Wie Lioba Keller-Drescher für Württemberg gezeigt hat, wurden Vertreter des ländlichen Raums innerhalb des Nationalisierungsprogramms zu Repräsentanten der Stabilisierung.75 Statistische Landesbeschreibungen, die in absolutistischer Tradition Kleidung im Ordnungsdiskurs territorialer Macht-, Körper und Raumordnungen beschrieben haben, nehmen als Texte zur Formung eines kulturellen und nationalen Gedächtnisses ebenfalls eine zentrale Rolle ein. Parallel zu den Kostümgeschichten funktionieren auch sie über eine Aufladung durch Wiederholung. Kleidung formiert Merkpunkte im Erinnerungsraum: Die innere Visualisierung, die mit der Beschreibung der Kleidung hervorgerufen wird, wirkt sich verstärkend auf die Erinnerungswirkung aus.76 Als Beiträge zur Ethnografie zur »Beschreibung der Einwohner eines Königreiches« verstanden sich auch Landesbeschreibungen höherer Militärs, wie beispielsweise in Österreich-Ungarn Joseph Heinbuchers Edler von Bikkessys Publikation über »Pannoniens Bewohner in ihren volksthümlichen Trachten« aus dem Jahr 1820.77 Als Oberstlieutenant der Armee hebt der Autor seine Intentionen zur »Erweiterung der Landeskunde« hervor und betont seine »patriotischen Gesinnungen« als Staatsbürger, die ihn zur Genauigkeit, »Wahrheit« und »Liebe« der achtundsiebzig Zeichnungen angehalten habe, die er als »National-Bildergallerien« präsentierte. Dabei ging es ihm darum, die »Nationalphysionomien der verschiedenen Völker getreu« wieder zu geben.78 Im Bild der kroatischen Bauern im Schilfumhang als Regenmantel überlagern sich Imaginationen außereuropäischer indigener Kostüme mit denen der »eigenen« Völker. Bis zu den 1860er Jahren entwickelte sich, so Taylor, die Kleidung der europäischen Landbevölkerung zur Rolle der indigenen ländlichen »Anderen«.79 Koloniale Grenzziehungen und Hierarchien fließen epistemisch in den Begriff der Mode ein, als Teil eines Prozesses, den Walter Mignolo folgendermaßen charakterisiert hat: »›Modernity‹, ›Occidentalism‹ and ›Reason‹ were the tools implemented in colonialization that define the coloniality of power and
74 | Lioba Keller-Drescher: Die Ordnung der Kleider. Ländliche Mode in Württemberg 1750-1850. Tübingen 2003, S. 70. 75 | Keller-Drescher: Die Ordnung der Kleider, S. 72. 76 | Ebd. 77 | Joseph Heinbucher Edler von Bikkessy: Pannoniens Bewohner in ihren volksthümlichen Trachten auf 78 Gemälden dargestellt nebst ethnographischer Erklärung. Wien 1820, S. 23. 78 | Ebd. 79 | Taylor: Establishing Dress History, S. 67.
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produced the colonial difference.« 80 So perspektiviert und hierarchisiert auch Garve 1792 die Mode als Verkörperung von »Modernität« versus »Kolonialität«, wenn er schreibt, dass Mode das Stadium einer »Kultur fortgeschrittener Nationen« sei, die »rohen und unaufgeklärten Völkern« gegenüberstehe.81 Abbildung 6: Kroatische Bauern im Regenmantel 1820
Dieser kolonialisierende Modebegriff lässt sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts auch im Diskurs der Modezeitschriften finden. »Die geringer entwickelten Völker« ließen sich an ihrer »Geistes- und Geschmackskultur« erkennen; ihre Kleidung sei »statisch, sie hielten mit starrer Hartnäckigkeit an dem Alten« fest und kannten »kein Wort für das, was wir Mode nennen«, schrieb das Modejournal »Charis« 1806.82 Debatten um Nationalkleidung wurden in 80 | Walter Mignolo/Luisa Elena Delgado/Rolando J.Romero: Local Histories and Global Designs: An Interview with Walter Mignolo. In: Discourse 22 (2000), Heft 3, S. 7-33, hier S. 29. muse.jhu.edu/demo/discourse/v022/22.3delgado02.pdf [Zugriff: 09.07. 2013]. 81 | Garve: Über die Moden, S. 23. 82 | Charis. Ein Magazin für das Neueste in Kunst, Geschmack u. Mode, Lebensgenuss u. Lebensglück. Leipzig 1806, S. 10. Zitiert nach: Astrid Ackermann: Paris, London und
Kostümgeschichten und frühe Modetheorien
Modezeitschriften wie dem »Journal des Luxus und der Moden« seit Ende der 1780er Jahre geführt und nahmen danach in den 1810er Jahren zu.83 Als Fortsetzungsreihen von Zeitschriften wie der »Wiener Moden Zeitung«, die zu dieser Zeit zweimal pro Woche erschien, wurden Texte zur Nationalkleidung84 alternierend mit Berichten zur »orientalischen Toilette« publiziert und so das »Eigene« im Sinne eines strategischen Othering gegenüber dem »Anderen« positioniert.85 Während diese Traktate jedoch – genauso wie Spalarts »Versuch über das Kostüm« – auf den kulturellen Klassifizierungen und Diversifizierungen von Volk, Nation und Stamm basierten, flossen später in den 1840er Jahren auch biologische Klassifikationssysteme und der Rassebegriff in die Ordnungen des Kostüms ein. Ein Beispiel hierfür ist »Die Völker des Erdballs nach ihrer Abstammung und Verwandtschaft, und ihren Eigenthümlichkeiten in Regierungsform, Religion, Sitte und Tracht« von Heinrich Berghaus, dem Gründer und Leiter der geographischen Kunstschule zu Potsdam aus den Jahren 1845-47.86 Das Kostüm wird nun auch zum »Begriffsversuch« von »Rasse«, die Berghaus wie folgt definiert: »alle Individuen derselben Gattung, bei denen durch den Einfluß des Klimas, des Bodens, der Nahrung und Lebensweise Abweichungen eingetreten sind […] [, die sich] durch die Fortpflanzung weiter […] [ver]erben«87. »Der Mensch steht in der höchsten Stufe in der Reihe der Tiere, und bildet eine […] verschiedene Species oder Gattung«, schreibt Berghaus einführend und betont den Unterschied zu den »so wiederlich menschenänlichen Affen«. Dabei klassifiziert er sowohl nach innen – auf Deutschland und Europa bezogen – als auch außereuropäisch und untergliedert in Menschen-Rasdie europäische Provinz. Die frühen Modejournale 1770-1830. Frankfurt a.M. 2005, S. 350. Ackermann verweist hier zusätzlich noch auf: Journal des Dames et des Modes (Frankfurt) 9, September 1798, S. 2. 83 | Keller Drescher: Die Ordnung der Kleider, S. 71. 84 | Ernst Moritz Arndt: Über Sitte, Mode und Kleidertracht. Ein Wort aus der Zeit. Frankfurt a.M. 1814; Caroline Pichler: Über eine Nationalkleidung für deutsche Frauen. Aus den Friedensblättern abgedruckt. Freyburg, Constanz 1815; Friedrich August von Klinkovström: Über die Deutsche Nationaltracht und europäische Civilkleidung [Fortsetzungsreihe]. In: Wiener Moden Zeitung und Zeitschrift für Kunst, schöne Literatur und Theater 52, 28. September 1816. 85 | Vgl. Friedrich August von Klinkovström: Über die Deutsche Nationaltracht und europäische Civilkleidung [Fortsetzungsreihe]. In: Wiener Moden Zeitung und Zeitschrift für Kunst, schöne Literatur und Theater 52, Oktober 1816. 86 | Heinrich von Berghaus: Die Völker des Erdballs nach ihrer Abstammung und Verwandtschaft, und ihren Eigenthümlichkeiten in Regierungsform, Religion, Sitte und Tracht, Bd. 1. Brüssel, Berlin 1845. 87 | Berghaus: Völker des Erdballs, S. 6.
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sen, Stufen, Arten und Stämme. Seine Typologie außereuropäischer Kostüme visualisiert Repräsentationen dieser Menschen-Rassen, Stufen, Arten und Stämmen und zeichnet dabei ›die Anderen‹ hier wiederholt als »Eingeborene« mit abweisenden Gesichtsausdrücken. Abbildung 7: »Eingeborener von Neu-Irland« 1845
D ie drei Z yklen wissenschaf tlicher A ufmerksamkeit In Anlehnung an eine foucaultsche Archäologie des Wissens lassen sich im Prozess der Verwissenschaftlichung von Kostüm und Mode im 19. Jahrhundert drei Phasen erkennen.88 Im Anschluss an die hier beschriebene Schwelle der Positivität einer Verselbstständigung einer Kostümgeschichte als künstlerisches, kulturhistorisches, ethnografisches Epistem im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert 88 | Michel Foucault: Geometrie des Verfahrens. Schriften zur Methode. Frankfurt a.M. 2009, S. 86.
Kostümgeschichten und frühe Modetheorien
kommt es im zweiten Drittels des 19. Jahrhunderts zu einer Epistemologisierung der Kostümkunde. Nun institutionalisiert sich die Kostümkunde als eigene wissenschaftlich-akademische Lehrdisziplin mit spezifischen Konstruktionsgesetzen, Technologien und auch Ökonomien.89 Als eigene Fachdisziplin mit spezifischen Professuren etablierte sich die Kostümkunde Mitte des 19. Jahrhunderts an Kunstakademien. Hermann Weiss wurde 1854/56 zum Professor an der Berliner Akademie, Leopold Karl Müller rund 20 Jahre später 1877 in Wien.90 Als »Allgemeine Universale Kostümgeschichte« grenzt Weiss die Kostümwissenschaft von der Kulturgeschichte ab und nimmt hier einen Perspektivwechsel hin zu einer Wissenschaft »aus dem Gesichtspunkt des Kostüms« vor.91 Damit verband sich teilweise auch der Wandel der Kostümkunde von einer »Hilfswissenschaft«, wie sie beispielsweise an der Akademie der bildenden Künste in Wien 1872 noch genannt wird, hin zu einem »theoretisch-wissenschaftlichen Fach«, wie sie in der Studienordnung für die Bereiche Allgemeine Malerschule, allgemeine Bildhauerschule und Medailleurkunst von 1876 ausgewiesen ist.92 Auch Gottfried Sempers »Stil in den technischen und tektonischen Künsten« bezieht sich auf Weiss, obwohl er hier 1860 das »Entgegengesetzte« zur weissschen »Kostümkunde« vorschlägt: nämlich die »Kunstbetätigungen der Völker« in Beziehung zur Baukunst zu setzen, um so das »Kostümwesen der kunstübenden Völker des Altertums« mit dem »Stil ihrer Baukunst« zu verflechten.93 Zwischen 1850 und 1860 erschien eine Vielzahl deutschsprachiger kostümgeschichtlicher Publikationen: Jacob von Falkes »Die deutsche Trachten- und Modenwelt« beispielsweise oder Heinrich Klemms »Die menschliche Kleidung vom Standpunkte der Gesundheitspflege und Ästhetik« oder sein »Versuch einer Urgeschichte des Kostüms.94 Die Kostümwerke nahmen immer
89 | Ebd. 90 | Mayerhofer-Llanes: Die Anfänge der Kostümgeschichte, S. 290; Universitätsarchiv der Akademie der Bildenden Künste 21.326-C. 91 | Hermann Weiss: Kostümkunde. Handbuch der Geschichte der Tracht, 5 Bde. Stuttgart 1860-1872. 92 | Universitätsarchiv der Akademie der Bildenden Künste 21.326-C. 93 | Gottfried Semper: Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik: ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde: Die textile Kunst für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst, Bd. 1. Frankfurt a.M. 1860, S. 213; Weiss: Kostümkunde. 94 | Jacob von Falke: Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte, Bd. 1: Die alte Zeit und das Mittelalter; Bd. 2: Die Neuzeit. Leipzig 1858; Heinrich Klemm: Vollständiges Handbuch der höheren Bekleidungskunst für Civil, Militär und Livree zum Selbstunterrichte. Dresden 1846; Ders.: Die menschliche Kleidung vom
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stärker Bezug zur zeitgenössischen Körper-Modellierung, auch indem Schnitte publiziert oder Sport, Diät, Medizin, Hygiene oder Pädagogik beworben wurden. Abbildung 8: Schnitt für ein Frauen-Unterkleid aus dem 15. Jahrhundert, 1871
Kostümgeschichten wurden damit immer stärker in die modernen Ökonomien und Technologien von Körper und Geschlecht eingebunden, auch im Hinblick auf die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konstituierende Kleiderreformbewegung. So ist bereits die zweite Phase der Kostümwissenschaft im 19. Jahrhundert durch interdiskursive Dependenzen zwischen Natur-, Kunst- und Kulturwissenschaften geprägt, die sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts immer stärker auf den ›nackten Körper‹ zentrieren. Dies markiert den Paradigmenwechsel hin zu einer darwinistisch geprägten naturwissenschaftlichen Klassifizierung der außereuropäischen Welt. Anthropometrische Körpervermessungen von »Individuen verschiedener Menschenracen« werden zum Normativ, das als Neukonstruktion des Anderen im Selbst auch in Europa die Ethnisierung ›rassischer‹, sozialer und regionaler Körper vorantreibt.95 Standpunkte der Gesundheitspflege und Ästhetik. Wichtige Mahnungen und Aufschlüsse über bisher wenig erkannte Thatsachen und Erscheinungen. Dresden 1850. 95 | Vgl. dazu u.a. Rudolf Virchow: Beiträge zur physischen Anthropologie der Deutschen mit besonderer Berücksichtigung der Friesen. Berlin 1877; Albin Weißbach: Körpervermessungen verschiedener Menschenrassen. Europäischer Rassenwahn und Anthropometrie im 19. Jahrhundert. Berlin 2002 (1878).
Kostümgeschichten und frühe Modetheorien
Die Intensivierung der Biomacht führt auch zum Paradigmenwechsel in den Modetheorien.96 Nun werden hier Bilder und Historiographien nackter Körper zentriert und Typologien und Taxonomien von Schönheit, Gesundheit oder Krankheit entworfen. Beispiele hierfür sind Paul Schulze-Naumburgs »Die Kultur des weiblichen Körpers als Grundlage der Frauenkleidung« von 1901 oder »Die Frauenkleidung und ihre natürliche Entwicklung« aus dem Jahr 1900 von Carl Heinrich Stratz.97 Historisch fällt dies mit der medialen Verbreitung der Fotografie zusammen. Es kommt also zu einem Medienwechsel, der seinen Anspruch an eine naturgetreue Wahrheit nun an die Reproduktionen nackter Körper stellt. Insbesondere mittels pornografischer und ethnologischer Fotografien wird nun versucht »Spuren des Realen« und eine »körperliche Dichte des Sehens« zu erzeugen.98 Kostümkunden und Modetheorien werden zur Schnittstelle bzw. zu Scharnieren zwischen den Wissenschaften der Biologie, Medizin, Anthropologie, Kunst und Geschichte. Mode, Körper und Kostüm werden von unterschiedlichen Denkkollektiven, denen es um die bio- und geopolitische Ordnung moderner Körper geht, als Begriffe und Objekte benutzt. Als ein diese Diskurse verbindendes »Boundary Object«99 verschränkt Mode die epistemologischen Felder von Biologie, Medizin (Gynäkologie, Hygiene), Politik, Naturheilkunde, Kunst und Lebensreform. Die hier modellhaft skizzierten Phasen überschneiden sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts jedoch und lassen sich daher nur in ihren jeweiligen Überlagerungen skizzieren. Ein Beispiel hierfür ist Jacob von Falkes Kritik in der »Costümgeschichte der Culturvölker«, wo er noch 1881 beklagt, dass »noch im96 | Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit: Der Wille zum Wissen, Bd. 1. Frankfurt a.M. 1983. 97 | Carl Heinrich Stratz: Die Frauenkleidung und ihre natürliche Entwicklung. Stuttgart 1900; Carl Heinrich Stratz: Die Rassenschönheit des Weibes. Stuttgart 1901; Paul Schultze-Naumburg: Die Kultur des weiblichen Körpers als Grundlage der Frauenkleidung. Leipzig 1901. 98 | Linda Williams: Pornografische Bilder und die ›körperliche Dichte des Sehens‹. In: Herta Wolf (Hg.): Diskurse der Fotografie. Frankfurt a.M. 2003, S. 226-268, hier S. 226 u. 228. 99 | Vgl. Susan Star und James Griesemer: »A boundary object is a concept in sociology to describe information used in different ways by different communities. They are plastic, interpreted differently across communities but with enough immutable content to maintain integrity.« Susan Star/James Griesemer: Institutional Ecology, ›Translations‹ and Boundary Objects: Amateurs and Professionals in Berkeley’s Museum of Vertebrate Zoology, 1907-39. In: Social Studies of Science 19 (1989) Heft 3, S. 387-420, hier S. 393.
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mer […] die Geschichte des Costüms als eine Geschichte von Curiositäten und eine Reihe von Anekdoten aufgefasst [werde] und die Entstehung der Moden und Trachten an zufällige Namen und Ereignisse angeknüpft« sei.100 Wenn Falke schreibt, dass er »dieser gänzlich unwahren, gänzlich unhistorischen und gedankenlosen Auffassung«101 mit seinem Werk entgegentreten wolle, scheint es, als dauere die Phase der Positivität noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts an. Mein Beitrag will dazu anregen weiter unter diesen wissenschaftshistorischen Perspektiven nach dem Anteil der Kostümgeschichten und Modetheorien an den Wissensordnungen der Moderne und die durch sie begründeten geo- und biopolitischen Ordnungen von Raum, Nation, Gesellschaft, Körper und Geschlecht zu forschen. Dies schließt an Perspektiven der historisch-politischen Epistemologie an, die Politik als einen konstitutiven Bestandteil wissenschaftlicher Praxis begreift.102 Kostümkunden und Modetheorien nehmen in den Ordnungen modernen Wissens und den darauf begründeten politischen Ordnungsdiskursen eine Schnittstellenfunktion ein. Sie verschränken und verbinden unterschiedliche Wissenschaftsfelder interdiskursiv und verschiedene Denk- und Wissenskollektive, bei denen es um die bio- und geopolitische Ordnung moderner Körper geht. Eine Forschungsperspektive, die diese Epistemologien der Verstofflichung untersucht und nach den hier intendierten »Verkörperungen von Begriffen« fragt, versteht sich im Kontext einer materiellen Kulturanalyse, die – wie sie Lioba Keller-Drescher formuliert – ihren Focus auf die epistemische Situiertheit von Dingen richtet: im Hinblick auf ihre Position, ihre Rolle, ihre Eigenschaften und Funktionen im Prozess des Wissensschaffens.103 Gesellschaft und Wissenskulturen erscheinen dabei nicht voneinander losgelöst, sondern als ein heterogenes, dynamisch-antagonistisches Geflecht von Machtrelationen.104
100 | Jacob von Falke: Costümgeschichte der Culturvölker. Stuttgart 1881, S. IIIf. 101 | Ebd. 102 | Claus Zittel: Konstruktionsprobleme des Sozialkonstruktivismus. In: Ders. (Hg.): Wissen und soziale Konstruktion. Berlin 2002, S. 87-107, hier S. 98. 103 | Lioba Keller-Drescher: Das Versprechen der Dinge. Aspekte einer kulturwissenschaftlichen Epistemologie. In: Regula Rapp (Hg.): Verhandlungen mit (Musik-)Geschichte. (= Basler Jahrbuch für historische Musikpraxis; Band 32). Basel, Winterthur 2010, S. 235-247, hier S. 237. 104 | Volker Roelcke: Auf der Suche nach der Politik in der Wissensproduktion. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 33 (2010), Heft 2, S. 176-192, hier S. 189.
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Mode, Markt, Modernität Beziehungen zwischen Kunstmarkt und Modeindustrie im Paris des neunzehnten Jahrhunderts Ulrich Lehmann
Trotz der umfangreichen historisch-kritischen Literatur über Bekleidung und deren soziale, wirtschaftliche und kulturelle Bedeutung, trotz der zahlreichen literarischen Zeugnisse über die Mode, insbesondere in Frankreich seit dem Beginn des neunzehnten Jahrhunderts, und trotz der jüngsten Formation der Fashion Studies im angloamerikanischen Sprachraum, haftet dem Studienobjekt Mode ein marginaler Status an. Die Kostümgeschichte nehme ich hier ebenso aus wie die technologische Literatur über Bekleidung, die ihre eigene Historiographie entwickelt haben. Dies hat zum Teil mit akademischen Traditionen und Konzepten zu tun, verweist aber auch auf die Problematik des Forschungsgebietes selbst. Die Kostümgeschichte konzentriert sich auf materielle oder ikonographische Beschreibungen, die der Mode zwar ihr eigenes Gewicht verleihen, sie tragen jedoch – wie die traditionelle Kunstgeschichte – wenig zur Einordnung in die Kulturgeschichte bei. Die Kostümgeschichte ist oft ihrer eigenen Tradition zu sehr verpflichtet, um sich konzeptuellen Neuerungen widmen zu können. Ihr Charakter als methodologischer Nachkömmling der Kunst- oder Literaturgeschichte mit partiellen Annäherungen an die Soziologie trägt nicht dazu bei, ein wirklich neues Terrain zu beschreiten. Die Arbeiten vieler heute auf dem Gebiet der Mode aktiver Forscher und Forscherinnen zeigen, dass unterschiedliche akademische Disziplinen den Gegenstand präfigurieren. Dies ist verständlich und, wie am Beispiel der Soziologie am Ende des neunzehnten und Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts zu sehen ist, beschreibt es einen in sich logischen Prozess, der von der Annahme und Kombination existierender Diskurse und Strukturen zur Innovation der eigenen Disziplin und Methodik führen soll. Die technologische Literatur über die Kleidermode kann trotz ihres notwendig deskriptiven Charakters eine konzeptuelle Dimension beinhalten, die
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sich aus der Beschreibung von Produktionsprozessen, Vertrieb und Konsum ergibt. Technische Analysen haben eine materielle Dimension, die der Objektcharakter vorgibt. Darüber hinaus deutet sich eine Besonderheit im Diskurs über die Mode im Allgemeinen an. Die materielle Dimension der Kleidermode hat durch die Nähe zum Körper des Konsumenten eine erkenntnistheoretische Prägnanz. Ob es sich um Kleid, Hut, Geschirr, Sofabezug, Kutsche oder Menufolge handelt, die Idee der Mode ist stets, dem Subjekt durch die Anbindung des Objekts Form zu geben. Ohne hier die Subjekt-Objekt-Debatte in der Philosophie des Idealismus und Materialismus zwischen 1770 und 1870 zu vertiefen, ist eine umfassend verstandene Rolle der Mode in der Materialkultur des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts durch die Anbindung des Objekts an das tätige Subjekt unter den jeweiligen ökonomischen und ideologischen Bedingungen konzeptuell von Bedeutung. Ein Vorteil, den etwa die Fashion Studies mit anderen Feldern der Design History und Material Culture Studies gemein haben, ist die enge Anbindung an die gestalterische Praxis. Studien über die Kleidermode entstehen oft an Hochschulen für Gestaltung oder immer häufiger in kuratorischen Abteilungen von Museen. Dies erlaubt die Demonstration von praktischen und disziplinären Ansätzen, die der Mode als weiter gefasstem Feld Geltung verleihen. Eine Modewissenschaft könnte sich durch die Verbindung verschiedener theoretischer Ansätze neu formieren. Kulturanthropologie und Wirtschaftsgeschichte etwa bieten verschiedene Konstellationen des Forschens, die populäre Tendenzen und Stile exemplarisch untersuchen. Als historische Belege für solche Konstellationen könnte man hier Texte von Charles Baudelaire, Walter Benjamin, Roland Barthes oder Jean Baudrillard anführen, denen gemeinsam ist, dass ihr Ansatz und ihre Methodik durch die besondere Struktur und Dynamik geprägt sind, welche die Mode in der modernen Gesellschaft und Kultur auszeichnen. Zum Beispiel wird Baudelaires Bewegung zwischen einem subjektiven Idealismus, der sich in seinen Gedichten findet, und dem Materialismus, der in seiner Kunstkritik und seinen Feuilletons auftaucht, in seinem Essay »Der Maler des modernen Lebens«1 von 1863 deutlich. In den Zeichnungen Constantin Guys’ wie im Dandyismus wird das Thema Mode zu einem dialektischen Spielfeld, auf dem das idealistische Konzept des Ewigen durch die Gegenwärtigkeit der Kleidermode negiert wird, während deren materielle Vergänglichkeit von Stoffen bis zu Modeströmungen durch die Ideale einer subjektiven Ästhetik verneint wird. Diese Dialektik in Baudelaires wöchentlichen Feuilletons für »Le Figaro« reagiert auf die Tendenzen der Mode in Pariser Straßen und Cafés. Die Beobachtungen ständig wechselnder modischer 1 | Charles Baudelaire: Der Maler des modernen Lebens. In: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 5. Hg. v. Friedhelm Kemp/Claude Pichois/Wolfgang Drost. München, Wien 1989, S. 213-258.
Mode, Markt, Modernität
Strömungen in Kleidung, Positur, Bewegungen und Ausdruck manifestieren sich in Baudelaires Ästhetik durch die Betonung einer konstanten Wechselwirkung zwischen dem, was gemäß kulturellen Hierarchien Bestand haben soll, und dem, was sich in der materiellen Produktion von Konsumgütern beständig zu erneuern hat. Ein anderes Beispiel wäre Roland Barthes’ strukturalistische Verwendung der Mode als Bewährungsfeld für seine Semiotik. Barthes hat seit 1957 in mehreren Aufsätzen und Interviews und nicht nur in seinem bekannten »System der Mode« darauf hingewiesen, dass der Zeichencharakter der modernen Konsumgesellschaft sich vor allem im Zusammenspiel von materiellen Formen und ideologischen Strukturen manifestiert, die besonders in der Mode zum Ausdruck kommen. Das wachsende Interesse der universitären und der musealen Welt an der Mode weist nun ganz offensichtlich auf die steigende kulturelle Präsenz hin, bei der die der Mode eigenen Strukturen auf andere Teile der Kultur und Industrie – in ihrer Amalgamierung als Kulturindustrie – übertragen werden. Insbesondere auf dem Kunstmarkt zeigen sich die Umkehrungen der traditionellen kulturellen Hierarchie. Die Mode orientiert sich an Herstellung und Vertrieb der bildenden Kunst durch visuelle Referenzen. Umgekehrt verschreibt sich der Markt der Gegenwartskunst mit Werbetechniken und Vermarktungsstrategien der Mode, um immer neue Produkte absetzen zu können. Im Feld der Mode sind solche Beobachtungen von besonderer Bedeutung, da ihr Gegenwartscharakter immer auf neue Umwälzungen und scheinbar radikale Neuerungen reagiert. Der Kulturtheoretiker Walter Benjamin sprach der Mode das Potenzial zum »Tigersprung« zu und attestierte ihr damit die Fähigkeit, ein Moment aus der Geschichte in der Gegenwart zu zitieren. Damit korrespondiert, dass sich das Allerneueste inhaltlich oder gestalterisch bereits vor längerer Zeit formiert haben kann.2
M odeindustrie und K unstmark t um 1850 Es geht in diesem Aufsatz um das Aufspüren einer strukturellen Verwandtschaft zwischen der Formierung einer Modeindustrie (der Couture-Création, 2 | Karl Marx hatte bekannterweise in Bezug auf das Zweite Kaiserreich in Frankreich bemerkt, dass »alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen […], das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.« Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Napoléon (1852). In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 8. Berlin 1960, S. S. 111-207, hier S. 115. Walter Benjamin übernahm diesen historisch-materialistischen Ansatz dann für seine Thesen »Über den Begriff der Geschichte« (1939/40). Vgl. Ulrich Lehmann: Tigersprung: Fashion in Modernity. Cambridge, Mass./London 2000, S. 240-274.
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später Haute Couture) und dem sich um 1850 in Paris bildenden Kunstmarkt. Beide können als direktes Wiederbild der ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen der Zeit gesehen werden. Zu fragen ist, wo der Ursprung dieser eng verwandten Strukturen festzustellen wäre. Gibt die Mode hier der Kunst, oder besser deren Vermarktung, ein Modell vor oder ist, wie es die etablierte Kunstgeschichte vorgibt, der Kunstmarkt aus sich selbst heraus zu erklären, während die Mode sich an der kulturellen Bedeutung der bildenden Kunst zu orientieren hatte, um Gewicht zu gewinnen? Um es vorwegzunehmen, meine These ist, dass die Mode bei der Formierung des Kunstmarktes eine sehr prägende Rolle gespielt hat. Der Begriff der Mode wird hier jedoch nicht auf die Kleidermode, ob Couture-Création oder industriell gefertigte Kleidung, reduziert, sondern Mode wird in diesem geschichtlichen und konzeptionellen Zusammenhang als Praxis verstanden und meint die konstante Erneuerung des Konsumierens. Die Idee des Fetisches der Waren, die sich stets aufs Neue im bürgerlichen Kapitalismus festgesetzt hat, um neue Güter und damit ökonomische wie soziale Zusammenhänge zu schaffen, ist eng an den Ursprung der Mode gebunden. Ein wichtiges Konzept der Modernität lautet, dass ihre Kultur stets durch die Dialektik des Allerneuesten im Kostüm immerwährender humanistischer Werte bestimmt wird.3 Die Orientierung am Neuen ist die logische Konsequenz eines wirtschaftlichen Systems, das auf der Konkurrenz von Kapitalbesitzern basiert und auf deren Festhalten an Produktionsmitteln. Konsum wird dabei als wichtige soziale und kulturelle Betätigung propagiert. Der Vergleich von Kunst- und Modesalon soll durch zwei Zitate veranschaulicht werden. Beide stammen aus der Feder Émile Zolas und beide verbindet der Raum, auf den sie sich beziehen – der Salon. Das erste Zitat stammt aus dem Roman »Die Beute« von 1871: »Doch sein größtes Vergnügen war, Renée zu dem berühmten Worms, dem genialen Modeschöpfer, zu begleiten, vor dem die Königinnen des zweiten Kaiserreichs auf den Knien lagen. Der Salon dieses großen Meisters war ein weiter, quadratischer, mit breiten Diwanen ausgestatteter Raum. Maxime betrat ihn in frommer Ergriffenheit. […] Oft mußten Renée und Maxime stundenlang warten; an die zwanzig Damen harrten mit ihnen und tauchten, bis sie an die Reihe kamen, kleine Biskuits in Gläser mit Madeira oder nahmen an dem großen Mitteltisch, auf dem jederzeit Flaschen und Schalen mit Petits fours bereitstanden, einen Imbiß ein. Die Damen fühlten sich ganz zu Hause, plauderten unbefangen, und wenn sie sich rings an den Wänden niedersetzten, hätte 3 | Dies stellte 1688 Charles Perrault schon in seiner »Parallèle des anciens et des modernes. En ce qui regarde les arts et les sciences« (München 1964, Faks.-Dr. d. Ausg. Paris 1688-1697) fest. Baudelaire und Benjamin übernehmen dann diese Dialektik für ihre Deutung von Mode in der Modernität; siehe Lehmann: Tigersprung, S. 143-146.
Mode, Markt, Modernität man glauben können, ein weißer Schwarm von Lesbierinnen habe sich auf die Diwane eines Pariser Salons herabgelassen. […] Wenn dann endlich der große Worms Renée empfing, schlüpfte Maxime mit ihr in das kleine Nebenzimmer. Er hatte sich zwei- bis dreimal zu sprechen erlaubt, während sich der Meister so in den Anblick seiner Kundin versenkte, wie nach Ansicht der Hohenpriester des Schönen es Leonardo bei seiner Gioconda tat. Worms hatte geruht, über die Richtigkeit von Maximes Bemerkungen zu lächeln. Er ließ Renée vor einen Spiegel treten, der vom Parkettboden bis zur Decke reichte, und sammelte sich mit leicht zusammengezogenen Augenbrauen, indes die junge Frau ergriffen den Atem anhielt, um sich nicht zu bewegen. Und nach einigen Minuten schilderte der Meister, wie von einer Eingebung gepackt und geschüttelt, in großen, oft abgebrochenen Zügen das Meisterwerk, das er soeben ersonnen hatte, stieß in dürren Sätzen hervor: ›Robe Montespan aus aschgrauer Faille… Schleppe beherrschend, vorn ein abgerundeter Schoß…an den Hüften mit großen grauen Atlasschleifen gerafft… und dann Vorderbahn aus gerüschtem perlgrauem Tüll, die einzelnen Bäusche durch graue Atlasstreifen voneinander getrennt.‹ Er sammelte sich nochmals, schien bis in die Tiefen seines Schöpfertums hinabzusteigen und vollendete dann mit dem triumphierenden Ausdruck einer Pythia auf ihrem Dreifuß: ›In die Locken dieses Schelmenköpfchens werden wir den traumbefangenen Falter Psyches mit seinen blauschillernden Flügeln setzen.‹ Bei anderen Gelegenheiten aber zeigte sich die Inspiration widerspenstig. Worms flehte sie vergebens an, vergeudete nutzlos seine Kräfte. Er malträtierte seine Augenbrauen, wurde blaß, preßte die Hände an seinen armen Kopf, schüttelte ihn voller Verzweiflung und sank dann geschlagen in einen Sessel. ›Nein‹, murmelte er klagend, ›nein, heute nicht… es ist unmöglich… Die Damen verlangen zuviel. Die Quelle ist versiegt.‹ Dann schob er Renée zur Tür hinaus, wobei er wiederholte: ›Unmöglich, unmöglich, meine Verehrte, kommen Sie an einem anderen Tag… Heute morgen habe ich Sie nicht im Gefühl.‹« 4
Das zweite Zitat wurde drei Jahre früher verfasst und eröffnet den Aufsatz »Mein Salon«: »In der Kunst herrschen die Spezialisten; ich kenne Herren, die sich allein dadurch einen ungeheuren Ruf geschaffen haben, daß sie unentwegt dieselbe Frau aus Pappe, die sich auf dasselbe Bund Heu stützt, gemalt haben. Da hängen die sauberen kleinen Bilder, die schönen Damen als venezianische Spiegel dienen können. Diese kleinen Bilder haben einen überwältigenden Erfolg. Die Männchen drauf sind mit solcher Feinheit, solcher Vollendung aus Holz oder Elfenbein geschnitzt, daß die Menge außer sich gerät. Wie kann die Hand eines freien Mannes Freude daran finden, die Arbeit von Gefangenen nachzumachen, die Kokosnüsse bearbeiten? […] Ich vergaß die Porträts. Die Flut von Porträts steigt jährlich an und droht den ganzen Salon zu überschwemmen. Die Erklä-
4 | Émile Zola: Die Beute. München 1974, S. 155-157.
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Es ist nicht unproblematisch, literarische Quellen als historische Zeugnisse für einen kulturgeschichtlichen Gegenstand heranzuziehen, insbesondere wenn Fiktion und Feuilleton einander gegenübergestellt werden. Gleichwohl wird hier eine Art Realismus kenntlich, der zum ersten Mal sowohl in Form als auch in Inhalt das Zeitgemäße als Maßstab nimmt. Zudem sind Zolas Romane des Rougon-Macquart-Zyklus sehr genau recherchiert, dass heißt, die Passage über den Protagonisten Worms – gemeint ist der Couturier Charles Frederick Worth – ist nicht allein Satire, sondern zugleich ein Dokument der Arbeit des berühmten Modeschöpfers. Ähnlich wie beim Roman »L’Œuvre« (»Das Werk«)7 über die Kunstszene in Paris sind weite Passagen aus der »Beute« durch Zeitungsausschnitte, Reportagen und Milieustudien aus Zolas Notizbüchern in der realen Welt verankert.8 Und wie auch den Malern der Gegenwart, die Zola in »Mein Salon« (1868) preist, den »actualistes«, die man später als Impressionisten bezeichnen wird, geht es dem Schriftsteller um eine ›wahrhaftige‹ Darstellung der Moderne. Der modische Salon, oder Modesalon, bietet hier den besten Schauplatz. 5 | Émile Zola: Der Salon von 1868. Mein Salon. In: Ders.: Schriften zur Kunst. Die Salons von 1866 bis 1896. Frankfurt a.M. 1988, S. 93-125, hier S. 94. 6 | Ebd., S. 106. 7 | Émile Zola: Das Werk. Berlin 1966 (1886). 8 | Wie ausführlich und tiefgehend Zolas ›journalistische‹ Recherchen für seinen Romanzyklus waren, kann man zum Beispiel an den Manuskripten und Notizen zu seinem Roman »Au Bonheur des Dames« (Paris 1883. Dt. Übers. »Das Paradies der Damen«) sehen: Alle Details der Modeindustrie, von der Architektur des Kaufhauses, über die Lieferungen der Lyoner Webereien, bis hin zu der Kleiderordnung des Personals werden durch Beobachtungen oder Zeitungsauschnitte belegt. Siehe Émile Zola: Les RougonMacquart, Bd. 3. Paris 1964, S. 1690-1703.
Mode, Markt, Modernität
Wenn Worth – pardon Worms – sich dort als Künstler geriert und seine Klientinnen den Konsum der ästhetisierten Oberfläche als Teil eines sozialen Rituals pflegen, der auch die Besucher der Pariser Kunstausstellungen in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts in den jährlichen Salon im Louvre treibt, so zeigt sich die Parallele von Kunst und Mode nicht mehr nur in einem räumlichen Umfeld, sondern wird zu einem strukturellen Element der Kulturindustrie. In dem Roman »Die Beute« lässt die Strategie des Modemachers, sich als subjektiver Künstler zu geben, ihn unabhängig vom Markt erscheinen. Dies ist notwendig, um den Entwürfen jene vorgebliche Eigenheit zu verleihen, welche die Kleidermode als soziales Phänomen (selbst als rare Couture-Création) eben nicht haben kann, sofern sie nicht nur als exzentrische Form der (Ver-) Kleidung gelten möchte. Die Anbindung der Kleidermode an die subjektive, bildende Kunst ist historisch nicht nur Worth eigen, sondern setzt sich über Paul Poiret und Elsa Schiaparelli bis hin zum frühen Maison Margiela fort. Interessant aber wird hier der Umkehrschluss: Was hat die Kunst nicht formal, sondern strukturell von der Mode übernommen? Der Salon ist Schauplatz einer bestimmten Art der kulturellen Produktion und des Konsums. Charles Baudelaire, der Erforscher der Bedeutung des schwarzen Anzuges für seine Gegenwart und der erste, der Mode und Moderne sprachlich und konzeptuell verbindet, hatte schon in den frühen 1860er Jahren ausgerufen: »Ein poncif zu schaffen, das ist Genius. Ich muss ein poncif schaffen.«9 Das Poncif, hier verstanden als Stilformel oder formelhafter Stil, kreiert der Künstler und es charakterisiert ihn zugleich, hebt ihn ab und macht ihn auf dem Markt konkurrenzfähig. Baudelaire, wie auch später Zola, kombiniert hier einen erkenntnistheoretischen Entwurf über die zeitgebundene Subjektivität des Künstlers mit der ökonomischen Realität, die ihn im Second Empire umgibt. Er fängt diesen Entwurf ein, in dem er ihn in einen dialektischen Zusammenhang von Mode und Moderne stellt, der sich gegenseitig befruchtet und negiert. Und so ist die Kleidermode bei Baudelaire programmatisch, zum Teil auch metaphorisch zu verstehen. Sie steht für den konstanten Willen zur Erneuerung ästhetischer und stilistischer Ansätze in der Produktion von Objekten der Materialkultur, die aber von ökonomischen und politischen Bedingungen beeinflusst wird. Wie sieht nun das ökonomische Umfeld aus, in dem der Salon als Schauplatz entsteht? Um bei den gewählten Beispielen aus der Literatur zu bleiben: Zolas Roman »Das Werk« stellt zwei Typen des Händlers gegenüber. Der eine ist ein traditioneller Liebhaber der Kunst, der andere Exponent einer spekulativen Warenhortung im Kapitalismus. Beide haben, wie aus Zolas Notizen, den
9 | Charles Baudelaire: Journaux intimes XIII: fusées no.20. In: Ders.: Œuvres completes I, Paris 1975, S. 662 [Übers. UL].
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»Notes de Guillemet«10, zu ersehen ist, reale Vorbilder, mit denen der Schriftsteller bekannt war und deren Geschäftspraktiken er recherchierte.11 Der traditionelle »marchand de tableaux« in Paris vor 1848 war ein Händler, der den Verkauf von Papier, Farben oder Rahmen mit dem von Kunstwerken verband. Ihm folgte nach der Februarrevolution ein neuer Typ des »entrepreneurs«, der sich zwei Innovationen auf die Fahnen schrieb. Diese Innovationen waren fundamental, weil der Wechsel der Marktstrategien sich nicht organisch herausbildete. Vielmehr erschien er als Bruch, der sich aus den neuen politischen Rahmenbedingungen ergab, die sich unter Louis Napoléon ab 1852 ausprägten. Es gab kein Vorbild für den Kunstmarkt, keine gewachsene Struktur für den Konsum von Kultur, weil es weder eine weit genug gefasste bürgerliche Schicht gab, die der Markt bedienen konnte, noch die Mechanismen für eine gegenwärtige Kulturindustrie feststanden, die das Allerneueste mit dem Klassischen dialektisch verbanden. Zola schrieb in »Mein Salon« mit unverhohlener Ironie: »Unsere Epoche ist diese. Wir sind zivilisiert, wir haben Boudoirs und Salons; getünchte Wände sind gut für die kleinen Leute, die Reichen brauchen Gemälde an ihren Wänden.«12 Zum einen definierte sich der neue Kunstmarkt durch die Spekulation mit Kapital als eine ökonomische Technik, die von dem Bestreben geprägt war, einen künstlichen (nicht künstlerischen) Mehrwert zu kreieren, der dann durch entsprechende Strategien weiter potenziert wurde. Zum anderen ging es dem Kunstmarkt in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts darum, jene Stilformeln im Sinne des Baudelairschen Poncifs stets neu zu erschaffen, die es erlaubten, Altes im neuen Gewand und damit programmatisch als Modernität darzustellen. Das heißt, dass eine ausdrückliche Anbindung an das moderne materielle Objekt in Form oder Inhalt betrieben wurde. Die Impressionisten (»actualistes«) mit ihren Themen der hedonistischen bürgerlichen Gesellschaft des Second Empire, ihrem programmatischen Malstil, der das Ephemere und Flüchtige zelebriert, mit ihren neuen Galeristen und Händlern, waren Teil einer avantgardistischen Auffassung von Kultur. »Das Werk« von Zola präsentiert die Kunsthändler der Impressionisten als neuen Typus. Die Referenzen sind Georges Petit, Hector Brame und vor allem Paul DurandRuel, die in der Figur des fiktiven Naudet vereint werden: »Eine sehr schicke 10 | Zolas »Notes de Guillemet« sind Notizen, Dokumente und erste Skizzen zu seinem Roman »L’Œuvre« (»Das Werk«). Sie wurden unter anderem von Patrick Brady für seine 1967 erschienene Analyse »›L’Œuvre‹ de Émile Zola, roman sur les arts: Manifeste, autobiographie, roman à clef« benutzt. 11 | Henri Mitterand präsentiert eine gute Übersicht in der von ihm herausgegebenen Gesamtausgabe: Émile Zola: Les Rougon-Macquart, Bd. 4. Paris 1966, S. 1341-1397. 12 | Émile Zola: Der Salon von 1866. Mein Salon. In: Ders.: Schriften zur Kunst. Die Salons von 1866 bis 1896. Frankfurt a.M. 1988, S. 3-44, hier S. 21.
Mode, Markt, Modernität
Gestalt, englisches Jackett, Kutsche vor der Tür, Sessel in der Oper«, der Bilder dem »dummen Amateur« verkauft, »der sich in der Kunst nicht auskennt, aber eine Leinwand wie einen Börsenwert ersteht«.13 Naudet bricht mit der Tradition des Bilderhandels der vorangegangenen Generation (wie auch Durand-Ruel): »Ein geckenhaft angezogener Mann, sehr schick. Er fing an, bei seinem Vater ins Geschäft zu gehen. Dann packte ihn die Ambition, die Goupils zu versenken, Brame zu übertreffen, der erste zu sein, zu zentralisieren. Er baut sein Stadthaus in der Rue de Sèze, einen Palast […]. Ein Kaufhaus für die Malerei […]. Er bestückt seine Galerie und wartet auf die Amerikaner, die im Mai anreisen. Er stellt aus. Er kauft für 10,000 Francs um dann für 50,000 weiterzuverkaufen […]. Eine Börse für Bilder, ein Syndikat, um Kunstwerke zu zeigen.«14
Diese Spekulation braucht das Poncif, von dem Zola in »Mein Salon« spricht. Sie braucht die Mode. Um die Wände der Reichen zu bestücken, kann es nicht genügen, den Bedarf zu decken. Dieser existiert im Kunstmarkt nicht. Der Bedarf muss erst geweckt, muss erst geschaffen werden. Dies funktioniert einerseits durch die Verknappung des Existierenden (so kauft Durand-Ruel ganze Bestände von Künstlern wie Théodore Rousseau auf, inklusive unvollendeter oder verworfener Werke, Skizzen und Studienbücher)15, andererseits durch das programmatische Herausstellen des einzelnen Künstlers, zu dem die Genese der Einzelausstellung in privaten Galerien nach 1848, der Subjektivismus des individuellen Künstlertums und die Vermarktung eines Stils gehören. All diese Prämissen gibt die Mode, besonders die Kleidermode, als Struktur vor, da sie es ist, die in der Moderne die Idee des Einzelnen als selbstbestimmtes, aber nicht selbstbestimmendes Objekt in der Gesellschaft und in der Ökonomie des Marktes zelebriert. Die Couturiers sind durch ihr Poncif bestimmt, durch ihren jeweils eigenen formelhaften Stil. Obwohl sich das Chambre Syndicale de la Haute Couture schon im Jahr 1868 unter der Ägide Worths formt, ist es weniger die festgesetzte saisonale Abfolge als vielmehr der Charakter des Modemachers oder der Modemacherin, der die Kunden zu ihm oder ihr kommen lässt. Bei Worth gilt das für die bildnerische Komposition, bei Jacques Doucet für die materielle Transparenz und bei Émile Pingat für das schmuckvoll Opulente. Das Herausstreichen der Subjektivität und des Individualismus passt sowohl ideengeschichtlich als auch gesellschaftlich in die Zeit nach 1860. Hier geht es jedoch nicht um einen philosophischen Diskurs über den Individualis13 | Zitiert nach Patrick Brady: ›L’Œuvre‹ de Émile Zola, S. 164 [Übers. UL]. 14 | Ebd., S. 165. 15 | Siehe Pierre Assouline: Grâces lui soient rendues: Paul Durand-Ruel, le marchand des impressionistes. Paris 2004, S. 112.
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mus, sondern um seine materiellen Bedingungen. Wie die frühe Soziologie zu erforschen wusste, gab es den gesellschaftlichen Individualismus in der Moderne kaum.16 Nicht weil kollektive, soziale Strukturen vorherrschen würden, im Gegenteil, sondern weil die angebliche Freiheit des Einzelnen eben nur unter der Herrschaft des Objekts existieren kann. Im Industriekapitalismus Frankreichs in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts dominiert eine objekthafte Struktur, in welcher der Einzelne als Abbild des Gesamten wahrgenommen wurde. Das Individuum stand innerhalb einer sozialen und kulturellen Form, die von Ökonomie und Ideologie vorgegeben wurde.17 Daher ist Baudelaires Ruf nach dem Poncif, nach der Stilformel, auch so zu verstehen, dass sich das Subjekt nicht erkenntnistheoretisch, sondern nur markttechnisch definieren und absetzen kann. Wenn der Künstler es sich zugesteht, dass er nur über das Poncif zu existieren weiß, und der Markt, Feuilletons, Galerien und Salons diese Existenz strukturieren, so fällt er der Mode anheim und muss sich an ihr orientieren, um nicht in Verzug oder Vergessenheit zu geraten. Im »Salon« sind Worths Satinkleid von 1871 oder Zolas gedruckte Fortsetzungsromane von 1874 bald alte Ware und der Künstler hat sich für seinen Fortbestand in der Kulturindustrie Neues in Form und Inhalt zu eigen zu machen.
D er C har ak ter der M ode Wann ist nun eine Mode als solche und wie gibt sie sich in der Kulturindustrie nach 1860 in Paris spezifisch zu erkennen? In der Kleidermode, der oben erwähnten Couture-Création und ihrer späteren Inkarnation als Haute Couture, wird sie dialektisch als strukturelle Konstante und wechselndes Sittenbild ver16 | Gabriel Tarde legt 1890 mit seinen »Les lois d’imitation« (dt. Die Gesetze der Nachahmung. Frankfurt a.M. 2003, hier S. 260-373) mit den Begriffen »Erfindung« und »Nachahmung« den Grundstein für die soziologische Auseinandersetzung mit subjektiven Verhaltensmustern. Im siebten und umfangreichsten Kapitel seines Buches diskutiert er »La Coutume et la Mode« unter der Überschrift »Die außerlogischen Einflüsse«; im französischen Original »Les influences extra-logiques« benannt (S. 268-396), wobei Tarde die Imitation als soziale Vererbung deutet. In »La logique sociale« von 1895 führt Tarde dann »Les lois d’invention« (Die Gesetze der Erfindung) als Muster für die beständige ökonomische und soziale Veränderung an, die sich im Wechsel der »individuellen Logik« gegenüber dem »sozialen Geist« zeigt. 17 | Siehe zum Beispiel Karl Marx’ materialistische Kritik der zeitgenössischen politischen Ökonomie, die den Industriekapitalismus in eine positivistische Geschichte eingebettet hatte: Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf). Berlin 1953 (1857/1858).
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standen. Kleider, Schuhe, Inneneinrichtungen und Gesten ändern sich ständig, um sich als materielle Vorhut zu zeigen. Die Mode stirbt immer in jenem Augenblick, in dem sie sozial akzeptiert wird, wie der Soziologe Georg Simmel am Ende des neunzehnten Jahrhunderts schrieb,18 um als scheinbar radikale Änderung wiedergeboren zu werden. Der Kunstmarkt zelebriert diese Vorwärtsbewegung als Avantgarde.19 Die Idee des Eingeweihtseins in Form eines intimen Wissensvorsprungs wird von den Galeristen bewusst propagiert, um das Subjekt durch eine Kultur der Kennerschaft zu nobilitieren, die der Masse nicht zugänglich ist. Er verkauft die Spekulation auf das Kommende, auf das sich bildende kulturelle Kapital. Der Kunde vertraut ihm, diesen Wissensvorsprung materiell umsetzen zu können, entweder als direkte finanzielle Investition – dieser Künstler, diese Stilrichtung wird erfolgreich und auch populär – oder als Versprechen auf symbolisches Kapital in dem Sinn: »Ich erwerbe etwas, das noch keiner hat«. In beiden Fällen der Spekulation, wie in den beiden Bereichen der Mode und der Kunst, spielt die Öffentlichkeit eine wichtige Rolle. Und auch diese ist dialektisch zu verstehen. Es geht in der Mode um die öffentliche Annahme und gleichzeitig um ihre Ablehnung. Solange ein Kleid, ein Bild oder eine moralische Haltung, die Masse – oft, ironisch, das Bürgertum selbst – entrüstet und schockiert, so lange kann die Avantgarde bestehen. Verankert sie sich allzu offensichtlich durch den Konsum in der Kulturindustrie, muss sie durch eine neue Avantgarde ersetzt werden, die gegen das Alte protestiert. Der zyklische Prozess mit der Erschließung neuer Investitionen geht weiter. Doch kann es sich, wie gesagt, nicht einfach um Stilfragen handeln. Wird Mode nicht durch ein sich selbst erhaltendes System von Promotion, Kritik, und Rezeption an die Öffentlichkeit gebracht, so kann sie nicht am kapitalistischen Wirtschaftssystem teilhaben. So entwickelten die Galeristen im neunzehnten Jahrhundert in Frankreich eine Reihe von strukturellen Ideen, die den modernen Kunstmarkt bestimmen sollten. Zwei möchte ich kurz vorstellen. Zum einen, die Galerie oder besser das Unternehmen Adolphe Goupil & Cie., das der fiktive Naudet in Zolas »Das Werk« zu übertrumpfen sucht. Goupil adaptierte Ende der 1860er Jahre in Anlehnung an den Woodbury Prozess die 18 | Georg Simmel: Zur Psychologie der Mode. Sociologische Studie. In: Die Zeit. Wiener Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft, Wissenschaft und Kunst Bd.5 (1895), Heft 54 (12.10.1895), S. 22-24; und im Besonderen: Ders: Die Mode: Zur philosophischen Psychologie. In: Ders.: Philosophische Kultur: Gesammelte Essays. Leipzig 1911, S. 29-64, hier S. 39-40. 19 | Vgl. die noch materialistisch geprägten, kritischen Texte über den subjektiven Fortschrittsglauben in der klassischen Moderne, wie zum Beispiel Peter Weiss: Ästhetik des Widerstands. Frankfurt a.M. 1976-1981; Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M. 1970; Peter Bürger: Theorie der Avantgarde. Frankfurt a.M. 1974.
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Photogravure – die fotografisch-direkte, lukrative Kopie eines Bildes, ohne die bisher notwendige künstlerische Transposition in und durch Radierung oder Lithographie. Goupils Galerie existierte seit 1860. Er stellte Kunst aus, erwarb Werke samt deren Reproduktionsrechte, vertrieb die Reproduktionen und veräußerte die Originale. Diese Spekulation rentierte sich durch Wiederverkauf, vor allem aber durch die Reproduktion. Zola schreibt in seiner Kunstkritik von 1867: »Ganz offensichtlich arbeitet Léon Gérome für die Druckerei Goupil; er malt ein Bild, damit es photographisch und druckgraphisch reproduziert und in Tausenden von Exemplaren verkauft wird.«20 Die Reproduktion verleiht der Kunst Beständigkeit. Sie sichert den Fortbestand des Bildes, nachdem es in einer Privatsammlung oder in den Beständen eines Museums für die breite Öffentlichkeit unzugänglich gemacht wurde. Goupil staffelte die Reproduktionen nach Exklusivität und Preis. Die größte und billigste Auflage eines Werkes im Format der »cartes de visite« oder als »cartes album« konnte ab Ende der 1860er Jahre weiten Teilen des Bürgertums zugänglich gemacht werden, während die fotografischen Reproduktionen des »Musée Goupil« durch das größere Format und durch die veränderte Präsentation – und einen höheren Preis – sich den Schein einer Exklusivität vorbehalten hat.21 Ein vergleichbarer Prozess wird im Second Empire auch für die Bildhauerei eingeführt. Félix Nadar fotografiert die Figur der Phryne, die auf einem Bild von Gérôme basiert. Diese Plastik wird dann als »photosculpture« reproduziert und vertrieben. Zola kommentiert noch 1877 Gérômes »Phryné devant l’Aréopage« (1861) mit den Worten: »[…] eine kleine Figur aus Karamel, die von Greisen mit den Augen verschlungen wird; das Karamel sorgte dafür, daß der Schein gewahrt blieb. […] Es ist bekannt, daß sie nur hergestellt werden, um anschließend photographisch vervielfältigt zu werden: die Reproduktionen werden Tausende von bürgerlichen Salons schmücken.« 22
Gérôme ist also modisch, denn seine Werke verkaufen sich in vielen Reproduktionen, aber er ist nicht à la mode im Sinne der Kulturindustrie, da er, zumindest zur Zeit von Zolas Kritik, keine Neuerung mehr schaffen kann. 20 | Émile Zola: Die Weltausstellung von 1867. Unsere Maler auf dem Champ de Mars. In: Ders.: Schriften zur Kunst. Frankfurt a.M. 1988, S. 79-90, hier S. 86. Gérôme war ein Historienmaler und der Schwiegersohn von Adolphe Goupil. 21 | Vgl. Hélène Lafont-Couturier: M. Gérôme travaille pour la maison Goupil. In: Helène Lafont-Couturier/Pierre-Lin Renié (Hg.): Gérôme et Goupil: Art et entreprise, [Ausstellungskatalog]. Paris 2000, S. 13-29 [Übers. UL]. 22 | Émile Zola: Die Weltausstellung von 1878. Die französische Malerei in der Weltausstellung von 1878. In: Ders.: Schriften zur Kunst. Frankfurt a.M. 1988, S. 195- 224, hier S. 204f.
Mode, Markt, Modernität
Er produziert für die Masse, und es sind die Manets, Renoirs and Degas’ der Galeristen Durant-Ruel, Petit und Brame, welche die künstlerische Diskussion bestimmen, und somit als Spekulationswert herhalten können. Aber auch der Umkehrschluss trifft zu, denn Gérôme wird durch sein Ausnutzen der neuesten Marktstrategien und -techniken zum Inbild der Modernität, während man von den Impressionisten sagen könnte, dass deren Bilderproduktion nach traditionellen Mustern abläuft.
D ie S pekul ation in der M ode Zum anderen wird nach 1850 das Kaufhaus zum Konsumtempel, in dem die breitere Öffentlichkeit sich modisch orientierte. Ihm gegenüber steht der Salon des Couturiers oder der Couturière, die individuelle Ware vertreiben. Die Gründer der Pariser Kaufhäuser ihrerseits fingen an, Kunstwerke und Bildkollektionen von Durand-Ruel oder Petit zu erwerben. Aristide Bouçicaut, der Begründer des Bon Marché (1852), kauft die Realisten (Courbet etc.); das Ehepaar Ernest Cognacq und Louise Jay, dem La Samaritaine gehört, sammeln bald Impressionisten der ersten Generation; Théophile Bader, Direktor der Galeries Lafayette geht von der École de Barbizon zu den Impressionisten über und Ernest Hoschedé, der Betreiber von Kaufhäusern in der Rue Poissonnière gibt nicht nur die Zeitschrift »L’Art de la mode« heraus, sondern sichert sich wichtige impressionistische Bilder noch vor der ersten Gruppenausstellung bei Durand-Ruel.23 Was treibt nun diese Kapitalisten an, die ihr Geld mit der Mode (im weiteren Sinne) verdienen, sich der künstlerischen Avantgarde zu verpflichten, in dem sie noch relativ unbekannte Künstler kaufen? Der Marchand oder Galerist ist hierbei zentral. Die Kaufhauseigentümer kaufen nicht bei irgendwem. Im Jahr 1862 gehen sie zu Durand-Ruel in der Rue de la Paix, in die Strasse des Luxus in unmittelbarer Nachbarschaft zu Worth und anderen Couturiers. Ab 1867 besuchen sie ihn in der Rue Lafitte, der Strasse der Kunst, wo sich neben dem Stadtpalais des Galeristen Petit auch die Häuser des Sammlers Hoschedé und die Salons des Hofschneiders Laurent-Richard, der Modistin Guichard und der Couturière Palmyre befinden. Diese Nachbarschaft im ersten Arrondissement bedeutet eine räumliche und vor allem eine strukturelle Nähe zwischen dem Materialismus der Mode und der Kunst. Pierre Assouline schreibt in seiner populistischen Biografie Durand-Ruels: »In der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts kommt der Moment für Händler wie DurandRuel, um dem Kunstliebhaber an dem ganzen Werk eines créateurs zu interessieren, und 23 | Vgl. Albert Boime: Les hommes d’affaires et les arts en France au 19e siècle. In: Actes de la Recherche en Sciences Sociales Bd. 28 (1979), S. 57-75, hier S. 65-68.
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Ulrich Lehmann nicht einfach an dessen jährlichen Bravourstück. Der Preis der Malerei wird nun auch von Kriterien wie Originalität und Neuigkeit bestimmt. Der Preis, nicht der Wert.« 24
Aber Kreationen in Kunst und Mode definieren sich besonders in der Moderne durch eine Originalität, die in der Neuigkeit selbst liegt. Neue Formen der Produktion, wie ein impressionistischer Malstil, und des Vertriebs, wie Goupils Photogravure und Photosculpture, sowie des Konsums produzieren eine Originalität, die sich von der Subjektivität und der vorgeblichen Autonomie der modernen Kunst bereits an ihrem historischen Ausgangspunkt entfernt. Der Wert, der nicht nur im Industriekapitalismus Frankreichs nach 1852 dem Preis gleichgesetzt wird, ist nicht dem Werk eigen, sondern wird extern durch die Reaktion der Kunst auf ökonomische und ideologische Bedingungen bemessen. Der Impressionismus mochte sich noch als oppositionell gebaren – und Künstler wie Édouard Manet oder Camille Pissarro hatten ernst gemeinte politische Anliegen und Überzeugungen –, aber er bezog sich in einem Großteil seiner Thematik, seines visuellen Stils und seiner Aktualität in Farben, Formen und Material auf die Mode, die ihn umgab. Die Kleidermode selbst, die sich formierende Haute Couture, orientierte sich direkt am Gegenwartsmarkt. Trotz der kreativen Arbeit der Couturiers und Couturières war die Kleidermode dem Konsum und der Schöpfung von Mehrwert verpflichtet. Dies galt dann umgekehrt wieder für die finanziellen Strukturen des sich entwickelnden Kunstmarktes. So lieh sich Durant-Ruel in der zweiten Hälfte der 1860er Jahre von dem Bankier Charles Edwards, seinem Nachbarn in der Rue Lafitte, substantielle Summen, um seinen Galeriebetrieb an die Spitze zu führen, wie es auch Naudet in dem Roman »Das Werk« vorhat. Als Bonität und Gegenleistung etabliert er eine »Sammlung Edward«, die er mit dem Nachlass Rousseau als auch mit Bildern von Delacroix, Dupré etc. füllt. Diese fiktive Sammlung verkauft er dann an drei Tagen im Februar 1870 im Hôtel Drouot, dem Pariser Auktionshaus, ohne dass die Presse oder das Publikum den wahren Besitzer der Bilder erfährt.25 Die Wertsteigerung durch die Kollektion, die sich aus ihrer Zusammenstellung, dem Fokus auf das Gesamtwerk einiger weniger Künstler und der Aufarbeitung der Bilder durch die Kunstkritik speist, kommt nun sowohl dem Bankier zugute, dessen Investition Zinsen trägt, als auch dem Galeristen, der seinen Lagerbestand dank neuer finanzieller Mittel aktualisiert. Die Spekulation in der Mode hat eine Dimension, die nicht einfach auf direkten finanziellen Transaktionen fußt. Mode ist an sich Spekulation, da sie 24 | Assouline: Grâces lui soient rendues, S. 104 [Übers. UL]. 25 | Vgl. Nicolas Green: Dealing in Temperaments: Economic Transformation of the Artistic Field in France During the Second Half of the Nineteenth Century. In: Art History 10 (1987), Heft 1, S. 59-78; Assouline: Grâces lui soient rendues, S. 122-125 u. 202-203.
Mode, Markt, Modernität
ein Objekt schaffen muss, welches das Subjekt für sich annimmt. Das Kleid, der Teller, das Sofa oder die neue Art, sich in der Oper zu zeigen, muss dem Einzelnen gefallen, um als Mode zu gelten. Gestalter, Kunstgewerbler oder Künstler können nicht einfach planen, wie sich der Geschmack entwickeln wird, ebenso wenig wie der Konsument oder Investor genau weiß, ob und wann sein Aktienpaket an der Börse steigt. Aber der Modemacher wie auch der Galerist der Avantgarde können Geschmack durch bestimmte Marktstrategien bilden, sobald sie sich als geschmacksbildend bei ihrer Klientel und in der Öffentlichkeit durchgesetzt haben. Dieses Bilden von Geschmack ist für die Modernität nicht das Bilden eines erkennenden Subjekts, sondern das Herausbilden eines materiellen Objekts. Das Konzept der Mode gibt diesem Objekt Form und Rhythmus vor.
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Ulrich Lehmann
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Mode in der Literaturwissenschaft Eine germanistische Bestandsaufnahme Julia Bertschik
1836 schreibt Baron Eugen von Vaerst, preußischer Offizier a.D. und ehemaliger Trinkgenosse E.T.A. Hoffmanns, in der Vorrede zu seinem dandyistisch ausgerichteten und unter französischem Pseudonym publizierten »Cavalier[s]«Brevier »Handbuch für angehende Verschwender«: »Eine Literatur für frohe und glückliche Menschen, für reiche, liebenswürdige Müßiggänger, für die übermüthige Jugend und für angehende Verschwender, ist uns Deutschen nicht etwa bloßes Brachfeld, sondern geradezu eine terra incognita.«1 Fehlte es im lange national zersplitterten Deutschland im Unterschied zu Frankreich oder England doch an der gesellschaftlichen Tradition einer feudalen Hofkultur sowie an einem urbanen Zentrum mit dem dazugehörigen Interesse für Mode und Selbstdarstellung. Zudem brach die bürgerliche deutsche Aufklärung in standes- und geschlechtsspezifischer Weise radikal mit den Vorstellungen adeliger Galanterie und des künstlichen Mode-Einsatzes von Mann und Frau. Auch einem in der Folgezeit gleichfalls zu Mäßigung und Triebverzicht verpflichteten, klassischen Konzept der deutschen Literatur musste die ästhetische Feier verfeinerter Genüsse und modischer Selbstbespiegelung suspekt erscheinen. Ein Umstand, der dazu führte – so auch die Kritik beim eingangs zitierten Baron von Vaerst –, »daß der Dandy [als modebewusster Mann] in Deutschland eine [weitgehend] befremdende und mißverstandene Figur« sein musste, dessen Bezeichnung zudem ein nicht einzudeutschendes Fremdwort blieb.2 1 | [Eugen Baron von Vaerst]: Cavalier-Perspective. Handbuch für angehende Verschwender von Chevalier de Lelly. Leipzig 1836, S. XIII. 2 | Vgl. Rainer Gruenter: Formen des Dandysmus. Eine problemgeschichtliche Studie über Ernst Jünger. In: Euphorion Bd. 46 (1952), S. 170-201, hier S. 195, und Gisa Briese-Neumann: Ästhet-Dilettant-Narziß. Untersuchungen zur Reflexion der fin de sièclePhänomene im Frühwerk Hofmannsthals. Frankfurt a.M., Bern, New York 1985, S. 290; demgegenüber Julia Bertschik: Deutsches Dandytum zwischen Männerbund, Hochsta-
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Dabei hatte gerade einer der prominentesten Wortführer im autonomieästhetisch ausdifferenzierten Feld Ende des 18. Jahrhunderts, nämlich Goethe selbst, mit seinem in blauem Frack und gelber Weste auftretenden Werther eine nicht nur literarische, sondern auch vestimentäre Modebewegung in Anlehnung an englische Reit- und preußische Militärkleidung ausgelöst. Goethe war es darüber hinaus auch, der in einem signifikanten Zusatz am Beginn von Lavaters »Physiognomischen Fragmenten« die seit dem 18. Jahrhundert populär werdende Deutungspraxis menschlicher Wesenszüge aus der körperlichen Erscheinung, als einem neuen semiotischen System soziokultureller Klassifikation, auf die charakterliche Interpretation von Kleidung ausweitete: »Man wird sich öfters nicht enthalten können, die Worte Physiognomie, Physiognomik in einem ganz weiten Sinne zu brauchen. Diese Wissenschaft schließt vom Aeußeren aufs Innere. Aber was ist das Aeußere am Menschen? Warlich nicht seine nackte Gestalt, unbedachte Geberden, die seine innern Kräfte und deren Spiel bezeichnen! Stand, Gewohnheit, Besitzthümer, Kleider, alles modificirt, alles verhüllt ihn. Durch alle diese Hüllen bis auf sein Innerstes zu dringen, selbst in diesen fremden Bestimmungen feste Punkte zu finden, von denen sich sein Wesen sicher schließen läßt, scheint äußerst schwer, ja unmöglich zu seyn. Nur getrost! Was den Menschen umgiebt, wirkt nicht allein auf ihn, er wirkt auch wieder zurück auf selbiges, und indem er sich modificiren läßt, modificirt er wieder rings um sich her. So lassen Kleider und Hausrath eines Mannes sicher auf dessen Charakter schließen.« 3
Damit ist hier, am markanten Übergang von der Standes- zur Gesinnungsmode,4 bereits vorgedacht, was der dafür wesentlich prominenter gewordene Balzac vor dem Hintergrund einer seit dem 19. Jahrhundert zunehmend konfektionierten Massen- und Mediengesellschaft systematisch ausformuliert hat: die habituelle Kleiderlesekunst einer »Vestignomie« als Spiegel des modernen pelei und Commedia dell’arte. In: Dies.: Mode und Moderne. Kleidung als Spiegel des Zeitgeistes in der deutschsprachigen Literatur (1770-1945). Köln, Weimar, Wien 2005, S. 127-167. 3 | Vgl. Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente. Zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe, Bd. 1. Zürich 1968 (Faksimiledruck nach der Ausgabe 1775-1778), S. 15, sowie Daniel L. Purdy: The Tyranny of Elegance. Consumer Cosmopolitanism in the Era of Goethe. Baltimore, London 1998, S. 147-179 (zu Goethes »Werther«). 4 | Zu Kleidung und Gesten ständischer Konventionen als einem kulturellen Zeichensystem sozialer Kommunikation vgl. hingegen Christian Garve: Ueber die Moden (1792). In: Ders.: Popularphilosophische Schriften über literarische, ästhetische und gesellschaftliche Gegenstände, Bd. 1. Stuttgart 1974 (im Faksimiledruck hg. v. Kurt Wölfel), S. 169-294.
Mode in der Literatur wissenschaf t
Zeitgeistes und damit die wissenschaftliche Nobilitierung der Mode als ästhetisches Theoriemodell zur Erkenntnis von Moderne-Entwicklungen. So, wie Mode als Signum und Emblem der Moderne dann später auch von Gutzkow, Baudelaire, Vischer, Simmel, Benjamin und Baudrillard in je unterschiedlicher Weise eingesetzt worden ist.5 Dennoch gelten Mode und Modisches, da zumeist assoziiert mit Oberflächlichkeit, Nebensächlichem, Weiblichkeit und Konsum,6 insbesondere in Deutschland eher als das Gegenteil von Ernsthaftigkeit, Tiefgründigkeit und damit von Wissenschaftlichkeit, welche gleichwohl ja selbst von den jeweiligen Moden gelehrter Aufmerksamkeit bestimmt ist – eine der vielen Paradoxien nicht nur der (Kleider-)Mode, auf die Elena Esposito noch einmal hingewiesen hat: »In der Mode realisiert sich eine Form der Nachahmung in dem Versuch, die eigene Individualität durchzusetzen; man strebt Originalität an, indem man tut, was die anderen tun; man nimmt die reine Vorläufigkeit zum dauerhaften Anhaltspunkt; man nimmt eine Verbindlichkeit hin, nur weil sie sich ändert. Die Mode zwingt sich jedem auf, ob man sich nach ihr richtet oder nicht, und sie weitet sich in allen Bereichen der Gesellschaft aus: von der Wissenschaft bis hin zur Erziehung, von der Politik bis in die Kunst hinein – gleichwohl wird sie als marginales Phänomen behandelt, das man nicht allzu ernst nehmen sollte. […] Die Paradoxien der Mode legen weniger ihre Konsistenz und die Nichtigkeit des Phänomens frei, sondern sind gerade ein Anzeichen für diese ausgefeilte Form der Erzeugung des Notwendigen aus dem Zufall heraus. […] Um ihre Funktion auszuüben, muss die Mode implizit paradox sein – und demnach unbestimmbar und geheimnisvoll: Wie alle authentischen Geheimnisse schützt sich auch dieses durch den Schein des Banalen.« 7
Dass aber in Deutschland zumeist gerade das anscheinend Banale den Modediskurs bestimmt, funktionierte hier, indem die begrifflichen wie strukturellen Verbindungslinien zwischen der Mode und dem Modernen zwar durchaus frühzeitig erkannt worden sind – häufig sogar noch vor den dafür sehr 5 | Vgl. Honoré de Balzac: Traité de la vie élégante [1830]. In: Jean-A. Ducoumeau [u.a.]: Œuvres complètes, Bd. 19. Paris 1968, S. 166-209, hier S. 203 (»vestignomie«) sowie Bertschik: Mode und Moderne, S. 7-17. 6 | Zu dieser verhängnisvollen Kombination vgl. Katharina Rutschky: Unecht, zwecklos, albern. Über Mode als Medium weiblicher Identitätsbildung. In: Merkur 45 (1991), Heft 7, S. 812-823. 7 | Vgl. Elena Esposito: Die Verbindlichkeit des Vorübergehenden. Paradoxien der Mode. Übers. v. Alessandra Corti. Frankfurt a.M. 2004, S. 9 u. 11; Wolfgang Kemp: Mode und Mehr. Harte, aber ungerechte Worte in Richtung Geisteswissenschaften. In: Neue Rundschau 109 (1998), Heft 3, S. 9-18.
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viel prominenter gewordenen Stimmen, insbesondere aus dem französischen Raum –, gleichzeitig aber oft auch wieder in kulturpessimistisch abwertender Weise voneinander geschieden wurden: Mode ist in deutschsprachigen Diskursen also, wenn überhaupt, in erster Linie im pejorativen Sinne als Moderne verstanden worden. Das soll in einer Gegenüberstellung der Modetheorien von Karl Gutzkow und Georg Simmel zuerst dargelegt werden, bevor ich auf die – gleichwohl zu beobachtenden – Konjunkturen germanistischer Modeaufmerksamkeit und ihre jeweiligen methodischen Hintergründe eingehen werde. 1837, also nur ein Jahr später als Eugen von Vaersts Plädoyer für Verschwendung, Mode und Müßiggang in Deutschland, erscheint Karl Gutzkows ganz anders positionierter Text über »Die Mode und das Moderne«. Vergleichbar mit der späteren – und berühmter gewordenen – Schrift Baudelaires, »Le peintre de la vie moderne« (1860), wird schon bei Gutzkow versucht, Moderne dezidiert über Mode, ausgehend von der Kleidermode, zu definieren. Dass in beiden Fällen die Begriffe Mode und Moderne nahezu synonym verwendet werden können, liegt daran, dass hier in exemplarischer Weise Zeit- und Sachvorstellungen des Modernen im Sinne von »gegenwärtig«, »neu«, »vorübergehend« zusammenfallen.8 Darüber hinaus gelten die modernisierungstypischen Aspekte der Urbanisierung, Säkularisierung, Kommerzialisierung und Individualisierung als Voraussetzungen und Begleiterscheinungen einer Kleidung, die seit der Französischen Revolution nicht mehr standesspezifisch kontrolliert, sondern massenhaft zur Mode wird. So vernetzt Gutzkow die Bereiche Mode und Moderne über die beiden Begriffen inhärenten Kategorien der Wechselhaftigkeit, Schnelllebigkeit und Subjektivität; Kategorien, mit denen auch Hegel den inneren Zusammenhang von Mode und Moderne zu fassen versuchte.9 Im Unterschied zu Baudelaires späterem Festhalten am unveränderlichen Prinzip künstlerischer Dauer und Ewigkeit weitet Gutzkow den transitorischen Charakter einer solchen Mode als Moderne hier zudem auf Kunst und Literatur aus; erweist sich in dieser Hin-
8 | Zu diesen drei, im Gegensatz zu »vorherig«, »alt« und »ewig« gebildeten Bedeutungsvarianten des polyvalenten Begriffs der Moderne vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Modern. Modernität, Moderne. In: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 4. Stuttgart 1978, S. 93-131, hier S. 96. 9 | Vgl. zu einer solchen Beschäftigung Hegels mit der Kleidermode: Hauke Brunkhorst: So etwas angenehm frisch Geköpftes. Mode und Soziologie. In: Silvia Bovenschen (Hg.): Die Listen der Mode. Frankfurt a.M. 1986, S. 404-414, hier S. 408f. sowie zu Gutzkows Hegel-Rezeption: Rainer Funke: Beharrung und Umbruch 1830-1860. Karl Gutzkow auf dem Weg in die literarische Moderne. Frankfurt a.M. 1984, S. 71-89.
Mode in der Literatur wissenschaf t
sicht also schon konsequenter als Baudelaire.10 Ganz im Sinne der Forderungen des »Jungen Deutschland« und ihres inflationären Gebrauchs des Zeitbegriffs als »zeitgemäß«, »Zeitschriftsteller« und »Zeitgeist«,11 sollten nach Gutzkow auch Kunstwerke quasi journalistisch auf den aktuellen Tagesbedarf hin organisiert sein. Am Beispiel seines eigenen Textes »Die Mode und das Moderne« nutzt der deutsche Autor so die offen experimentierende »Denkversuchsform Essay«.12 Ebenso wie es für Baudelaires Schrift postuliert worden ist, stellt Gutzkows Auseinandersetzung mit der (Kleider-)Mode damit einen ersten Versuch dar, »›Moderne‹ positiv und historisch-spezifisch zu definieren, sie also nicht bloß als Gegensatz zur Antike zu verstehen«.13 Entscheidend ist für Gutzkows Argumentation, die er in Auseinandersetzung mit einem fiktiven Gesprächspartner — dem ehemaligen Dandy Anacharsis — entwickelt, dabei das Moment der Historisierung und damit sogar die Möglichkeit einer Aufhebung von Vergangenheit in der Moderne, im doppelten Sinne ihres Bewahrens und Veränderns. Denn anhand der Kleider- und Möbelästhetik seiner Zeit bemerkt er den bewussten Rückgriff, das Zitat vergangener Epochen. Gutzkow schließt daraus: »Dies ist ein Merkmal der Mode, welches den Weg bahnt zur Begriffsbestimmung des Modernen. Das Moderne verwirft das Alte nicht, sondern modelt es entweder nach seinem eigenen Geschmack um oder treibt es ins Extrem, wo es komisch wird, oder raffinirt sonst daran auf irgend eine Weise.«14 Mit dieser Betonung des Zitatenspiels der Mode, das von Schopenhauer etwas spä10 | Vgl. Charles Baudelaire: Le peintre de la vie moderne. In: Ders.: Œuvres. Hg. v. Y.G. le Dantec. Paris 1954, S. 881-920, hier S. 892: »La modernité, c’est le transistoire, le fugitif, le contingent, la moitié de l’art, dont l’autre moitié est l’éternel et l’immuable.« 11 | Vgl. Wulf Wülfing: Schlagworte des Jungen Deutschland [B. »Zeit«]. In: Zeitschrift für deutsche Sprache 22 (1966), S. 154-173. 12 | So Ingrid Oesterle: Paris, die Mode und das Moderne. In: Thomas Koebner/Sigrid Weigel (Hg.): Nachmärz. Der Ursprung der ästhetischen Moderne in einer nachrevolutionären Konstellation. Symposium zum 60. Geburtstag von Klaus Briegleb. Opladen 1996, S. 156-174, hier S. 172f. 13 | Vgl. in diesem Sinne zu Baudelaire: Gerhard Goebel: Mode und Moderne. Der Modejournalist Mallarmé. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift N.F. 28 (1978), S. 36-49, hier S. 36; Hans Ulrich Gumbrecht: Zum Wandel des Modernitäts-Begriffes in Literatur und Kunst. In: Reinhart Koselleck (Hg.): Studien zum Beginn der modernen Welt. Stuttgart 1977, S. 375-382, hier S. 377: »Modernität impliziert so das absolute Postulat der Erneuerung via Negation des transitorisch Gegenwärtigen, sie ist nicht mehr länger ein Absetzen von der gewachsenen Tradition als Antwort auf die Erfahrung ihres Ungenügens.« 14 | Karl Gutzkow: Die Mode und das Moderne [Das Moderne, 1837]. In: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 9: Säkularbilder I. Frankfurt a.M. 1846, S. 141-158, hier S. 142.
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ter indes als charakterlose, unoriginelle »Maskerade« verurteilt wird,15 nimmt Gutzkow, inspiriert durch eklektizistische Tendenzen seiner Zeit, bereits Definitionsmuster der Postmoderne vorweg — etwa im Sinne von Baudrillards Mode-Verständnis einer selbstzweckhaften »Ästhetik der Wiederholung« am Ende einer Moderne der Simulationsmodelle.16 Sowohl in einer solch komplexen Struktur-Verschränkung von Mode und Moderne als vor allem auch in der damit an keiner Stelle einhergehenden Wertung bzw. Abwertung einer solchen Analogiebildung von Mode als Moderne, liegt daher der über seine Zeit hinausweisende Ertrag von Gutzkows immer noch zu wenig beachtetem Text, insbesondere für den deutschsprachigen Raum. Das zeigt sich vor allem, wenn man Georg Simmels sehr viel bekannteren Beitrag »Die Mode« von 1911 zum Vergleich heranzieht. Hier verhandelt Simmel bekanntlich das Phänomen der Mode in soziologisch grundsätzlicher Weise. Der dynamische Wandel der Kleidermoden in ihrer paradoxen Wechselwirkung von Distinktion und Nachahmung stellt dabei allerdings bezeichnenderweise nur einen Aspekt unter vielen dar. Entscheidender für Simmel ist hingegen, dass sich der Einfluss der Mode auch in allen weiteren Lebensbereichen bemerkbar macht und zwar, wie seine Wortwahl unmissverständlich signalisiert, in eigentlich nicht zu akzeptierender Art und Weise: »Darum ist die Herrschaft der Mode am unerträglichsten auf den Gebieten, auf denen nur sachliche Entscheidungen gelten sollen: Religiosität, wissenschaftliche Interessen, ja, Sozialismus und Individualismus sind freilich Modesachen gewesen; aber die Motive, aus denen diese Lebensinhalte allein angenommen werden sollten, stehen in absolutem Gegensatz zu der vollkommenen Unsachlichkeit in den Entwicklungen der Mode und ebenso zu jenem ästhetischen Reize, den ihr die Entfernung von den inhaltlichen Bedeutungen der Dinge gibt, und der, als Moment solcher letztinstanzlichen Entscheidungen ganz unangebracht, ihnen einen Zug von Frivolität aufprägt.«
Als Hintergrund einer solchen Auslieferung an »frivole«, da unsachlich und ästhetisch ausgerichtete Denkmoden macht Simmel das nervöse »Tempo des modernen Lebens« aus, infolge dessen »die großen, dauernden, unfraglichen 15 | Arthur Schopenhauer: Zur Metaphysik des Schönen und Ästhetik. In: Ders.: Werke in fünf Bänden, nach den Ausgaben letzter Hand hg. v. Ludger Lütkehaus, Bd. 5: Parerga und Paralipomena: Kleine philosophische Schriften [1851], Zweiter Band. Zürich 1988, S. 393-395, hier S. 394f. 16 | Vgl. Jean Baudrillard: Die Mode oder die Zauberwelt des Codes. In: Ders.: Der symbolische Tausch und der Tod. Übers. v. Gerd Bergfleth/Gabriele Ricke/Ronald Voullié. München 1982 (1976), S. 131-152, hier S. 134; Ders.: Modernité. In: Encyclopaedia Universalis, Bd. 12. Paris 1985, S. 424-426, hier S. 425.
Mode in der Literatur wissenschaf t
Überzeugungen mehr und mehr an Kraft verlieren« und die »flüchtigen und veränderlichen Elemente des Lebens […] dadurch um so mehr Spielraum [gewinnen]«.17 Insbesondere die Großstädte werden für ihn dabei »zum Nährboden der Mode« im weitesten Sinne, nämlich durch »die treulose Schnelligkeit im Wechsel der Eindrücke und Beziehungen, […] die Nivellierung und gleichzeitige Pointierung der Individualitäten, […] die Zusammengedrängtheit und die eben dadurch aufgenötigte Reserve und Distanzierung.«18 Auch hier werden die der Mode eigenen Wirkungsmechanismen, wie urbane Dynamisierung, Abwechslung, Transitorik, Individualisierung und Uniformierung, mit Schlüsselstrategien des Modernisierungsprozesses kurzgeschlossen. Gerade der Vergleich mit der Mode bietet Simmel nun aber die Möglichkeit, Wertungen vorzunehmen: Wird die Schnelligkeit im Wechsel der Eindrücke und Beziehungen von ihm so doch als »treulos« charakterisiert. Zwar verwirft Simmel mit der Wechselhaftigkeit und Künstlichkeit der Mode nicht zugleich auch das großstädtisch Moderne insgesamt, wie etwa der Romantiker Friedrich Schlegel dies noch am Beispiel von Paris in seiner für Deutschland folgenreichen Opposition zwischen deutscher und französischer Kultur vorgenommen hatte.19 Im Unterschied zu Gutzkow stellt Simmel in seinem Essay damit aber auch nicht nur erneut »das begriffliche Instrumentarium zur Verfügung, mit dessen Hilfe die […] Ableitungen von dem Begriff der ›Mode‹, wie ›modisch‹, ›modern‹, inhaltlich gefaßt«, sondern vor allem auch wieder unterschieden werden können – ein Aspekt bei Simmel, auf den Gesa Dane noch einmal aufmerksam gemacht hat: »Modisch meint dann ›einer Mode entsprechend‹, während ›modern‹ ›zeitgemäß‹, ›auf der Höhe der Zeit‹ bedeutet. Beide Adjektive, ›modisch‹ wie auch ›modern‹, können beschreibend verwendet werden. Sie können freilich auch wertend eingesetzt werden, dann erhält ›modisch‹ eine pejorative Konnotation. Wenn ein Objekt, eine Denkweise oder Haltung als modisch charakterisiert werden, so ist ihnen ein Verfallsdatum mitgegeben. Das kann sich auf Kleider wie auch auf Denkweisen beziehen. Die Eigenschaft ›modern‹ hat demgegenüber eine andere Qualität, hier schwingt mit, dass das Moderne in gewisser Hinsicht einen beständigen Kern mit sich trägt.« 20
17 | Georg Simmel: Die Mode (1911). In: Ders.: Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne. Gesammelte Essais. Berlin 1983, S. 38-63, hier S. 42f. [Hervorh. JB], 45 u. 47. 18 | Ebd., S. 59f. [Hervorh. JB]. 19 | Vgl. dazu bereits Oesterle: Paris, die Mode und das Moderne, S. 163-167. 20 | Gesa Dane: Frauenfragen – Modefragen? Zu Joseph Roths ›Brief an eine schöne Frau im langen Kleid‹. In: Hans-Richard Brittnacher/Wiebke Amthor (Hg.): Joseph Roth – Zur Modernität des melancholischen Blicks. Berlin, New York 2012, S. 91-99, hier S. 95.
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Und damit erweitert Simmel die schon bei Baudelaire, allerdings lediglich für den Bereich der Kunst aufgestellte Zweiteilung des Modisch-Modernen um die Aspekte des Vergänglichen, Flüchtigen, Möglichen einerseits, sowie des Ewigen und Unveränderlichen andererseits, zum widersprüchlichen Instrumentarium allgemeiner Zeitdiagnosen. Überdies liefert er so auch die, für den deutschen Modediskurs seit der Aufklärung symptomatische Option mit, Mode in eine wertende Opposition zur Moderne setzen zu können – Mode also zwar in Bezug zur Moderne, im Sinne von Mode und Moderne zu sehen, Mode aber nicht unbedingt positiv als Moderne verstehen zu müssen. Lässt sich damit schon frühzeitig das problematische Verhältnis zwischen Mode und Moderne, Mode und Wissenschaft in Deutschland umreißen, so spielt die kulturelle Figuration der Mode innerhalb der germanistischen Literaturwissenschaft doch auch immer wieder eine Rolle. Allerdings meist eher als Begleitaspekt und Randerscheinung unterschiedlicher Wissenschafts-Moden bzw. methodischer Turns,21 wie im Folgenden zu sehen ist. Das hängt sicher auch damit zusammen, dass die disziplinäre Fokussierung auf Sprache, Text und Literarizität bzw. auf eine Kultur als Text (mit den dementsprechenden Assoziationen von Tiefe, Bedeutung, Denken, Ernsthaftigkeit) hier zunächst nur eingeschränkte Anschlussmöglichkeiten zur charakteristischen Visualität, Materialität und Performanz vestimentärer Moden mit ihren Assoziationen von Oberfläche und Flüchtigkeit zu bieten schien. Insofern bewegen sich die wenigen ersten Auseinandersetzungen mit dem Phänomen der Mode seit Ende des 19. Jahrhunderts auch in den Feldern, die sich mit genuin literaturwissenschaftlichen Themen am besten verbinden ließen. Und das sind zunächst vor allem: • der deutschsprachige Modejournalismus,22 • die (insbesondere in der Mediävistik verbreitete) Motivforschung von Kleidung sowie die daran meist soziologisch anschließende Figurenanalyse,23
21 | Vgl. Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek 2006. 22 | Vgl. dazu schon früh Lore Krempel: Die deutsche Modezeitschrift. Ihre Geschichte und Entwicklung nebst einer Bibliographie der deutschen, englischen und französischen Modezeitschriften. Coburg 1935. 23 | Vgl. hier exemplarisch Elke Brüggen: Kleidung und Mode in der höfischen Epik des 12. und 13. Jahrhunderts. Heidelberg 1989 und Annemarie Pinto: Das Mantelmotiv in Kellers »Kleider machen Leute« und Gogols »Der Mantel«. Bern 1978.
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• die vor allem durch Silvia Bovenschens kommentierte Anthologie von 1986 zugänglich gemachten Modetheorien von Friedrich Theodor Vischer bis Richard Sennett sowie die Alamodekritik der Frühen Neuzeit,24 • und die an Roland Barthes orientierten, semiotischen Aspekte einer »Sprache der Mode« – laut der deutschen Übersetzung von Barthes’ »Système de la mode« (1967) – als »vestimentärem Code« mit eigener Poetik und Rhetorik.25 Gegenüber dem visuellen Code von Kleidung wurde hier vor allem ihre Vertextung ins Zentrum gestellt. Denn der dazu notwendige Transformationsprozess eines außersprachlichen Zeichenträgers in Sprache erfordere, laut Dominica Volkert,26 prinzipiell die Generierung weiterer und daher gerade von den Sprach- und Literaturwissenschaften zu untersuchender Bedeutungsaspekte. Gegen Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts wächst daher auch in Germanistik und Komparatistik das Interesse an der Mode. Das lässt sich insgesamt auf eine stärkere kulturwissenschaftliche Ausweitung und lebensweltliche Kontextualisierung der Geisteswissenschaften in Deutschland zurückführen. Innerhalb der universitär etablierten Germanistik ist diese bis heute jedoch nicht unumstritten. Zu nennen sind für den Bereich der Mode hier seit den 1990er Jahren zunächst die Body und Gender Studies. Vor dem Hintergrund von Judith Butlers »gender performances« beschäftigen sie sich mit den Maskeraden vor allem des weiblichen Geschlechts, so wie Gertrud Lehnert mit dem Crossdressing von als Männern verkleideten Frauen.27 Dabei wird allerdings auch deutlich, dass Genderforschung in Deutschland häufig weiterhin eher als Frauendenn als Geschlechterforschung praktiziert wird. Und Mode – laut Hannelo24 | Vgl. Silvia Bovenschen (Hg.): Die Listen der Mode. Frankfurt a.M. 1986 sowie zur Alamodekritik bereits Erich Schmidt: Der Kampf gegen die Mode in der deutschen Literatur des siebzehnten Jahrhunderts. In: Im neuen Reich 10 (1880), Bd. 2, S. 457-475. 25 | Vgl. Roland Barthes: Die Sprache der Mode. Übers. v. Horst Brühmann. Frankfurt a.M. 1985 (1967) sowie daran anschließend z.B. Pia Reinacher: Die Sprache der Kleider im literarischen Text. Untersuchungen zu Gottfried Keller und Robert Walser. Bern 1988. 26 | Dominica Volkert: Frauenzeitschriften und das Zeichensystem Mode im ausgehenden 18. Jahrhundert. In: Ernest W.B. Hess-Lüttich (Hg.): Medienkultur – Kulturkonflikt. Massenmedien in der interkulturellen und internationalen Kommunikation. Opladen 1992, S. 413-429, vor allem S. 413f. 27 | Vgl. Judith Butler: Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity. New York, London 1990 sowie Gertrud Lehnert: Maskeraden und Metamorphosen. Als Männer verkleidete Frauen in der Literatur. Würzburg 1994 und dies.: Wenn Frauen Männerkleider tragen. Geschlecht und Maskerade in Literatur und Geschichte. München 1997.
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re Schlaffer – sozusagen als »Schule der Frauen« im Ghetto von hegemonial weiblich konnotierten Interessen verbleibt.28 Im Zuge des Performative Turns erleben aber auch Fest- und Spektakelkultur, Theater und Tanz eine besondere wissenschaftliche Aufmerksamkeit. Dabei spielen nun Tanzkleid und Kostüm verstärkt eine Rolle und können, wie Gabriele Brandstetter in ihren »Tanz-Lektüren« der Avantgarde gezeigt hat,29 im Kontext von modernen Moden und Antimoden eine produktive und nicht zwingend anthropologisch ausgerichtete Verbindung von Stoff, Bewegung und Raum, Texten und Textilien eingehen. Des Weiteren haben Iconic Turn und Material Studies die Beschäftigung mit Kleidermode ermöglicht. In beiden Fällen wurde die Sprach- und Textdominanz der Literaturwissenschaften zwar nicht grundsätzlich in Frage gestellt, wohl aber deren methodisches Monopol eines Linguistic Turns überprüft, indem das Untersuchungsfeld weiter ausdifferenziert und durch bislang verdrängte Bereiche – wie die Beschäftigung mit vestimentärer Mode – angereichert wurde. So kommt in der Germanistik eine gesteigerte Aufmerksamkeit gegenüber wahrnehmungsprägenden Bildern aller Art, angestoßen durch medienwissenschaftliche Impulse, vor allem in der Inter- und Transmedialitätsforschung von Text-Bild-Bezügen zur Geltung. Hier geht es einerseits um die Bildreflexion der literarischen Texte in ihrer Beschreibungskunst durch ekphrastische und pikturalistische Textstrategien, z.B. entlang technischer Umbrüche von Malerei, Fotografie, Film, Fernsehen, Internet.30 Und andererseits um das ikonotextuelle Zusammenwirken, das mediale Spannungsverhältnis und die Kommentierungsbedürftigkeit der Bilder durch Text und Schrift, da gerade beim ›Medienclash‹ von Text und Bild erneut zusätzliche Signifikate entstehen. In kritischer Auseinandersetzung mit den Thesen Roland Barthes hat darauf noch einmal Dagmar Venohr in ihrer Studie zur »Ikonotextualität der Modezeitschrift« hingewiesen.31 Auch die aktuelle Wendung zur materialen Verfasstheit von menschlichem Wissen und Kultur, zur Evidenz realer Objekte und ihrer »agency«32 als Matrix und Fremdkörper kultureller, insbesondere literarischer Bedeutungsproduk28 | Vgl. das fatalistische Resümee von Hannelore Schlaffer: Mode. Schule der Frauen. Frankfurt a.M. 2007. 29 | Gabriele Brandstetter: Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde. Frankfurt a.M. 1995. 30 | Vgl. hier etwa Monika Schmitz-Emans: Die Literatur, die Bilder und das Unsichtbare. Spielformen literarischer Bildinterpretation vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Würzburg 1999. 31 | Dagmar Venohr: medium macht mode. Zur Ikonotextualität der Modezeitschrift. Bielefeld 2010, vor allem S. 182-191. 32 | So bei Bruno Latour: Reassembling the Social. An Introduction into ActorNetwork-Theory. Oxford, New York 2005.
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tion, erfordert ein Überdenken des Spannungsverhältnisses zwischen Objekt, Sprache und Text, zwischen Realem und Symbolischem, Struktur und Textur, Linguistic und Material Culture. Sind die stummen Artefakte materieller Kultur doch häufig überhaupt erst durch die Codes ihrer Verwendung lesbar, indem sie in Kontexten und Diskursfeldern verortet werden.33 Nicht nur, aber auch für den Bereich der Mode ist hier die einflussreiche Studie Hartmut Böhmes zum Verhältnis von »Fetischismus und Kultur« als einer »andere[n] Theorie der Moderne« zu nennen.34 Eine produktive Verbindung von Kulturtheorie, Materialität, Mode, Medien und Literatur zeigen darüber hinaus Studien, die sich dem Thema der Oberfläche widmen, wie etwa das Themenheft »Tiefe Oberflächen« der Zeitschrift »Neue Rundschau« oder aber der Sammelband »Lob der Oberfläche« zum Werk Elfriede Jelineks.35 Dabei sind die visuellen Oberflächen des urbanen Konsums und ihrer Mode(n) in modernen Massen- und Populärkulturen schon seit den 1960er bzw. den 1980er Jahren in den angloamerikanischen Cultural Studies fest verankert, gerade auch mit Blick auf Entwicklungen in Deutschland (vornehmlich zur Zeit der Weimarer Republik).36 In den letzten Jahren ist im deutschsprachigen Raum aber ebenfalls eine vermehrte Beschäftigung und Neubewertung von Literatur und Ökonomie, Reklame, Warenästhetik und Warenhauskultur im Sinne eines Diskurses um die Moderne zu beobachten. Wie Publikationen aus dem Jahr 2011 zeigen,37 geht es auch hier darum, den gerade in Deutschland seit Ende des 18. Jahrhunderts etablierten und hartnäckig verteidigten Gegensatz zwischen Hoch- und Populärkultur zu nivellieren, die Verschränkungen zwischen ökonomischem und symbolischem Kapital zu betonen und damit nicht zuletzt auch den Blick auf Phänomene der Mode-Präsentation und ihres Konsums innerhalb des literarischen Feldes zu richten.
33 | Vgl. Tobias L. Kienlin (Hg.): Die Dinge als Zeichen. Kulturelles Wissen und materielle Kultur. Bonn 2005. 34 | Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne. Reinbek 2006, vor allem S. 469-476. 35 | Vgl. Tiefe Oberflächen. Neue Rundschau 113 (2002), Heft 4; Thomas Eder/Juliane Vogel (Hg.): Lob der Oberfläche. Zum Werk von Elfriede Jelinek. München 2010. 36 | Vgl. hier z.B. Janet Ward: Weimar Surfaces. Urban Visual Culture in 1920s Germany. Berkeley, Los Angeles, London 2001; Mila Ganeva: Women in Weimar Fashion. Discourses and Displays in German Culture, 1918-1933. Rochester 2008. 37 | Vgl. Thomas Wegmann: Dichtung und Warenzeichen. Reklame im literarischen Feld 1850-2000. Göttingen 2011; Heinz Drügh/Christian Metz/Björn Weyand (Hg.): Warenästhetik. Neue Perspektiven auf Konsum, Kultur und Kunst. Berlin 2011 sowie Thomas Lenz: Konsum und Modernisierung. Die Debatte um das Warenhaus als Diskurs um die Moderne. Bielefeld 2011.
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Im Bereich von Literature and Science ist neuerdings zudem das Thema des Luxus in seiner »Ambivalenz des Überflüssigen« von wissenschaftshistorischer Relevanz. Das lädt auch hier zur neuerlichen Auseinandersetzung mit den »popoluxe goods« der Mode wie den »Journalen des Luxus und der Moden« ein.38 Seit den 1990er Jahren lässt sich im Zuge unterschiedlicher MethodenTurns also durchaus von einem gestiegenen Interesse an der Figuration der Mode in der germanistischen Literaturwissenschaft sprechen. Dennoch bleibt zu konstatieren, dass Mode hier weiterhin zumeist nicht im Zentrum des Untersuchungsinteresses steht und überdies häufig auch nicht genau zwischen Kleidung und Mode unterschieden wird. Im Zuge des seit ein paar Jahren neu ausgerufenen Beauty Turns in den Kulturwissenschaften,39 scheint man in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft überdies sogar wieder ganz auf vestimentäre Moden verzichten zu können. Zumindest dokumentiert das die Anfang 2000 einsetzende Darwin-Renaissance evolutionsbiologisch argumentierender Schönheits-, Kultur- und Ästhetiktheorien bei Karl Eibl oder Winfried Menninghaus.40 Das epistemologische Potenzial der Mode als wesentlicher Figuration der Moderne bleibt so weiter unterbelichtet oder wird nivelliert. Dies demonstriert einmal mehr der Sammelband »Figurationen der Moderne. Mode, Sport, Pornographie« zum Zusammenhang von Kultur und Geschlecht in der literarischen Moderne. Mode erscheint hier nur mehr als eine Modernefiguration unter anderen.41 In meiner eigenen Studie zum Zusammenhang von »Mode und Moderne« habe ich hingegen versucht, die Spezifika eines deutschsprachigen Modediskurses aus modetheoretischen, -journalistischen und -literarischen Elementen 38 | Vgl. Maximilian Bergengruen/Christine Weder (Hg.): Luxus. Die Ambivalenz des Überflüssigen in der Moderne. Göttingen 2011, vor allem den Beitrag von Günter Oesterle: Der kleine Luxus. Die poetologischen Folgen der aufklärungsspezifischen Unterscheidung von kommodem Luxus und Exzessen des Luxuriösen, S. 109-123, hier S. 111. 39 | So z.B. bei Annette Geiger (Hg.): Der schöne Körper. Mode und Kosmetik in Kunst und Gesellschaft. Köln, Weimar, Wien 2008, S. 11. 40 | Vgl. Karl Eibl: Animal Poeta. Bausteine der biologischen Kultur- und Literaturtheorie. Paderborn 2004; Winfried Menninghaus: Das Versprechen der Schönheit. Frankfurt a.M. 2003 und ders.: Wozu Kunst? Ästhetik nach Darwin. Berlin 2011; demgegenüber auch zu Schönheit als sozialer und medizinischer Praxis bzw. als künstlicher (Mode-) Performance: Otto Penz: Schönheit als Praxis. Über klassen- und geschlechtsspezifische Körperlichkeit. Frankfurt a.M. 2010; Annelie Ramsbrock: Korrigierte Körper. Eine Geschichte künstlicher Schönheit in der Moderne. Göttingen 2011 und Pia Reinacher: Kleider, Körper, Künstlichkeit. Wie Schönheit inszeniert wird. Berlin 2010. 41 | Birgit Nübel/Anne Fleig (Hg.): Figurationen der Moderne. Mode, Sport, Pornographie. München 2011.
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an den zentralen Epochenumbrüchen um 1800, um 1900, zur Zeit der Weimarer Republik und des »Dritten Reichs« als sowohl stimulierendes Vehikel wie als frühzeitiges Krisensignal bürgerlich-abendländischer Modernisierungsdynamik zu erschließen. Dabei geht es mir um den modischen Kleidungswechsel als Indiz sozialen, genderspezifischen und ästhetischen Wandels zwischen Historisierung, Subjektivierung und Medialisierung, Tradition und Innovation, Natürlichkeit und Artifizialität im intermedialen Grenzgebiet von Text und Bild. Neben thematologischen und strukturellen Verbindungslinien zwischen Texten und textilen Geweben konnten so auch modespezifische Genres wie etwa der Konfektionsroman entdeckt werden. Mit einer solchen Verschränkung von Literatur- und Kostümgeschichte wurde im Sinne des New Historicism42 zugleich die neue Form einer kulturpoetisch orientierten, deutschsprachigen Literatur- und Mediengeschichte als Modegeschichte erprobt. Da einem solch transdisziplinär angelegten Vorhaben im Bereich von Literatur und Mode – zumindest in Deutschland – jedoch häufig auf eher konventionelle, die Disziplinen im Sinne einer ›Rephilologisierung‹ abgrenzende und die Mode eher misstrauisch beobachtende Weise begegnet wird, lässt sich die hier unternommene Bestandsaufnahme der Modebeschäftigung in der geisteswissenschaftlichen Disziplin der Germanistik wohl immer noch mit Pierre Bourdieus polemisch gemeinter These aus dem Jahr 1980 schließen: »Die Mode gehört zu jenen Mechanismen, mit deren Verstehen man nie ans Ende kommt, weil man sie zu leicht versteht.«43
L iter atur Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek 2006. Balzac, Honoré de: Traité de la vie élégante (1830). In: Jean-A. Ducourneau (Hg.): Œuvres complètes de M. de Balzac, Bd. 19. Paris 1968, S. 166-209. Barthes, Roland: Die Sprache der Mode. Übers. v. Horst Brühmann. Frankfurt a.M. 1985 (1967). Baßler, Moritz (Hg.): New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Tübingen, Basel 2001. 42 | Vgl. hier Moritz Baßler (Hg.): New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Tübingen, Basel 2001; Dennis Hollier (Hg.): A New History of French Literature. Cambridge, London 1989 oder David E. Wellbery u.a. (Hg.): Eine Neue Geschichte der deutschen Literatur. Übersetzung v. Volker von Aue u.a. Berlin 2007 (2004). 43 | Pierre Bourdieu: Die Metamorphose des Geschmacks. In: Ders.: Soziologische Fragen. Übers. v. Hella Heister/Bernd Schwibs. Frankfurt a.M. 1993 (1980), S. 153164, hier S. 160.
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Baudelaire, Charles: Le peintre de la vie moderne. In: Ders.: Œuvres. Hg. v. Y.G. le Dantec. Paris 1954, S. 881-920. Baudrillard, Jean: Die Mode oder die Zauberwelt des Codes. In: Ders.: Der symbolische Tausch und der Tod. Übers. v. Gerd Bergfleth/Gabriele Ricke/ Ronald Voullié. München 1982 (1976), S. 131-152. Baudrillard, Jean: Modernité. In: Encyclopaedia Universalis, Bd. 12. Paris 1985, S. 424-426. Bergengruen, Maximilian/Weder, Christine (Hg.): Luxus. Die Ambivalenz des Überflüssigen in der Moderne. Göttingen 2011. Bertschik, Julia: Deutsches Dandytum zwischen Männerbund, Hochstapelei und Commedia dell’arte. In: Dies.: Mode und Moderne. Kleidung als Spiegel des Zeitgeistes in der deutschsprachigen Literatur (1770-1945). Köln, Weimar, Wien 2005, S. 127-167. Bertschik, Julia: Mode und Moderne. Kleidung als Spiegel des Zeitgeistes in der deutschsprachigen Literatur (1770-1945). Köln, Weimar, Wien 2005. Böhme, Hartmut: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne. Reinbek 2006. Bourdieu, Pierre: Die Metamorphose des Geschmacks. In: Ders.: Soziologische Fragen. Übers. v. Hella Heister/Bernd Schwibs. Frankfurt a.M. 1993 (1980), S. 153-164. Bovenschen, Silvia (Hg.): Die Listen der Mode. Frankfurt a.M. 1986. Brandstetter, Gabriele: Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde. Frankfurt a.M. 1995. Briese-Neumann, Gisa: Ästhet-Dilettant-Narziß. Untersuchungen zur Reflexion der fin de siècle-Phänomene im Frühwerk Hofmannsthals. Frankfurt a.M., Bern, New York 1985. Brüggen, Elke: Kleidung und Mode in der höfischen Epik des 12. und 13. Jahrhunderts. Heidelberg 1989. Brunkhorst, Hauke: So etwas angenehm frisch Geköpftes. Mode und Soziologie. In: Silvia Bovenschen (Hg.): Die Listen der Mode. Frankfurt a.M. 1986, S. 404-414. Butler, Judith: Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity. New York, London 1990. Dane, Gesa: Frauenfragen – Modefragen? Zu Joseph Roths ›Brief an eine schöne Frau im langen Kleid‹. In: Hans-Richard Brittnacher/Wiebke Amthor (Hg.): Joseph Roth – Zur Modernität des melancholischen Blicks. Berlin, New York 2012, S. 91-99. Drügh, Heinz/Metz, Christian/Weyand, Björn (Hg.): Warenästhetik. Neue Perspektiven auf Konsum, Kultur und Kunst. Berlin 2011. Eder, Thomas/Vogel, Juliane (Hg.): Lob der Oberfläche. Zum Werk von Elfriede Jelinek. München 2010.
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Simmel, Georg: Die Mode (1911). In: Ders.: Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne. Gesammelte Essais. Berlin 1983, S. 38-63. Tiefe Oberflächen. Neue Rundschau 113 (2002), Heft 4. [Vaerst, Eugen Baron von]: Cavalier-Perspective. Handbuch für angehende Verschwender von Chevalier de Lelly. Leipzig 1836. Venohr, Dagmar: medium macht mode. Zur Ikonotextualität der Modezeitschrift. Bielefeld 2010. Volkert, Dominica: Frauenzeitschriften und das Zeichensystem Mode im ausgehenden 18. Jahrhundert. In: Ernest W.B. Hess-Lüttich (Hg.): Medienkultur – Kulturkonflikt. Massenmedien in der interkulturellen und internationalen Kommunikation. Opladen 1992, S. 413-429. Ward, Janet: Weimar Surfaces. Urban Visual Culture in 1920s Germany. Berkeley, Los Angeles, London 2001. Wegmann, Thomas: Dichtung und Warenzeichen. Reklame im literarischen Feld 1850-2000. Göttingen 2011. Wellbery, David E. u.a. (Hg.): Eine Neue Geschichte der deutschen Literatur. Übers. v. Volker von Aue u.a. Berlin 2007 (2004). Wülfing, Wulf: Schlagworte des Jungen Deutschland [B. »Zeit«]. In: Zeitschrift für deutsche Sprache 22 (1966), S. 154-173.
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Mode als museale Inszenierung Annelie Lütgens
In den öffentlichen Museen rollt die »Fashion-welle«1. »McQueen macht Museumsgeschichte« titelte das Kunstmagazin »Art« im August 2011 und berichtete von »Warteschlangen, die sich bereits in den frühen Morgenstunden vor dem Metropolitan Museum in New York bildeten«2 und davon, dass die Retrospektive des im Jahr zuvor verstorbenen Modedesigners Alexander McQueen 661.000 Besucher und Besucherinnen angezogen hat, nur Picasso brachte noch mehr. Die Schau »Savage Beauty« »schaffte es auf Platz 8 der beliebtesten Ausstellungen in der Geschichte des Metropolitan Museum in New York. Der Modeschöpfer wurde damit neben Meistern und historischen Größen wie Tutanchamun, Picasso oder van Gogh eingereiht.«3 Und auch in einem anderen Segment der Zielgruppe für Lifestyle, der Zeitschrift »ArtInvestor«, verkündet die Kunstjournalistin Eva Karcher die erfolgreiche Verschmelzung von Kunst und Mode: »Der neue globale Artstyle ist kreativ und human und das neue ultimative Statussymbol: Charisma. […] Im Shoppingkatalog des nomadischen Weltenflaneurs von heute ist Kunst ein weiteres glamouröses Element neben anderen Lebensstilzutaten.«4 Das mag sich auch das Kölner Wallraff-RichartzMuseum gedacht haben, als es 2011 den Modemacher Christian Lacroix einlud, die Schau des französischen Salonmalers Alexandre Cabanel zu gestalten oder das Karl-Ernst-Osthaus Museum in Hagen, das im gleichen Jahr eine von der Parfümkaufhauskette Douglas gesponserte Ausstellung zur Geschichte des Parfumflakons zeigte. Angesichts solch kunst- und sammlungsgeschichtlich fragwürdiger Unternehmungen wird verständlich, wenn Kritiker davon sprechen, 1 | Kultiversum. Die Kulturplattform: Wolfsburg, Art & Fashion, 25.03.2011. www.kul tiversum.de/Kunst-Kontroversen/Wolfsburg-Kunstmuseum-Art-Fashion.html [Zugriff: 27.08.2013]. 2 | Claudia Bodin: McQueen macht Museumsgeschichte. www.art-magazin.de/design/ 44554/alexander_mcqueen_new_york [Zugriff: 27.08.2013]. 3 | Ebd. 4 | Eva Karcher: Statussymbol: Charisma. In: ArtInvestor 10 (2011), Heft 02, S. 66.
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dass »staatliche Museen ihren Ruf durch Modenschauen ruinieren.«5 Andererseits tut sich gerade hierzulande die Kunstkritik schwer damit, Modeausstellungen in Kunstinstitutionen zu akzeptieren. Die Erwartungshaltungen sind zu verschieden, und Mode und Kunst werden immer noch gerne gegeneinander ausgespielt: Über die Berliner Dior-Ausstellung 2007 hieß es beispielsweise, sie werde der Aura des genialen Designers zu wenig gerecht6, wiederum werden fulminantere Inszenierungen als »aufgemotzt« 7 abgetan. Auf der Pressekonferenz zur Wolfsburger Ausstellung »Zwischen Haut und Kleid« wurde ich empört gefragt, was denn so großartige Künstler wie Robert Gober und Louise Bourgeois unter all diesen Designern zu suchen hätten. Liest man die Feuilletonartikel der letzten Jahre, die sich mit dem Phänomen Mode im Museum beschäftigen, so wird deutlich, dass wir uns in Deutschland anscheinend deswegen so schwertun, weil es für Mode eben keinen angestammten Ort gibt, in dem der Diskurs geführt werden kann. Wir haben kein Modemuseum, kein Fashion Institute for Technology mit seiner Schnittstelle zwischen Universität, Museum und Modeindustrie wie in New York, und welches Museum für Angewandte Kunst könnte es mit dem Londoner Victoria & Albert Museum und seiner weltgrößten Sammlung von Kunstgewerbe und Design aufnehmen? Aus dieser Not haben manche Kunstmuseen eine Tugend gemacht, indem sie in Ausstellungen einen in der modernen Kunst und in der Mode praktizierten Diskurs des Crossover gestalten, welcher sich eben nicht nur auf der kommerziellen Ebene bewegt.
Te x tile S tudien Mode im Museum ist nichts Neues. Sie war immer schon gegenwärtig, wie zum Beispiel auf den Gemälden, nur leider hat sich die Kunstgeschichte bisher kaum dafür interessiert, während sich die Kostümgeschichte eher für den angewandten Bereich zuständig fühlte. Vielleicht könnte man es als positive Nebenwirkung der Bildwissenschaft ansehen, dass die vor einiger Zeit in Berlin und Zürich ins Leben gerufenen »textile studies«8 sich vorgenommen haben, die Lücke zwi5 | Catrin Lorch: Kunst und Mode. Die hübschen Eindringlinge. www.sueddeutsche.de/ kultur/kunst-und-mode-die-huebschen-eindringlinge-1.1045722 [Zugriff: 27.08.2013]. 6 | Andreas Platthaus: Der Mann, der unsere Augen kidnappt. Berlin wird modisch: Das Kulturforum am Potsdamer Platz zeigt eine Dior-Ausstellung. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.02.2007, S. 31. 7 | Catrin Lorch: Körperlose Schönheiten. Was verbindet die Mode mit der Kunst? Immer häufiger zeigen Museen die Werke radikaler Couturiers. In: Süddeutsche Zeitung, 11.03. 2011, S. 13. 8 | Philipp Zitzlsperger (Hg.): Kleidung im Bild. Zur Ikonologie dargestellter Gewandung (= Textile Studies. Band 1). Emstetten, Berlin 2010.
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schen Kunst- und Kostümgeschichte zu schließen. »Textile studies« fragen nach der Relevanz der Kleidung für die Deutung von Kunstwerken: »Methodisch ist von der grundsätzlichen Erkenntnis auszugehen, dass Kleidung und Schmuck wegen ihres hohen Symbolwertes die Funktion vertreten, das Individuum durch die Mode mit gesellschaftlichen Gruppen zu verbinden bzw. von ihnen zu trennen«, so Philipp Zitzlsperger. Der gleiche Autor kommentiert weiter: »Das Bild und die Skulptur […] sind für die kleiderkundliche Analyse als Reflexionen – nicht Spiegelbilder – eines kleidungsbetonten Alltags zu verstehen«.9 Welch gewinnbringende Erkenntnisse dieser andere Fokus auf Kleidung zeitigen kann, zeigen beispielsweise Birgitt Borkopp-Restle und Barbara Welzel in ihrer Analyse der Repräsentationsbildnisse von der Infantin Isabella (1566-1633), die als Tochter Philipps II. von Spanien um 1600 »die begehrteste Braut Europas« genannt werden konnte.10 In der Verbindung von kleidungskundlicher Analyse mit wahrnehmungsästhetischen Aspekten gelingt ihnen die Demonstration, dass die Kombination von Licht, Bewegung und Material das eigentliche Thema der vestimentären Ausstattung bei repräsentativen Bildnissen bestimmt.11 Einen weiteren Beleg für diese eigentliche Bedeutung vestimentärer Darstellung als Codierung von gesellschaftlichen Botschaften liefert das berühmte Gemälde der »Madame X«12, die mit dem Motto der Filmschauspielerin Mae West: »Too much of a good thing can be wonderful« treffend charakterisiert würde: Ihr stolzer, geradezu abweisend erhobener Kopf im Profil sowie ihre aus einem schwarzen Abendkleid herauswachsenden weißen Arme, Schultern und Dekolleté und vor allem ein von der Schulter herab gerutschter Träger verletzten das damalige moralische Empfinden des Pariser Publikums und bescherten dem Maler John Singer Sargent im Salon von 1884 einen Skandal. In ihrer Untersuchung über die Wechselbeziehungen zwischen Mode, Malerei und Fotografie im 19. Jahrhundert bildet die Autorin Burcu Dogramaci diese später übermalte Fassung des Porträts ab. »Erst unter dem öffentlichen Druck übermalte Sargent das Gemälde und brachte den Träger in seine heutige Position.«13 9 | Philipp Zitzlsperger: Vorwort. In: Ebd., S. 7. 10 | Birgitt Borkopp-Restle/Barbara Welzel: Material, Licht und Bewegung. Der vestimentäre Auftritt von Erzherzogin Isabella und Erzherzog Albrecht in ihren Staatsporträts. In: Zitzlsperger (Hg.): Kleidung im Bild, S. 99-112, hier S. 100. 11 | Ebd., S. 105. 12 | John Singer Sargent, Madame X (Madame Pierre Gautreau), 1883/84, Öl auf Leinwand, 208,6 x 109,9 cm, The Metropolitan Museum of Art, Arthur Hoppock Hearn Fund, 1916 (1653), New York. 13 | Burcu Dogramaci: Wechselbeziehungen. Mode, Malerei und Fotografie im 19. Jahrhundert. Marburg 2011, S. 43. Dort findet sich auch das Foto der ursprünglichen Fassung. Die Endfassung ist auf S. 133 abgebildet.
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Wie sehr Singer Sargent oder James McNeill Whistler in ihren Porträts der amerikanischen Oberschicht während des Gilded Age Kleidung und Distinktion mit moderner Atmosphäre verbanden, lässt sich bereits an den Titeln der Porträts ablesen, die in erster Linie von »Arrangements« und von Farben reden und erst in zweiter Linie von den Dargestellten: »Arrangement in Brown and Black. Portrait of Miss Rosa Carter«.14 »Textile studies« können also unsere Aufmerksamkeit auf vestimentäre Codes in kunsthistorischen Kontexten lenken. Für die Museen besteht die Herausforderung darin, diese auf ihre Sammlungs- und Präsentationszusammenhänge anzuwenden.
M use ale I nszenierungen von M ode und K leidung Kunstwerke und Kleider gemeinsam auszustellen, steht in der Tradition der Kunst- und Wunderkammern bzw. der kulturgeschichtlichen und kunstgewerblichen Museen. Kunstmuseen fühlen sich meist erst dann zuständig, wenn es Künstler bzw. Künstlerinnen sind, die Kleider entwerfen. Das folgende Beispiel soll zeigen, welche Risiken die Verbindung von Wunderkammer, Kunstgewerbe und Moderner Kunst in einer einzigen Ausstellung zeitigen kann, wenn die inhaltliche Trennschärfe fehlt. Die Schau »Rüstung und Robe« fand 2009 im Museum Jean Tinguely in Basel statt, einem Museum, das speziell einem Künstler des 20. Jahrhunderts und seinem Umfeld gewidmet ist.15 Die Schau versammelte Kleider von Roberto Cappucci, Puppen von Eva Aeppli, Skulpturen von Niki de Saint Phalle und Figurinen von Oskar Schlemmer im Kreise von Prunkrüstungen des 18. Jahrhunderts aus dem Landeszeughaus Steiermark, flankiert von Skulpturen aus Eisenschrott von Jean Tinguely. Modische Aspekte der Kriegsbekleidung und Festrüstungen wurden den opulenten weiblichen Kleiderpanzern Capuccis gegenübergestellt. Schnell war man da mit Geschlechterzuschreibungen zur Hand, schrieb von »der kalten männlichen Welt der Männer aus Eisen« und dem »sinnlich weichen Element der Frau«16, gewissermaßen also von Mars und Venus. In der Tat arbeiten Rüstung 14 | Ortrud Westheider: James McNeill Whistler und das Gilded Age. In: Dies./Barbara Dayer Gallati (Hg.): High Society. Amerikanische Portraits des Gilded Age. Bucerius-Kunst-Forum, Hamburg, 7. Juni-31. August 2008 [Ausstellungskatalog]. Hamburg 2008, S. 66-73, das erwähnte Gemälde ist auf S. 67 abgebildet. 15 | Der opulente Katalog »Rüstung & Robe« erschien 2009: Christian Beaufort-Spontin/Laurentia Leon: (Hg.): Rüstung & Robe. Museum Tinguely, Basel, 13. Mai-30. August 2009 [Ausstellungskatalog]. Heidelberg 2009. 16 | Rüstung und Robe. 13. Mai-30. August 2009. www.tinguely.ch/de/ausstellun gen_events/austellungen/2009/Ruestung-und-Robe.html [Zugriff: 27.08.2013].
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und Robe an ganz ähnlichen vestimentären Problemen und das Interessante sind die jeweiligen Lösungen für ihre Funktionen: Wie viel Freiheit und Beweglichkeit des Körpers sind möglich, ohne auf das Primäre ihrer Funktion, nämlich Schutz und Repräsentation, zu verzichten, egal ob Mann oder Frau Eisen oder Seide trägt? Der semantische Verweis, den die Rüstung für die Roben Capuccis beisteuert, zielt auf das Verschwinden des Körpers in einer wehrhaften Verpackung, wobei die Gegenüberstellung jedoch am Ende in den dekorativen Gegensatz von glattem, glänzendem Metall und bunten, plissierten Stoffen mündet. Die Verbindung zu Jean Tinguelys anarchischen Eisenskulpturen jedenfalls wurde nicht einsichtig. Der Bezug zu Schlemmers »Triadischem Ballett« hingegen überzeugte im Fokus auf den maschinellen Körperpanzer der Tanzfiguren, die Schlemmer während des Ersten Weltkriegs entwickelt hatte und die sein technizistisches Menschenbild in eine neue Friedensweltordnung hinüberretten wollten. Kunst, Kulturgeschichte und Mode zu vermischen und gleichzeitig sorgfältig auseinanderzuhalten, könnte man als die museale Strategie der großen spartenübergreifenden Museen wie etwa des Metropolitan Museum in New York bezeichnen. Spätestens seit die ehemalige Chefredakteurin der amerikanischen Vogue, Diana Vreeland, Anfang der 1970er Jahre die Kostümabteilung als Beraterin unterstützte, widmen sich Ausstellungen im Tiefgeschoss des Hauses auch aktuellen Mode-Themen und werden von der Mode-Industrie wahrgenommen und unterstützt. Im Vergleich zu den anderen Abteilungen des Museums ist das »Costume Institute« stärker mit aktuellen Entwicklungen verknüpft, wie sich beispielsweise an der Retrospektive von Alexander McQueen zeigt.17 Das Victoria & Albert Museum in London besitzt ebenfalls eine umfangreiche Kostümabteilung und widmet sich in Sonderausstellungen einzelnen Designern und Designerinnen wie Vivienne Westwood oder Stilikonen aus der Popwelt wie etwa den Supremes.18 Der besondere Reiz dieser Ausstellungen liegt darin, dass sie inmitten der kulturhistorischen Abteilungen zu finden sind und somit der Bezug zu Körperbildern anderer Zeiten und Kulturen immer vom Besucher oder der Besucherin zu erwandern und im wahrsten Sinne des Wortes einzusehen ist. An diese wechselseitige Beeinflussung von Modeausstellung und kulturhistorischer Sammlung versuchte auch das Deutsche Historische Museum in Berlin anzuschließen. Anlässlich der im Frühjahr 2012 eingerichteten 17 | Alexander Bolton/Harold Koda: Alexander McQueen: Savage Beauty. Metropolitan Museum of Art, 4. Mai-7. August 2011 [Ausstellungskatalog]. New Haven 2011. 18 | Daryl Easlea: The Story of The Supremes from the Mary Wilson Collection. Victoria & Albert Museum 13. Mai-19. Oktober 2008 [Ausstellungskatalog]. London 2008.
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Sonderschau »Fashioning Fashion. Europäische Moden 1700-1915«, einem Gastspiel des Los Angeles County Museum of Art und seiner fulminanten Sammlung europäischer Textilien19, entwickelten die Kuratoren des DHM einen Besucherleitfaden durch die ständige historische Sammlung und zeigten auf Texttafeln vis à vis ausgewählter Gemälde vestimentäre Verknüpfungen zu den im Untergeschoss ausgestellten Kleidern der LACMA-Schau auf. So wurde für manche Objekte der ständigen Sammlung ein neuer Kontext geschaffen, was den Kunstwerken, die in einem historischen Museum ja meist in politisch-historischen und nicht in kunstgeschichtlichen Zusammenhängen betrachtet werden sollen, zugute kam, denn sie ließen sich jetzt zum ersten Mal auch kleiderkundlich betrachten. Dieses Angebot an die Besucher und Besucherinnen wurde in einem begleitenden Magazin vertieft 20 und machte nebenbei auch praktisch deutlich, dass die problematische Annahme, Kostümgeschichte sei nichts weiter als eine Hilfswissenschaft der Kunstgeschichte, obsolet ist.
D as M useum als M edium Die Institution Museum hat sich in den letzten Jahren zu einem wichtigen Medium der Modevermittlung entwickelt, so meine These. Welche inszenatorischen Mittel dafür eingesetzt werden und wie erfolgreich oder nicht sie ihre Aussagen übermitteln, sollen die folgenden Beispiele verdeutlichen. Dabei spielt die historistische Architektur der Häuser für den repräsentativen Rahmen der Schauen eine zentrale Rolle. Es ist eben ein Unterschied, ob man für eine Schau über Christian Dior die nüchternen Räume des Berliner Kulturforums betritt oder das 1898-1937 errichtete Moskauer Puschkin Museum. Die dort im Frühjahr 2011 gezeigte Ausstellung »Inspiration Dior« ist ein problematisches Beispiel für Distinktion und die Aufwertung von musealer Inszenierung durch Architektur. Das Haus Dior und seine sechzigjährige Modegeschichte bis hin zu Galliano wären bereits für eine glamouröse Ausstellung geeignet. Doch Säulenhallen, Spiegel und Lichteffekte vermittelten dazu die Atmosphäre von luxuriösem Prunk neureichen Bürgertums des 19. Jahrhunderts. Darüber hinaus wurde die Verbindung zu Meisterwerken der bildenden Kunst aus der Sammlung des Puschkin Museums hergestellt, um die ›Inspiration‹ der Mode durch die Kunst zu zeigen. Dies geschah offenkundig in 19 | Sharon Sadako Takeda/Kaye Durland Spilker u.a.: Fashioning Fashion. Europäische Moden 1700-1915. Eine Ausstellung des Los Angeles County Museum of Art im Deutschen Historischen Museum, 27. April-29. Juli 2012 [Ausstellungskatalog]. München 2012. 20 | Vgl. Deutsches Historisches Museum (Hg.): Fokus Fashion. Magazin zur Ausstellung Fashioning Fashion. Europäische Moden 1700-1915. Berlin 2012.
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beliebiger Weise, sowohl was die formalen als auch historischen Bezüge anbelangte. »Couture-Robe steht neben Renoir« – so hat es prägnant ein Blog zusammengefasst.21 Ein Blick auf die Rauminszenierungen wie auch auf die Gemälde aus dem 18. bis 20. Jahrhundert legt die Vermutung nahe, dass hier die Statussymbole der russischen Oligarchie verhandelt wurden, jener kleinen Schicht von Superreichen, die sich zur Haute Couture Robe stilsicher den passenden Wandschmuck und umgekehrt zulegen möchte. Die museale Modeinszenierung selbst folgte teilweise der frühen Modefotografie, welche wiederum Repräsentationsformen der Porträtmalerei aufgreift,22 sie lehnte sich aber auch an den Kostümfilm an, etwa an George Cukors »My Fair Lady« von 1964.23 Auch die Retrospektive von Yves Saint Laurent im Pariser Petit Palais 2010 hätte von dem architektonischen Glamour des Ortes profitieren können. Stattdessen konzentrierte sich diese Ausstellung darauf, wie der 2008 verstorbene Modeschöpfer das Bild der modernen, emanzipierten Frau geschaffen hat.24 Den Ausstellungsdesignern Florence Müller und Farid Chenoune gelang ein abwechslungsreicher, witziger und gleichwohl prachtvoller Parcours, der jedem Modekapitel seine eigene räumliche Inszenierung ermöglichte: Zu Beginn der Ausstellung defilierten die Besucher und Besucherinnen an einer Phalanx von auf Stühlen sitzenden Puppen in Straßenkostümen vorbei. Schon waren die Rollen vertauscht. Man selbst schien sich auf dem imaginären Laufsteg der Straße zu befinden, die eigene Bewegung verfolgt von den Damen in einem ebenso imaginären Straßencafé. Dieses Tableau stellte sozusagen die alte Modezeit dar. Dann erfand Yves Saint Laurent den Hosenanzug und schon sahen wir die Puppen einen forschen Ausfallschritt machen. Beim Thema Ballkleid fand man sich am Fuße einer Treppe, zwanglos flankiert von Robenträgerinnen. Die spektakulärste Inszenierung galt jedoch dem Damensmoking. Nicht das einzelne Modell stand im Mittelpunkt, sondern die Vielzahl der Variationen: Yves Saint Laurents sich durch sein gesamtes Oeuvre hindurch ziehende 21 | Nahtlos!: Inspiration Dior: Die Ausstellungs-Sensation im Puschkin Museum Moskau, 06.05.2011. www.nahtlosblog.de/inspiration-dior-die-ausstellungs-sensation [Zugriff: 26.08.2013]. 22 | Vgl. dazu Dogramaci: Wechselbeziehungen. 23 | Zu Mode und Film siehe Annelie Lütgens: Von grauen Mäusen, Models und Müttern. Mode als transitorisches Medium im Hollywoodfilm. In: Elke Bippus/Dorothea Mink (Hg.): Fashion Body Cult. Mode Körper Kult. Stuttgart 2007, S. 152-169. 24 | Yves Saint Laurent. Petite Palais, Musée des Beaux- Arts de la Ville de Paris, 11. März-29. August 2010. Vgl. Florence Müller/Farid Chenoune: Yves Saint Laurent. Petite Palais, Musée des Beaux- Arts de la Ville de Paris, 11. März-29. August 2010 [Ausstellungskatalog], Paris 2010.
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Arbeit an seiner Antwort auf Chanels ›Kleines Schwarzes‹, dem schwarzen Hosenanzug und festlichen Smoking für die moderne Frau seit den 1970er Jahren. Dies wurde inszenierungstechnisch durch ein bis an die Decke reichendes, wandfüllendes Schwarz angedeutet, vor dem sich die neben- und übereinander platzierten Puppen im schwarzen Outfit kaum abhoben. Von der Retrospektive Alexander McQueens, die unter dem Titel »Savage Beauty« Besuchermassen ins Metropolitan gezogen hatte, war schon die Rede. »Even if you never bother with fashion shows, go to this one«, empfahl der New Yorker.25 Die Inszenierung bot verschiedene Themenräume, die sich an historischen musealen Räumen orientierten: Kunstkammer, Bestiarium, Spiegelsaal, Folterkammer. Die spektakuläre Kleiderkunst McQueens spart nicht mit historischen Zitaten von der Schwarzen Romantik über schottische Hochlandclans bis zu galaktischen Mutanten und wurde überwiegend auf Puppen mit Ganzgesichtsmasken präsentiert. Dies sorgte für eine Sadomaso-Grundierung der Schau. Den Besuchern und Besucherinnen wurde allerdings nicht erklärt, warum der Designer den weiblichen Körper rücksichtslos streckt, staucht, weitet und dehnt. Deutsche Kritikerinnen und Kritiker sahen daher einen Frauenhasser am Werk.26 Dem Museum wurde Distanzlosigkeit gegenüber dem Werk und dem Sponsor – die Marke Alexander McQueen ist Teil des Pinault-Imperiums – vorgeworfen: »Das Museum als Flagship Store«.27 Die hier vollzogene visuelle Überwältigung, für die in den Kommentaren das Wort »verstörend« zu lesen war, wurde nicht mit einer kunsthistorischen Analyse der Bildwelten aufgefangen. Offenbar fehlte hier genau jene Beziehung zur Kunstwelt, die McQueen ja selbst immer wieder gesucht hatte, was auch die Kritiken bestätigten. Jörg Häntzschel schrieb in der FAZ: »Man tut McQueen keinen Gefallen, wenn man sein Werk zeigt, ohne seine Ursprünge zu zeigen, sein Aufstieg im Umfeld der BritArt der 1990er Jahre, mit Figuren wie Kate Moss, die wie er Subkultur-Sensibilität und -Lebenswandel mit High Fashion« vereinte, sowie die »wechselseitige Beeinflussung, die McQueen mit Künstlern wie Matthew Barney, Damien Hirst und Lady Gaga verband.«28 Und Johanna Adorján forderte: »Die Frage, ob blutbespritzte Models eine Kritik an Gewalt darstellen 25 | Judith Thurman: Dressed to Thrill. Alexander McQueen at the Met. www.newyorker. com/arts/critics/artworld/2011/05/16/110516craw_artworld_thurman [Zugriff: 26.08. 2013]. 26 | Johanna Adorján: Mode ist Folter. Frauen, geknebelt, gefesselt, gequält: Das New Yorker Metropilitan Museum zeigt Alexander McQueen. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 17.07. 2011, S. 23. 27 | Jörg Häntzschel: Das Museum als Flagship Store. Verschenkt: Eine New Yorker Ausstellung über den Modedesigner Alexander McQueen. In: Süddeutsche Zeitung, 03.06.2011, S. 12. 28 | Ebd.
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oder ob das Ganze nicht doch etwas komplizierter ist, hätte mindestens gestellt werden müssen.«29
M ode im K unstmuseum Eine solche Opulenz, mit der finanzstarke Modehäuser ihre Shows in den Museen inszenieren und damit sowohl massenhaft Besucher und Besucherinnen als auch Einnahmen ermöglichen, ist bei den selbstgemachten kunst- und kulturhistorischen Ausstellungen zur Mode naturgemäß nicht zu finden. Das muss kein Nachteil sein. Statt auf visuelle Überwältigung und interpretatorische Vorgaben zielen Übersichtsausstellungen wie »Avantgarderobe. Kunst und Mode von 1900 bis heute« (Kunstmuseum Wolfburg 1999) oder »Art & Fashion: Installing Allusions« (Museum Boijmans van Beuningen, Rotterdam 2009) auf die kunsthistorischen Zusammenhänge zwischen Kunst- und Modeentwicklung, und ihre Inszenierungen arbeiten mit Zitaten und Anspielungen auf Modepräsentationsformen. Während »Avantgarderobe« quer durch die Modeepochen des 20. Jahrhunderts einen hohen Catwalk legte, der neben der abstrakten Idee der Entwicklungslinie auch noch die praktische Außer-ReichweiteDistanz für die Exponate sicherstellte (Abb. 1), entschied sich das Rotterdamer Team um Judith Clark und José Theunissen für eine Konzeption, die statt der Linie das Plateau bevorzugte. Abbildung 1: Avantgarderobe: Kunst und Mode im 20. Jahrhundert, Kunstmuseum Wolfsburg 1999. Blick in die Ausstellungshalle. Foto: Kristian Schuller
29 | Adorján: Mode ist Folter.
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Dadurch hatten die Besucher und Besucherinnen die Chance, den Exponaten auf gleicher Ebene zu begegnen, auf Distanz gehalten nur von Metallröhren, die, wenn Besucher oder Besucherinnen sie unbeabsichtigt berührten, aus ihren Halterungen sprangen, so dass im Ausstellungsraum ständig das Klappern auf den Boden fallender Eisenrohre zu hören war. Einzigartige inszenatorische Anregungen lassen sich bei Hussein Chalayan finden, der seine Mode als Kunst in Kunstmuseen ausstellt und dabei das Ausstellen als Gestaltungsprinzip reflektiert.30 Die faszinierende Ausstellung des Hutmachers Stephen Jones 2010 im Modemuseum Antwerpen orientierte sich dagegen eher am Display eines Luxuskaufhauses.31 Zeigen Gemäldegalerien die Mode in Bildern, so fordern Ausstellungen von Mode in Museen eine mediale Inszenierung. Sie verkörpern »Mode als Bild«. In diesem Modebild vereinigen sich Kleid und Körper, Mode und Mensch, darin vergleichbar zu anderen Modebildern wie Fotografie, Zeichnung usw., für die Adelheid Rasche eben jenen Sammelbegriff Modebild geprägt hat.32 Bei der musealen Vorbereitung allerdings muss diese Allianz zunächst aufgelöst werden, denn für die Präsentation benötigen die Kleider körperliche Stellvertreter. Dafür steht die Puppe – das mechanische Mannequin. Um Mode am menschlichen Körper und in Bewegung zu zeigen, werden bisweilen extra Modenschauen in Museen inszeniert. 1999 zeigten Studierende von Vivienne Westwood ihre Entwürfe im Kunstmuseum Wolfsburg. 2011 brachte Walter van Beirendonck seine jungen Designer und Designerinnen aus Antwerpen mit nach Wolfsburg, die nicht nur ihre Kleider auf dem extra durch die leere Halle gebauten Laufsteg darboten, sondern auch die übrigen Lichtnischen der vorhergehenden Ausstellung mit Skulpturen Giacomettis ausstatteten, um lebende Modebilder zu gestalten (Abb. 2).33 30 | Zu Hussein Chalayan, Ausstellung und Katalog Groninger Museum 2005 siehe Caroline Evans u.a.: Hussein Chalayan. Groninger Museum, 17. April-04. September 2005 [Ausstellungskatalog]. Rotterdam 2005. Die Ausstellung wanderte danach ins Kunstmuseum Wolfsburg. Zu Hussein Chalayan, Ausstellung im Modern Sanat Müzesi, Istanbul, vgl: Donna Loveday u.a.: Hüseyin Çağlayan = Hussein Chalayan: 1994-2010. Modern Sanat Müzesi, Istanbul 15. Juli-24. Oktober [Ausstellungskatalog], Istanbul 2010. 31 | Ausstellung und Katalog: Stephen Jones & The Accent of Fashion. 30 year anniversary exhibition. MoMu Fashion Museum Antwerpen, 8. September 2010-13. Februar 2011 [Ausstellungskatalog]. Antwerpen 2010. 32 | Adelheid Rasche: Die Bilder der Mode. Eine Einführung. In: Dies.: Visions & Fashion. 1980-2010. Bilder der Mode. Capturing Style. Kulturforum Potsdamer Platz, Staatliche Museen zu Berlin, 30. Juni – 9. Oktober 2011 [Ausstellungskatalog]. Berlin 2011, S. 10. 33 | Markus Brüderlin/Toni Stooss (Hg.): Alberto Giacometti. Der Ursprung des Raumes. Kunstmuseum Wolfsburg, 20. November 2010-6. März 2011, Museum der Moderne Salzburg, 26. März-3. Juli 2011 [Ausstellungskatalog]. Ostfildern 2011; Markus
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Abbildung 2: Fashion Show »Dream« im Kunstmuseum Wolfsburg, 25.3.2011. Foto: Marek Kruszewski, 2011
Eine Ausstellung, die Kunst und Modeentwürfe, Skulpturen, Objekte, Kleider und deren dekorativ-nützliches Beiwerk versammelt, knüpft notwendigerweise Verbindungen, macht Anspielungen und Andeutungen. Sie richtet Räume ein – zwischen Kleiderkammer, Dressing Room, Designeratelier, Galerie, Schaufenster und Boutique (Abb. 3). Mehr oder weniger üppige, luxuriöse, funktionale, banale Gewänder werden auf Schneiderpuppen drapiert. Wie schafft man es, auf das in ihnen verborgene Geheimnis anzuspielen oder den Erzählfaden einer ihrer verwickelten Geschichten zu erwischen? Abbildung 3: Avantgarderobe: Kunst und Mode im 20. Jahrhundert, Kunstmuseum Wolfsburg 1999. »Dressing Room« für Besucher. Foto: Kristian Schuller
Brüderlin/Annelie Lütgens (Hg.): Art & Fashion. Zwischen Haut und Kleid. Kunstmuseum Wolfsburg, 5. März-7. August 2011 [Ausstellungskatalog]. Bielefeld 2011.
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E in B eispiel aus meiner eigenen P r a xis : D ie A usstellung »M ode zwischen H aut und K leid « Das Kunstmuseum Wolfsburg hatte sich anhand der vielfältigen Assoziationen der Schau aus dem Museum Boijmans Van Beuningen 2009 unter dem Titel »Installing Allusions« bei Übernahme der Ausstellung auf jene Kleidungskonzepte konzentriert, die Beziehungen zwischen Haut und Kleid auf unterschiedliche Weise thematisieren: Wo genau liegen die Schnittstellen zwischen Kunstund Modekleidern? Wo und wie knistert es zwischen Haut und Kleid? Wann werden Haut und Haare zum Kleid, wann das Kleid zum Fetisch?34 (Abb. 4). Diese Fragen führen auf den kulturgeschichtlichen Grund der menschlichen Bekleidung: Schutz und Magie.35 Modedesignern und -designerinnen, wie die in der Ausstellung fulminant vertretenen Christophe Coppens und Dai Rees, die mit Form, Haut und Fell von Tieren arbeiten, ist dies sehr wohl bewusst. Abbildung 4: Blick in die Ausstellung »Art & Fashion. Zwischen Haut und Kleid«, Kunstmuseum Wolfsburg 2011. Links: Christophe Coppens: »Deer Cape« 2005. Mitte: Christophe Coppens: »Body Hat« (2004) 2009. Rechts: Walter van Beirendonck/ Stephen Jones: »The Bee« 2008. Foto: Claudia Mucha, 2011
34 | Siehe zu den folgenden Ausführungen auch Lütgens, Annelie: Zwischen Haut und Kleid. In: Markus Brüderlin/Annelie Lütgens (Hg.): Art & Fashion. Zwischen Haut und Kleid. Kunstmuseum Wolfsburg, 5. März-7. August 2011 [Ausstellungskatalog]. Bielefeld 2011, S. 93-102. Dort auch Abbildungen der Werke von Dai Rees, Naomi Filmer und Christophe Coppens. Zum Fetisch siehe auch Barbara Vinken: Mannekin, Statue, Fetisch. In: Kunstforum International Bd. 141 (1998), S. 145-153. 35 | Vgl. dazu u.a. Thomas Oláh: Ares und das Band der Charis. Militärische Elemente in der Mode. Wien 2008, insbesondere Kap. 2: Funktion von Kleidung in ihrer entwicklungsgeschichtlichen Entstehung.
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Mit ihren Entwürfen erinnern sie uns daran, dass das Verhältnis vom Menschen zum Tier ein sehr körperliches ist: die prähistorischen Vorfahren jagten und töteten es, aßen das Fleisch und hüllten ihre schutzlosen Körper in die warmen Felle und festen Häute der Tiere. Damit sollten auch Kraft, Stärke, Magie und göttliche Natur auf den Menschen übergehen. Kleidung ermöglichte ihnen ganz elementar, Tier zu werden: Als heiliges, böses, sexuelles, wildes, symbolisches Wesen machen wir aus dem Tier das Andere, »um über uns selbst und unsere Welt nachzudenken«36, ohne dass von uns selbst die Rede ist. Mit dem »Deer Cape« von Christophe Coppens legt man sich ein lebensgroßes Reh aus schwarzweiß kariertem Stoff um die Schultern und setzt das zarte Geweih als Kappe auf den Kopf.37 Wie die – in der Ausstellung nicht vertretenen – Hutdesigner Phillip Treacy und Stephen Jones findet auch Coppens im Accessoire das hauptsächliche Betätigungsfeld seiner kreativen Fantasie. »Accessoire« bedeutet »Beiwerk«, ein »Zubehör zur Abrundung des modischen Erscheinungsbildes«.38 Macht man sich jedoch klar, dass Beiwerk eigentlich alles außer der Bekleidung selbst meint, also Schuhe, Gürtel, Handschuhe, Kopf bedeckung, Stola, Tasche, Schirm etc., dann eröffnet sich gerade hier für Designer und Designerinnen ein weites Feld des Definierens und Ausschmückens eines Looks. Das Beiwerk ist demnach eigentlich Hauptwerk, denn es ermöglicht die Fetischisierung des Körpers:39 Hand, Fuß, Hals und Haar sind die bevorzugten Körperteile, Leder das bevorzugte Material. Unterwäsche, Schuhe und Handschuhe, die den Abdruck des Körpers in sich bewahren, werden zu Stellvertretern des Objektes der Begierde. Dies macht ihre erotische Anziehungskraft aus. Die Lederhäute, die der Designer Dai Rees in der Ausstellung an Fleischerhaken in den Raum hängte, wirkten auf den ersten Blick wie abgeworfene Panzer eines vorzeitlichen Ungeheuers. Ihr Titel »Carapace« bedeutet Schildkrötenpanzer. Wenn man diese Gebilde jedoch genauer betrachtete, entpuppten sich die groben Formen als kunstvoll aneinander genähte Schnittmuster. Diese Diskrepanz zwischen Tierhäuten an Fleischerhaken, Nähten wie Narben, ochsenblutroter Außenhaut einerseits und Modeschnittmustern andererseits wirkt noch stärker, wenn man auf den Innenseiten der Teile kunstvolle 36 | Johannes Bilstein: Unsere Tiere. In: Ders./Matthias Winzen: Das Tier in mir. Die animalischen Ebenbilder des Menschen. Staatliche Kunsthalle Baden-Baden, 26. Januar-01. April 2002 [Ausstellungskatalog]. Köln 2002, S. 13-30, hier S. 19. 37 | Die irische Popsängerin Róisín Murphy trat 2008 in den spektakulären Tierkleidern von Christophe Coppens auf. Vgl. Lütgens: Zwischen Haut und Kleid, S. 100 (Abb. 8). 38 | Claudia Wisniewski: Kleines Wörterbuch des Kostüms und der Mode. Stuttgart 1996, S. 14. 39 | Siehe dazu auch Hartmut Böhme: Mode und Fetischismus. In: Ders.: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne. Reinbek bei Hamburg 2006, S. 469-476.
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Einlegearbeiten mit Pflanzenornamenten entdeckt. Dai Rees hat hier das alte Kunsthandwerk der Marqueterie (Furnier, Intarsie) angewandt. Durch diesen Form- und Assoziationsreichtum, welcher Lederbearbeitung oder florentinische Intarsien genauso wie Imaginationen geschundener Tier- und Menschenkörper in der zeitgenössischen Kunst umfasst (Bruce Nauman, Francis Bacon), erleben wir, wie obsolet die Grenzen von Kunst und Design heute eigentlich sind. Weder Handwerk noch Konzept noch Material spielen sich in den Vordergrund, sondern verschmelzen zu einem einzigartigen Kunstwerk. Dies gilt auch für die Skulpturengruppe »Breathing Volume« (Atemvolumen) der britischen Schmuckdesignerin Naomi Filmer, der in der Ausstellung ein klassischer White Cube gewidmet war. Ausgehend von Mund-, Kinn- und Halsabdrücken der Künstlerin findet Filmer eine Form für das Volumen und den Weg des Atems durch den Körper: Durch den Mund strömt der Atem ein, gelangt durch die Luftröhre im Hals in den sich weitenden Brustraum und dann in den unteren Bauch, der sich ebenfalls hebt und beim Ausatmen wieder senkt, bevor der Atem durch Brust, Hals und Mund wieder ausströmt. Die Skulpturen wirken abstrakt, und zumal wenn sie uns aufgesockelt im Museum begegnen, erinnern sie an plastische Formfindungen eines Jean Arp oder Constantin Brancusi. Anders als deren Artefakte sind Naomi Filmers Objekte jedoch auch am Körper tragbar. Den Weg vom Beiwerk eines Kleiderentwurfs zum eigenständigen, zweckfreien Kunstobjekt konnten Naomi Filmer und auch Christophe Coppens einschlagen, weil sie in der Stiftung H+F Fashion on the Edge einen nichtkommerziellen Auftraggeber fanden. Coppens gelang so 2008 die umfangreiche Kollektion »No References« (Abb. 5). Für 33 Zonen des menschlichen Körpers entwarf er komplett untragbare Accessoires – ein Helm für die Kniebeuge, Trichter für die Ohren, eine Spirale für den Arm und Ähnliches. Durchwandert man die Installation der auf Tischen und in Regalen ausgebreiteten und von Neonlicht kühl erhellten Objekte, so wähnt man sich schnell im Labor eines verrückten Prothesenerfinders oder bei Frankenstein persönlich. Coppens ist mit »No References« ein durch und durch zeitgenössisches Ensemble gelungen, das mit seinem überbordenden Formenreichtum der aktuellen Diskussion um Hybride, Cyborgs und Body Extensions40 in Kunst und Mode vorauseilt.
40 | Vgl. Claudia Pantellini/Peter Stohler (Hg.): Body Extensions. Art, Photography, Film, Comic, Fashion. Ausstellung »Body Extensions. Wie wir den Körper erweitern«, Museum Bellerive, Zürich, 06. Februar – 09. Mai 2004, Musée de Design et d’Arts Appliqués Contemporains, Lausanne: 20. Oktober 2004-30. Januar 2005 [Ausstellungskatalog]. Stuttgart 2004.
Mode als museale Inszenierung
Abbildung 5: Blick in die Ausstellung »Art & Fashion. Zwischen Haut und Kleid«, Kunstmuseum Wolfsburg 2011. Christophe Coppens: »No References« 2008, Installation, verschiedene Couture-Techniken, Installationsmaße variabel. Foto: Marek Kruszewski, 2011
D as M useum : ein M ediator zwischen K unst und M ode Kunst und Mode nähern sich heute aus verschiedenen Gründen aneinander an: Dies sind die Schnelllebigkeit des Kunstbetriebs einerseits und das Bedürfnis nach Dauer und künstlerischer Anerkennung seitens der Modedesigner und -designerinnen andererseits. Außerdem arbeiten Künstler und Künstlerinnen am eigenen Branding genauso wie Modedesigner oder -designerinnen, und Museen setzen auf bekannte Marken. Insgesamt sind Kunstsystem und Modesystem stärker als früher durch Designer_innen, Sammler_innen, Künstler_innen und Medienleute miteinander verflochten. Die Kunstwelt ironisiert bisweilen die Modewelt, nicht zuletzt auch um mit diesem verwandten Parallelsystem das eigene zu hinterfragen.41 Aber blicken wir zum Schluss auf die Anfänge: Seit Charles Frederick Worth (1826-1895) entwerfen Modedesigner und -designerinnen der Haute Couture Kleider wie Kunstwerke.42 Sie werden nicht in erster Linie als Ge41 | Ausführlicher zu diesem Thema: Lütgens, Annelie: Genius ex Tunica. Kunst – Mode – Ironie. In: Kunstforum International Bd. 213 (Januar-Februar 2012), S. 154-165. 42 | Charles Frederick Worth, der erste Couturier, »machte die Mode vom einem Handwerk zu einer Kunst.« Barbara Vinken: Mode: Kunst des Sterbens – Lebenskunst. In: Christoph Doswald (Hg.): Double Face. The Story About Fashion and Art From Moham-
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brauchsgegenstand gefertigt, sondern als kreative Interpretation von Körper, Saison, Zeitgeist. Auf den Modeschauen, getragen von lebendigen Kleiderpuppen, werden diese Kleider-Prototypen zum Aushängeschild eines Modehauses und anschließend als Maßanfertigungen auf Bestellung für wenige Kundinnen gefertigt.43 Nicht alle Modelle der Haute Couture eignen sich dazu. Manche sind wunderschön, aber untragbar. Diese Untragbarkeit transformiert das Kleid vom Gebrauchsgegenstand in einen Kunstgegenstand. Das untragbare Kleid als Kunst: So treffen sich Kunst und Mode in ein und demselben Zeichensystem des Zeitgenössischen. Künstler oder Künstlerinnen, die mit Kleidung performativ arbeiten oder Kleidung als Material verwenden, agieren innerhalb des Kunstsystems – selbst wenn sie sich über Mode Gedanken machen. Modedesigner oder -designerinnen, die sich in ihren Kreationen mit Formen und Themen aus der Kunst und Kunstgeschichte auseinandersetzen, sei es durch das Transformieren von Bildmotiven, wie etwa bei Yves Saint Laurent, Issey Miyake oder Alexander McQueen, sei es durch konzeptuelle und mediale Übertragungen, etwa bei Hussein Chalayan oder Viktor & Rolf, arbeiten im System Mode.44 Das Museum führt beide zusammen. Diese Dialektik von Analogie und Differenz zwischen beiden Systemen deutlich zu machen, ist das eigentlich Spannende und Riskante bei Ausstellungen von Mode im Kunstkontext.
L iter atur Adorján, Johanna: Mode ist Folter. Frauen, geknebelt, gefesselt, gequält: Das New Yorker Metropolitan Museum zeigt Alexander McQueen. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 17.07.2011, S. 23. Beaufort-Spontin, Christian/Laurentia Leon: (Hg.): Rüstung & Robe. Museum Tinguely, Basel, 13. Mai-30. August 2009 [Ausstellungskatalog]. Heidelberg 2009. Bilstein, Johannes: Unsere Tiere. In: Ders./Matthias Winzen: Das Tier in mir. Die animalischen Ebenbilder des Menschen. Staatliche Kunsthalle Badenmed to Warhol. Textilmuseum St. Gallen [Ausstellungskatalog]. Zürich 2006, S. 48-59, hier S. 49. 43 | Zur aktuellen Situation der Haute Couture siehe Alfons Kaiser: Diese Mode kommt direkt vom Himmel. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 30.01.2011, S. 53. 44 | Darüber hinaus kommt es im System Mode zur Kollaboration von Künstlern und Modelabels wie beispielsweise Louis Vuitton, für das Takashi Murakami, Olafur Eliasson oder Vanessa Beecroft Entwürfe bzw. Inszenierungen geschaffen haben. Hier verstärkt eine Marke die andere zum Zwecke der Eigenwerbung.
Mode als museale Inszenierung
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A bbildungsverzeichnis Abbildung 1: Avantgarderobe: Kunst und Mode im 20. Jahrhundert, Kunstmuseum Wolfsburg 1999. Blick in die Ausstellungshalle. Foto: Kristian Schuller. Abbildung aus: Brüderlin, Markus/Annelie Lütgens (Hg.): Art & Fashion. Zwischen Haut und Kleid. Kunstmuseum Wolfsburg [Ausstellungskatalog] 2011, S. 97. Abbildung 2: Fashion Show »Dream« im Kunstmuseum Wolfsburg, 25.3.2011. Foto: Marek Kruszewski, 2011. Abbildung 3: Avantgarderobe: Kunst und Mode im 20. Jahrhundert, Kunstmuseum Wolfsburg 1999. »Dressing Room« für Besucher. Foto: Kristian Schuller. Abbildung aus: Brüderlin, Markus/Annelie Lütgens (Hg.): Art & Fashion. Zwischen Haut und Kleid. Kunstmuseum Wolfsburg [Ausstellungskatalog] 2011, S. 96. Abbildung 4: Blick in die Ausstellung »Art & Fashion. Zwischen Haut und Kleid«, Kunstmuseum Wolfsburg 2011. Links: Christophe Coppens: »Deer Cape«, Dream your Dream Collection, Winter 2005. Mitte: Christophe Coppens: »Body Hat«, 2004, neue aktualisierte Version Mai 2009, Samm-
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lung Christophe Coppens, Brüssel. Rechts: Walter van Beirendonck/Stephen Jones: »The Bee«, Sex Clown Collection Sommer 2008, Sammlung Boijmans Van Beuningen, Rotterdam. Foto: Claudia Mucha, 2011. Abbildung 5: Blick in die Ausstellung »Art & Fashion. Zwischen Haut und Kleid«, Kunstmuseum Wolfsburg 2011. Christophe Coppens: »No References«, 2008, Installation, verschiedene Couture-Techniken, Installationsmaße variabel. Museum Boijmans Van Beuningen, Rotterdam, Dauerleihgabe H+F Fashion on the Edge. Foto: Marek Kruszewski, 2011.
Die Mode in der aktuellen deutschen Presse Ein Kommentar Alfons Kaiser
Es begann gleich nach dem Zweiten Weltkrieg. Als Albert Sefranek heimgekehrt war, heiratete er in die L. Hermann Kleiderfabrik in Künzelsau ein und nähte die ersten europäischen Jeans. In den 1950er Jahren erfand er für seine revolutionären Hosen den gut amerikanischen Namen Mustang. Thomas Schäfer wiederum griff in den Siebzigern auf eine französische Phantasiebezeichnung zurück: Seitdem kommt aus Schwarzach am Main die Mode von René Lezard. In den 1980ern ließ man sich vornehmlich inspirieren von dem Land, in dem Armani und Versace blühten: Cinque wurde gegründet. Entworfen wird das mediterrane Lebensgefühl in Mönchengladbach. Sage mir, wie du heißt, und ich sage dir, wer du bist: Die deutschen Modemarken schämen sich offenbar ihrer Herkunft. Sollte man etwa zugeben, dass man aus Hohenlohe, Unterfranken oder dem niederrheinischen Tiefland kommt? Dann schon lieber mit internationalem Anklang für sich werben. Gerhard Weber wurde zu Gerry Weber. Die Mantelfabrik Strehle nannte sich Ende der 1960er in Strenesse um. Tom Tailor, s.Oliver, Betty Barclay, Bugatti, Marc Cain oder Esprit: Anschaulich wird in den Namen ein Minderwertigkeitsgefühl gegenüber richtigen Modeländern wie Frankreich, Italien oder Großbritannien deutlich. Die Mode hat es eben nicht leicht mit Deutschland. Das hat viele Gründe, von denen ich einige hier nur andeuten kann – zumal die Hemmnisse im Umgang mit der Mode nur Ausdrucksformen einer tiefer liegenden Mentalität sind. Ein wichtiges Datum der Modeverweigerung ist nun schon fast ein halbes Jahrtausend her: die Reformation. Es gehörte lange zur lutherischen Frömmigkeit, sich nicht nur gegen alkoholgetränkten und überhaupt permissiven Lebenswandel zu wenden. Auch gegen die in der Mode demonstrativ zur Schau gestellte Unbescheidenheit, so hat es der Theologe Friedrich Wilhelm Graf einmal dargestellt, wurde agitiert wie einst gegen den schwelgerischen Barock. Da Deutschland das Land der Reformation war und bis heute von der »protestantischen Ethik« geprägt ist, fiel auch jenes selbstdarstellerische Gepränge in Ungnade, das heute, in Zeiten der Casting-Kultur, geradezu zum Existenznachweis geworden ist.
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Es gibt aber noch weitere Gründe, die bis tief in die öffentliche und die veröffentlichte Meinung reichen. So hat auch der Föderalismus die Strahlkraft der Mode in Deutschland gedimmt. München, Düsseldorf, Köln, Frankfurt, Hamburg, Berlin und viele weitere Städte waren Modezentren. Keine Stadt hatte die wirtschaftliche, politische und kulturelle Dominanz wie Paris oder New York. Das schwächte die Szene. Selbst die Igedo, jahrzehntelang die größte Modemesse der Welt, fand kaum internationalen Widerhall. Der Nationalsozialismus ließ zudem wichtige Traditionsfäden abreißen. Die Vertreibung und Ermordung von Produzenten, die sich um den Hausvogteiplatz im Zentrum Berlins angesiedelt hatten, beendete die in den 1920er und frühen 1930er Jahren blühende Tradition. Hinzu kamen im Nationalsozialismus ideologische Paradigmen, die sich gegen die französische Lebensart richteten und zum Beispiel das Schminken verteufelten. Solche Vorbehalte wirkten in der Nachkriegszeit fort. Und schließlich wirkte sich auch die 68er-Bewegung mit konsumkritischen und egalitären Auffassungen aus und etablierte Jeans, Parka und Turnschuhe als Einheitskleidung. Insgesamt dominiert mithin in Deutschland das Praktische. Alles, was dauerhafter und solider erscheint als die ephemere, wechselhafte Mode. Zweckmäßigkeit siegt über Phantasie, Gebrauchswert über Schönheit, Dauerhaftigkeit über Trend. Die Outdoor-Mode brachte in den letzten Jahrzehnten so große Marken wie Jack Wolfskin, Schöffel, Globetrotter oder Vaude hervor. Puma und Adidas drangen vom Sportplatz in den Alltag vor. Und die hohe Mode? Die Berliner Couture-Häuser schneiderten in den 1950er Jahren Dior und Balenciaga nach. In den folgenden Jahrzehnten ging es mit der Kaufhausmode so weiter. In den großen Häusern findet man bis heute schlechte Kopien italienischer Marken mit farblich verrutschten Pucci-Mustern und falsch nachgeahmten Missoni-Streifen. Sie erinnern mich immer an das Kinderbuch »Ach, so schön ist Panama«. Als der Tiger krank ist, muss der Röntgenarzt Doktor Walterfrosch im Tierkrankenhaus glasklar diagnostizieren: »Streifen verrutscht!«
M ode in deutschen Z eitungen Die Mode hat es also nicht leicht in Deutschland – und in den deutschen Zeitungen erst recht nicht. Die Berichterstattung, ein Spiegelbild der öffentlichen Wertschätzung für Mode, ist zerfasert, unstrukturiert, unvollständig, volatil, zufällig. Das hängt schon wieder zusammen mit dem Föderalismus: »Welt«, »Zeit« und »Stern« erscheinen in Hamburg (die »Welt« kommt inzwischen aus Berlin), »Frankfurter Rundschau« und »Frankfurter Allgemeine Zeitung« in der Stadt am Main, die »Süddeutsche Zeitung« in München. Das bedeutet, dass auch die Printmedien eher die regionale als die nationale Szene im Blick hatten. Als die Zeitungen gegründet wurden, teilte man auch die Ressorts ein. In der Gründungsphase Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre ging es
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um den Wiederauf bau und andere Themen standen im Vordergrund. Im Binnenauf bau der Medien hat die Mode auch aus einem weiteren strukturellen Grund um Aufmerksamkeit zu kämpfen. Bei den meisten anderen Themen ist die Ressortzuordnung klar. Das Thema Verteidigung gehört in den Politik-Teil, Konjunktur gehört ins Wirtschaftsressort, Theater ins Feuilleton und Boxen in den Sport. Die Mode hingegen fällt zwischen alle Ressorts. Natürlich ist sie als Trendgeber Thema des »Vermischten« oder der »Gesellschaft«. Aber als kulturelles Phänomen gehört sie natürlich auch ins Feuilleton. Die Berichte über Bilanzen der Luxusunternehmen stehen unter »Wirtschaft« oder »Firmen«. Neu entwickelte Techno-Materialien werden unter »Technik« vorgestellt. Und die Bekleidungssitten der Politiker schaffen es zuweilen sogar in die Politik. Es gibt wohl kaum ein Thema im deutschen Journalismus, das so zerrissen wäre. Nicht zuletzt stößt das Thema auf Vorbehalte in den noch immer von Männern geprägten Medien: Zeitungen, Radio und Fernsehen exterritorialisieren das Frauenthema allzu häufig. Mode wird am liebsten in Beilagen abgeschoben. Ohnehin verortet man das Thema vor allem in Frauenzeitschriften und Modemagazinen. Für mich ist das ein großer Trugschluss, denn so wird die Bedeutung als Wirtschaftsfaktor, Alltagsdiagnose und Kulturthema vollkommen unterschätzt.
M ode seit der W ende Die Wende war auch eine Modewende für Deutschland. Viele der alten Hemmnisse sind langsam weggefallen. Die »Zerstörung von Ligaturen«1, wie Ralf Dahrendorf den Wegfall der alten Bindungen genannt hat, ermöglicht den Übergang in die Optionenvielfalt der »Erlebnisgesellschaft«2, wie sie der Soziologe Gerhard Schulze beschreibt. Konfessionelle Bindungen werden schwächer, preußische Disziplin rückt in den Hintergrund, Bindungen an gesellschaftliche Gruppen wie Kirchen, Gewerkschaften oder Zeitungen gehen verloren. Seine soziale Stellung markiert man heute stärker über sein Äußeres. Durch die Entscheidung für Berlin als Hauptstadt wird zunehmend auch der Föderalismus überwunden. In der Mode wird das symbolisiert durch den Abstieg Düsseldorfs und das Berliner Modewunder der nuller Jahre, an dem viele Rheinländer teilhatten. Auch modisch haben sich durch den Wegfall der DDR neue Freiheiten eröffnet, die kreative Möglichkeiten fördern. So stammt
1 | Ralf Dahrendorf: Lebenschancen. Anläufe zur sozialen und politischen Theorie. Frankfurt a.M. 1979, S. 59. 2 | Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt a.M. 1992.
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ein Gutteil des modischen Outputs der Hauptstadt aus dem Osten. Modeschulen aus Ost-Berlin bringen viele Designer hervor, Modefotografen wie Sibylle Bergemann erlebten einen zweiten Frühling, und die neue Szene entwickelt sich vor allem in den alten Ost-Berliner Stadtteilen Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain. Sichtbar wird der Wandel nun auch in den Namen der Labels. Michael Michalsky nennt seine Marke grundehrlich Michael Michalsky. Nicht einmal Perret Schaad ist französierend: Die beiden Damen heißen einfach so mit Nachnamen. Gestelzte Namen gibt es in der Berliner Mode noch immer. Aber jetzt sind sie deutsch und heißen zum Beispiel 30paarhände. In der Namengebung allein zeigt sich ein neues Selbstbewusstsein, das nicht per Etikettenschwindel Bedeutung vortäuschen muss. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich das Modewissen rapide vergrößert. Dazu tragen die Globalisierung (man kauft eben auch in New York ein) und die Individualisierung mit ihrem Zwang zur Selbstinszenierung bei. Außerdem sorgt die Diversifizierung mit vielen Modewochen bis hin zu Tiflis oder Canberra für die Verbreitung des Wissens. Das durch große Ketten wie H&M durchgesetzte Preisniveau bricht, bei gleichzeitiger starker modischer Aussage, die hohe Mode auf Alltagsbedürfnisse herab. Und nicht zuletzt hilft der Mode der Kult um Designer, der zwar schon mit Yves Saint Laurent begann, aber heute eben sehr viele umfasst, allen voran Marc Jacobs und Karl Lagerfeld. Fernsehshows wie »Germany’s Next Topmodel« haben auch den Beruf des Models ungemein popularisiert. Styling-Ikonen wie Anna Dello Russo oder Lady Gaga zeigen, dass Mode nicht nur Rezeption, sondern auch Produktion bedeutet. Die beiden symbolisieren den wichtigsten Trend der letzten Jahre, den Eklektizismus, den man auch rezeptionsästhetisch interpretieren darf. Früher konnte man sich auf seinen Komplettlook verlassen. In Zeiten der Mitmach-Mode ist jeder selbst gefordert, ist jeder sein eigener Stylist.
M odemedienwandel seit der W ende Auch die Medienlandschaft hat sich in dieser Zeit fundamental geändert. Das Internet hat eine Welle an Websites, Blogs und Online-Händlern mit sich gebracht, die sich nur um Mode kümmern. Allein die Seite style.com birgt mehr Modewissen, als es manche Zeitungen in Jahrzehnten produziert haben. Die Möglichkeiten der bildlichen Darstellung, der schnellen Übermittlung, der unbegrenzten Datenspeicher und der durchaus umfänglichen Darstellung lassen Zeitungen alt aussehen. Und dennoch nutzen viele Blogs, die zur Konkurrenz der Zeitungen werden könnten, ihre Möglichkeiten bei Weitem nicht aus. Zwar schaffen die in den letzten fünf Jahren entstandenen Blogs mit einem gefühligen, begeisterten und frischen Ton ein großes Identifikationsangebot vor allem für junge Leser, erst recht die Street-Style-Blogs, die unmittelbar, demokratisch
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und direkt wirken. Aber immer öfter decouvrieren sie sich als Opfer der Marketingstrategien von Modehäusern. Das emanzipative Potential im Vergleich zu Magazinen schöpfen sie jedenfalls bei Weitem nicht aus. Dabei gibt es positive Beispiele wie den erfrischend kritischen Blog »Modepilot« oder den französischen Blog »Uncross your legs«, der aufdeckte, dass Emanuelle Alt 10.000 Euro pro Tag dafür bekommt, Balmain zu beraten – der also gerade die alten Medien bei scheinheiligen Gegengeschäften entlarvte. Manche Blogs arbeiten wirklich journalistisch und werden auf diese Weise relevant, wie zum Beispiel Fashionologie. Andere gehen in die klassischen Medien und sorgen für eine Konvergenz von Online und Print – wenn etwa die bekannteste französische Modebloggerin Garance Doré Anzeigen fotografiert. Auf der anderen Seite wiederum stellen sich die Zeitungs- und Zeitschriften-Verlage auf die wachsende Bedeutung der Themen Mode, Styling, Schmuck, Kosmetik ein. Die »Welt« bringt das Stil-Magazin »Icon« heraus. Die Modeausgaben der Magazine von »Süddeutscher Zeitung« und »Zeit« sind auch geschäftlich ein Erfolg. Und gleich mehrere Verlage planen für 2013 neue Hochglanz-Frauenmagazine. All diese Projekte werden interaktiver und aufgelockerter daherkommen und zum Beispiel viele Street-Style-Strecken bieten. In den Zeitungen hingegen merkt man noch nicht viel von der großen Moderevolution. Dabei könnte es doch ein gutes Thema sein, junge und weibliche Leser zu gewinnen – die Zielgruppen, die am stärksten fehlen. Außerdem wäre es eine gute Möglichkeit, die Erscheinungsform von Zeitungen zu ändern. Nicht ohne Grund brachten zum Beispiel drei nationale britische Tageszeitungen Fotos der Burberry-Schau vom September 2011 auf ihren Titelseiten, unter anderem »Times« und »Independent«. Sie scheinen erkannt zu haben, dass man gerade mit Themen, die dem herkömmlichen Nachrichtenfluss nicht entsprechen, viel Aufmerksamkeit erzeugen kann. Die deutschen Zeitungen wissen das noch immer nicht so recht. Aber wenn sie zum Beispiel anhand von Street-Style-Fotos erkennen, dass es bei der Mode nicht nur um kapitalistische Verwertungszusammenhänge geht, sondern um ein geradezu urtümliches und basales Ausdrucksmittel des Menschen – dann werden sie ihre Meinung vielleicht auch noch ändern.
L iter atur Dahrendorf, Ralf: Lebenschancen. Anläufe zur sozialen und politischen Theorie. Frankfurt a.M. 1979. Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft: Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt a.M. 1992.
Sammler, Märkte und Artefakte Akteure der frühen Trachtenforschung im 19. Jahrhundert Andrea Hauser
Abbildung 1: »Volkstrachten aus dem Dorfe Kl. Eicklingen im Vaterländischen Museum in Celle« 1903, Bomann-Museum Celle
Wer sich mit dem Thema ›Tracht‹ in der Lüneburger Heide beschäftigt, der wird zwangsläufig früher oder später auf diese Fotografie stoßen. Das querformatige Schwarz-Weiß-Foto (24x30 cm) aus dem Jahr 1903 zeigt vier Frauen und zwei Männer in ländlicher Kleidung aus Klein Eicklingen im Landkreis Celle. Von links nach rechts sind dargestellt: Weibliche Abendmahlstracht, weibliche Sonntagstracht, weibliche Trauertracht, männliche Sonntagstracht, männliche Sonntagstracht (Kirchenanzug), ältere Spinnerin.1 Die Abbildung wurde in der 1 | Siehe dazu Inventarisierung in der Online-Objektdatenbank des ›Trachtenprojektes‹ der Universität Oldenburg, Inv.Nr. B0413. Links unten steht zu lesen »Herrn Medicinalrath Dr. Langerhans mit freundl. Gruß von W. Bomann Celle 24/7.1903«. Die wörtliche Beschreibung lautet: »1. Weibliche Abendmahlstracht«; »2. Weibliche Sonntagstracht«;
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Folgezeit vielfach reproduziert und als Beleg für die Existenz von ›Tracht‹ in der südlichen Lüneburger Heide veröffentlicht. Noch 1984 lautete die Bildunterschrift in einem heimatkundlichen Buch über den Landkreis Celle: »Trachten des 19. Jahrhunderts aus der Gegend von Klein-Eicklingen. Einheitliche Kleidung einer stammesmäßigen oder landschaftlich bedingten Gemeinschaft sind heutzutage selten geworden. Das Bomann-Museum Celle hat sich ganz besonders ihrer Pflege angenommen. An Stelle der Trachten ist nun die Mode getreten.« 2
Die Botschaft der Bildbeschreibung ist deutlich: Wir erhalten Einblick in die Welt der Anderen – in die Welt der Dorf bevölkerung einer bestimmten ländlichen Region, die von einem vergangenen, homogenen sozialen Wesen zeugt, ausgestattet mit einer lebendigen Festkultur (Abendmahl-Trauer-Sonntag) und festen (Kleidungs-)Regeln. Das Bild passt zu unseren Bildern von der dörflichen Vergangenheit – es stiftet Identität (da kommen wir her), Anerkennung und Abgrenzung (gut, dass wir diesem Regelsystem entkommen sind). Aber was ist auf dem Bild tatsächlich zu sehen? Haben die darauf abgebildeten Personen zu einer fest definierten Zeit auf ihrem Hof so gelebt, wie es das Foto nahelegt? Die Geschichte, die sich hinter diesem Gruppenfoto verbirgt, ist nicht ohne Unterhaltungswert. Irgendwann im Jahre 1903 machte sich der Textilfabrikant und spätere Direktor des »Vaterländischen Museums« in Celle, Wilhelm Bomann (1848-1926),3 auf den Weg zum alteingesessenen Hof Cammann in Klein Eicklingen. Im Gepäck hatte er zahlreiche Teile seiner »3. Weibliche Trauertracht«; »3. (sic!) Männliche Sonntagstracht (Haustracht)«; »4. Männliche Sonntagstracht (Kirchenanzug)«; »5. Ältere Spinnerin«. Zur Datenbank des ›Trachtenprojekts‹ siehe Gerda Engelbracht: Die Objektdatenbank des ›Trachtenprojektes‹ – Zielsetzung, Struktur und Ergebnisse. In: Karin Ellwanger/Andrea Hauser/Uwe Meiners (Hg.): ›Trachten‹ in der Lüneburger Heide und im Wendland [im Druck]. 2 | Arnold Linke: Landkreis Celle in alten Ansichten. Celle 1984, S. 74. Sieben Jahre später findet sich die Abbildung abermals in Wilhelm Köneke/Helmut Schmidt-Harries: Eicklingen: ein Lese- und Nachschlagebuch. Celle 1991, S. 135 mit der Unterschrift: »Alte Eicklinger Trachten … Aufnahme des Bomann-Museums Celle zwischen 1900 und 1914 vor dem Hof Hausnummer 4«. 3 | Geboren am 4.1.1848 in Celle als Sohn des Fabrikantenehepaars Georg Christian und Johanne Friederike Bomann, Lehre als Kaufmann, seit 1873 Teilhaber an und Handelsreisender in der väterlichen Wollgarnfabrik, die er dann 1877 übernahm. Im selben Jahr Heirat mit der Lehrer- und Pastorentochter Angelika Grotefend (1858-1939) aus Celle und Mitbegründer des Celler Museumsvereins. Seit 1902 zunehmende Schwerhörigkeit. 1909 Verkauf des Unternehmens und bis 1923 Tätigkeit als Museumsleiter. Gestorben 1926. Zur Biographie vgl. Angelica Hack: Wilhelm Bomann, Leben und Wirken. In: Werner Nolte (Hg.): 100 Jahre Bomann-Museum Celle 1892 – 1992. Celle 1992,
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Kleidungssammlung, die er für das in Gründung begriffene Celler Museum zusammengetragen hatte. In Klein Eicklingen traf Bomann August Cammann und dessen Familie, die sich mit den Kleidungsstücken ausstaffierten und ablichten ließen.4 Die Rückseite des Fotos beschriftete Bomann eigenhändig mit dem Titel »Volkstrachten aus dem Dorfe Kl. Eicklingen im Vaterländischen Museum in Celle [Herv.i.O.]« und beschrieb sie detailliert. So heißt es zu dem Mann mit dem Dreispitz: »Männliche Sonntagstracht (Kirchenanzug): Langer blauer Rock von Wollstoff mit besponnenen Stoffknöpfen u. blauem Wollfutter, rothe Weste von Wollstofftuch, Messingknöpfen, schwarze manchesterne Kniehose mit grünem Wollband, langen blauen Wollstrümpfen, Schnallenschuhe, sogenannter Dreimaster.« 5
Der Einblick in längst vergangene Zeiten sitzt der Konstruktion auf, wie sie Museumsleute wie Bomann von den längst vergangenen Zeiten hergestellt haben. Die von dem Sammler in Szene gesetzte Kleidung wird dabei zur »Tracht des Dorfes Eicklingen« und die Südheide zur Trachtenlandschaft. Dieser Vorgang belegt die komplexe Wirkmächtigkeit des außeruniversitären volkskundlichen Handelns in den Museen. An wenigen Beispielen soll hier den Bedingungen und Mechanismen der Volkskunde als sozialer Praxis im Hinblick auf die volkskundliche Kleidungsforschung nachgegangen werden, in der bis zur fachwissenschaftlichen Wende in den 1960er bis 1980er Jahren die ländliche Kleidung, die sogenannte ›Tracht‹, ›Volks‹- oder ›Nationaltracht‹ als Gegensatz zur Mode gesehen wurde. Es handelt sich um Ergebnisse des Kooperationsprojektes der Universität Oldenburg mit vier niedersächsischen Museen zum Thema »›Trachten‹ in der Lüneburger Heide und im Wendland. Kleidungsverhalten bäuerlicher Schichten und Formen seiner Repräsentation seit Ende des 18. Jahrhunderts«,6 das zentral in die Praxisfelder des volkskundlichen Museums als Konstrukteur von ›Tracht‹ führte. S. 25-42. Angelica Hack: Wilhelm Bomann: Mitbegründer und 1. Direktor des Celler Bomann-Museums. In: Volkskunde in Niedersachsen Bd.15, (1998), S. 33-35. 4 | Von links nach rechts Frieda Schumacher verheiratet mit Heinrich Cammann (Klein Eicklingen), Line Schumacher verheiratet mit Fehlig (Sulingen), Dora Höper verheiratet mit Hinrich Höper (Klein Eicklingen), Heinrich Cammann (Hof »Lauers«, Klein Eicklingen), sein Bruder August Cammann (Hof Cammann, Klein Eicklingen), »Oma« Schumacher, Urgroßmutter des Gastwirts Gerd Schumacher (Klein Eicklingen). 5 | BMC, Kopie BF01063A in Archiv BMC, Ordner A-G. 6 | Kooperationspartner: Bomann-Museum Celle (BMC), Museum für das Fürstentum Lüneburg, Lüneburg (MFL), Museumsdorf Hösseringen, Landwirtschaftsmuseum Lüneburger Heide, Suderburg (MH) und Rundlingsmuseum Wendlandhof Lübeln, Küsten (RWL). Leitung: Prof. Karen Ellwanger. Hauptbearbeiterinnen: Andrea Hauser, Gerda En-
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Vor dem fachwissenschaftlichen Hintergrund der volkskundlichen Trachtenforschung im 19. Jahrhundert werden im Folgenden die Bedingungen und Akteure des Sammelns um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert betrachtet. Die daraus resultierenden musealen Fixierungen eines spezifischen Bildes von ›Tracht‹ und die dieses Bild reproduzierenden Aktivitäten der Heimatschutzbewegung machen die Impulse deutlich, die das außeruniversitäre volkskundliche Handeln sowohl für das Museum als auch für die volkskundliche Kleidungsforschung insgesamt auslöste. Die These hierbei lautet: Die soziale Praxis der außerwissenschaftlichen Volkskunde in den Museen der Stadtkulturen und in der Heimatschutzbewegung der Jahrhundertwende hat das Forschungsparadigma ›Tracht‹ als eine Kleidung der Anderen, nämlich als die Kleidung der ländlichen Gesellschaft im Gegensatz zur Mode als Kleidungskultur der hegemonialen, bürgerlichen Gruppen, zentral geprägt. Die dabei wirksamen Konstellationen – Markt, Netzwerke, Identitätssuche und -verankerung sowie Binnenkolonialisierung – stellen das Paradigma ›Tracht‹ in den weiten Kontext der Moderne. Von daher kann die Dynamik der Kleidung in der Moderne nur verstanden werden, wenn ›Tracht‹ und Mode zusammengedacht werden.
»Tr achtenkunde « Die Volkskunde/Europäische Ethnologie hatte seit Entstehung des Faches im 19. Jahrhundert bis vor gut 30 Jahren, als der grundlegende Paradigmenwechsel von einer »Trachtenkunde« zu einer sozialwissenschaftlichen Kleidungsforschung stattfand, einen sehr eingeschränkten Blick auf die Bekleidung insgesamt und die Mode im Besonderen. Sie befasste sich primär mit regionalen Kleidungsstilen, den sogenannten ›Volkstrachten‹, also vorrangig mit der ländlichen, bäuerlichen Kleidung. Der »flüchtigen, kurzlebigen Kleidermode«, die als Forschungsbereich den Kostümhistoriker_innen überlassen wurde, setzte man die »geschichtliche Beständigkeit, die Traditionsgebundenheit der Tracht gegenüber« und grenzte die Beschäftigung mit Mode aus dem Fachinteresse weitestgehend aus.7 Erst seit den 1970er Jahren wurde die bis dahin vorherrschende objektästhetische, brauchgebundene und vielfach auch kulturräumliche Betrachtung von Kleidung durch sozialwissenschaftliche Perspektiven gelbracht. Gefördert wurde das Projekt von Pro*Niedersachsen des MWK Niedersachsen für den Zeitraum August 2008 bis Dezember 2011. 7 | Gabriele Mentges: Erziehung, Dressur und Anstand in der Sprache der Kinderkleidung. Eine kulturgeschichtlich-empirische Untersuchung am Beispiel der Schwälmer Kindertracht. (=Europäische Hochschulschriften: Reihe 19, Volkskunde/Ethnologie, Abt. A Volkskunde; Band 31). Frankfurt a.M. u.a. 1989, S. 27f.
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abgelöst und sie damit in ihren gesellschaftlichen, soziokulturellen und historischen Kontext gerückt.8 Zwei eng miteinander verbundene Untersuchungsebenen, nämlich »die Rolle der Kleidung als Objekt, d.h. […] ihre Herstellung, ihr […] Gebrauch, ihre Funktion« und »die Rolle der Kleidung als Objektivation, d.h. […] die Ideen-, Werte- und Vorstellungssysteme, die sich in äußerlichen Kleidungsbildern festmachen lassen«9, stehen seitdem im Mittelpunkt volkskundlicher Kleidungsforschung. Im 19. Jahrhundert verhielt sich dies anders. Seit ihren Anfängen machte die Volkskunde »die Landbevölkerung zum Gegenstand systematischer wissenschaftlicher Beobachtung und Beschreibung«.10 Der Untersuchungsgegenstand ›Volk‹, die Volkskultur wurde mit dem Bauerntum gleichgesetzt, »in ihm sah man den sozialen Stand, der scheinbar ungestört die alten und echten Überlieferungen konservierte.«11 Der so praktizierte Blick der bildungsbürgerlich geprägten Volkskundler_innen von außen auf das Landleben, sozusagen der ethnische Blick auf das Fremde, zog alle Facetten der Fremderfahrung nach sich: Distanz, Exotik, Kritik, Stereotypisierung, Idealisierung und Ideologisierung. Man suchte auf dem Lande förmlich die ›Tracht‹12 oder besser die ›Volkstracht‹.13 Erst jetzt wurde die Kleidung des Landes als ein Gegenüber zu den Kleidungsweisen im Bürgertum gesehen. Das 19. Jahrhundert wurde
8 | Vgl. Lioba Keller-Drescher: Die Ordnung der Kleider. Ländliche Mode in Württemberg 1750 – 1850. (= Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen; Band 96). Tübingen 2003, hier S. 12. Zur Fachgeschichte siehe auch Andrea Hauser/Gerda Engelbracht: Forschungsbericht zum Projekt »›Trachten‹ in der Lüneburger Heide und im Wendland. Kleidungsverhalten bäuerlicher Schichten und Formen seiner Repräsentation seit Ende des 18. Jahrhunderts«. Universität Oldenburg, Mai 2011 (unveröffentlichtes Manuskript), S. 7-14. 9 | Gitta Böth: Kleidungsforschung. In: Rolf Wilhelm Brednich (Hg.): Grundriß der Volkskunde: Einführung in die Forschungsfelder der europäischen Ethnologie. Berlin 1988, S. 153-170, hier S. 162f. 10 | Gabriele Mentges: Blicke auf den ländlichen Leib. Zur Geschichte einer Enteignung. Eine Darstellung anhand württembergischer Kleidungsbeispiele von 1820-1910. In: Richard van Dülmen (Hg.): Körper-Geschichten, Frankfurt a.M. 1996, S. 176-199, hier S. 177. 11 | Hermann Bausinger (Hg.): Grundzüge der Volkskunde. Darmstadt 1978, S. 8. 12 | Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert wurde der Begriff ›Tracht‹, der ursprünglich das Tragen von Kleidung allgemein umschrieb, mehr und mehr auf die Kleidung der (bäuerlichen) Landbevölkerung eingeengt und mit bestimmten Inhalten aufgeladen, welche die Dichotomie von Stadt und Land, Mode und Tracht etc. verstetigten. Zur Bedeutungsgeschichte des Begriffs siehe Keller-Drescher: Ordnung, S. 25-32. 13 | Vgl. Lioba Keller-Drescher in diesem Band.
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dadurch zu einem Jahrhundert der Volkstrachtenentdeckung, ihrer neuen nationalen Hochbewertung und bewussten Pflege.14 Bereits 1961 hat Hermann Bausinger die Erscheinungen des entdeckenden Rückgriffs auf optische Versatzstücke des Andersartigen im eigenen Lande als »Binnenexotik« bezeichnet,15 die »auffällig mit der Entdeckungsgeschichte der gesamten sogenannten Volkskultur« korrespondiert.16 Auch die »wissenschaftliche Trachtenkunde im Frühstadium des Registrierens und Sammelns« basierte, wie es Wolfgang Brückner seit den 1980er Jahren immer wieder pointierte, auf einer ethnologischen Binnenexotik: »Bauerntrachten wurden als stereotype Charaktere begriffen, als unmittelbare kulturelle Ausdrucksweise fester biologischer Stammeseigentümlichkeiten« und man dachte in »Trachtenlandschaften«.17 D.h., so Brückner, schon im beginnenden 19. Jahrhundert finden wir »sowohl in den Text-, wie in den Bildzeugnissen vornehmlich Beobachtungs- und Bewertungskategorien, also Sichtweisen und Impressionen, die mehr über die Beobachter als ihren Beobachtungsgegenstand aussagen. Auch für die Trachtenentdeckung und deren Beschreibung gilt – jedenfalls auf Dauer –, was wir lange schon vom Volkslied und den Märchen wissen, dass sie ›Fund und Erfindung‹ zugleich sind: tatsächliches, beobachtbares Phänomen und ebenso Dinge, die durch die auswählende, interpretierende, heraushebend wertende und stilisierte ›Dokumentation‹ eine neue kulturelle Qualität und Formung erfahren haben, die es so zuvor nicht gab und die darum Rückwirkungen auf die gemeinte und vermeintliche Sache haben musste und in der Folgezeit auch hatte.«18
14 | Vgl. dazu Wolfgang Brückner: Mode und Tracht. Ein Versuch. In: Klaus Beitl (Hg.): Kleidung – Mode – Tracht. Wien 1987, S. 15-44. 15 | Hermann Bausinger: Volkskultur in der technischen Welt. Frankfurt a.M. u.a. 2005 (1961), S. 93. 16 | Wolfgang Brückner: Trachtenfolklorismus. In: Utz Jeggle u.a. (Hg.): Volkskultur in der Moderne. Probleme und Perspektiven empirischer Kulturforschung. Reinbek bei Hamburg 1986, S. 363-382, hier S. 368. 17 | Wolfgang Brückner: Kleidungsforschung aus der Sicht der Volkskunde. In: Helmut Ottenjann (Hg.): Tracht, regionale Identität. Historische Kleidungsforschung heute. Referate d. intern. Symposions im Museumsdorf Cloppenburg – Niedersächsisches Freilichtmuseum. Cloppenburg 1985, S. 13-22, hier S. 14. 18 | Brückner: Trachtenfolklorismus, S. 371. Hier ist der Kritik Keller-Dreschers zuzustimmen, dass »die begriffliche Belegung des ›Fundes‹ und der ›Erfindung‹ mit ›Tracht‹ […] eine Realitätsebene von Tracht unabhängig von der Ideologieebene« postuliert, »als sei mit diesem Begriff ein alltäglicher, individueller Gebrauch ländlicher Kleidung und eine Geschichte ihrer Stilentwicklung ohne Folklorismus möglich. Er ist es gerade nicht.« Keller-Drescher: Ordnung, S. 34.
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Die Volkskunde produzierte so »eifrig an jenen Volkstums- und Regionalgrenzen mit, die wir als topographische Bilder und regionale Stereotypen im Kopf haben.«19 Am Ende des 19. Jahrhunderts dienten »die Artefakte der folklorisierten deutschen Stammeskultur schließlich direkt zur Abwehr und als Gegenentwurf zur Moderne. Die vielfach von Städtern getragene agrarromantische Heimatschutzbewegung des ausgehenden 19. Jahrhunderts pflegte, was die Volkskunde sich zu sammeln anschickte«,20 indem sie das Gesammelte in ein Vereinswesen und in Freizeitveranstaltungen transformierte. Die »Vermittlung und Vorführung von Volkskultur aus zweiter Hand« ist als Folklorismusforschung ein eigenes Untersuchungsgebiet der Volkskunde/Europäischen Ethnologie und neben den Museen eine zweite Praxisebene der außeruniversitären Volkskunde. Beide waren um 1900 eng miteinander verschränkt.
A k teure , N e t zwerke und der M ark t Die verschiedenen Protagonisten der Heimatschutz- ebenso wie der regionalen Museumsbewegung der Lüneburger Heide waren als Sammler und Händler in einem breiten Netzwerk aktiv. Zu ihnen gehörten neben Wilhelm Bomann auch der Lehrer und Volkskundler Eduard Kück (1867-1937)21, der Lehrer und Ethnograph des Wendlandes Carl Mente (1849-1917)22, der Postbeamte und 19 | Carola Lipp: Volkskunde, Regionalgeschichte und niedersächsische Kulturgeschichte. In: Dies. (Hg.): Volkskunde in Niedersachsen. Regionale Forschungen aus kulturhistorischer Perspektive (= Kataloge und Schriften des Museumsdorfs Cloppenburg; Band 11/Bausteine zur Heimat- und Regionalgeschichte; Band 13). Cloppenburg 2002, S. 11-22, hier S. 13. 20 | Ebd. Zur Heimatschutzbewegung vgl. Edeltraud Klueting: Heimatschutz. In: Diethart Kerbs/Jürgen Reulecke (Hg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 18801933. Wuppertal 1998, S. 47-58. 21 | Geboren in Hollenstedt, Kreis Harburg, 1879 Gymnasium in Lüneburg, Studium der Altphilologie und Germanistik in Leipzig, Berlin und Göttingen, seit 1900 Gymnasiallehrer in Berlin. Zur Biographie siehe Artur Gabrielsson: Eduard Kück. Ein Lebensbild. In: Eduard Kück: Lüneburger Wörterbuch. Wortschatz der Lüneburger Heide und ihrer Randgebiete, seit 1900 zusammen mit vielen Mitarbeitern gesammelt und sprachwissenschaftlich sowie volkskundlich erläutert. Neumünster 1942-1967, S.VII-XXII. Schriftenverzeichnis in ebd., S. XXIII-XXVII. Seine zentrale Publikation zu Tracht vgl. Eduard Kück: Das alte Bauernleben in der Lüneburger Heide. Leipzig 1906. 22 | Geboren am 7.7.1849 in Lüchow als Sohn eines Zimmermanns, Besuch des Lehrerseminars in Lüneburg, 1868 bis 1871 Lehrer in Prezier, danach von 1872 bis 1883 in Lübbow tätig. 1883 wurde er als Lehrer und Kantor nach Rebenstorf berufen, wo er bis 1910 wirkte und dann nach Lüchow zurückkehrte.
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Sammler Wilhelm Keetz (1870-1909)23, der Autodidakt der Vorgeschichte, Sammler und Fotograf Hans Müller-Brauel (1867-1940)24 und der Lüneburger Arzt und Sammler Otto Sprengell (1837-1898).25 Sie alle standen brieflich oder persönlich in Kontakt und unterhielten auch Beziehungen zu den großen deutschen Museen. So tauschte sich Bomann mit den Hamburger Museumsleiterkollegen Otto Lehmann und Otto Lauffer über Sammlungsobjekte und Ankaufmöglichkeiten aus.26 Carl Mente verkaufte gemeinsam mit Sprengell Kleidungsstücke zu einem nicht unerheblichen Preis an die Sammlung Oskar Kling im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg.27 An das Berliner »Museum für deutsche Volkstrachten und Erzeugnisse des Hausgewerbes« verschenkte er neben Kleidungsstücken auch Fotografien und Trachtenpostkarten.28 Eduard Kück bestückte ebenfalls das Berliner Museum.29 Neben pekuniären Aspekten stand hinter dieser Kontaktaufnahme mit den führenden Museen auch das Interesse der Akteure, auf ihre regionale Fachkenntnis aufmerksam zu machen und zugleich mit dieser Expertise ihre Region als ›Trachtenregion‹ zu kennzeichnen. Umgekehrt hatten die beiden großen Museen in Berlin und Nürnberg Vorbildcharakter für ähnlich strukturierte Museen in der Provinz, die »beflügelt von einem aus der Landesgeschichte gespeisten partikularen Patriotismus in
23 | Geboren 12.2.1870 in Strachau (Elbe), Postbeamter bis zu seiner vorzeitigen Pensionierung 1895, ab 1904-1909 Museumsmitarbeiter in Celle. Als niederdeutscher Schriftsteller verbunden mit norddeutscher Schriftsteller- und Heimatkunstbewegung. Vgl. Biographie in: Wilhelm Keetz: De Schult von Strachau und andere Geschichten aus der Elbmarsch. Niederdeutsche Erzählungen teilweise in hochdeutscher Übersetzung wiedergegeben – aus fast vergangenen Zeiten. Hg. von Carsten Keetz. Lüchow 1998. 24 | Geb. bei Zeven, Tischler, Landwirt, als Autodidakt Vorgeschichtler und Heimatforscher. 25 | Geboren 7.12.1837 in Ebstorf als Sohn des Königl. Vogts zu Hanstedt, Christoph Friedrich Sprengell, Gymnasium Johanneum Lüneburg, Studium der Medizin in Göttingen und Tübingen, seit 1862 Arzt in Lüneburg, dazwischen in Salzdetfurth und Braunschweig sowie als Schiffsarzt auf der Route nach Westindien tätig. 26 | Siehe dazu StA Celle, C 29-14. 27 | Claudia Selheim (Hg.): Die Entdeckung der Tracht um 1900. Die Sammlung Oskar Kling zur ländlichen Kleidung im Germanischen Nationalmuseum [Bestandskatalog]. Nürnberg 2005, S. 35. 28 | Hauser/Engelbracht: Forschungsbericht, S. 181. 29 | 1903 ein weißes Trauerlaken (I L 422) und eine Kappe (I L 423) aus der »Lüneburger Heide«, sowie als Geschenk »3 Trauermützen,1 Abendmahlmütze u. 1 KnüppelSpitzenmütze« (I L 425-429). Die letzteren hatte »Frau Aug. Wiese« aus Hollenstedt Krs. Harburg auf Kücks Vermittlung hin dem Berliner Museum übergeben. Ebd., S. 183.
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den Ländern des Deutschen Bundes«30 zu dieser Zeit entstanden, wie dem Vaterländischen Museum in Celle (gegründet 1892) oder dem Museum für das Fürstentum Lüneburg in Lüneburg (gegründet 1891). So begann Wilhelm Bomann, dem zunächst die Uniformen aus Alt-Hannover mehr am Herzen lagen, ab 1902 seine Sammlung ländlicher Kleidung verstärkt auszubauen, nachdem er bei seiner Teilnahme an der Feier des 50jährigen Jubiläums des Germanischen Nationalmuseums die dortigen Bemühungen Oskar Klings eingehender kennengelernt hatte.31 1907 wurde sie im neu eröffneten Celler Museum im sogenannten »Volkstrachtensaal«, ähnlich wie im zwei Jahre zuvor eröffneten Trachtensaal des Germanischen Nationalmuseums, nach Regionen geordnet und auf Figurinen präsentiert. Der »Folklorist des Wendlandes«32, Carl Mente, auf den eine der größten Sammlungen von ländlicher Kleidung des Hannoverschen Wendlandes zurückgeht33, hatte unmittelbar nach der Eröffnung des Berliner Museums 1889 begonnen, seine Sammlung für das Lüneburger Museum zu vergrößern und dort 1893 – analog zum Berliner Präsentationsprinzip – eine der ersten Stubenpräsentationen in Niedersachsen installiert, die fortan das Bild der ›Tracht‹ des Hannoverschen Wendlandes prägen sollte.34 Das Sammeln von ›Volkstrachten‹ erlebte in diesem Zeitraum zwischen 1890 und 1910 einen ungeheuren Aufschwung. Zunehmend wurden die Museumspräsentationen von den Bedingungen des Marktes abhängig. So schrieb z.B. Wilhelm Keetz im Jahre 1900 an Bomann, dass »in den letzten Jahren […] die Preise für alle diese Gegenstände ganz enorm in die Höhe gegangen« seien. »Die Brustlätze sind augenblicklich sehr gesucht und werden beson30 | Waldemar R. Röhrbein: Historisches Museum am Hohen Ufer 1903-1978. Aus 75 Jahren Museumsgeschichte. In: Ders.: 75 Jahre Historisches Museum am Hohen Ufer Hannover 1903-1978. Hannover 1978, S. 5-60, hier S. 5. 31 | Siehe dazu seine Pressekampagne in folgenden Zeitungen: Hannoversche Allgemeine Zeitung vom1.10.1902, Lüneburger Anzeiger vom 1.10.1902. Auch: Kreis-Zeitung Uelzen vom 1.10.1902, Hamburger Nachrichten vom 1.10.1902, Das Land. Zeitschrift für die sozialen und volkstümlichen Angelegenheiten auf dem Lande. Organ des Vereins für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege, 11 (1903/04), Heft 23 (1.9.1903), hier bez. H. Dehning. Archiv BMC, Presse 1877-1923. 32 | Karl Ernst Mucke: Die Lüneburger Wenden in Geschichte, Volkstum und Sprache. In: Hannoverland: Halbmonatsschrift für die Kunde und den Schutz unserer niedersächsischen Heimat (1908), S. 132-134, 156-158, 174-176, hier S. 133. 33 | Als Dauerleihgabe des Wendländischen Geschichts- und Altertumsvereins befinden sich Reste davon im Rundlingsmuseum Wendlandhof Lübeln bei Lüchow. 34 | Vgl. Andrea Hauser: Museale Fixierung – Präsentationsformen ländlicher Kleidung im »Vaterländischen Museum« Celle und im Museum für das Fürstentum Lüneburg um 1900. In: Karen Ellwanger/Andrea Hauser/Jochen Meiners (Hg.): ›Trachten‹ in der Lüneburger Heide und im Wendland.
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ders von Hamburgern, die häufig in unsere Gegend kommen, oft weit teurer bezahlt.«35 Zunehmend wurde die Klage laut, dass insbesondere die großen Museen in Berlin und Nürnberg »die Provinzen ausräubern« würden sowie durch »die Sammelwut vieler Privatpersonen die einst so reichen Fundgruben unserer niedersächsischen Dörfer fast erschöpft« seien.36 Dabei entstanden durch den regen Austausch auch spezifische Sammelmoden. Bomann, der bis in die 1890er Jahre nur in der näheren Umgebung von Celle gesammelt hatte, entdeckte plötzlich das außerhalb der Lüneburger Heide liegende Alte Land und die Vierlande als Sammlungsschwerpunkte. Nicht nur Kooperation begleitete dabei die Sammelleidenschaft, sondern vielfach Konkurrenz beim Ergattern der ›schönsten‹ Stücke und privater Sammlungen. So hatte Bomann zum »Vaterländische Museum« in Hannover ein besonders angespanntes Verhältnis,37 er war entrüstet über die »hannov. Concurrenz«.38 Nicht nur die gleiche Namensgebung war für ihn ein Affront, auch hatte das Hannoversche Museum ihm kurz zuvor zwei bedeutende Privatsammlungen vor der Nase weggeschnappt: Die Sammlung des Celler Arztes Max Langerhans mit ländlichem Hausrat und ländlicher Kleidung39 und die bedeutende Uniformsammlung von Schwake.40 Hans Müller-Brauel wurde für ihn zur persona non grata, als dieser auch für Hannover sammelte. Diese kleinen Episoden verweisen schon auf die engen regionalen und persönlichen Verflechtungen des Sammlungsmarktes und die große Bedeutung der nationalen Museumsbewegung für Sammlungsschwerpunkte und ihre Präsentation. ›Trachten‹ erhielten durch die Sammlungsaktivitäten einen enormen pekuniären Wert. Viele Sammler, wie z.B. Wilhelm Keetz, waren auf den Weiterverkauf finanziell angewiesen. Je rarer ländliche Kleidungsstücke wurden, desto höher stiegen die Preise.
35 | StA Celle C 29, Nr. 454, Keetz-Briefe, Brief vom 3.2.1900. 36 | Wilhelm Thies: Das Dorfmuseum. In: Der Heidewanderer 44 (30.10.1912). Ähnlich warnte Georg Friedrich Konrich (1879-1955) vor den »sammelnden« Heimatfreunden, die den Bauern ihre Schätze abschwatzen würden, um sie anschließend zu »verpoltern«. Georg Friedrich Konrich (Hg.): Hannoverland. Ein Buch der Heimatpflege. Hannover 1911. 37 | Unter anderem bat er Keetz 1901 sich für das »Vaterl. Museum« in Celle einzusetzen, »das von Hannover aus, wo man nunmehr auch unseren Namen nachahmt, auf nicht sehr anständige Weise anscheinend in die Ecke gedrückt werden soll.« StA Celle, Bestand 29 Kopierbücher,1, fol. 154/155, 11. Nov. 1901. 38 | Ebd., fol. 175 links, 10. Dezember 1901, Lieber Herr Keetz!. 39 | Siehe dazu Röhrbein: Historisches Museum, S. 14. 40 | StA Celle C 29-86. S. auch ABMC, Presse 1877-1923, »Der Ankauf der Schwake’schen Uniformsammlung«, Deutsche Volkszeitung vom 18.7.1901.
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Trachten waren also erstens ein Geschäft, sie hatten einen Markt und Marktwert. Zweitens machte die kulturelle Praxis des Sammelns die Akteure nicht nur zu Mitgliedern einer attraktiv wirkenden Bewegung, sondern sie funktionierte als neue bürgerliche Vergemeinschaftungsform. Trachtensammeln war im ausgehenden 19. Jahrhundert ein Hype. Diese Aktivitäten entfalteten die Akteure jedoch nicht in der Selbstreflexion, sondern in Form einer gewissen Enteignung der Anderen. Dazu gehörte die Ausplünderung des kulturellen Erbes des Landes genauso wie die Missachtung des tatsächlichen ländlichen Kleidungsverhaltens.
M use ale F ixierung Mit der Erfahrung des Wandels ländlicher Lebensformen unter dem Einfluss der Hochindustrialisierung bildete sich ein neuer Typ Museum heraus: das Heimat- und das Regionalmuseum. In ihm wurden erstmals ländliche Kulturgüter zu einem zentralen Sammlungsgut. Zugleich aber verloren diese in der musealen Darstellung ihren Eigenwert und wurden zu Zeugen einer nach den eigenen Bedürfnissen des Bürgertums umgedeuteten Vergangenheit. Aus Angst vor der Wurzellosigkeit durch den gesellschaftlichen Wandel der Industrialisierung und Verstädterung wuchs die Liebe zur Heimat, mit der das Alte gegen das Neue, das Land gegen die Stadt verteidigt werden sollte.41 Diese Ausgangslage bewirkte, dass dem Lande von der Volkskunde sehr viel größere Aufmerksamkeit geschenkt wurde als der Stadt. Schnell sahen die Museen in den »Volkstrachten«, besonders in der »faszinierenden Farbenpracht der Fest- und Feiertagstrachten als wahren Inbegriff von ›Volkskunst‹«42, ihre bevorzugten Sammelobjekte. Das war auch beim Bomann-Museum der Fall, obwohl Wilhelm Bomann neben der ländlichen Kultur auch eine etwas stiefmütterlich behandelte Städtische Abteilung und ganz zentral eine Ehrenhalle mit hannoverschen Uniformen in sein Konzept einschloss.43
41 | Röhrbein: Historisches Museum, S. 8. 42 | Christoph Daxelmüller: Quellenkritische Anmerkungen zur Trachtenforschung am Beispiel Franken. In: Bayerische Blätter für Volkskunde 8 (1981), Heft 3, S. 226-245, hier S. 226f. 43 | Ein ähnliches Museumskonzept findet sich bei Andrea Geldmacher: Die Wachsenburg-Sammlungen. Ein Museum für Heimat, Reich und Vaterland (Studien zur Volkskunde in Thüringen; Band 1). Münster u.a. 2009.
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Abbildung 2: Der 1907 eröffnete Volkstrachtensaal des Bomann-Museums mit dem »Hochzeitsanzug aus Kl. Eicklingen«, Bomann-Museum Celle
Das eingangs erwähnte Kleidungsensemble, mit dem Wilhelm Bomann 1903 nach Klein Eicklingen gefahren war, belegt, dass sich bereits im Vorgang des Sammelns, der musealen Dokumentation und dann auch in der Präsentation kaum authentisches Kleidungsverhalten abbildet, sondern vielmehr vestimentäre Wunschbilder und Idealisierungen von ländlicher Kleidung konstruiert wurden. So interessierte beim Sammeln nicht das tatsächliche ländliche Kleidungsverhalten,44 sondern es wurden die festtäglichen ›Prachtstücke‹ gesucht. Fortan assoziierte man ländliche Kleidung mit grellen Farben, kunstvollen textilen Fertigkeiten und skurrilen Formen, sozusagen mit einer ›Gegenästhetik‹ zur Moderne. Die diesem einseitigen Blick entsprechend gesammelten Kleidungsstücke wurden in den meisten Fällen unzureichend dokumentiert, so dass ihr Weg ins Museum vielfach nicht rekonstruiert werden kann. Fehlende Provenienzen und abgesicherte Datierungen stellen bis heute ein Problem dar. Anhand der zur Verfügung stehenden Quellen lässt sich lediglich belegen, dass der abgebildete »Männliche Sonntagsanzug« mit dem Dreispitz laut des Jahresberichtes des Vaterländischen Museums Celle 1898/99 als »vollständige Volkstracht«, nämlich eine »männliche aus Klein-Eicklingen, ein sogenannter Hochzeitsanzug aus dem Jahre 1827«45 ohne Nennung einer bestimmten Provenienz46 44 | Bis heute fehlt eine wissenschaftliche Aufarbeitung des alltäglichen Kleidungsverhaltens des 19. Jahrhundert. 45 | Jahresbericht des Museumsvereins in Celle. Celle 1898/99, Anlage B, S. 18. 46 | StA Celle, C 29, 22-1 Rechnungs- und Haushaltsangelegenheiten, Bl. 10, 29.9. 1898 Auflistung der Auslagen von Bomann im Jahr 1898 u.a. »Verschiedene Nationaltrachten Kl. Eicklingen 7,50 M«. Im Zugangsbuch findet sich für 1898 kein Eintrag.
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erworben wurde. Zwei Jahre später schrieb der Vorstand des Vaterländischen Museums an den Eicklinger Gutsbesitzer von der Wense in Wien: »Eure Excellenz werden mit Interesse vernehmen, dass wir neuerdings auch aus den zu Euer Excellenz Familienbesitze gehörenden Dorfe Kl. Eicklingen verschiedene kulturhistorisch werthvolle Trachten aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erwerben konnten. Darunter befindet sich der Hochzeitsanzug des 1827 verheiratheten Wilhelm Kammann. Derselbe besteht aus hellblauem langem Rock von Wollfries mit kunstvoll besponnenen seidenen Knöpfen, rother Wollweste mit Messingknöpfen und gelben wildlederner Kniehose; dazu ein sogenannter Dreimaster, dann lange blaue Strümpfe und Schnallenschuhe. Männertrachten früherer Zeiten sind im allgemeinen sehr selten, sodaß dieser Erwerb als ein besonders erfreulicher bezeichnet werden darf. Eine zweite Männertracht war es uns möglich aus verschiedenen Einzelerwerbungen zusammen zu stellen. Diese ergänzt Erstere in äußerst willkommener Weise dadurch, dass an Stelle des Rockes eine kurze hellblaue Jacke von Wollfries mit weißen Metallknöpfen tritt und auch die Weste in Farbe und Knöpfen abweicht. Als Kopfbedeckung kommt hier auch die alte biedere weiße Zipfelmütze zu altem Rechte. Vorbesitzer dieser Einzelstücke waren: Aug. Schumacher, Heinr. Sander, Hans Heinr. Meyer und Louis Pröve, sämmtlich in Kl. Eicklingen.« 47
Der Hochzeitsanzug wurde später zusammen mit dieser zeitgleich »aus verschiedenen Einzelerwerbungen« zusammengestellten und gemeinsam mit weiteren Frauentrachten als Gesamtensemble im Volkstrachtensaal des 1907 eröffneten Museums in einer großen Vitrine als »Volkstracht aus der Celler Umgebung« auf einer Figurine mit Porträtkopf präsentiert. Allerdings war nun laut Inventarliste die im Brief erwähnte gelbe wildlederne Kniehose einer kurzen schwarzen Hose gewichen, und die rote Weste – nach nicht auffindbarem Original neu angefertigt – genauso wie die Schnallenschuhe ergänzt.48 In der imposanten Präsentation als »markige Mannesgestalt mit dem charaktervollen Kopfe des niedersächsischen Eigenbauern […] mit dem Hochzeitsanzuge, den der Hofbesitzer Kammann in Klein-Eicklingen 1827 auf seiner Hochzeit getragen«49 hatte, stammten letztlich nur der lange blaue Mantel und der Dreispitz aus dem erworbenen Konvolut.
47 | Archiv BMC, Ordner A-G. 48 | »Männl. Hochzeitsanzug. Figur mit Poträtkopf. Langer blauer Rock mit posamentären gestickten Knöpfen; kurze schwarze Hose. Rote Weste (ergänzt). Rotes Halstuch; Dreispitz. Schnallenschuh (ergänzt) Pfeife und lederner Tabaksbeutel. Kl. Eicklingen, Hofbesitzer Kammann«. Archiv BMC, Keetz-Liste, Nr. 136. 49 | Paul Jahncke: Führer durch die Sammlungen des Vaterländischen Museums in Celle. Celle 1908, S. 12.
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In den letzten Jahren hat intensive Forschungsarbeit zur Herkunfts- und Präsentationsgeschichte von Trachtensammlungen belegt, dass bei der Präsentation von ›Tracht‹ vielfach dem »vermeintlich Typischen […] Vorrang vor der Realität« gegeben wurde.50 Auch bei den Figurinen im Trachtensaal des Bomann-Museums konnte bei der Inventarisierung anlässlich der Auskleidung der alten »Trachtenfigurinen« 1988/89 nachgewiesen werden, dass die meisten »historischen Ensemblebildungen aus Einzelstücken unterschiedlicher Provenienz« zusammengefügt und auch durchaus Repliken darunter waren.51 Eine Praxis, die zur damaligen Zeit durchaus gängig war.52 Erstaunen muss angesichts dieser Erkenntnis, dass von den 1907 im »Volkstrachtensaal« gezeigten 28 Figurinenensembles in der neuen Dauerausstellung zur »Ländlichen Kleidung« im Bomann-Museum 1990 insgesamt 21 wieder Eingang fanden, wenn auch nicht unter kulturräumlichen Gesichtspunkten – wie im ehemaligen »Trachtensaal« –, sondern thematisch unter den neueren Fragestellungen der volkskundlichen Kleidungsforschung der 1980er Jahre.53 Ob der Mantel aus der Gegend um Celle, dessen Schnitt und Verarbeitung formtypisch dem englischen Reitkostüm (1745) oder der »Werthertracht« (1768) entspricht, eine Zweitverwendung erfahren hat oder gar aus dem Nachlass eines adeligen Gutes aus der Umgebung von Celle stammt, lässt sich aufgrund des Fehlens einer dezidierten Provenienz nicht sagen. Auch stilgeschichtliche und farbchemische Analysen während des Forschungsprojekts konnten seine Datierung in die 1820er Jahre nicht bestätigen. Der entsprechende Schnitt und auch die Farbe Blau für Männermäntel findet sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowohl auf Gemälden, wie auch auf Trachtengraphiken aus ganz Deutschland, so dass man davon ausgehen muss, dass es sich hier keinesfalls um eine regionalspezifische Kleidung handelt, sondern um zeitgenössische ländliche Kleidung.
50 | Selheim: Entdeckung, S. 32. 51 | Angelica Hack: Städtische und ländliche Kleidung. Zur neuen Dauerausstellung im Bomann-Museum in Celle. In Mitteilungsblatt Museumsverband Niedersachsen Bremen (1990), Heft 38, S. 79-84, hier S. 81. Vgl. auch die Auswertung der Bestände der beteiligten Museen des Trachtenprojekts der Universität Oldenburg (wie Anm. 7) Andrea Hauser/ Gerda Engelbracht: Vestimentäre Formen der Lüneburger Heide und des Wendlandes – Objekte, Bilder, Texte. In: Ellwanger/Hauser/Meiners: ›Trachten‹ in der Lüneburger Heide und im Wendland, S. 21-123. 52 | Siehe dazu auch Selheim: Entdeckung. 53 | Z.B. als Problematisierung des Unterschiedes von Festtags- und Sonntagskleidung (»Alle Tage ist (k)ein Sonntag«), die Rolle von ›Tracht‹ in der Werbung (»Ländlich, frisch und gut«), Herstellungs- und Vertriebswege, Trachtenpflege. Siehe dazu Andrea Hauser: Museale Fixierung.
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Abbildung 3: Knielanger Mantel aus graublauem Wolltuch, 1. H. 19. Jh.(?)(BM, B0365)
Da die blaue Farbe auch vor der Erfindung der Anilinfarben relativ billig herzustellen und mit ihr zu färben war, hatte sie sich im 18./19. Jahrhundert »zur bevorzugten Farbe der Kleidung ärmerer Schichten« entwickelt.54 Aquarelle, wie der »Einzug der heimkehrenden Sieger von Waterloo in Norden 1815« zeigen zugleich, dass bereits 1815 die männliche Kleidung durchaus vielfältig ausgebildet war.55 Es ist anzunehmen, dass Teile der männlichen Landbevölkerung sich tatsächlich zu einer gewissen Zeit so oder so ähnlich kleideten. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts finden sich blaue Männerröcke in den wenigen Inventarverzeichnissen der Lüneburger Heide56. Dies unterstützt die These, dass modische Entwicklungen auf dem Lande zeitverzögert ankommen. Ein besonderer regionaltypischer Stil, im Sinne von ›Tracht‹ ist anhand des »Hochzeitsanzuges von 1827« nicht auszumachen. Mit der kulturräumlichen Präsentation im Volkstrachtensaal sollte genau das jedoch suggeriert werden.
54 | Breuss, Susanne: »Die Farbe ist die Seele jeder Toilette«. Symbolik, Ästhetik und modischer Wandel der Kleiderfarben. In: Dies. (Hg.): Kleider und Leute. Bregenz 1991, S. 89-114, hier S. 93. 55 | Original im Heimatmuseum Norden. 56 | Vgl. Hauser/Engelbracht: Vestimentäre Formen.
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Abbildung 4: »Celle, Bomann-Museum Sonntagstrachten, 1. Hälfte 19. Jahrh., aus Klein Eicklingen, Kr. Celle«, Farbpostkarte, 1. H. 20. Jh. (nach 1931), BM
Aus dieser Bild- und Objektgeschichte lässt sich schließen, dass sowohl dem Sammeln wie auch den daraus resultierenden musealen Präsentationen vorgefertigte Bilder von ›Tracht‹ zugrunde lagen, die wiederum maßgeblichen Einfluss auf die Wahrnehmung der »Volkskultur« hatten.57 Dementsprechend vermerkte Bomann, als er nach seiner Teilnahme am Artländer Trachtenfest eine Liste von Kleidungsstücken verschickte, die er für sein Museum erwerben wollte: »Natürlich reflektiere ich in erster Linie auf Originale, bescheide mich schließlich jedoch auch mit getreuen Nachbildungen.«58 Gesammelt und präsentiert wurde nach vestimentären Idealvorstellungen von ländlicher Kleidung 57 | Vgl. auch Adriaan de Jong: Die Dirigenten der Erinnerung. Musealisierung und Nationalisierung der Volkskultur in den Niederlanden 1815-1940. Münster u.a. 2007. De Jong zeigt am Beispiel der ›Tracht‹ im Allgemeinen, des »Hindelooper Zimmer« im Arnheimer Museum im Besonderen wie ›Trachten‹ durch ihre Musealisierung der Nationalisierung dienten. Zur Musealisierung von Volkskultur siehe auch Anja Mede-Schelenz: Musealisierung, Volkskultur und Moderne um 1900 in Dresden. Die Sammlung zur ländlichen Kleidung des Vereins für sächsische Volkskunde. Leipzig 2013. 58 | Jutta Böning: Das Artländer Trachtenfest. Zur Trachtenbegeisterung auf dem Land vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Münster u.a. 1999, S. 271.
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des sammelnden Bürgertums. Durch die bildliche Tradierung – entweder in Form von Fotografien, oder in Form musealer Präsentationen – wurde ein gewünschtes Bild regionalspezifischer Kleidungsstile geschaffen und reproduziert. Damit wurde die »Herstellung von Bedeutung in der musealen Klassifizierung und Präsentation […] als adäquate Repräsentation mystifiziert […], so dass die Wirklichkeit der Sammlung selbst, ihre innere Ordnung, die besondere Geschichte der Herstellung des Objekts und seiner Aneignung verdrängt« wurde, wie James Clifford in seiner Beschreibung des Sammelns pointiert zusammenfasste.59 In dieser Hinsicht ist Sammeln ein zentraler Prozess westlicher Identitätsbildung60 und im Rahmen der Wissenschaftsgeschichte sowohl eine Form westlicher Subjektivität als auch ein sich wandelndes Konglomerat institutioneller Praktiken, die – getragen von einer besonderen sozialen Gruppe, hier dem männlichen Bürgertum – Auskunft über Motive und Konstruktionsweisen geben. Sammlungen, insbesondere Museen, vermitteln »die Illusion einer adäquaten Darstellung der Welt […], indem sie zuerst Gegenstände von ihrem jeweiligen Kontext (sei er kulturell, historisch oder intersubjektiv) abschneiden, und sie für ein abstraktes Ganzes ›stehen‹ lassen«.61 Diese Aussage von Susan Stewart fasst treffend den Prozess der Konstruktion einer ›Tracht‹ der südlichen Lüneburger Heide zusammen. Die Figurinen aus der Umgebung von Celle wurden später werbewirksam als Postkarten angeboten und machten auf diesem Wege die ›Tracht‹ der südlichen Lüneburger Heide und das Bomann-Museum als ihren wesentlichen Bewahrer auch überregional bekannt.62 Fixiert wurde damit auch der scheinbare Gegensatz zur Mode. Die Vermittlung eines statischen und recht normierten Bildes ländlicher Kleidung verleugnete, dass auch das, was in der Beobachtung als ländliche Kleidungsstile offenbar wurde, entweder »altertümliche Stilelemente aus früheren Mode-Epochen« umfasste oder aber Kombinationen »mit zeitgenössischen Modemerkmalen« darstellte. Denn »während des ganzen 19. Jahrhunderts und auch noch später standen die Trachten unter wechselndem modischen
59 | Susan Stewart: On Longing: Narratives of the Miniature, the Gigantic, the Souvenir, the Collection. Baltimore 1984, S. 162-165, zitiert nach James Clifford: Sich selbst sammeln. In: Gottfried Korff/Martin Roth (Hg.): Das historische Museum. Labor, Schaubühne, Identitätsfabrik. Frankfurt a.M. u.a. 1990, S. 87-106, hier S. 91. 60 | Ebd. 61 | Ebd. 62 | Die in Führern dargestellte Sammlung des Bomann-Museums bildete z.B. die Grundlage für das 1922 erschienene »Niedersächsische Trachtenbuch« von Wilhelm Peßler, die bis dato letzte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der ›Tracht‹ der Lüneburger Heide und des Wendlandes. Wilhelm Peßler: Niedersächsisches Trachtenbuch. Hannover 1922.
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Einfluß.«63 Und spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts, mit der Verbilligung modischer Waren sowie durch serielle Fertigung und eine gewisse Konfektionierung hatte die Landbevölkerung in Kleidungsgeschäften und Textilmagazinen der Landstädtchen auch das notwendige Angebot und die Möglichkeit, sich der Mode gemäß zu kleiden. Auch die angeblichen Bestandteile von ›Tracht‹ wie Tücher, Perlenstickereien etc. wurden nun industriell gefertigt und verbreitet.64 ›Tracht‹ ist daher in Wahrheit zeitgenössische Kleidung, in der bereits Elemente von Mode steckten. Genauso interessant wie die Dekonstruktion der nach wie vor wirksamen Bilder von ›Tracht‹ sind die dahinter stehenden Motive. Sie zeigen sich deutlich in der »zweiten Geschichte der Tracht«, ihrer Folklorisierung.65 Abbildung 5: Postkarte »Hannoversches Wendland – Bauerbier, Tanz«, 1. H. 20. Jh. (BM, B0405). Hinten rechts steht Carl Mente mit Pfeife
Tr achtenpflege und K anonisierung In Carl Mente, dem Dorfschullehrer, Kantor und Gründer des »Wendländischen Altertumsvereins« in Lüchow im Hannoverschen Wendland, fokussieren sich in besonderem Maße die folklorisierenden Bestrebungen von Erhal-
63 | Gabriele Mentges: Kleidung (ländliche Kleidungsstile/Tracht, Konfektion, in: Museum für Volkskultur in Württemberg. Außenstelle des Württembergischen Landesmuseums Waldenbuch Schloss (Museumsführer). Stuttgart 1990, S. 84- 89, hier S. 84. 64 | Vgl. Hauser/Engelbracht: Vestimentäre Formen. 65 | Bernhard Tschofen: Trotz aller Ungunst der Zeit. Anmerkungen zu einer zweiten Geschichte der Tracht in Vorarlberg. In: Barnay, Markus (Hg.): Kleider und Leute: Vorarlberger Landesausstellung 1991, Renaissance-Palast Hohenems, 11. Mai-27. Oktober 1991. Bregenz 1991, S. 323-356, hier S. 325.
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tung und Wiederbelebung vestimentärer Formen der Region.66 Seit seinem beruflichen Wechsel 1883 nach Rebenstorf sammelte er neben vor- und frühgeschichtlichen Ausgrabungen »wendische Trachten u. Geräte«, wie er sie nannte,67 und organisierte seit 1900 Aufführungen von Bildern in ›Tracht‹, gespielte Szenen, deren Drehbuch er größtenteils selbst verfasste. So wurde auf dem Lüneburger Bezirks-Lehrertag im April 1905 vom Lüchower Lokal-Lehrerverein unter Federführung Carl Mentes eine »Spinnstube«, »Das Bauerbier« (das ist ein traditionelles Erntefest) und »Ein wendischer Hochzeitszug«, »sämtlich in naturgetreuer Weise dargestellt«, um »die Eigenheiten der früheren Bevölkerung des Wendlandes vor die Augen« zu führen.68 Ein Jahr nach dem Trachtenfest in Scheeßel 1904, das die Trachtenbegeisterung in ganz Niedersachsen entfachte und auf dem auch das Wendland bereits mit einem Brautzug vertreten war,69 wurde diese Veranstaltung ein großer Erfolg. Die Beteiligten an den Aufführungen waren Bürger und Bürgerinnen Lüchows, in vorderster Front die Lehrerschaft. Die benötigten Kleidungsstücke wurden dazu zum Teil eigens gefertigt und gingen später in die Sammlung des Wendländischen Altertumsvereins als ›Trachten‹ ein.70 Diese Verkleidung des städtischen Bürgertums zeigt auf frappierende Weise, »wie sehr man sich in der Konstruktion des anderen, des Fremden, des eigenen kulturellen Selbst versichert.«71 66 | Vgl. ausführlicher Andrea Hauser: Von Hauben und Seidenbändern: Zur Geschichte der Trachtensammlung des Wendländischen Geschichts- und Altertumsvereins von 1905. In: Stephan von Welck (Hg.): Regionalgeschichte Hannoversches Wendland, Bd. 1. Lüchow 2012, S. 53-71 (leider Abb.-Errata S. 61). 67 | In Bezug auf die spezifische Tradition der Wenden. In: Carl Mente: Verzeichnis der früher im hannoverschen Wendlande gebräuchlichen Trachten und Geräte gesammelt für das Museum zu Lüneburg. Lüchow 1893. 68 | »Eine reichhaltige Ausstellung wendischer Trachten und Altertümer«. In: Zeitung für das Wendland (= Vorläufer der Elbe-Jeetzel-Zeitung) 27.4.1905. 69 | Vgl. dazu Werner Hartung: Konservative Zivilisationskritik und regionale Identität. Am Beispiel der niedersächsischen Heimatbewegung 1895 – 1919 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen; Band 35/Quellen und Untersuchungen zur allgemeinen Geschichte Niedersachsens in der Neuzeit; Band 10). Hannover 1991, bes. S. 249ff. 70 | Vgl. Rundlingsmuseum Wandlandhof Lübeln, Karteikarten des Wendländischen Altertumsvereins 1910, Nr. II 378-II 398. 71 | Mentges: Blicke, S. 189, in Beziehung zu Eberhard Berg/Martin Fuchs: Phänomenologie der Differenz. Reflexionsstufen ethnographischer Repräsentation Frankfurt a.M. 1999. Zur Verkleidung der StädterInnen in ›Tracht‹ siehe auch Geldmacher: Die Wachsenburg-Sammlungen, S. 226. Zu dem häufig vorhandenen Zusammenhang zwischen Sammeln und Vorführen siehe auch Marina Moritz: Ein Kleid für die Heimat. Zur Trachtenpolitik thüringischer Herrscherhäuser im 19. Jahrhundert [Ausstellungskatalog
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Neben dem Sammeln und Vorführen war Mente bemüht, das Wissen über die wendländische Kleidung festzuhalten und bildlich zu dokumentieren.72 Mit einer neunteiligen Serie von Kabinettfotografien »Nationaltracht im hannoverschen Wendlande«, dokumentierte er systematisch Anfang des 20. Jahrhunderts die ländliche Kleidung des Wendlandes zu bestimmten Anlässen und verschenkte diese Abbildungen an alle großen deutschen Museen. Abbildung 6: Postkarte »Kirchenanzug. Nationaltracht im hannoverschen Wendlande« und Postkarte »Hann. Wendland Festtracht«, 1. H. 20. Jh., (BM)
Für die dargestellten fünf Trauerstufen, den »Abendmahlsanzug« und den »Kirchenanzug« und die »Markt- und Tanzkleidung« standen je eine jüngere und ältere Frau Modell. In späteren Postkartenauflagen kamen eine »Erntetracht« und eine »Festtagstracht« hinzu. Letztere hatte interessanterweise in anlässlich der Sonderausstellung »Ein Kleid für die Heimat. Zur Trachtenpolitik Thüringischer Herrscherhäuser im 19. Jahrhundert«, 9. Mai-31. Oktober 2004 – zur 2. Thüringer Landesausstellung »Neu Entdeckt« – Thüringen, Land der Residenzen, Schloss Sondershausen, 15. Mai-3. Oktober 2004]. Thüringen 2004. 72 | Schon zu Zeiten seines kleinen Schulmuseums in Rebenstorf ließ sich ein »Teil der weiblichen Bevölkerung« von Lüneburger Museumsleuten »in den ausgelegten Trachten mit Farbstiften« zeichnen. Theodor Meyer: Aus meinen Erinnerungen an die ersten zwanzig Jahre des Museumsvereins für das Fürstentum Lüneburg. Niedergeschrieben zum 19. Februar 1922. (Abschrift Ulfert Tschirner), S. 7.
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der Ursprungsreihe den »Kirchgangsanzug« dargestellt, und der ursprüngliche »Anzug nach der Trauerzeit« war nun auf einer Doppelpostkarte zusammen mit einem »Einzelanzug« von 1898 zu »Tanz- und Markttrachten« geworden. In Mentes 1914 im Lüneburger Heimatbuch erschienenen Aufsatz »Das hannoversche Wendland«, in dem er sein Wissen über das Wendland zusammenhängend darstellte, finden sich diese Fotografien wieder.73 Darüber hinaus wird hier die wendländische Kleidung nach Anlässen und Alter noch stärker normiert dargestellt. Wurde bis dato nur nach Jung und Alt unterschieden, führte Mente nun die altersmäßige Differenzierung – bis 30 Jahre, nach dem 30., nach dem 40., nach dem 50. Lebensjahr – ein und setzte diese Altersstufen mit entsprechenden Farben und Materialien der Kleidungsstücke in Verbindung. Zu den wichtigsten Differenzierungsmerkmalen wurden hier die Hauben und Bänder. Es scheint so, dass Mente mit dieser kleinteiligen Systematisierung sein Expertentum in Sachen wendländischer Kleidung unter Beweis stellen wollte.74 Quellenmäßig lassen sich seine Festlegungen, z.B. die verschiedenen Stufen der Trauerkleidung, weder archivalisch noch durch historische Abbildungen belegen. Da sich aber im Sammlungsbestand des wendländischen Museums alle beschriebenen Haubenformen finden lassen, kann davon ausgegangen werden, dass sie tatsächlich getragen wurden. Ob allerdings in dieser sehr strikten Normierung, dies muss bezweifelt werden. Sicherlich gab es hier, wie Hermann Bausinger 1978 argumentierte, bereits die »grundsätzliche Möglichkeit der Auswahl sowie einen Spielraum der individuellen Variation innerhalb der Grenzen des durch den jeweiligen Anlaß vorgegebenen Typus.« 75 Das sehr starre und statische Raster der alters- und anlassbezogenen Kleidungsensembles für Frauen – die Männerkleidung blieb hier völlig ausgespart – entspricht einer spezifischen bürgerlichen Aneignungsweise der ländlichen Kultur, die schließlich eine Kanonisierung von kollektiven Normidealen zur Folge hatte. Mit den gespielten und fotografierten Trachtenbildern verlagert sich die Einbindung der ländlichen Bevölkerung in das bürgerliche Normennetz zunehmend auf das Feld der Folklorisierung.76 Sie hielten vor allem die ländlichen
73 | Carl Mente: Im hannoverschen Wendland. In: Otto Benecke (Hg.): Lüneburger Heimatbuch. Bremen 1914, S. 480-508, hier S. 491f. 74 | Dafür spricht auch sein Bestreben, die gebräuchlichen plattdeutschen Begriffe – z.B. »runn Mütz«, »Tömbänder«, »Goln Mütz«, »Koopdock« – zu sammeln und in die Terminologie der wendländischen Tracht einzuführen. 75 | Bausinger: Grundzüge, S. 225f. 76 | Mentges: Blicke, S. 198.
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Frauen in einer überkommenen Rolle fest und bestärkten damit die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere« der Moderne.77
D ie muse ale P r a xis der W issenschaf t Angesichts der gesellschaftlich-medialen Begeisterung um das Thema ›Tracht‹ zur Zeit der Jahrhundertwende 1900 muss es verwundern, dass ›Tracht‹ nicht zum grundlegenden Paradigma der sich damals an der Universität etablierenden jungen Wissenschaft Volkskunde wurde. Hier dominierte nach wie vor die philologische Seite, die Volkslied- und Volkserzählungsforschung. Beide Akteure jedoch, die Wissenschaftler und die Museumspraktiker, waren sich in ihrer Zuwendung zum Volk einig, was in ihren Augen vor allem in der bäuerlich-ländlichen Welt verkörpert und symbolisiert wurde. Dass die ›Tracht‹ dann später auch in der universitären Volkskunde zum Inbegriff dieser bäuerlichen Welt avancierte, war mehr der musealen Praxis als der wissenschaftlichen Reflexion geschuldet. Die prominente Rolle der musealen Praxis des Sammelns und die mit ihr verbundene Typologisierung bei der Erforschung ländlicher Kultur könnten erklären, warum in der volkskundlichen Kleidungsforschung über einen langen Zeitraum theoretische Überlegungen abwesend waren. Der ›Trachtenmarkt‹ und seine Ausformung als kultureller Hype des städtischen Bürgertums waren Phänomene einer Moderne, durch die mit der ›Kleidung der Anderen‹ in einem Prozess des ›Othering‹ die eigene Identität und Verortung hergestellt wurden. Im Angesicht der Modernisierung machten die Akteure in der Museums- und Heimatschutzbewegung den Raum bzw. die Region/das Land sowie auch Gender zu entscheidenden Ordnungsprinzipien. Dazu gehörte auch die Gegenüberstellung von ›Tracht‹ und Mode. Zugleich sind diese Aktivitäten ein Probehandeln auf dem Feld der Modernisierung. Das in ihr tätige Netzwerk der Akteure brachte unterschiedliche gesellschaftliche Felder zusammen: die bürgerlichen Städter trafen auf die Landbevölkerung, der Kleinstädter auf die Großstadt, der Akademiker auf den Laienwissenschaftler. Die Verknüpfung unterschiedlicher Interessen diente der Herausbildung eines bürgerlichen Grundkonsenses. Die daraus resultierende Praxis führte zu einer gewissen Epistemologisierung und Medialisierung von ›Tracht‹, welche die moderne Wissenschaft Volkskunde zentral prägen sollten. Der Siegeszug der so modellierten und konstruierten ›Tracht‹ im Museum und in der Heimatschutzbewegung fand erst in der kritischen volkskundlichen Reflexion der 1970er Jah-
77 | Karin Hausen: Die Polarisierung der ›Geschlechtercharaktere‹. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben. In: Sabine Hark (Hg.): Dis/Kontinuitäten feministischer Theorie. Wiesbaden 2007, S. 173-196.
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»Tracht« als Denkstil Zum Wissensmodus volkskundlicher Kleidungsforschung Lioba Keller-Drescher
Der Aufsatz geht von der bekannten These aus, dass es die Fixierung auf die »Trachten« war, welche die Etablierung einer volkskundlichen Kleidungsforschung behindert hat.1 Zur Präzisierung und Erweiterung dieser These wird er sich im Sinne der aktuellen Wissenschaftsforschung mit der Frage nach dem Denkstil und Wissensmodus volkskundlicher Kleidungsforschung befassen. Dabei werden in fünf Schritten Genese, Arbeitsweise und Wirksamkeit des »Trachtenparadigmas« erarbeitet. Das zielt auf die Historisierung der Forschungsansätze und auf die Analyse der Voraussetzungen und Folgen volkskundlicher Beschäftigung mit Kleidung vorwiegend unterbürgerlicher Bevölkerungsschichten.
1. Seit zirka zehn Jahren gibt es ausgehend von Süddeutschland neue Kostümierungsjahreszeiten: Die ›Dirndelisierung‹ des Herbstes und teilweise des Frühjahrs dehnt sich augenscheinlich aus. Würden in den ethnografischen Fächern noch Kartenblätter mit Verbreitungsgebieten kultureller Markierungen gezeichnet, so könnte man unschwer eine nach Westen und Norden vorrückende
1 | Schon früh bei Gitta Böth: Die Mode und die Volkskunde. Anmerkungen zum Umgang mit einem Begriff. In: Gitta Böth/Gabriele Mentges (Hg.): Sich kleiden (= Hessische Blätter für Volks- und Kulturforschung; Band 25) Marburg 1990, S. 11-22; auch aktuell bei Bernhard Tschofen: Similar Colours? Bekleidungskultur: Forschung, Sinn und Sache. In: Olaf Bockhorn/Helmut Eberhart/Dorothea Jo. Peter (Hg.): Volkskunde in Österreich. Bausteine zu Geschichte, Methoden und Themenfelder einer Ethnologia Austriaca. Innsbruck 2011, S. 177-212. E-Book: http://vio.volkskunde.org/ [Zugriff: 1.3.2013].
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Dirndl- und Lederhosengrenze nachweisen. Aber wir wissen es auch so: Tracht ist Trend und an Beobachter_innen fehlt es nicht.2 Wir wissen, dass es sich beim Phänomen Tracht um erfundene Traditionen handelt, wir wissen, dass der historische Kleidungsbestand uneinheitlich und von Zeitmoden beeinflusst war, wir wissen, dass das ländliche Leben eine Projektionsfläche für ein ›gutes Leben‹ war und ist. Wir wissen, dass der Begriff »Tracht« diese erfundenen, einheitlichen, hochsymbolischen Kleidungswelten konnotiert und deswegen nur zur Bezeichnung genau dieser Formen zu gebrauchen ist.3 Wir wissen, dass von solchen symbolischen Formen eine gewisse Faszination ausgeht, die allem wissenschaftlichen Wissen zum Trotz Wirkung entfaltet. Wir beobachten das und wir schreiben darüber. Wir beobachten es auch deshalb so genau, weil wir fachgeschichtlich mit einer Trachtenbegeisterung behaftet sind, die den wissenschaftlichen Blick auf (historische) ländliche Kleidung stark beeinflusst hat und es mancherorts immer noch tut.
2. Ein Beispiel: Warum wurden im Staatshaushalt des »Freien Volksstaates Württemberg« 1928 und 1929 je 1.800 Reichsmark für die Bearbeitung und Herausgabe des »Trachtenwerks« des Kunstmalers Theodor Lauxmann (1865-1920) bereitgestellt? Dabei wurde der Betrag im Haushaltskapitel des Landesdenkmalamtes, zu dem seit 1923 auch eine »Abteilung Volkstum« gehörte, eingestellt.4 Bei einem Gesamtetat der Abteilung von 54.000 RM, wovon 12.000 für die Erhaltung von Denkmälern und die Herausgabe von Publikationen vorgesehen waren, ist das ein durchaus hoher Betrag.5 Warum investiert ein 2 | Beispielhaft für diese Veröffentlichungen Simone Egger: Phänomen Wiesntracht. Identitätspraxen einer urbanen Gesellschaft; Dirndl und Lederhosen, München und das Oktoberfest. München 2008. 3 | Lioba Keller-Drescher: Die Ordnung der Kleider. Ländliche Mode in Württemberg 1750-1850. Tübingen 2003, S. 34. 4 | Vgl. Verhandlungen des Landtags des Freien Volksstaates Württemberg auf dem 2. ordentlichen Landtag in den Jahren 1924/28. Amtlich herausgegeben. Beilagen Bd. 2,6 1924/28, Stuttgart 1928. 5 | Lauxmann war Vorstand des Vereins zur Erhaltung der Volkstracht in Schwaben und Vorsitzender des Württembergischen Künstlerbundes. Er hat auch schon zu Lebzeiten Trachtenserien veröffentlicht. Seine als »Trachtenwerk« betitelten Sammlungen wurden seit Längerem mit Unterstützung anderer für eine Veröffentlichung vorbereitet. Mehrfach wurde vergeblich versucht, dafür Geld einzuwerben. So zum Beispiel bei der Württembergischen Kommission für Landesgeschichte im Jahr 1905. Vgl. StAL E 216/ Bü 267.
»Tracht« als Denkstil
Land knapp zehn Jahre nach Kriegsende und Revolution in einer Zeit äußerst knapper Mittel in so ein Projekt? Diese Frage ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht einfach zu beantworten, weil entscheidende Unterlagen wohl bei der Auslagerung der Bestände in den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs verloren gingen. Erkennbar ist aber die Hochschätzung dieser als volkskundlich zu bezeichnenden Wissensbestände, die von der »Abteilung Volkstum« in der Zwischenkriegszeit angesammelt und betreut wurden. Das volkskundliche Interesse allgemein richtete sich verstärkt seit der Zeit um 1900 auf Themen einer vergangenen ländlichen Lebensweise. Schon davor hatte das Sammeln der Überreste und »Überlebsel« (Edward. B. Taylor) historischer Kulturen begonnen, das nun verstärkt angegangen wurde. Große und kleinere Sammlungsunternehmen entstanden, ihre Programme und Anleitungen zirkulierten und wurden vielfach wieder aufgelegt. Manche konnten in der Zeit nach 1900 auch institutionalisiert werden wie zum Beispiel die Flurnamensammlungen, die »Sammlungen volkstümlicher Überlieferungen« und nicht zuletzt der »Atlas für Volkskunde«.6 Wir wissen, dass die Moderne von Rückbezüglichkeiten begleitet ist, die grob betrachtet antimodern erscheinen und kompensatorisch auf die verunsichernden Erfahrungen der Moderne wirken sollten. Volkskunde stellt, wie von Birgit Johler herausgearbeitet, dem freudschen »Unbehagen in der Kultur« ein »Behagen« entgegen, das sie mit den Themen und Gegenständen einer behagenden und behausten Kultur herstellt.7 Für Birgit Johler geschah das in der Errichtung des Wiener Volkskundemuseums und den darin stattfindenden kulturellen Praktiken angewandter Volkskunde wie Erzählen, Tanzen, Singen etc. Das kann man sicher auch auf die volkskundlichen Vereinsbildungen und Museumsgründungen in Deutschland beziehen. In dieses Umfeld gehören auch die Trachtensammlungen und die Trachtenpflege als angewandte Volkskunde. Etwas, das man einfach als Nostalgie abtun könnte. Damit unterschätzt man das Ganze aber, wie schon etliche Arbeiten nachweisen konnten.8 Das württembergische Beispiel weist in Richtung eines politischen Engagements
6 | Vgl. Lioba Keller-Drescher: Sammeln, Horten und Verhandeln – der Wissensschatz als Ressource. In: Reinhard Johler u.a. (Hg.): Kultur_Kultur. Denken. Forschen. Darstellen. Münster u.a. 2013, S. 122-130. 7 | Vgl. Birgit Johler: Behagen in der Kultur. Museologische Praktiken des Museums für Volkskunde im Wien der 1930er-Jahre. In: Reinhard Johler u.a. (Hg.): Kultur_Kultur. Denken. Forschen. Darstellen. Münster u.a. 2013, S. 131-141. 8 | Aktuell dazu und in Ergänzung zum Text von Birgit Johler vgl. Magdalena Puchberger:“Erlebnis-Sphäre« Volkskunde. Das Museum für Volkskunde in Wien als Ort ideologischer Praxis. In: Reinhard Johler u.a. (Hg.): Kultur_Kultur. Denken. Forschen. Darstellen. Münster u.a. 2013, S. 142-151.
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für die Erhaltung und Kanonisierung von Elementen dessen, was man als traditionelle Volkskultur im Sinne von ›Volkstum‹ aufgefasst hat.
3. Tracht gehört von Anfang an fest in den volkskundlichen Kanon und die Beschäftigung mit ihr gehört mit mehr oder weniger Intensität zum Grundbestand volkskundlicher Wissenspraxis. Gitta Böth hat schon in den 1980er Jahren deutlich darauf hingewiesen, dass es einerseits genau diese Orientierung war, die lange verhinderte, dass Volkskunde sich zur Kleidungsforschung entwickeln konnte, obwohl sie eigentlich methodisch dafür prädestiniert gewesen wäre,9 und dass insbesondere der Trachtbegriff10, und weiter gedacht: das Konzept von Tracht, ein Hindernis war. Volkskunde hat dabei die Trachten nicht erfunden, aber auch nicht gefunden, sie hat sie sozusagen geerbt. Sie gehörten schon zum Gesamtpaket thematischer Orientierung (früher Kanon genannt), das in die neu entstehende Volkskunde übernommen wurde. Wie auch bei anderen zum Kanon gehörigen Themen so gilt auch beim Thema Tracht, dass es schon eine durchaus gefestigte Vorstellung gab, was sie sei und wie sie zu erkunden sei, als die Volkskunde begann, sich mit ihr systematischer zu beschäftigen. Schließlich war das Thema seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in vielfacher Art vorhanden. Was noch fehlte, war eine als wissenschaftlich einzustufende methodische Bearbeitung.11 Eine wissenschaftsförmige Praxis begann sich zwar in den statistischen Erhebungen des frühen 19. Jahrhunderts langsam einzuüben, nicht aber in den Darstellungsformaten. Als Teil des Kanons und als Gegenstand der Suche nach angemessenen methodischen Verfahren ist sie nach der einschlägigen Zeitschriftengründung (1891) auch immer wieder Thema in der Zeitschrift des Vereins für Volkskunde. Ergänzend muss bemerkt werden, dass dort der Bereich Kleidung nicht besonders ins Gewicht fällt, auch wenn sich in den Registern ein paar Einträge finden. In der Volkskunde galt lange die Trias von Wort, Bild, Sache. Die materielle Kultur rangierte dabei nach der geistigen und das Bild nahm eine Zwischenstellung ein. Bei den größeren Beiträgen findet man daher erst 1906 einen über die Volkstrachten der Insel Röm, 1908 den von Luise Gerbing über die »Thüringer Volkstrachten«, 1910 Max Bartels mit »Deutsche Volkstrachten«, 1911 die »Volkstracht des Rieses« von Ludwig 9 | Vgl. Gitta Böth: Kleidungsforschung. In: Rolf Wilhelm Brednich (Hg.): Grundriss der Volkskunde. Berlin 1994, S. 211-228, hier S. 211f. 10 | Vgl. ebd., S. 220. 11 | Dazu auch Vera Deißner: Die Volkskunde und ihre Methoden. Perspektiven auf die Geschichte einer »tastend-schreitenden Wissenschaft« bis 1945. Mainz 1997.
»Tracht« als Denkstil
Mussgnug und schließlich 1912 Karl Spiess’ »Zur Methode der Trachtenforschung«.12 Daneben stehen thematische Rezensionen von z.B. Otto Lauffer13 und kleinere Beiträge. So auch 1912 die Rezension von Rose Julien über Karl Spiess’ »Die Deutschen Volkstrachten« von 1911.14 Hier sind durchaus auch Auseinandersetzungen deutlich herauszulesen, die meist im Stil des Argumentierens für die eigene Arbeit und gegen die anderer stattfindet. Das Interesse am Thema Tracht wird nicht eigentlich hinterfragt. Einem Beitrag von 1910 kann man aber entnehmen, dass es außerhalb des volkskundlichen Kernmilieus durchaus hinterfragt wurde. Es handelt sich um den postum erschienen Beitrag »Deutsche Volkstrachten« von Max Bartels.15 Bartels (1843-1904) war Berliner Chefarzt und Sanitätsrat und gehörte zum Kreis der Berliner Anthropologischen Gesellschaft und des Vereins für Volkskunde und vor allem zum Vorstand des »Museums für deutsche Volkstrachten und Erzeugnisse des Hausgewerbes«.16 Er äußert sich ausgehend von der Sammlungstätigkeit des Museums zum Stellenwert der Trachten. Bartels verfolgte mit seinem Aufsatz mehrere Ziele, zum einen soll dargelegt werden, dass es sich beim Berliner Museum nicht um ein Trachtenmuseum handle und dass es andererseits dennoch sinnvoll sei, Trachten zu sammeln und dass es drittens überhaupt Trachten gebe. Alle drei Punkte waren von einer nicht näher bestimmten Gruppe von Gegnern, unter ihnen »Männer, denen eine Sachkenntnis nicht abzusprechen war«, aufgebracht worden.17 Bartels kämpfte an drei Fronten. Es ist von heute aus unklar, wer sich als Gegner formierte, man kann sich aber denken, dass das zu den Punkten gehört, die in diesem Zusammenhang noch geklärt werden müssten.18 12 | Alle in der Zeitschrift des Vereins für Volkskunde, Berlin: M. C. Dahl: Die Volkstracht der Insel Röm, 16 (1906), S. 167-170; Luise Gerbing: Die Thüringer Volkstrachten, 18 (1908), S. 412-425; Max Bartels: Deutsche Volkstrachten, 20 (1910), S. 241-249; Ludwig Mussgnug: Die Volkstracht des Rieses, 21 (1911), S. 341-344; Karl Spiess: Zur Methode der Trachtenforschung, 22 (1912), S. 134-156. 13 | Z. B. Otto Lauffer: Neue Forschungen über Hausbau und Tracht in Deutschland. In: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 12 (1902), S. 360-368, hier S. 366-368. 14 | Die Rezension von Rose Julien über Karl Spiessʼ »Die Deutschen Volkstrachten« (1911). In: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 22 (1912), S. 102-105. 15 | Bartels: Deutsche Volkstrachten. 16 | 1910 geht das Museum an die staatliche Kulturverwaltung und die Schwerpunkte ändern sich, vgl. Heidi Müller: Die Sammlungskonzeption des Museums für deutsche Volkskunde von der Gründung 1889 bis zum ersten Weltkrieg. In: Jahrbuch der Berliner Museen Bd. 34. Berlin 1992, S. 185-194, hier S. 185. 17 | Bartels: Deutsche Volkstrachten, S. 241. 18 | Als Quelle können die »Mittheilungen aus dem Museum für deutsche Volkstrachten und Erzeugnisse des Hausgewerbes« dienen, die von 1897-1904 in Berlin erschienen
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Lioba Keller-Drescher »Wenn wir nun finden, dass sich in einem ländlichen Gebiete die Einwohner in bezug auf die Form, die Farbe und die Zusammenstellung der Kleidungsstücke in gleichmässiger und übereinstimmender Weise tragen, dass diese Tracht nicht der schleunig wechselnden Mode unterworfen ist, sondern seit langen Jahrzehnten oder selbst seit Jahrhunderten sich unverändert erhalten hat, dass sie von der in den Städten des Landes gebräuchlichen Tracht erheblich abweicht, so müssen wir sie unweigerlich als eine ländliche Volkstracht ansprechen. Da wir nun in verschiedenen Teilen Deutschlands Trachten dieser Art antreffen, so kann es keinem Zweifel unterliegen, dass es deutsche Volkstrachten gibt, und es muss billig wundernehmen, wie es in unserer reiselustigen Zeit noch Männer geben konnte, welche diese Tatsache bestreiten wollten. Sieht man, dass in einem Gebiete, in welchem eine Volkstracht gebräuchlich gewesen war, diese allmählich ausser Gebrauch gerät und durch internationale Fabrikware ersetzt und verdrängt wird, so ist es die allerhöchste Zeit, bevor die Komponenten der alten Tracht gänzlich der Vernichtung anheimgefallen sind, Proben davon als Belegstücke für die Heimatkunde zu retten und sie entsprechenden Sammlungen zur Erhaltung und Aufbewahrung zu überweisen. Anstatt Tadel und Vorwürfe einzutragen, sollte ein solches Vorgehen vielmehr als eine Bestätigung der Vaterlandsliebe und der Hochschätzung der Heimat Beifall und Anerkennung finden. Die Frage nach dem Alter der betreffenden Tracht, ob sie hundert, zweihundert oder noch viel längere Jahre in Gebrauch gewesen ist, steht erst höchstens in zweiter Linie, und auch durch ein geringes Alter büsst sie nichts von ihrer volkskundlichen Bedeutung ein.«19
Dieser Abschnitt beinhaltet fast alle Merkmale des Trachtenkonzepts. Herausheben möchte ich die von Bartels bearbeitete Frage, ob es überhaupt Trachten gibt, denn hier verläuft ein Hauptstrang seiner Argumentation. Im Eigentlichen geht es um die Frage, ob es sich bei den Trachten um ein eigenständiges Kleidungsphänomen handelt oder um Ableitungen von höfischen oder patrizischen Moden. Es gab also durchaus zu dieser Zeit volkskundlich Engagierte, welche die Existenz ländlicher Sonderkleidung, der Tracht, in Abrede stellten oder diese als ein »gesunkenes Kulturgut« einschätzten. Hans Naumanns umstrittene Pointierung dieser Kulturtheorie erschien erst 1921 bzw. 1922, aber die Richtung war schon gegeben, wie Anita Bagus in ihrem Beitrag zu Hans Naumann nachzeichnet.20 Diese Richtung wurde aber vom volkskundlichen sind. Mehr zu Max Bartels ist für die Dissertation von Franka Schneider, Berlin, angekündigt. 19 | Bartels: Deutsche Volkstrachten, S. 242. 20 | Vgl. Anita Bagus: Hans Naumanns Jenaer Wirken im Kontext von Volkskunde und Germanistik. In: Reinhard Hahn/Angelika Pöthe (Hg.): »… und was hat es für Kämpfe gegeben.« Studien zur Geschichte der Germanistik an der Universität Jena. Heidelberg 2010, S. 179-214.
»Tracht« als Denkstil
Kernmilieu abgedrängt. Wir sehen genau dies auch in dem von Bartels geführten Diskurs über die »Deutschen Trachten«. Bartels bewegt sich mit seiner Argumentation in einem Denkkollektiv – warum sonst hätte man einen postumen Beitrag veröffentlichen sollen –, das einen bestimmten Denkstil ausbildet und andere Meinungen und Meinungsträger abdrängen will: Aufkommende Widersprüche werden eingeebnet oder geleugnet oder als irrelevant bezeichnet, Tatsachen werden umgedeutet und sogar erfunden. Eine sehr viel differenziertere Darstellung von Pfarrer und Volkskundler Karl Spiess (1873-1921) von 1912 »Zur Methode der Trachtenforschung« ändert daran im Wesentlichen nichts, obwohl er deutlich zu der von Bartels eigentlich nur missverstandenen Richtung derer gehört, die auf eine stärkere Historisierung und eine funktionalistische Deutung ländlicher Kleidung drängt. Am Grundprinzip »Tracht« und vor allem »Volkstracht« ändert sich dadurch nichts. Denn obwohl Spiess argumentiert, dass es keine Verbindung von Tracht und Stamm oder von Tracht und Religion und damit also keine ethnische und religiöse Deutung ländlicher Kleidung gebe, und er stattdessen Entwicklungsstufen von Kleidermoden und Anpassungen an Bedürfnisse ländlicher Lebensweisen als die Großkräfte ausmacht, kann er sich von der Vorstellung, dass es Trachten gibt, nicht lösen. Ebenso ist es bei Rose Julien und Luise Gerbing (1855-1927), die sich durchaus kritisch in die Diskussion mit einbringen. An der Grundannahme, dass Trachten als der Normalzustand historischer ländlicher Kleidung existiert haben oder noch vorhanden seien, halten auch sie fest. Obwohl sie eine differenziertere Sicht auf dieses Feld haben als Bartels, verbleiben sie in diesem Denkstil.
4. Hans-Jörg Rheinberger arbeitet in seiner Einführung in die historische Epistemologie heraus, dass Denkstil und Denkkollektiv auf die soziale Komponente der Wissenschaft im Sinne einer Formierung von Wissen und Akteuren hinweisen und dass dem Denkstil das Prozesshafte, die Historizität des wissenschaftlichen Wissens und die Art und Weise ihrer Erzeugung innewohnen.21 Andersherum gedacht, lassen sich über die Identifizierung eines Denkstils auch die zeitliche und räumliche Geltung sowie die Praktiken der Herstellung von darin geltendem Wissen und seinen Protagonisten betrachten. Von daher
21 | Vgl. Hans-Jörg Rheinberger: Historische Epistemologie. Zur Einführung. Hamburg 2007.
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hat diese Theorie immer noch eine hohe Relevanz für die Wissenschaftsforschung.22 Ludwik Fleck, der das Konzept von Denkkollektiv und Denkstil entwickelt hat, macht aber auch darauf aufmerksam, dass Denkstile nach Auflösung des Denkkollektivs noch lange nachwirken können (»Beharrungstendenz«).23 Was könnte im Falle der Geschichte volkskundlicher Kleidungsforschung mithilfe dieser Wissenschaftstheorie sichtbar gemacht werden? Ich meine, es sind in diesem Zusammenhang folgende Fragen von Interesse: Wie kommt es zu diesem Denkkollektiv, was sind seine Gegenstände, wie wirkt der Denkstil gegebenenfalls nach und was resultiert daraus für den Wissensmodus volkskundlicher Kleidungsforschung? Wie eingangs schon erwähnt, handelt es sich bei den Trachten sozusagen um ein ererbtes Gut, das man in volkskundliches Wissen integriert hat, als es darum ging, die Volkskunde zu entwickeln und zu etablieren. Drei ›Erbschaften‹ fließen der Volkskunde hier zu: 1. Das aus der Vorstellung von »Guter Policey« und in höfischer Kultur entwickelte Konzept der idealen Untertanen in regional und sozial unterschiedener typologischer Kleidung. 2. Die Themen und Methoden der wissenschaftsförmigen Reise- und Staatsbeschreibungen und der sogenannten Behördenforschung. 3. Die Sammlungsinitiativen aus den germanistisch-kulturwissenschaftlichen Interessen, die von Jacob Grimm ausgehend über die Sprachforschung (»Wörter und Sachen«) und die Sammlungen zu volkstümlichen Überlieferungen zu zahlreichen Fragebogen- und Materialsammlungen geführt haben. Diese drei ›Erbschaften‹ könnte man auch als zeitlich hintereinander gelagerte Initiativen ansehen, die aufeinander auf bauen. Das ist zum Teil richtig. Sie bringen aber jeweils Spezifika mit ein, die in der sich als Wissenschaft etablierenden Volkskunde um 1900 endgültig amalgamieren und mit neuen Konzepten angereichert werden. So wird aus den älteren Begriffen »National-Tracht« und »National-Sitten und Gebräuche« (»national« bezog sich meist auf einen Herrschaftsbereich, nicht auf ethnisch motivierte Unterscheidungen) das Konzept von Volkstracht und Volkstum. Dabei werden die Bilder und Texte und damit die Konstruktionen aus der Formierungsphase um 1800 zu Quellenmaterial für die Beschäftigung mit historischer ländlicher Kleidung im ausgehenden 19. Jahrhundert. Hier werden dann
22 | Ein Plädoyer für die überragende Bedeutung Flecks für Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsforschung halten Sylwia Werner und Claus Zittel in Sylvia Werner/Claus Zittel: Einleitung: Denkstile und Tatsachen. In: Dies. (Hg.): Ludwik Fleck: Denkstile und Tatsachen. Gesammelte Schriften und Zeugnisse. Berlin 2011, S. 9-38. 23 | Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Hg. von Lothar Schäfer und Thomas Schnelle. Frankfurt a.M. 1980.
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aus kulturellen Bildern, also zum Beispiel Trachtengrafiken und Beschreibungen, Belege für eine frühere Realität.24 Warum aber interessiert man sich überhaupt für die Kleidung ländlicher Menschen? Im Kern geht es darum, die Untertanen und später das Volk über ihre Kleidung zu charakterisieren und damit fassbar und verhandelbar zu machen. Es ging nie nur um die Kleidung, sondern die Kleidung ist die Oberfläche, über die verhandelt wird, was eigentlich verhandelt werden soll, nämlich gesellschaftliche Ordnungen. Um diese Funktionen der Kleidung in ihrer Entstehung zu verstehen, muss man noch einen Schritt zu den frühneuzeitlichen Kleiderordnungen zurückgehen, die nach den Bauernkriegen und nach dem Dreißigjährigen Krieg entstehen. Hier in den »Policey«-Ordnungen und den sie begleitenden Diskursen entstehen und verfestigen sich die gesellschaftlichen Ordnungspolitiken, zu deren visualisierender Rhetorik die Kleidungszeichen gehören.25 Sie leiten die frühen Trachtengrafiken und die Reisebeschreibungen an und gehen in die Nützlichkeitsdiskurse der Aufklärung über. Diese Kleidungssignalements, die symbolische Aufladung ländlicher Kleidung machen aber auch höfisches Spiel mit bäuerlichen und exotischen Verkleidungen möglich und münden in Bilder, die diese Vorstellungen transportieren und mit ihrer visuellen Energie auf Dauer stellen. Hier entstehen die Trachtengrafiken als idealtypische vestimentäre Differenzierungen ländlicher Bevölkerung. Es werden dabei räumliche, soziale und moralische Ordnungen hergestellt. Mode als Prinzip unaufhörlichen Wechsels ist in dieser Konstellation nur als Gegenbild denkbar und von daher übernimmt sie den Part des Gegenspielers in diesem Denkstil. Flankiert wird dies spätestens seit Ende des 18. Jahrhunderts von Reisebeschreibungen, die diesen Bildern die Beschreibungen nachliefern und nach 1800 in die behördlich organisierte Staatsbeschreibung überführen. Deren Wissensproduktion wird von Fragebogenerhebungen und Beschreibungsvorgängen begleitet, welche die entstehenden Ethnografien entscheidend vorprägen. Der Übergang in die eigentlich ethnografische Sammlung und Beschreibung ist fließend.26 Denn sie werden, wie ich am Beispiel Württemberg zeigen kann, als Zuarbeiten zur behördlichen Forschung lanciert und finanziert. Hier 24 | Vgl. Keller-Drescher: Die Ordnung der Kleider, S. 186-189. 25 | Vgl. ebd, S. 36-49. 26 | Weiterführend dazu: Lioba Keller-Drescher: »Auf diese Weise vorbereitet«. Praktiken des Wissensmanagements zwischen Volkskunde und Landesbeschreibung. In: Volkskundliches Wissen. Akteure und Praktiken (= Berliner Blätter; Band 50). Berlin 2009, S. 15-26; ebenso Reinhard Johler/Jurij Fikfak (Hg.): Ethnographie in Serie. Zu Produktion und Rezeption der »Österreichisch-ungarischen Monarchie in Wort und Bild« (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Ethnologie der Universität Wien; Band 28). Wien 2008.
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wird volkskundliches Wissen in staatliches, amtliches Wissen fest eingebunden und mit einem mindestens doppelten Nutzen versehen: für das Wissen des Staates, für die Entstehung der wissenschaftlichen Volkskunde und für ein Wissen über die Kultur des Volkes, das diesem zurückgegeben wird und von dort wieder in die Wissenschaft zurückfließen kann.27 Das gerade ist bei den Trachten der Fall: Das einmal formierte Wissen zirkuliert und wird immer wieder mit Realitätsverweisen aktualisiert. Es macht seine Entstehungszusammenhänge damit unsichtbar.
5. In der Rhetorik der frühen Volkskunde ist bei zahlreichen Projekten die Rede davon, dass es sich hierbei um eine »vaterländischen Sammlung« oder um ein »vaterländisches Unternehmen« handle. Im Bemühen um eine »vaterländische« Sache liegt die Schnittstelle für das Denkkollektiv der Volkskundler und keineswegs nur der Trachtenkundler_innen zum Staat. Oder auch zu einem imaginierten Vaterland im »langen 19. Jahrhundert«, denn ein geeintes Deutschland blieb politisch lange eine nicht zu erreichende Größe und war nach der Gründung des Kaiserreichs auch nicht das, was sich viele dabei kulturell und politisch gedacht und erhofft hatten und wofür sie zum Teil in den Befreiungskriegen und in der 1848er-Revolution gekämpft hatten. Süddeutschland zum Beispiel war großdeutsch und anti-preußisch eingestellt und musste sich 1871 mit einer Lösung arrangieren, die die politische Bedeutung der kleinen Territorialfürstentümer und Königreiche zunehmend einschränkte und für die Bürger kaum demokratische Beteiligungen bereithielt. Umso mehr wurde über die Beteiligung an kultureller Wissensproduktion Teilhabe angestrebt. Regionalität als Ordnungsprinzip und als Wissensraum haftete von daher der Volkskunde zumindest aus der südwestdeutschen Warte an. Das zeigt sich auch in den regionalen Gründungen der zahlreichen Vereinigungen und Vereine für Volkskunde. Das Regionalitätsprinzip entspricht durchaus auch der Stimmungslage in der Weimarer Republik 28 und wird nach der NS-Zeit 27 | Vgl. Lioba Keller-Drescher: Das Statistisch-topographische Bureau als Transaktionsraum ethnographischen Wissens. In: Gunhild Berg/Zsuzsanna Török/Marcus Twellmann (Hg.): Berechnen/Beschreiben. Praktiken statistischen (Nicht-)Wissens 17501850. Berlin 2015, S. 79-95. 28 | Vgl. Karl Ditt: Strategien regionaler Raumkonstruktionen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Gertrude Cepl-Kaufmann/Georg Mölich (Hg.): Konstruktionsprozesse der Region in europäischer Perspektive. Kulturelle Raumprägungen der Moderne. Essen 2010, S. 11-22.
»Tracht« als Denkstil
wieder aufgenommen. Das passt zur räumlich organisierten Wissensordnung über ländliche Kleidung im Trachten-Denkstil, wie sie in der Vorstellung von »Trachtenlandschaften« zum Ausdruck kommt. Ich habe an anderer Stelle schon darauf hingewiesen, dass volkskundliches Wissen dazu dienen kann, den staatlichen Raum kulturell zu füllen und dass es sich dadurch auch immer wieder an sich verändernde Staatsgebilde anpassen kann, ohne dass sich das Material dieses Wissens ändern müsste.29 Deshalb kann man mit den immer gleichen oder leicht veränderten kulturellen Bildern und Vorstellungen immer wieder andere Staatsräume füllen, so wie es die Trachtenbilder tun. Der Wissensmodus, also die Art und Weise, wie Wissen erzeugt, bearbeitet und angeordnet wird, den der Denkstil »Tracht« befördert hat, ist stark räumlich und auch ethnisch geprägt und hat wenig Sinn für soziale und zeitliche Bewegungen, so wie die Volkskunde insgesamt. Die Kostümkunde dagegen, entstanden als Hilfswissenschaft für verschiedene Künste, stellt neben der räumlichen auch eine idealtypische zeitliche Ordnung her. Sie hat aber eine ganz andere Zielrichtung, denn hier geht es einerseits um Datierungen (wie alt sind Gemälde?) und andererseits um Rekonstruktionen (Theaterkostüme, historische Festzüge etc.). Selbstverständlich ergeben sich z.B. in der historistischen Veranstaltung von Festzügen oder in den Kostümkunden wie bei Bruhn und Tilke30 auch große Überschneidungen, indem auf Vorlagen aus beiden Bereichen zurückgegriffen wird. Oder wie bei Friedrich Hottenroth31 und Albert Kretschmer32, die das Prinzip, aus alten Bildern wieder neue Bilder zu machen, für den Bereich der Volkstrachten angewendet haben und Tableaus unterschiedlichster Zusammenstellungen aus alten Vorlagen schufen,33 die wiederum zur Vorlage für die Sammeltätigkeit der volkskundlichen Mu29 | Lioba Keller-Drescher/Eberhard Forner/Karin Bürkert: Aspekte der Herstellung regionaler Nähe durch volkskundliches Wissen. In: Gisela Welz/Antonia DavidovicWalther/Anke S. Weber (Hg.): Epistemische Orte. Gemeinde und Region als Forschungsformate (= Notizen: die Schriftenreihe des Instituts für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Universität Frankfurt a.M.; Band 80). Frankfurt a.M. 2011, S. 125-142. 30 | Wolfgang Bruhn/Max Tilke: Das Kostüm-Werk. Berlin 1941. 31 | Friedrich Hottenroth: Deutsche Volkstrachten. 3 Bände. Frankfurt a.M. 18981902. 32 | Albert Kretschmer: Das große Buch der Volkstrachten. Leipzig 1870. Für Bartels Aufsatz wurden einzelne Bilder aus Kretschmer grafisch aufgearbeitet, sie gehen auf Blätter des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts zurück. 33 | Für den Bereich Württemberg vgl. Lioba Keller-Drescher: Nach der Natur gemalt oder abgekupfert? Bilder und Vorbilder ländlicher Kleidung. Das Beispiel Württemberg. In: Waffen und Kostümkunde. Zeitschrift der Gesellschaft für Historische Waffen- und Kleidungsgeschichte 45 (2003), Heft 2, S. 131-150.
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seen wurden und schließlich in die grafischen Sammlungen wanderten. Sie wurden aber auch als Vorlagen für Vereinstrachten genutzt. Die eingangs genannte Sammlung Lauxmann ist auch an solchen Interessenlagen orientiert. Beide Teilwissenschaften, Kostümkunde und Trachtenkunde, konnten so lange keine Kleidungsforschung sein, solange sie nur Konstruktionen und Repräsentationen abgebildet und weder Alltag noch Individuen in den Blick genommen haben, noch im Fall der Trachtenkunde die Prinzipien des modischen Wechsels akzeptieren konnten. Aber selbst dann, als diese in den Blick kamen, war das Trachtenprinzip noch lange am Wirken und gibt damit Ludwik Fleck recht in seiner Feststellung, dass Denkstile lange nachwirken. Am Bruch mit diesem Denkstil haben seit den 1980er Jahren für die Volkskunde/ Empirische Kulturwissenschaft/Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie in erster Linie Hermann Bausinger, Wolfgang Brückner, Gitta Böth und Christine Burckhardt-Seebass entscheidend gearbeitet.34 Es hat darüber hinaus wichtige Stationen in Form von Ausstellungen und Tagungen, Monografien und Aufsätzen gegeben. Und doch scheint die wissenschaftliche Dekonstruktion nicht auszureichen; die Energie, die das Trachtenkonzept auszustrahlen vermag, hält an, selbst wenn sich das wissenschaftliche Kollektiv von ihm verabschiedet hat.35 Von den Wissenschaften war Volkskunde die einzige, die sich mit der ländlichen Kleidung befasst hat, aber am Konzept »Tracht« hat sie nicht alleine gearbeitet, sondern es sich zu eigen gemacht und einen wissenschaftlichen Denkstil daraus entwickelt. Deshalb kann es auch nach einem Paradigmenwechsel in der Wissenschaft gesellschaftlich und kulturell wirksam sein. So wie das auch für andere Wissenschaften und deren Denkstile und Wissensformate der Fall ist. Die Denkstile und Denkkollektive wechseln sich auch innerhalb einer Wissenschaft ab und in der Volkskunde finden sich dafür noch mehr Beispiele, die man lohnenswerter Weise mit diesem Analyseinstrumentarium untersuchen sollte. 34 | Beispielhaft aufgezählt sind das: Hermann Bausinger: Zu den Funktionen der Mode. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 68/69 (1972/73), S. 22-32; Wolfgang Brückner: Mode und Tracht. Ein Versuch. In: Klaus Beitl/Olaf Bockhorn (Hg.): Kleidung – Mode – Tracht. Referate der Österreichischen Volkskundetagung 1986 in Lienz/ Osttirol. Wien 1987, S. 15-43; Gitta Böth: »Selbst gesponnen, selbst gemacht…« wer hat sich das nur ausgedacht? Trachtenforschung gestern – Kleidungsforschung heute. Begleitheft zur gleichnamigen Ausstellung. Cloppenburg 1986; Christine BurckhardtSeebass: Trachten als Embleme. Materialien zum Umgang mit Zeichen. In: Zeitschrift für Volkskunde 77 (1981), S. 209-226. 35 | Vgl. Lioba Keller-Drescher: Aus der Ornamental Farm in die Chanel-Scheune. Inszenierungen und Transformationen ländlicher Moden. In: Karen Ellwanger/Andrea Hauser u.a. (Hg.): »Trachten« im Wendland und in der Lüneburger Heide [im Druck].
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Es kommt also unter den Vorzeichen einer historischen Epistemologie darauf an, sich die Genese und die Art des Wissensmodus, aber auch die Wirkmechanismen des Trachtenkonzepts zu verdeutlichen. Vor allem ist aber abschließend noch einmal daran zu erinnern, dass man genau darauf achten muss, wann welche Begrifflichkeit für welches Phänomen eingesetzt wird. Dies gilt sowohl für die Analyse vorhandener Texte als auch für die Produktion neuer Texte. Denn Denkstile mögen durch Denkkollektive, deren geteilte Grundannahmen und den sozialen Zusammenhang ihrer Mitglieder geprägt sein, aber sie werden doch wesentlich durch Wörter und Texte distribuiert. Wer »Tracht« sagt und einfach nur ländliche (historische) Kleidung meint, hängt dem Denkstil weiter an. Begriffe sind immer bedeutungsvoll, sie transportieren Denkstile über große Strecken und ihre lange Geltung zeugt von einem machtvollen Konzept dahinter. Notwendigerweise muss sich volkskundlich-kulturwissenschaftliche Kleidungsforschung, verstanden als Teil der Wissenschaften der Mode, damit auseinandersetzen, welche Denkstile und Denkkollektive sie in historischer Perspektive ausgebildet hat und warum bestimmte Denkstile die Beschäftigung mit Mode verhindert haben. Die Analyse der historischen Bedingungen der Möglichkeit einer volkskundlich geprägten Kleidungsforschung ist zugleich Voraussetzung für die Klärung ihres gegenwärtigen Standpunktes und für die Entwicklung zukünftiger Konzepte für eine Wissenschaft der Mode.
L iter atur Bagus, Anita: Hans Naumanns Jenaer Wirken im Kontext von Volkskunde und Germanistik. In: Reinhard Hahn/Angelika Pöthe (Hg.): »… und was hat es für Kämpfe gegeben.« Studien zur Geschichte der Germanistik an der Universität Jena. Heidelberg 2010, S. 179-214. Bartels, Max: Deutsche Volkstrachten. In: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 20 (1910), S. 241-249. Bausinger, Hermann: Zu den Funktionen der Mode. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 68/69 (1972/73), S. 22-32. Böth, Gitta: »Selbst gesponnen, selbst gemacht…« wer hat sich das nur ausgedacht? Trachtenforschung gestern – Kleidungsforschung heute. Begleitheft zur gleichnamigen Ausstellung. Cloppenburg 1986. Böth, Gitta: Die Mode und die Volkskunde. Anmerkungen zum Umgang mit einem Begriff. In: Dies./Gabriele Mentges (Hg.): Sich kleiden (= Hessische Blätter für Volks- und Kulturforschung 1989; Band 1). Marburg 1989, S. 1122. Böth, Gitta: Kleidungsforschung. In: Rolf Wilhelm Brednich (Hg.): Grundriss der Volkskunde. Berlin 1994, S. 211-228.
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Brückner, Wolfgang: Mode und Tracht. Ein Versuch. In: Klaus Beitl/Olaf Bockhorn (Hg.): Kleidung – Mode – Tracht. Referate der Österreichischen Volkskundetagung 1986 in Lienz/Osttirol. Wien 1987, S. 15-43. Bruhn, Wolfgang/Tilke, Max: Das Kostüm-Werk. Berlin 1941. Burckhardt-Seebass, Christine: Trachten als Embleme. Materialien zum Umgang mit Zeichen. In: Zeitschrift für Volkskunde 77 (1981), S. 209-226. Dahl, M. C.: Die Volkstracht der Insel Röm. In: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 16 (1906), S. 167-170. Deißner, Vera : Die Volkskunde und ihre Methoden. Perspektiven auf die Geschichte einer »tastend-schreitenden Wissenschaft« bis 1945. Mainz 1997. Ditt, Karl: Strategien regionaler Raumkonstruktionen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Gertrude Cepl-Kaufmann/Georg Mölich (Hg.): Konstruktionsprozesse der Region in europäischer Perspektive. Kulturelle Raumprägungen der Moderne. Essen 2010, S. 11-22. Egger, Simone: Phänomen Wiesntracht. Identitätspraxen einer urbanen Gesellschaft; Dirndl und Lederhosen, München und das Oktoberfest. München 2008. Fleck, Ludwik: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Hg. von Lothar Schäfer und Thomas Schnelle. Frankfurt a.M. 1980. Gerbing, Luise: Die Thüringer Volkstrachten. In: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 18 (1908), S. 412-425. Hottenroth, Friedrich: Deutsche Volkstrachten, 3 Bände. Frankfurt a.M. 18981902. Johler, Birgit: Behagen in der Kultur. Museologische Praktiken des Museums für Volkskunde im Wien der 1930er Jahre. In: Reinhard Johler u.a. (Hg.): Kultur_Kultur. Denken. Forschen. Darstellen. Münster u.a. 2013, S. 131-141. Johler, Reinhard/Fikfak, Jurij (Hg.): Ethnographie in Serie. Zu Produktion und Rezeption der »Österreichisch-ungarischen Monarchie in Wort und Bild« (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Ethnologie der Universität Wien; Band 28). Wien 2008. Julien, Rose: Rezension über Karl Spiess’ »Die Deutschen Volkstrachten« (1911). In: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 22 (1912), S. 102-105. Keller-Drescher, Lioba: Nach der Natur gemalt oder abgekupfert? Bilder und Vorbilder ländlicher Kleidung. Das Beispiel Württemberg. In: Waffen und Kostümkunde. Zeitschrift der Gesellschaft für Historische Waffen- und Kleidungsgeschichte 45 (2003), Heft 2, S. 131-150. Keller-Drescher, Lioba: Die Ordnung der Kleider. Ländliche Mode in Württemberg 1750-1850. Tübingen 2003. Keller-Drescher, Lioba: »Auf diese Weise vorbereitet«. Praktiken des Wissensmanagements zwischen Volkskunde und Landesbeschreibung. In: Volks-
»Tracht« als Denkstil
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Verhandlungen des Landtags des Freien Volksstaates Württemberg auf dem 2. ordentlichen Landtag in den Jahren 1924/28. Amtlich herausgegeben. Beilagen Bd. 2,6 1924/28. Stuttgart 1928. Werner, Sylvia/Zittel, Claus: Einleitung: Denkstile und Tatsachen. In: Dies. (Hg.): Ludwik Fleck: Denkstile und Tatsachen. Gesammelte Schriften und Zeugnisse. Berlin 2011, S. 9-38.
Apartheid der Mode Eine symboltheoretische Revision der formalen Modesoziologie 1 Michael R. Müller
1905 formulierte Georg Simmel das modesoziologische Axiom der, wie er schreibt, »Gleichgültigkeit der Mode als Form gegen jede Bedeutung ihrer besonderen Inhalte«.2 Soll heißen, die Mode ist ein formales Geschehen, ein Wechsel von Stilen, Materialien, Geschmacksurteilen, worauf es aber ankommt, sind nicht etwa diese Stile, Materialien oder Urteile selbst, sondern ihr steter und verlässlicher Wechsel. Die Schwierigkeit dieses Axioms besteht darin, so meine erste These, dass es, seiner eigenen Erklärungslogik nach, zu einer tendenziellen Marginalisierung der Mode ausgerechnet durch die Modetheorie führt. »Mode ist«, so wird Hartmut Böhme 2009 schreiben, »inhaltsleer«, »zufällig«.3 Der langen, mehr als hundertjährigen wissenschaftlichen Konjunktur dieses Axioms ist das erste Kapitel des vorliegenden Aufsatzes gewidmet. Der dort umrissenen Kritik folgend, thematisiert dann das zweite Kapitel die materialen Ausprägungen einiger besonders auffälliger zeitgenössischer Moden bzw. Anti-Moden. Meine zweite These wird sein, dass sich in den symboltheoretischen Arbeiten Friedrich Nietzsches, Émile Durkheims und Victor Turners Ansätze finden, die eine materiale Analyse dieser Moden erlauben. In der Hyperbolik ihrer medialen Erscheinungsbilder weisen diese Moden, wie eine symboltheoretische Analyse zeigt, weit mehr Gemeinsamkeiten mit einem »dionysischen Kunstwerk«4 im 1 | Der vorliegende Beitrag entspricht mit geringfügigen Änderungen dem gleichnamigen Aufsatz in: sozialersinn 13 (2012), Heft 2, S. 275-297. 2 | Georg Simmel: Die Mode. In: Ders.: Jenseits der Schönheit. Schriften zur Ästhetik und Kunstphilosophie, ausgewählt und mit einem Nachwort von Ingo Meyer. Frankfurt a.M. 2008 (1905), S. 78-106, hier S. 82. 3 | Hartmut Böhme: Zeiten der Mode. In: Kunstforum International Bd. 197 (2009), S. 4983, S. 57f. 4 | Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. In: Ders.: Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen. (= Kritische Studienausgabe; Band 1). München 1999 (1872), S. 7-156, hier S. 26.
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Sinne der ästhetischen Theorie Nietzsches auf, als mit einem Formenrepertoire für innergesellschaftliche Distinktionskämpfe. Analytisch wird daher eine erweiterte gesellschaftstheoretische Beschrei bung der »Kulturbedeutung«5 von Mode notwendig: Weder ist Mode »immer Klassenmode«6, noch ist sie in ihren hyperbolischen Ausprägungen a priori politisch-emanzipativ. Vielmehr ist auch sie, so meine dritte These, zu jenen symbolischen Formen zu zählen, mit deren Hilfe Gesellschaften die (partielle) Infragestellung ihrer Ordnung gesellschaftlich organisieren.
J enseits der Ä sthe tik : D ie ›L ogik‹ der M ode Sowohl in der konkretistischen Lesart Mode=Kleidung als auch im weitläufigeren Verständnis von Mode als Phänomen ephemerer Geschmackswandlungen in Konsum, Kunst und Geistesleben spiegelt sich die von Helmuth Plessner als »exzentrische Positionalität« 7 gekennzeichnete Fähigkeit des Menschen wider, seine materiellen, gedanklichen und ästhetischen Hervorbringungen bewusst wahrzunehmen, zu kontrollieren und gesellschaftlich an sich wandelnden »expressiven Ordnungen« 8 auszurichten. Prinzipiell jedweder Selbstausdruck mag so in Hinblick auf komplexe wechselseitige Erwartungserwartungen immer wieder umgeformt werden. Letztlich, so konstatierte René König, sind die »Selbstdarstellung des Menschen in der Gesellschaft, seine Selbstbehauptung, innerlich wie äußerlich, […] von jener geheimnisvollen [weil sich immer wieder verselbständigenden; M.R.M.] Kraft abhängig, die wir mit dem schlichten Wort Mode bezeichnen«.9 Mode ist das genuine Produkt wechselseitiger Verhaltensorientierungen und doch zugleich auch ein fester, äußerer Bestandteil der diese Verhaltensorientierungen rahmenden »objektiven Kultur«10.
5 | Max Weber: Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher Erkenntnis. In: Ders.: Soziologie. Universalgeschichtliche Analysen. Politik. Hg. v. Johannes Winckelmann. Stuttgart 1973 (1904), S. 186-262, 202. 6 | Simmel: Die Mode, S. 80. 7 | Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie. Berlin 1975 (1928). 8 | Erving Goffman: Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. Frankfurt a.M. 1999 (1967), S. 15. 9 | René König: Macht und Reiz der Mode. Verständnisvolle Betrachtungen eines Soziologen. Düsseldorf, Wien 1971, S. 18. 10 | Georg Simmel: Philosophie des Geldes (= Gesamtausgabe; Band 6). Frankfurt a.M. 1995 (1900). S. 621 und 640f.
Apartheid der Mode
Dieser Dialektik entsprechend, sucht sich Mode – wie auch immer man die Frage nach ihrer Universalität11 beantworten mag – je nach historischer Situation und je nach gesellschaftlicher Lage unterschiedliche Ausprägungen. Drei der wissenschaftsgeschichtlich und gesellschaftsanalytisch markantesten Entwicklungen, mit denen sich die Modesoziologie dementsprechend konfrontiert sah und sieht, sind, in aller Kürze, die strukturelle Demokratisierung der Mode seit Beginn des 19. Jahrhunderts,12 die Genese qualitativ neuer, teilweise als »bubble up«-Phänomene bezeichneter Modeformen und -ästhetiken in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts13 sowie die gegenwärtig fortschreitende Medialisierung der Mode, unter anderem infolge des Bedeutungszuwachses von Mode-Blogs und Streetstyle-Ästhetiken.14 Rekapituliert man vor diesem Hintergrund den Stand der Forschung, so ist zu konstatieren, dass gerade auch 11 | Vgl. König: Macht und Reiz der Mode. 12 | Während die europäischen Kleiderordnungen des Mittelalters auf etwaige Versuche des städtischen Bürgertums, vestimentär-habituelle Darstellungsformen des Adels zu übernehmen, äußerst restriktiv reagierten, so dass sich der Wechsel der Moden auf gesellschaftliche Oberschichten konzentrierte (Liselotte C. Eisenbart: Kleiderordnungen der deutschen Städte zwischen 1350 und 1700. Frankfurt a.M. 1962; Heide Nixdorf/ Heidi Müller: Weiße Westen – rote Roben. Von den Farbordnungen des Mittelalters zum individuellen Farbgeschmack. Berlin 1983), beobachtete u.a. Simmel ein gesellschaftliches, nunmehr auch den Mittelstand betreffendes »Umsichgreifen der Mode« (Simmel: Philosophie des Geldes, S. 640) seit dem beginnenden 19. Jahrhundert mit der Folge eines sich gesamtgesellschaftlich beschleunigenden Modewandels (vgl. Angela Borchert/Ralf Dressel (Hg.): Das »Journal des Luxus und der Moden«. Kultur um 1800. Heidelberg 2004). 13 | Der zumeist als Ende einer von ›oberen‹ sozialen Schichten ausgehenden Klassenmode verstandene Beg riff des »bubble-up« (Ted Polhemus: Streetstyle: From Sidewalk to Catwalk. London 1994; vgl. Elena Esposito: Die Verbindlichkeit des Vorübergehenden. Paradoxien der Mode. Frankfurt a.M. 2004, S. 22; Yuniya Kawamura: Fashion-ology. An Introduction to Fashion Studies. Oxford, New York 2005, S. 105) bezieht sich unter anderem auf die veränderten Entwurfs- und Vertriebstechniken des prêt-à-porter (hierzu insbesondere Pierre Bourdieu/Yvette Delsaut: Die neuen Kleider der Bourgeoisie. In: Kursbuch Bd. 42 (1975), S. 172-182), auf die ideelle Aufwertung von Alltagskleidung (»casualwear«) sowie auf die mediale Nobilitierung verschiedener Ästhetiken des Hässlichen (»mode destroy«, »heroin chic« etc.). 14 | Die hier entstehenden, soziologisch noch kaum untersuchten Formen und Inhalte von Mode treten nicht nur in Konkurrenz zu bewährten Modeinstitutionen (Zeitschriften, Modehäuser, klassische Modefotografie), sondern stellen kommunikativ und ästhetisch neuartige Zentren – »sites« im soziologisch-analyt ischen Sinne Anselm Strauss’ – der gesellschaftlichen Emergenz von Mode dar. Anselm Strauss: Social Worlds and Spatial Processes. An Analytic Perspective. In: W. Russell Ellis (Hg.): A Person-Environment Theory Series. (= The
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Arbeiten jüngeren Datums angesichts dieser und ähnlicher Entwicklungen kaum zur empirischen »Falsifikation« (Popper) tradierter modetheoretischer Grundannahmen neigen. Dass die »bis heute grundlegenden Thesen der [Mode-]Soziologie« in der Tat »spätestens Anfang der 1930er Jahre publiziert« waren15, tut der potentiellen Geltung derselben hierbei noch keinen Abbruch. Problematisch ist allerdings, wie Cornelia Bohn16 anmerkt, dass mit mittlerweile klassischen modesoziologischen Variablen, wie denen der »Nachahmung« (Tarde), des »demonstrativen Konsums« (Veblen) oder der »Konkurrenz« (Sombart), kaum eines der oben genannten jüngeren ästhetischen und medialen Phänomene »in seiner Besonderheit beschrieben«17 wäre. Und mehr noch, was einen neuerlichen analytischen Blick auf Mode an dieser Stelle perspektivisch erschwert, ist das bereits erwähnte, seit Simmels Modesoziologie geradezu selbstverständlich erscheinende Axiom der Indifferenz der Mode gegenüber ihren Inhalten. Simmels viel rezipierte Grundannahme war es bekanntlich, dass dem gesellschaftlichen Wechsel der Moden ein im Kern anthropologischer Widerstreit von »Egalisierungs- und […] Individualisierungstrieb«18 zugrunde liege. »Sie«, die Mode, »ist die Nachahmung eines gegebenen Musters und genügt damit dem Bedürfnis nach sozialer Anlehnung […]. Nicht weniger aber befriedigt sie das Unterschiedsbedürfnis, die Tendenz auf Differenzierung, Abwechslung, Sich-Abheben«. Und dies Letztere gelinge ihr, so Simmel, durch den raschen und letztlich willkürlichen »Wechsel der Inhalte, der die Mode von heute individuell prägt gegenüber der von gestern und morgen«19. Die soziologische Bedeutung der Mode, ihre ausgleichende Wirkung, begründet sich dieser Lesart gemäß in ihrer prinzipiellen »Gleichgültigkeit«20 gegenüber ihren Inhalten.
Center for Environmental Design Research Working Paper Series). Berkeley 1979. Download: http://sbs.ucsf.edu/medsoc/anselmstrauss/social-worlds.html [Zugriff: 14.11.2011]. 15 | Eva-Maria Ziege: Die Kunst der Unterscheidung. Soziologie der Mode. In: Leviathan 39 (2011) Heft 1, S. 141-159. 16 | Cornelia Bohn: Kleidung als Kommunikationsmedium. In: Dies.: Inklusion, Exklusion und die Person. Konstanz 2006, S. 95-126. 17 | Bohn: Kleidung als Kommunikationsmedium, S. 96. 18 | Simmel: Die Mode, S. 92. 19 | Ebd., S. 80. 20 | Ebd., S. 82.
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Das Potential dieses Erklärungsmusters ist beachtlich, bezieht es doch selbst noch jene demonstrativ anti-bürgerlichen Ästhetiken der so genannten demi monde (oder anderer »subcultures«) mit ein, welche die bürgerliche Mode bereits zu Simmels Zeiten zu zitieren begann. Dann nämlich, so die in sich schlüssige Erklärung dieses keineswegs leicht zu deutenden Phänomens, wenn sich aus der Wechselwirkung von Angleichung und Abgrenzung ein gesellschaftlich steigender Bedarf an neuen modischen Formen entwickelt, wird die um sich greifende »Suche nach immer neuen Stilen«21 auch vor bis dato anrüchigen Kosmetiken, Kleidungsformen und Verhaltensweisen nicht Halt machen.22 Zwar wird solch negativen Ästhetiken gesellschaftstheoretisch durchaus ein indirektes politisch-emanzipatives Motiv bzw. Potential attestiert. In ihnen zeige sich, so Simmel, »eine ästhetische Form des Zerstörungstriebes, der allen Pariaexistenzen, soweit sie nicht innerlich völlig versklavt sind, eigen zu sein scheint«23. Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene aber obsiegt aus der Sicht Simmels und der ihm theoretisch Nachfolgenden der indifferente, in erster Linie an Neuartigkeit interessierte Mechanismus von Angleichung und Abgrenzung. »Neuheit schlechthin«, scheint heute endgültig »zum Inhalt geworden«24 zu sein; und die gesellschaftliche Attraktivität modischer Materialien, Stile und Bildentwürfe dürfte den Ausführungen Hartmut Böhmes25 zufolge einzig davon abhängen, dass sie möglichst neu und ungewohnt sind, denn Mode operiert »nur im Code ›veraltet/neu‹«26. Wissenschafts- bzw. theoriegeschichtlich bemerkenswert ist, dass das Axiom der Indifferenz bzw. Kontingenz der Mode in konzeptionell ganz unterschiedliche Theorie- und Erklärungsansätze aufgenommen worden ist. Während Simmel27 Mode als gesellschaftliche Ausprägung eines anthropologisch verwurzelten Dualismus von Egalisierungs- und Individualisierungstrieb auffasste und beschrieb, interpretierte Pierre Bourdieu Mode als ein genuin sozialstrukturelles Phänomen: als eines jener »Kräftefeld[er]«28, auf denen der
21 | Simmel: Philosophie des Geldes, S. 555. 22 | Vgl. Alison Gill: Deconstruction Fashion: The Making of Unfinished, Decomposing and Re-assembled Clothes. In: Fashion Theory. The Journal of Dress, Body & Culture 2 (1998), Heft 1, S. 25-49. 23 | Simmel: Die Mode, S. 95; vgl. jüngst auch Kawamura: Fashion-ology, S. 105f. 24 | Gertrud Lehnert: Das vergängliche Kleid. In: Kunstforum International Bd. 197 (2009), S. 267-283, hier S. 269. 25 | Böhme: Zeiten der Mode. 26 | Ebd., S. 58. 27 | Simmel: Die Mode, S. 78 und 92. 28 | Pierre Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt a.M. 1974 (1970), S. 75.
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»symbolische Kampf zwischen […] Klassen« und »Klassenfraktionen«29, zwischen »Alteingesessenen« und »Hochgekommenen«30 ausgetragen wird. Im Wechsel der Moden wandeln sich zwar ästhetische Formen und Inhalte, die Gegensätze aber von Oben und Unten bleiben »strukturell gleich«31. »Sie«, die Mode, »ist immer die neueste Mode, die neueste Differenz. […] Wenn der Minirock in Hintertupfingen angekommen ist, fängt alles wieder von vorn an«.32 Ein ästhetisch-inhaltlich relevantes Phänomen ist Mode damit selbst für die Kultur- und Kunstsoziologie Bourdieus nicht. Die Systemtheorie schließlich, als ein dritter Grundansatz, sieht die Mode von allen anthropologischen oder sozialstukturellen »Wesenskonstanten der Welt«33 losgelöst. Als wesentliche soziologische Eigenschaft der Mode gilt nunmehr, dass sie, all ihrer eigenen Kontingenz zum Trotz, Gefolgschaft verlangt, d.h. Kontingenz bewältigt. Zwar vermag sie keine dauerhafte gesellschaftliche Orientierung zu gewährleisten, wohl aber stellt die Mode, so die theoretische Schlussfolgerung Elena Espositos, Stabilität her, indem sie »die Unbestimmtheit der Sozialdimension« an die »Zeitdimension« bindet.34 Zumindest für den Augenblick ihrer Geltung gewährt sie einen »Anhaltspunkt zur Fortsetzung von Kommunikation«35 und ersetzt damit »die ehemals durch die Sachdimension garantierte Stabilität«36. Vorausgesetzt bleibt: Sie, die Mode, »ist und muss kontingent sein«37. So unterschiedlich diese und vergleichbare Ansätze hinsichtlich ihrer jeweiligen Interpretation ›der‹ Mode auch sind, sichtbar wird ein übergreifendes modesoziologisches Desiderat: Unter dem Rückgriff auf das Axiom der inhaltlichen Indifferenz der Mode lösen sich Theorien wie die genannten von den spezifischen Inhalten gesellschaftlicher Moden (von der Ästhetik und Symbolik jeweiliger Materialien, Stile/Ikonographien und Medien) ab und leisten kaum noch eine Erklärung der empirischen Komplexität ihres Gegenstandes. Dies fällt umso mehr ins Gewicht, als sich, wie gesagt, insbesondere auch leiblich-vestimentäre Moden im Zuge gesellschaftlicher Medialisierungs- bzw. Mediatisier ungsprozesse qualitativ (und nicht nur zyklisch-saisonal) markant 29 | Bourdieu/Delsaut: Die neuen Kleider der Bourgeoisie, S. 175. 30 | Pierre Bourdieu: »Haute Couture« und »Haute Culture«. In: Soziologische Fragen. Frankfurt a.M. 1993 (1974), S. 187-196, hier S. 188. 31 | Bourdieu: »Haute Couture« und »Haute Culture«, S. 191. 32 | Ebd. 33 | Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 4. Frankfurt a.M. 1995, S. 81. 34 | Elena Esposito: Die Verbindlichkeit des Vorübergehenden. Paradoxien der Mode. Frankfurt a.M. 2004, S. 27. 35 | Esposito: Die Verbindlichkeit des Vorübergehenden, S. 27. 36 | Ebd., S. 27. 37 | Ebd., S. 10.
Apartheid der Mode
gewandelt haben (»bubble up«-Phänomene, Anti-Moden, Mode-Blogs, Streetstyle-Fotografie etc.). Wenn nunmehr verstärkt auch Ästhetiken der Hässlichkeit Verwendung finden, phantastische Bildvorlagen kreiert und mediale Plattformen genutzt werden, so macht dies sowohl für Mode-Darsteller als auch für ihre Beobachter, sowohl für Mode-Produzenten als auch für Konsumenten durchaus einen Unterschied, vorausgesetzt man berücksichtigt, wer was wann und wo (auf welchen gesellschaftlichen Bühnen, in welchen bildmedialen Settings, in welchen künstlerischen Freiräumen) tragen darf, zeigen will oder doch nur aus sicherer Distanz beobachten kann. Denn hervorgebracht und erfahren werden gesellschaftliche Moden nicht im Modus einer Mode ›an sich‹, die gleich einem kantschen »Ding an sich« intelligibel zu erfassen wäre38, sondern innerhalb eines komplexen Gefüges symbolischer Verweisungen, medialer Rahmungen und moralischer Grenzziehungen. Eine Modetheorie jedenfalls, die ihrer eigenen formalen Logik folgt, statt diese an sich modisch verändernden Darstellungs- und Verhaltensweisen zu überprüfen, läuft Gefahr, ihren Erklärungsgegenstand für kontingent (!) zu erklären oder der Alltagssemantik des ›eben doch nur Modischen‹ zu folgen. Zu Recht fordert Eva-Maria Ziege eine stärkere analytische Orientierung am »materialen Gegenstand von Mode«.39
L iminale Ä sthe tik : V om dionysischen K unst werk zur H yperbolik der M ode Die »Tendenz auf Differenzierung, Abwechslung [und] Sich-Abheben« vom Allgemeinen und Gewöhnlichen40, die Simmel in seinem Modeessay beschrieb, prägt sich in ihr, der Mode, bisweilen in der Intensität eines demonstrativen ästhetischen Bruchs mit dem Dekorum des Alltagslebens aus. Die Bildtafeln 1 bis 3 geben jeweils auf der rechten Spalte entsprechende Beispiele wieder. Ästhetisch auffällig ist, dass sich bezüglich derartiger Formgebungen nicht selten markante Isomorphien zu Darstellungs- und Verhaltensstilen feststellen lassen, wie sie
38 | Dies ist, wenn ich recht sehe, letztlich das Anliegen René Königs: »Wir wollen uns […] darauf beschränken […] im strengen Sinne ›soziologisch‹ vorzugehen […]. […] Damit ist zugleich gesagt, daß wir weitgehend von den ›Inhalten‹ der Mode absehen werden« (René König: Macht und Reiz der Mode. Verständnisvolle Betrachtungen eines Soziologen. Düsseldorf/Wien 1971, S. 21). Vgl. ganz im Kontrast hierzu die historisch-rekonstruktiv ausgerichteten Arbeiten etwa Anne Hollanders: Sex and Suits. The Evolution of Modern Dress. New York 1994. 39 | Ziege: Die Kunst der Unterscheidung, S. 157. 40 | Simmel: Die Mode, S. 80.
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Abbildung 1: Streetparade, Zürich 2009 Abbildung 2: Ensemble, Jean Paul Gaultier, Frühjahr/Sommer 1989 Abbildung 3: Attische Mänade (u.a. mit Reh- oder Pantherfell ausstaffierte Anhängerin des Dionysos-Kultes), 490-480 v. Chr. Abbildung 4: Ensemble, Jean Paul Gaultier, Herbst/Winter 1997/98
Tafel 1: Darstellerische Isomorphien wie sie im Vergleich von Mode/Modefotografien (rechte Spalte) mit kollektiven Ekstasepraktiken (linke Spalte) zu beobachten sind. In keinem Fall sind solche Isomorphien (vgl. auch die Tafeln 2 und 3) als Belege für etwaige vestimentäre Archetype zu betrachten – solch eine Sichtweise käme einer Art ›kulturpsychologischer‹ Simplifizierung historischer und gesellschaftlicher Entwicklungen gleich. Die Identifikation dieser und ähnlicher Isomorphien stellt vielmehr den Anlass für eine wirkungsästhetische (vgl. Iser 1984 [1976]) Analyse jeweiliger Gestaltungsprinzipien dar.
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Abbildung 5: Punks, New York City Abbildung 6: Ensemble, Yohji Yamamoto, Frühjahr/Sommer 2010 Abbildung 7: Franz von Assisi, Wandgemälde (Ausschnitt) Abbildung 8: Bluse und Kleid, Rei Kawakubo/Comme des Garçons, Frühjahr/Sommer 1983
Tafel 2: Darstellerische Isomorphien wie sie im Vergleich von Mode/Modefotografien (rechte Spalte) mit Darstellungen aus Bereichen gesellschaftlicher Marginalität (linke Spalte) zu beobachten sind.
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Abbildung 9: Frikha/Pilger auf dem Berg Arafat Abbildung 10: Baptistische Taufe, Charismatische Freikirche Berlin Abbildung 11: Foto: Peter Lindbergh/Vogue 1998 Abbildung 12: Foto: Deborah Turbville/Vogue 1975 Abbildung 13: Foto: Edward Steichen/Vogue 1936
Tafel 3: Darstellerische Isomorphien wie sie im Vergleich von Mode/Modefotografien (rechte Spalte) mit Darstellungen etwa aus dem Bereich religiöser Passageriten (linke Spalte) zu beobachten sind.
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sich beispielsweise in karnevalesken »Volks-« und »Gegenkulturen«41 finden, in religiös gerahmten Statuspassagen und säkularen Initiationsriten, in politischem Dissidenten- oder religiösem Virtuosentum, aber auch in der spätmodernen Popkultur.42 Die Bildtafeln veranschaulichen diese Isomorphien in jeweils vergleichender Darstellung von Modeinszenierungen rechterseits und von ekstatisch-rituellen und/oder körperlich-vestimentären Grenzüberschreitungen linkerseits. Was also wäre, wenn sich in modischen Formbildungen der genannten Art nicht etwa die Klassenfraktionen, Steigerungsdynamiken oder Paradoxien gesellschaftlicher Distinktionsprozesse ästhetisch ausdrückten und kommunikativ realisierten, sondern jene noetischen Brüche und Distanzen zwischen gesellschaftlichem Alltagsleben und anderen, außeralltäglichen Wirklichkeitseinstellungen43, wie sie sich unter anderem auch in den genannten ›klassischen‹ Ausprägungen gesellschaftlicher »Liminalität«44 manifestieren? Wenn man es mit Ausdrucksund Darstellungsformen zu tun hätte, die alltagsweltliche Ordnungsstrukturen ganz gezielt unterliefen, statt sie zu reproduzieren? Mit symbolischen Formen also, die ihr gesellschaftliches Dasein weniger ihrer repräsentativen oder reprä41 | Michail M. Bachtin/Renate Lachmann (Hg.): Rebelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Frankfurt a.M. 1995. 42 | Zu karnevalesken Volks- und Gegenkulturen vgl. auch Bachtin/Lachmann: Rebelais und seine Welt; zu Statuspassagen Arnold van Gennep: Les rites de passage. Paris 1909; Victor Turner: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Frankfurt a.M., New York 2000 (1969) und Michael Meuser: Fragile Sicherheiten. Versuch einer Annäherung an den »Goffmenschen« aus geschlechtersoziologischer Perspektive. In: Anne Honer/ Michael Meuser/Michaela Pfadenhauer (Hg.): Fragile Sozialität. Inszenierungen, Sinnwelten, Existenzbastler. Wiesbaden 2010, S. 129-142; zum Dissidenten- und Virtuosentum Klaus E. Müller: Der Krüppel. Ethnologia passionis humanae. München 1996 und Eric Voegelin: Das Volk Gottes. München 1994; zur spätmodernen Popkultur Birgit Richard: Die oberflächlichen Hüllen des Selbst. Mode als ästhetisch-medialer Komplex. In: Dies. (Hg.): Die Hüllen des Selbst. Mode als ästhetisch-medialer Komplex. Kunstforum International Bd. 141 (1998), S. 48-95, Michael R. Müller: The Body Electric. Das Problem autonomer Lebensführung und die kollektive Sehnsucht nach Selbstverlust. In: Ders./Thilo Raufer (Hg.): Der Sinn der Politik. Beiträge zur kulturwissenschaftlichen Politikanalyse. Konstanz 2002, S. 77-104; Michael R. Müller: Stil und Individualität. Die Ästhetik gesellschaftlicher Selbstbehauptung. München 2009, S. 179-298 und Lee Gilmore: Of Ordeals and Operas: Reflexive Ritualizing at the Burning Man Festival. In: Graham St. John (Hg.): Victor Turner and contemporary cultural performance. New York u.a. 2008, S. 211-227. 43 | Alfred Schütz/Thomas Luckmann: Strukturen der Lebenswelt, Bd. 1 und 2. Konstanz 2003 (1973). 44 | Turner: Das Ritual, S. 95.
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sentierenden Funktion verdanken, als vielmehr ihrer die Alltagsordnung verkehrenden kommunikativen Wirkung, kurzum: mit hyperbolischen 45 Formen? Die in den Bildtafeln dokumentierten Isomorphien nehme ich im Folgenden zum Anlass, die vermutete, veränderte kommunikative Funktion und Kulturbedeutung derartiger Moden symboltheoretisch zu rekonstruieren. Um dies leisten zu können, schlage ich in Ergänzung bzw. Alternative zu bestehenden modetheoretischen Grundannahmen und Grundbegriffen einen theoretischen Rahmen vor, der, wie bereits gesagt, auf Nietzsche, Durkheim und Turner zurückgeht und der meines Erachtens dazu geeignet ist, die ästhetischen und gesellschaftlichen Besonderheiten solcher Moden kenntlich werden zu lassen. Ich beginne also zunächst mit einer Skizze dieses Rahmens (Abschnitt »Theorien der Liminalität«), um sodann die genannten Isomorphien zwischen der Hyperbolik ritueller und modespezifischer Ästhetiken zu explizieren (Abschnitte »Dissimulation«, »Inversion« und »Theatralität«).
Theorien der Liminalität Der wohl bekannteste mythische Repräsentant außeralltäglicher Zustände und der sie begleitenden hyperbolischen Ordnungsverkehrungen ist der antike Gott des Blutrausches und der Sinnenfreuden, Dionysos. Grausam und lüstern zugleich, gilt er als Feind ordnungsliebender Menschen. Er packt sie bei ihren Begierden und lässt sie auf diesem Wege ihre eigene Ordnung immer wieder zerstören. In der griechischen Antike wird Dionysos als Sieg der Sinnlichkeit über den strengen Geist verehrt und während der so genannten jährlichen Dionysien gefeiert. Im Rahmen dieser zunächst rein kultischen Aufführungen entwickeln sich im 5. und 6. Jahrhundert v. Chr. die als Darbietungen der tragischen und komischen Seiten dionysischer Ordnungsauflösungen konzipierten Gattungen der Tragödie und der Komödie.46 Der antike Mythos und die griechische Tragödie inspirierten Friedrich Nietzsche zu einer eigenen, unter dem Begriff der »dionysischen Weltanschauung«47 bekannt gewordenen Theoriebildung (die ich hier bewusst nicht unter dem Aspekt der Willensmetaphysik Nietzsches rezipiere, sondern als neuzeitliche Theorie der Liminalität). Im dionysischen Rauschzustand erkennt Nietzsche eine Grunderfahrung menschlichen Lebens, einen den Einzelnen oder 45 | Vgl. gr. hyperbolé: das darüber hinaus Werfen. 46 | Wolfgang Schuller: Griechische Geschichte. München 1991, S. 41f.; Eric R. Dodds: Die Griechen und das Irrationale. Darmstadt 1991; Louise Bruit Zaidman/Pauline Schmitt Pantel: Die Religion der Griechen. Kult und Mythos. München 1994 (1991), S. 176-178, 201-208; Lucilla Burn: Griechische Mythen. Stuttgart 1993, S. 132-135. 47 | Friedrich Nietzsche: Die dionysische Weltanschauung. In: Ders.: Die Geburt der Tragödie, S. 551-577.
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die Einzelne insbesondere auch körperlich ergreifenden Ordnungsverlust. »Zwei Mächte vornehmlich sind es«, so hebt er an, die »zur Selbstvergessenheit des Rausches steigern, der Frühlingstrieb und das narkotische Getränk«. Die soziologisch beschreibbare Wirkung dieser Rauschmittel: »Das principium individuationis wird […] durchbrochen«, denn, so Nietzsche, die »Dionysos-Feste schließen nicht nur den Bund zwischen Mensch und Mensch, sie versöhnen auch Mensch und Natur. Freiwillig bringt die Erde« – hier wird die antike, durch die Tragödien etwa des Euripides überlieferte Mythologie referiert – »ihre Gaben, die wildesten Thiere nahen sich friedfertig: von Panthern und Tigern wird der blumenbekränzte Wagen des Dionysos gezogen. Alle die kastenmäßigen Abgrenzungen, die die Noth und die Willkür zwischen den Menschen festgesetzt hat, verschwinden: der Sklave ist freier Mann, der Adlige und der Niedriggeborene vereinigen sich zu denselben bacchischen Chören« 48 .
Nietzsche entwickelt hier eine sozialanthropologisch konzise, nicht zuletzt die zeitweilige Außerkraftsetzung der individuellen Persona (resp. die Durchbrechung des principium individuationis) erfassende Theorie gesellschaftlich-ritueller Ordnungsauflösungen. Konzise ist Nietzsches Text auch deshalb zu nennen, weil er herausstellt, dass solcherlei Ordnungsauflösungen kein gelegentliches Widerfahrnis sind, sondern ein durch geeignete Rauschpraktiken und durch gezieltes künstlerisches Schaffen (in den Augen Nietzsches vor allem durch Musik) forciertes soziales Geschehen: Der »Dionysosdiener [muss] im Rausche sein und zugleich hinter sich als Beobachter […]. Nicht im Wechsel von Besonnenheit und Rausch, sondern im Nebeneinander zeigt sich das dionysische Künstlerthum«49. Strukturell sichtbar wird in der Institution solch eines Künstlertums die paradoxe Möglichkeit, auch den gesellschaftlichen Ordnungsverlust zum Bestandteil gesellschaftlicher Ordnung werden zu lassen, d.h. zu domestizieren. Ein symbolisches Mittel, das im Zusammenhang solch liminaler Praktiken von nicht geringerer Bedeutung als Musik ist, wird indes erst Émile Durkheim thematisieren. Durkheim widmet sich strukturell vergleichbaren Ordnungsauflösungen, wie Nietzsche sie beschrieben hat; und auch er erkennt in denselben einen festen, wiederkehrenden Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens. Entscheidend aber für das zyklische Heraustreten aus der Alltagsordnung sind aus seiner Perspektive neben physiologischen Stimuli vor allem auch bildhafte Symbolformen, allen voran Körperbemalung, Körperschmuck, Bekleidung und Maskierung:
48 | Ebd., S. 554f. 49 | Ebd., S. 555f.
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Michael R. Müller »Man kann sich leicht vorstellen, daß sich der Mensch bei dieser Erregung [d.h. in liminalen Zuständen; M.R.M.] nicht mehr kennt. Er fühlt sich beherrscht und hingerissen von einer Art äußeren Macht, die ihn zwingt, anders als gewöhnlich zu denken und zu handeln. Ganz natürlich hat er das Gefühl, nicht mehr er selbst zu sein. Er glaubt sogar ein neues Wesen geworden zu sein. Die Verkleidungen, die Masken, mit denen er sein Gesicht verdeckt, drücken wirklich diese innere Verwandlung aus, mehr noch: sie tragen dazu bei, sie hervorzurufen.« 50
Auch für Durkheim stellen liminale Zustände und Phasen nicht einfach das Gegenteil der gesellschaftlichen (Alltags-)Ordnung dar, sondern beruhen auf den besonderen Vermittlungsleistungen von Kleidung, Körperbemalungen und Masken.51 Zum einen fungieren solche Darstellungsmittel als kollektives Gedächtnis, das Erfahrungen außerordentlicher Zustände gesellschaftlich in Erinnerung hält. Zum anderen verknüpfen sich die entsprechenden vestimentären und kosmetischen Emblematiken und Bilder (images) im Rahmen ihres gesellschaftlichen Gebrauchs und ihrer historischen Überlieferung mit anderen Wissensbeständen zu komplexen »symbolischen Sinnwelten«52, die mythische oder sonstige Erklärungen ebenso umfassen wie praktische Vorstellungen etwa über ›richtige‹ und ›falsche‹ Verhaltensweisen in liminalen Phasen. Kleidung, Körperbemalungen und Masken weisen also weder eine rein äußerliche oder willkürliche Indexfunktion auf, noch eine rein physiologische Auslöserfunktion; vielmehr prägen und steuern sie die Erfahrung außerordentlicher Zustände und die besondere Lebenshaltung, die der oder die Einzelne in ihnen einnimmt.53 Die bislang umfassendste Systematik liminaler Zustände und Existenzformen schließlich hat Victor Turner vorgelegt. Eine zentrale Grundeinsicht Turners ist es, dass die Außerkraftsetzung der Alltagsordnung durch liminale Ästhetiken (Musik, Kleidung, Körperbemalung etc.) keineswegs notwendig zu den von Nietzsche und Durkheim beschriebenen ekstatischen Rauschzuständen führen muss, sondern regelmäßig auch in Form ritualisierter Darbietungen vollzogen wird. Und in der Tat, in Bezug auf das, was sich in der Literatur bisweilen als ekstatisch-orgiastisches Geschehen darstellt, stellen zum Beispiel Luise Bruit Zaidmann und Pauline Schmitt Pantel fest, dass die Einzelheiten des Ablaufs etwa des antiken Dionysoskultes in der Regel en détail festgelegt waren: 50 | Émile Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt a.M. 1998 (1968), S. 300. 51 | Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, S. 283-326. 52 | Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt a.M. 1996 (1966), S. 98. 53 | Vgl. auch Thomas Luckmann: Die unsichtbare Religion. Frankfurt a.M. 1996 (1991), S. 171f. und Turner: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, S. 123f. u. 160.
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»An den Ritus der Omophagie [des Zerreißens eines Tieres und des Verschlingens seines Fleisches; M.R.M.] wird durch ein Stück rohen Fleisches erinnert, das die Priesterin in […] [einen] Korb legen muss. Dass Rennen über die Berge wird zur Prozession, und die Trance gehorcht genauen Vorschriften«54. In anderen Fällen – Turner nennt als Beispiel den Franziskanerorden und seinen Gründer, entsprechendes gilt aber auch für politische Dissidenten oder gesellschaftlich Ausgestoßene – können liminale Darstellungs- und Verhaltensweisen gar zu einem regelrechten Modell der Lebensführung werden, das heißt zu einem Lebensstil, und Liminalität selbst zu einem existentiellen Dauerzustand.55 Was solch unterschiedliche empirische Ausprägungen von Liminalität indes eint, ist ihre besondere, Liminalität sowohl ermöglichende als auch domestizierende Ästhetik. Einerseits verleihen liminale Ästhetiken der gesellschaftlichen Ordnungsauflösung einen sozial erlernbaren und wirksamen modus operandi; andererseits hegen sie jeweilige Ordnungsauflösungen zugleich auch ein: raum-zeitlich, habituell, medientechnisch. Einerseits machen solche, sich in rituellen Handlungen, vestimentären Emblematiken und bildhaften Artefakten manifestierenden Ästhetiken soziale Grenzüberschreitungen subjektiv spürbar und intersubjektiv kommunizierbar, das heißt gesellschaftlich real; andererseits verlangt ihre Realisierung darstellerisches Können, also Selbstkontrolliertheit und Affektdistanziertheit. Einerseits sind sie Garantinnen nicht nur zufälliger, sondern gezielter und beherrschter Liminalität; das heißt andererseits aber auch, dass in ihnen eine jeweilige gesellschaftliche Ordnung der Unordnung Gestalt erlangt. Soziologisch entscheidend ist also, dass der Wechsel zwischen den Ordnungen und Teilordnungen der gesellschaftlichen Alltagswirklichkeit und der »AntiStruktur«56 der Liminalität in der Regel in mehr oder minder geordneter bzw. institutionalisierter Form erfolgt, in Form zyklischer Eskapismen etwa, im Rahmen biographischer Passageriten oder in Zusammenhängen dauerhaften gesellschaftlichen Außenseitertums. Gesellschaftlich sichtbar und real, und damit auch als sozial- oder kulturwissenschaftliche »Konstruktionen zweiten Grades«57 54 | Bruit Zaidman/Schmitt Pantel: Die Religion der Griechen. Kult und Mythos, S. 202. 55 | Turner: Das Ritual, S. 127-158. Im Fall ritueller Darbietungen ist die besondere »Bewußtseinspannung« (Schütz/Luckmann: Strukturen der Lebenswelt, S. 53) einer ekstasis keineswegs ausgeschlossen, wohl aber institutionell weitgehend domestiziert. Im Fall dauerhafter, liminaler Lebensstile werden Zustände der Entrücktheit mitunter selbst zu einem theatralen, selbstdarstellerisch kontrollierten und beherrschten Inszenierungselement (vgl. Müller: The Body Electric). 56 | Turner: Das Ritual. 57 | Vgl. Alfred Schütz: Wissenschaftliche Interpretation und Alltagsverständnis menschlichen Handelns. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze I. Das Problem der sozialen Wirklichkeit. Den Haag 1971 (1953), S. 3-54, hier S. 7.
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rekonstruierbar, werden solche Grenzüberschreitungen aber erst durch liminale Ästhetiken: durch so genannte »Schwellensymbole«58, welche die Grenzen zwischen der Alltagsordnung und dem, was jenseits ihrer Grenzen liegt, nicht nur markieren, sondern auch deren Überschreitung regulieren, die also darüber entscheiden, welche sozialen, moralischen oder weltanschaulichen Grenzen überschritten werden, wer Darsteller und wer Zuschauer ist und in welchen Arenen und Medien einer Gesellschaft Liminalität letztlich ihren Ort findet.
Dissimulation Eine der wichtigsten kommunikativen Funktionen solch liminaler Ästhetiken ist es, dass sie jene Kategorisierungen und Typisierungen des gesellschaftlichen Alltagslebens dissimulieren, anhand derer der Status, die Funktion, die Herkunft oder bestimmte Charaktereigenschaften einer Person abgelesen werden können. Realisieren lässt sich dies insbesondere durch Nacktheit, denn Nacktheit macht, so paradox dies klingt, sozial unsichtbar. Wenn »Schwellenwesen […] nur ein Minimum an Kleidung tragen oder auch nackt gehen«59, so bedeutet dies, dass sie auf Dinge und Insignien verzichten, die auf ihren sozialen Status verwiesen. Während Nacktheit in religiösen Zusammenhängen (wie etwa dem osteuropäischen Gottes- bzw. Christus-Narrentum) regelmäßig mit asketischer Körperverachtung einhergeht und den jeweiligen Körperbesitzer als besondere, dem Alltag enthobene, das heißt heilige Person ausweist60, stellt sich Nacktheit in der modernen Mode nicht selten unter umgekehrtem Vorzeichen als ästhetische Überhöhung und Verklärung des Körpers dar. Aber auch hier, in der Mode und Modefotografie, hat man es mit in Szene gesetzter und gedeuteter Körperlichkeit zu tun: mit den Körpern fiktiver Figuren (mit Supermännern, Kindfrauen, Poolnymphen etc.), mit Körpern in außerordentlichen Situationen61 und anderen Gestaltungsformen, die alltägliche Deutungshorizonte konsequent transzendieren. »Entkleidung wird«, wenn man solcherlei Nacktheit auf eine paradoxe Formel bringen möchte, »zur Verkleidung«62, denn sie setzt eine außerordentliche, der Pragmatik, der Mo58 | Turner: Das Ritual, S. 95. 59 | Ebd. 60 | Renate Lachmann: Der Narr in Christo und seine Verstellungspraxis. In: Peter von Moos (Hg.): Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft. Köln, Weimar, Wien 2004, S. 379-410. 61 | Vgl. Helmut Newtons »Porno-Schick« (Norberto Angeletti/Olivia Alberto: In Vogue. The Illustrated History of the World’s Most Famous Fashion Magazine. New York; dt.: Vogue. Die illustrierte Geschichte des berühmtesten Modemagazins der Welt. München 2006, S. 234), Corinne Days »heroin chic« etc. 62 | Lachmann: Der Narr in Christo und seine Verstellungspraxis, S. 398.
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ral und dem Dekorum des Alltags enthobene Existenz in Szene. Mit Selbstbildern oder Bildentwürfen, deren Kontur »in Termini sozial anerkannter Eigenschaften umschrieben«63 werden könnten, haben solche Nacktheitsinszenierungen nur noch insofern zu schaffen, als sie solche Selbstbilder und Bildentwürfe ästhetisch zurückweisen. Dies schließt in letzter Konsequenz auch eine Dissimulation der Kategorisierung ›Mensch‹ nicht aus, eine darstellerische Entmenschlichung also, wie sie etwa Dolce & Gabbana 2007 im Rahmen einer Werbeanzeige realisieren, auf der (halb-)nackte männliche Models Schaufensterpuppen verkörpern. Vergleichbare dissimulative Effekte lassen sich indes auch bekleidet realisieren, durch asymmetrische Schnitte, unregelmäßige Faltenwürfe, vielfache Stoffschichtungen, abgeschabte Materialien, offene Säume, Löcher oder ein stumpfes Kolorit unbunter Farben. Strukturell sichtbar wird in entsprechenden Kleidungsformen ein systematisches Dementi all jener Ideale darstellerischer Klarheit, Harmonie und Erhabenheit, die für gesellschaftlich tradierte Schönheitsbegriffe wesentlich sind. Auf dem global-medialen Niveau der Modefotografie und der fashionweeks hält so immer wieder ein ästhetischer »Negativhabitus« 64 Einzug, der sowohl europäische wie auch asiatische, sowohl religiöse wie auch säkulare Traditionen hat.65 Eine regelrecht burleske Gegenspielerin zur Alltagsordnung schickte etwa Yohji Yamamoto 2010 auf den Laufsteg und als Image in die nachgeschalteten Modeblogs (Abb. 6): Das mit Löchern übersäte Gewand, das filzig zerzauste Haar und die Gesichtsbemalung erinnern an typische, in gesellschaftlichen Grenzbereichen lebende »Schwellenwesen«66 wie etwa Punks oder alteuropäische (Ritual-)Clowns: »Ihr Äußeres«, das der Clowns, aber eben nicht nur ihres, »spielt ins Groteske […]. Sie gehen […] in verrottenden Lumpen, das Gesicht entstellend bemalt […], das Haar filzig zerzaust oder mit einem phantastischen Kopfputz bedeckt« 67. Eine gestalterisch gediegenere Möglichkeit der Zurückweisung gesellschaftlichen Putzes realisiert ein Mantel Martin Margielas aus dem Jahre 1999 (Abb. 14):
63 | Erving Goffman: Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. Frankfurt a.M. 1999 (1967), S. 10. 64 | Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Paderborn 1984 (1976), III. 65 | Harold Koda: Rei Kawakubo and the Aesthetic of Poverty. In: Dress. The Journal of the Costume society of America 11 (1985), S. 5- 10. 66 | Turner: Das Ritual, S. 95. 67 | Müller: Der Krüppel, S. 227.
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Abbildung 14: Mantel, Martin Margiela, Herbst/Winter 1999
Ebenso wie die Gewänder von Bettelmönchen oder manch ein Kleid Rei Kawakubos (z.B. Abb. 8) dissimuliert auch dieser Mantel jedweden durch schmückende Materialien, Formen oder Applikationen angebbaren gesellschaftlichen Status. Allerdings verdankt sich seine besondere Schmucklosigkeit keiner tradierten »Aesthetic of Poverty«68, sondern der plakativen Funktionalität eines Stoffes (eines unbezogenen Federbettes), der jedweden ästhetischen Mehrwert dementiert. Beispiele wie diese zeigen, dass Mode und ihre bildmedialen Darstellungen keineswegs »semantisch leer« oder »zufällig« sind. Im Gegenteil, vergleichend betrachtet wird auf der Ebene übergeordneter Gestaltungsprinzipien die Umsetzung einer geradezu klassischen Schwellensymbolik erkennbar: die vestimentäre (und fotografische) Inszenierung von Nacktheit, Bescheidenheit, Ärmlichkeit, Hässlichkeit usf. Dass entsprechende Kleidungsstücke, Accessoires und sonstige Stilmittel gegebenenfalls durchaus aufwendig und kostspielig sein mögen, tut dem keinen Abbruch. Entscheidend ist vielmehr, dass sie, im Prinzip ihrer Gestaltung, keine Auskunft mehr geben über das gesellschaftliche Dasein möglicher Träger (über Rolle, Status, Amt, Funktion, Herkunft) und sowohl als materielle Artefakte als auch als Bildinszenierungen die Grenzen der Alltagsordnung transzendieren. Wenn also Roland Barthes in seinem »Système de la Mode« angesichts fiktiver, ironischer, widersprüchlicher, das heißt Deutungsschwierigkeiten erzeugender Modeinszenierungen zu dem Schluss kommt, dass »das Signifikat« der Mode: »die Welt« (das heißt die Welt alltäglicher, mit Mode in mehr oder minder ein68 | Koda: Rei Kawakubo and the Aesthetic of Poverty.
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deutigem Zusammenhang stehender Lebenssituationen, Beschäftigungen, Zustände oder Stimmungen) »ausgetrieben wird«69, so ist ihm in gewissem Sinne zuzustimmen. Allerdings ist dies eine Darstellungsleistung der entsprechenden Moden selbst und keineswegs ein Indiz für deren Willkürlichkeit (beziehungsweise für die Willkürlichkeit der barthesschen »B-Komplexe«).
Inversion Liminale, grenzüberschreitende Ästhetik, dies heißt auch, dass zum negativen Moment der Dissimulation regelmäßig ein phantastisch-fiktionales Moment hinzutritt: die Projektion von Wahrnehmungs- und Verhaltensmöglichkeiten, die für den Alltagsverstand eigentlich keine Möglichkeiten sind. Vergleichsweise einfach lassen sich solche Projektionen durch ein Darstellungsmittel realisieren, das zum Standardrepertoire von Straßenumzügen, Partykulturen und religiösen Festen gehört: die Statusumkehr.70 Inversion meint in diesem engeren Sinne zunächst also rituelle Darbietungen, in deren Zusammenhang hierarchisch Untergeordnete die Position Übergeordneter einnehmen – und umgekehrt. Unter dasselbe Grundprinzip fallen aber auch andere darstellerische Verkehrungen von ›Wahrheit‹, ›Wirklichkeit‹ und ›Richtigkeit‹, paradoxe Verhaltensweisen also, absurde Abbildung 15: (links): Dolce & Gabbana, Herbst/Winter 1992/93, Foto: Steven Meisel Abbildung 16: (rechts): Kleid, Jean Paul Gaultier, Herbst/Winter 1991/92
69 | Roland Barthes: Die Sprache der Mode. Frankfurt a.M. 1985 (1967), S. 312. 70 | Turner: Das Ritual, S. 159-193.
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Selbstinszenierungen oder exzentrische Stilbildungen. Der Herr wird Sklave, der Mensch Tier, Frauen werden Männer, Männer Frauen, wieder andere werden zu androgynen Wesen, Alt benimmt sich wie Jung usw. Ein überaus plakatives, modespezifisches Beispiel für solcherlei Inversion ist das inside-out-Prinzip einer an Unterwäsche erinnernden Oberwäsche, das unter anderem das Modelabel Dolce & Gabbana seit den 1990er Jahren seinen Corsage-Ästhetiken zu Grunde legt (Abb. 15): Das Intim-Private wird emblematisch zum Öffentlich-Allgemeinen; dies allerdings nicht im Sinne einer peinlichen Enthüllung (was die bis dato geltende Alltagsordnung bestätigen würde), sondern in einem die Alltagsordnung verkehrenden Gestus der Selbstverständlichkeit. Keineswegs beschränken sich modespezifische Inversionen aber auf Verhaltens- oder Eigenschaftserwartungen, die innerhalb der engen Grenzen der Sozialwelt angesiedelt sind. Darüber hinaus werden auch solche Körperschemata in die Beobachtungsordnungen der Mode gestalterisch und fotografisch hineinprojiziert, die für gewöhnlich jenseits dieser Grenzen vermutet werden. An die Semi-couture-Jacke Margielas ist hier zu denken, an das »Weird sience«-Defilee Alexander McQueens (Abb. 17) und an andere Inszenierungen, die ästhetisch aus lebendigen Körpern schiere Dinge machen (Schneiderbüsten, Porzellan- oder Schaufensterpuppen oder, wie im Fall McQueens, industrielle Rohlinge). Sozial und kulturell geschulte und bewährte Wahrnehmungsroutinen werden mit paradoxen Effekten konfrontiert, indem sich gegenseitig Ausschließendes simultan zur Darstellung gebracht wird. Der ästhetische Reiz entsprechender Gestaltungen und Inszenierungen liegt in den pragmatischen, sozialen oder moralischen Inkonsistenzen, welche die Alltagswahrnehmung – sich selbst suspendierend – in ihnen entdecken muss. Gestalterisch kann dies zu echter, das heißt die Referenz jedweder alltagsweltlichen Bezugsrealität durchbrechender Polysemie verfeinert werden. Barbara Vinken hat dies sehr treffend für Jean Paul Gaultiers »Paradoxalment sportive« (Abb. 16) beschrieben: Es wirkt »als Abend- und als Tageskleid gleichermaßen unpassend. Ebenso unsicher scheint es, für welchen Typ, welche Rolle, welche Funktion und welches Alter das Kleid gedacht ist. Nicht Dame, nicht Karrierefrau, nicht Intellektuelle, nicht Schätzchen – kein cliché scheint getroffen, alle außer Kraft gesetzt«.71 Wirkungsästhetisch – im Sinne also der Theorie ästhetischer Wirkungen Wolfgang Isers72 – lässt sich das kommunikative Prinzip dieser und vergleichbarer Inversionen wie folgt beschreiben: Einerseits findet der Beobachter Kleidungs- oder Bildelemente vor, die für sich genommen unproblematisch sind, das heißt deren lebensweltliche Implikationen und Verweisungen relativ klar 71 | Barbara Vinken: Mode nach der Mode. Geist und Kleid am Ende des 20. Jahrhunderts Frankfurt a.M. 1993, S. 146. 72 | Iser: Der Akt des Lesens.
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Abbildung 17: Alexander McQueen, Frühjahr/Sommer 1999
ersichtlich sind. Andererseits erweist sich das jeweilige Gesamtarrangement insofern als eigentümlich unklar, mehrdeutig oder paradox, als diese Einzelelemente interpretativ bis auf Weiteres in keinen kohärenten Sinnzusammenhang eingestellt werden können. Das jeweilige Gesamtarrangement verliert seine »Anschließbarkeit« 73 an vertraute Bezugsrealitäten 74 und erzwingt im Hinblick auf die Bewertung von Personen, Dingen und Ereignissen die Aufgabe bis dato selbstverständlich scheinender Perspektiven. Eine kommunikativ äußerst elaborierte Variante ästhetischer Inversion manifestiert sich schließlich seit den 1990er Jahren in einer Spielart der Modefotografie (Abb. 18-20), deren gestalterisches Grundprinzip sich bis in Arbeiten Irving Penns zurückverfolgen lässt. Die bisweilen enervierende Wirkung dieser Fotografien – vgl. dazu die publizistischen und politischen Reaktionen auf den so genannten »heroin chic« 75 – ergibt sich kompositorisch aus zwei sich gegenläufig verstärkenden Inversionen: Fasst man diese Bilder spontan-assoziativ als Modefotografien auf, so wird dieser Bildcharakter durch alltagsrealistische oder gar soziales Elend thematisierende Darstellungsanteile konterkariert und der repräsentativ-glamouröse Habitus konventioneller Modefotografien in sein Gegenteil verkehrt. Werden diese Bilder indes umgekehrt als Dokumentarfotografien apperzipiert, so wird auch dieser Bildcharakter durch gegenläufige, nunmehr modespezifische Darstellungsan teile (Bekleidung, gegebenenfalls Posen) und/oder Darstellungsformate (Modestrecken, Fashion Portraits, Werbeanzeigen) in Frage gestellt und der sachliche Habitus des Dokumentarischen 73 | Ebd., S. 284-301. 74 | Vgl. Schütz/Luckmann: Strukturen der Lebenswelt, I und II, S. 595f. 75 | Arnold: Heroin Chic.
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in distinguierende Kennerschaft verkehrt. Angesichts der artiger Überlagerungen sich wechselseitig ausschließender Bezugsrealitäten (die Realität des Alltagslebens hier, die Verheißung der Mode dort) vermag eine interpretative Gestaltschließung kaum mehr gelingen. Im Gegenteil, die hier in eigentümlicher »Deformation […] [dar]gebotene Welt« weckt »die Aufmerksamkeit für die virtuell gebliebene Verursachung solchen Deformiertseins« 76. Sie gibt das »Rätsel einer Ursache« 77 auf, ohne dieses Rätsel jemals aufzulösen. Zwar mögen Auflösungen durch Bedeutungszuschreibungen versucht werden, wie die, hier werde (endlich) die »Bildsprache des Realen« gesprochen78 oder (explizit in Bezug auf Abb. 18 u.a.): »These photographs are the first testimony to the fashion industry’s now pervasive flirtation with death« (The New Yorker). Doch all dies sind keine Antworten, welche die Fotografien gäben. Deren kommunikative Bedeutung liegt – statt gleich dokumentarische Abbilder einer depravierten Welt zu sein – zunächst einmal in dem Versuch, den alltäglich-routinierten Blick auf Mode zu irritieren. Solcherlei Mode setzt nicht nur die Alltagsordnung außer Kraft, sondern bis auf Weiteres auch sich selbst als Teil dieser Ordnung. Abbildung 18: Kate Moss/Under Exposure, Foto: Corinne Day/Vogue 1993 Abbildung 19: Georgina Brixton, Foto: Corinne Day/The Face 1993
76 | Iser: Der Akt des Lesens, S. 351. 77 | Ebd., S. 350. 78 | Antje Krause-Wahl: Page by Page. Fashion and Photography in the Magazine. In: Susanne Gaensheimer/Sophie von Olfers (Hg.): Not in Fashion. Leipzig, Berlin 2010, S. 23-37, hier S. 30.
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Abbildung 20: Foto: Wolfgang Tillmans, 1991
The atr alität Theatralität ist eine derjenigen Symbolformen, die Turner selbst nicht eingehend herausarbeitet, die aber insbesondere für Mode einen bisweilen markanten Stellenwert erlangen. Theatrale Darstellungs- und Inszenierungsformen finden sich klassischerweise und im eigentlichen Wortsinn im Theater: Hier machen die Bühne, der Vorhang, der jeweilige Deklamationsstil sowie konventionalisierte Rollenfiguren deutlich, dass es sich – im Vergleich zur »Presentation of Self in Everyday Life« – bei dem zu Sehenden um außergewöhnliche Darbietungen handelt und die jeweiligen Darsteller_innen offensichtlich etwas anderes verkörpern als sich selbst. Aber auch im Rahmen von Straßenparaden (Christopher Street Day, Loveparade), Festivals (Burning Man, Area 4), Clubs und »ballrooms« (Plato’s Retreat, Studio 54) werden theatrale Darstellungsformen gepflegt und weiterentwickelt; und auch hier sind es die besonderen Rollenfiguren sowie die Orte und Stile ihrer Inszenierung, die eine theatrale Distanz zwischen den jeweiligen Darsteller_innen und ihrem wahrnehmbaren Erscheinungsbild realisieren. Hier wie dort gilt: Theatrale Inszenierungen widersprechen mit ästhetischem Nachdruck der für gewöhnlich geltenden Annahme, dass diejenigen, die uns begegnen, auch tatsächlich das sind, als was sie in Erscheinung treten, und unterlaufen somit gezielt alltägliche Identitätspostulate.
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Im Bereich der Mode lassen sich im Wesentlichen zwei Ausprägungen solcherlei Theatralität feststellen. Eine erste, mimetische Variante manifestiert sich insbesondere in romanhaft-fiktional gestalteten Modefotografien und schauspielhaft ausstaffierten Modeschauen, deren Nähe zum Theater bzw. phantastischen Film bisweilen geradezu abbildhaft ist (vgl. exemplarisch Abb. 21). In solchen Modeinszenierungen wiederholt und verdoppelt sich die Distanz zwischen Rollenfigur und Rollendarsteller gleichsam systemisch in Bezug auf Mode und Bekleidung: Solche Inszenierungen wecken nicht nur den gelegentlichen Zweifel an der Alltagstauglichkeit von Mode, sondern setzen eine maximale Distanz zwischen Mode und Alltagswelt/Alltagskleidung plakativ in Szene. Abbildung 21: Christian Dior, Herbst/Winter 2005/06. Abbildung 21: Christian Dior, Herbst/Winter 2005/2006
Eine zweite, stärker konzeptionell orientierte Variante bilden starre, bisweilen harnischartige Gebilde aus Holz, Leder oder Metall, die jedes mimetische Moment verweigern, sowie homologe Aufmachungen und Inszenierungen von Maschinenmenschen, Androiden, Puppen etc. (Abb. 22 u. 23). Darstellerische Bewegungen werden hier notwendig hölzern, puppenhaft und wirken (oder sind) fremdgesteuert; die äußere Hülle wird zu einer Art Panzer oder Kokon, der zwar einen Körper beherbergt, der zugleich aber den körperlichen Ausdruck absorbiert. Während die notwendige Anonymität sozialer Typisierungen, mit deren Hilfe wir uns wechselseitig erfassen, für gewöhnlich mit den »vielfältigen, lebendigen Symptomen ›aufgefüllt‹« werden kann, »in denen sich ein leibhaftiger Mensch anzeigt« 79, verbergen modische Gebilde und Aufmachungen wie die genannten den leibhaftigen Menschen, der in ihnen steckt, noch zusätzlich und lassen eine Identifizierung seiner Persona nicht 79 | Berger/Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, S. 171.
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zuletzt auch aufgrund der mangelnden somatischen Deutlichkeit seines Erscheinungsbildes kaum mehr zu. Theatrale Inszenierungen wie diese setzen mit Nachdruck die Geltung alltäglicher Identitätsunterstellungen außer Kraft. Für sie gilt, was Susan Sontag auf die griffig-paradoxe Formel des »Alles ist, was es nicht ist«80 brachte. Im ›echten‹ Theater gilt solcherlei Theatralität als legitime Kunst81; die Mode hingegen vollzieht mit ihr die »fundamentale Unbotmäßigkeit«, dort »fürwitzige Fragen«82 nach dem Sein der Dinge, Personen und Ereignisse zu stellen, wo für gewöhnlich ein System kollektiv verabredeter Darstellungs- und Verhaltensstile verbindliche Antworten gibt. Die Hyperbolik solcherlei Mode besteht in der Zurückweisung und Infragestellung symbolisch durchgeformter Wirklichkeitsauffassungen: im ästhetischen Zusammenspiel vielfältiger Dissimulationen, Inversionen und Theatralisierungen. Abbildung 22: (links): Martin Margiela, Frühjahr/Sommer 2009 Abbildung 23: (rechts): Yohji Yamamoto, Herbst/Winter 1998/99
M ediale S teigerung : D er A usnahmechar ak ter der M ode Selbst dann, wenn in ihnen »keine Spur« praktischer »Zweckmäßigkeit«83 mehr zu walten scheint, sind Modeformen, wie die diskutierten, keineswegs willkürliche Hervorbringungen. Im Gegenteil, gerade darin, dass sie das soziale De80 | Susan Sontag: Anmerkungen zu Camp. In: Dies.: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen. Frankfurt a.M. 1982 (1962), S. 322-341, hier S. 326. 81 | Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen. 82 | Hans Robert Jauß: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Frankfurt a.M. 1991 (1982), S. 28. 83 | Simmel: Die Mode, S. 81.
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korum auf den Kopf stellen, Alltagswahrnehmungen aushebeln und Identitäts unterstellungen zurückweisen, wird ein durchaus rationales Gestaltungsprinzip kenntlich. Kulturgeschichtlich neu ist dieses Prinzip darstellerischer Liminalität keineswegs, neuartig ist aber seine Umsetzung und gesellschaftliche Weiterentwicklung durch zeitgenössische Modeformen. Im Vergleich zu ›klassischen‹ Ausprägungen von Liminalität ist die Infragestellung der Alltagsordnung im Fall liminaler Modeästhetiken allerdings nicht auf bestimmte rituelle Zeiten und Situationen begrenzt; und sie spiegelt auch nicht die konkreten Lebensweisen einzelner Personen oder gesellschaftlicher Gruppen wider. Sie ist vielmehr eine zunehmend mediatisierte Wirklichkeit, sei es, dass entsprechende Entwürfe (Kollektionen) und Inszenierungen (Modenschauen) überhaupt erst durch moderne Medien wie die Fotografie, die Videoaufzeichnung, den Fashionfilm oder den Blog gesellschaftlich sichtbar werden, sei es, dass entsprechende Grenzüber schreitungen überhaupt erst in jeweiligen Bildmedien vorgenommen werden. Hatten bereits Nietzsche, Durkheim und Turner gezeigt, dass eine zeitweilige, partielle Auflösung der gesellschaftlichen Ordnung eine Grunderfahrung menschlicher Existenz ist und dass die entsprechenden liminalen Phasen und Zustände in der Regel durch symbolisch-rituelle Formen und Praktiken gesellschaftlich gezielt organisiert werden, so ist im Hinblick auf die genannten Modeästhetiken zu konstatieren, dass diese eine prinzipiell vergleichbare, d.h. Liminalität organisierende Funktion übernehmen, hierin aber zunehmend symbolisch-medial geprägt sind. Wie ehedem das Ritual, so ersetzt nunmehr auch die Mode den faktischen Tabubruch, die echte Raserei, den wirklichen Umsturz durch Abstraktionen: das Ritual durch Handlungsandeutungen, die Mode insbesondere auch durch bildmediale Statthalter. Zugleich aber macht die Mode, wie zuvor das Ritual, derartige Grenzüberschreitungen überhaupt erst in gesellschaftlich nennenswertem Umfang möglich, indem sie dem jeweiligen Grenzübertritt geeignetes (und gegebenenfalls auch professionell-curricular erlernbares) Realisierungswissen vestimentär-performativer und medientechnischer Art zur Verfügung stellt. Wie ehedem das Ritual ist nunmehr die medial verfasste Mode nicht nur ein äußerer Rahmen des gesellschaftlichen Grenzübertritts, sondern dessen konstitutive Form. Modesoziologisch heißt dies, dass sich die Apartheid84 der Mode keineswegs in den »feinen Unterschieden«85 und repräsentativen Ästhetiken inner84 | Der Begriff wird hier im Sinne des Wortstammes apart (lat.-fr.): »in ausgefallener, ungewöhnlicher Weise ansprechend« bzw. »gesondert, getrennt« verwendet, vgl. Duden. Fremdwörterbuch. Mannheim u.a. 1997, S. 72, sowie in soziologischer Hinsicht, vgl. Hans-Georg Soeffner: Stile des Lebens – Ästhetische Gegenentwürfe zur Alltagspragmatik. In: Jörg Huber (Hg.): Kultur – Analysen (= Interventionen; Band 10). Zürich 2001, S. 79-113, hier S. 97. 85 | Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a.M. 1987 (1979).
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gesellschaftlicher Distinktionskämpfe erschöpft. Die Apartheid der Mode manifestiert sich ebenso in liminalen Ästhetiken, welche die gesellschaftliche Ordnung selbst in ihre Grenzen weisen und der latenten Möglichkeit einer gesellschaft lichen Ordnungsauflösung Ausdruck verleihen. Mode ist also weder »immer Klassenmode«86, noch ist sie in ihren hyperbolischen Ausprägungen, das heißt als »Mode nach der Mode«87, a priori politisch-emanzipativ.88 Die diskutierten Phänomene sprechen vielmehr dafür, dass auch sie, die Mode, zu jenen symbolischen Ausdrucks- und Organisationsformen zu zählen ist, mit deren Hilfe historische und zeitgenössische Gesellschaften der ästhetischen Infragestellung ihrer Ordnung einerseits Raum geben, entsprechende Grenzüberschreitungen zugleich aber auch raum-zeitlich oder aber eben medial eingrenzen. Dies widerspricht keineswegs der Tatsache, dass zunächst jedwede Mode auf einer partiellen Grenzüberschreitung basiert. Gerade dies unterscheidet die Mode als ästhetisches Phänomen von konventionalisierten Darstellungsund Kommunikationsformen, und gerade auf ihren latenten Grenzüberschreitungen beruht ihre gesellschaftlich enervierende Wirkung. Nur sagt dieser ästhesiologische Grundtatbestand89 noch nichts darüber aus, wie die jeweiligen ästhetischen Enervationen der Mode in bestimmten historischen Situationen und sozialen Konstellationen symbolisch und kommunikativ ausgeführt, gerahmt und genutzt werden. Soziologisch macht es durchaus einen Unterschied, ob etwaige symbolische Grenzüberschreitungen der Veranschaulichung sozialer Exklusivitätsansprüche dienen (und somit die prinzipielle Geltung bestehender repräsentativer Ordnungen bestätigen) oder aber ob sie in medialer 86 | Simmel: Die Mode, S. 80. 87 | Vinken: Mode nach der Mode. 88 | Barbara Vinken vertritt diesbezüglich die These, dass die von ihr so bezeichnete »Mode nach der Mode« ihre Formensprache im Wesentlichen gesellschaftlichen Gegenkulturen, der Straße oder Außens eitere xistenzen entlehne und dementsprechend wenig dazu geeignet sei, die etablierte gesellschaftliche Ordnung zu stützen. Vielmehr dekonstruiere solcherlei Mode tradierte Konstruktionen von Geschlecht und Klasse, von Oben und Unten und wirke letztlich politisch-emanzipativ: »Im Zeichen des Alten, Gebrauchten, Verbrauchten verschreibt sie sich [die »Mode nach der Mode«, M.R.M.] einer Ästhetik der Armut und Häßlichkeit, des Sentimentalischen oder Unzeitgemäßen, des Kitschigen und des schlechten Geschmackes […]«. Die Folge, so Vinken: »Streng teilen wir die Mode nun nicht mehr, weder Klassen, noch Altersgruppen, noch Geschlechter. Nichts wäre überholter, als sich als ›Frau‹, als ›Mann‹ oder als ›Dame‹ anzuziehen […].« (Ebd., S. 34 u. 59f.). 89 | Alois Hahn: Kunst, Wahrnehmung und Sinndeutung. In: Anne Honer/Ronald Kurt/ Jo Reichertz (Hg.): Diesseitsreligion. Zur Deutung der Bedeutung moderner Kultur. Konstanz 1999, S. 153-182.
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Distanz zur Alltagswelt auf dem Niveau einer freien Imagination des Unwahrscheinlichen90 erfolgen. Auch wenn mit solch einer idealtypischen Gegenüberstellung vorerst noch kaum etwas über die empirische Komplexität des Zusammenspiels dieser beiden Momente gesagt ist: Gerade auch soziologisch wäre es meines Erachtens nach nicht hinreichend, die ästhetischen Enervationen der Mode unter inhaltlich indifferente, das heißt anthropologische (Simmel), distinktionslogische (Bourdieu) oder kybernetische (Esposito) Formgesetze zu verrechnen. Gerade in ihren liminalen Ästhetiken beerbt die moderne, medial verfasste Mode das Ritual als gesellschaftlich organisierten »Antialltag«91. Dieser potentielle Ausnahmecharakter der Mode mag auf der einen Seite immer wieder hinter das »verhüllende Nivellement«92 vestimentärer Massenproduktionen zurücktreten, auf der anderen Seite manifestiert er sich regelmäßig in immer neuen medialen Phantasieüberschüssen.
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Autorinnen, Autoren und Mitarbeiterinnen
Svenja Adelt, Dr., Studium der Vergleichenden Textilwissenschaft, Soziologie und Kunstgeschichte an der TU Dortmund, wiss. Mitarbeiterin am Institut für Kunst und Materielle Kultur der TU Dortmund, Dissertation über vestimentäre Praktiken berufstätiger Musliminnen in Deutschland (2013). Julia Bertschik, PD Dr., Privatdozentin am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie an der Freien Universität Berlin, Gastprofessuren in China, Polen, Österreich sowie den USA. Studium der Germanistik, Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte in Erlangen und Berlin, Promotion über die historischen Erzähltexte von Wilhelm Raabe, 2003 Habilitation mit einer literaturwissenschaftlichen Studie zur Modegeschichte. Elke Gaugele, Univ. Prof., Kulturwissenschaftlerin und Leiterin des Fachbereichs »Moden und Styles« am Institut für Künstlerisches Lehramt an der Akademie der Bildenden Künste in Wien. Promotion 1999 über Kleidung als Medium der Geschlechterkonstruktion an der Universität Wien im Fach Europäische Ethnologie. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Ethnografien der Mode, postkoloniale und queerfeministische Perspektiven der Fashion Studies, Biopolitiken und neue Technologien der Mode. Andrea Hauser, Dr., Kulturwissenschaftlerin, Mitbegründerin der Agentur Geschichts- und Kulturkonzepte, Bremen 2007. Studium der Empirischen Kulturwissenschaft, Germanistik, Erziehungswissenschaft in Tübingen. Dissertation zur historischen Sachkultur eines schwäbischen Dorfes (1994), danach wissenschaftliche Mitarbeiterin in Forschungsprojekten und Lehrbeauftragte u.a. an den Universitäten Jena, Bremen, Halle und Oldenburg sowie Ausstellungskuratorin. Kuratorin verschiedener Ausstellungen, Publikationen zur Materiellen Kultur und der Alltags-, Regional- und Kulturgeschichte. Alfons Kaiser, Dr. phil., Journalist. Studium der Germanistik, Politikwissenschaft und Psychologie in Heidelberg und Wien, Promotion 1995 an der Uni-
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Die Wissenschaf ten der Mode
versität Mannheim über die Romane von Uwe Johnson. Seit 1997 Redakteur bei der Frankfurter Allgemein Zeitung; zuständig für das Ressort »Deutschland und die Welt« sowie für das Frankfurter Allgemeine Magazin; regelmäßige Berichterstattung über Moden und Stile. Lioba Keller-Drescher, Dr., Empirische Kulturwissenschaftlerin, Lehrbeauftragte und Habilitandin am Ludwig-Uhland-Institut der Universität Tübingen mit einer wissenschaftshistorischen Studie zu Ressourcen und Strategien regionaler Ethnographie. Studium der Empirischen Kulturwissenschaft und der Philosophie in Tübingen, 2002 Promotion zur historischen Kleidungsforschung. Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind Textil- und Kleidungsforschung, regionale Sprach- und Alltagsgeschichte, Wissens- und Wissenschaftsforschung. Gudrun M. König, Prof. Dr., Studium der Empirischen Kulturwissenschaft, Soziologie und Politikwissenschaft in Tübingen, 1994 Dissertation zur Kulturgeschichte des Spaziergangs, wissenschaftliche Angestellte und Assistentin am Ludwig-Uhland-Institut der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Habilitation (2004) zur inszenierten Warenwelt um 1900. Seit 2007 Professorin am Institut für Kunst und Materielle Kultur der TU Dortmund. Forscht und lehrt zur Analyse materieller Kultur, Kulturgeschichte der Moden, Konsum- und Museumsgeschichte. Ulrich Lehmann, Prof. Dr., Professor an der School of Fashion, University for the Creative Arts in England, zuvor tätig am Royal College of Art und am Victoria and Albert Museum. Studium der Philosophie, Soziologie, Kunstgeschichte und Neuphilologie in Frankfurt a.M., Paris und London, MA am Courtauld Institute of Art in London, Dissertation an der University of Essex über Mode in der Moderne (1996). Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte betreffen die europäische Kultur- und Kunstgewerbegeschichte des 19. Jahrhunderts, Modegeschichte, Modetheorie und die Geschichte kultureller Ausdrucksformen von 1860 bis heute. Annelie Lütgens, Dr., Kunsthistorikerin und Leiterin der Grafischen Sammlung der Berlinischen Galerie. Promotion über Jeanne Mammen an der Universität Hamburg (1990), danach wissenschaftliche Assistentin an der Hamburger Kunsthalle sowie Kuratorin am Kunstmuseum Wolfsburg. Ausstellungen und Publikationen zur Kunst und Fotografie des 20. Jahrhunderts. Gabriele Mentges, Prof. Dr., Professur für Kulturanthropologie des Textilen am Institut für Kunst und Materielle Kultur der Technischen Universität Dortmund. Studium der Ethnologie, Volkskunde, Soziologie und Philosophie an
Autorinnen, Autoren und Mitarbeiterinnen
den Universitäten Hamburg, Heidelberg und Marburg; Dissertation zu Erziehung, Dressur und Anstand in der Sprache der Kinderkleidung (1989); Konservatorin am Württembergischen Landesmuseum Stuttgart; Forschungsschwerpunkte: globale Mode- und Textilgeschichte, Museologie, Mode-, Gender- und Kulturtheorien. Michael R. Müller, Prof. Dr., Professor für Visuelle Kommunikation am Institut für Medienforschung der TU Chemnitz. Studium der Politikwissenschaft und Geschichte; Promotion im Fach Soziologie zur Ästhetik gesellschaftlicher Selbstbehauptung (2009); anschließend Juniorprofessor im Fach Kulturanthropologie des Textilen am Institut für Kunst und Materielle Kultur der TU Dortmund. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind: Figurative Hermeneutik/Bildanalyse, Kommunikations- und Mediensoziologie, Soziologie des Individuums, soziologische Ästhetik und politische Kulturforschung. Zuzanna Papierz, M.A., Studium der Germanistik an der Universität Szczecin und der Empirischen Kulturwissenschaft an der Universität Tübingen, wiss. Mitarbeiterin am Institut für Kunst und Materielle Kultur der TU Dortmund; arbeitet an ihrem Dissertationsprojekt zum weißen Kittel und der Repräsentationskultur in der Wissenschaft.
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Fashion Studies bei transcript Gertrud Lehnert, Alicia Kühl, Katja Weise (Hg.)
Modetheorie Klassische Texte aus vier Jahrhunderten
2014, 240 Seiten, kart., 24,99 E, ISBN 978-3-8376-2252-8 E-Book: 21,99 E, ISBN 978-3-8394-2250-2 Was ist Mode? Wozu Mode? Seit Jahrhunderten erklären Theoretiker und Theoretikerinnen auf unterschiedlichste Weise dieses facettenreiche Phänomen, das die modernen Gesellschaften prägt wie kaum ein anderes. Der Reader versammelt eine repräsentative Auswahl von modetheoretischen Originaltexten vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart, die mode- und diskursgeschichtlich eingeordnet und erläutert werden. Der Band ist ein unverzichtbares Arbeitsbuch für Studium, Lehre, Forschung und Praxis.
www.transcript-verlag.de