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German Pages 212 Year 2015
Christa Gürtler, Eva Hausbacher (Hg.) Kleiderfragen
Fashion Studies | Band 4
Editorial Mode ist Motor und Ergebnis kultureller Dynamiken. Kleider gehören der materiellen Kultur an; Mode ist Ergebnis des Handelns mit Kleidern und wird in ästhetischen und alltagskulturellen Praktiken hervorgebracht. Als omnipräsente visuelle Erscheinung ist Mode wichtigstes soziales Zeichensystem – und sie ist außerdem einer der wichtigsten globalen Wirtschaftsfaktoren. Die Reihe »Fashion Studies« versteht sich als Forum für die kritische Auseinandersetzung mit Mode und präsentiert aktuelle und innovative Positionen der Modeforschung. Die Reihe wird herausgegeben von Gertrud Lehnert, Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft an der Universität Potsdam.
Christa Gürtler, Eva Hausbacher (Hg.)
Kleiderfragen Mode und Kulturwissenschaft
Gedruckt mit Unterstützung der Universität Salzburg, der Stiftungs- und Förderungsgesellschaft der Universität Salzburg und des Frauenbüros der Stadt Salzburg.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Vorwort | 7 BARBARA VINKEN Männer sind die neuen Frauen: Unisex oder Cross Dressing? | 11 GERTRUD LEHNERT Mode als kulturelle Praxis | 29 KORNELIA HAHN Zeiten des Vestimentären. Mode als Kristallisationspunkt sozialer Beschleunigung? | 45 MANFRED KERN Exzellente Kleidsamkeit. Vestimentäre Ästhetiken in Dichtung und Kunst des Mittelalters | 59 SILKE GEPPERT „narratio per vestimentum“. Sichtbarmachung des Unsichtbaren im Kleiderwechsel | 81 UTA DEGNER, CHRISTA GÜRTLER Mode als ästhetische Praxis. Zur poetologischen Relevanz von Kleiderfragen bei Elfriede Gerstl und Elfriede Jelinek | 97 JULIA HARGASSNER, EVA HAUSBACHER, ELENA HUBER ‚Stiljagi‘ – eine westliche Modeinvasion? Kulturtransfer und Kleidermode in der Sowjetunion | 117 DANIEL DEVOUCOUX Medien in Medien. Zur Kulturanthropologie von Mode im Film | 139
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HILDEGARD FRAUENEDER Schrille Outfits, extravagante Auftritte. Die Pose als Vermittlungsfigur | 157 SONJA EISMANN An den Rändern der Hauptstraße. Street Style Blogs zwischen kommunikativem Kapitalismus und dissidenter Artikulation | 177 ELKE GAUGELE Unter dem ökonomischen Imperativ. Mode, Ethik, Global Governance | 193 AutorInnen | 207 Bildnachweis | 211
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Vorwort
Die Sprache der Mode, ihre vielfältigen Funktionen als Medium der Kommunikation und ihre Verflechtungen mit Diskursen der Wissenschaft und der Kunst sind Gegenstand des vorliegenden Bandes. Seit dem 18. Jahrhundert balanciert Kleidermode zwischen Kunst und Kommerz, sie changiert in der Ambivalenz von Angleichung und Unterscheidung und verfügt über weitreichende antizipatorische Qualitäten. Als materielle Schnittstelle zwischen Individuum und Gesellschaft prägt sie in vielerlei Weise individuelle und kulturelle (Leit-)Bilder und zeittypische Tendenzen. Geradezu paradigmatisch macht Mode zentrale gesellschaftliche Veränderungen seismografisch sichtbar, wie beispielsweise wiederkehrende Paradigmenwechsel in Körper- und Identitätsdiskursen oder Verschiebungen in der Geschlechterordnung. Modeanalysen sind hinsichtlich der kulturellen Semantik des Vestimentären aufschlussreich, kann Mode doch als Signifikant historischer, politischer, sozialer und psychologischer Prozesse lesbar gemacht werden. In der Entgegensetzung von modischem Sein und ,wahrem‘ Sein werden Modefragen auch Gegenstand der Philosophie. Die hier versammelten Beiträge dokumentieren die interdisziplinäre Ringvorlesung „Kleiderfragen: Mode und Kulturwissenschaft“, die im Rahmen des Schwerpunkts „Wissenschaft und Kunst“ im Wintersemester 2013/14 an der Universität Salzburg stattgefunden hat. Sie beschäftigen sich mit dem Stellenwert des interdiskursiven Kulturthemas (Kleider-)Mode in der wissenschaftlichen Reflexion und der künstlerischen Produktion und fokussieren die zentralen Schnittpunkte der Kleidersprache mit verschiedenen Diskursfeldern. Die Beiträge fragen nach den Zusammenhängen von Mode und (Post-)Moderne in Literatur, bildender Kunst und Film sowie nach deren gesellschaftlichen Implikationen. Barbara Vinken geht in ihrem Beitrag der Frage nach, ob die Angleichung der männlichen und weiblichen Mode seit der Französischen Revolution die Differenz der Geschlechter auslöscht oder unterstreicht. Sie formuliert die These, dass der männliche Körper im uniformen Anzug neutralisiert in Körperschaften überführt wird, gleichzeitig aber der weibliche Körper gerade
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durch das Entwenden männlicher Kleider und das Zeigen des Beins unwiderstehlich weiblich wird. Mit ,Mode als kultureller Praxis‘ beschäftigt sich Gertrud Lehnert. Kleider sind nur ein materielles Angebot, zu Modekleidern werden sie erst durch kulturelle Zuschreibungs- und Inszenierungspraktiken, sowohl im Modesystem (Fashion System) als auch in den Alltagspraktiken (Self Fashioning) der Konsumierenden. Die Soziologin Kornelia Hahn untersucht die Zeitabhängigkeit als Kern des Modischen und fragt, ob die gegenwärtigen Beschleunigungstendenzen auch den Modewandel beschleunigen oder der Modewandel zum Erleben eines beschleunigten Alltags beiträgt. Die Beiträge von Manfred Kern und Silke Geppert beschäftigen sich mit den vestimentären Codes in Literatur und Kunst des Mittelalters. Am Beispiel des Tristanromans Gottfrieds von Straßburg zeigt Kern Verfahren der poetischen Inszenierung, die ganz wesentlich mit der Faszination des Kleidsamen operieren, und führt vor, dass dort, wo das Kleid im Text thematisch wird, auch das ,Kleid‘ des Textes in der Metaphorik ästhetischer Verfertigung reflektiert wird. Silke Geppert analysiert die ,Hüllen‘ der Heiligen auf den Altarbildern, die einem eigenen Dresscode, der teilweise metaphorisch, teilweise symbolisch und legendarisch bedingt ist, unterliegen. Am Beispiel von Franziskus von Assisi und Maria Magdalena, deren ,vestimentäre‘ Biographien ,bildbewegend‘ wurden, zeigt sie, welche mediale Bedeutung das An- und Ablegen der Kleidung/des Mantels für die Heiligenvita und deren Aussage hat. Uta Degner und Christa Gürtler untersuchen die performative und diskursive Modeästhetik bei Elfriede Gerstl und Elfriede Jelinek, die in den Feldern der Mode und Literatur eine Position der Avantgarde einnehmen. Christa Gürtler zeichnet Elfriede Gerstls Poetik einer „Wiener Mischung“ nach, die durch Abweichung und Flüchtigkeit bestimmt ist, Uta Degner geht Elfriede Jelineks paradoxer Aufhebung der Mode durch Mode nach. Julia Hargaßner, Eva Hausbacher und Elena Huber zeigen am Beispiel von ,Stiljagi‘, einer Jugendsubkultur in der Sowjetunion, dass Kleidermode als zentrales Medium kultureller Transfers und als Indikator und Code für innerund interkulturelle Verflechtungen gewertet werden kann. Am Beispiel dieser ,westlichen Modeinvasion‘ werden inter- und intrakulturelle Einflüsse auf sowjetische Bekleidungskonventionen beobachtet und Fragen nach dem Widerstandspotential von Kleidermoden diskutiert. In zwei Filmen, die die Mode selbst zum Gegenstand haben, Prêt-à-Porter von Robert Altman (1994) und Der Teufel trägt Prada von David Frankel (2005), geht Daniel Devoucoux der Frage nach, welche Art der Auseinandersetzung die cinematographische Kunst durch die Doppelung der Perspektiven mit der Mode vornimmt und welche Vorstellungen von Körper und Mode dabei generiert werden. Hildegard Fraueneder thematisiert Grenzgänge und Übertritte zwischen den Feldern Kunst und Mode an zwei ganz unterschiedlichen künstlerischen
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Praktiken und Einsätzen von Bekleidung: Leigh Bowery und Cindy Sherman. Bei beiden werden Körper- und Genderfragen verhandelt, wobei auf je differente Weise die Pose als Vermittlungsfigur eine zentrale Rolle spielt. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Mode-Blogs bietet Sonja Eismann in ihrem Beitrag. Mode-Blogs gelten vielen als Beweis einer Demokratisierung der Modewelt, weil kreative Looks von der Straße gleichrangig mit den Kreationen etablierter Luxury Brands rezipiert werden. Dabei wird aber übersehen, dass eine Vielzahl dieser Blogs von Insidern der Modeindustrie bespielt wird und sich zwischen ,kommunikativem Kapitalismus‘ und dissidenter Artikulation bewegt. Elke Gaugele beleuchtet den aktuellen Paradigmenwechsel der Mode und befragt den ,Ethical Turn‘ auf neue Zusammenschlüsse von Mode, Ökonomie und Politik. Sie analysiert, welche neuen Produktionsfelder sozialer und globaler Unterschiede dabei entstehen und ob dabei neo-koloniale oder auch neofeudale Repräsentationsmodelle wirksam sind. War Kleidermode lange Zeit ein aus den Wissenschaften ferngehaltener und in der Kulturkritik negativ bewerteter Bereich, so hat das Thema spätestens seit der Jahrtausendwende Konjunktur und wird im Zuge der Fashion Studies vielerorts institutionalisiert. Die hier versammelten Beiträge zeigen den aktuellen Stellenwert des Forschungsfeldes Mode in den Wissenschaften und seine vielgestaltigen Verflechtungen mit künstlerischen Positionen. Sie entwerfen neue Perspektiven auf die Verhandlung von Mode, die als transkulturelles Phänomen, angesiedelt zwischen Kunst und Kommerz, Museum und Markt, auch die Grenzen von theoretischer Reflexion und angewandter Perspektive überschreitet. Wir bedanken uns bei Harald Gschwandtner für seine umsichtige und genaue Lektorats- und Korrektoratsarbeit und bei Kurt Kaindl, der uns das Coverfoto der österreichischen Fotografin Gerti Deutsch (1908, Wien – 1979, Leamington Spa), deren Nachlass er betreut, zur Verfügung gestellt hat. Christa Gürtler und Eva Hausbacher
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Männer sind die neuen Frauen: Unisex oder Cross Dressing? BARBARA VINKEN
Mode, das ist die Hypothese, ist seit der Moderne immer Cross Dressing (vgl. Vinken 1993). Klasse oder Stand und Geschlecht – auch Rasse, aber das ist jetzt nicht mein Thema – sind die Parameter. Dieses Cross Dressing folgt Regeln. Mode ist weder tyrannisch noch unvorhersehbar. Modewandel hat System, Mode hat Methode. Beginnen wir mit den neuen Beinen der Frauen. Bei den weiblichen Silhouetten geht es seit gut zehn Jahren nur um Beine, Beine, Beine. Lange, sehr lange Beine, die oft bis zum Schritt und unter dem Po sichtbar sind. Beine in Leggings oder engen Hosen. Beine mit blickdichten Strümpfen in Shorts oder sehr kurzen Röcken. Dazu Stiefel in allen Längen, oft bis über die Knie. Die langen Stiefel sind meistens flach. Die kürzeren Stiefel, weit in Falten fallend oder grob klotzig, fast martialisch, haben einen kantigen Absatz. Oft werden die Beine, die dann noch endloser wirken, durch Plateau-Sohlen verlängert. Mit solchen Schuhen trippelt und stöckelt man nicht, man tritt bestimmt auf. Die Stiefel in weichen Falten gemahnen an Landsknechte. Diese Beine sind offensichtlich das Gegenteil zu den ,klassischen Frauenbeinen‘, die in durchsichtigen, hauchdünnen Strümpfen durch das Spiel von Nacktheit und Verhülltsein bestimmt sind. Generell sind die Nylonstrümpfe in den letzten dreißig Jahren durch ,Phantasiestrümpfe‘ verdrängt worden. Netz und Häkel, aufwendige Spitze, raffinierte Muster und bestickte Strümpfe, dicke bunte Wollstrumpfhosen, Leggings und Over-Knees haben den Strümpfen und Strumpfhosen ein größeres Eigengewicht gegeben. Nicht das Bein, das seidig-nackt erst durch den Nylonstrumpf wird, sondern das angezogene, geschmückte, bestickt-bestrickende Bein betrat die Bühne. Damit wurden die Fragen: Wie hoch kann man das Bein sehen, wie kurz oder wie hoch geschlitzt ist der Rock? ad acta gelegt. Die Frage, ob man beim Schaukeln, Sitzen oder Bücken gar unter den Rock gucken kann, ob er zu hoch hinauf rutscht, ob er enganliegend zu viel preisgibt, zu durchsichtig ist oder duftend schwingend gar über den Kopf geweht wird, hat sich erledigt. Marilyn Monroe im heißen
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New Yorker Sommer auf dem U-Bahn-Schacht, dessen kühle Luft ihr den Rock hochbläst, wurde zu ,der‘ erotischen Ikone des letzten Jahrhunderts. Das Sichtbar-Werden des Schenkels signalisierte, dass man am Ziel seiner Wünsche angekommen war. Von Marlene Dietrich im Blauen Engel (1930) bis zu Mad Men (seit 2007) ‒ in den 1960er Jahren ist der Straps zur Kurzformel fürs Liebemachen geworden. Dieses Spiel zwischen Entblößung und Verhüllung, das das Geschlecht im Blick hält, ist für die neuen Frauenbeine, die jetzt seit gut zehn Jahren das Straßenbild bestimmen, merkwürdig irrelevant geworden. Diese Silhouette ist dabei, nicht mehr so dominant zu sein, und die Designer arbeiten massiv daran, sie zu ersetzen. Schlaghosen und ‒ extreme Gegenbewegungen ‒ die ganz weiten Hosen aus den aktuellen Kollektionen, aber auch der wiederbelebte New Look mit weit schwingenden Glockenröcken, die Rückkehr der Bleistiftröcke, jetzt des Maxis etc. sind die offensichtlichsten Beispiele. Die neuen Beine der Frauen entpuppen sich als die alten Beine der Männer. Vor der Mode der sogenannten ,Sans-culottes‘ rückten die Männer ihre schönen Beine reizvoll selbstbewusst ins rechte Licht, bevor sie sie in langen Hosen verbargen. Diese schönen, engbestrumpften, vorrevolutionären Männerbeine sind im Moment die neuen Beine der Frauen; sie bewegen sich damit so frei, so zielstrebig raumgreifend reizvoll wie die Männer der Renaissance. Auf die Männer und ihre Beine verweist auch das Umgehen mit der Sichtbarkeit des Geschlechtes oder anders gesagt das Aufgeben der klassischen weiblichen Schamzone. In den neuen Beinen der Frauen wird die alte Opposition ‒ zeigen (männlich) versus verstecken (weiblich) ‒ durch die Gleichgültigkeit gegenüber dem Sehen des Geschlechts, die an die Stelle der vorherigen Scham tritt, abgelöst. Diese neuen Beine verdanken sich einem und vielleicht sogar ,dem‘ bestimmenden Prinzip der Damenmode in der Moderne: der systematischen Übertragung von Herren- in Damenmode. Dieses Prinzip wird allerdings eigenartig verrückt. Normalerweise wird nämlich die Herrenmode der Moderne übertragen: nämlich die Herrenmode, wie sie sich im 18. Jahrhundert zuerst in England entwickelte und die bis heute bestimmend geblieben ist. In die Damenmode übertragen wird, um es kurz zu sagen, der moderne Herrenanzug. So, und nur so – das ist das Credo der ,fortschrittlicheren‘ Designer –, kann die Damenmode endlich ihren Anachronismus ablegen und modern werden. Die aktuelle Mode überträgt jedoch die Männermode vor der Revolution. Für die Männermode bis zur Revolution galt, was heute Devise für Frauenmode geworden ist: Beine sind zum Zeigen da. Bein, noch mehr Bein, noch schönere, längere, wohlgeformtere Männerbeine zeigen Bilder aus Mittelalter und Renaissance. Bein zu zeigen war ausschließlich den Männern vorbehalten. Schon der Anblick eines Damenknöchels versetzte die Männer in helles Entzücken. Der moderne Mann verzichtet darauf, Bein, viel Bein, Bein bis
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zum Schritt und vielleicht sogar Po und Geschlecht zu zeigen. Heute sind die ausgefallensten Damenstrümpfe nicht raffinierter gemustert als die hautengen, vorrevolutionären Leggings. Das lange, durch die Schuhe noch optisch verlängerte Bein, dessen Silhouette durch farbige, kühn gestreifte oder weiß schimmernde Strümpfe aufs Vorteilhafteste unterstrichen wird, finden wir auf Bildern der flämischen und italienischen Renaissance: selbstverständlich bei den Herren. Zur Zeit Karls V. ragte dieses lange, schlanke, bestrumpfte Bein weniger farbenfroh monochrom, aber nicht weniger klar konturiert unter einem ganz kurzen Ballonrock, der ,Heerpauke‘, oder unter einer enganliegenden, kurzen Oberschenkelhose hervor. Diese Heerpauken wurden so voluminös, dass im britischen Parlament unter Elisabeth I. die Sitze verbreitert werden mussten, um den Herren den nötigen Platz einzuräumen. Kaiser Karl V. zeigte in kostbaren, feingestrickten Strümpfen ,wunderschöne Beine‘. Diese Strümpfe, auch ,Tricothosen‘ genannt, zeigten hin und wieder sogar zarte Stickereien. Alles drehte sich um das Männerbein. Der spanische Hof beschenkte Heinrich VIII. gar mit dem Prachtstück einer seidenen Strumpfhose. Technische Revolutionen kamen nicht, wie etwa die Erfindung der ohne Naht herstellbaren Nylonstrumpfhose, den Frauenbeinen, sondern den Männerbeinen zugute: Spanien verlor sein Monopol auf die Herstellung der gestrickten Strumpfhosen 1589 an England, wo der mechanische Handwerksstuhl erfunden wurde. Um die Tricotstrümpfe der Männer wurde damals ein ähnliches Aufhebens gemacht wie in Europa und Amerika zwischen den 1950er und den 1980er Jahren um die Seidenstrümpfe. Deren Schimmer und Sitz, deren Feinheit und Schmiegsamkeit beschäftigte Heerscharen von Forschern und Ingenieuren. Von der Laufmasche bis zum Strumpfhalter, vom faltenlosen Sitz bis zur retrofaltigen Seidenoptik wurden sie zum pars pro toto weiblicher Erotik. Für die vorrevolutionären Männer waren nicht nur die Beine Vorzeigeobjekte; auch das nützlichste Glied der menschlichen Gesellschaft verstanden sie hervorragend zu inszenieren. Die Herren der Schöpfung verhüllten und versteckten ihr Geschlecht nicht, sondern ließen es durch die ,Braguette‘, die Schamkapsel, eindrucksvoll vergrößert und reich verziert hervorragen. In der Schamkapsel, gut gepolstert, anscheinend ständig erigiert, wurde es mit Bändern und Schleifen verziert und wie die Tricotstrümpfe hin und wieder reich bestickt. Heerpauke und Hosenlatz ließen es zwar an diesem Naturalismus fehlen, aber auch sie lenkten verwegen geschlitzt, gepolstert, wattiert und geschmückt das Augenmerk auf diese phallische Zone, die zu einer knalligen Lustbeule anschwoll. Mit den ,Sans-culottes‘, mit dem Ende der Kniebundhose war es mit Gockelei und Potenzgeschrei vorbei: Nach der Französischen Revolution verkümmerte das gute Stück und wurde zur Röhre glattgebügelt (vgl. Wolter 1988). Die Hosenmode, die im Empire getragen wurde, war nur von kurzer Dauer. In den mit einem Stegreif unter dem Schuh in Spannung gebrachten, ganz hellen, fleischfarbenen Hosen, die das männliche Bein fast
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so eng wie Tricothosen umfassten, lebte es zwar nicht zu alter, aufgeprotzter Herrlichkeit auf, zeichnete sich dafür aber umso naturalistischer ab. Wie Napoleon die Frage jedes Herrenschneiders, ob man Rechts- oder Linksträger sei, beantwortet hätte, daran kann nach dem Gemälde von Jean-Léon Gérôme, Napoléon en Egypte (1861/65, Princeton University, Art Museum), nicht der geringste Zweifel bestehen. Die Physiognomie des so siegreichen wie melancholischen Kaisers zeichnet sich vor orientalischem Hintergrund in seinen enganliegenden, hellen Beinkleidern klar ab. Einzig die Jeans, ursprünglich eine Hose der Goldgräber, die Marlon Brando in den 1950er Jahren gesellschaftsfähig machte, erlaubt es den Männern auch nach der Revolution, Geschlecht und Hintern in Maßen zu betonen. Mit der alten Herrlichkeit war es jedoch vorbei: Mit der Mode der Moderne haben die Männer ihre klassische erotische Zone verloren. Shaun Cole hat das vor Kurzem „die Feigenblattmentalität“ genannt (Cole 2013: 11). Es stimmt, dass die Schamkapsel oder ostentativ geschlechtsbetonte Hosen immer mal wieder in der Mode aufflackern. Gaultier etwa hat die Schamkapsel wieder auf den Laufsteg gebracht. Anspielungen finden wir in den letzten zwanzig Jahren auch bei Walter Van Beirendonck, Vivienne Westwood, John Galliano oder Bernhard Willhelm. Die ‚Penishosen‘ von Eldridge de Paris aus dem Jahre 1975 waren sicher der entschiedenste Versuch, den kostbaren Schmuck des Mannes wieder ins rechte Licht zu rücken.
Abbildung 1: Eldridge de Paris, Herold Tribune, 1975
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DIE MÄNNERMODE DER MODERNE Der Psychoanalytiker John Carl Flügel hat für diese grundlegende Veränderung im Verhältnis der Geschlechter zur Geschlechtlichkeit das Schlagwort von der „großen männlichen Entsagung“ geprägt (Flügel 1930: 110), die parallel zur großen Französischen Revolution stattgefunden hat. Entsagen tun die Männer in der Moderne laut Flügel dem narzisstischen Vergnügen, einen schönen Körper zu zeigen, sich herauszuputzen und zum Schmuckstück zu machen. Das überlassen sie ganz den Frauen. Die Geschichte unserer Mode, der Mode der Moderne beginnt mit der Französischen Revolution. Während die Mode bis dahin die Stände – die Adeligen und den Klerus vom dritten Stand, den dritten Stand von den Bauern – trennte, trennte die Mode nach der Revolution weniger die Stände oder die Klassen als die Geschlechter. Alle Menschen werden Brüder, bloß die Frauen nicht. Die wurden dafür ganz Frau, unbeschreiblich weiblich. Der Unterschied, sich in Bezug auf sein Geschlecht anders anzuziehen – markierte Sexualität bei den Frauen, unmarkierte bei den Männern –, der uns als die natürlichste Sache der Welt erscheint, entsteht erst mit dieser Kleiderordnung der Moderne. Es ist das, was die Mode der Moderne definiert. Aristokratische Zurschaustellung des Körpers und seiner erotischen Reize ist nach der Revolution Privileg – oder Bürde – der Frauen geworden. Was passiert mit dem männlichen Körper in diesem Moment? Der Anzug, den Anne Hollander zu Recht als ‚das‘ Kleidungsstück der Moderne definiert, triumphiert global. Fast klassisch ist der Anzug den Zyklen der Mode kaum unterworfen. Während sich die weibliche Silhouette in den letzten zweihundert Jahren radikal verändert, zeichnet sich die Silhouette des Mannes durch eine erstaunliche, man ist versucht zu sagen, klassische Konstanz aus. Die Männermode konstituiert sich mit dem bürgerlichen Zeitalter als Antimode im betonten Gegensatz zu all dem, was adelige Mode im Ancien Régime ausmachte. Und im Gegensatz zu all dem, was weibliche Mode in der Moderne ausmachen sollte. Prachtentfaltung und Körperbetontheit sind verpönt: Der bürgerliche Mann macht sich nicht zum Spektakel. Der Anzug wird zum ikonischen Zeichen, das die moderne Subjektnorm und die bürgerlichen Werte ausdrückt, und dies nur kann, indem er sich selbst unsichtbar macht. Männer sind nicht modisch. Sehr schön hat Friedrich Theodor Vischer den radikalen Umbruch in der männlichen Mode im Zeitraum der Französischen Revolution gefasst: „Das männliche Kleid soll überhaupt nicht für sich schon etwas sagen, nur der Mann selbst, der darin steckt, mag durch seine Züge, Haltung, Gesicht, Worte und Taten seine Persönlichkeiten geltend machen. Unseren Großvätern noch galt als ganz natürlich, daß der eine durch einen roten Rock mit Goldborte und blauen Strümpfen, der andere durch einen grünen mit Silberborte und pfirsichrotgelbe Strümpfe sich hervortun mochte. Wir sind damit rein fertig, gründlich blasiert gegen alles Pathetische, wir haben nur ein müdes Lächeln, wenn
16 | MÄNNER SIND DIE NEUEN FRAUEN: UNISEX ODER CROSS DRESSING? einer durch anderes, als sich selbst, in seiner Erscheinung sich herausdrängen will […]. Obwohl diese Scheinlosigkeit des Männerkostüms wenig über ein halbes Jahrhundert alt ist, kann man doch sagen, sie bezeichne recht den Charakter der Mode, nachdem aus ihr geworden, was ihrer Natur nach im Laufe der Zeit werden mußte.“ (Vischer 1986: 63)
Der moderne Anzug beginnt mit der Übernahme der Kleider des ,tiers état‘. Hier trug man gedeckte Farben, mit den niedrigeren Klassen konnotierte Stoffe wie Leinen und Wolle und keine glänzende, schwere Seide wie der Adel. Der Körper wurde nicht ostentativ zur Schau gestellt. Der moderne, klassische Anzug, der sich aus dieser Kleidung entwickelte, modelliert den Körper nicht eng, sondern idealisiert ihn in die antike V-Form. Mit schmalen Hüften und breiten Schultern wird der Bürger zum athletisch-antiken Helden. Gesäß und Geschlecht verschwinden unter der Anzugjacke. Es gibt kein Spiel zwischen nackter Haut und Stoff; bis auf die Hände und das Gesicht ist der Körper bedeckt. Die Körperumrisse werden verschliffen; der Körper wird in seiner Fleischlichkeit unsichtbar. Keine Wade, kein Schenkel zeichnet sich in seinen Muskel-Konturen in straff sitzenden Seidenstrümpfen ab. Die männliche Silhouette wird – Schulterpolster, von innen gefütterter, versteifter Stoff – idealisierend überformt. Sie verdeckt das Fleisch vorteilhaft, verbirgt Bauch und Hüftpolster, macht die Schultern breiter. Der ideale Anzug gibt den Bewegungen des Körpers nach, ohne dabei dank Schnitt-Techniken und Unterfütterung seine formgebende Funktion zu verlieren. Männer ziehen sich alle ähnlich unauffällig an. Variationen – Hemdkragen, Manschettenknöpfe – sind minimal. Es macht keinen Sinn, hundert verschiedene Smokings zu haben, weil sie alle so ähnlich aussehen, dass es kaum jemandem auffallen würde, trüge man jeden Abend einen neuen. Die Distinktion ist deswegen in der Männermode Insiderwissen; es geht um das Erkennen der feinen und feinsten Unterschiede. Die Schmuckfunktion wird auf die Krawatte, von denen man allerdings nie genug haben kann, weil jede offensichtlich anders aussieht und zudem – wie der Psychoanalytiker Flügel (1930) sagte – phallische Verweisfunktion besitzt, reduziert. Männer schminken und schmücken sich nicht mehr; sie tragen keine Absatzschuhe – jedenfalls üblicherweise nicht, sieht man von Sarkozy oder Mitterrand ab, die in französischnapoleonischer Tradition sehr klein waren. Wie tief das Schminken des Männerkörpers noch immer tabuisiert ist, zeigte die Debatte um die gefärbten Haare von Gerhard Schröder. Bei keiner Politikerin wäre so etwas ein Thema. Im Ganzen ist die Männermode eine gradlinige, eine schnörkellose Angelegenheit. Sie versteht sich funktional: ,form follows function‘. Was die Männermode anging, so gerieten die, die ihren Körper wie die Höflinge reizend zur Schau stellten, mit der Aufklärung und ,a fortiori‘ mit dem 19. Jahrhundert in den Geruch des Weiberhelden oder des Schwulen. Männlichkeit, richtige Männlichkeit tritt von nun an betont antitheatralisch in Erscheinung. Weiberhelden und Schwule hingegen sind nicht Herren ihrer Erotik, sondern ihr unterworfen. Wer sich so herausputzte, wer sein Äußeres
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mit Parfüm und Schminke inszenierte, wer sich so flamboyant in Szene setzte, konnte kein richtiger Mann sein.1 Sich als Mann anzuziehen, hieß sich wie alle bürgerlichen Männer als selbstbestimmte und -bewusste Subjekte, als Bürger anzuziehen. Das war eine Kunst, die beherrscht sein wollte. Die Frage, die die Männermode von nun an begleitet, wird nicht mehr die nach dem prunkvoll, schön, reizend oder standesgemäß, sondern die nach dem richtig AngezogenSein sein. Distinktion besteht darin, Distinktion unsichtbar zu machen, augenfällig nicht ins Auge zu fallen. Kunstvoll will die Kunst verborgen sein. Die Mode sollte die Person und das Individuum unterstreichen, den Geschlechtskörper aber, den die höfische Mode betont hatte, aufheben. Der Körper darf sich nicht mehr als schöner, sondern nur als starker, muskulöser, ganz männlich funktionaler Körper artikulieren – und das Zeigen dieses Körpers ist auch eher den Klassen vorbehalten, die einen solchen Körper zum Einsatz bringen: denen, die mit dem Körper arbeiten. Friedrich Nietzsche hat die Modeordnung der Moderne in der AphorismenSammlung Menschliches, Allzumenschliches – Ein Buch für freie Geister (1878/1879) sehr schön analysiert. Nietzsche unternimmt hier eine völlige Umwertung aller Werte, die das, was man bisher unter Mode verstand, auf den Kopf stellt. Während die Tracht, meint Nietzsche, hinterwäldlerisch-rückständig örtliche Eigenheiten bewahre, drücke die Mode die Tugenden des modernen, aufgeklärten, industriellen Europas aus. Erst peu à peu stellt sich heraus, dass Nietzsche mit Mode die Männermode meint. Die Mode trennt nicht, sie vereinheitlicht. Ihr wahrer Charakter sei deshalb auch nicht der schnelle Wechsel, sondern die Beständigkeit: „Im ganzen wird also gerade nicht das Wechselnde das charakteristische Zeichen der Mode und des Modernen sein, denn gerade der Wechsel ist etwas Rückständiges und bezeichnet die noch ungereiften weiblichen und männlichen Europäer: sondern die Ablehnung der nationalen, ständischen und individuellen Eitelkeit.“ (Nietzsche 1966: 963)
Während diejenigen Männer, die reife Europäer sind, sich mit Siebenmeilenstiefeln zielstrebig auf das Ziel einer modernen Mode zubewegen, haben manche junge Männer, vor allem aber die Frauen, noch einen weiten Weg vor sich. Strauchelnd hinken sie hinterher und verharren in einer anderen Zeit. Frauen und Dandys wollen sich hervortun, und diesen Willen zur Distinktion drücken sie in ihren Kleidern aus, während die männliche Kleidung auf Vereinheitlichung setzt. Der schnelle Wechsel der Mode, ihre „Schwankungen“, wie Nietzsche sagt – also ihr nach landläufiger Meinung eigentliches Wesen –, wird überholt sein, wenn auch die Stutzer, andere Dandys und die Frauen zu wirklichen Europäern gereift sind. In der endlich modernen, europäischen
1 Über die feinen Unterschiede, die oft an nichts als an einer Farbnuance hängen, kann man sich bei Gregor Schuhen (2007) informieren.
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Mode drücken sich im Gegensatz zur Tracht weder Nation noch Klasse oder individuelle Schönheit aus. Ihren Motor sieht Nietzsche im pointierten Gegensatz etwa zu Mandeville nicht in Hochmut und Eitelkeit. Die Mode ist Nietzsche idealerweise nicht Mittel der Distinktion, sondern Mittel der Nivellierung. Anders gesagt: Es ist die Gleichgültigkeit gegen alles im landläufigen Sinne Modische, die distinguiert. Der reife europäische Mann, selbstredend ein Geistesmensch, zeigt in seiner Kleidung, „daß er arbeitsam ist und nicht viel Zeit zum Ankleiden und Sich-putzen hat, auch alles Kostbare und Üppige in Stoff und Faltenwurf im Widerspruch mit seiner Arbeit findet; endlich daß er durch seine Tracht auf die gelehrteren und geistigeren Berufe als die hinweist, welchen er als europäischer Mensch am nächsten steht oder stehen möchte“ (Nietzsche 1966: 961f.). Dieser Gesamtcharakter der männlichen Mode – im Prinzip Inbegriff des A-Modischen – wird durch die, „welche als europäische Menschen noch nicht reif geworden sind“, also durch die „Eitelkeit der jungen Männer, der Stutzer und Nichtstuer der großen Städte“ gestört; sie bringen Veränderung in die Modelandschaft (Nietzsche 1966: 962). Noch weiter sind die Frauen, die zu „den gelehrteren und geistigeren Berufen“ selbstverständlich keinen Zutritt hatten, von diesem modernen Modeideal der Nivellierung entfernt. Folglich unterliegt die weibliche Mode heftigsten Schwankungen. Wird die Einheitlichkeit der Männermode durch die Bestimmung des Mannes als eines Wesens, das sich geistiger Arbeit widmet – oder doch so tun möchte –, bestimmt, dann die Schwankungen der Frauenmode durch die ,erotischen Probleme‘ der Kleidung. Die immer wieder anders beantwortete Frage, wie man den schönen Leib am glücklichsten inszeniert, treibt den Wechsel der Frauenmoden an. Vergeistigt die männliche Mode den Leib, dann ist die weibliche eine einzige Fleischbeschau. Jede kämpft gegen jede darum, das Fleisch für den Blick des Mannes reizend zu inszenieren. Ehrlich, halbehrlich Nacktheit in all ihrer jugendlichen Schönheit prunkend zeigen oder doch lieber raffiniert verschleiern? Hellsichtig hebt Nietzsche im Gegensatz zur formerfindenden, formgebenden, vereinheitlichenden Durchgeistigung der Männermode das Historistische der Frauenmode, ihren Exotismus und Anachronismus, ihren universalen Eklektizismus hervor, der keine souveräne, zeitgemäße Form findet. Frauenmode wird ihm zur Verkleidung, zu einem Jahrmarkt der Eitelkeiten. Sie ist ein orientalisches Gemisch aus zweiter Hand, in dem man „wieder einmal den Erfindungsgeist älterer höfischer Kulturen, sowie den der noch bestehenden Nationen, und überhaupt den ganzen kostümierten Erdkreis zu Rate gezogen und etwa die Spanier, die Türken und Altgriechen zur Inszenierung des schönen Fleisches zusammengekoppelt“ hat (Nietzsche 1966: 962). Geborgt, aufgewärmt ist sie als manieristischer Flickenteppich, als Cento, die Antithese zu allem Modernen. Nietzsches Umwertung der Mode ist symptomatisch für die Ambivalenzen und Paradoxa, die den modernen Diskurs über Mode begleiten. Noch Le Corbusier echot im Wesentlichen Nietzsche, wenn er die leere Frivolität der Frauenmode gegen den Anzug als Inbegriff der
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modernen Bekleidung setzt. Mode hat keine Zukunft; in einer endlich demokratischen Gesellschaft wird sie überlebt sein (vgl. Bartlett 2010). Der männliche, bürgerliche Männerkörper bleibt in bestimmter Negation auf den Adel bezogen: er ist und scheint nicht – leer, heißt das jetzt. Unauffällig, schmucklos, neutral, tritt alle Oberflächenverzierung hinter die abstrakt-idealisierende Konstruktion, den als solchen nicht in Erscheinung tretenden Schnitt, die niemals sichtbare Unterfütterung zurück. Die schmucklose Nüchternheit, die diszipliniert vollkommene Strenge, das Hervortreten einzig der ‚Persönlichkeit‘ in ihrer ungeschminkten Wahrheit doppelt die bürgerliche Ethik. In diesem Sinne ist der Anzug Anti-Mode (vgl. Hollander 1995: 31–45). Die ‚constantia‘ der Person, die ihr Mäntelchen prinzipientreu nicht in den Wind hängt, wird durch die Beständigkeit des Anzugs, der saisonal nur minimalen Variationen unterliegt, unterstrichen. Der Anzug konstituiert den Bürger als Gegenstück des sich im Schein ergötzenden Aristokraten als natürlich, authentisch Seienden. Mit Barthes gesprochen, konnotiert dieses Kleidungsstück nicht willkürlich wechselnde Künstlichkeit, also Mode, sondern reine Zweckmäßigkeit, Funktionalität.2 Trotzdem hat der Anzug eine politisch ähnlich repräsentative Funktion, wie es die ostentative Kleidung des Adels hatte: „Wenn der prächtige Krönungsmantel des Königs von einer Ordnung von Gottes Gnaden zeugt, steht der schwarze, schlichte Dreiteiler des postrevolutionären Bürgertums für eine Ordnung der Demokratie. Das streng metaphysische Element des Gottesgnadentums kann und darf nicht fortbestehen, an seine Stelle tritt nun, in Abwesenheit eines transzendenten Prinzips, die Apotheose eines säkularisierten bürgerlichen Körpers. Eine Abweichung von dieser Ordnung und damit eine ,freie‘, und im Kern subversive Gestaltung der Garderobe ist hier wie dort kaum möglich.“ (Weinelt 2012: 21)
Denn wie der Körper der Adeligen die kosmische Ordnung des Gottesgnadentums inkarniert, so der bürgerliche männliche Körper als Kollektivkörper den Staatskörper, aus dem niemand heraussticht. Der männliche Anzug ist die ,conditio sine qua non‘ der Demokratie und das ,habit noir‘ sein einziger legitimer Ausdruck. Bürgerlich gibt er tagaus, tagein das Spektakel des Unspektakulären zum Besten: Rhetorik der authentischen A-Rhetorik. Der Anzug individualisiert die Person, das Subjekt, indem er alles, was die Aufmerksamkeit auf das Kleid lenken würde, unterbindet und damit allein das Gesicht, ungeschminkt, in den Fokus rückt. Nicht aufzufallen, nicht herauszufallen ist das Gesetz, unter dem der Anzug steht. Der geschlechtliche Körper wird im Kollektiv aufgehoben. Der individuelle Körper wird durch die Abstraktionsleistung des Schnitts und durch die durchgehende Uniformierung
2 Für Barthes ist das Signifikat der Männermode eben nicht Schein, sondern Sein (vgl. Barthes 1967: 44).
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in einen Kollektivkörper eingebunden. Der Anzug nivelliert, neutralisiert, egalisiert: kurz er ent-sinnlicht. Der einzelne Körper inkarniert die Institution: Er tritt in seiner Besonderheit hinter sie zurück, geht in ihr auf.
DIE FRAUENMODE DER MODERNE Sehen wir uns jetzt wie im Zeitraffer die Entwicklung der Frauenmode an. Sie ist – und das ist vielleicht das Ausschlaggebende – zum ersten eindeutig anachronistisch: ein aristokratischer Überrest im bürgerlichen Zeitalter. Wie der Adel ehedem stellen jetzt die Frauen – und nur noch die Frauen – ihre erotischen Reize in den Vordergrund. Am schärfsten hat Adolf Loos das auf den Punkt gebracht: Obszön grotesk, anachronistisch unreformierbar, hoffnungslos zurückgeblieben findet er die weibliche Mode, kurz, ein „gräßliches Kapitel der Kulturgeschichte“ (Loos 1921: 129). Die „Damenmode“ – so Loos – verstoße gegen sämtliche ästhetische Prinzipien der Moderne und sei nichts weniger als ein ästhetisches Verbrechen. So schamlos wie skrupellos appelliere sie an das Tier im Mann. Aber das sei – Kulturkrankheit – eben leider nicht mehr gesund, sondern pervers. Sonst wären die Menschen schlicht nackt. Schuld an all diesem moralischen wie ästhetischen Elend, von dem man am liebsten angeekelt die Augen abwenden möchte, sei die Geschlechterordnung der Moderne. Die Frau wäre hier nichts für sich; im Gegensatz zu den Männern habe sie das Recht auf freie Arbeit nicht erworben und sei dazu verdammt, nichts als ein Geschöpf der Wollust des Mannes zu sein. Solange Frauen nicht mit Männern auf dem Arbeitsmarkt konkurrieren können, sondern um Männer konkurrieren müssen, seien alle hoffnungslos naiven Versuche, die Frauenkleider nach den modernen Kunstprinzipien zu reformieren, zum Scheitern verurteilt. Ist der Motor der Männerkleidung die Distinktion, dann der der Frauenkleidung die wechselnden perversen sinnlichen Vorlieben der Männer. Nach dem Masochismus die Pädophilie: von der Domina zur Kindfrau. So streng wie zu seiner Zeit, meint Loos, hat die Mode die Geschlechter nie geteilt. Denn während es in der männlichen Mode nur darum gehe, im Herzen der Kultur in der kulturell bestimmenden Schicht um keinen Preis aufzufallen, müsse es den Frauen darum gehen, den Männern ins Auge zu stechen. Während er sich chamäleonartig an die Umwelt anpasst und durch seine Kleidung nichts als strikteste Normenkonformität ausdrückt, wird sie zum Lockvogel. Den Weg in die Moderne, den die Männer schon lange in die Selbstbestimmung gegangen sind, können die Frauen erst gehen, wenn auch sie alles bloß Ornamentale abgelegt haben. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg, auch wenn die Radfahrerin – zwar noch berockt, nicht bein-, aber doch immerhin fußfrei – die Richtung weist. Diese weibliche Emanzipation beschwört Loos mit lyrischer Intensität:
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Modedämmerung von Nietzsche bis Loos, ein Kapitel, das es endlich hinter sich zu lassen gilt auf dem Weg in eine emanzipierte, endlich moderne Moderne. Und eben eine solche Modedämmerung sagt auch Veblen einer endlich republikanisch gleichen und gleichberechtigten Gesellschaft voraus. Thorstein Veblen schrieb seine Theory of the Leisure Class (1898), im Deutschen etwas unglücklich mit Die Theorie der feinen Leute übersetzt, zur selben Zeit in New York, als Loos in Wien von weiblicher Emanzipation und dem Ende der Mode, wie wir sie kennen, träumte. Nach Veblen gibt es nur eine modische Klasse. Innerhalb dieser Klasse trennt die Mode die Geschlechter aufs Schärfste. Stellvertretende Zurschaustellung, „vicarious display“, ist für Veblen das entscheidende Moment. Veblen sieht die „leisure class“ de facto als die Klasse, die das Erbe der Aristokratie angetreten hat, unproduktiv, parasitär und eitel nur mit Selbstdarstellung beschäftigt. Alles, was diese Klasse tut, ist „conspicuous consumption“. Dieser Konsum, der völlig überflüssig scheint, ist dazu da, Status und Prestige zu gewinnen. Adorno formuliert: „Die kulturelle Wende gegen den Utilitarismus geschieht nur um des unmittelbarsten Utilitarismus willen.“ (Adorno 1997: 73) Mode ist natürlich ein bevorzugtes Feld dieses Aufgebens. Die Modernen benehmen sich dabei genauso barbarisch und gleichzeitig dekadent wie die ,Wilden‘. Anfang des 20. Jahrhunderts paradiert der Industriekapitän mit seiner aufgetakelten Ehefrau, auch ‚trophy wife‘ genannt, so auf der 5th Avenue wie der Kwakiutl-Häuptling, der seine Kriegstrophäen im Triumphzug vorführt. Die Ehefrau ist die erste Dienerin des Haushaltes, eine Luxussklavin, die bis ins Fleisch hinein als Eigentum ihres Mannes gezeichnet ist. In ihren unbequemen Kleidern (‚corset‘, ,cul de Paris‘) führt sie öffentlich vor, dass sie nicht arbeiten kann und standesgemäß unterhalten werden muss. Die finanzielle Potenz des Haushaltes muss sie im schnellen Wechsel und exorbitanten Luxus ihrer Kleider vorführen. Indem sie den Reichtum des Hauses vorführt, garantiert sie seine Kreditwürdigkeit. Sie ist, schreibt Veblen, die „mobilia“ des Hausherren, wie eine Luxusjacht, ein Maserati etc. (vgl. Veblen 1924). Schon zwanzig Jahre früher hat Émile Zola etwa in der Jagdbeute diese Verdinglichung der Frauen als bestes Statussymbol des Haushaltes beschrieben. Als Renée, die Frau eines Immobilienmoguls, in einem atemberaubenden Nude-Spitzenkleid von Worth erscheint, das sie zu einer fast nackten Preziose macht, steigen die schon gefährlich abrutschenden Aktien ihres Mannes steil an (vgl. Zola 2003). Fasst man diese modernen Positionen, die Positionen, die eine moderne Ästhetik und eine republikanische Politik der Gleichheit vertreten, zusammen,
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so ist nur der Anzug modern. Mode, mit Weiblichkeit synonym geworden, ist erstens anachronistisch, ein aristokratisch-postfeudaler Überhang in die bürgerlich-republikanische Zeit. Das ist zunächst überraschend, weil Mode schon etymologisch mit der Moderne zusammenhängt und immer mit den Avantgardebewegungen assoziiert worden ist. Der beherrschende Diskurs der Moderne jedenfalls sieht die Mode als eine Art orientalische Kolonie, als das Andere der westlichen Moderne, etwas, das so barbarisch wie dekadent ist, tyrannisch und versklavend, ein so verschwenderischer wie ruinöser Kult des Erotischen, eine überflüssige Arabeske. Im Herzen des Abendlandes steht Mode als Antithese einer endlich modernen Moderne. Deswegen hofft man auf den Untergang der Mode und beschwört eine Modedämmerung.
HYPER-EROTISIERUNG DES WEIBLICHEN KÖRPERS Wir finden im Diskurs der Moderne grob gesagt zwei Arten, die Funktion der Mode zu beschreiben; beide kann man unter den Nenner des ,Fetischismus‘ fassen – ein Wort portugiesischen Ursprungs, das die Kolonialherren benutzten, um die völlig unaufgeklärten, abergläubischen Praktiken der ,Wilden‘ zu diffamieren. Der eine Fetischismus ist eher marxistischer, der andere eher freudscher Prägung. Erstens: In postaristokratischen, noch nicht völlig republikanischen Gesellschaften verdinglichen die Frauen sich entweder zum Sexobjekt oder zum Statussymbol. Sie verwandeln sich in supergestylte, phantastisch hergerichtete, künstlich gemachte Luxusgüter – nichts könnte die Funktion des Fetischs schöner erfüllen. Zweitens: Der republikanische, moderne Mann, der auf direkte phallische Zurschaustellung verzichten muss, um das Monopol seines Geschlechtes auf politische, finanzielle und intellektuelle Alleinherrschaft zu behaupten, stellt seine Frau stellvertretend zur Schau. Ihr ganzer, kunstvoll und künstlich zurechtgemachter Körper wird zu einem Fetisch. Der Mann spaziert so gewissermaßen mit einem Superdildo herum. Das ist umso ‚kastrierender‘ für sie, denn ihre öffentliche Zurschaustellung als Objekt der Begierde schließt sie umso effektiver von allen öffentlichen Ämtern aus. Und dann fließen beide Fetischismen doch wieder zusammen: Weiblichkeit ist eine Ware und die Ware ist weiblich (vgl. Vinken 1995). Neben diesem dysphorischen Modediskurs gibt es aber noch einen euphorischen, und den wollen wir zur Probe einmal nicht gleich als falsches Bewusstsein verdammen. Schließlich ist es deutlich nicht zu einem Verdämmern der Mode gekommen; sie ist vielleicht so ‚à la mode‘ wie nie. In diesem euphorischen Modediskurs wird nicht von Verdinglichung und Fetischisierung erzählt, sondern eine Geschichte von Kühnheit, Selbstbestimmung, Freiheit. Sehen wir uns diese Geschichte an. Das bestimmende Prinzip der weiblichen Mode in der Moderne ist die systematische Übertragung von Männerkleidern in Frauenkleider. Chanel, eine der Pionierinnen der neuen, endlich modernen Frau, hat das auf den Punkt
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gebracht: „Mein Leben lang habe ich nichts getan, als Männerkleider Stück für Stück in Frauenkleider zu übersetzen.“ (Parinaud 1981: 212, zitiert nach Steele 1991: 41) Die Übertragung also des Prinzips des modernen Herrenanzugs auf die Damenmode – das macht Damenmode modern. Dabei veränderte sich vor allen Dingen die ‚allure‘ des weiblichen Körpers. Wie schon Poiret gab Chanel, wie in der Männerkleidung üblich, jegliche Korsettierung auf. Aus dreidimensionalen wurden zweidimensionale Kleider. Sport und Gymnastik wurden so wichtig wie vielleicht nie zuvor. Man war jetzt nicht mehr behütet, sondern leicht gebräunt. Die Haare wurden kurz und offen getragen. Der erotische Fokus verlagerte sich vom Busen auf den Po. Die Metamorphose von Fleisch in Silhouette, von raumgreifender Oberfläche in Bewegung – das ist vielleicht die beste Beschreibung für die Entwicklung der weiblichen Mode. Aus einer eher statisch-üppigen Drei- wird eine bewegte, schlankschnelle Zwei-Dimensionalität. Die Garçonne ist geboren. Trotzdem passierte diese Übertragung mit einem entscheidenden Unterschied, für den Chanel selbst blind gewesen sein mag – und der uns zu den neuen Beinen der Frauen und an unseren Anfang zurückbringt. Nehmen wir das ‚Kleine Schwarze‘, das immer als Beispiel für diese Übertragung des Männlichen auf das Weibliche herangezogen wird. Im Kleinen Schwarzen wird wie im Anzug das Gesicht betont. Nicht das Kleid lenkt die Aufmerksamkeit auf sich, sondern die Person. Aber anders als der Anzug sorgt das Kleine Schwarze für eine messerscharfe Silhouette. Das grundlegende Prinzip der Herrenmode hat Chanel bei der Übertragung in die Damenmode nicht übertragen: nämlich das Sich-Auflösen des Körpers im Kollektiv, das Verschleifen der konturierten Silhouette durch den modernen Anzug. Den Schritt zur uniformierenden Kollektivierung, den der Herrenanzug leistet, ist sie nicht mitgegangen. Und eben dies – Uniformierung, Indifferenz als Distinktionsmerkmal, Egalisierung, Aufheben des individuellen Körpers in einem Kollektivkörper, was von Nietzsche bis Loos als das Merkmal der Moderne hervorgehoben wird – tut die Mode von Chanel nicht. Chanel hat die Frauen wie Dandys angezogen, die man bisweilen witzig als Männer beschrieben hat, deren einzige Lebensaufgabe es sei, Kleider zu tragen. Was also tatsächlich in der Mode der Moderne passiert ist, ist weniger einem Konzept von Unisex geschuldet als die Übertragung der männlichen erotischen Zone in die Frauenkleidung. Denn Hosen und immer kürzer werdende Röcke zeigen zum ersten Mal, was die aristokratische Herrenmode verführerisch zur Schau stellte, die Damenmode bis dahin aber streng verbarg: Beine nämlich. Der Minirock zeigt sie bis zum Schritt und in den Hosen zeichnen sich Schenkel und Po ab. Die Unisexmode ist so alles andere als Unisex. Sie profiliert im Gegenteil gerade das, was die Geschlechter trennt: Denn während die Männer im bürgerlichen Zeitalter ihren Körper nicht mehr erotisch zur Schau stellen, definiert sich die weibliche und ausschließlich die weibliche Rolle darüber, dass
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sie eben dies tut. Der vermeintliche Unisex führt also – unter falscher Flagge gewissermaßen – zu einer Verschärfung des Gegensatzes Mann/Frau. Anders gesagt, führt der Unisex von den Zehenspitzen bis zu den jetzt offen getragenen Haarlocken zu einer durchgehenden Erotisierung des weiblichen Körpers. Unter der falschen Flagge des Unisex wurde also eine Hyper-Erotisierung des weiblichen Körpers erreicht. Das Korsett fiel nur weg, um den nackten Busen unter einer Crêpe-de-Chine-Bluse durchschimmern zu lassen. Weniger als das Was wurde das Wie aus der vormodernen Herrenmode übertragen: die phallische Ostentation, das schamlose Herzeigen, die ganz offene Inszenierung der körperlichen Stärke und Schönheit, seines Könnens, seiner Fähigkeit – all das, worauf der moderne Mann im Interesse seiner Machterhaltung verzichten musste. Das männliche ‚Showing-off‘, das Paradieren von Männlichkeit, die ‚allure‘ wurde angeeignet. Bei der Oscar-Verleihung 2012 zeigte Angelina Jolie ihre schönen, leicht gebräunten, trainierten Beine mit derselben Theatralität, mit der Ludwig XIV. – der ja Sonnenkönig hieß, weil er den Apollon als phantastischer Ballett-Tänzer getanzt hatte – seine makellosen Beine bis zum Schritt in glänzenden Seidenstrümpfen auf seinem offiziellen Portrait von Rigaud ausweist (vgl. Kraß 2006). Das paradoxe, prä-revolutionäre Prinzip der weiblichen Mode – nämlich das verschleiernde Zeigen, die Scham – wird in der weiblichen Mode der Moderne durch ostentatives Zeigen ersetzt, das ehemals Privileg der Männer und vor allen Dingen der waffentragenden Männer war. Deshalb ist die weibliche Mode ohne militärische Anleihen wie Camouflage, hohe Absätze3 und Trenchcoats nicht zu denken (vgl. Oláh 2011). Wie die Männer vor der Revolution zeigen jetzt die Frauen fast aggressiv einen Körper, der schön, weil fähig ist: einen Körper, der den öffentlichen Raum erobern kann, der Tennis spielen, skifahren, rennen, und, wenn es hart auf hart kommt, töten kann. Die Kühnheit, die eine rauchende, kurzhaarige Marlene Dietrich etwa im Smoking hat, verdankt sich diesem phallischen Zeigen. Solche Frauen werden nicht Beute des männlichen Blicks – sie stechen ihm eher in die Augen. Souverän stehen sie für sich selbst. In der Mode der Moderne geht es sicher um Fetischisierung und Verdinglichung; vor allen Dingen aber geht es um den sehr männlichen Traum einer endlich phallischen Frau. In jedem Fall aber entspricht auch diese Mode nicht der modernen Ästhetik.
3 Diese kommen aus der persischen Kavallerie und hielten den Reiter im Bügel, während er gleichzeitig Bogenschießen konnte, und waren mit den roten Sohlen Privileg der französischen Aristokratie.
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DER MÄNNLICHE KÖRPER ALS ORNAMENT Gleichzeitig ist die Mode dem Prinzip des Anzugs, dem ikonischen Kleidungsstück der bürgerlichen Demokratien, in den letzten zwanzig Jahren massiv zu Leibe gerückt. Wurden bisher männliche Prinzipien in die weibliche Mode übertragen, so werden darin Prinzipien weiblicher Mode in die männliche übertragen. Ostentativ nämlich gibt es bei den Herrenschneidern eine Entwicklung, die den Körper, abstrahiert zur Linie, betont, und damit auf ein weibliches, vorbürgerliches Prinzip zurückgreift. Pierre Cardin mit seinen enganliegenden Bleistiftanzügen war Vorreiter. Das ‚unkonstruierte Jackett‘ von Armani, gerne auch aus irgendeinem Missverständnis heraus das ,dekonstruierte Jackett‘ genannt, war ein wichtiger Schritt in dieser Entwicklung. Ein Meilenstein auch die ganz schmal geschnittenen Anzüge von Mugler, die fast wie Ballettkleidung wirkten. Boss’ kleine schwarze Anzüge gehen in dieselbe Richtung. Tom Fords Anzüge saßen wie angegossen. Die neue, schmale Linie von Helmut Lang und jetzt von Raf Simons für Jil Sander ist die Vollendung dieses Stilprinzips. Als androgyn werden diese Anzüge oft bezeichnet, als Mode für knabenhafte Männer. Diesem neuen Männertyp eignet etwas ganz Unmännliches, Nicht-Phallisches, ja A-Sexuelles, sodass die übliche Distinktion schwul/hetero nicht greift. Es ist eher ein Narziss-Typ, der steril-liebesunwillig in sich selbst abgeschlossen, fasziniert gefangen ist. Er stellt einen Jüngling aus, der nicht zum Mann reift und etwas Jungfräuliches hat, ohne unschuldig zu sein. Das Pendant zu diesem neuen Mann war vielleicht die Lesbierin des 19. Jahrhunderts. An der extremen Schlankheit des Körpers haftet etwas Asketisches. Eben diese extreme Schlankheit treibt der neue Anzug hervor. Diese Form der raffinierten Silhouettierung, die scherenschnittartig die Biegsamkeit des Körpers, seine auf die Linie gebrachte Körperlichkeit betont, übersteigt das Funktionale. Hier geht es nicht um Funktion, sondern um Ästhetik, die Funktion nur noch als Zitat mitführt. Sie lassen den ganzen Körper in der Abstraktion zum Ornament werden. Insofern ist hier ein, ja vielleicht ‚das‘ Moment der weiblichen Mode par excellence, die Ästhetisierung des Körpers nämlich und sein Hervortreiben durch Mode, in die Männermode gewandert. Ahnen dieser Anzüge sind die Mods, eine englische Jugendkultur der 1960er Jahre. Dass alles Neue, wirklich Revolutionierende aus dem klassischen Land der Dandys kommt, kann nicht verwundern. Das Interessante an den Mods war nun, ‚that they did not dress down, but that they dressed up‘. Und auch das verband sie mit den Dandys, die als ‚snobs‘, als nicht adelige Männer, ihrem Körper so viel ostentative Aufmerksamkeit schenkten, wie das nur dem Adel und nach der Revolution den Frauen vergönnt war. Als Arbeiterkinder oder aus dem Kleinbürgertum stammend, als Söhne der ‚lower class‘ oder ‚lower middle class‘, zogen die Mods in einer Art Klassentravestie die Uniform der Großbourgeoisie, des Geldadels an: tadellos sitzende, maßgeschneiderte Anzüge. Sie warfen sich groß in Schale. Man denke an David Bowie.
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Aber was passierte mit dem Anzug in dieser Klassentravestie? Blieb er einfach der Anzug? Alle Modekritikerinnen heben beim Beschreiben der neueren Kollektionen dasselbe hervor: eine im wahrsten Sinne des Wortes ,unpassende‘ Körperlichkeit. So urteilt Ingrid Loschek über Helmut Lang: „enge Hüfthosen, Mäntel und Jacken, so eng am Körper liegend, als wären sie zu klein“ (Loschek 2002: 123), und über Tom Ford, der als Herrenschneider angefangen hatte: „Hosen aus Stretchsatin, die drei Nummern zu klein wirkten“ (Loschek 2002: 94). Der klassische Topos wird angeführt, der das Geheimnis weiblicher Mode, wenn nicht das Geheimnis des weiblichen Geschlechtes im Ganzen ausmacht: „Die Unverfrorenheit des Nichts.“ (Loschek 2002: 123) Solche Schnitte waren natürlich in dem üblichen Material – Tweed, Wolle, Cord, Leinen – gar nicht mehr zu machen und setzten auf neue, synthetische Stretchmischungen. Tatsächlich wurde der männliche Körper in seiner strikten Reduktion auf die Linie zum Ornament. Und so war es ironischerweise Helmut Lang, der ja gerne immer wieder zur Unterstreichung seines Minimalismus auf Adolf Loos als seine Inspiration verwies – Das Ornament als Verbrechen –, der die Funktion nur noch scheinbar in den Mittelpunkt rückte, de facto die Mode auf einen rein ornamentalen Charakter gebracht hat: eine Arabeske, abstrakte Bewegung im Raum. Damit ist die Männermode de facto dem Prinzip der Frauenmode, dem Prinzip des Ornamentalen nämlich, das allerdings minimalistisch abstrakt auf die Linie reduziert wird, gefolgt. Und erst, als das passiert war, konnte die Frauenmode, ohne sich männlich zu verkleiden, eben diesen neuen Männeranzug wie das Kleine Schwarze tragen. So gesehen und so verstanden liegt minimalistischer Unisex, jetzt allerdings wirklich sexy, weil nämlich auf einer Übertragung eines weiblichen Prinzips in die Herrenmode beruhend, im Trend. Ostentativ darf der Körper jetzt für beide Geschlechter nur um den Preis seiner Reduktion auf eine schmieg- und biegsame Linie ins Licht, in den Vordergrund gerückt werden. Seine Funktionalität ist dabei nur noch Deckmantel für die Arabeske der Moderne.
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Hollander, Anne (1995): Anzug und Eros. Eine Geschichte der modernen Kleidung, Berlin: Berlin-Verlag. Kraß, Andreas (2006): „Das Geschlecht der Mode. Zur Kulturgeschichte des geschlitzten Kleides“, in: Gertrud Lehnert (Hg.), Die Kunst der Mode, Oldenburg: DBV, 26–51. Loschek, Ingrid (2002): Modedesigner. Ein Lexikon von Armani bis Yamamoto, München: Beck. Loos, Adolf (1921): „Damenmode“, in: ders., Ins Leere gesprochen (1897–1900), Paris/Zürich: G. Crès & Cie, 126–132. Nietzsche, Friedrich (1966): Menschliches, Allzumenschliches, in: ders., Werke in drei Bänden. Bd. 1, München: Hanser, 435–1009. Oláh, Thomas (2011): „Kunst und Krieg, Mode und Armee. Camouflage!“, in: Lieselotte Kugler/Gregor Isenbort (Hg.), Fashion Talks, Berlin: Museumsstiftung Post und Telekommunikation, 187–200. Schuhen, Gregor (2007): Erotische Maskeraden. Sexualität und Geschlecht bei Marcel Proust, Heidelberg: Winter. Steele, Valerie (1991): Women of fashion. Twentieth-century designers, New York: Rizzoli. Veblen, Thorstein (1924): The Theory of the Leisure Class. An economic study of institutions, London: Allen & Unwin. Vinken, Barbara (1993): Mode nach der Mode. Geist und Kleid am Ende des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M.: Fischer. Vinken, Barbara (1995): „Temples of Delight. Consuming Consumption in Émile Zola’s Au bonheur des dames“, in: Margaret Cohen/Christopher Prendergast (Hg.), Spectacles of Realism. Gender, Body, Culture, Minneapolis: University of Minnesota Press, 247–267. Vischer, Friedrich Theodor (1986): „Mode und Zynismus“, in: Silvia Bovenschen (Hg.), Die Listen der Mode, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 33–79. Weinelt, Nora (2012): Minimale Männlichkeit oder Dressing up. Arbeit am Anzug. Unveröffentlichte Magisterarbeit, München. Wolter, Gundula (1988): Die Verpackung des männlichen Geschlechts. Eine illustrierte Kulturgeschichte der Hose, Marburg: Jonas. Zola, Émile (2003): La Curée, in: ders., Œuvres complètes. Bd. 5, Paris: Nouveau Monde, 15–236.
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Mode als kulturelle Praxis GERTRUD LEHNERT
ZUR KULTURWISSENSCHAFTLICHEN RELEVANZ VON MODE Annäherungen an ‚Mode‘ Mode ist ein kulturwissenschaftlicher Gegenstand par excellence. An ihr lässt sich paradigmatisch aufzeigen, dass Kultur analysiert werden kann als Interaktion von Menschen mit Dingen und mit Hilfe von Dingen mit anderen Menschen, oder anders gesagt: als Prozess symbolischen Handelns mit Artefakten. Moden sagen viel aus über eine Kultur, ihr Selbstverständnis und ihre Geschichte, über Konzepte von Geschlecht, von Individualität und Privatheit, über ästhetische Vorlieben. Mode macht das kulturell variable Menschenbild anschaulich und auf dem Leib spürbar. Insofern ist Mode ein kulturelles Zeichensystem in einem sehr weiten Sinne; sie wird immer ‚gelesen‘. Aber sie erschöpft sich nicht darin, lesbarer Indikator für etwas anderes zu sein. Modisches Handeln bietet Spielräume der Selbstgestaltung. Und Mode ist nicht zuletzt immer ein ästhetisches Ereignis. Mode kann zunächst ganz abstrakt als eine Dynamik verstanden werden, die sich selbst ständig fortzeugt und Kulturen nicht nur ausdrückt, sondern vielmehr vorantreibt (vgl. dazu Lipovetsky 1987 und 2014). Die Dynamik der Mode materialisiert sich in Artefakten und manifestiert sich in kulturellem Handeln. Mein Thema sind die vestimentären Artefakte und ihre Interaktionen mit Menschen, wobei ich den Artefakten eine eigene Agency, also eine Handlungsmacht zugestehe.1 Nicht nur tun wir etwas mit ihnen – sie tun auch etwas mit uns. Kleidung gehört zu den wichtigsten konsumierbaren Dingen, da sie tagtäglich unmittelbar auf dem Körper getragen wird, das Körpergefühl verändert
1 Vgl. zum Verhältnis Dinge und Menschen allgemein u.a.: Moebius/Prinz 2012; Böhme 2006; Mentges 2005.
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und die Wahrnehmung von Menschen stärker dominiert als alles andere. Kleider auf dem Bügel sind einfach Material, sind ein bloßes Angebot, das die Modeindustrie macht. Sie werden dadurch zu Mode, dass ihnen 1. Bedeutungen zugeschrieben werden (z.B. im Prozess der Herstellung und Vermarktung), und 2. dadurch, dass die Konsumierenden etwas mit ihnen tun: sie als Mode akzeptieren, sie tragen, sie und sich mit ihnen inszenieren.2 Aus der Perspektive des Performativen werden Kleider also in bestimmten – auch diskursiven – Praktiken zu Mode, und sie drücken z.B. Identität oder Geschlecht nicht aus, sondern bringen sie im Vollzug erst hervor. Damit öffnet sich ein Raum potentieller Vielfalt, in dem Identitäten spielerisch erweitert und die Geschlechter nicht mehr auf die heteronormierten zwei (weiblich – männlich) festgelegt werden, sondern auch andere möglich sind. Kleider brauchen Körper und möglichst auch Bewegung (vgl. dazu Schlittler/Tietze 2013). Sie müssen getragen, sie müssen inszeniert werden. Umgekehrt brauchen die Körper Kleider. Die Körper werden ihrerseits von den Kleidern inszeniert. Im Folgenden meine ich mit ‚Mode‘ diese Kombination aus spezifischen, nämlich vestimentären materiellen Artefakten und der sich in ihnen manifestierenden Dynamik, und das Handeln mit den Artefakten auf der Ebene der Produktion, der Distribution und der Rezeption. Mode realisiert sich in einem Prozess, der sich durch das Zusammenspiel von Kleidern, Körpern, Wahrnehmung und Bedeutungszuweisungen in Zeit und Raum konstituiert.
ZUR ENTSTEHUNG VON MODE Mode im engeren europäischen Sinne3 beginnt mit der gesellschaftlichen Moderne, d.h. mit Industrialisierung, Individualisierung und Verbürgerlichung (vgl. Wilson 1989; Lehnert 1998). Neue Produktions- und Distributionsformen ermöglichten die immer breitere und schnellere Verbreitung neuer Moden. Grundlage dafür sind neue Technologien, die nicht nur andere Herstellungsmöglichkeiten mit sich brachten, sondern auch eine bessere und schnellere Kommunikation ermöglichten. Beispielsweise wurde die Nähmaschine erst Mitte des 19. Jahrhunderts durch den Amerikaner Singer auf
2 Das ist eine Perspektive, die sich aus dem ‚performative turn‘ herleitet und die ich dargelegt habe u.a. in: Lehnert 2013; vgl. auch: Lehnert 2003; siehe auch: Kawamura 2004 und 2005: Sie spricht von der Immaterialität der Mode und der Materialität der Kleidung; Mode sei ein symbolisches Objekt. 3 Ein weiteres Modekonzept legt den Fokus auf die Globalität von Mode, die nicht erst seit Erfindung der neuen Medien existiert, vgl. z.B. die Berg Encyclopedia of World Dress (2010), ferner Riello/McNeil 2010. Dennoch gibt es eine spezifische Entwicklung von Mode in der westlichen Welt, ebenso wie in anderen Kulturen, die man durchaus voneinander getrennt betrachten kann.
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den Markt gebracht, obgleich es schon um 1830 erste Prototypen gegeben hatte; die erste Eisenbahn fuhr 1825. Warenhäuser entstanden und machten Konsum zur Unterhaltung für viele – damit wird modischer Konsum modern (vgl. Lehnert 2010). Die Lust auf Neues wird zum Motor der Mode wie der industriellen Kulturen (vgl. Lipovetsky 1987). Das ästhetische Experiment mit der eigenen und der zweiten Haut wird zum Selbstzweck. Im 17. Jahrhundert hatten sich die europäischen Kulturen von stratifikatorischen in funktional ausdifferenzierte Systeme verändert. Damit ist der Übergang zur Moderne gekennzeichnet. Die Moderne erlebt den Verlust verbindlicher ‚großer Erzählungen‘ und muss folglich mit der Kontingenz fertig werden; die ‚Verbindlichkeit des Vorübergehenden‘ ersetzt die alten Sicherheiten, wie Elena Esposito prägnant darstellt (vgl. Esposito 2004 und 2011): Ihre Konstanz besteht in ihrem dauernden Wechsel. Im 18. Jahrhundert beschleunigen und verdichten sich diese Prozesse. Die Aristokratie als kulturtragende Schicht wird zunehmend vom Bürgertum abgelöst, das eigene Konzepte von Individualität, Innerlichkeit, Repräsentation, Geschlecht und Familie entwickelt. Damit sind Voraussetzungen von Mode im modernen Sinne gegeben: Mode wird zur Frauensache und markiert die neue Vorstellung von Heteronormativität und sozialen Pflichten. Distinktion gehört unvermindert zur Mode, aber das Self Fashioning – die Lust an individueller Selbstgestaltung – wird zu ihrem wichtigsten Motor, auch wenn sich Mode mehr denn je in Nachahmung konstituiert.4 Zur Mode gehört die Veränderung, oder anders gesagt: die Verwerfung des Alten und das Angebot ständig neuer Produkte und Möglichkeiten. Diese zeitliche Dynamik wird hervorgebracht und geregelt durch die soziale Dynamik von In und Out. Diese wiederum wird produziert von dem Zyklus der Saisonen, die sich im Zuge der Fast Fashion von zwei Mal jährlich auf einen Zyklus von wenigen Wochen vermehrt haben. Treibende Kräfte sind die Wirtschaft mit ihrem Wachstumsbedarf, die Modehäuser und DesignerInnen, die sich den Forderungen anpassen müssen, um nicht aus dem System zu fallen, also kurz: das Modesystem oder „fashion system“ (vgl. Kawamura 2004 und 2005). Auf der anderen Seite stehen wir, die Konsumierenden, die am Ende darüber entscheiden, ob ein Angebot der Modeindustrie angenommen wird.
4 So schon Christian Garve (1987 [1792]). Das von Georg Simmel (1905) zugespitzte Paradox der Mode – dass man sich unverwechselbar machen will, indem man andere nachahmt – wird seither von allen Modetheorien aufgenommen.
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WAS MACHEN MENSCHEN MIT KLEIDERN? Kleider werden Mode Wie also entsteht Mode, oder anders gefragt: Wie wird aus Kleidern Mode? Wie oben schon erwähnt, gibt es erst einmal Kleider: bloße Artefakte. Diese sind nicht per se einfach modisch. Vielmehr stellen sie ein Angebot dar, das vom Modesystem bereitgestellt wird. Sie mögen als Mode produziert worden sein, aber sie müssen im nächsten Schritt auch als Mode akzeptiert werden. Sie müssen von Menschen getragen und inszeniert werden, und sie müssen umgekehrt ihr Potential entfalten, Menschen zu inszenieren. Mode lebt von der Idee des Neuen: Alle paar Monate soll die alte Mode der neuen Mode weichen. Mode wird folglich nur, was das Versprechen der Neuheit macht. Tatsächlich ist das Neue in der Mode zunächst nichts als eine Behauptung. Im Sinne des Sprachphilosophen John Austin (1962) könnte man sagen, dass die Behauptung des Neuen das Neue produziere: „How to do Things with Words“ – Sprachhandlungen schaffen Realitäten. Das Neue ist mithin eine diskursive Hervorbringung, die von neuen Produkten, die auf den Markt geworfen werden, flankiert wird. Diese sind aber nicht notwendigerweise – oder: nicht immer – neu in dem Sinne, dass sie einen neuen ästhetischen bzw. sinnlichen Reiz besäßen, nie bisher gesehen oder dagewesen wären. Neuheit ist eine Behauptung des Fashion Systems, unterstützt von den Konsumierenden. Neuheit impliziert notwendigerweise Vergänglichkeit: Die alten Moden müssen entwertet werden, damit die neuen Platz finden. Ein besonders hohes Potential, Mode zu werden, haben Kleider, wenn sie mehr als nützlicher bzw. notwendiger Schutz vor Umwelteinflüssen sind, nämlich wenn sie eine gewisse ästhetische Qualität – einen ästhetischen Überschuss – besitzen. Oft wird dieser suggeriert durch die bloße ‚Neuheit‘ der neuen Mode. Zuweilen verändern sich nur Details, aber es wird vermittelt, dass damit neue ästhetische Qualitäten entstehen. Eine mögliche Quelle ästhetischer Qualität sind die Inszenierungen der Kleider in Modenschauen, Fotoshootings, Schaufenstern usw. Erzeugt werden in solchen Präsentationen Stimmungen und Emotionen, die Kleider transportieren sollen und können. Damit können sie letztlich zum Mittel des kulturellen wie individuellen Self Fashioning werden. Die Mode bietet also Wahrnehmungsangebote (Aisthesis) an und kreiert immer wieder neue Ideen von dem, was als ‚schön‘ gelten soll, womit sie den Geschmack der Konsumierenden unablässig bildet und verändert. Diese Wahrnehmungsangebote sind immer eingebettet in kulturelle und individuelle Zuschreibungsprozesse, die teils politisch, teils ökonomisch, teils ästhetisch gesteuert sind. Durch Zuschreibungsprozesse wird Kleidern sozialer ebenso wie symbolischer und emotionaler Wert zugesprochen. Akteure dieser Prozesse sind die Modeindustrie (oder das Fashion System), also z.B. DesignerInnen und Modehäuser, Modezeitschriften, die Mode sprachlich und visuell kreieren, die Berichterstattung über Modenschauen in den Tages- und Wochenzeitungen, die im Netz übertragenen Modenschauen,
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neuerdings vor allem die Blogs, und last but not least die Einkäufer der großen Läden, die sich auf den Fashion Weeks weltweit treffen und ihre Auswahl treffen (vgl. Entwistle 2003 und 2009), und auch Institutionen wie das Deutsche Modeinstitut, die Trends aufnehmen, bündeln und an die Hersteller weitergeben. Das Modesystem ist also ein System von Institutionen, Organisationen und Praktiken, die dazu beitragen, Mode nicht nur materiell, sondern als Idee hervorzubringen oder, wie Yuniya Kawamura (2004: 1 und 2005: 70) es nennt, als Glauben.5 Kawamura betont in diesem Zusammenhang, dass die Aufgabe der ModeschöpferInnen entgegen verbreiteter Ansicht nicht vorrangig die sei, kreativ zu sein, sondern die Rolle der Kreativen zu übernehmen, oder mit anderen Worten: Kreativität zu repräsentieren. Damit spielen sie im Modesystem eine Schlüsselrolle. Aber darüber, wer tatsächlich als kreativ gilt, entscheide das Modesystem, indem es DesignerInnen Zugang gewährt. Es sind also Institutionen wie die ‚Féderation Française de la Couture du Prêt-à-porter des Couturiers et des Créateurs de Mode‘, die über jemandes Status als kreativer Modeschöpfer entscheiden – und damit über den Erfolg. Ingrid Loschek (2007) betont demgegenüber die Bedeutung der DesignerInnen. Sie entwickelten neue Ideen, die Loschek Inventionen nennt. Erst wenn diese sich in einem Prozess der Akzeptanz durch das Publikum durchsetzen, werde die Invention zur Innovation. Sie ist dann eine Zeitlang ‚in‘ und muss zwangsläufig wieder ‚out‘ werden, sonst gerät die Modedynamik durcheinander. Die Konsumierenden, die ich in diesem Kontext aus heuristischen Gründen nicht zum Modesystem zähle, spielen zweifellos eine Rolle bei der Entscheidung darüber, welches Angebot sich als Mode durchsetzen kann, was ‚in‘ und was ‚out‘ ist. Aber viele Entscheidungen fallen vorher, wie z.B. Joanne Entwistle (2010) in ihren Studien zeigt oder Alicia Kühl (2015) in ihrer Arbeit über Modenschauen. Es sind SpezialistInnen (aus dem Modesystem) wie die EinkäuferInnen großer Modehäuser, die JournalistInnen und FotografInnen, auch die Blogs, die als erste die Angebote sehen und entscheiden, was sie als Mode akzeptieren. Erst dann kommen die Konsumierenden ins Spiel, die durch Kauf oder Nichtkauf über ‚in‘ oder ‚out‘ entscheiden. Ihr Spielraum ist dann nicht mehr sehr groß, denn die Vorauswahl ist ja bereits getroffen, und kaufen kann man nur die Farben, Materialien, Schnitte, die auf dem Markt sind. Das Angebot in den Läden bestimmt über unseren Geschmack. Das ist die Folge der Ausdifferenzierung der modernen bürgerlichen Industriekulturen seit dem 19. Jahrhundert, in dem ein Spezialistentum entstand, dem immer mehr Aufgaben delegiert wurden. Ausgebildete Fachleute kreierten Inneneinrichtungen, Modekleider, ganze Stile – die zwar vorher schon vorgegeben wurden, aber doch noch mehr von der eigenen Vorstellung
5 Siehe Fußnote 2.
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der Individuen in sich aufnahmen. Man hatte seine Kleider selbst genäht oder ließ sie nähen, und man hatte Einfluss darauf, wie genau ein Modell aus einer Zeitschrift reproduziert oder ob es verändert wurde. Im 19. Jahrhundert aber entstand die Haute Couture. Modeschöpfer wurden zu Schöpfern von Stilen und verewigten sich – Künstlern gleich – mit ihrer Signatur. Ihre Kreationen wurden nachgeahmt, sie wurden industriell vervielfacht, womit die Differenzierung zwischen Haute Couture und Massenmode und am Ende die Mode von der Stange entstand. Das gilt heute in verstärktem Maße, trotz neuer Trends wie Do-it-yourself. Kaum jemand ist noch selbst kreativ, entwirft und produziert die eigene Kleidung selbst oder nimmt Einfluss auf den Prozess des Entwerfens. Die Kreativität der Konsumierenden hat sich verlagert auf die Auswahl aus dem vorgefertigten Angebot. Umso wichtiger wird die Fähigkeit der Kombination – auch sie seit Jahren von Modezeitschriften propagiert: keinen Stil mehr von Kopf bis Fuß tragen, sondern Stile mischen. Es muss nicht, ja es soll nicht einmal alles exakt zusammenpassen: De-Kontextualisierung und Re-Kontextualisierung, Bricolage, Montage sind die neuen Prinzipien modischen Verhaltens. Designerkleider und H&M, Vintage und Jeans, High and Low, Slow and Fast, Alt und Neu, Sportlichkeit und Eleganz – anything goes, wenn man nur die eigene Unverwechselbarkeit demonstrieren kann. Mittlerweile schlägt sich das längst auch schon im Modedesign selbst nieder: wenn z.B. aus alter, abgelegter Kleidung neue gemacht wird, wie das etwa das Berliner Label Schmittakashi tut. In solchen Fälle spielen zusätzlich Aspekte von Nachhaltigkeit und Upcycling eine Rolle. Originalität und Stil zeigen sich also heute in der gelungenen Kombination, eventuell im Stilbruch, und in der Art, wie die Kleider getragen und inszeniert werden: in der Attitüde. Und in dem, was mehr ist als bloße Attitüde: im Habitus (vgl. Bourdieu 1987; Krais/Gebauer 2002). Denn natürlich kombinieren wir nicht frei, sondern geprägt von kulturellen Moden, wie sie in Blogs oder Modezeitschriften propagiert werden. Diese ‚individuellen‘ Mixturen sind folglich so wenig einzigartig wie die hyperfeminine Selbstinszenierung mancher Frauen in hautengen Kleidern und High Heels oder von erfolgreichen Herren in dunklen Anzügen. Sie alle folgen Bildern, die sie von sich selbst haben und verkörpern wollen. Aber auch das setzt durchaus eine spezifische modische Kompetenz voraus. Erst in diesem letzten Akt der ‚Verkörperung‘ kommt Mode in einem engeren Sinne zustande: wenn die Kleider leben, wenn sie in Bewegung geraten, wenn sie mit dem Körper eine (ephemere) Einheit bilden – den Modekörper. Hier zeigt sich die Performativität der Mode: Sie bringt etwas Neues hervor, was es zuvor so nicht gab, was sich im Vollzug ergibt. Denn Mode ist trotz allem nicht nur Zwang, sondern auch ein Spielraum, der immense Möglichkeiten eröffnet. Im Spiel kann ausprobiert werden, Neues entstehen, kann aber ebenso gut das Alte affirmiert werden. Mode im Sinne des Umgangs mit Kleidung ist Vollzug, Inszenierung – ist Spiel. Mit Hilfe der Mode situieren und re-situieren Menschen sich – und sei es noch so flüchtig – einerseits so-
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zial, als Individuen in einer Gemeinschaft, aber auch ästhetisch, als Formen in Raum und Zeit. Der Umgang mit Kleidern und Accessoires kann in diesem Zusammenhang auch als ästhetisches Handeln beschrieben werden. Denn der Umgang mit Kleidern ist immer eine Weise, das eigene Leben und sich selbst ästhetisch zu gestalten, ganz gleich welche Geschmacksnormen von welcher Gruppe gerade ausgebildet oder verworfen werden. Gilles Lipovetsky findet für die sich wandelnden Selbstgestaltungen den schönen Ausdruck: „métamorphose du paraître“ (Lipovetsky 1987: 158). Ästhetisches Handeln findet unter anderem in Inszenierung und Selbstinszenierung statt. Wolfgang Iser (2001) und Erika Fischer-Lichte (2001: 269–343) definieren Inszenierung als kreativen und transformierenden Umgang von Menschen mit sich und ihrer Umwelt. In diesem Prozess wird etwas zur Erscheinung gebracht und gleichzeitig hervorgebracht. Martin Seel schreibt, Inszenierungen seien ein „artifizielles Verhalten und Geschehen, das sich als ein solches von bloß kontingenten, bloß konventionellen oder bloß funktionalen Vollzügen unterscheidet“; dieses Geschehen müsse auffällig sein. Und es sei immer Inszenierung von Gegenwart (Seel 2001: 48–62, hier 52, 53 und 56). Das passt zur Mode, ist sie doch immer Gegenwart, nie einholbar, da sie immer schon auf die Mode von morgen wartet. Modern (oder „à la mode“ oder „modisch“) sein bedeutet immer, in der Gegenwart zu sein, die sich von der Vergangenheit als ihrem grundsätzlich Anderen absetzt. Die Begriffe ‚modern‘ und ‚modisch‘ stehen also auch für Veränderung. Die Flüchtigkeit der Mode wird in der fortgeschrittenen Konsumkultur immer bestimmender und besonders sichtbar in der Fast Fashion. Man ersteht die modischen Stücke, trägt sie, legt sie wieder ab, entsorgt sie, wenn sie nicht mehr modisch sind, und das immer schneller, wenn es nach den Wünschen des Modesystems geht. Elena Esposito differenziert diesen Aspekt in ihrer systemtheoretischen Modeanalyse und spitzt ihn zu, wenn sie schreibt, dass in den modernen westlichen Kulturen die Veränderbarkeit zum eigentlichen Inhalt der Mode geworden sei. Veränderung sei zur einzigen Stabilität geworden und die Mode operationalisiere den Zufall (Esposito 2004: 155, 174f.). ‚Inszenierung‘ bedeutet auf die Mode bezogen: Wenn man sich irgendetwas überwirft, nur um angezogen zu sein, ist das nicht unbedingt eine Inszenierung. Zur Inszenierung wird es durch die absichtliche Ankleidung für einen Zweck und das Wissen, dass man in einem bestimmten Kontext auf eine bestimmte Weise vor anderen (oder auch vor sich selbst) erscheinen möchte. Das kann dann wiederum etwas zum Vorschein bringen, was vorher so nicht existierte und nach der konkreten Situation vielleicht auch nicht mehr existiert: ein Selbst-Bild z.B., eine (flüchtige) Identität. Inszenierung setzt also ein wenigstens rudimentäres Selbst-Bewusstsein im wörtlichen Sinne voraus, und sie hat immer eine Wirkungsabsicht. Mode ist darauf angewiesen: ohne Inszenierung keine Mode. So kann Kleidermode verstanden werden als eines der wesentlichen Medien unserer kreativen Weltaneignung, Weltwahrnehmung und Weltgestaltung.
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Die Inszenierungen sind, wie ausgeführt, bis in die feinsten Verästelungen durch Nachahmung geprägt: Nachahmung von Geschlechternormen, Geschmacksnormen, sozialer Position etc. Mode zeigt nicht nur die ökonomische Potenz ihrer TrägerInnen an, sondern sie gehört auch zum symbolischen Kapital, indem sie ästhetische Kompetenz und sogar Bildung signalisiert.6 Wer z.B. ein Outfit von Comme des Garçons oder Yamamoto trägt, outet sich nach wie vor als modisch avanciert, als künstlerisch versiert und tendenziell als intellektuell. Und dennoch erlaubt jedes Spiel wie jede Inszenierung immer Variationen, ja bringt sie hervor. Trotz der Steuerung durch das Modesystem und trotz der konstitutiven Rolle der Nachahmung im Umgang mit Modekleidung ist der Einfluss der Konsumierenden auf das, was sich als Mode durchsetzt, nicht bis ins Kleinste vorherzusehen oder planbar, sondern kontingent. Neue Moden emergieren auch (vgl. Stephan 1999; Wägenbaur 2000). Emergenz meint das spontane Entstehen neuer Strukturen oder Ereignisse aufgrund des nicht völlig planbaren Zusammenwirkens verschiedener Akteure. Sie sind in Gruppe nicht dieselben wie einzeln, darum ist unvorhersehbar, was in Interaktionen entstehen kann. Emergenz schließt also die Aktivitäten von völlig unterschiedlichen AkteurInnen ein: Damit kommt dann doch wieder den Modekonsumierenden beim Zustandekommen von Mode eine potentiell große Bedeutung zu.
WAS MACHEN KLEIDER MIT MENSCHEN? Begehren Mode ist ein System zur Erzeugung von Begehren. Modekleider erzeugen aufgrund der oben skizzierten Zuschreibungen und Praktiken Begehren und Wünsche, indem sie Versprechungen machen. Das funktioniert nur innerhalb eines Systems, das grundsätzlich auf Begehren, auf Illusion und Desillusion setzt. Was verspricht Mode? Sie verspricht, dass sich durch den Besitz des neuen Kleides etwas ändert: dass man eine andere wird, dass man wird, wie
6 Pierre Bourdieu (1974 und 1987) differenziert zwischen ökonomischem Kapital (materieller Wohlstand), sozialem Kapital (Beziehungen zu anderen), kulturellem Kapital (Bildung und Titel, kulturelle Güter wie Bücher, Wissen und kulturelle Fähigkeiten), und, den anderen übergeordnet, symbolischem Kapital (manifestiert sich in der sozialen Anerkennung von Kleidung, Sprache, Akzent, Bildung, Manieren und Geschmack). Das symbolische Kapital basiere auf sozialer Anerkennung und reguliere die Art der Verwendung der ökonomischen Güter, indem „eine Manier, die Form einer Handlung oder eines Gegenstandes auf Kosten ihrer Funktion in den Vordergrund tritt.“ (Bourdieu 1974: 60) Die symbolischen Handlungen verleihen demnach „stets der sozialen Stellung Ausdruck, und zwar gemäß einer Logik, die eben die der Sozialstruktur selbst ist, d.h. der Unterscheidung“ (Bourdieu 1974: 62). Lifestyles konstituieren und demonstrieren ausschließlich sozialen Status und Klassenzugehörigkeiten, ihr Ziel ist Distinktion. Dafür werden je nach Klasse und Status unterschiedliche Formen von Kapital eingesetzt.
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man sein möchte – die Reihe lässt sich fortsetzen. Die Versprechungen werden unterstützt (oder auch erzeugt) durch die Präsentation der Waren in ansprechenden Kontexten, in Zeitschriften, Blogs, Räumen des Verkaufs. Hier wird eine Atmosphäre erzeugt, die sich auf das Kleidungsstück übertragen und es unwiderstehlich machen soll. So funktioniert die Mode als eine Dynamik von Begehren, Wunscherfüllung, Enttäuschung und neuem Begehren. Self Fashioning Modekleidung drückt Identitäten nicht aus, vielmehr bringt Mode im Sinne des Handelns mit Kleidern Identitäten erst hervor. Das geschieht in einem Prozess, der paradoxerweise Nachahmung und Individualisierung unablässig verbindet – das große Paradox der Mode, das seit Jahrhunderten in der Modetheorie thematisiert wird. Die Inszenierung der eigenen Persönlichkeit wird vor allem seit dem Beginn der bürgerlichen Moderne im 18. Jahrhundert bedeutsam. In der Inszenierung gestalten Menschen sich, bringen sich hervor als das, was sie sein können, ohne dass sie sich jemals ganz befreien könnten von den Normen, die sie frühzeitig erlernt haben und längst verkörpern. Diese geben den Rahmen vor, innerhalb dessen Variationen und Änderungen möglich sind. Denn jedes Handeln, jede Wiederholung einer Handlung bringt ein minimal Anderes hervor. Körpertechniken Jede Inszenierung ist abhängig von dem kulturellen Kontext, in dem man lebt, und von dem, was man von klein an über Identität und Verhalten gelernt hat. Dieses Wissen ist implizit, es ist entstanden durch Mimesis, nicht (nur) durch explizite Unterweisung. Die Anthropologie betont schon lange, dass es keinen ‚natürlichen‘ Körper gibt. Körper werden von Beginn an kulturell geprägt und geformt (vgl. Mauss 1978 [1950]; Gebauer/Wulf 1998). Wie wir gehen, wie wir schwimmen, wie wir sitzen: nichts davon ist einfach gegeben, alles ist das Resultat eines Lernprozesses durch Mimesis, der drei Aspekte hat: den biologischen, den psychologischen und den sozialen. Sein Ergebnis sind die Arten und Weisen, in der sich Menschen in verschiedenen Gesellschaften ihres Körpers bedienen (vgl. Mauss 1978: 199) und Körpertechniken mit ihrem Körper als erstem verfügbarem Instrument entwickeln.7 Pierre Bourdieu konzipiert ‚Habitus‘8 als „Leib gewordene Geschichte“ und als nicht-bewusste Grundlage bewusster Handlungen. Habitus ist ein dynamisches Ergebnis der Vermittlung gesellschaftlicher Normen mit der Rezeption und Anverwandlung durch einzelne Subjekte und damit auch mög7 Jennifer Craik (2009: 137) diskutiert ebenfalls das Konzept von Mode als Körpertechnik, basierend auf Mauss und Bourdieu. Sie betont, dass der Körper nicht nur technisch und sozial sei, sondern politische Arrangements verkörpere. 8 Eine informative Einführung und ein knapper historischer Überblick bei: Rehbein/Saalmann 2009; siehe ferner Krais/Gebauer 2002.
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licher Modifikationen. Das Subjekt nimmt auf, es erlernt im mimetischen Handeln Verhaltensmodelle körperlicher, emotionaler und intellektueller Art, so dass Soziales und scheinbar Privates sich im Subjekt untrennbar verbinden und der Körper als Handlungssubjekt betrachtet werden muss (vgl. Gebauer 1997: 515). Der Vorteil des Habitus-Konzepts ist die Betonung des Körperlichen und die Vorstellung, dass das, was Menschen lernen, sich nicht nur dem Körper einschreibt, sondern vor allem auch verkörpert wird. Gesellschaften produzieren Subjekte, die die Normen und Verhaltensweisen ihrer eigenen und manchmal auch fremder sozialer Schichten übernehmen und verkörpern und dabei glauben, dass sie ganz und gar individuell handeln. Das lässt sich in Verbindung bringen mit der Paradoxie der Mode, die Elena Esposito auf den Punkt bringt: Das Individuum folge der Mode, um seine eigene Einzigartigkeit durchzusetzen, indem es sich nach einer allgemeinen Tendenz ausrichtet. Es macht, was die anderen machen, um anders zu sein (vgl. Esposito 2004: 13). Auf Modekleidung übertragen bedeutet das: 1. Wir ahmen nach, was wir sehen, ob wir wollen oder nicht, und 2. zwingen Kleider zu bestimmten Körperhaltungen bzw. Bewegungen und machen andere unmöglich. Sie verbieten, befreien, engen ein, schützen oder exponieren. Sie tragen bei zur Disziplinierung der Körper, die Norbert Elias (1992 [1969]) im Prozess der Zivilisation als untrennbar mit der psychischen Zivilisierung beschrieben hat. So gehört die Praxis des Sich-Kleidens „zu denjenigen Prozessen, in denen Körper, ihr Aussehen, ihr Verhalten, ihre Bewegungen, ihre Ausstrahlung, in hohem Maße geprägt werden. Wie, wenn nicht durch das Einüben des SichKleidens, des Sich-Angemessen-Kleidens, würden Körper rascher und effizienter zu kulturellen Körpern gemacht? Scham und Schönheit: Beides beginnt mit dem Kleid.“ (Lehnert 2013: 57) Erst in der Spannung von Belebtem und Unbelebtem, im Dialog von Körper und Kleid entfaltet sich Kleidung als Mode. Der Körper belebt die Kleidung kraft seiner eigenen Dreidimensionalität und Beweglichkeit; er allein vermag das Kleid adäquat (als Mode) zu inszenieren. Das Kleid ist ohne den dreidimensionalen Körper (und idealiter seine Bewegungen) keine Mode. Der Körper wiederum schafft sich durch das Kleid und im Kleid spezifische Räume: Spielräume und Handlungsräume. Das Kleid inszeniert sich als Körper, und es wird vom Körper inszeniert als räumliche, ephemere und vor allem körperkonstitutive Erscheinung. Im Miteinander von Körper und Kleid entsteht ein neuer Körper, der Modekörper, der meist nur sehr ephemer existiert. Der Modekörper ist mehr als die Summe seiner Teile (vgl. Lehnert 2013: 7, 51ff.). Das Kleid wirkt auf Bewegungen und Haltungen der TrägerInnen – und umgekehrt. Das Kleid wirkt außerdem auf die Befindlichkeit, das Selbst-Gefühl und schließlich auch das Selbst-Bewusstsein im wörtlichen Sinne. Es trägt mithin in erheblichem Maß dazu bei, den Habitus einer Person zu modellieren. Umgekehrt kommt das Kleid nur zur Geltung, wenn es auf bestimmte Weisen getragen wird. So
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findet hier eine kurzfristige Symbiose statt, die eine ephemere Identität hervorbringt, manifestiert im Modekörper. Der Modekörper wird vom Subjekt als der seine angesehen und ‚naturalisiert‘ zum eigenen Körper und zum ‚Ausdruck‘ der eigenen Persönlichkeit. Das ist die zweite Paradoxie der Mode, neben der, dass wir andere imitieren, um außergewöhnlich und unverwechselbar zu sein.
RÄUMLICHKEIT VON MODE Modekleidung besitzt materialiter eine räumliche Dimension, die sich an und durch die Körper entfaltet. Im Zusammenspiel der Materialität und Dreidimensionalität der Kleidung und der Bewegung der Körper besitzt die kleiderbasierte Körpertechnik eine besondere räumliche Dimension, die sich z.B. im Umfang der Modekörper oder in der Möglichkeit der Enge oder Weite der Bewegungen manifestiert. So bringt Modekleidung eigenständige Raumgebilde hervor, indem sie den Körpern neue Dimensionen verleihen, ihn verkleinern oder vergrößern, ihn völlig neu gestalten oder scheinbar einfach nachzeichnen kann (vgl. Lehnert 2001). „Im Barock wird erstmals die Räumlichkeit des menschlichen Körpers mit Hilfe der Mode regelrecht erforscht und neu gestaltet. Anders gesagt: Die Kleidermode wird zum ersten Mal in vollem Umfang als räumliches Verfahren aufgefasst und praktiziert. Die Kleider verselbstständigen sich, emanzipieren sich vom Körper, der in seiner anatomischen Beschaffenheit unter all den Stoffmassen, Bändern, Schleifen – und darunter noch den Korsetts und Polsterungen – unsichtbar wird. Andererseits aber sind die Kleider auf den Körper, der sie trägt und sie bewegt, ebenso angewiesen wie der Körper auf die Kleider. Auf diese Weise entstehen vestimentäre Skulpturen, die allerdings erst im Getragenwerden zur ephemeren Vollendung gelangen. Denn im Unterschied zu künstlerischen Skulpturen benötigen modische stets die Mitwirkung des Körpers, auch wenn sie ihn verschleiern, verhüllen und auf jede erdenkliche Weise zu ignorieren scheinen.“ (Lehnert 2012: 24f.)
Tatsächlich entfalten hier die Kleider ihre eigene Agency. Sie lassen etwas Neues entstehen, das nicht mehr in der vermeintlichen Natürlichkeit des Körpers aufgeht, sondern ihn überschreitet und ihn als schon immer kulturell gemachten ausstellt. Es entstehen Körperplastiken, modische Plastiken, die Raum neu sehen, erleben und empfinden lassen.
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RÄUME DER MODE9 In der Verbindung von dreidimensionalen menschlichen Körpern, vestimentären Objekten und Raum entstehen spezifische, historisch und kulturell variable Räumlichkeiten, neue Wahrnehmungen und neue Raumvorstellungen. Raum konstituiert sich in Bewegung und Objekten; Menschen bewegen sich und nehmen Bewegung wahr, sie platzieren sich und nehmen platzierte Objekte wahr: Daraus entsteht Raumwahrnehmung und Raumgefühl. Modische Kleidung wird für Anlässe gemacht, und Anlässe sind immer an Räume gebunden. Mode spielt sich in Räumen ab, Kleider werden in eigens für sie konzipierten Räumen inszeniert, die ihre Wirkung unterstreichen oder sie konterkarieren. In Geschäften werden Kleider als Mode angeboten und ausgestellt, anprobiert und ausgewählt. Das ist einer der wichtigen Akte der Auswahl und Attribution, in denen Kleider Mode werden. Modeläden verfolgen Strategien der Zurschaustellung und der Aufmerksamkeitserzeugung und -lenkung und stellen als mehr oder weniger geschickte Inszenierung der Kleider einen wichtigen Faktor von deren Akzeptanz dar (vgl. Lehnert 2013a). „Die Mode stellt eine klare Bedingung an die Architektur: Die Räume und Formen dienen allein der Präsentation der Kleider und Accessoires“, so Christoph Allenspach (2009: 59). Schließlich wird Mode auch auf der Straße inszeniert, was in den letzten Jahren immer wichtiger geworden ist: Street Style statt Designerstile. Das verweist ganz direkt auf die Beteiligung der Konsumierenden an der Mode, denn sie sind es, die sich auf der Straße in ihren (vermeintlich) höchstpersönlichen Kombinationen von Kleidern und Accessoires bewegen, sehen und gesehen werden. Angeblich wird Mode auf der Straße gemacht, nicht mehr in den Designstudios. Das stimmt natürlich nur bedingt, aber als Tendenz ist es interessant.
SCHLUSS Mode geht nicht in den materiellen Objekten auf, sondern sie ist das, was wir mit diesen Objekten machen. Mode entsteht in sozialem und ästhetischem Handeln; sie realisiert sich in Alltagspraktiken und in ‚cultural performances‘ wie Modenschauen, Filmpreisverleihungen, Vernissagen etc. Nur durch ihr Aufgeführtwerden, ihr Inszeniertwerden an Körpern und in Räumen werden die Artefakte im eigentlichen Sinn zur Mode. Als Alltagspraxis setzt Mode eine spezifische modische und damit auch ästhetische Kompetenz voraus. Angelehnt an Stephen Greenblatts Kulturpoetik (1993 und 1980) könnte man sagen, dass sich in der Kleidermode besonders viel soziale Energie ver9 Vgl. Potvin 2009; Lehnert 2012a: 7–24.
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dichtet. Sie besteht aus Artefakten mit einem ästhetischen Überschuss, die von Menschen auf dem Körper getragen werden und die sowohl nach innen (auf das eigene Selbstgefühl) wie nach außen (Kommunikation mit der Umwelt) wirken, ja in konstitutiver Wechselwirkung mit dem Außen stehen. Mode ist im Alltag omnipräsent, und sie hat theatralen Charakter insofern, als sie eine Weise der Inszenierung ist.10 Mode bringt kulturelle Geschmacksbildungen, soziale Strukturierungen und raumzeitliche Dynamiken hervor. Das modische Kleid bringt uns in die Spannung zwischen materieller und immaterieller Welt. Es ist Artefakt und besitzt eine Handlungsmacht – und es ist soziales Zeichen, das mit dem Außen kommuniziert. Die Mode lässt uns im Alltag ständig „Akte des Fingierens“ (Iser 1993) ausüben, um die Iser’sche Theorie literarischen Schreibens auf den Umgang mit Mode zu übertragen, in denen uns Spielräume des Self Fashioning eröffnet werden. An der Schnittstelle zwischen dem Artefakt, dem Körper, den kulturellen Codes und Imaginationen sowie den individuellen Phantasien entsteht für kurze Zeit eine ganz bestimmte Persönlichkeit. Mit dem Kleid verkörpern wir uns.
LITERATUR Allenspach, Christoph (2009): „Räume der Kleider. Inszenierung von sinnlichen Modewelten“, in: Anna-Brigitte Schlittler/Katharina Tietze (Hg.), Kleider in Räumen, Winterthur: alataverlag, 54–59. Austin, John (1979): Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart: Reclam. Bourdieu, Pierre (1974): Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre (1987): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Böhme, Hartmut (2006): Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt. Craik, Jennifer (2009): Fashion. The Key Concepts, London/New York: Berg. Eicher, Joanne (Hg.) (2010): Berg Encyclopedia of World Dress and Fashion, Oxford: Berg. Elias, Norbert (1992 [1969]): Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Entwistle, Joanne (2003): The Fashioned Body. Fashion, Dress and Modern Social Theory, Cambridge: Polity. Entwistle, Joanne (2009): The Aesthetic Economy of Fashion. Markets and Values in Clothing and Modeling, Oxford: Berg.
10 Zum Konzept Inszenierung vgl. u.a. Iser 1993.
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Zeiten des Vestimentären. Mode als Kristallisationspunkt sozialer Beschleunigung? KORNELIA HAHN
In der Moderne besteht die Anforderung, ein modisches Ich herauszubilden. Nicht nur (selbsterklärte) Fashionista können oder dürfen modisch sein, sondern der vestimentäre Code des Modesystems gilt für alle, auch und gerade für diejenigen, die sich explizit praktisch nicht um Mode kümmern oder kein Modewissen erlangen wollen. Wenn die sichtbare Bekleidung anhand eines Modecodes interpretiert wird, kann man nicht ‚nicht‘ modisch sein. In der Interpretation wird die ‚modische‘ von der ‚unmodischen‘ Bekleidung getrennt, wobei dem Zeitpunkt der Interpretation eine große Rolle zukommt. Die Interpretation von Bekleidung verweist so weniger auf deren (unterschiedene) Formen, sondern auf diesen Zeitpunkt. Dies wird in verschiedenen Kontexten sichtbar. Überblicksdarstellungen zur Mode verfolgen immer das Prinzip ‚Was wurde wann getragen?‘, (historische) Fotos von Personen werden häufig gemäß ihres modischen oder unmodischen Auftritts interpretiert und die Kundschaft des Einzelhandels für Bekleidungsmode erwartet mindestens saisonal eine ‚neue‘, weniger eine irgendwie optimierte Kollektion. Spätestens seit der letzten Jahrtausendwende scheint sich nun aber das Karussell der ‚modischen‘ Bekleidung und deren Interpretationen so schnell zu drehen, dass es auf der Ebene der Phänomene zu einem Stillstand, allerdings zu einem rasenden (Paul Virilio), gekommen ist: Ständig gibt es nun mehrere Moden gleichzeitig. So befinden sich zum Beispiel im Einzelhandel die Kollektionen von gestern und heute nebeneinander (symbolisch unterschieden durch eine je spezifische Preis- und Bewerbungsgestaltung) und unterschiedliche Bekleidungsstile werden zeitgleich in verschiedenen Modemagazinen oder selbst innerhalb eines Modemagazins veröffentlicht. Während historische Darstellungen bis zum 20. Jahrhundert – natürlich auch der eindeutigeren rückblickenden Zusammenschau geschuldet – mit recht groben Jahrhundertschritten auskommen, um Bekleidungstrends zu illustrieren, sind die typi-
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schen Abstände jetzt Jahrzehnte. Ab dem Jahr 2000 lassen sich beschreibend nur noch parallele Modetrends, nicht zuletzt auch formal gegensätzliche, ausmachen. Außerdem kann in Bezug auf die Interpretation individueller Bekleidung große Unsicherheit aufkommen: ob Outfit vergangener Modezeiten oder modisches Vintage, ist oft nicht decodierbar. Ingrid Loschek bezeichnet Mode als „Schnittstelle von der Kreation zur sozialen Kommunikation“ (2007: 26). So kann die Unterscheidung von Mode versus Bekleidung anhand ihrer spezifischen Referenzsysteme erfolgen, die jedoch praktisch im wahrsten Sinne des Wortes miteinander verwoben sind. Einerseits ist Mode zunächst immateriell und steht als Zeichen oder Symbol für ‚etwas‘, andererseits ist sie mit textilen Materialitäten (oder Trägermedien) assoziiert. Sie bildet insofern einen „vestimentären Code“ (Barthes 1985). Das bedeutet, dass die Modekommunikation prinzipiell von kulturellen Kontexten beeinflusst wird und nicht etwa von einer Existenz beständiger, ästhetischer Maßstäbe. Diese Perspektive lässt sich in den Sozial- und Kulturwissenschaften dazu nutzen, die Bekleidungsmode nicht nur als Ausdruck ihrer jeweiligen kulturellen Rahmung zu untersuchen, sondern umgekehrt, anhand der Untersuchung von Bekleidungsmode Phänomene dieser kulturellen Rahmung in den Blick zu nehmen. Obwohl der immer schnellere Wandel in vielen Bereichen des Alltags einer postmodernen Flüchtigkeit (Baumann 2007, 2008) bzw. einer universalen Beschleunigung (Rosa 2005) zugeschrieben wird, die sich vor allem an Beobachtungen zur Kleidermode zu bestätigen scheinen, soll hier diese Annahme einmal mit einem Fragezeichen versehen werden. Kommuniziert (Kleider-)Mode über die temporale Zeichenqualität von Materialitäten? Es geht um eine heuristische Bestandsaufnahme von Temporalisierung und Bekleidungsmode. Das Argument ist, dass sich unterschiedliche Temporalisierungsmuster erkennen lassen. Ihre Rhythmik wird durch das Attribut der ‚Beschleunigung‘ nicht zureichend erfasst. Zur Darstellung dieses Arguments werden – nach einführenden Bemerkungen zum Zusammenhang von gesellschaftlichen Strukturen und Zeitorganisation – zunächst Aspekte von Bekleidungsproduktion und Modekommunikation in Bezug auf ihre unterschiedlichen Zeitmuster diskutiert und im Anschluss in Beziehung zueinander gesetzt. Dabei werden Darstellungen aus dem amerikanischen Modemagazin Vogue sowie von Modeschauen im Hinblick auf ihre spezifischen ‚vestimentären‘ Zeiten interpretiert.
SOZIALE ZEITEN UND BEKLEIDUNG Der Blick auf Bekleidungsmoden rückt ein sehr vielschichtiges Phänomen in den Fokus, das in besonderem Maße soziale Strukturen und individuelles Erleben mit temporalen Ordnungen verknüpft. Im öffentlichen Diskurs geht es um Veränderungen, Rhythmen, Zyklen, aber immer wieder auch um Be-
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schleunigungen. Dies ist bereits ‚Ausdruck‘ der Moderne. Dagegen verweist begriffsgeschichtlich der lateinische Begriff modus zunächst einmal auf den in seinem ursprünglichen Sinne heute noch im Deutschen geläufigen Begriff des Modus, d.h. auf die Art und Weise, in der etwas vorliegt, geschieht oder hervorgebracht wird, und nicht unbedingt auf eine temporale Kategorie. Auch der englische und international verbreitete Begriff „Fashion“ geht auf das Machen oder das Produkt (von lat. facere) zurück und nicht darauf, wann etwas gemacht wird. Frankreich, oder besser: Paris, das Modezentrum der Neuzeit, erlangt mit einem neu eingeführten Begriff auch sprachlich-semantisch eine Vorreiterrolle: à la mode (im Gegensatz zu frz. le mode) wird bald nicht nur zu ‚Mode‘ – und hier vor allem Bekleidungsmode – verkürzt, sondern gewinnt parallel zum Aufstieg von Wandlungstendenzen in der Moderne erst eine genuin temporale Komponente. Bekleidungsmode thematisiert damit auch soziale Zeiten. Der Begriff der „sozialen Zeit“ wird in einem 1937 veröffentlichten Aufsatz von Sorokin und Merton in die soziologische Theorie eingeführt. Er umschreibt wie in der bereits zuvor von Emile Durkheim herausgearbeiteten Zeittheorie die Annahme, dass Zeitvorstellungen prinzipiell kulturvariant sind und Systeme der Zeitmessung soziale Handlungen einer Gruppe reflektieren (vgl. Sorokin/ Merton 1937: 620). Mit zunehmender gesellschaftlicher Differenzierung und den komplementären, abstrakteren Mechanismen sozialer Integration besteht die Notwendigkeit zur Herausbildung eines relativ kontextfreien zeitlichen Bezugssystems, damit „Sozialität nicht an den interaktiv belebten Raumgrenzen abbricht […], sondern Kommunikation raumübergreifend integrierbar und synchronisierbar bleibt“ (Hörning u.a. 1990: 25). Ein solches zeitliches Bezugssystem bildet die Vorstellung einer linearen Zeit mit offener Zukunft (vgl. Rammstedt 1975: 50f.), die das Zeitbewusstsein der Moderne beherrscht. Den dialektischen Zusammenhang zwischen Gesellschaftsform und Zeitform (vgl. Scharf 1988: 143) hatte implizit bereits Max Weber in seiner Studie Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus herausgearbeitet, indem er auf die religiös motivierten Zeitvorstellungen und die Herausbildung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung verwies. Die mit dieser Wirtschaftsordnung einhergehende ständige Steigerung der Produktivität und Intensivierung der Arbeit „impliziert eine kontinuierliche Veränderung des Verhältnisses von Arbeitsleistung und Arbeitszeit […] [, die] sich in der zeitlichen Dimension fast immer als Beschleunigung“ (Zoll 1988: 85f.) darstellt. Die Vorstellung von der freien Disponierbarkeit in einer als abstrakt gedachten Zeit bedeutet jedoch keinen Zeitgewinn, sondern das Verschwinden von Zeit: „Jede Zeit für eine Aufgabe kann im Prinzip noch unterboten werden“ (Neumann 1988: 167). Dadurch konstituiert sich das für die Moderne charakteristische Bewusstsein von Zeit als einem knappen Gut. Dies findet nach Kurt Schmahl Ausdruck in einer „technisierten Lebensweise“, deren zivilisatorische Kennzeichen „Steigerung des Verhaltenstempos, zeitliche Präzisierung des Verhaltens, Internalisierung linearer Zeitstrukturen und
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Verknappung der individuellen Zeiten“ (1988: 350) sind. Auf die Dialektik von subjektivem Zeiterleben und gesellschaftlichem Tempo hat auch Norbert Elias bereits in seiner Zivilisationstheorie verwiesen: Erst die komplexe Handlungsverflechtung zwingt zur größeren Voraussicht und Abstimmung des individuellen Verhaltens „auf die immer größere, räumliche und zeitliche Ferne über immer weitere Schichten der Gesellschaft“ (1976: 339) hinweg. Gerade die soziale Ordnung von Zeit und Raum wird somit sowohl zu einem Gradmesser der sozialstrukturellen Verflechtung als auch zu einem Faktor, der diesen Grad sozialstruktureller Verflechtung erst ermöglicht. Die sozial objektivierten Zeitkategorien, zu denen die Uhrzeit zu rechnen ist, sind dabei wesentliche Elemente des kollektiven Wissensvorrats. Sie ordnen sowohl die Zeit unmittelbarer gesellschaftlicher Handlung als auch die individuelle Lebenszeit in Form von biographischen Schemata, verweisen jedoch nicht mehr unmittelbar auf die inhärente Koordinationsleistung bzw. verbleibt diese im Normalfall unbewusst. Vielmehr besteht die Vorstellung, dass der Rhythmus des sozialen Wandels die Temporalisierung der Bekleidungsproduktion bestimmt. Das heißt, dass sich die Bekleidungsmode deshalb so schnell ändert, weil ‚die Zeiten‘ so schnelllebig sind. Auch die Modetheorie betont oft den Zeitbezug. So fragt etwa Ingrid Loschek „Wann ist Mode?“ (2007), Elena Esposito beschäftigt sich mit der „Verbindlichkeit des Vorübergehenden“ (2004) und Doris Schmidt (2007) deutet Bekleidung der Moderne systemtheoretisch als gesellschaftlich geänderte Kontingenzformel von Stratifikation zu Zeitgeschmack. Darüber hinaus unterscheidet Peter Corrigan zwei unterschiedliche Konstruktionsmuster sozialer Zeiten in Bezug auf Bekleidung: „The time units of the year, the season, the week, the day, and the now, the latter of the body, politics, dominant class and dominant culture.“ (Corrigan 2008: 47) In den klassischen Modetheorien der Kultur- und Sozialwissenschaften sind die vestimentären Folgen dagegen stärker auf spezifische soziale Strukturen statt auf soziale Wandlungstendenzen im Allgemeinen zurückgeführt worden. Dies wird zum Beispiel an den Theorien von Georg Simmel oder Thorstein Veblen deutlich, die gleichermaßen, wenn auch mit jeweils anderen Akzenten, den Wandel der Bekleidungsmode im gesellschaftlichen Statussystem verankert sehen. In der Moderne, d.h. in Gesellschaften jenseits von ‚formellen‘ Kleiderordnungen nach Ständen, symbolisiert Bekleidung Status innerhalb eines Systems sozialer Auf- und Abstiegsmöglichkeiten. Hierbei kann im sozialen Kontakt oder in sozialen Situationen Status ausgespielt und die (Symbolik der) jeweilige(n) Bekleidung als Requisite genutzt werden. Der Wandel der Mode ist somit die Antwort darauf, wie Bekleidung in Gesellschaften, in denen keine festen Kleiderordnungen (mehr) bestehen, ‚Leute‘ macht. Gleichwohl gibt es andere, verbreitete Ordnungsmuster: neben Statusunterscheidungen (bzw. mit diesen verknüpft) vor allem Genderdifferenzierung und eine Unterscheidung von formaler Bekleidung und sogenannter Freizeitbekleidung oder Tages- und Abendbekleidung, die auf das
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moderne Ordnungsmuster der Trennung von öffentlichen und privaten Sphären rekurriert. Die Entwicklung der vestimentären Selektion von Formen kann als Verschiebung vom Primat des Standes zur personalen Rolle und weiter zur Situationsrolle gesehen werden. Damit wird die Tragbarkeit von Bekleidungsformen kontingenter, gleichzeitig wird aber auch die Selektion von Bekleidung persönlicher, d.h. auf die Rollen-Spielenden bezogen und diesen zugerechnet. Nicht das Tragen und damit meist impliziert der ‚Besitz‘ von Bekleidung distinguiert, sondern vor allem das situativ passende ‚Styling‘. Auf eine weitere Variante des Zusammenhangs von Bekleidungsmode und Distinktion hat bereits Herbert Blumer 1969 innerhalb seiner interaktionistischen Theorie verwiesen. Er schlägt vor, die bei Simmel und Veblen noch inhärente Idee eines gesamtgesellschaftlichen Modezyklus, in dem die Bekleidung gesellschaftlicher Oberschichten das Modische definiert und die dann von immer weiteren Kreisen nachgeahmt und so als ‚modisch‘ entwertet wird, aus einem anderen Blickwinkel zu deuten: „It is not the prestige of the elite which makes the design fashionable but, instead, it is the suitability or potential fashionableness of the design which allows the prestige of the elite to be attached to it.“ (280) Dies führt zur Idee, dass die Bekleidung an sich – vornehmlich in Form der (Design-)Marke – Status ‚besitzt‘, der sich auf die Tragenden im wahrsten Sinne des Wortes über-trägt. Die Begründungen für die Distinktionsgewinne durch das Tragen von spezifischer Bekleidung wandeln sich also und verweisen damit auf den jeweiligen kulturellen, aber auch sozialstrukturellen Rahmen des situativen modischen Spiels. Dies ist von Werner Sombart in elaborierter Form herausgearbeitet worden. In seiner Studie Liebe, Luxus und Kapitalismus (1922) führt er einerseits die Bedeutung der Textilproduktion für die Entwicklung spezifischer Beziehungsstrukturen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert aus, andererseits wird dieser Zusammenhang als Motor eines globalisierten Kapitalismus beschrieben, den Sombart vor allem am paradigmatischen Beispiel der Produktion von Spitzen sowie Seiden- und Wollstoffen bis zum 18. Jahrhundert nachzeichnet. Hier wird der Aspekt betont, dass die eigentlich handwerklich orientierte Produktion von luxuriöser Bekleidungsmode kapitalintensiv ist und mit einem Niedergang kleinräumlicher Marktbeziehungen einhergeht, ein Sachverhalt, der auch in der späteren Zeit einen beträchtlichen Einfluss hat. Wenn jedoch spätestens mit Blumers Twist in der Theorie der Distinktion die Produktion von Mode in den Vordergrund rückt, fällt die Produktion von Bekleidung in den Betrachtungen und in den theoretischen Erklärungsschemata zurück. In der Folge ist das Produktionssystem in der aktuellen Modediskussion oft ausgeklammert worden. Diese meist vorherrschende Trennung von Bekleidungsund Modeproduktion hat jedoch Einfluss auf die jeweilige Interpretation dieser beiden Bereiche. Während nach Diana Crane im ‚alten‘ Statussystem des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts der praktische Zusammenhang von Mode- und
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Bekleidungsproduktion noch offenkundig war – „‚Class‘ fashion necessitated a centralized system of fashion creation and production in which there was a high level of consensus among designers. A small number of designers defined a specific style that evolved in a consistent manner from year to year. Class fashion was expressed in strict rules about how certain items of dress, such as shoes and gloves, were to be used“ (2000: 134) –, ist dies später nicht mehr der Fall. Auf die notwendige Zusammenschau von Bekleidungsproduktion als materielle Artefakte und Modeproduktion als Interpretationen vestimentärer Zeichen innerhalb von spezifischen Referenzsystemen wird aber gerade in jüngeren Studien wieder aufmerksam gemacht. So formuliert Entwistle: „It is both an industry with particular relations of production and consumption and a discursive arena on such topics as identity, gender and sexuality“ (2000: 208), und stellt gleichzeitig fest: „The division is, however, a false one since neither production nor consumption operates independently from each other.“ (2000: 209) Während letztere Aussage auf den ersten Blick vollkommen logisch erscheint, stellt sich bei genauerer Betrachtung jedoch die Frage, ob nicht die hier interessierende temporale Organisation von Bekleidungs- und Modeproduktion schwächer assoziiert ist als angenommen. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts kommt es zu bedeutsamen Differenzierungen in der Bekleidungsund Modeproduktion. Sie gehen vor allem von der parallel verlaufenden stärkeren industriellen Konfektionierung von Bekleidung und dem Aufkommen eines Designsystems aus. Die soziale, räumliche und zeitliche Trennung zwischen Bekleidungs- und Modeproduktion wird damit ganz praktisch vollzogen.
BEKLEIDUNGSPRODUKTION Hollander stellt für den Zeitraum bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts in Bezug auf die Produktion von Damenbekleidung fest: Es „vollzog sich alles im privaten Rahmen, wenn nicht gar geheim, und das Publikum, besonders das männliche Publikum, sollte der tatsächlichen Methoden, mit denen die Wirkung am Ende erzielt wurde, nicht gewahr werden und auch die Namen der Schneiderin und der Zulieferer nicht erfahren.“ (Hollander 1997: 188)1 Typisch sind mehrere Aushandlungsprozesse zwischen Kundin und Schneiderin bei der Stoff- und Modellauswahl und während der Maßanfertigung. Hollander weist darauf hin, dass das Suchen und Finden attraktiver Bezugsquellen für Textilien und von talentierten Handwerkerinnen einerseits durchaus aufwendig ist und andererseits – im Hinblick auf die intendierte 1 Diese Regel wird durch eine berühmte Ausnahme, die Modistin Rose Bertin, die für ihre Ausstattungen und Aufputze von Hüten und der Bekleidung von Marie Antoinette und anderen Adligen im 18. Jahrhundert einer breiteren Öffentlichkeit sehr bekannt wurde, bestätigt.
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Distinktion – als Geheimtipp wenig Verbreitung findet. Daneben spielen häusliche Eigenleistungen bei der Bekleidungsproduktion mindestens bis zum Ende des 19. Jahrhunderts und auch außerhalb rein finanzieller Erwägungen eine große Rolle. Mit der Einführung von Konfektionsbekleidung – zunächst an Militäruniformen während des amerikanischen Bürgerkriegs erprobt – wird die private, kleinräumlich organisierte und körperbezogene Form der Bekleidungsproduktion allmählich aufgegeben, obwohl die Maßschneiderei in den USA bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts und in Europa – den später größten Absatzmärkten für Konfektionsbekleidung – bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts immer noch parallel dazu eine große Rolle spielt. Die konfektionierte Bekleidung ist also im Vergleich zur (haus-)industriellen Produktion von Textilien ein junges Phänomen der sich entwickelnden Moderne des 19. Jahrhunderts, wobei zu beachten ist, dass für diese Form der Produktion, die auf den zukünftigen Absatz setzt, vor allem die Planbarkeit der Produktion relevant ist. Diese vorausschauende Planung beruht auf Abstraktion von Einzelfällen, also einer Reihe von Standardisierungen, die zunächst einmal Distanzierungen in mehrfacher Hinsicht sind: zwischen dem produzierenden Gewerbe und dem Handel mit Bekleidung, zwischen den Näherinnen und den TrägerInnen der angefertigten Bekleidungsstücke, zwischen den konkreten Körpern der TrägerInnen und einer davon unabhängig gefertigten Konfektion aufgrund der Entwicklung von Größen- und Maßsystemen sowie zwischen der Einzelanfertigung eines Bekleidungsstückes und der Serienproduktion. Dabei sind Distanzierungen in räumlicher und sozialer Hinsicht offenkundiger als in zeitlicher Hinsicht. Schnitttechniken, Standardmaße2, Serienproduktion und nicht zuletzt die ab dem 21. Jahrhundert etablierte Kommunikationstechnologie, die es erlaubt, dass Koordinationen der Fertigung schnell, ortsunabhängig und dezentral geleistet werden können, haben zur Entkopplung von Bekleidungsfertigung und der Abgabe an die KundInnen beigetragen. Dadurch findet eine im Vergleich zu vorher kommunikative Distanzierung zwischen den arbeitsteilig Beschäftigten der unterschiedlichen Fertigungsschritte und den TrägerInnen von Bekleidungsstücken statt: „Teams from different departments work simultaneously on the developments of products, continuously interchanging information and the results of developments.“ (Julier 2014: 40) Obwohl diese Fertigungsschritte in einer insgesamt oft globalen Industrialisierung durch ein erweitertes Management der Produktion und den Einsatz von Kommunikationstechnologien beschleunigt worden sind, ist der Zeitraum zwischen Entwurf, Fertigung und dem Tragen eines Bekleidungsstückes in der Regel ausgedehnt worden. Tatsächlich bedeutet Rationalisierung hier nicht die vereinfachte Produktion, sondern der immer noch bestehende große Anteil manueller Tätigkeit kommt als Spezifikum
2 Auch wenn bis heute keine universal verbindlichen Normierungen von Maßen wie in anderen Industriezweigen eingeführt wurden.
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hinzu: „At the very least, such technology might speed up the process of making garments. However, compared with other industries, clothing manufacture is much less mechanized and technological developments have not eliminated the basic unit of production, the woman at a sewing machine.“ (Entwistle 2000: 212)
MODEPRODUKTION Die Produktion von Mode funktioniert im Vergleich zur Produktion von Bekleidung unterschiedlich. Crane stellt fest: „By the late 1960s, the increasing decentralization and complexity of the fashion system necessitated the development of fashion forecasting. Fashion bureaus play a major role in predicting future trends and what types of clothing will sell.“ (2000: 135) Diese Aussage bezieht sich auf Konfektionsbekleidung und verquickt diese eng mit der Modekommunikation. Während dabei eine notwendige Vorhersage von modischen Formen eher mit der rationalisierten Produktion begründet wird (und Mode nicht im Sinne eines ästhetischen wandelnden Ausdrucks dargestellt wird), geht die ‚Dezentralisierung‘ der Produktion tatsächlich jedoch schon früher mit einer ‚Zentralisierung‘ der Modekommunikation einher. Zeitlich parallel zur Verbreitung von Konfektionsbekleidung für den massenhaften Absatz entsteht das Designsystem und die Haute Couture. Während Konfektionsbekleidung zunächst das preiswerte, schlichte Segment der Arbeits- und Hausbekleidung abdeckt, richtet sich die Haute Couture nur an finanzkräftige Kundschaft und bezieht sich auf repräsentative Bekleidung. Erfolgt damit auf Seiten der Konfektion mit der rationalisierten Fertigung von Bekleidung eine Entzauberung3, so ist auf der Seite der Haute Couture eine zunehmende Verzauberung zu verzeichnen. Als Wendepunkt in der individuell organisierten Bekleidungsproduktion gilt das von dem englischen Textilhändler Charles Frederick Worth eingeführte Designkonzept, der damit erstmals ein Prinzip der Herrenschneiderei auf die Damenschneiderei übertrug. Es bestand darin, „eine Produktlinie für mögliche Kleidungsstücke für mögliche Kundinnen zu erfinden, die auf die Stoffe und den Zierrat abgestimmt waren, die in seinem Geschäft verfügbar waren.“ (Hollander 1997: 190) Sie wird von Worths Ehefrau, einem professionellen Mannequin, bei öffentlichen Auftritten vorgeführt und so bekannt gemacht. Nachfolgend versuchen Adelige und Damen der sogenannten Halbwelt, Maßbekleidung nach diesen Modellen für sich selbst bei Worth in Auftrag zu 3 ‚Entzauberung‘ bezieht sich hier auf den relativ einfachen Erwerb standardisierter Bekleidungsformen. Allerdings kann damit auch eine subjektiv erwünschte Statusveränderung intendiert sein. Vgl. hierzu die interessante Studie von Joselit Weissman (2001) über die vestimentäre Integration sozialer Gruppen in die ‚weiße Mittelschicht‘ in den USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
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geben. Ab 1858 wird das Auftragsprinzip nach Modellen einer Kollektion in Worths neugegründetem Modehaus Worth & Bobergh erstmals erprobt, wenn Worth in Paris den ersten Betrieb, der Maßanfertigungen nach bestehenden Designentwürfen anbietet, eröffnet. Damit wird das Bekleidungsdesign professionalisiert und der Schneiderbetrieb aufgewertet. Es kommt zu der bis heute vorherrschenden Idee der Verbindung zwischen künstlerischer und kreativer Tätigkeit und Paris als ihrer Metropole: „Ever since the Englishman Charles Frederick Worth founded haute couture during the Second Empire, high-end dressmakers in Paris claimed world superiority in fashion on the basis of exquisite craftsmanship and the cosmopolitanism associated with the French capital.“ (Blaszczyk 2008: 62) Gerade in Bezug auf die Rolle von Paris im internationalen Modegeschäft kann zwischen der virtuosen Herstellung der Bekleidung und der späteren Bedeutungsproduktion in Form der Modekommunikation unterschieden werden. Nach der Einführung des Designsystems drängt Worth 1868 auf Gründung der Pariser Chambre Syndicale de la Couture als Schneiderinnung, die 1911 in Chambre Syndicale de la Haute Couture umbenannt wird. Damit wird die Qualitätsmarke Haute Couture geboren, die in den folgenden 100 Jahren die weltweit führende Mode bezeichnet. Erst 1973 lässt die Chambre einen institutionellen Zweig für Prêt-à-Porter, also Konfektionsbekleidung, zu. Die periodisch zu prüfenden Qualitätsauszeichnungen durch die Chambre haben sich in der Folge als oberster Modegenerator für beide Sparten, Haute Couture und Konfektion, herausgebildet. Dies geschieht in einer unterscheidbaren räumlichen, sozialen und zeitlichen Zentralisierung der Modekommunikation. Die zweimal jährlich von der Chambre zu festgelegten Zeiten stattfindenden Entwurfs- und Produktschauen dienen außer der Qualitätskontrolle dem Schutz der Entwürfe. Durch die nichtöffentliche und personelle Zuordnung der ‚Prototypen‘ werden die Möglichkeiten zur Kopie durch andere Produzenten kontrollierbarer. Die Chambre dient insofern vor allem der Rechtevertretung der Modehäuser. Gleichzeitig wird die Chambre selbst mit diesen Funktionen als Instanz immer wieder bestätigt. Schauen sind bereits seit dem Mittelalter ein Instrument zur Qualitätskontrolle der Textilproduktion. Bei den Schauen des Textilhandwerks fand auch das ursprüngliche Branding statt, indem durch Aufbringen eines Kontrollsiegels die Qualität und vor allem die lokale Herkunft der produzierten Textilien meist durch die dazu von den Zünften Berufenen gewährleistet wurden. Nach wie vor gehört es zur Anforderung der Chambre, dass die Modehäuser, die das ‚Haute Couture‘-Label erwerben, in den beiden von der Chambre zeitlich festgelegten Wochen ihre jeweils neue Kollektion präsentieren müssen. Es gibt daneben noch weitere Auflagen, die nicht nur den originären Entwurf, sondern die Fertigung betreffen, die handgearbeitete Ausführung der Bekleidungsstücke, die ständige Unterhaltung eines Betriebes in Paris mit einer bestimmten Anzahl von dauernd Beschäftigten u.a. Seit der Einführung von Schauen für Prêt-à-Porter verlagert sich die Qualitätsschau zu einer
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Mustermesse. Diese ist ebenfalls bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts in vielen Industriezweigen als Novum zum Direktverkauf von Produkten ab Ausstellung eingeführt worden. Auch zum Konzept der Mustermesse für neuentwickelte Produkte gehört, dass die Entwürfe bis zur Schau geheimgehalten und erst zu einem spezifischen Zeitpunkt öffentlich präsentiert werden. Durch diese Strategien entsteht vor allem das ‚modische‘ Produkt. Während die Produktion in der Konfektion immer weiter globalisiert wird, ist die Modekommunikation durch die Schauen, auch wenn es neben den traditionellen Pariser jetzt vielbeachtete Schauen in Mailand, New York, London, Berlin und anderen Städten gibt, zentralisiert worden. Kawamura schreibt diesbezüglich: „Extraordinary centralization of power allows control over many people and resources. […] The French fashion system has autonomous power on a global scale, and it works to maintain its hegemony.“ (2006: 54) Der Zwang zum öffentlichen Wettbewerb am Markt um das Prädikat ‚Haute Couture‘ in Form der zentralen Schau hat sich in der Folge als unschätzbarer Werbefaktor für Haute Couture und Prêt-à-Porter erwiesen. Die Zentralisierung der Leistungsbeurteilung unter formellen Regeln und die Organisation des Wettbewerbs haben gravierende Konsequenzen für die Modekommunikation gezeigt. Dennoch wird diese heute nur noch indirekt von den Schauen und der Präsenz bei diesen bestimmt, sondern vor allem dadurch, wie die Schauen selbst zum ‚Material‘ für Modekommunikation werden: Weniger die spezifische Kollektion, sondern die Schau selbst wird bedeutsam für Branding und Vermarktung der ungleich stärker nachgefragten Konfektion.
ZUM VERHÄLTNIS VON BEKLEIDUNGSPRODUKTION MODEKOMMUNIKATION
UND
Das Verhältnis von Bekleidungsproduktion und Modekommunikation gewinnt durch eine neue Art der Modenschauen einen anderen Akzent. Diese wurden entscheidend durch den italienischen Geschäftsmann Giovanni Battista Giorgini als Vorreiter geprägt, der zur Promotion der italienischen Mode und des italienischen Bekleidungshandwerks die Modenschau als exklusives gesellschaftliches Ereignis in besonderem Ambiente einführte. Am 12. Februar 1951 fand zunächst in seinem luxuriösen und großzügigen Privathaus in Florenz, ein Jahr später jedoch bereits in noch größerem Stil im Palazzo Pitti, eine Modenschau statt, in der Bekleidung von mehreren Designern beworben wurde und zu der neben der Presse vor allem die ‚buyer‘, die Einkäuferinnen und Einkäufer für Bekleidung führender amerikanischer Handelsunternehmen, eingeladen wurden. Aufzeichnungen dieser Modenschau zeigen, neben dem unbestreitbar aristokratischen Stil der Räumlichkeiten, im Ver-
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gleich zu den heutigen Schauen noch Anklänge an eine Mustermesse. Publikum und Laufsteg sind räumlich wenig abgegrenzt und bilden eher eine ‚Traube‘ statt symmetrischer Reihen. Die Bekleidung der vorführenden Mannequins wird durch das Publikum in einem stärkeren Wortsinne gemustert, indem sie befühlt und studiert wird, wobei sich das Publikum auch untereinander und mit den Mannequins unterhält. Die Bedeutung des Ablaufs der späteren ‚neuen‘ Schauen ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird von Elizabeth Bye folgendermaßen umrissen: „Each show has a personality and aims to create a mood that reinforces the brand image. The fashion show is not a glamorous event for the designer and the staff but one involving enormous preparation, work, compromise, and stress. Every detail is important and the production of the show requires a large budget of time and resources. The designer’s main role at the show, in addition to taking a final bow, is to make sure that everything coming down the runway is being presented exactly as planned.“ (2010: 78)
Hier wird implizit die intendierte Bedeutungsverdichtung betont, die während der Schau dargeboten wird und unmittelbar nach der Schau größtmögliche Verbreitung finden soll. Die neuen Schauen sind deshalb in der Anlage der Aufführung Opern ähnlicher als Mustermessen. Die Vorführung der Bekleidung ist visuell (und nicht haptisch) und wird mit Musik begleitet, die u.a. Gespräche im Publikum eher verhindern oder übertönen als befördern soll. Sie ist als Szene oder abgeschlossener Akt strukturiert, immer häufiger neben den ‚Kostümen‘ auch durch elaborierte Kulissen, Requisiten und Choreographien. Dass es sich bei der Modenschau um ein vor allem exklusives gesellschaftliches Ereignis handelt, wird durch die spezifische Doppelrolle des Publikums noch unterstrichen: Einerseits gibt es eine hierarchisierte Sitzordnung (herauszuheben ist besonders eine Einladung für die ‚front row‘), womit das Publikum jedoch selbst die Kulisse für die aufzeichnenden Kameras bildet und zur Bedeutungssteigerung des Ereignisses beiträgt; andererseits ist die Kopräsenz bei der Schau so wertvoll, dass – obwohl unmittelbar nach der Schau Videos von den Modehäusern selbst im Internet veröffentlicht werden – sehr viele Personen im Publikum Momente mit der Kamera aufnehmen. So ist die in der Regel ca. fünfzehnminütige Schau eine Hoch-Zeit der Modekommunikation, die weite und sehr vielfältige Wellen schlägt, indem die Bilder der kurzen Schau distribuiert und immer wieder kommentiert, aber auch in unterschiedliche Kontexte gesetzt oder zu sinnhaften Collagen gestaltet werden können. Deshalb sind die für das Modesystem hochrelevanten Schauen (und die gezeigte Bekleidung) nur in einem indirekten Sinne für die Modekommunikation zentral. Wesentlich sind die Deutungen der auf den Schauen gezeigten Entwürfe durch die Modeautoritäten und vor allem deren publizistische Verbreitung. Woodward weist darauf hin, dass „without narrative storylines, be they accounts spoken by individuals or accounts that hold
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more general sway within a population such as a discourse, an object is rendered virtually invisible within a culture“ (2007: 152). In diesem Sinne kann betont werden, dass Modekommunikation und Bekleidungsproduktion zwar als Transformationen von Zeichen respektive Materialitäten gelten können, die Verbindung zwischen Materialitäten und Zeichen jedoch erst in der kulturellen Idee einer wechselnden Mode sinnhaft geschaffen wird. Als Beispiel für Modeautorität kann im internationalen Maßstab wie kaum ein anderes Magazin (oder ein Blog) die amerikanische Vogue gelten. Die Chefredaktion, bereits langjährig vertreten durch Anna Wintour, interpretiert die Bekleidung nach ihrem traditionellen Besuch der Schauen in der ‚front row‘. Das Gros der Modekommunikatoren hat aber keinen privilegierten Zugang zu den Schauen, sondern interpretiert Repräsentationen von Bekleidung und nicht mehr die originalen Kleidungsstücke nach kopräsenter Anschauung.4
Abbildung 2: Vogue US, November 2013
4 Es ließe sich hier Baudrillards Theorie der Präzession des Simulakrum anfügen, wenngleich nicht klar ist, inwieweit es sinnvoll ist, von der (fotografischen) Repräsentation als einem Simulakrum zu sprechen.
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Der technologisch unterstützten, immer schnelleren und umfassenderen Verbreitung von Modekommunikation steht eine räumliche und zeitliche Distanzierung gegenüber, deren möglicher Einfluss noch kaum analysiert ist. Eine Betrachtung der für die Vogue klassischen, periodischen Modestrecke „What to wear where“ illustriert (vgl. Abbildung), dass – obwohl sich natürlich argumentieren ließe, dass das jeweilige Veröffentlichungsdatum der Modestrecken bereits zeitlichen Bezug hat – die ‚modische‘ Bekleidung weniger auf eine aktuelle Zeit, eine Jahreszeit oder eine Tageszeit, sondern auf ein ganz konkret benanntes, singuläres Ereignis, sozusagen einen ‚Raum/Zeitpunkt‘, bezogen wird. Ähnlich der Modenschau kommt es damit zu einem Höhepunkt der Verbindung von Zeit und materieller Bekleidung. Dabei ist zu fragen, ob den von Malcolm Barnard angeführten Formen der Bedeutungszuschreibung5 nicht noch weitere angefügt werden können. Das Beispiel „What to wear where“ gibt einen Hinweis darauf, dass die Bedeutung des Bekleidungsartefakts sich in synchroner Perspektive situativ oder momenthaft ändert bzw. nur situativ oder momenthaft Bestand hat. Modekommunikation und Bekleidungsproduktion differenzieren sich zu Systemen, deren Kopplung immer loser wird und die unterschiedliche Zeitlogiken ausbilden. Der Rhythmus von flüchtiger Modekommunikation steht in Kontrast zum Rhythmus der Bekleidungsfertigung, der nur noch als langfristiger, zentral kontrollierter und stark arbeitsteiliger Prozess zu bewerkstelligen ist. Roland Barthes’ prominente Feststellung, „in Modeaussagen mit explizitem Signifikat zerlegt der vestimentäre Code die Welt in semantische Einheiten“ (1985: 252), sollte heute eher umgekehrt formuliert werden, insofern Bekleidung mit immer neuen vestimentären Codes versehen und so in (immer neuen) sozialen Kontexten fruchtbar gemacht werden kann.
LITERATUR Barnard, Malcolm (22002): Fashion as communication, London u.a.: Routledge. Barthes, Roland (1985): Die Sprache der Mode, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Baumann, Zygmunt (2007): Leben in der flüchtigen Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Baumann, Zygmunt (2008): Flüchtige Zeiten. Leben in der Ungewissheit, Hamburg: Hamburger Edition. Blaszczyk, Regina Lee (Hg.) (2008): Producing Fashion. Commerce, Culture, and Consumers, Philadelphia: Univ. of Pennsylvania Press. Blumer, Herbert (1969): „From class differentiation to collective selection“, in: Sociological Quarterly 10/3, 275–291. 5 „One locates the origin of meaning outside the garment or ensemble, in some external authority like the designer or the wearer. The other locates the generation of meaning in the garment or ensemble itself in textures, colours and shapes and the permutations of these colours, shapes and textures.“ (Barbard 2002: 72)
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Bye, Elizabeth (2010): Fashion Design, Oxford u.a.: Berg. Corrigan, Peter (2008): The Dressed Society. Clothing, the Body and Some Meanings of the World, Los Angeles u.a.: SAGE. Crane, Diana (2000): Fashion and its social agendas. Class, gender, and identity in clothing, Chicago u.a.: Univ. of Chicago Press. Elias, Norbert (1976): Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Bd. 2: Wandlungen der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Entwistle, Joanne (2000): The Fashioned Body. Fashion, Dress and Modern Social Theory, Cambridge u.a.: Polity Press. Esposito, Elena (2004): Die Verbindlichkeit des Vorübergehenden. Paradoxien der Mode, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Hollander, Anne (1997): Anzug und Eros. Eine Geschichte der modernen Kleidung, München: Deutscher Taschenbuch Verlag. Hörning, Karl H./Matthias Michailow/Anette Gerhard (1990): Zeitpioniere. Flexible Arbeitszeiten – neuer Lebensstil, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Julier, Guy (32014): The culture of design, Los Angeles u.a.: SAGE. Kawamura, Yuniya (2006): Fashion-ology. An Introduction to Fashion Studies, Oxford/New York: Berg. Loschek, Ingrid (2007): Wann ist Mode? Strukturen, Strategien und Innovationen, Berlin: Dietrich Reimer. Neumann, Enno (1988): „Arbeitslos – Zeitlos“, in: Rainer Zoll (Hg.), Zerstörung und Wiederaneignung von Zeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 267–273. Rammstedt, Otthein (1975): „Alltagsbewusstsein von Zeit“, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 27, 47–63. Rosa, Hartmut (2005): Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Scharf, Günther (1988): „Zeit und Kapitalismus“, in: Rainer Zoll (Hg.), Zerstörung und Wiederaneignung von Zeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 72–88. Schmahl, Kurt (1988): „Industrielle Zeitstruktur und technisierte Lebensweise“, in: Rainer Zoll (Hg.), Zerstörung und Wiederaneignung von Zeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 344–370. Schmidt, Doris (2007): Die Mode der Gesellschaft. Eine systemtheoretische Analyse, Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Sombart, Werner (1996 [1922]): Liebe, Luxus und Kapitalismus. Über die Entstehung der modernen Welt aus dem Geist der Verschwendung, Berlin: Wagenbach. Sorokin, P. A./R. K. Merton (1937): „Social Time: A Methodological and Functional Analysis“, in: American Journal of Sociology 42/4, 615–629. Weissman Joselit, Jenna (2001): A perfect fit. Clothes, character, and the promise of America, New York: Henry Holt and Company. Woodward, Ian (2007): Understanding material culture, Los Angeles u.a.: SAGE. Zoll, Rainer (1988): „Krise der Zeiterfahrung“, in: ders. (Hg.), Zerstörung und Wiederaneignung von Zeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 9–33.
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E x zellente Kleidsamkeit. Vestimentäre Ästhetiken in Dichtung und Kunst des Mittelalter MANFRED KERN
VORBEMERKUNG Ich trage einen Anzug von Drykorn, ich trage Schuhe von Think! – eine Marke, die den moralischen Imperativ der Universität im Namen führt –, ich trage ein Hemd von Windsor mit sogenanntem Haifischkragen, eine Krawatte der österreichischen Traditionskrawattenfirma Striessnig, Manschettenknöpfe, deren Hersteller ich nicht kenne, sie sind das Erbstück eines leider zu früh verstorbenen Kollegen und Freundes und bestehen aus neuseeländischen Jaspissteinen, die in 22-karätiges Weißgold gefasst sind. Ich trage Socken von Falke, und schließlich ein Shirt und Shorts von Zimmerli.
Dieses Bekenntnis, mit dem ich meinen Vortrag begonnen hatte, sollte nicht reine Eitelkeit sein, sondern von vornherein dokumentieren, dass das Textil immer mit Sprache, mit Text ge- und verwoben ist. Was ich mit Worten gemacht habe, war eine Art der zweiten Einkleidung, eine verbale Investitur. Auf den Begriff der ‚Investitur‘ werde ich zurückkommen – diskutieren könnte man, ob meine Selbstbeschreibung, da sie ja von außen nach innen verlaufen ist, überhaupt ein Akt der Investitur, eine Ankleidung, oder nicht vielmehr eine Devestitur, eine Entkleidung und in gewisser Weise peinliche Offenlegung war. Ich habe mit dem Nimbus der Marke operiert. Die verbale Investitur sollte die materielle und immaterielle Investition bekräftigen, die ich aus Anlass des Vortrags und zu Ehren des Publikums getätigt hatte. Zeigen wollte ich damit außerdem, dass Sprache als Mittel der Herstellung von Evidenz dient. Kleidungsstücke tragen Namen, die genannt werden müssen, die sprachlich zur Geltung gebracht werden müssen, damit sie wirklich wirken. Ich habe mich in dieser Beschreibung zudem gleichsam selbst vertextet, bin plötzlich als Text vor den Zuhörenden gestanden, und habe damit natürlich Distanz genommen
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zu dem, was ich tatsächlich am Leibe trug; eine Distanz, die schon darin zum Ausdruck kam, dass ich über mich selbst eine Beschreibung geliefert habe, die geschriebenes Wort war und die ich gelesen und nicht frei gesprochen habe. Ich habe mich bemüht, dies alles in einer schönen, gefälligen rhetorischen Form zu tun, etwa mit Hilfe der Anapher „ich trage, ich trage, ich trage“. Das Stichwort ‚Rhetorik‘ – das uns an sprachliche Gleisnerei denken lassen könnte, wie sie ihr immer wieder von den Puristen der Rede zum Vorwurf gemacht wird – könnte daran erinnern, dass Vertextung oder Selbstvertextung nicht nur der vielbeschworenen Herstellung von Evidenz dient, sondern dass uns die Sprache in diesem Fall eine gefährliche Lizenz ausstellt, nämlich die Lizenz zum falschen Zeugnis. Das Sichtbare ist vielleicht überprüfbar, das Unsichtbare – im Falle meiner Beschreibung die Unterwäsche – nicht. Gut möglich also, dass ich flunkerte und statt Socken von Falke solche von C&A, statt Wäsche von Zimmerli ein Unterleiberl von Palmers (immerhin auch eine gute österreichische Traditionsmarke) und eine Unterhose von TCM trug. Das musste jedoch für immer unbewiesen bleiben. Die ernsthafte Prämisse, die aus all dem abgeleitet werden kann, ist eben, dass Mode ohne Sprache nichts und nicht ist. Mode ist beides: Phänomenalität und Präsenz auf der einen Seite, auf der Seite der Erscheinung; auf der anderen Seite aber Name, Wort und Diskurs. Mode oder allgemeiner gesagt: Kleidung ist in doppeltem Sinne Text, nämlich einerseits Textil und andererseits Textierung, und beide Begriffe – Textil wie Text – gehören denn auch sinniger- und sinnvollerweise etymologisch zusammen. Die Textierung des Gewandes ist am kondensiertesten im Markennamen zu fassen. Die mit dem Stoff vernähte Marke zeigt auf einer konkreten materiellen Ebene, dass die Evidenz des unmittelbaren Eindrucks eines modischen Gewandes und der mittelbare Zeichenwert der Sprache ineinander greifen. Diese Idee ist es, die Roland Barthes in seinem bekannten Werk Die Sprache der Mode von 1967 breit erörtert hat, wobei der französische Titel eigentlich treffender für das ist, wovon Barthes hier handelt. Er lautet Système de la mode, also Das System der Mode. Ganz allgemein gesagt geht Roland Barthes von einem triadischen Struktur- oder auch Systemverhältnis zwischen realer Kleidung, ikonischer, also ins Bild gebrachter Kleidung und eben Kleidersprache aus, wobei Sprache und Sprechen das Relais zwischen diesen drei Systempunkten bilden und einen „vestimentären Code“, wie Barthes es nennt, konstituieren; einen Code, der in Wechselwirkung mit dem Bild nicht zuletzt eine imaginative Referenz, ein textuell-textiles Phantasma stiftet, das jenseits der textilen Pragmatik, also der pragmatischen Funktion von Kleidung besteht. Der Text aus Kleidung und als Sprachkleid konstituiert sich nach Barthes auf einer Metaebene, auf einer Bedeutungsebene zweiten Grades, die nicht auf Reales referiert, sondern neue Ordnungen und neue Narrative erzeugt. Dies umfasst beispielsweise soziokulturelle Strategien der Distinktion, also der – mit Pierre Bourdieu gesprochen – mehr oder weniger feinen Unterscheidung, der Nuance, die vielfach nicht auf
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den ersten Blick, sondern nur durch Markenzettel und genaue Tuchfühlung gewährleistet ist; es umfasst auch die Bestätigung oder die Transgression von Geschlechterordnungen, die ja einen zentralen Fokus, nicht zuletzt der jüngeren und jüngsten kulturwissenschaftlichen Beschäftigung mit Mode bilden; es umfasst Formen der Subjektkonstitution und der Subjektidentität, die zugleich in ein Spannungsverhältnis zum Kollektiv treten. Das Kollektivistische einerseits, das je Subjektive andererseits macht das eminent Dialektische an modischen Phänomenen aus. In der Sprache der Mode materialisieren sich Formen des Begehrens und der Begehrlichkeit, insbesondere des erotischen Begehrens und der erotischen Begehrlichkeit. Zuletzt möchte ich das Ästhetische betonen, wobei von Interesse ist, dass Erotik und Ästhetik – im Unterschied zu dem, was Kant als den unbeteiligten Gefallen an der Kunst dachte – eigentlich immer zusammenspielen. Die Pluralität der vestimentären Implikationen und ihrer vielschichtigen Referenzen, von denen Roland Barthes spricht, lassen sich am ehesten mit dem Begriff des ‚Mythischen‘ benennen, und Barthes’ Buch von der Sprache der Mode ist ja nicht zufällig in gewisser zeitlicher Nähe zu seinem bekannteren Buch von den Mythen des Alltags (französisch erstmals 1957) erschienen. Ein Mythos ist eine Erzählung, im Falle des vestimentären Mythos lässt sich das mythische Narrativ kondensieren auf das eine Wort, beispielsweise auf den Markennamen, der unseren Kleidungsstücken immer ganz dezidiert eingeschrieben ist. Die eigentliche Erzählung, die eigentliche Mythologie aber leistet der Mode- oder Kleiderdiskurs, beispielsweise in Modemagazinen, mittlerweile auch im Internet und in performativen Formen wie in Modenschauen. Mir geht es im Folgenden um eine spezifische Sprache der Mode, nämlich um die literarische, poetische Codierung des Vestimentären, um eine vestimentäre Ästhetik und Poetik in der mittelalterlichen Literatur und – am Rande wenigstens – in der bildenden Kunst. Ich möchte hierzu zunächst Allgemeines ausführen und über grundlegende poetische, auch ikonisch-bildnerische Verfahren sprechen, wobei ich mich auf die umfassende Untersuchung von Andreas Kraß, Geschriebene Kleider (2006), beziehe. Ich möchte mich dann auf zwei kommunizierende vestimentäre Darstellungs- und Sinngebungsverfahren konzentrieren, nämlich auf die Investitur, also die Einkleidung, und auf die Devestitur, die Entkleidung. Den Begriff der ‚Investitur‘ hat Andreas Kraß für vestimentäre Codierung im Mittelalter auf passende Weise fruchtbar gemacht, weil er eigentlich aus der zeitgenössischen Amtssprache, genauer: aus der kirchlichen Amtssprache kommt, man denke an den Investiturstreit. Wenn ein Bischof eingesetzt wird, wird er ‚investiert‘. Er erfährt eine Investitur, bekleidet von nun an das Bischofsamt, wie noch heute gesagt wird, dieser übertragene Sinn spiegelt sich allerdings und erfährt seinen konkreten, sichtbaren Ausdruck in den vestimentären und requisitären Insignien, die er anlegt und annimmt. Wird er aber – Gott behüte! – abgesetzt, wie der arme reiche Bischof, auf den ich noch zurückkommen werde, dann ereignet sich eine Devestitur.
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Ich werde auf eine Investitur eingehen, die in einem höfischen Roman stattfindet, nämlich auf die Investitur Isoldes im Tristanroman Gottfrieds von Straßburg. Auch die mittelalterlichen Männer hätten es verdient, ins Zentrum gestellt zu werden, weil sich das Mode- und Kleidungsmotiv im Mittelalter gegen unsere Erwartung gerade mit dem Männlichen verbindet (hierzu u.a. Kraß 2006a). Im mittelalterlichen Diskurszusammenhang ist das Faszinierende aber das Zeigen, und zwar das positive Zeigen der wohlgekleideten Frau, weswegen ich mich auf Isolde konzentriere, aber auch auf Tristan als modischen Mann hinweisen werde. Den Beschluss – und das wird kürzer sein, weil ja das Ausziehen schneller geht als das Anziehen – werden einige Gedanken zur Devestitur am Beispiel des Totentanzes bilden, insbesondere anhand des berühmten Bild- und Texttypus von Tod und Mädchen.
ALLGEMEINES ZUR MITTELALTERLICHEN KLEIDERSEMANTIK Man könnte sich die Frage stellen, ob es im Mittelalter überhaupt schon so etwas wie Mode gab. Es gibt sie kaum im Sinne des schnellen Wechsels, den schon Georg Simmel in seinem 1905 erschienenen Essay Philosophie der Mode (Simmel 1995) als besonders signifikant für das Modische herausstreicht. Es gibt jedenfalls vestimentäre Konventionen, die zwar längerfristigen Veränderungen unterliegen als heute, aber in analoger Weise der sozialen und repräsentativen Distinktion dienen – diese Konventionen bilden den Gegenstand der Kostümgeschichte, die ich hier weder bieten kann noch will. Einiges sei jedoch angedeutet: so etwa, dass sich im früheren Hochmittelalter männliche und weibliche Kleidung kaum unterschieden haben (vgl. Kraß 2006a, Scott 2009). Dem entspricht die Tatsache, dass vestimentäre Pracht oder Exzellenz und umständliche Kleiderbeschreibungen in der Literatur keineswegs vorwiegend auf weibliche Figuren, sondern ebenso auf Männer bezogen sind. Weiters ließen sich doch auch einige Modephänomene festmachen: so aus dem Spätmittelalter das sehr interessante Requisit der Schnabelschuhe, bei denen man sich fragt, wie man mit derlei Schuhwerk überhaupt gehen konnte; den Schnabelschuhen eignet aus heutiger Sicht etwas Närrisches, und als närrische Schuhbekleidung sind sie auch geblieben. Dass sie aus zeitgenössischer Sicht durchaus ein Zielpunkt der Kleiderkritik sind, illustriert eingängig ein aus zwei Holztafeln bestehendes Gemälde aus den Jahren um 1470 (Abb. bei Camille 1998: 160f.). Die eine Tafel zeigt ein prächtig gekleidetes höfisches Liebespaar, wobei der Mann eben sehr markante Schnabelschuhe trägt und sein Bein zeigt, jenes Bein, das zu zeigen heute angeblich allein der Frau zusteht, wie Barbara Vinken meinte – wenigstens im Sport (ein wichtiger Sektor der Mode) ist das Bein-Zeigen aber auch Männersache geblieben. Auf der anderen Tafel wird die prächtige Kleiderausstattung mitsamt ihrem Thema weltlicher Liebe und Jugendschönheit negativiert, sie zeigt das schöne, junge
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Paar im Zustand der Verwesung. Beide Bilder waren, so viel man weiß, ursprünglich als Vorder- und Rückseite zusammengefügt. Das ist deshalb interessant, weil Vergänglichkeit somit nicht als Prozess, sondern als etwas Simultanes gedacht ist (vgl. Kern 2009: 95f.). Das schöne Kleid, das schöne Äußere, ist in Wahrheit immer auch schon das Verkommene, Hässliche, Grausame, Sündhafte. Um aber auf mittelalterliche Modephänomene zurückzukommen, ließe sich für das Hochmittelalter auf die Flügelärmel verweisen. Modisch kann man sie insofern nennen, da mit ihnen das Prinzip der Funktionalität mehr als überschritten ist. Das vestimentäre Accessoire spielt sich frei, es entwickelt ästhetischen Überschuss. Ein Beispiel gibt die Darstellung einer nicht unbedeutenden Dame, nämlich der Allegorie der Superbia aus dem Hortus deliciarum der Herrad von Landsberg, das ist eine klösterliche Enzyklopädie über geistliche Wissensbestände, die von der Äbtissin Herrad von Landsberg Ende des 12. Jahrhunderts zusammengestellt wurde. Das Original ist leider bei dem Brand der Straßburger Bibliothek im Zuge des deutsch-französischen Krieges von 1870 verloren gegangen, es sind aber einigermaßen verlässliche neuzeitliche Reproduktionen erhalten geblieben (Gillen [Hg.] 1979, Abb. der Superbia 111). Superbia ist nun aber die personifizierte Todsünde des Hochmuts. Die modische Inszenierung dieser Figur scheint wie im Falle des jungen und verwesenden Liebespaares darauf hinzudeuten, dass Kleiderpracht im Mittelalter negativ codiert wurde, dass vestimentäre Pracht ein Zeichen sündhaften Weltbezugs sei. Für Superbia ist dies sicher zutreffend, bevor man aber die These formulieren wollte, dass das Mittelalter Kleiderpracht a priori negativ codiere, müsste man sich ein wenig genauer umsehen und man könnte hierfür gleich beim Hortus deliciarum bleiben. In derselben Handschrift findet sich nämlich eine Abbildung der Sieben Freien Künste, die in ihrer Kleidererscheinung ganz analog zu Superbia inszeniert werden.1 Das modische Gewand, das sie tragen, soll aber gerade nicht die Hinfälligkeit der Sieben Freien Künste bedeuten – der Sieben Freien Künste, die zum Studium der Theologie hinführen –, sondern beglaubigt im Gegenteil ihren Wert. Aufwendige, mithin modische Gewandung kann im Mittelalter also sowohl positiv als auch negativ codiert sein, Sünder wie Heilige können im Mittelalter prächtig gewandet sein – über die Gewandung der Heiligen handelt Silke Geppert in diesem Band (vgl. auch Geppert 2013) –, sodass man die aus moderner Sicht erwartete Gleichung, modische Pracht sei im Mittealter Ausdruck weltlich-sündhafter Fixierung und Verschwendung, modifizieren muss und folgende grundlegende Disposition behaupten kann: Wo konkrete Kleiderpracht eine metaphorische Geltung beansprucht, wo vestimentäre Pracht nicht auf sich, sondern auf das Heilige, die Schönheit des Transzendenten oder die göttliche Ordnung ver-
1 Vgl. http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Philosophie_mit_den_sieben_freien_Kün sten.jpg (aufgerufen am 25.1.2015).
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weist, wo ihr Zeichenwert also positiv ist, dort ist diese Kleiderpracht in ihrer konkreten Materialität positiv besetzt. Wo vestimentäre Pracht, Kleiderprunk aber die Ebene der konkreten Geltung nicht verlässt, das heißt, wo sie in dieser Welt bleibt, wo die Referenz des prächtigen Kleides nicht metaphorisch aufs Transzendente geht, sondern wo sie metonymisch und ausschließlich weiterhin Anteil an der Welt hat, dort ist sie tendenziell negativ konnotiert. Diese binäre Logik zeichnet im Übrigen noch für den Skandal um den ehemaligen, 2014 ‚devestierten‘ Limburger Bischof Franz-Peter Tebartz-van Elst verantwortlich. Der Bischof dachte offenbar nach dem ersten, allegorischen Prinzip, und so sollte wohl die Pracht, die er auf seinem Bischofssitz entfaltete, auf die göttliche Pracht verweisen, wie das der Fall war und ist beim Petersdom, bei der Sixtinischen Kapelle usw.; unsere symbol- und allegoriefeindliche heutige Gesellschaft kann dies aber nicht nachvollziehen, sie denkt die geistlich gemeinte Prachtentfaltung als etwas Metonymisches, als ein Vergehen im Sinne der Sünde von Weltlichkeit und weltlicher Verschwendung. Was das Mittelalter angeht, sind wir jedenfalls mit einem Moment der Doppelcodierung konfrontiert, die zugleich so etwas wie eine dynamische Tendenz zur Pluralisierung von Sinnebenen aufweisen und zur Interferenz von negativer und positiver Semantisierung führen kann. Wir könnten also von einer produktiven Uneindeutigkeit sprechen, die auch die Grundformel, die ich geboten habe, immer wieder aufweichen kann.
GRUNDLEGENDE VESTIMENTÄRE MUSTER Andreas Kraß hat sich in seiner schon genannten Untersuchung Geschriebene Kleider mit vestimentären Codierungen in der Literatur des Mittelalters auseinandergesetzt. Er arbeitet dabei vier Muster heraus, die für poetische vestimentäre Verfahren grundlegend sind und narrativ und/oder deskriptiv funktionieren können: Kraß benennt sie mit den Begriffen ‚Investitur‘, ‚Devestitur‘, ‚Maskerade‘ und ‚Travestie‘ (vgl. Kraß 2006: 28–33). ‚Investitur‘ bezieht sich wie angedeutet auf den Akt einer vestimentären Inszenierung literarischer Gestalten, dem nach Kraß mithin ein epiphanisches Moment zukommen kann. Dieser Aspekt des Epiphanischen, also der überwältigenden ‚Erscheinung‘ wiederum ist für das Moment des Phänomenalen, das dem Modischen zukommt und im Mittelalter auch schon zukommen könnte, von Interesse. Die Devestitur ist wie gesagt das Gegenteil der Investitur, die Entkleidung nicht im Sinne des Kleiderablegens, sondern im Sinne einer Degradierung, einer Destruktion oder einer negativen Codierung von weltlich-vestimentärer Prachtentfaltung. Unter ‚Maskerade‘ versteht Kraß die vielfältigen Formen der Verkleidung, die insbesondere einen Wechsel in der Ständeordnung darstellen. Wenn sich, wie etwa in einigen Versionen des Tristanstoffs, der große Ritter Tristan als Mönch oder als Narr verkleidet, dann wäre das eine Form der Maskerade. Die
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Maskerade ist in der mittelalterlichen Literatur etwas sehr Produktives, sie ist ein sozusagen gewandlicher Fundus, aus dem sich prächtig erzählen und aus dem sich prächtige Erzählungen entwickeln lassen. Sie ist natürlich kulturtheoretisch interessant, weil mit ihr immer in Frage steht, ob die Hierarchien durch die Kleidung, durch das Requisit nicht auch im Sinne des Prinzips ‚Kleider machen Leute‘ zu unterlaufen sind, und ob daher die Ständeordnung tatsächlich in dieser absoluten Gültigkeit Bestand haben kann oder eben nicht. Die Travestie begreift Andreas Kraß als einen Sonderfall der Maskerade, der sich auf die Geschlechterordnung bezieht und also das Überschreiten von Geschlechtergrenzen in der Kleidung, das sogenannte ‚Cross-dressing‘, meint, das es in der mittelalterlichen Literatur nicht selten gibt und über das man ebenfalls ausführlich handeln könnte. Ich beschränke mich im Folgenden aber auf Investitur und Devestitur. Nur so viel zur Travestie: Der steiermärkische Adelige Ulrich von Liechtenstein verfasste in den Jahren um 1240/50 eine fiktive Autobiographie, die von seiner ‚Karriere‘ als Minnesänger handelt. Eine zentrale Episode darin bildet die sogenannte ‚Venusfahrt‘. Ulrich reitet hier im mittelalterlich gedachten Kostüm der Göttin Venus von Mestre bis nach Böhmen und kämpft zu Ehren seiner Dame und der Göttin mit Rittern, die sich mit ihm messen wollen. Seine Travestie, die zugleich eine Investitur bildet, wird am Beginn der Episode geschildert, die Beschreibung gipfelt in den Versen (Bechstein [Hg.], vv. 473,5ff., Übersetzungen hier und im Folgenden von mir): dar zuo ich willeclîch gewan zwên schœne zöpfe wol getân, die ich mit perlîn wol bewant, der ich dâ wunder veile vant.
außerdem ließ ich mir nach meinem Willen zwei schön geflochtene Zöpfe machen, die ich mit Perlen umwand, derer mir da wunders viele feilgeboten wurden.
Ulrichs ‚Erscheinung‘ als Göttin Venus wird auch in dem Autorbild reflektiert, das im berühmten Codex Manesse (um 1320) das Corpus des Dichters einleitet.2 Wichtig scheint mir dabei – wie das Bild andeutet, indem es die Göttin auf dem Helm des Ritters sitzen lässt –, dass es sich nicht nur um eine bloße Verkleidung handelt, sondern dass der ‚Rittersmann‘ in gewisser Weise zur Hypostase, zum Substitut der weiblichen Göttin gerät – das Vestimentäre impliziert oder indiziert also durchaus Substanz.
2 Vgl. http://digi ub. uni . heidelberg de/diglit/cpg848/0469?sid=a80906900ef350fd972e56 . a1a90a15f9 (aufgerufen am 25.1.2015).
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VESTIMENTÄRE EXZELLENZ UND AMBIVALENTE CODIERUNG: ISOLDES AUFTRITT AM GERICHTSTAG ZU WEISEFORT Eine der ausführlichsten vestimentären Szenen in der hochmittelalterlichen deutschen Literatur bietet der Roman Tristan und Isold von Gottfried von Straßburg (Haug/Scholz [Hg.] 2011), der um 1205/10 entstanden ist. Der Handlungszusammenhang ist folgender (vv. 8629–10802): Tristan fährt nach Irland, um für seinen Onkel Marke, den König von Cornwall, um Isolde, die Tochter des irischen Königs zu werben. Er muss dabei inkognito auftreten, weil er Isoldes Onkel Morolt im Zweikampf getötet hatte, und er tut dies als Spielmann Tantris, als der er schon einmal in Irland war, um sich von Isoldes Mutter, der Schwester Morolts, die ebenfalls Isolde heißt, von der vergifteten Wunde heilen zu lassen, die ihm Morolt geschlagen hatte. Praktischerweise bedroht gerade ein Drache Irland, die Königstochter Isolde wird dem als Lohn versprochen, der das Ungeheuer tötet. Tristan erledigt dies, schneidet dem Drachen als Beweis die Zunge aus dem Maul. Diese Zunge aber strömt giftige Dämpfe aus, Tristan legt sich vom Kampf erhitzt und vom Gift benommen in einen Tümpel, in dem er fast ertrinkt. In der Zwischenzeit tritt sein Gegenspieler, der irische Truchsess, auf den Plan, der Ambitionen auf Isolde hat, die diese aber nicht erwidert. Er findet den toten Drachen und schlägt ihm das Haupt ab. Die beiden Isolden reiten an den Tatort, weil sie nicht glauben, dass der feige Truchsess tatsächlich den Kampf bestehen hätte können, finden den erschöpften wirklichen Drachentöter, den sie eben für Tantris halten, wobei Isolde, die Tochter wenig später erkennt, dass dieser kein anderer ist als Tristan. Isoldes Sympathie kippt in Feindschaft, aus Rache für ihren Onkel will sie Tristan/Tantris, der gerade im Bad sitzt, mit seinem eigenen Schwert erschlagen. Doch die Mutter gerät dazwischen und verhindert das Schlimmste, nicht zuletzt mit dem Argument, dass man den nun erkannten Tristan benötige, um die Ansprüche des Truchsessen abzuwehren. Der Beweis, dass er lügt, soll bei einem Gerichtstag zu Weisefort geführt werden. Den Auftritt der klagenden Partei, Isolde-Mutter und Isolde-Tochter sowie Tristan und Brangäne, Isoldes Vertraute, weiß der Roman nun aufwendig zu inszenieren (zur Szene auch Kraß 2006: 155–192, Sieber 2008: 7–19): „Îsôt“, sprach sî, „wol ûf, gâ wir! hêr Tristan, sô belîbet ir. ich tuon zehant nâch iu gesant, sô neme iuch Brangæne an ir hant und gât ir zwei nâch uns dar în!“ „gerne, vrouwe künigîn.“ sus kam diu küniginne Îsôt, daz vrôlîche morgenrôt, und vuorte ir sunnen an ir hant,
„Isolde“, sagte die Mutter, „los, gehen wir! 10880 Herr Tristan, Ihr bleibt noch hier. Ich werde gleich nach Euch schicken lassen, dann soll Euch Brangäne führen, und ihr beide geht nach uns in den Saal.“ „Ganz nach Belieben, Frau Königin!“ So zog die Königin Isolde in den Saal ein, sie, das froh schimmernde Morgenrot, und führte ihre Sonne an der Hand,
MANFRED KERN | 67 daz wunder von Îrlant, die liehten maget Îsôte; diu sleich ir morgenrôte 10890 lîse unde staetelîche mite in einem spor, in einem trite, suoze gebildet über al, lanc, ûf gewollen unde smal, gestellet in der waete, als si diu Minne draete ir selber z’einem vederspil, dem wunsche z’einem endezil, dâ vür er niemer komen kan. si truoc von brûnem samît an 10900 roc unde mantel, in dem snite von Franze, und was der roc dâ mite dâ engegene, dâ die sîten sinkent ûf ir lîten, gefranzet unde g’enget, nâhe an ir lîp getwenget mit einem borten, der lac wol, dâ der borte ligen sol. der roc der was ir heinlîch, er tete sich nâhen zuo der lîch: 10910 er’n truoc an keiner stat hin dan, er suohte allenthalben an al von obene hin ze tal. er nam den valt unde den val under den vüezen alse vil, als iuwer iegelîcher wil.
das Wunder von Irland, die strahlende Jungfrau Isolde. Die schritt an der Seite ihrer Morgenröte leise und beständig dahin, in einer Spur, im gleichen Schritt, süß überall gebildet, groß, wohlgeformt und schlank, in ihre Kleider gegossen, als hätte sie die Liebe selbst für sich zu einem Lockvogel gedreht. Sie war die Erfüllung jeden Wunsches, weiter käme man im Wünschen nicht. Sie trug aus braunem Samt Kleid und Mantel, in französischem Schnitt, und das Kleid war an der Stelle, wo die Seiten die Flanke hinabgleiten, gefranst und enger gemacht, nahe an ihren Leib gebunden, mit einem Gürtel, der gut auflag, wo er aufliegen soll. Das Kleid war ganz vertraut mit ihr, es schmiegte sich eng an ihren Körper. An keiner Stelle trug es auf oder stand ab, überall fiel es perfekt von oben hin zu Tal. Es warf Falten und es fiel, unten an den Füßen grad so viel, wie es ein jeder von euch haben möchte.
Bemerkenswert ist an dieser Szene zunächst die Choreographie, die die Mutter Isolde vorgibt: „Wir gehen zuerst hinaus und ihr kommt als zweite nach.“ Das zweite Auffällige ist, dass das erste Kleid, das der Roman Isolde, seiner weiblichen Protagonistin, anzieht, ein metaphorisches, ein reines Text-Kleid ist. Denn zunächst wird sie als „die Sonne/das Wunder von Irland“ und ihre Mutter als „die Morgenröte“ beschrieben. Isolde als Sonne ist eine Leitmetapher im Tristanroman Gottfrieds von Straßburg, die auch hier evoziert wird. Mit dieser Metaphorisierung legt sich der Text zugleich selbst ein rhetorisches Prunkkleid an. Die Rhetorik operiert nun generell und sehr reflektiert mit Kleidermetaphern. Schon die antike rhetorische Theorie bezeichnet den Redeschmuck als ‚ornatus‘, als ‚Schmuckgewand‘, die mittelalterliche Theorie folgt ihr darin (vgl. Knape/Till 2003). Und überhaupt sind zentrale rhetorische und poetische Begriffe eigentlich Textilbegriffe, etwa der Begriff der ‚materia‘, des ‚Stoffes‘, aus dem eine Geschichte gemacht wird, oder auch
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schon der des ‚textus‘, des Textes selbst, der zunächst nichts anderes heißt als ‚Gewebe‘, dann eben auch der ‚ornatus‘, der rhetorische Schmuck. Was die konkreten Kleidermotive dieser Szene im Tristanroman angeht, könnten wir von einigen modegeschichtlichen Entdeckungen sprechen, die uns der Text vor Augen führt. Auffällig ist zum einen der Gang bzw. die Aufmerksamkeit, die auf den Gang gelegt wird. Andrea Sieber (2008) spricht von einem regelrechten ‚Catwalk‘. Isolde schleicht in einer Spur und im Tritt ihrer Mutter, das Schleichen muss man sich als ein ganz gleichförmiges Gehen vorstellen, bei dem man die Bewegung der Füße wegen der Länge des Kleides gar nicht mehr sieht; Isolde schiebt sich eher, sie gleitet eher nach vorne, als dass sie ginge. Interessant ist dabei, dass Frankreich schon hier als das Modeland genannt wird. Außerdem auffällig ist die Verknüpfung von Körper und Gewand bzw. die Idee des Schnittes des Unterkleides, des Rockes, der hervorgehoben wird. Die Kleiderbeschreibung bedeutet zugleich eine Entdeckung und eine Inszenierung des weiblichen Körpers. Das ist für das Mittelalter etwas ganz Neues, weil der weibliche Körper, die weibliche Kleidung, insbesondere in der vorangegangenen theologischen Literatur des Mittelalters, nie in dieser Form und im positiven Sinn inszeniert wurde. Ich konzentriere mich daher mehr auf die Beschreibung, die der Roman der Frau angedeihen lässt und weniger auf die des männlichen Helden, Tristan, wenngleich für ihn ein analoger deskriptiver Aufwand getrieben wird (vv. 11080–11147). Die positive Entdeckung des weiblichen Körpers und seiner Erscheinung gerade ‚im‘ und ‚durch‘ das Gewand geht Hand in Hand mit einer Entdeckung, die uns heute prinzipiell nicht mehr so gefällt, nämlich mit der Entdeckung des begehrenden männlichen Blicks auf diesen weiblichen Körper, von dem in den Folgeversen die Rede ist. Er ist kulturgeschichtlich aber eben etwas aufregend Neues im Sinne eines Blicks, der diesen weiblichen Körper nicht a priori negativ codiert, und im Sinne eines Blicks, der sich die Frau durchaus nicht einfach als Objekt aneignet, sondern die Frau oder wenigstens Isolde souverän bleiben lässt, wenn nicht ihre Souveränität, ihre gleichsam heroische Exzellenz über die Blickregie entwirft (vgl. Kern 2015: 126–128). Diese Souveränität manifestiert sich in der Spiegel- und Lichtmetaphorik, dann aber vor allem auch in dem Phänomen, dass die Blicke wechselweise laufen, und der Blick der Frau auf die Männer keineswegs erst der zweite ist und zudem im Bild vom lauernden Jagdfalken durchaus aggressiv codiert wird. Im Dialog der „schachenden“ Blicke, so könnte man sagen, entäußert sich schließlich der männliche Blick und wechselt in gewisser Weise selbst eher vom Aktanten- in den Objektstatus: gevedere schâchblicke die vlugen dâ snêdicke schâchende dar unde dan: ich wæne, Îsôt vil manegen man sîn selbes dâ beroubete.
Gefiederte Schachblicke (oder Raubblicke), die flogen da dicht wie Schnee schach setzend (oder: räuberisch) hin und her. 10960 Ich vermute, dass Isolde so manchen Mann seiner selbst da beraubte.
MANFRED KERN | 69 […] si liez ir ougen umbe gân als der valke ûf dem aste; ze linde noch ze vaste haeten si beide ir weide. si weideten beide als ebene und alse lîse und in sô süezer wîse, daz dâ vil lützel ougen was, in enwaeren diu zwei spiegelglas ein wunder unde ein wunne. diu wunnebernde sunne si breite ir schîn über al, si ervröute liute unde sal slîchende neben ir muoter hin.
Ihre Augen ließ sie wandern wie der Falke auf einem Ast. Weder zu sanft noch zu scharf hielten sie beide ihre Jagdaussicht. 11000 Beide weideten sie ringsum, so gerade und still und in so angenehmer Art, dass da kaum andere Augen waren, denen die Isoldes nicht zwei Spiegel gewesen wären, 11005 Wunder und Wonne zugleich. Die wunderbringende Sonne, sie verbreitete überall ihren Schein, sie erfreute Leute und Saal, als sie so neben ihrer Mutter hinwandelte.
Ich möchte noch ein Detail aus der folgenden Beschreibung herausheben, nämlich die Tassel, die Mantelspange, und deren Handhabung durch Isolde. An ihm wird wiederum eine ganz bestimmte, bemerkenswerte modische Pose entworfen: diu tassel dâ diu solten sîn, dâ was ein cleinez snuorlîn von wîzen berlîn în getragen. dâ haete diu schoene în geslagen ir dûmen von ir linken hant.
10935 Wo aber die Mantelspangen sein sollten, da war eine fein gearbeitete Schnur aus eingeflochtenen weißen Perlen. In sie hatte die Schöne den Daumen ihrer linken Hand eingelegt.
Ihre linke Hand hängt Isolde also in die Tasselschnur ein, mit der Rechten hält sie den Mantel so zusammen, dass er sich öffnet und schließt, den Blick auf das taillierte Kleid und vor allem das Mantelfutter freigibt – überhaupt spielt das Mantelfutter in mittelalterlichen Kleiderbeschreibungen eine zentrale Rolle (vgl. Brüggen 1989). Die Tasselpose Isoldes lässt sich in der bildenden Kunst des Mittelalters, in Skulptur und Buchmalerei, nachweisen (vgl. Brüggen 1989: 41–46, Kraß 2006: 187–189, Sieber 2008: 10–14). Ein berühmtes Zeugnis gibt das Standbild der Reglindis ab, eine der Stifterfiguren im Westchor des Naumburger Doms, die um 1250 angefertigt wurden. Angesichts der (späteren) außertextlichen und geographisch weit gestreuten, u.a. im französischen Raum zu findenden Zeugnisse könnte man die Frage stellen, was der Text hier mache. Referiert er eine verbreitete, eben ‚modische‘ Pose oder konfiguriert er sie überhaupt erst einmal? Vielleicht wäre es falsch, eine Entscheidung treffen zu wollen, die mit wissenschaftlichen Argumenten ohnehin nicht zu treffen ist. Aufschlussreicher ist es wohl, gerade an der Tasselhaltung die Wechselwirkung von historischer Repräsentationspraxis und ihrer ästhetischen Codierung oder Übercodierung in Wort- und Bildkunst
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wahrzunehmen, die belegt, dass kulturelle Sinnstiftung im Interferenzbereich von konkreten und imaginativen Handlungsräumen stattfindet. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das vestimentäre Programm von Gottfrieds von Straßburg Tristan und Isold so etwas wie die Phänomenalität, das Epiphanische am vestimentären Requisit, an der Kleidung der Figur inszeniert. Dieses vestimentäre Programm ist zugleich als ein poetologisches Programm zu lesen (vgl. Kern 2015). Über die ausführliche, extrem rhetorisierte Beschreibung setzt sich der Text letztendlich selbst in Szene; er investiert (sich) gleichsam selbst. Die vestimentäre Motivik arbeitet einem Konzept der Exzellenz und der ästhetischen Hyperbolé zu – auch dies ein rhetorischer Begriff, der die Tendenz der verbalen Übersteigerung/Übertreibung bezeichnet –, das der Roman insbesondere an dieser Stelle, aber nicht nur hier kultiviert. Dieses Konzept materialisiert sich in der Figurenzeichnung, es macht zugleich das poetologische Selbstverständnis des Textes aus. Das Neue ist, dass – allgemein gesprochen – die schwierige Positivität einer menschlich-weltlichen Bestform, die zum Ausdruck kommt, nicht transzendent abgesichert ist. Es geht nicht um die Schönheit Gottes oder der göttlichen Schöpfung – außer dass man natürlich sagen könnte, dass Isolde auch ein Geschöpf Gottes sei – aber das sagt der Text genau nicht. Obwohl diese Kleiderpracht nicht transzendent besichert wird, bekräftigt der Roman das Faszinosum und die faszinierende Phänomenalität des leiblich und kleidlich Schönen. Folgerichtig wird mit der Ambivalenz, die diese Leiber- und Kleiderpracht vor dem eingangs skizzierten diskursiven Horizont impliziert, gespielt, und in weiterer Folge werden immer wieder Aspekte der negativen Besetzung aufgerufen. Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang unter anderem auf die zynische, fast auto-destruktive Maxime „schœne daz ist hœne“ (v. 17830; „Schönheit ist blanker Hohn“). Sie fällt an jener Stelle im späteren Betrugsteil des Romans, an der es Isolde wieder und ein letztes Mal gelingt, ihrem Ehemann, König Marke, seine ganzen Zweifel auszutreiben, und dies nicht mit trügerischen, flirrenden Worten, sondern eben mit der faszinierenden Überzeugungskraft ihrer schönen Erscheinung. Schönheit ist eigentlich ein Hohn für den Betrachter, sie ist seine Verhöhnung – mit diesem ‚Sinnspruch‘, der zugleich Jahrhunderte der Modekritik und noch den gegenwärtigen Vorbehalt gegen das Modische auf den Punkt bringen könnte, ist natürlich auf die prinzipiell negative Codierung des weltlich Schönen in der theologischen Tradition angespielt, zugleich aber wird mit ihr eben gespielt und wird sie überspielt, wie dies in mithin ganz offensiver Weise auch heutiger Modediskurs und heutige Modepraxis mit ihren Feinden tun. Tristan wird wie gesagt in ganz ähnlicher Weise inszeniert. Insbesondere bei seiner Beschreibung macht der Text deutlich, dass das, was Tristan trägt, so wie das, was Isolde trägt, in der Geschichte nicht tatsächliches Gewand ist, sondern ein Gewand, das dezidiert die Wortkunst Tristan bzw. Isolde anlegt. Das poetische Machen, das poetische Schneidern der Kleidung wird bewusst reflektiert, dies schon bei der Schwertleite Tristans (vv. 4555–4620, 4929–
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5011), womit angezeigt ist, dass die Kleiderbeschreibungen im Text zugleich als poetologische Selbsteinkleidungen des Textes begriffen werden können. Zu dem fast übertriebenen, epiphanischen Schönheitskonzept, das mit seiner negativen Besetzung im theologischen Diskurs spielt, verdient abschließend noch eine Stelle Erwähnung, die sich in der Fortsetzung von Gottfrieds unvollendetem Roman durch Heinrich von Freiberg (sie ist um 1280 entstanden) findet. Auch hier geht es um eine Epiphanie. Tristan will Isolde, die Blonde seinem Freund Kaedin vorführen, der zugleich der Bruder seiner Frau, der anderen Isolde, Isolde Weißhand, ist. Tristan hatte sie geheiratet, nachdem er aus Cornwall hatte fliehen müssen, weil König Marke die Liebenden im Baumgarten in flagranti entdeckt hatte. Tristan und Kaedin liegen auf der Lauer und betrachten das vorbeiziehende Gefolge Isoldes, über die es schließlich heißt (Bernt [Hg.] 1978: vv. 4463–4466): Dar nâch reit die schœne Isôt, gein der alle schœne tôt was, die bî iren lebetagen maget oder vrouwe mochte tragen.
Am Ende des Zuges aber ritt die schöne Isolde, der gegenüber alle Schönheit tot war, die zu ihren Lebzeiten eine Jungfrau oder Dame haben mochte.
In dieser Idee, dass Schönheit töten kann, wird der aggressive Gestus, mit dem der höfische Roman des Hochmittelalters sein Programm einer Weltdichtung mitunter zu formulieren weiß, auf die Spitze getrieben. Was die Geschlechterparität in Modefragen angeht, findet Isolde ihr Äquivalent schon im modischen Tristan. Ein männlicher ‚Falke der Mode‘, wie Isolde ein weiblicher ist, erscheint nun im wichtigsten Konkurrenztext, dem Parzival Wolframs von Eschenbach (Nellmann [Hg.] 2006), in Parzivals Vater Gahmuret. Die Beschreibung seiner Erscheinung beim Turnier zu Kanvoleis, das seine künftige Frau, Parzivals Mutter Herzeloyde ausrichtet, überträgt Formulierungen des Frauenpreises wie den rubinroten Mund und den ‚klaren‘ Leib auf die männliche Figur. Gahmuret reitet zudem in auffälliger Pose mit übereinander geschlagenen Beinen einher. In dem Vergleich, dass er sich wie ein Falke, der Beute wahrnimmt, aufreckt, als er Herzeloyde sieht, ist wiederum das Aggressionspotenzial mittelalterlicher Schönheits- und Moderhetorik zu greifen: nu sulen wir niht verliesen, wie ir hêrre komen sî: dem riten videlære bî. dô leite der degen wert ein bein für sich ûfez phert, zwên stivâl über blôziu bein. sîn munt als ein rubîn schein von rœte als ober brünne: der was dicke und niht ze dünne.
Nun wollen wir nicht vergessen, wie ihr Herr (Gahmuret) aufgetreten ist. Neben ihm ritten Fiedler. Da schlug der werte Held ein Bein vor sich auf den Nacken des Pferdes, zwei Stiefel sah man über entblößten Beinen. Sein Mund schimmerte wie ein Rubin, rot, als ob er brennen würde: Voll, nicht dünn waren seine Lippen.
72 | EXZELLENTE KLEIDSAMKEIT sîn lîp was allenthalben clâr. […] von dem liehten schîne, der von der künegîn erschein, derzuct im neben sich sîn bein: ûf rihte sich der degen wert, als ein vederspil, daz gert.
Sein Leib strahlte als ganzer. (vv. 63,10–16) […] Von dem hellen Glanz, der von der Königin (Herzeloyde) ausging, zuckte neben ihm sein Bein hoch. Der werte Held richtete sich auf wie ein Falke, der auf Beute anschlägt. (vv. 64,4–8)
Zuletzt sei noch ein aufschlussreiches Rezeptionszeugnis zu Gottfrieds Isoldenbeschreibung im sogenannten Engelhart Konrads von Würzburg, des wichtigsten mittelhochdeutschen Dichters der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, erwähnt (vgl. Sieber 2008: 15–18; Feichtenschlager 2014). Engeltrut verführt – im positiven Sinne – Engelhart im Baumgarten der Burg ihres königlichen Vaters (Reiffenstein [Hg.] 1982: vv. 3034–3097). Ihre Erscheinung wird in Form einer Kleiderbeschreibung geschildert, die in der Regie der Gottfried-Szene entspricht, und man fragt sich, wie es Konrad von Würzburg schaffen könnte, Gottfried von Straßburg zu überbieten. Er macht das ganz einfach, indem er eine genauso opulente Beschreibung auf ein Kleidungsstück anwendet, das praktisch nichts ist, nämlich auf das Dessous, das Engeltrut trägt, auf ein Dessous, das man gar nicht wahrnimmt, wie es im Text heißt, weil es so aussieht, als wäre seine Trägerin nackt – bekleidungspraktisch also das sinnloseste, epiphanisch hingegen das Kleidungsstück mit dem höchsten Impact, zumal auf den männlichen Blick. Wollte man dessen Geschichte schreiben, so würde darin die Szene von Konrads Engelhart ein Kapitel verdienen. Ich kann dies in diesem Rahmen leider nicht leisten und mache einen Sprung zur Devestitur, die wie gesagt ‚naturgemäß‘ schneller abgehandelt werden kann als die Investitur.
‚DEVESTITUR‘: MODE UND VANITAS IM TOTENTANZ, TOD UND MÄDCHEN Devestitur definiere ich für meinen Zusammenhang als eine Inszenierung von Kleiderprunk und vestimentärer Pracht im Zeichen von Degradierung und Destruktion, im Zeichen des Entkleidens als eines Entblößens und Bloßstellens. Dieses Moment, man könnte auch sagen, dieses vestimentäre Strukturmoment, ließe sich in einer langen Tradition von Bußtraktaten, Büßerlegenden und didaktischen Erzählungen nachverfolgen. Ich verweise nur auf die einigermaßen bekannte mittelhochdeutsche Legendenerzählung von Gregorius, dem guten Sünder des Hartmann von Aue (um 1190, vgl. Kraß 2006: 83–92), oder auf die reaktionäre moralische Ständesatire vom Meier Helmbrecht Wernhers des Gärtners (2. Hälfte des 13. Jahrhunderts). Im ersten Fall reißt sich Gregorius selbst die höfischen Kleider vom Leib, als er erkennt, dass er seine Mutter geheiratet hat, und wallt in einem Büßergewand durch die
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Lande; im anderen werden dem hochmütigen Bauernsohn Helmbrecht, der eine Raubritterkarriere einschlägt, die feinen Kleider von den Häschern vom Leibe gerissen. Dass die Devestitur aber nicht unbedingt Ausdruck legendarischer oder moralischer Kleiderskepsis sein muss, zeigt Iwein im gleichnamigen Roman von Chrétien de Troyes und Hartmann von Aue (um 1190 bzw. um 1200), der sich aus Liebesgram, nachdem Laudine ihn verstoßen hat, seiner ritterlichen Kleiderinsignien entledigt und nackt in den Wald läuft, um dort für einige Zeit seiner Sinne beraubt als wilder Waldmensch dahinzuvegetieren. Devestitur ist hier ein Akt der Liebesbuße, die Relation zum legendarischen Schema dokumentiert die Interferenz zwischen Topoi des geistlichen und des weltlichen Diskurses; dass dies alles im Iwein aus Liebeswahnsinn geschieht, mag umgekehrt den religiösen Fanatismus bedeuten, der im extremen Akt geistlicher Askese und Weltflucht bis heute praktiziert wird und als eine Übertragungsform der erotischen Manie begriffen werden kann. Das zentrale Handlungsmotiv bildet die Devestitur schließlich in einer einschlägigen höfisch-geistlichen Novelle des schon erwähnten Konrad von Würzburg, nämlich in Der Welt Lohn (um 1260, vgl. Kern 2009: 43–67), in der es darum geht, dass Frau Welt den Weltmann und Ritter Wirnt von Grafenberg für seine treuen Dienste belohnen will. (Wirnt ist übrigens eine historische Figur und Verfasser eines Artusromans, nämlich des Wigalois, die Geschichte lässt sich als Dichternovelle und nicht unironische, ambivalente ‚Würdigung‘ eines Kollegen und Vorgängers lesen.) Diese Frau Welt wird wieder ausführlich beschrieben, als Frau, die von vorne sehr schön und in einem sehr schönen Kleid erscheint. In dem Moment aber, wo sie dem Weltjünger zeigt, wie sie ihn belohnt, dreht sie sich um, und hinten ist dieses Kleid eben zerschlissen und zerrissen und ihr ganzer Körper verfault. Das Schöne ist immer schon Betrug, es ist Verhöhnung, in der geistlich-theologischen Sphäre eine Verhöhnung, die zu nichts weniger als zur ewigen Verdammnis den Weg weist. Die dramaturgische und semiotische Logik von Konrads Weltnovelle entspricht in ihrer Rekurrenz auf die theologische Denkform dem eingangs erwähnten Doppelbild des schönen höfischen und des scheußlichen Liebespaares in Gestalt der Kadaver. Jene spätmittelalterlich-frühneuzeitliche Kunstgattung, die Thema und Darstellung der Devestitur am exzessivsten kultiviert, ist der Totentanz. Ich greife aus der Tradition, die sich ab dem beginnenden 15. Jahrhundert fassen lässt, beispielhaft den sogenannten Berner Totentanz des Niklaus Manuel Deutsch heraus. Er entstand in den Jahren 1516–19, erhalten ist er nur in den Aquarellkopien Albrecht Kauws von 1643, weil er wenige Jahre später einer Straßenerweiterung zum Opfer fiel (vgl. ausführlich zur Geschichte des Berner Totentanzes Tripps 2005). Leitende Idee und zugleich Strukturprinzip des Totentanzes ist es, dass der Tod die Vertreter aller menschlichen Stände tanzend zu Tode bringt oder zum Tod führt; die Vertreter aller Stände, ab etwa der Mitte des 15. Jahrhunderts auch die Vertreter und Vertreterinnen beider Geschlechter. Der Tod fungiert
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dabei zunächst und auf den ersten Blick als der große Gleichmacher, er holt den Papst wie den Bettler, der erste darf der Papst dabei bleiben – und auch wenn dies eine zweifelhafte Ehre darstellt, die Reihung der Tanzpaare affirmiert die soziale Hierarchie. Alle sind vor dem Tod gleich, aber manche sind gleicher, manche reizen den Tod ganz besonders und lassen ihn besonders drastisch vorgehen. Devestitur ist dabei Entblößung und Bloßstellung zugleich, wie man am Tod erkennt, der im Berner Totentanz den Papst aus dem Leben reißt, ihm die Papstkrone vom Haupt schlägt und der schon dabei ist, ihm das Gewand herunterzureißen; beim Kardinal ist es nicht viel anders (vgl. Tripps 2005: 33). Den Frauen ergeht es zunächst einmal nicht besser, aber auch nicht schlechter als den Männern. Die beiden Bilder, in denen Kaiserin und Königin von zwei hämischen Gerippen zum Totentanz geführt werden, zeigen die beiden höchsten Repräsentantinnen weltlicher Macht und Frauenpracht natürlich eingekleidet in prunkvolle Gewänder, die wiederum im Sinne der beschriebenen negativen vestimentären Logik auf Hinfälligkeit und Eitelkeit des Weltlichen verweisen (vgl. Tripps 2005: 55). Kostümgeschichtlich ließe sich an den Frauen des Berner Totentanzes vielleicht die Frage des Dekolletés verhandeln. Bei den Männern findet sich immer wieder die zu dieser Zeit moderne sogenannte Schamkapsel, die im Beitrag von Barbara Vinken angesprochen wird (vgl. auch Klinger 2006). Ein modisches Analogon könnte auf der Seite der Frauen die Entdeckung des Dekolletés darstellen. Von Interesse ist in diesem Zusammenhang ein besonders intrikates Bild, das zugleich den bekanntesten und wirkungsmächtigsten Bildtypus des Totentanzes abgibt, da sich in ihm Devestitur geradezu am Dekolleté und an seiner gewaltsamen Vertiefung ereignet. Ich meine das Bild, das der Berner Totentanz als Tod und Tochter betitelt (Tripps 2005: 79), der Typus ist bekannt unter dem Namen Der Tod und das Mädchen. Der Text lautet: Der tod spricht zů der dochter/ Dochter jetz ist schon hie din Stund/ Bleÿch wirt werden din Rodter Mund/ Din Lÿb, din angsicht, din Har, vnnd Brüst můs alles werden Ein fuler Mist/
Der Tod spricht zur Tochter: „Tochter, jetzt schon ist deine Stunde da, bleich wird dein roter Mund werden, dein Leib, dein Antlitz, dein Haar und die Brüste – all dies muss fauler Mist werden.“
Die Dochter gibt Antwort/. O tod wie grüwlich griffst mich an/ mir wyl min Hertz Jm Lÿb zergan/ Jch was verpflicht Einem Jungen knaben, So wÿl mich der tod mit Jm haben/
Die Tochter antwortet: „Oh Tod, wie grauenhaft du mich anfasst, mir will das Herz im Leib zergehen! Ich war mit einem jungen Mann verlobt, nun aber will mich der Tod mit sich führen.“
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Abbildung 3: Tod und Witwe/Tod und Tochter aus dem Berner Totentanz
Auffällig ist, dass das Motiv der Eitelkeit oder der vergänglichen Schönheit im Text eigentlich nur am Körper festgemacht wird; das Bild ist um einiges drastischer, das Gerippe tritt als keineswegs züchtiger Bräutigam auf, der Tod geht der Tochter vielmehr direkt an das Gewand, „an die Wäsch’“, wie man ihn Wien sagen würde, und vollzieht damit eine Devestitur im wörtlichen Sinn. Unschwer ist zu erkennen, dass diese Devestitur aggressiv-erotisch codiert ist. Das wird schon an der üppigen Kleidung und offensiven Kleidersemantik des Mädchens deutlich: Von der Farbgebung und vom Schnitt her deutet sie eher auf eine Frauenfigur hin, die die Tochter im Text gar nicht darstellt, nämlich auf die Prostituierte. Die gelbe Farbe ist in der mittelalterlichen Kostümsymbolik die Farbe des offen zur Schau getragenen erotischen Begehrens oder der erotischen Empfänglichkeit (vgl. Tripps 2005: 78). Die im Text züchtig sich präsentierende Bürgerstochter, die als Braut versprochen ist, wird im Bild mehr oder weniger als Hure inszeniert, und zwar vom Tod selbst. Er ist es, der ihre Brust durch einen Zugriff entblößt, den man durchaus einen gewaltsamen sexuellen Übergriff des Todes als Mann nennen kann. Ich möchte in diesem Zusammenhang noch auf ein Paradox, nämlich auf den paradoxen Widerspruch zwischen Bildwirkung und Bildsinn hinweisen. Der im Bild intakte, schöne weibliche Leib soll als der negative, vergängliche, eitle Leib gelten. Der im Bild verweste, hässliche männliche Leib legt autoritative und gewaltsame Hand an diesen intakten weiblichen Leib, will dabei
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aber nicht konkret, sondern allegorisch verstanden sein. Er bedeutet das, was der weibliche Leib durch seinen Übergriff werden wird. Im Bild bleibt jedoch der schöne Körper ein für allemal der weibliche und der hässliche Körper der männliche. Im Übrigen funktioniert das Bild im Sinne des männlichen Blicks durchaus voyeuristisch. Gerade der Text-Bild-Typus von Tod und Mädchen propagiert eine radikale, wenn nicht brutale Geschlechterordnung. Er impliziert, wie ich denke, aber zugleich eine ikonische Ambivalenz, die sozusagen von der anderen Seite kommt als die Ambivalenz im Tristanroman. Denn in der Todesfigur, die auf das Mädchen zugreift, parodiert sich die männliche Aggression mithin doch selbst. Es gibt von Niklaus Manuel weitere Variationen des Genres (vgl. Tripps 2005: 15). Die eine zeigt eine Kussszene, bei der der Tod auf eine sehr aggressive, sexuell konnotierte Art und Weise die Beine des Mädchens entblößt und ihr unter den Rock fasst. Das Mädchen scheint ihn dabei allerdings nicht zu behindern, sondern seine Hand vielmehr führen zu wollen, ebenso wie sie den Kuss durchaus bereitwillig zu erwidern scheint – man könnte in dieser respondierenden erotischen Attraktion eine Brechung der oppressiven Geschlechterhierarchie gegeben sehen, die den Typus an sich grundiert. Das andere Bild zeigt einen Tod, der dem Mädchen, das die Hände über dem Kopf zusammenschlägt oder sie ringt, unter den Rock kriecht und sich in seiner gebückten Haltung – im Sinne eines verqueren Zitats des Topos vom Minnetoren – durchaus lächerlich machen könnte. Beide Bilder geben Beispiele dafür, dass die Künstler mit diesem Sujet immer auch spielen und damit seine scheinbar klar negative Zielsetzung unterwandern. Ambivalenz der Bildwirkung ist dabei vor allem dann zu fassen, wenn kein Text den Bildsinn sichert. Man könnte von dieser Überlegung her kommend für den Totentanz insgesamt von einem poetologisch-ikonologischen Programm sprechen, das so etwas wie eine Selbstinszenierung der Kunst praktiziert, die über das dominante Thema einer negativen theologischen Anthropologie entwickelt wird. Jedenfalls setzt die Art und Weise, in der der Berner Zyklus gemalt ist, ganz dezidiert das Kunstvermögen des Malers ins Bild. Das letzte Bild dieses Totentanzes zeigt den Maler selbst, der seine Urheberschaft, seine Autorschaft ins Bild bringt (vgl. Tripps 2005: 99). Beide Aspekte, das auf Kunstvermögen bezogene, selbstreferenzielle Spiel mit dem Sujet und das Spiel mit den entsprechenden Geschlechterordnungen und -hierarchien, mit Misogynie und Modepolemik, die sich mit dem Genre Tod und Mädchen verbinden, dieses Spiel lässt sich sehr weit in die Moderne verfolgen. Ich verweise dafür abschließend auf ein plakatives Beispiel einer ironischen Inszenierung, die Richard Avedons Tod-und-Mädchen-Zyklus In memory of the Late Mr. and Mrs. Comfort von 1995 darstellt.3 Das entschei-
3 Vgl. http://hautemacabre.com/2009/03/in-memory-of-the-late-mr-and-mrs-comfort/ (aufgerufen am 25.1.2015); Burkhart 2007.
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dende Mittel der Parodie besteht dabei in der Inversion, im Tod, der sich dem Mädchen, das immerhin von Nadja Auermann gegeben wird, unterordnet und sich von ihm glühende Kohlen in die Hose schaufeln lässt. Die Inversion entäußert die traditionelle Doppelgesichtigkeit des Genres, in dem rigide Geschlechterpolitiken und ein gleichsam pathologisch ins Gewaltsame verkehrtes männliches Begehren eine fatale und doch kunst- wie kulturgeschichtlich so faszinierende wie produktive Verbindung eingehen. Avedons Zyklus ist eine Art Verneigung vor der Tradition und ihrem Faszinosum. In seiner Opulenz gibt er zugleich ein monumentales Dokument für die Selbstinszenierungsfähigkeit, das Gefallen der Kunst und des konkreten Kunstwerks an sich selbst und spielt damit das Thema von Vanitas und Eitelkeit auf eine eben selbstreferentielle Meta-Ebene. Demnach können die Ambivalenz und die Negativität vestimentärer Prachtentfaltung, die die mittelalterliche Literatur und Kunst entwickeln, als transhistorische Gegebenheiten aufgefasst werden, die eine entsprechende transhistorische Wirkung entfalten, eine Wirkung, die diskursiv wie ikonisch bis in die Moderne hinaufreicht, wobei die entsprechenden Denk- und Darstellungsformen sich nicht durch überhistorische Konstanz und Universalität, sondern durch eine Produktivität auszeichnen, die den historischen Entstehungs- und Bezugspunkt über alle Verwerfungen einer diskontinuierlichen Rezeptionsgeschichte hinweg einerseits überschreitet, andererseits aber auch erinnert und kenntlich hält. Dies mag abschließend die schöne Formulierung aus dem Passagenwerk Walter Benjamins (1982: 111) zeigen: „Hier [in der Geschäfts-Passage] hat die Mode den dialektischen Umschlagplatz zwischen Weib und Ware – zwischen Lust und Leiche – eröffnet. Ihr langer, flegelhafter Kommis, der Tod, misst das Jahrhundert nach der Elle, macht wegen der Ersparnis selbst den Mannequin und leitet eigenhändig den Ausverkauf, der auf französisch ‚révolution‘ heißt. Denn nie war Mode anderes als die Parodie der bunten Leiche, Provokation des Todes durch das Weib und zwischen greller memorierter Lache bitter geflüsterte Zwiesprach mit der Verwesung. Das ist Mode. Darum wechselt sie so geschwinde; kitzelt den Tod und ist schon wieder eine andere, neue, wenn er nach ihr sich umsieht, um sie zu schlagen.“
LITERATUR Texte Gottfried von Straßburg: Tristan und Isold. Hg. von Walter Haug † und Manfred Günter Scholz. 2 Bde., Berlin: Deutscher Klassiker Verlag 2011. Heinrich von Freiberg. Mit Einleitungen über Stil, Sprache, Metrik, Quellen und die Persönlichkeit des Dichters. Hg. von Alois Bernt, Halle a. S. 1906. Nachdruck, Hildesheim/New York: Olms 1978. Herrad von Landsberg: Hortus Deliciarum. Hg. von Otto Gillen, Neustadt: Pfälzische Verlagsanstalt 1979.
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„narratio per vestimentum“. Sichtbarmachung des Unsichtbaren im Kleiderwechsel SILKE GEPPERT
In seiner Kollektion Ambimorphous (Herbst/Winter 2002) zelebrierte der Designer Hussein Chalayan ein Mäandern der Hüllen zwischen den Models auf dem Laufsteg. Die Show wurde von einem Model eröffnet, das in einer traditionellen anatolischen Tracht gekleidet war.1 Es folgten Models, die nur noch Details der Tracht trugen, die immer deutlicher durch ein schwarzes Mantelkleid verdrängt wurde. Schließlich erschien das letzte Model der Sequenz tatsächlich im simplen Look mit knielangem schwarzen Mantel, der von Kristin Knox als „solitary long black modernist Western coat“ bezeichnet wurde (Knox 2011: 106). Am Schluss der Show wurde diese Metamorphose reinszeniert: vom extravaganten Kleid zurück zum Model, das komplett in anatolischer Tracht gekleidet war – eine Transformation vom Abendland in den Orient und zurück. Chalayan reagierte also auf eine Gesellschaft von Vorurteilen mittels Mantelwechsel. Dass diese Inszenierung des Kleiderwechsels mit dem Blick auf das späte Mittelalter anders gesehen werden kann, sollen meine folgenden Überlegungen zeigen. Konstitutiv für die kulturelle Semantik von Kleidung ist ihre Veränderbarkeit, Beweglichkeit und Vergänglichkeit. Kleider haften dem Körper nicht an, sondern werden angelegt und gewechselt. Ihre Materialien besitzen unterschiedliche Formen und Dimensionen, sind Verschmutzung und Verschleiß ausgesetzt. Schon vor der Etablierung der Mode brachten diese Bedingungen Veränderungen als beschleunigendes Element in den Umgang mit Kleidung. Genau bei diesem erweiterbaren Potential, Transformationen zwischen unterschiedlichen Rollen und Identitäten auch symbolisch kenntlich zu machen,
1 Vgl. https://vimeo.com/34864044 (aufgerufen am 1.3.2015).
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setzen die Anfänge zu den Erzählungen des Kleiderwechsels an. In dieser Untersuchung wird der Fokus auf zwei Viten von Heiligen und ihre Darstellungen im Christentum gelegt. Kleidung ist ein soziales Distinktionsmerkmal. An Kleidern offenbaren sich Grenzziehungen zwischen Volksgruppen, Geschlechtern, Ständen und Berufen. In der Realität wurden Zugehörigkeiten über den vestimentären Code nicht nur angezeigt, sondern sogar mittels der Bekleidung häufig hergestellt, weshalb man Kleiderordnungen lange streng überwachte. Deshalb erscheint für die im Mittelalter produzierten Bildwelten die Analyse des Symbols besonders geeignet, um den Bedeutungsgehalt zu erfassen, den Kleidung aus der Zeichenhaftigkeit der Realität ins Bild einbringt. Und doch ist zu konstatieren, dass die Koordinaten des Symbolgehaltes sich nicht nur in Zeit und Raum, sondern auch mit dem Eintritt ins Bild notwendig verschieben, manchmal kaum wahrnehmbar, manchmal drastisch. Immer lässt sich die Frage stellen, was beim Transfer mit der präexistenten Kleidersymbolik geschieht: Wie explizit wird sie als Folie verwendet, verstärkt, selektiert, mit anderen kombiniert? Bilder bieten hier – trotz der steten Forderung der neuzeitlichen Theorie nach Dekorum bzw. Convenevolezza, also der historischen Angemessenheit – kulturelle Freiräume (vgl. Haussherr 1984: 5ff.). Die medialen Mittel des Fingierens, Erprobens und Behauptens wirken daher nicht nur als Spiegel oder Dokument, sondern bevorzugt als Ort einer produktiven Verhandlung von geltenden (Kleider-)Normen. Ich folge dem methodischen Ansatz zur vestimentären Interpretation von Bildmedien, wie ihn Karin Mann und Philipp Zitzlsperger vorschlagen (vgl. Mann 2005, Zitzlsperger 2008), um die Rhetorik der Hüllen der Heiligen auf den Bildern von Giotto, seiner Werkstatt und Rogier van der Weyden zu interpretieren. Zunächst benenne ich vier vestimentäre Codes, die meine Bildanalysen kontextualisieren: I. Der historische vestimentäre Code: Die Wahl der Kleidung soll in den Darstellungen an die historische Situation erinnern und die Wahrhaftigkeit des historischen Geschehens verstärken. Dabei werden Kleiderformen gewählt, die von der Zeitmode deutlich abweichen. Mit der Darstellung der Tunika bei Illustrationen der Bibel ist dieser Code insbesondere auf die Spätantike und das Frühchristentum bezogen. II. Der modische vestimentäre Code: Mittels der Zeittracht wird Vergegenwärtigung evoziert und die gesellschaftliche Ordnung deutlich gemacht. III. Der topographische vestimentäre Code: Die geographische Zuordnung, insbesondere des Fremdartigen, wird durch diesen Code zum Ausdruck gebracht, beispielsweise durch orientalisierende Kopfbedeckungen. IV. Der metaphorische vestimentäre Code: Dieser macht den überhöhten Charakter des Eingekleideten deutlich. Im sakralen Kontext ist er verortet im Leib Christi, der Reinheit Mariens, dem nahtlosen Leibrock (vinculum caritatis), dem Schutzmantel und im profanen Bereich etwa der Investitur des Kaisers. Wenn Maria die Gläubigen unter ihren Schutzmantel nimmt, ist das
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eine symbolische Handlung, die ursprünglich zwar auf Ritualformen zurückgeht, im Bild aber eine eigene Ikonographie, einen selbstständigen Zeichenwert, ausgebildet hat. Mit diesen vorgestellten vier Dresscodes der vestimentären Ikonographie wird es möglich, die Sprache der Kleider auf den Bildern differenzierter zu beschreiben. Sie dienen als Merkmal der symbolischen Repräsentation – der Kostümargumentation im Bild. Das Auftreten neuer vestimentärer Elemente und dessen Wert für die Repräsentation und für die auf ein Publikum zielende non-verbale Kommunikation lässt sich auf dieser Grundlage analysierend beschreiben (vgl. Geppert 2013). Kleidung fasse ich als einen Teil der visuellen Kommunikation auf, als ein System von Zeichen, das eine Erfahrungs- und Verhaltensstruktur abbildet und Reaktionen bewirkt. Es handelt sich um ein System, dessen visueller und materieller Ausdruck vestimentäre Codes etabliert, die, wie im Folgenden gezeigt wird, eine Zeichenfunktion in Bildwerken haben. Heilige haben in der Gesellschaft der Vormoderne eine transitorische Rolle: Ihr zwischen Gott und den Menschen vermittelndes Wirken ist auf Überschreitung gesellschaftlicher Normen angelegt. Für das Erkenntnisinteresse an Kleidung als narratives Leitmedium sind Heilige daher eine besonders aufschlussreiche Kategorie. An bestimmten Punkten in ihrer Vita treten sie aus der Kleiderordnung ihrer sozialen Umgebung heraus und brechen deren gesellschaftlich anerkannte Spielregeln auf. Das bewegliche Verhältnis von Kleid und Körper ist Ausweis der Nachfolge Christi, dessen Vita als eine dichte Folge von Gewandwechseln erzählt werden kann. Auf diesem Weg der Nachfolge gerät bildliche Gewandung indes in ein Spannungsfeld zwischen einer Dynamik des Kleiderwechsels, die zur Generierung von narrativem Sinn beiträgt, und der notwendigen Stabilisierung narrativer Identität. Beides muss in Bildern auf ein und derselben Oberfläche geleistet werden und führt zu Beginn der Neuzeit zu einer Erweiterung der Motivfolge (vgl. Marrow 1979).
FRANZ VON ASSISI ALS GEWANDWECHSLER Einer der prominentesten Gewandwechsler auf dem Weg zur Heiligkeit ist der heilige Franziskus († um 1230). Der umbrische Poverello radikalisiert erstmals die Gewandsymbolik der Christusnachfolge durch ein tatsächliches Ablegen aller Kleider, das erst ein Anlegen der Imago des nackten Christus der Passion möglich machte. Doch ist auch diese Nacktheit des Heiligen Franziskus letztlich nur ein Zwischenstadium, an welches sich das Anlegen der Kutte des neuen Ordens anschließt: Die radikalisierte Christusnachfolge im Stadium der Nacktheit wird in einen sozialen Habitus transformiert, den sich jedes Mitglied der Ordensgruppe überziehen kann. Die Bestätigung dieser Handlung erfolgt durch das Bildprogramm in Assisi. Frühe Bilderfolgen des Franziskuslebens lassen erkennen, wie über Gewandwechsel ein narratives
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Blickregime konstruiert wird, das die Wahrnehmung des Heiligenkörpers steuert. Vitentafeln wie das Bardi-Retabel in S. Croce in Florenz (um 1250/60, Capella Bardi) wählen eine Anordnung, bei der die narrativen Szenen mit den unterschiedlichen Gewändern zum Tragen kommen. Gegenüber dem BardiRetabel kann man für den Freskenzyklus in der Oberkirche in Assisi zweierlei festhalten: Auf der Ebene der Geschichte werden die erzählerischen Möglichkeiten, Gewänder zur inneren Verstrebung umfangreicher Ereignisfolgen einzusetzen, beträchtlich erweitert (vgl. Schwarz 2008: 327ff.).2 Kleidung wird zum Vehikel, das die Biographie des Franziskus mit postfigurativen Verweisen auflädt, die der Betrachter als Indizien zu einer Vorbestimmung zum Heiligen deuten soll. Auf der Ebene der Erzählhandlung wird Kleidung als Medium verwendet, welches den Blick der Rezipienten auf das Franziskusleben bestimmt. Der Franziskuszyklus in Assisi bietet eine artifizielle Inszenierung seiner Vita. Der Mantel, der im ersten Bild ausgebreitet wird, steht für das Gewebe der Erzählung, in das Franziskus hier eintritt, und ist damit dem metaphorischen vestimentären Code zuzuordnen.3 Daraus lässt sich schließen, dass Kleidung gerade da, wo sie gewechselt wird, eine Schlüsselfunktion für die narrative Kraft der Bilder innehat.
MODISCH UND AUTHENTISCH: MARIA MAGDALENA UND FRANZ VON ASSISI Heilige und Märtyrer wurden durch das ganze Mittelalter in einer zeitlos-stereotypen Form der Kostümierung dargestellt und dazu oftmals mit besonderen Attributen versehen. In der narrativen Illustration des biblischen Geschehens mit Hilfe der Protagonisten war deren Kleidung nebensächlich, wurden sie doch hauptsächlich in der gängigen mittelalterlichen Oberbekleidung eines Übermantels in der Schnittform der antiken Tunika und deren Varianten dargestellt. Dieser Modus der Kostümierung, den ich als historischen vestimentären
2 Der Bilderzyklus der Oberkirche beschäftigt bereits Generationen von Kunsthistorikern. Kontrovers wird nicht nur die Datierung, sondern auch die Autorenfrage behandelt. Hier schwanken die Zuschreibungen zwischen Cavallini und Giotto. Giotto war bis 1307 in Padua tätig, ab 1309 wieder in Assisi. Ab 1308 wurde die Nutzung von San Francesco in Assisi neu organisiert. Mit den Malereien der Oberkirche von Assisi erreichte die italienische Malerei des 14. Jahrhunderts eine Art Gipfelpunkt, nicht nur in Bezug auf den Entwicklungsgrad bildlicher Rhetorik, sondern auch hinsichtlich der Verbreitung neuer Programme. 3 Der Mantel bezeichnet die Kleidungsschicht, in der sich auch der Umhang im Spätmittelalter befindet. ‚Mantel‘ wird daher in dieser Arbeit im Sinne der Überkleidung verwendet. So ist beispielsweise der Magdalenenmantel eigentlich ein Umhang: ‚Mantel‘ meint hier also das Überkleid im heutigen Sprachgebrauch. Die vollständige Kleidung bestand im 14. und 15. Jahrhundert aus drei Schichten, dem Unterkleid, der Oberkleidung und dem Überkleid, jener Schicht, in der Mäntel getragen wurden.
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Code bezeichne, erfährt im Italien des 13. Jahrhunderts allmählich seine Wandlung. Hier werden Mitglieder verschiedener Auftraggeberfamilien als Assistenzfiguren dargestellt (vgl. dazu Birbari 1975: 17f., Frick 2002: 77f.). Spätestens mit Giottos Darstellungen in Florenz, Padua und Assisi beginnt die ‚narratio‘ durch ‚vestimentum‘, und die Kleidung wird zu einem signifikanten Gestaltungsmittel. Giotto setzt beim Publikum sowohl Textkompetenz als auch visuelle Kompetenz voraus, sodass der Betrachter auch in vestimentären Details auf die Realität zurückgreifen kann. Maria Magdalena und der Heilige Franziskus von Assisi, zwei der beliebtesten Heiligen, werden in Franziskus’ Geburtsort Assisi gemeinsam auf einem Kreuzigungsbild in der Unterkirche dargestellt. Ein Reflex darauf findet sich bereits bei Dante Alighieri im Paradiso.4 Beide haben ein persönliches Nahverhältnis zur Kreuzigung wie keine anderen Heiligen, beide sind in der Lage, das starre Schema der Kreuzigungsdarstellung aufzulösen, indem sie von den Künstlern unter dem Kreuz in persönlicher Zwiesprache mit dem Erlöser dargestellt werden. Ihr Lebensweg war bis zur Läuterung unter dem Kreuz maßgeblich durch Reichtum, kostbare Kleidung und die Saturierung durch das Laster der Luxuria gekennzeichnet. Franziskus war der Sohn eines reichen Tuchhändlers, ein ‚Yuppie‘ des 12. Jahrhunderts, der in den ersten fünfzehn Jahren das wilde Leben eines reichen Jünglings zwischen Assisi und Perugia führte, eine Krise durchmachte und danach seines bisherigen Daseins überdrüssig war. In der Folge, so sagt es die Legende, warf er vor den Augen des Bischofs bei der Kirche San Rufino seinem wohlhabenden Vater in Assisi sein kostbares Gewand vor dessen Füße, um fortan im Gewand seiner Geliebten, der ‚Armut‘, gekleidet ein kirchenrevolutionäres Leben zu führen. Seine Biographie ist von Anbeginn bestimmt durch kostbare Textilien, Kleidung und Geld, später jedoch durch Armutskleidung. Maria Magdalena gilt als die Frau, die Christus am nächsten stand, zu seiner treuesten und anhänglichsten Jüngerin wurde, und auch bei der Kreuzigung anwesend war. Sie war eine reiche Patrizierin aus Magdala. Hagiographisch handelt es sich bei ihr um eine synthetische Heiligenfigur, deren Vita sich spätestens ab dem 6. Jahrhundert aus der Kompilation mehrerer Figuren zusammensetzt. Die Berichte des Neuen Testaments wurden im Mittelalter mit den lateinischen Vorlagen der Legenda Aurea des Jacobus de Voragine (1228– 1298) und dem Speculum Historiale des Vincent de Beauvais (1190–1264) gespeist, aus exegetischen Schriften und Predigten der Kirchenväter sowie weiteren legendarischen und mythischen Stoffkreisen ergänzt und erweitert. Die einzelnen Legenden gehen nicht ganz ineinander auf, bestimmen jedoch Motivwahl und Bedeutung der Kleidung in der Vita der Büßerin schlechthin. Seit der Mitte des 13. Jahrhunderts wird bei vielen Autoren Maria Magdalena als bei der Kreuzigung anwesend beschrieben. Darin besteht die auffällige
4 1307 begonnen, Vers 62–81.
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Nähe von Franziskus und Magdalena. Ihre Legende erhält einen Aufschwung durch die Auffindung des Leichnams der Heiligen 1279 in Saint-Maximin bei Aix-en-Provence, einer Region, die stark von den Franziskanern geprägt wurde. Etwas später bringt eine unbekannte Quelle das Leben von Franziskus und Magdalena metaphorisch miteinander in Verbindung. Im 18. Kapitel der Acti Beati Francisci aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts wird der Besuch der adeligen römischen Dame Jacoba dei Settesoli bei Franziskus kurz vor dessen Tod geschildert. Sie habe, wie Maria Magdalena, die Füße Christi mit ihren Tränen gewaschen und geküsst und ihre Lippen auf die mit den göttlichen Malen gezeichneten Füße des Franziskus wie auf die eines zweiten Christus gedrückt. Die Kleider des Franziskus – das Wechselspiel zwischen der Kleidung und dem Identitätswandel – bilden den Mittelpunkt der Erzählung in Assisi und sind ein wesentlicher Aspekt der vestimentären Ikonographie und der Gewandmetaphorik in der Vita des Heiligen, die den Malern sehr entgegenkam. Dieser Bilderzyklus in Assisi hatte für die Entwicklung der Bilderzählung weitreichende Bedeutung. Im Kontext des Bettelordens und dessen Formen der Bildpropaganda entstehen völlig neue Bildlösungen durch Künstler wie Giotto und Simone Martini. Manche dieser Bildlösungen haben ihre Ursache in textilen Themen. Das zunehmende Bemühen um Realismus, Integration der Alltagswirklichkeit und der Alltagskleidung in die religiöse Bildwelt, die später und in größerem Umfang zum ersten Mal in der berühmten Franzlegende der Oberkirche erprobt wurde, ist in diesem Zusammenhang zu verstehen. Für seinen Auftraggeber Enrico Scrovegni erfindet Giotto in der Paduaner Arenakapelle die Lösung der „erweiterten Kreuzigung“ (um 1302–1305). Abbildung 4: Giotto, Kreuzigung Christi, 1302–1305, Padua Arenakapelle
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Unter dem Kreuz gruppiert er die Söldner, die um den Mantel Christi streiten, und die klagende Maria Magdalena, deren kostbarer Mantel ihr von der Schulter gerutscht ist. Das Novum dieser Darstellung ist: Maria Magdalena wird in diesem Bußkontext ab 1300 erstmals unter dem Kreuz dargestellt.5 Als Büßende tritt sie aus dem Kreis der trauernden Marien unter dem Kreuz in einen eigenen expressiven Dialog mit Christus und reißt die Arme in einer dramatischen Geste der Klage empor, zugleich rutscht ihr kostbarer Purpurmantel effektvoll zu Boden. Die Reue und der bußfertige Schmerz über die eigenen Sünden werden in der demütigen, knienden Haltung des Franziskus und der Wandlung der Maria Magdalena unter dem Kreuz dargestellt. Der Gedanke, dass die eigene Schuld eine der Ursachen für die Leiden Christi ist, erfüllt vom 13. Jahrhundert an die Frömmigkeit und erfährt mit den Darstellungen der Bußheiligen Maria Magdalena und Franziskus unter dem Kreuz einen ersten Höhepunkt. Giottos Paduaner Kreuzigung verändert die Bilderzählung. Die Arenakapelle ist vom Auftrag her eine Grabmalskirche, die der Paduaner Geldverleiher Enrico Scrovegni als Zeichen seiner reuigen Buße für seine Wuchersünden bauen ließ. Von besonderer Bedeutung für seine Stiftungen scheint zu sein, dass er trotz aller seiner Bemühungen in Padua nicht zum Adel zählte, sondern auch in den Quellen als ein Neureicher genannt wird (vgl. Derbes/ Sandona 2008: 74–77, Abb. 34). Enrico Scrovegni, mit auffälliger Haartracht und Kopfbedeckung als Laie in der Weltgerichtsszene unter dem Kreuz dargestellt, trägt ein graues Büßergewand, das aus Unterkleid und Übermantel besteht und auf seine Reue hinweist. Die Kopfbedeckung, ein rotes Spitzkäppchen mit weißem breitem Rand und Ohrklappe, ist ein modisches Accessoire, das das Porträt des Stifters im Gegensatz zu den allgemeintypisch dargestellten Heiligenfiguren akzentuiert. Stellvertretend für die Sünden des Enrico Scrovegni wird eine durch reuige Buße erlöste Heilige an prominenter Stelle unter dem Kreuz dargestellt, die dort für ihn die Füße des Gekreuzigten küsst – Maria Magdalena. Dargestellt in einem quadratischen Fresko vor einem gänzlich blauen Hintergrund erhebt sich in der Mittelachse ein kleiner Hügel, Golgatha. Von dieser Erhöhung ragt das Kreuz symmetrisch in die Bildmitte empor. Der Leib des Gekreuzigten ist von strahlendem Weiß, sein Kopf den klagenden Frauen auf der rechten Bildseite zugewandt, und direkt unter ihm ist Maria Magdalena positioniert.
5 Die Darstellung einer nicht-kanonischen Person findet sich bereits am Albinusschrein (um 1186); vgl. Schiller 1962, Abb. 506. Hier kniet eine Figur, die Angesicht und Hände bittend hebt. Es könnte sich um den Stifter handeln, der sich als Büßer unter dem Kreuz porträtieren ließ. Während dieser auf der Szene des Albinusschreins in einiger Entfernung vom Kreuz dargestellt ist, hat Franziskus bei Cimabue im ‚allerheiligsten Bezirk‘ unmittelbar am Grabhügel unter dem Kreuz seinen Platz gefunden.
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Giotto bringt in dieser Kreuzigung erstmalig Maria Magdalena direkt unter das Kreuz, hier in inniger Trauer, die Füße des Gekreuzigten mit ihren Tränen benetzend. Mit dieser Positionierung der Heiligen prägt er die Darstellung der Magdalena in der Kreuzigungsdarstellung, die lange Zeit in der Bildtradition nachwirkt. In der Art, wie sie am Kreuzstamm kniet und die Füße des Gekreuzigten fasst, die auf dem Suppedaneum festgenagelt sind, stellt sie ein ergreifendes Bild der compassio dar. Dem Betrachter ist sie dabei in Seitenansicht zugewandt. Ihr Kopf wird von einem goldenen Heiligenschein gekrönt. Ihre langen lockigen Haare fallen wie ein natürlicher goldener Schmuck offen bis auf ihre Hüften herab. Da Magdalena mit ihren Haaren in der Szene der Fußwaschung Christi Füße trocknete, gehört die Darstellung des offenen Haars als ikonographisches Detail zum Dresscode der Maria Magdalena.6 Die Heilige Maria Magdalena ist in ihrer Komplexität eine vielschichtige Projektionsfigur, deren Darstellungstradition nicht einheitlich ist. Aus den vier evangelischen Berichten des Neuen Testaments ergeben sich folgende Motive, die immer wieder mit ihr in Verbindung gebracht und von den Künstlern dargestellt werden: 1. Maria Magdalena trägt langes, offenes Haar, mit dem sie die Füße Christi trocknete. Nach jüdischer Sitte war offenes Haar nur der jungfräulichen Braut zu tragen erlaubt, einher ging damit die erotische Wirkung der Frau, die jedoch verwerflich war. 2. Maria Magdalena besitzt Salböl zur Heilung Kranker und zur Ehrung der Toten. 3. Maria Magdalena befindet sich typischerweise zu Füßen Jesu, voller Demut und Bewunderung. 4. Maria Magdalena vergießt immer wieder Tränen der Reue und Läuterung. In der Legendenliteratur wandelten sich die Schwerpunkte im Bild der Magdalena im Lauf der Jahrhunderte. Seit dem 15. Jahrhundert wurde die Bußheilige fast ausschließlich in die Rolle der Sünderin gedrängt und nördlich und südlich der Alpen als büßende Sünderin, ja als Büßerin schlechthin dargestellt. Maria Magdalena war so populär, dass sie ständig mit dem Sakrament der Beichte in Verbindung gebracht wurde: Ihre Beliebtheit wuchs während der Gegenreformation noch weiter an (vgl. Jansen 2000). In der Darstellung der Maria Magdalena in der Kreuzigung Christi von Giotto in der Arenakapelle in Padua ist sie mit einer violetten Tunika, die ihren Körper gänzlich verhüllt und in losen Falten von der Schulter bis zum Boden fällt, bekleidet. Violett wird in der Liturgie seit dem 13. Jahrhundert als Bußfarbe verwendet, die Farbe gleicht der Bekleidung des Enrico Scrovegni.7 Die Heilige kniet auf einem kostbaren zweifarbigen Mantel am Boden. Wir
6 Der Maria Aegyptica dienten die eigenen körperlangen offenen Haare als einziger Schutz und Schmuck, als sie in der Wüste das Büßerleben fristete; Maria Magdalena benutzte ihre langen Haare bei der Fußwaschung, um Christi Füße zu trocknen. 7 Violett als Bußfarbe wurde durch die Schrift De Quatuor coloribus principalibus von Innozenz III. († 1216) festgelegt. Im später erschienenen Ordo Romanus XIII aus dem Pontifikat von Gregor X. († 1276) wurden violette Textilien und Altarbehänge in der Fastenzeit festgelegt.
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erkennen einen dunkelroten Außenstoff, der mit einer Goldborte versehen und mit grünem Stoff gefüttert ist. Der Mantel ist eine Metapher für das vorangegangene sündhafte Leben der Heiligen. Unter dem Kreuz, erlöst von den Sünden durch ihre Reue, streift sie das Leben, den Mantel, effektvoll ab. Kleidung und Sünde sind ein wichtiger Aspekt der hier neu entstandenen vestimentären Ikonographie. Der Mantel wirkt wie eine vestimentäre ‚Insel‘, auf der Maria Magdalena ihren heiligen Platz unter dem Kreuz eingenommen hat, und auf der sie abgegrenzt und geschützt ist. Magdalena streifte ihr Obergewand und damit ihren äußeren Schutz ab. Die doppelte Oberkleidgestaltung war der gewöhnliche Dresscode zu Anfang des 14. Jahrhunderts. Dieses vestimentäre Motiv zieht sich wie ein roter Faden durch die Bildtraditionen der Magdalenenzyklen, wurde auch in den dramatischen Magdalenenklagen der Lauden und in der Folge der Passionsspiele aufgenommen (vgl. Pochat 1990). Dem Mantel der Magdalena wohnt eine eigene metaphorische Dimension inne. Damit handelt es sich um eine dialogische Parallele zur Vita des heiligen Franz. Für beide Heilige bedeutet das An- oder Ablegen eines Mantels, das alte Leben abzulegen und in eine neue Lebensphase einzutreten. Ein weiterer Mantel steht im Zentrum der vestimentären Erzählung von Giotto. In der Paduaner Kreuzigungsszene befinden sich rechts unter dem Kreuz zwei römische Soldaten in kostbarer antikisierender Rüstung. Sie tragen unter einem Brustpanzer eine Tunika, auch die Schulterpartie ist nach römischem Vorbild gepanzert. Sie halten die prächtige Tunika-Dalmatika Christi, um sie zu zerschneiden. Wie es der biblische Text will, soll der nahtlose Leibrock Christi, der in einem Stück gewebt ist, verlost werden.8 Diese Szene wird bei Johannes (19, 23–24) beschrieben. Der runde Ausschnitt weist darauf hin, dass es sich hier nicht um eine echte römische Tunika handelt, sondern Giotto die Entwicklung der Tunika zeitgenössisch adaptierte und somit den historischen und den modischen vestimentären Code amalgamierte. Der geformte Halsausschnitt ist kostümgeschichtlich ein Schritt zum dreidimensionalen Gewand und entspricht daher dem schnitttechnischen Stand des dreizehnten und nicht des ersten Jahrhunderts. Giotto ist einerseits noch der distanzierten Erzählweise des Mittelalters mit historisierendem vestimentärem Code verpflichtet, andererseits setzt er das Gewand als entscheidenden kompositorischen und ikonographischen Aspekt in seinem Werk ein. Es handelt sich hierbei um den unmittelbaren bildnerischen Reflex auf die mittelitalienische Gesellschaft und deren ökonomische Determinanten. Siebzig Prozent der Gesellschaft lebten vom Textilwesen, Perugia und Assisi waren bekannt für die Herstellung kostbarer Wollstoffe.9
8 Zur Gewandmetaphorik des ungenähten Rocks vgl. Derbes/Sandona 2008: 206–208. 9 Giottos Vater war Textilhändler zwischen den Märkten Frankreichs und Italien; vgl. Spufford 2004: 174.
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Giotto und seine Werkstattassistenten waren Künstler, die ihre kulturspezifischen vestimentären Kompetenzen in ihre Werke höchst intelligent einfließen ließen. Für die Aufgabe der ‚Illustration der Passion‘ erfindet Giotto stets neue Figurentypen, im Besonderen in Physiognomie, Anteilnahme und Haltung. Er fesselt den Betrachter, wie Michael V. Schwarz charakterisierend feststellt: „Wenn man sich Giottos Figuren als Schauspieler vorstellt, dann führen die Magdalenen-Darstellungen in der assianischen Kapelle Qualität mimischer Kunst vor: bedingungslos emotional und in berechnet naiver Unmittelbarkeit auf die Gefühlswelt des Publikums zielend.“ (Schwarz 2008: 377) Magdalena soll als in der Kapelle anwesende Person erlebt werden; für dieses illusionistische Moment der ‚narratio‘ verwendet Giotto Kleidervielfalten, die die Gestik der Heiligen noch lebendiger erscheinen lassen, und evoziert eine spezifische Stimmung der ‚dilecta‘ Christi, die mit der spirituellen Eigenart der heiligen Sünderin und Büßerin zusammenhängt. Während im Franziskuszyklus in Assisi die Figuren in weltlichen Kleidern die Gegenwärtigkeit der Szenen bestätigen, schildert Giotto die Protagonisten der Kreuzigung in Padua in einer dem Betrachter zeitlich fernen mittelalterlichen Heiligentracht. Festzustellen ist, dass Giotto bewusst sowohl formal (Gewand als Gestaltungsmittel) als auch programmatisch (Gewand als Code für Status und Herkunft) wie ikonologisch (Gewand als symbolische Form für Luxus oder Armut) Kleidung für seine bildnerische Erzählung verwenden konnte, und dies auch von der späteren Kritik gelobt wurde. Wie etwa von Vasari, der in seinen Künstlerviten über Giotto schreibt: „Tatsächlich zeigt dieses Werk (der Franziskuszyklus in Assisi) eine große Mannigfaltigkeit nicht nur in den Bewegungen der einzelnen Gestalten, sondern auch in der Zusammenstellung aller Begebenheiten; außerdem sieht man darauf sehr schön die verschiedenartige Kleidung jener Zeit und mancherlei trefflich beobachtete und abgebildete Naturgegenstände.“ (Vasari 1974: 45f.)
Er war einer der ersten Künstler, die das Gewand nicht als Abbild, sondern als Argument im Bild verwendeten.
DIE PATRIZIERIN AUS MAGDALA ALS ‚BEGUM DER ALTARBILDER‘ DES BURGUNDISCHEN HOFMALERS ROGIER VAN DER WEYDEN Auch für den luxusverliebten Hof in Burgund des 15. Jahrhunderts, der eine ganze Reihe von Kreuzigungsdarstellungen in Auftrag gab, war es in erster Linie das hochmodische Kleid der reichen und schönen Patrizierin aus Magdala, das sie in den Darstellungen des Hofmalers Rogier van der Weyden
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zu einer Art ‚Begum der Altarbilder‘ machte. Die synthetisierte Vita der hl. Maria Magdalena hatte mehrere vestimentäre Hüllenvorgaben für die Darstellung zur Verfügung. Prominenter ‚Schauplatz‘ der Hüllen ist der Ort, wo es sich lohnt, gut angezogen zu sein – es ist der Hauptplatz des Christentums – die Kreuzigung bzw. die Kreuzabnahme Christi. Die Kreuzabnahme von Rogier van der Weyden, 1443 entstanden, war ein Auftragswerk der Löwener Schützengilde für ihre Kapelle. Die Komposition fasziniert durch die Lebendigkeit der vielfältigen Kostüme der zehn lebensgroß dargestellten Protagonisten, die sehr raffiniert im engen Bühnenkasten mit quaderförmigem Aufsatz verteilt sind. Um den dramatisch präsentierten Leichnam Christi gruppiert sich unter dem Kreuz eine kostbar und modisch gekleidete Heiligenschar, wie es sie zuvor nicht gegeben hatte. Am äußersten rechten Rand der nicht sehr tiefen Bildbühne ringt Maria Magdalena in expressiver Gestik die Hände. Mit ihr findet Rogier einen neuen Typus der Bußheiligen unter dem Kreuz. Nicht nur die typische Silhouette, in der sich der Klagegestus wie in einer S-Form manifestiert, sondern auch die Art der Kleidungswahl sind Neuschöpfungen Rogiers, die auf eine intensive Auseinandersetzung des Künstlers mit den Darstellungsmöglichkeiten des Lebens der Heiligen schließen lassen. Ein tief ausgeschnittenes Dekolleté erlaubt dem Betrachter den Anblick der zarten Haut der Büßerin. Von ihrer Haut geht ein erotischer Reiz aus, in Kontrast zu ihrem biblisch-menschlichen Pendant, Jesus Christus, dessen Haut im Bild als vestimentäre Oberfläche, als die Rhetorik des Leichnams zu lesen ist. Das vorne und hinten tief dekolletierte Kleid in lindgrüner Farbe, von körperbetonter Schnittführung mit angenestelten roten Schmuckärmeln und einem dunkleren Saum, ist wegen seiner enthüllenden Darstellung ungewöhnlich. Darunter zeigt sich das Hemd, ein weißes Unterkleid, das deutlich unter der vorderen Schnürung, dem Hals- und dem Armausschnitt, sichtbar wird. In den Schlitzen des Kleides blitzt das weiße Unterhemd hervor. Dieser auffällige Schlitzcharakter wiederholt sich im vorderen Rockbereich und wird erst in der Höhe der Scham von den kostbaren Gürtelschließen verdeckt. Neben der Präsentation des sinnlich-fleischlichen Dekolletés haben wir es hier mit einem modisch-erotischen Dresscode zu tun, der Magdalena von den anderen weiblichen Darstellerinnen unterscheidet. Das Kleid fällt unterhalb der Taille weit und glockig, wobei die untere Kante in einem ca. 30 cm breiten, taubenblauen Saum endet. Der auf die Taille gerutschte Mantel ist im altertümlichen Kreiszuschnitt gefertigt. Das redundante Motiv des hinabgerutschten Mantels hat seit Giottos Paduaner Kreuzigungsbild narrative Potenz und eine polyvalente Ikonographie, die hier den metaphorisch-vestimentären Code bestimmt. Magdalena trägt ein Kleid mit modischen Schmuckärmeln, gleichzeitig ist erkennbar, dass bei ihr das äußere Oberkleid fehlt. Sie ist neben Christus die einzige Protagonistin, die nach dem geltenden Dresscode nicht „vollständig“ gekleidet ist: Zur Vollständigkeit fehlt das äußere Obergewand. Der üppige Umhang aus dunkelpurpurnem Stoff liegt auf der Hüfte Magdalenas lose auf.
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Diese Darstellung des Umhangs verstärkt die Dramatik der gestischen Bewegung von Magdalena und bringt den Zeitaspekt in das Geschehen. Man erkennt unterhalb des Gürtels den breiten Mantelkragen, der umgeschlagen auf Magdalenas Gesäß aufliegt – hierbei handelt es sich um einen Kragen, wie wir ihn in ähnlicher Form von Darstellungen wie etwa der Uta von Naumburg kennen (um 1260 entstanden, Naumburg, Dom). Diese trägt den nobilitierenden Tasselmantel, der durch seine Schnittform eine symmetrische Trageweise vorgibt. Diese Tragerichtung wird hier, wie auch bei der Darstellung der Magdalena, durch den Kragen betont. Dabei handelt es sich bei Rogier um ein kostümlich antiquiertes Merkmal, das hier als Bühnenkostüm zu interpretieren wäre. Magdalena kommt gelaufen, sie ist mit einem Mantel verhüllt, der ihr in der Dramatik des Geschehens hinunterfällt – das Halbschwebende der Bekleidung verstärkt das Motiv der Bewegung. Die Assoziation zur Bühne des Passionsspiels ist naheliegend. Magdalenenklagen gehören zum kostbarsten musikalischen Volksgut des Mittelalters. Bereits die Lauden in Umbrien und in der Toskana nahmen Einfluss auf die historische Spielpraxis und die Ikonographie der Passionsdarstellung. Die sich aus dieser Tradition entwickelnden Passions- und Osterspiele stehen in dieser Tradition, wobei im Laufe des Mittelalters gerade die „Merkatorszene“ und die „Erscheinungsszene“ mit Maria Magdalena im Mittelpunkt des Geschehens in die Literaturgeschichte eingegangen sind (vgl. Pochat 1990: 63f.). Aufgrund der Lebendigkeit ihrer Biographie wird sie im 13. Jahrhundert zu einer Protagonistin der immer beliebter werdenden Mysterienspiele. In fünf der bis jetzt bekannten französischen Beispiele wird das weltliche Leben Magdalenas auf die Bühne gebracht, dabei steht auch ihre Kleidung im Zentrum, die sie neben dem Reichtum fröhlich anpreist. Kindermann beschreibt, dass an den Kleriker, der die Rolle der Maria Magdalena zu spielen hatte, besondere Anforderungen gestellt wurden (vgl. Kindermann 1966: 246ff.). Im Osterspiel aus dem schweizerischen Muri, einem Passionsspiel von ritterlichhöfischem Geist, nimmt der Monolog der Magdalena 140 Verse ein: „Klage und Preis, Flehen, Reue, Verzweiflung, Hoffnung, Liebe und Erlösungsgewißheit“ erforderten eine außergewöhnliche Variationsfähigkeit des sprachlichen und des Gebärdenausdrucks (ebd.: 248). Dagegen finden sich in Wiener Passionsspielen das „Mantellied“ der Maria Magdalena, das diese nach der Versuchung Jesu und der Berufung der Apostel singt. Dieses Lied stehe, so Kindermann, stilistisch der „höfischen Dorfpoesie“ nahe; „Lebenslust, Freude am Dasein, Tanz und Liebesgenuß werden hier schon sehr frei und übermütig dargestellt.“ (ebd.: 257) In der Heidelberger Passion des 15. Jahrhunderts findet sich das „sündige Welttreiben“ der Maria Magdalena zu einem komischen Zwischenspiel ausgebaut. Die Arraser Passion, die in der Entwicklungsgeschichte der Passionsspiele in Frankreich zu der älteren Gruppe gehört und um 1414 entstanden ist, wird Maria Magdalena als ‚une veritable courtisane‘ dargestellt, und zwar
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eine, die sich in ihrer Verworfenheit allen anbietet, die sie begehren (vgl. Cohen 1907). Nachdem wir wissen, dass der Autor Mercadè ein Sohn der reichen, lebensnahen und lebensfrohen bürgerlichen Stadt Arras war, die im 15. Jahrhundert ihren Reichtum in der Textilwirtschaft erwarb, ist es leichter zu erklären, dass gerade er ein solches Bild von der Sünderin entwirft. Die Möglichkeiten, die die Theatertexte des Mittelalters hinsichtlich des Kostüms der Maria Magdalena bieten, bleiben noch bis ins 20. Jahrhundert provozierend. Wenn der Polizeipräsident von Berlin und die Zensurbehörde gewusst hätten, dass Maria Magdalena in Kurtisanenkleidung im liturgischen Drama in der Kirche aufgetreten ist, würden sie sich vielleicht gehütet haben, die Maria von Magdala von Heyse im Berliner Lessing-Theater zu verbieten (vgl. Pöllinger 1989). Mit der Darstellung des dekorativen Mantels verweist Rogier auf die Darstellungstradition der Luxuria, die Sünde der Verschwendung. Betont wird dieser Aspekt bei Magdalena dadurch, dass keine der anderen Frauen unter dem Kreuz mit einem ähnlich voluminösen Mantel bekleidet ist. Nicht um die Taille, sondern um die Hüfte zu betonen, trägt sie einen Schmuckgürtel, der vorn mit zwei rundspiegelartigen Gemmen zu schließen ist (vgl. Fingerlin 1971). In ihnen lassen sich zwei Medaillons erkennen. Die Verschlusskette fällt in den Schoß des Kleides und verlängert die Linie, die der vordere geschnürte Schlitz im Kleid vom Dekolleté abwärts zieht. Betont wird dieser Schlitz durch das Hervorscheinen des weißen Untergewandes. Der grüne Gürtel ist deutlich mit folgenden Buchstaben bestickt: IEHSVS MARIA (Jesus Maria), die von der rechten Medaillonschließe über ihre Hüfte reichen. Keine der weiblichen Figuren in Rogiers Kreuzabnahme ist so gekleidet wie Maria Magdalena. Sie wird in einem ihr spezifischen, typenbildenden vestimentären Code dargestellt, der sich aus den folgenden Hauptkriterien zusammensetzt: dem fehlenden Obergewand, einem den weiblichen Körper betonenden engen Kleid mit tiefem Dekolleté und einem Gürtel, der mit zwei auffälligen, noch zu deutenden Medaillons geschlossen wird; einer eigenen Farbigkeit des Stoffes, die sich von den anderen Protagonisten deutlich differenziert und einer besonderen Position zum Gekreuzigten am Kreuzstamm. Kleidung als sprechende Hülle von Heiligen bietet eine noch unbearbeitete Stofffülle für die kostümhistorische Forschung. Nicht selbstverständlich kann man von den Kleidern der Heiligen auf Altarbildern auf Kleider der Gesellschaft schließen. Die zentrale These dieser Untersuchung ist, dass die „Hüllen“ der Heiligen auf den Altarbildern einem eigenen Dresscode unterliegen. Dieser ist teilweise metaphorisch, teilweise symbolisch und legendarisch bedingt. Das An- und Ablegen der Kleidung hat eine mediale Bedeutung für die Heiligenviten und deren Aussagen. So wird die Verwendung der „Hüllen“ der Heiligen auf den Altarbildern zur eigenen Determinante der Ikonographie. Franziskus von Assisi und in der Folge Maria Magdalena sind die ersten Bußheiligen, deren vestimentäre Biographie ‚bildbewegend‘ wurde. Gleichzeitig wurde Gegenwärtigkeit für den Betrachter durch die minutiöse
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Gewandschilderung erreicht. Dieser vestimentäre Realismus muss nicht nur als unverzichtbare Quelle für kostümkundliche Einsichten gelesen werden, sondern auch als künstlerische Methode für die Vergegenwärtigung des Opfertodes Christi. Es handelt sich also um den realen Eindruck, den die Figuren machen, genauer die „Realpräsenz“ der Heiligen, die mit Hilfe der Gewandrhetorik und ihrer Codes erzielt wurde und die im Dienst der Abbildung der Idee von Sünde und Buße, Schmerz und Erlösung in einer luxuriösen Gesellschaft steht. Hierbei handelt es sich um einen sehr komplexen Ausdruck für den vorgestellten Sachverhalt, denn kaum wird der Eindruck von der Realpräsenz der Figuren erzielt, richtet die Gewandrhetorik als Argument wieder die Aufmerksamkeit auf die dahinterliegenden Ideen wie Schmerz und Erlösung. Rogier van der Weyden gelang es durch einen vestimentären Realismus Bildwerke zu schaffen, die als die Vergegenwärtigung des Opfertodes Christi gelesen werden konnten. Abschließend sei bemerkt: Wir kommen als Kulturwissenschaftler nicht umhin zu akzeptieren, dass der gesamten figuralen Bild- und Skulpturengeschichte an sich auch die Geschichte der Darstellung von Textilien innewohnt, und diese ihrerseits durch die Geschichte des jeweiligen Welt- und Menschenbildes geprägt ist. Und wenn bei Prada in der Kollektion Herbst/ Winter 2013 demonstrativ das Motiv des von der Schulter hinabgerutschten Mantels und des überschnittenen Dekolletés dominiert, so ist nach dieser historischen Herleitung der Bezug zur polyvalenten Ikonographie der Frühen Neuzeit und den verborgenen narrativen Potenzen offensichtlich.10
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10 Vgl. http://www.prada.com/de/collections/fashion-show/archive.html (aufgerufen am 1.3.2015).
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Mode als ästhetische Praxis. Zur poetologischen Relevanz von Kleiderfragen bei Elfriede Gerstl und Elfriede Jelinek UTA DEGNER, CHRISTA GÜRTLER
POSTURALE POETIK Das Interesse an der vestimentären Praxis von Autorinnen und Autoren steht in der Literaturwissenschaft in Zusammenhang mit einer Renaissance des ‚Autors‘ und gegenwärtiger Theoriebildung zu Dimensionen von ‚Autorschaft‘. Nachdem der Blick auf die Person des Schriftstellers nach der Proklamation vom Tod des Autors jahrzehntelang fast tabuisiert war und dieser höchstens als impliziter in den Blick kam, entstand in den letzten Jahren das neue Forschungsfeld der ‚schriftstellerischen Inszenierungspraktiken‘ (vgl. Jürgensen/Kaiser 2011, Künzel/Schönert 2007). Sowohl der ‚performative turn‘ in den Literatur- und Kulturwissenschaften als auch ein stärkeres Gewicht kultursoziologischer Fragestellungen begünstigen den Blick über den Rand des gedruckten Textes. Auch Kleiderfragen kamen bei der Analyse des auktorialen Self-Fashioning bereits wiederholt in den Blick, wie z.B. in Hans-Harald Müllers „Beobachtungen zu medialen Selbstinszenierungen Bertolt Brechts“ (Müller 2007: 80f.) oder in Dirk Niefangers Aufsatz zu den „provokative[n] Posen“ in der deutschen Popliteratur (Niefanger 2004). Die Kleidung des Autors, so wird hier deutlich, ist – intentional oder nicht – als eine Art Paratext zu verstehen und zu interpretieren, wie Hexis und Habitus ist sie ein Baustein in der Konstruktion der Autor-Identität bzw. seiner öffentlichen Persona. Der vielleicht überzeugendste Vorschlag, dem Gesamt solcher nicht-diskursiver ‚Paratexte‘ methodisch Herr zu werden, liefert der französische Literaturwissenschaftler Jérôme Meizoz mit dem Begriff der ‚posture‘, den dieser in den letzten Jahren zum Leitbegriff zweier monographischer Studien gemacht hat (Meizoz 2007 und 2011). Unter „posture“ versteht
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Meizoz „eine persönliche Art, eine Rolle oder einen Status anzunehmen bzw. innezuhaben“, und damit als etwas, das die Autorschaft unmittelbar betrifft, denn, so Meizoz, „ein Autor erspielt oder erstreitet seine Position im literarischen Feld über verschiedene Modi der Darstellung seiner selbst und seiner postures.“ (Meizoz 2005: 177) Meizoz unterscheidet grob „zwei Dimensionen“ des Begriffs: zum einen „eine nicht-diskursive, die die Gesamtheit non-verbaler Verhaltensweisen im Rahmen der Selbstpräsentation umfasst (Kleidung, Gebaren, etc.), und zweitens eine diskursive Dimension, die des diskursiven Ethos.“ (Meizoz 2005: 178) Kleiderfragen sind damit ein wichtiger Teilbereich autorschaftlicher ‚posture‘ überall da, wo ein Autor „seine Funktion verkörpert“ (ebd.), also beispielsweise im „Gespräch mit den Medien“, bei öffentlichen Auftritten, Interviews, Preisverleihungen etc. Meizoz zufolge kennt das literarische Feld Grundmodelle solcher ‚postures‘, die von Autoren jeweils kopiert, variiert, und adaptiert werden können, so z.B. „Galant, Libertin, honnête homme, Dandy, poète maudit“ (ebd.). Die ästhetische Sprachmacht des Vestimentären ist dabei für die Literaturwissenschaft eine Herausforderung: Die Schwierigkeit, Kleidung als eine nicht-diskursive Performanz diskursiv einzuholen, steht in frappierendem Ungleichgewicht zu ihrer Wirkung: Auch wer nie eine Zeile von Jelinek gelesen hat, hat ihr Bild vor Augen, wird die Schriftstellerin in und an ihren Aufmachungen erkennen können und wird sich allein aufgrund dieser Bilder eine Vorstellung nicht nur von der Person der Autorin, sondern auch von ihrer Autorschaft machen. Dabei lässt sich die produktionsästhetische Dimension nicht ganz von einer rezeptionsästhetischen unterscheiden, da ja das SichAnziehen immer schon einen Betrachter impliziert. Lust und Last der Selbstpräsentation sind dabei gerade in einer Mediengesellschaft nicht immer auseinanderzuhalten. In ihrem Essay Leidiges Verkleiden, der 1992 in der Wiener Stadtzeitung Falter erschien, reflektiert Elfriede Gerstl die Festschreibung der medialen „Montur“ des Künstlers/der Künstlerin: „Die Medienlieblinge unter den Künstlern hingegen müssen ganzjährig an dem einmal aus Protest oder sonstwie biographisch begründeten Markenartikel-Layout festhalten. Der Maler Fuchs mit dem Käppi, der Maler Hundertwasser mit den zweierlei Socken, der Aktionskünstler Nitsch, immer schwarz gekleidet, mit dem Bart der Orthodoxie geschmückt. Wenn sie bei einem Fest oder Fernsehanlaß auftauchen, ist gleich die Kamera auf sie gerichtet und tastet sie liebevoll ab, als Gefangene ihrer für alle Zeit festgelegten Montur sind sie für jeden Fernsehkonsumenten als der Künstler Sowieso unmißverständlich erkennbar.“ (Gerstl 2013: 370)
Was Gerstl kritisiert, bestätigt sie zugleich als fundamentale Komponente einer künstlerischen Existenz im 20. und 21. Jahrhundert: der Zwang zum SelfFashioning, der als Wiedererkennungs- und Distinktionswert im Zeitalter der Aufmerksamkeitsökonomie zu einer nicht zu vernachlässigenden Währung wird.
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Der Kultursoziologe Pierre Bourdieu hat die strukturelle Homologie von haute couture und haute culture in dem Element der „Seltenheit des Produzenten“ (Bourdieu 1993: 195) erkannt, die sowohl im Feld der Mode wie im Feld der Kunst elementar sei: Unabhängig von der Feldposition sei das Kriterium für künstlerischen Erfolg eine Einmaligkeit, ein Autorname mit der Kraft zur „Transsubstantiation“ (ebd.: 194) der künstlerischen Produkte: „Die Signatur ist ein Kennzeichen, das zwar nicht die materielle, aber die soziale Natur des Objekts verändert.“ (ebd.) Die vestimentäre Praxis von SchriftstellerInnen ist heute demnach mehr als Ausweis ihrer sozialen Position; sie fungiert – intentional oder nicht – als eine Art Text zweiten Grades und stellt ein ästhetisches Statement dar, das ‚stimmig‘ zur literarisch vertretenen Ästhetik sein muss, um als ‚Marke‘ zu funktionieren. Elfriede Gerstl und Elfriede Jelinek ist dies auf ganz eigene Art gelungen. Sie gehen aber noch einen Schritt weiter, denn in ihren Texten werden Kleiderfragen auf komplexe Weise zu einem poetologischen Reflexionsgegenstand, wie im Folgenden dargestellt werden soll. Und nicht nur das – beide integrierten immer wieder auch die materiellen Artefakte der Mode in ihre Kunst: Jelinek und Gerstl veranstalteten Modenschauen, Gerstl verlängerte ihre Textpoetik in einen Kleiderfundus hinein und gestaltete eine Text/Kleider-Installation für die Wiener Festwochen. Beide knüpfen insofern an avantgardistische Kunstpraktiken an, „die Kunst ins Leben zu überführen, bzw. das Leben von der Kunst her zu verändern“ (Asholt 2012: 281). Wenn die These von Wolfgang Asholt stimmt, dass gegenwärtig eine Rückkehr zu einer solchen Kunstauffassung zu verzeichnen ist, also die wissenschaftliche Aufmerksamkeit für die ‚performative‘ Dimension von Autorinszenierungen eine Reaktion ist auf deren verstärktes Transgredieren von Textgrenzen Richtung ‚Leben‘, so können beide Autorinnen – auf ganz unterschiedliche Art und Weise – als Avantgarde einer solchen Tendenz gelten.
DAS GESCHLECHT DER MODE Schon Roland Barthes hat in seinem Buch Die Sprache der Mode (1967, dt. 1985) festgehalten, dass die Geschlechterdifferenz der Mode wohlvertraut ist und dass die weibliche Kleidung „fast die ganze männliche Kleidung zu absorbieren“ vermag, „während sich letztere damit begnügt, bestimmte Züge der weiblichen Kleidung ‚zurückzuweisen‘ (ein Mann kann keinen Rock tragen, eine Frau jedoch sehr wohl Hosen).“ Während ein „soziales Verdikt der Effeminierung des Mannes“ besteht, wird umgekehrt „die Vermännlichung der Frau nahezu überhaupt nicht sanktioniert“ (Barthes 1985: 263f.). Auch Anne Hollander und Barbara Vinken verweisen auf dieses Faktum (vgl. Hollander 1997; Vinken 1997, 2013) und stellen fest, dass deshalb seit der Moderne nur von einer Mode der Frau gesprochen wird. Barbara Vinken bezweifelt, dass der Zusammenhang zwischen Mode und Moderne, den man
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durch Etymologie garantiert sieht, wirklich gegeben ist. Denn – so fragt sie weiter – ist Mode nicht vielleicht das Andere der Moderne? Warum tut sich die Mode der Moderne so schwer damit, die Frauenmode zu akzeptieren und nicht als weibisch, bloßen Schein abzutun und die Funktionalität des Anzugs als Maßstab zu loben, mit dem der Mann in die Moderne gesprungen ist? (vgl. Vinken 2013: 75ff.) Es ist also kein Zufall, dass wir zwei Schriftstellerinnen gewählt haben, die ihre Autorinszenierungen mit ihrer Modeleidenschaft verknüpfen und sich dabei ganz bewusst als eigenwillige und ironische Feministinnen positionieren, die die konventionelle Modeästhetik performativ und diskursiv unterlaufen. Wie in der Literatur nehmen sie auch im Paratext der Mode eine Position modernistischer Avantgarde ein: Gegen die ‚bürgerliche‘ Mode und gegen die herrschenden Modetrends kreieren sie individuelle Kleider-Codes. Ihre persönlichen Vorlieben für das kreative Zitieren – allerdings mit unterschiedlichen modischen Artefakten – machen die Künstlichkeit der Sprache der Mode bewusst. Gleichzeitig lehnen sie Mode ab, die Frauen zu Objekten erotischer männlicher Begierde formt. Sicherlich lassen sich auch einige modeaffine Gegenwartsautoren finden, aber gerade in der österreichischen (und auch deutschen) Literaturszene ist das gar nicht so leicht, denn wie Klaus Nüchtern in seinem Essay Was man tragen soll. Kleine Typberatung für österreichische Schriftsteller feststellt: „Die mangelnde Ambition auf diesem Sektor verdankt sich einer krassen Überschätzung des eigenen Tuns. Schriftsteller gelten als ‚Geistesmenschen‘ und sind selbst leider die allerersten, die diesem Mythos aufsitzen. […] Es mag eine narzisstische Kränkung sein, aber aufmerksamkeitsökonomisch sind Fragen der Krawattenbreite und Rocksaumlänge oft entscheidender als Charakterzeichnung, Handlungsaufbau und metrische Raffinesse. In Zeiten, in denen ohnedies jeder wieder Familienromane schreibt, kommt dem modischen Distinktionsgewinn umso größere Bedeutung zu: Wenn schon nicht durch ihre Texte, sollten sich Autoren wenigstens durch ihre Kleidung voneinander unterscheiden – die freilich zum jeweiligen Typ passen muss.“ (Nüchtern 2011: 41)
ELFRIEDE GERSTLS KLEIDERFLÜGE „sechs jahrzehnte zeigen sich in kleidern“ In ihrem langen Prosagedicht Kleiderflug oder lost clothes verknüpft Elfriede Gerstl ihre Sammelleidenschaft für Kleider und Worte, deren Ursprung sie in einem „Mangel“ verortet, zu einem Textgewebe: „literatur und sammeln entspringt einem mangel / irgendeinem mangel trotzig die fülle entgegensetzen“ (Gerstl 2014: 13). Erschienen ist das Gedicht 1995 im Band Kleiderflug. Texte – Textilien – Wohnen (Wien: Edition Splitter), der wie viele Bücher von Elfriede Gerstl aus einer Sammlung von verschiedenen Textsorten aus mehreren Jahren besteht. Die dem Band Kleiderflug beigefügten sechsundzwanzig
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Fotos des Alfabet des Wohnens ihres Lebenspartners Herbert J. Wimmer zeigen die von ihr als „Ablagerungen“ bezeichneten Kleider und Texte in ihrer Wohnung, bevor die Kleider ab 1984 in gemietete „kleider-kammerl[n]“ (Gerstl 2014: 13) wanderten. Das anfängliche Sammeln von Kleidern wird im Lauf der Jahre für Gerstl einerseits zu einer bescheidenen Erwerbsmöglichkeit, andererseits entspricht es ihrem devianten Verhalten gegenüber dem herrschenden Modediktat nach immer neuen Kleidern. Zitat und Montage konstituieren Elfriede Gerstls Ästhetik der Mode: „Ich kann natürlich nicht damit rechnen, daß ich richtig decodiert werde. Das ist ja nicht anders als in der Literatur. Es wird immer nur eine bestimmte Ebene oder eine bestimmte Farbe verstanden. […] In meiner Mischung aus alten Kleidern der verschiedensten Epochen werde ich noch am ehesten verstanden“, sagt sie in einem gemeinsamen Interview mit Elfriede Jelinek, das unter dem Titel Nonnen sind die elegantesten Frauen in der Wiener Wochenzeitung Falter (Gerstl/Jelinek 1992) erschienen ist. Die von ihr praktizierte Analogie von Kleiden und Schreiben wird im Gedicht Kleiderflug oder lost clothes als poetisches Programm entworfen und als Prozess von „Ablagerungen“ beschrieben, „planvoll und chaotisch“ in immer neuen Kombinationen: „einiges wird eliminiert – neues findet sich“ (Gerstl 2014: 13). Kleidermoden zeichnen sich zwar einerseits durch Vergänglichkeit und Flüchtigkeit aus, andererseits ermöglichen sie es, „sich ein bekleidungsmenü [zu] komponieren oder [zu] mixen / aus erinnertem und gegenwärtigem“ (Gerstl 2014: 14). Bei Elfriede Gerstl sei „Larmoyanz über das Diktat der Bekleidungsindustrie, die Zurichtung des weiblichen Körpers und dessen erbarmunglose Veralterung durch modische Zyklen nicht zu erwarten“, schreibt Konstanze Fliedl (2001: 69). Stattdessen leistet sie sich den Luxus eines semiotischen „spiel[s] mit bedeutungen“ (Gerstl 2014: 14). So wie die Kleider in verschiedenen Depots aufgehoben, verkauft, getauscht oder weitergegeben werden, bisweilen aber auch verloren gehen, werden die Wörter im „sprachhäusl“ gesammelt – wie es in Gerstls Gedicht in der sprache wohnen heißt. Nicht im Haus der Sprache, sondern im Diminutiv „häusl“ „steht und liegt mein vokabular / wie kraut und rüben / wie im tandelladen / oft findet man was man sucht / manchmal aber auch nicht“ (Gerstl 2013: 38). Ebenso überzeugend wie lapidar legen die Texte der „Untertreibungskünstlerin“ (vgl. Fliedl 1995) Zeugnis ab von ihrer Sammelleidenschaft, denn die Flaneurin sammelte nicht nur Kleider, Schmuck und Krimskrams, sondern auch Sprachfetzen, Jargons und Sprachhülsen, die sie spielerisch in ihren Gedichten, Prosatexten, Hörspielen und Essays immer wieder neu kombinierte. In einer Notizbucheintragung vom 20. August 1998 heißt es programmatisch über ihren poetologischen Grundsatz des Sammelns und des produktiven Weiter- und Überschreibens, das Gattungsgrenzen subtil unterläuft: „Wie bei einer liegengebliebenen Stickerei nimmt man ja auch bei Texten manchmal einen Faden auf, führt ein Muster fort – das kann sich durch ein ganzes Stickerleben ziehen und muß noch nicht heißen, daß einem die
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Gedanken, Ideen (wie auch immer) ausgegangen sind.“ (Gerstl LIT/370/10, 2013: 399) Das Gedicht Kleiderflug beginnt mit den Sätzen „sechs jahrzehnte zeigen sich in kleidern / sechs das hat einen schönen klang“ (Gerstl 2014: 6), die darauf verweisen, dass in der Materialität und ästhetischen Gestaltung der „vestimentären Objekte“ (Roland Barthes) Ablagerungen individueller und kollektiver Geschichte gespeichert sind. Elfriede Gerstl verdichtet lebensgeschichtliche Erfahrungen in elliptisch verknappter Form zu Kleidergeschichten. Dabei sind diese „Ablagerungen“ nicht linear chronologisch aneinandergereiht, sondern werden in großen Sprüngen vor und zurück durch Zeiten und Räume assoziativ kombiniert. Präsens und Imperfekt wechseln ebenso wie verschiedene Diskursebenen – Erinnerungen einer Ich-Stimme, Zitate aus Modezeitungen, Werbebotschaften. Ein kurzes Textbeispiel soll exemplarisch die literarische Verfahrensweise illustrieren: „1942 packte mutter den kleinen fluchtkoffer / schwarze tuchmäntel aus den 30ern zurücklassend / wir werden nicht mehr so viel brauchen / sagt sie für mich merkwürdig rätselhaft / nie mehr beim zwieback kleider kaufen / beim süssen mädel mäntel und hüte“ (Gerstl 2014: 8). Biografische Fakten erklären die ‚Rätselhaftigkeit‘: Nach der Scheidung der Eltern 1937 übersiedelten Mutter und Tochter zunächst in eine Kleinwohnung, wurden dann zwangsübersiedelt in eine Substandardwohnung in der Wiener Rembrandtstraße, wo sie mit Großmutter und Tante zusammenlebten, bis 1942 die Großmutter stirbt. Die folgenden Jahre bis Kriegsende überleben Mutter und Tochter als ‚U-Boote‘ in verschiedenen Wohnungsverstecken. Mäntel und Hüte waren zu überflüssigen Kleidungsstücken degradiert. Elfriede Gerstl wollte nie „als lebend gebliebene Anne Frank“ gesehen werden und ihre Rolle als Überlebende des Holocaust literarisch vermarkten. Sie wehrte sich zeitlebens gegen die Reduktion auf ihren Opferstatus und ihre jüdische Identität und plädierte für das Vergessen als die ihr zustehende Haltung (vgl. Kitzmantel 2012). Dennoch durchzieht diese traumatische Überlebenserfahrung wie ein roter Faden ihr Werk. Auch wenn Gerstl fast drei Jahrzehnte lang nur selten ihre Kindheitserfahrungen thematisierte, wurde die mediale Aufmerksamkeit davon bestimmt (vgl. Serles 2012). Karin Macke liest das Gedicht als Verweigerung einer traditionellen Autobiografie, als Text, in dem sich das lyrische Ich/die Autorin hinter den Kleidern versteckt und unsichtbar macht: „Die poetologische Entscheidung, die Lebensgeschichte als Kleidergeschichte zu präsentieren, impliziert die Fokussierung auf bestimmte Aspekte der Persönlichkeit sowie die Auslassung anderer.“ Als Motivation dafür führt Macke an, dass sich zur Skepsis vor einer „Vermarktung des Persönlichen“ die „Angst vor einer neuerlichen Enteignung, nun auch des einzig gebliebenen Besitzes, der Erinnerung“ gesellt (Macke 2012: 229f.). Sowohl in ihren Texten als auch in ihrer ‚posture‘ als Flaneurin, die in urbanen Räumen (Wien, Berlin) unterwegs ist – immer in Bewegung –, zeigen sich die Spätfolgen ihrer Traumatisierung: „als würde einer jahrelang noch weiter-
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trippeln / nachdem die fesseln von den füssen / längst ihm abgenommen“ (die depperte gewohnheit, Gerstl 2014: 157). In ihrer Laudatio zur Verleihung des Erich-Fried-Preises 1999 an Elfriede Gerstl analysiert Elfriede Jelinek die Kleidersprache ihrer Freundin mit Bezug auf ihre Lebensgeschichte. Sie bezieht sich dabei mehrmals auf Walter Benjamin, für den das besondere Interesse in den „außerordentlichen Antizipationen“ der Mode liegt, die er in ihrer Geschichtlichkeit sieht: „Die Mode hat die Witterung für das Aktuelle, wo immer es sich im Dickicht des Einst bewegt. Sie ist der Tigersprung ins Vergangene. Nur findet er in einer Arena statt, in der die herrschende Klasse kommandiert. Derselbe Sprung unter dem freien Himmel der Geschichte ist der dialektische, als den Marx die Revolution begriffen hat.“ (Benjamin 1982: 701) In ihrer Rede „verkleinert“ Jelinek die Freundinnen selbstironisch und bekennt sich zum Modediskurs Gerstls, wenn sie von der dritten Person zum gemeinsamen „wir“ wechselt: „Elfriede Gerstl hat eine eigene Sprache dieser Mode entwickelt, indem sie von der sogenannten repräsentierten Kleidung der Modezeitschriften weggegangen ist und in die Vergangenheit hinein, obwohl sie diese Vergangenheit eigentlich fürchten müßte, so wie die mit ihr umgesprungen ist, und die Vergangenheit schleift ja in einer langen Schleppe jede Menge Leben, das endgültig vorbei ist, hinter sich her. Alte Kleider gesammelt, aber nicht oder nicht nur aus Geldmangel, sich neue zu kaufen: Elfriede geht einfach weiter. […] Die berühmte Benjamin’sche ‚Witterung für das Aktuelle, wo immer es sich im Dickicht des Einst bewegt‘ – nur daß wir uns jetzt unsre Anoraks, alten Burberrys oder Jackerln anziehen und mit ihnen in das Einst gehen, das nicht verlorengegangen ist. Damit wir uns das Jetzt draus basteln können, das dann wieder wie neu ausschaut, jedenfalls ist es nicht von gestern.“ (Jelinek 2001: 50f.)
Wie lustvoll beide in einem Kleiderdepot von Elfriede Gerstl ihrer Modeleidenschaft frönen, zeigt u.a. der Dokumentarfilm Elfriede & Elfriede von Hanna Laura Klar aus dem Jahr 2003 über „zwei Wienerinnen“, „zwei Freundinnen“, „zwei Dichterinnen“. Bisweilen trösten sie sich nach Klagen über ihre Mütter mit Kleidereinkäufen unterschiedlicher Art, die auch ökonomisch bedingte Differenzen sichtbar machen: Während es Elfriede Jelinek zu den Japanern zieht und sie sich mit einem „Miyakerl“ (Miyake) belohnt, befriedigt Elfriede Gerstl ihre Jagdlust beim Aufspüren einer „List-Bluse“ bei einem Tandler. Hinterher zeigen sie einander ihre Fundstücke und leben ihr „Spiel mit der Mode“ (Gerstl 1999) im Kleiderfundus weiter aus: „Unsere Mode-Leidenschaft ist, wenn sie uns in Elfriedes kleinem Modelager […] wieder einmal überkommt, nicht jedes Mal der ‚Tigersprung ins Vergangene‘, sondern es finden hier statt die eher possierlichen Sprünge zweier durcheinander schnatternder Tigerinnen, ein Gebrüll werden Sie hier nicht hören: heraus! Heraus aus dem Vergangenen! Indem wir nämlich dieses Vergangene einmal nicht ins Gegenwärtige transponieren, sondern es in seiner Vergangenenhaftigkeit [sic] annehmen, jedes Stück, zumindest für dieses Mal, einzig und
104 | MODE ALS ÄSTHETISCHE PRAXIS nicht wiederholbar (auch wenn wir die Ähnlichkeiten und Entwicklungslinien sehr wohl registrieren), bedeutet das für uns, vor allem für Elfriede, glaube ich, auch eine Art von Geschichts-Aufhebung. Die Mode ist zwar diese Arena, in der die herrschende Klasse kommandiert. Aber indem wir sie in diesen Unikaten, von denen jedes seine eigene Geschichte erzählt, uns aneignen, uns auf den Körper wachsen lassen, ziehen wir den Herrschenden zwei ihrer schärfsten Reißzähne, in einer gemütlicheren, aber trotzdem nicht ganz ungefährlichen Form von Subversion.“ (Jelinek 2001: 51f.)
Elfriede Gerstl machte ihre Vintage-Sammlung während vieler Jahre mit zahlreichen Einladungen zugänglich, allerdings in einem ihrer bevorzugten Spielräume (so auch der Titel ihres einzigen Romans) als salonartige Jours fixes, annonciert mit Flugzetteln und Einladungskarten im Freundes- und Bekanntenkreis. „Sie freute sich einerseits über alle Neuzugänge, hatte andererseits aber immer Angst, dass es zu öffentlich wird“, erzählt Raja SchwahnReichmann, die nach Elfriede Gerstls Tod ihre historische Modesammlung geerbt hat und in einem Depot zwischenlagert (Schwahn-Reichmann 2012: 236). Neben diesen Jours fixes und Flohmärkten u.a. zu Weihnachten oder zu Ostern präsentierte Elfriede Gerstl ihre Modesammlung in Modenschauen. Musikalisch umrahmt und moderiert fanden drei dokumentierte Modenschauen statt, u.a. 1997 als Finissage der Ausstellung Elfriede Jelinek. Echos und Masken im Literaturhaus Wien. Gerstl ließ Kleider aus ihrer Sammlung von befreundeten KünstlerkollegInnen vorführen. Im Teilnachlass, der im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek aufbewahrt wird, findet sich ein Typoskript für die Moderation einer Modenschau, die einerseits das Gegenteil einer üblichen Kollektionsvorführung neuester Modelle und Trends ist, andererseits aber die postmoderne Entwicklung der Grenzüberschreitung zwischen Kunst und Mode schon durch die Wahl der kulturellen Präsentationsorte (Literaturhaus Wien, Museum der Wahrnehmung Graz) spiegelt. Die historischen Kleidermodelle von den 1930er bis zu den 1960er Jahren werden beschrieben und historisch kontextualisiert, wozu u.a. auch Zitate aus Zeitschriften wie Burda und Constanze beitragen. Allerdings werden Verheißungen wie „Für diese Mode muß nicht erst die Idealfigur geschaffen werden“ über schmale Etui-Kleider der 1960er Jahre durch die Performanz der Vorführung entlarvt, denn gerade diese Kleider sind so figurbetont, dass sie eine schlanke Idealfigur voraussetzen. Die Modenschauen ermöglichten nicht nur Einblicke in die Modegeschichte, sondern orientierten sich auch an den traditionellen modischen Tages- und Jahreszyklen, von sommerlichen „Sonnenkleidern“ bis zu „Walzerkleidern“ für den Abend (Gerstl LIT 370/10). Im Gegensatz zu Elfriede Jelinek kombiniert Elfriede Gerstl in ihrer Kleidung nur selten neueste Modelle mit Vintage-Teilen, leistet sich also die revolutionäre Ablehnung der Modeindustrie, die Pierre Bourdieu den Flohmarktgeherinnen zuschreibt: „Was nämlich tun die Frauen, die sich auf dem Trödelmarkt einkleiden? Sie stellen das Monopol der legitimen Manipulation jenes spezifischen Etwas in Frage, das das Sakrale in Sachen Schneiderkunst
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ausmacht, so wie die Ketzer das priesterliche Monopol auf die legitime Auslegung in Frage stellen.“ (Bourdieu 1993: 195) In Gerstls subversivem Spiel mit der Mode ist der Aspekt der „Geschichts-Aufhebung“ dominant. Augenfällig wird diese Poetologie der Mode in einer Installation 1993 im Wiener Theatermuseum in der Reihe „Zeit/Schnitte“ der Wiener Festwochen mit dem Titel Kleiderflug oder lost clothes. Das später publizierte Gedicht ist im Kontext dieser künstlerischen Intervention entstanden. Sie bestand aus einem an der Decke montierten Kleiderkarussell, das durch Geldeinwurf von 5 Schillingen und der Wahl zwischen zwei Geschwindigkeiten vom Publikum in Bewegung gebracht werden konnte, kombiniert mit einer Schuhparade aus sechs Jahrzehnten auf einem roten Teppich. Die Kleider wurden ergänzt durch Texte vom Tonband, z.B.: „Da hängen und fliegen sie, die Kleider, die mich an jene erinnern, die ich im Laufe meines Lebens verloren, liegen gelassen habe, zurücklassen mußte, bei Flucht oder Übersiedlung geopfert habe, um mit leichtem Gepäck voranzukommen.“ (Macke 2012: 221f.) Die bereits dargestellte Analogie von „(Kleider-)Sammeln und Schreiben“ (Fliedl 2001: 71) wird in den Modenschauen und der Festwochen-Installation um den Aspekt der performativen Inszenierung erweitert. Auch der Titel Kleiderflug verweist auf eines der Paradoxa der Mode, denn es gelingt Gerstl, im Fliegen, auf der Flucht, in der Flüchtigkeit eine ästhetische Position zu schaffen und die Vergangenheit dadurch im doppelten Sinne „aufzuheben“, also außer Kraft zu setzen und aufzubewahren. Elfriede Jelinek formuliert diesen Widerspruch in ihrer Fried-Preis-Rede: „Nein, nicht das Bleibende wollen wir, und die Mode will es auch nicht. Wir wollen das Flüchtigste! Zum Beispiel die Mode, einmal die, dann wieder die andre. Wir suchen es uns aus. Wir sind so frei.“ (Jelinek 2001: 54) Behüte behütet Zur Freiheit, die Elfriede Jelinek für sich und ihre Freundin in der subversiven ästhetischen Modepraxis postuliert, zählt für Elfriede Gerstl das Tragen von Hüten: „Hut zu tragen ist offensichtlich Anmaßung. Er vergrößert, das ist das erste Vergehen. Wagt es ein weibliches Wesen, mit Männerhut durch die Stadt zu gehen, wird es seine Anmaßung zu spüren bekommen. Ich muß gut drauf sein, wenn ich mit Männerhut nach Floridsdorf fahre.“ (Gerstl 2013: 368) Das ist ein Zitat aus dem Essay Behüte behütet, der wie andere ModeBeiträge Elfriede Gerstls zunächst in der Wiener Stadtzeitung Falter in den 1990er Jahren erschienen ist und später in den Band mit dem vieldeutigen Titel Unter einem Hut (1993) aufgenommen wurde. Elfriede Gerstl kommentiert darin das aus der Mode gekommene Tragen von Hüten, denn ihre Vorliebe für Hüte und diverse Kopfbedeckungen markiert ihre gleichermaßen anachronistische wie subversive kulturelle Praxis der Mode. Es sei „unmöglich, mit Hut nicht aufzufallen“, so Elfriede Gerstl. Ihre bevorzugte Maskerade mit einem Männerhut überschreitet dazu noch traditionelle Geschlechtergrenzen und wurde nicht selten mit Aggressionen beantwortet. Ein Umstand,
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der übrigens Elfriede Jelinek davon abhält, Hüte zu tragen, nachdem sie einmal mit einem japanischen Turban bekleidet „unglaublich aggressiv angepöbelt“ wurde (vgl. Gerstl/Jelinek 1992). Im Essaytitel Behüte behütet verschränken sich auf mehrfache Weise die beiden Bedeutungen des Wortes „Hut“: Kopfbedeckung und „Vorsorge, Obhut, Schutz“. Wie in ihren anderen Mode-Feuilletons reflektiert Gerstl in Behüte behütet selbstironisch und mit Witz und Komik das Mode- und Konsumverhalten und zeichnet knapp gesellschaftliche und historische Bedeutungsveränderungen nach. Hüte dienten als Zeichen von Macht (Zylinder der Oberschicht) ebenso wie von Ausgrenzung (spitze Judenhüte im Mittelalter). Kopfbedeckungen können wie alle Artefakte der Mode ihre Zeichenfunktion verändern wie etwa die Schirmmütze oder von einer heterogenen Gruppe favorisiert werden wie die schwarze Pullmannkappe, die von Spanienkämpfern bis zu Künstlern und Pfarrern getragen wird (vgl. Gerstl 2013: 368). Der Hut spielt für Elfriede Gerstls öffentliche Performanz eine zentrale Rolle. Dass sie ihre ‚posture‘ bewusst inszeniert, zeigen u.a. die zahlreichen Schutzumschläge ihrer Bücher mit Porträtfotos. Auf dem Cover von Unter einem Hut sehen wir sie in Trenchcoat und Männerhut von hinten und auf der Rückseite tritt sie selbstbewusst aus dem Buch heraus und sieht uns an. Es gibt beinahe keinen Medienbericht, in dem ihr Fetisch unerwähnt bleibt. Ironisch kommentiert sie ihre Repräsentationsstrategie in einem Text mit dem Titel Später Erfolg. Ein Tagebuchausbruch: „bin zu meinem 75. geradezu gehypt worden, als Feger mit Hut bin ich neuerdings sogar für die Printmedien zu gebrauchen“ (Gerstl ÖLA, vgl. Serles 2012). Elfriede Gerstls Hutsammlung ist legendär, darunter ein Nachlass aus den 1930er Jahren aus New York. Elfriede Jelinek bezieht sich in ihrer Fried-PreisRede darauf und interpretiert diese Hutsammlung als Dokument von Gerstls Internationalität: „Hier sehe ich einen Hut, Saks, New York, Fifth Avenue, steht auf dem Innenband. Ja, hier finden Sie eine internationale Umgebung, das Gegenteil von dem, was manche vielleicht gern wieder einführen möchten, nämlich die ‚Verlederhosung Österreichs‘“ (Jelinek 2001: 54). Elfriede Gerstls Selbstermächtigung im Tragen von Männerhüten ist nur die eine Seite ihrer medialen Repräsentation. Denn diese changiert „gleichermaßen zwischen Präsenz und Absenz“. Unzählige Bilder „einer ‚zarten‘, ‚schwebenden‘, ‚leichten‘“ Autorin bestimmen die Personencharakterisierung (Serles 2012: 270). Auch für ihre Freundin Elfriede Jelinek bleibt sie Die Flüchtige (Jelinek 2012a: 11). Elfriede Gerstl verbietet sich die Festlegung auf ihre Rolle als Opfer, setzt Ironie und Flüchtigkeit dagegen und macht im semiotischen Spiel die Künstlichkeit von Bedeutungszuschreibungen in der Mode sichtbar. Diese Flüchtigkeit, in die biographische Erfahrungen eingeschrieben sind, grundiert Elfriede Gerstls avantgardistische Außenseiterinnenposition und zeichnet ihre Texte aus, denn „in dieser Flüchtigkeit sind sie beharrlich geblieben.“ (Jelinek 2012a: 17)
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Abbildung 5: Elfriede Gerstl und Elfriede Jelinek in den 1990er Jahren
ELFRIEDE JELINEKS UNORTHODOXE ‚POSTURE‘: IN FETZEN Auch Elfriede Jelinek kehrt einige Gemeinplätze, die über Mode im Umlauf sind, gänzlich um und entwickelt – wie Elfriede Gerstl – eine höchst idiosynkratische Modepoetik, die nicht zuletzt sehr aufschlussreich ist für ihr eigenes Selbstverständnis als Autorin. Was Jelinek Gerstl attestiert, nämlich eine eigene Sprache der Mode erfunden zu haben, nimmt sie auch für sich selbst in Anspruch. In dem 2012 entstandenen Stück Die Straße. Die Stadt. Der Überfall, einem Auftragswerk der Münchner Kammerspiele über die Münchner Maximilianstraße – Standort des Theaters und zugleich Sphäre exklusiver Modeboutiquen –, heißt es dazu programmatisch:
108 | MODE ALS ÄSTHETISCHE PRAXIS „Diese schönen Kleider machen mich sprachlos, obwohl ich stundenlang über sie sprechen könnte und das auch tue, Sie hören es ja selbst. Ich habe eine Sprache für sie erfunden, und daher versteht sie außer mir keiner. Es ist auch nicht die Sprache der Modezeitschriften, die ich schon verstehe, […] was wollte ich sagen, ich habe eine Sprache, leugnen Sie es nicht!, können Sie auch gar nicht!, es ist meine, und nur sie paßt auf diese wunderbaren Stücke […].“ (Jelinek 2012b)
Die Doppeldeutigkeit der „wunderbaren Stücke“, die sowohl auf die „schönen Kleider“ als auch auf die Theaterstücke Jelineks referieren, nimmt eine Analogie von Text und Kleid auf, die sich programmatisch durch Jelineks Werk zieht. In ihrem kurzen, aber wohl prominentesten theatertheoretischen Text, Ich möchte seicht sein von 1983, der als Manifest eines postdramatischen Theaters gelten kann, wird „eine Modeschau, bei der die Frauen in ihren Kleidern Sätze sprechen“, zur Metapher für Jelineks Vorstellung eines Theaters, das Text und Figur dissoziiert: „Modeschau deswegen, weil man die Kleider auch allein vorschicken könnte. Weg mit den Menschen, die eine systematische Beziehung zu einer ersonnenen Figur herstellen könnten! Wie die Kleidung, hören Sie, die besitzt ja auch keine eigene Form, sie muß um den Menschen gegossen werden, der ihre Form IST.“ (Jelinek 1997)
Die Autorin praktizierte diese Idee von Theater als Modenschau ganz real: So initiierte sie 1998 als „Dichterin zu Gast“ im Rahmen der Salzburger Festspiele eine von Krankheit oder Moderne Frauen inspirierte Modenschau der österreichischen Modedesignerin Lisa D., zu der die Designerin ein Exposé geschrieben hat, das Jelineks Interesse an Mode sehr nahe kommt. Die Modenschau finde auf der Toilette statt als einem Ort, an dem „Frauen einerseits die Masken her[stellen], durch die sie sich außerhalb voneinander abgrenzen und miteinander in Konkurrenz treten, andererseits verständigen sie sich dort auch augenzwinkernd über die Methode der Herstellung dieser Masken und stehen damit am Beginn potentieller Fluchtlinien aus einem vermeintlich starren Gesetz.“ (Lisa D. 1998) Die sehr avantgardistischen Modeentwürfe Lisa D.s sollten in der konkreten Modenschau die Abgrenzung ‚entgrenzen‘: Nach der parodistisch übertriebenen Vorführung „bekannte[r] Kleiderordnungen“ wurden „die im ersten Teil vorkommenden unterschiedlichen, getrennten Stile, ergänzt durch weitere Elemente, in neuen, unerwarteten, Kombinationen vorgeführt, Kombinationen, die den Prozess der Zurüstung nicht verbergen, sondern ironisch in sich aufnehmen.“ Eine solche kombinatorische Praxis und „Dialektik der De- und Remontage“ (ebd.) kennzeichnet auch Jelineks literarische Beschäftigung mit Mode – und nicht nur mit dieser: Zum einen unterzieht sie (die der Mode inhärenten) Herrschaftspraktiken und Wunschökonomien der Kritik; zum anderen praktiziert und fordert sie eine deviante Form von Kleidersprache, welche vielleicht die einzige utopische Dimension im sonst sehr negativen Werk darstellt.
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Wer aufgrund der oben zitierten Passage aus Die Straße. Die Stadt. Der Überfall meint, das Stück sei eine reine Eloge auf die Entwürfe der Edeldesigner à la Chanel oder Jil Sander, irrt sich. Denn Jelineks Stück ist zum nicht geringsten Teil eine Analyse des problematischen Begehrens, das von der Modeindustrie in Gang gesetzt wird und das den Konsumenten in eine unendliche Schleife von Haben- und Sein-Wollen versetzt: „man schaut sich wieder dieses Foto an, auf dem eine ganz andere, natürlich muß es eine andre sein, denn selbst erreicht man das ja nie!, auf dem also eine ganz andre Frau den Rock trägt, das schaut dann gleich ganz anders aus als an einem selber […]. Schauen Sie sich das Foto ruhig an, schauen Sie mich an, dann wieder das Foto, dann wieder mich, und Sie werden sehen: Es geht nicht, was auch immer, es geht nicht. Die Frau auf dem Bild schaut aus, als gehörte sie ganz sich selber und als könnte der Rock, den sie da trägt und den auch ich mir gekauft habe, genau den gleichen!, doch ich schaue ihn mir lieber auf dem Foto an als auf mir, […] denn in der Kleidung stecken ja leider Menschen, das ist der Nachteil; […] [ich] kaufe mir etwas, das an mir nicht so aussieht, wie es aussehen sollte und wie es schon ausgesehen hat, das ist der Beweis, daß es so aussehen kann!, wenn auch nicht an mir, das schaffe ich nie, zu erreichen, daß dieser Rock an mir so aussieht wie an der Frau auf dem Foto. Nie nie nie! […] Ich muß morgen oder übermorgen oder nächste Woche unbedingt noch zu Dior, zu Chanel, zu dem, was einmal Valentino war und jetzt nur noch so heißt, ich muß dorthin eilen, um zu überprüfen, ob dort was ist, das mir gehören und aus mir eine andre machen könnte.“ (Jelinek 2012b)
Jelinek ist hier ganz d’accord mit Roland Barthes’ Modeanalyse: Das imaginäre Potential der Kleidung überformt das materielle Objekt und verleitet das Subjekt zu der – zum Scheitern verurteilten – Idee, sich durch den Erwerb bestimmter Kleidungsstücke in eine Existenzform ‚einzukaufen‘. Das von Bourdieu beschriebene Versprechen einer „Transsubstantiation“ durch den Namen des Labels (dessen Nicht-Identität mit dem Designer in Jelineks Stück immer wieder betont wird), betrifft nicht nur das materielle Produkt, sondern – in metonymischer Verbindung – auch die KäuferInnen bzw. TrägerInnen des Kleidungsstücks. Denn diese partizipieren durch Tragen eines Stücks an der ‚sakralen‘ Aura des Namens. Jelineks ‚Mythenkritik‘ erklärt ihr Interesse an nur einem ganz bestimmten Modesegment, das sich gerade als „Aufhebung der Mode durch Mode“ auszeichne: die japanischen Designer. Am Beispiel der aktuellen Kollektionen von Junya Watanabe und Rei Kawakubo erläutert Jelinek in einem 2003 auf der Homepage erschienenen Text ihre Lesart der Entwürfe – ihr Essay trägt den bezeichnenden Titel In Fetzen: „Da gehen die Models also in diesen wunderbaren Tweed-Kostümen von Junya Watanabe herum, die die (noch viel teureren) Chanel-Kostüme, die wiederum gehobene weibliche Persönlichkeiten an sich herumtragen, weil diese Frauenpersönlichkeiten ja allein nicht gehen könnten, spielerisch ironisieren und parodieren, indem sie sie teilweise an den Nähten
110 | MODE ALS ÄSTHETISCHE PRAXIS aufreissen [sic], ausfransen lassen, schiefe Säume ‚verschneiden‘, den Reichtum als solchen, der sich in diesen Teilen kodiert, gleichzeitig verarschen und lächerlich machen, nein, das wollen die Reichen aber nicht. Sie haben schließlich diese Kleider, in denen auf eingenähten Labels Chanel oder Prada steht, gekauft, um sich darin als Begebenheit, die jede Vorstellungskraft sprengt (was sie vortäuschen wollen!) […] wenigstens irgenwelche [sic] Eigenschaften, Gaben, Talente anmaßen zu können.“ (Jelinek 2003)
Sehr ausdrücklich kommt hier zur Sprache, was Jelineks Faszination an der japanischen Mode grundiert: die Subversion der ‚Gesellschaftsmode‘ und der mit ihr verbundenen sozialen Codes. Mode, das ist Jelineks an Benjamin anschließende These, fungiert im Bürgertum als Codierung von Herrschaftsmacht. Die Durchsetzung der bürgerlichen Weltsicht als einzig mögliche funktioniere „unsichtbar sichtbar, nicht sichtbar unsichtbar, […] denn schließlich ist das höhere Ziel dieser Klasse […], ihren Code als den einzig möglichen durchzusetzen und dafür zu sorgen, daß ihre Kreaturen das nicht durchschauen.“ (Jelinek 2003) Was „diese japanischen Kleider“ hingegen erreichten, sei eine Provokation der herrschenden Kleiderordnung, „sie ziehen Fäden wie Kaugummi, wie ein lebender Organismus, sie scheißen auf das Geordnete der kleinbürgerlichen alpinen Festtagstracht.“ (ebd.)1 Die ‚japanische‘ Technik des Ironisierens und Persiflierens erklärt Jelinek in dem bereits zitierten Doppelinterview mit Gerstl zu ihrem Stil – und zwar sowohl literarisch als auch vestimentär: „Zum Beispiel habe ich wahrscheinlich eine der größten Anorak-Sammlungen aus den 50er Jahren. Und ein Anorak ist einfach ein genial neutrales, quintessentielles Stück – in Poplin [sic] und diesen klaren Kinderfarben. Außerdem konnotiert er Wintersport. […] Ich verwende ihn als Zitat. Mir kommt es – auch in der Literatur – sehr auf die Ironie an: Ich will eher witzig als sportlich aussehen. Wenn man sich in der Kleidung ironisiert, erotisiert man nicht.“ (Gerstl/Jelinek 1992)
‚SICHTBAR UNSICHTBAR‘ Aber nicht die Dekonstruktion einer Klasse steht im Vordergrund von Jelineks Modeästhetik, sondern eine zugleich individuellere wie allgemeinere Instanz: die der Person. Fast gebetsmühlenartig betont sie immer wieder, dass sie Mode
1 Der Text referiert auch die Ressentiments, welche die Präsentation bei den österreichischen Fernseh-Kommentatoren hervorruft: „Und ‚zerfetzte‘ Kleider von Junya Watanabe, für die auch noch ein horrendes Geld verlangt wird (obwohl sie natürlich nichts wert sind, sie sind ja hin, sehen Sie das denn nicht?!), die brauchen wir nicht, wir verlangen lieber das schöne Geld für unsere Buam und Madln und ihre Niedertracht.“ (Jelinek 2003)
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nicht als ein Medium versteht, ihre Person zur Geltung zu bringen, sondern vielmehr zu verschwinden: „Von wenigen Dingen verstehe ich so viel wie von Kleidern. Ich weiß wenig von mir, interessiere mich auch nicht sehr für mich, aber mir kommt vor, daß meine Leidenschaft für Mode mir mich selbst ersetzen kann, deshalb bohre ich mich ja förmlich hinein in die Kleider, mit einer seltsamen Gier, die aber viel mehr mit dem Gegenteil von Gier zu tun hat, dem sofortigen Loslassen, Auslassen von etwas. Ich beschäftige mich mit Kleidung, damit ich mich nicht mit mir selbst beschäftigen muß, denn mich würde ich sofort fallen lassen, kaum daß ich mich einmal in der Hand hätte. […] Bin ich so versessen auf Kleidung, die mir gefällt, weil ich dahinter meine Spur, nein, nicht verwischen, das wäre ja eine aktive Tätigkeit, sondern möglichst gründlich: verlieren möchte, damit auch niemand andrer sie findet? Vielleicht. Sonst könnte ich ja anziehen, was alle anziehen, total normal, dann wäre ich ja auch in gewisser Weise ‚unsichtbar‘, aber dann bestünde die Gefahr, daß man dann auf mich schaut. Daß der Blick an meinen Jeans, meinem Pulli abgleitet und auf mich fällt, und dann falle ich womöglich hin. Ich ziehe mich ja nicht an, damit die Leute mich anstarren sollen, weil ich mir wieder sowas Schönes gekauft habe, ich ziehe die Kleidung an, damit die Leute auf sie schauen, nicht auf mich. Denn diese Kleidung ist nicht einfach da und fertig, sie zeigt sich, indem sie auf sich selber zeigt, ja, das ist was für mich.“ (Jelinek 2000a)
Wenn Jelinek ihre Protagonistin Jackie im gleichnamigen Stück im selben Jahr, in dem sie über Watanabes Fetzen nachdenkt, in einem Chanel-Kostüm auftreten lässt, ist dieses Gewand also mehr als eine biographische Reminiszenz an die reale Figur der Jacqueline Kennedy Onassis, deren Status als Mode-Ikone das IV. Stück der Prinzessinnendramen reflektiert. Im Gegensatz zu der namenlosen Konsumentin aus Die Straße. Die Stadt. Der Überfall zeichnet es Jackie aus, sich ganz mit dem von der Kleidung vorgegebenen Bild in Kongruenz zu bringen: „Moment, ich muß mich erst in meine Form hineinlegen, die ich durch die Kleidung vorgegeben bekommen habe, und ich habe Mr. Cassini angewiesen, die Kleidung nach meinen Maßen anzufertigen, aber so, daß sie mich niemals berührt. […] Über meine Kleidung hat man geredet, fast noch mehr als über mich, und das heißt was! Die war meine Schrift, meine Kleidung. Meine Kleider waren individueller als meine Sprache, […] und dabei waren sie eben doch nur Linien, die die Grundform sind, der ganze Zierrat nur aufgesetzt, schlicht, essentiell. […] Deshalb habe ich mich so für Mode interessiert. Sie ist was sie ist. Und darin verschwindet der Mensch.“ (Jelinek 2002)
Die Ambivalenz des zweiten Pronomens im vorletzten Satz, das sich jeweils auf die Frau wie auf die Mode beziehen lässt, drückt hier das vollständige Aufgehen der Person Jackie in dem von ihr von der Mode generierten Bild aus. Ganz explizit sagt sie kurz darauf: „Ich bin meine Kleidung, und meine Kleidung ist ich“ (ebd.). Jelinek selbst hat in einem Interview Jackie als eine
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„unfertige“ bezeichnet, als Gefangene eines Puppenstadiums – auch im zoologischen Sinne des Wortes.2 Liest man das Stück jedoch parallel zu den Modetexten Jelineks, spiegelt sich in ihm die Faszination an der Macht der Kleidung, eine Persona zu kreieren, die in der Lage ist, ein Ich gleichsam neu zu formatieren: „Ich bin diverse Formvarianten von Kleidung.“ (ebd.) In dieser schöpferischen Potenz besteht freilich eine utopische Chance. Wenn Mode nicht darauf ausgerichtet ist, Macht zu repräsentieren, sondern einen gleichsam neuen Typ von Mensch zu entwerfen, hat sie ein großes künstlerisches Potential. In einem Text über den österreichischen Modemacher Rudi Gernreich äußert sich Jelinek sehr enthusiastisch über „eine[n] der entschlossensten Gestaltungswillen in der Geschichte der Mode“ (Jelinek 2000b). Worin besteht der Unterschied zwischen Jackies Outfits und einem Modell von Gernreich? Warum wird Jackies Arbeit am selbst eher abgewertet und Rudi Gernreich ein emanzipatorisches Potential zugesprochen? Der Unterschied besteht in der Unsichtbarkeit oder Sichtbarkeit der „Hand des Schöpfers“, die Identität im ersten Falle ‚betoniert‘ (Jackie) oder im zweiten Identität als veränderbar darstellt: Jackie versucht, ihr Bild möglichst natürlich erscheinen zu lassen und folgt der ‚bürgerlichen‘, unsichtbaren Repräsentationsordnung von Macht: „Das ist Herrschaft. […] Das ist die Herrschaft selbst, die ihre Glieder, zart wie Kleider, wegwirft, und unsichtbare Hände ergreifen sie […]. Man sieht die Herrschaft und man sieht sie nicht.“ (Jelinek 2002) Rudi Gernreich hingegen folge einem „eigentlich emanzipatorischen Akt, der vielem entgegenstehe und widerspreche, was die Mode und ihre Protagonisten so planen“: „O je, jetzt ist man in den Abgrund gefallen, der sich zwischen der eigenen Identität und dem Ich aufgetan hat […]. Die Hand des Schöpfers kann einen jederzeit wieder herausholen und anders machen. […] [K]eine Angst, wir werden, nach Rudi Gernreich, dann andere sein als wir waren, […] lustige Leute […], denen jemand etwas übergeworfen hat, damit wir uns ändern, damit wir, geändert, bleiben wie wir sind.“ (Jelinek 2003)
Gernreichs Ziel sei es nicht, „daß man diesen Menschen besitzen (oder: besetzen) wollte, den man so oder so hergerichtet hat und der rennt dann immer wieder ins Geschäft und kauft die Sachen dieses oder jenes Schöpfers“ (ebd.) – er lasse den Menschen vielmehr einfach sein, ohne ihm bestimmte Attribute zuzusprechen.
2 „Maybe because of her being in a state of unfinished-ness of sorts, of never having become herself, a being that lives off only of itself (a woman’s fate at that time). She was, of course, very well read and educated, but this was mainly to her husband’s benefit, not her own, until years later, when she became an editor. But even then she did not write books herself. Princesses remain somewhat stuck in a ‚Puppenstadium‘, a ‚doll‘-stage (in German the stage preceding the finished insect, the ‚unfinished insect‘, the chrysalis is called Puppe, doll – my starting point is always language itself), that is, princesses never ‚came out.‘“ (Jelinek 2013)
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Die Künstlichkeit seines Modeentwurfs, seine ästhetische Gewagtheit begegnet uns – in abgeschwächter Form – auch in Jelineks Selbstinszenierungen, die die Artifizialität ihres Gewands nie zu verbergen trachten, sondern durch inszenatorische Details und stilistische Brechungseffekte geradezu ausstellen. Im (un)richtigen Kontext kann dann sogar ein Chanel-Jäckchen zu einer „Textilbombe“ werden: „Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie einen Menschen in einem Chanel-Kostüm gesehen, außer mich selbst, zur Hälfte, denn ich habe im Ausverkauf einmal eine ChanelJacke gekauft […]. Ich habe diese Jacke einmal zu einer Versammlung der Kommunistischen Partei getragen, doch diese Menschen lassen sich nicht einmal von Millionen Toten provozieren, wie also von einer einzigen kleinen Jacke? […] Das ist damals alles verpufft, obwohl Provokation auf dieser Textilbombe draufgeschrieben stand, mit so goldenen Knöpfen, in Blindenschrift, explodiert in einem unmerklichen, nicht in einem gigantischen Verpuffungsvorgang, weil die Kommunisten vielleicht schon gehört haben, daß es Chanel gibt, sie würden es auch erkennen, wenn sie es sehen, das Chanel-Kostüm, allerdings nur dann, wenn es wirklich aussieht wie ein Chanel-Kostüm, notfalls auch an der falschen Person, denn das berühmte rosa Chanel-Kostüm Jackie Kennedys war nicht echt, mein Anteil am Kostüm schon, ihres nicht! […] Nun, mein Jäckchen wars wirklich, diebische Freude meinerseits […].“ (Jelinek 2012b)
Hier wird mehr als deutlich, dass es Jelinek nicht um das Kleidungsstück an sich geht, sondern vielmehr sein Gebrauch und seine Kontextualisierung von Interesse sind: Bei einer Versammlung der Kommunistischen Partei kann eine Chanel-Jacke genauso häretisch wirken wie die japanischen Entwürfe im bürgerlichen Umfeld. Das Kleidungsstück bekommt hier durch den kommunistischen Kontext eine im besten Sinne provokative Potenz. Deutlich erkennt man die Parallelität zu Jelineks literarischer Ästhetik, die das Prinzip der Mesalliance sehr umfassend praktiziert. Mode ist gerade deshalb für Jelinek ein faszinierender Spielraum, da sie es als ästhetische Praxis gestattet, die im Literarischen mögliche Freiheit auf die Wirklichkeit auszuweiten, deren „formende Kraft [...] in die Wirklichkeit ein[zu]gravieren“ (Jelinek 2000b). Eine solche Ausweitung der Kunstzone in der Mode hat Elfriede Gerstl an Jelinek als „Dandyhaftigkeit“ benannt, „in dem Sinn, daß Ästhetisches das bestimmende Prinzip aller Lebensbereiche ist“ (Gerstl 1995: 33).
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,Stiljagi‘ – eine westliche Modeinvasion? Kulturtransfer und Kleidermode in der Sowjetunion JULIA HARGASSNER, EVA HAUSBACHER, ELENA HUBER
Moda za železnym zanavesom – Mode hinter dem Eisernen Vorhang, so lautet der Titel einer Ausstellung zur Geschichte der sowjetischen Mode,1 kuratiert von dem in den russischen Medien omnipräsenten Modepapst Aleksandr Vasil’ev. Dieser Titel suggeriert eine von westlichen Trends und Entwicklungen abgeschnittene Modeentwicklung in der Sowjetunion und reproduziert das Klischee einer isolierten, gegenüber dem Westen rückständigen und durch Konsumdefizit geprägten sowjetrussischen Alltagskultur. Ein Blick auf die Entwicklung der Kleidermode aus der Perspektive des kulturellen Transfers relativiert allerdings dieses Bild. Dabei müssen zunächst die verschiedenen Phasen der gesellschaftspolitischen Entwicklungen der Sowjetzeit von den 1920er bis in die 1990er Jahre berücksichtigt werden, die sich durch jeweils eigene Akzentuierungen im kulturpolitischen Diskurs über Konsum und damit auch im Mode- und Bekleidungsverhalten voneinander unterscheiden (vgl. Gurova 2005): So sind die 1920er Jahre geprägt vom Kampf der Avantgarde für einen neuen Alltag, in dem die sowjetischen Menschen befreit von Dingfetischismus und Konsum leben sollten. Aber schon in den 1930er Jahren geht dieser Diskurs über in eine Kampagne zur Hebung des kulturellen Niveaus, Konsum wird legitimiert und eine breite Diskussion über richtigen Geschmack und Stil verordnet. Gemeinsam ist allen vier Phasen2 jedoch, dass
1 Die Ausstellung fand 2012 in Moskau statt, der Ausstellungskatalog ist unter dem Titel Moda za železnym zanavesom. Iz garderoba zvezd sovetskoj ėpochi iz kollekcii Aleksandra Vasil‘eva im Moskauer Verlag Ulanov Press erschienen, die Herausgeber sind Aleksandr Vasil’ev und der Kulturfond Nacional’nyj muzej mody. 2 Die Soziologin Ol‘ga Gurova gibt in ihrem Buch Vešči v sovetskoj kulture (2005) eine detaillierte Beschreibung der vier Perioden sowjetischer Konsumgeschichte, die unter unterschiedlichen ideologischen Akzenten verliefen: Die erste Phase umfasst die 1920er
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sowohl in den ideologischen Debatten über die sowjetische Kleidersprache als auch auf der ganz materiellen und realen Ebene des tatsächlichen Bekleidungsverhaltens der Menschen eine Auseinandersetzung mit westlichen3 Kleiderbildern stattfindet – sei es als Nachahmung, als kreative Adaptierung oder auch als abwehrende Entgegensetzung westlicher Mode. Vor diesem Hintergrund gehen wir in diesem Beitrag davon aus, dass die sowjetische Modeentwicklung im internationalen Kontext zu betrachten und dabei die gängige Ost-West-Dichotomie zu hinterfragen ist. Auch in der sowjetischen Gesellschaft gab es Zwischenräume, die als Orte für kulturelle Transformationsprozesse eine zentrale Rolle gespielt haben. Mit Andreas Kraß, der „[d]as Verhältnis zwischen westlicher und östlicher Kleidung […] weniger als eines der Differenz und Alterität, denn vielmehr als eines der Hybridität“ denkt (Kraß 2006: 37), gehen wir davon aus, dass die generellen Mechanismen der Modeentwicklung auch für die Sowjetunion Gültigkeit haben: Diese sind immer, und nicht erst im Kontext der Globalisierung des 21. Jahrhunderts,4 bestimmt durch diverse Dynamiken des Transfers, und zwar auch dann, wenn die politischen Grenzen weitgehend geschlossen sind, wie dies in der Sowjetunion der Fall war. Das hybride Verhältnis zwischen ‚West-‘ und ‚Ost-Kleidung‘ bestätigen auch die Beobachtungen von Oskar Maria Graf, der 1934 eine Reise in die Sowjetunion gemacht hat, und seine Eindrücke über das dortige Modeverhalten folgendermaßen beschreibt: „Russinnen, die ins Hotel kamen, schielten höchst interessiert auf die ausländischen Damen, wenn diese sich puderten und die Lippen bestrichen. Nicht anders machten es die hünenhaften Stoßbrigadlerinnen, die beim Bau der berühmten ‚Metro‘ mithalfen. Sie kamen in ihren lehmstarren Overalls mittags vom Schacht herauf in die Sonne. Was war ihr Erstes? Sie besahen sich im kleinen Taschenspiegel, sie puderten sich, der Lippenstift trat in Funktion, sie rauchten, und sie lugten mit gierigen Forscherblicken auf jede europäische Frau, um ihr etwas abzusehen: Wie man sich bewegt, auf welcher Seite der Herr geht, was man trägt und vor allem, wie man es trägt. Ich erfuhr, dass das Kaufhaus ‚Mostorp‘ siebzig französische
Jahre und steht unter dem Banner der revolutionären, sozialistische Askese; darauf folgt von den 1930er bis in die 1950er Jahre eine Legitimation des Konsums durch die Ideologie der kul‘turnost‘ (Kultiviertheit); die dritte Phase (1950er – 1960er Jahre) ist gekennzeichnet durch eine Konsumorientierung auf der Basis einer Ideologie des ‚sowjetischen Geschmacks‘; die 1970er Jahre schließlich folgen einer Ideologie der Entdinglichung (razveščestvlenija). 3 Unter ‚westlichem Modeeinfluss‘ verstehen wir in erster Linie die von den europäischen Modemetropolen Paris und London ausgehenden Trends. 4 Die Zeitschrift Querformat widmet sich in der Nummer 6 (2013) den transkulturellen Aspekten von Mode und stellt unter dem Begriff der ‚Traveling Fashion‘ Mode im Kontext von Mobilität und Prozesshaftigkeit als ein transkulturell zirkulierendes Phänomen vor, wobei in den einzelnen Beiträgen unterschiedliche historische Abschnitte und kulturelle Räume Berücksichtigung finden.
JULIA HARGASSNER, EVA HAUSBACHER, ELENA HUBER | 119 Schneider engagiert hatte. Die ersten Damenkleider, Kostüme und Mäntel waren ausgestellt. Jeden und jeden Tag standen nun Dutzende von Arbeiterinnen davor und zeichneten mit hingebungsvollem Eifer, mit freudigem Fleiß die Modelle ab. Ihre Gesichter waren belebt und gespannt, ihre Wangen zeigten eine leichte Röte, ihre Augen glänzten vor erregtem Glück und ihre Hände arbeiteten flink und geschickt. Sie konnten sich nicht sattsehen an diesen Herrlichkeiten, ihre Eile im Zeichnen verriet, dass sie kein Stück auslassen wollten. […] Sie wurden fast magisch angezogen von allem Neuen und Unbekannten. Das Fremde beunruhigte, ja überwältigte sie geradezu. Ich sah Frauen und Mädchen in Moskau und später an der Krim, die waren gekleidet wie nach der Mode von gestern und heute zugleich, halb russisch, halb europäisch.“ (Graf 1974: 64f.)
Dieser Auszug aus Grafs Reisebericht zeigt, dass selbst die ‚vermännlichte‘ Sowjetfrau, die sich dem bourgeoisen Leben verwehrt und sich für die Entwicklung des kommunistischen Paradieses einsetzt, westliche Modebilder nachahmt. Des Weiteren kommt hier zum Ausdruck, dass auch von offizieller Seite ein Austausch gefördert wurde, wenn französische Schneider in die sowjetische Hauptstadt eingeladen wurden, um Kleidermodelle zu entwerfen, die zwar nicht in die Massenherstellung übergehen konnten – dazu war die sowjetische Bekleidungsindustrie in den 1930er Jahren viel zu wenig entwickelt –, aber sie wurden in der individuellen Herstellung adaptiert, und nach den eigenen Möglichkeiten kreativ rezipiert, sodass ein Hybrid – „halb russisch, halb europäisch“, wie es bei Graf heißt – entstand.5 Im Anschluss an Gertrud Lehnerts Untersuchungen zum deutsch-französischen Modetransfer im 18. Jahrhundert versteht auch dieser Beitrag Kleidermode als ein zentrales Medium des Kulturtransfers, das auch das Potential besitzt, inner- und interkulturelle Verflechtungen in ihrer Relevanz für die gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen sichtbar zu machen. Dabei zeigt sich an Mode geradezu exemplarisch, wie sich inter- bzw. transkulturelle Mischungen ergeben, denn als ein Phänomen der Oberfläche vermag sie jene Vorstellungen und Werte, die im Prozess kulturellen Austausches verhandelt werden, zu visualisieren. In Bezug auf den Modediskurs entwickelt sich die Transferdynamik im Spannungsfeld zwischen nationalen Bekleidungsstrategien und internationalen Modetrends. Dass nationale Bekleidungsstrategie nicht in erster Linie traditionelle russische Tracht und folkloristische Elemente in der Kleidersprache meint, sondern auch ideologisch motivierte, von ‚oben‘ verordnete Kleidercodes, stellt eine Besonderheit der sowjetrussischen Situation dar.
5 Als ein etwas späteres Beispiel für einen derartigen Adaptions- bzw. Transformationsprozess können die diversen osteuropäischen Do-it-yourself-Varianten des ChanelKostüms angeführt werden. Die teilweise auch in Stricktechniken imitierten ChanelSchnitte waren in den 1950er und 1960er Jahren in der Tschechoslowakei, in Polen, Ungarn und der DDR verbreitet; diese Satellitenstaaten des Ostblocks waren wichtige Transferräume auf dem Weg westeuropäischer Modetrends in die Sowjetunion.
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Im Anschluss an einen kurzen Abriss zu den methodologisch-theoretischen Prämissen der Kulturtransferforschung wird in einem Überblick die gesellschaftspolitische Kontextualisierung von Kleider- und Modediskursen in der Sowjetunion mit Fokus auf die 1950er und 1960er Jahre dargestellt. Kleidermode wird dabei als wichtiges Element der materiellen Kultur herangezogen, um entlang zentraler Leitbegriffe dieser Zeit wie ‚Stil‘ (stil’) und ‚Geschmack‘ (vkus) die komplexen Wechselbeziehungen zwischen Kultur und Gesellschaft, Individuum und politischem System zu beleuchten. Als eine Fallstudie, die vielfältige Transferbewegungen im sowjetischen Modediskurs sichtbar macht, versteht sich der letzte Teil dieses Beitrags. Er stellt eine sowjetische Jugendsubkultur vor, die Mitte des 20. Jahrhunderts unter dem Namen ‚Stiljagi‘ bekannt wurde. Deren Vertreter übernahmen vermeintlich westliche Vorbilder in den sowjetischen Kontext. Am Beispiel dieser ‚westlichen Modeinvasion‘ werden einerseits interkulturelle Einflüsse auf sowjetische Bekleidungskonventionen beobachtet, andererseits aber auch innerkulturelle Verschiebungen von Modecodes beispielsweise zwischen Funktionseliten und breiter Bevölkerung oder zwischen Metropole und Provinz beschreibbar. Nicht zuletzt wird an diesem Beispiel auch die Frage nach dem Widerstandspotential von Kleidermoden virulent.
MODE UND TRANSFER Der Mitte der 1980er Jahre von Michel Espagne und Michael Werner am Beispiel französisch-deutscher Kulturbeziehungen entwickelten Kulturtransferforschung geht es um eine Erweiterung der klassischen Einfluss- bzw. Rezeptionsforschung. Sie lenkt dabei die kulturenvergleichende Aufmerksamkeit weg von einer Fixierung auf Gemeinsames bzw. Trennendes hin zu Verflechtungen, Abhängigkeiten und Wechselseitigkeiten zwischen Kulturen. Dabei werden insbesondere die Transmitter, die Transferkanäle und die diskursiven Vorgänge im Aufnahmesystem fokussiert. Wichtig ist der Hinweis auf das zugrunde liegende Kulturverständnis dieser neueren Transferforschung, das einer essentialistischen Kulturauffassung ein ‚hypertextartiges‘ Verständnis von kultureller Entwicklung entgegensetzt. Kultur wird dabei nicht als eine Ansammlung von Artefakten, sondern als ein Prozess der Produktion von Bedeutung verstanden. Weitere Impulse für die Kulturtransferforschung kamen aus den Postcolonial Studies. Hier wird Transfer als dynamischer und prozesshafter Austausch, als ‚negotiation‘ zwischen verschiedenen Kulturen und zwischen den unterschiedlichen Bereichen innerhalb eines kulturellen Systems verstanden. Charakteristisch für alle kulturellen Transferprozesse ist die Spannung von Tradition und Rezeption, wobei Rezeption kein passives Empfangen meint, sondern als kreativer Prozess betrachtet werden muss, der aus vorgefundenem Material selektiert, verändert, bearbeitet und schließlich Elemente des Eigenen mit solchen des Fremden zu Neuem zusammenfügt (vgl. Lehnert 2007: 314).
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Dass in der Kulturtransferforschung Mode als Transferobjekt bislang weitgehend außer Acht geblieben ist, ist eigentlich frappierend, weil Mode – wie wir meinen – geradezu in idealer Weise die Prämissen und methodischen Ansätze der Transferforschung bestätigt. Mode ist per definitionem dynamisch und mehrdimensional und wird in Cultural Performances realisiert. Mit Gertrud Lehnert kann sie als ein „theatrales Phänomen“ bezeichnet werden, welches das, was verhandelt wird – Werte, Vorstellungen und Ideen – visualisiert und sinnlich erfahrbar macht (vgl. Lehnert 2007: 317). Darüber hinaus zeigt eine Analyse von Modeentwicklungen, dass es im kulturellen Transfer von Kleider- und Modecodes nie zu einer einfachen Übernahme kommt, sondern die Wechselwirkungen der Transferlinien ein komplexes ‚Schnittmuster‘ erzeugen, das sehr vielschichtige Anknüpfungen zu den verschiedensten Diskursfeldern einer Gesellschaft und intermedialen Vernetzungen bietet: Mode impliziert viel mehr als Kleider und Accessoires, „[e]in ganzer Lebensstil ist damit gemeint, […], nicht nur eine durch Konsum geprägte Attitüde, sondern eine durchaus ethische und (selbst-)verantwortliche Einstellung gegenüber der eigenen Kultur.“ (Lehnert 2007: 339) Insofern korreliert das System Mode mit jenem, der Transferforschung zugrunde liegenden dynamischen Kulturkonzept, sie ist nicht nur Kleidung als materielles Artefakt, sondern durch ihre Funktion als Medium der Inszenierung von Menschen bestimmt: „Mode ist immer mehr als Kleidung. […] Mode ist ein Tun.“ (Lehnert 2007: 316)
WERTEWANDEL UND KULTURTRANSFER – EIN ÜBERBLICK ÜBER DEN SOWJETISCHEN MODEDISKURS DER TAUWETTERPERIODE Als Josef Stalin im Jahr 1953 starb, herrschte anfangs eine unsichere Stimmung in der Bevölkerung, ein ganzes System an Normen und Wertvorstellungen geriet ins Wanken und das ohnehin verunsicherte sowjetische Individuum sah zunächst wenig Positives für sich darin. Die Verunsicherung der Menschen galt in erster Linie den zu erwartenden Veränderungen in der Innenpolitik. Diese Tatsache erklärt den späteren Optimismus und die Euphorie über die plötzliche „asynchrone Entstalinisierung“ (Plaggenborg 2011), die in der Mitte der 1950er Jahre begann. Diese Phase wurde als ‚Tauwetterperiode‘ bekannt, benannt nach dem gleichnamigen Roman von Il’ja Ėrenburg (1954), in dem es um den Frühlingsbeginn in einer Provinzstadt, den Absturz eines bürokratischen Fabrikleiters und die Liebesgeschichte seiner Frau mit einem Ingenieur geht. Die geistig-moralische Wende bisheriger Normen und Wertvorstellungen sowie der Verfall der politisch geprägten Tabus und des Einschüchterungssystems bedeuteten den Beginn einer neuen Zeit, die – metaphorisch gesprochen – den Frühling in alle Bereiche des sowjetischen Lebens brachte.
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Die Entstalinisierung und Demokratisierung der sowjetischen Gesellschaft wurden zur primären Aufgabe von Nikita Chruščev, auch wenn diese oft widersprüchlich umgesetzt wurden: In der Außenpolitik bedeutete das in erster Linie die Liberalisierung in der Beziehung zum Westen; in der Innenpolitik waren es die Rehabilitierung der Opfer des Stalin-Terrors und der Versuch, „die stalinistische Strukturkontinuität zu verändern“ (Plaggenborg 2011). Zu den zentralen Aufgaben gehörte jedoch, das groß angelegte Unternehmen Sowjetunion zu einem Sozialstaat zu machen. Dies geschah durch zahlreiche Reformen in der Sozialpolitik und in erster Linie durch das Versprechen, jeder Familie einen eigenen Wohnraum zu verschaffen. Die Wiederherstellung der Wirtschaft und die Produktion- und Konsumsteigerung nach einem Plansystem diente der Stabilisierung der neuen Regierung. Immer mehr Sowjetbürger blickten mit Hoffnung in die Zukunft und trugen zur Manifestierung der Normen der sozialistischen Lebensweise bei. Die Partei gewann zahlreiche Mitstreiter, die es den wenigen Systemkritikern nicht leicht machten. Zahlreiche Propaganda-Artikel über glückliche Bewohner neuer Wohnhäuser, die rasche Steigerung der Warenproduktion und nicht zuletzt die Erhöhung des sozialen und wirtschaftlichen Lebensstandards trugen zur positiven Aufbruchstimmung bei und verhalfen Chruščev zu hohen Sympathiewerten in der Bevölkerung. Gerade in der Periode zwischen den 1950er und den 1960er Jahren gewann die Konsumkultur an neuer und interessanter Dynamik. Die Verbreitung westlicher kultureller Einflüsse, die durch eine gelockerte politische Beziehung zum Westen entstand, sowie die vom Staat ausgehende zunehmende Legitimierung von materiellen Dingen spielten dabei eine wichtige Rolle und können als kulturelle Indikatoren der ideologischen Entwicklung bis in die 1980er Jahre betrachtet werden. Darüber hinaus hängen diese fest mit dem Konzept des neuen ‚Geschmacks‘ (vkus) zusammen, das Teil der Reformpolitik von Chruščev war. Der Kampf für den Kommunismus wurde in den Hintergrund gestellt und stattdessen „dem Kampf für die Entstehung einer neuen sozialistischen Kultur und kulturelles Wachstum aller sowjetischer Menschen“ (Žukov 1954: 159) zentrale Wichtigkeit eingeräumt. Das neue Konsummodel von Chruščev kann man als einen Versuch betrachten, sich an den politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungsprozessen in dem sich neu definierenden Europa zu orientieren. In erster Linie spielte dabei die Übertragung und Adaptierung der amerikanischen Populärkultur eine wichtige, wenn auch nicht die einzige Rolle. Als ein gutes Beispiel dafür kann man wohl jene in den Medien und der Öffentlichkeit kritisierte Subkultur der Stiljagi nennen, zu der in erster Linie junge Menschen gehörten. Dass gerade der amerikanische Lebensstil die Entwicklung der sozialistischen Lebensweise prägte, lag vor allem daran, dass die USA erst nach dem Zweiten Weltkrieg begannen, die Sowjetunion mit ihrem sehr hohen Wirtschaftswachstum als ernst zu nehmenden Konkurrenten wahrzunehmen (vgl. Merl 2010: 283) und entsprechend einen Austausch zu forcieren. Die
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Bereitschaft der sowjetischen Führung, einen Kulturaustausch mit den USA einzugehen, kann man auch als Versuch betrachten, sich der gegnerischen Herausforderung zu stellen. Der Übergang vom stalinistischen Terror als Instrument zur Machtstabilisierung zum Konzept des ‚Neuen Kurses‘ (novyj kurs), der auf ökonomische Liberalisierung und die schnelle Steigerung des Konsums setzte, sollte den friedlichen Kampf gegen den Kapitalismus zugunsten des Kommunismus im Voraus entscheiden (vgl. Merl 2010: 284f.). Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass der westliche Einfluss in Bezug auf Kleider- bzw. Modetransfers bereits in der Nachkriegszeit einsetzt. Schon mit dem Jahr 1944 entdeckten Sowjetbürger die sogenannte ‚Trophäenmode‘ für sich. Die Soldaten, die im Zuge der Kriegshandlungen in westeuropäische Länder kamen, lernten eine für sie bis dahin unbekannte und fremde Lebensweise kennen, und dabei auch neue Gegenstände des materiellen Alltags, die ein durchschnittlicher Sowjetbürger nie gesehen hatte. Einfache Soldaten ebenso wie hochrangige Offiziere schickten vieles von dem, was ihnen in die Hände fiel, nach Hause. Ein Zeitgenosse aus der Stadt Wologda erinnerte sich: „Damals glaubte man, dass hochwertige Waren nur in der UdSSR produziert werden. Als die Menschen westliche Waren sahen, waren sie erstaunt. Daher verbot der NKWD (Volkskommissariat für Inneres) die Einfuhr der Trophäen, aber die Armee setzte sich durch. Sie brachte alles mit, was man brauchen konnte.“ (Il’inskaja 2009) Es wurde absolut alles in die UdSSR gebracht – Modezeitschriften, Möbel, Kleidung, Geschirr usw. Viele dieser Gegenstände wurden in Kommissionsläden und auf Trödelmärkten verkauft. So lernten sowjetische Frauen französisches Parfum, Pelze, hochwertige Schuhe und elegante Hüte sowie neue Stoffe und zwar bereits getragene, aber schöne Kleidung kennen. Viele Attribute des westlichen Alltags gelangten über diese Transferkanäle in die Sowjetunion und veränderten gegen den Willen der Regierung das Leben, was nach Lilija Brusilovskaja (2000: 168) die Entstehung der Tauwetter-Periode forcierte. Als Chruščev ab 1953 das Fenster zur westlichen Welt weiter aufmachte, wurde der sowjetische Alltag immer bunter und fröhlicher. Die Ideologie wurde ein wenig blasser und revolutionäre Traditionen machten Platz für neue Werte. Dabei wurde die westlich orientierte materielle Kultur nicht einfach nur legitimiert, sondern aktiv und passiv unter verschiedenen Aspekten transformiert. Der sowjetische Durchschnittsverbraucher passte die auf vielfältige Art und Weise in die Sowjetunion transportierte westliche Lebensart seinen aktuellen Lebensbedingungen an. Damit setzte ein neues kulturelles Paradigma ein, das durch einen noch ungewohnten ‚bürgerlich-gemütlichen‘ Lebensstil geprägt war. In allen Bereichen der Populärkultur und der Konsumindustrie dieser Zeit herrschte der Kult des Heimischen und der Ruhe vor. Dazu gehörte eine schön eingerichtete Wohnung, eine betont weibliche Linie in der Kleidung und Mode, Filme und Lieder über Liebe und Freundschaft u.a. Dieser wird gleichzeitig eng mit der neuen ideologischen Vorstellung von der Notwendigkeit der Erziehung des Geschmacks in allen Bereichen des alltäglichen Lebens verbunden.
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Für die Übertragung der westlichen Mode und Konsumpraktiken in den sowjetischen Alltag spielte die Kinematographie eine große Rolle. Filme befanden sich schon in der Nachkriegszeit unter den Trophäen, darunter vor allem amerikanische Streifen, wie Der Dieb von Bagdad 6, Tarzan7 oder Gefährliche Reise.8 In der Tauwetter-Periode wurde die Bandbreite größer, vor allem italienische, französische und sogar indische Filme gewannen immer mehr an Popularität in der Bevölkerung. Der Kinobesuch wurde zu einer wichtigen Form der Freizeitgestaltung, die bis in die tiefste Provinz zugänglich war. Dabei wurden ausländische Streifen aus finanziellen Gründen oft über mehrere Jahre hindurch vorgeführt, und sie transportierten so Modetrends, die im Westen in der Zwischenzeit überholt waren. Ausländische Schauspielerinnen gehörten längst zum Vorbild für die sowjetischen Frauen. Aber auch heimische Künstlerinnen brachten westliche Trends über Umwege in die sowjetische Alltagskultur. Während Mode und Stil im Film eine Begleiterscheinung waren, war es für andere Massenmedien, wie Mode- und Frauenzeitschriften, primäre Aufgabe, die Bevölkerung über Geschmack und Mode zu informieren. Da sie einem breiten Publikum leicht zugänglich waren, nutzte man sie in erster Linie für ideologische Zwecke. Gleichzeitig vermittelten sie schon seit 1953 ganz offiziell westliche und speziell französische Modetrends, und Mitte der 1950er Jahre findet man darin zahlreiche Berichte und Fotoreportagen aus dem Ausland sowie Artikel westlicher Journalisten und Modedesigner zum Thema Stil und Geschmack. Nicht zuletzt informierten die Herausgeber solcher Zeitschriften, wie Rabotnica (Arbeiterin), Modeli sezona (Modelle der Saison), Žurnal mod (Modemagazin) oder Moda stran socialisma (Mode sozialistischer Länder) über die wichtigsten aktuellen Trends und Ereignisse in der Modewelt. Dazu gehörten in erster Linie Ausstellungen, Festivals oder sozialistische Modekongresse, die mit Ende der 1950er Jahre an Popularität gewannen. Trotz der ständigen Betonung der Differenz zwischen westlicher und sozialistischer Mode galt in erster Linie Frankreich als klares Vorbild für heimische Modedesigner. Diese Tatsache kann man wohl damit erklären, dass sich Frankreich im Gegensatz zu Deutschland gegen die ‚schädlichen‘ Einflüsse der amerikanischen Konsumkultur wehrte, um nationale Identität zu bewahren. Und wenn der Stil des New Look erst Ende der 1950er Jahre in die Sowjetunion kam, zu einer Zeit also, als er im Westen schon längst als überholt galt, eroberte Christian Dior nicht nur die Herzen der sowjetischen Frauen, die diesen Stil in erster Linie aus dem Film Karnevalsnacht9 kannten, sondern er kam auch bei den Vertretern der Regierung gut an. Die sowjetische Parteielite integrierte den New Look in die Männermode und schuf eine Art 6 7 8 9
The Thief of Bagdad. R.: Tim Whelan. USA, GB 1940. 102 Minuten. Tarzan, the Ape Man. R.: W. S. Van Dyke. USA 1932. 99 Minuten. Caravan. R.: Arthur Crabtree. GB 1946. 105 Minuten. Karnaval’naja noč. R.: Ėldar Rjazanov. UdSSR 1956. 74 Minuten.
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Ensemble – solide zweireihige Anzüge, einen Mantel aus Gabardine, dazu trug man einen breitkrempigen Hut (vgl. Lebina 2003: 209). Zu einem Wendepunkt nach den Jahren der kulturellen Isolation wurde das im Jahr 1957 stattfindende Weltjugendfestival, zu dem über 30.000 junge Menschen aus mehr als 130 Ländern anreisten. Ein interessantes Phänomen dieses Festivals war, dass Studenten aus verschiedensten Ländern alles Mögliche, von Strumpfhosen bis zu Regenmänteln, auf den Straßen verkauften oder verschenkten. Die sowjetische Miliz verhielt sich liberal, und es gab außer Verwarnungen meistens keine härteren Strafen (vgl. Zacharova 2007: 71f.). Abgesehen von der inoffiziellen Verbreitung der ausländischen Ware wurde das Festival zu einem wichtigen Markstein in der sowjetischen Kulturpolitik. Es setzte den Anfangspunkt der offiziell forcierten Entwicklung, Moskau zu einem weltweit anerkannten Kulturzentrum zu machen, was durch regelmäßig stattfindende Festivals, Wettbewerbe oder Ausstellungen erreicht werden sollte.
Abbildung 6: Das Internationale Jugendfestival, Moskau 1957
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Parallel zu dem Weltjugendfestival 1957 fand in Moskau der VIII. Internationale Modekongress statt, in dessen Rahmen sechs sozialistische Länder eine Kollektion bestehend aus 53 Kleidungsmustern für alle Lebensbereiche präsentierten. Wettbewerbe und Kongresse, an denen nur sozialistische Länder teilnahmen, wurden bereits seit dem Beginn der 1950er Jahre regelmäßig veranstaltet. Die sogenannte ‚Mode des sozialistischen Lagers‘ hatte allerdings weder mit der sozialistischen Realität noch mit aktuellen westlichen Modetrends etwas zu tun, vielmehr dienten diese Veranstaltungen ideologischen Zwecken und demonstrierten ihren eigenen ‚immer gleichbleibenden‘ Stil, der mit betont prächtigen Stoffen und extravaganten Silhouetten (vgl. Bartlett 2011: 181, 184) arbeitete. Dieser war bestimmend für die sozialistische luxuriöse Mode, die schon seit der Stalinzeit zum Zweck der Demonstration sowjetischer Erfolge und des Lebensstils im In- und Ausland diente und tatsächlich jenen vorbehalten war, die entweder zur administrativen Elite gehörten oder dazu bereit waren, entsprechend effektiv zu arbeiten. Unter ‚Mode‘ verstand man in dieser Zeit nicht so sehr die Entwicklung des Geschmacks und einer Kleiderkultur, also die Notwendigkeit, den Modetendenzen zu folgen, als vielmehr den Erwerb von ‚Luxusartikeln‘. Sowjetische modische Waren wurden nicht nur innerhalb des eigenen Landes und in einem geschlossenen Kreis sozialistischer Partner demonstriert, im Gegenteil war es seitens der Regierung von großem Interesse, diese auch in der westlichen Welt zu präsentieren. Aus diesem Grund nahm die Sowjetunion an zahlreichen internationalen Ausstellungen in New York, Leipzig oder Brüssel teil. Die sowjetische Presse berichtete regelmäßig über sowjetische Kollektionen, die im Ausland mit Begeisterung aufgenommen wurden. Darüber hinaus trugen weitere Initiativen zum interkulturellen Transfer in die sowjetische Mode und Alltagskultur bei: Beispielsweise gab es offizielle Handelsverträge mit dem Westen, sowjetische Beauftragte besuchten ausländischen Textilunternehmen, und es existierten auch illegale Transfers, die durch Handel am Schwarzmarkt oder mitgebrachte Kleidung von den wenigen touristischen oder Geschäftsreisen entstanden sind. Allerdings wäre der Eindruck falsch, dass die sowjetische Regierung in der Tauwetterzeit einen gänzlich neuen Weg eingeschlagen und die westliche (Alltags-)Kultur widerstandslos angenommen hat. Gerade in den 1950er Jahren erlebte auch die Volkskultur einen neuen Höhepunkt. Vor allem im Ausland wollte man mit der Verwendung von folkloristischen Elementen in der sowjetischen Mode deren Einzigartigkeit betonen. Diese Idee einer Neuinterpretation von Folklore in der Mode stammt aus den 1920er Jahren und ist mit dem Namen Nadežda Lamanova verbunden, die als erste und bedeutendste sowjetische Modedesignerin gelten kann. Im Jahr 1925 gewann eine Gruppe von sowjetischen Modedesignern unter ihrer Leitung den Grand Prix auf der Pariser „Exposition des Arts Décoratifs et Industriels Modernes“. Diesen Preis verdankte sie besonders der Mischung aktueller Trends mit heimischen Traditionen. Als man sich Anfang der 1950er Jahre erneut der Frage
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nach der Erschaffung der sowjetischen Mode zuwandte, rief man zunächst Modedesigner dazu auf, „keine ausländischen Modemagazine zu nehmen und diese zu kopieren, sondern etwas Eigenes zu erschaffen“ (Žuravlev 2006) und auf die Erfahrungen der 1920er bis 1930er Jahre und die eigene Volkskultur zurückzugreifen. Aber dieser Weg lief ins Leere, es wurden lediglich ‚Ausstellungsstücke‘ gemacht, die keinen Weg in die Massenproduktion fanden. So entschloss man sich auch aufgrund der verbesserten Beziehung zum Westen, Erfahrungen im Ausland zu sammeln und diese für die Erschaffung der sowjetischen Mode von deren Entwurf bis hin zum Verkauf zu nutzen. Aber der Verweis auf volkskulturelle und folkloristische Traditionen blieb als Trumpf gegen die bloße Nachahmung der ‚kapitalistischen Geschmacklosigkeit‘ und übertriebene Konsumsucht beständiger Teil des sowjetischen Modediskurses. Natürlich wirken bei der Definition der sozialistischen Alltagskultur unterschiedliche Faktoren zusammen. Wenn sich aber die Definition der sozialistischen Mode weder auf Dominanz des westlichen Einflusses, noch auf heimische Traditionen allein reduzieren lässt, bleibt die Frage, was sowjetischen Geschmack und Mode wirklich ausmachte. Nach welchen Kriterien wurden bestimmte Aspekte der westlichen Mode und Alltagskultur abgelehnt, was wurde hingegen übernommen bzw. adaptiert? Im Zuge der Wiederbelebung der Beziehungen zum Westen wurden Themen wie Schönheit und Ästhetik oder Mode und Geschmack verstärkt diskutiert. Begründet wurde die Fokussierung auf diese Themen mit der Tatsache der steigenden materiellen und kulturellen Ansprüche und der damit zusammenhängenden Notwendigkeit, die erworbenen Kompetenzen in diesem Bereich selbständig im Alltag umsetzen zu können. In Anbetracht wachsender internationaler Beziehungen wurde befürchtet, dass die kapitalistische Alltagskultur die Grundlage der sozialistischen Lebensweise in Frage stellen könnte. Dieser Gedanke führte dazu, dass Mitte der 1950er Jahre das Konzept des sowjetischen Geschmacks entstand, der in erster Linie das Verhältnis eines Individuums zu Alltagsgegenständen definierte (vgl. Gurova 2005: 18f.). Aus wirtschaftlicher Sicht bedeutete dieses Konzept eine Rationalisierung, denn die Aufmerksamkeit des Konsumenten wurde gezielt auf die Waren gerichtet, die vorhanden waren. Für das Individuum bedeutete dies offiziell die Bestätigung seiner Freiheit als Konsument, schließlich legte jeder selbst fest, welche Konsumgüter zu ihm und zu seiner Umgebung passten. Bei der Auswahl der (modischen) Kleidung drehte sich demzufolge alles um zwei zentrale Begriffe – ‚Einfachheit‘ (prostota) und ‚Bescheidenheit‘ (skromnost’). Diese wurden zu den Kernbegriffen der sowjetischen Modeauffassung, sie gaben auch die Erklärung dafür ab, warum in der Sowjetunion der Trendwechsel in der Mode im Vergleich zum Westen wesentlich verlangsamt ablief und das Warenangebot eingeschränkt war. Letztendlich relativierten diese Diskurse auch den Wunsch nach bloßer Nachahmung westlicher Mode. Ein Ideal, das einem Imperativ gleichkam, war die Gestaltung des eigenen Äußeren entsprechend dem ‚rechten Maß‘
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(čuvstvo mery). So verband man den Terminus Mode mit dem der Schönheit und trennte sie von dem der Individualität zugunsten des Kollektivismus ab (vgl. Vajnštejn 2010). Auch wenn die Begriffe ‚individueller Stil‘ (individual’nyj stil’) und ‚individueller Geschmack‘ (individual’nyj vkus) weiterhin existierten, verstand man darunter eine Gesamtheit der ästhetischen Kriterien und klassizistischen Ideale der Angemessenheit und des Anstands (vgl. Vajnštejn 2010), die der Kleidung den Ausdruck der sozialistischen Ideologie verleihen sollten. Demnach umfasste der Begriff Geschmack nicht einfach nur die Beziehung zu Mode und Konsum im Allgemeinen, sondern die gesamte äußere und innere Welt eines Menschen (Benehmen, moralische Normen und Einstellungen). Die parallele Übernahme ausgewählter Charakteristika und Prinzipien westlicher Alltagskultur wurde dabei zu einem wichtigen Faktor bei der Gestaltung der sozialistischen Lebensweise und bestimmte den gesamten offiziellen Diskurs rund um den sowjetischen Geschmack in den 1950er und 1960er Jahren. Nun vollzog sich zwar die Adaption der westlichen (Konsum-)Kultur und Lebensweise im Einklang mit der Politik, sie war aber auch heftig umstritten und stellte einen komplexen Prozess mit einer Reihe von Ungleichzeitigem dar. Letztendlich erzeugte der Staat einen Leitfaden für das alltägliche Leben und legte bestimmte Normen und ideologische Vorgaben im richtigen Umgang mit dem Kulturtransfer fest. Zusammen mit dem erhöhten Lebensstandard und der Ästhetisierung der sowjetischen Lebensweise, die in erster Linie immaterielle Wertvorstellungen und Rationalität der blanken Konsumsucht des Westens entgegenstellte, bekam die Regierung eine Zustimmung von der Mehrheit der Bevölkerung, die sogar deren Aufgabe als Kontrollorgan übernahm. Jene, die die für die Tauwetterperiode charakteristischen Haltungen, nämlich Optimismus und Stolz, nicht teilten oder aufgrund ihrer äußeren und inneren Einstellungen aus dem Konzept der sozialen Geschlossenheit fielen, wurden scharf kritisiert und verfolgt. Dies erlangte konkrete Sichtbarkeit im Umgang mit dem Phänomen der Stiljagi.
DIE SUBVERSIVEN MODETRANSFERS DER STILJAGI Stiljagi – darunter versteht man eine Jugendsubkultur in der Sowjetunion vom Ende der 1940er bis Anfang der 1960er Jahre, für die der Nonkonformismus und das Nachahmen der westlichen Lebensweise charakteristisch sind. Diese Jugendsubkultur zeichnete sich durch einen individuellen Kleidungsstil aus, der sich vom offiziell propagierten sowjetischen Stil deutlich unterschied. Die Stiljagi distanzierten sich durch ihr Äußeres von staatlich eingesetzten Normen und staatlich genehmigter Kleidungskultur. Im Folgenden werden Mechanismen eines sowohl inter- als auch intrakulturellen Transfers am Beispiel des Stiljagi-Phänomens dargestellt. Dafür wird zunächst die Subkultur der Stiljagi beschrieben, ehe Spezifika dieses Kulturtransfers betrachtet werden.
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Wie bereits oben erwähnt, haben die aus Westeuropa zurückkehrenden Soldaten des Zweiten Weltkriegs eine Menge an sogenannten ‚erbeuteten‘ Zeitschriften, Schmuck, Kleidung und Schuhen mitgebracht. Diese ‚Trophäen‘, die im Ausland schon aus der Mode kamen, wurden eine Grundlage der Protestgarderobe für die Stiljagi. Die Voraussetzungen für das Entstehen der Stiljagi-Bewegung nach dem Zweiten Weltkrieg in der Sowjetunion beschränken sich aber nicht auf das Vorhandensein ausländischer Kleidung und Elemente der westlichen Lebensweise in dem zuvor fast total abgeschotteten Land. Der deutsche Historiker Mark Edele führt noch weitere Bedingungen an, die zu ihrer Entstehung beigetragen haben. Erstens gab es eine Gruppe junger Leute, die die notwendigen Ressourcen für eine an Konsum und Freizeit orientierte Lebensweise besaßen. Zweitens blieb innerhalb der gesellschaftlichen Organisation ein Freiraum, der von dem ideologischen Imperativ der Jugendpartei, Komsomol, unbeeinflusst war.10 Schließlich beförderten die allgemeinen Probleme der sowjetischen Gesellschaft der Nachkriegszeit, die sich auf Klasse, Generationenverhältnis und Geschlechterrollen bezogen, das Entstehen der Stiljagi-Bewegung (vgl. Edele 2002: 37f.). Die Herkunft des Begriffs ‚Stiljagi‘ ist nicht endgültig geklärt. Es wird vermutet, dass er aus der Musik übernommen wurde: Bei Jazz-Fans bedeutete das Verb ‚stiljat‘ so viel wie ‚den fremden Stil eines Spielers kopieren‘ oder ‚eine ausländische Mode nachahmen‘. Diese Herleitung ist insofern naheliegend, als ausländische Musik einen wesentlichen Aspekt des Stiljagi-Konzeptes bildete, anfangs Jazz, später auch Rock’n’Roll (vgl. Fritsch 2002: 126). Die Musiktrophäen, und insbesondere amerikanische Musikfilme, boten Möglichkeiten zur Bewunderung und Nachahmung eines anderen Lebensstils. Über die Jazzmusik hinaus betraf dies auch die Kleidung und Verhaltensmuster in den Filmen. Erstmals wurde der Terminus in der Sowjetunion im Jahr 1949 verwendet, und zwar in der satirischen Skizze Stiljaga, einem Text, der in der Zeitschrift Krokodil unter der Rubrik „Typen, die in die Vergangenheit eingehen“ veröffentlicht wurde. In der Skizze wird eine Abendveranstaltung beschrieben, bei der ein ‚ausländisch‘ gekleideter, unwissender und eitler junger Mann erscheint, der auf seine unsinnig bunte Kleidung und auf seine Fertigkeiten in ausländischen Tänzen stolz ist. Er wird zum Gegenstand des Spottes und erregt das mäkelige Mitleid anderer Studenten. Auch erscheint in dieser Satire die Freundin des Stiljagas Mumočka, die „dem Anschein nach vom Umschlag einer Modezeitschrift kommt“ (Beljaev 1949). Die Skizze Stiljaga und der in derselben Zeitschriftenausgabe gedruckte Artikel über Kosmopoliten wurden zum Anfang einer Kampagne gegen den Einfluss des Westens.
10 Björn Fritsch führt eine Reihe ähnlicher Erscheinungen eines Alternativstils an, die zu der Zeit in anderen sozialistischen Ländern vorkamen: die Bikiniarze in Polen, die Jampec in Ungarn, die Pašek in der Tschechoslowakei (vgl. Fritsch 2002: 118).
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Zehn Jahre später veröffentlichte das westdeutsche Magazin Der Spiegel in der Rubrik „Aus der Presse der Sowjetunion“ den Artikel Die Hose des Genossen Gusew, in dem das sowjetische Phänomen der Stiljagi unter die Lupe genommen wurde. Das Aussehen der Stiljagi wurde dabei als kennzeichnendes Merkmal präsentiert: „Nach der Feder der Satiriker und dem Bleistift der Karikaturisten sieht der Stiljag gewöhnlich folgendermaßen aus: überlanges, stets kariertes Jackett in kanariengelben Farbtönen, Röhrenhosen, bunte Socken und Schuhe mit zwei Finger dicken Sohlen, auf dem Kopf eine Tolle. In den meisten Zeichnungen führt er wie besessen einen wilden Tanz auf oder lümmelt sich hinter einem Wirtshaustischchen.“ (N.N, Der Spiegel 1959)
Dass Stiljagi nicht ein weitgehend obsoletes Phänomen der sowjetischen Vergangenheit darstellen, sondern bis in die Gegenwart in Russland eine Rolle spielen, zeigt u.a. der 2008 produzierte Musikfilm Stiljagi (Regie: Valerij Todorovskij). Er ist gewissermaßen eine künstlerische Abhandlung des Themas und setzt sich mit dem kulturellen Stereotyp der Stiljagi auseinander. Zur Pointierung des Konflikts zwischen der sowjetischen Gesellschaft und den Stiljagi werden diese gegenüber der fast farblosen Masse als ein auffällig buntes Farbkonzentrat hervorgehoben. In der Anfangsszene des Films in graubraun gehaltenen Tönen wird die brave sozialistische Jugend im Park präsentiert. Im Kontrast dazu senden Kleidung und Manieren eine gegensätzliche Botschaft. Die ‚Komsomol’cy‘, die Jugendparteimitglieder, unternehmen einen Streifzug zur ‚Säuberung‘ des Versammlungsplatzes der Stiljagi und versuchen ihre Kleidung zu zerstören. In diesem Kampf verwenden sie die Schere, die sowohl zum Abschneiden der Haare als auch zum Aufschlitzen der engen Hosenbeine eingesetzt wird. Ziel dieser Aktion ist es, das Aussehen der Stiljagi zu zerstören, ihr Anderssein zu vernichten. Diese Filmszene erlaubt Einblicke in das reale Spannungsverhältnis zwischen dem Staat und den Stiljagi während der Sowjetzeit. Seit den 1950er Jahren wurden Stiljagi regelmäßig verfolgt. Die Vertreter der Subkultur wurden in der Presse verhöhnt, bei den Komsomol-Versammlungen gerügt, und die Ordnungsgruppen verfolgten sie auf den Straßen. Warum mokierte sich die sowjetische Öffentlichkeit derartig über die Stiljagi? Eine treffende Zusammenfassung der möglichen Antworten bietet Björn Fritsch: „Die Stiljagi können als Gegenbild der stalinistischen Gesellschaft ihrer Väter betrachtet werden. Die Väter trugen weite Hosen, also besaßen ihre Söhne enggeschnittene. Ihre Väter kümmerten sich wenig um das Aussehen ihrer Kleidung, daher antworteten ihre Söhne mit akkuratem Protest. Die Väter verurteilten und verachteten den bösen Westen, deswegen verehrten ihre Söhne ihn als ,gelobtes Land‘. Die Väter opferten sich für eine glänzende Zukunft, also gaben sich ihre Söhne ganz und gar der Gegenwart hin. Mit ihrem äußeren Erscheinungsbild distanzierten sich die Stiljagi deutlich vom staatlich empfohlenen, weit geschnittenen Kleidungsstil und rebellierten so gegen die von offizieller Seite propagierte
JULIA HARGASSNER, EVA HAUSBACHER, ELENA HUBER | 131 Massenkultur der Sowjetunion. Die puritanischen, offiziellen Werte des Systems dienten hierbei bestenfalls als Ansporn zu Trotz und Protest der Jugendlichen.“ (Fritsch 2002: 119)
Das Erscheinungsbild der Stiljagi war von der Idealvorstellung der den kommunistischen Ideen treuen sozialistischen Jugend weit entfernt. Die Manifestation des farbenfrohen Outfits wurde als ‚bourgeoise‘ mit einer Manifestation des fremden, westlichen Geschmacks gleichgesetzt. Die ‚westlich‘ abgestempelte Art sich zu kleiden wurde in dem total politisierten Staat als ein Übergriff des Westens empfunden. Wie sind aber die Stiljagi tatsächlich gesellschaftspolitisch zu verorten? In der sowjetischen Presse und Öffentlichkeit wurden die Stiljagi als eine ideologische Erscheinung gesehen, obwohl diese Bewegung überhaupt keine politischen oder ideologischen Grundlagen formuliert hatte. Mit ihrer Fokussierung auf die Gegenwart, ihrer an westlicher Mode orientierten Kleidung, ihren musikalischen Vorlieben und den freien Umgangsformen präsentierten die Stiljagi eine Lebensweise, die der sowjetischen Gesellschaft fremd war. Deswegen wurden die Stiljagi der Ideenlosigkeit und der blinden Anbetung des Westens beschuldigt. Allerdings war – was angesichts der massiven AntiStiljagi-Kampagne in der sowjetischen Presse und Öffentlichkeit erstaunen mag – die reale Anzahl der Stiljagi gering. Im Vergleich zu den Millionen Komsomol-Mitgliedern bildeten sie eine kleine Gruppe innerhalb der sowjetischen Jugend. Durch ihren Nonkonformismus und ihre Verschiedenheit verbreiteten sie einen gefährlichen Hauch von Freiheit. Die Vorwürfe gegen die Stiljagi von offizieller Seite entwarfen ein bedrohliches Bild: „Die echten Stiljagi ahmen nicht nur die Mode nach, sondern auch die bürgerliche Moral. Sie verraten sich nicht so sehr durch ihr Äußeres, als vielmehr durch ihr Wesen. Die Stiljagi sind eine ideologische Erscheinung. Plötzlich erscheint dann diesem Jungen oder jenem Mädchen das ‚Stil‘-Leben tatsächlich nachahmenswert und plötzlich gewinnen auch die abgeschmackten überseeischen Neuheiten für diesen oder jenen ihren Reiz. Man muß also die Rolle der Stiljagi entlarven, die für sich den Anspruch erheben, Träger des fortschrittlichen Geschmacks zu sein. Um dies jedoch erfolgreich tun zu können, muß man der Jugend einen guten Geschmack anzuerziehen verstehen.“ (N.N., Der Spiegel 1959)
Die Nachkriegszeit in der Sowjetunion schuf neue Bilder der Männlichkeit und Weiblichkeit. Das damals propagierte Konzept der Männlichkeit stand in direkter Verbindung mit der Fronterfahrungen, sodass all jene Männer, die für den Krieg zu jung gewesen waren, als unmännlich galten. Sie versuchten aber, die aus dem Westen mitgebrachte zivile Kleidung als eine andere dominante Form der Männlichkeit radikal zu imitieren. Damals waren die Teilnahme am Krieg und die Vorstellung vom patriotischen Sowjetischen so eng miteinander verbunden, dass den fehlenden Kriegserfahrungen durch die Ablehnung des Sowjetischen entgegengewirkt wurde (vgl. Edele 2002: 39).
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Im Kontext des Kalten Kriegs, der bereits mit der Truman-Doktrin von 1947 eingesetzt hatte, bedeutete das imaginäre Westliche für die ersten Stiljagi die Quelle ihrer Inspiration; umgekehrt wurden die Stiljagi von der sowjetischen Gesellschaft als eine Erscheinungsform des Westlichen und dementsprechend Feindlichen wahrgenommen. Wer waren nun die Vertreter dieser Subkultur? Wer war als Kulturvermittler tätig? Man unterscheidet zwischen zwei Etappen der Stiljagi-Subkultur. In der ersten Phase (1949–1957) war es eine elitäre Subkultur. Die ersten Stiljagi waren die Vertreter der sogenannten ‚goldenen Jugend‘, Kinder der Kultur-, Industrie- und Politelite. Ihre soziale und wirtschaftliche Situation ermöglichte ihnen gelegentliche Reisen ins Ausland. Allein die Vertreter der ‚goldenen Jugend‘ konnten in den späten 1940er Jahren an westliche Kleidung gelangen. Abbildung 7: Papina ,Pobeda‘ (Der ,Sieg‘ des Vaters)11
11 Bereits der Titel der karikaturistischen Abbildung Papina ‚Pobeda‘ (Der ‚Sieg‘ des Vaters) aus der satirischen Zeitschrift Krokodil thematisiert die negative Haltung gegenüber den Vertretern der Stiljagi-Bewegung, die Teil eines Generationenkonfliktes war. Die non-konforme Lebensweise des ‚Sohnes‘ wird durch die legere Kleidung, das zerzauste Haar und den betrunkenen Blick lächerlich gemacht. Insbesondere die bunte Krawatte mit dem typischen Affenmotiv verweist auf die Stiljagi. Im Bildhintergrund ist das väterliche Auto der Marke ‚Pobeda‘ (dt. Sieg), das sich nur die sowjetische Elite leisten konnte, erkennbar. Das Bild impliziert die Frage, ob die zeitgenössische Jugend dem ‚Sieg‘, den die Väter im sog. ‚Großen Vaterländischen Krieg‘ errungen hatten, standhalten kann.
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Dass es die gesellschaftliche Elite ist, die meist den Kulturtransfer initiiert, ist in der Transferforschung eine gängige Annahme. Diese ersten Stiljagi lebten in zwei Metropolen der Sowjetunion, in Moskau und Leningrad (dem heutigen St. Petersburg). Sie wollten aus der grauen, farblosen Masse hervorstechen und ihr Anderssein durch sichtbare Besonderheiten und ‚westliche‘ Elemente in ihrer Kleidung und ihren Manieren manifestieren. Indem die Stiljagi einem Grundmechanismus der Mode, nämlich ihrer Präsentation in der Öffentlichkeit, folgten, distanzierten sie sich von der restlichen Gesellschaft durch ihre Kleidung. Einen deutlichen Wendepunkt in der ersten Etappe der Stiljagi-Bewegung setzte dann das siebte Internationale Festival der Jugend und Studenten in Moskau im Juli 1957. Dieses Ereignis, das oben bereits in seiner Relevanz für das gesellschaftspolitische Klima der Zeit detailliert beschrieben wurde, veränderte die äußere Eigenart der Stiljagi. Die bunte und fröhliche Atmosphäre des Festivals brachte sowjetische und internationale Jugendliche einander näher und löste Jazzmusik und auffällige Kleidung von den Registern einer dem sozialistischen System oppositionellen Haltung. Die zweite Etappe der Stiljagi Mitte der 1950er bis Mitte der 1960er Jahre formierte sich aus Jugendlichen der städtischen Mittelschicht, die sich von dem Äußeren und den Manieren der ‚goldenen Jugend‘ angezogen fühlten. Diese jungen Menschen standen vor einer schwierigeren Aufgabe, da sie keinen direkten Zugang zu westlichen Waren hatten. Sie konnten nur über viele Umwege an die gewünschte Kleidung kommen, diese selbst nähen, in seltenen Fällen in Kommissionswarengeschäften kaufen oder beim Schneider bestellen. Stiljagi aus weniger begüterten Familien nähten oft ihre Regenmäntel und Hosen aus Planen, klebten auf die Schuhe den sogenannten ‚Grießbrei‘, eine Sohle aus Kautschuk,12 die in manchen Fällen bis zu zweieinhalb Kilo wog (vgl. Kozlov 1998: 72). Man kann gewisse Veränderungen in der Stiljagi-Garderobe im Laufe der Zeit beobachten. Die ersten Stiljagi trugen groß geschnittene bunte Zweireiher, breitkrempige Hüte, helle Socken, die unter den Hosen sichtbar waren, farbige Seidenhemden oder Hawaiihemden, Rollkragenpullover mit Hirschen, spitze Schuhe mit hoher Sohle, Krawatten mit Drachen-, Affen- oder Hahnmuster. Diese extravagante Kombination reflektiert die Quellen des Transfers: von den Kriegstrophäen bis zu der von der Elite mitgebrachten ausländischen Kleidung. Später wurde die Kleidung dieser Subkultur eleganter: enge Hosen in der Weite von 22 cm (im Gegensatz zu sowjetischen 32 cm weiten Hosen), Jeans, Schirmstöcke, schmale Krawatten. Dabei wurde die Männergarderobe zur Quintessenz der Protestbewegung, wohingegen Mädchen-Stiljagi keinen
12 In einer Szene des Films Stiljagi wird der Prozess der mühsamen Verwandlung eines jungen Mannes in einen Stiljaga dargestellt. Solche zum Teil illegalen Unternehmungen zur individuellen Herstellung eines Stiljaga-Outfits veranschaulichen die Hürden, die die Vertreter der zweiten Stiljagi-Etappe überwinden mussten.
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so klar definierten eigenen Stil hatten. Sie kopierten Modeschnitte aus den baltischen Modezeitschriften oder denen anderer sozialistischer Staaten: Sie trugen weite und enge Röcke, Hosen, helle Blusen mit Blumenmuster, Schuhe mit langen Spitzen. Eine genaue Betrachtung der Stiljagi-Mode im Lichte der Kulturtransferforschung zeigt, dass es sich um eine sehr grob formatierte Nachahmung des westlichen Kleidungsstils handelt, der meist durch ausländische Spielfilme, Zeitschriften und selbstverständlich ausländische Kleidung geformt wurde. Die aus dem Westen übernommenen Bekleidungs- und Verhaltensmuster wurden in den sowjetischen Kontext mithilfe semantischer Umdeutungen und praktischer Anpassungen übernommen. Die Stiljagi waren bemüht, den westlichen Stil, von dem sie nicht viel wussten, nachzuahmen. Letztendlich wurde einfach der Wunsch anders zu sein in einem ungewöhnlichen Kleidungsstil realisiert. Es war eine Mischung von Stoffen und Schnitten, die im Westen nicht vorkamen oder nicht kombiniert wurden; schließlich mussten die Stiljagi mit den Gegebenheiten in der Sowjetunion zurechtkommen und für die oft fehlenden Materialien einen Ersatz finden. Dadurch entstand diese schrille Kombination, die vor dem grauen Alltagshintergrund der Sowjetunion so sehr auffiel. Der Jugendprotest wurde vestimentär, das heißt über die Kleidersprache, ausgetragen; die Stiljagi wehrten sich gegen die Eintönigkeit des sowjetischen Alltags. Tatsächlich hatten die Stiljagi in der Sowjetunion nur eine sehr vage Vorstellung13 vom Leben im Ausland. Sie rekonstruierten eine nicht existierende Welt, die ihre Wünsche widerspiegelte und in der westliche Vorbilder nur als Anhaltspunkte dienten. Mitte der 1950er Jahre teilte sich die Avantgarde der Stiljagi-Bewegung in zwei Lager auf: die štatniki (abgeleitet von den Vereinigten Staaten Amerikas) und die bitniki, die sich für den Beat des Rock’n’Roll begeisterten (vgl. Fritsch 2002: 126). Bemerkenswert ist, dass sich die štatniki wie amerikanische Banker kleideten und einen offiziellen Kleidungsstil bevorzugten. Die breiten Zweireiher und Hüte waren keinesfalls dem sowjetischen Image fremd, dennoch hatten sie einen ausländischen Schliff, der den einheimischen Anzügen fehlte. Als eine weitere Etappe kann der intrakulturelle, innersowjetische Transfer bewertet werden, den der interkulturelle Transfer aus dem Westen im Laufe der Zeit in Gang brachte. Dieser intrakulturelle Transfer, der die Dynamik der Mode nochmals betonte, erstreckte sich über beinahe zehn Jahre. Die Peripherie-Stiljagi übernahmen die Methode der Nachahmung von ihren
13 In einer der letzten Szenen des Films Stiljagi unterhalten sich zwei Vertreter der StiljagiBewegung, wobei einer von ihnen über seine USA-Erfahrung berichtet. Der erste Stiljaga ist äußerst enttäuscht, als er erfährt, dass es in den USA keine Stiljagi gibt, und dass sie dort für ihr Aussehen ausgelacht werden würden. Die Enttäuschung über die Wahrheit bestätigt die These, dass die Stiljagi kaum Informationen über die westliche Lebensweise besaßen.
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Hauptstadtkollegen14 und gelangten zu ihrer Kleidung über den Weg des Umnähens von Vorhandenem. Infolgedessen entfernten sich ihre Modeschnitte und ihre Kleidung von den ursprünglichen Stiljagi-Vorbildern und damit noch weiter vom westlichen Stil. Während zu Beginn der StiljagiBewegung hauptsächlich von Moskau und Leningrad die Rede ist, gibt es die Stiljagi später auch in anderen Großstädten der Sowjetunion.15 Die Stiljagi-Bewegung war Mitte der 1960er Jahre fast verschwunden und vermischte sich mit anderen Jugendbewegungen. Hippies oder Beatles-Fans wurden dann ebenfalls als Stiljagi bezeichnet. Tatsächlich gelang es den Stiljagi, Teile der westlichen Kultur in die Sowjetunion zu übertragen. Spuren dieses Kulturtransfers kann man bis in die Entwicklung der sowjetischen Kleidungsindustrie nachverfolgen. So wurden Ende der 1960er Jahre enge Männerhosen16 in den industriellen Produktionsplan aufgenommen und die Palette der Alltagsbekleidung um buntere Farben und Muster erweitert. Diese Verflechtung mit fremden Einflüssen entstand aus der Fokussierung auf Konsum und Alltagskultur in den 1950er Jahren, wie dies im ersten Teil des Artikels thematisiert wurde. Die Stiljagi haben diese Entwicklung nicht unerheblich mitgetragen. Eine partielle Begeisterung für den Stiljagi-Stil hält bis heute an. Davon zeugen die Spielfilme, die das Thema behandeln, die Musikgruppen, die Stiljagi wieder aufleben lassen, und die vielen jungen Leute, die die wichtigsten Merkmale der Stiljagi-Garderobe wieder in ihre Kleidung aufgenommen haben.17 Bis heute werden literarische und journalistische Texte verfasst, die sich mit dem Thema Stiljagi beschäftigen. Gegenwärtig sind Hochzeiten und Schulabschlussbälle im Stiljagi-Stil in Russland sehr populär, was zahlreiche Fotodokumente im Internet belegen.18 Die historische Bedeutung des Stiljagi-Phänomens besteht vor allem darin, dass die Stiljagi im streng reglementierten sowjetischen Staat den Versuch unternahmen, eine Subkultur zu entwickeln, die sich ganz auf den Alltag kon14 Die russische Historikerin Svetlana Rafikova untersuchte regionale Stiljagi in Sibirien und stellte fest, dass die Befragten ihre Handlungsdominanz als Nachahmen der einheimischen hauptstädtischen Kollegen definierten. Die ausländische Komponente spielte keine Rolle und wurde dementsprechend nicht in Betracht gezogen (vgl. Rafikova 2010: 13). 15 Die Studien über die Peripherie-Stiljagi beziehen sich vor allem auf Sibirien (vgl. Rafikova 2010, Galkin 1996). 16 Bis 1964 gelang es sowjetischen Modedesignern, die Breite der Männerhosen von 28 auf 22 cm grundsätzlich zu verringern, was zur Unzufriedenheit eines konservativen Teils der Konsumenten führte (vgl. Zacharova 2007: 74). 17 Die kennzeichnenden Merkmale bleiben unverändert: die engen Hosen, die bunten Hemden mit auffälligen Krawatten, die charakteristischen Frisuren mit der Tolle und die Schuhe mit den dicken Sohlen für Männer; die bunten Kleider mit der betonten Taille für Frauen. 18 Vgl. Subkul’tura stiljagi. Diese Internetseite bietet Fotos und Videos unterschiedlicher Veranstaltungen, die im zeitgenössischen Russland im Stiljagi-Stil abgehalten wurden.
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zentrierte und die sich in Kleidungsstil und Musikgeschmack ihrer Akteure äußerte. Der Kulturtransfer, der der Stiljagi-Bewegung zugrunde lag, wurde vorwiegend vestimentär ausgetragen, dennoch vermittelte man zugleich auch kulturelle Werte, die einen Grundstein für Nonkonformismus, Gesellschaftskritik und Freiheitbestrebungen legten. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Beispiel der Stiljagi die verschiedenen Transferebenen offenlegt, wie sie generell für die Modeentwicklung typisch sind: Zum einen konnten wir beobachten, dass die Transfers auf geographisch-räumlicher Ebene zwischen den USA und der Sowjetunion in interkultureller Hinsicht, aber auch zwischen den sowjetischen Metropolen und der Provinz innerkulturell stattgefunden haben. Zum anderen zeigten sich insbesondere im Übergang von der ersten in die zweite Phase der StiljagiBewegung Transfers zwischen ‚high‘ und ‚low‘, d.h. von den besser situierten Kindern der Politelite zu jenen aus der gesellschaftlichen ‚Mitte‘. Aber auch der Transfer in die Gegenrichtung ist in der Aufnahme von Stiljagi-Elementen in die Massenproduktion der sowjetischen Kleidungsherstellung feststellbar. Dieser Blick auf die Entwicklung der sowjetischen Mode im Kontext von Transfer und Mobilität zeigt das dynamische Potential, das von der Mode auf die Entwicklung der Alltagskultur ausging, und widerlegt die etablierte Sicht auf eine, bis zur Perestrojka ‚bleierne‘ und statische sowjetische Gesellschaft. Es wird sichtbar, dass die Gegenüberstellung von sowjetischer Stagnation und westlichem Fortschritt eine Opposition bedeutet, die zu kurz greift, um die Komplexität der kulturellen Produktion in der Sowjetunion zu beschreiben. Unsere Analyse bestätigt einmal mehr, dass in der Ost-West-Kulturforschung an Stelle von zu vergleichenden und zu unterscheidenden Entitäten stärker die Vermittlungs- und Transferprozesse in den Vordergrund zu rücken sind. Sie zeigt, dass das gängige Bild von einer rückständigen sowjetrussischen Kultur, die den westlichen Kleiderstil je nach politischer Lage nachahmt oder ablehnt, eine stereotype Simplifizierung ist, die die verschiedenen Formen kreativer Rezeption und vielseitiger Transfers, die es natürlich längst nicht nur im Bereich der Kleidermode gab und gibt, ausblendet. Die vielfältigen Ent- und Neukontextualisierungen von Kleiderzeichen, die aus und in der transkulturellen Zirkulation von Moden entstehen, sind Visualisierungen jener Prozesshaftigkeit kultureller Praktiken, die jenseits der ‚alten Ordnung der Differenz‘ gesellschaftliche Transformationen bedingt.
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Medien in Medien. Zur Kulturanthropologie von Mode im Film DANIEL DEVOUCOUX
Bei der verträumten Beobachtung eines Kostümentwurfs der Kostümbildnerin Milena Canonero für Stanley Kubricks Barry Lyndon (1975) erinnere ich mich an ein Interview mit ihr, in dem sie über ihre Versuche spricht, sich von Kubricks Quellenvorlage und dem Druck des Regisseurs vorsichtig zu distanzieren. Kubrick wollte die Stimmung der berühmten Bilder des 18. Jahrhunderts – Gainsborough, Reynolds, Romney und vor allem Hogarth mit seinem demoralisierenden Blick und seiner Detailbesessenheit – auf den Film übertragen, auch in Bezug auf die Mode (vgl. Fischer 2004). Die Umsetzung der Malerei als direkte Quelle für Modeinspirationen war jedoch schwieriger, als Kubrick es sich vorstellte. Jedes Medium funktioniert nach seinen eigenen Regeln. Können wir daher von einer Mediengeschichte der Mode sprechen? Das Phänomen ist de facto nicht neu. Absichtsvoller noch als vermutet, beschreibt bereits die Buch- und Bildmalerei des Spätmittelalters und der Renaissance wie das Stundenbuch des Herzogs von Berry oder die großformatigen Augsburger Monatsbilder oder gar das Kostümbuch von Matthäus Schwarz die Moden der Zeit nach eigenen Regeln (vgl. Mentges 2002). Das ausgesuchte Kleidungsdesign der prachtvollen Stoffe war eigens, so behauptet der Designhistoriker Christopher Breward, für den Blick des Bildbetrachters gedacht (vgl. Breward 1995: 42–62). Porträts konstituieren für die jeweiligen Eliten ein ebenso feierliches wie extrem ritualisiertes und kodiertes Auftreten mit entsprechender Stilisierung. Die Wechselbeziehung zwischen Mode und Malerei besitzt seit der Frühen Moderne eine derartige Prägnanz, dass KunsthistorikerInnen wie Anne Hollander behaupten, die Geschichte der Malerei sei zugleich eine Geschichte der Mode (vgl. Hollander 1993: XI–XVI). Noch pointierter argumentiert Burcu Dogramaci in Bezug auf die fotografischen Arbeiten von Nadar, Disderi oder den Brüdern Brisson gegen Ende des 19. Jahrhunderts, wenn sie der Mode das Potential zuschreibt, neue mediale Formen zu generieren (vgl. Dogramaci 2011: 70–77).
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In Spielfilmen von F. W. Murnau1 bis hin zu Martin Scorsese oder Stephen Frears besitzt die Malerei eine starke Gestaltungskraft für die Mode im Film. In Die Zeit der Unschuld (1993) von Martin Scorsese zum Beispiel beginnt jede neue Szene mit einem Gemälde. Die Malerei ist als Medium der Mode im Kino häufig vertreten. Ein einziges Gemälde wie Das Mädchen mit dem Perlenohrring von Jan Vermeer hat den Filmregisseur Peter Webber 2003 zu einer prachtvoll inszenierten Geschichte inspiriert, die er nach den Vorbildern der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts gestaltet hat. Die Malerei beflügelt ebenfalls die Vorstellungen der Kostümbildner: „Jede Aufnahme ist eine Bildtafel“, so der afrikanische Kostümbildner Kandioura Coulibaly (Mali). „Als Kostümbildner male ich ‚tableaux vivants‘ – also lebende Bildtafeln – mit den Farben, der Tiefe des Feldes und mit den Bewegungen. Der Kostümbildner versucht die Träume des Regisseurs zu verstehen. Im Film ist das Kostüm ein Märchenerzähler, eine zweite leise Stimme, die die gleiche Geschichte erzählt wie die der Bilder, nur mit anderen Mitteln.“ (Interview mit Coulibaly 1999, Übersetzung D.D.)2 Seine Kollegin Sandy Powell (Die junge Victoria) sieht dies pragmatischer: „Es geht nicht darum, jemanden schön aussehen zu lassen. Wenn es gewollt ist, OK. Aber meine Arbeit ist es, die Rolle, also den Charakter zu verstehen und zu entscheiden, was er dementsprechend anziehen wird, so dass die Zuschauer wirklich an ihn glauben.“ (Interview mit Powell 2011)
MODEFILME? MODE FILMEN? Im Folgenden werde ich zeigen, wie diese Wechselbeziehung zwischen Mode und Medien im Film funktioniert. Karl Lagerfeld hat den Film Der Teufel trägt Prada von David Frankel (2006) mit Verärgerung kommentiert: „Anna Wintour [Chefredakteurin der Vogue, D.D.] war wirklich mutig, die Premiere des Films zu besuchen. Aber im wahren Leben ist sie hundert Mal besser als Meryl Streep, glauben Sie mir. Im Film zeigt sich Streep, die ich genial finde, wie eine Bourgeoise angezogen, mit grauenhaften Kleidern und einer häßlichen Frisur.“ (Interview mit Lagerfeld 2007) Auf die Frage, ob es überhaupt gute Filme über die Mode gäbe, antwortet Karl Lagerfeld kategorisch: „Nein. Und der Schlimmste von allen ist Prêt-à-Porter (1994) von Robert Altman. Der Film ist demütigend, voller Klischees. Altman hat 10 Jahre gebraucht um den Film zu vorbereiten. Das waren 9 [Jahre] zu viel.“ (ebd.) Dies war für mich Anlass, die beiden Filme eingehender zu betrachten, wobei es mir nicht darum geht, eine semiotische Film- oder Sequenzanalyse 1 Vgl. z.B. Filme wie Nosferatu (1922), Tartuffe (1926) oder Tabu (1931). 2 „Chaque plan est un tableau. En tant que costumier je peins des tableaux vivants dans les couleurs, la profondeur et les mouvements. Le costumier capte une partie du rêve du réalisateur et aide celui-ci à marcher vers l’écran.“
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vorzustellen, sondern aus einer kulturanthropologischen Perspektive die Beziehung zwischen Mode, Film und Medien im Spielfilm zu untersuchen. Im Gegensatz zum Film Der Teufel trägt Prada äußert sich Lagerfeld bei Prêt-àPorter nicht über die Qualität der Kostüme. Möglicherweise liegt der Grund darin, dass sie zum Teil von einem Kollegen entworfen wurden, nämlich dem Modeschöpfer Nino Cerruti, der erste Modeschöpfer, der systematisch für das Kino gearbeitet hat. Seine Äußerung über den Film Altmans unterscheidet sich daher von der Lagerfelds. „Wer Angst davor hat, lächerlich gemacht zu werden, nimmt sich selbst zu wichtig. In unserer Branche gibt es viele Exzesse. Es war höchste Zeit, dass uns jemand den Spiegel vorhält.“ (Interview mit Cerruti 2009) Die Modesatire Prêt-à-Porter nimmt die Neurosen und Tücken der Branche aufs Korn und präsentiert die Pariser Fashion Week mittels eines Mosaiks aus kurzen Szenen, die von einem beeindruckenden Staraufgebot gespielt werden. Der Teufel trägt Prada dagegen liefert eine klassische lineare Handlung, in der die „Reise“ der Journalistik-Absolventin Andy (Anne Hathaway) durch die Welt der Modezeitschrift Runway erzählt wird, wobei ihre schwierigen Erfahrungen mit der despotischen Chefredakteurin Miranda Priestly (Meryl Streep) im Zentrum stehen. Mit Mode kann die Protagonistin Andy zu Beginn kaum etwas anfangen, im Gegenteil, sie hat nicht die geringste Ahnung, wie man Dolce & Gabbana überhaupt buchstabiert und betrachtet den Job nur als Sprungbrett. Nach einigen Wochen voller Demütigung und Stress fängt sie an, ihre Erscheinung zu verändern, um den Erwartungen der Chefin zu entsprechen. Beiden Filmen fehlt in der Tat jegliche tiefergehende Auseinandersetzung mit dem Gegenstandsfeld Mode. Beide behandeln die Mode – wie im Kino allgemein üblich – als frivoles Objekt der Eitelkeit. Beide jedoch befassen sich mit der Thematik der Medien am Beispiel von Modepresse und Modefotografie.
MODEPRESSE VERSUS MODEFOTOGRAFIE In Der Teufel trägt Prada liefert die Modepresse – hier in Gestalt des prestigeträchtigen Modemagazins Runway – das wichtigste Handlungsfeld. In Prêt-àPorter dagegen scheint die Thematik der Modefotografie zunächst zweitrangig, ist aber strukturell betrachtet de facto allgegenwärtig. Diese Stellung wird sichtbar, wenn man die Rolle des Modefotografen im Film Altmans beobachtet. „Der die Frauen schön macht, ist der Modefotograf“, so lautet eine Aussage des Films. Entsprechend nimmt der Fotograf Milo (Stephen Rea) eine Schlüsselstellung ein bei der Vermittlung der Mode – daher wird er (im Film) von allen umworben. Tatsächlich existiert im realen Modegeschäft eine enge Kooperation zwischen Modefotografen und Modedesignern, von Edward
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Steichen und dem Couturier Paul Poiret bis zu Cindy Shermann und Rei Kawakubo (Comme des Garçons); bei Yves Saint-Laurent finden sich fast alle berühmten Modefotografen.3 Die Affinität zwischen Film und Modefotografie verweist auf eine lange Geschichte. Bereits der Modefotograf Edward Steichen inszenierte in den 1920er Jahren seine Bilder wie ein Filmregisseur. „Er arrangierte Situationen, kreierte Interieurs, komponierte surrealistische Szenerien, zog alle Register der aktuellen Verführung“, so kommentierte eine Wolfsburger Ausstellung sein Werk (In High Fashion 2008). Seither setzen viele Modefotografen filmische Gestaltungsmittel für die modischen Inszenierungen ein. Filmregisseure ihrerseits machen gelegentlich den Modefotografen zum Thema von Filmen, wie bei Michelangelo Antonionis Blow Up (1966) oder bei dem schon erwähnten Robert Altman in Prêt-à-Porter. Altman arbeitet im Modus der Modefotografie, indem zahlreiche kleine, sich überlappende Handlungen (Short Cuts) in der Art von Schnappschüssen arrangiert werden. Diese technische Referenz an die Modefotografie wird ergänzt durch deren inhaltliche Rolle im Film: Sie dient als ein roter Faden und als diejenige, die die Story aufmischt und verwirrt, jedoch ansonsten nicht weiter gewürdigt wird. Altman hingegen gibt einen kurzen Einblick in die modefotografische Arbeitsweise und Inszenierungstechnik, wenn Milo eine Sammlung von Stiefeln mit dem Siegel Lo fotografiert, begleitet vom Lied Nancy Sinatras These Boots are made for walkin’: Die Musik – noch ein weiteres Medium – dient hier als Klammer zwischen den Modebildern.
DAS MEDIUM KÖRPER UND DIE KUNST DER METAMORPHOSE Von besonderem Interesse ist Robert Altmans Auseinandersetzung mit dem Mode-Körper. Hochartifiziell inszeniert steht er bekleidet und unbekleidet im Mittelpunkt des filmischen Geschehens. Auf dem Laufsteg werden die Modelkörper nur in kurzen Einstellungen gezeigt. Altman collagiert dabei reale Modenschauen von Gaultier, Lacroix, Rykiel, Miyake oder Dior (Gianfranco Ferré) mit fiktionalen wie die turbulente Modenschau von Cy Bianco (Forest Whitaker). Das Model auf dem Laufsteg verkörpert für Altman unmissverständlich wie keine andere Filmfigur den Waren- und Bilderfetischismus der freien Wirtschaft, die vom Mythos der immerwährenden, sich erneuernden Warenzirkulation lebt: ein Nexuskleid! Es ist eine Musterinkarnation des paradoxen Konsumpathos, der mit dem Model auf der einen Seite den Körper zelebriert, auf der anderen jedoch seine natürliche Lebens-
3 Dazu zählen u.a. William Klein, Richard Avedon, Irving Penn, Peter Lindbergh, Duane Michals, Bettina Rheims. Vgl. Yves Saint-Laurent 2014.
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biographie – und damit auch seine Alterung und seinen Tod – ignoriert, ja negiert. Der ewig junge oder immer neue Körper steht auf der Modebühne für die Verdrängung des lebenden Körpers und der Zeit, scheint uns Altman zu sagen. Altman beschäftigt sich jedoch nicht nur mit den schönen, fast makellosen Körpern der Models, sondern auch mit den alltäglichen Körpern von Personen der Modebranche und der Presse und gegen Ende sogar mit dem Körper der Kinder, die für ein Werbefoto posieren müssen. Damit rückt der Körper unübersehbar in den Vordergrund des Films. Sowohl Filmgeschichte wie auch Mode stellen eine Geschichte des Körpers dar. Der Zusammenhang zwischen Mode und Körper geht auf das Konzept der Anthropologen Marcel Mauss und André Leroi-Gourhan zurück, deren Thesen in den 1990er Jahre neu gesichtet und in Bezug auf Kleidung als „Körpertechnologien und -praktiken definiert wurden“.4 Ebenso wie der Mensch lernt, wie man läuft, schreibt, isst oder sitzt, lernt er von Kindheit an, wie man sich kleidet, die Art also, „wie man von Gesellschaft zu Gesellschaft seinen Körper verwendet“ (Mauss 1989: 10). Leroi-Gourhan geht einen Schritt weiter, wenn er betont, dass jede Technik, auch die des Sich-Kleidens, ihren eigenen Rhythmus entwickelt.5 Die Mode liefert dabei keine Abbildung bzw. keine treue Wiedergabe des Körpers, sondern trägt im Film wie in der Realität dazu bei, den Körper immer wieder gesellschaftlich neu zu erfinden. Die Wirkung der Mode ist dabei nicht nur nach außen gerichtet, sondern auch nach innen als Mittel der Selbstverzauberung, der „Selbstcharismatisierung“, in der die Vorstellung von eigener Würde und Authentizität und das Versprechen von Einzigartigkeit enthalten ist (vgl. Craik 1994: 1–16). Genau darin besteht die performative Dimension der Mode als Technik des Selbst (technology of the self). In diesem Sinn könnte man die Mode als eine Gestaltung des Innen und Außen, ein ‚Mapping‘ des Körpers betrachten, oder als eine Technik der Verwandlung bzw. eine wahrhafte Kunst der Metamorphose des Körpers und damit der Person selbst. Dieses Potential machen sich die KostümbildnerInnen zu eigen, jeweils mit einer persönlich unverkennbaren ‚Signatur‘. Dennoch funktioniert der Film nicht wie die Realität. Er interessiert sich z.B. nicht bzw. nicht direkt für die sinnlich-kognitive Dimension, ob ein Kleidungsstück duftet oder übel riecht, ob es angenehm ist oder kratzt, leicht oder schwer zu tragen ist. Die einzigen, die diese sensitive Dimension des
4 Mauss hat sich allerdings nicht explizit mit der Thematik Kleidung auseinandergesetzt. Genauer geht Leroi-Gourhan vor, wenn er den Körper in acht Zonen segmentiert, nämlich in die kleidungstragenden Körperteile wie Kopf, Schulter, Brust, Hüften, Hände und Ärmel, Beine und Füße, um die Beziehung zur Bekleidung eingehender zu untersuchen (vgl. Leroi-Gourhan 1973, II: 198–240). 5 Er verwendet abwechselnd die Begriffe „Technik“ und „Produktion“ in diesem Sinn (vgl. Leroi-Gourhan 1973, II: 198–240).
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Selbst körperlich durch die Kleidung im Film erfahren, sind die SchauspielerInnen. Den Film interessieren nur die visuellen oder akustischen Effekte der Mode samt ihren medialen Eigenschaften. Körper und Kleidung sind daher im Film synthetische Konstrukte, die nach den Regeln des Films konstruiert und inszeniert werden.
MODE/KOSTÜME ALS MEDIEN Der Körper wird fast nie völlig unbekleidet oder entblößt gezeigt. Im Gegenteil, wie es Anne Hollander überzeugend nachgewiesen hat, wird der entblößte Körper in erster Linie als entkleideter Körper, d.h. immer aus der Perspektive der Kleidung wahrgenommen: „Kostüme werden dermaßen mit dem Körper identifiziert, dass die von ihnen ausgesandten Botschaften ohne Hinterfragung angenommen werden.“ (Hollander 1973: 674) Wenn die Kulturanthropologie im Unterschied zur Medienwissenschaft oder Kunstgeschichte Körper und Mode als eigene Medien versteht, so liegt dem das ethnografische Erkenntnisprinzip zugrunde, nämlich, dass ein von der Kultur unabhängiges menschliches Handeln nicht existiert. Kultur realisiert sich immer in einem Prozess der Mediatisierung und Inszenierung der ‚Natur‘, des Daseins, des Handelns und Denkens des Menschen (vgl. Hall 1999, Hepp 1999: 38–50). Ethnografie als Blick auf Kulturen ist daher ohne die Medien, in denen sie vermittelt wird, unvorstellbar. Auf dieser Grundlage kann jedes Artefakt als Medium zur Konstituierung von Kultur beitragen. Diese ermöglicht eine multiperspektivische Sicht, besonders auf Mode und Kleidung im Kontext der Kommunikation.6 Medien sind also nicht nur Instrumente, sondern Selbstzweck. Sie sind keineswegs nur das, was dazwischen liegt, wie der Begriff des Mediums eigentlich impliziert, sondern Medien sind dynamische und konstitutive Bestandteile der Kultur. Mode und Kleidung sind Medien nach Maß, die symbiotisch mit dem Körper wahrgenommen werden.7 Im Film finden sich also drei Medien mit ihrer jeweiligen Geschichte miteinander verknüpft, die wiederum zur Geschichte der Repräsentation gehören.
6 Fast alle aktuellen Untersuchungen gehen auf diese kommunikative Dimension von Mode und Kleidung ein, die Frage ist nur wie. Einsichten vermitteln vor allem die Untersuchungen, die ethnografisch nah am Feld und mit ausdifferenziertem Quellenund Belegmaterial arbeiten; so bei Gaugele (2002), Mentges (2012), McRobbie (1999), Jenss (2007), Hansen (2000), Ko (2007), Shukla (2008) u.a. 7 Auch der Begriff Self Media im Sinne Cloutiers (Montreal/Canada) ließe sich hier auf die Kleidung übertragen (vgl. Cloutier 1973: 75-92).
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MEDIALITÄT Zahlreiche FilmregisseurInnen entwerfen eigenhändig Kostüme,8 erklären die Kostüme zur Chefsache, wie Gore Verbinski in Fluch der Karibik (2003) und Sofia Coppola in Marie Antoinette (2006), oder finden Interesse daran.9 Denn die Kostüme bieten eine Vielzahl an performativen Möglichkeiten. Bereits ihre unmittelbare Medialität ist für Regie, Kameraführung und Schauspielkunst anregend. Kostüme, Frisuren, Accessoires, Schmuck und Kosmetik verleihen dem Körper eine visuell-emotionale Wirkung und Attraktivität im Bild, die der ‚natürliche‘ Körper für die Kamera nicht ausstrahlen kann. Die hochgradige Kodifizierung nackter Körper stellt die Kameraleute vor besondere Herausforderungen, wie dies die Szene mit den nackten Models auf dem Laufsteg bei Altman zeigt, der die berühmte Modefotografie von Helmut Newton Sie kommen zitiert.10 Strategisch eingesetzt, rufen Formen, Farben, Texturen und Stoffe, Strukturen, Rhythmen von Kostümen ganze Konnotations- und Denotationswelten auf. Darin liegt die Aufgabe sowie Herausforderung an die KostümbildnerInnen, diesen Schwellenraum – zwischen Materialität und Bedeutung – optimal zusammenzubringen und zu gestalten. Dieses gezielte Spiel mit Materialien und Bedeutung stößt jedoch auf kulturelle Grenzen, da der Inhalt eines Films kulturell unterschiedlich wahrgenommen wird. Rot, Gelb oder Grün und die Farbenskala insgesamt haben im deutschen, indischen, ägyptischen oder chinesischen Kino nicht die gleiche inhaltliche Bedeutung, sondern sind an lokale Kontexte gebunden. Die ideologisch-religiösen Konnotationen der Farbe Grün in zahlreichen Filmen des arabischen Kinos existieren im europäischen Kino nicht.
8 Wie Meliès, Leisen, Autant-Lara, von Stroheim, Visconti oder Eisenstein; auch Orson Welles, Kurosawa, Hitchcock oder Fellini. 9 So Stanley Kubrick, Jane Campion, Peter Weir, Stephen Frears, Peter Greenaway und vor allem die neue Generation von RegisseurInnen. 10 Zum einen lässt dies vergessen, dass Körper und Kleidung im Film durch und durch synthetische Konstrukte sind, die nach den Regeln des Films montiert und mit dem ‚natürlichen‘ Körper nur vage Ähnlichkeiten aufweisen. Im Zerlegen und Zerschneiden des Körpers durch die Kamera kommt die eigentliche Fetischisierung der Körpers zum Ausdruck. In diesem Prozess der Fragmentierung und Defragmentierung bewahrt, ja steigert die Mode ihre Macht über den Körper. Zum anderen handelt es sich aus kulturanthropologischer Perspektive um ein grundlegendes, aber kreatives Missverständnis. Dies aus dem einfachen Grund, weil der gesellschaftliche Mensch niemals nackt sein kann, so hat es der Ethnologie Claude Lévi-Strauss einmal prägnant formuliert – und ich möchte ergänzen, schon gar nicht im Film.
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PERFORMATIVITÄT DES MEDIUMS MODE Die Polyvalenz der Mode als Medium und Körpertechnik kommt besonders bei der Frage des Habitus zum Ausdruck, bei dem sowohl die soziale und individuelle Dimension (Charakterdarstellung) als auch das Stereotyp der Geschlechterkonstruktion gleichzeitig durch die Kostüme formuliert werden. Sich-Kleiden stellt auch im Film eine soziale und kulturelle Praxis dar: eine Habitustechnik und -strategie.11 Amerikanische Blockbuster wie Pretty Woman (1990) oder Titanic (1997) überzeichnen die Konstruktion des Habituskonzeptes, weil beide eine soziale Grenzüberschreitung der amerikanischen Ideologie folgend beschreiben.12 Entsprechend leben beide Filme von starken Kontrasten und Übergängen. Schwellenrituale wie die Badeszene in Pretty Woman, bei der die Protagonistin in einem weißen Bademantel erscheint, sind Schlüssel für das Verständnis des Habituskonzeptes (vgl. Devoucoux 2007: 65–67, Burger 2002: 131). In Titanic wird die Veränderung des sozialen Habitus ebenfalls durch die Kleidung gekennzeichnet, aber in einer anderen Weise, weil Jack Dawson (Leonardo DiCaprio), im Unterschied zu Vivian Ward (Julia Roberts) in Pretty Woman, nicht aus der Welt der Prostitution kommt, sondern ein Künstler zwischen den Welten ist. Entsprechend schnell eignet er sich den Verhaltenscode der Oberklasse an. Die dem Anlass gemäße Garderobe wie schwarzer Frack, weißes Hemd, Krawatte und passende Schuhe, die ihm seine kompetente Komplizin und Beraterin Molly Brown (Kathy Bates) beschafft, verhelfen ihm zum Zutritt – die Szene der großen Treppe – zu einer Festlichkeit der High Society (vgl. Cameron/Marsh/Lemos/Kirkland 1998: 88). Auch in diesem Fall übernimmt die Kleidung eindeutig die Funktion von Gender- und Habitustechniken, wie sie die schriftlichen und bildlichen Darstellungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts überliefern. Zum Zwecke der Kontraststeigerung wird die Gesellschaft grob schematisiert in eine erste und eine dritte Klasse, die hier kontrastiv aufeinandertreffen. Ein komplexeres Habitusmodell in Gestalt der Kostüme stellt der Film Nirgendwo in Afrika (2001) von Caroline Link vor, in dem eine dreifache Problematik illustriert wird: erstens die ungleiche und schwierige Beziehung zwischen den Geschlechtern im Zeitraum zwischen den 1930er und den 1940er Jahren am Beispiel eines jüdischen Paares aus der Mittelschicht. Der Film wird niemals schematisch, sondern betont stets die individuell-persönliche Dimension in dieser Beziehung. Zweitens die historische Perspektive auf
11 Für die Grundlagen des Habituskonzepts vgl. Mauss (1989: 372), Bourdieu (1994: 154–156) und Elias (1997: 76, 82). 12 In Pretty Woman folgen die Kostüme Schritt für Schritt der Logik der Story und der Verwandlung der Heldin. Auf diese Weise umgibt die Kostümierung eine beinahe sakrale Aura und sie verkörpert quasi die Handlung.
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den politischen Hintergrund der Machtergreifung durch die Nazis, auf die der deutsche Kleidungsstil der Protagonistin hinweist. Die dritte Ebene des Habitus, die durch die Kostüme ausgedrückt wird, verweist auf die Fremdheit und die interkulturellen Spannungen zwischen der westlich-europäischen Kleidung der beiden deutschen jüdischen Emigranten und der vom Kolonialismus geprägten afrikanischen Kultur. Als einziger gelingt es der kleinen schüchternen Tochter Regina (Lea Kurka), die Sprache des kulturellen Kleidungscodes zu verstehen und zu tolerieren, was sich an ihrer positiven Beziehung zum afrikanischen Koch Owuor äußern wird. Die Kostümierung als Habitustechnik ist daher im Film mehrfach besetzt: sozial und geschlechtsspezifisch, altersspezifisch, religiös und (inter-)kulturell. Durch diese Kostümierungen werden die spezifischen Werte, Vorstellungen und Bedeutungen jeder Gesellschaft als zweite Natur in den Körper eingeschrieben und im Erscheinungsbild präsent gemacht. Kleidungsforscher sprechen hier von einer „Einschüchterungstechnik“ (Craik 1994: 2), die zur praktischen Beherrschung der ‚Gesetze‘ des Feldes, also des symbolisierten Raums durch die Akteure führt und dabei bestimmte Distinktionsmodelle erzeugt: Der Raum der Europäer entspricht nicht dem der kenianischen Kulturen. Dazu ist die Perspektive in Nirgendwo in Afrika im Gegensatz zu Pretty Woman, Titanic, Prêt-à-Porter oder Der Teufel trägt Prada keineswegs androzentrisch ausgerichtet. Entsprechend verschieben sich die Kontraste bei der Auseinandersetzung zwischen europäisch-deutschen und afrikanisch-kenianischen Kulturen. Die kolonialeuropäische Prägung lässt sich leicht nachvollziehen: europäischer Lebensstil, Körpersprache und Verhalten, Moden, Geschmacksprägungen, Rhythmus, Kommunikationsregeln.13 Bereits die Geschlechterproblematik strukturiert in der westlichen Welt die gesamte Apparatur der Darstellung und der Repräsentation. Dennoch, so suggeriert uns Nirgendwo in Afrika, sind Kleidungsstücke nicht von vornherein weiblich oder männlich konnotiert, sondern die Bedeutungsgebung ist Gegenstand von Aushandlungsprozessen zwischen Menschen und Objekten – dies gilt auch als Grundregel der materiellen Kulturforschung. Der Rock wird daher nicht nur in Kenia, sondern in vielen Kulturen Afrikas nicht als ausgeprägt weibliches Kleidungsstück decodiert, sondern er gehört – wie der Film nahelegt – ebenso zur männlichen Kleidungskultur. Der kulturelle Kontext ist also bedeutungsstiftend, denn er liefert den Horizont für die Deutungsmöglichkeiten. Dementsprechend verändert sich die Gendertopografie (vgl. Weigel 1990; Liebrand 2003: 60–93).
13 Bourdieu spricht von Sozialakteuren, d.h. sozialisierten Personen, die fähig sind, die Unterschiede des Raumes wahrzunehmen. Zwischen Habitus und Feld entsteht so eine komplexe Beziehung ontologischer Art (vgl. Bourdieu 1994: 154).
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MEDIALE CHARAKTERISIERUNG UND INTERTEXTUALITÄT Ein weiterer performativer Zug der Mode als Medium ist die Technik der filmischen Charakterbeschreibungen. Sie macht sich die intertextuellen und intermedialen Dimensionen der Mode zunutze, indem sie ihre Anregungen für die Kostümgestaltungen aus dem gesamten traditionellen und modernen künstlerischen Repertoire schöpft – wie Theater, Malerei, Comics, Fotografie und Literatur – und auch auf museale Kostümsammlungen zurückgreift. Jedem Drehbuch, die Voraussetzung für jeden Film, liegt ein Text zugrunde, manchmal sogar ein vollständiger Roman; so ist es bei Caroline Links Film Nirgendwo in Afrika der gleichnamige autobiografische Roman Stefanie Zweigs. Wenngleich diese strukturelle Anlehnung an weitere Medien im Film unsichtbar bleibt, ist sie doch allgegenwärtig. Dabei stehen verschiedene kostümbildnerische Strategien zur Verfügung. Am bekanntesten ist die sogenannte ‚erzählende Garderobe‘, die auf die Ära einer der berühmtesten Kostümbildnerinnen zurückgeht, nämlich Edith Head, die für ihre Leistungen achtmal mit dem Oscar ausgezeichnet wurde. Diese Strategie beruht auf der Erkenntnis, dass Kostüme, Mode und Dramatik in einer ausgewogenen Relation zueinander stehen müssen (vgl. Gaines 1990: 180f.), was Prêt-à-Porter und Der Teufel trägt Prada, Titanic oder Ziemlich beste Freunde, aber auch Nirgendwo in Afrika beispielhaft illustrieren. Die Kostüme haben darin eine narrative Bedeutung, die im Sinn der Situation, der Handlung, der Stimmung und vor allem der Charakterisierung der Personen eingesetzt wird. Ziel ist es, anhand der Kostüme eine Person „rasch und effizient einzuordnen“ (ebd.: 188), um so Kohärenz oder die Veränderung dieser Filmfigur zu betonen. Man spricht hier von einer stilistischen Typisierung, die als Fingerzeig für das Publikum gedacht ist. Im Film wird eine äußere Erscheinung – der Schein – mit einer inneren Einstellung – dem Sein – in Verbindung gebracht. In der Kulturanthropologie spricht man in diesem Fall von einem sogenannte Kontinuitätsschema, das über ein uns gemeinsames soziokulturelles Repertoire von Handlungsmustern und -vorstellungen vermittelt wird (vgl. Devoucoux 2007: 66). Diese Annahme einer Kontinuität zwischen Innen und Außen – also zwischen Charakter und Erscheinung – als Schlüssel zur ‚Entzifferung‘ der Persönlichkeit, wie bei Der Teufel trägt Prada oder Pretty Woman, entspricht einer westlichen Vorstellung vom Selbst, die sich in die Epoche des späten Biedermeier (1840er Jahre) zurückverfolgen lässt. Es handelt sich dabei um ein städtisch-bürgerliches Konstrukt, das dem Soziologen Richard Sennett zufolge das Auftauchen „der Persönlichkeit in der öffentlichen Sphäre“ begleitet (Sennett 1983: 196). Im Unterschied dazu verstand die Aristokratie vom 13. bis zum 18. Jahrhundert die Beziehung zwischen dem Innen und Außen als Diskontinuität. Wenn sie dennoch gleichzeitig das Spiel der Erscheinung fortsetzte, dann deshalb, weil man mit dieser Illusion bewusst zu spielen verstand. Gemeinsam ist der adligen wie der bürgerlichen Welt, dass die Kleidung als Mittel für die
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gesellschaftliche Positionierung eingesetzt wird. Das heißt, Kleidung wird zu einer Technik der Gouvernementalität oder zu einer Mikrotechnik der Macht.14 Die moderne Gesellschaft und ihre Medien haben dieses Konstrukt einer Innen-Außen-Beziehung quasi naturalisiert. Klassisch-realistische Filme bieten gute Beispiele für diese fein gestimmte „Maschinerie der Naturalisierung“ (Hall 1980: 131). Dieser Prozess hängt, so argumentiert Stuart Hall, von der gewohnheitsmäßigen Nutzung ab, d.h. das Ausmaß der Gewöhnung bestimmt den Grad der Einbürgerung, der Verinnerlichung, der Normalisierung und der Selbstverständlichkeit dieser Codes (vgl. Hall 1980). Allerdings kann der Film dafür auf eine Geschichte zurückgreifen, die Kunst und Literatur vorbereitet haben. Das Genre des bürgerlichen Romans des 19. und frühen 20. Jahrhunderts – und seine Vertreter wie Honoré de Balzac, Stéphane Mallarmé, Arthur Conan Doyle, Theodor Fontane oder Thomas Mann – hat bereits die Kleidung als Schlüssel zur Persönlichkeit einer literarischen Figur eingesetzt, eine Technik, die bis heute z.B. von Wilhelm Genazino angewandt wird. Ein ähnliches Verfahren zur Charakterisierung von Personen wurde in der Bildmalerei des 19. Jahrhunderts verwendet, auch der heutige Erzählfilm bleibt diesem Verfahren weitgehend treu. Der Teufel steckt hier im Detail: Gesellschaftliche, religiöse, kulturelle oder psychologische Dimensionen werden verschlüsselt und so die Kostümierung zu einer vollständigen Habitustechnik perfektioniert. Über den Habitus wird das Individuum in die gesellschaftliche und kulturelle Umgebung eingebunden. Es sind die Veränderungen der Habitusdispositionen mittels der Kostüme, die die filmische Handlung schließlich dynamisieren, wie es beispielhaft Pretty Woman oder Der Teufel trägt Prada mit unterschiedlichen Akzentuierungen demonstrieren. Auch wenn Caroline Links Film auf den ersten Blick die traditionellen und klassischen Erzählstränge der Kostüme einzusetzen scheint, verfährt sie dabei subtiler und komplexer. Denn sie lässt die Kostüme zugleich differente Geschichten erzählen.15 Das heißt, dass das Potential der filmischen Narration mittels der Kostüme weitaus mehr Strategien zulässt. Links Verfahren gründet sich auf das kulturelle Konzept des westlichen Selbst, das als autonom und ganzheitlich verstanden wird. Wie gehen Filme aus anderen, nicht-westlichen Kontexten mit dem Thema der Beziehung zwischen Erscheinung und Selbst um? Ein Beispiel dafür liefert der indische Film Kal Ho Naa Ho (2003), d.h. ein Film aus Bollywood mit Drehort New York, in dem die Körpererscheinung zugleich mit einer ethisch-religiösen Bedeutung
14 Beide Konzepte stammen von Michel Foucault, das zweite ist dazu inspiriert von Michel de Certeau. Für Foucault sind die „techniques de gouvernementalité“ ein Zwischenglied zwischen „Machttechnik“ (techniques de pouvoir) und „Selbsttechnik“ (technique du soi) (vgl. Foucault 2001: 1604). 15 Wie etwa Jane Campion in Das Piano (1993) oder Stephen Frears in Gefährliche Liebschaften (1998).
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belegt ist, und der, wie fast alle Bollywood-Filme, nicht die Tür zur Realität, sondern das große Tor zur Phantasie öffnet. Selbst wenn Bollywood eine riesige moderne Filmmaschinerie voraussetzt, die nicht nur ein komplexes Netzwerk an Medien beinhaltet, sondern auch eine funktionstüchtige und eigenständige Modeindustrie, behält der Bollywood-Film seine indisch-kulturellen Traditionen und Prägungen bei, und damit auch ein anderes Verständnis des Subjekts. Bollywood-Filme beziehen sich zwar einerseits auf Hollywood und MTV, andererseits jedoch – und das ist entscheidend – auf Traditionen wie die epische Lyrik des Ramayana und der Mahabarata, das populäre Theater, etwa des ‚Thamasha‘- oder Marathi-Theaters in Maharashtra, des Bengali Yatra Theaters, des Ram-Lila Theaters aus Uttar Pradesh, des Nautanki-Theaters aus Rajasthan, des Yakshagana aus Karnataka und vor allem des Parsi-Theaters in den Großstädten (vgl. Gokulsing/Dissanayake 1998: 17–22). Der Einzug der westlichen Mode in Bollywood-Filme bedeutet daher keineswegs die Übernahme westlicher Kostümierungsintentionen, sondern öffnet einen weiten komplexen Bedeutungshorizont.
MEDIALE DIVERGENZ Im Unterschied zu Balzac, der die sichtbaren Details der Kleidung als Indizien für die Entschlüsselung der Charaktere einsetzte, werden Kleidungsdetails bei modernen Autoren wie Wilhelm Genazino dazu verwendet, die zersplitterte Persönlichkeit der Moderne zu beschreiben (vgl. Genazino 2004). Wenngleich der Film selten so intensiv diese Grenzen ausschöpft, tendiert er immer häufiger zu einer komplexeren Kostümierungsgestaltung, die auf die Widersprüche im Subjekt hinweist. Ein dafür übliches vestimentär-technisches Mittel ist die sichtbare Überlagerung von Kleidungsstücken, -farben oder -mustern. Die äußeren Kleidungsstücke (Outer Layer) sind im Sinn einer öffentlichen Rolle oder Repräsentation ausgestattet mit soziokulturellen Bedeutungen. Die inneren Kleidungsteile (Inner Layer) hingegen beziehen sich auf die private oder intime Sphäre der Person (vgl. Burger 2002: 70). Der Vorstellung von Autoren wie Genazino entspricht eher die divergierende kostümbildnerische Position im Film, die die oben beschriebene ausgewogene Strategie der Kostüme à la Edith Head als eine vermeidbare Tautologie oder Redundanz der filmischen Narration bezeichnet. Sie schlagen stattdessen vor, konsequent Spannungen zwischen Charakter und Aussehen, zwischen Kostümen und Stimmung oder Dekor aufzubauen, wie es Filme von Stephen Frears oder Luc Besson demonstrieren, in denen die Kostümierung abweichend oder in klarem Widerspruch zum Charakter positioniert wird. Manche gehen sogar so weit, die Kostüme andere, ja völlig autonome Geschichten erzählen zu lassen, wie einige Filme von Pedro Almodovar oder Peter Greenaway, z.B. Kika (1993) und Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber (1989).
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Zugleich verändern sich seit den 1990er Jahren die Formen dieser Konzepte visuell, indem das Konzept der Attraktivität bzw. der Attraktion eine Zuspitzung erfährt: Dies heißt konkret, das Vergnügen am Schauspiel (das Spektakel) der visuellen und akustischen Effekte durch eine reichhaltige digitale Farb- und Tonpalette zu steigern und eine verstärkte Fetischisierung des Körpers voranzutreiben, bis hin zu seiner Vermischung mit technischen Elementen oder Prothesen. Denn hybride Körper spielen heute eine immer größere Rolle. Diese neuen Strategien beeinflussen in der Folge die Kostümgestaltung. Digitalisierte Farben und Techno-Materialien dienen dazu, den hyperrealistischen Anspruch des Films einzulösen. Wenn der Held schwitzt oder die Heldin sich verletzt und blutet, muss die Kleidung diese körperliche Anstrengung oder den Schmerz detailgenau und mit größter Präzision und Intensität vermitteln: So sind die Kleidungsstücke beispielsweise zerrissen und voller Blutspuren wie in Terminator, Stirb langsam oder Gladiator. Parallel zu den traditionellen Erzählmustern des Kostüms werden Kostüme ab Mitte der 1990er Jahre mehr und mehr als Mittel der Distanzierung eingesetzt. Das Konzept der Maskerade, wie es Joan Riviere für die künstliche Konstruktion von Weiblichkeit dargelegt hat, findet auch in der filmischen Kostümierung zunehmend Anwendung. Das heißt, die Kostüme geben ihre hinweisende Funktion auf, um gesellschaftliche Rollentypen zu konstruieren, die eine Distanz zum Realen herstellen. Dies gilt insbesondere für das GenderScreening, das sich auf die Konstruktion von Geschlechtercharakteren nicht nur bezieht, sondern diese immer wieder neu erfindet.
DIE NEUE MASKERADE IN DEN MEDIEN Hat der Film früher die Distanzierung und Maskierung als unsichtbares Instrumentarium eingesetzt, um eine Figur aufzubauen, so wird dies allmählich zum eigentlichen Ziel. Diese filmischen Strategien beinhalten keineswegs die Rückkehr zur aristokratischen ‚Person‘ (mit ihrer Auffassung von Diskontinuität). Sie sind zu verstehen aus dem Kontext des Kristallbildes. Dieses Begriffskonzept hat Gilles Deleuze eingeführt, um die Virtualität oder die Irrealität des Gezeigten bzw. die Vermischung des Realen mit dem Virtuellen zu kennzeichnen.16 Man könnte daher an seine drei epochalen Kategorien des Bildes als eine Enzyklopädie der Welt, als Pädagogik der Perzeption und als professionelle Bildung des Auges noch eine zusätzliche vierte anfügen, nämlich die einer Technologisierung des Blicks bzw. der Blickregime samt der damit verbundenen virtuellen Möglichkeiten. In dieser Vermischung von Realem mit dem Virtuellen hat die spielerische Dimension der Kleidung eben-
16 Dies geschieht zu einer Zeit, in der die uns heute bekannte Form von Virtualität noch nicht existierte (vgl. Deleuze 1991: 95–131).
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falls drastisch zugenommen, vor allem bei den historischen und FantasyErzählungen. Hier scheinen alle Grenzen verwischt zwischen Fantasy, Geschichte und Computerspielen wie in Fluch der Karibik und beim Computerspiel Assassin’s Creed 4: Black Flag. Sie sind mittlerweile Bestandteil unseres normalen Blickregimes. Auch in Bezug auf Gendertopografie und -topologie im Film versuchen einige Filme heute vor allem in Europa, sich weniger an der Repräsentation von Geschlecht zu orientieren, als vielmehr seine Unrepräsentierbarkeit zu demonstrieren oder zumindest „die Unmöglichkeit sich nicht zu verkleiden“ (Boehme 2006: 475). Diese Strategie wird wesentlich vom Phänomen des Crossdressing oder des Crossgendering inspiriert, das selbst in konventionellen Filmen wie Altmans Prêt-à-Porter Erwähnung findet. Ein Spielfilm kann zwar diesen komplizierten und reflexiven Spielraum der Mode zwischen Pathos und Ironie problemlos umsetzen, stößt allerdings dabei auf ein kaum zu überwindendes Hindernis: Der existenzielle Bewegungsraum zwischen Identität/Affinität und Distanz in der Realität in Bezug zur Mode existiert im Film nicht. Die Distanz muss kinematografisch argumentativ konstruiert werden, z.B. als Maskerade oder als virtuelle Bildung wie in der Trilogie Matrix. Der Film liefert ansonsten eine alternativlose symbiotische Vision der Beziehung Körper-Kleidung, da die Welt im Film – selbst in der heutigen 3D-Fassung – nur über zwei Kanäle in den Kopf der ZuseherInnen gelangen kann: visuell und akustisch. Kleidung/Mode und Körper sind im Film untrennbar miteinander verbunden, d.h. die Kleidung wird immer als Bestandteil des Körpers und der Persönlichkeit wahrgenommen, kurz: Sie macht die Filmfigur aus. Von genau dieser Erkenntnis lässt sich die traditionelle Kostümbildnerei leiten. Der Film spitzt diese Beziehung durch gezielte und detaillierte Typisierung der Figuren zu. Im Unterschied zum Filmemacher betrachtet die moderne kulturanthropologische Position in Anlehnung an Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie (vgl. Latour 1991: 166–170) die Diskurse und die Artefakte als Akteure, die untereinander eigene Netzwerke ausbilden. Entsprechend lassen sich die Kostüme im Film als Akteure begreifen, die zwar den Schauspieler niemals ersetzen können, aber unabhängige kreative Narrationen und diskursive Dimensionen entfalten. Auf diese Weise tragen sie zur gesamten filmischen Narration bei. Aus dieser Perspektive ist der Mensch zwar nicht verzichtbar, er steht jedoch nicht mehr allein im Zentrum, sondern wird relativiert.
INTERTEXTUALITÄT DER MODE Bei Vivien Ward in Pretty Woman z.B. weisen äußere Kleidungsstücke auf Risse in der Persönlichkeitsstruktur hin. So trägt sie am Anfang eine kurze und breit dekolletierte Korsage und Hotpants, darüber eine oberschenkellange rote Dinner-Jacke. Sie dient ihr als schützende Verpanzerung, die auf ihre Ver-
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letzlichkeit anspielt. Ähnliches gilt für den kontrastiven Einsatz der Farben. Die Entscheidung über die Farbdramaturgie hat oberste Priorität bei der Absprache zwischen Kostümbildnern, Regie und Kameraführung. Diese Faszination für das Sichtbarmachen des Äußeren im Detail schlägt sich auch in der Filmtechnik nieder, die z.B. durch den Vergrößerungseffekt der Großund Nahaufnahme eine neue technische Dimension der Beobachtung entwickelt. Eine Zuspitzung des intertextuellen Potentials der Mode bietet ein Vergleich zwischen Romanvorlage und filmischer Umsetzung. Dieser kann wie in Der Teufel trägt Prada maskierende Wirkung entfalten, wenn die Kostüme die kritische Intention des Romans nicht nur kaschieren, sondern in ihr Gegenteil verkehren, nämlich in eine Aschenputtel-Geschichte mit Loblied auf die Haute Couture. Ein Bildungsroman wird in einen Akt der Eigenwerbung transformiert (vgl. Latour 1991: 178). Damit verlagert sich der Kern der filmischen Erzählung auf die Reise der Heldin durch die Welt der Modepresse und der Haute Couture. Vom Kleidungsstil einer Gymnasiastin zu Beginn des Films bis hin zum schwarz-grünen Louis-Vuitton-Outfit in Paris in der vorletzten Sequenz. Und tatsächlich hat der Film ausgezeichnete Werbung für Anna Wintour gemacht. Sie war nicht die einzige, die vom Film profitiert hat, weil zwischen Zuschauer und Mode im Film ein ‚unsichtbarer Dritter‘ steht, die Modeindustrie. Dieser Bezug zur wirtschaftlichen Dimension macht auf drastische Weise die besondere Ambivalenz sowohl der realen Mode als auch der vestimentären Kultur im Film deutlich. Denn die im Film erzeugten Wunschbilder versprechen durch den real vollzogenen Konsum der Mode Wirklichkeit zu werden. Zwar verläuft die Rezeption der filmischen Mode durch die Zuschauer nicht mehr so unmittelbar wie noch in den 1950er und 1960er Jahren, dennoch sind filmische Modebilder in die täglichen Konsumphantasien integriert und liefern wichtige Konsumimpulse. In dieser potentiellen kommerziellen Wirkung äußert sich der Bezug zur Gegenwart oder Aktualität, von dem ich eingangs gesprochen habe. Sally Field, die Kostümbildnerin von Der Teufel trägt Prada, hatte diesen Bezug bereits in früheren Filmen hervorragend zu vermarkten gewusst. Als verantwortliche Kostümbildnerin für Fernsehreihen und Spielfilme wie Sex and the City hat sie ein radikales Product Placement betrieben. Die Erfolge haben es zu einem regelrechten Geschäftsmodell in den USA gemacht und so einen neuen Typus von „Modezeitschrift“ kreiert. Diese Beziehung zwischen Mode und Film steht beispielhaft für die enorme Akzeleration der Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Medien in der heutigen Moderne.
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Schrille Outfits, extravagante Auftritte. Die Pose als Vermittlungsfigur HILDEGARD FRAUENEDER
Das Verhältnis von Kunst und Mode wird gemeinhin als eine sinnvolle Mischung aus Nähe und Distanz beschrieben. Kunst und Mode sind zwar zwei zu unterscheidende soziale Systeme mit je differenten Anliegen und Zwecken (vgl. Bippus 2007: 13), jedoch führten die feinen Verflechtungen und Durchdringungen von Kunst und Mode in den letzten Jahrzehnten nicht nur zu neuen Formen der Zusammenarbeit, sondern auch zu einer Angleichung der Visualisierungs- und Inszenierungsformen. Grenzüberschreitungen innerhalb der künstlerischen Genres und Gattungen, zwischen hoher und angewandter Kunst, fanden aber bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen ersten Höhepunkt. Damals bewirkten diese eine tendenzielle Enthierarchisierung der Künste, während es heute vor allem die Grenzen der unterschiedlichen Luxusmärkte sind, die, durchlässig geworden, gemeinsame Plattformen für Kunst, Architektur, Design, Mode bilden. StararchitektInnen bauen für Stardesigner Stores und Privatmuseen, die deren Sammlungen zumeist zeitgenössischer Kunst beherbergen; bildende KünstlerInnen gestalten Produkte und Schaufenster für Flagship-Stores großer Luxusmarken, die mitunter auch mit Kunstgalerien bestückt sind und den Luxusunternehmen noch mehr Chic verheißen. Die feinen Vernetzungen am Luxusmarkt kreieren zunehmend neue visuelle Plattformen, auf denen ein globaler Art-Style zelebriert wird. Luxuskollektionen werden in unkonventionellen Kunstumgebungen präsentiert und unkonventionelle Kunstausstellungen in Modehäusern. Dieses Aufeinanderprallen erzeugt zumeist weniger einen Zuwachs an Spannung, sondern arbeitet einer Spektakularisierung des Kunst- und Modebetriebs zu. Mode hat die der Kunst trotz aller Grenzüberschreitungen nach wie vor eigene Trennung von autonom/zweckfrei und angewandt nie mitvollzogen, Mode partizipiert jedoch, so die Literaturwissenschaftlerin Brunhilde Wehinger, an beiden Polen, ohne je ganz das eine oder das andere zu sein. Seit dem späten 19. Jahrhundert versucht im Besonderen die Haute Couture das Ästhetische zu profilieren und die Zweckmäßigkeit spielerisch zu negieren (vgl.
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Wehinger 2002: 170). Seit den 1990er Jahren eröffnen Kunstmuseen wie das Metropolitan Museum und der Louvre eigene Abteilungen für Mode – was ehemals in Kunstgewerbesammlungen archiviert und präsentiert worden ist, erfährt nun im Kontext der bildenden Kunst ganz explizit eine auratische Aufladung, mit der die Mode-Kreationen einem ästhetischen Genuss zugeführt werden. Der White Cube wird zum ‚Schonraum‘, der die Verstrickungen der jeweiligen Moden in kommerzielle Durchsetzungsdiskurse ausblendet. Haute-Couture-Kleidung wird aus der Zirkulation von Ware, Konsum und Glamour in den Status des Unveräußerlichen, Unberührbaren versetzt und im Museumsraum als Meta-Mode inszeniert (vgl. Wehinger 2002: 172). Mode und Bekleidung stellen seit Jahren eine Vielfalt an Ausstellungsthemen in Museen und Räumen zeitgenössischer Kunst bereit. Mode scheint dem Ausstellungswesen eine vergleichsweise höhere Zugänglichkeit und mit ihr verbunden auch einen Anschein von Relevanz zu verleihen, mehr noch, sie scheint einen Überschuss an Ästhetik und Sinnmöglichkeiten zu bieten.
BILD-AKTE DER FOTOGRAFIE Der Beitrag thematisiert die Grenzgänge und Übertritte zwischen den Feldern Kunst und Mode entlang zweier höchst unterschiedlicher Einsätze von Bekleidung in den künstlerischen Praktiken von Leigh Bowery und Cindy Sherman. Während Bowery aus der Modepraxis kommend im Kunstfeld reüssieren konnte, führte Cindy Sherman mehrfach kommerzielle Aufträge aus der Modebranche aus, womit sie ihren Rezeptionskreis verstärkt auf Mode- und Life-Style-Magazine ausweiten konnte. Beide Praktiken stehen paradigmatisch für einen wesentlichen Aspekt der zeitgenössischen Kunst, in der die Bezugnahme auf Bekleidung und Mode immer auch Körper- und Genderfragen kritisch ins Zentrum stellt. Der Untertitel, die Pose als Vermittlungsfigur, verweist bereits auf das mediale Verfahren, die Fotografie, insofern die Pose an sich, wie der Kunsthistoriker Craig Owens dargelegt hat, ein „durch und durch fotografisches Wesen“ besitzt (Silverman 1997: 47). Jedes Posieren nimmt das AngeschautWerden, nimmt den Blick und das Bild vorweg, ohne dass notwendigerweise eine Kamera auf die oder den Posierenden gerichtet sein muss. Bei Fotografien, auf denen Posierende abgelichtet sind, ist demnach eine doppelte Bildfunktion mitzudenken, insofern eine Pose ein bereits vorliegendes Bild oder eine visuelle Figur imitiert und weiters die Fotografie mit ihren eigenen Werkzeugen, wie Ausschnitt, Beleuchtung, Tiefenschärfe, Perspektive usw. das ‚Bild‘ formt. Auch Schnappschüsse, bei denen den Fotografierten keine Zeit gegeben ist, „sich in Positur zu stellen, speichern ein Sich-Geben der Person, das als Pose an einen anderen Blick gerichtet ist“ (Schade 1996: 77). Die Fotografie verknüpft also unmittelbar den Akt des Posierens und den Effekt der Pose (vgl. Dubois 1998: 19, 61), allerdings kann gerade die künstle-
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rische Fotografie genau in diese ,Umspringzone‘ von Akt und Effekt intervenieren. Noch eine weitere Vorbemerkung: Von Beginn an haftete der Fotografie eine Spur der Entstellung und des Unheimlichen an, als eine Kluft zwischen dem, was ein Foto zu sehen gibt, und dem, was wir zu sehen erwarten (vgl. Schade 1996: 67). Diese Dis-Funktion als Erinnerungsbild zeichnet Sigrid Schade an den Abhandlungen zur Fotografie von Siegfried Kracauer und Roland Barthes nach, die anhand der Fotografien ihrer Großmutter beziehungsweise Mutter diese kränkende Erfahrung machen: Erkennbar und beschreibbar ist beiden die „Entstellung“ an der getragenen Kleidung und Pose, insofern bei der Betrachtung alter Porträtfotografien zuvorderst die Modedetails den Blick festhalten, während die abgelichtete Großmutter oder Mutter verschwindet beziehungsweise erstere sich Kracauer als „archäologisches Mannequin“ zu erkennen gibt, „das der Veranschaulichung des Zeitkostüms dient“ (Kracauer 1977: 22). Die als 24-Jährige abgebildete Großmutter, die der Enkel nie zu Gesicht bekam – er kannte sie nur als alte Frau –, löst sich bei der Betrachtung der alten Studiofotografie in modisch-altmodische Einzelheiten auf. „Der Zeitgebundenheit der Photographie entspricht genau die der Mode“ (Kracauer 1977: 30). Auch Barthes’ Blick wird abgelenkt von dem modischen Beiwerk, der Kleidung, der Stoffe, die es längst nicht mehr gibt, die geliebte Mutter erscheint ihm als von „einer GESCHICHTE (des Geschmacks, der Moden, der Stoffe)“ vereinnahmt (Barthes 1986: 74). Erkennt er allerdings Details dieses modischen Beiwerks wieder, kann er Kleidung und Accessoires mit seinen Erinnerungen verknüpfen und das Abbild der Mutter kann sich mit seinem Erinnerungsbild decken (vgl. ebd.); dies erlaubt ihm auch, den Blick des anderen zu übersehen und den Blick der Kamera mit seinem eigenen Blick als übereinstimmend zu imaginieren (vgl. Schade 1996: 78).
LEIGH BOWERY – LOOKS In den 1980er Jahren erfuhren Leigh Bowerys exzentrische Inszenierungen in den Clublokalen Londons eine große Aufmerksamkeit und bis zu seinem frühen Tod 1994 war er in den subkulturellen Musik- und Modeszenen eine bekannte Größe. Jüngst sind es jedoch mehrheitlich die Kunstinstitutionen, in denen Leben und Werk rezipiert und verhandelt werden, so 2008 im Kunstverein Hannover, 2010 im CFA Berlin und 2012 in der Kunsthalle Wien mit der Ausstellung XTRAVAGANZA. Staging Leigh Bowery. Die Stimmung des Ausstellungsraumes beherrschten die zentral positionierten Kostüme/Körper/Arrangements, die in ihrer Präsentation wirkten, als wären sie lebendig, da die einzelnen Kreationen nicht beziehungslos nebeneinander gestellt waren, sondern durch eine leichte Drehung erreicht wurde,
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dass sie nicht als in sich geschlossene Formen im Raum standen, vielmehr mit ihrem Gegenüber in Dialog und Spannung versetzt waren. Leigh Bowerys unkonventionelles Verständnis von Mode und sein exzentrischer Umgang mit Bekleidung sind vor allem auch bevorzugtes Sujet der vielen Fotoserien, die unterschiedliche Fotografen zeit seines Lebens anfertigten. Die Zusammenarbeit mit Fergus Greer begann nach der legendären Performance 1988 in der Anthony d’Offay Gallery in London, in der Bowery an fünf Tagen jeweils mehrere Stunden in einem kleinen Raum agierte, der von der Straße aus durch ein von innen verspiegeltes Glasfenster einsehbar war. In täglich wechselnder Bekleidung interagierte er mit seinem Spiegelbild, prüfte seine Posen, Ausdruck und Mimik, das gesamte Repertoire an Möglichkeiten eines differenten Auftretens und Wirkens in gleichbleibender Schminke und Kleidung. Mit dieser Performance begann die Wahrnehmung und Wertschätzung Bowerys über die urbanen Plattformen der Subkultur hinaus in den künstlerischen Szenen und Öffentlichkeiten, zunächst jedoch ohne große Ausstellungsprojekte in Kunstinstitutionen. Der virtuose Kostümbildner und Performer Leigh Bowery nannte seine Kreationen „Looks“, was auf die Gesamtwirkung seiner jeweiligen Erscheinung als durch und durch gestaltetes Äußeres referiert, das als Auftretendes in der Fotografie die kongruente ästhetische ‚Passform‘ gefunden zu haben scheint.
Abbildung 8: Fergus Greer, Leigh Bowery Session III, Look 13, August 1990
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Die Zusammenarbeit mit dem Fotografen Fergus Greer, der damals großteils als Porträtfotograf arbeitete, basierte seinen Aussagen zufolge auf einer Idee Bowerys. Von 1988 bis kurz vor seinem frühen Tod 1994 sind über 200 Bilder entstanden, die seit Jahren äußerst erfolgreich im Ausstellungswesen zirkulieren. Zeitgleich zur Ausstellung in der Kunsthalle Wien zeigte die Wiener Galerie Christine König die Ausstellung Fergus Greer, Looks mit einer Auswahl an großformatigen und farbkräftigen Beispielen aus den Fotosessions mit Leigh Bowery. Die Ergebnisse der künstlerischen Kooperation der beiden zeigen, dass es bei Bowery um mehr ging als lediglich um eine vorgeführte Lust an Verwandlung und Verkleidung, um mehr als um das Tragen selbst kreierter Kostüme und textiler Outfits, die nur mehr rudimentär an Kleidung erinnern. In der Kunsthalle wurden die Fotoserien als Slideshow präsentiert, farbintensive und kontrastreiche Studioaufnahmen, die mittels professioneller Lichtkonzepte vor neutralem Hintergrund die endlosen Modulationen und Variationen eines Körpers zeigen, dessen Üppigkeit und Unförmigkeit in skulptural wirkende und in einer hoch ästhetischen Extravaganz vorgetragene Figurationen gefasst sind. Alle sind sie bestimmt durch jene besondere Weise des Sich-Zeigens, „vermittels derer er [i.e. Bowery] sich als Kunstwerk zum Ausdruck bring[t]“ (Bronfen 2009: 441). Sie zeigen weiters, dass Bowery nie als Drag, also „dressed as a girl“, auftrat, obgleich er das stets neu zu gestaltende Selbst „radikal auf die Frage der Geschlechtlichkeit“ (ebd.: 443, 447) fokussiert. Seine Gestaltungen zielen auf eine Geschlechterindifferenz, die jedoch das Erotische gleichsam mitbetonen (vgl. ebd.: 443). Obgleich der Blick zumeist nicht auf die primären Geschlechtsorgane gelenkt wird, werden diese doch auf raffinierte Weise exponiert (vgl. Sykora 2012: 12), beispielsweise indem der Schambereich auf Grund des immer wieder ausgeschnittenen Textils nur als vermeintlich nackte Körperzone erscheint, die jedoch mit Make-up und Haarschmuck versiegelt ist. Doch je betonter diese Zone sich als weibliches Geschlecht maskiert, desto stärker wird diese Lesart mit männlich kodierter Pose oder Accessoires wie Helm oder wulstartiger Penisausstülpung torpediert. Der Vergleich zeitlich auseinanderliegender Fotografien lässt nachzeichnen, wie sich die fotografische Inszenierung sukzessive aus den Bühnenreminiszenzen löst, die am Beginn noch als Kastenraum mitschwingen, in der die Pose noch weitaus theatralischer erscheint; zunehmend wird der Raum eliminiert und in raffinierter Ausleuchtung zur planen Fläche, aus der die Figurinen umso plastischer hervor- und unserer Aufmerksamkeit entgegentreten (vgl. ebd.: 13).
VERWANDLUNG UND GESTALTUNG ALS LEBENSFORM Verführen, alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen, Grenzen und Normen überschreiten, gegen jegliche Schamgrenzen antreten: Der in Szene gesetzte Körper in allen denkbaren Rhetoriken der Übertreibung ist dennoch weniger
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einem „narzisstisch geprägte[n] Exhibitionismus“ (Bronfen 2009: 447) geschuldet, vielmehr entäußert er in seinen gestalterischen Formalisierungen vom Kostüm ausgehend die künstlerische Konzeption einer radikalen Verwischung von Grenzen. Einige der Kreationen Bowerys betonen geradezu das Groteske und Monströse, dies aber immer verbunden mit einer uneingeschränkten Bereitschaft, sich den jeweiligen Looks ganz und gar einzuschreiben. Jedoch ist nicht die Kleidung als Struktur, der sich der Körper unterwirft, zu sehen, weit mehr ist sie Ausgang und Resultat einer Transformation, die nicht gegen den Körper, sondern durch ihn und mit ihm stattfindet. Entgegen den Praktiken der Mode- und Bekleidungsbranche negiert Bowery Hierarchien der Körpergestaltung und verweigert jegliche Bevorzugung von Körperzonen, die als bekleidungswürdig oder -notwendig erachtet werden. Die radikale Grenzverwischung von anatomischem Körper und der Bekleidung zeigt weiters, dass seine Entwürfe nicht lediglich auf ein AngezogenSein, auf Mode und Kleidung an sich reduzierbar sind; Kleidung wird nicht nur getragen, sie dient auch nicht einer bloßen Rahmung für kapriziöse Körperhaltungen und Gesten, wie noch bei der Figur des Dandys – Bowery verkörpert vielmehr die Gestaltbarkeit, die Wandlungsfähigkeit von Kleid und Körper. Mit Körpermasse und Kostümschnitt werden die Grenzen des Körpers gedehnt und gleichzeitig komprimiert, wird mittels Bändern zum Schnüren und Wülsten zum Auflagern weg- und vorgepresst. Im Aufreißen und Versiegeln führt er vor, dass jede Entgrenzung zu einer neuen Konzipierbarkeit und Figurierung führen kann. Katharina Sykora verweist im Katalog zur Ausstellung auf die kulturelle Tradition der Miraculae – auf Erscheinungen, „die Staunen erzeugen, weil sie unvereinbare Formen in sich versammeln“. Die „semantische Offenheit“ (Sykora 2012: 11) provoziert geradezu fortwährende Deutungen, die immer nur partiell gelingen können: Die Looks scheinen Kippfiguren vergleichbar, in denen das Ungehörige wie ein Widerhaken bei gleichzeitigem Fasziniert-Sein wirksam wird. Ein besonderes Merkmal der Kreationen bilden die textilen Verhüllungen von Kopf und vor allem Gesicht: jener Körperstelle, die als bevorzugter Ort von emotionalen wie auch personalen Ausdrucksebenen gilt. Das Gesicht als „ein öffentlicher und gleichzeitig intimer Ort“ (Schmidt 2010: 133) wird bei Bowery immer mit Zeichen überzogen, nie beliebig, sondern immer aus dem Kostüm heraus als dessen Verlängerung oder Fortschreibung gestaltet, während sein Ausdruck nie zur Maske gefriert, vielmehr den gesamten Körper zu einer skulpturalen Einheit formt, die aus sich heraus existiert. Die Gestaltung von Kopf und Gesicht folgt ausschließlich der ‚Wahrheit des Kostüms‘. So inkongruent seine Kombinatoriken und Amalgamierungen im Hinblick auf eine Normalität auch sind, radikal gegen die Einheit von Gestalt, Kleid, Habitus, Geschlecht und Klasse gerichtet, so betont kongruent gestaltet er seine einzelnen Looks (vgl. Abb. 9). Auffallend sind weiters die zumeist extrem hohen Plateau-Schuhe, die nicht nur einer buchstäblichen Erhöhung dienen, sondern auch weniger ein Gehen erlauben, denn den Auftritt verlangen – und mit dem Auftritt das Posieren.
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Zusammenfassend ließe sich sagen: Alles Groteske, Verstörende, stabilisiert sich in der „perfekt austarierte[n] Pose“ (Sykora 2012: 10) – im Einrücken des Körpers in die Pose.
Abbildung 9: Fergus Greer, Leigh Bowery Session IV, Look 24, August 1991
DIE POSE ALS SELBSTENTWURF Die Präsentationsform der Fotoreihen von Fergus Greer als Slideshow in der Ausstellung ließ einen beinah filmischen Blick auf die ausgeklügelten Bewegungsabfolgen Bowerys erkennen. Der Ablauf schien einem ‚Stop and Go‘ zu folgen, jedes Bild, jeder Stopp aus der Bewegung heraus gestaltet und der Bewegungsfluss stetig und pointiert in einer Pose stillgelegt. Fasst man das Reproduzieren eines Bildes, wie Craig Owens dies mit einem Lacan-Zitat formuliert, als Vorgang auf, in dem „das Subjekt sich in eine Funktion einrückt, bei deren Ausübung es erfaßt wird“ (Owens 2003: 92), dann lässt sich das Zitieren oder Reproduzieren nicht auf das Einnehmen einer Haltung reduzieren. Owens beschreibt den Vorgang auch als Anhaltung, die einem Aufschub gleicht und so den Widerspruch von erstarrt und bewegt aufhebt (ebd.: 106). Indem Owens das Posieren als zugleich aktiven wie passiven Akt bezeichnet, entkräftet er die These, dass auf dem „Feld des Sehens“ die Positionen „eindeutig nach Geschlechtern“ verteilt seien und hebelt den „Moralismus“ aus, der „die Enteignung des Subjekts durch den Akt des Fotografiertwerdens beklagt“ (Holschbach 2003: 13).
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Jede Fotografie basiert auf der „Figuration eines Blicks“ (Owens 2003: 103) und ist dadurch ein mit Macht ausgestatteter Akt. Jedoch kann davon ausgegangen werden, dass dem stilllegenden Blick des Fotografen das Posieren Bowerys vorausgeht, und weiters, dass das Einrasten des Körpers in ein Bild als Vorwegnahme des Kamerablicks sein Auftreten immer begleitet hat (vgl. Abb. 10). Craig Owens hat in seinen theoretischen Auseinandersetzungen mit der Pose darauf verwiesen, dass diese als ein Sich-Wehren verstanden werden kann, indem die Bedrohlichkeit durch den Bemächtigungsakt der Kamera in eine „Lust des Beobachtet-Werdens“ verwandelt werden kann (Owens 2003: 94, 109).
Abbildung 10: Fergus Greer, Leigh Bowery Session IV, Look 31, März 1992, Kontaktabzug
Gleichzeitig liegt jenes der Pose eingeschriebene Paradox von Bewegung und Stillstand dem Präsentationsmodus der Slideshow zu Grunde, insofern diese, wie erwähnt, den filmischen Eindruck verstärkt und nicht nur verunmöglicht, den Blick zu fixieren, sondern auch den fotografischen Modus der Dokumentation verdeckt. Im Vorbeiziehen der Bilder gilt das Augenmerk tendenziell den Verbindungen, den Übergängen, Varianzen und Metamorphosen. Gleichzeitig entsteht ein ähnlicher Verlebendigungseffekt wie schon bei der
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Installationsweise der Kostümfigurinen zueinander, der hier unterstützt wird durch die Vergrößerung der Projektion. Diese Effekte gehen auf Kosten der Indexikalität, die zwar nicht verloren geht, aber weniger spürbar bleibt. Weniger spürbar bleibt so auch die Vorstellung von einem „In-SicherheitBringen“, die Christian Metz als dem fotografischen Akt mit eingeschrieben erwähnt (Metz 2003: 220). Indem Bowery sich nicht nur weigerte, seine Kostümkreationen kommerziell zu vermarkten, sondern zumeist aus Geldmangel alte Kostüme zerriss, um daraus etwas Neues zu machen (vgl. Greer 2006), erscheint mir dieser Aspekt des In-Sicherheit-Bringens auch wesentlicher Anstoß zur Zusammenarbeit mit dem Fotografen gewesen zu sein. Wie seine Kostümkreationen folgen die Körpergesten und Posen einem Eklektizismus, bedienen sich eines kulturell verfügbaren Reservoirs, sind als Figurationen Reproduktionen von Bildern aus ethnografischen, künstlerischen und kulturellen Kontexten. Doch Bowery perfektioniert ganz bestimmte Posen, in und mit denen er eine „Intensität des Pathos“ zu betonen scheint, ein Pathos, das von einem zuerst von Aby Warburg beschriebenen Zusammenspiel von „rauschhafter Ergriffenheit und Besonnenheit“ (Bronfen 2009: 447) getragen ist: Jede darüber hinausgehende Handlung oder Erzählung würde von der Präsenz ablenken. Sein Posieren verbietet gleichsam dem fotografischen Bild, ein Off auszubilden, eine Narration mitzuliefern. Elisabeth Bronfen beschreibt Leigh Bowery als die letzte Diva, dessen Werk in der theatralischen Pose zu kulminieren scheint, aus der er nie herausfiel (vgl. ebd.: 450).
CINDY SHERMAN – DIE UNANGEMESSENHEIT DER POSE Die bisherigen Bemerkungen zu Pose/Posieren im Kontext von Mode und Fotografie sollen nun mit jenen künstlerischen Praktiken, in denen das Herausfallen aus der Pose vorgeführt wird und mit ihr Brüche und Risse im visuellen Feld thematisch werden, gegengelesen werden. Keine andere Arbeit eignet sich hierzu besser als das fotografische Werk Cindy Shermans. Auch ihre Fotoserien werden zuweilen mit den Begriffen des Grotesken, Monströsen, der permanenten Verwandlung charakterisiert, doch lassen sich gerade mit Blick auf die Posen die grundlegenden Differenzen aufzeigen. International bekannt wurde sie wenige Jahre vor Bowerys Auftritten mit der Fotoserie Untitled Film Stills. Ihren ersten Auftrag erhielt sie von Dianne Benson, einer Modedesignerin, Storebesitzerin und wichtigen Modenetzwerkerin. Die als Werbeanzeigen für die von Benson vertretenen Modedesigner konzipierte Fotoserie erschien in der Zeitschrift Interview im März 1983 (vgl. Respini 2012: 32). In der Anzeige für Issey Miyake (vgl. Untitled #117) sehen wir die Inszenierung einer wütenden, leicht hysterisch wirkenden Person, die sich so gar nicht einer Konvention von Modeaufnahmen unterwirft – das gewohnte Ineinander-Aufgehen von Körper, Pose, Ausdruck und
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der jeweils getragenen Mode, wie es in der Modefotografie üblich ist, wird bei Sherman radikal infrage gestellt. Vielmehr instrumentalisiert sie diesen wechselseitigen Identifikationsprozess, indem sie in dieser Reihe besonders auffällige, exzentrische Charaktere figuriert. Wie bei den nachfolgenden Aufträgen hat Cindy Sherman aus den kommerziellen Veröffentlichungen auch eine künstlerische Serie produziert, die sie bereits im Herbst 1983 in der New Yorker Galerie Metro Pictures präsentierte. Schon damals wurden ihre Arbeiten nicht nur in Kunstmedien diskutiert, auch in der Vogue, in Vanity Fair und Esquire, sogar im Spiegel erschienen Texte über ihre Arbeiten. Parallel dazu ist beachtenswert, dass ein Jahr zuvor das Cover von Artforum – erstmalig für eine Kunstzeitschrift – eine Modefotografie mit einem Kleid von Issey Miyake zierte (vgl. Neuburger 2012: 19). Selbstsicher und selbstbestimmt scheinen in dieser Modestrecke alle Register von Emotionalität und Exzentrik gezogen: Wut, Freude, Trauer, Prüdes oder Aggressives öffnen Abgründe, die sich den traditionellen Modenormen widersetzen.
Abbildung 11: Cindy Sherman, „Untitled #131“, 1983, Chromogenic color print, 240 x 115 cm, Edition unique
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Den Designer-Modellen wird jede vordergründige Aufmerksamkeit entzogen, ein gelingender Auftritt wird mit zumeist einfachen Kunstgriffen verunmöglicht, so in Untitled #131 (vgl. Abb. 11) mit einer amateurhaft wirkenden, nachlässig und unpassend gehängten Kulisse – was gleichsam als eine Parodie auf theatralische Inszenierungen glamouröser Mode und Kleiderdesigns zu lesen ist. So amateurhaft wie die Kulisse wirkt der Versuch der Kleid-Trägerin, eine elegante Pose einzunehmen. Sowohl die Frisur als auch der Gesichtsausdruck fallen förmlich aus der Zeit: Während die Frisur – da altmodisch – zu spät kommt, erfolgt der Kameraklick zu früh, löst Überraschung aus. Doch allein auf eine Kritik an fotografischen Darstellungskonvention von Mode lassen sich diese Aufnahmen nicht reduzieren, denn sehr wohl nehmen die Posen und Charaktere auch das Bizarre und höchst Artifizielle der Designerkleidung auf – beide interagieren sozusagen auf eine höchst subtil scheiternde Weise. Man könnte zuspitzend formulieren, dass das aus der Amateurfotografie bekannte Fehlschlagen des fotografischen Augenblicks ein weiteres Verfehlen analog führt: Jenes mit einer Haute Couture einhergehende Begehren nach Glamour, das, sobald es erfüllt ist, Wunschbild und Resultat auseinanderklaffen lässt. Bereits ein Jahr später wurde Cindy Sherman vom französischen Modelabel Dorothée Bis beauftragt, Aufnahmen für die Vogue Paris zu machen (vgl. Respini 2012: 32). In dieser Serie zeigt Cindy Sherman die Kleidermodelle nur noch ausschnitthaft in zwar kühler Atmosphäre, ihren Körper jedoch in einem desolaten Zustand: Die Trägerin wirkt niedergeschlagen oder verdrossen, mit apathischem Gesichtsausdruck. Jeder Attraktivität und Eleganz entbehrend kann man sich eine Vorführung eines Designermodells in einer der führenden Modezeitschriften kaum trostloser vorstellen.
AMBIGUITÄT UND EROTISMUS Auf Vermittlung von Rei Kawakubo, für die sie in der Folge eine Postkartenserie produzierte, mit der die Herbst/Winter-Kollektion 93/94 ihres Labels Comme des Garçons beworben wurde, erarbeitete Sherman für Harper’s Bazaar eine weitere Fotostrecke. Dieses Mal zeigt sie jedoch die Designermodelle in einer weniger düsteren Atmosphäre. Die Künstlerin konnte aus den Frühjahrskollektionen von Dior, Calvin Klein, Dolce & Gabbana u.a.m. frei wählen, deren Kreationen sie für die Re-Inszenierung bekannter Figuren aus Kunst, Film und Märchen nutzt. In Untitled #279 posiert sie in einem Brautkleid von Vivienne Westwood mit schmutzigen Socken und einer Unterhose auf dem Kopf in der Haltung des von Diego Velázquez 1644 gemalten Zwergs. Sind es bei Velázquez die rebellisch geballten Fäuste und die trotzig wirkende Miene, die den edel Gekleideten trotz oder wegen seiner körperlichen Versehrtheit in ein würdevolles Porträt bannen, bricht Cindy Sherman geradezu auf allen Ebenen mit den Vor-
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Bildern. Weder folgt sie den Semantiken einer Brautkleiddarstellung noch jenen der mit Beobachtungskraft und Feingefühl ausgezeichneten Porträtkunst: Das Weiß von Brautkleid und Bettlaken hat bereits jede auf symbolischer Ebene mit Weiß verknüpfte ‚Unschuld und Reinheit‘ eingebüßt, und wir sehen auch nicht jenen gemeinhin bevorzugten Moment der Braut- und Hochzeitsbilder, der in der Heraushebung des Besonderen Zeit als vergänglich negiert. In den kunstwissenschaftlichen Texten über die Fashion-Serien wird zurecht immer wieder darauf verwiesen, dass Sherman die Verfahrensweisen der Modefotografie aufsprengt, vor allem wesentliche Konventionen verrückt und diese damit zur Anschauung bringt und analysierbar macht. Sie markiert insbesondere den Unterschied zwischen dem inszenierenden Subjekt und dem Objekt des Begehrens, indem sie dieses immer ein Stück weit scheitern lässt, dieses immer ein wenig aus der Rolle zu fallen scheint und schlicht daneben wirkt. „Die Frauen wirken wie achtlos zurückgelassene, nicht mehr benutzbare Requisiten, wie die leeren Hüllen einer verlorenen Identität. [...] Festgehalten ist der Sekundenbruchteil einer lächerlich-rührenden Charade, die zwischen Glamour, spießig-schlüpfriger Erotik und Komik pendelt, ohne etwas davon genau und eindeutig zu sein.“ (Schulz-Hoffmann 2008: 113)
In diesem Zitat ist eine Ambiguität angesprochen, die uns eine eindeutige Lesart verbietet, die aber Anlass gibt, die Posen genauer in den Blick zu nehmen. Vordergründig zeichnen sich die Posen dieser Serie durch eine betonte Lässigkeit aus, die jedoch über die Art und Weise, wie die Kamera diese im Bild positioniert, durchkreuzt wird: In der gesamten Serie ist der Kamerablick auf den weiblichen Schoß fokussiert. Um das Ambigue zu artikulieren, folge ich Roland Barthes’ Beobachtung einer über die erste Lesart hinausgehende Sinnebene, die er an Filmfotos von Sergej Eisenstein macht. Er unterscheidet dabei drei Sinnebenen, den kommunikativen, den entgegenkommenden und den stumpfen Sinn, die sich nicht gegenseitig ausschließen, vielmehr überlagern und oszillieren und darin einen Zwischenraum öffnen (vgl. Barthes 1990: 47f.). Auf der kommunikativen Sinnebene lassen sich die Figuren dieser Fotostrecke als Braut, Geisha oder Fernfahrerbraut beschreiben, der entgegenkommende Sinn würde die an ein Gegenüber gerichtete trotzende und abwehrende Geste anzeigen. Doch diese wird, je länger man die Bilder betrachtet, durchkreuzt von einer Störung, einem Moment der Lächerlichkeit, die sowohl der Kostümierung (Barthes knüpfte den stumpfen Sinn an die Verkleidung, vgl. ebd.: 54) als auch der Kadrierung geschuldet sind, dem „stumpfen“ Aufnahmewinkel, der die spezifischen Relationen der Elemente im Bild zueinander und des Bildes zum Außerhalb des Bildes bedingt. Der auf den Schoß gerichtete Kamerablick positioniert uns gleichermaßen wie er auch für ein Auslösen hysterischer Symptome verantwortlich zeichnet und damit eine permanente Wendung des erotischen Begehrens initiiert. „Im stumpfen Sinn steckt ein Erotismus, der den Gegensatz zum Schönen und die nach außen
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gekehrte Unannehmlichkeit überhaupt beinhaltet, das heißt die Grenze, die Umkehrung, das Unbehagen und vielleicht den Sadismus“ (ebd.: 58). Die drei geschichteten Sinnebenen schließen sich nicht gegenseitig aus, und auch wenn der stumpfe Sinn das Gegenteil sagt, verzichtet er nicht auf das Widersprochene, so Barthes (vgl. ebd.: 54). Und nicht von ungefähr sind es in Barthes’ Beobachtungen Details der Kleidung und Schminke und weiters der Blickwinkel der Kamera, die uns abschweifen lassen und verhindern, dass wir uns „lustvoll in den Frieden der Benennungen zurückfallen“ lassen könnten (ebd.: 61). Im Medium der Fotografie muss das Off anders als im Film als Feld beschrieben werden, das von den Imaginationen der BetrachterInnen besetzt wird – als „nicht dokumentierte[s], immaterielle[s] Off“, das umso mehr fasziniert, als das Ausgeschlossene gegenwärtig bleibt und, wie Christian Metz weiter schreibt, nachgerade hypnotisch anziehend wirkt (vgl. Metz 2003: 222f.). Vor allem über sein Ausgeschlossen-Sein entfaltet es seine Wirksamkeit und Intensität. Auch wenn die Fotografien von Cindy Sherman über das Aktivieren eines Offs narrative Bilder sind, geben sie sich doch immer auch als Vorführung zu erkennen, als „genüsslich inszenierte Täuschungen und Maskeraden“ (Schulz-Hoffmann 2008: 114). Und dennoch, auch wenn wir die Mängel und Schwächen, die Versehrtheit und Verrücktheit, Lächerlichkeit und Unkultiviertheit als lediglich vorgeführt erkennen, lässt sich die Wahrnehmung nicht darauf beschränken. Die Fotoserien arbeiten einer Lust zu, die Kaja Silverman am improvisierenden Umgang mit Idealen festmacht: Als eine Lust, die „von der Gewißheit ausgeh[t], daß sich Ideale aus einer Vielzahl letztlich uneinlösbarer Figuren zusammensetzen, die immer nur vorläufig oder ansatzweise aktivierbar sind – durch Haltungen oder Posen, Kostüme, Make-up, theatralisches Auftreten, Beleuchtung und all die anderen, im Grunde äußerlichen, ‚Krücken‘“ (Silverman 1997: 60) der Fototechnik.
GEGEN DIE ZEITLICHKEIT VON FOTOGRAFIE UND MODE Wie bereits eingangs ausgeführt besitzt die Pose ein fotografisches Wesen, da in ihr alle Aspekte des Fotografischen gegenwärtig sind. Die Pose verleiht dem Bild körperliche Realität und umgekehrt kann die Pose allein das Bild erzeugen. Zur Pose gehört die Kategorie des Kostüms, nicht nur, da dieses vom Körper getragen wird, denn auch umgekehrt wird der Körper vom Kostüm getragen. Mit und in diesem Modus wird gleichsam alles Getragene zum Kostüm – so ist ein Mantel nicht mehr Schutz gegen Kälte, sondern Teil der Darstellung, Teil der Repräsentation (vgl. ebd.: 48). Das Kostüm kann aber auch einem ganz anderen als dem durch die Pose angestrebten Bildeffekt Vorschub leisten – es kann, wie bei den Modestrecken Shermans, gegen die Pose in Stellung gebracht werden und umgekehrt die Pose gegen das Kostüm gerichtet sein.
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Abbildung 12: Cindy Sherman, „Untitled #547“, 2010/2012, Chromogenic color print, 164 x 230 cm, Edition of 6
Ein Beispiel dafür ist die Fotoserie, für die Cindy Sherman auf das ihr Jahre zuvor schon angebotene Chanel-Archiv zurückgriff: Auftraggeberin war Dasha Zhukova, die als eine der reichsten Russinnen ihrerseits die Verknüpfung von Kunst, Mode und Lifestyle geradezu verkörpert – 2010 war sie Chefredakteurin des Kult-Magazins POP, für das als Sonderbeitrag zur Herbst/Winter-Ausgabe der Auftrag an Cindy Sherman erging (vgl. Respini 2012: 49). Auffallend an dieser Bilderstrecke ist die archaisch karge Landschaft im Hintergrund, die mystisch aufgeladen die in historischen Chanel-Kleidern Posierende rahmt. Bei dieser Serie greift Sherman auf eigene Fotografien isländischer Landschaften zurück und verbindet sie digital mit den Studioaufnahmen (vgl. ebd.). Die manchmal linkisch wirkenden Posen und Haltungen sind laut Sherman den oft viel zu engen Schnitten der Kleider geschuldet. Um diese vor einem Verrutschen zu bewahren, werden Stoffteile gerafft, eingeklemmt, mit einer Hand festgehalten (vgl. Abb. 12). An Stelle von Makeup verwendet sie Photoshop, mit dessen Tools sie Gesichtszüge verfremdet, den Ausdruck verändert und jedes die Entstehungszeit verratende (d.h. auch modische) Detail weitgehend tilgt. Beachtenswert an dieser Serie ist, dass Hintergrund und Figur sich zumeist fremd bleiben und die digitale Montage absichtlich amateurhaft wirkt, wodurch die Landschaft als Hintergrund austauschbar wird und als Bühne des
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Auftritts nicht mehr wie in früheren Arbeiten der Narration zuzuarbeiten scheint. Die Posen wirken strenger, statischer, konventioneller in Hinblick auf alte Studioaufnahmen. Das Durchdeklinieren von Emotionen und emotionalen Erscheinungsweisen weicht einem beinahe würdevollen Tragen und Vorführen historischer Kleider-Modelle, jedoch als Re-Figuration des aus der aktuellen Modefotografie sukzessive verschwundenen betont Posenhaften. Während in der kommerziellen Modefotografie die statische Pose als Zeigeform der jeweiligen Produktlinie – sozusagen „als Dienst am Label“ – als tendenziell überholt gilt (vgl. Brandstetter 2007: 251) und Haltungen, Stellungen und Gesten nun so eingenommen und gesetzt werden, dass ein Posieren verborgen bleibt, arbeitet Sherman in dieser letzten Serie geradezu anachronistisch – auch in Hinblick auf ihre eigenen Modeserien. Diente das gerade noch „genügend gute“ (vgl. Silverman 1997: 60) Posieren in den früheren Serien einer Eintragung in ein Drama, zeigt sie nun in der Vertiefung der Pose eine annähernde Kongruenz von Gestalt und Kleid. War es in den Serien zuvor die unangepasste Figur und unangemessene Haltung, die dem Getragenen so offensichtlich widersprochen hatte, wird hier vermittels der Pose eine andere Ebene der Interpretation angesprochen: jene der Zeitschichtung im Sinne der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Auf dieser Ebene verbinden sich Landschaft, Pose/Ausdruck und Kleid –, die alle weder historisch noch aktuell sind, aber zugleich beiden Zeitebenen zuarbeiten. Auch dieser Auftrag wurde mit veränderten Landschaftshintergründen und zum Teil neuen Platzierungen und Einfügungen der Figur in eine künstlerische Serie weiterverarbeitet. In der so offensichtlich apparativ-technischen Konfiguration von posierender Figur und Landschaft öffnet sich in der Montage ein ambiguer Zwischenraum, der zwischen Kohärenz und künstlicher Zufügung oszilliert. Siegfried Kracauer hat im erwähnten Text auch die Landschaft und alle weitere Gegenständlichkeit auf einer Fotografie als „Kostüm“ bezeichnet (vgl. Kracauer 1977: 31), und als solches scheint die Landschaft bei Cindy Sherman in einer mal mehr und mal weniger gut sitzenden Passform zu fungieren. In den wenigen Texten zu dieser Serie ist zu lesen, dass hier keine wiedererkennbaren Referenzen, keine festgelegten Codes zu finden wären (vgl. Burton 2012: 63). Ich meine dagegen, dass sich diese lediglich nicht sofort zu erkennen geben. Zur 55. Biennale in Venedig 2013 war Cindy Sherman eingeladen, eine Ausstellung in der Ausstellung zu kuratieren; sie zeigte u.a. Fotoserien von Studioporträts um 1990 und alte Fotoalben aus ihrer eigenen Sammlung, in denen ähnlich wie hier der Blick der Porträtierten zwar erwartungsvoll in die Kamera gerichtet ist, Emotionen und Gefühle aber sorgsam vermieden sind und Haltung und Pose gezeigt werden. Vor jenen der Zeit enthobenen Landschaften montiert Sherman eine Figur, deren Posieren die Codes der historischen Studiofotografie aufgreift, mitsamt den austauschbaren Kulissen, die immer schon einer Künstlichkeit des jeweils repräsentierten Status zugearbeitet haben. Hierzu ließe sich auch ein Gedanke
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von Roland Barthes aufgreifen, demgemäß alles die abgelichtete Person Rahmende als „Pose der Objekte“ bezeichnet werden könnte (Barthes 1990: 18). Zwischen dem posierenden Landschaftsraum (der ausschließlich dem Bild und dem Blick auf dieses gilt und für ein Angeblickt-Werden Gemachtes ist) und der posierenden Figur als Zufügung wirken Einfügung und Störung gleichermaßen – Zeit, Raum und Ereignis werden mehrdimensional, das Bedeutsame kreuzt das Zufällige, und umgekehrt gerät das wahlweise Positionierte dem Gültigen in die Quere. Ihre Vorführung historischer Chanel-Kleider erweckt nicht eine vergangene Epoche zu neuem Leben, vielmehr lässt sie diese in einem weiteren Kostüm – der Landschaft – auftreten, allerdings als niemals perfekt sitzendes Kostüm, wie auch die vorgeführten Kleider nicht passgenau dem Körper folgen.
„STEH GERADE SO LANGE DU KANNST“ Eröffnet wurde die Kunsthalle Wien, in der die genannte Ausstellung Bowerys stattfand, 2001 mit einer publicity-wirksamen Performance von Vanessa Beecroft. In den meisten ihrer Performances wird eine mehr oder weniger große Gruppe von Models eingesetzt, die nichts anderes tun, als zu posieren und als uniformierendes Stilmittel gleich oder nicht bekleidet sind. Die Performances dauern zumeist mehrere Stunden, in denen die zunächst eingenommene strenge Aufstellung sukzessive zusammenbricht, ein Model nach dem anderen die Pose nicht mehr durchhält, zuerst ein Bein entlastet und dann sitzend am Boden sich erholt, bis sie wieder aufsteht und die streng vorgegebene Haltung und Position erneut einnimmt. Das Zusammenbrechen der Pose und das Wiederherstellen durchkreuzen und bestätigen abwechselnd das Aufgehen im Kollektiv in Hinsicht auf die ursprüngliche Anordnung, während der Ausfall die Lücken und Brüche der Ordnung preisgibt. Eine Performance, in der scheinbar nichts weiter passiert, als das Herausfallen aus und das Einrücken in die Pose, die immer auf das Kollektiv gerichtet ist: Jede einzelne Pose ist nur in Relation zum Kollektivkörper als aufrechte oder störende lesbar. Den äußerst strittigen Performances von Vanessa Beecroft wird zumeist das vorgeführte und ausgestellte Nackte der weiblichen Models vorgeworfen. Doch zu sehen sind nicht bloß individuelle nackte Frauenkörper, vielmehr posierende Körper, wobei der Körper zum Bild und die Nacktheit zum Schein wird. Craig Owens beschreibt die Pose auch als Form der Mimikry, die ein „sich anziehen“, „sich verteidigen“ und „sich erzeugen“ impliziert (Owens 2003: 109). Dadurch wird das voyeuristische Schauen und Genießen ebenso verunmöglicht wie der Akt des Ausstellens nackter weiblicher Körper nebensächlich wird. Mit der unmöglichen Dauer werden die Models in das ‚Unwahre‘ ihrer Posen zurückgeworfen und im zeitlichen Verlauf der sich verändernden Gesamt-Konfiguration öffnet sich geradezu ein „Abgrund der Darstellung“ (vgl. Diederichsen 2005) – der Darstellbarkeit von Ordnung wie
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auch Verordnung. Wesentlich erscheint mir die Ordnung als Bild, das der Performance Ausgang und stete Orientierung ist, ein mit Macht ausgestattetes Ordnungssystem, das den Ausfall und die Störung erst hervorbringt. Dazu Beecroft in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung: „[Die Models] folgen einem Ritual, das ich ihnen vorschreibe. Bei den Performances […] gibt es klare Regieanweisungen: Sprich nicht, lache nicht, keine Blickkontakte. Steh gerade so lange du kannst, bewege dich so wenig wie möglich. Musst du dich setzen oder hinlegen, dann nie gleichzeitig mit einem anderen Mädchen auf der Bühne. Wenn meine Modelle also müde werden, sind sie es, die – wenn auch unfreiwillig – die Regeln brechen. Meine Arbeiten enthalten dieses masochistische Moment, das Rituale des Körperdrills eben so mit sich bringen.“ (Beecroft 2010)
Als Publikum ist man Zeuge der Dressur der Körper, man nimmt Teil an dieser und, das bewirkt ja geradezu das Irritierende, man wird im Blicken, egal wohin man den Blick richtet, an der Dressur mitbeteiligt. Die „Unangemessenheit“ der Bekleidung, dass „nichts geschieht“ in einer endlos wirkenden Dauer und vor allem die Tatsache, dass die Konzeption der Performance „Druck […] auf beide am Schauen beteiligten Seiten ausübt“ (Ursprung 2004: 160), bewirken Verstörung und oftmals Ablehnung. Dazu Vanessa Beecroft: „Real people make the misery real. Women deal with misery and this keeps them busy“ (ebd.). Vanessa Beecrofts Arbeiten funktionieren in dieser Lesart als Performances besser als bei den am Kunstmarkt gehandelten Fotodokumentationen, da dieser Aspekt der Darstellungskritik weitgehend fehlt – in den Fotografien bleibt die Aktivität der Störung verborgen, denn hier werden die Torsionen, die in der Performance fehlgehenden Posen, zumeist zu einem stimmig wahrzunehmenden Anblick. Der Grund dafür liegt in der konventionellen Kadrierung der Fotos und in der erwähnten Unmittelbarkeit von Herstellung und Effekt der Posen, die jedem fotografischen Akt eingeschrieben ist, wodurch die Ursache für ein Sitzen nicht mehr auszumachen ist. Die Inszenierung von Mode wird von jeher von der Pose regiert, sie ist es, die die Aufmerksamkeit lenkt und die Zeigeform trotz aller Verschattungen und Tendenzen zum Nicht-Posieren sowohl am Laufsteg als auch in der aktuellen Modefotografie beherrscht: „Der lässig, gelassen sich haltende Körper, der sich scheinbar ganz natürlich bewegt, obgleich er die Regeln der Pose befolgt –, nur dieser ist ansprechend und zeigt Grazie“ (Brandstetter 2007: 251). Weiters scheint es tatsächlich so zu sein, dass geradezu zwingend modische Bekleidung im Modus der Tragbarkeit gezeigt werden muss – einer Tragbarkeit, die ihrerseits ein Betragen einfordert (vgl. ebd.) und ein BetragenWerden inkludiert. Entgegen den kommerziellen Vorführungspraktiken von Mode ist in den vorgestellten künstlerischen Arbeiten das Betragen entweder zugespitzt
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erzwungen und exponiert wie in den Performances von Beecroft, gegen eine Normalität gerichtet wie bei Bowery oder wie bei Sherman subtil verrückt. Die vorgestellten Kunstpraktiken machen deutlich, dass weder Körper noch Geschlecht natürlich sind, sondern in Kultivierungsprozessen entstehen, an denen die Kleidung, die Art des Sich-Kleidens, einen wesentlichen Teil bestreitet. Und gerade dieses Verhältnis von Kleid und Gestalt wird in der künstlerischen Form thematisch, indem die Kleidung als Signifikant zurückgewiesen wird.
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An den Rändern der Hauptstraße. Street Style Blogs zwischen kommunikativem Kapitalismus und dissidenter Artikulation SONJA EISMANN
Das Spannungsfeld aus erfolgreicher Markenpositionierung und der Verbreitung vermeintlich widerständiger Bilder oder Inhalte, in dem sich Fashion Blogs heute bewegen, steht im Zentrum des folgenden Textes. Zunächst sollen Genese, Struktur sowie Funktionsweisen von Modeblogs rekonstruiert werden, wobei zur Kontextualisierung und historischen Rahmung das ältere Konzept der Street Style Photography herangezogen wird, das von BlogerInnen oftmals als künstlerisch-historische Legitimationsstrategie referenziert wird. Weiters werden unterschiedliche Artikulationen der wachsenden Kritik bezüglich Fashion Blogging untersucht, um abschließend die Potentiale von antagonistisch gedachten Kategorien wie Authentizität oder ‚Self-Branding‘ im Kontext dieser Medien zu diskutieren. Das Konzept des ‚Kommunikativen Kapitalismus‘, das die amerikanische Politikwissenschaftlerin Jodi Dean u.a. in ihrem Buch Democracy and Other Neoliberal Fantasies (Dean 2009) entwirft, gibt auf anschauliche Weise Aufschluss über die Medialität von Blogs. In einem Interview erläutert die Blogspezialistin den Naturalisierungsprozess der Verquickung von kommunikativem Austausch und kapitalistischem Profitstreben: „Communicative capitalism is the merger of democratic ideals and capitalism. A basic way to think about this is: What is the Habermasian ideal of communication? It is inclusion, discussion, reciprocity, and everyone getting a chance to speak for as long as they want. That’s the internet – one of the key instruments of the spread and consolidation of global neoliberalism. It is one of the primary ways that capitalism operates today in that capitalism has subsumed globally (almost) everyone through networks of communication. Inclusion, as in getting connected into the communication networks that serve contemporary capitalism, is championed as necessary, vital, crucial. Communication networks are supposed to let more
178 | AN DEN RÄNDERN DER HAUPTSTRASSE and more people and firms find markets and be more competitive. And at the same time, they are supposed to enhance participation and thus democracy. The merger of the two is treated as natural, something it wouldn’t even make sense to question. So if you think about where we are now as a stage of capitalism where communication is the dominant mode, the exact same processes and practices that are democratic in fact are the ones that configure capitalism.“ (Dean cit. nach Kubitschko 2012)
Dean beschreibt eine Situation, in der die Nutzung der neuen kommunikativen Netzwerke gleichzeitig als Verwirklichung des demokratischen Ideals von Partizipation und freier Meinungsäußerung wie als unendliche Expansion von Markt und Wettbewerb gefeiert wird, so dass sich die Verknüpfung von Demokratie und freier Marktwirtschaft in einer Art endloser Rückkopplung immer wieder selbst zu bestätigen scheint. Dass globale Kommunikation durch dieses Dauerfeedback nicht nur kontinuierlich dichter, sondern auch immer stärker beschleunigt wird, ist eine logische Konsequenz dieser Entwicklung. Im Gegensatz zum deutschen Soziologen Hartmut Rosa, der im Angesicht der durch technische Innovationen veränderten Zeitstrukturen in der Moderne für eine Entschleunigung als Gegenmittel zur „Gegenwartsschrumpfung“ (Rosa 2005: 119) plädiert, setzen die beiden britischen Theoretiker Alex Williams und Nick Srnicek auf gegenteilige Akzente. Im Mai 2013 veröffentlichten sie in ihrem Blog Critical Legal Thinking unter dem Titel „#ACCELERATE. MANIFESTO for an Accelerationist Politics“ (Srnicek/Williams 2013) ein Manifest, das unter Rückbezug auf Marx die radikale Beschleunigung des Kapitalismus fordert, um dessen Zusammenbruch qua Überhitzung herbeizuführen. Doch der italienische Medientheoretiker Franco Bifo Berardi steht dieser Vision im sehr rasch nach Aufkommen des Manifests veröffentlichten deutschsprachigen Band #Akzeleration skeptisch gegenüber: „Beschleunigung ist eines der Kennzeichen kapitalistischer Unterjochung. Das Unbewusste wird dem immer schnelleren Tempo der Infosphäre unterworfen, und diese Form der Subsumtion ist schmerzhaft – sie erzeugt Panik, um dann letztlich jede mögliche Form autonomer Subjektivierung zu zerstören.“ (Berardi 2013: 54) Im Folgenden möchte ich vor dem Hintergrund dieser Reflexionen zur Beschleunigung im Kommunikationskapitalismus, die als Parallelen zu den sich in Zeiten von ‚Fast Fashion‘ immer schneller drehenden Spiralen von Modeproduktion und -konsumption wahrgenommen werden können – manche Modeketten produzieren heute bis zu 18 Kollektionen pro Jahr (vgl. Pasquinelli 2012), und der spanische Textilkonzern Inditex, Besitzer von u.a. Zara und Bershka, beliefert seine knapp 6000 Stores weltweit zweimal wöchentlich mit neuer Kleidung (vgl. Hansen 2012) –, untersuchen, inwieweit die Praxis des Fashion Blogging innerhalb des Paradigmas neoliberaler Kommunikationsmodi aufgeht, oder ob hier alternative, gar widerständige Subjektivitäten artikuliert werden können.
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Da unterschiedliche Erscheinungsformen von Fashion Blogs existieren, soll zunächst versucht werden, das Phänomen begrifflich einzugrenzen. Obwohl es keine verlässlichen Zahlen gibt, wird davon ausgegangen, dass das Feld überwiegend weiblich besetzt ist. Trotz ihrer extrem vielfältigen Erscheinungsweise seit dem ersten Auftreten rund um die Jahrtausendwende – der von Anfang an kommerziell ausgerichtete amerikanische Blog SheSheMe, der dem Leben fiktiver Comic-Fashionistas folgt, gilt als einer der ersten Modeblogs und ist seit 1999 aktiv, Agnès Rocamora nennt No Good For Me mit Start im Jahr 2003 als ersten Fashion Blog (vgl. Rocamora 2011: 409) – lassen sich Modeblogs grob in drei Gruppen einteilen: • Generalistische Fashion Blogs, in denen aktuelle Trends anhand von Fotos von Modeschauen, von Produkten oder von Magazinmodestrecken, meist mit persönlichen Kommentaren versehen, vorgestellt werden. Hierzu existieren auch ‚Corporate‘-Varianten, also Blogs von kommerziellen Magazinen wie Vogue oder von Modemarken. • Personalisierte Fashion Blogs, in denen der oder die BloggerIn am eigenen Leib Mode vorführt. • Street Style Fashion Blogs, in denen ‚authentische‘ Menschen von der Straße gezeigt werden, die dem/der BloggerIn wegen ihres speziellen Stils auf- oder auch nur gefallen. Selbstverständlich treten auch immer wieder Mischformen oder SpecialInterest-Formate auf, in denen es beispielsweise nur um bestimmte Objekte – Schuhe, Handtaschen etc. –, Mode in bestimmten Perioden – die 1950er –, bestimmte Bevölkerungsgruppen – Alte, Kinder, Dicke, People of Colour – oder bestimmte Personen geht – z.B. IwanttobeaCoppola über den Stil von Sofia Coppola. Immer wieder wird die Demokratisierung des Modejournalismus durch das neue Kommunikationsmedium der Blogs betont sowie der damit einhergehende ‚niederschwelligere‘ Zugang zu Mode. Jede Person, die über einen Computer, einen Internetzugang und basale technische Webskills verfügt, kann einen eigenen Modeblog eröffnen und ihre Sichtweisen auf Mode der ganzen Welt kundtun. Diese Entwicklung parallelisiert eine andere, die ab den 1950er und 1960er Jahren eingesetzt hat: Der Niedergang der Haute Couture, die verschwimmenden Klassengrenzen und Dresscodes, das Aufkommen von Subkulturstyles und ab den 1990er Jahren die rasante Verbreitung von Fast Fashion, bei der große Unternehmen blitzschnell aktuelle Laufstegtrends kopieren, billig in Ländern des Südens produzieren lassen und millionenfach in ihren High Street Shops verkaufen, begünstigten eine breitere materielle Partizipation an Modetrends auch außerhalb elitärer Zirkel. Modeblogs galten zu Anfang als antielitäre, frische Stimme von den Rändern, die, in Abgrenzung zu den oft überproduzierten, in enger finanzieller Abhängigkeit zu Luxusmarken stehenden Berichterstattungen und Modestrecken etablierter ModejournalistInnen und -medien, individuelle, originelle und vor allem authentische Stile repräsentierten. In ihrem Artikel „Mode in der Stadt. Über
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Street Style Blogs und die Grenzen der Demokratisierung von Mode“ schreibt Monica Titton: „Die Autoren/Autorinnen von Street-Style-Blogs geben […] vor, Mode ‚von unten‘ zu zeigen, die eben nicht von Designern/Designerinnen und Modemagazinen diktiert, sondern von den Menschen selbst erzeugt würde. Immer wieder ist davon die Rede, dass Street-StyleBlogs ein Motor der Demokratisierung von Mode seien, weil sie alltägliche Personen zu Models und zu ihren eigenen Stylisten machen. Damit stellen sie das Top-DownDistributionsmodell von modischen Innovationen in Frage und scheinen die von dem Anthropologen Ted Polhemus aufgeworfene ‚Bubble-up‘-Hypothese zu bestätigen, wonach neue Trends nicht von Designern, sondern von Trendscouts in den hippen Vierteln von Städten wie London entdeckt werden.“ (Titton 2010: 93f.)
Titton führt zudem aus, die ProtagonistInnen erschienen wie „ganz ‚normale‘ Menschen“, die „gerade ihren alltäglichen Erledigungen nachgehen“ (ebd.) und gerne mit Zeitung, Kaffeebecher oder Einkaufstaschen abgebildet würden, um so eine größere „Nähe zur Lebenswelt der Leserschaft“ (ebd.) herzustellen und Mode als fundamentalen Bestandteil des Alltags dieser Personen zu zeigen. Die Ästhetik der Street Style Blogs ist dabei mitnichten eine an die Entstehung der neuen Medialität des Internets gekoppelte Erfindung, sondern verdankt sich einem langen Erbe von dokumentarischer Porträt- und Straßenfotografie, auf das sich BlogerInnen implizit oder explizit mit dem Posten entsprechender Fotos beziehen. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts machten die drei französischen ‚Frères Seeberger‘ Fotos der Pariser Haute Volée in ihren modischen Outfits bei Pferderennen, in den Bergen oder am Meer, die sie an die Presse verkauften und die großen Firmen als Inspiration dienten. Immer wieder wird als wichtiger Einfluss für Street Style Fotografie auch der deutsche Porträt- und Dokumentarfotograf August Sander (1876–1964) genannt, der in seinem Werk Antlitz der Zeit. Sechzig Aufnahmen deutscher Menschen des 20. Jahrhunderts (1929) Personen verschiedener Bevölkerungsgruppen in typischer Umgebung und mit charakteristischen Attributen wie Berufskleidung oder -werkzeugen im nüchternen Stil der Neuen Sachlichkeit fotografierte. Auch der amerikanische Modefotograf Irving Penn (1917–2009) bildet einen wichtigen Bezugspunkt, da er der Erste war, der die abgelichteten Subjekte vor schlichten grauen oder weißen Hintergründen posieren ließ und somit einen Effekt der ‚Realness‘ erreichte, der für Blogs heute die angestrebte Authentizität unter Beweis stellt. Der heute noch aktive Modefotograf Bill Cunningham (*1929), der vielen als Erfinder der Street Style Photography gilt, seit er 1978 einen zufällig aufgenommenen Schnappschuss der zurückgezogen lebenden Diva Greta Garbo auf den Straßen New Yorks in den Daily News veröffentlichte, äußerte sich in der New York Times, in der er eine Street Fashion Kolumne hat, über die Entstehung seiner Leidenschaft:
SONJA EISMANN | 181 „One night, in about 1966, the illustrator Antonio Lopez took me to dinner in London with a photographer named David Montgomery. I told him I wanted to take some pictures. When David came to New York a few months later, he brought a little camera, an Olympus Pen-D half-frame. It cost about $35. He said, ‚Here, use it like a notebook.‘ And that was the real beginning. I HAD just the most marvelous time with that camera. Everybody I saw I was able to record, and that’s what it’s all about. I realized that you didn’t know anything unless you photographed the shows and the street, to see how people interpreted what designers hoped they would buy. I realized that the street was the missing ingredient.“ (Cunningham 2002)
Auch Fotografinnen, die sich besonders für Menschen an den Rändern der Gesellschaft interessierten, dürfen in ihrer Vorreiterinnenfunktion nicht unterschätzt werden: Diane Arbus (1923–1971), die die erste amerikanische Fotografin war, deren Fotos, ein Jahr nach ihrem Selbstmord, auf der Biennale von Venedig 1972 ausgestellt wurden, nahm ‚Outsider und Freaks‘ in alltäglichen Umgebungen, in ärmlichen Innenräumen oder auf der Straße auf, mit einem scharfen dokumentarischen Blick in Schwarz-Weiß. Das umfangreiche fotografische Werk von Vivian Maier (1926–2009), die die meiste Zeit ihres Lebens als Kindermädchen in Chicago verbrachte, wurde erst durch Zufall im Jahr 2007, zwei Jahre vor ihrem Tod, entdeckt und erlangte durch zahlreiche Ausstellungen und Veröffentlichungen beträchtliche posthume Aufmerksamkeit. Maier nahm nicht nur ca. 100.000 atmosphärisch dichte Straßenszenen aus den Armen-Milieus in New York und Chicago der 1950er und 1960er auf (vgl. Maloof 2011: 5), sondern fotografierte sich mithilfe von Spiegeln oft selbst innerhalb dieser Alltagsszenerien – und legte damit quasi einen Blue-Print für die ‚Selfie-Kultur‘ von heute. Das große Interesse für das Schaffen Vivian Maiers, dem ihr Entdecker John Maloof 2013 den weltweit rezipierten Dokumentarfilm Finding Vivian Maier widmete, zeigt umgekehrt auch, wie die starke Aufmerksamkeit für Modeblogs ein historisch forschendes Interesse an VorläuferInnen des Genres fördert. So zeigte das Museu Nacional d’Art de Catalunya Anfang 2014 unter dem Titel I work the street die dokumentarischen Straßenfotografien von Joan Colom 1957–2010, die im Begleittext nicht nur als Urszene des spanischen Fotojournalismus, sondern vom Künstler selbst auch als ‚Social Photography‘ (vgl. Museu Nacional d’Art de Catalunya 2014) bezeichnet werden. Und die US-amerikanische Dokumentarfilmerin und Fotografin Cheryl Dunn begab sich in ihrer 2013 veröffentlichten Doku Everybody Street auf die Spuren der PionierInnen der New Yorker Straßenfotografie, um an dieser Stelle nur zwei exemplarische Beispiele zu nennen. In gedruckten Mode- und Stylemagazinen, von denen sich Street Style Blogs nach landläufiger Ansicht heute absetzen möchten, gab es schon ab den 1980er Jahren explizite Street Style Kolumnen. In der Regel werden hier die britischen Style-Bibeln i-D und The Face genannt, die beide im Jahr 1980 gegründet wurden und einen durch die Subkultur geprägten Zugang zu Style
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und Mode hatten. Doch es gab bereits Jahre vorher ein weiteres britisches Magazin, das als Erfinder von Street Style gilt: Caroline Baker, heute Fashion Director bei You, der Lifestyle-Beilage von Mail on Sunday, war ab 1965 Stylistin avant la lettre beim unkonventionellen Frauenmagazin Nova, das von 1965 bis 1975 existierte (und 1999 kurz und erfolglos wiederbelebt wurde). Sie charakterisiert das Heft folgendermaßen: „Nova magazine was very much the first street fashion magazine. i-D didn’t exist, and the term ‚street‘ had not come into being. Understand that, back in the 1970s, fashion was driven by Paris and couture and design, and I was part of a group of working-class girls who were just totally anti label. Through my pages at Nova I was having a wonderful time, being a bit of a feminist and a rebel, saying, ‚I don’t want to wear heels and lipstick!‘ We don’t want to be objects for men, but we do want to wear men’s clothing and we want to have men’s jobs.“ (Gray 2010)
So steckte sie Frauen in Outfits aus dem Army Store oder umwickelte sie mit Troddeln und Bordüren aus dem Haushaltswarengeschäft (vgl. fashionfollower.com 2013). Im Magazin i-D war es die Rubrik Straight Up, in der zu Beginn vor allem Punks und New Waver in Ganzkörperaufnahmen vor einer Wand fotografiert wurden, die das Genre der modernen Street Style Fotografie nachhaltig prägte. 1977 hatte Terry Jones, damals noch Art Director bei der englischen Vogue, den Fotografen Steve Johnson beauftragt, Londoner Punks vor weißen Wänden in der Londoner King’s Road zu fotografieren. Da der Vogue das Projekt zu gewagt war, erschien es als Buch mit dem Titel Not Another Punk Book und legte das stilistische Fundament für die i-D, die zunächst als handgeheftetes Fanzine erschien. Im Artikel „The Fashion Magazine Reconsidered“ aus dem Ausstellungskatalog zu From Club to Catwalk. 80s Fashion, die 2013 im Londoner Victoria & Albert Museum zu sehen war, schreibt Abraham Thomas bezüglich dieses Buches: „Outlining the potential of punk and other street styles to challenge the orthodoxies of commercial fashion magazines, Jones used the book to express his frustrations with the conservative attitudes at Vogue: ‚Punk happened on the street, not in the pages of a fashion magazine, and the kids have a hard realism in refusing to be beguiled by glossy images and paternalistic hand-outs of style and culture.‘“ (Thomas 2013: 79f.)
Doch bereits 1988 äußerte der Designer Neville Brody, der das Erscheinungsbild der Zeitschrift The Face geschaffen hat, in einem Interview kritisch, dass seine Zeitschrift, die mit ihrem Akzent auf Musik-/Subkultur der Ästhetik von Street Style ebenfalls zu einem Siegeszug verholfen hatte, „witness to the death of street style […] as a part of transition from low-budget culture to the multinational version of ‚Youth Culture‘“ wurde (Wozencroft 1988: 99). Ab den 1990er Jahren gab es, vor allem in Japan, Magazine, die sich nur dem
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Phänomen des Street Style widmeten und eigentlich nur noch aus Fotos bestanden (z.B. Fruits ab 1997), und ab den 2000er Jahren nahmen sogar etablierte Modehefte wie die Vogue oder die Elle Street Style als Rubriken auf (vgl. Rocamora/O’Neill 2008: 188). Mittlerweile gibt es sogar interessante Rückkopplungseffekte mit Fashion Blogs, wenn Zeitschriften wie die Schweizer annabelle vermeintlich unbekannte Schönheiten auf den Straßen von Paris im Stil von Street Style Blogs fotografieren und deren individuellen Look den Leserinnen zum Nachstylen anbieten, man aber davon ausgehen kann, dass hier ein klassisches Fotoshooting mit einem bezahlten Model arrangiert und nur anders ‚verkauft‘ wurde. Was ist also das spezifisch Neue der Street Style Photography in Blogs, wo doch der Zyklus von Absetzbewegung von etablierten Medien und Betonung von Originalität hin zu einer kommerziellen Vereinnahmung bereits vorher, in den oben geschilderten Print-Beispielen, durchlaufen worden war? Ich würde argumentieren, dass es einerseits in der Medialität, AutorInnenschaft und Distribution und andererseits in der Art der gezeigten Stile liegt. Blogs als Medien vermitteln Aufgenommenes blitzschnell und ohne Filter – wenn man hier den ‚digital divide‘ außer Acht lässt, der Menschen ohne Internetzugang von dieser Art der Informationsverbreitung ausschließt. Es gilt nicht mehr wie früher, durch ‚cooles‘ Insider-Wissen von diesen Publikationen zu erfahren und sich an einem Ort zu befinden, an dem Zugänge zu diesen Heften möglich sind – meistens also urbane, westliche Orte –, sondern die Seiten sind überall, jederzeit und von jedem/r abrufbar. Auch gibt es, da die Vermittlungsinstanz des gedruckten Magazins wegfällt, keine Gatekeeper mehr, die erst einmal die Mittel und die Kontakte organisieren müssen, um ein solches Heft überhaupt herstellen und verbreiten zu lassen. Jede/r kann, mit minimalen Kosten, Fotos auf der Straße aufnehmen und ins Netz stellen. Bezüglich der Stile lässt sich feststellen: Es geht zumeist, anders als in den frühen Tagen von i-D und The Face, nicht mehr darum, bestimmte Subkulturen und deren Stile abzubilden, sondern quasi die Essenz von Stil und Individualität. Stark frequentierte Street Style Blogs wie The Sartorialist, Face Hunter, Hel Looks oder früher Stil in Berlin zelebrieren die ‚Genre‘Unabhängigkeit ihrer ProtagonistInnen und deren vermeintliche Individualität, die sich häufig in der Liebe zu Details äußert. „Der einzig erkennbare Motor des modernen Street-Styles ist die ins Äußerste gesteigerte Individualität, die sich in einer obsessiven modischen Detailverliebtheit äußert. Es gilt den richtigen Mix von Farben, Mustern, Materialien und Labels zu kreieren, es gilt zu wissen, wie man Vintage-Klamotten mit Designerteilen und günstigen Teilen von Modeketten wie H&M kombiniert. Das ist der rote Faden, der sich durch die Mode auf Street-Style-Blogs zieht und Königs Definition von Stil als sedimentierter, vom modischen Tagesgeschehen abstrahierender Ästhetik plausibel macht.“ (Titton 2010: 97)
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Abbildung 13: Die Macherin des Blogs queervanity.com positioniert sich als „queer non-binary grrrl of color, dick, ableisiert, irre, klassenprivilegiert_akademisch“
Wenn nun die neuen Technologien des Web 2.0 dazu geführt haben, dass die vormals elitäre, anzeigengesteuerte Modeberichterstattung egalitärer wurde, bedeutet dies, dass es keinerlei Hierarchisierungen mehr gibt? Die Frage, die sich aufdrängt, ist folgende: Wer entscheidet, welche von den mittlerweile mehr als 53.000 bei der Plattform Independent Fashion Bloggers registrierten ModebloggerInnen überhaupt gelesen, ja, wahrgenommen werden? Nach einer Schätzung aus dem Jahr 2010 (vgl. Rocamora 2011: 409), die mittlerweile lange überholt sein dürfte, gab es zu diesem Zeitpunkt ca. zwei Millionen Fashion Blogs. Wer von diesen bekommt die Aufmerksamkeit der WebuserInnen? Spätestens seit der medial viel kommentierten Einladung von vier BloggerInnen zum Spring/Summer Defilée 2010 von Dolce & Gabbana im September 2009 (Bryan Boy, Tommy Ton, Scott Schuman und seine Frau Garance Doré gehörten zu den Auserwählten, die sich neben Anna Wintour und Suzy Menkes in die ‚front row‘ quetschen durften) ist der Aufstieg der BloggerInnen aktenkundig – wie auch die Tatsache, dass manche Blogs mehr Distinktion als andere für sich beanspruchen können. Es sind dies vor allem die Blogs von Personen, die sich konform zu den Repräsentationen und etablierten Regeln der Modeindustrie verhalten – Ex-Insider wie Scott Schuman, der früher für Brands in Sales, Marketing und PR tätig war, oder Models wie Hanneli Mustaparta, die hauptsächlich modelartige Körper in dekorativen, edlen Ambientes abbilden. Diese generieren die größte Anzahl von Hits sowie
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Aufmerksamkeit in den ‚klassischen‘ Medien. Fashion-Theoretikerin MinhHa T. Pham schreibt über den vermeintlichen Demokratiefaktor des Internets in ihrem Blog Threadbared, mit Bezug auf die Blogtheoretikerin Jodi Dean: „The operating logic of search engines is such that only the most popular websites are likely to show up in searches. The same websites and blogs appear in the top 3–5 results of every web search; all other sites are, as Jodi Dean put it in an NPR interview discussing her book Democracy and Other Neoliberal Fantasies: Communicative Capitalism and Left Politics (Duke UP), ‚drowned in the massive flow [of commercialized data]‘. As such, Internet democracy is not a democracy of equitability but of popularity. To quote Dean further: Rather than a rhizomatic structure where any one point is as likely to be reached as any other, what we have on the web are situations of massive inequality, massive differentials of scales where some nodes get tons of hits and the vast majority get almost none.“ (Pham: 2010)
Die Begeisterung für die vermeintliche Authentizität sowie das demokratisierende Potential von Fashion Blogs hat sich mittlerweile gelegt und ist einer neuen Skepsis gewichen. Diese ist im Wesentlichen auf drei Faktoren zurückzuführen: Der erste ist eine quasi konservative, elitäre Kritik an den neuen schrillen Internetstars, am „celebrity circus of people who are famous for being famous“, wie sie die Moderedakteurin Suzy Menkes im Februar 2013 in einem vor Verachtung triefenden Artikel in der New York Times zum Ausdruck brachte, der in der Feststellung gipfelte: „If fashion is for everyone, is it fashion?“ (Menkes 2013) Die Celebrity-Kultur des Web 2.0, in der jede/r qua Selbstdarstellung zum Entrepreneur seiner selbst und somit auch zum SelfMade-Star werden könne, lenke mit ihren schrillen Inszenierungen vom Genius der High Fashion ab, die nach wie vor nur durch Top-Designer entstehen könne, so der Tenor von Menkes’ Text. Interessant an dieser Artikulation von Kritik ist, dass nicht mehr wie zu den Anfängen der Blogging-Kultur deren AdeptInnen als unwichtige ‚Nobodies‘ diffamiert oder gleich ignoriert werden, sondern dass dieselben als viel zu stark beachtete ‚Nobodies‘ gebrandmarkt werden. Der zweite Faktor ist die mangelnde Authentizität erfolgreicher Street Style Blogs, die sich bezüglich der abgebildeten Körper oder Kleidungsstücke kaum mehr von Fotostrecken in Modemagazinen abheben, da die Blogger oft selbst Teil der Industrie sind und beispielsweise rund um Fashion Weeks einfach Models ‚off duty‘ mit ihren Kameras aufnehmen. So lud, um nur eines von vielen Beispielen zu nennen, adidas 2011 elf bekannte BloggerInnen aus neun Städten zum Inszenieren der neuen Kollektion ein. Der dritte Kritikpunkt bezieht sich noch konkreter auf die Verstrickungen von ModebloggerInnen mit der mächtigen Modeindustrie. Der Konsum von Blogs ist bekanntlich kostenlos, dennoch möchte ein Großteil der AutorInnen mit dem Bloggen Geld verdienen. So kommt es zu Kooperationen (Blogger designen eigene Linien für Firmen, machen Fotoshoots etc.), sogenannten
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‚Sponsored Posts‘ oder ‚Native Advertising‘ und weiteren undurchsichtigen Werbeformen, die kritische Stimmen als Bestechung deklarieren, wenn z.B. teure Designerstücke gegen positive Berichterstattung eingetauscht werden. Dies führte sogar dazu, dass die amerikanische Federal Trade Commission 2010 eine Maßnahme erließ, die BloggerInnen dazu zwingt, materielle Verbindungen zum Verkäufer des Produkts oder der Dienstleistung offenzulegen (vgl. Burcz 2012) – ohne großen Erfolg. Während der britische Guardian in einem Artikel vom Oktober 2012 den Trend zur Monetarisierung bei der ‚Blogging-Elite‘, die ihren Namen in eine Marke verwandelt habe, normal findet, stößt sich der Text mit dem Titel „How Fashion Bloggers are Cashing in“ vor allem am Umstand, dass sogar Neulinge gleich Geld verdienen wollten: „Distancing themselves from the traditional concept of blogging as an impartial activity, they’re realising there is money to be made through advertising, sponsored content and even, in some cases, becoming the face of a brand.“ (Cochrane 2012) Die kanadische Ex-Modebloggerin Isabel Slone (Hipster Musings) geht sogar so weit, den Tod des Fashion Blogging auszurufen: „Most people I knew took up blogging because no one wanted to talk to us in real life. Blogs were a refuge from our desperate unpopularity. […] We used to think of blogs as public diaries. Now they are more like portfolios. […] Fashion blogs are designed for product placement.“ (Slone 2013) Sie zählt berühmte ModebloggerInnen wie Tavi Gevinson von Style Rookie oder Elizabeth Spiridakis von White Lightning auf, die mittlerweile ihrem ehemaligen Metier den Rücken zugewandt haben (wie im Übrigen auch Stil in Berlin und No Good For Me), und kommt zu folgender Conclusio: „As an outlet for misfit teens, blogging seemed democratic. In 2006, the fashion blogosphere was like a simple bowl of yogurt, a culture of tiny microbes just doing their thing. But some of those microbes began to grow, and nab coveted sponsorships. Soon enough, blogging had become exclusive, almost too exclusive for the kinds of girls who started it in the first place. Ironically, bloggers are still hailed as ‚real girls‘, an antidote to the cookie-cutter conception of beauty promoted by the fashion industry.“ (ebd.)
Diese Skepsis gegenüber der Authentizität von Fashion Blogs hat zu einem neuen Phänomen geführt, das dieses Konzept von Authentizität in den Fokus nimmt und ironisch dekonstruiert: Satire-Blogs, -Vlogs oder -TwitterAccounts mit Namen wie The Fake Sartorialist, The Catorialist, A Fashion Blogger oder What the F*shion? entlarven die sorgfältige ‚Gemachtheit‘ etablierter Modeblogs durch hysterische Übersteigerungen deren vermeintlicher ‚Realness‘. Besonders interessant ist hier der Fall des Blogs The Fake Sartorialist, der Bilder des ‚Real Sartorialist‘-Blogs als Grundlage für künstlerische, eben nicht auf Harmonie und guten Geschmack bedachte Umarbeitungen im Stil der Appropriation Art verwendet. Scott Schuman kritisierte den Betreiber
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Eduardo Cachucho in einem Text der New York Times mit den Worten „Now everyone feels the internet is a free-for-all“ (Wilson 2010), und macht damit nicht nur deutlich, dass sich das Feld des Internet-Bloggings mühelos in Bourdieu’schen Kategorien als Feld der Beherrschten-Aufstrebenden und der Herrschenden-Bewahrenden verstehen lässt, wie es Bourdieu bereits selbst in seinem Aufsatz zur Mode der etablierten Rive-Droite-Designer wie Balmain vs. die ‚revolutionären‘ Rive-Gauche-Designer wie Scherrer und Courrèges im Jahr 1974 getan hatte (vgl. Bourdieu 1974). Es wird darüber hinaus klar, dass das, was in den Anfangstagen von Fashion Blogs als großer, demokratisierender Vorteil des Internets gefeiert wurde – dass es nämlich ‚frei für alle ist‘ –, von den aktuell ‚Herrschenden‘, die bekanntlich in der Entwicklung ihrer Praxis auch auf AhnInnen der Street Style Fotografie rekurrierten, als Bedrohung und nicht als Bereicherung empfunden wird. Trotz dieser Tendenz zur Demontage des Authentizitäts-Dogmas im Modeblogging gibt es noch Bereiche, in denen die Vorstellungen eines unangepassten oder auch ‚misfitting‘, also nicht-passenden, quer zur Modeindustrie stehenden ‚authentic self‘, die auch Isabel Slone als hehres Credo aus den Blogging-Anfangstagen zitierte, hochgehalten werden. Diese BloggerInnen agieren meist aus Nischen, die für das Fashion Business zahlenmäßig nicht relevant sind oder aufgrund von vermuteten Image-Problemen ignoriert werden: In diesem durchaus riesigen ‚Special Interest‘-Segment gibt es Blogs zu Fat Fashion, auch ‚Fa(t)shion‘ genannt, für Menschen mit Körperehinderung (‚Crip Couture‘), DIY-, Vintage-, Upcycling- und Eco-Fashion-Blogs gegen Warenüberfluss und Umweltverschmutzung, von People of Colour, die sich in der westlich dominierten Modewelt nicht repräsentiert sehen, für ‚Modest Clothing‘, also religiös bedeckende Kleidung von Christinnen, Mormoninnen, oder auch einen großen Anteil an ‚Hijabi Couture‘, also islamischer Mode inklusive Kopftuch, um nur die größten Bereiche zu nennen. Es gibt sogar explizit feministische Modeblogs, die um das Spannungsfeld aus selbstermächtigender Eigeninszenierung vs. objektivierender Zurichtung auf den männlichen Blick kreisen – sogar extrem erfolgreiche Blogs wie jener der bereits als Pre-Teen bloggenden selbsterklärten Feministin Tavi Gevinson oder The Man Repeller von Leandra Medine, in dem es immer wieder darum geht, durch schrill-übertriebene Frauenmode das patriarchale Blickregime zu brechen, können zu den von einer ‚politischen Haltung‘ geprägten Modeblogs zählen. Diese Internetpräsenzen zeichnen sich meistens dadurch aus, dass das wichtigste Merkmal der Street Style Blogs absent ist: die Straße. Meist entstehen die Aufnahmen von Kleidung am eigenen Körper der Bloggerin im heimischen Umfeld, im Wohn- oder Kinderzimmer, im Garten, Hinterhof oder vor dem Haus bzw. in der Nachbarschaft. Es ist also genau jenes Element – die Straße, die Straßenmodefotografie zum Leben erwecken soll –, das hier fehlt und dabei das Erleben der häufig abseits von urbanen Zentren lebenden Bloggerinnen ‚echter‘ und für andere UserInnen intersubjektiv nachvollziehbarer machen soll.
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Doch Alice E. Marwick ist in ihrem Artikel „Conceptions of Authenticity in Fashion Blogging“ vorsichtig bezüglich des kritischen Potentials dieser Blogs: „Subsets of fashion bloggers, such as fat empowerment fashion bloggers and modest fashion bloggers, trade information, post pictures, and create visual and consumerist landscapes for populations ignored by Vogue or Style.com“ (Marwick 2013: 1). Sie sieht hier ebenso wie bei den ‚Mainstream‘-Blogs die Schaffung eines konsumistischen Ambientes als Hauptmerkmal, bei dem es nicht primär um die Erosion des ausschließenden, ausbeuterischen Fashion Market, sondern nur um eine besondere Form von Teilhabe gehe. Sie weist in diesem Kontext auf Sarah Banet-Weisers Buch Authenticity hin, in dem diese „explores the ways in which the active, agented presentation of the self online, especially for young women, takes place within a ‚commercial context of branding and advertising‘ that can ‚contain and limit young women‘“ (cit. nach Marwick 2013: 2). Sie kommt nach der Auswertung von Interviews mit 30 Fashion Bloggers zu einer ambivalenten Schlussfolgerung: „Fashion bloggers engage in labor, not only to buy clothes, photograph outfits, and so forth, but to create successful online personas while still adhering to the requirements of authenticity and participation. In many ways, they embody the entrepreneurial subject of neoliberal capitalism, who works on him or herself, and relies on his or her hard work rather than support from others or the state. In others, they provide a space for discussion of mainstream fashion that is unavailable within the larger commercial culture.“ (ebd.: 7)
Auch Agnès Rocamora sieht die Zurichtung auf Selbstpräsentationstechniken in den von ihr beschriebenen Personal Fashion Blogs kritisch, wenn sie auf die ambivalente Funktion von Computerbildschirmen als Spiegel der weiblichen Identitätsbildung und -versicherung verweist: „Personal fashion blogs are flattering and comforting but they are also spaces of surveillance, and this also pertains to the characteristic of computer screens as mirrors. Indeed, the screen as appropriated by fashion blogs can be perceived as yet one more instrument imposing on woman the panoptic control which mirrors and the masculine gaze subject them to; one more surface onto which women can, or rather must, reflect themselves to think themselves, on which they must survey themselves to assert themselves. Like mirrors, computer screens are omnipresent. Like them they have become instruments of control and regulation that allow women to comply with their role as an object whose duty is to look at herself.“ (Rocamora 2011: 418)
Trotzdem sieht Rocamora diese personenbezogenen Modeblogs als Vehikel für eine genuine Form weiblicher Selbstdarstellung, die mit klischierten Vorstellungen von Weiblichkeit breche und vormals Ausgeschlossenen einen Weg in den öffentlichen Modediskurs freimache. Auch die im Jahr 2013 in der feministischen Blogosphäre losgetretene ‚Selfie‘-Debatte demonstriert, wie diskursiv umstritten die Behauptungen von ermächtigender Selbstrepräsen-
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tation, Teilhabe und dissidenten Sichtweisen auf nicht-normierte Körper im Internet immer noch sind: Während Erin Gloria Ryan, Autorin des breit rezipierten feministischen Blogs Jezebel, in einem Artikel mit dem Titel „Selfies aren’t empowering, they are a cry for help“ darum bat, mit der ständigen Selbstfotografiererei aufzuhören – „‚Here’s my face!‘ is not an accomplishment“ (Ryan 2013) –, argumentierten Gegnerinnen, es sei nach wie vor wichtig, in den Mainstreammedien quasi zensierte oder zumindest unsichtbar gemachte Bilder weiter selbstbewusst zu verbreiten. So heißt es im Blog The Feminist Griote unter dem Header „The Radical Politics of #selfies“: „The reason it is revolutionary and empowering to see selfies of beautiful Black women is because proper representation of people who look like me is nowhere near the point of over saturation. The internet is the only place where I can see women who look like me freely. I don’t have to wait for the bevy of white magazines to have pity on me and show me a white washed version of myself in print. Social media allows for people of color, queer folks, fats, femmes, trans* folks, and differently-abled folks to find proper representation of ourselves sans gatekeepers. Sites like IG/tumblr democratizes [sic!] beauty and makes [sic!]) it accessible to us.“ (thefeministgriote.com 2013)
Das Recht auf freie Selbstrepräsentation wird also in Nischen der Blogosphäre nach wie vor eingefordert und ungeachtet des Drucks zum neoliberalen ‚SelfBranding‘ zumindest subjektiv gefunden. Mit Blick auf den Status quo der Blogging-Kultur im Gesamten wird jedoch klar, dass hier der gleiche Prozess der Sedimentierung bzw. Distinktion stattgefunden hat, wie er aus der Gesamtansicht von Alternativ- und Mainstreammedien seit der Bildung von gegenhegemonialen Medien seit den 1960er Jahren bekannt ist. Es gibt einige wenige Stimmen bzw. Bilder, die gehört und gesehen werden und die sich kaum mehr von denen unterscheiden, gegen die sie angeblich ursprünglich angetreten waren (bzw. gab es hier auch einen Rückkopplungsprozess mit den klassischen Medien, die nun wieder mehr Street Style inkorporierten). Die vielen minoritären Blogs mit ihren weniger spektakulären oder weniger normierten Bildern versuchen zwar verstärkt in diesen (monetarisierten) Bereich vorzudringen, werden aber innerhalb der Funktionsweisen des Kommunikationskapitalismus weiterhin an den Rand gedrängt, wo sie sich jedoch in vielen Fällen ganz bewusst zu Hause – und nicht mehr auf der Straße – fühlen.
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Unter dem ökonomischen Imperativ. Mode, Ethik, Global Governance ELKE GAUGELE
„FORCED TO WORK EXHAUSTING HOURS“ „DEGRADING SWEATSHOP CONDITIONS“ „SOS! SOS! SOS!“ Kleider antworten. Als diese gestickten Botschaften in Kleidung der irischen Fast-Fashion-Kette Primark gefunden wurden, brachte das schlagartig im Juni 2014 die Produktionsbedingungen des Konzerns erneut in alle Munde. Denn nicht zuletzt befand sich auch der Häftlingsausweis eines chinesischen Gefangenen darunter. Bereits ein Jahr zuvor, als im April 2013 in Bangladesch das Rana Plaza einstürzte und dabei in Sabhar mehr als 1100 TextilarbeiterInnen getötet und weitere tausende verletzt wurden, lieferte Primark, dessen Zulieferer hier produziert hatte, Negativschlagzeilen. Fragen, ob die aktuellen Hilferufe von ArbeiterInnen, Gefangenen oder aus der Nadel von GewerkschaftlerInnen oder AktivistInnen für faire Kleidung stammten, degradierte das Unternehmen in seiner Stellungnahme als ‚hoax‘, d.h. Jux und Schabernack. Doch protestierten im Zuge dessen mehrere hundert DemonstrantInnen Anfang Juli 2014 gegen die Eröffnung der zweiten Berliner Primark-Filiale.1 Mit 270 europäischen Primark-Stores ist Billigkleidung die umsatzstärkste Komponente des britischen Lebensmittel-, Zutaten- und Einzelhandelskonzerns ABF (Associated British Foods).2 Die Dachmarke,
1 Initiiert von INKOTA, der Kampagne für Saubere Kleidung, BUNDjugend und Germanwatch; vgl. http://www.inkota.de/, aufgerufen am 8.7.2014. 2 ABF gehört unter der Leitung von Georg Weston zu den größten britischen Familienkonzernen und vertreibt neben Textilien auch Tee, Currysoßen, Toast- und Knäckebrot unter den Marken Kingsmill, Pataks, Ryvita oder Twinings, vgl. http://www.forbes.com/sites/davidprosser/2014/04/15/britains-seven-biggest-family-owned-businesses (8.7.2014). Im Geschäftsjahr 2012/13 erzielte Primark mit Billigtextilien ein Umsatzplus von 22% auf 4,27 Mrd. £ (rund 5 Mrd. €) und einen Zuwachs von 44% beim
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engl. ‚umbrella brand‘, schreibt sich einen Jahresumsatz von rund 14 Mrd. € auf die Fahnen – und auch, 8,8 Mio. € an die bengalischen Opfer und Hinterbliebenen der in Trümmer zerfallenen Sweatshops auf den Weg gebracht zu haben.3 Dementsprechend erhielt die Corporate Identity von Primark ein ‚Bluewashing‘ und wurde auf die Repräsentationen sozialer Verantwortung, Entwicklungshilfe und Transparenz hin bearbeitet.4 Um die Rubrik ‚Ethik‘ bzw. ‚our ethics‘ ergänzt, nennt die Website die o.g. Katastrophe, verweist auf Opferhilfen und 2058 Fabrikinspektionen im Jahr 2013, zeigt ethnisierte Bilder asiatischer Textilarbeiterinnen in Saris und listet Kooperationen mit NGOs auf. Neben dem Foto ökologisch korrekt recycelter Papiertüten bietet das Unternehmen Lernmaterialien für SchülerInnen, Studierende und Lehrende zu Ethik und Nachhaltigkeit zum Download an, in denen es sich selbst als positives Fallbeispiel in den Mittelpunkt stellt.5 Dass die ‚Ethik‘ der Mode inzwischen auch für Mainstream Brands und darüber hinaus sogar für Fast-Fashion-Unternehmen zum „ökonomischen Imperativ, und nicht nur zum moralischen“ wurde, konstatierte vor einigen Jahren bereits die britische Designerin und Eco-Fashion-Aktivistin Katharine
operativen Gewinn auf 514 Mio. £, vgl. TextilWirtschaft vom 05.11.2013, http://www. textilwirtschaft.de/business/Primark-mit-44-mehr-Gewinn_88994.html (8.7.2014). 2008 waren es noch 186 Mio. £, vgl. http://de.statista.com/statistik/daten/studie/251522/ umfrage/gewinn-von-primark/ (8.7.2014) . 3 Vgl. http://www.primark.com/en/our-ethics (8.7.2014). Nach der Katastrophe am 24. April 2013 in der Textilfabrik Rana Plaza/Bangladesch kam es zum Zusammenschluss eines internationalen ‚Rana Plaza Coordination Comittee‘ aus Regierungsvertretern, Vertretern der lokalen und internationalen Bekleidungsindustrie, Gewerkschaften, NGOs und der ILO (International Labour Organization) der UN, um die Entschädigung der Opfer und Verbesserungen der Arbeitsstandards in der Bekleidungsindustrie zu forcieren (vgl. http://www.ranaplaza-arrangement.org/mou/governance (8.7.2014)). Die Clean Clothes Campaign und andere Initiativen kritisieren, dass die Zahlungen bislang nur äußerst schleppend verliefen, und initiierten, um den Druck auf die europäischen Textilunternehmen zu erhöhen, ein von sieben EU-Handelsministerien unterzeichnetes Abkommen (vgl. http://www.cleanclothes.org/news/2014/06/26/governments-call-onbrands-to-pay-up (8.7.2014)). Zum aktuellen Stand der bezahlten Entschädigungsleistungen und der daran beteiligten Firmen siehe http://www.ranaplaza-arrangement. org/fund/donors (8.7.2014). In Deutschland gründeten 2013 INKOTA, die Kampagne für Saubere Kleidung, medico international und ver.di die Kampagne ‚das ist untragbar‘ (vgl. http://www.das-ist-untragbar.de/de/home.html (8.7.2014)). 4 Der Begriff ‚Bluewashing‘ bezieht sich analog zu ‚Greenwashing‘ auf das positive Image, mit dem sich Unternehmen in Bezug auf ethische, soziale und arbeitsrechtliche Aspekte darstellen, indem sie der 1999 gegründeten Global Conduct Initiative der UN beitreten, denn diese ist freiwillig und wird nicht kontrolliert (vgl. http://www.unglobalcompact.org/ (8.7.2014)). 5 Vgl. http://www.primark.com/en/our-ethics (8.7.2014); zu den konkreten Arbeitsbedingungen in der Bekleidungsindustrie siehe jedoch u.a. http://www.labourbehindthelabel.org/ (8.7.2014), http://www.saubere-kleidung.de/index.php (8.7.2014), http://www. inkota.de/ (8.7.2014), http://www.cleanclothes.org/ (8.7.2014) oder http://www.suedwind-institut.de/ (8.7.2014).
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Hamnett (Beard 2008: 4496). Ethical Fashion steht heute im Zentrum der globalen Modeentwicklung. Mode wird augenblicklich als Umweltaktivistin und Produzentin sozialer Gerechtigkeit entdeckt, und darüber hinaus als Trägerin von Emotionen, Werten und Tugenden wie Ehrlichkeit oder Vertrauen. So entstand im letzten Jahrzehnt eine neue Arena der Ästhetik und Politik von Kleidung, in der Modelabels und Designer im Wettbewerb als Aktivisten gegen den Klimawandel, ökologische Katastrophen, Massenkonsum und die Ausbeutung von Arbeitskräften auftreten. Doch hatten die ‚ethische Wende der Mode‘ und deren aktivistischer Wandel hin zur Social Fashion, Eco Fashion, Sweatshop-free Fashion oder auch Planet-friendly Fashion seit Ende der 1990er Jahre zunächst lediglich viele kleinere Modelabels vollzogen. Sie waren dabei als Social Entrepreneurs mit alternativen Produktions-, Handelsund Materialstrategien durch Upcycling, Cradle to Cradle, Social Design, ökologische Textilien, vegane Kleidung, Do-it-Yourself oder Angebote für Prosumer gestartet. Diese ‚ethische Wende der Mode‘ ist genauso wie die in den letzten beiden Jahrzehnten durch NGOs wie etwa die Clean Clothes Campaign oder Umwelt-, Menschen- und Arbeitsrechtsorganisationen medial stark anwachsende ökologische und ökonomische Modekritik Teil der nach 1989 terminierten dritten Globalisierungsphase. Diese bildet den theoretischen Rahmen für die Betrachtung der „Antworten der Kleider“ als Ethical Fashion (vgl. Gaugele 2014). Zentral für deren Analyse ist zum einen die postkoloniale feministische Theorie zur Kultur der Menschenrechte von Gayatri Chakravorty Spivak, die sie in ihrer Schrift Unrecht richten (2004, 2008) entwickelt hat. Zum anderen geht es um Die ethische Wende in Ästhetik und Politik (vgl. Rancière 2006b), bei der in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts die Ethik parallel zur Konjunktur im Feld der Mode auch in Kunst und Politik einen Aufschwung erlebt hat und zum ‚Modewort‘ avanciert ist (vgl. Rancière 2007).7 Die Verschränkung dieser beiden Theorieperspektiven eröffnet neue Sichtweisen auf die ethische Wende der Mode und auf damit einhergehende Zusammenhänge von Bekleidung, Ökonomie, Gesellschaft und Politik: auf die westliche Kommodifizierung von Vertrauen und Ehrlichkeit in Folge der globalen Finanzkrise 2007/08; auf die Politik der Vereinten Nationen, die die Produktion ethischer Mode im Kontext der Global Governance einsetzt; auf die Verzahnung der Sozial-, Werte- und Kapitalismuskritik zwischen Ethical Fashion, Globalisierungskritik und dem Neuen Geist des Kapitalismus (vgl. Boltanski/Chiapello 2003).
6 Er zitiert Katharine Hamnett nach Brinton 2008. H&M reagierte beispielsweise auf diesen ‚Ethical Turn‘ der Mode u.a. mit der Einführung der Conscious Collection 2012 und Rabattaktionen bei der Abgabe von Altkleidern 2013. 7 Ich beziehe mich im Folgenden auf die englische Textausgabe von Rancière 2006b.
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HONEST FASHION, MISERICORDIA UND GRÜNES MAKE-UP Die globale Finanzkrise 2007/08 hat im Westen einen Diskurs über ‚Trust Design‘ – dt. ‚das Design von Vertrauen‘ – hervorgebracht, bei der es der Disziplin darum geht, Antworten auf die Krise des Vertrauens zu geben. Der Ansatz, dass Vertrauen eine neue Währung sei – „Trust is the New Currency“ (Canigueral/Ortiz/Leonard 2012) –, wie er durch das niederländische Institut für Design und Mode Premsela definiert wurde, charakterisiert auch das Design des 2012 neu eröffneten belgischen Modelabels Honest by.8 Kleidung soll ein Sensorium des Vertrauens schaffen und diesen ästhetischen Erfahrungsraum als Ausdruck sozial wie ökologisch kontrollierter Beziehungen sinnlich und sichtbar vergegenwärtigen. Als weltweit erstes Unternehmen, das die Aufschlüsselung von Materialien, Herstellungskosten und Preiskalkulationen bis hin zum CO2-Ausstoß komplett offenlegte, hat der Antwerpener Modedesigner Bruno Pieters mit seinem Label Honest by den ‚Honest Buy‘, d.h. den ‚ehrlichen Kauf‘ konzipiert. Honest stehe für die hundertprozentige Transparenz und für die Mission vollends bewusster Konsumentscheidungen. Ein früheres Beispiel aus dem Feld der Ethical Fashion ist das 2002 von zwei französischen Globetrottern und Künstlern gegründete Label Misericordia – dt. ‚Barmherzigkeit‘. Seine peruanische Näh- und Handarbeitswerkstatt arbeitet auch für bekannte Pariser Modedesigner wie Kris Van Assche (für Dior), Bernhard Willhelm oder Lutz Huelle. Das laut Firmengeschichte zunächst nach einem Waisenhaus in Lima benannte französischperuanische Unternehmen beschäftigte zuerst SchülerInnen, die unter der Anleitung von Benediktinerschwestern den Umgang mit Nähmaschinen und Textilien erlernt hatten. In den nachfolgenden Jahren baute es sich mit einer anderen Produktionsstätte in Lima und den Worten ‚Manos, Espiritu y Corazón‘ – dt. ‚Hand, Geist und Herz‘ – ein neues, spirituell konnotiertes ethisches Image auf.9 Ethische Glaubenssätze mit religiösen Untertönen, die mit den Worten „We believe in“ oder „We respect“ beginnen, entwirft nicht nur Honest by, sondern auch die Trust-Design-Debatte, die Ökologie und Nachhaltigkeit als religiös basierte Versprechen bewertet. Dass die Figur des Pilgers dem Idealtyp des Ethical-Fashion-Konsumenten entspreche, konstatierte jüngst die Modetheoretikerin Efrat Tseëlon (vgl. Tseëlon 2014: 16). Denn der Pilger, der als Figur Zygmunt Baumans Postmoderner Ethik entstammt, ist existenziell mit den Konsequenzen der Globalisierung, der Auflösung des Wohlfahrtsstaates und der Privatisierung der Öffentlichkeit verbun-
8 Vgl. Trust Design: „The relationship between design and trust“, in: trustdesign.org (8.7.2014), sowie die Website von Honest by unter http://www.honestby.com/ (8.7. 2014). 9 Vgl. https://www.unique-nature.com/shop/designer/misericordia/mehr/ (8.7.2014) sowie http://www.misionmisericordia.com/en/content/category/2-story-brand-clothespremium-fairtrade#st_content_3 (8.7.2014).
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den (vgl. Bauman 2009). Er ist es, der Verantwortungsgefühle gegenüber anderen Menschen, dem Planeten und der Natur trägt (vgl. Tseëlon 2014: 16). Während der Wohlfahrtsstaat historisch gesehen ökonomische Interessen im Dienste der Ethik mobilisierte, wird durch dessen neoliberale Auflösung die Ethik dem Ökonomischen zugewiesen. Ethisches Handeln wird nun zur Aufgabe des Staatsbürgers als Konsument (vgl. ebd.). In der Zeit, in der der Ethik-Begriff auf nationalstaatlicher Ebene ökonomisiert wurde, wurde er auch im Kontext der Global Governance auf supranationaler Ebene durch die UN neu besetzt. So zielt etwa die Milleniumserklärung der UN auf neue Kooperationsformen mit NGOs und der Wirtschaft zur Armutsbekämpfung und Entwicklungsarbeit ab (vgl. Brühl/Rosert 2014: 290). Beiden wurden nun größere Mitwirkungsmöglichkeiten eingeräumt und insbesondere NGOs noch intensiver in globale Normsetzungsprozesse eingebunden (vgl. ebd.: 292). So hat die Stärkung der NGOs als Akteure bei internationalen Konferenzen, insbesondere im Bereich der Entwicklungspolitik, zwar einerseits Forderungen nach einer gerechteren Weltwirtschaftsordnung forciert. Andererseits wurde dies jedoch seitens der sogenannten ‚Entwicklungsländer‘ als Angriff auf ihre Autonomie gewertet und führte selbst unter den NGOs zu einem Nord-SüdGefälle. Denn unter dem Schirm der Zivilgesellschaft entstand insbesondere beim Einsatz für Umweltanliegen eine Allianz zwischen den Regierungen der Industrieländer und den westlichen NGOs, die deren Marktlogik beförderte (vgl. ebd.: 298). Ein Beispiel hierfür ist die Installierung von sieben Task Forces für nachhaltigen Konsum und Produktion in Afrika durch die Agenda 21. Diese begann im Jahr 2003 mit dem Marrakesch-Prozess und mit Bestrebungen, ÖkoZertifizierungen und nachhaltige Lebensstile sowie Ausbildungsmaßnahmen in Afrika zu implementieren.10 Während die Vereinten Nationen vor der Amtszeit Kofi Anans (1997–2006) neoliberalen Tendenzen kritisch gegenüberstanden, bewegten sie sich unter Anan auf die Wirtschaft zu und versuchten, eine Basis für gemeinsame Interessen zu schaffen (vgl. Brühl/Rosert 2014: 301).
DIE „ETHICAL FASHION INITIATIVE“ DER UN ALS MODELL DER GLOBAL GOVERNANCE Als gemeinsame Initiative der Vereinten Nationen und der Welthandelsorganisation entstand 2006 im Genfer International Trade Center (ITC) die Ethical Fashion Initiative. Ein Leitartikel aus dem Jahr 2006 mit der Überschrift „Why is the United Nations Working in Fashion?“ beantwortet die Frage, warum die UN im Feld der Mode arbeite. Er beschreibt den Wandel der
10 United Nations: „The Marrakech Process. Issues – Sustainable Lifestyles & Education for Sustainable Consumption“, in: http://esa.un.org/marrakechprocess/pdf/ Issues_Sus_ Lifestyles.pdf (8.7.2014).
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UN, sich von lang andauernden Blauhelminterventionen zu distanzieren und stattdessen die humanitäre Hilfe zu intensivieren, die Mode und textile Handarbeiten als Mittel politischer und ökonomischer Steuerung sowie als Entwicklungshilfemaßnahmen einsetzt. Dies spiegelt, wie bereits oben sowie eingangs in Anlehnung an Rancière erwähnt, eine ethische Wende in der Politik, hin zu einem ethischen Regime wider. Dieses intendiert im Sinne der Global Governance politische Steuerungs- und globale Normsetzungsprozesse über die Produktion von Mode und Textilien. Nischenmärkte und insbesondere Handarbeiten – als Fähigkeiten der Kunsthandwerker, engl. „the skills of the artisans“11 – werden innerhalb der UN-Initiativen hoch bewertet. Gerade sie gelten als Chancen für sogenannte Entwicklungsländer, die nicht mit den hochtechnisierten Billiglohnländern konkurrieren können. Unter der Devise, die Ärmsten der Armen über die Mode mit dem Weltmarkt in Verbindung zu bringen, und mit dem Ziel, eine Brücke zwischen Entwicklungshilfe und Modeindustrie zu schaffen, begannen die Vereinten Nationen ihr Ethical Fashion Program in Ländern, die unter langen Bürgerkriegen gelitten hatten: Elfenbeinküste, Sri Lanka, Äthiopien und Mozambique. Seit 2006 entstand dabei eine neue Ökonomie mit inzwischen mehr als 7000 KunsthandwerkerInnen und Handelsstützpunkten in Haiti/Port-auPrince, Kenia/Nairobi, Ghana/Accra, Burkina Faso/Ouagadougou und in den palästinensischen Autonomiegebieten/Ramallah. Die Initiative konzentrierte sich darauf, einen neuen Nischenmarkt für die Luxusindustrie zu schaffen, mit Kunden wie Venturini Fendi, Sass & Bide, Stella McCartney oder dem Hollywood Juwelier Chan Luu.12 Unter der Schirmherrschaft des bengalischen Supermodels Bibi Russell lancierte die UN 2010 sogar noch eine weitere Mode-Initiative mit dem Namen Fashion4Development (F4D). Indem F4D vor Ort DesignerInnen unterstützt, wird Mode ein weiteres Mal dezidiert als ein Mittel aufgegriffen, um erklärte entwicklungspolitische Ziele der UN zu verfolgen. Zu diesem Zweck schaltete F4D im Juni 2012 eine zusätzliche Marketing-Website für afrikanische ModedesignerInnen.13 Auch Vivienne Westwood nutzte zur Produktion ihrer Ethical Fashion Africa Collection (2011) die ökonomischen Strukturen der Ethical Fashion Initiative der UN in Kenia (vgl. Westwood 2011). Im Military-Chic der Goldhelme, die bei Westwoods Fotoshooting inszeniert wurden, spiegeln sich die Pazifizierungsstrategien der UN mit ihren Bestrebungen, die Governance der Blauhelme durch die Steuerungstechniken der Mode zu ersetzen.
11 International Trade Center: „Ethical Fashion Initiative“, in: http://www.intracen.org/ exporters/ethical-fashion/the-initiative (8.7.2014). 12 Sowie für vier weitere große Firmen: United Arrows, Macy’s (USA), Manor (Schweiz) und Myer (Australien); vgl. http://www.intracen.org/itc/projects/ethical-fashion/ourpartners/ (8.7.2014). 13 Vgl. http://store.fashion-4-development.com/ (8.7.2014).
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Gleichzeitig diente Westwoods Kollektion auch als Flagship-Kampagne für die Ethical Fashion Initiative der UN, da beide dieselben politischen Schlagworte benutzten: „We are not a charity“ – wir sind keine Wohltätigkeitsorganisation! Westwood wie auch die UN-Kampagne berufen sich auf das Postulat der Frauenemanzipation: „Our overarching goal is to empower women“ – unser allumfassendes Ziel ist es, Frauen zu stärken!14 Darin, dass die am stärksten marginalisierten Menschen als Produzentinnen für führende Luxusunternehmen beschäftigt werden, sieht Simone Cipriani, der Leiter der UN-Fashion-Initiative, einen gegenseitigen Mehrwert und Benefit: „We connect the most marginalized people to the top of fashion’s value chain for mutual benefit.“ (Menkes 2012) Als Teil ihrer Wertschöpfungskette erhält Westwood den ethischen Status einer Weltverbesserin. „It’s quite incredible to think that we might be able to save the world through fashion“ (Bergin 2011), verbreitete sie 2011 in Presseinterviews. Auch Jürgen Teller, der für Westwood die Ethical Fashion Africa Collection in Kenia fotografiert hatte, erzählte in einem Interview mit der ZEIT, „dass sie beide Teil von etwas Gutem gewesen seien und nicht solche Fashion-Idioten.“ (Raether 2011) Slogans wie „This is not charity, this is work“ stehen hier für Arbeitsverhältnisse, bei denen mit den Begriffen Spivaks die Nähmaschinen „subalterner“ KunsthandwerkerInnen und ArbeiterInnen ethisches Kapital für die westliche Modeindustrie produzieren; und darüber hinaus die Ethik eines unternehmerischen Kalküls einen ethischen Mehrwert für ihre KonsumentInnen. Dass die Ethik der Menschenrechte an koloniale Machtstrukturen anknüpft, hat Spivak in ihrer Schrift Righting Wrongs – Unrecht richten dargelegt. Sie betont, dass die Kultur der Menschenrechte auf einem unablässigen ideologischen Druck des Nordens basiert, selbst wenn diese im Süden – und hier insbesondere durch die Nachkommen der kolonialen Mittelklasse – formuliert wird (vgl. Spivak 2008: 3). Die Kultur der Menschenrechte hierarchisiert die Subjekte und die Verteiler der Arbeiten: entlang der Kategorie Klasse genauso ungleichmäßig wie entlang der Kategorie ‚Race‘ sowie in einem Nord-Süd-Gefälle (vgl. ebd.). Ethik, schrieb auch Rancière, ist lediglich eine neue Form von Ehre, mit der die neue Form von Herrschaft ausgestattet wird (vgl. Rancière 2006b: 18). Mit der ‚ethischen Wende‘ in Ästhetik und Politik entstehen, wie bereits oben im Kontext der UN-Politik ausgeführt, neue ökonomische Macht- und Legitimationsstrukturen. Bereits mit der Etablierung des Global Compacts im Jahr 1999 knüpften die Vereinten Nationen zum einen an die Forderungen und Normsetzungsprozesse der NGOs an. Zum anderen jedoch schufen sie dabei eine Kooperationsbasis mit der Privat-
14 International Trade Center/Ethical Fashion Initiative: „We use Fashion as a Vehicle out of Poverty, at the same time fulfilling Fashion’s Desire to be more fair“, in: http://www.intracen.org/exporters/ethical-fashion/ (8.7.2014).
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wirtschaft, bei der sie ihre Kritik an der neoliberalen Wirtschaftsordnung verließen und sich in sogenannten ‚Entwicklungsländern‘ dafür einsetzten, Infrastrukturen zu unterstützen, um ein markt- und unternehmerfreundliches Umfeld zu schaffen (vgl. Brühl/Rosert 2014: 290). Im Zuge dessen wurde von der Ethical Fashion Initiative und ihren Partnern in der globalen Luxusindustrie eine neue Luxusdefinition in Umlauf gebracht, die die Akkumulation des ‚ethischen Kapitals‘ betont. Zeitgemäßer Luxus, so heißt es, sollte sozial verantwortlich sein und ethisch einwandfrei verfahren, denn wahrer Luxus sollte vom ökonomischen Standpunkt her nachhaltig sein.15 In Unrecht richten plädiert Spivak für einen Perspektivenwechsel zum Historisch-Politischen.16 Aus historischer Sicht knüpfen solche Praktiken sowohl an koloniale Traditionen einer christlichen ‚White Charity‘, d.h. an die weiße christliche Wohlfahrt, an, als auch an eine Phase der Industrialisierung Mitte des 19. Jahrhunderts, in der Textilarbeiten als soziale und ökonomische Techniken zur Ordnung der Geschlechter und Klassen eine große Bedeutung hatten. Analogien zwischen dem frühen liberalistischen Kapitalismus und den Strukturen des heutigen neoliberalen globalen Kapitalismus in den sogenannten Entwicklungsländern hat der schwedische Soziologe Patrik Aspers konstatiert. Indem ‚ethische Produkte‘ hergestellt werden, verfährt der globale Kapitalismus, der sich heute noch in einer relativ frühen Phase befindet, augenblicklich in den Entwicklungsländern in einer ähnlichen Art und Weise, wie in der kapitalistischen Frühphase im Westen, die seinerzeit ebenfalls soziale Waren hervorgebracht hat (vgl. Aspers 2008: 13). Interessante historische Parallelen zwischen der heutigen dritten und der ersten Globalisierungsphase (1840–1914) zeigen sich auch in Bezug auf die bürgerlichen Wohlfahrtspraktiken des frühen modernen westlichen Liberalismus, bei denen Textilien und Handarbeiten als Erziehungs- und Disziplinierungstechniken eine wichtige Rolle hinsichtlich Gender, Klasse und Race gespielt haben. Selbst in der bürgerlichen Frauenbewegung um 1900 gab es ein klassenspezifisches Verständnis darüber, ethisch ‚Gutes zu tun‘, indem mittellose Frauen in textilem Handarbeiten unterrichtet wurden, mit der ökonomischen Perspektive, als Arbeiterin in der Textilindustrie in Fabriken, Werkstätten oder in Heimarbeit beschäftigt zu werden (vgl. Gaugele 2011). Dies eröffnet durchaus Parallelen zu den emanzipatorischen Bestrebungen der Ethical Fashion Initiative der UN. Auch sie schreiben klassenspezifische Hierarchisierungsmuster fort;
15 Vgl. International Herold Tribune Luxury Conference 2012: The Promise of Africa, the Power of the Mediteranean, Rom 15./16. November 2012, in: http://www.inytconferences.com/luxury-2012.aspx (8.7.2014) . 16 Diese veranschaulicht sie hier durch textile Metaphern: Das kulturelle Skript wird zur gewobenen „Text-ilie“ bzw. zum zerrissenen kulturellen Gewebe, das „zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt aus dem dominanten Webstuhl entfernt wurde.“ Das, so Spivak, „bedeutet es, subaltern zu sein.“ (Spivak 2008: 44)
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gerade indem sie sich auf ‚weibliches Empowerment‘ berufen und betonen, dass die für die Luxusindustrie Beschäftigten in ‚Slums‘ wohnen oder aus ‚ländlichen Gebieten‘ stammen (vgl. Gaugele 2011). Dies ist, so Spivak, eine charakteristische Dynamik des Neokolonialismus, denn dieser lenke das Sprechen über Rechte und Menschenrechte in klassenspezifische Situationen (vgl. Spivak 2007: 7). Solche neokolonialen Strukturen charakterisieren auch das Feld der Ethical Fashion, insbesondere dann, wenn die simple ökonomische Verfahrensweise, Menschen für ihre Arbeit akzeptabel zu bezahlen, zu einem performativen Akt von Klassenhierarchie wird.
GLOBALISIERUNGSKRITIK UND DER NEUE GEIST DES KAPITALISMUS Als Ausdruck der dritten Globalisierungsphase ist Ethical Fashion und der damit verbundene Paradigmenwandel hin zu einem „neuen Geist des Kapitalismus“ (Boltanski/Chiapello 2003) ein Phänomen, das auf klassenspezifische Werte und ethische Motivationen früherer kapitalistischer Phasen rekurriert. Bereits 1905, d.h. gegen Ende der ersten Globalisierungsphase (1840–1914), hat Georg Simmel in seinem Aufsatz zur Philosophie der Mode eine Analogie zwischen Mode und Ehre formuliert und dabei die klassenformierende Funktion beider Elemente betont, die heute erneut das Konzept der Ethical Fashion rahmen. „Sie (die Mode) ist, wie ich sagte, ein Produkt klassenmäßiger Scheidung und verhält sich so wie eine Anzahl anderer Gebilde, vor allem wie die Ehre, deren Doppelfunktion es ist, einen Kreis in sich zusammen- und ihn zugleich von anderen abzuschließen.“ (Simmel 1905: 9) Ehre wirkt dabei im Sinne von Standesehre korporativ und ist mit ihrer „Doppelwirkung nach innen und nach außen“ (ebd.) ein erfolgreicher Stabilisator gesellschaftlicher Hierarchien. Auch Luc Boltanski und Ève Chiapello argumentieren, dass sich der Geist des Kapitalismus durch geschichtlich wandelnde und wandelbare Wertemuster mit historisch wiederkehrenden Grundmotiven generiert. Den neuen Geist des Kapitalismus definieren sie in Rekurs auf Max Weber als einschlägige Ideologie, die das Engagement für den Kapitalismus rechtfertigt (vgl. Boltanski/ Chiapello 2003: 9). Kapitalismus, so Boltanski und Chiapello, kann sich nicht allein aus seinen eigenen Ressourcen generieren, sondern braucht eine Orientierung gegenüber dem Allgemeingut, das für ein starkes Engagement auch gute Gründe verlangt (vgl. ebd.: 28). Dabei differenzieren Boltanski und Chiapello zwischen Künstler- und Sozialkritik als zwei Formen der Opposition, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen. Während Sozialkritik Armut und Ausbeutung anklagt, stellt die Künstlerkritik sehr elaborierte Forderungen nach Freiheit, Befreiung und Authentizität (vgl. ebd.: 346). Am Begriff der Kreativität etwa lässt sich nachzeichnen, wie in den 1990er Jahren Themen aus der Künstlerkritik in den kapitalistischen Diskurs integriert wurden.
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Demgegenüber ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein Revival der Sozialkritik feststellbar (vgl. ebd.: 346). Ethische Motivationen beispielsweise, die auf den ersten Blick konträr zur kapitalistischen Logik zu sein scheinen, haben Unternehmer letztendlich doch dazu inspiriert, unter veränderten Wertauffassungen Kapital zu akkumulieren (vgl. ebd.: 8). Ethische Mode und das damit verbundene Fashioning von Sozialkritik sind – so gesehen – Teil dieser dialektischen Operation, in der der globale Kapitalismus die Kritik der Globalisierungsgegner aufnimmt, um aus ihr heraus sein neues Ethos zu generieren. Boltanski/Chiapello betonen, dass der Kapitalismus seine Feinde ebenso brauche wie Menschen, die er in Wut versetzt und die ihn bekämpfen. Nur indem der Kapitalismus Mechanismen von Gerechtigkeit inkorporiert, kann er zu der ihm selbst mangelnden moralischen Begründung und Unterstützung kommen (vgl. ebd.: 28). Sieht man Ethical Fashion als Indikator für einen Wandel hin zu einem neuen Geist des Kapitalismus, bei dem es der globalen Modeindustrie aktuell darum geht, Kritik für ihr System zu adaptieren, so spielt hier die Politik der Vereinten Nationen ebenfalls eine zentrale Rolle. Denn gerade auf dieser politischen Ebene ist unter dem westlichen Schirm der Zivilgesellschaft eine Allianz zwischen den Regierungen der Industrieländer, Wirtschaftsunternehmen und NGOs entstanden, die auch deren Marktlogik gefördert hat (vgl. Brühl/Rosert 2014: 298). Bereits die Unverbindlichkeit des Global Compacts spiegelt die Doppelbewegung der UN wider, mit der sie auf NGOs und die Wirtschaft zugingen und eine Basis für gemeinsame politische Interessen zu schaffen versuchten (vgl. ebd.: 301).
Abbildung 14: Adbusting der „Clean Clothes Campaign“ als Statement zur Ausbeutung kambodschanischer TextilarbeiterInnen für die „Conscious Collection“ von „H&M“ (2013)
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Eine weitere Reaktion darauf ist beispielsweise das Adbusting der Clean Clothes Campaign aus dem Jahr 2013. Mit diesem protestierten AktivistInnen engagiert gegen das ‚Bluewashing‘ der H&M Conscious Collection, für die 17 kambodschanische TextilarbeiterInnen ausgebeutet wurden. Diese Dynamik äußert sich nicht zuletzt im eingangs beschriebenen Fallbeispiel Primark: Auch die auf Etiketten gestickten SOS-Rufe in den Primark-Textilien sind Ausdruck dieser neuen Netzwerke zwischen GlobalisierungskritikerInnen, Unternehmen und Global Governance. Politischer Aktivismus, wie er sich aktuell im Feld der ‚ethischen Mode‘ inszeniert, resultiert im Wesentlichen aus einer neuen Beziehung zwischen Kapitalismus und Kritik, in der die Steuerungspolitik der Global Governance das Ethische zum ökonomischen Imperativ erhoben hat (vgl. Boltanski/Chiapello 2005: 4).
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17 Clean Clothes Campaign: „Conscious? Not really …“, in: http://www.cleanclothes. org/news/2013/03/25/conscious-not-really (8.7.2014).
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AutorInnen
UTA DEGNER, Studium der Germanistik, Philosophie und Italianistik in Konstanz, Bologna und Berlin, Promotion an der FU Berlin mit einer Arbeit zu Hölderlins Lyrik (Bilder im Wechsel der Töne. Hölderlins Elegien und ‚Nachtgesänge‘, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2008), 2007–2009 Mitarbeiterin im SFB „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“ an der FU Berlin, seit 2009 Universitätsassistentin am FB Germanistik der Universität Salzburg, Aufsätze zu Franz Kafka, Elfriede Jelinek, Bertolt Brecht u.a., zuletzt erschienen: gem. mit Elisabetta Mengaldo Hg.: Der Dichter und sein Schatten. Emphatische Intertextualität in der modernen Lyrik, München: Fink 2014. DANIEL DEVOUCOUX, Studium der Germanistik-Skandinavistik/Geschichte in Paris, Promotion an der Sorbonne, Tätigkeiten in der Wirtschaft, seit 1996 freie publizistische Arbeit und Lehrtätigkeit im Bereich der Kulturwissenschaft an der Universität Dortmund, Forschungsschwerpunkte: Kulturanthropologie, insbesondere der Bekleidungsgeschichte, Kostüm in Film/Medien, Filmgeschichte, Modetheorien, Körpergeschichte, materielle Kultur. Zuletzt erschienen: Mode im Film. Zur Kulturanthropologie zweier Medien, Bielefeld: transcript 2007. SONJA EISMANN, Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft, Anglistik und Romanistik in Wien, Mannheim, Dijon und Santa Cruz. Lebt als Journalistin und Kulturwissenschaftlerin in Berlin. Mitherausgeberin der Zeitschrift Missy Magazine; ihre Texte, Vorträge und Lehrveranstaltungen beschäftigen sich mit der Repräsentation von Gender in der Populärkultur, aktuellen feministischen Diskursen und Aktivismen sowie dem utopischen Potential von Mode. Zuletzt erschienen: gem. mit Elke Gaugele/Verena Kuni/Elke Zobl Hg.: craftista! Handarbeit als Aktivismus, Mainz: Ventil Verlag 2011; absolute fashion, Freiburg: orange press 2012.
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HILDEGARD FRAUENEDER, Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Philosophie in Salzburg und Wien, Promotion 1988; Forschung und Lehre an Universitäten in Salzburg und Linz in den Bereichen Gender Studies, Kunst und Gesellschaft, Medienkunst, Kunsttheorie, Gegenwartskunst und Öffentlichkeiten, Senior Lecturer an der Universität Mozarteum; Ausstellungskuratorin, ab 2001 Leiterin der Galerie 5020; zuletzt erschienen: gem. mit Gianni Stiletto Hg.: Was tun – figuren des protests. taktiken des widerstands, Salzburg: müry salzmann Verlag 2010; Hg.: Vorweg und hinterher. Ruedi Arnold, Weitra: Bibliothek der Provinz 2013. ELKE GAUGELE, Kulturwissenschaftlerin und Professorin an der Akademie der Bildenden Künste in Wien, Leitung des Ordinariats „Moden und Styles“ am Institut für das künstlerische Lehramt, zuvor u.a. Hochschulassistentin an der Universität zu Köln (1998–2006), Mitglied des bildwissenschaftlichen Kollegs „Bild, Körper, Medium“ an der HfG Karlsruhe (2002–2007), Research Fellow am Department for Visual Arts Goldsmiths/University of London (2003–04), Lise Meitner Stipendiatin (2004/06) sowie Autorin und Kuratorin, zuletzt erschienen: gem. mit Sonja Eismann/Verena Kuni/Elke Zobl Hg.: craftista! Handarbeit als Aktivismus, Mainz: Ventil Verlag 2011; Hg.: Aesthetic politics in fashion, Berlin: Sternberg Press 2014. SILKE GEPPERT, Studium der Kunstgeschichte, Theaterwissenschaft, Theologie und Archäologie mit Mode- und Textilschwerpunkt in Wien, Promotion an der Universität Wien zur Mode des 15. Jahrhunderts, wissenschaftliche Assistentin an der Universität Paderborn, Lehrbeauftragte an der Universität Mozarteum (Salzburg), an der Hochschule für Gestaltung Pforzheim, an den Universitäten Graz, Innsbruck und Salzburg, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Dommuseum zu Salzburg, Begründerin des Netzwerks Forum_Mode_Kostüm_ Textil, Österreich (www.fmkt.at), zuletzt erschienen: Mode unter dem Kreuz. Kleiderkommunikation im christlichen Kult, Salzburg: Anton Pustet 2013. CHRISTA GÜRTLER, Studium der Germanistik, Kunstgeschichte und Publizistik in Salzburg, Literaturwissenschaftlerin, Literaturkritikerin, Ausstellungskuratorin und Geschäftsführerin des Salzburger Literaturforums Leselampe und der Literaturzeitschrift SALZ, seit 1984 Lehrbeauftragte an der Universität Salzburg, seit 2008 Mitkuratorin des Literaturfests Salzburg, Publikationen vor allem zur Literatur von Autorinnen, u.a. zu Ingeborg Bachmann, Elfriede Jelinek, zuletzt gem. mit Helga Mitterbauer und Martin Wedl Hg. der ElfriedeGerstl-Werkausgabe in vier Bänden, Graz: Droschl 2012–2015. KORNELIA HAHN, Professorin für Allgemeine Soziologie und Soziologische Theorie am FB für Politikwissenschaft und Soziologie an der Universität Salzburg, Studium und akademische Grade erwarb sie in Bonn, ihre Forschungsinteressen liegen auf dem Spannungsverhältnis zwischen individuali-
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sierender Kultur und der sozialen Ordnung in der Moderne, ihre Veröffentlichungen beziehen sich auf Theorien und Phänomene der sozialen Kontrolle, intimer Beziehungen, Körperrepräsentationen und das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit, zuletzt erschienen: Ent-fernte Kommunikation. Zur Soziologie fortgeschrittener Medienkulturen, Konstanz: Universitätsverlag Konstanz 2009. JULIA HARGASSNER, Lehramtsstudium (Englisch, Deutsch, Russisch) an der Staatlichen Pädagogischen Universität in Ekaterinburg (Russland) und an der Universität Salzburg, Lehraufträge am Fachbereich Slawistik in Salzburg, arbeitet derzeit im Rahmen des FWF-Projekts „Nadel und Faden. Transformationen des sowjetischen Kostüms als Spiegel des Wertewandels in der Sowjetunion am Beispiel der individuellen Herstellung von Kleidung (1953– 1985)“ an ihrer Dissertation zum Thema „Vestimentäre Kommunikation in der Sowjetunion zwischen 1954 und 1983 am Beispiel von literarischem Text und Film“. Zuletzt erschienen: gem. mit Eva Hausbacher/Elena Huber Hg.: Fashion, Consumption and Everyday Culture in the Soviet Union between 1945 and 1985, München/Berlin/Washington D.C.: Verlag Otto Sagner 2014. EVA HAUSBACHER, Professorin für Slawistische Literatur- und Kulturwissenschaft am Fachbereich Slawistik der Universität Salzburg, Studium der Slawistik und Germanistik an der Universität Salzburg, Studien- und Forschungsaufenthalte in Bulgarien und Moskau, Vertretungsprofessur an der Universität Innsbruck, Leitung des FWF-Forschungsprojekts „Nadel und Faden. Transformationen des sowjetischen Kostüms als Spiegel des Wertewandels in der Sowjetunion am Beispiel der individuellen Herstellung von Kleidung (1953–1985)“, Forschungsschwerpunkte: Russische Literatur im 20. und 21. Jahrhundert, Literatur im Kontext von Migration. Zuletzt erschienen: gem. mit Elena Huber/Julia Hargaßner Hg.: Fashion, Consumption and Everyday Culture in the Soviet Union between 1945 and 1985, München/ Berlin/Washington D.C.: Verlag Otto Sagner 2014. ELENA HUBER, Studium der Germanistik und des Textilen Gestaltens an der Universität Wien und der Akademie der bildenden Künste Wien, 2010 Promotion an der Universität für Angewandte Kunst Wien zum Thema „Mode in der Sowjetunion. 1917–1953“, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Slawistik der Universität Salzburg mit dem Forschungsprojekt „Nadel und Faden. Transformationen des sowjetischen Kostüms als Spiegel des Wertewandels in der Sowjetunion am Beispiel der individuellen Herstellung von Kleidung (1953–1985)“, Forschungsschwerpunkte in den Bereichen Gender Studies, Kulturtheorien, Modetheorie, Alltagskultur. Zuletzt erschienen: gem. mit Eva Hausbacher/Julia Hargaßner Hg.: Fashion, Consumption and Everyday Culture in the Soviet Union between 1945 and 1985, München/Berlin/Washington D.C.: Verlag Otto Sagner 2014.
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MANFRED KERN, Professor für Ältere deutsche Sprache und Literatur an der Universität Salzburg, Studium der Deutschen und Klassischen Philologie in Wien, Promotion 1997, 2000–2006 Universitätsassistent am Fachbereich Germanistik der Universität Salzburg, Habilitation 2006, von 2008–2010 Professor für Ältere deutsche Sprache und Literatur an der Universität Klagenfurt, Forschungsschwerpunkte: Komparatistische Mediävistik, Interferenzen zwischen theologischen und profanen Textkulturen, Antikerezeption des Mittelalters, zuletzt erschien (Hg., unter Mitarbeit von Felicitas Biller, Claudia Höckner, Anja-Mareike Klingbeil und Manuel Schwembacher): Imaginative Theatralität. Szenische Verfahren und kulturelle Potenziale in mittelalterlicher Dichtung, Kunst und Historiographie, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2013. GERTRUD LEHNERT, Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft am Institut für Künste und Medien der Universität Potsdam, Arbeitsschwerpunkte auf den Gebieten Modegeschichte und -theorie, kulturelle Visualisierungs- und Inszenierungsstrategien, Gender Studies, Räume und Emotionen, Lyrik seit der Renaissance, Herausgeberin der Reihe Fashion Studies im transcript Verlag (Bielefeld), Autorin vieler Bücher und Aufsätze über Modethemen, zuletzt erschienen: Mode. Theorie, Geschichte und Ästhetik einer kulturellen Praxis, Bielefeld: transcript 2013; gem. mit Alicia Kühl/Katja Weise Hg.: Modetheorie. Klassische Texte aus zwei Jahrhunderten, Bielefeld: transcript 2014. BARBARA VINKEN, Professorin für Allgemeine Literaturwissenschaft und Romanische Philologie an der LMU München, 1989 in Konstanz und 1991 in Yale promoviert, habilitierte sie sich 1996 in Jena, Gastprofessorin an der New York University (zuletzt 2012), der Humboldt-Universität zu Berlin, der EHESS Paris, der Université Michel de Montaigne in Bordeaux, der Johns Hopkins University in Baltimore, der University of Chicago und der Venice International University (VIU), verbrachte 2012/2013 mit einer Senior Researcher in Residence Fellowship am Center for Advanced Studies der LMU München, 2015 forschte sie am Neubauer Collegium for Culture and Society der University of Chicago, 2015/2016 wird sie am Wissenschaftskolleg zu Berlin (WIKO) verbringen, zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt erschien: Angezogen. Das Geheimnis der Mode, Stuttgart: Klett-Cotta 2013.
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Bildnachweis
ABBILDUNG 1: Herald Tribune, 1975. ABBILDUNG 2: Vogue US, November 2013. ABBILDUNG 3: Historisches Museum Bern. ABBILDUNG 4: Müller von der Hagen, Anne (1998): Giotto di Bondone – um 1267–1337, Köln: Könemann. ABBILDUNG 5: Lotte Hendrich. ABBILDUNG 6: Aleksandr Vasil’ev (2007): Russkaja moda: 150 let v fotografijach. Moskva, 290. ABBILDUNG 7: Krokodil 6, 10. März 1954, 16. ABBILDUNG 8, 9, 10: Fergus Greer, London. ABBILDUNG 11, 12: Cindy Sherman/Metro Pictures, New York. ABBILDUNG 13: https://queervanity.files.wordpress.com/2014/09/imgp5121.jpg. ABBILDUNG 14: Courtesy: Clean Clothes Campaign, http://www.cleanclothes. org/news/2013/03/25/conscious-not-really, aufgerufen am 8.7.2014.
Fashion Studies Alicia Kühl Modenschauen Die Behauptung des Neuen in der Mode März 2015, 334 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2885-2
Gertrud Lehnert Mode Theorie, Geschichte und Ästhetik einer kulturellen Praxis (2., unveränderte Auflage 2015) 2013, 200 Seiten, kart., 24,90 €, ISBN 978-3-8376-2195-2
Gertrud Lehnert, Alicia Kühl, Katja Weise (Hg.) Modetheorie Klassische Texte aus vier Jahrhunderten 2014, 240 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2250-8
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de