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German Pages 414 Year 2015
Rainer Wenrich (Hg.) Die Medialität der Mode
Fashion Studies | Band 3
Editorial Mode ist Motor und Ergebnis kultureller Dynamiken. Kleider gehören der materiellen Kultur an; Mode ist Ergebnis des Handelns mit Kleidern und wird in ästhetischen und alltagskulturellen Praktiken hervorgebracht. Als omnipräsente visuelle Erscheinung ist Mode wichtigstes soziales Zeichensystem – und sie ist außerdem einer der wichtigsten globalen Wirtschaftsfaktoren. Die Reihe »Fashion Studies« versteht sich als Forum für die kritische Auseinandersetzung mit Mode und präsentiert aktuelle und innovative Positionen der Modeforschung. Die Reihe wird herausgegeben von Gertrud Lehnert, Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft an der Universität Potsdam.
Rainer Wenrich (Hg.)
Die Medialität der Mode Kleidung als kulturelle Praxis. Perspektiven für eine Modewissenschaft
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Inhalt
Vorwort — Medialität der Mode Harold Koda | 9
Einführung zu einer Medialität der Mode Rainer Wenrich | 13
K LEIDUNG DENKEN High and Low — Das Ende der hundertjährigen Mode Barbara Vinken | 31
Mode Valerie Steele | 41
Jenseits der Mode liegt das Schweigen — Über die Unmöglichkeit das Undenkbare zu denken Mahret Kupka | 59
Mode als Objekt der Wissenschaften und der Wissensgeschichte Gabriele Mentges | 73
K LEIDUNG LESEN Zwischen ›Lesbarkeit‹ und ›Unlesbarkeit‹ der Kleider-Codes Zur bildlichen Repräsentation unauthentischer Kleidung Philipp Zitzlsperger | 89
ModeMedien — Transmedialität und Modehandeln Dagmar Venohr | 109
Mode auf Papier Antje Krause-Wahl | 127
K LEIDUNG VERSTEHEN Kreative Liaisons in Paris Inter ferenzen von Mode, Kunst und Fotografie bei Paul Poiret und Elsa Schiaparelli Burcu Dogramaci | 147
Modezeiten — Bildwelten Erinnerung und Nostalgie in der Kleidungspraxis Heike Jenss | 167
K LEIDUNG KULTURELL UND POLITISCH TRANSFORMIEREN Wie man die hegemoniale Idee der Mode als westliches Konzept auseinandernimmt Yuniya Kawamura | 185
Mode als ästhetische Metapolitik Zum Ethical Turn der Kleidung Elke Gaugele | 195
K LEIDUNG PRÄSENTIEREN Die »Choreotopografie« oder das Schreiben von Modenschauräumen Alicia Kühl | 213
Zur Räumlichkeit von Mode — Vestimentäre räumliche Praktiken Gertrud Lehnert | 233
Mode und die Praxis des Kuratierens Ingrid Mida | 251
Kleider, die berühren Über das Verhältnis von Kleidermode, Taktilität und Wissen in Museumsausstellungen Katja Weise | 265
K LEIDUNG MEDIALISIEREN Der Kalte Krieg im Anzug Cary Grants Kleidung in Alfred Hitchcocks Der unsichtbare Dritte Ulrich Lehmann | 291
Die Sprache der Mode am Beispiel von Verbergen und Entblößen Petra Leutner | 315
»Böse« Mode? Visuelle und materielle Kulturen der schwarzen Stile Gothic und Black Metal Birgit Richard | 331
Vestimentäre Einschreibungen — Über mediale Verknüpfungen in der Kleidermode Rainer Wenrich | 345
Literatur | 375 Autorinnen und Autoren | 405
Vorwort — Medialität der Mode Harold Koda Die Kleidermode ist in der Zwischenzeit als ein Medium anerkannt, das unsere Kultur uneingeschränkt durchdringt. Die Mode avancierte zu einem populären Gegenstand einer kritischen Auseinandersetzung in der Wissenschaft. Zieht man die Medialität der Mode in Betracht, dann ergeben sich aufgrund der Allgegenwart der Mode eine Vielzahl von Gelegenheiten zur Nachforschung. Die Erforschung des Themas im Zusammenhang mit der Organisation und Präsentation historischer Artefakte in Museen ist ein besonders anschaulicher Aspekt, um die zentrale Bedeutung der Mode im Rahmen der Kulturkritik zu betrachten. Die wachsende Popularität und die vielfältigen Annäherungen von Kleiderausstellungen auf internationaler Ebene stellen eine sehr ausdrucksstarke Plattform für die Mode dar. Möglicherweise ist gerade dieser Mechanismus für die Interpretation von Mode am besten begründet in der Anerkennung der Rolle des Museums als kultureller Torwächter und kulturelle Instanz der Legitimierung. Das Bewusstsein dafür, dass Kleidung, insbesondere neuere Kollektionen, eine konzeptuelle Wertigkeit besitzen und sich für eine intellektuelle Auseinandersetzung eignen, geht meines Erachtens aus den Ausstellungen von Kleidungsstücken hervor. In der Ausstellung »Exhibiting Fashion: Before and After 1971«, einer Nacherzählung der Geschichte von Modeausstellungen, zitieren Judith Clark und Amy de la Haye die Präsentation »Fashion: An Anthology by Cecil Beaton«, die im Jahr 1971 im Victoria and Albert Museum gezeigt wurde als bahnbrechend. Fest steht, dass diese radikalen Präsentationsideen Vorbild waren für Diana Vreelands Cristobal Balenciaga-Retrospektive, die ein Jahr später jenen großen Kleidermacher des 20. Jahrhunderts ehren sollte. Vreelands Ausstellung im Metropolitan Museum of Art sollte aber einen noch größeren Einfluss haben, weil Vreeland aus den von Beaton gewonnenen Inspirationen einen ganz eigenen Stil für das Costume Institute im Metropolitan Museum schuf. Damit schaffte sie etwas, das dem Victoria and Albert Museum nach dem Experiment mit der Beaton-Ausstellung versagt blieb. Viel wichtiger aber war es, dass sowohl die Beaton-Ausstellung, mit ihren vielen aktuellen Referenzen, als auch die Balenciaga-Präsentation an
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Kühnheit in Bezug auf die Auswahl zeitgenössischer Mode nicht zu überbieten waren. Man muss wissen, dass es vor den 1980er Jahren kaum dazu kam, zeitgenössisches Modedesign in den Mittelpunkt einer Ausstellung zu bringen. Die im Jahr 1983 gezeigte Yves Saint Laurent Ausstellung im Costume Institute war der erste monographische Überblick über das Werk eines noch lebenden Designers im Rahmen einer großen Ausstellung. Schon bald darauf erschienen regelmäßig aktuelle Kollektionen in Ausstellungen des Fashion Institute of Technology. Aber dies war keineswegs die Regel bei den meisten Einrichtungen, die Kleidermode zeigten. Sogar das Metropolitan Museum richtete seinen Fokus nicht mehr so stark auf zeitgenössische Mode, nachdem es für die Saint Laurent Ausstellung mit harter Kritik bestraft wurde. Eine derartige Reaktion auf Mode, besonders auf Stücke, denen die Patina der Zeit und die ehrwürdige Aura der Geschichte fehlte, legte die unbehagliche Position der Mode in der Hierarchie der Künste offen. Die Prämisse, dass Kleidermode einer Beurteilung als Kunst standhält, ist natürlich keinesfalls die Bedingung dafür, als Gegenstand einer kritischen intellektuellen Auseinandersetzung gelten zu können. Aber es geht um die Anerkennung der Position der Mode innerhalb der Hochkultur, die ihren Fortschritt im Zusammenhang mit kultureller Akzeptanz bemisst. Daraus resultiert die bedeutsame Rolle, durch die das Museum die Medialität der Mode manifestieren kann. Aus dem Blickwinkel der AusstellungsmacherInnen existieren einige prosaische Veränderungen, welche die rapide Weiterentwicklung der Rolle der Mode innerhalb der Kultur bestimmen. In den 1980er Jahren war die Verfügbarkeit von Leihgaben der Werke zeitgenössischer DesignerInnen nur lückenhaft. Die meisten hatten keine Archive mit vorangegangenen Kollektionen und die Beispiele der Laufsteg-Präsentationen konnten oft nicht mehr lokalisiert werden. In der Zwischenzeit hat jedes bedeutende Modehaus zumindest ein begrenztes Archiv seiner wichtigsten Stücke. Jetzt liegt die Herausforderung nicht mehr darin, die Werke ausfindig zu machen, sondern in der Begehrlichkeit nach den Stücken, die in immer mehr Ausstellungen weltweit gezeigt werden sollen. Fast zehn Jahre lang rivalisierten einige wenige Einrichtungen um die Leihgaben aktueller Designer. Das Fashion Institute of Technology gehörte zu den wenigen, die regelmäßig zeitgenössische Kleidermode präsentieren konnten. Das Bewusstsein dafür, dass das Design vorhergehender Kollektionen bedeutsam für die Gegenwart oder interessant für die Zukunft sein könnte, begann sich mit dem Erfolg der Ausstellung zeitgenössischer Mode zu entwickeln. Ähnlich war es, als man Bilder für »Fashion and Surrealism« (1986) und »Jocks and Nerds« (1989), zwei Publikationen, die vor allem auf Mode-Editorials zurückgriffen, suchte. Hier war es die Herausforderung, Originalabzüge und Negative zu finden. Zu der Zeit verlor die Modefotografie unmittelbar nach der Publikation ihren Wert.
Vor wor t — Medialität der Mode
Sogar die Fotografen hatten kein Interesse mehr an ihren Arbeiten, die nutzlos erschienen. Dies änderte sich, als man begann, die Arbeiten von Modefotografen in Galerien und Museen auszustellen. Die fotografische Dokumentation von Kleidermode erfuhr eine enorme Aufwertung. In der Zwischenzeit ist es vor allem die Benutzungsgebühr, die eine Veröffentlichung von ähnlichen Büchern, basierend auf der Gegenüberstellung von mehreren Bildern, verhindern kann. In den 1980er Jahren begannen sich die konzeptuellen Grenzen zwischen künstlerischer Praxis und kommerzieller Kleidermode zu verwischen, als zeitgenössische Künstler die Sprache der Mode in ihren Arbeiten einsetzen. Manchmal kritisierten sie dabei das Modesystem offensichtlich oder nutzten die Avantgarde-Mode, um ihre Individualität zu betonen. Designer wie Issey Miyake, Martin Margiela und Husein Chalayan schufen kurze Zeit später Ausstellungen und konzipierten Installationen, mit denen sie die Idee des traditionellen Museums herausforderten und dabei aber auch die kuratorische Praxis vorantrieben. Als einige Museen damit anfingen, Modeabteilungen einzurichten, oder das Profil von vorhandenen Modesammlungen weiterzuentwickeln, entstand auch ein regelmäßiges Interesse von Kleidungs- und ModekennerInnen an der theoretischen und konzeptuellen Analyse von Kleidungsstücken, die sich vor allem an Forschungsansätzen der Literaturwissenschaften orientierte. Damit einher ging auch eine Veränderung der methodischen Vorgehensweise in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Kleidermode. Es dauerte nicht lange, dann erschienen kunst- und zu einem geringeren Grad auch sozialhistorische Betrachtungsmodelle altmodisch. Die interpretativen Annäherungen an Kleidungsstücke variierten beständig und die Grenzen dessen, was Kleidermode sei, weiteten sich zunehmend aus. Ein sich gegenseitig unterstützendes System aus internationalen Modeausstellungen, der Bestätigung des hohen Potenzials der Mode als Forschungsthema in Wissenschaftskreisen und des Paradigmenwechsels innerhalb des Modegewerbes in der Zeitspanne der 1970er zu den 1990er Jahren führte zu einem Bewusstsein für die Medialität der Mode. Die Ausbreitung globaler Marken und die wachsende Präsenz internationaler Modezentren bedingte eine Vorstellung von Mode die mehr einer schwer zu fassenden Menge als einem zentralisierten, physikalisch und kulturell fixierten Phänomen entspricht. Ausstellungen, die von Unternehmen unterstützt werden, wie z.B. Prada in Tokyo, Dior in Moskau oder Chanel in Shanghai binden die eigentliche Rolle des Museum als Ursprungsort der Kulturkritik an sich. Das Internet mit seinem extrem, auch in Bezug auf Kritik, grenzenlosen Raum, weitet die Verfügbarkeit der Mode aus und verursacht damit auch eine Neubewertung der Mode. Grund dafür ist ein bisher nicht vorhandener Zugang zu Informationen aufgrund der digitalen Publikation von Fachliteratur und der grenzenlose Umlauf von Bildbeispielen aus dem Kontext der Kleidermode. Eine
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systematische Forschung zur Kleidermode ist damit nicht mehr das alleinige Vorrecht der Wissenschaft, sondern auch von begierigen Amateuren, die das Thema der Mode auf blogs, vielfältigen Text- und Bilddokumentationen befördern. Dazu gesellt sich eine Form des »Para-Kuratierens« auf den Präsentationsplattformen von pinterest u.a. Wir leben in einer Zeit des besonderen Reichtums einer blühenden Mannigfaltigkeit in Bezug auf die Sichtweise von Mode. Das Ausstellen von Kleidermode in Museen ist nicht mehr länger beschränkt auf eine Handvoll großer Städte der westlichen Hemisphäre. Kleidung und Mode waren in der Vergangenheit der Ausgangspunkt für einige Intellektuelle, aber in den vergangenen drei Dekaden vollzog sich eine virtuelle Explosion des kritischen Diskurses über die Mode. Die Vielfalt der aufgezeigten Themen und Methoden in den Aufsätzen der vorliegenden Anthologie repräsentieren einen beeindruckenden Überblick dieser sich beständig ausweitenden Bandbreite kritischer und interpretativer Strategien, die von der Mode durchdrungen werden. Aus meiner Sicht handelt es sich hierbei um eine Analogie zu der wachsenden Popularität und Präsenz von Mode-Ausstellungen, die ich verstärkt wahrnehme. Die Felder der Mode haben sich gleichzeitig entwickelt und vermehrt.
Einführung zu einer Medialität der Mode Rainer Wenrich »Das Phänomen der Mode hat bisher noch keine befriedigende Erklärung gefunden.« (THORSTEIN VEBLEN: Theorie der feinen Leute, 1899)1 »I am a failed painter.« (Y VES S AINT-L AURENT, 1992) 2
Die von Harold Koda in seinem vorangehenden Vorwort zur Medialität der Mode aufgezeigten Überlegungen, dass die jüngere Geschichte der Präsentation von Kleidermode in Form von musealen Ausstellungen sowohl die intellektuelle Auseinandersetzung mit der Mode als auch die Medialität der Mode am Beginn des 21. Jahrhunderts beeinflussen, machen deutlich, dass Modeausstellungen konzeptuelle Strukturen repräsentieren, die einen wissenschaftlichen Diskurs über Mode unterstützen. An diese Überlegungen möchte diese folgende Einführung zu einer Medialität der Mode anknüpfen.3 Im Feld der Mode als einem ›interdiskursiven Kulturthema‹ 4 zeigen sich vielfältige mediale und systemische Wechselwirkungen, wie sie beispielsweise zwi-
1 | Thorstein Veblen: Theorie der feinen Leute, 1899, in: Lehnert, Gertrud/Kühl, Alicia/ Weise, Katja (Hg.): Modetheorie. Klassische Texte aus vier Jahrhunderten, Bielefeld 2014, S. 94. 2 | Geczy, Adam/Karaminas, Vicky: Fashion and Art: Critical Crossovers, in: Dies. (Hg.): Fashion and Art, London/New York 2012, S. 8. 3 | Wenn hier und im Folgenden von Mode gesprochen wird, dann ist eindeutig Kleidermode, Kleidung und deren umfassendes Bedeutungsfeld gemeint. Gemeint sind also die vielfältigen Ausprägungen einer Kleidermode, die eine »Medialität der Mode« erst konstituieren. 4 | Diesen wichtigen Aspekt griff die an der Universität Salzburg veranstaltete öffentliche Ringvorlesung »Kleiderfragen: Mode und Kulturwissenschaft« auf (09.10.2013 – 29.01.2014).
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Rainer Wenrich
schen Kleidung und bildender Kunst, Film5 und Architektur6, Geschichte und Politik auftreten. Diese Wechselwirkungen lassen sich spätestens seit dem Beginn der haute couture in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, eng verbunden mit dem Namen Charles Frederic Worth7 und dem erstmaligen Erscheinen der griffe8 , der Signatur der ModemacherInnen in den Kleidern, feststellen und herausarbeiten. Von diesem Moment an kann an einem Kleidungsstück die Identität der ProduzentInnen abgelesen werden. Die sichtbare Signatur der Mode-DesignerInnen transformiert das Kleid zu einer vestimentären Projektionsfläche und eröffnet damit vielfältige Anknüpfungspunkte für eine Medialität der Mode, welche im Anschluss an Charles Frederic Worth vor allem von Paul Poiret weiterentwickelt und in das frühe 20. Jahrhundert und das spätere Konzept des prêt-à-porter überführt wurde.9 Die saisonalen Schauen aktuellster Kleidergestaltungen und Kleiderinszenierungen repräsentieren diese Verbindungsstellen und interpretieren sie mit zeitgemäßen Mitteln. Kleidung, wenn sie zu Mode und damit zu einer kulturellen Praxis10 als ästhetische Übereinstimmung mit und Formensprache in einer jeweiligen Epoche wird, besitzt dann eine ihr eigene Medialität als Vermitteltheit. Dies bedeutet, dass sich in der Kleider-Mode die Mechanismen der Ankopplung an vielfältige medial-systemische Entitäten 11, in einem sprechen und schreiben über Mode, eta5 | Ursula Frohne und Lilian Haberer haben beispielhaft die Modifikation von Räumen durch mediale Erweiterungen untersucht. Die dabei diskutierte Installationsästhetik ist auch für gegenwärtige Modepräsentationen von zentraler Bedeutung. In: Frohne, Ursula/ Haberer, Lilian (Hg.): Kinematographische Räume. Installationsästhetik in Film und Kunst, München 2012. 6 | Hodge, Brooke/Mears, Patricia/Sidlauskas, Susan: Skin + Bones. Parallel Practices in Fashion and Architecture, London 2006. 7 | Charles Frederic Worth eröffnete im Jahr 1858 sein Modegeschäft in der Pariser Rue de la Paix und begründete damit die haute couture. 8 | Dieser Begriff bezeichnet seither die Signatur eines Modemachers. Vgl. dazu auch: Troy, Nancy J.: Couture Culture. A Study of modern Art and Fashion, Cambridge MA/London 2003, S. 27. 9 | Koda, Harold/Bolton, Andrew: Poiret: King of Fashion, New York 2007. 10 | Vgl. dazu grundlegend: Kawamura, Yuniya: Fashion-ology: An Introduction to Fashion Studies. New York 2005. Lehnert, Gertrud: Mode. Theorie, Geschichte und Ästhetik einer kulturellen Praxis, Bielefeld 2013. 11 | Das System der bildenden Kunst mit seinen im frühen 20. Jahrhundert begründeten Entgrenzungen und Grenzüberschreitungen steht hierfür beispielhaft. Der Diskurs über die medialen Wechselwirkungen von Kunst und Mode findet innerhalb der fashion studies nachhaltige Beachtung. Vgl. dazu u.a.: Brand, Jan/Teunissen, José (Hg.): Fashion and Imagination. About Fashion and Art. Arnhem 2009. Texte zur Kunst: 13. Jahrgang, Heft 56, Berlin 2004. Texte zur Kunst: 20. Jahrgang, Heft 78, Berlin 2010. Monopol, Zeitschrift für Kunst und Leben, 03/2014, Spezial: Mode, Berlin 2014, S. 42ff.
Einführung zu einer Medialität der Mode
blieren können.12 Die vestimentären Belege der Mode zeigen, dass sie in ihrer Medialität vor allem im 20. und frühen 21. Jahrhundert diskursive Umgebungen zusammen mit bildender, angewandter und darstellender Kunst als Referenz inszenieren und darin unterschiedliche Narrative des gesellschaftlichen Gefüges interpretieren. Dabei steht allerdings die Frage danach, ob Mode Kunst sei, nicht alleine im Mittelpunkt der Betrachtung. Vielmehr zeigen die Arbeitsweisen von KleidermacherInnen als Visionäre und Grenzgänger wie z.B. Hussein Chalayan, Martin Margiela, Rei Kawakubo (Comme des Garçons), Alexander McQueen oder jüngst Gareth Pugh und Iris van Herpen, dass sie beispielhaft für die sich überlagernden gestalterischen und theoretischen Gedankengänge stehen und die Frage danach, ob ihre werke Mode oder Kunst seien obsolet erschienen lassen. Die vorliegende Publikation verdeutlicht diese Zusammenhänge in einem Überblick aus ganz unterschiedlichen Perspektiven. Zahlreiche ModemacherInnen sind, auch bedingt durch fundierte Zuordnungen innerhalb von Publikationen aus den vergangenen 25 Jahren, gleichermaßen in der Mode- und Kunstwelt bekannt und verdanken dies mehreren Schnittstellen, die sich in ihrem Schaffen vereinen. Sie wandern zwischen den Welten, nicht nur zwischen angewandter und bildender Kunst, sondern auch zwischen unterschiedlichen kulturellen, philosophischen Topoi und technischmedialen Entwicklungen.13 Bei der Konzeption, Umsetzung und Präsentation ihrer Gestaltungen in eigens konzipierten Präsentations- und Verkaufsräumen und gleichzeitig in etablierten Ausstellungsräumen, Kunstmuseen und Galerien durchdringen sich meisterhaftes SchneiderInnenhandwerk, experimentelle freie Kunst und eine an der Kunst orientierte Performativität der Präsentation.14 Ein experimenteller Zugang, um Kleidungsstücke als Hüllen für den menschlichen Körper zu erschaffen, begleitet den Gestaltungsprozess auf vielfältige Weise. Bei näherer Betrachtung der Kleidungsobjekte wird deutlich, wie die Idee eines Kleidungsstückes gleichsam als Architektur für den Körper15 verfolgt wird. Die 12 | Barthes, Roland: Das System der Mode, Frankfurt a.M. 1985. 13 | Hier ist beispielhaft der japanische Modedesigner Issey Miyake zu nennen. Die unter seinem Namen entwickelte Produktion von Stoffen, z.B. die Faltentechnik bei Pleats Please, A-POC (A Piece of Cloth) und das aktuell verwendete steam stretch-Verfahren gelten seit mehr als 40 Jahren als Innovationen. Vgl. dazu: http://isseymiyakelondon.com/3dsteam-stretch/ (31.03.2015). 14 | Caroline Evans stellt ausführlich dar, wie die Präsentation von Kleidung zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt wird. Die ersten Fashion Shows ab 1880 sind eng verbunden mit dem Beginn der Moderne, den technischen Innovationen, den bewegten Bildern des Films und der modernen Kunst. Vgl. dazu: Evans, Caroline: The Mechanical Smile. Modernism and the First Fashion Shows in France und America, 1900-1929, Cambridge MA/ London 2013. 15 | Dieser Gedanke wird in der Video-Präsentation zur Kollektion Afterwords (Herbst/ Winter 2000) von Hussein Chalayan herausragend transportiert. Am Ende der Laufstegper-
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Rainer Wenrich
Hülle für den Körper und seinem Agieren im Raum wird somit insgesamt zu einem Modell für die gesellschaftliche Verfasstheit des Subjekts. In dem Kontext des Entwerfens von Kleidungsstücken findet sich schließlich eine konstituierende Ordnung von ›Selbst-anderen Dingen‹16, die das relationale Arrangement des Entstehungsprozesses der einzelnen Kleidungsstücke bedingen. Das Umfeld gleicht einem Labor und die ModemacherInnen sind selbst auch wissenschaftliche Instrumente in einem Forschungsprojekt.17 In diesem Sinne ist die Mode Medium, aktiv und passiv medial und sie konstituiert damit kulturelle Räume 18, indem sie in oder mit einer Vielzahl von Medien als Gestaltungsfelder zusammen mit entsprechenden (kleidungs-)sprachlichen Registern aufscheint und sie zu einer Gesamtaussage, wie z.B. urban chic, casual oder preppy subsumiert.19 Was daraus entsteht, sind mittlerweile medial-repräsentative Endlosschleifen aus Laufsteg-Präsentationen, fotografischer20 und filmischer21 Dokumentation und Repräsentationen auf facebook, tumblr., instagram und youtube. Kommentierungen auf blogs22 bzw. über den Weg aller verfügbaren formance bekleiden sich die Models mit den Stoffüberzügen von Stühlen, deren Gestelle sich wiederum zu Koffern zusammenklappen lassen. Schließlich steigt eines der Models in einen runden hölzernen Tisch, der dann als Reifrock fungiert. Vgl.: Neuburger, Susanne (Hg.): Reflecting Fashion. Kunst und Mode seit der Moderne, Wien/Köln 2012, S. 17. Auf der Website von Hussein Chalayan findet sich die Erläuterung zu dieser Präsentation: http://chalayan.com/afterwords/ (31.03.2015). 16 | Vgl. Maurice Merlau-Ponty bei Knorr-Cetina, Karin: Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft, Frankfurt a.M. 20123, S. XIV. 17 | In den Ateliers der Modemacher ist der weiße Labormantel eine gewohnte Erscheinung. Bei Martin Margiela avancierte der auf das Labor verweisende Mantel zum Attribut der Schneiderkunst, als Mitarbeiter während einer Präsentation Kleidungsstücke auf der Bühne präsentierten und erklärten (Vgl. Maison Martin Margiela, Frühjahr/Sommer 1998). 18 | Hierzu grundlegend der Medienwissenschaftler Georg Christoph Tholen: »Medialität in diesem Sinne konstituiert und konfiguriert den historischen Wandel von epochalen Kommunikationssystemen, medienspezifischen Sinnwelten und repräsentativen Weltbildern.« In: Ders.: Medium, Medien. Onlinefassung: www.xcult.org/texte/tholen/Tho_Medium_ VS_3.pdf (31.03.2015). 19 | Am Beispiel von Mode innerhalb des Mediums Film wurde dieser Aspekt herausgearbeitet von Georgen, Theresa/Schmitz, Norbert M. (Hg): Kleidung in Bewegung. Mode im Film, Nürnberg 2013. 20 | Kismaric, Susan/Respini, Eva: Fashioning fiction in photography since 1990, New York 2004. 21 | Vgl. hierzu die von dem renommierten Modefotografen Nick Knight gegründete Internetplattform für das Medium fashion film: http://showstudio.com (31.03.2015). 22 | Meyer, Janine/Wermke, Christian: Report Modeblogger. Fräulein-Wunder 4.0, in: Handelsblatt Magazin, No. 2, Düsseldorf 2014, S. 16ff.
Einführung zu einer Medialität der Mode
Plattformen der social media sind dabei obligatorisch.23 Insgesamt lässt sich bei der (simultanen) digitalen Berichterstattung über internationale Modenschauen zunehmend die Tendenz zum bewegten Bild ausmachen. Dabei handelt es sich um einen wohl nur folgerichtigen Schritt, den der Fotograf Nick Knight so begründet: »Ein Modefilm kann ein Kleidungsstück in Bewegung zeigen und demonstriert damit unmittelbar, wofür es entworfen wurde. Nicht als statisches Objekt, sondern als eine Sache, die ihren Wert und ihre Bedeutung erst dann entfalten kann, wenn sie sich bewegt […].«24 In seinem Passagenwerk formulierte Walter Benjamin jene berühmtgewordene conclusio zu dem antizipatorischen Potential der Mode: »Wer sie [die Mode; RW] zu lesen verstünde, der wüßte im voraus nicht nur um neue Strömungen in der Kunst, sondern um neue Gesetzbücher, Kriege und Revolutionen«.25 Dieses Potential fruchtbar zu machen, so Benjamin weiter, bildet gleichzeitig die größte Schwierigkeit.26 Die Romanistin und Modetheoretikerin Barbara Vinken verdichtete diesen Gedanken noch weiter und stellte dabei heraus, dass für diejenigen, die in der Lage sind, den Code der Mode zu dechiffrieren, Kleidungsstücke als gesellschaftlicher Seismograf interpretierbar sind.27 Die Verbindung von Körper und Kleidung, Raum und Gesellschaft unterliegt dabei beständig Veränderungen und Abwandlungen, die sich im Zeitalter von Globalisierung und einem ethisch-politischen Blicke auf Mode in den vielfältigen vestimentären Gestaltungen manifestieren. Ein Bewusstsein für Verantwortung, Respekt, Nachhaltigkeit, Transkulturalität 28 und cultural diversity, aber auch die Reflexion historischer, politischer und gesellschaftlicher Verfasstheiten und Veränderungsprozesse stellen beispielhafte Einschreibungen in Kleidungsstücke dar. Dabei darf nicht übersehen werden, dass das Interesse an der Mode auch auf die Kehrseite saisonal bedingter Akzeleranz rekurrieren muss. Was diese Beschleunigung bewirkt, beschreibt Iris van Herpen: »[…] Die meisten Marken arbeiten in einem Drei-Monats-Rhythmus, oder noch schneller, mit den unzähligen Resort-Kollektionen zwischendurch. Man könnte sagen, die Mode hat sich so
23 | Vgl. Evans, Carolin: Conspicious Construction, in: Disegno, No.6, S/S 2014, London 2014, S. 166. 24 | Nick Knight zitiert aus: Jain, Gora: Fashion meets Art – Filmische Moderep äs entationen zwischen Ästhetik und Anästhetik, in: Georgen, Theresa/Schmitz, Norbert M. (Hg): Kleidung in Bewegung. Mode im Film, Nürnberg 2013, S. 88. 25 | Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk, Erster Band, Frankfurt a.M. 1983, S. 112. 26 | Ebd. 27 | Vgl. Barbara Vinken in einem Interview mit goethe.de im Dezember 2012. https:// www.goethe.de/de/kul/des/20378702.html (31.03.2015). 28 | Haehnel, Birgit/Karentzos, Alexandra/Petri, Jörg/Trauth, Nina (Hg.): Dressed up! Transcultural Fashion – Anziehen! Transkulturelle Moden, Bielefeld 2013.
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schnell beschleunigt, dass überhaupt keine Zeit mehr bleibt, das jeweils geschaffene wertzuschätzen. Ein verrückter Zustand […].«29 Die Berichterstattungen von den Produktionsstätten geben einen Einblick in die global agierende Modeindustrie. Auch diese müssen eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Mode und Kleidung bewegen. Sie sind ebenso Teil einer akademischen Auseinandersetzung mit Mode, die ihre Wurzeln in der Kunst- und Kostümgeschichte hat und sich in einem interdisziplinären Austausch mit der Soziologie und Psychologie, Ethnologie und Anthropologie, Politik, Okönomie und Ökologie weiter entwickelt. Ganz im Sinne Michel Foucaults30 wird die Art und Weise, wie der Diskurs über die Mode künftig geführt wird wiederum auch Auswirkungen auf die Mode selbst haben.31 Die Weiterentwicklung dieses Diskurses zu begleiten und vor allem voranzubringen ist Aufgabe einer Modewissenschaft und einer sich konstituierenden Modetheorie. Es zeigt sich also immer mehr, dass die ubiquitären visuellen Referenzen einer Medialität der Mode in den führenden Modemagazinen durch deren simultanes Aufscheinen via twitter oder instagram überholt werden. Vestimentäre Innovationen aller Art werden inzwischen in statu nascendi digital-visuell multipliziert. ModemacherInnen sind damit angehalten, die Verantwortung für die Produktionsbedingungen ihrer Hervorbringungen auch zu einem festen Bestandteil der Dokumentation ihres Designs zu machen. Die Aussagekraft der Modebilder, bedingt durch ihre Allgegenwart in den sozialen Netzwerken, beeinflusst demnach den gesamten Kommunikationsweg von der ersten Designidee über die Produktion bis hin zu Präsentation und Verkauf.32 Das Weiterleben der Kleidungsstücke auf den zahlreichen Internet-Plattformen wird von Beginn mitbedacht. So bekennt Tom Ford, dass er zwar »schwarze Kleider liebt, […], aber schwarze Kleider verkaufen sich nicht online, weil sie auf dem Computerbildschirm nicht gut aussehen. […].«33 Alexandre de Betak34 , Gründer des bureau betak und gegenwärtig wohl einer der bedeutendsten Schöpfer spektakulärer Laufstegpräsentationen
29 | Kedves, Jan: Iris van Herpen in: Ders.: Talking Fashion. Von Helmut Lang bis Raf Simons. Gespräche über Mode, München/London/NewYork 2013, S. 44. 30 | Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1981, S. 74. 31 | Claudia Mareis hat diesen Gedanken grundlegend für die Konstituierung einer Designtheorie herausgestellt. Dies.: Design als Wissenskultur. Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen, Bielefeld 2011, S. 176. 32 | An dieser Stelle sei auf die anwachsende Zahl der fashion-blogger verwiesen, die von den großen internationalen Modewochen berichten und bereits selbst zur Marke avanciert sind. Vgl. dazu auch Anm. 14. 33 | Imran Amed im Interview mit Tom Ford am 27. September 2013. www.businessof fashion.com/2013/09/the-business-of-being-tom-ford-part-ii.html (31.03.2015). 34 | http://blog.bureaubetak.com (31.03.2015).
Einführung zu einer Medialität der Mode
und Mode-Mediatekturen bringt es auf den Punkt: »Der Vorteil der sozialen Medien ist es, dass man überhaupt nichts mehr wiederholen kann.«35 Die Medialität der Mode ist ein ›permeabler Raum‹36, reflektiert unsere Gegenwart und antizipiert, wie die Mode selbst bei Walter Benjamin, die kommenden Strömungen. Die gegenwärtige Vermitteltheit der Mode lässt sich deutlich aus der Konzeption gegenwärtiger Modepräsentationen ablesen. De Betak diagnostiziert auch diesen Umstand wie folgt: »Soziale Medien haben den Blickwinkel völlig verändert. Alles was wir machen wird live auf Instagram gezeigt und passiert dann im Internet – oder sogar schon davor. […] Bevor die Schau gezeigt wird ist sie bereits zu Tode […] getweeted.«37 Der Präsentationsraum mit seinem Laufsteg und der Bildschirm eines Smartphones bilden dabei für de Betak eine Symbiose: »Wir waren es gewohnt, Modenschauen auf das entscheidende Laufsteg-Foto hin zu konzipieren. In der Zwischenzeit wird die Schau nicht mehr alleine aus der ersten Reihe, sondern auch aus der zweiten, dritten und vierten aufgenommen. […] Wir wollen, dass alle Aufnahmen die Besten sind. Sobald eine Schau beginnt, prüfe ich auf Instagram, wie sie aussieht.« 38
Kleidung ist aufgrund ihrer intendierten Bindung an den Körper eine Mittlung zwischen dem Subjekt und dessen Umfeld, von Körperlichkeit und Positionierung innerhalb des gesellschaftlichen Gefüges.39 Gleichzeitig bildet die Kleidung auch ein komplexes Zeichensystem, dessen zentrale Aspekte durch zahlreiche Untersuchungsansätze vor allem seit dem Ende des 19. Jahrhunderts konturiert wurden. 40
35 | Alexandre de Betak in: Frame Issue 102, Jan./Feb. 2015, Amsterdam 2015, S. 134. [Übers. RW] 36 | Doris Agotai nennt diesen Begriff im Zusammenhang mit Film und Architektur und beschreibt den ›permeablen Raum‹ als einen »[…] Zwischenraum, welcher für mediale Annäherungsformen platz bot und Ausgangspunkt einer kulturellen Ausdrucksgestaltung wurde […].« Dies.: Der Raum im Off. Die Leerstelle als inszenatorisches Gestaltungsmoment, in: Frohne, Ursula/Haberer, Lilian (Hg.): Kinematographische Räume. Installationsästhetik in Film und Kunst, München 2012, S. 57. 37 | Ders. in: Frame Issue 102, Jan./Feb. 2015, Amsterdam 2015, S. 133. [Übers. RW] 38 | Ebd. [Übers. RW] 39 | Vgl. Simmel, Georg: Philosophie der Mode (1905), in: Eismann, Sonja (Hg.): absolute Fashion, Freiburg 2012. 40 | Zu Verweisen ist hierbei auf die Soziologie und die Linguistik, deren Repertoire von Ferdinand de Saussure bis Roland Barthes Eingang in den akademischen Modediskurs fand. Vgl.: De Saussure, Ferdinand: Grundlagen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin 19672. Vgl. hierzu auch die Aufsatzsammlung von: Lehnert, Gertrud/Kühl, Alicia/Weise, Katja (Hg.): Modetheorie: Klassische Texte aus vier Jahrhunderten, Bielefeld 2014.
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Das Sprechen und Schreiben über Kleidermode und die Präsentation und Dokumentation von Kleidung 41 hat sich im Zusammenhang mit der Entwicklung digitaler Kommunikationsformen maßgeblich verändert. Die Medialität der Mode und die Medialisierung von Kleidung im Zusammenhang mit dem Medium des Internets, in Form von blogs und der Verbreitung über social media haben eine Beschleunigung des kommunikativen Austauschs über Kleidermode hervorgebracht, die erhebliche Konsequenzen für die Weiterentwicklung modetheoretischer Ansätze hat. 42 Die wissenschaftlichen Fundierungen der seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts im anglo-amerikanischen Raum entwickelten fashion studies43 durch Valerie Steele44 , Caroline Evans45 oder Nancy J. Troy46 und die Grundlegungen der deutschsprachigen Forschungslandschaft in Form der wegweisenden Arbeiten von Silvia Bovenschen 47, Gertrud Lehnert 48, Barbara Vinken 49, Ulrich Lehmann50 und Gabriele Mentges51 u.a. haben hierfür die notwendige Basis geschaffen. Die Kleidermode, von Pierre Bourdieu als »prestigereiches, aber immer auch im Geruch der Frivolität stehendes Thema«52 bezeich41 | Schon seit dem 14. Jahrhundert aber vor allem seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts wurden Kleidungsstücke auf eigens produzierten Puppen präsentiert. Beispielhaft für diese Form der Multiplikation des zeitgenössischen Modedesigns und Frühform der Modenschau sei an dieser Stelle Rose Bertin (Marie-Jeanne Rose Bertin), die Hofschneiderin von Marie Antoinette genannt. Für die aus Wachs über einem Holzkern geschaffenen Puppen nennt Julie Park die folgenden Bezeichnungen: courrier de la mode, Grande Pandore und Petite Pandore,poupée und grande poupée, doll à la mode und mannequin. Park, Julie: The Self and It. Novel Objects in Eighteenth-Century England. Stanford 2010, S. 105. 42 | Eine medienwissenschaftliche Reflexion der Mode im Kontext der digitalen Medien hat erst begonnen und bildet sich derzeit in den Arbeit von Mahret Kupka u.a. ab. 43 | Vgl. dazu grundlegend: Welters, Linda/Lillethun, Abby (Hg.): The Fashion Reader (Second Edition), Oxford/New York 2011. 44 | Seit 1997: Steele, Valerie: Fashion Theory. The Journal of Dress, Body and Culture. 45 | Evans, Caroline: Fashion at the Edge. Spectacle, Modernity and Deatliness, New Haven/London 2003. 46 | Troy, Nancy J.: Couture Culture. A Study in Modern Art and Fashion, Cambridge MA/ London 2003. 47 | Bovenschen, Silvia: Die Listen der Mode, Frankfurt a.M. 1986. 48 | Lehnert, Gertrud: Mode: Theorie, Geschichte und Ästhetik einer kulturellen Praxis, Bielefeld 2013. 49 | Vinken, Barbara: Mode nach der Mode. Geist und Kleid am Ende des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1993. 50 | Lehmann, Ulrich: Tigersprung. Fashion in Modernity, Cambridge MA 2000. 51 | Mentges, Gabriele/Lehnert, Gudrun (Hg.): Fusionfashion. Culture beyond Orientalism and Occidentalism, Bern, New York et al. 2013. 52 | Bourdieu, Pierre: Haute Couture und Haute Culture, in: Ders.: Soziologische Fragen, Frankfurt a.M. 1993, S. 187.
Einführung zu einer Medialität der Mode
net, verdient die Weiterführung der wissenschaftlichen Auseinandersetzung53, als fruchtbarer Nexus unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen und als eigenständiger Gegenstand kulturwissenschaftlicher Forschung.54
K ONZEP TION Erste Ideen zu dieser Anthologie mit Beiträgen aus Deutschland, Großbritannien und den USA entstanden bereits vor über zehn Jahren anlässlich eines Forschungsaufenthalts im Costume Institute des Metropolitan Museum of Art55 in New York. Die sich seither vollziehenden und in diesem Zusammenhang deutlich erkennbaren Entwicklungen zeigen, dass die Erforschung einer Medialität der Mode als Bestandteil der Forschung über Mode und Kleidung, zu materieller Kultur in Form der fashion studies und der Fortschreibung einer Modetheorie in den Kulturwissenschaften auch im deutschsprachigen Raum kontinuierlich an Gewicht gewonnen hat. Zahlreiche Publikationen56, Vortragsreihen, Konferenzen und Kongresse auf nationaler und internationaler Ebene tragen dazu bei, dass der Diskurs über Mode und Kleidung auf vielfältige Art geführt wird. Ein Blick auf die jüngsten Publikationen zum Thema zeigt auch, dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Kleidermode auf die Expertise einer kritischen Bildwissenschaft setzt. Gleichzeitig erwächst das Anliegen, mit den fashion studies und der Grundlegung einer Modetheorie einen weiterführenden Forschungsbereich zu generieren, der an interdisziplinären Verankerungen zugewinnt und sich seiner Eigenständigkeit aber dennoch bewusst bleibt. Dieser Grundgedanke erwächst aus der Tatsache, dass in der deutschsprachigen kulturwissenschaftlichen Forschungslandschaft, sowie sich diese in den vergangenen 20 Jahren kontinuierlich weiterentwickelt hat, zu Kleidung und Kleidermode Verbindungen bestehen, die sowohl aus der Kunst- und Kulturgeschichte, der Geschichte materieller Kultur(en), der Literaturwissenschaft, Soziologie, Ethnologie und Psychologie herrühren. Die intensive Beschäftigung mit Kleidermode vereint Stränge der Diskussion um die gestalterischen Überlagerungen von Kunst und Mode und den Diskurs 53 | Vgl hierzu: Kawamura, Yuniya: Research in fashion and Dress. An Introduction to qualitative methods, Oxford/New York 2011. 54 | Hierzu dienen auch die umfangreichen Internetplattformen: www.europeanafashion. eu/portal/home.html (31.03.2015), www.bergfashionlibrary.com (31.03.2015), www. bloomsburyfashioncentral.com (31.03.2015). 55 | Das Costume Institute des Metropolitan Museum of Art in New York eröffnete am 8. Mai 2014 als Anna Wintour Costume Center mit der Ausstellung »Charles James: Beyond Fashion«. 56 | Vgl. dazu die Literaturübersicht am Ende des Bandes.
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im Feld der angewandten Kunst, wie im Design und in der Architektur und der darstellenden Künste, wie Schauspiel und Tanz. Insbesondere in der Designwissenschaft werden Wege beschritten, welche die angewandte Kunst auf die Ebene einer akademischen Auseinandersetzung etablieren. Von diesen Forschungsbewegungen kann eine heranwachsende Modetheorie profitieren und Synergien entwickeln.57 Der Begriff einer Medialität der Mode intendiert darzustellen, dass es sich bei Kleidung um ein Artefakt materieller Kultur handelt, dessen Funktion sich nicht darin erschöpft, den menschlichen Körper zu verhüllen, zu bekleiden, zu schützen und zu schmücken. Zahlreiche Quellen der Kunst- und Kostümgeschichte, Philosophie und Soziologie formen einen Begriff der Kleidung, welcher ihre medialen Potenziale deutlich macht. Aspekte des Formens von Körpern mit daraus resultierenden ganz unterschiedlichen Konsequenzen, der Unterscheidung und Abgrenzung, der Präsentation und Repräsentation, der Industrialisierung und gezielter Knappheit und Begrenzung der Ressourcen. All diese konturieren, formen und prägen eine Medialität der Mode. Mit Blick auf die Themen von Publikationen über Kleidermode aus den vergangenen 20 Jahren lässt sich also das Anliegen feststellen, das Thema Kleidermode zu einem ernstzunehmenden Forschungsfeld zu machen. Dies wird auch wahrgenommen und es ist mehr als wünschenswert, dass die einschlägigen und fachverwandten Fachbereiche an den Hochschulen diese Notwendigkeit mehr und mehr berücksichtigen und dazu differenzierte Lehrangebote ausbauen und entwickeln.
A UFBAU DER P UBLIK ATION Die vorliegende Publikation Medialität der Mode ist in sechs Abschnitte aufgeteilt und bedient sich in ihrer wissenschaftlichen Vorgehensweise der Figur der Iteration als Annäherung, wiederkehrende Denkbewegung, Umkreisen und schließlich Sichtbarmachen zentraler Aspekte des gegenwärtig immer lebendiger werdenden Modediskurses. Gleichzeitig wird auch das Gestalten von und Umgehen mit Kleidungsstücken und der ihnen innewohnenden Sprache als eine Visualisierung und Performanz dieser Iteration betrachtet. Die Textsammlung vereint genau in diesem Sinne Beiträge von international renommierten AutorInnen. Sie 57 | Vgl. dazu insbesondere die Forschungsarbeiten von: Mareis, Claudia: Design als Wissenskultur: Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960, Bielefeld 2011; Milev, Yana: A Transdisciplinary Handbook of Design Anthropology, Frankfurt a.M./ Berlin/Bern et al. 2013; Tröndle, Martin/Warmers, Julia (Hg.): Kunstforschung als ästhetische Wissenschaft. Beiträge zu einer transdiziplinären Hybridisierung von Wissenschaft und Kunst, Bielefeld 2012.
Einführung zu einer Medialität der Mode
alle entstammen aus einem Hintergrund einer über Jahre andauernden und intensiven wissenschaftlichen Beschäftigung mit Mode und Kleidung. Sie haben regen und grundlegenden Anteil an der Weiterentwicklung einer Modewissenschaft, sie lehren, publizieren, konzipieren und kuratieren Mode-Ausstellungen und referieren auf internationalen Konferenzen und Kongressen zum Thema Mode. In ihren sechs Kapiteln widmet sich die Publikation der Kontextualisierung einer Medialität der Mode. Im Folgenden werden diese Überlegungen dargestellt und dabei die Beiträge mit ihren jeweiligen Zielsetzungen kurz vorgestellt. Kern der Publikation sind die vielfältigen Überlegungen, Kleidung zu einem Thema des wissenschaftlichen Diskurses zu konstituieren und die vielfältigen wissenschaftlichen Beschäftigungen mit Kleidermode der vergangenen Jahre nachvollziehen und in den derzeitigen Diskurs einordnen zu können. Welche Entwicklungen dabei u.a. in den Bereichen des Entwurfs, der Präsentation und Ausstellung von Kleidermode eine Rolle spielen, zeigen die in den Beiträgen ausführlich beleuchteten Themen, Schnittstellen und Relationen, wie z.B. Körper, Haut, Hülle, Kleid, Raum, Architektur, Präsentation und Repräsentation, Gesellschaft und Politik, Performativität, Medialität und Interdisziplinarität auf.
I. Kleidung denken Kleidung denken bedeutet gleich zu Beginn, die Grundlagen für eine weiterführende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Kleidermode zu schaffen. Die in diesem Abschnitt enthaltenen Beiträge bilden also im besten Sinne Zugangswege zu unterschiedlichen Themensträngen ab. Barbara Vinken hat bereits vor über 20 Jahren in ihren Ausführungen zu einer Mode nach der Mode58 dargestellt, wie die Mode am Ende des 20. Jahrhunderts mit den bis dahin etablierten Konventionen bricht. In ihrem Beitrag High and Low – Das Ende der hundertjährigen Mode, der ein zentrales Kapitel der genannten Publikation bildete, führt Vinken vor, wie die Inspiration der Mode von der Straße in die Ateliers namhafter DesignerInnen gelangt, wie eine Popularisierung des Modedesign entsteht und die insbesondere für die aktuelle Mode so dezidierten Themen wie Globalisierung, Nachhaltigkeit und Transkulturalität entstanden. Gabriele Mentges führt in die Mode als Objekt der Wissenschaften und der Wissensgeschichte ein. Sie präsentiert nach einem historischen Überblick zu relevanten Begrifflichkeiten das Modeobjekt im Kontext seiner globalen und transkulturellen Zusammenhänge. Mahret Kupka greift das Thema der Mode in ihrem Beitrag Jenseits der Mode liegt das Schweigen. Über die Unmöglichkeit das Undenkbare zu denken als einen kritischen Eingriff in das Leben des Einzelnen auf. Kupka präsentiert ein Konzept der Mode, welches seit den 58 | Vinken Barbara: Mode nach der Mode. Geist und Kleid am Ende des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1993.
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späten 90er Jahren des 20. Jahrhunderts auch Fragen an das gesellschaftliche Gefüge stellt. Dadurch wird der Mode ein kritisches Potential übertragen, das in der Öffentlichkeit bislang wenig präsent erscheint. Valerie Steeles Aufsatz Mode liefert schließlich einen detaillierten Einblick in die Systeme von Mode und Kunst und deren Funktionsweisen.
II. Kleidung lesen Das Thema des Lesens eines Kleidungsstücks als ›vestimentären Textes‹ in der Nachfolge des von Roland Barthes aus der Sprachwissenschaft entwickelten Ansatzes zeigt Philipp Zitzlsperger in seinem Aufsatz Zwischen ›Lesbarkeit‹ und ›Unlesbarkeit‹ der Kleider-Codes – Zur bildlichen Repräsentation unauthentischer Kleidung. Von Bedeutung ist hierbei, welche Analyseprozesse stattfinden, wenn eine Auseinandersetzung mit Kleidungsstücken als motivische Bestandteile von Bildern erfolgt. Zitzlspergers Vorgehen, in dem er im Rahmen einer kritischen Bildwissenschaft Prozesse der Bedeutungsübertragung anhand von Kleidungsmotiven darstellt, wird von Dagmar Venohr in ihren Überlegungen zu ModeMedien – Transmedialität und Modehandeln aufgenommen. Sie nimmt sich der Medialität der Mode an, indem sie darstellt, wie durch die Übertragung in andere Medien, wie Zeitschriften oder Blogs Sinn konstituiert wird. Venohr führt die hierbei den Begriff einer Transmedialität der Mode ein und versteht darunter das Moment der Performativität von Mode als Austragungsort und Konstituens der Mode. Hierzu kann Antje-Krause-Wahl mit ihren Ausführungen zu Mode auf Papier anknüpfen. Beispielhaft zeigt sie die Entstehung der führenden Modemagazine auf, die in der Lage sind, den kreativen Kraftstrom von Mode und Kunst abzubilden und deren besonderes Potential in einem Changieren innerhalb der Medialität von Mode, zwischen gedruckter und digitaler Repräsentation von Mode, besteht.
III. Kleidung verstehen Um das Zusammenwirken einzelner Kunstformen am Beginn des 20. Jahrhunderts nachvollziehen zu können, ist die Kenntnis von gestalterischen Netzwerken Voraussetzung. Burcu Dogramaci zeigt die Entstehung derartiger Kollaborationen in ihrem Aufsatz Kreative Liaisons in Paris. Interferenzen von Mode, Kunst und Fotografie bei Paul Poiret und Elsa Schiaparelli. Faszinierend ist es, dabei beobachten zu können, wie zu diesem Zeitpunkt die Grundsteine für eine die weiteren Jahrzehnte bestimmende Wechselwirkung von Mode und Kunst gelegt werden. Heike Jenss ist als Modewissenschaftlerin interessiert an dem Umgang der Mode mit dem Thema Zeit und insbesondere dem Narrativ der Nostalgie. Weit entfernt davon, über Retro-Design zu schreiben, greift Jenss die Thematik in ihrem Aufsatz Modezeiten – Bildwelten: Erinnerung und Nostalgie in der Kleidungspraxis auf, in dem sie die fashion-blogs von Tavi Gavinson und deren Annäherung an die unterschiedlichsten Kleidungsstile analysiert.
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IV. Kleidung kulturell und politisch transformieren Mit einem der gegenwärtig zentralen Themenfeder der Mode befasst sich Yuniya Kawamura in ihrem Text Wie man die hegemoniale Idee der Mode als westliches Konzept auseinandernimmt. Kawamura demontiert den festgefahrenen westlichen Blick auf die Mode aus Asien und Afrika und macht anhand von anschaulichen Beispielen deutlich, dass alleine durch die Bezeichnungen bestimmter Kleidungsstücke, einzelne Ethnien benachteiligt werden und deren Modedesign dadurch pejorativ behandelt wird. Themen wie Nachhaltigkeit, green, eco oder ethical fashion heben die Mode auf eine politische Diskursebene. Angesichts der Berichterstattung über die Produktionsstätten internationaler Modelabels ist es längst von großer Dringlichkeit, diese Themen aufzugreifen. Elke Gaugele macht in ihren Ausführungen mit dem Titel Mode als ästhetische Metapolitik. Zum Ethical Turn der Kleidung darauf aufmerksam, dass es im Interesse aller liegen muss, einen verantwortungsvollen Umgang mit Kleidung zu pflegen, der sich nicht nur in einem preisbewussten Konsum erschöpfen kann.
V. Kleidung präsentieren Mit ihrer Begriffsprägung erläutert Alicia Kühl in ihrem Aufsatz Die ›Choreotopografie‹ oder das Schreiben von Modenschauräumen das Moment der Innovation von modeästhetischen Gegebenheiten für die Betrachter von Modepräsentationen. Letztere seien, so Kühl, diejenigen Orte, wo sich aktuell das jeweilige Modelabel erst entfalte. Körper, Kleid und Raum, Modekörper und Moderaum bedingen sich wechselseitig. Gertrud Lehnert befasst sich mit diesen Relationen in ihrem Text Zur Räumlichkeit von Mode – Vestimentäre räumliche Praktiken wenn sie dabei die Gestaltungen von Iris van Herpen und Mary Karantzou analysiert. Beide Designerinnen befassen sich mit dem Körper im Raum, schaffen für ihn einerseits ausladende Modeskulpturen mithilfe modernster Technolgien und andererseits die Suggestion von Raum in Form des trompe-l´œil-Drucks auf Stoffen. Ingrid Mida greift das Ausstellen von Mode in ihrem Aufsatz Mode und die Praxis des Kuratierens auf. Inwieweit die Interpretation von Kleidungsstücken bedingt durch die Konzeption von Präsentationen in Museen und Galerien die Aussage des jeweiligen Designs modifiziere oder erweitere, steht dabei im Mittelpunkt von Midas Ausführungen. Auch Katja Weise bewegt sich in diesem Themenfeld. Sie berichtet in ihrem Text Kleider, die berühren. Über das Verhältnis von Kleidermode, Taktilität und Wissen in Museumsausstellungen über die sich seit längerem vollziehenden Entwicklungen und Anverwandlungen von Mode-Verkaufsräumen und Modeausstellungen. Der dadurch entstehende »Mode-Raum« repräsentiert einen fließenden Übergang von Präsentation und Interaktion.
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VI. Kleidung medialisieren Ulrich Lehmann nimmt den Männeranzug als bildlichen Signifikanten einer semiotischen Analyse auf und führt hierzu in seinem Aufsatz Der Kalte Krieg im Anzug: Cary Grants Kleidung in Alfred Hitchcocks Der unsichtbare Dritte aus, wie subtil eine Medialisierung von Mode als Teil der filmischen Dramaturgie angelegt sein kann und damit als komplexe ›Sprache der Mode‹ in die medialen Strukturen des Films implementiert wird. Petra Leutner analysiert Die Sprache der Mode am Beispiel von Verbergen und Entblößen vor dem Hintergrund einer immer wiederkehrenden Gestaltungsaufgabe für Modedesigner. So stellen Nacktheit und Verhülltsein des Körpers in der zeitgenössischen Mode längst keine Antipoden mehr dar oder gleichen einem Binärcode, sondern es entspinnt sich gerade in dem Moment der Ambivalenz von nackt und bekleidet das Mysterium der Kleidermode. Birgit Richard fokussiert die ›Böse‹ Mode? Visuelle und materielle Kulturen der schwarzen Stile Gothic und Black Metal und befragt die Ursprünge der diese Stile dominierenden Motive. Die Medialisierung sogenannter Gothic-Ästhetik formt die Ausdruckskraft ihrer vestimentären Grammatik in einem Spannungsfeld von Inszenierung und Authentizität. Die Ausführungen von Rainer Wenrich mit dem Titel Vestimentäre Einschreibungen – Über mediale Verknüpfungen in der Kleidermode bilden schließlich den Ausklang des Bandes. Dazu entwickelt er einen Überblick ausgehend von den Wechselbeziehungen in Kunst und Mode und der neo-barocken Bildsprache in Mode-Inszenierungen bis hin zu kleidersprachlichen Einschreibungen u.a. bei Hussein Chalayan und Alexander McQueen.
D ANKSAGUNGEN Die vorliegende Textsammlung spiegelt den vielfältigen und internationalen modetheoretischen Diskurs anhand von Beispielen und möchte dabei der interdisziplinären Entwicklung von Perspektiven für eine Modewissenschaft dienen. Für das Zustandekommen der Anthologie möchte ich deshalb an dieser Stelle ganz besonders allen Autorinnen und Autoren danken, die sich von Beginn an offen für die Idee dieser Publikation zeigten und deren profunde Beiträge diesen Band haben wachsen lassen. Für die Unterstützung des Gesamtvorhabens, für die von ihm seit vielen Jahren erhaltenen profunden Vorschläge und vor allem das Vorwort für die vorliegende Publikation danke ich besonders Harold Koda, Curator-in-charge im Costume Institute am Metropolitan Museum of Art, New York. Valerie Steele, der Direktorin des Museum at the Fashion Institute of Technology in New York bin ich für ihre Unterstützung in zahlreichen Belangen der Umsetzung des Buchprojekts zu großem Dank verpflichtet. Gertrud Lehnert danke ich für die Aufnahme der Publikation in die von ihr begründete Reihe Fashion Studies des transcript-Verlags.
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Den einzelnen ModedesignerInnen, SammlungsleiterInnen internationaler (Mode)-Museen, Archiven und Bibliotheken sei herzlich gedankt für ihre großartige Unterstützung meiner Recherchearbeit. Den FotografInnen und BildAgenturen danke ich für ihre Hilfsbereitschaft und Großzügigkeit bei der Gestattung von Abdruckrechten. Anke Poppen auf Seiten des transcript Verlags möchte ich besonders für die Betreuung des Gesamtprojekts danken. Vor allem gilt Petia Knebel von Herzen mein besonderer Dank für ihre großartige Unterstützung, ihre wertvollen Anmerkungen während des ganzen Vorhabens und die geduldige, kompetente und kritische Durchsicht des Gesamtmanuskripts.
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High and Low — Das Ende der hundertjährigen Mode 1 Barbara Vinken »La mode meurt sous une rouille: C’est à la rue qu’elle doit sa sève.« (G AULTIER , A nous deux, la mode)
Roland Barthes, 1967 auf der Höhe des Strukturalismus, schrieb ganz konventionell das Prestige der Mode der Aristokratie zu.2 Barthes meinte natürlich die französische Aristokratie, aber das zu spezifizieren war Ende der sechziger Jahre nicht nötig, weil die Mode selbstverständlich noch französisch war und die Aristokratie keine andere als die französische sein konnte. Ihre Vormachtstellung in Geschmacksfragen war seit dem 17. Jahrhundert ungebrochen. International war die Mode nur, sofern sie französische Mode zitierte. Deshalb bestand einer der ersten Kulturimporte, den das befreite Frankreich 1947 in die USA schickte – in der Behauptung wenigstens dieses Vormachtanspruchs, der Kriege und Revolutionen überstanden hatte – in einem »Théâtre de la Mode«, das aufgrund des Stoffmangels Miniatur-Mannequins aus Draht Miniaturmodelle vorführen ließ: die Kreationen von Schiaparelli, Balenciaga, Patou, Pierre Balmain, Jacques Fath, Hermès oder Nina Ricci in mondänen Szenen, der Oper, dem Ball, im Park, beim Picnic.3 Die Pariser couturiers knüpften damit an eine Tradition an, die schon zu Napoleons Zeiten dazu gedient hatte, Pariser Mode in aller Welt bekannt zu machen. Aber bevor die Puppen durch die Magazine der Moden und des Luxus überflüssig wurden, hatte Napoleon sie verboten, weil in ihnen geheime Botschaften geschmuggelt wurden. Der Zusammenhang von Mode und Außenpolitik hatte 1 | Der Text erschien erstmals in: Vinken, Barbara: Mode nach der Mode, Frankfurt a.M. 1993. 2 | Barthes, Roland: Die Sprache der Mode, Frankfurt a.M. 1985. Klassiker der strukturalen Analyse, der Modezeitschriften zwischen 1957 und 1963 zum Gegenstand hat und 1967 in Paris erschien. 3 | Le Théâtre de la Mode, zuletzt im Metropolitan Museum, New York 1991.
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denselben Napoleon die Damen des Landes auf einheimische Produkte verpflichten und Stoffe aus England ächten lassen. Was zu Henry James’ Zeiten die New Yorkerinnen zu »pretty looking girls in parisian looking dresses« machte, die Pariser Mode eben, wird unter diesem Label noch heute rund um die Welt verkauft. 4 Der Bruch des »Kaisers« Karl Lagerfeld mit Ines de als Fresange, dem Exklusivmodell im Hause Chanel, hat allerdings die prekären Interessenslagen anschaulich gemacht. Zur zweihundert Jahrfeier der Revolution war sie 1989 patriotisch in die Tricolore gehüllt als Allegorie der Liberté aufgetreten. Das vertrug sich Karl Lagerfeld zufolge nicht mit dem Image internationaler Eleganz. Es mag ihm dabei durch den Kopf gegangen sein, dass die Revolution den internationalen Standard des Adels gebrochen und den Abstieg in Bürgerlichkeit und Nationalismus begonnen hatte. Denn Pariser Mode steht im Zeichen aristokratischer Feste und ihrer Verschwendung, des Überflusses und einer Leidenschaft für unbedingte Eleganz. Unhinterfragbarer Chic, frivoler, leichtherziger Luxus, kapriziöse Willkür kommen mit stilistischer Perfektion zustande und geben dieser Mode das gewisse Etwas, das ihr den unnachahmlichen Reiz verleiht. Dem Gesetz des Marktes und der Ratio scheinbar nicht unterworfen, behauptet sie ihre eigene Willkür, rhythmisiert und tyrannisiert sie noch den Lauf der Zeit. Wenigstens darin ist sie aristokratisch geblieben und verkörpert sie in adligem Gehabe die Launen des schönen Geschlechts. Als haute couture, die auf ganze Pariser Modeproduktion ausgestrahlt hat, war Mode die Mode der happy few; eine Mode für wenig Auserwählte, die es sich leisten können und wollen, den Träumen einer besseren zeit nachzuhängen. Haute Couture wird für sie zu einer Gegenwelt, in der eine Prunkentfaltung zelebriert wird, sie in prosaischen Zeiten nur für wenige zu haben sei. Die Schöpfer dieser Mode reisen Idyllen nach, suchen die Mode im Exotischen, in fernen Ländern, in der Kunst, im Museum, fernab von alltäglicher Vulgarität. Christian Dior zog sich mit seinen Kleidern in die Natur zurück; dort will er das Licht auf einem Stein, das schwanken eines Baumes einfangen. Hubert de Givenchy entwirft fernab der hektischen Großstadt auf seinem Manoir die Freuden des herrschaftlichen Landlebens. Diese Mode stellt dich gegen die Straße; sie zieht nicht die schönsten Frauen, sondern die berühmtesten und reichen an. Der spiritus loci der solennen Eleganz war so durchdringend, dass Yves Saint Laurent, der als erster in die haute couture in seiner Winterkollektion 1960 Straßenmode wie Lederjacken und Rollkragenpullover einführte 18 Jahre später glaubte, die Straße in der haute couture zähmen zu können. Als er 1978 wieder einige Details aus der Straßenmode übernahm – spitze Kragen, kleine Hüte, Schuhe mit Bommeln – um »in die haute couture ein bisschen Witz zu bringen«, die »Freiheit der Straße, die Arroganz und Provokation der Punks beispielsweise«, setzte er hastig hinzu:
4 | James, Henry: Der Amerikaner, Frankfurt a.M. 1983.
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»All dies natürlich mit Würde, Luxus und Stil.«5 Eben dies, Würde, Luxus und Stil, hat die Straße der Mode endgültig ausgetrieben. Im Rückblick wirkt es besonders amüsant und hat ein lange Reihe mehr oder weniger problematischer Karikaturen und Witze provoziert, dass ein nicht unwichtiger teil der clientèle eben dieser haute couture nicht mehr den oberen europäischen Zehntausend angehört, sondern – etwa – Operettenregimen der Dritten Welt. Tiefverschleierte saudische Prinzessinnen glauben so an einer Welt zu partizipieren, die es schon längst nicht mehr gibt. Jean Paul Gaultier hat in seinem Fotoroman A nous deux, la mode den späten Kolonisationseffekt an Ganovenregimen parodiert, Ablegern und Stützpunkten eines meist amerikanischen Imperialismus.6 Der Held wird nach Manila geschickt, wo er als Franzose die griffe Cardin vertritt und seinen Kundinnen selbst eine geblümte Schürze als den Gipfel der Eleganz verkaufen könnte, weil der Abglanz von Paris allen anderen Frauen am »Hofe« in den Schatten zu stellen verspricht. Es ist nicht von ungefähr, dass Gaultier als Kleinbürger im dazugehörigen Genre einer Bildergeschichte den Abgesang der alten Modeprätentionen anstimmt und dem »Volksvermögen« die neuen Trends in den Kindermund von Sprechblasen legt. Doch die Mode nach dem Mode ist mehr als Anti-Mode, deren Impetus sie aufnimmt. Dass die hundertjährige Mode zu Ende gegangen ist, wird augenfällig daran, dass die Idee der Pariser Mode am Ende ist – so sehr am Ende, dass es auch mit Anti-Mode nicht getan wäre. Die Gründe liegen tiefer als es das Selbstverständnis der alten Mode, aber auch die Beschreibungen der alten Modesoziologie ahnen lassen. Sie äußern sich darin, dass sich das Verhältnis von Modemachern und Imitatoren auf den Kopf gestellt hat – oder besser: vom Kopf auf die Füße. Seit den siebziger Jahren wird Mode nicht mehr von der Aristokratie oder Bourgeoisie lanciert, um langsam nach unten zu sinken; sie steigt vielmehr von der Straße in die Salons der haute couture auf, wird von ihr adaptiert und ihrerseits nachgeahmt. Die schichten, die Mode kaufen, haben sich einerseits verbreitert; auf der anderen Seite sind es nicht mehr sie, die die Trends setzen, sondern sie reagieren auf das, was an Trends kommt und zu erwarten ist aus den Gegenkulturen. Die Trends stehen auf low. Und aus low wird dann high, während zuvor high in der Mode der Massen zu low herunterkam. Die Mode nach der Mode erschöpft sich aber nicht darin, gegen die ursprünglich mit der Mode verbundenen Ideen anzugehen. Was sich sich soziologisch sehr ungenau als bloße Umkehrung der Richtung ausgibt, ist ein neuer Begriff der Mode, der dezidiert A-modisches als avantgardistischen Effekt von Mode nach der Mode benutzt. Die DesignerInnen der achtziger Jahre besiegeln das Ende der Ära der Modeschöpfer, nicht ohne in einiger Selbsironie amodische Trends zu favorisieren, die jenseits der ausgedien5 | Saint Laurent, Yves: Images of Design, 1958-1988, eingeleitet von Marguerite Duras, New York 1988, S. 229. 6 | Gaultier, Jean Paul: A nous deux, la mode, Paris 1990.
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ten Wahrnehmung des Modischen liegen. Sie zersetzen die Ideen, auf denen das westliche, Paris-zentrierte Modesystem aufruht. Fernöstliche »Ästhetik der Armut« widerlegt alteuropäisch-adlige Vorstellungen von der »Ästhetisierung des Alltags«. Die Abgründe, über die japanische Mode mit der Anti-Mode des Westens kommuniziert, sind unauslotbar. Doch eines ist bei diesem Brückenschlag gewiss geworden: Streng teilen wird die Mode nun nicht mehr, weder Klassen, noch Altersgruppen, noch Geschlechter. Nicht wäre überholter, als sich als »Frau«, als »Mann« oder als »Dame« anzuziehen. Im Westen wird die Mode »karnevalistisch«: Sie hebt die Trennung der Geschlechter und Klassen auf, mehr noch, sie stellt die Kategorien Geschlecht und Klasse als Verkleidungsmodelle bloß. Das zweite ist entscheidend und führt die Mode nach der Mode über die Anti-Mode hinaus. Denn die Aufhebung des Unterschieds von Geschlecht und Klasse muss virtuell bleiben – eine Geste des Protests; ihre Bloßstellung als Muster von Verkleidung dagegen sagt die Wahrheit – so wie sie im Märchen von des Kaisers neuen Kleidern vor aller Mode erzählt wird. Schon die alte, ästhetische Avantgarde hatte es unternommen, Geschlecht, Alter und Klasse als Bezugsgrößen aufzulösen und damit auch die Idee der Mode als aristokratische, luxuriös, Eleganz und schön zu zerstören. Entsprechende verhält sich die Modeavantgarde anti-idealistisch und antikonform; ist sie experimentell und auf den Choc aus, nicht auf Schönheit und Perfektion; arbeitet si mit Brechungen und harten Kontrasten statt mit der Harmonie von Linien. In Typ und Stil zehrt die neuere Mode-Avantgarde von den Strategien der alten Avantgarde, insbesondere wenn es darum geht, der klassischen haute couture mitzuspielen. Nicht zuletzt darum wirkt vielleicht ein Yves Saint Laurent, auf den so unterschiedliche Frauen wie Marguerite Yourcenar und Marguerite Duras noch schworen, kaum 15 Jahre später so, als könnte allenfalls die Drogeriebesitzerin an der Ecke noch etwas daran finden. Immerhin aber sind die avantgardehaften Ansätze einer Mode nach der Mode in dem einen Punkt erfolgreich geblieben, der auch noch nach der Mode Stil heißt: Nicht ums Praktische, Gute, Bequeme, Natürliche, wie es eine befreite Körperlichkeit verlangt, geht es auch dieser Mode. Sie richtet sich gegen unauffällige Eleganz so gut wie gegen bequeme Sportlichkeit, gegen Benetton, Esprit und Gap sowie auch gegen Hermès-Seidentuch, Perlenkette, Kaschmirtwinset und Brook Brothers. Mit dem wachsenden Mut zur Häßlichkeit, zum Grotesken und Lächerlichen überschreitet die Mode nach der Mode zu den Zitaten einer »perversen« Sexualität ihre avantgardistischen Anfänge, wird sie selbstdistanziert und selbstironisch; wiewohl sie – in ihren schwächeren Momenten – nicht ganz ohne Hang zum – »èpater le bourgeois« auskommt. Wie sein Urbild, der Dandy, wird der Punk seine Herkunft nicht ganz los, der eine high, der andere low, sind beide dem Milieu treu, das sie transformieren, aus dem sie aber auch ihre Triebkräfte ziehen. Die Punks erschütterten die etablierten Ideale der Schönheit und des Anstands nachhaltig und maßgeblich für eine ganze Mode-generation. In tiefes Schwarz gekleidet, mochten sie sich auf den ersten Blick üblich anti-modisch ge-
High and Low – Das Ende der hunder tjährigen Mode
ben. Aber sie waren auch die ersten, die ihre Kleider aus den Abfallstoffen der Stadt machten: dem glänzenden Plastik der Müllsäcke, den Resten durchlöcherter Reifen, aus Stoffen wie Gummi und Blech – Stoffen, die Furore gemacht haben. Ihre Mode stand offensiv im Zeichen der Künstlichkeit beider Geschlechter. Männer wie Frauen färbten sich die Haare pink, grün, blau, um sie dann zu fantastischen Gebilden aufzutürmen, die an Prächtigkeit Marie Antoinettes abenteuerliche Kopf bedeckungen in Erinnerung hätten bringen können. Sie präsentierten einen Körper, der jenseits dessen stand, was als natürlich und gesund auf den Markt kam. Sie führten »barbarische« Methoden, wie die Durchbohrung der Ohren, Nasen und Lippen ein. Aggressiv in der Armut, trugen sie ihre Kleider zerrissen, verschlissen und schmutzig; statt Schoßhund trugen sie eine Ratte, deren abscheuliche Posierlichkeit mit der Armseligkeit nackter Schwänze die ausgeklügelteste Ambivalenz wachhielt. Beide Geschlechter verbrachten die ganze Zeit mit dem, was in den bürgerlichsten Kreisen der Nachkriegszeit höchstens noch den Frauen zugestanden wurde: Sie brachten den Tag mit Selbststilisierung zu. Diese sollte nun nicht als Natur ausgegeben, in Natur versteckt werden, sondern war als künstliches Produkt der Zivilisation zur Schau zu stellen. Die jugendlichen Arbeitslosen der Großstädte verweigerten das Credo einer Gesellschaft, für die das Wesen der Männer sich darin erschöpft, Arbeitswesen zu sein. Comme des Garçons hat dem Punk in der Winterkollektion 1991 eine hommage dargebracht und seinen revolutionären Einbruch in die Idee der Mode gewürdigt. Aber beim Punk blieb es nicht und konnte es nicht bleiben; er war zu hart, aber sein Stachel saß und bleib selbst in den abgeschwächten, popularisierten offences der Volkskultur, meist der Herkunft nach amerikanischer Folklore unverzichtbar. Moder nach der Mode wäre ohne die populistischen Mythen und ihre Motive, ohne die Jacken der Hells Angels, die Caps der Basketball Teams, die Hotpants der Motorradmädchen nicht mehr zu denken. Was wäre aus der Winterkollektion 1991 bei Yamamoto und Gaultier ohne Drag Queen, bei Chanel ohne Bikerjackets und verwaschene Jeans übriggeblieben? Es gab in den Kollektionen der letzten Jahre kaum eine, die keine Bikershorts oder Leggings mitgeführt hätte. Was wäre die Mode der neunziger Jahre ohne billigen Kitsch und Trash von der Straße? Selbst der jahrelang grassierende deutliche Trend zur Unterwäsche als Überwäsche fing auf der Straße an. Dessous trägt man über den Kleidern zur Schau. Damit wird die Maskerade mit allem nur Möglichen zur Ausstellung des Verkleidens selbst. Was dem Körper versteckt Figur geben sollte, Figur vortäuschen konnte – das Mieder, der Büstenhalter – wird offen ausgestellt. Und was pin ups nicht zuletzt deshalb attraktiv machte, das verbotene, geheime Sehen, das in der Sichtbarkeit des Verborgenen sich mitenthüllte – Strapse, Büstenhalter und Korsage als Vorschein von Lust –, kommt in seiner Verkleidungsfunktion als Illusionsträger offen zur Anschauung: ein Blick hinter die Kulissen, der belustigt wahrnimmt, was Lustauf bau ist, und Mode-Lust an die Stelle setzt. Diese Mode wirkt obszön, gerade weil sie es nicht ist. Dolce & Gabbana wissen aus diesem Blick auf die Lust das Kapital gedoppelter Erotik zu schlagen. Was einmal auf
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einer hypokriten Privat-Bühne der Lust des immer gleichen individuell Allgemeinen vorbehalten war, nämlich die Verkleidung der Frau zu Zwecken der Pornographie, bringen sie auf die öffentliche Bühne, die die Straße ist. Das Revival der siebziger Jahre mit seiner Euphorie für Kunststoffe, die zum Inbegriff der Billigkeit verkommen sind: glänzendes Nylon und Acryl, weiten Schlag und tief aufgeknöpftes Hemd, zu enge Pullis und all die knalligen Farben, dieses Revival sucht keine nostalgische Rückwendung zu einer besseren Vergangenheit. Es findet in aller Lächerlichkeit eine Mode wieder, die, weil sie von gestern ist, von heute ist. Es ist nicht die Mode unserer Großmütter und auch nicht mehr die unserer Väter. Es ist schon unsere eigene, die wir selber vor 15 Jahren getragen haben. Sie hat die Unheimlichkeit des Vertrauten, ist gespenstisch aus noch zu vertrauter Erinnerung. Was man darin wiederfindet, findet man nicht schön, sondern outragous, unglaublich häßlich. Dieses Spiel mit der Zeit macht die Mode nach der Mode härter und findet stilistische Befriedigung im Choc der Hässlichkeit. Betonte Stillosigkeit, dies ein anderer Trend, täuscht völlige Gleichgültigkeit gegenüber hergebrachten stilistischen Konventionen vor. Gegen die Kombination des bewährten Kostüms hat Gleichgültigkeit in Fragen des »guten Geschmacks«, des »Passenden« sich als ein Prinzip durchgesetzt, das Unpassendes und Beliebiges in Farbe, Schnitt und Material fordert. Der zufällige Griff in blindem Zusammengewürfeltsein. Man ist zwar nicht nackt, aber alles andere als angezogen. Tüll und Tweed, Samt und Plastik, Kaschmir und Nylon, Parka und Spitzenkleid, Jeansjacke und Kostümfaltenrock, Lurexpullover und Flanellhose werden gemischt; in verdeckter Sorgfalt wird Sorglosigkeit vorgetäuscht; in gezielten Fehlleistungen unpassende Sachen übereinander gezogen und zur komischen unfreiwilligen Koexistenz gezwungen. Die Assoziation bestimmter Schnitte und bestimmter Stoffe wird gegeneinander ausgespielt, der Code der Bezüge unterlaufen. Von Gaultier virtuos ausgebaut, hat dieses Prinzip der scheinbar unbestimmten Negation bis in die Pseudo-haute couture hineingewirkt, wo es von Lacroix gezähmt und eingebürgert worden ist. In der Verkehrung von high und low, der Karnevalisierung der Bezüge und Verhältnisse, populistischer Auflösung und Entdifferenzierung von Stilen spielt sich eine einschneidende Veränderung im Verhältnis der Mode zur »Zeit« ab. Die tiefgreifendste Änderung, die die Mode nach der Mode charakterisiert, ist ihr Verhältnis zur Zeit. Die mode de cent ans ist definiert als Triumph über die Zeit als Vergänglichkeit, letzten Endes als Triumph über den Tod. Vergänglichkeit wird in ihr immer wieder ausgelöscht. Der Prozess des Älterwerdens ist in ihr aufgehoben – er zeigt gerade das, was dèmodè, das Gegenteil von Mode ist. Ihre Funktion besteht darin, Vergänglichkeit im Moment blendend zu verleugnen. Der schnelle Wechsel der Moden, ihre Flüchtigkeit ist vielleicht durch das Drängen der Vergänglichkeit zu erklären, der schnell wieder in Neuem überspielt werden muss. Mode war immer ein Entrinnen von der Zeit, die alt macht, der Zeit, die verbraucht und abnutzt.
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Daher die Tendenz der mode de cent ans, aus der alltäglichen Jetztzeit zu entfliehen in die Idylle, in der die Zeit stillsteht, oder sich in andere Zeiten und andere Zeitstrukturen, in eine Zeit außerhalb der Zeit, zu versetzen. In ferne, exotische, zeitlose Märchenländer etwa, die mit dem Orientalismus des 19. Jahrhunderts zur Staffage erotischer Phantasien wurden; jenseits der engeren Grenzen, denen die Sexualität in der Realität unterworfen ist, konnte man sich verlieren an die betörenden Verstrickungen von Sklave und Tyrann, von denen Delacroix einen Vorgeschmack gibt und die durch Prousts Recherche glänzen: die Tausend-undeine-Nacht-Mode von Poiret, der Prunk des chinesischen Hofes bei Saint Laurent versetzen in solche erotischen Märchenwelten. Genauso fern und geheimnisvoll, genauso außerhalb der Zeit ist die Zukunft der science fiction. Paco Rabannes Mondfahrtkleider, Montanas und Muglers Superfrauen in ihrer euphorischen Technikbegeisterung, leicht kriegerisch mit Amazonenappeal in metallglänzenden futuristischen Raumfahrtkleidern, verdanken ihre Attraktion nicht zuletzt dieser Äußerlichkeit. Wiederbelebt hatte diese Mode die Vergangenheit in der Kunst, die sie zitierte: die alten Ägypter, die Renaissance, das 18. Jahrhundert, den Viktorianismus, vor allem aber immer wieder, mit unverminderter Begeisterung die Wiedererfindung der Klassik. In der Mode ist die Postmoderne keine neue Art und Weise, Vergangenheit zu verwandeln, sondern eine weitere Variation des Historismus geblieben, eine Historismus, der so alt ist wie die Mode selbst, auch wenn es für den kurzen Augenblick der Moderne so ausgesehen haben mag, als gäbe es eine geradlinige Entwicklung hin zur »Silhouette der Moderne«.7 Dieser Historismus hatte durchaus schon den Charakter, der der Postmoderne zugesprochen wird; er kannte ein hybrides Verschmelzen von Stilen, das über bloßes Tradieren hinausging. Aber seine Stärke war dass Vergessen; eine Gedächtniskunst, wie es die Mode nach der Mode ist, war er gerade nicht. Vielmehr ist er einer der Potentesten Filter des Vergessens, die effektivste Methode, Vergänglichkeit auszulöschen durch Wiederbelebung. Die Sehnsucht nach einem Jenseits von Geschichte entspricht der Sehnsucht nach ewiger Gegenwart: »Hier können wir sehen«, so stand es in der amerikanischen Vogue von 1976 anlässlich einer Kollektion von Yves Saint Laurent, »wie raffiniert die Mode in ihrer Interpretation der Geschichte geworden ist. Sie spiegelt nicht Nostalgie für die Vergangenheit, sondern für diese ewige Gegenwart, die jenseits der Vergangenheit liegt.« 8 In der Wiederbelebung des Abgestorbenen wird Vergänglichkeit zum Verschwinden gebracht. Umgekehrt wird die Geschichte der Mode zur augenfälligsten Manifestation ihrer eigenen Vergänglichkeit, ihrer Todesverfallenheit, zuverlässigster Träger der zerstörerischen Spurend er Zeit, all dessen, was sie im Moment ihres Erscheinens am erfolgreichsten zu verdrängen vermag. 7 | Da ist die These von Richard Martin und Harold Koda: Historical Mode – Fashion and Art in the 1980, New York 1989. 8 | Schneider, Pierre, in: American Vogue, September 1976, S. 228.
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Anders die Mode nach der Mode: Sie sucht Zeit – und das heißt Vergänglichkeit – zu zeichnen. Die Mode nach der Mode wird zu einer neuen Gedächtniskunst. Die Spuren der Vergänglichkeit sind der Stoff, aus dem die Mode nach der Mode – an Stelle des Stoffs, aus dem die Träume sind – gemacht ist. Im Extremfall wird das Kleid nun zu einem Zeichen von Vergänglichkeit, Index verflossener Zeit. Bereits aus verschlissenen Stoffen gemacht, erinnert es nicht an eine andere Zeit, sondern zeigt eine unbekannte Erinnerungsspur, in die Dauer diskontinuierlich eingeschrieben ist. Die Dauer der eigenen Herstellung, die in es eingegangene Arbeitszeit, ist in ihm minutiös ablesbar. Oft legt es wie im Zeitraffer Zeugnis ab von der historischen Entwicklung bestimmter Schnitte. Bestand die bestimmende Struktur der mode de cent ans darin, vergessene Moden zyklisch wiederzubeleben, so tendiert die Mode nach der Mode dazu, Zeit als die Dauer zu ihrem Stoff zu machen, in der dieser verschleißt: in der der Stoff sich verfärbt, in der er ausgewaschen wird, in der er die Spuren der in ihn investierten Arbeit trägt, in der andere Körper sich in ihn einprägen. Um den aufdringlichen Glanz des Neuen zu nehmen, wäscht Yamamoto seit den frühen siebziger Jahren die meisten Sachen, die er verkauft, vor. Comme des Garçons wirkt von Hand gewebte, bestickte Stoffe etwa aus dem vorderen Orient, schon leicht fadenscheinig, wie kleine Amulette aus bedrohten Kulturen, Zeitzeichen anderer Epochen, in ihre Kleider ein. Ihre eigenen Stoffe werden nicht glatt gewebt, sondern haben Unregelmäßigkeiten, »Fehler«. Und ihre »Spitzenpullover« sahen nach einstimmigem Kommentar der immer charmanten Presse so aus, als ob sie eine Mottenattacke im Gepäck einer Stadtstreicherin überlebt hätten. Romeo Gigli verwendet Seiden, die im verblichenen Glanz vergangener Prächtigkeit leuchten; die Technik für die Herstellung dieser Stoffe spürte er in Ländern auf, die von der Industriellen Revolution kaum berührt worden sind. Dolce & Gabbana, mit einem Schuss Sadomasochismus, verkaufen Herrenjackets, dem die Chocs eines etwas unsanften Lebens schon eingebrannt sind: Zigarettenlöcher, Risse zieren sie. Margiela macht Röcke aus Foulards vom Flohmarkt. Das Motto des ökologischen recycling, aus pragmatisch-ethischen Gründen neu aus alt zu machen, trifft die Sache nicht. Es geht im Gegenteil darum, das Alte als Altes zu zeigen – ein ganz und gar ästhetisches Manöver. Auch hier sind die Dandys die Vorläufer, die ihre Kleider vortragen ließen, oder auf ihnen schliefen, damit sie knitterten und getragen wirkten. Der bloßen Mode-Hektik konnte mit bewusster Gelassenheit, wie sie wiederum dem Adel anstand, begegnet werden. Coco Chanel erzählte vom Earl of Winchester, dem reichsten Mann der Welt, dass er nie so aussähe, als ob er neue Kleider trüge. Das lässt sich inzwischen serienmäßig erreichen. Die seit den sechziger Jahren zunehmende Konjunktur von Kleidern aus zweiter Hand, die in eigenen, und nicht den modefernsten Läden verkauft, gehört in diesen Trend; mit bloßer Sparsamkeit hat er das geringste zu tun. Auf Flohmärkten sucht man Kleider zusammen, die nicht nur nicht neu aussahen, sondern deutlich aus einer anderen Epoche stammten. Man trug mit den Kleidern auch die Geister der Vergangenheit. Das
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bestätigt, dass die Mode – ganz gegen ihren Ruf – zu einem Erinnerungssystem, einer Kunst des Gedächtnisses geworden ist. Es ist up to date, dezidiert nicht mehr up to date zu sein. Es ist an der zeit, »Zeit« mitzutragen – eine Zeit, die nicht das hektisch herbeigebrachte Neue, auch nicht mehr das vermisste Alte, sondern ein vergessenes Anderes, Fremdes ist. Die Mode nach der Mode ist der Ort geworden, an dem das verdrängte Andere im Zurückdrängen zum Ausdruck kommt und im Ausdruck gerettet erschient für den Moment unendlich vieler Augenblicke. Das gerettete Andere ist oft als verdrängtes Eigenes zu entdecken: Handwerk statt Massenproduktion, bedroht von der Einheitskultur der one world, gerettet in dem, was sie auslöscht. In die Welt, der jeans, sneakers und business suits, den Triumph der westlichen Kleider, trägt die Mode nach der Mode Spuren des Anderen ein, in die ikonisch eine andere Zeit einbgetragen und in denen eine andere Dauer ablesbar ist: auratische Momente jenseits des gewohnten, des gewöhnlichen Chocs; aber auch nüchterne Bescheidung in der Kühle unregelmäßigen Materials, der Charme des Unvollkommen-Individuellen. Die Grenze zwischen Kitsch, camp und Kunst liegt in der Übergänglichkeit des Eigenen ins Andere. Nichts kann deshalb über die solide, auch in ihrer Abgründigkeit bewährte Andersheit ferner Kulturen gehen, über die unendliche Distanz in der Annäherung. Aus diesem geheimen Fundus hat die japanische Mode die westliche Mode zum platten Eingeständnis falscher Konventionalität verurteilt. Aus fremdem Formbewusstsein der Langweiligkeit überführt, hatte die mondäne Pariser Mode den japanischen Modenmachern wenig entgegenzusetzen. Auf die Provokation hat einzig Gaultier sein Volksvermögen zu mobilisieren gewusst. Unterminiert aus der fremden Perspektive eines Landes, dessen obere schichten unter dem Einfluss der französischen Mode standen, sah man völlig richtig, dass der Angriff eine sehr genau bemessene Negation bedeutete; eine neue japanische Mode wusste, wogegen sie schneiderte. Der Aufschrei der Empörung, der durch die französische Presse ging, als Rei Kawakubo mit Comme des Garçons 1981 ihre erste Pariser Vorstellung gab, war einhellig. Denn Comme des Garçons attackierte keinen bestimmten Modeschöpfer, sondern die bestimmende Idee der Mode selbst. Kawakubos Kollektion verwarf die Ideen des Schönen, Edlen, Perfekten; verwischte die Geschlechterdifferenz und suchte ein Verhältnis von Körper und Kleid, das keins mehr von Verhüllen, Entblößen und Zur-Schau-Stellen ist. Wie der französische Name frech behauptete (und mit dieser Frechheit ließen sich noch andere assoziieren), wurde hier auf den Arm genommen und parodiert, was gemessen und feierlich daherkam. Ihre Kleider sind nicht mehr auf den Leib geschnitten, sitzen nicht mehr wie angegossen – wichtigstes Kriterium, man könnte sagen: ideologischer Vorwand der haute couture. Diese Kleider konnten vom Träger verändert, verdreht werden: ein Jacket in einen Pullover, ein Rock in ein Kleid verwandelt werden. Die Idee des Kleids als Hülle, als Schale wurde von der japanischen Mode völlig anders gedacht und experimentellen Modifikationen unterworfen; manchmal
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erschien es als Verpackung und der Körper tatsächlich eingepackt, verschnürt wie ein Paket. Bei Yamamoto wird der Körper durch dreidimensionale Skulpturen, Anklänge an Papierfälteleien des origami, total verfremdet. Bei Miyaki wird durch feine Fältelung die Bewegungsübertragung vom Körper aufs Kleid zu einem unerwarteten Ereignis; es gerinnt, und mit ihm der Körper, mit jedem Atemzug zu einer anderen Skulptur. Der Fluss der Bewegung wird arretiert, wie der Film in slow motion stakkatoartig in einzelne Bilder zerlegt wird. Schwarz herrschte bei Comme des Garçons vor und unterstrich solche Effekte. Kleider brauchten nur noch zwei Größen, sie konnten beliebig zusammengefaltet werden und geknittert werden. Sie waren asymmetrisch, der Saum auf einer Seite länger als auf der anderen, sie hatten Löcher auf den ersten Blick jedenfalls sah man darin entsetzlich arm aus. Auf den zweiten Blick mag man an den Earl of Winchester denken. Denn das neue Ideal sind Kleider, in denen man nicht auftritt, sondern in denen man lebt und arbeitet; Kleider, die zu einem Stück selbst werden, mit dem Körper zusammenwachsen, auf ihm verschleißen. Der theatralische Aspekt des Luxus und des Überflusses ist ihnen fremd. Dagegen bietet Gaultier den ganzen überbordenden Mummenschanz des heimischen Theaterbodens auf. Vergessener Reichtum volkstümlicher Anklänge, fremdes Armuts- und Formideal – zwischen diesen beiden Möglichkeiten, neuromantisch die eine, von ferne klassizistisch die andere, spielt die Mode der achtziger und frühen neunziger Jahre zum Ende des Jahrhunderts.
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Mode – insbesondere haute couture, handgemacht und nicht Massenproduktion – wird manchmal als Kunst betrachtet. Sicherlich, ein klassisches Abendkleid von Balenciaga, welches man auf einem Sockel präsentiert oder in einer Glasvitrine in einem Museum zeigt, hat etwas von der Aura der Kunst und dies, obwohl es innerhalb des Modesystems und nicht in der Welt der Kunst hergestellt wurde. Die Präsentation von Mode in Museen hat zweifellos dazu beigetragen, die Grenzlinie zwischen Kunst und Mode zu verwischen. Darüber hinaus haben sich auch bestimmte Modemacher als Künstler positioniert, während eine wachsende Zahl Künstler Interesse an der Mode zeigt. Vor einigen Jahren habe ich ein Symposium zum Thema »Die Kunst der Mode« organisiert. Nach meinem Vortrag war eine Zuhörerin sehr schockiert und drückte ihre Bestürzung darüber aus, dass ich es gewagt hatte, die Frage zu erörtern, ob man Mode als Kunst betrachten sollte. Das Verhältnis zwischen Mode und Kunst ist aus vielerlei Hinsicht problematisch, ganz abgesehen von der leidigen Diskussion über die Kunst an sich, die sich im Verlauf der Zeit grundlegend verändert hat. Aber ist Mode Kunst? Und wer entscheidet das? Für gewöhnlich wird Kunst verstanden als ein limitierter Bereich der hochkulturellen Produktion, zu der Malerei, Skulptur und Musik gehören. Im Gegensatz dazu betrachtet man Mode als Industrie, wenn auch mit einer Spur Kreativität und als Bestandteil des täglichen Lebens. Dieser Abschnitt befasst sich mit der Geschichte der modernen Mode, ausgehend vom späten 19. Jahrhundert bis heute, und erkundet, wie Mode in ihrem Verhältnis zu Kunst betrachtet wurde und unter welchen Umständen Modedesigner mit Künstlern verglichen wurden. Insbesondere möchte ich den Diskurs über Kunst und Mode betrachten, der sich seit den 1980er Jahren grundlegend 1 | Der Beitrag erscheint erstmalig in deutscher Sprache (Übersetzung Rainer Wenrich). Original: Steele, Valerie: Fashion, in: Geczy, Adam/Karaminas, Vicki (Hg.): Fashion and Art, London 2012, S. 13-27.
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ausgeweitet hat. Ein besonderes Augenmerk richte ich dabei auf die Präsentation von Mode in Museen. Historisch betrachtet gibt es eine Tendenz, Mode als oberflächlich, flüchtig und materialistisch zu bezeichnen. Demgegenüber wird die Kunst als bedeutsame Form, ewig schön und vergeistigt bewertet (obwohl gerade diese Qualitäten in den vergangenen Jahren in Frage gestellt wurden). Gerade weil sich Mode verändert – und dieser Wandel letztlich die Mode auch ausmacht – sprach man der Mode die Qualitäten der Wahrheit und der idealen Schönheit ab. Letztere schrieb man gemeinhin der Hochkunst zu. Unvergesslich bleibt, wie die Moralisten des viktorianischen Zeitalters die Mode als eine »launenhafte Göttin« charakterisierten. Sie erkannten dabei einerseits ihre Kraft an, betonten aber gleichzeitig ihre Irrationalität und Unrechtmäßigkeit. Andere Kulturkritiker beschrieben die Mode als das »Lieblingskind des Kapitalismus« und zeigten damit, dass der unaufhörliche stilistische Wechsel der Kleidung nur durch die kapitalistische Gier und die Gutgläubigkeit der Konsumenten zu erklären sei, da die aktuellste Mode letztendlich nicht schöner oder funktionaler als ihre Vorgängerin sei.2 Mode wird somit grundsätzlich, abgesehen von ihrer inhärenten ästhetischen Komponente, als Ware betrachtet, wohingegen man die Kunst mit einem höherstehenden ästhetischen Bereich assoziiert. Natürlich sind auch Gemälde und Skulpturen Waren. Die Kunst übersteigt aber ihren Status als Ware und unterscheidet sich dadurch von der Mode, die gerne in ihrem kommerziellen Wesen zu schwelgen scheint. Diese Gedanken mögen veraltet und einfach klingen und dennoch spielen sie immer noch eine bedeutsame Rolle innerhalb des gegenwärtigen Diskurses über Kunst und Mode. Kritiker bestehen weiterhin darauf, »Kunst als Kunst und Mode als Industrie« zu bezeichnen, wie es Michael Boodro in seinem Artikel formulierte, der im Jahr 1990 in Artnews erschien. Darin beschrieb Boodro »das Ideal der Kunst als Schöpfung von Individuen, hell brennend vor erhabener Inspiration«. Die Mode, oder »der Lumpenhandel […] sei etwas völlig anderes«.3 Über Jahrhunderte hinweg wurde die Mode »als die andere Seite der Kunst betrachtet«, beobachtet Robert Radford, weil sie »mit den Konzepten der Beständigkeit, Wahrheit und Authentizität im Konflikt steht. Als besonders gefährlich betrachtet man die Mode, wenn sie heimtückisch die Zitadelle der Kunst erobern möchte […], weil doch gerade die Kunst ständig in Gefahr sei, ein Opfer der Schändung zu werden.«4 2 | Vgl. Lauer, Robert H./Lauer, Jeanette C.: Fashion Power: The Meaning of Fashion in American Society (Englewood Cliffs, NJ: Prentice Hall, 1981), besonders Kapitel 2, »What is Fashion?« bezüglich der Metaphern der Mode. 3 | Boodro, Michael: Art & Fashion: A Fine Romance, in: Artnews (September 1990): S. 120, 127. 4 | Radford, Robert: Dangerous Liaisons: Art, Fashion and Individualism, in: Fashion Theory 2, no. 2 (June 1998), S. 152.
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Jeder, der Berichte über Modeausstellungen in Museen gelesen hat, kann dies bezeugen! Schon in der elisabethanischen Ära hat Shakespeare die Mode als einen »abartigen Dieb«, der »mehr Kleidung als jeder andere Mensch verschleißt«, bezeichnet. Diese Metapher ist bezeichnend, weil das niedrige Ansehen, welches man der Mode zuschreibt, sicherlich verknüpft ist mit der Tatsache, dass sie direkt auf dem Körper getragen wird. Daher wird sie mit dem körperlichen, sexuellen und darüber hinaus auch mit dem verwesenden identifiziert. Lange Zeit wurde die Mode auch mit der weiblichen Eitelkeit assoziiert. Dies galt sogar in Zeiten, in denen Kleidung für Männer mindestens genauso extravagant und modisch wie ihr weibliches Gegenüber war. Demgegenüber assoziierte man mit der Kunst gerne die männliche Schöpferkraft.
M ODEMACHER VON W ORTH BIS S AINT L AURENT Wenden wir uns dem ersten Kleidermacher zu – einem Mann – der für sich die Bezeichnung »Künstler« beanspruchte. Als Charles Frederic Worth sein Modehaus im Jahr 1858 in der Rue de la Paix eröffnete, war die Herstellung von modischer Kleidung ein eher mittelständisches Handwerk, dominiert von Schneiderinnen mit ihren Einzelkundinnen. Viele Frauen stellten ihre Kleidung selbst zuhause her. Männer beauftragten Schneider oder kauften Kleidung von der Stange. Innerhalb weniger Jahre gelang es Worth, die Struktur und das Image dessen umzuformen, was bald darauf als haute couture bekannt werden sollte. Obwohl die couture vielmehr handwerkliches Können verlangte, als industriell gefertigte Kleidung, wäre die populäre Vorstellung, diese Kleider als »einzigartig wie ein Kunstwerk« zu bezeichnen, viel zu einfach gedacht. Die Innovation von Worth bestand darin, eine Serie von vorgefertigten Modellen zu produzieren und diese entweder Einzelkundinnen, für welche die Kleider angepasst wurden, oder dem gerade entstehenden made to order oder ready to wear Handel in den Kaufhäusern zu präsentieren. Das Modehaus von Worth wuchs schließlich zu einem großen, internationalen Unternehmen mit über 1.000 Mitarbeitern heran. Worth hat erheblich dazu beigetragen, das Image des Modemachens zu kreiieren. Dies geschah zu dem Zeitpunkt, als die Mode grundsätzlich demokratisiert wurde. Es ist bedeutsam, dass die haute couture sich gleichzeitig mit der Massenproduktion von Kleidung als ready to wear entwickelte. Damit sind die zwei Seiten der modernen Bekleidungsindustrie beschrieben. Gleichzeitig gab es mit dem Aufstieg des Kaufhauses eine Revolution hinsichtlich des Einzelhandels. Lange vor dem Konzept des branding präsentierte sich Worth ganz bewusst als Künstler nach seinem Vorbild Rembrandt (dem auch Richard Wagner folgte). Das steigerte sein eigenes Ansehen, zumindest innerhalb der Modewelt, wo seine Kleidungsstücke den Platz von Kunstwerken für Elitekunden einnahmen. Der Rest der Welt betrachete ihn eher als einen neureichen Händler. Die Presse behandelte Worth als einen wahrhaftigen Mode-Diktator, der seinen Kunden nur
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kleine Wünsche, wie z.B. die Wahl des Stoffmusters, zugestand. Ansonsten versuchte Worth alle wesentlichen ästhetischen Entscheidungen zu kontrollieren. In Übereinstimmung mit dem durch die Romantik geprägten Bild des Künstlers betonte Worth, dass er die Inspiration benötige, um seine Kleider zu erschaffen. Zola machte sich in seiner Novelle La Curée (1871) darüber lustig. Der Schriftsteller stellte Worth darin auf satirische Weise als den Schneider Worms dar, der in eine auffällige Melancholie fiel, als die Inspiration ausblieb. Eine weitere Strategie, die der Erweiterung künstlerischer Glaubhaftigkeit diente, zeigte sich in einem Rückgriff auf die große Kunst vergangener Zeiten. So waren einige Kleider von Worth inspiriert von der Malerei eines van Dyck. Und die Damen der Gesellschaft ließen sich häufig in Kleidern von Worth portraitieren.5 Der französische Ästhet Octave Uzanne bemerkte dazu: »Einige unserer Moden sind nichts anderes als simple Kopien der Gemälde alter Meister. Modisch zu sein kommt in Mode.«6 Noch wichtiger war es, dass Worth Vorreiter darin war, Etiketten in seine Kleidungsstücke einzunähen. Von diesem Moment an funktionierte die griffe genauso wie die Signatur des Malers, um die Echtheit der Künstlerhand zu beweisen. Nicht alle Kulturen haben eine so scharfe Trennung zwischen dem Künstler und dem Kunsthandwerker. Diese Unterscheidung wurde in der westlichen Kultur seit dem 16. Jahrhundert markiert, als Maler schließlich erfolgreich als Künstler und nicht mehr als Handwerker anerkannt wurden. Die Signatur diente als Zeichen der individuellen Handschrift (und der Idee) des Künstlers. Heute bekommt man auf Auktionen für historische Kleidungsstücke aus dem Hause Worth mit intakten Etiketten bis zu zehn Mal mehr als für vergleichbare Stücke ohne Etiketten oder von weniger bekannten Designern. Die Kleidungsstücke von Worth sind häufig Teil musealer Ausstellungen von Mode und Couture. »Mode hat wie alle anderen Künste ihren Platz im Museum«, sagt Pamela Golbin, Kuratorin im Musée de la Mode et du Textile in Paris. »Es gibt keinen Widerspruch zwischen der Mode als Industrie und als Kunst. Worth präsentierte sich selbst als Künstler und von Anfang an wurde die Mode in Frankreich als Kunst und auch als Industrie begriffen.« Nach Golbin »unterscheiden Engländer nicht klar zwischen den Kleidern, die sie tragen und denjenigen, die in Museen präsentiert werden. In englischen Museen müssen Kleidungsstücke kontextualisiert werden, entweder durch die Gestaltung der Ausstellung oder das Styling. Demgegenüber tendieren wir (als französische Kuratoren) dazu, das Design der Ausstellung
5 | Simon, Marie: Fashion in Art: The Second Empire and Impressionism, London 1995, S. 142-147. 6 | Uzanne, Octave: La Femme et al. mode (1893), zitiert in: Simon, Marie: Fashion in Art: The Second Empire and Impressionism, London 1995, S. 101.
Mode so viel wie möglich zu abstrahieren. Auf diese Art können die Besucher die gezeigten Kleidungsstücke formalästhetisch, wie ein Kunstwerk, wahrnehmen.«7
Auch wenn sich Pariser Modedesigner wie Worth als Künstler positionierten, schufen Avantgarde-KünstlerInnen und Intellektuelle eine neue Art von Künstler-Kleidung als Alternative zur vorherrschenden Mode. William Morris betrachtete Mode als ein »komisches Monster, geboren aus der Leere im Leben reicher Leute und der Gier des wetteifernden Handels.« Morris zog es vor, seine Frau in locker wehenden, mittelalterlichen Gewändern zu kleiden; Oscar Wilde, der wohl berühmteste Fürsprecher ästhetischer Kleidung definierte Mode bekanntermaßen als »eine Form der Häßlichkeit, die so intolerant sei, dass man sie alle sechs Monate ändern müsste.« 8 Henry van de Velde, Gustav Klimt und Josef Hoffman schufen Reform- und Künstlerkleider. Für die meisten dieser Kunstkleider gab es aber nur einen ausgewählten Kundenkreis. Italienische Futuristen wie z.B. Giacomo Balla kreierten einige Zeit später eine utopische Anti-Mode. Dies galt auch für russische KonstruktivistInnen wie Varvara Stepanova oder Alexandra Exter. Obwohl einige dieser Initiativen die zeitgenössische und die nachfolgende Mode beeinflussten, erhielten sie doch keinen Platz innerhalb des Modesystems. Balla entwarf als Künstler einige Kleidungsstücke; aber er war eindeutig kein Modedesigner. Die Malerin Sonia Delaunay unternahm ein weiteres Experiment, um Kunst und Mode zu kombinieren. Ihre Boutique Simultané (gemeinsam mit dem Modemacher Jacques Heim) wurde in der Modeabteilung der Internationalen Weltausstellung für das Kunstgewerbe des Jahres 1925 in Paris präsentiert.9 In den meisten Fällen spielten jedoch Künstlerkleidung und utopische Anti-Mode keine wesentliche Rolle innerhalb des Modesystems. Anders sah es jedoch bei Paul Poiret aus. Er war einer der einflussreichsten und avantgardistischsten Modedesigner des frühen 20. Jahrhunderts. Nachdem er kurze Zeit für Worth gearbeitet hatte, eröffnete Poiret sein eigenes Modegeschäft und spezialisierte sich auf moderne, orientalisch anmutende Stile, welche den Look der Mode vor dem 1. Weltkrieg revolutionierten. Poiret stilisierte sich, ebenso wie Worth vor ihm, als Künstler. Und er unterstützte moderne Künstler. »Die Damen lassen sich von mir ein Kleid machen, genauso wie sie zu einem bedeutenden Maler gehen, um sich portraitieren zu lassen. Ich bin ein Künstler und kein Kleidermacher«, erklärte Poiret im Jahr 1918.10 Dennoch schuf er nicht 7 | Golbin, Pamela: Interview der Autorin, August 2010. 8 | Zitiert nach: Stern Radu: Against Fashion: Clothing as Art, 1850-1930, Cambridge MA 2004, S. 6, 8. 9 | Mackrell, Alice: Art and Fashion: The Impact of Art on Fashion and Fashion on Art, London 2005, S. 128. 10 | »Poiret Here to Tell of his Art«, New York Times, September 21, 1918, S. 11, zitiert in: Troy, Nancy: Couture Culture: A Study in Modern Art and Fashion, Cambridge MA 2003, S. 47.
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nur teuere Orginale für eine Elitekundschaft, sondern förderte auch die Produktion einer größeren Anzahl seiner Stücke für einen breiteren Konsumentenkreis. Poiret nutzte die Hochkultur als rhetorisches Mittel und kämpfte gleichzeitig mit deren inhärenter Widersprüchlichkeit. Gabrielle »Coco« Chanel schien den seitens der Vogue formulierten Vergleich zwischen ihren modernen Kleidungsstücken und der Fließbandproduktion bei Ford zu begrüßen. »Ein Kleid ist weder eine Tragödie noch ein Gemälde«, erklärte Chanel, »es ist eine bezaubernde und ebenso vergängliche Kreation und kein dauerhaftes Kunstwerk. Die Mode sollte sterben und schnell vergehen, damit der Handel weiter bestehen kann.«11 Chanel bezeichnete nicht nur Poiret etwas abfällig als Kostümschneider (»Scherazada ist einfach, ein kleines schwarzes Kleid ist schwierig«), sondern nahm auch ihre große Widersacherin Elsa Schiaparelli nicht ernst. Chanel bezeichnete sie als »die italienische Künstlerin, die Kleider macht« – und machte damit deutlich, dass Künstler ihrer Meinung nach keinen Platz in der Mode hatten. Ebenso wie Poiret, den sie als den »Leonardo der Mode« bezeichnete, betrachete Schiaparelli Modedesign nicht als »Beruf, sondern als Kunst«. Regelmäßig arbeitete sie mit Künstlern, wie z.B. Salvador Dali, Jean Cocteau, Bébé Bêrard oder Vertès zusammen. Von ihnen fühle sie sich »unterstützt und verstanden, jenseits der rohen und langweiligen Realität des profitorientierten Kleidermachens.«12 Schiaparelli erscheint natürlich immer wieder in Büchern und Ausstellungen über Kunst und Mode, weil sie mit Künstlern wie Salvador Dali zusammenarbeitete. Mit ihm schuf sie bekanntermaßen surrealistische Kleidungsstücke, wie den Shoe Hat oder das Tear Dress. Obwohl vieles dafür spricht, dass Dali maßgeblich für den Entwurf der erwähnten Stücke verantwortlich war, so berief sich Schiaparelli bei ihrem Modedesign auf die künstlerische Inspiration (»wilde Ideen«). Aus ihrem Modehaus machte sie etwas, das Cocteau als das »Teufelslaboratorium« der Kleider-Maskerade bezeichnete.13 Als Modernistin betrachtete Chanel die Mode als grundlegenden Aspekt des zeitgenössischen Lebens. Poiret und Schiaparelli hingegen sahen in der Mode eine Form des Theaters oder der Performance – also einer Form der Kunst. Sie alle aber arbeiteten in einem Modesystem in Paris und konzentrierten sich auf die anspruchsvolle Schneiderei. Die Mode wurde in Paris traditionell als Kunstform viel ernster genommen als anderswo. Nach dem zweiten Weltkrieg erweiterten Designer wie Christian Dior ihr Sortiment mit günstigeren Linien und der Vergabe von Lizenzen. Sie gaben ihren Namen für die Herstellung von Accessoires, wie z.B. Parfum, Strumpfhosen oder Modeschmuck. Dem Prestige der Pariser Mode schadete dies überhaupt nicht. Ihr Mythos konnte sich auch in Zeiten der Demokratisierung von Mode stetig weiterentwickeln. 11 | Morand, Paul: L’allure de Chanel, Paris 1976, S. 145. 12 | Zitiert in: Steele, Valerie: Women of Fashion: Twentieth Century Designers, New York 1991, S. 65-66. 13 | Ebd., S. 69.
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»Mode ist eine Kunst. Kunst ist kreativ und Männer sind die Schöpfer«, auf nichts weniger beharrt der Modeschöpfer Jacques Fath im Jahr 1954 und löscht mit einem die noch in den 20er und 30er Jahren vorhandene Dominanz weiblicher Modedesigner aus.14 Abgesehen von Chanel, die ihr Modehaus im Jahr 1954 wieder öffnete, waren die meisten Nachkriegsdesigner in der Tat Männer. Dazu gehörten Dior, Fath und Balenciaga. Später kamen noch Cardin, Courrèges und Yves Saint Laurent dazu. Die Vorherrschaft von Männern mag zu einem wachsenden Trend in der Modepresse beigetragen haben, das künstlerische und geniale der Designer zu betonen. »Warum arbeitet Ihr im Reich des Genies?« fragte Chanel 1956. »Wir sind keine Künstler sondern Kleidermacher. Der Kern authentischer Kunstwerke ist es, häßlich zu erscheinen und schön zu werden. Das Herzstück der Mode ist es, hübsch zu erscheinen und häßlich zu werden. Wir brauchen kein Genie, sondern viel Geschicklichkeit und ein wenig Geschmack.«15 Bereits im Jahr 1959 publizierte Remy G. Saisselin, ein Kenner der Kunst des 18. Jahrhunderts, einen Aufsatz mit dem Titel »From Baudelaire to Christian Dior: The Poetics of Fashion« in einer Ausgabe des Journal of Aesthetics and Art Criticism. Darin formulierte er, dass »Mode zu einer Art Kunst wurde«.16 Es sollte jedoch einige Zeit dauern, bis andere internationale Kunstzeitschriften wieder die Idee der Mode als Kunst aufgreifen sollten – als sie es dann in den 1980er Jahren taten, war dies vor allem in Verbindung mit Ausstellungen von Mode in Museen. Dennoch wurden von den fünfziger Jahren bis in die siebziger Jahre hinein die ästhetischen Aspekte der Mode erkannt – zumindest innerhalb der Welt der Mode. Designer wie Balenciaga, Dior, Madame Grès, Charles James und besonders Saint Laurent wurden von ihren Mitstreitern als Künstler hervorgehoben. Während Balenciaga sich nicht, so wie Fath, als Künstler bezeichnete, stellte er jedoch heraus, dass »ein Kleidermacher ein Architekt für den Schnitt, ein Bildhauer für die Form, ein Maler für die Farben, ein Musiker für die Harmonie und ein Philosoph für den Stil sein müsse.«17 Er sagte auch einmal, dass sein Zeitgenosse »Charles James nicht nur der größte amerikanische Couturier, sondern der beste und einzige Kleidermacher der Welt sei, der es [das Kleidermachen; RW] von einer Form der angewandten Kunst zu einer reinen Kunstform erhoben hat.«18 Balenciaga war nicht nur ein akribischer Handwerker, der ein Armloch 14 | Ebd., S. 118. 15 | Chanel zitiert in: Saisselin, Remy G.: From Baudelaire to Christian Dior: The Poetics of Fashion, Wiederabdruck in: Brand, Jan/Teunissen, José (Hg.): Fashion and Imagination: About Clothes and Art, Arnheim 2009, S. 79. 16 | Saisselin, Remy G.: From Baudelaire to Christian Dior: The Poetics of Fashion, S. 114. 17 | Balenciaga zitiert in: Brand, Jan/Teunissen, José (Hg.): Fashion and Imagination: About Clothes and Art, Arnheim 2009, S. 315. 18 | Balenciaga zitiert in: Coleman, Elizabeth Ann: The Genius of Charles James, New York 1982, S. 9.
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durchaus solange überarbeiten konnte, bis er genau das gewünschte Ergebnis erreicht hatte, sondern auch ein Meister der innovativen dreidimensionalen Form (wie auch James). Sein ausgeklügelter Schnitt und seine Meisterschaft im Drapieren des Stoffes brachte Modekritiker dazu, ihn mit Velasquez zu vergleichen. Überdies war er innerhalb des Modesystems weitest möglich entfernt von ihrer kommerziellen Seite. Er begrenzte die Produktion auf die bestmögliche Qualität seiner Stücke für eine ausgesuchte Kundschaft. Am Anfang dieses Aufsatzes hatte ich mich beispielhaft auf ein Kleid von Balenciaga, ausgestellt in einem Museum, bezogen. Ein solches Kleid wurde offensichtlich von einem Schneider hergestellt, der innerhalb des Modesystems arbeitet und nicht von einer Person, ausgebildet als Künstler, deren Werk in der Welt der Kunst ausgestellt und verkauft wird. Dieses Kleid wurde auch für einen anderen Zweck hergestellt – um am Körper der Frau getragen zu werden, die es gekauft hat. Dennoch muss die ursprüngliche Funktion des Objekts, ebenso wie die Intention seines Schöpfers, nicht notwendigerweise alle anderen Interpretationen ausstechen. Museen sind voll mit Objekten, die irgendwann einmal nützliche Funktionen hatten. Nun erfüllen sie einen sozialen, ästhetischen und/oder ideologischen Zweck. Dennoch ist es so, dass die historische Situation, die institutionellen Rahmenbedingungen und der symbolische Kontext innerhalb derer das Werk entstanden ist, dazu beiträgt, die Bedeutung des Werks zu konstitutieren. Balenciagas Kleid wurde sicherlich als Teil der Kleidermode geschaffen. In dem Moment wo es das Museum erreicht hat, um dort ausgestellt zu werden, hat es unausweichlich Qualitäten erlangt, die sich an der Kunst orientieren. Im Laufe der Zeit entwickelte sich im Zusammenhang mit Balenciagas Werk ein wissenschaftlicher Diskurs, der sich mit seinen formalen und künstlerischen Qualitäten befasst. Der Kurator Richard Martin formulierte, dass Balenciaga und andere bedeutende Designer »den Stoff sprechen lassen – genauso wie Morris Louis die Farbe sprechen lässt.«19 Schon zu Lebzeiten und danach wurde Saint Laurent oft mit einem Künstler verglichen. Teilweise geschah dies einerseits, weil viele seiner Kleidungsstücke durch die Kunst inspiriert waren und andererseits, weil sein Werk, von höchster Qualität, die sozialen und ästhetischen Entwicklungen seiner Zeit abbildete. Im Jahr 1965 präsentierte er seine berühmten Mondrian-Kleider, die kühne geometrische Muster, abgeleitet von Mondrians abstrakten Malereien, zeigten. Während sich viele Modedesigner in der Nachfolge Bilder und Themen aus der Kunst aneigneten, waren die Mondrian-Kleider deshalb so bedeutsam, weil Saint Laurent die Flächigkeit der A-Linien-Kleider, typisch für die Mitte der 60er Jahre, betonte und die Oberfläche der Kleider dadurch in eine Art Leinwand verwandelte. Nur ein Jahr später, 1966, zeigte Saint Laurent seine Pop-Art-Kleider, die Silhouetten nackter Frauenkörper als Reminiszenz zu Malereien von Tom Wesselman zeig19 | Martin zitiert in: Turner, Darryl: Couture de Force: Interview with Richard Martin, Artforum, März 1996, S. 16.
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ten. Natürlich diente die Pop-Art dazu, in den sechziger Jahren die Kluft zwischen Hochkultur und Alltagsästhetik zu überwinden. Ebenso wie Andy Warhol integrierte Saint Laurent begeistert Elemente des Alltags in seine Kunst. Saint Laurent sprach oft von seiner Kunst und über diejenigen Künstler, die ihn beeinflussten und deren Kunst er auch sammelte, so z.B. Matisse und Picasso. Er erwähnte auch seine Empfindsamkeit, die er und andere mit künstlerischer Sensibilität assoziierten. Manchmal wurden die Verbindungen zwischen Mode und Kunst so offensichtlich wie bei den Picasso-Kleidern im Jahr 1979. Für gewöhnlich betonten die Kritiker wieder und wieder seine Meisterschaft in der Verwendung von Farbe und Form. Anlässlich einer großen Ausstellung über das Werk von Saint Laurent im Jahr 2010, die sein Lebenspartner Pierre Bergé im Pariser Petit Palais organisierte, wurde der Designer ausdrücklich als »einer der größten Künstler des [zwanzigsten] Jahrhunderts« gefeiert.20
K UR ATOREN UND K RITIKER Im Jahr 1981 erschien in der Zeitschrift American Artist ein Artikel mit dem Titel »Is Fashion Art?«. Die Kunstkritikerin Lori Simmons Zelenko interviewte darin Diana Vreeland, ehemalige Herausgeberin der Vogue und »Hohepriesterin der Mode«. Vreeland war zu Sonderberaterin des Costume Institute im Metropolitan Museum of Art ernannt worden, wo sie die Kleiderausstellungen aus ihrer muffigen Antiquiertheit holte und zu spektakulären und stilvollen Präsentationen führte. Sie war im Zusammenhang mit Modeausstellungen auch verantwortlich für eine Konzentration auf moderne und zeitgenössische Mode. Vreeland bestand darauf, dass »Mode keine Kunst ist«. »Kunst ist etwas sehr spirituelles. Sie ist eine bemerkenswerte, außergewöhnliche Sache. […] Mode hat mit dem täglichen Leben zu tun.« Mode ist bloß »eine Laune der Öffentlichkeit«, fügte sie hinzu, und »Körperschmuck«.21 Wahrscheinlich überrascht es nicht, dass Vreeland einen derart naiven und veralteten Blick auf die Kunst hatte. Aber es überrascht, dass ihr Blick auf die Mode so einfältig war, hatte sie doch bereits eine große Ausstellung über das Werk von Cristobal Balenciaga im Metropolitan Museum of Art organisiert und sollte bald eine weitere Präsentation mit dem Werk von Saint Laurent konzipieren. Wie andere auch, so bezeichnete Vreeland Saint Laurent häufig als Genie. Aber die von Vreeland im Jahr 1983, erstmalig für einen noch lebenden Designer, organisierte Saint Laurent-Retrospektive, verursachte eine ungeheuerliche Kontroverse. Allzusehr war die Ausstellung mit den ökonomischen Interessen eines Designers und seines Unternehmens verwoben. Ein Kritiker der Zeitschrift Art in America formulierte es so: »In dem sie das Yin und Yang von Eitelkeit und Hab20 | Paris Match Visitor’s Guide [to] the Sensational Yves Saint Laurent Exhibition, 2010. 21 | Simmons Zelenko, Lori: Is Fashion Art? In: American Artist, Juni 1981, S. 12, 88.
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gier verschmolz, war die Yves Saint Laurent Ausstellung das Gleiche, als würde man den Galerieraum General Motors zu Verfügung stellen, um dort Cadillacs auszustellen.«22 Das Metropolitan Museum zeigte danach keine Ausstellungen mehr von lebenden Modedesignern – obwohl lebenden Malern und Bildhauern diese Ehre weiterhin zuteil wurde. Die japanische Moderevolution der 1980er Jahre markierte einen dramatischen Wandel innerhalb des Modesystems. Obwohl die Avantgarde-Mode von Issey Miyake, Yohji Yamamoto und Rei Kawakubo von Comme des Garçons anfangs von einem Großteil der internationalen Modepresse zurückgewiesen wurde, so waren diese Designer schließlich erfolgreich darin, eine radikal neue Ästhetik einzuführen, eine neue Haltung im Zusammenhang mit dem Verhältnis zwischen Körper und Kleidung und eine neue Betonung von Mode als Kunst. Und obwohl von allen drei führenden japanischen Modemachern Zitate existieren, in denen sie formulieren, dass Mode keine Kunst sei, so haben sie doch die Haltung gegenüber der Mode innerhalb der Welt der Kunst maßgeblich beeinflusst. Bereits im Jahr 1982 wartete die Zeitschrift Artforum auf ihrem Cover mit einem Avantgarde-Mode-Ensemble des japanischen Designers Issey Miyake auf. Der Leitartikel von Ingrid Sischy und Germano Celant schlug vor, dass Mode eine neue Art des »Kunstmachens sei, die ihre Autonomie behält, da sie die Massenkultur an der verwischten Grenze zwischen Kunst und Kommerz betritt.« Sie bemerkten auch, dass die Pop-Art damit begonnen hatte, die Hierarchien zwischen »high und low, rein und unrein« und dem »unnützen und nützlichen« niederzureißen. Während sie betonten, dass »Modebewusstsein […] mit Kunst nichts zu tun habe«, schlugen die Autoren vor, dass »der kontinuierliche und unbekümmerte Umgang mit dem Phantom der Geschichte seitens der Mode sie zu einer modernen Idee mache […] und damit Bezüge zu den neuesten Entwicklungen in der Kunst entstünden.«23 Bezeichnenderweise entstand im Umfeld der japanischen Mode ein Diskurs über die Ästhetik des Verfalls und der Dekonstruktion, um die Bedeutung dieses radikalen neuen Stils zu erklären. Rückblickend könnte es sein, dass westliche Theoretiker mögliche Verbindungen der Designer zur traditionellen japanischen Ästhetik, wie z.B. zu wabi-sabi oder zu Tanizakis »Lob des Schattens« überbetonten. Gleiches galt auch für die Tatsache, dass es in Japan keine klare Grenze zwischen Kunst und Handwerk gibt. Aber mögliche Interpretationsfehler sind weniger bedeutsam als die Tatsache, dass Kritiker damit begannen, einen anspruchsvollen Diskurs über die japanische Mode zu führen. Dieser Umstand ist deshalb so bedeutsam, da die Entwicklung eines theoretischen und ästheti22 | Storr, Robert: Unmaking History at the Costume Institute, in: Art in America, Februar 1987, S. 19. 23 | Sischy, Ingrid/Celant, Germano: Editorial, in: Artforum 20, no. 6, Februar 1982, S. 34-35.
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schen Rahmenwerks für das Verständnis von Mode sicherlich ein Schlüsselkriterium dafür ist, Mode als Kunst zu definieren. Einer der Protagonisten in diesem Zusammenhang war der vom Kunstkritiker zum Modekurator avancierte Richard Martin. Er war Schöpfer wegweisender Ausstellungen wie Fashion and Surrealism und Three Women, wovon die letztere das Werk von Madeleine Vionnet, Clare McCardell und Rei Kawakubo von Comme des Garçons zeigte. Während er noch am Fashion Institute of Technology arbeitete verfasste Martin im Jahr 1987 einen Essay, in dem er verschiedene Argumente zusammentrug, die zeigten, dass Mode nicht Kunst sei. Dem Argument, dass »Mode praktisch und daher keine Kunst sei«, begegnete er damit, die Kantianische Idee der reinen Kunst sei lange diskreditiert worden. Denjenigen, die darlegten, dass »Mode ein Geschäft sei und ihre Produkte nur Waren seien« entgegnete er, dass es nicht nur einen Markt für die Kunst gäbe, sondern dass viele zeitgenössische Künstler wie Cindy Sherman und Jeff Koons das Konzept der »Kunst als Ware-Fetisch […] zur Eigenschaft ihres Werks machten.« Dem Argument, dass Mode ein »kollaboratives« Unternehmen sei, wohingegen Kunst »individuelle Kreativität« ausdrücke, stellte er die Beispiele Film und Architektur, genauso wie das historische Beispiel der Künstlerwerkstatt in der Renaissance entgegen. Wenn Mode Ausdrück verkörpere, dann trifft das ebenso auf die darstellende Kunst zu. Wenn es einen schnellen Wechsel in der Kleidermode gibt, dann trifft dies auch auf die »Abfolge der Kunst-Bewegungen« zu. Dem Vorwurf, dass Mode trivial sei, entgegnete er, dass sie »eine stichhaltige kulturelle und künstlerische Ausdrucksform« sei, welche die gleiche intelligente Kritik wie andere Künste auch verdiene.24 Einige Jahre später übernahm Martin Vreelands Aufgabenbereich am Metropolitan Museum of Art. Während er dort die Erfahrung machte, dass es immer noch Widerstände gegen die Idee der Mode in Kunstmuseen gab, so genoss er doch die Gelegenheit, um Werbung die Bedeutung der Mode zu machen. »Einer meiner Prüfsteine war […] die Kunstwelt-Modewelt Verbindung«, sagte Martin, »Ich habe den Traum einer visuellen Kultur, ganz und aufregend.«25 In dem Ausmaß wie das Konzept der visuellen Kultur sich kraftvoll entwickelte, sollte auch die Mode mehr und mehr als potentielle Form der Kunst betrachtet werden. Ein neuer Typ von Mode-Ausstellung erschien in den Museen, wobei Mode ganz ausdrücklich mit Kunst verbunden wurde. Martin hatte dazu mit seiner Präsentation Fashion und Surrealism (1987), gemeinsam mit Harold Koda kuratiert, den Weg geebnet. Und er steuerte auch einen Beitrag zu der belgischen Ausstellung Mode en Kunst 1960-1990 (1995) bei. Aber das neue Genre wurde erst wirklich mit der Biennale di Firenze: Looking at Fashion (1996), kuratiert von Sischy 24 | Martin, Richard: A Case for Fashion Criticism, in: The FIT Review 3, no. 2, 1987, S. 25-29. 25 | Martin zitiert in: Turner, Darryl: Couture de Force: Interview with Richard Martin, Artforum, März 1996, S. 116, vgl. auch S. 15-17.
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und Celant in die Wege geleitet. Eine kleinere Version der Ausstellung wurde mit dem Titel Art/Fashion im Guggenheim Museum Soho (1997) gezeigt. Die Ausstellung und der begleitende Katalog widmeten der futuristischen Rekonstruktion von Mode (d.h. utopische Anti-Mode) und dem Zusammenwirken von surrealistischer Kunst mit Mode erhebliche Aufmerksamkeit. Auch die Kunst-Mode der sechziger Jahre von Andy Warhol und Lucio Fontana für Bini-Telese war Teil der Präsentation. Im Zeitraum nach den sechziger Jahren fokussierte diese Ausstellung hauptsächlich Künstler, die Mode oder Kleidung als Thema ihrer künstlerischen Auseinandersetzung einsetzten (von Joseph Beuys’ Filz-Anzug bis zu Beverly Semmes’ Riesen-Kleid und Miniatur-Kleidern von Charles LeDray). Zum Abschluss der Ausstellung wurden einige weniger erfolgreiche Kooperationen zwischen Künstlern und Designern, wie z.B. Damien Hirst und Miuccia Prada gezeigt. Die Ausstellung im Guggenheim Museum Soho hatte eine ganze Reihe von Publikationen über Kunst und Mode zur Folge und gerade rechtzeitig folgten weitere Präsentationen, wie z.B. Adressing the Century: A Hundred Years of Art and Fashion in der Londoner Hayward Gallery (1998). Zusätzlich zu den obligatorischen futuristischen, konstruktivistischen und surrealistischen Arbeiten beinhaltete diese Ausstellung auch Kleidungsstücke einer ganzen Reihe von professionellen Modedesignern wie Paul Poiret, Roberto Capussi, André Courrèges, Issey Miyake und Rei Kawakubo von Comme des Garçons. Die Form der Modekritik, welche Richard Martin eingeforderte, begann sich langsam durchzusetzen. Die Zeitschrift Fashion Theory: The Journal of Dress, Body & Culture wurde im Jahr 1997 als interdisziplinäres Forum für einen wissenschaftlichen Austausch über Mode gegründet. Sie bot von diesem Moment an den Ort für eine Fülle von Essays, darunter auch Sung Bok Kims Aufsatz »Is Fashion Art?«. Nach einer Bewertung der bisher geäußerten Argumente für und gegen eine Gleichstellung von Mode als Kunst in neueren Publikationen sprach sich Kim dafür aus, mit James Carneys historischer Stiltheorie der Kunst auch die Mode zu erfassen. Kim forderte »anspruchsvollere Interpretationen« als »Grundlage für […] eine kritische Bewertung […] in Modepublikationen« vergleichbar mit denen der etablierten Kunstkritik.26 Bereits in der nächsten Ausgabe wurde ein weiterer bedeutsamer Essay veröffentlicht. Unter dem Titel Dangerous Liaisons: Art Fashion and Individualism beschäftigte sich Robert Radford mit dem Werk Gilles Lipovetskys27 und zeigte auf, dass sich die Kunst in den vergangenen Jahren dahingehend gewandelt hat, in dem sie »zunehmend bestimmte Qualitäten angenommen hat, die man ohne weiteres auch der Mode zuschrieb«, wie Verführung und Vergänglichkeit. Wie auch die Mode, so ist gerade die postmoderne Kunst anfällig für Ironie und Selbstrefe26 | Kim, Sung Bok: Is Fashion Art?, in: Fashion Theory 2, no. 1, März 1998, S. 68. 27 | Lipovetsky, Gilles: The Empire of Fashion: Dressing Modern Democracy (übers. von Catherine Porter), Princeton NJ 1994.
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renz. Tatsächlich sind es gerade das Zitat oder die Parodie, welche die bisherige Betonung der Authentizität seitens der Kunst überdecken, um mit Novität und Sex-Appeal den Geltungsdrang zu befriedigen.28 Einige dieser Themen wurden, wenn auch nicht systematisch angesprochen, in der von Chris Townsend organisierten Ausstellung mit dem Titel Rapture: Art’s seduction by Fashion Since 1970 in der Barbican Art Gallery (2002) in London und in dem begleitenden Katalog aufgenommen.29 Wissenschaftler begannen auch, sich mit dem Phänomen der Laufsteg-Präsentation auseinanderzusetzen und verglichen sie mit der künstlerischen Ausdrucksform der Performance.30 Obwohl die meisten Laufsteg-Shows konventionell ablaufen, so gibt es doch einige – insbesondere von Hussein Chalayan, Martin Margiela und Victor und Rolf, die an Performance-Kunst erinnern und dabei ungewöhliche Orte, ritualisierte Abläufe, Video-Projektionen, zusätzliche Technik und Avantgarde-Musik miteinbeziehen. Modepräsentationen von John Galliano, Alexander McQueen und Thierry Mugler wurden zu spektakulären und theatralen Ereignissen, virtuellen Mini-Dramen, mit Schauspielern, Themen und Musik, nicht zu vergessen auch außergewöhnlichen Ausstattungen, beweglichen Laufstegen und sogar einem Hologramm von Kate Moss. Obwohl diese Präsentationen manchmal auch als eine reine Marketingmaßnahme bezeichnet wurden (was sie ja zweifelsohne sind), so enthielten sie doch mehr als nur Kleidungsstücke und schufen kraftvolle Bilder der Schönheit, des Glamours und sogar des Schreckens. Auch die Modefotografie hat mithilfe einiger wichtiger Ausstellung u.a. im Museum of Modern Art eine wachsende Aufmerksamkeit erhalten. Das ist deshalb interessant, weil es doch eine gewisse Zeit dauerte, bis sich die Fotografie als Kunstform etablieren konnte. Besonders die Modefotografie war lange Zeit ausgeschlossen, weil man sie als viel zu kommerziell betrachtete. In dem gleichen Ausmaß, in dem man beginnt, Modefotografie als Kunst zu betrachten, so beginnt sich auch die Mode langsam in diese Richtung zu bewegen. Die Modefotografie erinnert uns auch daran, dass die Mode sowohl Bilder als auch Objekte beinhaltet. KuratorInnen, KritikerInnen und DesignerInnen halten weiterhin fest an einem lebhaften Austausch über die Schnittstellen an denen Kunst und Mode aufeinandertreffen. Die Modedesignerin Zandra Rhodes wurde in der britischen 28 | Radford, Robert: Dangerous Liaisons: Art, Fashion and Individualism, in: Fashion Theory 2, no. 2, Juni 1998, S. 159-160. 29 | Townsend, Chris: Rapture: Art’s Seduction by Fashion Since 1970, London/New York 2002. 30 | Vgl. Duggan, Ginger Greg: The Greatest Show on Earth: A Look at Contemporary Fashion Shows and Their Relationship to Performance Art, in: Fashion Theory 5, no. 3, September 2001, S. 243-270. Duggan erschien in der Spezialausgabe von Fashion Theory zum Thema Fashion and Performance auch als Gastherausgeber.
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Presse mit den folgenden Worten zitiert: »Ich denke, dass Mode eine Form der Kunst ist – man kann sie Kunsthandwerk oder angewandte Kunst gegenüber der bildenden Kunst nennen, aber wo genau ist der Unterschied?« Alice Rawthorne, die ehemalige Direktorin des Londoner Design Museum bestand andererseits darauf, dass Mode keine Kunst sei: »Natürlich nicht, es handelt sich Mode. Damit meine ich aber nicht, dass Mode nicht ins Museum passt oder nicht auch einige der Attribute der Kunst transportieren könnte. Andererseits kann auch ein exquisites Haute Couture-Kleid – wie eines von Cristobal Balenciaga aus seiner Glanzzeit der 1950er Jahre – so perfekt aussehen wie ein wunderschönes Gemälde oder eine Skulptur.« Aber sie bemerkte auch weiter, dass »nur ein altmodischer Ästhet behaupten würde, es wäre die Hauptaufgabe der Kunst, Schönheit zu schaffen.« »Mode hat einen praktischen Zweck und das unterscheidet sie von der Kunst.« Ein »klassisches Abendkleid von Balenciaga […] ist ein Stück Stoff, das getragen werden soll. Warum sollte man so tun, als wäre es etwas anderes?«31
Z USAMMENFASSUNG : K UNST UND M ODE »Kunst ist Kunst. Mode ist Mode«, sagt Karl Lagerfeld. »Andy Warhol hat jedoch bewiesen, dass beide nebeneinander existieren können.«32 Warhol ist aber auch derjenige, der die Kunst in Frage stellte. Nachdem er die Brillo-Boxes von Warhol gesehen hatte, kam Arthur Danto zu dem Schluss, dass »alles Kunst sein könnte.«33 Dennoch heißt das nicht, dass alles Kunst ist. Die Frage, ob Mode Kunst sei, ist nicht zu beantworten, ohne die Definition von Kunst und Mode neu zu bewerten. Nach Pierre Bourdieu ist »das Kunstwerkwerk ein Objekt, das nur Kraft einer (kollektiven) Vorstellung existiert, die es kennt und als Kunstwerkwerk anerkennt.«34 Entgegen einer populären Vorstellung ist Kunst nicht das Ergebnis einer reinen, unabhängigen und kreativen Handlung des Individuums. Die Kunst ist gesellschaftlich begründet. Kunst ist nicht nur auf die materielle Herstellung eines Werks begrenzt. Ebenso wichtig ist die »symbolische Produktion des Werks, d.h. ihr Wert oder etwas, das auch damit zu tun hat, nämlich das Bewusstsein für den Wert des Kunstwerks.« Das kulturelle Schaffen bezieht »nicht nur die direkten Produzenten (Künstler, Schriftsteller etc.), sondern auch diejenigen mit ein, die für die Sinn- und Wertstiftung eines Werks verantwortlich sind, also 31 | The Guardian (13. Juli 2003), zitiert in: Intersections: Where Art and Fashion Meet, St. Paul MN 2009, S. 8. 32 | Karl Lagerfeld, zitiert in: Intersections: Where Art and Fashion Meet, St. Paul MN 2009, S. 7. 33 | Danto, Arthur: After the End of Art, Princeton NJ 1997, S. 114. 34 | Bourdieu, Pierre: The Field of Cultural Production: Essays on Art and Literature, herausgegeben von Randall Johnson, New York 1993, S. 35.
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Kritiker, Verleger und Galeristen. Dazu gehören also alle Protagonisten, deren gemeinsame Anstrengung es ist, die Konsumenten dafür zugänglich zu machen ein Kunstwerk zu kennen und vor allem zu erkennen.«35 Bourdieu unterscheidet zwischen sogenannten legitimierten Kunstwerken, wie z.B. klassische Musik und Gemälde alter Meister und »Kunst im Prozess der Legitimation«, wozu er das Kino oder den Jazz zählt.36 Es erscheint mir sinnvoll, die Mode als eine weitere Kunstform im – weiterhin angefochtenen – Prozess der Legitimation zu betrachten. Folgen wir den Gedanken Bourdieus, dann verschwinden einige der Argumente gegen die Mode als Kunst. Aber um Mode als Kunst zu betrachten müssen wir auch berücksichtigen, dass die Mode durch Kritiker, Kuratoren, Herausgeber und weitere Mittler legitimiert oder symbolisch aufgeladen werden muss. Sie alle müssen die Macht haben, Mode zu Kunst zu machen, damit die Öffentlichkeit davon überzeugt werden kann, ein Kleid als Kunstwerk zu betrachten. Gegenwärtig existiert diese Übereinkunft nicht. Tatsächlich werden wir wahrscheinlich niemals soweit kommen, die ganze Mode als Kunst zu bezeichnen. Nur ein kleiner Teil der Produktion, von Bildern und Objekten der High Fashion und/oder der Avantgarde-Mode wird möglicherweise als Kunst bezeichnet werden. Nicht jedes T-Shirt taugt dazu, Kunst zu werden, genauso wenig, wie jeder Film es schafft, Kino-Kunst zu werden. Es ist immer noch völlig unklar, welche Kriterien die Grenze zwischen gewöhnlichen Filmen (und Kleidungsstücken) und Kino- und Schneider-Kunst markieren. »Wie der Film, die Malerei, die Musik, die Literatur und die Dichtung etc. so ist auch die Mode eine Kunst, wenn sie von einem Künstler geschaffen wurde«, erklärte Pierre Bergé, der Lebensgefährte von Saint Laurent.37 Aber es reicht für einen Designer nicht aus, zu behaupten, dass er ein Künstler sei. Nach Bourdieu »muss auch der Künstler erst dazu gemacht werden, Dies sei die Voraussetzung dafür, dass aus den entstehenden Objekt Kunstwerke werden.«38 Teil dieses Prozesses ist auch die Ausbildung von professionellen KünstlerInnen. Hussein Chalayan, bestens bekannt als konzeptueller Modedesigner, der auch künstlerische Filme und Installationen schafft und diese an Sammler verkauft, formuliert dazu: »Central Saint Martins [wo er studierte] war eine ordentliche Kunstschule, in der es zufällig auch eine Modeabteilung gab. Es war ein fantastischer Ort, wo man den Körper in seinem kulturellen Kontext verstehen lernte. Wir kamen uns wie
35 | Ebd., S. 37. 36 | Bourdieu, Pierre: Distinction: A Social Critique oft he Judgement of Taste, übersetzt von Richard Nice, Cambridge MA 1984, S. 16. 37 | Bergé, Pierre: Yves Saint Lauren, Paris 1996, S. 7. 38 | Bourdieu, Pierre: The Field of Cultural Production: Essays on Art and Literature, herausgegeben von Randall Johnson, New York 1993, S. 61.
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Körper-Künstler vor, aber natürlich mussten wir auch lernen, wie wir unsere Kleider verkaufen können.«39 Sollte Mode jemals als Kunst betrachtet werden, dann wird sie wahrscheinlich eine bestimmte Sorte von »kulturellen Unternehmern« benötigen, »die dafür kämpfen, kulturelles Kapital anzuhäufen.« 40 Mit ihrem Status als Kunst vergrößert sich für die Mode auch ihr Wert und es verstärkt sich ihre Bedeutung. Dennoch gefällt die Vorstellung, Mode mit Kunst gleichzustellen längst nicht allen DesignerInnen, geschweige denn den Kleiderfirmen, HerausgeberInnen, ModehändlerInnen und ModekonsumentInnen. Genauso wenig sagt dies allen Beteiligten in der Welt der Kunst zu. »Die akzeptierte Definition von Kunst ist relativ klar und direkt«, schreibt Robert Radford, »es handelt sich dabei um den Bereich der Produktion und des Gebrauchs, der durch diejenigen Einrichtungen definiert wird, die KünstlerInnen ausbilden, und die für KünstlerInnen ein wirtschaftliches Wertesystem legitimieren, fördern, freilegen und schaffen. Mode ist zweifelsohne ein kaum greifbarer Begriff: Er bezieht sich hauptsächlich auf den Bereich, den man mit der Produktion und den Gebrauch von Mode und der persönlichen Erscheinung assoziiert; aber gelegentlich rutscht der Begriff Mode auch in ein weiteres Verständnis von Design, das sich mit Verführung oder Vergänglichkeit befasst. […] Wenn der Begriff Mode noch weiter gefasst wird […], wie es Simmel macht, und dabei gesellschaftliche Bereiche, Bekleidung, ästhetische Urteile, das gesamte Feld des menschlichen Ausdrucks miteinbezieht, so würde man das gesamte Feld der Kunst dem Gebiet der Mode unterordnen.« 41
Sowohl Mode als auch Kunst sind Teil der visuellen Kultur und beinhalten Form, Farbe und Oberflächenstruktur. Die Ästhetiken von Kunst und Mode haben etwas gemeinsam, das Radford als »Zugang zu den Poetiken der assoziierten Ideen« 42 beschreibt. Ebenso wie die Kunst, so kann auch die Mode reich an Technik und Konzept sein. Dennoch existieren zwischen Kunst und Mode auch unüberbrückbare Differenzen, die vor allem dann sichtbar werden, wenn Modedesigner mit Künstlern zusammenarbeiten. Marc Jacobs kooperierte mit Takashi Murakami bei der Herstellung von Handtaschen für das französische Luxuslabel Louis Vuitton. Handtaschen haben im Gegensatz zu Malerei einen offensichtlichen Zweck. Sie haben auch einen ganz anderen wirtschaftlichen Wert. Murakamis Handtaschen, die er für Vuitton schuf, sind teuer, aber sie kosten dennoch nur einen 39 | Chalayan, Hussein, zitiert in: Aspden, Peter: East-West Fusion, Financial Times 28./29. August 2010, Life and Arts Section, S. 3. 40 | Vgl. 37, S. 83. 41 | Radford, Robert: Dangerous Liaisons: Art, Fashion and Individualism, in: Fashion Theory 2, no. 2, Juni 1998, S. 153-154. 42 | Ebd., S. 155.
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Bruchteil des Preises, den er für eines seiner kleineren Werke verlangt. Wohingegen also der Preis für ein Kunstwerk im Lauf der Zeit dramatisch ansteigen kann, verliert die Mode meistens in dem Moment an Wert, wo sie älter wird. Nur manchmal gewinnt sie wieder an Wert zurück, sofern sie zu einem Sammlerstück avanciert. Derartige Kooperationen mögen die kulturelle Glaubhaftigkeit von Modeunternehmen steigern, erhöhen aber natürlich auch die Begeisterung für die Marke und letztlich auch den Umsatz. Zweifellos sind sie auch für Künstlerinnen nützlich, vor allem in finanzieller Hinsicht. Die Mode ist ein kannibalistisches Geschäft. Sie assimiliert alles, was visuell interessant ist – klassische Kunst, Graffiti, Fotografie, sogar auch Pornografie. Manchmal greift auch die zeitgenössische Kunst auf die Mode zu, meistens allerdings auf Bereiche, welche die Mode eher nicht ansprechen würde – so z.B. Kaufsucht, Markenwahn und Essstörungen. Sylvie Fleurys Agent Provocateur (1995), bestehend aus Einkaufstaschen mit ihrem Inhalt oder Vanessa Beecrofts Installation VB43 (2000), bei der nackte Models nur High-Heels tragen, ermöglichen mehr oder weniger neue, tiefere Einblicke in die Welt. Vor allem aber sprechen uns diese Arbeiten auf eine andere Art und Weise an als eine Handtasche von Chanel und ein paar Schuhe von Gucci.
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Jenseits der Mode liegt das Schweigen — Über die Unmöglichkeit das Undenkbare zu denken Mahret Kupka
Die Mode hat es nicht leicht dieser Tage. Versteht man sie als Abbild oder Reflexion auf gesellschaftliche Zustände, was sagen dann die Dinge, denen wir den Wert des Modischen zusprechen, über unser gegenwärtiges Verhältnis zur Welt? Die Modetheoretikerin Caroline Evans sah die Mode Ende des 20. Jahrhunderts am Abgrund. In »Fashion at the Edge«1 bettet sie die Konzepte von Designern wie Martin Margiela, Alexander McQueen und John Galliano für Dior in einen kulturtheoretischen Kontext, den sie postindustriell-modern nennt. Damit meint sie die bis heute allgemein namenlose Zeit, die irgendwie nach der vorherigen kommt, irgendwie anders ist, irgendwie zeitgemäßer und irgendwie besser in der Lage dazu, die Enttäuschung über die gebrochenen Versprechen der Moderne mit einer Lust am Weitermachen zu versöhnen. Der Philosoph Wilhelm Schmid spricht in diesem Zusammenhang von einer anderen Moderne, die er getragen sieht »von einer aufgeklärten Aufklärung […], die nicht überzeugt ist, dass die reine Vernunft dereinst vollkommene Verhältnisse schaffen werde, dass das moderne Fortschrittsprojekt irgendwann von selbst ins irdische Paradies münden würde, dass der Zweck der Vollendung des Guten jedes Mittel rechtfertige, dass das richtige Bewusstsein der Aufgeklärten über das falsche der Anderen triumphieren müsse.« 2
Eine Zeit auch, die geprägt ist durch ihren reflexiven Gebrauch der »Errungenschaften der Moderne, namentlich ihren Freiheiten in den verschiedenen Bereichen«3 und durch das tragische Bewusstsein ihrer Grenzen, das letztlich zur 1 | Evans, Caroline: Fashion at the Edge. Spectacle, Modernity, and Deathliness. Yale 2007. 2 | Schmid, Wilhelm: Philosophie der Lebenskunst: Eine Grundlegung, Frankfurt 1998, S. 105. 3 | Ebd., S. 103.
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Akzeptanz der strukturellen Unaufhebbarkeit von Widersprüchen führt, die anzuerkennen die Moderne sich weigerte. Ein sinnvolles Leben, so Schmid, »kann es vielleicht überhaupt nur dort geben, wo die Widersprüche dazu zwingen, ihre Abgründigkeit mithilfe der Gestaltung von Lebensformen zu überbrücken.« 4 Eine Abgründigkeit, die in einer Welt, die jeden Widerspruch negiert, angesichts drohender Ambivalenzen zur selbstzersetzenden Tragödie werden muss, denn wie wäre sonst umzugehen mit »›den übrig gebliebenen‹ Kräften, die im Raum verharren wollen, und denen, die den Fortschritt suchen in der Zeit«5, dem Wunsch, der nicht vergeht, angesichts der Unmöglichkeit, zugleich den Spatz in der Hand und die Taube auf dem Dach zu haben. Die Kunst des Lebens in der anderen Moderne bestünde, so Schmid, darin, »einen Modus vivendi zu finden, der Widersprüche zumindest koexistieren und nicht, selbst im Falle der unversöhnlichsten Situationen des Widerstreits, in wechselseitige Vernichtung enden lässt.«6 Die Kunst des Lebens besteht möglicherweise auch darin, die schöpferischen Energien zu nutzen, die im fragilen Gleichgewicht der widerstrebenden Kräfte verborgen liegen und das sich immer nur in einem kurzen Augenblick zeigt und im Moment des Spürens längst der Vergangenheit angehört: »Nur zwischen Widersprüchen, die sich auszuschließen scheinen und die vollendet ineinanderwirken, besteht die Spannung, die die größte Intensität des Lebens spürbar werden lässt«7, die Intensität auch, die die Kunst in die Form zu transformieren sucht. Doch was ist das für eine Form, die die Akzeptanz der Ambivalenz in sich birgt? Mode an sich ist etwas höchst Widersprüchliches. In ihrer Abhandlung über die Paradoxien der Mode8 attestiert die Soziologin Elena Esposito der Mode eine grundsätzliche Beständigkeit, die sich gerade aus ihrer Unbeständigkeit speist. Mit anderen Worten: Die Mode ist beständig unbeständig. Es ist darauf Verlass, dass das, was heute Mode ist, es morgen schon nicht mehr ist, dass in die Stelle der heutigen Mode eine andere treten wird. Diese andere Mode hat niemals absoluten Wert. Ihre Bedeutung generiert sich immer in Relation zum Gewesenen. Neu wird in diesem Zusammenhang zu einem Synonym für anders als, besser als. Die Mode wird zu einem Abziehbild der Moderne, der »Apotheose des unentwegt Neuen, das die Zeit vorantreibt«, sie verkörpert »die unerhörte Idee, dass die Menschen und die Dinge nicht so bleiben müssen, wie sie sind, sondern einer
4 | Ebd., S. 111. 5 | Ebd., S. 106. 6 | Ebd., S. 112. 7 | Ebd. 8 | Esposito, Elena: Die Verbindlichkeit des Vorübergehenden: Paradoxien der Mode, Frankfurt a.M. 2004.
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fortschreitenden Veränderung und Verbesserung bis hin zur Vollendung unterzogen werden können.«9 Mode schafft damit zugleich Ordnung. Das an die Grenzen seiner Freiheit gestoßene Individuum, gebeutelt von den Widersprüchen des Alltags, überfordert von Entscheidungsmöglichkeiten verlangt noch Orientierung, die die Mode zu geben weiß. »Die Mode«, so Esposito, »gibt […] an, wofür sich die anderen vermeintlich entscheiden werden, sie gibt an, was allgemein gefällt, ohne damit eine konforme Entscheidung […] zu erzwingen.«10 Ihre gesellschaftliche Funktion hat die Mode somit »auf einer indirekten Ebene in Form einer Diffusion der Legitimität des Jeweiligen.« Damit meint Esposito die »Formen, die gültig sind, obwohl oder gerade weil sie zeitlich begrenzt sind.« Als Beispiele führt sie an – auch um zu verdeutlichen, dass es sich bei Mode nicht allein um Kleidermode handelt: Das positive Recht, den hypothetischen Charakter wissenschaftlicher Wahrheiten, die Ausrichtung am Markt oder an der Demokratie, »deren Flexibilität durch zeitliche Stabilität zunichte gemacht würde.«11 Eine Flexibilität, die nötig ist, um mit dem sich ständig ändernden Prozess der Moderne Schritt halten zu können. So wird die Mode zu einem Richtungsweiser, zu einem Modus, einer Art und Weise, die anzeigt, wie »die Gesellschaft auf allen Ebenen mit der Undurchsichtigkeit der Einzigartigkeit […] umgeht.«12 Die Mode stellt, so Esposito, einen Kommunikationsraum zur Verfügung, in dem Identität ausgehandelt werden kann, indem sich das Individuum an den Entscheidungen anderer Individuen orientieren kann. Allerdings: »Wenn man verstehen möchte, wer man ist und wie man die eigene Identität konstruieren kann, bietet Mode nicht nur keinerlei Hilfe an, sondern erhöht sogar noch die Komplexität der in Betracht kommenden Faktoren.«13 Denn die Identität an sich schafft Mode nicht, sie bildet nur die Reibungsfläche, an der sich das Individuelle zeigt. Ein Gleichgewicht aus Besonderem/Distinktion und Allgemeinen/Anpassung würde Mode überflüssig machen. Die Entscheidung bleibt beim Individuum, wenngleich auch dieses sozialen Restriktionen unterliegt. »Individuen«, so Schmid, »die für ihr ›eigenes Leben‹ moderne Freiheiten in Anspruch nehmen und dabei die Erfahrung von Risiken und Zwängen machen, ja die Notwendigkeit eigener Lebensführung selbst als Zwang empfinden, müssen angesichts der neuen Herausforderungen Formen des Lebens und Zusam-
9 | Schmid, Wilhelm: Philosophie der Lebenskunst: Eine Grundlegung, Frankfurt 1998, S. 98. 10 | Esposito, Elena: Die Verbindlichkeit des Vorübergehenden: Paradoxien der Mode, Frankfurt a.M. 2004, S. 168. 11 | Ebd., S. 170. 12 | Ebd. 13 | Esposito, Elena: Die Verbindlichkeit des Vorübergehenden: Paradoxien der Mode, Frankfurt a.M. 2004, S. 174.
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menlebens erst ›selbst erfinden und erproben‹.«14 Im Idealfall ergibt sich daraus, so Schmid, eine funktionierende Kunst des Lebens, geboren aus der Kontemplation, dem Rückzug nach Innen, der Melancholie, unabhängig von ökonomischen, politischen oder ideologischen Interessen, die sich bis dato der befreiten, aufgeklärten Individuen bemächtigten. Ein derartiges Leben biete auch den Nährboden für die Schaffung spezifischer Formen, die diesem Leben einen Ausdruck zu geben vermögen. In der Konkretisierung wird das Projekt problematisch: Der Soziologe Ulrich Bröckling stellt in seinem Vortag »Jenseits des kapitalistischen Realismus: Anders anders sein«15 die Basis seines Konzepts des »unternehmerischen Selbst«16 vor. Dieses versteht er als »Sozialfigur«, das einen Telos beschreibt, »nach dem die Individuen streben, einen Maßstab, an dem sie ihr Tun und Lassen beurteilen, ein tägliches Exerzitium, mit dem sie an sich arbeiten, und einen Wahrheitsgenerator, in dem sie sich selbst erkennen sollen.«17 Nach Bröckling ist das Individuum heute weniger als unternehmerisch zu begreifen, d.h. er beschreibt mit seinem Konzept keinen Zustand, sondern vielmehr eine Erwartung. Insofern ist sein unternehmerisches Selbst eine »hegemoniale Subjektivierungsfigur«18, deren Analyse wiederum Aufschluss zu geben weiß über den Zustand dieser Zeit: »Jeder ist gehalten, sich die Maximen unternehmerischen Handelns zu eigen zu machen und sein Handeln marktförmig auszurichten.«19 Erfolg lässt sich demnach an der Art und Weise ablesen, wie der soziale Akteur sich als unternehmerisches Selbst zu artikulieren weiß. Dieses bewegt sich auf Märkten, was zur Konsequenz hat, dass sein Handeln immer im Wettbewerb mit dem Handeln anderer steht. Bröckling spricht hier vom »Diktat des Komparativs«: »Unternehmer müssen nicht nur innovativ, findig, risikobereit und führungsstark sein, sondern innovativer, findiger, risikobereiter und führungsstärker als die anderen. Dafür gibt es keine Regeln außer der, immer wieder Regeln zu durchbrechen, um sich Alleinstellungsmerkmale zu verschaffen.«20 Wie ist in diesem Zusammenhang der Vorschlag Schmids nach einem Leben unabhängig von ökonomischen, politischen oder ideologischen Interessen vorstellbar? Dieses setzt nämlich eine Vorstellung 14 | Schmid, Wilhelm: Philosophie der Lebenskunst: Eine Grundlegung, Frankfurt 1998, S. 101ff. 15 | Bröckling, Ulrich: Jenseits des kapitalistischen Realismus – Anders anders sein? Vortrag vom 14.07.2011 an der Universität in Freiburg, www.soziologie.uni-freiburg.de/perso nen/broeckling/dokumente/15-anders-anders-sein.pdf (31.03.2014). 16 | Ebd. 17 | Bröckling, Ulrich: Jenseits des kapitalistischen Realismus – Anders anders sein? Vortrag vom 14.07.2011 an der Universität in Freiburg, www.soziologie.uni-freiburg.de/perso nen/broeckling/dokumente/15-anders-anders-sein.pdf (31.03.2015), S. 282. 18 | Ebd. 19 | Ebd. 20 | Ebd., S. 283.
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von einem Sein voraus, das sich außerhalb gegebener Denkmuster bewegt. Denn prinzipiell entspricht das, was Schmid in seiner Lebenskunst fordert, genau der Maxime des unternehmerischen Selbst, welches nicht »Nachahmung und mimetische Anpassung« fordert, sondern Einzigartigkeit. »Die unternehmerische Anrufung radikalisiert damit«, so Bröckling, »das Paradox der Individualisierung: Wenn jeder besonders sein soll, gleichen sich alle darin, sich von den anderen unterscheiden zu müssen.«21 Bröckling schließt hier an das von Georg Simmel Ende des 19. Jahrhunderts formulierte Modell der sozialen Distinktion des modernen Großstädters22 an. Allerdings entwickelt er es fort, indem er es zur »Tyrannei der Alterität« erhebt: »Nicht der Narzissmus eines gesteigerten Egos, sondern die blanke Angst, sich von den Konkurrenten auf den Arbeits-, Beziehungs- und Aufmerksamkeitsmärkten nicht genügend abzuheben, treibt sie an. Gefordert ist ein Konformismus des Andersseins – eine Forderung, der zugleich eine Drohung eingeschrieben ist.«23 Zur Sichtbarmachung des Andersseins für andere dient die Selbstinszenierung, die in Phänomenen wie Facebook, Blogging und dem zeitgenössischen Trend des »Selfies« ihren vorläufigen Höhepunkt findet. Durch Bröcklings Modell des unternehmerischen Selbst zeigt sich die Schwierigkeit der Subversion, bzw. des Widerstandes, auf besonders anschauliche Weise: »Die Programme der Mobilisierung des unternehmerischen Selbst fordern Überschreitung statt Regelbefolgung, kurzum: sie fordern anders zu sein.«24 Eine Lösung von diesem Paradigma muss demnach zunächst ein anderes Anderssein fordern. Das Anderssein an sich entspricht der Norm des Systems. Die Frage ist also: »Wie ist der paradoxen Logik eines kybernetischen Kapitalismus zu entkommen, der Widerstände absorbiert, indem er sie als Steuerungssignal und Innovationskompass nutzt?«25 Die Schwierigkeit ist gleichwohl komplexer, denn »[s]chon das Anders-Sein markiert keinen Zustand, sondern eine Relation« und »[a]nders anders zu sein würde demnach bedeuten, sich davon abzusetzen, anders zu sein.«26 So stellt
21 | Ebd. 22 | Simmel, Georg: »Die Großstädte und das Geistesleben«. In: Stadt und Gesellschaft. Ein Arbeits- und Grundlagenwerk. Hg. von Klaus M. Schmals, München 1983, S. 237-246. Simmel, Georg: »Die Mode«. In: Philosophische Kultur. Neu-Isenburg 2008, S. 47-69, Trawny, Peter: Medium und Revolution, Berlin 2011. 23 | Ebd. 24 | Bröckling, Ulrich: Jenseits des kapitalistischen Realismus – Anders anders sein? Vortrag vom 14.07.2011 an der Universität in Freiburg, www.soziologie.uni-freiburg.de/perso nen/broeckling/dokumente/15-anders-anders-sein.pdf (31.03.2015), S. 284. 25 | Ebd., S. 281. 26 | Ebd., S. 284.
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Bröckling fest: »Dem Konformismus des Anders-Seins entkommt man nicht mit nonkonformistischer Selbstgleichschaltung.«27
E IN E XKURS Luc Boltanski und Ève Chiapello definieren Kapitalismus »in einer sehr minimalen Form als einen amoralischen Prozess unbeschränkter Anhäufung von Kapital durch Mittel, die formell friedlich sind. Es ist die ständig wiederholte Einspeisung von Kapital in den wirtschaftlichen Kreislauf mit dem Ziel, daraus Profit zu ziehen.«28 Es sind drei grundlegende Eigenschaften, die den Kapitalismus ausmachen: 1. Anhäufung von Investitionskapital, 2. Lohnarbeit, d.h. die Mehrzahl der Bevölkerung, die kein oder nur wenig Kapital zur Verfügung hat, erhält ihr Einkommen aus dem Verkauf ihrer Arbeitskraft und ist damit von den Entscheidungen derer abhängig, die Produktionsmittel innehaben und 3. Konkurrenz, denn »jede kapitalistische Einheit ist permanent bedroht durch die Handlungen anderer konkurrierender Einheiten.«29 Es ist diese Dynamik, die eine permanente Unsicherheit schafft und den Kapitalisten ein sehr starkes Motiv der Selbsterhaltung liefert. Hinzu kommt eine letztlich entscheidende Eigenschaft, nämlich die Unentrinnbarkeit: »Die Arbeitnehmer haben in ihm den Besitz an den Früchten ihrer Arbeit und die Möglichkeit, ein aktives Leben außerhalb der Unterordnung zu führen, verloren. Die Kapitalisten hingegen sind an einen unendlichen und unstillbaren Prozess gekettet.«30 Es soll im Folgenden darum gehen, die Schwierigkeit der Entrinnbarkeit zu erläutern. Zudem wird diskutiert werden, inwiefern es das System schafft, stets eine Rechtfertigung der kapitalistischen Prozesse dieser Art zu finden, denn »[d]ie kapitalistische Akkumulation erfordert […] die Mobilisierung einer großen Anzahl von Personen, deren Profitchancen sehr schwach sind.« D.h., »[d]ie modernen Wirtschaftssysteme fordern […] vor allem von den höheren Angestellten, aber auch von der Gesamtheit der Lohnarbeiter ein hohes Engagement und eine starke Einbindung in die Arbeit.«31 Die Rechtfertigung ist in einem Sinn zu finden, »der die einzige Idee, den Profit zu steigern, übersteigt.«32
27 | Ebd. 28 | Boltanski, Luc/Chiapello, Ève: »Die Arbeit der Kritik und der normative Wandel«. In: Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus. Hg. von Christoph Menke und Juliane Rebentisch, Berlin 2010, S. 18. 29 | Ebd. 30 | Ebd. 31 | Ebd., S. 19. 32 | Ebd.
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Boltanski und Chiapello bezeichnen diesen Sinn, in Anlehnung an den von Max Weber geprägten Begriff, »Geist des Kapitalismus«33 oder auch als »Ideologie, die das Engagement im Kapitalismus rechtfertigt und sogar wünschenswert erscheinen lässt […].« Befürworter stammen einerseits aus der ökonomischen Theorie: Sie betonen fortwährend den nicht zu leugnenden Fortschritt in kapitalistischen Gesellschaften seit zwei Jahrhunderten in technologischer, wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht, sowie die Effizienz und die Wirkungskraft einer durch Konkurrenz stimulierten Produktion. Zudem heben sie vor, »dass der Kapitalismus ein die individuellen und besonders politischen Freiheiten unterstützendes Regime sei.«34 Andere Formen der Rechtfertigung sprechen konkret die Personen an, an die sich der »Geist des Kapitalismus« richtet, »und [bietet] ihnen Handlungsmodelle […], die sie für sich verwenden können«35 und vor allem Antworten auf Fragen der Unsicherheit: »In welcher Form ruft die Einbindung in den Prozess kapitalistischer Akkumulation auch bei denen Enthusiasmus hervor, die nicht notwendigerweise diejenigen sind, die aus den erzielten Profiten den größten Nutzen ziehen«36 und [w]ie können die, die in den kapitalistischen Kosmos eingebunden sind, für sich und ihre Kinder eine minimale Absicherung erhalten«37 und »[w]ie lässt sich, im Sinne des Gemeinwohls, die Teilnahme am kapitalistischen Unternehmen rechtfertigen und im Hinblick auf die Vorwürfe der Ungerechtigkeit die Art verteidigen, mit der dieser Prozess angeregt und geleitet wird«38? Es sind in Wahrheit die rechtfertigenden Antworten auf diese Fragen, die jede Epoche aufs Neue gestellt werden, die erst den Geist des Kapitalismus erzeugen, der letztlich den kapitalistischen Prozess bedient, ohne ihn einzuschränken. Der Kapitalismus braucht die Kritik, zur Rechtfertigung seiner selbst. Mit jeder Kritik entwickelt er sich in der Rechtfertigung fort. Der Geist des Kapitalismus ist somit historischen Veränderungen unterworfen. Mit »cité par projects«39 beschreiben Boltanski und Chiapello das Rechtfertigungsregime des »Kapitalismus unserer Zeit«. Ihre Analyse zeitgenössischer Diskurse und Managementliteratur ergab, »dass mit dem Beginn der neunziger Jah-
33 | Weber, Max: »Die protestantische Ethik und der ›Geist‹ des Kapitalismus« (1904). In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 20, S. 1-54 und 21 (1905), S. 1-110. 34 | Boltanski, Luc/Chiapello, Ève: »Die Arbeit der Kritik und der normative Wandel«. In: Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus. Hg. von Christoph Menke und Juliane Rebentisch, Berlin 2010, S. 19. 35 | Ebd. 36 | Ebd. 37 | Ebd., S. 20. 38 | Ebd. 39 | Zum Modell der Cité Vgl. Boltanski (2010), S. 23ff.
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re verstärkt die Metapher des Netzwerkes verwendet wird.«40 Mit diesem Begriff sehen die beiden u.a. die »Möglichkeiten neuer Informationstechnologien«, »die Entwicklung neuer Organisationsformen in Netzwerken« sowie »die Auflösung des großen Unternehmens in eine Reihe von Organisationen, die miteinander über Partnerschaften verbunden sind, welche die klassische Handelsbeziehung in Konkurrenzsituationen hinter sich lassen« 41, beschrieben. Die Metapher des Netzwerks ist, so beide, »der Schnittpunkt einer neuen Konstruktion des Geistes des Kapitalismus, die, wie ihre Vorgänger, die Existenz eines von allen geteilten Gemeinwohls vorgibt, das schwache ebenso wie starke Repräsentanten des Kapitalismus, Angestellte aber auch kritische Kräfte umfasst.« 42 Das Ziel des Modells der »cité par projects« ist es, »die Art und Weise herauszufiltern, wie die Akteure im Rahmen von Auseinandersetzungen vorgehen, sobald sie mit der Forderung nach Rechtfertigung konfrontiert werden.« Darin finden sich Analogien zu dem von Bröckling entwickelten Konzept des »unternehmerischen Selbst«43, das sich quasi innerhalb des durch diese Form der Cité beschriebenen Systems bewegt, deren Eigenschaften sich wie folgt zusammenfassen lassen: 1. Größe und Erfolg lassen sich über Aktivität messen. Diese ist zu verstehen als die Fähigkeit, »Projekte zu generieren oder sich in Projekte zu integrieren, die andere initiiert haben. Sie besteht darin, in Netzwerke einzudringen und diese zu untersuchen, um die eigene Isolation zu überwinden und Personen kennen zu lernen, Kontakte zu knüpfen, von denen man sich ein neues Projekt verspricht.« Das Leben wird zu einer »Folge von Projekten« 44 . 2. Flexibilität und Teamfähigkeit beschreiben einerseits die Fähigkeit, sich »je nach Umständen sehr unterschiedlichen Situationen anzugleichen« 45 und andererseits auch die Bereitschaft, Erfahrungen dem Gemeinwohl zur Verfügung zu stellen. Aus den ersten beiden Eigenschaften ergibt sich 3. der Zustand von »Nicht-Größe«, der alles beschreibt, was Mobilität verringert, wie z.B. die Unfähigkeit zu kommunizieren, das Festhalten an einem Beruf oder die lokale Verwurzelung: »Der in diesem Sinne ›Kleine‹ erforscht nicht die Netzwerke. So ist er ständig von
40 | Boltanski, Luc/Chiapello, Ève: »Die Arbeit der Kritik und der normative Wandel«. In: Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus. Hg. von Christoph Menke und Juliane Rebentisch, Berlin 2010, S. 21. 41 | Ebd., S. 22. 42 | Ebd. 43 | Vgl. Bröckling, Ulrich: Jenseits des kapitalistischen Realismus – Anders anders sein? Vortrag vom 14.07.2011 an der Universität in Freiburg, www.soziologie.uni-freiburg.de/ personen/broeckling/dokumente/15-anders-anders-sein.pdf (31.03.2015). 44 | Boltanski, Luc/Chiapello, Ève: »Die Arbeit der Kritik und der normative Wandel«. In: Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus. Hg. von Christoph Menke und Juliane Rebentisch, Berlin 2010, S. 25. 45 | Ebd.
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Ausgrenzung, vom sozialen Tod, bedroht.« 46 Letztlich ist 4. alles zu opfern, was der Verfügbarkeit im Wege stehen könnte: »Der ›leichte‹ Mensch kann sich deswegen nicht mehr verwurzeln, weil die einzige ihm verbliebene sichere Instanz das Dasein in einer komplexen, beweglichen und unsicheren Welt ist.« 47 Bröckling spricht von der »paradoxen Logik eines kybernetischen Kapitalismus […], der Widerstände absorbiert, indem er sie als Steuerungssignal und Innovationskompass nutzt.« 48 Boltanski und Chiapello argumentieren ähnlich, wenn sie die These unterstützen, »dass der Antikapitalismus im Laufe der Geschichte der wichtigste Ausdruck des Kapitalismus gewesen ist.« 49 Sie begründen dies wie folgt: »[G]erade weil er Objekt der Kritik ist, ist der Kapitalismus immer wieder dazu gezwungen, sich zu rechtfertigen. […] Ohne Kritik hat die Rechtfertigung keinen Sinn.« Es gibt, so Boltanski und Chiapello, zwei Typen der Kapitalismuskritik, die seit dem 19. Jahrhundert von Bedeutung sind. Es ist besonders die »Künstlerkritik«, die für den vorliegenden Text von Interesse ist.50 Diese »kritisiert die Unterdrückung in einer kapitalistischen Welt (die Herrschaft des Marktes, die Disziplin, die Fabrik), die Uniformierung in einer Massengesellschaft und die Transformation aller Gegenstände in Waren.« Stattdessen pflegt sie »ein Ideal individueller Autonomie und Freiheit, ihre Wertschätzung gilt der Einzigartigkeit und Authentizität.«51 Wenn man der Argumentationslogik Boltanskis und Chiapellos sowie der Bröcklings folgt, scheint die Form, die der Geist des Kapitalismus zu einem bestimmten Zeitpunkt annimmt, »in sehr weitem Umfang von der Art und Bissigkeit der Kritik abzuhängen, die sich gegen sie richtet.«52 Es sind die 46 | Ebd., S. 26. 47 | Ebd. 48 | Bröckling, Ulrich: Jenseits des kapitalistischen Realismus – Anders anders sein? Vortrag vom 14.07.2011 an der Universität in Freiburg, www.soziologie.uni-freiburg.de/perso nen/broeckling/dokumente/15-anders-anders-sein.pdf (31.03.2015) S. 281. 49 | Boltanski (2010), S. 29. 50 | Die »Sozialkritik« am Kapitalismus »betont die Ungleichheiten, die Armut, die Ausbeutung und den Egoismus einer Welt, die den Individualismus im Gegensatz zur Solidarität fördert.« Allerdings wurde ihr durch die Veränderungen, die auf die »Künstlerkritik« reagierten, die Basis entzogen. Boltanski und Chiapello dazu: »Die neue Organisationsform der Arbeit hat dazu geführt, dass den Gewerkschaften in der Privatwirtschaft zunehmend der Boden entzogen wurde. Die Schließung der großen industriellen Hochburgen, die Umverteilung der Arbeit an kleinere Unternehmen und im gewerkschaftlich nicht abgesicherten Dienstleistungsbereich sowie die Mobilität er Arbeitskräfte wurden zur Grundlage des Machtverlustes der Gewerkschaften.« Boltanski (2010), S. 29ff. 51 | Boltanski, Luc/Chiapello, Ève: »Die Arbeit der Kritik und der normative Wandel«. In: Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus. Hg. von Christoph Menke und Juliane Rebentisch, Berlin 2010, S. 29. 52 | Ebd.
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Veränderungen des Kapitalismus seit 1968, in der sie eine »besondere Aneignung der ›Künstlerkritik‹ und ihrer Forderungen nach mehr Autonomie, Kreativität, nach authentischeren Beziehungen zwischen den Personen etc.«53 sehen. Sie glauben, »dass der Kapitalismus nur deswegen wieder Fuß fassen konnte, weil er es akzeptierte, einem Teil der Forderungen der ›Künstlerkritik‹ nachzugeben.«54 Dies gestaltet sich u.a. wie folgt: »Die Forderung nach Autonomie wurde in die neuen Unternehmensstrategien integriert. So wurde es möglich, die Arbeiter erneut in den produktiven Prozess einzubinden und die Kosten der Kontrolle zu verringern, indem diese durch Prozesse der Selbstkontrolle ersetzt und Autonomie und Verantwortungsbewusstsein direkt an die Nachfrage der Kundschaft gebunden wurden.« 55
Und weiter: »Die Fragen nach Authentizität, die sich auf die Kritik der industriellen Welt, der Massenproduktion, der Uniformierung der Lebensweisen und der Standardisierung bezog, wurde mit der Zeit damit entschärft, dass sich die Handelsgüter vervielfachten und diversifizierten.«56 Zusammenfassend sagen Boltanski und Chiapello zur Situation, wie sie sich in der zweiten Hälfte der achtziger und zu Beginn der neunziger Jahre darstellt und wie sie die Basis für den Kapitalismus heute liefert: »Der Kapitalismus hat seine Organisationsweise und Personalführung grundsätzlich verändert. Das anbrechende Jahrzehnt wird von einer Beschleunigung dieser Prozesse begleitet. Die vorgezeichnete Entwicklung bestätigt sich. Die Vorstellungen von einem Unternehmen haben sich verändert. Das Modell des hierarchischen und integrierten Großunternehmens ist zu Gunsten einer sozialen Vorstellung, die auf
53 | Ebd. 54 | Ebd. 55 | Boltanski, Luc/Chiapello, Ève: »Die Arbeit der Kritik und der normative Wandel«. In: Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus. Hg. von Christoph Menke und Juliane Rebentisch, Berlin 2010, S. 30. Welche Auswirkungen das auf die Psyche des Menschen hat, diskutiert u.a. Han, Byung-Chul: Topologie der Gewalt, Berlin 2011. Er sieht die Topologie der Gewalt, d.h. die überwachende Instanz in die Individuen verlagert, was letztlich zu einem erhöhten Leistungsdruck führt, weil die Verantwortung für das Scheitern nur noch in einem selbst gesucht werden kann. Der Gegner, an den sich zuvor eine Kritik nach Außen richten konnte, liegt nun in einem selbst, was zu psychischen Erkrankungen wie Depression führen kann. Vgl. auch: Ehrenberg, Alain: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Frankfurt a.M. 2008. 56 | Boltanski, Luc/Chiapello, Ève: »Die Arbeit der Kritik und der normative Wandel«. In: Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus. Hg. von Christoph Menke und Juliane Rebentisch, Berlin 2010, S. 30.
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einer Netzwerkmetapher basiert, zusammengebrochen.«57 Die Veränderungen führten letztlich dazu, dass der Kritik ihre Basis genommen wurde.58
E INE M ODE JENSEITS DER M ODE Ich schrieb bereits weiter oben, dass Mode Orientierung zu geben vermag. Sie kann gelesen werden als Abbild eines Moments, als Verkörperung einer jeweiligen Bedeutung. Diese Sichtweise impliziert, dass der Mode etwas vorausgeht, das sie eine Reaktion auf etwas Gewesenes darstellt. Zugleich ist die Mode aber auch konstitutiv. Sie bildet in ihrer Paradoxie den Moment ab, den sie schafft. Und es ist dies, worin sich ihre Meisterschaft zeigt. Darin kann sie zum Vorbild werden für all jene, die danach trachten, den Tanz zwischen den sich ausschließenden Extremen zu wagen, das Leben auf dem Drahtseil über dem Abgrund. Bröckling setzt dazu »eine Dekonstruktion des Markts als Motor ›schöpferischer Zerstörung‹«59 voraus, denn es ist, so er, das Paradoxon selbst, dass eine Diskursfalle installiert und sich gegen Widerspruch immunisiert, indem es die Widersprüchlichkeit selbst zum Prinzip erhebt. Ähnlich wie bei Schmid mündet auch bei Bröckling die Idee des Anders-anders-Seins in eine Kunst. Sie ist »der Versuch, […] Wege jenseits von Einverleibung und Aussonderung aufzutun«: »Die Künstler des Anders-anders-Seins beschleunigen nicht einfach nur den Wettbewerb der Alteritäten und präsentieren sich keineswegs bloß als geschicktere Unternehmer in eigener Sache. Beharrlich setzen sie vielmehr dem Distinktionszwang ihre Indifferenz entgegen, dem Imperativ der Nutzenmaximierung die Spiele der Nutzlosigkeit und bestehen darauf, dass es jenseits der Nötigung zu wählen und der Unfreiheit, nicht wählen zu dürfen, noch etwas Drittes gibt: die Freiheit, nicht wählen zu müssen.« 60
57 | Ebd., S. 31. 58 | Boltanski und Chiapello sprechen daher von einer »Krise der Kapitalismuskritik«. Gegen Ende ihrer Analyse versuchen sie »einen Hinweis auf die Bildung eines neuen normativen Stützpunktes zu geben, von dem her, wie dies seit 1995 zumindest an der Front der Sozialkritik auch zu beobachten ist, sich die Kapitalismuskritik zu erneuern vermag«, denn »[d]ie Verschlechterung der sozialen Verhältnisse brachte […] einige Versuche hervor, die Kapitalismuskritik neu zu formulieren.« Boltanski (2010), S. 32. Ähnliches formuliert Bröckling wenn er von der Schwierigkeit spricht, den Kapitalismus grundlegend zu verändern. Vgl. Bröckling (2011). 59 | Bröckling, Ulrich: Jenseits des kapitalistischen Realismus – Anders anders sein? Vortrag vom 14.07.2011 an der Universität in Freiburg, www.soziologie.uni-freiburg.de/perso nen/broeckling/dokumente/15-anders-anders-sein.pdf (31.03.2015), S. 285. 60 | Ebd., S. 285f.
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Doch ist dieses Handeln nicht zu verwechseln mit Verweigerung, es schließt diese vielmehr ebenso ein, wie die »Verweigerung der Verweigerung.« Damit ist es zum einen eine »Kritik ohne Standpunkt«, zum anderen eine »Kritik ohne Avantgarde« und zusätzlich eine »Kritik ohne Feier des Uneindeutigen«61 . Weil sich die Kunst des Anders-anders-Seins außerhalb eines zu definierenden Rahmens bewegt, ist es nicht leicht von ihr zu schreiben. Zudem unterliegt sie immer der Gefahr durch zu genaue Beschreibung »als Feedbackschleife eingespeist zu werden und das Kraftfeld zu stabilisieren«62 , dass es eigentlich zu stören beabsichtigt. Es muss vielmehr darum gehen, »die Konstellationen sichtbar zu machen, in denen jeweils bestimmte Strategien des Zugriffs, bestimmte Muster von Resistenz und bestimmte Formen, über beides [sowohl die Anrufung des unternehmerischen Selbst und Geschichten ihres Scheiterns] zu sprechen, aufeinandertreffen.« Und weiter: »Die widerständigen Praktiken wären daraufhin zu befragen, wie sie die Probleme bestimmen, auf die sie antworten, mit welchen Subjektpositionen und Subjektivierungsmodi sie operieren, welcher Interventionsformen sie sich bedienen und welche Plausibilisierungsstrategien sie einsetzen, um diese zu begründen, schließlich welche Verheißungen sie daran knüpfen und welche Ziele sie damit zu erreichen hoffen.« 63
Ein revolutionäres Modelabel wäre demnach ein Widerspruch in sich. Die Mode als ökonomisches System lässt keine Revolution zu. Vielmehr stellen Verschiebungen und Umbrüche ihren Motor dar, bilden die Basis für Innovation und Anpassung, sichern dadurch letztlich den Fortbestand. Es ist niemals die Struktur, die sich ändert, sondern die Hierarchieordnung. Die Funktionsweise bleibt gleich. Die Chance einer anderen Andersartigkeit haben DesignerInnen, die sich vom Beginn an weder bewusst marktkonform, noch -widerständig positionieren, sondern Formen schaffen aus ihrer jeweiligen Gegenwart heraus. Der Erfolg mag sich dann nicht als kommerzieller bemessen, sondern vielmehr aus einem punktgenauen Bewusstsein heraus, etwas formuliert zu haben, das zu einem gewissen Zeitpunkt ultimative Gültigkeit hatte. Das Kleid ist seine meiste Zeit Stoff in einer bestimmten Form. Ohne Mode zu sein, verliert es die ökonomische Aufmerksamkeit, gewinnt aber die des Individuums, das sich einem Moment verbunden fühlt, dem nämlich der sich wahr empfinden lässt. Die 90er Jahre gelten gemeinhin als Geburtsstunde der Anti-Mode. Junge DesignerInnen wie Ann Demeulemeester, Martin Margiela, Alexander McQueen und Helmut Lang oder Yohji Yamamoto und Rei Kawakubo definierten eine Mode, die mit der bunten Welt der 80er Jahre mit ihren Powerfrauen und dicken Schulterpolstern, dem Glamour, den Supermodels und dem Überfluss brach. 61 | Ebd., S. 286. 62 | Ebd., S. 288. 63 | Ebd., S. 290.
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Statt die Ausstattung für diesen Lebensstil bereitzustellen, begannen sie mit dessen Schattenseiten zu arbeiten und daraus ihre je eigene Ästhetik zu entwickeln. Dem luxusgewohnten Modepublikum wurden zuvor nie gesehene Kreationen präsentiert, die später unter Begriffen wie Heroin- oder Hiroshima-Chic, Grunge, Dekonstruktivismus oder Minimalismus in die Modegeschichte eingingen. Diese Vorstellungen von einer zeitgemäßen Mode wurden für zahlreiche DesignerInnen der folgenden Generation zum Gradmesser für eigene Entwürfe. Längst ging es nicht mehr darum, den (post-)modernen Menschen zu kleiden, sondern vielmehr um die Infragestellung allgemeingültiger Lebenskonzepte. Ohne selbst Teil eines theoretischen Diskurses zu werden, begannen diese DesignerInnen, bei sich selbst anzusetzen. Statt an einer allgemeinen Idee des Lebens zu arbeiten, erforschten sie die Idee ihres eigenen Lebens. In der Abkehr von den großen Utopien der Post/Moderne wählten sie den Rückzug, den Weg der Kontemplation und Melancholie, auf der Suche nach ihrer eigenen Lebenskunst, einem eigenen Kern, den es zu kleiden galt. Bemerkenswert ist, dass gerade in dieser Abkehr, in dieser Hinwendung zum Selbst und in der Suche nach eigenen, funktionierenden Formen des Lebens nicht etwa eine Form des Narzissmus, sondern etwas Allgemeingültiges verborgen zu liegen scheint. Als sei das Gemeinsame nicht ein Kern, sondern ganz generell die Existenz eines je individuell zu erforschenden Eigenen, das sich jeder Vergleichbarkeit entzieht und damit nicht länger in ökonomischen Kategorien messbar ist. Eine Mode jenseits der Mode ist keine Mode mehr. »Die Ökonomie der Revolution fordert den Verlust«, schreibt der Philosoph Peter Trawny, »[sie] ist ein anderes Leben, sein Anfang und Auf bruch.« 64 Und weiter: »Die Revolution muss […] das Ganze treffen, damit unterscheidet sie sich von einer bloßen Rebellion, einem Aufstand, der sich an einer partiellen Unzufriedenheit entzündet.«65 Jenseits der Mode befindet sich das Schweigen: »[D]as andere Sein ist nicht die Utopie, sondern das Atopische, die Unruhe, die Aufmerksamkeit, das Schweigen.«66
64 | Trawny, Peter: Medium und Revolution, Berlin 2011, S. 52. 65 | Ebd., S. 50. 66 | Ebd., S. 51.
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Mode als Objekt der Wissenschaften und der Wissensgeschichte Gabriele Mentges
Als vor einigen Jahren (2001) an der TU Dortmund die Tagung »Mode als Moderne. Konjunkturen wissenschaftlicher Aufmerksamkeit« stattfand, ging es um zwei grundsätzliche Fragen: Wie ist Mode als wissenschaftliches Forschungsfeld in verschiedenen Disziplinen verankert und wie wird sie dort thematisiert und methodisch analysiert? Im Hintergrund stand dabei die eigentliche und motivgebende Frage, warum Mode als allgegenwärtiges kulturelles Phänomen eine so geringe wissenschaftliche Aufmerksamkeit erfahren hat.1 Zur Zeit scheint Mode als Totalphänomen – um Fernand Braudels Formulierung zu zitieren – eine gewisse mediale Nobilitierung zu erfahren, und mit Vorsicht könnte man sogar von einem verstärkten wissenschaftlichen Aufmerksamkeit sprechen. Dennoch bleiben bei allem Interesse Vorbehalte und Distanzen erkennbar, die sich sowohl unmittelbar in den Disziplinen als auch vor allem im institutionellen Wissensbetrieb bemerkbar machen. Als fait total berührt die Mode eine Vielzahl von Feldern, von Themen, von Wissenschaften, sie ist sowohl in den Kulturwissenschaften beheimatet wie auch in den Technik- und Wirtschaftswissenschaften. Auffallend jedoch bleibt, wie diese Zusammenhänge durch die Disziplinen zerschnitten, ja z.T. ignoriert werden, um gelegentlich die Mode als mystische Kraft zu beschreiben. Vor allem bleiben die eigentlichen Mo-
1 | Die Tagung »Mode als Modernität. Konjunkturen wissenschaftlicher Aufmerksamkeit« (eine gemeinsame Veranstaltung der Volkskundlichen Kommission Westfalen mit dem Seminar Kulturanthropologie des Textilen, TU-Dortmund, November 2010) fragte danach, welche thematischen Topoi und welche methodischen Zugänge gewählt wurden und innerhalb welcher Diskurse das Thema Mode in Disziplinen wie die Germanistik, die Soziologie, Volkskunde/Europäische Ethnologie, die Kunstgeschichte (Kunstmuseum), Design, Philosophie usw. eingebettet wurde. Der vorliegende Beitrag bezieht sich auf meinen Aufsatz »Die Angst der Forschung vor der Mode« in dem dazugehörigen Tagungsband König, Gudrun M./Mentges, Gabriele/Müller Michael R.: Wissenschaften der Mode, Bielefeld 2015.
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demacher, nämlich die Praxis der DesignerInnen, der TextilingenieurInnen, der ProduzentInnen ausgespart. Über sie wird geredet, aber nicht mit ihnen. Was Geschichte anbelangt, so lässt sich in der Tat eine Vielzahl an Spuren einer Mode- oder Kleidungsforschung in den verschiedenen – kulturwissenschaftlichen – Disziplinen nachverfolgen, und ebenso hat sich ein davon unabhängiger technikwissenschaftlicher Zweig der Modeforschung ausgebildet. Welche Position die Modeforschung dabei eingenommen hat, welche gemeinsamen und trennenden strukturellen Merkmal sich erkennen lassen und wie die Mode als Objekt des Wissens sich darin positioniert, zur Klärung dieser Fragen möchte dieser Artikel beitragen. Er bezieht sich dabei vorwiegend auf den deutschen Sprachraum. Die kulturwissenschaftliche anglo-amerikanische Forschung hat die Mode längst fest in ihr Repertoire übernommen und mit der internationalen Zeitschrift »Fashion Theory« (seit 1998), herausgegeben von Valerie Steele, Kuratorin am Fashion Institute of Technology, New York, eine maßgebliche Diskussionsplattform für theoretische wie empirische Felder der Modeforschung geschaffen. Ihr folgte zwischen 2012-14 ein aktueller Boom an neuen Fachjournalen, wie z.B. »Fashion, Style & Popular Culture«, »Critical Studies in Men’s Fashion«, »Clothing Cultures« oder auch das »International Journal of Fashion Studies«.2 Der Modebegriff wird in diesem Beitrag in einem breiten Sinne verwendet, bei dem Textilien, Textilkultur wie alltägliche und historische Kleidungspraktiken, Textil- und Modewirtschaft -ProduzentInnen, Textiltechnologie sowie ModedesignerInnen) als gemeinsames, in sich zusammenhängendes Feld verstanden werden.
S PUREN UND K ENNZEICHEN VON F ORSCHUNGEN ZU HISTORISCHEN MODE WISSENSCHAF TLICHEN A NNÄHERUNGEN Übersichten zur Geschichte einer frühen theoretischen Auseinandersetzung mit der Mode zeigen, dass sie sich diese sich weder kaum unter einem thematischen Dach noch unter einem einzigen Wissensbereich vereinen lässt.3 Fashion Foundations, 4 so lautet der Titel eines englisch-sprachigen Bandes, der Aufsätze über Mode vom 16. Jahrhundert bis zum Jahre 1950 vorstellt. Der 2 | Eine Übersicht über diese Studien zur Mode vor allem in kulturanthropologischer Perspektive liefert Transberg, Hansen Karen: The World in Dress: Anthropological Perspectives on Clothing, Fashion and Culture, in: Annual Review Anthropology, June 2004, S. 369-392. 3 | Der vorliegende Beitrag hat nicht den Anspruch eine systematische und vollständige Diskussion von Modeanthologien oder Systematiken zu besprechen, sondern nur jene, die Anspruch verfolgen mit dieser Systematik oder Anthologie Diskursfelder zu bestimmen. 4 | Johnson, Kim K. P./Torntore, Susan J./Eicher, Joanne B. (Hg.): Fashion Foundations. Early Writings on Fashion and Dress, Oxford/New York 2003.
Mode als Objekt der Wissenschaf ten und der Wissensgeschichte
Band gruppiert die für die HerausgeberInnen maßgeblichen, bis heute einflussreichen (vor allem angloamerikanischen) Abhandlungen zusammen mit weniger bekannten Beiträgen zur Modeforschung in einer thematischen Anordnung, die sich an den modernen Leitkategorien der Kleidungsforschung orientiert wie Körper und Identität und diese weiter untergliedert in Ursprünge und Motive, physische Beziehungen, Identität und Konsum, Wechsel und Gewohnheit und Kleidungsreform. Wenn dabei auch ältere Autoren wie Montaigne (1575) zu Wort kommen, so ist dies das Ergebnis dieser strukturell-thematischen Anordnung, die mit der impliziten These arbeitet, dass das Interesse an Mode durch die Jahrhunderte hindurch von diesen übergeordneten Themen inspiriert und motiviert war. So wird an Daniel Purdys Anthologie von zeitgeschichtlichen literarischen wie philosophischen Annäherungen an Themen der Mode in »Rise of Fashion« ersichtlich, wie sehr Mode als Thema implizit viele Abhandlungen und Überlegungen durchdringt, ohne selbst explizites Thema zu werden, so z.B. bei Mandeville, bei Rousseau u.a. In ihrer zusammenhängenden Wirkung betrachtet, bilden sie jedoch zeitgeschichtliche bedeutsame Diskurse zur Mode heraus oder bilden einen wichtigen Baustein innerhalb umfangreicher Diskursthemen. Purdy selbst benutzt das einprägsame Bild einer »lineage of fashion commentary«, die in seinem Fall Adornos und Benjamins Kulturanalysen vorausgegangen und vorbereitet haben.5 Um die Mode als eigenständiges wissenschaftliches Thema zu extrapolieren, bedarf es offenbar noch anderer, besonderer Voraussetzungen. Einige kanonische Mode-Texte dieser Art werden in Silvia Bovenschens Übersicht »Listen der Mode« vorgestellt, die auf ein breites disziplinäres Spektrum verweist. Die jeweiligen Verfasser bleiben in ihren Disziplinen Einzelkämpfer, spezifische Fachrichtungen wie eine Soziologie der Mode haben sich beispielsweise durch Simmels Ansatz nicht ergeben. Dennoch haben sowohl Georg Simmel wie der Ökonom Werner Sombart – ebenfalls in diesem Band – disziplinübergreifende Wirkungen entfaltet. Andere Autoren wie Friedrich Theodor Vischer nutzen spezifische Textformate für ihre Abhandlungen zur zeitgenössischen Mode wie das Feuilleton oder Essay, das mit Überzeichnungen und Polemik ein traditionelles Genre der Modekritik in sublimierter Form und von hoher literarischer Qualität fortsetzt und zugleich neu medial positioniert. Modekritik ist der Aktualität verpflichtet und wirkt zugleich als Medium der Wissenspopularisierung. Dieses Medium generiert zugleich ein wissenschaftliches Grenzgängertum, bei dem Dilettantismus und wissenschaftliche Argumentation nahe beieinander liegen oder vermischt werden. Problematisch wird dieser Dilettantismus ab dem Moment, wenn man sich mit Unkenntnis auf empirische oder historische Felder der Modeforschung
5 | Purdy, Daniel Leonhard: Rise of Fashion. A Reader, Minneapolis/London, 2004, S. 3.
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begibt, ohne deren Quellenkritik und Arbeitsmethodik zu beherrschen. Oder wenn versucht wird, allgemein gültige Gesetze für die Mode zu formulieren. Bovenschens Systematik folgt der Chronologie des Erscheinungsdatums der jeweiligen Schriften, die alle aus der Zeit nach 1800 stammen. So bleibt der gemeinsame Zeitraum auch das einzig erkennbare Merkmal inhaltlicher Verbindungen zwischen Autoren wie Sombart, Simmel und Veblen, die um die Jahrhundertwende auf Mode als Phänomen aufmerksam geworden sind. Deutlich wird in jedem Beitrag die spezifische Fachperspektive, die die Modereflexionen in den theoretischen und methodischen Diskursrahmen der Disziplin einbetten. Diese genaue Fundierung wie z.B. in den soziologischen Diskurs könnte die nachhaltige und disziplinübergreifende Wirkung Georg Simmels Modetheorie von 1911, der soziologische handlungstheoretische Ideen am Beispiel des modischen Verhaltens exemplifiziert und zugleich daraus neue theoretische Einsichten gewinnt. Eine neuere Übersicht von Fréderic Godart »Penser la Mode«6 beschäftigt sich ebenfalls mit der Frage nach den Gründen für die stiefmütterliche Behandlung der Mode als Gegenstand der Wissenschaft. Seine »Genealogie« der Modewissenschaften, die verschiedene ältere und moderne Texte von unterschiedlicher Rezeptionswirkung versammelt, folgt in erster Linie einer zeitlichen Ordnung. Und sie wiederholt einen klassischen Fehler der meisten modewissenschaftlicher Abhandlungen, nämlich die Mode vom konkreten Gegenstand Kleidung zu trennen, um sie gewissermaßen als eine geheime Kraft, als eine »deus ex machina« zu beschwören oder zu mystifizieren, die ihre autonome Dynamik entfaltet. Bei allen Übersichten wird erkennbar, dass sich bei Beschäftigung mit dem Phänomen von Mode in einer allgemeinen, grundsätzlichen Form keine kontinuierliche Linie abzeichnet. Erst mit der Wende zum 19. Jahrhundert lässt sich eine Wende erkennen hin zu Disziplin bezogenen Erörterungen und publizistischen Essays, die auf das verstärkte öffentliche Interesse an der Mode hinweisen. Das Objekt Kleidung/Mode hat jedoch bestimmte Spezialwissenschaften ausgebildet, wozu man Kostümgeschichte und Kostümbildnerei im engeren Sinne rechnen könnte und kann auf eine Tradition zurückgreifen, die sich seit der Frühen Neuzeit mit dem Genre der Trachten- und Kostümbücher herausgebildet hat.7 Der Begriff des Kostüms wurde dabei bereits im Zuge der Aufklärung im ausgehenden 18.und im 19. Jahrhundert zum ersten deutschsprachigen Schlüsselbegriff für die Akademisierung und Verwissenschaftlichung von Bekleidung.8
6 | Godart, Fréderic: Penser la Mode, Paris 2011. 7 | Einen erhellenden Beitrag über die Bedeutung von Kostümgeschichte für die Wissensgeschichte liefert der Aufsatz von Elke Gaugele in: König, Gudrun M./Mentges, Gabriele/ Müller, Michael R.: Wissenschaften der Mode, Bielefeld 2015. »Kostümgeschichten und frühe Modetheorien des 19. Jahrhunderts als Wissensordnungen der Moderne«, S. 49-80. 8 | Diesen Hinweis verdanke ich Elke Gaugele sowie viele andere kritische Anregungen zu diesem Beitrag.
Mode als Objekt der Wissenschaf ten und der Wissensgeschichte
In der Epoche vor dem 19. Jahrhundert war das Thema Kleidung/Mode Bestandteil von Recht, Ökonomie und Religion, die entweder konkrete Handlungsanweisungen an die KleidungsakteurInnen der Zeit gaben (Kleiderordnung, andere Hinweise) oder moralisch-ethische Überlegungen zu Kleidungspraktiken anstellen wie z.B. die barocken Traktate – hier stand vor allem die Religion im Vordergrund. Auch hier lassen sich zwei wesentliche Topoi erkennen: Das ist zum einen die Kritik am Wechsel und zum anderen die Auffassung von kultureller Verschiedenheit, die an der Tracht und Mode festgemacht wird.9 Die Befreiung von der Bevormundung durch die ständische Ordnung wurde im modischen Gebaren und Auftreten sinnlich fassbar und sinnfällig: Die Aufhebung der Kleidungsordnung und die damit verbundene Forderung nach der selbstbestimmten Gestaltung der Person gehören zu den Besonderheiten einer westlichen Modegeschichte, mit der das Versprechen von Individualität einherging.
K ULTUR - UND SOZIALWISSENSCHAF TLICHE F ACHDISKURSE ZUR M ODE Die verschiedenen traditionellen kulturwissenschaftlichen Annäherungen an Mode lassen zwei großen Gruppen erkennen: Diese möchte ich auf der einen Seite als Fächer mit starken Objektbezug bezeichnen wie (Europäische) Ethnologie/Kulturanthropologie, Kunstgeschichte und Archäologie, auf der anderen Seite gruppieren sich Fächer wie Literaturwissenschaften, Geschichte, Soziologie Philosophie usw., die entweder ausgesprochen textorientiert oder strukturorientiert arbeiten bleiben. Nicht der Mode als urbanem Phänomen, sondern für die regionalen Moden im 19. und 20. Jahrhundert hat die frühe Volkskunde ein das Fach dauerhaft prägendes Interesse aufgebracht. Dieses Interesse fundierte in den Sammlungsbestrebungen und den ersten Museumsgründungen, die sich mit vestimentären Formen ländlicher Regionalkulturen befassten.10 Das Ziel, diese Kleidung zu bewahren oder sie vor dem Vergessen zu retten, wurde zum dominanten Paradigma der volkskundlichen Kleidungsforschung, die systematisch und beharrlich an der Konstruktion des Dualismus Mode kontra Tracht festhielt. Erst in den 1970er Jahren hat die Auseinandersetzung innerhalb des Faches zu einer kritischen Re9 | Daxelmüller, Christoph: Nationen, Regionen, Typen. Ideologien, Mentalitäten und Argumentationstechniken der akademischen Kleider- und Trachtenforschung des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Ottenjann, Helmut (Hg): Mode-Tracht-Regionale Identität. Historische Kleidungsforschung Heute, Cloppenburg 1985, S. 23-36, S. 24. 10 | Vgl. dazu den Aufsatz von Hauser, Andrea: Sammler, Märkte und Artefakte: Akteure der frühen Trachtenforschung im 19. Jahrhundert, in: König, G./Mentges, G./Müller, M. R. (Hg.) Wissenschaften der Mode, Bielefeld 2015.
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vision dieses Blicks auf ländliche Kultur und zur Demystifikation eines vermeintlichen Gegensatzes vestimentärer Kulturen geführt. Die sog. Trachtenforschung war Teil eines binnenkolonialen Blicks auf die ländliche Bevölkerung und zugleich Teil nationaler Identitätskonstruktionen. Die enge Verbindung des Faches zur Sammlungspraxis kulturgeschichtlicher Museen hat die Kleidungsforschung fest in die museumswissenschaftliche Debatte eingebettet und führte u.a. dazu, dass die Kleidungsforschung zu einem wesentlichen Feld der materiellen Kulturforschung wurde.11 Frühzeitig, seit den 1980er Jahren, hat die Europäische Ethnologie/Ethnologie die Zusammenhänge von Identität und Kleidung sowie die Beziehung zwischen Körper und Kleidung erkannt und thematisiert.12 Die Kunstgeschichte hat – wie vor ihr die akademische Kunst – die europäische und die außereuropäische Kostümgeschichte als Hilfswissenschaft genutzt für Datierung und stilistische Einordnung. Wenn sie heute Interesse am Phänomen Mode entwickelt hat, so wurde dies vor allen sich mehr und mehr Studien zu den bild- und medienwissenschaftlichen Themen der Mode wie Modefotographie, Modejournale und Modephänomen auf Gemälden, die kunsthistorische Methoden in produktiver Weise mit neuen Bildformaten und -medien verbinden, vor allem MedienwissenschaftlerInnen haben die Mode als ästhetisch-medialen Komplex entdeckt.13 Bei allem lassen die disziplinären Felder klare Grenzziehungen erkennen, die sich nicht einer absichtsvollen wissenschaftlichen Abgrenzung, sondern etablierten Fachtraditionen verdanken. So bleibt die Europäische Ethnologie weit11 | Vgl. für eine allgemeine Übersicht zur volkskundlichen Kleidungsforschung: Gitta Böth: Kleidungsforschung. In: Brednich, Rolf W. (Hg.): Grundriss der Volkskunde. Einführung in die Forschungsfelder der Europäischen Ethnologie. 2. Überarbeitete und erweiterte Auflage, Berlin 1994, S. 211-228. Zur Sammlungsgeschichte Hauser und dem Paradigma der Bewahrung Lioba Keller-Drescher »Tracht« als Denkstil. Zum Wissensmodus volkskundlicher Kleidungsforschung, in: König, Gudrun M./Mentges, Gabriel/Müller, Michael R.: Wissenschaften der Mode, Bielefeld 2015. 12 | Siehe zur Identität bspw. Ottenjann, Helmut (Hg): Mode-Tracht-Regionale Identität. Historische Kleidungsforschung Heute. Cloppenburg 1985, zur Körper-Kleidungsdebatte: Jeggle, Utz: Im Schatten des Körpers. Vorüberlegungen zu einer Volkskunde der Körperlichkeit. In: Zeitschrift für Volkskunde 76 (1980), S. 169-188, in Bezug zur ländlichen Kleidung: Mentges, Gabriele: Erziehung, Dressur und Anstand in der Sprache der Kinderkleidung, Frankfurt a.M. et al. 1989. 13 | Zu erwähnen sind hierbei die Studien zur Jugendkulturen und ihren Dresscodes, die sowohl bei Pädagogen wie Medienwissenschaftler/innen auf großes Interesse gestoßen sind. Siehe z.B. Birgit Richard: Die oberflächlichen Hüllen des Selbst. Mode als ästhetischmedialer Komplex. In: Kunstforum Bd. 141, Juli-Sep. 1998, S. 48-95. Eine Sonderbehandlung hat die Beziehung Mode und Architektur in der Kunstgeschichte gefunden, angeregt und fundiert durch Gottfried Semper, aber auch zu problematischen Parallelisierungen verleitet, bei dem die spezifische Materialität des Textilen aus dem Blickfeld gerückt wurde.
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gehend den »Kulturen der Unterwelt« d.h. der Populärkultur verhaftet, hingegen die Kunstgeschichte sich dem Feld der sog. Hochkultur, in dem Falle der haute couture – um Bourdieu zu paraphrasieren – und ihren Medien verschrieben hat. Die traditionelle Fächergrenzen und ihre Hierarchien im Wissenschaftsbetrieb werden somit in der Beschäftigung mit Mode wieder reproduziert. Die Archäologie als eine Wissenschaft, die vor allem auf der materiellen Überlieferung fußt, hat lange Zeit Textilfunde als nebensächlich behandelt und in neuerer Zeit erst den hohen Aussagewert von textilen Funden erkannt. Dabei ist sie bei vielen Themen in eine interessante produktive Auseinandersetzung mit der Kunstgeschichte geraten. Dies gilt vor allem für die mediävistische Forschung, die mit einer ausgesprochenen »Realienforschung« neue Erkenntnisse über mittelalterlichen Lebensweisen erbracht hat.14 Die objektferne Gruppe wie die Geschichtsforschung hat eine thematische Annäherung an Kleidungsforschung in der Neuzeit und in der klassischen Moderne gesucht, und dabei vor allem die Beziehung zwischen gesellschaftlichen Prozessen und Kleidung in den Vordergrund gestellt.15 In ähnlicher und noch deutlicher Weise hat die Soziologie diesen Zusammenhang betont und, wie es Michael R. Müller jüngst in einem Sammelband zum Thema prägnant zusammengefasst hat, Mode interessiere vor allem als Repräsentation von sozialen Ordnungen, was bereits bei Georg Simmel zur Ausblendung der Eigendynamik von
14 | Vgl. dazu die Forschungen des Institut für Realienforschung Wien, vgl. als Literatur z.B. Kania, Kathrin: Kleidung im Mittelalter. Kleidung, Material und Nähtechnik. Köln 2010. Kühnel, Harry: Mittelalterliche Realienkunde und Fragen von Terminologie und Typologie. Probleme, Bemerkungen und Vorschläge am Beispiel Kleidung, In: Terminologie und Typologie mittelalterlicher Sachgüter: Das Beispiel Kleidung. Internationales Roundtable-Gespräch Krems an der Donau, 6. 0101986. Institut für mittelalterliche Realienkunde. Wien. Orientiert an der Literatur des Mittelalters hat sich in der Nachfolge von Bumke, Joachim: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, München 1986, Bd. 1, weitere interessante Forschung für die mittelalterliche Kleidungskultur entwickelt. Vgl. u.a. Brüggen, Elke: Die weltliche Kleidung im hohen Mittelalter (900-1300). Anmerkungen zu neueren Forschungen. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur Bd. 110/1988, S. 203-229. Vgl. als explizite Forschung zum textilen Fund: Des Kaisers letzte Kleider. Neue Forschungen zu den organischen Funden aus den Herrschergräbern im Dom zu Speyer. Hg. vom Historischen Museum der Pfalz unter der Leitung von Alexander Koch. Katalog zur Ausstellung, München 2011, siehe dazu auch Harte, N. B./Ponting, K.G. (Hg.): Cloth und Clothing in Medieval Europe. 2. A. London 1983, insbesondere in der Perspektive einer Kulturanthropologie des Textilen vgl. Maier, Marion: Catal Hüyük und seine Bedeutung für die Textilkultur, in: Nixdorff, Heide/Mentges, G. (Hg.): Kultische Textilien. Dortmunder Reihe zu kulturanthropologischen Studien des Textilen, Berlin/Dortmund 2001, S. 19-78. 15 | Siehe zur historischen Forschung Anmerkung 2.
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Materialität geführt habe.16 Die Literaturwissenschaften haben sich vielfach mit der sprachlichen Dimension des Textilen befasst wie mit der textilen Metaphorik und des vestimentären Codes in der Literatur, oder vor allem produktiv und von nachhaltiger Wirkung mit den Modejournalen und Modeschriften.17 Die Objektnähe liefert zentrale Impulse für Fächer wie Volkskunde/Europäische Ethnologie und Kunstgeschichte, erklärt allerdings nicht deren Beschränkungen auf bestimmte Felder. Objektferne wiederum ist ein denkbares Motiv für die Zurückhaltung bei Fächern wie Germanistik und Soziologie und auch bei der historischen Forschung, aber sie ist nicht schlicht als Manko zu werten. Vielmehr kann sie eigene methodische Zugänge und Erkenntnisse zum Objekt Kleidung generieren wie es auch Julia Bertschik an einer konsequenten literaturwissenschaftlichen Analyse deutlich gemacht.18 Tiefgreifende und weiterführende Überlegungen zur Mode mit breiter Rezeptionswirkung erwachsen zumeist aus, so ein vorsichtiges Fazit, aus den Diskurskernen der Disziplinen heraus und bleiben weitgehend dem jeweiligen Methodenrepertoire und dem fachspezifischen theoretischen Rahmen verpflichtet. Dies macht ihren Reichtum aus. Wenn in der jüngeren Zeit (seit ca. 1990) Mode in vielen wissenschaftlichen Disziplinen verstärkt ins Blickfeld rückt, so verdankt sich sie dies vor allem sog. Forschungsrichtungen, die quer zu den Disziplinen stehen wie die Gender- und Postkolonialen Studien, Area Studies und der Kulturellen Transfergeschichte und den Cultural Studies, die mit ihrer Methodenkombinatorik und Quellentriangulation eine innovative Sicht auf Mode möglich gemacht haben.19 Sie zeigen die Schnittmengen zwischen Fächern, haben dazu beigetragen inhaltliche Hierarchien in Bezug zu Themenfelder abzubauen und neue theoretische Perspektiven auf Mode als transkulturelles Phänomen eröffnet. Auffällig ist die häufig fehlende begriffliche Klarheit, was den Begriff der Mode anbelangt, die bei vielen stillschweigend mit der Haute Couture gleichgesetzt oder als abstrakte Begrifflichkeit der Mode quasi ontologischen Status zuweisen, ohne die widersprüchlichen und eigensinnigen Praktiken der histo-
16 | Müller, Michael Rudolf: Apartheid der Mode. Eine symboltheoretische Revision der formalen Modesoziologie, in: Wissenschaften der Mode, Bielefeld 2015. 17 | Oft wurde allerdings unter Berufung auf Clifford Geertz in einer verkürzten und missverständlichen Weise Kultur als Text begriffen und das Modehandeln textuell interpretiert. Bei Clifford Geertz selbst ist der Textbegriff als Bild und Metapher für die kulturellen Vernetzungen von Bedeutungen und Praktiken zu verstehen. 18 | Bertschik, Julia: Mode und Moderne: Kleidung als Spiegel des Zeitgeistes in der deutschsprachigen Literatur (1770-1945), Köln/Weimar/Wien 2005. 19 | Vgl. als jüngeres Beispiel »Transcultural Fashion. Dressed up. Anziehen. Transkulturelle Moden« in: Querformat, Nr. 6, 2013, die Zeitgenössisches, Kunst und Populärkultur verbindet.
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rischen Modeakteure – seien es Individuen, Wirtschaftsorganisationen, Umwelt usw. einzublenden. Problematisch werden allgemeine Annäherungen dann, wenn sie Mode theoretisch fundieren wollen, ohne Bezug zu einem klar umrissenen empirischen Feld und einem daraus abgeleiteten Moderepertoire, seien es historische Quellen, moderne Kleidungspraktiken oder literarisches Reden über Kleidung.
M ODE ALS W ISSENSOBJEK T TECHNIK WISSENSCHAF TLICHER UND ÖKONOMISCHER D ISKURSE Mit der stofflichen und technischen Materialität von Kleidung und Mode befassen sich heute Disziplinen wie die Ingenieurswissenschaften. Körper-Klima-Kleidung heißt ein mehrfach aufgelegtes textilwissenschaftliches Grundlagenwerk aus dem Jahre 1998, das von Textilingenieur Jürgen Mecheels, dem früheren Leiter und Gründer des international renommierten Forschungsinstitutes Hohenstein im württembergischen Bönnigheim, verfasst wurde. Es stellt die »Ergebnisse der modernen bekleidungsphysiologischen Forschung« vor. Als Fachbuch für die Textil- und Bekleidungsindustrie informiert es über die praktischen Erkenntnisse für eine »zweckmäßige Bekleidung«.20 Der Band fußt auf der quantitativen wie qualitativen Bekleidungsphysiologie, die ein thermoregulatorisches Funktionsmodell der menschlichen Haut zur Messung des Wärme und Feuchtetransportvermögens entwickelt hat. Dabei geht es um die optimale Verträglichkeit zwischen Kleidungsstoffen und der Respirationsfähigkeit der menschlichen Haut. Die Entstehungsgeschichte dieser so ausgerichteten technischen Wissenschaften des Textilen reicht in jene Zeit zurück, in der neue verschiedenartige moderne wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit Mode als gesellschaftlichem Phänomen entstanden sind. Sie markieren eine wissenschaftsgeschichtliche Zäsur, die sich in der Sattelzeit um 1800 vollzog und die durch u.a. durch die klare Separierung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften charakterisiert ist. 20 | Mecheels, Jürgen: Körper, Klima,Kleidung. Überarbeitete und aktualisierte Neuauflage, Berlin 1998, S. 6. Jürgen Mecheels war lange Zeit Leiter der Hohenstein Institute, die als renommiertes internationales Forschungs- und Dienstleistungszentrum schwerpunktmäßig an der Entwicklung, Prüfung und Zertifizierung von textilen Produkten arbeiten. Im Jahr 1946 gründete Otto Mecheels die Hohenstein Institute, dabei stand für ihn die Verbindung von Forschung und Praxis im Vordergrund. Sein Sohn, Jürgen Mecheels führte die Hohenstein Institute in diesem Sinne weiter und baute sie zu einem interdisziplinär agierenden Forschungs- und Dienstleistungsunternehmen aus. Seit 1995 wird das Familienunternehmen in dritter Generation von Stefan Mecheels geleitet. www.hohenstein.de/ media/downloads/FC_DE_Bekleidungsphysiologie_mail.pdf (31.03.2015).
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Die spätere zu Beginn des 19. Jahrhunderts einsetzende scharfe Trennung zwischen der kultur-und gesellschaftswissenschaftlichen Thematisierung von Mode und den Technikwissenschaften steht in engem Zusammenhang mit neuen medizinischen Körperkonzepten und kulturellen Reformbewegungen, die analog zu neuen naturwissenschaftlichen und medizinischen Konzepten neue kulturelle Kleidungsentwürfe skizzieren. Analog zum Kontext der industriellen Maschinenwelt, in der mit die autonom erzeugter Energie Dampfmaschine die bisherigen Vorstellung von Energiegewinnung und Fortbewegung revolutioniert, wird von den Kleidungsreformern ein anderes Konzept des Körpers entworfen.21 Hierbei rückt mit der Übertragung dieses Modells auf den Körper ebenfalls die Energiefrage in den Vordergrund: Wie kann der Körper optimal Energie produzieren und sich dabei an seine Umgebung anpassen? Mit dem neuen Stellenwert der energetischen Frage verlagert sich das Interesse an der Bekleidung auf die Stofflichkeit: Wie und welche Stoffe können den optimalen Austausch zwischen Außentemperatur und Körperklima herstellen? Die Kleidungsreformer um 1900 schließen unmittelbar an diese Konzeption an, in dem sie wie Gustav Jäger (1832-1917) und Heinrich Lahmann (1860-1905) die Frage der Stoffe und Luftzirkulation diskutieren und Kleidung auf ihre gesundheitliche Funktion reduzieren. Gleichzeitig können sie jedoch nicht auf die moralische Fundierung verzichten, die bei Jäger eine sozialdarwinistisch-nationale Färbung annimmt.22 Eine radikalisierte Deutung der Kleidung im Kontext der Kulturentwicklung nimmt später z.B. Prof. Dr. Schiefferdecker vor, wenn er den menschlichen Körper als abstrakten ganzheitlichen und eigenständig agierenden kulturellen Faktor betrachtet.23 In der Gewährleistung der körperlichen Gesundheit – nicht in der kommunikativen Leistung noch in der ästhetischen und ge21 | Vgl. Osietzki, Maria: Körpermaschinen und Dampfmaschinen. vom Wandel der Physiologie und des Körpers unter dem Einfluss von Industrialisierung und Dampfmaschine, in: Sarasin, Philipp/Tanner, Jacob (Hg.): Physiologie und industrielle Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1998, S. 313-346, S. 313. Vgl. Tanner, Jacob: Weisheit des Körpers, ebd. S. 129-169. Zu diesem Thema ausführlich: Mentges, Gabriele: Von der Wetterkleidung zu Hightechtextilien. zur Anthropozentrierung der Klimavorstellung. in: Braungart, Georg/Büttner, Urs (Hg.): Wind und Wetter: Kultur – Wissen – Ästhetik, München 2014 (in Vorbereitung). 22 | Lahmann, Heinrich: Das Luftbad als Heil- und Abhärtungsmittel, Stuttgart 1898. Gustav Jäger: Mein System. Die Normalkleidung als Gesundheitsschutz vierte, völlig umgearbeitete Auflage, Stuttgart 1885. Vgl.: Mentges, G.: Darwin und die Mode. Versuch einer Annäherung, 2009. www.modetheorie.de (31.03.2015). 23 | Schiefferdecker, Paul: Kleidung und Nacktheit. Die Schädigung unseres Körpers durch die Kleidung. Eine menschenkundliche Betrachtung für Jedermann. Stuttgart 1926. Vgl. für eine zusammenfassende Analyse der Diskurse: Mentges, Gabriele: Körper, Kleidung, Klima. Zur Beziehung zwischen Bekleidungsphysiologie und Kleidungskultur, in: Alsheimer, Rainer (Hg.): Körperlichkeit und Kultur 2002. (Volkskunde & Historische Anthropologie, 8), Bremen 2002, S. 55-72.
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schlechtlichen Sinngebung – liegt für ihn der hauptsächliche Sinn von Bekleidung. Die hier vorgestellten Kleidungstheorien verwenden eine Begrifflichkeit, die zwischen kulturellen, moralisch aufgeladenen Worthülsen und naturwissenschaftlichen Inhalten changiert und so den Schwellencharakter dieser Kleidungsentwürfe zwischen traditionellen Wissensformen und den Erkenntnissen auf der Basis moderner naturwissenschaftlichen Methoden verdeutlichen. Mit ihrer Fragmentierung kultureller Prozesse und Praktiken in abstrakte begriffliche Entitäten wie Körper, Haut, Nacktheit, Geschichte, Kultur usw., suggerieren sie eine Vorstellung vom Menschen und seinem Körper als eine maschinelle Entität, deren Teile zerlegbar und technisch funktionalisiert werden. Die neuesten technologischen Entwicklungen auf dem Feld der technischen Textilien bis hin zu den smart textiles lassen sich als eine Konsequenz dieser Verbindung von technischwissenschaftlichen Konzepten in ihrer Verschränkung mit kulturell-ästhetischen Kleidungs-Körpervorstellungen verstehen. Heute, so könnte man behaupten, wird offenbar mit den technischen Textilien dem textilen Stoff zugleich ein neues kulturelles Gewicht im Feld der Materialität zurückerobert24 und tatsächlich verdankt die deutsche Textilproduktion ihre neue marktbeherrschende Position ihren Erfolgen auf dem Feld der technischen Textilien. Gleichzeitig wird mit dieser so beschriebenen Technisierung der Bekleidung das von Gustav Jäger konzipierte Kleidungssystem in gesellschaftliche Normalierungsdiskurse des 19. Jahrhunderts eingebunden, der sich in Jägers Anwendung des Normbegriffes auf seine diversen Kleidungsstücke äußert. Norm bedeutet in diesem Fall zwar noch keine quantitative Normierung, sondern dient dazu, seine Entwürfe vor Nachahmung zu schützen und war daher vor allem ökonomisch bestimmt.25 Der protonormalistische Diskurs, den Jürgen Link für das 19. Jahrhundert als bestimmend betrachtet, zeichnet sich wie bei Jägers Normalkleidung durch moralische Wertungen und Festlegungen aus.26
24 | Vgl. dazu ausführlich: Manzini, Ezio: Material of invention. Milano/London 1986. Und: Smith, Courtenay/Topham, Sean: Extreme Fashion, Munich/Berlin/New York 2005. Vgl. ausführlich: Mentges, Gabriele: Arte-fatti. Nuove tecnologie per l’abbigliamento, in: Pedroni, Marco/Volonté, Paolo (Hg.): Moda e arte, Milano, Franco Angeli: Mai 2012, S. 187-203. 25 | Vgl. zu den Verhandlungen Jägers mit der württembergischen Firma Benger: Gabriel, Alexander: Der Prophet als Entrepreneur. Die symbiotische Beziehung zwischen Hygiene und Maschenwarenindustrie. In: Köhle-Hezinger, C./Mentges, G./Projektgruppe (Hg.): Der neuen Welt ein neuer Rock. Studien zu Körper, Kleidung und Mode an Beispielen aus Württemberg. (Forschungen und Berichte zur Volkskunde in Baden-Württemberg, Bd.9), Stuttgart 1993, S. 173-194. 26 | Vgl. zur Normalismustheorie Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. 2. aktualisierte und erweiterte Auflage, Opladen/Wiesbaden 1999.
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Auch in einer weiteren Hinsicht liefert Kleidung ein Objekt für die Durchsetzung von Normalisierungsprozessen. Im Schneiderhandwerk, das sich einem genauen Studium des menschlichen Körpers widmen muss, um seine passgenauen Schnittmuster zu erstellen, zeichnet sich allmählich die Vorstellung eines normalen Körpers ab. Zwar gilt der sog. Normalwuchs als die am seltensten empirische nachweisbare körperliche Gestalt, aber er wird zum Maßstab erhoben, und Abweichungen als »Abnormitäten« deklariert.27 Empirisch berechnete Körpernormierung bildet dann im Folgenden die Grundlage für die Größenordnung bei der konfektionierten, industriell produzierten Kleidung. Auch dies macht Kleidung als Objekt wissenschaftsgeschichtlich interessant. Denn es bildet ein Scharnier zwischen individueller Beobachtung, Experiment und sich verallgemeinernden Technisierungsprozessen und Normalisierungsdiskursen. Das Ineinandergreifen und die Verzahnungen zwischen Modewirtschaft mit den technischen, naturwissenschaftlichen und ästhetisch-kulturellen Ideen, Diskursen und Argumentationen werden in der Modeforschung in der Regel ausgeblendet. Stattdessen wird gerne einer regelrechten Mystifikation der Mode das Wort geredet oder die Mode geradezu euphorisch als persönliches Gestaltungsmittel gefeiert. Gerade die Mode als eine der wichtigsten Konsumbereiche (neben Nahrungsmitteln) wirft die Frage auf nach der Verflechtung zwischen hegemonialen marktwirtschaftlichen und kulturellen Interessen, den backstages der Mode/ Textilproduktion und den ästhetischen medialen Umsetzungen und Strategien.28 Das Problem des Wechsels z.B. ohne seine wirtschaftlichen Dimensionen zu diskutieren oder die Designer lediglich als ästhetische Akteure zu begreifen, macht kulturwissenschaftliche Argumentation oft blind für wirtschaftliche Mechanismen und gesellschaftlich- globale Machtfragen. Pierre Bourdieu hat diesen Zusammenhang und das Spiel der divergierenden und hegemonialen Interessen bereits eindringlich beschrieben und zu einer kritischen Revision aufgefordert.29 Der von ihm hier eingeführte Begriff des Feldes als Spiel-Raum wäre dazu ein brauchbares begriffliches Instrumentarium, die verschiedenen Akteure – seien es Individuen, Institutionen, Unternehmen, Wissenschaften, die Umwelt und andere usw. – in einen Zusammenhang zu setzen, um aus diesem Makroblickwinkel widerstreitende Interessen, Praktiken, Wirkungen und Diskurse zu ermitteln 27 | Vgl. Mentges, Gabriele: Der vermessene Körper, in: Köhle-Hezinger, C./Mentges, G. (wie Anm. 25), S. 81-92, S. 87. Zur Geschichte der Größensysteme in der Kleidung vgl. Döring, Daniela: Zeugende Zahlen. Mittelmaß und Durchschnittstypen in Proportion, Statistik und Konfektion, Berlin 2011. 28 | Für einen erhellenden Beitrag zum letztgenannten Zusammenhang vgl.: Gaugele, Elke: On the Ethical Turn in Fashion: Policies of Governance and the Fashioning of Social Critique. In: Dies. (Hg.): Aesthetics Politics in Fashion, Wien 2014, S. 204-227. 29 | Bourdieu, Pierre: Haute Couture und Haute Culture. In : ders.: Soziologische Fragen, Frankfurt a.M. 1993, S. 187-197, zum Begriff des Feldes, hier S. 188.
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und zu analysieren in Bezug zu Fragen der Hegemonie, der Gouvernmentalität, der Subversion, der Macht der Technologie und vor allem, was bisher immer marginalisiert wurde, der historischen Umweltzerstörung durch Mode.30 Grundsätzlich ist die Vernachlässigung der konkreten Materialität und Stofflichkeit der Objekte der Mode zu bemerken. Dies lässt sich selbst bei den Objekt nahen Fächern konstatieren, was die Museumswissenschaftler/innen zu Recht anmerken.31 In jüngerer Zeit hat der sogenannte material turn, von dem gerne die Rede ist, einige Fächer zu einer neuen Aufmerksamkeit dem Objekt gegenüber stimuliert. Mit der präzisen Auseinandersetzung mit der Materialität der Mode, die das Mode-Objekt in seiner Stofflichkeit, seiner Gestalt, Technologien und industriellen Anwendung konsequent befragt, könnte die Modeforschung ein Scharnier zwischen Technik-und Kulturwissenschaften und Modepraxis bilden. Dieses Mode-Objekt wiederum in den Kontext seiner globalen und transkulturellen Zusammenhänge und als strukturelles Bindeglied zwischen Makro-und Mikrostrukturen zu positionieren, wäre eine Herausforderung für künftige Modeforschungen, die Mode tatsächlich als fait total ernst nehmen.
30 | Als Hinweis auf die Umweltdimension sei auf die Pelz-und Ledermode, das Fischbein der Wale im Korsett, auf die Verschmutzung durch die Textilindustrie (Veredelung), die Folgen der Baumwollproduktion, Kosmetik usw., gerade dies wäre z.B. für die neu entstandenen animal studies ein wichtiges Thema. 31 | Um auf diese Manko zu reagieren, wird zur Zeit eine internationale Forschungsgruppe in Frankreich gegründet GIS Groupement d’Intérêt Scientifique: Apparences, corps et sociétés unter Leitung von Jean-Pierre Lethuilliers, Universität Rennes, die eine systematische wissenschaftliche Verbindung zwischen museumswissenschaftlicher und universitärer Kleidungsforschung sucht.
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Kleidung lesen
Zwischen ›Lesbarkeit‹ und ›Unlesbarkeit‹ der Kleider-Codes Zur bildlichen Repräsentation unauthentischer Kleidung Philipp Zitzlsperger
Mit den folgenden Ausführungen wird der Versuch unternommen, der facettenreichen Modetheorie eine modespezifische, oder besser: eine vestimentäre Bildtheorie hinzuzufügen. Es wird also nicht allein über Mode, sondern ganz allgemein über Kleidung zu sprechen sein, die im Bild besonderen Gesetzmäßigkeiten unterworfen ist. Weshalb es sich lohnt hierüber nachzudenken, liegt an der einfachen Feststellung, dass Bilder von Kleidern nicht als Spiegel der Wirklichkeit, vielmehr als Konstruktionen der Wirklichkeit zu verstehen sind. Bilder haben ihre eigene Tradition und Semantik, die von der dargestellten Kleidung ebenso maßgeblich geprägt werden wie umgekehrt die mediale Anverwandlung der Kleidung neue vestimentäre Bedeutungsräume erschließt. Bilder sind Medien etwa der Graphik, der Malerei und Fotografie, aber auch der Skulptur, für die die dargestellte Kleidung als Vehikel oder als Kostümargument zum Einsatz kommen kann.1 Das heißt nicht, dass die Kleidung im Bild degradiert und allein Mittel zum Zeck ist. Das heißt vielmehr, dass der Kleidung im Medium Bild/ Skulptur eine Schlüsselrolle zukommt, die es als Ursache herauszustellen gilt und deren Wirkungspotential zu analysieren ist. Ausgangspunkt ist der linguistische Ansatz Roland Barthes’ (1967). Seine strukturale Analyse beschäftigt sich mit der verbalen Ebene der Mode in entsprechenden Zeitschriften. Deren textliche Beschreibungen werden als Sammlung »vestimentärer Züge« verstanden,2 die zu einem eigenen Bedeutungssystem zusammenge1 | Zum Begriff des »Kostümarguments« vgl. Zitzlsperger, Philipp: Dürers Pelz und das Recht im Bild – Kleiderkunde als Methode der Kunstgeschichte, Berlin 2008, S. 149. 2 | Barthes, Roland: Système de la mode. Paris 1983. Deutsch: Barthes, Roland: Die Sprache der Mode. Aus dem Französischen von Horst Brühmann, Frankfurt a.M. 1985, hier S. 8. Seine Auslassungen am Ende zur Modefotografie (knapp drei Seiten) nähern sich der eigentlichen Bildproblematik nicht.
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schlossen sind. Zu Recht ist in diesem Fall – unter semiotischen Gesichtspunkten – von der Lesbarkeit oder der Sprache der Mode die Rede. Davon ausgehend hat sich zuletzt Dagmar Venohr in ihrer Dissertation der Relation von modernem Modebild und Modetext zugewandt, um der Sinnhaftigkeit der Mode im Medialen auf den Grund zu gehen.3 Bedeutend an der Arbeit ist unter anderem der mediale Wandlungsprozess, den die Kleidung auf dem Weg von der Realie ins Bild vollzieht und von Texten flankiert wird. Die bisherige Schwerpunkt-Frage der Modetheorie nach der Bedeutung vestimentärer Zeichen wird nun um den Gehalt ihrer Bilder und dazugehöriger Texte zwischen Semiotik und Medientheorie erweitert. Im Folgenden wird das Terrain der erklärenden oder kommentierenden Worte verlassen, denn es sollen Bilder in Augenschein genommen werden, denen kein Sprachsystem zuzuordnen ist, weil in ihrer Entstehungszeit der Vormoderne nicht über das gesprochen wurde, was auf den vestimentären Bildern zu sehen ist. Vielmehr soll die Kritik an einer logozentristischen Ikonologie aufgegriffen und ein hermeneutischer Zugang zu Kleiderdarstellungen erprobt werden, 4 um zu zeigen, dass sich die Bedeutung von Kleidern in Bildern nicht allein über textliche und programmatische Fixierung erschließt. Auch wenn in der Frühneuzeit bestimmte Dinge nicht Gegenstand humanistisch gelehrter oder theologischer Diskurse waren, können sie dennoch symbolische Sinnstiftung generieren. Gleich3 | Venohr, Dagmar: Medium macht Mode. Zur Ikonotextualität der Modezeitschrift, Bielefeld 2010. 4 | Mit Nachdruck und Tiefenschärfe haben Kunsthistoriker versucht, der ›Sprache der Dinge‹ in gegenständlichen Bilddarstellungen auf den Grund zu gehen und zu bestimmen. Leitende Frage war, inwieweit dargestellte Dinge einer Alltagsrealität gerecht werden, diese repräsentieren oder symbolisch deuten. Und immer wieder musste konstatiert werden, dass die Realitätsnähe von Darstellungen einer materiellen Kultur kaum zu greifen ist, dass die ›Sprache der Dinge‹ zwischen Realismus und Scheinrealismus oszilliert, die Sprachmetapher mitnichten greift. Panofsky sah hinter den Dingen veristischer Darstellungen der Frühen Niederländer einen disguised symbolism. Gegen die daraus erwachsene, hypostasierende Rätselbild-Ikonologie wandte sich bereits Johan Huizinga ebenso wie mit Svetlana Alpers Art of Describing (1983) die Dingwelt der bildenden Kunst wieder auf ein Wahrheitsniveau zurückgeführt wurde, das für die nordalpin-holländische Kunst den beschreibenden über den erzählenden Sinn bildlicher Darstellungen stellte. In diesem Zusammenhang ausdrücklich hinzuweisen ist auf die Studie von Unverfehrt 2003, in der die materielle Kultur in Boschs Gemälden in Bezug zu einer rekonstruierbaren Lebenswirklichkeit gesetzt wird. Ebenso ist hinzuweisen auf: Baxandall 1999, und den hier unternommenen, erfolgreichen Versuch, den »kognitiven Stil« zu erkunden, der auf rekonstruierbaren Seherfahrungen der Zeit beruht. Nicht zu vergessen ist darüber hinaus die kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der materiellen Kultur, wie sie durch Bilder überliefert wird; exemplarisch hierzu: Burke, Peter: Augenzeugenschaft. Bilder als historische Quellen (2001), Berlin 2003, hier bes. zur »Polysemie« und Kulturgeschichte der Bilder, S. 195-217.
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gültig ob südlich oder nördlich der Alpen – die symbolische Bedeutung der Dinge kann sich in ihrer Bildwelt selbst erschließen und Wirklichkeiten konstruieren, die einer textlichen Reflexion zeitlich voraus sind, zumal in rezenten Studien darauf abgehoben wurde, dass Bilder Themen und Motive aufgreifen können, für die es noch keine Sprache gibt.5 Das ist vermutlich der Grund, warum bislang die Kleidung der Vormoderne in den entsprechenden Bildern vornehmlich als Zeichensystem für Distinktion und Anpassung gewertet wurde. Denn allein hierauf verweisen Texte, die als zeremonielle Anleitungen oder Luxusgesetze etwa vorschreiben, welchem gesellschaftlichen Stand je spezifische Kleidungsstücke zugestanden werden. Georg Simmels Modetheorie hat diesen Zugang geebnet und bis heute zementiert. Unter den Textgattungen, die sich mit Kleidung auseinandersetzen, sind etwa auch die Trachtenbücher zu erwähnen, jene »ethnographischen Codes«, die das Zeichensystem von Ähnlichkeit und Differenz zusätzlich verstärkten, indem sie durch Kleidung im Bild verschiedene Ethnien generierten. Als Impresen in Text-Bild-Synthesen präsentierten sie fremde Kulturen in zum großen Teil erfundenen Kostümen, schufen Identitäten und prägten die Wahrnehmung der Frühneuzeit.6 Schließlich ist auf kunsttheoretische Traktate hinzuweisen, die Kleidung im Bild vor allem unter ästhetischen Gesichtspunkten behandelten. Im Sinne eines Zeichensystems wird Kleidung lediglich als Epochenunterscheidung zwischen Antike und Gegenwart diskutiert,7 worauf noch zurückzukommen ist. Drüber hinaus entbehrt Kleidung im Bild der Frühneuzeit eines schriftlichen Programms, eines ›Vortextes‹ oder der nachweisbaren Konzeption des Künstlers, denn es gab bis zum Beginn der Moderne keine humanistisch-philosophische Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen Phänomen der Mode und Kleidung. Aber gerade weil die bildliche Darstellung der Kleidung einer textlichen Auseinandersetzung zumeist vorausgeht, bietet sie dem Interpreten die Möglichkeit, gewissermaßen von textlich-programmatischen ›Vorbelastungen‹ befreit zu sein und der visuellen Auseinandersetzung des Kleiderphänomens avant la lettre nachzugehen. Es geht also um die Kleiderbedeutung im Bild ohne textliche Anleitung. Dies ist der Ausgangspunkt für weitere Forschungen zur Sprachentwicklung, deren Begriffsbildung von der Umwelt des Menschen geprägt ist, zu der auch die Bilder als vorsprachliche Weltaneignung zählen. Nicht als Abbilder, son5 | Vgl. Trempler, Jörg: Katastrophen. Ihre Entstehung aus dem Bild, Berlin 2013, S. 7-13. 6 | Defert, Daniel: Un genre ethnographique profane au XVIe. Les livres d’habits. In: Britta Rupp-Eisenreich (Hg.): Histoires de l’Anthropologie (XVIe-XIXe siècles). Colloque La Pratique de l’Anthropologie aujourd’hui. 19.-21. Nov. 1981 Sèvres. Paris 1984, S. 25-42. Waldenfels, Bernhard: Topographie des Fremden, Frankfurt a.M. 1997, S. 184. Ilg 2004, S. 29-47. 7 | Vgl. hierzu den Überblick bei Trauth, Nina: Maske und Person. Orientalismus im Porträt des Barock, Berlin/München 2009, S. 103-106; Zitzlsperger, Philipp: Dürers Pelz und das Recht im Bild – Kleiderkunde als Methode der Kunstgeschichte, Berlin 2008, S. 131-138.
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dern als ikonische Interpretationen von Welt und Ereignissen können sie sichtbar machen, was sprachlich noch nicht erschlossen ist. Hierzu zählen beispielsweise die orientalisierenden Porträts um 1700, die als Maskeraden erscheinen, darüber hinaus Ausdruck einer differenzierten Kultur- und Weltaneignung sind, indem sie das Fremde vestimentär assimilieren, ihm die Bedrohlichkeit nehmen und sich darüber erheben können.8 Solche ›vorsprachlichen‹ Visualisierungen von Phänomenen, die, wenn sie erst einmal verbildlicht und bildkanonisch geworden sind, auch in der Sprache ihren Ausdruck finden können, sind keinem stringenten Zeichensystem von Signifikat und Signifikant zugeordnet, sondern vielmehr einem symbolischen System, dessen Deutungsoffenheit ein Wesensmerkmal symbolischer Kommunikation ist.9 Von ›Lesbarkeit‹ kann in solchen Fällen kaum noch gesprochen werden; bestenfalls von einer ›Lesbarkeit‹ der Polyvalenz vestimentärer Zeichensysteme. Die Symbolik der Kleidung in der Lebenswirklichkeit, insbesondere in ritualisierten Handlungsabläufen,10 erfährt in ihrer bildlichen Verarbeitung eine weitere Sinnebene, die die Deutung zusätzlich erschwert. Selbst Insignien – etwa eine Krone, die den König bezeichnet – können im Alltagsritual anderes bedeuten als im Bild. Wenn Kleidung im performativen Geflecht von AuftraggeberInnen, ModeschöpferInnen, TrägerInnen, BetrachterInnen und Gesellschaft einem komplexen Konnotationssystem einbeschrieben ist,11 dann wird ihre bildliche Umsetzung mit zusätzlichen Sinnschichten aufgeladen. Allgemein gesprochen führt die mediale Visualisierung der Kleidung zu neuen Formen der Wahrnehmung, des Denkens und der Verbreitung des Sichtbaren, das nicht immer zugleich sagbar sein muss. Medien haben ihre Geschichte und ihre Wahrnehmung ebenso, weshalb die Mediengeschichte auch zu einer Geschichte der Sinne führt, die für die Betrachtung der Kleidung im Bild entscheidend sind.12 Kleidung und Realien bestellen folglich einen eigenen symbolischen Haushalt, der im Bild zu einem bildsymbolischen erweitert wird. Die Vielfalt möglicher Verweisstrukturen und assoziativer Verknüpfungen, die auch vom symbolischen Charakter der Kleidung ausgehen, sind kulturell konditioniert. Der Einsatz der Kleidung in der Alltagsrealität einer bestimmten Epoche erfolgt gewissermaßen in einem sozialen, psychologischen, historisierenden, juristischen und normativen Bedingungsgemenge, das in seiner Verhältnismäßigkeit nicht automatisch auf das Bild, in dem es dargestellt ist, übertragen wird. Es ist deshalb 8 | Vgl. hierzu die umfassende Studie von Trauth 2009 (wie Anm. 7), resümierend v.a. S. 301-302. 9 | Zitzlsperger 2008 (wie Anm. 7), S. 144-146. 10 | Stollberg-Rilinger, Barbara: Rituale, Frankfurt a.M. 2013, hier besonders S. 226-234. 11 | Vgl. hierzu eine Vielfalt von Ansätzen zum Beziehungs- und Bedeutungsgeflecht etwa von Mode und Raum in: Lehnert, Gertrud (Hg.): Räume der Mode, München 2012. 12 | Konziser Überblick zu den Medientheorien der Visuellen Kulturen in: Rimmele, Marius/ Stiegler, Bernd: Visuelle Kulturen – Visual Culture zur Einführung, Hamburg 2012, S. 62-79.
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die Aufgabe der Kunst- und Bildwissenschaft, nicht nur die Kleidung im Bild als Insignie zu benennen und damit ihre distinktive Funktion zu erkennen, sondern darüber hinaus vor allem ihren symbolischen Gehalt zu ermitteln. Die Übersetzungsmodalitäten zu rekonstruieren, mit denen ein Kostüm oder Kleidungsstück aus seiner Alltagsrealität in das Bild übertragen wurde, kann zu umfassenden Erkenntnisgewinnen führen – bisweilen sogar zu der Einsicht, dass Bilder der Kleider nicht immer auf Realitäten zurückgreifen müssen, sondern auch auf sie vorgreifen können, indem sie etwas darstellen, was es zum Zeitpunkt der Bildentstehung noch gar nicht gibt.
Abbildung 1: Wenzel Hollar: Ornatus mulieribus Anglicanus, 1639, S. 7, Rijksprentenkabinet, Amsterdam. Foto in: Groeneweg, Irene: Court and City: Dress in the Age of Frederik Hendrik and Amalia. In: Princely Display. The Court of Frederik Hendrik of Orange and Amalia van Solms. Hg. von Marika Keblusek und Jori Zijlmans. Den Haag/Zwolle 1997, S. 201-217, hier S. 214.
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Abbildung 2: Wenzel Hollar: Aula veneris, 1643, Prentenkabinet der Rijksuniversiteit, Leiden. Foto in: Groeneweg, Irene: Court and City: Dress in the Age of Frederik Hendrik and Amalia. In: Princely Display. The Court of Frederik Hendrik of Orange and Amalia van Solms. Hg. von Marika Keblusek und Jori Zijlmans. Den Haag/Zwolle 1997, S. 201-217, hier S. 215.
Ein Beispiel:13 Wenzel Hollar war ein gefragter böhmischer Grafiker des 17. Jahrhunderts. 1637 übersiedelte er nach London, wo er in den Diensten des Earl of Arundel stand. Hollars gestochene Veduten waren berühmt für ihre veristische Präzision und ermöglichten ihm bald, in die Dienste des englischen Königs zu treten, für den er zahlreiche Stiche der königlichen Güter anfertigen ließ. Das dokumentierende Auge Wenzel Hollars war für die Zeit um 1640 nicht selbstverständlich. 13 | Das folgende Beispiel folgt den Erkenntnissen von Groeneweg, Irene: Court and City: Dress in the Age of Frederik Hendrik and Amalia. In: Princely Display. The Court of Frederik Hendrik of Orange and Amalia van Solms. Hg. von Marika Keblusek und Jori Zijlmans, Den Haag/Zwolle 1997, S. 201-217. In ihrem Artikel hat die Autorin den Van Dyck-Porträts der englischen Eliten eine grundlegende Studie gewidmet, die wegweisend für eine vestimentäre Bildforschung ist.
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Abbildung 3: Jan van Dyck: Mary Villier mit Cupid, 1636, North Carolina Museum of Art, Raleigh North Carolina. Foto in: Groeneweg, Irene: Court and City: Dress in the Age of Frederik Hendrik and Amalia. In: Princely Display. The Court of Frederik Hendrik of Orange and Amalia van Solms. Hg. von Marika Keblusek und Jori Zijlmans. Den Haag/Zwolle 1997, S. 201-217, hier S. 200.
Aus diesem Grund ist er auch für die Textil- und Kostümforschung von einigem Interesse, denn von Hollars Hand stammen zwei reich bebilderte Kostümbücher: »Die englische Garderobe der Frauen« von 1639 und »Aula veneris« aus dem Jahr 1643. Zwischen beiden Publikationen liegen kaum mehr als 4 Jahre und dennoch könnten sie unterschiedlicher kaum sein. Die Frauenkleider der früheren Publikation (Abb. 1) scheinen von hellem Stoff zu sein denn die Schattierungen sind subtil, die weißen, lichtintensiven Grate des reichen Faltenspiels sind formgebend. Für den schillernden Glanzeffekt des offensichtlich weißen Textils sprechen insbesondere die zahlreichen Wechsel der Graustufen in alle Richtungen. Das flirrende Lichtspiel der Stoffoberfläche lässt das Textil leicht und wenig domestiziert erscheinen. Darstellungen der Publikation von 1643 zeigen dagegen Frauen, deren Kleider in der Präzision der stofflichen Darstellung eine andere Eigenart aufweisen (Abb. 2). Der wesentliche Unterschied ist, dass die hellen Untergewänder in lange, vertikale Röhrenfalten gelegt sind, über denen – und
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das gilt es besonders zu beachten – ein dunkles, schwarzes Überkleid getragen wird, die Frauen also durchweg schwarz gekleidet sind, wie auf 11 weiteren Stichen englischer Damen dieser Serie zu sehen ist.
Abbildung 4: Gerard ter Borch: Die väterliche Ermahnung, 1654/55, Gemäldegalerie Berlin, Detail Foto in: Gemäldegalerie Berlin. Geschichte der Sammlung und ausgewählte Meisterwerke. Hg. von den Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz. Berlin 1990, S. 239.
In den jeweiligen Bilduntertiteln gibt Wenzel Hollar an, dass es sich um Frauendarstellungen des englischen Adels handelt. Die Forschung hat diese Angaben zu Recht sehr ernst genommen, denn immerhin war Hollar – wie bereits betont
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– ein verlässlicher Beobachter, ein Kenner der Details, dessen Kostümbilder folglich einen hohen Grad der Authentizität beanspruchen dürften. Es wurde jedoch übersehen, dass Hollar verschiedene Quellen für seine Kostümbilder benutzte. Für die gezeigten Frauen in weißen Gewändern benutzte er Vorlagen von Antonis van Dyck, der seit 1632 Hofporträtist in London war. Das Ganzkörperporträt der Tochter des Earl of Buckingham, Mary Villier, war eines dieser grundlegenden Vorbilder (Abb. 3). Auffallend ist an Van Dycks Gemälde insbesondere das dargestellte Textil des Kleides. Seine Draperie ist für die Zeit der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts von einer befremdend-sanften Leichtigkeit und crepeartig schillernd. Das weiße Frauenkleid des 17. Jahrhunderts wurde vornehmlich aus Seidenatlas gefertigt. Seidenatlas-Gewänder werden in den Gemälden der Zeit in der Regel ganz anders dargestellt. Der Seidenatlas als Oberstoff besitzt in der Malerei eine glänzend-changierende Oberfläche, jedoch fallen die Kleiderstoffe insgesamt schwer, in langen Röhrenfalten. Dem Stoff, wie etwa auf Gerard Terborchs Dame im weißen Atlas aus der sog. »Väterlichen Ermahnung« (Berlin) von 1654 (Abb. 4) eignet eine gewisse Festigkeit, Schwere und Steifigkeit, die auf Van Dycks Gemälde ins Gegenteil gewendet ist. Dort ist der Stoff von einer raschelnden, weichen Leichtigkeit, die an den Stil Gainsboroughs erinnert. Während sich Wenzel Hollar für die weiß gekleideten Frauen also an Van Dyck orientierte, stammen die schwarz gekleideten englischen Damen aus der späteren Publikation, in der ebenfalls die vermeintlichen Moden der Engländerinnen beschrieben sind. Waren die englischen Damen nun weiß oder schwarz gekleidet, oder beides? Wie aus zahlreichen Briefen und Nachlassinventaren hervorgeht, pflegte der Adel in Frankreich, Holland, England und Spanien seit etwa 1625 – nach einer längeren Pause – wieder ausschließlich Schwarz zu tragen. Selbst Mary Villier erwähnt in ihren Briefen stets nur ihre schwarz-seidene Garderobe, die man ihr z.B. für einen Parisaufenthalt nachsenden möchte.14 Daraus folgt verkürzt gesagt: Van Dycks englische Damenporträts bilden die Protagonistinnen in Phantasiegewändern ab, die nie getragen wurden und ein reines Kunstprodukt sind, eine künstlerische Invention, der selbst ein so aufmerksamer Graphiker wie Wenzel Hollar aufgesessen ist. So verwundert es nur wenig, dass etwa im Kostüm-Standardwerk von Erika Thiel (1968) Van Dycks Kostüm- und Stoff kreationen als Abbild des englischen Frauenkleids angeführt werden, wie etwa auf Seite 365 ein Porträt der englischen Königin, der Gemahlin von Charles I., Henriette von Frankreich, die Van Dyck im bekannten, un-authentischen Kostüm kleidete (Abb. 5).
14 | Groeneweg, Irene: Court and City: Dress in the Age of Frederik Hendrik and Amalia. In: Princely Display. The Court of Frederik Hendrik of Orange and Amalia van Solms. Hg. von Marika Keblusek und Jori Zijlmans, Den Haag/Zwolle 1997, S. 201-217, S. 214.
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Abbildung 5: S. 365 aus Erika Thiel: Geschichte des Kostüms. Die europäische Mode von den Anfängen bis zur Gegenwart. Berlin 1968, S. 365. Aufnahme des Verfassers
Anhand des Beispiels zu Van Dycks eigener und landläufig missverstandener Darstellung der Frauenkleidung ist das Problemfeld aufgetan, das sich bietet, wenn man die Kleidung im Bild als Quelle vergangener Modeepochen heranzieht. Die ›Lesbarkeit‹ oder Sprache der Kleidung im Bild ist – wie eingangs festgestellt – sehr eng an die Quellensituation gebunden. Im Hollar-Dyck-Beispiel informieren keine unmittelbaren Schriftquellen über Dycks unauthentische Kleiderkreationen in der Porträtmalerei. Auch ihr Sinn bleibt vorerst unergründlich. Ihre Lesbarkeit ist bis an den Rand der Unlesbarkeit eingeschränkt, wenn ihre Unauthentizität Programm ist, deren einzige Quellen die verschiedenen Bildmedien selbst sind. Die exemplarische Unauthentizität der Kleidung im Bild, die nicht mit karnevalesker Verkleidung zu verwechseln ist, scheint ein brauchbarer Anhaltspunkt zu sein, um besser zu verstehen, was Bilder mit Kleidern anstellen können. Sie verändern vestimentäre Zeichen, deren vermeintliche Lesbarkeit subtil gebrochen wird und nur zu erahnen ist, wenn die historische Rückbindung der Darstellung – ihre Bildgeschichte – mit in die Betrachtungen einbezogen wird. Dies mag ein zweites Beispiel erläutern helfen, das die Anverwandlung der Kleidung im Medium der Skulptur unter die Lupe nimmt. Denn das skulpturale Porträt und das Personaldenkmal weisen in ihrer langen Geschichte vom 15. bis zum 19. Jahrhundert eine kleiderhybride Sonderentwicklung auf, die eine bewusst unauthentische Kreation
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darstellt, um neue Räume herrscherlicher Repräsentation und politischer Ikonographie zu erschließen. Auch hierfür fehlt jede Art eines ›Vortextes‹, der Anhaltspunkte liefern könnte für einen ›lesbaren‹ Deutungsansatz:
Abbildung 6: Andreas Schlüter: Büste des Landgrafen Friedrich II. von Hessen-Homburg, 1701, Schloss Bad Homburg Foto in: Schlüters Porträtbüste des »Prinzen von Homburg«. In: Andreas Schlüter und das Barocke Berlin. Ausst.Kat. hg. von Hans-Ulrich Kessler, München 2014, S. 358-369, hier S. 359.
Andreas Schlüter schuf etwa um 1700-1705 in Berlin die bronzene Porträtbüste des Landgrafen Friedrich II. von Hessen-Homburg (1633-1708), des sogenannten »Prinzen von Homburg« (Abb. 6). Die Büste, die heute in Bad Homburg steht, ist nicht nur ein Meisterwerk der Bronzekunst des nordalpinen Barocks, sondern darüber hinaus auch eine interessante Kostümbesonderheit: Schlüter stellte den Landgrafen mit voluminöser Feldbinde dar, die diagonal über den mächtigen Oberkörper gelegt ist. Sie ist nicht nur Insignie militärischer Souveränität, vielmehr erfüllt sie auch die Aufgabe einer neuen Sinnstiftung der bildlichen Kostümargumentation. Denn sie bildet die Grenze zwischen neuem und altem Harnisch, zwischen Gegenwart und Antike: Während der enthüllte Oberarm deutlich in die horizontalen, schuppenartig ineinandergefügten Platten der Prunkrüstungen des ausgehenden 17. Jahrhunderts gegliedert ist, handelt es sich im mittleren Brustbereich, rechts von der Feldbinde, eindeutig um einen antiken Brustpanzer, den sogenannten Chiton. Er ist an dem Medusenhaupt zu erkennen und
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vor allem an dem Schulterriemen, der links vom Medusenhaupt endet, wo ein Stück Schnur durch eine Öse geführt ist. Der rechte Schulterriemen ist über dem rechten Schlüsselbein vom Paludamentum fast vollständig verdeckt. Schulterriemen sind typisch für die antik-römische Feldherrentracht, die am Oberkörper aus einem Brust- und einem Rückenpanzer bestand, die beide an den Flanken und über die Schultern mit Riemen zusammengebunden wurden. Schlüter kombinierte folglich zwei verschiedene Rüstungstypen aus verschiedenen Epochen, die in der Praxis nie zusammen getragen wurden. Hätte er ausschließlich auf den römisch-antiken Chiton angespielt, hätte er am Oberarm die dazugehörigen metallbewährten, vertikalen Lederstreifen darstellen müssen, die in der Antike die Bewegungsfreiheit des Arms ermöglichten. An antiken Kaiserportraits sind sie und die erwähnten Schulterriemen gut zu erkennen, auf die Schlüter rekurrierte (Abb. 7). Indem er aber das antike Charakteristikum im enthüllten Bereich von Schulter und Oberarm durch ein zeitgenössisches ersetzte, konstruierte er einen Rüstungshybriden, der für das Betrachterauge seiner Zeit höchst irritierend gewesen sein muss.
Abbildung 7: Büste des Kaisers Commodus, um 190 n. Chr., Rom, Kapitolinische Museen Aufnahme des Verfassers
Schlüters Rüstungshybride sucht um 1700 im nordalpinen Raum ihresgleichen. In der Regel musste sich der Künstler zwischen antikem oder zeitgenössischem Gewand entscheiden, was insofern nicht einfach war, als darüber in der Frühneuzeit heftige Diskussionen geführt wurden. Die Debatte über die Dichotomie von
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Kostümrealität und antiker Verklärung kulminierte schließlich im sogenannten Kostümstreit, der die großen Kunstakademien im 18. Jahrhundert spaltete und etwa in Berlin Friedrich II. (1712-1786) zur Einmischung zwingen sollte.15 Schlüters Werk provozierte folglich den späteren Kostümstreit durch den Rekurs auf das italienische Personaldenkmal, an dem bereits seit dem 15. Jahrhundert vestimentäre Experimente zwischen Antikenverweis und Gegenwart durchgeführt wurden. Bereits bei Donatellos (1386-1466) Reiterstatue des Gattamelata (1450) in Padua begegnet erstmals die unorthodoxe Kombination von antikem Brustpanzer und zeitgenössischen Beinschienen.16 Diese seltsame Neuschöpfung der Bekleidung ist umso bedeutsamer, wenn man bedenkt, dass vor und lange Zeit nach seinem Reiterstandbild antike Rüstungen an den dargestellten Honoratioren ein Tabu waren.17 Das Reiterdenkmal erfuhr erst nach 1608 einen entscheidenden Paradigmenwechsel, der sich mit den beiden Farnese-Monumenten von Francesco Mochi (1580-1654) in Piacenza durchsetzte (1620 und 1625). Erstmals treten dort die Protagonisten nun als vollkommen antike Feldherren auf.18 Die restlose Antikisierung übertrug sich zuerst auf die nunmehr antik gekleideten und sattellosen Reiterdenkmäler Ludwigs XIII. (1601-1643) auf der Place Royal (1639) und 15 | Zum Kostümstreit vgl. Simson, Jutta von: Wie man Helden anzog – Ein Beitrag zum »Kostümstreit« im späten 18. und beginnenden 19. Jahrhundert. In: Zeitschrift des deutschen Vereins für Kunstwissenschaft, 43, 1989, S. 47-63; Warncke, Carsten-Peter: Rang, Platz, Pose und Kostüm. Politische Kategorien öffentlicher Personaldenkmäler in der Frühen Neuzeit. In: Kunst und Geschichte. Festschrift für Karl Arndt zum siebzigsten Geburtstag, hg. v. Marion Ackermann, Annette Kanzenbach, Thomas Noll u. Michael Streetz, München 1999 (Niederdeutsche Beiträge zur Kunstgeschichte 38), S. 195-208, Zitzlsperger, Philipp: Kleiderbilder und die Gegenwart der Geschichte. Gattungsübergreifende Überlegungen zum Verhältnis von Personaldenkmal, Historienbild und der Kleidung in der Kunst. In: Kleider machen Bilder. Vormoderne Strategien vestimentärer Bildsprache, hg. v. David Ganz und Marius Rimmele, Emsdetten/Berlin 2012 (Textile Studies, 4), S. 117-138. 16 | Hierzu und im folgenden vgl. Zitzlsperger, Philipp: Kleiderbilder und die Gegenwart der Geschichte. Gattungsübergreifende Überlegungen zum Verhältnis von Personaldenkmal, Historienbild und der Kleidung in der Kunst. In: Kleider machen Bilder. Vormoderne Strategien vestimentärer Bildsprache, hg. v. David Ganz und Marius Rimmele, Emsdetten/Berlin 2012 (Textile Studies, 4), S. 117-138. 17 | Zum Tabu der antikisierenden Kleidung am Denkmal vgl. Filaretes Kritik an Donatellos Gattamelata (Filarete 1972, S. 675-676). In der Folge tragen die berühmten Reiter Verrocchios (Venedig) und Giambolognas (Florenz und Paris) bis ins beginnende 17. Jahrhundert ausschließlich zeitgenössischen Harnisch; vgl. Zitzlsperger 2012 (wie Anm. 16), S. 118-119. 18 | In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts sind nach wie vor zeitgenössisch gekleidet die Reiterstatuen Heinrichs IV. (1553-1610) auf dem Pont Neuf in Paris von Giambologna und Pietro Tacca (1611) oder Philipps IV. (1605-1665) auf der Plaza de Oriente in Madrid von Pietro Tacca (1640).
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Ludwigs XIV. auf der Place des Victoires (1699) in Paris und dann auf alle folgenden in ganz Europa – beispielsweise auch auf Schlüters Großen Kurfürsten auf der Langen Brücke in Berlin. In der Gattung der Ehrenstandbilder (ohne Pferd) nahm die vestimentäre Entwicklung einen weniger stringenten Verlauf. Dort war der Antikisierungsprozess bereits viel weiter fortgeschritten als an den Reitermonumenten. Zwar ist ein Großteil der italienischen Standbilder des 16. Jahrhunderts in zeitgenössischer Gewandung gekleidet,19 doch gibt es auch einige wichtige Beispiele, die den rein antiken Kleiderschmuck der Reiterstandbilder Mochis vorwegnehmen.20 Die berühmtesten sind Michelangelos sepulkrale Sitzfiguren von Lorenzo (14491492) und Giuliano de Medici (1453-1478) in der Medici-Kapelle von S. Lorenzo in Florenz (1521-1534).21 Neben solchen Ausnahmen, die die Regel der Kostümrealität belegen, entstanden um 1600 in Italien jene Exemplare von Standbildern, die Donatellos Kombination antiker und zeitgenössischer Kleidung des Gattamelata wieder aufgriffen.22 Exemplarisch ist auf Leone Leonis (1509-1590) hoch aufgesockeltes Bronzestandbild des Ferrante Gonzaga (1507-1557) vor dem herzoglichen Palast in Guastalla hinzuweisen (1588; Abb. 8). Es stellt einen antik gekleideten Feldherren dar, der den römischen Brustpanzer, Waffenrock und Sandalen 19 | Vgl. etwa Jacques Jonghelincks (1530-1606) Herzog von Alba in Antwerpen (1571, 1577 zerstört), Giambolognas Marmorfigur Cosimos I. in den Uffizien (1585) oder die Standfiguren Ferdinandos I. de’ Medici in Livorno, Arezzo und Pisa (um 1600). Für einen umfassenden Überblick der öffentlichen Standbilder in Europa vgl. Keutner, Herbert: Über die Entstehung und die Formen des Standbildes im Cinquecento. In: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst, 3. Folge 7, 1956, S. 138-168, zu Ferdinando I. de’ Medici besonders ebd., S. 156-158. 20 | Vgl. Bartolomeo Ammannatis marmorne Grabfigur des Mario Nari als demi-gisant (1540-1542) und Vincenzo Dantis Marmorstatue Cosimos I. de’ Medici (um 1570), beide Skulpturen heute im Museo Nazionale del Bargello, Florenz; vgl. Zitzlsperger 2012 (wie Anm. 16), S. 124. 21 | Zwei weitere Beispiele, auch sie um 1600 immer noch als Einzelfälle zu bezeichnen, sind zum einen die Skulptur Alessandro Farneses in einer frühen Apotheose von Simone Moschino (1598), zum anderen die des französischen Königs Heinrich IV. in S. Giovanni in Laterano von Nicolas Cordier (1610). Zur Farnese-Skulptur (heute in Caserta) vgl. Keutner 1956 (wie Anm. 19), S. 165. Zu Cordiers Statue Heinrichs IV., ohne Bezugnahme auf die vestimentären Besonderheiten, vgl. Pressouyre, Sylvie: Nicolas Cordier. Recherches sur la sculpture à Rome autour de 1600, Rom 1984, Nr. 18; außerdem Erben, Dietrich: Paris und Rom. Die staatlich gelenkten Kunstbeziehungen unter Ludwig XIV., Berlin 2004, S. 223. 22 | Hierzu ausführlich Zitzlsperger, Philipp: Kleiderbilder und die Gegenwart der Geschichte. Gattungsübergreifende Überlegungen zum Verhältnis von Personaldenkmal, Historienbild und der Kleidung in der Kunst. In: Kleider machen Bilder. Vormoderne Strategien vestimentärer Bildsprache, hg. v. David Ganz und Marius Rimmele, Emsdetten/Berlin 2012 (Textile Studies, 4), S. 117-138.
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trägt.23 Aus der Froschperspektive deutlich sichtbar ist aber auch die vollkommen unantike Pluderhose unter dem antiken Waffenrock, die in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts den Hüft- und Schambereich des Männerkörpers kleidete und »Heerpauke« genannt wurde.
Abbildung 8: Leone Leoni: Standbild des Ferrante Gonzaga, 1588, Guastalla Aufnahme des Verfassers
Schlüters dezente Kleiderkombination von Antike und Gegenwart hatte in den italienischen Standbildern bereits ihre Vorläufer. In der Gattung der Portraitbüste jedoch ist sein unauffälliger Verweis auf die Antike allein durch die Schulterriemen des Chitons ein Novum. Er ist die sensible Reaktion auf ein damals viel beachtetes Dekorumsproblem, dem im Vergleich dazu in Frankreich anders begegnet wurde. In Paris wechselten die Büsten des Sonnenkönigs seit Berninis Besuch 1665 unentschlossen zwischen antiker und zeitgenössischer Rüstung, ohne sich an der Kompositkleidung zu versuchen. Die Querelle des Anciens et des Modernes hatte Frankreich in Fragen der königlichen Portraitgestaltung noch zu keiner dogmatischen Antwort geführt.24 Am Vorabend des Kostümstreits bahnte sich in Paris bereits die Auseinandersetzung darüber an, ob ein Monarch im 23 | Zu den Eckdaten der Statuengruppe vgl. Poeschke, Joachim: Skulptur der Renaissance, Bd. 2: Michelangelo und seine Zeit, München 1992, S. 228. 24 | Zitzlsperger 2012 (wie Anm. 22), S. 133.
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Portrait zeitlos-antik oder zeitgenössisch zu kleiden sei, ob er also mit dem römischen Kaisertum verglichen werden oder als autonomer Held seiner eigenen Zeit auftreten sollte. Die Fragestellung war, ob die französische Kultur, zu der Kunststil und Mode ebenso zählten wie die Sprache, der römisch-antiken überlegen sei. Im Kern ging es um den Widerstreit von anthropologischem Pessimismus und geschichtlichem Fortschrittsglauben, sah doch letzterer die Antike durch die Moderne überflügelt.25 Später vermochte diese Debatte über die Herrscherrepräsentation in der Zeit der Aufklärung die Kunstakademien in zwei Lager zu spalten und die Auftragskünstler zu verunsichern. Umso mehr drängt sich die Frage auf, was Schlüter mit seinem Hybridharnisch an einer Herrscherbüste bezwecken wollte. Wenn eingangs darauf hingewiesen wurde, dass sowohl dem Dyck-Hollar-Beispiel als auch dem Schlüterbeispiel entsprechende ›Vortexte‹ fehlen, die die Sprache der Kleidung ›lesbar‹ machen könnten, so muss einschränkend festgestellt werden, dass die Querelle des Anciens et des Modernes für das Schlüterbesipiel immerhin ein Dispositiv bieten, das auf die Problematik geschichtlicher Vorbildhaftigkeit verweist. Konkret auf die angesprochene Hybridkleidung im Bild bezogen sind die vestimentären Zeichen antiker bzw. zeitgenössischer Rüstung eindeutige Verweise auf Vergangenheit und Gegenwart, wenngleich ihre verstörende Kombination in zeitgenössischen Texten keine Erklärung findet. Um eine Erklärung zu suchen, können hier nur Andeutungen auf das frühneuzeitliche Geschichtsverständnis gemacht werden. Die historiographische Einschätzung von Geschichte und Gegenwart war im 17. Jahrhundert einem eklatanten Wandel unterworfen, der die Historizität des Herrschers und seiner Darstellung offensichtlich prägte. In diesen geistesgeschichtlichen Umbruch fallen die beschriebenen vestimentären Besonderheiten der Personaldenkmäler und Schlüters Portraitbüste, die weder als Ausdruck eines Modewandels noch als gesteigerte Antikenrezeption im Dienste der Herrscherpanegyrik zu verstehen sind. Denn außerhalb der Portraitgattung sind die Hinweise in der Kunstgeschichte – vor allem im Historienbild – zahlreich, dass das Nebeneinander von antiker und zeitgenössischer Gewandung im Bild Aufschluss über das Geschichtsverständnis in der Entstehungszeit des Kunstwerkes gibt.26 Vor dem Hintergrund eines sich wandelnden Geschichtsbilds im Verlauf der Frühneuzeit ist davon auszugehen, dass der gleichzeitige Auftritt von antik und zeitgenössisch gekleideten Figuren das zyklische Zeitverständnis in vormodernen Geschichtskonstruktionen meint. In der Historienmalerei ist hierzu bereits 25 | Ebd., S. 133-134. 26 | Grundlegend hierzu Haussherr, Reiner: Convenevolezza. Historische Angemessenheit in der Darstellung von Kostüm und Schauplatz seit der Spätantike bis ins 16. Jahrhundert. (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Geistes- und Sozialwissenschaftliche Klasse, 4), Mainz/Wiesbaden 1984; vgl. auch weiterführend Zitzlsperger 2012 (wie Anm. 22), S. 128-129.
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seit dem Spätmittelalter experimentiert worden, wenn etwa bei Kreuzigungsdarstellungen römische Legionäre neben zeitgenössischen Rittern auf dem Kalvarienberg zur Aufstellung kamen.27 Dieses Experimentierfeld war der Humus, aus dem die Entwicklung der Kostümierung des skulpturalen Portraits erwuchs, die für Schlüters Landgrafenbüste fundamental ist. Die Standfigur Ferrante Gonzagas in Guastalla in antiker Rüstung und zeitgenössischer »Heerpauke« ist förmlich die Personifizierung zyklischer Wiederkehr eines ehemals goldenen Zeitalters der römischen Antike. Ähnlich ließe sich auch Donatellos 130 Jahre früher entstandene Reiterstatue des Gattamelata deuten, die als Unikat das zyklische Geschichtsbild durch sein eigenwilliges Kostümargument vorwegnimmt, um der historischen Bedeutung des Dargestellten Ausdruck zu verleihen. Schlüters Landgrafenbüste rekurriert auf den italienischen Kompromiss, dessen Dekorum die Kombination von vestimentärer Antike und Gegenwart ist. Schlüters leise Akzentsetzung allein durch die antikisierenden Schulterriemen und das mittige Medusenhauptrelief ist in ihrer optischen Zurückhaltung wie ein lauter Schrei der Idealisierung, die den Landgrafen zu einer unsterblichen Geschichtsfigur gerinnen lässt, die zwischen Antike und Gegenwart oszilliert. Die Kostümargumentation im Bild kann eine Schlüsselfunktion übernehmen hinsichtlich der hier problematisierten Fragestellung, die das symbolische Eigenleben der Kleidung im Bild ausgerichtet ist. Sie bietet einer bildwissenschaftlichen Kulturgeschichte den methodischen Ansatz, die Kleidung über funktionalistische Erklärungsmuster zwischen repräsentativer Einheit und Eigenheit hinaus als dynamische Kraft gesellschaftlicher Selbstwahrnehmung zu verstehen. Modetheorien und Modegeschichtsschreibung der letzten beiden Jahrhunderte trugen dazu bei, die Bedeutung der Kleidung zeichentheoretisch zu verengen und damit ihren symbolischen und eben dynamischen Bedeutungsüberschuss zu verunklären. Generell wird Kleidung als Objekt verschiedener Distinktionsstrategien (trickle-down, trickle-up, trickle-across etc.) für die Bildung gesellschaftlicher Gruppen gesehen. Dabei wird leicht übersehen, dass sich Kleidung im Differenzierungsprozess mit zum Teil diffusen Bedeutungsinhalten auflädt, die durch die Macht der Gewohnheit dem Unterbewusstsein angehören und insbesondere in der Frühneuzeit in keinem Diskurs auftauchen. Erst Ende des 18. Jahrhunderts bricht in den großen Akademien der bereits erwähnte Kostümstreit aus, der sich mit der Dichotomie von Idealität und Authentizität der Gewandung im Historien-, Ereignisbild und Denkmal auseinandersetzte. Eine Generation später dann beklagte der Engländer Thomas Carlyle als erster die unreflektierte Macht der Kleider in seinem geistreichen Sartor Resartus (1833-1834) und versuchte mit diesem »Esprit des Costumes« erstmals eine »Philosophie der Kleider« vorzulegen. Carlyle plädiert für die Tiefenanlyse der Kleidung, die nicht allein als zweite Haut,
27 | Vgl. hierzu ebd., S. 127-130.
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Schmuck und Distinktionsmittel, sondern vielmehr als vielschichtige Kleidermetapher und Symbolik einer sich stets wandelnden Gesellschaft zu verstehen ist.28 Die bisweilen änigmatische Semantik der Kleidung ist alles andere als eine dekorative Oberflächenerscheinung. Kleidung ist Kommunikationsmedium, dessen Wurzeln bis in die Evolution der Tierwelt im Sinne Darwins Theorie von der »selection of beauty« reichen.29 Im Zeitalter des vormodernen Zivilisationsprozesses liefern die Schriftquellen Belege für den Insigniencharakter der Kleidung – nicht mehr. Den eigentlichen Bedeutungsüberschuss der Gewandung, der über jede Zeichenhaftigkeit hinausgeht, liefern die Bilder. Sie sind nur von Textfixierungen zu befreien. Im Zentrum des Interesses steht jene Typengeschichte, die von Erwin Panofsky in seinen früheren Äußerungen zur Ikonologie noch als »objektives Korrektiv« zur Textquelle gesehen wurde. Nie hat er sich diesbezüglich deutlicher ausgedrückt, als in seinem Vortrag vor der Kieler Kantgesellschaft 1931.30 Demnach ist erst die Bild- und Typengeschichte ein Garant dafür, ob die für die Bildinterpretation herangezogenen literarischen Quellen tragen und zuverlässig sind. Texte mögen Sujets thematisieren, die ähnlich im Bild zur Darstellung kommen. Texte können jedoch auch, wenn sie als Fundament der Bildbedeutung betrachtet werden, zu Missverständnissen und Fehldeutungen führen. Die Typengeschichte ergänzt textbasierte Studien um den Bereich, der visuell den vestimentären Symbolhaushalt verschiedener Epochen kommentiert. Erst in seiner bildgeschichtlichen Verwurzelung erschließt sich die Semantik von Kleidung und Mode. Dieser wichtige methodische Zusammenhang ist der Geisteswissenschaft nie deutlicher geworden als im berühmten Gelehrtenstreit zwischen Heidegger, Meyer Schapiro und Derrida um Van Goghs »Schuhe« (1887). Indem die drei Kontrahenten Künstlertopoi bzw. schriftliche Quellen aus dem Künstlerumfeld ins Argument führten, vernachlässigten sie die kontextualisierte Bildgeschichte und verfehlten die Bildsemantik von Van Goghs »Schuhen«. In diesem Fall führte der Ausschluss der Bildgeschichte, die auch über die Grenzen der Kunst hinaus zu berücksichtigen wäre, zu folgenreichen Fehldeutungen.31 Die Bedeutungsmetamorphose vom Kleideralltag zum Kleiderbild ist ein Bildpotenzial, das den Prozess einer semantischen Anverwandlung der zweiten Haut im Bild beschreibt und sich in der Kostümargumentation manifestiert. Das Potenzial des Bildes liegt dabei nicht in seiner vermeintlichen ›Lesbarkeit‹, son28 | Carlyle, Thomas: Sartor Resartus, London 1833/34, hier bes. Buch III, Kp. 3 die Ausführungen zu den Symbolen. 29 | Menninghaus, Winfried: Das Versprechen der Schönheit, Frankfurt a.M. 2003; Bredekamp, Horst: Theorie des Bildakts, Berlin 2010, S. 311-316. 30 | Panofsky, Erwin: Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst (1932). In: Erwin Panofsky: Deutschsprachige Aufsätze, hg. v. Karen Michels u. Martin Warnke, 2 Bde., Berlin 1998, S. 1064-1077. 31 | Vgl. Gockel, Bettina: Van Goghs Schuhe. Zum Streit zwischen Heidegger und Meyer Schapiro. In: »Fremde Dinge« – Zeitschrift für Kulturwissenschaft, 2007/1, S. 83-94.
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dern in der Auseinandersetzung mit dargestellter Kleidung, deren hier thematisierte ›Unwirklichkeit‹ nur die Spitze eines Eisbergs bezeichnet – eines Eisbergs, der metaphorisch für jene Sinnschichten steht, die über textbasierte Lesbarkeit hinaus gehen. Frühneuzeitliche Luxusgesetze und Zeremonialordnungen beleuchten lediglich einen beengten Ausschnitt. Die sprachliche Reflexion der Kleidermetaphern bleibt dabei aus. Sie findet in der bildlichen Verarbeitung statt, die einer Philosophie der Kleidung weit vorausgreift und ihr später den Weg weist.
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Mode ist an sich kein Medium. Sie zeigt sich in vielen unterschiedlichsten Medien und wird vielmehr nur durch die jeweilige Wahrnehmung ihrer spezifischen Medialisierungsweisen erfahrbar. So kann beispielsweise eine Hose als Kleidungsstück getragen und als solches gefühlt und gesehen werden. Dieselbe Hose kann allerdings auch als Teil eines Kostüms in einem Theaterstück oder Film verwendet werden, oder sie wird fotografisch und verbal im Rahmen einer Modestrecke präsentiert. Vielleicht wird sie aber auch nur scheinbar nebenbei in einem Roman erwähnt, und in einem Modeblog findet sich ihre detaillierte Beschreibung samt Abbildung eines möglichen Inszenierungsvorschlags für den Alltag. Oder die Art und Weise, wie sie aktuell zu tragen ist, wird in einem Hip-Hop-Song besungen … vieles ist denkbar. Alles sind spezifische Medialisierungsweisen einer bestimmten Hose, die gerade in Mode ist. Sprechen wir also über Mode, so meinen wir immer schon die diversen medialen Erscheinungsformen eines modischen Phänomens. Es ist deshalb für eine modewissenschaftliche Analyse solcher Phänomene unumgänglich, sowohl von einen dem Medialen übergeordneten Modebegriff auszugehen, als auch die Konstitution der Mode, unabhängig von einem bestimmten Medium, im handelnden Umgang mit diversen Medien zu verorten: Mode ist ein transmediales Phänomen, das sich im Modehandeln konstituiert. Im Folgenden soll nun erläutert werden, wie die Transmedialität der Mode zu verstehen ist, und wie sie sich medientheoretisch herleiten lässt. Nach der theoretischen Verortung des hier zugrunde gelegten Medienbegriffs, und der damit verbundenen Erläuterung der grundlegenden Performativität des Medialen, wird Mode als Transmedium zwischen den unterschiedlichsten Medien erkennbar. Und dass dieses Erscheinen der Mode immer vom Wahrnehmenden selbst abhängig und auch gestaltbar ist, zeigt sich im Umgang des Menschen mit den Medien der Mode. Modetheoretisch ist dies anhand des Konzepts Modehandeln zu veranschaulichen.
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1. M ODE IST KEIN M EDIUM Es ist allgemein üblich von Mode als einem Medium zu sprechen, das ist allerdings sehr ungenau. In den allermeisten Fällen ist dann eigentlich die Rede von Modekleidung, also von den Kleidungsstücken an sich als Vermittler bestimmter Inhalte. Beim genaueren Betrachten handelt es sich aber oft nicht einmal um das Kleidungsstück selbst, sondern bereits um seine unterschiedlichsten Medialisierungen, wie bspw. Beschreibungen und Abbildungen dieses ursprünglich meist textilen Objekts. Jede dieser Vermittlungsformen hat ihre spezifische Medialität, und somit eine jeweils ganz eigene Form der Bedeutungsgenerierung. Will man nun Mode an sich genauer fassen, muss man das Spezifische des zu untersuchenden Mediums, in dem sich Mode zeigt, kenntlich machen. Ist bereits das Sprechen über Kleidung eine erste Form der Übertragung in das Medium Sprache, so ist z.B. die Verbindung von Text und Bild in der Modestrecke eine intermediale Kombination, die erst in der Wechselwirkung ihrer Medien einen bestimmten Sinn erzeugt. Noch schwieriger wird es, wenn man bedenkt, dass es beispielsweise auch Mode sein kann, auf eine bestimmte Art zu laufen oder ein besonderes Fahrrad zu fahren. Mode beschränkt sich bei weitem nicht auf textile Objekte, an sich ist sie vielmehr als eine spezifische Art der medialen Strukturierung und materialen Beschaffenheit denkbar. Es ist demnach für die Modewissenschaft unabdingbar, einen weit gefassten Medienbegriff zur Verfügung zu haben, der auf alle möglichen Medien der Mode anwendbar ist, und dessen Konzeptualisierung auch deutlich macht, warum Mode an sich kein Medium sein kann.
a. Was ist ein Medium? Die allgemein zugrunde gelegte Funktion von Medien ist die Vermittlung, Übertragung und Austragung von Inhalten. Diese Inhalte sind niemals unabhängig von der sie jeweils aktualisierenden medialen Form wahrnehmbar, sie sind vielmehr auch von dem sie vermittelnden, übertragenden, austragenden jeweils spezifischen Medium geprägt. Konkret heißt das beispielsweise, dass ein Pullover seine Plastizität und materialen Eigenschaften bei der Übertragung in das Medium Fotografie zwar verliert, diese aber durch die sprachliche Nennung in der Bildunterschrift wieder hinzugefügt werden können. Gleichzeitig kann der fotografierte Pullover durch die Inszenierung im Bild etwas hinzugewinnen, z.B. eine besondere Akzentuierung seiner gestrickten Struktur durch eine gezielte Ausleuchtung bei der Aufnahme. In jedem Fall aber kann der Pullover oder seine Abbildung Mode sein (oder auch nicht), denn das was Mode ist, ist nicht an ein bestimmtes Medium gebunden, sondern zeigt sich im Rahmen der Wahrnehmung ihrer jeweiligen Medialisierung. Jedem Medium ist demnach etwas zu Eigen, das einen zusätzlichen, ganz eigenen Sinn stiftet, das auf der strukturalen und materialen Eigenart des jeweiligen Mediums beruht und das Mode erfahrbar machen kann.
ModeMedien – Transmedialität und Modehandeln
Ein weiteres wichtiges Kriterium bei der Betrachtung der medialen Eigenarten der Mode ist die zunächst banale Feststellung, dass ein Medium immer die Mitte bildet. Es lässt sich immer zwischen etwas verorten und verbindet mindestens zwei Seiten: Sender/Empfänger, Produktion/Rezeption. Das Medium selbst ist nur Mittler aufgrund der spezifischen Intention beider Seiten. Diese Intentionalität ist dem Medium selbst nicht inhärent, sondern wird ihm im Produktions- oder Rezeptionsprozess hinzugefügt und muss immer wieder aktualisiert werden. Anders ausgedrückt heißt das: Ein Medium ist nur dann ein Medium, wenn es auch als solches gebraucht wird.
b. Die Funktion von Medien: Apparat, Maschine und Klischee Um das jeweils Eigene der Medien modetheoretisch fassbar zu machen, haben sich die Medienkonzepte von Sybille Krämer (Apparat), Hartmut Winkler (Maschine) und Marshall McLuhan (Klischee) als zielführend erwiesen. Diese Konzeptionalisierungen des Medialen sind technologisch motiviert, das heißt, dass sie Medien hinsichtlich ihrer technischen Vermittlungsfunktion betrachten, und hierin vor allem die Fähigkeiten des Menschen in der Entwicklung und Handhabung jener Techniken und die damit verbundene Bedeutungsübertragung und -generierung in den Vordergrund stellen. Ein technologischer Medienbegriff ist demnach einer, der sich auf das wissenschaftliche Erkunden der Kunstfertigkeit des Vermittelns von Inhalten anhand spezifischer Materialien und Formen fokussiert. Medien als Apparate zu denken, heißt sie im Sinne Krämers als Wahrnehmungs- und Denkweisen determinierende Technologien anzunehmen. Sie prägen damit die Prozesse der Sinnkonstitution im Rahmen der menschlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten. Ihre jeweils spezifische »Eigensinnigkeit«1 evoziert so immer auch eine bestimmte Sinnhaftigkeit der übertragenen Inhalte. Für die Betrachtung der Mode heißt das, dass z.B. die in einer Modezeitschrift in der üblichen Form dargestellten Kleidungsstücke immer auch noch etwas anderes bedeuten als das eigentliche Objekt selbst. Die Eigensinnigkeit der Medien bedingt eine dem vermittelten Inhalt hinzugefügte spezifische Wahrnehmungsqualität, die immer mitschwingt. Die Bedeutungsdimension des Medialisierten erscheint uns davon nicht mehr unberührt, sondern vielmehr strukturell modifiziert, sobald wir unsere Aufmerksamkeit auf dieses Supplement richten. Nur gelingt uns das im Rahmen der bedeutungs- und vermittlungsorientierte medialen Wahrnehmung nicht unbedingt, weil Medien funktional darauf ausgerichtet sind Unmittelbarkeit zu evozieren und ihre eigene Materialität und strukturelle Bedingtheit auszublenden. Da Mode sich, so die Grundannahme meiner Forschungen, genau in diesem Zusätzlichen, diesem Mitschwingenden, eigentlich Rand1 | Krämer, Sybille (1998) Das Medium als Spur und als Apparat. In: Dies.: Medien, Computer, Realität, Frankfurt a.M., S. 76.
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ständigen des medialen Wahrnehmungsprozesses ereignet, bleibt im Folgenden die Frage zu klären, wie sie sinnlich erfasst und kenntlich gemacht werden kann. Der Akt der medialen Übertragung, in dem sich das »Eigengewicht«2 des Mediums zeigt, während es gleichzeitig hinter dem zu Vermittelnden zurücktritt, ist für Winkler die Artikulation des Mediums als Maschine. In diesen medialen Artikulationen prägen sich Strukturen aus, die, indem sie Inhalte vermitteln, einen eigenen Sinn bilden. Für Winkler sind Medien deshalb als »Maschinen einer übergreifenden Strukturbildung« anzusehen.3 Soll diese Art und Weise der Strukturbildung aufgezeigt, oder das Medium selbst hinter der Herstellung von Unmittelbarkeit wieder sichtbar gemacht werden, bedarf es immer anderer Medien. Außerhalb der Medien lässt sich nichts ausdrücken, auch nicht das Mediale an sich. So ist die medientheoretische Reflexion des Medialen immer schon an sich ein Zirkelschluss, und es bleibt nur der Versuch der Sichtbarmachung des Erkannten. Ähnlich verhält es sich mit dem Phänomen der Mode. Sie ist nur mit Kenntnis des Modischen 4 analysierbar und außerhalb ihres spezifischen medialen Systems nicht kenntlich zu machen. Sie ist in und zwischen den Medien wahrnehmbar und ohne Medien undenkbar. Deshalb kann auch Mode nur medial als Struktur kenntlich gemacht werden, die sich so oder ähnlich innerhalb des Wahrnehmungsprozesses von vermittelten modischen Inhalten zeigt. Die Medien der Mode und das spezifisch Mediale der Mode lassen sich immer nur medial darstellen. Ist auch ein Außerhalb des Medialen nicht denkbar, so scheinen im Rahmen solcher Überlegungen doch so etwas wie die Grenzen des Medialen erkennbar zu werden. Marshall McLuhan hat sich in seinen frühen Arbeiten zum Medium diesen Grenzen insofern angenähert, als dass er in einer für sein Werk typischen Metaphorisierung vom Potentials des Medialen als einem »Misthaufen«5 der technologischen Kultur spricht. Für ihn heißt das, dass bei jeder Medialisierung von möglichen Inhalten immer schon das gesamte kulturelle Reservoir des möglichen Bedeutungsvollen mitklingt. Es muss demnach als Nebeneffekt jeder medialen Vermittlung sinnlich aufzuspüren sein. Bei McLuhan sind es die Klischees, die als immer neue Aktualisierungen des symbolischen Potentials unserer Kultur Archetypen hervorbringen, die uns als Vermittler dienen. Er geht bei der Vorstellung dieses Klischees davon aus, dass es ein dem eigentlichen Medium vorgelagertes strukturbildendes Moment im Medialisierungsprozess gibt, das auf dem gesamten kulturellen und technologischen Potential einer Gesellschaft be2 | Winkler, Hartmut: Mediendefinition. In: Medienwissenschaft. Heft 1, Jg. 4, 2004, S. 924, Abs. 4.5. 3 | Ebd., Abs. 6.10. 4 | Vgl. Schwarz, Udo H. A.: Das Modische. Zur Struktur sozialen Wandels der Moderne, Berlin 1982. 5 | McLuhan, Marshall: Vom Klischee zum Archetyp, in: Baltes, Martin u.a. (Hg.): Medien verstehen: Der McLuhan-Reader, Mannheim 1997, S. 200.
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ruht und dieses immer nur partiell aktualisiert. So wie in der Drucktechnik das Klischee eine Druckform ist, die den Inhalt schon zur Aktualisierung bereit hält, aber noch nicht das eigentliche lesbare und funktionale Medium, wie z.B. Zeitung oder Buch, ist. Übertragen auf die Mode heißt das, dass es durchaus etwas dem jeweiligen Medium an sich Vorgelagertes gibt, das Mode ausmacht. Und ähnlich jenes Misthaufens lässt sich so etwas wie ein immer wieder neu zu aktualisierendes Arsenal der Mode annehmen, das als Strukturteilchenfundus immer wieder neue Formensprachen und Bedeutungsstrukturen der Mode ermöglicht, und das bei jeder Aktualisierung irgendwie mitschwingt. Es ist demnach zu klären, ob und wie dieser ›Misthaufen‹ Mode im Wahrnehmungsprozess seiner jeweiligen partiellen Aktualisierungen aufzeigbar ist. Dieses metaphorische Bild bietet zwar keinen umfassenden analytischen Ansatzpunkt, kann aber für das Folgende eine gedankliche Stütze der sonst so abstrakten Vorstellung von Mode an sich sein. Die Annahme ist nun, dass gerade dieser strukturelle Eigensinn des Medialen, seine jeweilige Artikulation und Aktualisierung der Ort ist, an dem sich die Mode an sich finden und aufsuchen lässt. Sie hat sich das jeweils Spezifische der einzelnen Medien zu Eigen gemacht und nutzt die Erzeugung von Unmittelbarkeit des Medialen, um sich in den gegebenen Strukturen einzunisten. Unter dem Deckmantel der scheinbar bedingungslosen medialen Vermittlung von Kleidung, allen denkbaren Objekten und Lebensstilen konstituiert sich Mode im Medialisierungsprozess selbst immer wieder neu, und zwar indem sie aus dem Vollen, nämlich einem bewährten, sich ständig erweiternden Formen-, Strukturen- und Materialienfundus schöpft. Alles, was Mode sein kann, wird erst im medialen Vermittlungs- und Wahrnehmungsprozess zu Mode.
c. Medien als Konstituenten: Bote und Spur Medien sind zwar in erster Linie als Vermittler von Inhalten zu begreifen, geben bei genauem Hinschauen aber eine zweite Ebene preis, die sie im Funktionieren zu verdrängen suchen. Oder anders formuliert: Bei der Mediennutzung tritt das Medium hinter seinem zu vermittelnden Inhalt zurück. Dabei wird allzu häufig übersehen, dass Medien ihre Inhalte nicht nur übertragen, sondern auch austragen. Das heißt, dass diese sich in einer bestimmten Form erst im Vermittlungsprozess ereignen. Medien produzieren demnach ihre Inhalte in gewisser Weise mit. Indem sie die Bedingungen der sinnlichen Wahrnehmbarkeit ihrer zu vermittelnden Inhalte vorgeben, konstituieren sie gleichzeitig eine bestimmte Sinnhaftigkeit der zu übertragenen Strukturen. Sybille Krämer nähert sich dieser Konstitutionsleistung des Medialen unter Zuhilfenahme der Konzepte des Boten und der Spur an. Fokussiert man demnach beim Beobachten eines medialen Übertragungsprozess den intentionalen Boten, so tritt das Medium hinter seiner Vermittlungsfunktion zurück und die Inhalte stehen im Vordergrund der Wahrnehmung. Gleichzeitig wird dieses Funktionieren aber von etwas durchkreuzt, das so nicht intendiert scheint. Es ist die Spur
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des Mediums, sein unfreiwilliger Bote, der ebenfalls etwas überträgt, nämlich seine spezifische Materialität und Strukturalität innerhalb derer das Vermitteln von Inhalten überhaupt möglich ist. Durch seine Spur wird das Medium somit einerseits als Vermittlungsinstanz in seiner spezifischen Funktionalität erfahrbar, anderseits verweist die Spur indirekt auch auf die spezifischen Grenzen des jeweiligen Mediums, indem sie auf sein gesamtes mediales Potential verweist. Betrachten wir nun die Spur eines Medium, die sich innerhalb der Vermittlung zeigt, stoßen wir auch auf die Grenzen des medial Vermittelbaren und evozieren so im Wahrnehmungsprozess eine gewisse Skepsis gegenüber dem Vermittelten. Diese Skepsis lässt das Medium nicht mehr nur in seiner Funktionalität, sondern nun vor allem auch in seiner Materialität und Strukturalität deutlicher hervortreten. Das heißt, dass wir zusätzlich zum Vermittelten wahrnehmen, dass und wie es vermittelt ist. Bote und Spur verweisen zwar auf die zwei Seiten des medialen Vermittlungsprozesses und bilden so die verbindende Mitte zwischen ProduzentInnen und RezipientInnen, sie tun dies aber grundverschieden: Der Bote verweist auf die Intentionalität des Mediums, und die Spur zeigt die strukturalen, formalen und materialen Bedingungen dieser Intentionalität auf. Das jeweils Eigene des Mediums tritt damit stärker in den Vordergrund und macht somit seine spezifische mediale Verfasstheit und seine jeweils spezifische Konstitutionsleistung leichter identifizierbar. Krämer spricht in diesem Zusammenhang auch von »›Verkörperung‹ als eine[r] kulturstiftende[n] Tätigkeit, die es erlaubt, ›Übertragung‹ als ›Konstitution‹ auszuweisen und zu begreifen.«6 Mit Blick auf das weite Feld der ModeMedien, den Medialisierungen der Mode, stellt sich konkret die Frage nach den jeweils spezifischen Konstitutionsqualitäten und -leistungen des jeweiligen Mediums. Es ist immer im Einzelnen zu untersuchen wie z.B. die Zeitschrift »Brigitte«, ein Blog wie »Stil in Berlin« oder ein Film wie »Tomboy« Mode verkörpert. Dass in allen drei Bespielen Kleidung ein wichtiges Thema ist, ist bekannt, wie sich aber das Modische der dargestellten Kleidung im medialen Übertragungsprozess konstituiert, ist eine Frage, die sich nur mit Blick auf die jeweils spezifischen Austragungsmuster, Strukturen und Materialitäten des Mediums beantworten lässt. So ist bei einer Zeitschrift insbesondere das Zusammenspiel von Text und Bild, ihre spezifische Ikonotextualität, für die Konstitution von Mode verantwortlich. Ähnliches gilt auch für den Modeblog, wobei sich hier ganz andere Strukturen der Zusammenstellung von Bild und Text etabliert haben, und das bewegte Bild, wie auch der Ton hinzukommen. Für den Film eröffnet sich eine wiederum ganz andere intermediale Relationalität, nehmen doch hier das bewegte Bild und das gesprochene Wort den größten Raum ein. Zudem handelt es sich bei diesen vereinzelten Beispielen ganz offensichtlich auch immer um Medialisierungen von Medialisierungen, d.h. es wurden 6 | Krämer, Sybille: Erfüllen Medien eine Konstitutionsleistung? Thesen über die Rolle medientheoretischer Erwägungen beim Philosophieren, in: Münker, Stefan u.a. (Hg.): Medienphilosophie, Frankfurt a.M. 2003, S. 85.
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bestimmte ModeMedien erneut in andere Medien übertragen. Bei diesen Übertragungen kommt es zu wiederholten Verschiebungen und Transformationen auch der inhaltlichen Ebenen. Die Modedarstellungen, ganz gleich ob nun verbaler oder bildlicher Art, verschieben und verändern sich mit jeder weiteren Medialisierung. Und das belegt abermals, dass Mode per se sich nicht lediglich als medialisierte Kleidungsstücke, Objekte oder Lebensstile identifizieren lässt, wie z.B. als Modestrecke, als In & Out-Auflistung im Modeblog, als Look-Book einer Designerin, oder anhand der auf dem Laufsteg präsentierten Kollektionen. Denn das beträfe immer nur den intentionalen Boten des Mediums, seine inhaltliche Struktur, Form und Funktion. Dann wäre Mode ein rein auktorialer Akt, sie wäre die bloße Modebehauptung einer gesellschaftlich und kulturell autorisierten Instanz. Es sind vielmehr die medialen Übertragungen zwischen den ModeMedien, die Mode konstituieren. Bei der Frage danach, wie sich die Mode in den Medien zeigt, finden sich deshalb in genau diesen strukturalen, formalen und materialen Verschiebungen die Antworten darauf, was Mode eigentlich ist. In der Produktion und Rezeption ihres permanenten Wechselspiels eröffnet sich der Mode ein weites Feld. Mode ereignet sich in und zwischen ihren Medien im immer wieder sich aktualisierenden Wahrnehmungs- und Konstitutionsprozess des Medialen. Die Potentiale der Mode liegen in den sie verkörpernden Medien und deren jeweils spezifischen Potenzialen. Das heißt, will man die Mode an sich versuchen zu erfassen, so nähert man sich ihr am besten durch die vergleichende Analyse all ihrer Medien, um letztlich herauszustellen, worin die strukturalen, materialen und formalen Übereinstimmungen liegen: eine unüberschaubare, nicht zu bewältigende Aufgabe für ein zeitlich begrenztes, sich immer im Wandel befindendes, ephemeres Phänomen wie das der Mode. – Oder aber man schaut sich um nach Brüchen, gescheiterten Vermittlungsversuchen und nach Störungen des medialen Prozesses, denn gerade das Scheitern der medialen Übertragung von Mode liefert potentiell wichtige Indizien für ihre spezifische Konstitution.
2. M EDIALITÄTEN DER M ODE Die Medialität eines Mediums lässt sich als seine Qualität, übertragend Sinn zu konstituieren, auffassen. Es sind die spezifischen Strukturalitäten und Materialitäten der Medien, ihr Eigensinn und ihr Eigengewicht, die das Erscheinen der Mode ermöglichen. Da die Konstitution der Mode demnach von den sie austragenden Medien abhängig sind, soll nun aufgezeigt werden, wie dieser Prozess der sinnlichen Erzeugung von Mode analytisch aufgespürt werden kann. Hierzu werden im Folgenden kurz die Konzepte des Rauschens von Dieter Mersch7 und 7 | Vgl. Mersch, Dieter: Medialität und Undarstellbarkeit. Einleitung in eine ›negative‹ Medientheorie. In: Krämer, Sybille (Hg.): Performativität und Medialität, München 2004, S. 83ff.
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Roland Barthes8, das Changieren von Ludwig Jäger9 und das Atmosphärische von Gernot Böhme10 eingeführt, um mit diesem Vokabular die Mode an sich ein wenig beschreibbarer zu machen.
a. Rauschen: Störung und Transparenz Da das reibungslose Funktionieren der medialen Übertragung und Sinnkonstitution, die Fokussierung auf den vermittelten Inhalt für Mersch zur Kenntlichmachung des Medialen dabei nicht sehr zielführend ist, sieht er im partiellen Scheitern der medialen Vermittlung und seinem Störungsgeräusch, dem Rauschen, einen Hinweis auf das Mediale an sich. Das Rauschen steht somit für das sinnlich Wahrnehmbare der Materialität eines Mediums, sobald es in seiner Funktionalität eingeschränkt ist. Ein Beispiel für einen solchen Bruch des materialen Funktionierens, ein so genanntes mediales looking-at kann das Geräusch des Umblättern beim Anschauen und Lesen einer Zeitschrift, insbesondere dem Teil der Modestrecke sein, das einen dann aus dem medialen Wahrnehmungsfluss für einen Moment herauskatapultiert. Handelt es sich beispielsweise um die fotografische Darstellung eines voluminösen Seidentaftkleides, und wird in der Bildinschrift zusätzlich auf das Rascheln der Seide, den Seidenschrei hingewiesen, befinde ich mich quasi selbst auf dem rauschenden Fest, wirft mich das papierne Rascheln beim Umblättern der bedruckten Seite des Hochganzmagazins auf das Medium selbst zurück. Zurückgeworfen in die reale Rezeptionssituation wird sehr schnell deutlich, dass es bei der Modestrecke lediglich um die Illusion einer cinderellahaften Erscheinung ging, dass beim Rezeptionsprozess ein Sich-Hineinbegeben in die dargestellte, dargebotene Erfahrungswelt stattfindet, und dass genau an dieser Stelle, in diesem Moment Mode stattfindet. Gleichzeitig wird aber auch deutlich, dass neben dem Ziel der Illusionserzeugung bei einer Modestrecke eine weitere Schlussfolgerung naheliegt: Trage dieses Kleid und du bist in Mode. Heißt: Kaufe dir diese Illusion, damit du modisch adäquat gekleidet dem Bild der modernen und doch glamourösen Frau in rauschender Partylaune entsprichst. Letztlich zielt die mediale Illusionserzeugung der Mode in Modestrecken also immer auf eine dezidiert konsumistische Aneignung. Während der Bruch des Medialen, durch die Wahrnehmung des Rauschens als Störung der Medialität, die Chance auf kritische Reflexion derselben ermöglichen kann. Festzuhalten gilt, dass das was Mode ausmacht, gerade durch den Bruch mit der Inhaltsebene greif barer erscheint: einerseits das pompöses Abendkleid aus Seidentaft als solches, anderseits seine dargebotene Käuflichkeit. Beides zusammen 8 | Vgl. Barthes, Roland: Das Rauschen der Sprache (1975). In: Ders: Das Rauschen der Sprache, Frankfurt a.M. 2006, S. 89ff. 9 | Vgl. Jäger, Ludwig: Störung und Transparenz. Skizze zur performativen Logik des Medialen. In: Krämer, S. (Hg.): Performativität und Medialität, München 2004, S. 61ff. 10 | Vgl. Böhme, Gernot: Anmutungen. Über das Atmosphärische, Ostfildern 1998.
ModeMedien – Transmedialität und Modehandeln
ermöglicht dann die modische Ausgestaltung eines spezifischen, nämlich zeitgemäßen Selbstbildes. Bei Roland Barthes hingegen ist das Rauschen vielmehr ein Zeichen für das reibungslose Funktionieren der Vermittlung von Inhalten und für die affektive Ausblendung der Tatsache, dass das Wahrgenommene überhaupt medial vermittelt ist. Es steht somit für die Hingabe und das vollkommene Aufgehen im Inhaltlichen, für das scheinbare Verschwinden des Mediums als Vermittlungsinstanz und für das vollkommene Sich-Hineinbegeben in das Erleben des Vermittelten. Die Illusionserzeugung, das looking-through basierend auf der Funktionalität des Materials, fördert somit das In-den-Vordergrund-Treten der inhaltlichen Ebene. Die intensive Haptik des festen Papieres, die hohe fotografische Qualität der Darstellungen und die Poesie der Texte können so stark, d.h. sinnlich so anregend sein, dass das eigentlich Dargestellte einerseits beflügelt wird, andererseits aber auch sehr anfällig für mögliche inhaltliche Unschlüssigkeiten. So wird im Rahmen einer Modestrecke eines Hochglanzmagazins beispielweise die klare, nahezu klingende Glattheit der weiß schimmernden Perlenkette durch die spezifische Materialität des glänzenden Schwarz-Weiß-Abzugs und des festen Papieres greifbarer und unmittelbarer erfahrbar, während sie gleichzeitig durch den in der Bildunterschrift genannten Preis unerreichbar und in ihrer Wirkung berechenbar wird. Auch hier zeigt sich, was Mode sein soll, und was sie ist: sinnliche Erscheinungswelt von Dingen und ihren Medialisierungen auf der einen Seite, konsumier- und (de-)konstruierbares Sinnbild einer modernen Selbsterfindung auf der andern.
b. Changieren Die beiden vorgestellten Konzepte des Rauschens haben trotz ihrer gegensätzlichen Ansätze etwas Wesentliches gemein: Jedes für sich insistiert auf das Moment des Aufmerkens des Medialen, beide versuchen die sinnliche Erfahrung des Medialen im Rezeptionsprozess bewusst werden zu lassen. Mersch spürt es in der Störung und Barthes in der Transparenz des medialen Vermittlungsprozesses auf, beiden ist ein Moment der Bewusstwerdung des Medialen an sich zu Eigen. Nimmt man nun das Theorem des Changierens von Jäger hinzu, so lässt sich das Mediale gerade im Wechselspiel zwischen diesen beiden Seiten des medialen Aufmerkens fest machen, markieren sie doch »zwei Modi der Sichtbarkeit, die sich in der Regel wechselseitig ausschließen: die Sichtbarkeit des Mediums und die des Mediatisierten«11 . Sicherlich ist der jeweilige Prozess einer medialen Sinnkonstitution noch wesentlich komplexer, doch lässt er sich anhand des Bildes einer Verwebung von Vermittelndem und Vermittelten, von Form und Inhalt, von Langue und Parole, von Kette und Schuss zu einem changierenden Stoff sehr gut versinnbildlichen. So wie eine Reihe paralleler blauer Fäden erst durch die sie 11 | Ebd., S. 61.
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verbindenden gelben Fäden zur Kette wird, und diese ihrerseits erst durch jene Verwebung zum Schuss wird, bilden erst beide zusammen einen changierenden Stoff, der selbst grün scheint und doch das Blaue und Gelbe in sich eint. Somit bedingt das Eine das Andere und zusammen haben sie nochmals eine ganz eigene Qualität. Das Mediale an sich zeigt sich demnach nur im Prozess der Wahrnehmung von etwas Medialisiertem, es ist niemals losgelöst von der Materialität des jeweiligen Mediums erfahrbar, und beide zusammen bilden im Vermittlungsverlauf etwas ganz Eigenes, ein Zusätzliches. Übertragen auf die Frage nach einer möglichen Medialität der Mode zeigt sich nun erneut, dass diese jeweils nur innerhalb der sie austragenden Medien zu suchen ist. Und was sich dort finden lässt, ist lediglich ein Gewebe von wechselhaften sinnhaften Wahrnehmungseindrücken, zwischen denen sich die Mode gewissermaßen als eine spezifische Webart oder ein bestimmtes Muster abzeichnen kann. Sie erscheint als eine Art Strukturierung der Übertragung und Vermittlung von Inhalten, die dann als Mode wahrgenommen werden können. Wichtig bleibt zu betonen, dass ein wesentlicher Teil dieses modekonstituierenden Prozesses auf dem Prinzip des bewussten Aufmerkens einer medialen Störung liegt. Mode nistet sich ein zwischen dem looking-at und looking-trough, sie ist das Dazwischenliegende und bietet so einen spezifischen Spielraum der sinnlichen Wahrnehmung. Sie bildet hier Spielregeln gleich ephemerer Muster, die sich ständig erneuern und verflüchtigen, und die nicht an das Material oder die Struktur der Medien selbst gekoppelt sind. Mode ist demnach dem Medialen übergeordnet, strukturiert die sinnliche Wahrnehmung von Medien, wird innerhalb des medialen Wahrnehmungsprozesses konstituiert und bringt so immer wieder etwas Neues hervor.
c. Atmosphärisches Dieser Spielraum als Teil des sinnlichen Wahrnehmungsprozesses, der durch den Wechsel von medialer Störung und Transparenz gebildet wird, ist zwar in den ModeMedien zu finden, jedoch nur innerhalb ihrer spezifischen Rezeption nachvollziehbar. D.h. er ist nur im Prozess einer sinnlichen Wahrnehmung verortbar und durch die spezifische Strukturalität und Materialität des Medium bedingt. Mit Gernot Böhme lässt sich dieser Ort als etwas Atmosphärisches veranschaulichen. In Abgrenzung zu seinem Konzept der Atmosphäre 12 , die im Wesentlichen eine Verbindung zwischen Situation der Rezeption und Rezipient bezeichnet, ist das Atmosphärische im Medialen selbst zu suchen, da es Phänomene bezeichnet, die »bereits eine Tendenz zeigen, Dingcharakter anzunehmen«13 . Es handelt sich also bei dem Atmosphärischen der Mode nicht um all die Anmutungen, die z.B. 12 | Vgl. Böhme, Gernot: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a.M. 1995. 13 | Böhme, Gernot: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München 2001, S. 59.
ModeMedien – Transmedialität und Modehandeln
ein Kleidungsstück, eine Modezeitschrift, ein Defilee bei uns bewirkt, sondern um die Phänomene dieser ModeMedien, die mögliche Atmosphären der Mode erst bedingen. Das Atmosphärische der Mode ist der »Phänomenbereich«14 der ModeMedien, der die spezifische Strukturalität, Materialität und Performativität der Mode aufscheinen lässt. Dieser Phänomenbereich des Atmosphärischen ist in den Medien selbst zu verorten und kann nur im Rahmen der sinnlichen Wahrnehmung des Medialen an sich in Erscheinung treten. Soll dieser Ort genauer umrissen werden, dann ist eine Kenntlichmachung nur innerhalb einer dezidierten, spezifischen Analyse einer wahrnehmbaren Atmosphäre möglich, d.h. das Systematische im Atmosphärischen zeigt sich nur in den phänomenologischen Einzelanalysen von diversen Atmosphären.15 Entsprechend verhält es sich mit der Mode: Das, was jeweils das Modische ist, zeigt sich nur in diversen Einzelanalysen der ModeMedien. Was jedoch die Mode an sich sein kann, lässt sich hierin nur als etwas Übergeordnetes, etwas die Sinne strukturierendes, das immer an eine spezifische Materialität gebunden scheint, erfassen.
KONZEP T: Transmedialität der Mode — Mode als Transmedium 16 Mode ist zwar immer nur im Einzelnen, im Kleinen, im Spezifischen analysierund aufzeigbar, und Mode als Ganzes systematisch zu erfassen und zu beschreiben, bleibt unmöglich. Dennoch lässt sie sich in ihrer spezifischen Transmedialität und somit als abstraktes Theorem herausstellen. Ausgehend von den medientheoretischen Prämissen von Irina Rajewsky bezeichnet Transmedialität die wesentliche Eigenschaft »[m]edienunspezifische[r] Phänomene, die in verschiedensten Medien mit den dem jeweiligen Medium eigenen Mitteln ausgetragen werden können«17. Das heißt auch, dass es sich bei der Mode nicht um einen durch das Medium vermittelten Inhalt handelt, sondern vielmehr um die Austragung eines bestimmten sinnlichen Ausdrucks, um die mediale Ausformung einer Idee, die erst im Rahmen der medialen Wahrnehmung aktiviert wird, Gestalt annimmt und einen Raum markiert. Die Transmedialität der Mode ist nur zusammen mit dieser Art und Weise ihrer besonderen Performativität zu denken. Erst im performativen Vollzug der medialen Wahrnehmung zeigt sich das Transmedium Mode. Die Medien der Mode sind somit gleichsam Austragungsort und Konstituenten der Mode. Ohne sie wäre Mode nicht erfahrbar und in diesem Sinne auch nicht existent. Claudia Fraas und Achim Barczok verstehen unter Transmedialität »die Umsetzung einer bestimmten Ästhetik bzw. eines bestimmten Diskurstyps in
14 | Böhme, Gernot: Anmutungen. Über das Atmosphärische, Ostfildern 1998, S. 11. 15 | Vgl. Böhme 1998. 16 | Vgl. Venohr, Dagmar: »Zur Transmedialität der Mode«, in: Medien der Mode, hg. v. G. Mentges u. G. König, Berlin 2010, S. 139-150. 17 | Rajewsky, Irina O.: Intermedialität, Tübingen/Basel 2002, S. 13.
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unterschiedlichen Medien«18 und beschreiben sie als ein »medienunspezifisches Wanderphänomen«19 . Diese Sichtweise entspricht einem Verständnis von Mode als Strukturprinzip, das selbst keine bestimmte Medienspezifität besitzt. Mode kann sich demnach in sämtlichen kulturellen Artefakten zeigen, die Kleidung ist für Menschen allerdings ein sehr unmittelbares Ausdrucksmittel, trägt er es doch direkt auf dem Körper. Das heiß aber auch, dass selbst die Kleidung kein spezifisches Medium der Mode ist, sondern lediglich in größtenteils von ihr durchdrungen. Es handelt sich bei der Modekleidung um eine Medienkontamination20, die so umfassend ist, dass es unmöglich erscheint, Kleidung überhaupt noch als distinktes Medium zu erfassen. Mode lässt sich demnach als ein transmediales Phänomen, das die Kleidung in besonderem Maße kontaminiert, auffassen. Eine transmediale Medienkontamination ist somit die strukturelle Durchdringung eines Mediums durch ein übergeordnetes Phänomen, d.h. durch eine andere Struktur oder Form. Diese Form hat eine Funktion, die dem Medium selbst nicht inhärent ist, diesem also zugefügt wird. In diesem Sinne ist das Medium Kleidung von Mode, die aufgrund ihrer spezifischen Transmedialität als medienübergreifendes Strukturphänomen gesehen werden kann, durchdrungen.
3. M ODE MACHEN Die Intensität des Erscheinens von Mode im Medialen und somit auch ihre Konstitution selbst sind unmittelbar abhängig von der Bereitschaft, dem Vermögen und den Möglichkeiten zu sinnlicher Wahrnehmung unterschiedlichster Medien auf Seiten der Rezeption. Mode ereignet sich in und zwischen Medien und nur im handelnden Umgang mit ihnen. Die spezifische Performativität der Mode basiert auf dem aktiven Vollzug dessen, was medial als Mode vermittelt wird. Die vielfältigen ModeMedien bieten uns neben offensichtlichen Modebehauptungen (bspw. einer Modezeitschrift) und traditionell bekannten Präsentationsformen (bspw. einer Modenschau) zumeist eine relative Offenheit der sinnlichen Wahrnehmungsweisen. Was wir in den ModeMedien als Mode anerkennen, bleibt uns insofern überlassen, als dass wir letztlich selbst entscheiden können, welchem Pfad der Bedeutungsgenerierung wir folgen wollen: Gehen wir den Ausgewiesenen oder folgen wir einem Anderen …
18 | Fraas, Claudia/Barczok, Achim: Intermedialität - Transmedialität. Weblogs im öffentlichen Diskurs, in: Androutsopoulos, Jannis u.a. (Hg.): Neuere Entwicklungen in der Internetforschung, Hildesheim 2006, S. 5. 19 | Ebd. 20 | Vgl. Venohr, Dagmar: medium macht mode. Zur Ikonotextualität der Modezeitschrift, Bielefeld 2010, S. 27ff.
ModeMedien – Transmedialität und Modehandeln
a. Dazwischen: Zeitfenster und Handlungsspielräume Mode ereignet und zeigt sich immer zwischen den Medien, im Dazwischen. Mode findet immer innerhalb der sinnlichen Wahrnehmung differenter Medien statt. Sie ereignet sich in der Unüberführbarkeit von gleichzeitig sich aufeinander beziehenden Medien. Die spezifische Inkommensurabilität und mögliche Gleichzeitigkeit von Bild, Schrift, Klang in Raum und Zeit eröffnet dieses Dazwischen. Es ist eine Kluft, ein Spalt, ein Schlitz, die immer im Rahmen der medialen Wahrnehmung mitzudenken sind, obwohl sie üblicherweise hinter der sinnlichen Wahrnehmung und Erzeugung von Sinnhaftem verschleiert bleiben. Dieses Dazwischen basiert auf der grundlegenden Intermedialität der Medien der Mode. Das Medium Kleidung wird in die unterschiedlichsten Medien kolportiert und gewinnt so einerseits an Dichte in Bezug auf seine sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften, während es gleichzeitig Teile seiner ursprünglichen einbüßt. Es kommt zu Medienwechsel, indem z.B. das Rascheln der Seide als ›Seidenschrei‹ bezeichnet wird, zu Medienkombinationen, wie im Film, indem diesem Rascheln eventuell ein besonderer Klang hinzugefügt wird, zu Medienverschmelzungen, indem z.B. im Musikvideo die Bewegungen der tanzenden Kostüme scheinbar unlösbar mit der Musik verbunden werden. Alle denkbaren medialen Phänomene der Mode basieren auf einem Nebeneinander, einem Zusammenspiel und einer Vermischung, auf der sinnlichen Relationalität der Medienvielfalt, die teilweise auch divergierende Bedeutungen evoziert. Die nähere Erläuterung des einen wird im jeweils anderen Medium gesucht und findet dort eine Entsprechung, eine Ergänzung oder einen Gegensatz. Die Kluft ist nicht völlig überbrückbar, und bietet so die Möglichkeit sich einzunisten, die mediale Unzulänglichkeit auszunutzen und eigenen Sinn zu produzieren. Wichtig ist hier vor allem die grundlegende Inkommensurabilität der Medialitäten der Mode, d.h. alles verbleibt im Rahmen seiner spezifischen Materialität und Strukturalität wirkungsvoll. Mode entsteht dann im spezifischen Zusammentreffen dieser Medialitäten, d.h. indem wir innerhalb der Wahrnehmung verschiedene Medien aufeinanderprallen lassen, schaffen und erkennen wir Mode. Durch das bedeutungsstiftende Überbrücken und Ergänzen der unterschiedlichen medialen Formate im Wechselspiel wird einerseits die Prozesshaftigkeit der Wahrnehmung als zeitlicher Verlauf und anderseits die Verknüpfung der sinnlichen Eindrücken, die von allen Seiten auf die Sinne einwirken, als Ort erfahrbar. Dieser Medienclash21 bewirkt auf der Wahrnehmungsebene demnach so etwas wie ein Zeitfenster, das eine andere Perspektive eröffnen kann, und einen Handlungsspielraum, der sich eventuell auch anders überbrücken ließe. Das Zeitfenster ist eine Öffnung, die Zeit generiert und Zeit aussetzt. Es bezeichnet das Moment medialer Wahrnehmung, das Bedeutung generiert, in eine Richtung weist und gleichzeitig einen Ausweg, den Blick in eine andere Welt bie21 | Ebd., S. 182ff.
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tet. Mode behauptet zwar ausnahmslos immer Aktualität, im Rahmen des medialen Wahrnehmungsprozesses aber schafft sie währenddessen auch zeitliche Fluchten, die zwar immer im Jetzt situiert sind, jedoch Träume freisetzen und Visionen ermöglichen. Die Gegenwärtigkeit des Rezeptionsprozesses öffnet sich einem imagnierbaren Raum, der auch andere Spielregeln bereithält, dem Handlungsspielraum, in dem sich Mode ausagieren lässt. Die Medien der Mode spielen mit all diesen Möglichkeiten und denken die Potentiale ihrer Unterwanderung bzw. der Einnistung gleich mit. Das Aufeinanderprallen der beteiligten Medien im Medienclash setzt so Potentiale der Mode frei, die sie allein im Medium Kleidung, als bloßes Kleidungsstück nicht haben kann. So sind beispielsweise bei einer Modenschau der Laufsteg, die Musik, die Abfolge der Kollektionsteile, die inhärente Choreografie des Laufs etc. Einzelmedien, die nur im Zusammenspiel ein Ganzes und mehr als die Summe ihrer Einzelkomponenten bilden. Alle denkbaren Unüberführbarkeiten bieten die Chance auf Momente des Aufmerkens, kleine Zeitfenster der Unkontrollierbarkeit, Assoziationsketten zu bilden. Dies sind die Momente des Angesprochen-Seins, des Angehens, des Involviert-Werdens, des Dazu-Tuns, des Sich-Aneignens. Darauf spekulieren die Strategien der Modeproduktion: Sie eröffnen durch diesen Zusammenprall der Medien eine sinnliche Vielfalt, die wiederum durch das Eröffnen von Zeitfenstern individuelle Handlungsspielräume ermöglicht. Durch den Vollzug dieser für die Mode spezifischen intermedialen Wahrnehmungsweise im Medienclash wird Mode erst erfahrbar. Der Reiz der Mode liegt demnach vor allem darin, dass sie in ihren medialen Erscheinungen eine jeweils individuelle und immer wieder andere Wahrnehmungsweise evoziert, die innerhalb dieses Prozesses Zeitfenster eröffnet und Handlungsspielräume bereithält, die Fluchten und Träume ermöglicht und damit Sehnsüchte stillt und Begehrnisse22 weckt. Sie ist als solche vom Produzenten zwar planbar, jedoch nicht vollkommen kalkulierbar, sie bleibt somit in ihrer tatsächlichen Erschaffung visionär.
b. Aisthetische Formation: Eroberung von Freiraum Die Art und Weise, wie Mode konstituierbar ist, ihre aisthetische Formation basiert auf ihrer grundlegenden trans- und intermedialen Wirkungsweise. Die Erscheinungswelt der Mode ist somit unmittelbar, konstitutiv und ursächlich mit der Tatsache ihrer spezifischen Rezeption verbunden. Gebildet wird sie durch alle möglichen Relationen zwischen ihren unterschiedlichsten medialen Formaten allein im Rezeptionsprozess. Wir stellen im sinnlichen Wahrnehmen ihres Erscheinens fest, dass Mode geschieht. Diese sinnliche Erfahrung ist ein spezifisches Empfinden, das Mode signalisiert. Mode ist deshalb in diesem Sinne kein
22 | Vgl. Böhme, Gernot: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München 2001, S. 183.
ModeMedien – Transmedialität und Modehandeln
realer Gegenstand, sondern vielmehr Tatsache einer medialen Wirklichkeit, die es immer wieder aufs Neue sinnlich wahrnehmend zu gestalten gilt. Der Rezeptionsprozess der Mode ist immer schon mit eindeutig ökonomischen Interessen verbunden, und zwar insofern als dass Mode in ihrem Erscheinen immer neue Begehrnisse weckt. Das Erträumen und die kleinen Fluchten der Mode(-produktion) enden zumeist im Besitzen-Wollen der inszenierten Produkte, so funktioniert das System der Mode23 . Die Eroberung von Freiraum bedeutet demnach, sich von diesem ökonomischen Wollen so weit wie möglich zu entfernen, und wenn möglich andere Formen der Aneignung zu entwickeln, wieder zu beleben und in den Vordergrund zu stellen. Ein erster entscheidender Schritt ist das nachvollziehende Verstehen jener aisthetischen Formation der Mode, die damit einige offensichtliche Schlupflöcher und Abseiten bereithält. Die Rezeption der Mode kann somit, basierend auf lat. recipere (zurücknehmen, wiedererhalten, erobern), auch als eine Eroberung dieser Freiräumen verstanden werden. Ziel ist es dann nicht mehr von der zwingenden Satisfaktion immer neu geweckter Begehrnisse geleitet zu werden, sondern durch das Wahrnehmen der eigenen Bedürfnisse, einen Weg zu finden, sie eventuell stillen zu können.24
c. Produktionsstrategien und Selbstermächtigungstaktiken Sprechen wir von Produktionsstrategien, dann ist hiermit nun nicht mehr nur das strategische Handeln auf Seiten der Produktion gemeint, also das, was man so gemeinhin unter dem wirtschaftlichen, schöpferischen, industriellen, handwerklichen etc. System der Modeproduktion versteht, sondern auch die Mode als Sinn stiftende Seite der Rezeption. Denn wie gezeigt wurde, produziert auch diese wesentlich an dem mit, was Mode sein kann. Die Strategien der Produktionsseite basieren nach Michel de Certeau auf klaren Prämissen, da sie durch Besitz, also etwas Eigenem, und einem bestimmbaren Ort, der sich deutlich von etwas Anderem abgrenzen lässt, gekennzeichnet ist.25 Darauf beruht auch die offensichtliche Macht der ModeMedien, die allerdings durch permanente Wertvergewisserung, wie steigender Warenabsatz, stetiger Wachstum und das immer Neue, bestätigt werden muss. Ihre Produktionsstrategien müssen die Öffentlichkeit aktivieren und Begehrnisse wecken. Sie üben ihre Macht aus, indem sie Bedeutungen verleihen, sie maßen sich jenes Sanktionsrecht des In&Out an und folgen der Vernunft ihrer losgelassenen Ökonomie.
23 | Vgl. Kawamura, Yuniya: Fashion-ology. An Introduction into Fashion Studies, Oxford/ New York 2005. 24 | Insbesondere die kultur- und konsumkritischen Fraktionen des DIY (Do It Yourself!) und DIWO (Do It With Others!) halten hier interessante Impulse und konkrete Handlungsmuster bereit. 25 | Vgl. Certeau, Michel de: Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 87ff.
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Da das strategische Prinzip dieser medialen Machtausübung bereits alle Orte besetzt hat, scheint es kaum mehr möglich, noch seine Grenzen zu erkennen und somit ein anderes Handeln zu entwickeln. Doch gerade darin liegt eine kleine Chance, denn auch ein Außerhalb wäre durch seine Verortung sowieso wieder viel zu schnell strategisch subsumierbar. Die List besteht deshalb gerade darin sich im strategischen Modesystem möglichst unauffällig möglichst breit zu machen, es bestenfalls innerhalb seines Machtgefüges auszunutzen und gegebenenfalls sogar auszuhöhlen. Heutige Selbstermächtigungstaktiken können demnach nur gelingen, wenn sie sich nicht über Ab- und Ausgrenzungen, über Inbesitznahme, materielle oder symbolische Werte behaupten, sondern über die demonstrative Verfügbarkeit von Zeit und Raum26. Das beinhaltet vor allem das wertschätzende, wiederholte, genauso stetige wie flüchtige Sich-In-BeziehungSetzen mit Menschen und ihren Umwelten, das damit verbundene temporäre Sich-Einnisten an fremden Orten und im Anderen. Es geht darum, schwierige Fragen zu stellen und einfachen Antworten zu misstrauen, der Komplexität der globalen Informations- und Warenwirtschaft zu begegnen, indem wir uns dem konkreten Gegenüber zuwenden und innerhalb dieses komplexen Systems Beziehungen ausbauen. Die neuen Medien eignen sich hervorragend für ein solches Taktieren, z.B. durch Flashmobs oder auch Hashtags. Allein die Lust am Spielen mit den machtvoll gesetzten Bedeutungsmustern der Werbestrategen wie beim Culture Jamming27 setzt die zuvor symbolisch von den ModeMedien gebundenen Kräfte frei. Auch die Modekleidung bietet einen großen Spielraum für Sinn stiftendes Handeln, z.B. beim Textil-Recycling, das die Strategien der Modeproduktion an der Wurzel packen kann, sinnvoller Verbrauch28 ist eine Antwort der Zeit. Konsum wird zunehmend durch Überlegungen zu Nachhaltigkeit und Sozialen Kriterien bestimmt. Insbesondere der sogenannte Ethical Turn29 in der Mode kann hier ein entscheidender Wegweiser sein. Da die Taktiken der Selbstermächtigung immer schon auf dem Sprung sind zur Strategie der Modeproduktion zu werden, bleibt es entscheidend, im Auge zu behalten, dass ihr Ziel nicht darin liegt immer neue Begehrnisse zu schaffen, sondern die kulturellen Bedürfnisse der Menschen zu stillen, und die Inszenierung des Selbst über Kleidung ist eines der grundlegendsten. Wir haben immer die Wahl, was wir als Mode wahrhaben wollen, denn wir sind nicht untätig, wir produzieren mit. Das Aushandeln dessen, was Mode sein kann, was sie bedeutet und welchen Sinn sie macht liegt zwar bei jedem Menschen selbst, doch nicht alle können es sich leisten. Viele Menschen in 26 | Ebd., S. 217f. 27 | Vgl. Lasn, Kalle: Culture Jamming. Das Manifest der Anti-Werbung, Freiburg 2005 oder Klein, Naomi: No Logo! Der Kampf der Global Players um Marktmacht, München 2001, S. 289ff. 28 | Vgl. Certeau, Michel de: Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 81. 29 | Vgl. Gaugele, Elke: »On the Ethical Turn in Fashion—Policies of Governance and the Fashioning of Social Critique«, in: Dies.: Aesthetic Politics in Fashion, Berlin/New York 2014.
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den reichen Industrienationen haben immerhin die Wahl, da sie die Zeit haben, und sie sollten die Mühe nicht scheuen, die wichtigen Fragen nach den kulturellen, sozialen, ökologischen und ökonomischen Regeln der Produktion von Mode zu stellen.
KONZEP T: Modehandeln — Mode ist nicht Mode wird erst im wahrnehmenden Vollzug der ModeMedien sinnlich erfahrbar und in diesem Sinne auch erst konstitutiv: Mode lässt sich nur machen. Ihre so fassbare spezifische Performativität lässt sie zu einer aisthetischen Tatsache der medialen Wirklichkeit werden, die immer wieder anders aushandelbar ist. Die prozessuale Mode konstituierende Umgangsweise mit Medien lässt sich im Modehandeln30, dem konstituierenden Moment der Mode aufzeigen. Diese drei Aspekte des handelnden Umgangs mit Mode bilden zusammen ihren spezifischen Konstitutionsprozess, einem untrennbaren Zusammenspiel zwischen Produktion, Perzeption und Rezeption. I. Das Agens als das vollziehende HANDELN: Der Vollzug medialer Wahrnehmung: das Wahrnehmen selbst als ein Handeln zwischen Medien. Ich nehme Mode wahr, indem ich Medien aufeinander beziehe und mich innerhalb dieses Wahrnehmungsprozesses positioniere. Medien sind hier im weitesten Sinne alle Materialisierungen von semiotischen Strukturen. Wo stehe ich? – Dazwischen! Es bleibt die Frage nach möglichen Zeitfenstern und Handlungsspielräumen. II. Das Faktum als die sich darstellende HANDLUNG: Die Tatsache, dass etwas medial wahrgenommen wird: das Wahrzunehmende als beschreibbare Handlung. Die Tatsache des Wahrnehmens ist in ihrer Performativität eine subjektive und konstitutive Setzung von Mode und in diesem Sinn als auktorial zu bezeichnen. Was ist wahrnehmbar? – Die aisthetische Formation der Mode! Es bleibt die Frage nach der Eroberung von möglichem Freiraum. III. Das Negotium als HANDEL: Die Tätigkeit des Aushandelns: Ich nehme wahr, was Mode sein kann, sein soll und nicht sein soll. Das handele ich aus, indem ich intendiere, frei assoziiere, mein Wissen einfließen lasse und meinen Gefühlen freien Lauf lasse. Ich spiele mit und mache somit Mode. Was hat das mit mir zu tun? Welche Bedeutung hat das für mich? – Es bleiben die Fragen nach den Regeln dieses Spielraumes und nach den Möglichkeiten zur Selbstkonstituiton.
30 | Vgl. Venohr, Dagmar: »Modehandeln zwischen Bild und Text – Zur Ikonotextualität der Mode in der Zeitschrift«, in: IMAGE. Zeitschrift für interdisziplinäre Bildwissenschaft, Themenheft zu Heft 8, Jg. 4, 2008, www.gib.uni-tuebingen.de/image/ausgaben-3?func tion=fnArticle&showArticle=127 (31.03.2015).
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Im Modehandeln eröffnen sich die Spielräume der Mode durch die ihr immanenten Setzungen, lassen sich die Freiräume des intermedialen Zusammentreffens aller Materialisierungen von Mode durch Konventionen erkennen, und innerhalb der ModeMedien findet Selbstkonstitution durch Fremdbestimmung statt.
FA ZIT: Medien machen Mode machbar! Mode ist ohne Medien nicht einmal denkbar, denn ihre transmediale Konstitution ist unmittelbar mit den ModeMedien verwoben. Mode ist dank ihrer spezifischen Medialisierungsweisen immer von uns mit gestaltbar. Die Mittel ihrer medialen Produktionsweisen kennen, heißt aber auch: die Macht umkehren können. Modehandeln birgt demnach immer auch ein aktivierbares Potential zur Umkehrung der nur scheinbar bedingungslos machtvollen Strukturen des Modesystems. Wir machen Mode, auch wenn wir uns die Funktionsweise der Medien der Mode zunehmend in ihren Abwegen, Sackgassen und anderen Gangarten zu Eigen machen!
Mode auf Papier Antje Krause-Wahl »There is nothing like holding a printed copy in your hands. Perfect for relaxing by the fire, enjoying and discussing while camping or purchasing and sharing with friends.« (R EFUELED Magazine, Website)
Unter dem Titel »Paper Weight« zeigte 2013 das Haus der Kunst in München 15 »stilbildende« Magazine, die seit dem Jahr 2000 gegründet wurden. Stilbildend sollte hierbei im zweifachen Sinne verstanden werden: Auf der einen Seite wurde betont, dass es sich bei allen Magazinen um solche handelt, die prägend für Lebensstile der Gegenwart sind. Auf der anderen Seite zeichnen sie sich durch innovative Konzepte aus. In der Auswahl fand sich eine Vielzahl von Magazinen, die sich umfangreich Mode widmen, wie 032c oder Fantastic Man. Worte und Bilder sind für das Erscheinen und die Verbreitung von Mode zentral.1 Daher ist sowohl die Modefotografie,2 als auch der Medienverbund Modezeitschrift ein zunehmend in den Fokus rückender Gegenstand der Modeforschung.3 Magazine sind nicht nur relevant, weil sich in ihnen retrospektiv Informationen zu den jeweiligen Moden finden lassen. Sie prägen Moden und damit auch Identitäten, sind aber gleichzeitig
1 | Vgl. hierzu neben dem Klassiker Barthes, Roland: Die Sprache der Mode, Frankfurt a.M. 1985 vor allem Jobling, Paul: Fashion spreads: word and image in fashion photography since 1980, Oxford 1999 und Rocamora, Agnès: Fashioning the city: Paris, fashion and the media, London 2009. 2 | Shinkle, Eugénie (Hg.): Fashion as Photograph. Viewing and Reviewing Images of Fashion, London 2009. 3 | Mittlerweile gibt es eine ganze Reihe von Einzelstudien, daher sei an dieser Stelle nur ein Band erwähnt, der die Medien der Mode umfassend in den Blick nimmt: Bartlett, Djurdja/Cole, Shaun/Rocamora, Agnès: Fashion media: past and present, London 2013.
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auch Ausdruck der jeweiligen Zeit, denn ein Magazin ist nur dann erfolgreich, wenn es die Interessen und den Geschmack eines Publikums trifft. 4 Gegenwärtig existiert neben den bekannten Produkten der großen Medienunternehmen Condé Nast oder Hearst eine Zeitschriftenlandschaft mit unzähligen Magazinen, die sich an urbane und modische LeserInnenschaften richten. Im Folgenden soll vor allem anhand der Zeitschrift 032c aber mit Blick auf weitere unabhängige Lifestylezeitschriften, die sowohl mode- als auch kunstaffin sind,5 zunächst die Präsentation der Mode gegenüber Strategien der großen Verlagshäuser differenziert werden. Welche Rückschlüsse lassen sich daraus auf den Stellenwert und die Rezeption der Mode in urbanen Kulturen ziehen? Ein Rückgriff auf zwei Zeitschriften der 1990er Jahre, Purple Fashion und Visionaire, wird einerseits zeigen, wie sich die Verbindung von Mode und Kunst verändert hat und andererseits, wie die Zeitschrift selbst zu einem modischen Objekt wird. In einem abschließenden Blick auf die Internetpräsenz von Zeitschriften wird die These verfolgt, dass gerade in dieser Hinwendung zum Objekthaften eine Spezifik gegenwärtiger Lifestylezeitschriften liegt.
032 C — M ODE ALS W ISSEN In 032c (Nr. 25, Winter 2013/2014) – die Zeitschrift wurde gegründet von Jörg Koch und Sandra von Mayer-Myrtenhain (Nr. 1, Winter 2000/2001), ihr Name geht auf die Benennung einer Pantone-Farbe zurück, deren roter Farbton das Cover bis heute ziert – waren vier Modestrecken zu sehen. Unter anderem fotografierten Ines van Lambswerde und Vinoodh Matadin die Sängerin Rihanna in 4 | In der Forschung, die Zeitschriften in den Mittelpunkt stellen, existieren unterschiedliche Ansätze. So setzen sich die visual studies mit der Konstruktion der Modebilder in Zeitschriften auseinander, auf dem Hintergrund, das Magazine als Produkte der Modeindustrie verstanden werden, die daran interessiert sind, Konsument*innen zu formen. Für einen Überblick vgl. Ahr, Katharina u.a.: Erblätterte Identitäten. Mode – Kunst – Zeitschrift, Marburg 2006. David Sumners fordert in seiner Überblicksdarstellung über die Magazinproduktion des 20. Jahrhunderts einen differenzierten Blick, der sowohl die Produzenten als auch die Rezipienten in den Blick nimmt. Sumner, David E.: The magazine century: American magazines since 1900, New York 2010. Die Rolle der Modezeitschrift als Medium, das Mode konstituiert, konzeptualisiert Venohr, Dagmar: Medium Macht Mode. Zur Ikonotextualität der Modezeitschrift, Bielefeld 2010. 5 | Um nur einige im Text unerwähnt bleibende Zeitschriften zu nennen: Achtung, Sleek, Self Service, Double, Another Magazin, Dazed and Confused, V-Magazine u.a. Der Begriff Unabhängig wird hier genutzt, um zu signalisieren, dass sie nicht Teil der großen Verlagshäuser sind, allerdings existieren vielfache Beziehungen untereinander, Herausgeber Art Direktoren und Fotografen arbeiten auch für andere Zeitschriften.
Mode auf Papier
Miu Miu oder Marc Jacobs, kombiniert mit Vintage aus dem Resurrection Vintage Store, in dem historische Designerstücke auf Anfrage zu erwerben sind, und Juwelen von Lynn Ban. Gestylt wurde Rihanna vom hauseigenen Modestylisten der Zeitschrift, Mel Ottenberg. Juergen Teller setzte das Model Kristen McMenamy in der neuen Kollektion von Schiaparelli, entworfen von Christian Lacroix, in Szene. Die FotografInnen, StylistInnen und Modelle sind neben diversen unabhängigen Magazinen auch für die auflagenstarken Modemagazine tätig beziehungsweise in diesen zu sehen, allerdings zeigt ein Blick auf die Produkte von Condé Nast oder Hearst Unterschiede: Indem mit Rihanna ein Star in den Mittelpunkt einer Modestrecke gestellt wird, bedient sich 032c einer etablierten Form der Modepräsentation. Stars ziehen eine Vielzahl von LeserInnen an, die sich für den Lifestyle und die Mode der berühmten Persönlichkeiten interessieren.6 Allerdings beinhaltet die Figur des Stars darüber hinaus eine besondere Eigenschaft: Die in der Regel gut aussehenden ProtagonistInnen werden anders als gewöhnliche namenlose Models sowohl als individuelle, private Subjekte als auch in ihrer Eigenschaft als öffentliche Personen, verschiedene Rollen zu verkörpern, wahrgenommen. Sie erfüllten ein doppeltes Postulat – Individualität und Diversität gleichzeitig.7 Und gerade das ist eine Voraussetzung für eine erfolgreiche Präsentation der Mode, die Individualität verspricht, aber gleichzeitig aufzeigt, wie man sich durch Mode Rollen aneignen kann, um bei den verschiedensten Gelegenheiten gut angezogen zu sein. Um diesen Effekt zu erreichen haben sich bei Condé Nast bestimmte gestalterische Grundsätze etabliert. Der langjährige Art Director der Vogue, Charles Churchward, beschreibt das gestalterische Vorgehen der Vogue wie folgt. »Es soll auf keinen Fall pures Design sein, zweitens darf es nicht zu trendig wirken, schließlich ändern sich in der Modewelt die Trends am laufenden Band, so dass die Aufmachung weitestgehend konstant bleiben sollte. Die ›Verpackung‹ ist für mich genauso wichtig wie das Design. Meine Aufgabe ist es, eine Aufmachung zu kreieren, die jederzeit auf jedermann wirkt. Ausgewählte Schriftarten und Formate, mit denen wir arbeiten. Die gestalterische Grundregeln: Vorzugsweise Farbe. SW-Fotografien dürfen nicht zu abgehoben wirken. Es ich wichtig, dass sie in gewisser Weise vertraut erscheinen und sofort ins Auge fallen, damit sie beim Betrachter eine Reaktion auslösen. Das Motiv darf nicht zu weit entfernt oder zu dunkel sein. Außerdem sollte es nicht wirklichkeitsfremd sein, es sei denn, es handelt sich explizit um eine Fantasie. Und eines ist ganz entscheidend … Die Leserinnen sollen sich mit der Mode und den Beiträgen identifizieren können.« 8 6 | Zur Geschichte des Miteinanders von Mode und Celebrities: Gibson, Pamela: Fashion and celebrity culture, Oxford 2013. 7 | Zu der Besonderheit einer Starkonstruktion vgl. Bronfen, Elisabeth/Straumann, Barbara: Die Diva: eine Geschichte der Bewunderung, München 2002. 8 | Angeletti, Norbert/Olivia, Angelo: In Vogue. The Illustrated History of the World’s most Famous Fashion Magazine, New York 2006, S. 377.
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Abbildung 1: Rihanna auf dem Cover der Vogue US, März 2014 Fotografie: David Sims
Allein an Rihanna, die ein beliebtes Model ist, kann diese Politik verdeutlicht werden. Für die Vogue US (November, 2012) wurde sie u.a. in Valentino, Marc Jacobs und Dior in auf die Kleidung abgestimmten grandiosen und fantastischen Landschaften von Annie Leibovitz fotografiert. In der Märzausgabe 2014 hingegen trägt sie in wenig exaltierten Posen verschiedene Outfits bekannter Designer vor monochromen Hintergrund. (Abb. 1) Die Modetexte auf den Seiten charakterisieren, wie die jeweilige Kleidung verschiedene Persönlichkeiten zum Ausdruck bringt: »silver streak«, »the dark side«, »good girl gone bad«. Das begleitende Interview enthält zu den Fotografien passende Styling-Tipps der Sängerin. Die 22 Seiten in 032c unterscheiden sich allein im Umfang von den Bildstrecken in der Vogue. (Abb. 2) Es sind zwar die Namen der Marken zu lesen, allerdings ist die Kleidung nur bedingt zu sehen. Stattdessen fokussieren Inez van Lambsveerde und Vinoohd Matadin auf die Posen der Sängerin und Rihannas Spiel mit diesen wird in Szene gesetzt. In der letzten Fotografie hält sich Rihanna die Hände vor das Gesicht, ihre Arme sind mit Seifenschaum beschmiert, eine Reminiszenz an die in der Hip-Hop Welt beliebten Car-Wash-Szenen. Für Roland Barthes ist das Posieren eine Tätigkeit, bei der man von sich selbst ein Bild macht, in dem man zum Objekt der Kamera wird, ein Bild das niemals mit dem Selbst übereinstimmt.9 9 | Barthes, Roland: Die Helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a.M. 1989.
Mode auf Papier
In 032c geht es weniger um das, was Rihanna trägt oder in welche Rollen sie schlüpft, sondern generell darum, wie Posen und Gesten Rollen konturieren.
Abbildung 2: Rihanna auf dem Cover von 032c, Nr. 25, Winter 2013/2014 Fotografie: Inez van Lambsveerde und Vinoohd Matadin
Juergen Tellers fotografischer Essay widmet sich der »Erforschung der kulturellen Ikonen der Vergangenheit.« Anlass war Christian Lacroix’ 18-teilige Kollektion für den Herbst 2013, in der er der legendären mit surrealistischen Bildwelten in der Mode experimentierenden Elsa Schiaparelli Tribut zollte, indem er beispielsweise die Schnitte der Ärmel, das »shocking pink« oder die ausgefallenen Hutkonzeptionen auf seine Entwürfe übertrug. Die Marke Schiaparelli lag ab 1954 brach bis sie 2007 von Diego de la Valle aufgekauft wurde, der wiederum Christian Lacroix mit einem Relaunch beauftragte. Juergen Teller setzt Kristen McMenamy auf einer verlassenen griechischen Insel in Szene, und knüpft an die Bildwelten derjenigen Künstler an, die ihrerseits mit Schiaparelli in den 1930er Jahren kollaborierten. (Abb. 3) Die Mutationen von Natur und Mensch, die Salvadore Dalí beispielsweise in der Übermalung einer Fotografie von Horst P. Horst (Study for The Dream of Venus, 1939) darstellte, greift er in seinen fotografischen Inszenierungen und in der Kombination der Bilder auf den Seiten auf: Kristen McMenamys Kopf liegt in einer aufgebrochenen Melone, daneben zeigt eine Fotografie einen toten Oktopus in einer vergleichbaren »Pose«; das Modell ist hinter einem blattlosen Baum fotografiert, ihr Gesicht in eine Astgabel gestützt. Immer
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wieder korrespondieren die bei McMenamy sichtbaren Spuren des Alters mit der verfallenen Natur. Juergen Tellers »Stil des gebrochenen Glamours« erhält in dieser Bildstrecke eine spezifische Wendung. Lacroix’ Entwürfe, die eigentlich die Marke wiederbeleben sollen, werden zu Zeichen einer vergangenen Kultur. Die BetrachterInnen der Modestrecke sehen, wie auf der letzten Fotografie das nur mit einer Plastiktüte bekleidete Modell aus der Szene verschwindet. Diese Modestrecke geht über eine Inszenierung mit Identifikationspotential deutlich hinaus: Modell, Mode und Fotografie werden einer Reflexion unterzogen.
Abbildung 3: Kristen McMenamy in 032c, Nr. 25, Winter 2013/2014 Fotografie: Juergen Teller
In beiden fotografischen Strecken wird Mode gezeigt, aber sie sind keine Anleitung dafür, wie Mode zu tragen ist, sondern sie bieten den LeserInnen im Rückgriff auf Bildstrategien der Modefotografie, Anlass über die Modefotografie und ihr Verhältnis zur Konstruktion von Rollen oder über die Geschichte der Mode, ihre historischen Formen und ihr gegenwärtiges Potential nachzudenken. Das Spiel mit den autonomen sozialen und ästhetischen Referenzen der Modefotografie gehört seit den 1980er und 1990er Jahren zum Repertoire derselben.10 Gegenüber den britischen Zeitschriften The Face und i-D, die in der Regel als 10 | Vgl. hierzu Hebdige, Dick: »The bottom line on planet one – squaring up The Face«, in: ders.: Hiding in the Light. On images and things, London 2002, S. 155-176.
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Ausgangspunkt für diesen Wandel angesehen werden, fällt allerdings auf, dass in 032c Artikel über die Geschichte der Mode und ihre medialen Darstellungsweisen zu finden sind.11 Nach der Bildstrecke zu Rihanna gibt es einen ausführlichen Bericht über Nike Turnschuhe, in dem die Designer erläutern, wie sich Nike trotz ihres Erfolges als Lifestylemarke mit Distinktionspotential behauptet. In einem Interview mit Carolyn Cerf de Dudzeele, Fashion Editor bei der Vogue in den 1980er und 1990er Jahren, wird über den Status der aktuellen Modefotografie diskutiert. Um die Mode herum hat sich ein Diskurs entwickelt, in dem nicht die Kenntnis der Mode der kommenden Saison zählt, sondern das Wissen um die Protagonisten, die Produktionsverfahren, die Details der Mode, ihre Geschichte und Theorie. 032c richtet sich an Leser*innen, die sich in den Diskursen auskennen und diese vielleicht im Lesen der Zeitschrift vertiefen und erweitern. Diese Vermittlung von Wissen ist typisch für eine Reihe gegenwärtiger Magazine: Fantastic Man, 2005 von Jop Van Bennekom (vorher Re-Magazin und Butt) gegründet, trägt den Untertitel »Gentleman’s Style Journal«. Überwiegend in schwarz-weiß Fotografien sind Persönlichkeiten Ausgangspunkt der Präsentation individueller Styles. Dabei wird ausführlich über die ausschlaggebenden Details informiert: Über den Schnurrbart oder den Dorito, das dreieckige Stück Stoff, das sich häufig unter dem Kragen des amerikanischen Sweatshirts befindet. (Nr. 18, Herbst/Winter 2013) In Refueled (Nr. 12, Winter 2013/14) werden aktuelle Firmen wie Knickerbocker Manufacturing in Williamsburg, NY oder Kiriko Stoffe vorgestellt. Die Zeitschrift berichtet über die Hintergründe der Produktionen, Tradition und Handwerk wird in den zahlreichen Fotografien betont, die die historischen Herstellungsverfahren der Kleidermanufaktur visualisieren. Auch im Zeitmagazin geht es auf der Modeseite von Tillman Prüfer nicht um den neuesten Trend, sondern darum, diesen mit Bezug auf ihre Geschichte und Theorie zu kommentieren. Das Wesen der Mode, so Georg Simmel, besteht darin, dass »immer nur ein bestimmter Teil sie übt, die Gesamtheit aber sich erst auf dem Wege zu ihr befindet.«12 Modemagazine zeigen die tragbaren Trends der kommenden Saison, die genannten Magazine zeigen allerdings, dass es nicht mehr nur darum geht, zu wissen was man wie trägt. Sondern dass auch das diskursive historische Wissen über die Mode Teil einer neuen Kommunikation über Mode ist.13
11 | Juergen Tellers fotografische Bildstrecke ist Teil einer Serie, die sich den Ikonen der Vergangenheit widmet. 12 | Simmel, Georg: »Philosophie der Mode« (1905), in: Rammstedt, Otthein (Hg.) Gesamtausgabe, Bd. 10, Frankfurt a.M. 1989, S. 39-118, hier: S. 16. 13 | Der Blog von Florian Tomaszweski & Sven Job trifft es, wenn sie auf die Frage Warum soll ich das lesen? antworten: »Ob du dich unter Layoutern bewegst, eloquenten Bescheidwissern oder Fashionistas: Mit 032c bist du König und Königin.« http://vollaufdiepresse. de/index.php/032c/ (31.03.2015).
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P URPLE FASHION UND VISIONAIRE — M ODE , K UNST, O BJEK T Neben der Mode wird in den gegenwärtigen Lifestylzeitschriften ausführlich über Kunst berichtet. In der genannten Ausgabe von 032c gibt es umfangreich bebilderte Beiträge zu Picasso, und über dessen Biographen Sir John Richardson. Es ist ein Interview von Hans-Ulrich Obrist mit dem Philosophen Michel Serres zu lesen, einen Artikel über die Arbeiten von Tomi Ungerer und über Hans Holleins Interieurs in Wien. In der Kombination von Kunst und Mode knüpft 032c an eine etablierte Tradition an, die das imaginative Potential von Kunst für die Verbreitung von Moden nutzt.14 Das gilt für die auflagenstarken Magazine von Condé Nast und Hearst ebenso wie für eine Vielzahl der unabhängigen Magazine. Das Aufgreifen von Kunst in Modezeitschriften, bzw. das zunehmende Miteinander in den Lifestylezeitschriften kann als wechselseitige Aufwertung der verschiedenen Felder beschrieben werden: Die Mode gewinnt an Exklusivität durch die Kombination mit Kunst, aber ebenso kann man argumentieren, dass auch die Kunst von der Popularität der Mode profitiert.15 Allerdings wird in den einzelnen Zeitschriften das Miteinander unterschiedlich konturiert, wie es hier an zwei prominenten Zeitschriftengründungen der 1990er Jahre gezeigt werden soll.
Abbildung 4: Cover Purple Prose, Nr. 4, Herbst/Winter 1993 Fotografie: Rolf Snoeren 14 | Dazu: Breward, Christopher: »Fashion on the Page«, in: ders. Fashion, Oxford 2003. 15 | In Hinblick auf das Nebeneinander von Modefotografie und »künstlerischer Fotografie«. Esther Ruelfs, »Sexy Kunstwerke und artsy Modefotografien. Wechselwirtschaft zeitgenössischer Kunst- und Modemagazine«, in: Ahr u.a. 2006, S. 113-119.
Mode auf Papier
Purple Fashion wurde zunächst unter dem Namen Purple Prose 1992 (Abb. 4) von Olivier Zahm und Elein Fleiss ins Leben gerufen, die Zeitschrift differenzierte sich im Folgenden in Purple, Purple Prose, Purple Journal, Purple Fiction, Purple Sex und Purple Fashion. Es enthielt in den ersten Ausgaben Interviews mit und Texte von KünstlerInnen und Kritiker*innen und künstlerische Projekte, 16 und widmete sich explizit derjenigen Mode, deren selbstreflexive und konzeptionelle Ansätze die Wahrnehmung der Mode als Kunst in den 1990er Jahren beförderten:17 Rei Kawakubo mit Comme des Garçons, deren Entwürfe die Konstruktion des weiblichen und männlichen Körpers durch Deformation in Frage stellen (PF, Herbst/Winter 1997); Martin Margiela, der die Parameter des Systems Mode befragt, indem er die Entwurfsprozesse oder die Bedeutung des Labels in seinen Entwürfen thematisiert (PP, Nr. 3, Frühling/Sommer 1993), Viktor & Rolf, die in ihren Kollektionen die Silhouetten durch verschiedene Lagen verhüllen und so den Körper des Trägers disfigurieren (PP, Nr. 4, Herbst Winter 1993).18 Indem die Designer*innen auf verschiedene Weise die Parameter der Mode dekonstruieren, wird Raum für individuelle Vorstellungen von Identitäten und Körpern gegeben.
Abbildung 5: Cloe Sevigny für Purple Prose, Frühling/Sommer 2000 Fotografie: Mark Borthwick Präsentation in der Ausstellung Not in Fashion, MMK Museum für Moderne Kunst, Frankfurt
16 | Vgl. zu Purple ausführlich: Krause-Wahl, Antje: »Page by Page. Fashion and Photography in the Magazine«, in: Gaensheimer, Susanne: Not in Fashion: Mode und Fotografie in den 1990er Jahren, Ausst.-Kat. Museum für Moderne Kunst FFM, Bielefeld 2010, S. 24-37. 17 | Eben die Mode, die Barbara Vinken als Mode nach der Mode bezeichnet hat. Vinken, Barbara: Mode nach der Mode. Geist und Kleid am Ende des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1993. 18 | Viktor und Rolf haben die Silhouetten und Layer, die den Körper verhüllen als Ausdruck der Fremdheit beschrieben, die sie in Paris nach Abschluss des Studiums erfahren haben. http://shuitsang.com/post/66974595034 (31.03.2015).
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Die Fotografien in Purple Fashion (Abb. 5) greifen die Besonderheiten dieser Mode, die eben nicht den Körper in normierte Formen bringt, auf. Mark Borthwick beispielsweise fotografiert Models, wie sie mit den Kleidungsstücken interagieren. Eine Bildstrecke mit Chloë Sevigny beginnt mit einer Fotografie, auf der sich Sevigny auszieht, um danach in verschiedene Kleidungsstücke zu schlüpfen, unter anderem in Margielas Oversize Collection. Zum Schluss verschwindet sie unter einer Stoff-, Kleid- und Tütenskulptur. Auch Juergen Teller fotografiert für Purple. Eine Kollektion von Lutz Huelle und Comme des Garçons (Purple, Frühling/ Sommer, Nr. 7, 2001) wird von Kate Moss und Anita Pallenberg getragen. Deren normalerweise glamourösen Körper weisen blaue Flecken bzw. Spuren des Alters auf, auch die Räume wirken abgenutzt, was die harte Ausleuchtung zusätzlich betont. In dieser Bildstrecke ist allerdings entscheidend, dass Teller Moss und Pallenberg zum Teil die gleichen Kleider tragen oder vor dem gleichen Hintergrund posieren lässt. Zudem folgt eine Bildstrecke von Anders Edström, für die aus derselben Kollektion unterschiedliche Stücke gewählt wurden, die der Fotograf Edström nun aber an Freunden in seinem Haus in Schweden fotografierte. Olivier Zahm formuliert das Programm, das mit den Modefotografien einhergeht: »A fashion photograph can be a vital form of resistance to subjective destruction if it manages to transform the vampirism inherent in all presentation into a form of coexistence, of shared, inspirational, communicable existence, if its devouring of signs and images is used in the service of an intensely subjective, poetic, biological experience.«19
Auch das Layout von Christian Brunquell bringt den reflexiven, kollektiven und individuellen Zugang zum Ausdruck. Vor allem die ersten Ausgaben sind in einem heterogenen, dynamischen Stil gehalten. Fotografien werden in den verschiedensten Konstellationen auf den Seiten platziert, in überraschendem Wechsel von Formaten, von Mengen und Anschnitten. So werden jeweils die Geschichten und Dynamiken unterstützt, die in den einzelnen Bildstrecken erzählt werden, und zum Ausdruck gebracht, dass Mode-tragen, anders als in den glamourösen Zeitschriften, die den Look der kommenden Saison präsentieren, ein in der Gemeinschaft gelebtes und dabei auch höchst individuelles Projekt ist. Für die KünstlerInnen, die in Purple zu finden sind (Vanessa Beecroft, Cindy Sherman, Wolfgang Tillmans, Maurizio Cattelan u.a.), ist Mode ein integrativer Bestandteil ihrer künstlerischen Arbeit. Für Purple Fashion Nr. 7, Frühling 2001 wurde Richard Prince für ein Modeshooting beauftragt. Prince wählte eine Barfrau und 19 | Zahm, Olivier: »On the Marked Change in Fashion Photography«, in: Chic Clicks: Creativity and Commerce in Contemporary Fashion Photography, Boston/Ostfildern Ruit 2003, zitiert nach: Linda Welters/Abby Lillethun (Hg.): The Fashion Reader, Oxford/New York, S. 263-269, hier S. 269.
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eine Nachbarin, die er in seinem Studio in Mode, die von Purple Fashion ausgesucht wurde, fotografierte. In seinen durch Überbelichtung und sichtbare Pixeligkeit amateurhaft wirkenden Fotografien greift Prince einen Topos der Hochglanzmagazine auf. Wenn dort allerdings das kreative Studioambiente oder die Farben der herumstehenden Bilder die Mode in Szene setzen – häufig in Anknüpfung an tradierte Geschlechterrollen –, stellt sich bei Prince’ Fotografien der umgekehrte Effekt ein, der Blick richtet sich nicht auf die Mode, sondern, unterstützt auch durch die unprofessionellen Posen der Modelle, auf die Fotografien und Schriftbilder des Künstlers. Da die appropriierten Fotografien seiner abgebildeten Serie Untitled (Publicity) (2000) wiederum selbst Modeposen zeigen, wird die glamouröse Welt und das individuelle Tragen von Mode erneut gegeneinander ausgespielt. Purple entsteht aus und ist Organ einer kreativen Gruppe, für die die Rolle der Mode für die Artikulation des Selbst einen großen Stellenwert einnimmt. In den künstlerischen Arbeiten findet sich eine kritische Auseinandersetzung mit den Bildstrategien der Massenmedien, gleichzeitig wird Mode als etwas wahrgenommen, mit der man sich Normierungen wiedersetzen kann. Bei der Gründung von 032c beinahe zehn Jahre später ist der Begriff creative industries für die Beschreibung einer ökonomischen Struktur etabliert, in der Kunst und Mode, neben anderen kulturellen Feldern, als schöpferische, innovative Kräfte angesehen werden, die vergleichbare Entwurfsprozesse und Vertriebsstrukturen aufweisen. Dies wird im Inhalt des Magazins deutlich: Nach dem Artikel zu Nike interviewt der Künstler Thomas Demand Brian Boylan, den Chef der Branding Firma Wolff Olins, der für das corporate design der Tate oder Olafur Eliassons Little Sun (2011) verantwortlich war. Über die Gründung von Purple schreibt Olivier Zahm retrospektiv (Nr. 18, 2012), dass es kein interessantes Magazin von KünstlerInnen für KünstlerInnen in Paris gegeben hätte. Dank des Desktop Publishings habe allerdings die Möglichkeit bestanden, zu Hause ein eigenes Magazin zu gestalten. Diese Entstehung aus einem Künstlernetzwerk heraus, ist ein entscheidender Unterschied gegenüber 032c, das sich an eine neue in Berlin etablierte kreative Klasse richtet. Es wird aktuell von Meire und Meire gestaltet, einer Firma, die in Absprache mit ihren Kunden das visuelle Konzept des Magazins entwickelt. Gefragt, was ein Magazin visuell überzeugend mache, schreibt Mike Meiré: »It’s visual identity. The overall feel. It’s attitude. The way it communicates with its readers. I like it when a magazine doesn’t try to sell me something. I just wanna be inspired and feel the energy of our times…. I look at magazines like the manifest of a certain group of people. I am rather interested in designing attitudes than styles.« 20
In der Zeitschrift Visionaire, die vierteljährlich in limitierten Auflagen erscheint und 1991 in New York von Stephen Gan, Cecilia Dean und James Kaliardos gegrün20 | www.meireundmeire.de/projects/project/about_brand_coding/ (31.03.2015).
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det wurde, findet sich eine Rhetorik, die an Purple erinnert. So ist zu lesen, dass Visionaire die Grenzen zwischen den kreativen Kulturen niederreiße, um eine neue Gemeinschaft zu formen, die sich dem visuellen Ausdruck zugewandt habe.21 Allerdings nimmt die Verbindung von Kunst und Mode hier eine andere Wendung. Die erste Ausgabe erschien unter dem Thema »Spring«, eine Anspielung auf die neue Modesaison, aber vor allem Symbol der Aufbruchsstimmung der frühen 1990er Jahre. In ihr sind Fotografien von aufblühenden Blumen neben einer Fotografie von Josef Birdman Astor zu sehen, auf der er den queeren Entertainer Dean Johnson und das Modell Dovanna als Adam und Eva in Szene gesetzt hat, es folgen verschiedene Frühlingszeichnungen des Grafikers Juan Suárez Botas (Blumen, Vögel) und eine sw-Reproduktion von Boteros’ Adam und Eva. Begleitet werden diese Bilder von kurzen Texten, in denen assoziative Gedanken zum Frühling zu lesen sind. Aber vor allem werden Zeichnungen von ModedesignerInnen präsentiert. Eine Serie von Ruben Toledo, in denen er aus Tieren Silhouetten generiert und Fashion Blueprints von Adeline Andre und Isabelle Toledo. Unter dem Thema Frühling werden die visuellen Ausdrucksformen, die KünstlerInnen und ModedesignerInnen nutzen, durch formale, assoziative Beziehungen zwischen den Bildern zu einer gemeinsamen Bildsprache verbunden. Als Besonderheit ist einem Interview mit dem Künstlerduo Pierre et Gilles ein herausnehmbares Poster ihrer Fotografie La Meduse (1990) beigegeben. Auch sind die Seiten nicht gebunden, sondern lose in den Umschlag eingelegt, eine bewusste Entscheidung, wie vor allem in den weiteren Ausgaben evident wird, in denen immer ausgefeiltere Themen in programmatischen Verpackungen erscheinen: Nr. 17 (»Gold«) enthielt Blätter, die ausschließlich in der Farbe Gold gestaltet waren, unter anderem Reproduktionen von Arbeiten Philip Taffees und Andy Warhols aber auch vergrößerte goldene Daumenabdrücke von bekannten Designern. Der Umschlag der Ausgabe Nr. 18 wurde exklusiv von Louis Vuitton anlässlich des hundertjährigen Bestehens des Monogramms als Pochette gestaltet. Die Ausgabe Nr. 33 mit dem Thema »Touch« ist in ein Ponyfell eingehüllt, für die Abbildungen der Modeentwürfe im Inneren wurden verschiedenste Materialien auf Papier gebracht. (Abb. 6) Zunehmend tritt die Darstellung der saisonalen Mode in den Hintergrund, die in den ersten Ausgaben noch vorhanden war, zugunsten einer von den Machern der Zeitschrift vorgeschlagene Idee, die prominente KünstlerInnen und Modeschaffende vereint und nun in einem Zeitschriftenobjekt ihren Ausdruck findet. Die Zeitschrift setzt sich von der zunehmenden, auch selbst mit der Zeitschrift V geschaffenen Konkurrenz in diesem Feld ab, indem die limitierten Editionen immer exklusiver werden (die Preise variieren zwischen 175 Dollar und 3000 Dollar). Limitierte Editionen findet man in der Geschichte der Modepublikation, um die Exklusivität und den Status der Modeentwürfe zu erhöhen. Beispielsweise engagierte der französische Haute Couture Designer Poiret 1908 Paul Iribe, um die von ihm entworfene Kleidung in künstlerisch anspruchsvollen Gra21 | www.visionaireworld.com/about (31.03.2015).
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fiken zu bewerben.22 Visionaire erweitert das Prinzip, indem die Zeitschrift, die sowohl Mode als auch Kunst enthält, den Status eines Kunstwerkes erhält. Für die Ausgabe Nr. 63 wurden Fotografien in 3-D Reliefs transformiert, indem sie in Aluminiumplatten gehämmert und mit 24 Karat vergoldet wurden. Kate Moss fotografiert von Mario Testino wird zu einer Ikone, die wahlweise aufgestellt oder aufgehängt werden kann.
Abbildung 6: Seiten aus Visionaire, Nr. 33, Touch
PAPIER IM K ONTE X T DER D IGITALISIERUNG Jeremy Leslie beschreibt, dass in den letzten Jahren ein Punkt erreicht worden sei, in dem es bei Zeitschriftenneugründungen nicht länger darum gehe, größer, glossier oder besser zu erscheinen. Vielmehr sei die Veröffentlichungsgeschichte des Magazins nun: »a toolbox from which a single publisher/editor could pick and choose to create their publication.«23
22 | Dazu Troy, Nancy: Couture Culture. A Study in Modern Art and Fashion, Cambridge MA 2004. 23 | Leslie, Jeremy: The Modern Magazine: Visual Journalism in the Digital Age, London 2013.
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Auch die hier gezeigten Beispiele greifen auf vorhandene Bilder und grafische Stile zu, implizit, wie Juergen Teller oder Ines van Lambswerde und Vinoodh Matadin in 032c oder explizit, wie Visionaire. Allerdings ist gerade der Rückgriff auf und das Kombinieren von existierenden Bildern ein Verfahren, das durch das Internet und dessen stetig wachsenden Bilderfundus befördert wird. In den Modeblogs, durch Tumblr, Instagram oder Pinterest, werden umfangreiche Bildersammlungen erstellt, in denen nicht nur eigene Fotografien, sondern auch im Internet vorhandene immer wieder neu und individuell zusammengestellt werden. Wenn es auch Modeblogs gibt, in denen Texte zu lesen sind, so scheint die Attraktivität eines Blogs vor allem darin zu liegen, ästhetische Welten allein in der Kombination von Bildern herzustellen. Agnès Rocamora hat in ihrer Untersuchung von Modeblogs das web als eine »Sanierung des Drucks (remediation of print)« beschrieben.24 Blogger nehmen sich die Bilder der gedruckten Presse, um einen Post zu illustrieren oder sie feiern enthusiastisch das in Zeitschriften Abgedruckte. Das gedruckte Magazin wiederum habe die Visualität der Modeblogs auf seinen Seiten inkorporiert: »Indeed, remediation is a two-way process: new media borrow from and refashion old media, which in turn refashion new media to absorb some of their characteristics in their pages.«25 Die Zeitschriften sind allerdings auch selbst mit eigenen Homepages im Internet präsent. Auf diesen zeigt sich, dass einige Magazine dieser veränderten Distributions- und Rezeptionssituation Rechnung tragen, indem sie die Bilder ihrer Druckausgaben im Netz zu Verfügung stellen, sie beispielsweise mit Pinterest verlinken oder twittern, um sie zu einem Teil der digitalen Bilderwelten werden zu lassen oder selbst auf ihren Seiten Bilder sammeln, um sie mit ihren LeserInnen zu teilen.26 Die Zeitschrift Sang Bleu, initiiert 2004 von den Kreativdirektoren Maxime Buchi und Jeanne-Salomé Rochat, beispielsweise hat einen ausgefeilten Internetauftritt, indem sie u.a. die Bilder der Blogs auf ihrer Seite in einem visuelles Archiv miteinander verbindet. Die Homepage wird auch dazu genutzt, zusätzliche und immer wieder aktuelle Informationen an die LeserInnenzu bringen. 032c informiert über Modeereignisse, Ausstellungen und über den 032c workshop, den Ausstellungsraum in Berlin, der von Herausgeber Koch betrieben wird. Purple Fashion hat die Rubrik »diary«, die mit täglichen Nach24 | Rocamora, Agnès: »How New Are New Media? The Case of Fashion Blogs« in: Bartlett, Djurdja/Cole,Shaun/Rocamora, Agnès: Fashion media: past and present, London 2013, S. 155-164. Die Veränderungen aus der Perspektive der Designer: www.robert newman.com/a-conversation-between-jeremy-leslie-and-robert-newman-for-gym-classmagazine/ (31.03.2015). 25 | Rocamora, Agnès, »How New Are New Media? The Case of Fashion Blogs« in: Bartlett 2013, S. 162. 26 | Die Internetseite der Zeitschrift Double enthält umfangreiches fotografisches Material, Another Magazine zeigt »Beautiful Things We Love and Love To Share«.
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richten der Herausgeber und Beitragenden aus der Welt der Mode und Kunst ausgefüllt wird.27
Abbildung 7: Website 032c http://032c.com
Aber warum wird die gedruckte Ausgabe produziert, wenn auf den Homepages sogar auch noch die Magazinseiten sichtbar sind? (Abb. 7) 032c zeigt auf seiner Homepage einen Film, in dem eine Hand über die Seiten der Ausgabe streicht und diese dann durchblättert – im Zeitraffer, so dass das Magazin eben nur dann gelesen werden kann, wenn das Objekt tatsächlich in den Händen gehalten wird. Dieser Film signalisiert, dass das Magazin nicht nur angeschaut und gelesen sondern berührt werden will. Gegenüber dem Internet, das auf einem Bildschirm alle Bilder in einer homogenen Oberfläche verbindet, legen viele der genannten Zeitschriften Wert darauf, das gedruckte Objekt hinsichtlich seiner haptischen Qualität differenziert zu gestalten. Dies gilt nicht nur für die Magazine, die wie oben beschrieben explizit mit objekthaften Editionen arbeiten. Fantastic Man und sein Pendant Gentlewoman erscheinen auf mattem, zum Teil unterschiedlich eingefärbtem Papier. Auch die frühen Ausgaben von Purple arbeiten mit unterschiedlichen Papieren und wechselnden Formaten. Die Zeitschrift Double ist im Längsformat gestaltet, was in der Hand ungemein irritierend ist. Das Zoo Magazine hat auf dem Cover einen goldfarbenen Prägedruck. (Abb. 8) Gray wiederum 27 | Die Internetplattform ergänzt die Zeitschriften um Tagesaktualität, und sie wird genutzt, um dem Genre Fashion-Film Raum zu geben.
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erscheint nicht nur als Zeitschrift, sondern zweimal jährlich auch als Buch. Sang Bleu Nr. 5, Frühling/Sommer 2010 hat 616 (!) Seiten. Und 032c (Herbst/Winter 2013) besitzt eine Bindung, die an eine wissenschaftliche Hausarbeit erinnert. Das Berühren der Oberflächen wird von Jop Van Bennekom, dem Art Director von Fantastic Man in einen Bezug zur Mode gestellt: »I love paper as an object and I think it makes more sense in 2007, where web magazines are so common, for printed magazines to have a personal and physical feeling. Almost like touching your favorite garment … I think it’s the right approach to magazines right now.« 28
Und auf der Website der Zeitschrift Refueled, herausgegeben von Chris Brown, wird emphatisch formuliert: »In the current internet climate, with immediacy and overload of sometimes mundane and intimate nothings, Chris is providing us not only a window into great culture, but a peek into one man’s personal quest to make media itself an art form full of texture, presence, romance, cool, and calm. Each story and video is a soothing drop into the subject, not a passing glance or a footnote, but a tour of the very textures and personalities inherent in style, music and life.« 29
Und das Lesen der gedruckten Ausgabe wird in Entsprechung zu Refueleds retrospektiven Blick auf die Qualitäten des traditionellen Modehandwerks wie folgt beschrieben: »There is nothing like holding a printed copy in your hands. Perfect for relaxing by the fire, enjoying and discussing while camping or purchasing and sharing with friends.«
Letzteres mag überspitzt klingen, der kursorische Blick auf gegenwärtige Magazine zeigt trotz aller Unterschiede in den Konzepten jedoch eine gemeinsame Tendenz. Modezeitschriften dienen vor allem dazu, die kommende Mode zu präsentieren. Sie waren und sind auch immer noch Teil der spezifischen Dynamik der Mode, die flüchtig und vorübergehend ist, sich unablässig wandelt und neu formiert. Allerdings wird in den gegenwärtigen Modefotografien, das hat das Beispiel 032c gezeigt, auf bekannte Bildstrategien gesetzt. Kristen McMenamy war zeitgleich mit der Bildstrecke in 032c auch in der Zeitschrift Zoo (Nr. 40, Winter 2013) zu sehen – fotografiert von Dancian auf einem zerschlissenen Sofa, eine Reminiszenz an Corinne Days Fotografie England Dreaming, die 1993 in The Face 28 | CAP, the magazine designers’ collective. The 10 influential creators for magazine design. Tokyo: 2008, S. 111. 29 | www.refueledmagazine.com/about--contact.html (31.03.2015).
Mode auf Papier
gezeigt wurde. In solchen Bildstrecken wird weniger die kommende Mode vorgeführt, als vielmehr deutlich, wie sehr das Wissen über Mode und um ihre Bildstrategien Teil eines urbanen Lifestyles geworden sind. Und hier kommt auch die Materialität des Magazins in Spiel. Die Zeitschrift wird zu einem Objekt, das sich in die gestylten Lebensumgebungen ihrer KäuferInnen einpasst.
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Kleidung verstehen
Kreative Liaisons in Paris Interferenzen von Mode, Kunst und Fotografie bei Paul Poiret und Elsa Schiaparelli Burcu Dogramaci
In den ersten Dezennien des 20. Jahrhunderts erhielten die kreativen Wechselbeziehungen zwischen Malern, Fotografen und Couturiers eine besondere Intensität und Qualität. Ein Kraftzentrum dieser interdisziplinären Zusammenarbeit war die Stadt Paris, in der Charles Frederick Worth im 19. Jahrhundert die Haute Couture begründet hatte. Im »Maison Worth« verbrachte der junge Paul Poiret ab 1901 zwei prägende Lehrjahre und sollte, nachdem er sich 1903 selbstständig gemacht hatte, innerhalb weniger Jahre zum einflussreichen Pariser Modeschöpfer avancieren.1 Zur Kommunikation seiner Mode in der Öffentlichkeit arbeitete Poiret mit Künstlern wie Paul Iribe, Georges Lepape und George Barbier zusammen, die seine Entwürfe künstlerisch interpretierten. Ihre farbigen Grafiken wurden seit 1908 in Modealmanachen veröffentlicht und trugen ganz wesentlich zur Verbreitung der Entwürfe Poirets bei. Zudem ließ Poiret bereits in den zehner Jahren, als sich die Modefotografie erst langsam als genuines Genre zu behaupten begann, seine Modelle von Edward Steichen fotografieren. Nur wenige Jahre später animierte Poiret den Künstler Man Ray, Fotografien seiner Kollektion anzufertigen und initiierte damit dessen erfolgreiche Karriere als Modefotograf. Poirets jüngere Zeitgenossinnen, die Modeschöpferinnen Elsa Schiaparelli und Coco Chanel, kollaborierten ebenfalls mit Malern und Fotografen ihrer Zeit. Schiaparelli arbeitete mit Surrealisten wie Jean Cocteau und Salvador Dalí zusammen. Mit letzterem entwarf Ende der 1930er Jahre auch Coco Chanel zusammen Ballettkostüme, die wiederum von Horst P. Horst in eigenständiger Weise in das Medium der Fotografie übersetzt wurden.2 Dieser Transferprozess, die vielfältigen 1 | Vgl. Müller, Florence: Paul Poiret, La Mode en plan large, in: Paul Poiret, Couturier-Parfumeur, Ausst.-Kat. Musée international de la parfumerie, Grasse 2013, S. 108-121, hier S. 109f. 2 | Horst, Horst P.: Kostüme von Salvador Dalí und Coco Chanel für das Ballett »Bacchanale«, Paris 1939, Abb. in: Lawford, Valentine: Horst. His work and his world, New York 1984, S. 191.
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kreativen Aneignungen und Übersetzungen aus dem anderen Medium, boten Herausforderungen und waren zugleich Antrieb für das eigene Wirken. Dabei ist zu beobachten, dass der Zugriff aus verschiedenen Disziplinen und künstlerischen Ausdrucksweisen zu Verschiebungen führt: Dalís Skulptur »Telephone-Homard« von 1936, das Schiaparellis Sommerkleid mit Hummer inspirierte, steht am Beginn einer Übersetzung vom Objekt ins Textildessin, wobei sich beide jedoch in der Idee der erotischen Interaktion von Ding und Körper berühren. Auf einer weiteren medialen Ebene findet ein erneuter Übersetzungsprozess statt, wenn Fotografie Mode visualisiert. Hier treffen die Vorstellungen des Fotografen auf jene der Couturiers, die Kleidung wird ein zweites Mal erfunden und in ein inszenatorisches Gesamtkonzept überführt. Mode ist im Verständnis von Paul Poiret und Elsa Schiaparelli, die im Folgenden genauer in den Blick genommen werden, eine Kunst, die autonom ist und zugleich in kreativer Interaktion mit anderen Künsten existiert.3
P OIRE TS KÜNSTLERISCHE D IALOGE Wie kaum ein anderer Modeschöpfer vor ihm synthetisierte Paul Poiret ein neues Körperverständnis mit extravaganten Schnitten und Silhouetten. Zeitgleich zur damals dominanten korsettmodellierten S-Linie, die den weiblichen Oberkörper nach vorn drückte, einen flachen Bauch schuf und das Gesäß betonte, entwickelte Poiret schmale Kleider im Directoire-Stil. 4 Diese schlossen modehistorisch an das späte 18. Jahrhundert an, wurden jedoch in Material, Schnitt und Mustern ins 20. Jahrhundert übersetzt. Diese Kleider betonten den schlanken, sportlichen Körper lange bevor sich in den 1920er Jahren dieses Schönheitsideal paradigmatisch durchsetzen sollte. Mit seinen Entwürfen erklärte Poiret der klassischen Sanduhr-Silhouette der Damenmode eine Absage und adaptierte Elemente des künstlerischen Reformkleides für die Haute Couture.5 Poiret verzichtete zwar auf das Korsett, jedoch beruhten seine Modelle duchaus auf der Modellierung des 3 | Obgleich verschiedenen Generationen zugehörig, kreuzten sich die Wege Paul Poirets und Elsa Schiaparellis im Jahr 1922 auf einer von Poirets Modenschauen. Beide pflegten seither freundschaftliche Verbindung. Über Schiaparellis kreativen Umgang mit Farbe hieß es im November 1934 in »Harper’s Bazaar«: »For colours she is the feminine Paul Poiret.« Vgl. White, Palmer: Paul Poiret. 1879-1944. Ein Leben für Mode und Eleganz in Paris, Herford 1989, S. 49. Zu Aspekten von Weiblichkeit und Moderne bei Poiret und Schiaparelli vgl. Parkins, Ilya: Poiret, Dior and Schiaparelli. Fashion, Feminity and Modernity, London/ New York 2012. 4 | Siehe u.a. Poiret, Paul, Drei Directoire-Kleider, 1908, in: Les Robes de Paul Poiret racontées par Paul Iribe, Paris 1908. 5 | Vgl. Teunissen, José: Die Frau von ihrem Sockel stürzen, in: Bippus, Elke/Mink, Dorothea (Hg.): fashion body cult. mode körper kult, Stuttgart 2007, S. 172-199, hier S. 179.
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weiblichen Körpers: das von ihm präferierte Mieder sollte Bauch, Hüften und Oberschenkel derart komprimieren, dass die von ihm bevorzugte schlanke Linie entstand.6 Auch in anderen Entwürfen zeigte sich Poiret experimentierfreudig. So schuf er orientalisierende Pumphosen, Tuniken und moderne Turbane, voluminöse Abendmäntel oder um 1910 seinen »Humpelrock«, dessen schmaler Saum nur kleine Trippelschritte zuließ. Besonders waren jedoch nicht nur Poirets Modeschöpfungen sondern vor allem die Kommunikation seiner Entwürfe in der Öffentlichkeit. So arbeitete er mit jungen Künstlern wie Paul Iribe, Georges Lepape und George Barbier zusammen, die seine Entwürfe in eigenen Mappenwerken umsetzten und sie damit künstlerisch transformierten und nobilitierten. Nancy Troy erklärt diese Zusammenarbeit als Versuch Poirets, sich als künstlerischen Modeschöpfer und transgressiv arbeitenden Modernisten zu positionieren.7 Neben diesem Movens zur Identitätsbildung als Künstler-Couturier sowie einem wirtschaftlichen Interesse mögen Poiret jedoch auch Prozesse der Translation und der Invention durch künstlerische Neuformulierungen interessiert haben. Iribe, Lepape und Barbier schufen seit 1908 atmosphärische Modebilder, die den Rezipierenden eine spezifische Lebenshaltung vermittelten. Die Forderung Georges Lepapes, der Künstler solle nicht nur ein Modell visualisieren, sondern es erschaffen und neu erfinden8, hat sicherlich viele Modegrafiker der nachfolgenden Generation beeinflusst. Ergebnis der Zusammenarbeit zwischen Modeschöpfer und Künstlern wie Iribe waren farbige, kostbare Grafikmappen in kleiner Auflage wie »Les Robes de Paul Poiret racontées par Paul Iribe« (1908) oder »Les Choses de Paul Poiret vues par Georges Lepape« (1911), die ausgeführte Entwürfe des Modeschöpfers in die Grafik übertrugen und in einen eigenen künstlerischen Kosmos transferierten.9 Dabei ging es kaum um eine modenachrichtliche Vermittlung von Material, Schnitten oder gar Details. Für Poiret waren diese Arbeiten eigene Aneignungen seiner Mode – »Quand il [Iribe] m’apporta des croquis, je fus enchanté de la manière dont il avait compris et interprété mes modèles…«10. Iribe zeichnete Poirets Modelle auf 6 | Vgl. Ley, Andreas: Paul Poiret, in: Anziehungskräfte. Variété de la mode 1786-1986, Münchner Stadtmuseum, München 1986, S. 414. 7 | Troy, Nancy J.: Couture Culture. A Study in Modern Art and Fashion, Cambridge MA/ London 2003, S. 6. 8 | Vgl. Lepape, Claude/Defert, Thierry: From the Ballets Russes to Vogue. The Art of Georges Lepape, London 1984, S. 37. 9 | Iribes Mappe erschien in einer signierten und nummerierten Auflage von 250 Stück und wurde als Kupferstich und Aquatinte ausgeführt sowie in Pochoirtechnik koloriert. Lepapes Album erlebte eine Auflage von 1.000, darunter 300 signierte und nummerierte Exemplare. War Iribes Sammelwerk noch als Kundengeschenk aufgelegt, so verkaufte Poiret Lepapes Modealbum für 50 Francs und organisierte eine Ausstellung mit den Originalzeichnungen in der Galerie Barbazanges. Vgl. Troy 2003 (wie Anm. 7), S. 53f. 10 | Paul Poiret: En habillant l’époque, Paris 1930, S. 83.
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einer Modenschau 11, also in Bewegung und nach der Natur. Die dort entstandenen Skizzen wurden dann in ausgefeilte Kompositionen überführt.
Abbildung 1: Les Robes de Paul Poiret racontées par Paul Iribe, Paris 1908 Quelle: Paul Poiret et Nicole Groult. Maîtres de la mode art deco, Ausst.-Kat. Musée de la mode et du costume, Palais Galliera, Paris 1986, S. 57, 88. »Les Robes de Paul Poiret racontées par Paul Iribe« ist eine Umsetzung der ersten Neo-Empire-Kollektion des Modeschöpfers in zehn Modeillustrationen, die sich von der zeitgenössischen Modegrafik unterschieden. So ging es kaum um eine modenachrichtliche Vermittlung, nicht um Detailgenauigkeit oder ein mimetisches Abbild der realen Moden Poirets. Wie der Couturier sich der antiken Gewänder als Inspiration bediente, adaptierte Iribe den Zeichenstil des britischen Künstlers John Flaxman, indem er die Konturen durch Linien betonte. Inspiration erhielt Iribe für seine dem Zweidimensionalen verpflichteten Modezeichnungen auch von der japanischen Druckgrafik. In einem Gestus der Formvereinfachung deutete Iribe die Gesichter und technischen Feinheiten der Kleidung nur an. Betont wurden die schmalen, langen Silhouetten, indem er die Figuren bildfüllend inszenierte und ihre Gestalten vom oberen Bildrand beschnitt. Das Ambiente wird durch wenige Details – eine Empire-Bank, ein Spiegel oder ein Gemälde an der Wand – als großbürgerlich angedeutet. Die Kunstgeschichte bot dabei eine Referenz, die auf die Illustration sowie der in ihr artikulierten Mode ausstrahlen sollte. In seinem Modebild »Dress« (Abb. 1) positionierte Iribe eine Frau in einem blau11 | Vgl. White 1989 (wie Anm. 3), S. 76.
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en Chemise- oder Empirekleid vor einem Gemälde, das als Anthonis van Dycks »Maria Louisa de Tassis«12 erkennbar ist. Im Vergleich zu der in üppige Stoffvolumina gekleideten historischen Gestalt erscheint die Silhouette der Mode Poirets schmal und körperbetont. Iribe bezieht sich auch in Körperhaltung und Kopfdrehung seiner Protaginistin auf das historische Gemälde. Doch van Dycks Bild ist in Schwarzweiß gehalten, während die zeitgenössische Dame farbig gestaltet ist: das Brustteil ist mit einer gelben Kordel gebunden und setzt sich vom blauen Stoff ebenso ab wie die gelben Schuhspitzen, die unter dem bodenlangen Kleid hervorschauen. Um das im Empirestil hochgesteckte Haar ist ein rotes Tuch gebunden. Der Dialog zwischen Historischem und Gegenwärtigem erzeugt einen Kontrast, der das Gemälde zum Vergangenen erklärt, während die Frau im Vordergrund das Neue verkörpert. Iribes Zeichnung war eine Neuschöpfung, eine Kontextualisierung der Mode in ihrer Gegenwart und zugleich die Einbindung in ein größeres kunsthistorisches Kontinuum. Iribes Zeichnung verweist auf die Vor- und Rückbezüge der Mode, ihre Interrelationalität und betonte dabei die künstlerische Anmutung der Entwürfe Poirets. Die Ästhetisierung der Mode durch die Hand des Künstlers und die mit den Mappenwerken einhergehende Zirkulation seiner Entwürfe waren ein wichtiges Anliegen Poirets, der über Iribe schreibt: »Enfin il m’envoya ses derniers originaux, et le travail d’imprimerie put commencer. On connaît cet ouvrage qui se trouve aujourd’hui dans toutes les bibliothèques des artistes ou des amateurs d’art. C’est une chose ad-o-ra-ble, et qui constituait alors un document sans precedent. Il était traité avec tant d’esprit qu’il est à peine démodé aujourd’hui; son titre était: ›Les robes de Paul Poiret racontées par Paul Iribe‹. Un exemplaire en fut adressé à chaque souceraine d’Europe, portant après les pages de garde une dédicace spécialement imprimée en beaux caractères.«13
Die erfolgreiche Zusammenarbeit Poirets mit Paul Iribe fand ihre Fortsetzung in weiteren Mappenwerken wie das 1911 publizierte »Les Choses de Paul Poiret vues par Georges Lepape«. Lepapes Modellustrationen haben meist einen einfarbigen Grund, sodass sich die Gestalten in einem abstrakten, zeitlosen Raum bewegen. »Un robe et deux manteaux« (Abb. 2) zeigt drei Modefigurinen, die sich in manierierten Posen den Rezpierenden darbieten. Lepapes feine Striche beschreiben die Textur der Pelzkragen, ohne dass sich der Künstler in Details verliert. Eine reduzierte Farbgebung betont die ausgefallen Dekors der Mäntel und Kleider. Die Frauen mit ihren kleinen roten Kussmündern und ihrem abwesenden Ausdruck bewegen sich mit Eleganz und Distanziertheit. Poirets Mode verleiht ihren Körpern Fragilität, die in den künstlerischen Reflexionen Lepapes noch gesteigert wird. Wie Scherenschnitte setzen sich die Figuren vom Hintergrund ab und sind 12 | van Dyck, Anthonis: Maria Louisa de Tassis, 1629, Kollektion des Prinzen von Liechtenstein, Vaduz, Abb.: Anthony van Dyck, National Gallery of Art, Washington 1990, S. 216. 13 | Poiret 1930 (wie Anm. 9), S. 83-84.
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umfasst von einer Linie. Der Schnitt der Kleider lässt sich zwar erahnen, dennoch bietet die Modeillustration keine modetechnischen Details. Vielmehr ging es dem Künstler um eine ästhetische Gesamtwirkung, eine interpretierende Transformation der Mode in die Welt des künstlerischen Bildes. In den Modezeichnungen von Iribe und Lepape vollzog sich eine Übersetzung der dreidimensionalen Kleidung in die Zweidimensionalität der Modeillustration.
Abbildung 2: Les Choses de Paul Poiret vues par Georges Lepape, Paris 1911 Quelle: Paul Poiret et Nicole Groult. Maîtres de la mode art deco, Ausst.-Kat. Musée de la mode et du costume, Palais Galliera, Paris 1986, S. 57, 88.
L ES CHOSES DE PAUL P OIRE T VUES PAR L A PHOTOGR APHIE Im Jahr 1911 erhielt der Maler und Fotograf Edward Steichen von dem Publizisten Lucien Vogel, damals Herausgeber der Zeitschrift »Art et décoration« und ab 1912 des international beachteten Modejournals »La Gazette du Bon Ton«, den Auftrag, einige Modelle Poirets zu fotografieren14 Während Lepape in seinen Illustrationen mit flächigem Farbauftrag und konturierender Linie spielte, setzte 14 | Die Beauftragung Steichens durch Vogel, also nicht durch Poiret selbst, ist nachweisbar auf Basis der nachgelassenen Briefe Steichens. Siehe Niven, Penelope: Steichen. A Biography, New York 1997, S. 352.
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Steichen in seinen Fotografien das Spektrum der blassen Grautöne, Kontrasten von Schwarz und Weiß als wichtiges bildkonstituierendes Mittel ein. Schnitte und Stoffe sind zwar nicht in allen Details erfasst, jedoch durchaus in ihrem besonderen Charakter zu identifizieren. Steichen vermochte es, den gestalterischen Ansatz Poirets wie auch sein Körperbild zu exemplifizieren. »Pompon« (Abb. 3) zeigt zwei Mannequins in einer Ankleidesituation. Unschärfen unterstützen den sinnlichen Ausdruck der Stoffe und der schmalen Silhouette, verweisen zudem auf die piktorialistischen Porträt- und Landschaftsfotografien Steichens aus der Zeit vor 1911 als auch auf seine Gemälde, symbolistisch verschlüsselte Werke, deren Konturen sich wie unter einem Schleier auflösen.15 In »Pompon« hebt die linke Gestalt ihren Arm und blickt zur Seite, während die andere ihr Kleid zuknöpft.
Abbildung 3: Edward Steichen: Pompon, 1911 Quelle: Art et décoration, Bd. 15, April 1911, H. 4, S. 105, 115. Steichens Fotografie wirkt unprätentiöser als viele andere zeitgenössische Modefotografien. So war eine Fotografie desselben Kleides »Pompon« bereits ein Jahr zuvor in der Zeitschrift »Fémina« reproduziert, wobei diese Aufnahme kaum die Fragilität der Mode vermitteln kann, da das Modell in einer starren Pose gefan15 | Vgl. Gemälde wie Steichens »Moonlight Pond, Mamaroneck« (1905) oder »Shrouded Figure in Moonlight« (1905), in: Steichen, Edward: Ein Leben für die Fotografie. Ausst.-Kat. Jeu de Paume, Paris/Ostfildern 2007, S. 91f.
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gen ist.16 Steichen dagegen lädt seine Aufnahmen atmosphärisch auf. In »Battick et Négus« (Abb. 4), benannt nach den Namen der Poiret-Entwürfe, fotografierte Steichen zwei Mannequins, die beide in bodenlange Mäntel gehüllt sind und einen Turban als Kopf bedeckung tragen. Während die rechte Gestalt nach links aus dem Bild herausschaut, blickt die andere in einen Spiegel, sodass vor allem die beindruckende Rückenansicht mit den Faltenwürfen, Dekors, Quasten und Pelzkragen des Abendmantels »Battick« zu erkennen ist. Steichen greift hier zwei klassische Motive der Modezeichnung auf: den Spiegel und die Rückenansicht, die ein umfassendes Bild von einem Modell vermitteln sollen.17 Zugleich setzt Steichen die Spiegelung raumbildend wie als atmosphärisches Mittel ein.
Abbildung 4: Edward Steichen: Battick et Négus, 1911 Quelle: Art et décoration, Bd. 15, April 1911, H. 4, S. 105, 115.
16 | »Pompon« von Paul Poiret, Fémina, Oktober 1910, Abb. in: Paul Poiret et Nicole Groult. Maîtres de la mode art deco, Ausst.-Kat. Musée de la mode et du costume, Palais Galliera, Paris 1986, S. 71. 17 | Vgl. Dogramaci, Burcu: Lieselotte Friedlaender (1898-1973). Eine Künstlerin der Weimarer Republik. Ein Beitrag zur Pressegraphik der zwanziger Jahre, Tübingen 2001, S. 61.
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Abbildung 5: Delphi: Denise Poiret im Kleid »Faune« von Paul Poiret, 1919 Quelle: John Esten: Man Ray. Bazaar Years, New York 1988, S. 8. Denn es spiegelt sich nicht nur der Saal, in dem sich die Mannequins befinden mit seinen Fenstern und Lichteinfällen, auch eine dritte Gestalt erscheint geisterhaft nur als Spiegelbild. Der Blick durch das Auge der Kamera perspektiviert eine artifizielle Welt der Mode. Die Innenräume, in denen die elegischen Gestalten verharren, erscheinen geheimnisvoll und entrückt. In Ästhetik, Komposition und dem Motiv des Wartens verweisen diese Aufnahmen bereits auf spätere Modefotografien von Sarah Moon aus den 1970er Jahren oder Filme wie »India Song« (1975, Regie Marguerite Duras). Steichens Aufnahmen erschienen derweil nicht in einem Modenmagazin, sondern in der Kunstzeitschrift »Art et décoration«. Sie illustrierten den Artikel »L’Art de la Robe« von Paul Cornu, der über Mode als Kunst schrieb und besonders die künstlerischen Wechselbeziehungen zwischen Modeschöpfer und Fotograf hervorhebt. So schreibt Cornu über »des photographies où M. Steichen les a évoquées ici avec une grâce si enveloppante d’après les modèles de Paul Poiret«.18 Im Kontext der Kunstzeitschrift »Art et décoration« manifestieren sich sowohl die Moden Poirets als auch Steichens Fotografien als künstlerische
18 | Cornu, Paul: L’Art de la Robe, in: Art et décoration, Bd. 15, April 1911, H. 4, S. 101118, hier S. 116. In der Zeitschrift wurden zwei Aufnahmen als farbige Bildtafeln reproduziert. Zudem wurden auch Illustrationen aus Lepapes aktuellem Album »Les Robes de Paul Poiret vues par Georges Lepape« reproduziert.
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Ausdrucksweisen.19 Obgleich es zunächst bei diesem einmaligen Exkurs in die Welt der Mode blieb, er sich weiterhin als Landschafts-, Pflanzen- und Porträtfotograf wie Maler betätigte, begann Steichen mehr als ein Jahrzehnt später mit seiner Anstellung als Cheffotograf der Mode- und Gesellschaftsmagazine »Vogue« und »Vanity Fair« im Jahr 1923 eine international beachtete Karriere als Modefotograf. Es erscheint als denkwürdige Koinzidenz, dass Steichen 1913 auf dem Salon des Indépendants in Paris eine Bronze des Bildhauers Brâncuși erwarb. Dabei handelte es sich um jene Plastik »Maiastra«, von der sich ein weiteres Exemplar bereits seit 1912 im Besitz von Paul Poiret befand.20 »Maiastra«, ein kühl glänzendes mythisches Vogelgeschöpf, inspirierte den Fotografen Man Ray zu seiner ersten Modeaufnahme, die im Modehaus Poirets verwirklicht wurde. In seinen Erinnerungen überliefert Man Ray, wie Poiret ihn bei einem Besuch im Jahr 1922 ermutigte, sich in Zusammenarbeit mit den Mannequins im Haus und in Auseinandersetzung mit seinen Entwürfen als Modefotograf zu probieren. Man Ray entschied sich für ein amerikanisches Mannequin und musste sich in Ermangelung von Assistenten kompromissbereit zeigen. Das ungebügelte Poiret-Kleid wies Falten auf, die Schuhe wirkten, wie Man Ray notiert, »shabby and shapeless. Then, some stray wips of hair hung untidely from the nape of her neck. The general effect, however, was good enough; with judicious posing in the given light, I managed to minimize these minor defects.«21 Für sein improvisiertes Shooting griff Man Ray auf im Atelier Poirets vorhandene Settings zurück und fotografierte das Model vor einem Spiegel und Brâncușis »Maiastra«. Diese Plastik ist in acht Fassungen erhalten, darunter drei in Marmor und fünf in Bronze, wobei Poirets Exemplar auf einem abstrakten geometrischen Steinsockel steht.22 Man Ray inte19 | Auf geistige Verwandtschaften zwischen den gleichaltrigen Paul Poiret und Edward Steichen verweist ausführlich William A. Ewing, der besonders das ausgeprägte technische Wissen wie Können der beiden, die Experimentierfreude sowie das Selbstverständnis als Künstler exponiert. Ewing, William A.: Eine perfekte Verbindung, in: Edward Steichen. In High Fashion. Seine Jahre bei Condé Nast 1923-1937, Ausst.-Kat. Jeu de Paume, Paris/ Ostfildern 2007, S. 19-35, hier S. 29f. 20 | Zum Ankauf von »Maiastra« durch Steichen siehe Constantin Brancusi. The essence of things, hg. v. Carmen Giménez und Matthew Gale, Ausst.-Kat. Tate Modern, London 2004, S. 136. Steichens Plastik, die sich heute im Besitz der Tate Gallery in London befindet, ist jedoch auf einem anderen Sockel als Poirets »Maiastra« platziert und hat einem zweiteiligen ornamentalen Sockel aus Kalkstein. Poiret erwarb die Plastik für 2.000 Francs. Vgl. Cabanne, Pierre: Brancusi, Paris 2006, S. 89. 21 | Ray, Man: Self Portrait (1963), New York 1998, S. 104. 22 | Die »Maiastra« aus Poirets Besitz befindet sich heute in der Peggy Guggenheim Collection in Venedig. In ihren Erinnerungen notiert Peggy Guggenheim, dass sie »Maiastra« um das Jahr 1939 von Poirets Schwester erwarb. Peggy Guggenheim: Ich habe alles gelebt. Bekenntnisse einer Sammlerin aus Leidenschaft, Bern/München 1980, S. 179. Daraus lässt sich schließen, dass sich »Maiastra« auch nach Poirets wirtschaftlichem Niedergang
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ressierte die Interaktion zwischen Mode und Kunst. Man Rays Mannequin ist der Skulptur zugewandt, greift mit der linken Hand in den Pelzkragen ihres bodenlangen Mantelkleides, während die rechte die Vogelskulptur berührt. Die metallene Oberfläche von Brancuses Plastik kongruiert mit dem glänzenden Goldkleid Poirets – ein Effekt, den Man Ray absichtsvoll einsetzte, um die Kostbarkeit von »Maiastra« und der fotografierten Mode in eine Wechselbeziehung zu setzen: »Presently, the model came out wearing a close-fitting gown in gold-shot brocade, gathered around the ankles in the hobble skirt style of the day. […] I had her stand near the Brancusi sculpture, which threw off beams of golden light, blending with the colours of the dress. This was to be the picture, I decided; I’d combine art and fashion.« 23
Die anmutige Haltung des Mannequins sowie ihr Dialog mit Skulptur und Spiegel – sowohl das Modell als auch die Plastik spiegeln sich – fügen sich in die Ikonographie der Modegraphik und sind kompositorisch nicht außergewöhnlich. Auch ist dieses Motiv innerhalb der Fotografien Poirets durchaus nicht singulär, sind doch auch andere Modeaufnahmen erhalten, die Modelle vor eben diesem Spiegel und Brâncușis »Maiastra« in Poirets Modehaus in 26 Avenue d’Antin zeigen.24 Besonders bekannt ist eine Aufnahme von 1919 (Abb. 5), die Denise Poiret, die Ehefrau des Couturiers, in seinem Entwurf »Faune« inszeniert.25 Das zarte Oberteil aus Goldlamé kontrastiert zu einem Rock aus Affenfell und Goldfransen. Diese expressive Toilette wird gerahmt von goldenen Schuhen und einer Kopfbedeckung aus Gold und Fell. Diese auch Man Ray zugeschriebene Fotografie stammt vom Pariser Fotoatelier Delphi.26 Delphis Komposition ist indes ungleich raffinierter als Man Rays erste Modefotografie. So ist Madame Poiret, die sich auf die Konsole im Jahr 1925 und der Versteigerung seiner Kunstsammlung (vgl. White 1989, wie Anm. 3, S. 220) noch im Besitz der Familie befand. 23 | Ray 1998 (wie Anm. 21), S. 104. 24 | Erhalten ist eine Modeaufnahme aus dem Jahr 1923, die ein Modell in einem Entwurf von Poiret und Perugia-Schuhen zeigt und ebenfalls den Spiegel und die Skulptur zeigt sowie eine Fotografie von Gilbert René aus dem Jahr 1922, die sich desselben Settings bedient. https://www.pinterest.com/wearhistory/favorite-designers-paul-poiret/ (31.03.2015). 25 | Zu Denise Poiret in »Faune« von Paul Poiret vgl. White 1989 (wie Anm. 3), S. 179; vgl. auch Mackrell, Alice: Paul Poiret, New York 1990, S. 79. 26 | Auch in Monographien zu Man Ray wird diese Fotografie dem amerikanischen Fotografen zugeschrieben. Vgl. u.a. Esten, John: Man Ray. Bazaar Years, New York 1988, S. 8. Vermutlich hängt dies mit dem vom Fotografen kolportierten ersten Fototermin bei Poiret zusammen, bei dem eben Spiegel und Plastik erwähnt werden. Gegen die Zuschreibung spricht die Datierung auf 1919 (Anlass war ein »Auftritt« in Poirets Tanzcafé Oasis, das in seinem eigenen Garten eröffnete und 1920 bereits wieder schloss). Man Ray indes kam erst 1921 in Paris an. Von Delphis Shooting ist eine weitere Aufnahme erhalten, die Denise Poirot im selben Kleid, allerdings mit Überwurf, vor anderem Hintergrund zeigt. Abb. in: White 1989 (wie Anm. 3), Abb. 24.
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vor dem Spiegel stützt, in einer exaltierten Pose festgehalten, für die sie ihr Becken nach vorn schiebt, sodass der Körper in einer ungewöhnlich kurvigen Linie inszeniert ist. Diese Haltung findet ihr Äquivalent in den geschwungenen Formen der Brâncuși-Plastik und nähert den bronzenen Vogel und das Modell noch deutlicher einander an. Zudem ergeben sich interessante Assoziationen durch die Überlagerung von Arm und Skulptur sowie die vielfältigen mimetischen Übersetzungen des Themas »Tier« in Kunst und Mode. So verweist Brâncușis Skulptur auf einen mythischen Goldvogel aus der rumänischen Sagenwelt und ist zugleich die künstlerische Abstraktion eines Naturvorbildes. Poiret wiederum verarbeitete Affenfell für seinen Entwurf »Faune«, dessen Titel wiederum die Tierwelt thematisiert. Diese semantischen Überlagerungen und Verschränkungen zeigen deutlich, wie kreativ die Interdependenzen zwischen Mode und Fotografie sein können.
Abbildung 6: Man Ray: Elsa Schiaparelli, 1934 Quelle: Francois Baudot: Schiaparelli, München/Paris/London 1997, S. 23. Für Man Ray waren die frühen Aufnahmen im Atelier Poirets der Beginn einer erfolgreichen Schaffenszeit als Modefotograf, eine fotografische Praxis, die er begleitend zu seinen experimentellen Fotoarbeiten wie Rayografie oder Solarisation konsequent verfolgte. So veröffentlichte Man Ray in den folgenden Jahren Modefotografien in Zeitschriften wie »Vogue«, »Vu«, »Vanity Fair« sowie ab 1932 für
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»Harper’s Bazaar« und erhielt Aufträge von Pariser Modehäusern wie Chanel oder Schiaparelli.27
S URRE ALE V ERFLECHTUNGEN UM E LSA S CHIAPARELLI Im Jahr 1934 fotografierte Man Ray die Couturier Elsa Schiaparelli in eigenen Entwürfen (Abb. 6): Sie trägt eine kurze Stola aus weißen Gänsefedern sowie ein bodenlanges Kleid, dessen Rockteil vorn in Falten gelegt zu scheint, die ihren Körper vertikal teilen und die Scham betonen. Diese Trompe-l’œuil-Falten wurden durch Schablonendruck hergestellt.28 Schiaparelli legt die Arme um die Taille, der Körper wendet sich vom Betrachter ab, der Blick schweift in die Ferne. Diese distanzierte Haltung akzentuiert die Noblesse der Erscheinung und rückt zugleich die Mode selbst in den Blickpunkt. In Entwürfen wie der Federjacke, die ihre Trägerin in eine Vogel-Frau transformiert, wird Schiaparellis Interesse am Transgressiven augenscheinlich, wie es auch in Motivwelten vieler surrealistischer Künstler begegnet. Die Vogelmenschen in Arbeiten von Max Ernst oder Salvador Dalís Zwitterwesen aus Mensch und Ding könnten hier genannt werden. Schiaparellis Passion für die Synthetisierung von menschlichem Körper und Objekt findet Ausdruck in anthropomorphen Entwürfen wie den Handschuhen mit roten Fingernägeln (Abb. 7), für die sie 1936/37 rot gefärbtes Schlangenleder auf schwarze Lederhandschuhe applizierte. Mode, in der Literatur häufig als »zweite Haut«29 bezeichnet, verwächst hier mit ihrer Trägerin und wird zum Motor einer Metamorphose – ein Moment, das Schiaparelli mit der zum Kreis der Surrealisten gehörenden Künstlerin Meret Oppenheim verbindet, die 1936 die anthropomorphe Plastik »Pelzhandschuhe« und für Schiaparelli Schmuck entwarf.30
27 | Vgl. Hartshorn, William: Introduction, in: Esten 1988 (wie Anm. 26), S. 9-16, hier S. 11-13. 28 | Die Schablonen wurden von Jacques Dunand hergestellt. In Schiaparellis Entwürfen begegnet ein wiederholtes Interesse am tromp-l’œuil, so erstmals an einem Pullover, den am Kragen eine gestrickte Schleife zierte und mit dem sie 1927 sofort bekannt wurde. Vgl. White, Palmer: Elsa Schiaparelli: Empress of Paris Fashion, New York 1986, S. 60ff. 29 | Vgl. u.a. Böhm, Thomas/Lock, Birte/Streicher, Thomas (Hg.): Die zweite Haut. Über die Moden, unter die Haut, hinter die Kulissen, Berlin 1987. 30 | Abb. der Plastik »Pelzhandschuhe« und des für Schiaparelli geschaffenen Schmuckstücks »Pelzarmband«, beide 1936 entstanden, finden sich in Meret Oppenheim. Retrospektive. »mit ganz enorm wenig viel«, Ausst.-Kat. Kunstmuseum Bern 2006, S. 152-153.
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Abbildung 7: Elsa Schiaparelli: Schwarze Lederhandschuhe mit Applikationen aus rotem Schlangenleder, 1936/37 Quelle: Ghislaine Wood (Hg.): Surreal Things. Surrealism and Design, Ausst.-Kat. Victoria & Albert Museum, London 2007, S. 138, 145. Schiaparellis ausgefallene Entwürfen zeigen nicht nur eine Auseinandersetzung mit den Themen und Ideen surrealistischer Künstler, die sie inspirierten, sondern sie kollaborierte für ihre Schöpfungen auch mit ihnen, darunter mit Jean Cocteau, der für sie 1937 eine Jacke sowie eine Abendtoilette entwarf. In diesen Designs arbeitete der Schriftsteller und Künstler, wie in seinen Zeichnungen, mit scharfen Konturen und Profillinien. Besonders produktiv waren Schiaparellis Kooperationen mit Salvador Dalí, dessen Werk sie nicht nur aneignend in ihre Moden einbrachte, sondern mit dem sie auch einige gemeinsame Modeentwürfe realisieren konnte. Ergebnis dieser Zusammenarbeit war ein »Shoe hat« (1937), der Kopf- und Fußbedeckung zusammenführte und damit eine neue sinnliche Erfahrung auslöste. Zugleich paraphrasierte dieses modische Accessoire auch psychologische Deutungen von Kleidungsstücken als Fetische oder sexuell konnotierte Symbole. So heißt es in »The Psychology of Clothes« von John Carl Flügel, einer 1930 erschienenen Abhandlung über den psychologischen Symbolwert der Kleidung: »We know, however, that a great many articles of dress, such as the shoe, the tie, the hat, the collar […] may be phallic symbols, while the shoe, the girdle, and the garter (as well as most jewels) may be corresponding female symbols.«31 Dalí 31 | Flügel, John Carl: The Psychology of Clothes, London 1930, S. 27.
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und Schiaparelli schufen, um mit Flügel zu sprechen, einen modischen Gegenstand als Zwitterwesen, halb Hut, halb Schuh, halb Phallus, halb Vulva.
Abbildung 8: Elsa Schiaparelli: Organza-Kleid mit Hummer, 1937, Philadelphia Museum of Art Quelle: Francois Baudot: Schiaparelli, München/Paris/London 1997, S. 59. Ähnlich erotisch aufgeladen und hybrid ist Dalís »Téléphone-Homard« (1936) mit einem Hummer als Telefonhörer, das verlebendigtes Objekt und vergegenständlichtes Tier zugleich ist und damit im Sinne animistischer Theorien die dichotomischen Grenzen von Natur/Ding in Frage stellt.32 In Dalís Pavillon »The Dream of Venus« zur New Yorker Weltausstellung 1939 erhält der Hummer eine explizit sexuelle Konnotation, indem das Schalentier auf den Schoß einer nackten Frau gelegt ist und damit das männliche Genital substituiert.33 Die Konnotation des Lobster als Symbol von Geschlechtlichkeit und Sexualität wird auch von Schia32 | Zum Infragestellen von Dualismen und Antagonismen von Mensch/Tier, Mensch/Maschine, Kultur/Natur, belebt/unbelebt im theoretischen Konzept des Animismus vgl. Anselm Franke: Jenseits der Wiederkehr des Verdrängten, in: Animismus. Moderne hinter den Spiegeln, Ausst.-Kat. Generali Foundation Wien 2012, S. 19-36. 33 | Vgl. eine Fotografie von George Platt Lynes, die eines der Modelle aus dem Pavillon als (kopflosen) Akt mit Hummer zeigt. Abb. in: Alles Dalí. Film, mode, fotografie, design, reclame, schilderkunst, Ausst.-Kat. Caixa Forum, Barcelona 2004, S. 194/195.
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parelli adaptiert, die den gekochten und damit roten Hummer als textiles Dekorum auf ein Organzakleid übertrug (Abb. 8). Schiaparellis Umsetzung indes zeigt ähnliche erotische Verweise, die jedoch subtiler eingesetzt werden. So weist der Schwanz des Hummers als »männliches Genital« auf den Schoß der potentiellen Trägerin. Die besondere sexuelle Spannung, die diesem Entwurf anhaftet, entsteht aus der Zusammenschau von erotischem Symbol und zarter Stofflichkeit wie weißer Farbe des Kleides. Deutlich wird dies in der fotografischen Inszenierung des Entwurfs: Kurz vor ihrer Heirat mit Edward VIII. ließ sich Wallis Simpson im Mai 1937 von Cecil Beaton in Schiaparellis Lobster-Kleid fotografieren (Abb. 9).34 Im Garten des Château de Candé entstand eine Serie an Aufnahmen, die Eingang auf eine achtseitige Reportage in »Vogue« fanden. Beaton inszenierte Simpson als märchenhaft zartes und elegantes Wesen inmitten von Sträuchern und Blättern stehend. Die Zweige in ihrer Hand assoziieren mythologische Referenzen an die Figur der Flora, und das Lobster-Kleid betont die Symbiose mit der sie umgebenden Natur. Zugleich steht die Reinheit und Fragilität der Erscheinung in Kontrast zum erotischen Motiv.35 Der Hummer zeigt auf Simpsons Schoß. Die dem Kleid und mehr noch der Fotografie Beatons eigene Spannung zwischen mädchenhafter Unschuld und erotischer Obsession ließe sich in einer dritten Ebene auf das hier fotografierte Modell selbst übertragen: denn schließlich unterhielt die bereits das zweite Mal verheiratete bürgerliche Amerikanerin Simpson eine skandalöse Liaison mit dem englischen Thronfolger Edward Prince of Wales, die nach seiner Inthronisierung zur Abdankung führte.36 Beatons Fotografie ist zwar in dem ihm eigenen glamourösen Stil mit sorgfältig gesetzten Lichteffekten und den großen, theatral inszenierten Auftritten seiner Protagonistinnen gehalten.37 Und dennoch reagiert er auf die subtile Erotik des Lobster-Kleides.
34 | Beide kannten sich bereits von gesellschaftlichen Anlässen, und Beaton sollte in der Folge nicht nur die Hochzeit von Simpson und Edward fotografieren, sondern auch andere royale Ereignisse wie die Krönung Königin Elisabeths fotografisch begleiten. Vgl. Ross, Josephine: Beaton in Vogue, New York 1986, S. 11 und S. 125-152 mit zahlreichen Fotografien aus dem Hause Windsor. 35 | »The virginal simplicity of the white dress is belied by the rotically charged placement of the lobster on the front of the skirt, a symbolism possibly lost on the wearer.« Dilys Blum: Fashion and Surrealism, in: Wood, Ghislaine (Hg.): Surreal Things. Surrealism and Design, Ausst.-Kat. Victoria & Albert Museum, London 2007, S., S. 139-159, hier S. 153. 36 | Vgl. Vickers, Hugo: Behing Closed Doors. The Tragic, Untold Story of the Duchess of Windsor, London 2011, S. 273-326. Edward VIII. musste nach extensiven Berichten der amerikanischen Presse seinen Rücktritt erklären, da die Ehe des britischen Souveräns und Oberhaupts der anglikanischen Kirche mit einer geschiedenen Frau nicht toleriert wurde. 37 | Zum fotografischen Stil Cecil Beatons als Fotograf der Vogue vgl. Ross 1986 (wie Anm.); vgl. auch Garner, Philippe: An Instinct for Style, in: Ders./Mellor, David Allan: The Essential Cecil Beaton. Photographs 1920-1970, München 2012, S. 60-80.
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Abbildung 9: Cecil Beaton: Wallis Simpson in Elsa Schiaparellis Lobster-Kleid, 1937 Quelle: Judith Watt: Vogue on Elsa Schiaparelli, München 2013, S. 106, 100. Erneut war es Cecil Beaton, der Schiaparelli und Dalís Entwurf für einen »Desk Suit« in Szene setzte. In Anlehnung an Dalís Gemälde »Der anthropomorphe Kabinettschrank« von 1936 oder seine Skulptur »Venus de Milo aux tiroirs« aus demselben Jahr schufen die beiden in einem Akt des »Art crossing«38 zwischen Mode und bildender Kunst eine kleine Kollektion aus Tageskostümen und Mänteln, die mit kleinen Schubladentaschen besetzt waren.39 Einige dieser Schubladen waren tatsächlich als Taschen zu benutzen, andere wurden nur als Attrappen aufgesetzt. Beaton fotografierte die ausgeführte Kollektion für die »Vogue« vom 30. September 1936 und situierte seine Modelle in einer Landschaft, die mit ihrem tiefen Horizont, der baumlosen und von Felsen bestimmten Weite an Bildfindungen Dalís erinnert. Zwei Frauen stehen im Vordergrund. Während die vordere ihre Augen verdeckt, liest die andere in einer Ausgabe der surrealistischen Zeitschrift »Mino-
38 | Begriff nach Loschek, Ingrid: Wann ist Mode? Strukturen, Strategien und Innovationen, Berlin 2007, S. 130. 39 | Schiaparellis Zeichnung des »Desk Suit« aus dem Jahr 1936 ist reproduziert in: Martin, Richard: Fashion and Surrealism, Ausst.-Kat. The Fashion Institute of Technology, New York 1987, S. 118.
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taure«. 40 Auf dem Titel dieses achten Heftes des Jahres 1936 ist ein Minotaurus aus der Hand Dalís reproduziert, auf dessen Brust sich eine Schublade öffnet. Mit der Zeitschrift verweist Beaton auf den Ideengeber und Co-Autor der Entwürfe, Salvador Dalí, und verwebt Mode und Kunst in einen Kreislauf der Kreativität. Indem Beaton seine Modelle in eine surrealistisch konnotierte Landschaft stellt, übernimmt und variiert er den surrealistischen Gedanken einer Entgrenzung von Traum und Leben. Die (lebendigen) Modelle werden in eine (künstliche) Landschaft gestellt und ersetzen damit jene Puppen, mit denen surrealistische Künstler als unheimliche Wiedergängerinnen der Frauen operierten. 41 In diese Bildfindung fließen auch ursprüngliche Bedeutungen des Begriffs »Mannequin« ein. Meinte dies bereits seit dem 19. Jahrhundert die Vorführ- und Probierdame, so bedeutete der Begriff ursprünglich »Gliedermann«, eine Puppe aus Holz, Pappe oder Wachs. 42 Beatons Fotografie ist damit in einem steten »Dazwischen« angesiedelt: Puppe und menschliches Modell, Schrank und Kleid, Mode und Kunst sind hier in einer Komposition verwoben. Die Fotografie wiederum übersetzt das Setting, die Modelle und die Kleidung wieder in die Zweidimensionalität des fotografischen Bildes. Neben Cecil Beaton setzten auch andere künstlerisch ambitionierte Fotografen die Entwürfe Schiaparellis in Szene, darunter Man Ray, dem Kreis der Surrealisten zugehörig, Horst P. Horst und George Hoyningen-Huene. Ihre Fotografien entwickelten eine kreative Perspektive auf Schiaparellis Moden, indem die spezifische Ästhetik der Fotografen den extrovertierten Entwürfen der Couturier einen eigenen Ausdruck verlieh. Im Unterschied zu dem Modemacher Paul Poiret, der Modegraphik und Modefotografie vor allem zur Interpretation, Kommunikation und Distribution seiner Entwürfe einsetzte, war Schiaparelli offensichtlich an einer engeren Arbeitsbeziehung mit Künstlern interessiert, die bereits im Schaffens- und Kreationsprozess einsetzte. Bei Poiret waren die eigenen Entwürfe und realisierten Kleidungsstücke Ausgangspunkt für eine künstlerische Inszenierung und Transformierung in andere Medien wie Graphik und Fotografie; Poirets Moden blieben dabei eine souveräne Leistung des Couturiers, wobei er die freie Aneignung und die damit 40 | Vgl. Watt, Judith: Vogue on Elsa Schiaparelli, München 2013, S. 104. 41 | So inszenierten surrealistische Künstlerinnen und Künstler in der Ausstellung »Exposition Internationale du Surréalisme«, 1938 in der Galerie Beaux-Arts, in Paris Schaufensterpuppen. Vgl. Wood, Ghislaine: The Surreal Body: Fetish and Fashion, Ausst.-Kat. Victoria & Albert Museum, London 2007, S. 26-31. Zur Verwendung des Puppenkörpers in der surrealistischen Kunst vgl. Mahon, Alyce: Displaying the Body. Surrealism’s geography of pleasure, in: Surrealist Things (wie Anm. 35), S. 119-137. 42 | Wagner, Gretel: Mode in alten Photographien. Eine Bildersammlung, Berlin 1979, S. 3; vgl. auch Teunissen 2007 (wie Anm. 5), S. 177-179, wo die Invention des menschlichen Mannequins auf den »ersten« Couturier Charles Frederick Worth und in seiner Nachfolge Paul Poiret zurückgeführt wird.
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verbundene Veränderung seiner Schöpfungen zuließ. Mehrere Entwürfe Elsa Schiaparellis entstanden jedoch in Auseinandersetzung, oftmals auch in direkter Kollaboration mit Künstlerinnen und Künstlerin ihres Umfeldes, wobei sie sich dezidiert für surrealistische Positionen interessierte. Mode wird hier von Anbeginn als eine entgrenztes Ausdrucksform verstanden. Die fotografische Umsetzung wiederum führt erneut zu einer kreativen Weiterentwicklung der Mode. Die Couturiers Elsa Schiaparelli und Paul Poiret sind dabei wichtige Schlüsselfiguren in den künstlerischen Netzwerken im Paris des frühen 20. Jahrhunderts.
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Flüchtigkeit und die Eliminierung von Erinnerung durch die Dynamik steten Wandels gelten als die definierenden Eigenschaften der Mode. Gerade vor dem Hintergrund einer zunehmenden Beschleunigung in der Produktion von Kleidung als Fast Fashion, zeichnen sich jedoch seit nunmehr einigen Jahren auch verbreitet andere Tendenzen ab: Kleidungspraktiken, die direkt über die eigene Körperinszenierung Erfahrungen von Zeit und Erinnerung suchen, vermitteln, produzieren oder aufführen. Das Neudefinieren von gebrauchten, gealterten und entsorgten Kleidungsstücken, die unter dem Begriff Vintage ihren Weg durch den Konsumkreislauf zurück zu neuen Trägern finden, ist ein prägnantes Beispiel für diese Entwicklung. Digitale Kommunikationsmedien und ihre Einbindungen in neue sozio-technologische Alltagspraktiken wie Blogging, Instagram, Twitter und Facebook, gelten u.a. als Motoren, die eine neue Qualität der Zeiterfahrung bewirken, und zwar vor allem eine Erfahrung zunehmender Schnelllebigkeit und Unmittelbarkeit. Aber auch in diesen medialen Räumen entwickeln sich vielfältige Praktiken der Auseinandersetzung mit dem Thema Zeitlichkeit – inklusive mit einer ihrer besonders intensiven Erfahrungsformen: der Nostalgie. Dabei wird diese kulturell meist negativ bewertet, oft als ein Zeichen von Rückständigkeit oder kreativem Stillstand. Wie die Literaturwissenschaftlerin Svetlana Boym schreibt, gilt Nostalgie als eine Art »bad word«. 1 Sie passt nicht zu der Idee von Innovation und Fortschritt, wie sie durch die Erzählungen der Moderne (und gerade auch der Mode) propagiert werden. Eine Auseinandersetzung mit ihr in der ästhetischen Praxis, speziell dem Umgang mit Kleidung, kann allerdings auch Wege eröffnen, Zeitlichkeit und das moderne Zeitregime das gerade auch mit Mode assoziiert wird, zu befragen. Über den Zugang einiger Bildbeispiele der amerikanischen Bloggerin Tavi Gevinson soll hier möglichen Verbindungen zwischen dem (Re-)Zirkulieren von Mode und Kleidung, Zeitlichkeit, und der Verbildlichung von Selbst, Erinnerung und Nostalgie nachgegangen werden. 1 | Boym, Svetlana: The Future of Nostalgia, New York 2001. S. 14.
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TEENAGE -N OSTALGIE »Nostalgie schleicht sich an Dich an und versetzt Dich in einen Nebelzustand, und genau das hat diese Kollektion gemacht. Ihre simple Schlichtheit hat jeden an diesem Abend in eine Art Kindheitszustand versetzt.«2 Mit diesen Worten beschreibt die damals vierzehnjährige Tavi Gevinson ihre Eindrücke zu Marc Jacobs’ Herbst-Winter Kollektion 2011. Die Nostalgie, wie sie Tavi hier beschreibt, versteht sie dabei zurückgehend auf einen besonders »inspirierenden Moment der Kindheit, als alles noch beeindruckend und neu war. Es ist schwierig einen derartigen Zustand konstanter Freude und Verwunderung beizubehalten, aber gelegentlich kommt dann doch so etwas wie zum Beispiel diese Kollektion daher, und Du kannst gar nicht anders als mit großen Augen schauen.« 3
Tavis Auseinandersetzung mit Nostalgie, die sie hier mit dem Prozess des Alterns verbindet, beschränkt sich nicht allein auf die Kontextualisierung oder Interpretation gegenwärtigen Modedesigns, sondern sie zeigt sich auch in ihrer eigenen Stilpraxis und in ihren Tätigkeiten als eine der ersten bekannten Modebloggerinnen. Ihr Blog The Style Rookie, den sie im Alter von elf Jahren startete, eröffnete ihr einen neuen Raum in dem sie sich über die Grenzen ihrer unmittelbaren Freunde und Familie in der vorstädtischen Umgebung von Chicago/Illinois hinaus, mit gleichgesinnten Modeinteressierten austauschen konnte. Damit bot ihr Blog für sie auch eine neue Form der Erfahrung und Erweiterung des Selbst: Eine neue Technik und Plattform für vestimentäres Experimentieren und das Erkunden und Ausprobieren von Körper und Identität durch Kleidung, Text- und Bildproduktion. 4 Tavi Gevinson generierte eine schnell wachsende Leserschaft. Im Alter von dreizehn Jahren berichtete sie über die internationalen Modeschauen in New York und positionierte sich schnell an die Spitze der neuen Bloggergeneration. Bereits im Alter von vierzehn Jahren weitete Tavi ihre kreativen Interessen und Tätigkeiten professionell aus und begründete das digitale Teenagemagazin Rookie;5 eine von der Riot Grrrl Bewegung inspirierte und zu herkömmlichen Jugendmagazinen alternative Plattform für die Auseinandersetzung mit den Themen der Adoleszenz. Das Magazin hat eine ähnlich anmutende Mash-up Ästhetik wie auch ihr Blog, der sich aus Bildern und medial vermittelten Überresten und Erinnerungen der Vergangenheit speist. Artikel zu den Themen Nostalgie und Erinnerung, oder auch Nostalgie generierende Bilder und Beitrage, finden sich im 2 | Gevinson, Tavi: Nostalgia by Marc Jacobs, in The Style Rookie, 27. Juni 2010, www. thestylerookie.com/2010/07/nostalgia-by-marc-jacobs.html. Übersetzung der Autorin. 3 | Ebd. Übersetzung der Autorin. 4 | Vgl. zur Verbindung von Blogging und Identität Rocamora, Agnès: Personal fashion blogs: Screens and mirrors in digital self-portraits, in Fashion Theory, 15: 4, 2011, S. 407-424. 5 | www.rookiemag.com (31.03.2015)
Modezeiten — Bildwelten: Erinnerung und Nostalgie in der Kleidungspraxis
digital erscheinenden Magazin sowie in dem in Druckform erscheinenden Sammelband Rookie Yearbook.6 Inspiriert von den Dekaden der 1950er bis hin zu den frühen 2000er Jahren, vermitteln sowohl die Webseite als auch die Jahresbücher eine collagenartige Ästhetik verblasster Polaroids und Vintage-Kleider. In einem Interview in Collectors Weekly, einem digitalen Magazin für Vintage-Enthusiasten und Sammler, beschreibt Tavi die »Magie der Nostalgie« die sie auf besondere Art speziell im Umgang mit alter Kleidung verspürt da diese eine Geschichte haben.7 Ob man diese Geschichte kennt oder nicht, ob es sich bei dem Kleidungsstück um eine Erbstück oder ein Fundstück im Secondhandshop handelt, 8 aufgrund ihrer Zeitlichkeit haben die alten Kleider einen besonderen Wert. Tavi beschreibt damit das imaginäre Potential das sich für sie in den materiellen und zeitlichen Eigenschaften alter Kleidung vermittelt. Der Beitrag beinhaltet eine Reihe von Fotografien, die Tavi im Jahr 2012 auf ihrem Blog unter dem Eintrag »My United States of Whatever« gepostet hat.9 Fotografiert von der jungen kanadischen Künstlerin Petra Collins, portraitiert die Bildserie Tavi in 1960er und 1970er Jahre angelehnten Styles. In den Bildern vermittelt sich eine performative Auseinandersetzung mit den Komplexen Adoleszenz, Identität, dem Umgang mit Bildern von Weiblichkeit, Zeit/Raum und dem Aufwachsen im amerikanischen Suburbia und der Erfahrung von Erinnerung und Nostalgie. Die Bildserie zeigt Tavi in verschiedenen Plätzen ihrer Nachbarschaft, die sie in einer Liste notiert, weil sich diese Orte für sie wie zeitlich eingefrorene Momente anfühlen.10 Sie zeigen Tavi auf leeren Straßen, mit Rissen im Asphalt oder positioniert unter einem veraltet anmutenden Werbeschild für Polarbear-Icecream. Mal sitzt sie nachdenklich auf dem Bürgersteig, im Hintergrund ein an »Easy Rider« und die Weiten amerikanischer Straßen erinnerndes Motorrad. Ein weiteres Bild (Abb. 1) zeigt sie auf einer kleinen Rasenfläche sitzend, im Hintergrund ein mit Maschendraht abgegrenztes Flachbauhaus. Angezogen in buntgestreiften Shorts mit goldener Lurexbluse, hört sie hier Musik auf einem Vinylalbum vom batteriebetriebenen Plattenspieler – eine Erinnerung an ein langsameres Zeittempo und eine Musikerfahrung vor dem digitalen Zeitalter, in dem sie selbst aufwächst.
6 | Gevinson, Tavi (Hg.): Rookie Yearbook One, Montreal 2012. Gevinson, Tavi (Hg.): Rookie Yearbook Two, Montreal 2013. 7 | Oatman-Stanford, Hunter: Nostalgia is magic: Tavi Gevinson remixes teen culture, in Collectors Weekly, 28. November 2012, www.collectorsweekly.com/articles/tavi-gevinsonremixes-teen-culture/ (31.03.2015). 8 | Ebd. 9 | Gevinson, Tavi: My United States of whatever, The Style Rookie, 26. Juni 2012, www. thestylerookie.com/2012/06/my-united-states-of-whatever.html (31.03.2015). 10 | Oatman-Stanford, Hunter: Nostalgia is magic: Tavi Gevinson remixes teen culture, in Collectors Weekly, 28. November 2012, www.collectorsweekly.com/articles/tavi-gevinson-remixes-teen-culture/ (31.03.2015).
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Abbildung 1: Tavi Gevinson, Foto: Petra Collins, veröffentlicht auf Tavi Gevinson’s Blog thestylerookie.com, www.thestylerookie.com/2012/06/my-united-states-of-whatever.html, 22. Juni 2012. Das Hören von Musik kann ein imaginäres Überschreiten zeitlicher und räumlicher Grenzen eröffnen, ähnlich wie auch Tavis an Rock- und Popbilder der 1960er und 1970er Jahre erinnernde Kleidung hier wie ein imaginärer Ausbruch aus dem eingezäunten, suburbanen Raum aussieht. Die dominanten Pastelltöne in diesen Bildern, insbesondere die Farbe Pink, erinnert an die geschlechtsspezifische Farbgebung für Konsumobjekte amerikanischer Teenagekultur, sowie auch an die auf weibliche Konsumentinnen abgezielten Haushaltseinrichtungen der 1950er Jahre,11 die diesen Bildern eine weitere Dimension von Nostalgie ver11 | Sparke, Penny: As Long as it’s Pink: The Sexual Politics of Taste, London 1995, S. 196.
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leihen. In ihrem gefilterten Stil und in ihren durchdachten Inszenierungen von Körper, Kleidung, Styling, Raum-Zeit, und der Verwendung von Farbe und Licht vermitteln die Bilder ein Gefühl der Langsamkeit. Das träge Tempo sich still hinziehender Sonntag-Nachmittage im vorstädtischen Raum darstellend, erinnern die Bilder an Edward Hoppers Bilder alleinstehender Häuser und leerer Straßen und zeigen darin auch Langeweile und Alleinsein auf. Der Titel der Bildserie »My United States of Whatever« könnte auch als »wherever« in Bezug auf eine Homogenität gelesen werden, die stereotyp mit dem Leben im vorstädtischen »Irgendwo« verbunden wird. Die Kleidung und das Styling von Tavi erzählen hier auch Geschichten eines potentiellen »Misfit« in diesem Raum. Der fotografische Stil, die Kleidung und die räumlichen und zeitlichen Anspielungen an die amerikanische Teenagekultur der 1950er Jahre wecken Assoziationen mit der Ästhetik und der Thematik der Filme von Wes Anderson, insbesondere dem zu Tavi’s Bildern zeitnah erschienenen Film Moonrise Kingdom aus dem Jahr 2012. Die Bilder wecken auch Erinnerungen an das Teenage-Drama The Virgin Suicides, verfilmt von Sofia Coppola im Jahr 1999, nach dem Buch von Jeffrey Eugenides aus dem Jahre 1993. Der Film spielt in den 1970er Jahren und ist in einem ähnlich gefilterten Ton fotografiert, der die Beschäftigung mit den Themen Erinnerung, Rückblick, Nostalgie, und dem Aufwachsen in einer restriktiven, vorstädtischen Raum-Zeit visuell und affektiv unterstützt. Tavi hat bereits an verschiedenen Stellen darüber reflektiert, wie tief The Virgin Suicides ihr ästhetisches Empfinden beeinflusst hat.12 Die in Tavis Bildern konstruierte suburbane Raum-Zeit produziert einen Rahmen für ein performatives Erleben von Zeitlichkeit: dem Verbringen von Zeit in den eingeschränkten Räumen jugendlicher Freizeitwelten, der Vorstellung vorangegangener historischer, sowie medial oder bildlich vermittelter Zeiträume, und auch der transitorischen Erfahrung von Identität und des Übergangs von Kind zu Teen zu junger Frau: Zwischenstadien die in den Bildern auch über die Kleidung erzählt werden. Zum Beispiel sieht man Tavi in einem der Bilder verträumt vor einem weiß-rosa gestrichenen Garagentor. Gekleidet in einen leichten, weißen Spitzenmantel mit Margeritenmuster, über einem blassgrünen 1960er Jahre Kleid mit Peter-Pan Kragen, hält sie in einer Hand einen pinkfarbenen Lippenstift und in der anderen Hand eine transparente Sonnenbrille mit rosa Gläsern. In einem nächsten Bild sieht man sie dann kniend mit rosa Kreide eine Blume auf den Asphalt zeichnen (Abb. 2). Der rosa Lippenstift ist zur Seite gelegt neben die rosarote Brille – die hier an eine der klassischen Metaphern für Nostalgie erinnert.
12 | Gevinson, Tavi: Teenage disconnect and The Virgin Suicides, in NPR Books, 26. December 2012, www.npr.org/2012/12/26/163570963/teenage-disconnect-and-the-virginsuicides (31.03.2015).
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Abbildung 2: Tavi Gevinson, Foto: Petra Collins, veröffentlicht auf Tavi Gevinson’s Blog thestylerookie.com, www.thestylerookie.com/2012/06/my-united-states-of-whatever.html, 22. Juni 2012.
R E TRO UND E RSAT Z -N OSTALGIE Fred Davis vergleicht in seiner soziologischen Studie Yearning for Yesterday Nostalgie mit einer Art Teleskoplinse auf das Leben, die einzelne Momente der Vergangenheit vergrößert, während sie andere Momente vernebelt oder ausblendet.13 Es ist diese verzerrte Sichtweise auf die Vergangenheit, die Nostalgie attraktiv, 13 | Davis, Fred: Yearning for Yesterday: A Sociology of Nostalgia, New York/London 1979.
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gleichzeitig aber auch höchst suspekt macht: Entweder weil sie Erinnerung filtert und Geschichte/n als variierbare Versionen produziert. Oder weil sie der Idee der Modernität – und der an sie geknüpften Ideologie von Fortschritt und Innovation – regressiv im Weg zu stehen scheint. Die beschriebenen Bildproduktionen von Tavi Gevinson und Petra Collins könnten hier als ein Symptom der »Retromania« gesehen werden, wie sie Simon Reynolds in seinem gleichnamigen Buch im Kontext der Musik diskutiert, das in der englischsprachigen Ausgabe mit dem Untertitel Pop Culture’s Addiction to Its Own Past versehen ist.14 Er versteht vor allem die Jugend von dieser Sucht nach popkultureller Vergangenheit befallen, wenn er sagt: »What seems to have happened is that the place The Future once occupied in the imagination of young music-makers has been displaced by The Past: that’s where the romance now lies, with the idea of things being lost. The accent, today, is not on discovery but on recovery.«15 Die Sorge hier ist, dass die Allgegenwart der Vergangenheit, ihre weite Verfügbarkeit durch Bilder, Filme und Webseiten nur im »Total Recall« enden können, in der direkten Nachahmung von Vorangegangenem, ein Prozess der in seiner Sicht jede Art von Innovation oder Originalität unterdrückt. Hier findet sich ein Nachhall von Frederic Jamesons Thesen zu Retro im Kontext der 1970er und 1980er Jahre. Bezogen auf Filme wie »American Graffiti«, die in den 1970er Jahren einen nostalgischen Rückblick auf die 1950er Jahre vermitteln, diskutiert Jameson Retro als »Imitation toter Stile« und als Zeichen eines Verlusts von Originalität.16 Das »kannibalische Plündern« der Vergangenheit kann für ihn mit Jean Baudrillard gedacht, nur zu Simulakren führen, oder wie es Jameson formuliert, zu einer identischen Kopie für die ein Original niemals existiert hat.17 Während Jameson Retro im Film diskutiert, hat sich Arjun Appadurai näher mit der Nostalgie im Kontext der Mode auseinandergesetzt.18 Auch hier liegt der Fokus ähnlich auf der Idee eines Verlusts von etwas vorangegangenem »Echten«. Appadurai bezieht sich auf die Stimulierung nostalgischer Gefühle durch Werbung und Modeindustrie, die bei Konsumenten durch sentimentale Andeutungen auf die Vergangenheit die Erfahrung eines Verlust erzeugen, der real jedoch nie stattgefunden hat. Konsumenten lernen auf diese Weise Dinge zu vermissen, die es nie gab.19 Er bezieht sich dabei speziell auf die 14 | Reynolds, Simon: Retromania: Pop Culture’s Addiction to Its Own Past, New York 2011. 15 | Reynolds, Simon: Total recall: Why retromania is all the rage, in The Guardian, 1. Juni 2011, www.guardian.co.uk/music/2011/jun/02/total-recall-retromania-all-rage (31.03. 2015). 16 | Jameson, Fredric: Postmodernism, or the cultural logic of late capitalism, in New Left Review, 146, 1984, S. 53-92: 65. 17 | Ebd. S. 65. 18 | Appadurai, Arjun: Modernity at Large: Cultural Dimensions of Globalization, Minneapolis 1996, S. 77ff. 19 | Ebd. S. 77.
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Modeindustrie und auf den Jugendmarkt abzielende Werbestrategien, die eine »Nostalgie für die Gegenwart« erschaffen.20 Gemeint ist damit die stilisierte Präsentation der Gegenwart, in der diese so erscheint, als sei sie bereits vergangen.21 Beispiele hierfür sind das Verwenden von Sepia und Schwarz-Weiß Fotografien in der Werbung oder – im gegenwärtigen Kontext gedacht – der Gebrauch von Vintage-Filtern in digitalen Photo-Apps wie Instagram, durch die sich die aktuelle Gegenwart wahrnehmen lässt wie in einem gealterten Polaroid-Foto. Für Appadurai zielt die Form kommerzieller Nostalgie nicht nur auf das Bewerben der Erinnerung bestimmter Altersgruppen ab, sondern sie unterstreicht außerdem die Flüchtigkeit der Gegenwart. Die Emotionen, die mit dem Bezug auf die Vergangenheit in der Mode generiert werden, definiert er als eine Ersatz-Nostalgie oder imaginäre Nostalgie. Diese Form von Nostalgie stellt keine wirklichen Beziehungen zu einer eigens erlebten oder erinnerten Vergangenheit her, sondern bewirkt eine Sehnsucht nach einer vorgestellten Vergangenheit, eine Sehnsucht die sich direkt in Konsumbedürfnisse übersetzten lässt. In diesem Sinne wird im Kontext der Konsumkultur Nostalgie zu einer Art leeren Sehnsucht deklariert. Die Modeindustrie kreiert zweifellos Sehnsüchte und Bedürfnisse. Nostalgie wird häufig gezielt eingesetzt um Konsumprodukte mit Emotionen und Erinnerungen aufzuladen um so Gefühle von Nähe und Vertrauen zu generieren. Dies zeigt sich in sämtlichen Produktformen, aber gerade auch im Marketing für neue Technologien. Nostalgie kommt hier mitunter zum Einsatz um vermeintliche Ängste oder Vorbehalte gegenüber dem Neuen und Unbekannten zu minimieren. Die angeführten Thesen zu Retro und Nostalgie, bzw. Erzatz-Nostalgie neigen jedoch auch zu einer limitierenden Festschreibung ihrer Bedeutung im Kontext der Konsumkultur. Im Kontext von Werbung und Warenwelt gilt Nostalgie als negativ, obwohl diese unausweichlich Teile der Alltagskultur sind und mit individueller oder kultureller Erinnerung untrennbar verbunden sind.
B ILDWELTEN , E RINNERUNG UND N OSTALGIE Das Wort Nostalgie ist eine Kombination der griechischen Wörter »nóstos = Rückkehr (in die Heimat) und álgos = Schmerz«.22 Die Begriffsfindung wird dem Schweizer Arzt Johannes Hofer zugeschrieben. In seiner 1688 verfassten Dissertation definiert Hofer Nostalgie als eine medizinische Diagnose für Heimweh, welches er an Schweizer Leutner Soldaten beobachtet, die aufgrund ihrer langjährigen Stationierung fern der Heimat an Schlaf- und Appetitlosigkeit, Melan-
20 | Ebd. 21 | Ebd. 22 | Siehe die Definition und Herkunfsgeschichte des Wortes Nostalgie im Duden: www. duden.de/rechtschreibung/Nostalgie (31.03.2015).
Modezeiten — Bildwelten: Erinnerung und Nostalgie in der Kleidungspraxis
cholie und Depression leiden.23 Gefühle und Symptome von Heimweh sind im 17. Jahrhundert keine neue Entdeckung, wichtig zu bemerken ist hier jedoch ihre Benennung und Einbindung in den Diskurs der Medizin: Persönliche, emotionale Gefühle und Reaktionen auf das Erleben von räumlichen, geografischen und kulturellen Wandel und das Leben in der Fremde, vernetzen sich hier mit sozialen und politischen Systemen der Affektregulierung. Wie Volker Fischer in seiner Studie zur Nostalgie notiert, werden in dieser Zeit »Subsysteme geographischer Identifikationsräume, etwa Heimatgebundenheit, aber auch sich konsolidierende Nationalstaatlichkeit […] im interpersonellen Verhalten, also nach außenhin wahrnehmbar, gewissermaßen eingeklagt.«24 Erst im 19. Jahrhundert beginnt sich der Begriff der Nostalgie über seine räumliche oder geografische Konnotation hinausgehend, auf eine zeitliche Bedeutungsebene auszudehnen und ein Verhältnis zu der eigenen Vergangenheit und damit eine stärker zeitlich orientierte, als raumbezogene Sehnsucht zu beschreiben.25 Dieser Wandel erfolgt auch im Zuge einer zunehmenden Idealisierung von Kindheit als einer eigenständigen Phase in der biografischen Entwicklung. Als Zeit der Unschuld, Ursprünglichkeit, und Entdeckung konzeptualisiert, wird Kindheit zu einem wichtigen Gegenbild zu den mit der Moderne assoziierten Auswirkungen, wie etwa kontinuierlicher Wandel und Veränderung, Rationalität und Entfremdung.26 In diesem Kontext entwickelt sich ein nostalgischer Blick auf die Kindheit zu einer wichtigen Komponente des modernen, industriell und ökonomisch ausgerichteten Zeitregimes. Sie wird zu einer Kompensationsstrategie für eine mit Urbanisierung und Industrialisierungsprozessen erlebte Erfahrung von Beschleunigung und kontinuierlichem Wandel. In diesem Kontext der Idealisierung von Kindheit, wie Nancy Martha West in einer historischen Analyse früher Werbungen der Firma Kodak aufzeigt, werden Nostalgie – sowie die Erfahrungen von Erinnerung und Zeitlichkeit – mit der Entwicklung neuer sozio-technologischer Praktiken vernetzt, insbesondere mit der Fotografie.27 Durch die Entwicklung der Schnappschusskamera im späten 19. Jahrhundert gelangt das Fotografieren aus dem professionellen Studio hinaus in die Hände der Konsumenten, die nun auf spielerische, informelle Weise ihre Erinnerungen selbst produzieren, und auf diese Weise lernen, Fotografien als Sehnsuchtsmomente zu sehen und zu nutzen.28 Assoziiert mit einer idea23 | Vgl. Boym, Svetlana: The Future of Nostalgia, New York 2001, S. 3. 24 | Fischer, Volker: Nostalgie: Geschichte und Kultur als Trödelmarkt, Luzern/Frankfurt a.M. 1980, S. 9. 25 | Dies geht auch mit einem steigenden Interesse an der Dimension der Zeit oder Zeiterfahrung einher, die von der Dimension Raum abstrahiert wird. 26 | Siehe zum Thema Kindheit auch Ariès, Philippe: Centuries of Childhood: A Social History of Family Life, New York 1962. 27 | West, Nancy Martha: Kodak and the Lens of Nostalgia, Charlottesville 2000. 28 | Ebd. S. 5.
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lisierten, a-temporalen Welt gelangen insbesondere Kinder in das Zentrum des fotografischen Blicks – und so auch in den sozialen Fokus: Als beliebtes Bildmotiv und Bestandteil einer neuen sozio-technologischen Praxis werden Kinder in die Einübung, und Idealisierung, neuer Sichtweisen und Erinnerungspraktiken integriert. Wie es West formuliert, »like the memories depicted in a photograph, childhood came to represent what was gone and yet waiting to be found again«.29 Die Vorstellung, dass geographischer Raum oder eine räumliche Veränderung Heimweh auslöst, wird im Zuge der mit der Moderne verbundenen Idealisierung von Eigenverantwortung, Individualisierung, Mobilität, Rationalität und Flexibilität zunehmend kontraproduktiv.30 – Dies bezieht sich vor allem auf den amerikanischen Kontext, wie Susan Matt in der Emotionsgeschichte des Heimwehs nachzeichnet.31 Hingegen entwickelt sich gerade die Konsumkultur zu einer Art letztem Resort in dem das Zulassen sentimentaler Gefühle oder zeitlicher und räumlicher Sehnsüchte nicht nur akzeptabel ist, sondern auch ermutigt wird. Betrachtet man den Wandel in der Begriffskonnotation von Nostalgie, so weitet sich ihr Bedeutungshorizont im 19. Jahrhundert allgemeiner aus. Der Begriff verliert seine ursprüngliche medizinische und militärische Konnotation und beginnt auch über die individuelle Dimension, bzw. über die Kompensation einer eigens erlebten Erfahrung von Wandel hinauszugehen. Nostalgie bezieht sich nunmehr auch auf das Evozieren bestimmter Zeitperioden, die nicht direkt biografisch erlebt oder erinnert sind, sondern durch Mode oder Dingkultur vermittelt sind.32 Das wandelnde Verständnis von Nostalgie fällt zeitlich auch mit einem erweiterten Verständnis der Dynamik von Erinnerung und Gedächtnis zusammen. Maurice Halbwachs beschreibt, in seiner in den 1920er Jahren erschienen Studie über das kollektive Gedächtnis, wie Erinnerungen immer sozial im Austausch mit anderen geformt werden.33 Klare Unterscheidungen zwischen eigener, persönlicher Erinnerung oder sozial und medial vermittelter Erinnerung lassen sich nicht ziehen, vielmehr ist Erinnerung immer sozial oder kulturell an Formen der Medialität gebunden. Erinnerungswissenschaftler wie Astrid Erll und Ann Rigney betonen zudem die zeitliche Dimension der Erinnerung, indem sie diese als eine performative Leistung beschreiben, die in der Gegenwart stattfindet und verortet ist.34 Das Erinnern wird also nicht einfach als ein Zurückholen oder direktes Wiederholen vergangener Ereignisse verstanden, sondern sie wird als dynamisch gefasst, als eine in der Gegenwart stattfindende Handlung, die immer 29 | Ebd. S. 87. 30 | Siehe auch Matt, Susan J.: Homesickness: An American History, Oxford/New York 2011. S. 253. 31 | Ebd. 32 | Vgl. z.B. die Begriffsgeschichte zu Nostalgie im Oxford English Dictionary. 33 | Halbwachs, Maurice: On Collective Memory, Chicago/London 1992. 34 | Vgl. die Einleitung in Erll, Astrid/Ann Rigney (Hg.): Mediation, Remediation and the Dynamics of Cultural Memory, Berlin 2009.
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das Selektieren, Transformieren, Editieren von Geschichten oder vergangenen Momenten beinhaltet.35 Den Dingen, Waren und Bildern kommen in der Praxis der Erinnerung daher hohe Bedeutungen zu. Es ist gerade über Dinge und Bilder, durch die Erinnerungen über vergangene Zeitkontexte hinaus zirkulieren und in eigene Empfindungen von Zeit/en und den in der Gegenwart stattfindenden Austausch mit Vergangenheit eingebunden werden. Vergangene Zeiten können sich damit für nachfolgende Generationen nah und direkt anfühlen und Teil eigener Erinnerung werden, auch wenn diese nicht selbst in diesen Zeiten gelebt haben.36
M ODE , Z EIT, E RINNERUNG Mode und Kleidung nehmen in der Erinnerung eine ganz besonders prominente Position ein. Als das Material das Körper und Selbst formt und zur Darstellung bringt, können über Kleidung und Mode, Zeit oder Zeitlichkeit auf besonders unmittelbare Weise erlebt werden.37 Viele frühe Theoretiker der Mode, wie beispielsweise der Soziologe Georg Simmel, haben sich mit dem spezifischen Verhältnis von Mode und Zeit beschäftigt. Simmel hat auch schon vor über hundert Jahren von dem Gefühl eines sich stetig beschleunigenden Modewechsels geschrieben, den er als einen speziellen Ausdruck des ungeduldigen Tempos »modernen Lebens« interpretierte.38 Simmel setzt den Reiz der Mode gleich mit einem »eigentümlichen Reiz der Grenze, den Reiz gleichzeitigen Anfangs und Endes, den Reiz der Neuheit und gleichzeitig den der Vergänglichkeit.«39 Für ihn steht die Mode »immer auf der Wasserscheide von Vergangenheit und Zukunft und gibt uns so, solange sie auf der Höhe ist, ein so starkes Gegenwartsgefühl, wie wenig andere Erscheinungen.« 40 Mit der Entwicklung digitaler Kommunikationsformen, und der global vernetzten Modeproduktion und Distribution hat sich das Tempo von Mode und Konsum intensiviert. Zygmunt Bauman charakterisiert den Zeitrhyth35 | Ebd., S. 2. 36 | Vgl. auch Landsberg, Alison: Prosthetic Memory: The Transformation of American Remembrance in the Age of Mass Culture, New York 2004. 37 | Vgl. auch Jenss, Heike: Sixties Dress Only! Mode und Konsum in der Retro-Szene der Mods, Frankfurt a.M. 2007. Woodward, Sophie: Why Women Wear What they Wear, Oxford/ New York 2007. 38 | Simmel, Georg: Die Mode, in Silvia Bovenschen (Hg.), Die Listen der Mode, Frankfurt a.M. 1986, S. 179-207: 188. In ihrer zeitlichen Dynamik, bzw. der Definition der Mode durch steten Wechsel, liegt auch eine ideologische Dimension westlichen Denkens begründet, die Wandel als ein spezifisches Merkmal westlicher, »moderner« Kulturen versteht um sich gegenüber anderen »traditionellen« oder als statisch beschriebenen Kulturen »progressiv« abzugrenzen. 39 | Ebd., S. 189. 40 | Ebd., S. 189.
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mus gegenwärtiger Konsumkultur als fiebrig und »hurried«, angetrieben von einem stetig ansteigenden und intensiver werdenden Begehren, dass sich unmittelbar umsetzt in impulsiven Kaufakten und einem beschleunigten Nutzen, Verbrauch und Neuersetzen von Waren. 41 Die Logik der Fast Fashion, die Kleidung als Instantware mit kurzem Nutzwert produziert, steht symptomatisch für dieses beschleunigte Tempo das sich in Mode vermittelt. Sie passt zu einem Zeitgefühl das Bauman als punktuell beschreibt, in der sich ein Gefühl von Kontinuität oder von zeitlicher Entwicklung auflöst in eine Vielzahl unmittelbarer, momentartiger Zeiteinheiten. 42 Vor diesem Hintergrund lässt sich das steigende Interesse an Vintage und das Auseinandersetzen mit Vergangenheit und Zeitlichkeit in der Kleidungspraxis, wie am Beispiel von Tavi beschrieben, als potentielle Gegenbewegung zum schnellen Zeittempo und Vergessen der Mode lesen. Vintage steht dabei keinesfalls außerhalb der zeitlichen Dynamiken der Mode, nicht zuletzt da auch die Secondhandmärkte durch ganz spezifische Sortierungsverfahren und Klassifizierungssysteme ähnlich wie der erste Modemarkt den symbolischen Wert von Waren mitproduzieren, 43 zu der auch die Kommodifizierung von Zeit oder Zeitlichkeit gehört. Das Wort Vintage, das sich in den letzten Jahrzehnten als Bezeichnung für alte Kleider durchgesetzt hat, findet sich zuerst im Kontext der Vermarktung von Weinen besonders hoher Qualität und Reife. Interessant ist aber nicht nur der Transfer des Begriffs von Wein zu Kleidung, sondern auch der Bedeutungswandel von Vintage in der Mode: Während die amerikanische Vogue noch im Jahr 1913 in der Rubrik »Smart fashions for limited incomes« Ratschläge dazu erteilt wie man die als Vintage bezeichneten Kleidungsstücke der vorangegangenen Modekollektionen neu auffrischen kann um ihr »Alter« zu vertuschen, 44 wird Vintage heute auf Kleidungsstücke bezogen, die gerade aufgrund ihres Alters besonders geschätzt werden. Bezogen auf die Kleidung definiert (und kreiert) Vintage damit einen besonderen, symbolischen Wert der ausgewählten Kleidungsstücken aufgrund ihres Alters, ihrer Zeitlichkeit und ihrer durch historische Distanz generierten Einzigartigkeit (gegenüber aktuell massenproduzierter Mode) zugeschrieben wird. 45 Der Gebrauch von Secondhandkleidern als Vintage, hat sich vor allem im Zuge der durch die Massenproduktion geschaffenen weiten Verbreitung und Verfügbarkeit von Kleidung als erschwinglichem 41 | Bauman, Zygmunt: Consuming Life, Cambridge 2007, S. 31. 42 | Ebd., S. 32. 43 | Vgl. Hawley, Jana M.: Digging for Diamonds: A Conceptual Framework for Understanding Reclaimed Textile Products, in Clothing and Textile Research Journal, 24: 3, 2006, S. 262-275. Norris, Lucy: Trade and transformations of secondhand clothing: Introduction, in Textile, 10: 2, 2012, S. 128-143. 44 | Anonym: Smart Fashion for Limited Incomes, in Vogue, 42, 1913, S. 47, 94. 96: 47. 45 | Vgl. Jenss, Heike: Secondhand clothing, in Skov, Lise/Eicher, Joanne (Hg.): Encyclopedia of World Dress and Fashion, Vol. 8, West Europe, Oxford 2010, S. 171-175.
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Konsumgut entwickelt. Und wie heute das Zirkulieren von Vintage in den Bildwelten globaler Street Style Blogs zeigt, ist die alte Kleidung mitunter auch längst in das Zeittempo einer Fast Fashion integriert. 46 Dies muss jedoch nicht heißen, dass alte Kleider dadurch an ihrem imaginären oder Erinnerung generierenden Potential verlieren. Zwar zeichnet sich in Simmel’s Makrotheorie der Mode, diese grundsätzlich durch ihren steten Wandel aus, aber er notiert auch einen »eigentümlichen« Reiz in der Zeiterfahrung durch Mode: »Sobald eine frühere Mode einigermaßen aus dem Gedächtnis geschwunden ist, liegt kein Grund vor, sie nicht wieder zu beleben und vielleicht den Reiz des Unterschieds, von dem sie lebt, demjenigen Inhalt gegenüber fühlen zu lassen, der seinerseits bei seinem Auftreten eben diesen Reiz aus seinem Gegensatz gegen die frühere und jetzt wieder belebte gezogen hat.« 47
Sein Verweis auf das »Fühlen« eines »Reizes«, der auf sinnliches, materielles Erleben verweist, geht hier über die Ebene der Repräsentation hinaus und beschreibt eine Dimension tiefergehender Affekte, die jedoch ohne die Leistung der Erinnerung nicht spürbar wäre. Erinnerung ist eine grundlegende Voraussetzung für die Erfahrung von Zeit und Zeitlichkeit, sie ist somit auch eine Voraussetzung für das Funktionieren von Mode. Im Umgang mit alten Kleidern kommen dabei Erinnerungen auf komplexe Weise zusammen: Sowohl die Kleider als auch ihre Träger sind Akteure mit eigener Geschichte und Erinnerungsleistung.
N OSTALGIE UND PERFORMATIVES E RINNERN Als Diskurs und auch als konkretes Erlebnis im Umgang mit Alltagsobjekten wie der Mode und Kleidung, lässt sich Nostalgie nicht nur als idealisierende Rücksehnsucht auf eine vergangene Zeit verstehen. Vielmehr sind ihre Erfahrungsformen und die mit ihnen verbundenen Bedeutungsebenen vielschichtig und immer kontextgebunden. Bewertungsformen die in eine »echte« oder in eine Ersatz-Nostalgie unterscheiden, sind z.B. auf den alltäglichen Umgang mit vergangener Mode – und wie diese von ihren neuen Trägern erfahren wird – nicht einfach anzuwenden. Nicht nur beinhaltet Nostalgie immer eine Veränderung, sondern die Erinnerung selbst ist nie reine Wiedergabe von vergangenen Momenten, sondern sie bewirkt durch ihr Aktualisieren im gegenwärtigen Kontext eine Transformation von Vergangenheit. Das dynamische Verständnis von Erinnern 46 | Vgl. Titton, Monica: Fashion in the city: Street-style-blogs and the limits of fashion’s democratization, in Texte zur Kunst, 78, Juni 2010, www.textezurkunst.de/78/mode-derstadt/ (31.03.2015). 47 | Simmel, Georg: Die Mode, in: Bovenschen, Silvia (Hg.): Die Listen der Mode, Frankfurt a.M. 1986, S. 179-207, S. 205.
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als einer in der Gegenwart stattfindenden Praxis, lässt sich auf eine Beschäftigung mit Nostalgie als einer performativen Handlung und ästhetischen Erfahrung von Zeit und Erinnerung beziehen. Ein erweitertes Verständnis von Nostalgie, dass diese nicht ausschließlich auf der Bedeutungsebene als eine Kompensation von Verlusterfahrungen definiert, sondern auch als eine sinnliche und ästhetische Praxis befragt, die durchaus unterschiedlich motiviert sein kann, eröffnet hier weitere Perspektiven. 48 In der alltäglichen, körperlichen Praxis des Auswählens und Tragens von Kleidung, beinhaltet Mode immer ein Aushandeln von Positionierung – dieses materielle, körperliche Artikulieren von Werden in Raum und Zeit (oder »wer«, »wann«, »wo«) ist für Susan Kaiser ein konstitutiver Bestandteil alltäglicher Subjektformationen. 49 Damit erfolgt der Umgang mit Kleidung und Mode nicht in einer geradlinigen Zeitachse.50 Wie Kaiser bezugnehmend auf Walter Benjamin schreibt, »cultural history and subjectivity are not linear or straight; they have detours, they twist, and they fold back on each other«.51 Das Anziehen und Aktualisieren vergangener Modezeiten durch Kleidung und Körper kann hier am Beispiel von Tavi als ein performatives Erkunden von Werden und Wandel in Raum und Zeit gelesen werden. Dies kann hier beispielsweise ein Nachspüren oder Anprobieren früherer Bilder von Weiblichkeit oder bestimmter Vorstellungen von Kindheit oder Adoleszenz beinhalten während sie gleichzeitig ihre Schulhausaufgaben mit ihrer digitalen Arbeit als Jungunternehmerin ausbalanciert. Tavi beschreibt zum Beispiel ihre Obsession mit der »Teenage-Experience«, die nicht zuletzt über ihre enge historisch angelegte Verbindung mit Bildund Produktwelten bestimmte Erwartungen an diese Lebensphase kreiert. Das Hören von Musik, das Sammeln von Objekten, das Träumen und Begehen von Bild- und Erinnerungswelten über Kleidung und Körper beschreibt Tavi als Wege ihre Zeit oder ihre Gegenwart zu verstehen: »I like drawing parallels between something going on in my actual life and the kind of aesthetic world I’m into at the same time. It means the actual life stuff makes more sense.«52 Tavis Bilder erinnern daran, dass kulturelle Erinnerungen oder Geschichten nicht einfach passiv konsumiert oder kopiert werden. Sie generieren nicht einen total recall, sondern werden in gegenwärtige Sichtweisen, Handlungen und Erfahrungen integriert und generieren so auch neue Bedeutungshorizonte. Wie auch die Erinnerungspraxis, ist der Umgang mit Kleidung und Modezeiten ein performativer Akt, in dem Vergangenheit und Gegenwart nicht als strikt getrennt verstanden sondern 48 | Grainge, Paul: Monochrome Memories. Nostalgia and Style in Retro America, Westport 2002. 49 | Kaiser, Susan: Fashion and Cultural Studies, London/New York 2012, S. 6-7. 50 | Vgl. auch Woodward, Sophie: Why Women Wear What they Wear, Oxford/New York 2007. 51 | Ebd., S. 194. 52 | Gevinson, Tavi: Oyster #99: Tavi Gevinson + Petra Collins, in Oyster Magazine, June 16. Juni 2012, http://oystermag.com/oyster-99-tavi-gevinson-x-petra-collins (31.03.2015).
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durchaus in einer Gleichzeitigkeit erlebt werden können, in der (bewusst oder unbewusst) die abstrakten Ideen von Zeit – oder Zeitlichkeit – vielleicht irgendwie näher fassbar werden.
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Kleidung kulturell und politisch transformieren
Wie man die hegemoniale Idee der Mode als westliches Konzept auseinandernimmt Yuniya Kawamura
Wir leben in einer multikulturellen und vielfältigen Welt, in der Menschen mit unterschiedlichen Kleidern und Stilen sich von einer Kultur zur anderen bewegen, in der Waren über internationale Handelskanäle die Grenzen überschreiten. Immer noch wird die Welt durch ein westlich geprägtes Konzept der Mode durchdrungen. Die Begriffe fashion im Englischen, mode aus dem Französischen, Mode im Deutschen und moda auf Italienisch sind allesamt westlichen Ursprungs. Sie werden auch in nicht-westlichen Sprachen mit leicht veränderten Aussprachen verwendet. Wenn wir die Spur des klassischen Modediskurses zurückverfolgen, so fällt auf, dass einige der europäischen Modetheoretiker, wie z.B. Flügel oder Toennies ganz explizit und implizit dargelegt haben, dass die Mode ihren Ursprung im Westen hat und sie ein westliches Produkt ist. Flügel erklärte die Unterschiede zwischen unveränderlicher Bekleidung, die in simplen Gesellschaften und modischer Kleidung, die in komplex organisierten Gesellschaften erkennbar wären. Er schloss daraus, dass Kleidung, die sich häufig verändern würde, nur im zivilisierten Westen zu finden wäre.1 Toennies diskutierte den Begriff der Mode im Verhältnis zu gesellschaftlichen Sitten und zeigte dabei auf, dass die Mode von dem Verlangen der sozialen Unterschiede herrührte. Toennies zufolge sei dies ein Zeichen für den Verfall traditioneller Sitten.2 Derartige Aussagen bestärken natürlich die Vorstellung, dass die Mode im Westen begann. In der Beschäftigung mit dem Thema Mode und Kleidung durch westliche Wissenschaftler genießt die westliche Mode grundsätzlich ein höhes Ansehen.3 Sie haben deshalb 1 | Flügel, John Carl: The Psychology of Clothes, London 1930. 2 | Toennies, Ferdinand: Custom: An Essay on Social Codes, übersetzt von A.F. Borenstein, New York 1961 [1909]. 3 | Baizerman, Suzanne/Eicher, Joanne B./Cerny, Catherine: Eurocentrism in the Study of Ethnic Dress, in Eicher, Joanne B./Evenson, Sandra Lee/Lutz, Hazel A. (Hg.): The Visible Self: Global Perspectives on Dress, Culture, and Society, New York 2000, S. 123.
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weniger Interesse an folkloristischer Kleidung oder Modephänomenen in nichtwestlichen Kulturen. Darüber hinaus wurden Kleidungsstücke aus nicht-westlichen Kulturen von europäischen Forschern seit dem späten sechzehnten Jahrhundert gesammelt. Die Stücke dienten als visueller Beweis für die Existenz sogenannter exotischer, mysteriöser Völker und wurden als etwas Andersartiges behandelt. Taylor erklärt 4 , dass das Sammeln und Erforschen von Kleidungsstücken und Körperschmuck seit dem späten 19. Jahrhundert zu der wachsenden akademischen Disziplin der Anthropologie zählte. Kleidungsstücke wurden dabei als kulturelle Artefakte, ähnlich wie Werkzeuge und Waffen aufgefasst. Noch immer bilden die Forschungen und musealen Sammlungen zu folkloristischer Kleidung die Ausnahme. Es ist also unbedingt wichtig, dass Museen in den Vereinigten Staaten und Europa Kleidungsstücke nicht-westlicher Kulturen sammeln und erhalten, um diese zu nützlichen Forschungsobjekten aus dem Bereich der materiellen Kultur zu machen. Forscher, die sich mit Kleidung und Mode beschäftigen, sollten sich viel mehr mit kultureller Vielfalt und Multikulturalität auseinandersetzen. Sie sollten eine intensivere Forschung in Bezug auf die nicht-westlichen Modephänomene betreiben, um sowohl die intellektuelle Grundlage als auch die wissenschaftliche Interessensgruppe zu erweitern und gleichzeitig stärker einzubinden. Ko beschäftigt sich mit der westlichen Interpretation und deren Blick auf die chinesische Kleidung, das Abbinden der Füße und schreibt dazu5: »[…] Die Kulturkritik war darauf aus, die Mode aus ihrem exklusiven europäischen Erbe zu befreien indem sie die Mode als eine allumfassende dynamische Kraft zwischen Körper und gesellschaftlichem Habitus beschrieb […] die Gleichsetzung der Mode mit dem Begriff der westlichen Moderne ist Jahrhunderte alt und wurde auch von vielen Menschen außerhalb des Western vereinnahmt […] Die Mode wird immer mit Erscheinung und Wandel in Verbindung gebracht, ohne deren es keine Mode im europäische Sinne geben könnte.«
Der Kern der westlichen Mode ist Wechsel und Neuheit. Um etwas beständig neu zu erhalten muss es einen Prozess des Wandels durchlaufen. Wenn es sich verändert, dann ist es immer neu. Diese westliche Ausrichtung findet sich dauernd in der Forschung zu Modetheorie. Viele ModewissenschaftlerInnen gehen davon aus, dass die Mode ein Produkt der westlichen Gesellschaft ist. Es gibt jedoch einen allmählich bemerkbaren Wandel in der Wissenschaft von der Gleichsetzung der Mode mit den Lebensstillen gesellschaftlicher Eliten im Westen hin zur Betrachtung der Mode als ein kulturell neutrales Konzept ohne jegliche Grenzen. Craik zeigt auf, dass es nicht die eine westliche Mode und Mode 4 | Taylor, Lou: Establishing Dress History, Manchester 2004, S. 67. 5 | Ko, Dorothy: Bondage in Time: Footbinding and Fashion Theory, in Steele, Valerie (Hg.): Fashion Theory: The Journal of Dress, Body and Culture, Volume 1, Issue 1, Oxford 1997, S. 4.
Wie man die hegemoniale Idee der Mode als westliches Konzept auseinandernimmt
nicht nur die haute couture aus Paris bedeutet. Mode, so Craik, besteht aus Systemen, die unabhängig von ökonomischen oder kulturellen Rahmenbedingungen agieren. Tatsächlich existieren und rivalisieren verschiedene Mode-Systeme innnerhalb der europäischen high fashion.6 Ganz ähnlich formuliert Cannon, dass es Mode auch in nicht-westlichen Kulturkreisen gibt, aber sie dort nicht so regelmäßig oder häufig wechseln würde als im Westen.7
K ULTURELL NEUTR ALE B EGRIFFE : W IE MAN DEN E UROZENTRISMUS/E THNOZENTRISMUS VERMEIDEN KANN Eurozentristische Andeutungen finden sich auch schon in der Verwendung der Begriffe. Baizerman et al.8 sind der Auffassung, dass Begriffe Implikationen und Konnotationen beinhalten, die einen gewissen Ethnozentrismus forcieren. Um letzteren und weitere Vorurteile zu vermeiden schlagen die AutorInnen vor, Begriffe wie z.B. Körperergänzung und Körpermodifikation statt Schleier oder Kimono zu verwenden. Diese hätten kulturspezifische Implikationen und man müsste deshalb adäquate Bezeichnungen finden, um nicht-westliche Kleidungsstücke zu beschreiben. Allein der Begriff nicht-westlich beinhaltet ja schon die entsprechende Ausrichtung und gebraucht den Westen als normativen Standard. Andere Ausdrücke wie z.B. Bauernkleid und Stammeskleid bezeichnen einen niedrigen gesellschaftlichen Status und sind schon alleine deshalb nicht geeignet. Der neutralste Begriff im Gebrauch ist die Bezeichnung ethnisches Kleid. Damit kann man zeigen, dass man zu einer bestimmten ethnischen Gruppe gehört, sich durch Werte, Normen, Traditionen und Glaubensrichtungen, neben weiteren Charakteristika, auszeichnet. Die erwähnte Studie weist auf die Bedeutung des Gebrauchs eines korrekten und passenden Begriffs hin und betont dabei, wie wichtig es ist, kulturelle Ausrichtungen und vorhandene Vorurteile in diesen Begrifflichkeiten zu verstehen. Das ist ein wichtiger Beitrag einer möglichst objektiven Forschung. Man ist immer gut beraten mit der Definition von Begriff und Konzepten zu beginnen. Nur so können wir als WissenschaftlerInnen sicher sein, dass wir unsere Forschungsfelder richtig verstehen.
6 | Craik, Jennifer: The Face of Fashion, London 1994. 7 | Cannon, Aubrey: The Cultural and Historical Contexts of Fashion, in: Niessen, Sandra/Bryden, Anne (Hg.): Consuming Fashion: Adorning the Transnational Body, Oxford, UK1998, S. 23-28. 8 | Baizerman et al. 2000.
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Eicher, Evenson und Lutz9 schlagen ein spezifisches Klassifizierungssystem für die Kleidung vor und präsentieren dazu ihre eigene Definition. Ihre Erklärung lautet folgendermaßen 10: »Unsere Definition von Kleidung als Körpermodifikation und Körperergänzung beinhaltet mehr als Kleidung bzw. Kleidung und Accessoires […] Sie umfasst viele Arten des Bekleidens. Zusätzlich zum Bedecken unserer Körper tragen wir Farbe auf unsere Haut auf, in Form von Kosmetik als Farbe oder Puder und wir gestalten unseren Körper mit Farben und Mustern als Tätowierungen.«
Die Autorinnen nehmen auch Duft, Geschmack und Klang als Teil ihrer Definition des Kleides auf. Sowohl Träger als auch Beobachter nehmen die Charakteristika eines jeden individuellen Kleidungsstückes mit allen fünf Sinnen, also Sehen, Berühren, Riechen, Hören und Schmecken auf. Körpermodifikationen bedeuten eine Veränderung des Körpers in Bezug auf die genannten fünf Sinne. Die Körperergänzungen sind alle möglichen Gegenstände, die auf den Körper aufgebracht werden. Die meisten Euro-Amerikaner denken dabei in erster Linie an Kleidungsstücke.11 Die Vorteile dieses Klassifizierungssystems lassen sich wie folgt beschreiben: 1. Es reduziert die Wahrscheinlichkeit, Begriffe zu verwenden, die von vorneherein schon eine bestimmte Richtung oder kulturelle Überlegenheit vorgeben, wie dies meist bei der einheimischen Sprache passiert. 2. Ein Verständnis für Einzelheiten der körperlichen Formen von Kleidungsstücken und die Praktiken und das Verhältnis dieser Formen zum Rest des Körpers. Kulturell spezifische Begrifflichkeiten subsumieren diese Einzelheiten häufig und führen daher zu falschen Auffassungen im Hinblick auf die Verwendung des Kleidungsstücks in einem jeweiligen sozialen Kontext. 3. Das Verhältnis von Komplexität und Detail in der Zusammenstellung von Kleidungsstücken und die Bedeutung dieser einzelnen Elemente im Rahmen der nonverbalen Kommunikation, um Identität, Aktivität und besondere Stimmung des jeweiligen Trägers zum Ausdruck zu bringen.12
9 | Eicher, Joanne/Eveson, Sandra Lee/Lutz, Hazel A.: The Visible Self: Global Perspectives on Dress, Culture, and Society, New York 2008, S. 4. 10 | Eicher et al. (2008), S. 4. 11 | Eicher et al. (2008), S. 6. 12 | Eicher et al. (2008), S. 25-28.
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K OMPLE XITÄT ALS Ü BERLEGENHEIT UND E INFACHHEIT ALS U NTERLEGENHEIT Ein bestimmtes ethnisches Kleidungsstück tendiert dazu in Form und Ausführung einfacher als ein westliches zu erscheinen. Der japanische Kimono besitzt keine Abnäher oder Rundungen und er beinhaltet geometrisch gerade Linien. Der indische Sari ist ein bis zu neun Meter langes Stück unbearbeiter Stoff, welchen man wie eine römische Toga um den Körper herumwickelt. Auf diese Weise verursachen die strukturellen Unterschiede eine gewisse Hierarchie zwischen den beiden Arten von Kleidungsstücken, den westlichen und ethnischen Kleidern. Die komplexen Strukturen westlicher Bekleidung erfordern mehr Zeit und Wissen, um das Handwerk nachvollziehen zu können. Daraus resultiert ihre Überlegenheit gegenüber der ethnischen Kleidung. Ein Zitat aus China in Miniature (1834) aus dem Aufsatz von Ko13: »Die chinesischen Näherinnen geben ihre Profession auf ganz bescheidene Art weiter. Das unterscheidet sie von den Kleidermachern in Europa. Andererseits lernen sie auch schon viel früher und sie erleben wenig Veränderung; da sich die Mode niemals verändert, wissen sie, einmal gelernt, auf ewige Zeit ein Kleidungsstück zu formen.«
Die Schwierigkeit oder Einfachheit in der Ausführung eines Kleidungsstückes sollte seinen Wert nicht bestimmen. Dieser Wert an sich ist ein weiteres westliches Indiz für die grundlegende Auffassung von Mode und Kleidung. Baizerman et al. sind der Ansicht, dass Kleidung aus einem ethnozentrischen/eurozentrischen Blickwinkel erforscht wurde. Man ist von europäischen Schönheitsvorstellungen und einem typisch europäischen Blickwinkel ausgegangen als man die nicht-europäischen Arten von Bekleidung darstellte.14 Die Autoren benennen diesen Umstand als Sozial-Darwinismus und machen damit eine zwar provozierende aber doch überzeugende Aussage. Darwins Evolutionstheorie hatte die kolonialistische Haltung der Euro-Amerikaner gegenüber anderen Menschen auf der Welt gerechtfertigt. Kleidung wurde als visuelle Manifestation der zivilisierten Art dargestellt, als Zeichen kultureller Überlegenheit, bei der sich Fortschritt in Form von ökonomischer Entwicklung und globaler Dominanz ausdrückte. Die Bekleidungspraktiken in den Kolonien aus dem Westen zu übernehmen war ein Zeichen zunehmender Zivilisierung.15
13 | Ko, Dorothy: Bondage in Time: Footbinding and Fashion Theory, in Steele, Valerie (Hg.): Fashion Theory: The Journal of Dress, Body and Culture, Volume 1, Issue 1, Oxford 1997, S. 5. 14 | Baizerman et al. (2000). 15 | Baizerman et al. (2000).
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D ER WESTLICHE B LICK AUF DIE F ORSCHUNG ZUR S UBKULTUR In ganz ähnlicher Weise gibt es nur einige wenige Modetheoretiker in akademischen Kreisen, die sich mit dem Thema der Jugend oder der subkulturellen Mode in nicht-westlichen Kulturen beschäftigen. Derartige Ausprägungen von Mode werden als westliche Imitationen abgetan.16 Es gibt tatsächlich Subkulturen, die direkt in nicht-westliche Länder aus dem Westen importiert wurden. Dazu gehören Hip Hop, Goth und Punk. Dennoch muss sich die Wissenschaft mit der euro-amerikazentrischen Ausrichtung befassen, die in der Forschung zu Subkultur evident ist. Nahezu alle bedeutenden Studien zur Subkultur von westlichen Wissenschaftlern befassen sich nur mit westlichen Gesellschaften. Um die Subkultur-Theorien zu vervollständigen gilt es mehr Wert auf eine vielfältige und inklusive Perspektive zu legen. Erst vor kurzem haben WissenschaftlerInnen damit begonnen, auch subkulturelle Phänomene in nicht-westlichen Ländern zu erforschen. Diese Arten von Studien gehören in den Bereich der Ethnografie und erfordern Reisen in die entsprechenden Ländern, Kenntnisse der Gegenden und der Sprache. Es ist nachvollziehbar, dass der zeitliche und finanzielle Aufwand viele Wissenschaftler bislang davon abgehalten hat, sich mit der Erforschung von nicht-westlicher Mode oder Kleidung zu befassen. Es sollte in der Wissenschaft keinen Bereich mehr geben, in dem Vielfalt, Multikulturalität, Pluralität oder Transnationalismus ausgeschlossen ist, da moderne Gesellschaften immer heterogener werden und sich kulturell immer mehr vermischen. Alle kulturellen und subkulturellen Phänomene sind in diesen Kontexten vorhanden, viele von ihnen überwinden kulturelle Grenzen und verbreiten sich überall auf der Welt.
N ICHT- WESTLICHE M ODE ALS THEMA VON P UBLIK ATIONEN UND K ONFERENZEN Es sollte mehr Konferenzen geben, die sich mit nicht-westlicher Mode befassen. Ein Beispiel dafür ist die Tagung The Non-Western Fashion Conference im November 2013, verantwortet von Maria Angela Jansen vom London College of Fashion und das Symposium Cultural Transfer: Orientalism and Occidentalism in Fashion, die im November 2009 an der Universität Potsdam stattfand. Dabei präsentierten Modetheoretiker Vorträge zur Integration von West und Ost in der Mode, den historischen orientalischen Einfluss auf die westliche Mode und vice versa. Mehr Tagungen mit derartigen Bemühungen sollten organisiert werden, damit die Modetheorie sich der Tatsache bewusst wird, dass die Mode niemals ausschließlich eine westliche Idee war und ist und sich auch mehr junge Wissenschaftler mit diesem Thema beschäftigen können. 16 | Kawamura, Yuniya: Fashioning Japanese Subcultures, London 2012.
Wie man die hegemoniale Idee der Mode als westliches Konzept auseinandernimmt
Es ist darüber hinaus ermutigend, dass es eine immer größere Anzahl an Publikationen zum Thema der nicht-westlichen Mode gibt. Beispielhaft möchte ich nennen: African Dress: Fashion, Agency, Performance von D. Soyini Madison und Karen Tranberg Hansen17, Slaves to Fashion: Dandyism and the Styling of Black Diasporic Identity von Monica L. Miller18; Saris of India: Tradition and Beyond von Rita Kapur Chishti und Martand Singh 19; Drawing with Great Needles: Ancient Tattoo Traditions of North America von Aaron Deter-Wolf und Carol Diaz-Granados20 und Japanese Fashion Designers von Bonnie English.21 Paulicelli und Clark haben ein Buch mit dem Titel The Fabric of Cultures: Fashion, Identity, and Globalization herausgegeben worin u.a. das Verhältnis von Mode zu Identität, Globalität und Lokalität und die kulturellen Wechselbeziehungen aus eine multidisziplinären Perspektive behandelt wird.22 Es ist an der Zeit, dass wir die Mode als ein globales Konzept begreifen, das nicht nur fachliche sondern auch kulturelle Grenzen überschreitet.
D IE M ODE ALS GESELLSCHAF TLICHER UND KULTURELLER A UFRUHR Die Zeichen einer kulturellen und gesellschaftlichen Veränderung sind überall zu auszumachen. Es finden umfangreiche soziale und kulturelle Verschiebungen statt und das Konzept der Postmoderne betrifft zumindest einige Aspekte dieses Veränderungsprozesses. Der Übergang von der Moderne zur Postmoderne ist eine Konsequenz sozialer, politischer und kultureller Veränderungen im Verhältnis unterschiedlicher gesellschaftlicher Schichten. Maynard 23 erklärt dies so: »Viele Theoretiker, die sich mit Kleidung befassen, insbesondere Modetheoretiker stimmen darüber ein, dass unsere gegenwärtige Postmoderne ein Zeitalter ist, in dem es eine regelrechte Flucht weg von der Einfältigkeit sowohl in der Kleidung als auch in anderen kulturellen Praktiken gibt. Zahlreiche Autoren bezeichnen die daraus resultierende Ambivalenz 17 | Madison, D. Soyini/Tranberg Hansen, Karen: African Dress: Fashion, Agency, Performance, London 2013. 18 | Miller, Monica L.: Slaves to Fashion: Dandyism and the Styling of Black Diasporic Identity, Durham, NC 2009. 19 | Kapur Chishti, Rita/Singh, Martand: Saris of India: Tradition and Beyond, New Delhi, 2010. 20 | Deter-Wolf, Aaron/Diaz-Granados, Carol: Drawing with Great Needles: Ancient Tattoo Traditions of North America, Austin, TX 2013. 21 | English, Bonnie: Japanese Fashion Designers, London, UK 2011. 22 | Paulicelli, Eugenia/Clark, Hazel (Hg.): The Fabric of Cultures: Fashion, Identity, Globalization, London 2008. 23 | Maynard, Margaret: Dress and Globalisation, Manchester, UK 2004, S. 20.
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Yuniya Kawamura als ein Charakteristikum der Mode in der entwickelten Welt. Einige erkennen die kulturelle Verunsicherung als ein grundlegendes Kennzeichen der postmodernen Erfahrung.«
Die Moderne zeichnet sich durch eine klare Unterscheidung unterschiedlicher Arten und Genres ästhetischer und stilistischer Hervorbringungen aus. Die Postmoderne betrachtet diese Kategorien nicht mehr als grundlegend oder notwendig. Die Mode betont das bildhafte und den unaufhörlichen Wechsel und dies konstituiert den Inbegriff der Postmoderne. Die Postmoderne ist deshalb so schwer zu charakterisieren aufgrund ihrer Verschränkung mit Ambiguität und Widersprüchlichkeit. Es gibt keine festgelegten, stattdessen häufig multiple Bedeutungen, die kaum greif bar und widersprüchlich sind und sich beständig verändern. Die soziale Komponente des postmodernen Schaffens ist keine Opposition gegenüber der dominierenden Kultur. Das wohl bedeutsamste Charakteristikum einer postmodernen Hervorbringung ist das Niederreissen von Grenzen und Kategorien. Dies trifft auch auf die bisher vorgenommenen Zuordnungen westlich und nicht-westlich zu, die mehr und mehr bedeutungslos werden. Niemand kann die Bedeutung der Mode in einer postmodernen Gesellschaft besser erklären als Crane, die darlegt, inwieweit wir eine Verschiebung von einer Klassen-Mode zu einer Konsumenten-Mode erleben.24 In postmodernen Kulturen zeichnet sich der Konsum als eine Art des Rollen-Spiels aus. Die Konsumenten trachten danach, Identitätskonzepte umzusetzen, die sich unaufhörlich entwickeln. Die soziale Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse ist innerhalb der gegenwärtigen Gesellschaft in Bezug auf das eigene Image oder der eigenen Identität weniger evident oder wichtig. Stilistische Differenzierung ist nicht mehr länger ein Unterscheidungsmerkmal sozialer Klassen. Es existiert ein hohes Maß an Bewegung zwischen den Klassen und innerhalb einer bestimmten Schicht. Das Konzept der sozialen Identität, das bislang auf den ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen basierte, wird nun von außerhalb bestimmt. Folgt man Crane25, so »spielt der Konsum von kulturellen Gütern, wie der modischen Kleidung eine verstärkte Rolle und Konstruktion einer persönlichen Identität, wohingegen die Befriedigung materieller Bedürfnisse oder die Nachahmung einer höherstehenden Klasse eher zweitrangig erscheint.« Der eigene Kleidungsstil erzeugt Aufmerksamkeit und vermittelt ein anhaltend beeindruckendes Image. Unterschiedliche Lebensstile erlauben den Individuen in gegenwärtigen Gesellschaften sich aus Traditionen zu befreien und ein Selbstkonzept nach ihren eigenen Vorstellungen zu entwickeln. Wir sollten uns mit den Kontexten beschäftigen, in denen sich die Mode befindet und weniger mit den Inhalten oder der Kleidung selbst. Daher ist der materielle Aspekt der Kleidung weniger wichtig als die Rahmenbedingungen, die für den 24 | Crane, Diane: Fashion and Its Social Agendas: Class, Gender, and Identity in Clothing, Chicago, IL 2000. 25 | Ebd., S. 11.
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Verkauf von lizensierten Produkten verantwortlich sind.26 Die KonsumentInnen sollten nicht länger als kulturelle Trottel oder Mode-Opfer bezeichnet werden, die der Modemeute hinterherlaufen. Man sollte sie als Menschen betrachten, die ihren Stil auf der Grundlage ihrer Selbstwahrnehmung und ihres Lebensstils wählen. Postmoderne KonsumentInnen sind aktive ModeproduzentInnen. Stil ist die Reflektion einer individuellen Identität, da in der Postmoderne jedes Individuum als ein einzigartiges Wesen betrachtet wird. Mode ist das Feld der Wahl und nicht der Anordnung. Von den KonsumentInnen erwartet man, dass sie aus der Fülle von Möglichkeiten eine individuelle Erscheinung entwickeln. Eine Materialsammlung aus vielen Quellen, Kleidungsstilen mit unterschiedlichen Bedeutungen für vielfältige gesellschaftliche Gruppen. Schon vor Crane hat Davis herausgestellt 27, dass mithilfe der Mode die individuelle Identität ausgedrückt werden kann. In der Postmoderne besitzen Individuen viele Identitäten und spielen unterschiedliche Rollen. Daher wählen sie ihre Identität aus einer Vielzahl von möglichen Images und Stilen aus. Die traditionellen Ebenen einer kollektiven Klassifizierung durch Klasse, Geschlecht, Rasse oder regionaler Zugehörigkeit werden mehr und mehr durch eine individuelle und personalisierte Konsumenten-Identität ersetzt. Die Mitglieder postmoderner Gesellschaften demonstrieren eine fragmentierte, heterogene und individuell-stilistische Zuordnung. Nach Muggleton ist dies eine Grenzerfahrung, die sich als Ausdruck einer Befreiung von strukturellen Vorgaben, Kontrolle und Einschränkung manifestiert. Der Stillstand wird zugunsten von Bewegung und Fluidität aufgegeben.28 ModetheoretikerInnen sollten ihren Blickwinkel ein wenig verschieben und sich mit der postmodernen Interpretation der Mode befassen. Diese unterscheidet sich von den Interpretationsansätzen der Moderne, wie viele andere es auch tun, seit es einen differenzierteren Blick auf die Kleidung gibt. Es ist nicht nur die Unterscheidung zwischen westlich und nicht-westlich, die ihre Bedeutung verliert, sondern auch die zwischen Männer und Frauenkleidung, high fashion und Massenproduktion, Ober- und Unterbekleidung. Die Regeln des Kleidungssystems sind flexibel geworden. Die kreativen und weltgewandten KonsumentInnen von heute folgen nicht länger den Konventionen der Schneiderkunst, die ihnen vorschreiben möchte, wie ein Kleidungsstück auszusehen hat, aus welchem Material es sein sollte oder wie es zu tragen sei. Die ursprünglich so klaren Grenzen zwischen den Professionellen der Mode, den DesignerInnen und StylistInnen einerseits und den KonsumentInnen andererseits verschwimmen ebenso.
26 | Ebd., S. 5. 27 | Davis, Fred: Fashion, Culture, and Identity, Chicago 1992. 28 | Muggleton, David: Inside Subculture: The Postmodern Meaning of Style, Oxford, UK 2000, S. 158.
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Mode als ästhetische Metapolitik Zum Ethical Turn der Kleidung Elke Gaugele
Während ökologische Kleidung in den 1970er und 80er Jahren noch als Anti-Mode gegolten hatte, steht Ethical Fashion heute im Zentrum einer globalen Modeentwicklung. Dass ethische Mode inzwischen auch für sogenannte mainstream brands zum »ökonomischen Imperativ, und nicht nur zum moralischen« wurde, konstatierte vor einigen Jahren bereits die britische Designerin und Eco Fashion Aktivistin Katherine Hamnett.1 Im letzten Jahrzehnt ist eine neue Arena der Ästhetik und Politik von Kleidung entstanden, in der Designer und Modelabels im Wettbewerb als Aktivisten gegen den Klimawandel, ökologische Katastrophen, Massenkonsum und die Ausbeutung von Arbeitskräften auftreten. Mode wird nun zur Umweltaktivistin und Produzentin sozialer Gerechtigkeit erklärt und darüber hinaus zur Trägerin von Emotionen, Werten und Tugenden wie Ehrlichkeit oder Vertrauen. »Climate Revolution« hisste Dame Vivienne Westwood als Banner ihrer Frühjahrskollektion 2013 und forderte gar in Gestalt eines »Climate Warrior« ihr Publikum zum »Buy Nothing« auf.
M ODE ALS ÄSTHE TISCHE M E TAPOLITIK Eine Perspektive auf Mode als ästhetische Metapolitik, nimmt der folgende Beitrag ein und möchte damit Ansätze, die in den letzten Jahren innerhalb lebhafter Diskussionen um Jaques Ranciéres Überlegungen zu Ästhetik und Politik ent-
1 | Beard, Nathaniel Dafydd: »The branding of Ethical Fashion and the Consumer: A Luxury Niche or Mass-market Realitiy?«, in: Fashion Theory: The Journal of Dress, Body and Culture, 12 (2008), S. 447- 468, S. 449. Er zitiert Katherine Hamnett nach: Brinton, Jessica. »The green dream«, in: Style The Sunday Times vom 11. Mai 2008, S. 26-9. H&M reagierte beispielsweise auf diesen »Ethical Turn« der Mode u.a. mit der Einführung der Conscious Collection 2012 und Rabattaktionen bei der Abgabe von Altkleidern 2013.
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standen sind auf die Mode und das Feld der Fashion Studies übertragen.2 Auf das Phänomen der Mode wird hier Begriff der ästhetischen Metapolitik transferiert, wie ihn Ranciére (2006) als Ausgangspunkt für die Verschränkung von Ästhetik und Politik definierte.3 Diese charakterisiert einen historischen Prozess in der Moderne, der die ästhetischen Erfahrungen von Kunst und Leben ineinander übergehen lässt. Kunst wird dabei zur Lebensform und zur »Form einer spontanen Selbstherausbildung des Lebens«. 4 Das Projekt der Metapolitik, wie es Rancière beschrieben hat, besteht darin »das zu realisieren, was die Politik nur dem Schein nach realisiert: die Formen des konkreten Lebens zu ändern und nicht nur –worauf sich die Politik beschränkt – die Gesetze und Formen des Staates.«5 Kunst und Politik werden mit Formen des Wissens verglichen, da sie Fiktionen produzieren, die eine materielle Umordnungen nach sich ziehen können: indem sie die Bezüge zwischen Schein und Wirklichkeit, von Bildern und Bedeutungen, Sichtbaren und Sagbarem, dem Getanen und dem was getan werden könnte, verändern.6 Ästhetik schafft damit die Grundlage für die Neugestaltung von Erfahrung und einen Raum für Formen der politischen Subjektwerdung, die die gemeinsame Erfahrung neu gestalten können.7 Dieses enorme Potential zur Materialisierung und das ästhetische Vermögen Imaginationsräume für die Subjektwerdung und für die Entstehung von Gemeinschaften zu schaffen, treffen auch für die Mode und die Körper ihrer ästhetischen Politiken zu. Essentiell erscheint Mode als ästhetische Metapolitik augenblicklich vor dem Hintergrund aktueller Globalisierungsprozesse. Hier hat Rancière 2006 in seinem Essay mit dem Titel Die ethische Wende in Ästhetik und Politik bereits einen Umschlag der Ästhetik in Ethik festgestellt. Parallel zu ihrer Konjunktur im Feld der Mode erlebte Ethik auch in Kunst und Politik einen Aufschwung und avancierte dabei zum Modewort.8 Dies bildet den Rahmen für die folgende Betrachtung der ästhetischen Metapolitik der Ethical Fashion.9 Ein weiterer wichtiger Kontext sind die postkolonialen feministischen Analysen zur Kultur der Menschenrechte von Gayatri Chakravorty Spi2 | Vgl. Gaugele, Elke (Hg.): Aesthetic Politics in Fashion, Berlin/New York 2014. 3 | Rancière, Jaques: »Die Politik der Ästhetik«, in: archpuls, no. 178 (Juni 2006), S. 94-98. 4 | Rancière, Jaques: Die Aufteilung des Sinnlichen: die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, hg. von Maria Muhle, aus d. Franz. von Maria Muhle, Susanne Leeb und Jürgen Link, Berlin 2006, S. 44. 5 | Rancière, Jacques: »Die Politik der Ästhetik«, in: archpuls, 178 (Juni 2006), S. 96. 6 | Ders.: Politics of Aesthetics, S. 39. 7 | Ders.: »Politik der Ästhetik«, S. 97. 8 | Rancière, Jacques: Die ethische Wende in Ästhetik und Politik, in: Jaques Ranciere: Das Unbehagen an der Ästhetik, Wien 2007, S. 125-154. 9 | Ich beziehe mich im folgenden auf die engl. Textausgabe von Rancière, Jacques: »The Ethical Turn of Aesthetics and Politics«, in: Critical Horizons, vol. 7 no. 1 (2006), S. 1-20.
Mode als ästhetische Metapolitik. Zum Ethical Turn der Kleidung
vak die sie in ihrer Schrift Unrecht Richten entwickelt hat.10 In der Verschränkung dieser beiden Theorieperspektiven werden die ethische Wende der Mode und die damit verbundenen ästhetischen Politiken im Folgenden beleuchtet um neue neue Zusammenschlüsse von Mode, Ökonomie und Politik zu veranschaulichen. Welche Ordnungsdiskurse von Raum, Race, Klasse, Körper und Geschlecht produziert Ethical Fashion? Welche sozialen und globalen Unterschiede bringt das ethische Regime der Mode hervor? Spiegelt die Produktion ethischer Werte auch neo-kolonisierende Globalisierungstendenzen wieder? Diese Leitfragen an die Metapolitiken der Mode werden schrittweise und ausschnitthaft anhand der folgenden drei Ebenen beleuchtet. (1) Entlang der westlichen Kommodifizierung von Vertrauen und Ehrlichkeit sowie deren Strategien des »Othering« in Folge der globalen Finanzkrise 200708. (2) Mit der Wende in der Politik der Vereinten Nationen: seit Mitte der 2000er Jahre bewegt sich diese von Blauhelmen weg und setzt verstärkt die Produktion ethischer Textilien, Mode und Luxusgüter als Pazifizierungsstrategien und Form der Entwicklungshilfe ein. (3) An der Seite einer mit Ethical Fashion verbundenen Sozial-, Werte- und Kapitalismuskritik und Luc Boltanskis und Ève Chiapellos Perspektiven auf den Neuen Geist des Kapitalismus.11
E HRLICHKEIT, V ERTR AUEN UND ›G REEN O THERING ‹: K OMMODIFIZIERUNG NACH DER F INANZKRISE 2007/08 Die globale Finanzkrise in 2007/08 hat im Westen ein Diskurs über »Trust Design« – deutsch: das Design von Vertrauen – hervorgebracht, bei der es der Disziplin darum geht, Antworten auf die Krise des Vertrauens zu geben. Der Ansatz, dass Vertrauen eine neue Währung sei – »Trust is the New Currency«12 – wie er durch das niederländische Institut für Design und Mode Premsela definiert wurde, charakterisiert auch das Design des 2012 neu eröffneten belgischen Mo-
10 | Spivak, Gayatri Chakravorty: »Righting Wrongs«, in: The South Atlantic Quarterly vol. 103 no. 2/3 (Spring/Summer 2004), S. 523-548; Deutsche Ausgabe Spivak, Gayatri Chakravorty: Righting Wrongs – Unrecht richten, aus d. Engl. von Sonja Finck und Janet Keim, Zürich/Berlin 2008. 11 | Boltanksi, Luc/Chiapello, Éve: Der neue Geist des Kapitalismus, aus d. Franz. von Micheal Tillmann, Konstanz 2003. 12 | Albert, Canigueral/Ortiz, Natalie/Leonard, Antonin: »Trust is the New Currency«, in: Trust Design (Hg.): Public Trust, Trust Design Publications Vol. 4, Amsterdam 2012.
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delabels Honest by.13 Kleidung soll ein Sensorium des Vertrauen schaffen und diesen ästhetischen Erfahrungsraum als Ausdruck sozial wie ökologisch kontrollierter Beziehungen sinnlich und sichtbar vergegenwärtigen. Als weltweit erstes Unternehmen, das die Aufschlüsselung von Materialien, Herstellungskosten und Preiskalkulationen bis hin zum Co2 Ausstoß komplett offen lege, hat der Antwerpener Modedesigner Bruno Pieters einen »Honest Buy«, den ehrlichen Kauf, konzipiert. Honest stehe für die hundertprozentige Transparenz der Anschaffung und für die Mission vollends bewusster Konsumentscheidungen. Die Ethische Wende der Mode und deren aktivistischen Wandel hin zur Social Fashion, Eco Fashion, Sweatshop-Free Fashion oder auch Planet-friendly Fashion hatten seit Ende der 1990er Jahre bereits viele DesignerInnen und darunter auch viele kleinere deutsche und österreichische Modelabels vollzogen. Auch sie waren dabei als Social Entrepreneurs mit alternativen Produktions-, Handels- und Materialstrategien durch Upcycling, Cradle to Cradle, Social Design, ökologischen Textilien, veganer Kleidung, D.I.Y. oder Angeboten für Prosumer gestartet. Honest By klassifiziert im Zuge dieses Trends seine Stoffe auf eine ganz spezifische Weise und zielt dabei auf Analogien zwischen der Materialität von ethischer Mode und ökologischer Ernährung ab, insbesondere auf vegetarische und veganen Lebensmittel aus ökologischem oder regionalen Anbau. »We believe in animal welfare«, ist ein Glaubenssatz aus Pieters Firmenphilosophie, der als ein Mantra für eine neue Species-Compangnionship zwischen Mensch und Tier verstanden werden kann.14 »We believe in animal welfare« dient auch der Bewußsteins-Schaffung für neue Fashion-Coming-Outs. Befördert wird ein Modeverhalten als Fashion-Vegetarier bespielsweise, der niemals Tierisches wie Leder, Pelz oder Horn trägt; oder eine neue Konsumentenschaft, die als Fashion-Flexitarier nur noch gelegentlich nach Wolle oder Seide verlangt. Kleidungsstücke aus tierischen Fasern sollten bestenfalls im Bescheidenen Ausmaß konsumiert werden und wenn, dann sollten sie wie bei Honest by aus Upcycling, recycelten Beständen oder aus garantiert regionaler ökologischer Tierhaltung stammen. Parallel zu den Debatten im Trust Design entwirft Honest by Dogmas, ethische Glaubenssätze, die mit religiösen Implikationen wie »we believe in« or »we respect« beginnen. Auch die Trust-Design-Debatte sieht Ökologie und Nachhaltigkeit als religiös basierte Versprechen: »Faith is trust. Faith is connection to a promise. Trust is a promise. Sustainability is a promise. Green design is a promise. The object may not hold the promise in itself, but it is a connection to a promise.«15
13 | Vgl. Trust Design: »The relationship between design and trust.«, Blog: trustdesign.org; sowie Website »Honest by« www.honestby.com/ (31.03.2015). 14 | Website »Honest by« www.honestby.com/ (31.03.2015). 15 | Ebd.
Mode als ästhetische Metapolitik. Zum Ethical Turn der Kleidung
Mit Umsätzen, die sich seit 2000 bereits mehr als verzehnfacht haben, gilt Kleidung neben Lebensmitteln als der Schlüsselmarkt der Green Economics. Der Britische Ethical Consumer Markets Report beispielsweise dokumentiert, dass der Verkauf von Ethischer Kleidung in Großbritannien von 5 Millionen £ im Jahr 2000 auf 150 Millionen £ im Jahr 2012 angestiegen ist.16
Abbildung 1: Bruno Pieters Honest By Lookbook I: Herbst/Winter 2012. Screenshot, http://honestby.com/en/lookbook/92/4/9.html. Courtesy: Bruno Pieters Neben den Bezeichnungen »organic, vegan, recycled und skin friendly«, mit denen die KundInnen die Kollektion nach Kriterien wie biologisch oder vegan und auch nach Aspekten wie recycled oder hautfreundlich sondieren können, zeigt die Website von Honest by eine weitere Material-, beziehungsweise Raumkategorie an: die des »European«, des Europäischen. Filtert man Pieters’ Lookbook 16 | The co-operative Group: Ethical Consumer Markets Report 2012, www.ethicalcon sumer.org/linkclick.aspx?fileticket=96yXzu8nyrc %3D&tabid=1557 (31.03.2015).
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I (2012) unter dieser Kategorie, so zeigt das Labels ausschließlich weiße Körper-, bzw. Kostümbilder, die das »Europäische« repräsentieren.17 Hier nimmt der Ethical Fashion Style Repräsentationen westlicher Alternativkulturen aus der Zeit der Kleiderreform um 1900 in sich auf, verbindet diese mit den Formen der klassischen Moderne und auch mit den Öko-Styles der 70er und 80er Jahre.18 Betrachtet man die Material-, beziehungsweise die Raumkategorie des Europäischen unter postkolonialer Perspektive so liegt dieser die historische Raumordnung der westlichen Kostümgeschichten zugrunde. Diese hat Mode als vorwiegend europäisches Phänomen definiert. Auch in der Epistemologie spätaufklärerischer und moderner Modetheorien wurde Mode im kolonialen Sinn als ästhetische Erscheinung von Kultur, Zivilisation und Vergesellschaftung definiert und – als ein genuin europäisches Phänomen »fortgeschrittener Nationen«.19 Mit kolonialrassistischen Begriffen von »Wilden«, oder »primitiven Rassen«, die allen Neuerungen ängstlich gegenüberstünden, operierte selbst noch Georg Simmel und installierte damit in seiner Modetheorie nicht nur die Hierarchisierung von Mode und Tradition, sondern setzte hier auch eine räumliche Ordnung fort, in der nicht-westliche Gesellschaften und Bekleidungsstile aus der Welt und vom Begriff der Mode ausgegrenzt wurden.20
Abbildung 2: Honest by »The World responds« Styling/Othering mit grünem Make-Up 2012. Courtesy: Bruno Pieters. 17 | Bruno Pieters, »Lookbook I«, in: Website »Honest by«, www.honestby.com/en/category/ 4/aw-2012.html (31.03.2015). 18 | Zur Analyse von Stereotypen und Tendenzen des Öko-Chic vgl. Winge, Theresa M.: »Green Is the New Black«: Celebrity Chic, and the »Green« Commodity Fetish«, in: Fashion Theory: The Journal of Dress, Body and Culture, 12 (2008), S. 511-524. 19 | Garve, Christian: Über die Moden. Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Literatur und dem gesellschaftlichen Leben, Frankfurt a.M. 1987, S. 23. (Original Breslau: Wilhelm Gottlieb Korn 1792). 20 | Ebd.
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An koloniale Strategien erinnert auf Bruno Pieters’ Website die Repräsentation der »Anderen«. Unter der Rubrik »the world responds« steht den Repräsentationen weißer Europäer ein grün-geschminktes schwarzes Model gegenüber.21 Im Sinne des Otherings scheint das grüne Makeup eine grüne Version eines »Edlen Wilden« zu zeichnen, der westliches ökologisches Bewusstsein demonstriert. Ähnliche »green-facing« Strategien gab es auch bei Vivienne Westwood’s Show Climate Revolution bei der London Fashion Week im September 2012 zu beobachten. Auch hier ruft das grüne Make-up auf der schwarzen Haut der Models merkwürdige Assoziationen an eine grüne Kolonisierung wach. Doch im Unterschied zu Pieters durchbricht Vivienne Westwood dieses Schema von »black skin – green mask«.22 Im Gegenteil – sie dekonstruiert die Ethifizierung und Rassifizierung von Hautfarben sogar, indem sie auf dem Laufsteg eine ganze Palette verschieden farbig geschminkter Gesichter von blau bis pink erscheinen lässt.
Abbilundg 3: Vivienne Westwood, Climate Revolution T-Shirt, 2012. Courtesy: Vivienne Westwood. 21 | Honest By, »The World responds«, in: Honest By News vom 30. Januar 2012. www. honestby.com/en/news/18/the-world-responds.html (31.03.2015). 22 | Vgl. Fanon, Franz: Black Skin, White Masks, London 1986 (frz. Orginal: Peau Noire, Mask Blanc Paris: Editions de Seul 1952).
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Nichtsdestotrotz spricht Westwood auf ihrem »active resistance« Blog von der »menschlichen Rasse«, und erklärt diese unter Berufung auf die ökologische Gaia Theory des früheren NASA-Beraters und Atomenergiebefürworters James Lovelock zur gefährdeten »Spezies«. Auch zeichnet Westwoods Climate Revolution-Shirt eine Zentralität der westlichen Welt. Das Grafikdesign entwirft ein grünes Nordeuropa und Amerika, deren Bedeutung noch durch Häkchen vor den Wörtern »peace« and »yes« hervorgehoben wird. Auch scheint die Kollektion eine erstaunlich westlich-grüne Botschaft zu transportieren: die Mission die südliche Hemisphäre abzukühlen und zum Ergrünen zu bringen. Diese Darstellung westlicher Vormacht kann durchaus im Kontext der Agenda 21 gelesen werden. Bereits 2003 begann der Marrakesch-Prozess mit der Installierung von sieben Task Forces für nachhaltigen Konsum und Produktion in Afrika und mit Bestrebungen Öko-Zertifizierungen und nachhaltige Lebensstile sowie Ausbildungsmaßnahmen dazu in Afrika zu implementieren.23
E THISCHE M ODE STAT T B L AUHELME — ZUR POLITISCHEN W ENDE DER V EREINTEN N ATIONEN Als gemeinsame Initiative der Vereinten Nationen und der Welthandelsorganisation entstand 2006 im Genfer International Trade Center (ITC) die UN Ethical Fashion Initiative. Ein Leitartikel aus dem Jahr 2006 mit der Überschrift »Why is the United Nations Working in Fashion?«, beantwortet die Frage warum die UN im Feld der Mode arbeite. Er beschreibt den Wandel der UN, sich von langandauernden Blauhelminterventionen zu distanzieren und eine humanitäre Hilfe zu intensivieren, die Mode und textile Handarbeiten als Mittel politischer und ökonomischer Steuerung sowie als Entwicklungshilfemaßnahmen einsetzt. Dies spiegelt, wie bereits eingangs mit Rancière erwähnt, eine ethische Wende in der Politik wieder, hin zu einem ethischen Regime, das seine politische Steuerung und Global Governance über die Produktion von Mode und Textilien intendiert. Nischenmärkte und insbesondere Handarbeiten – als Fähigkeiten der Kunsthandwerker, engl. »the skills of the artisans«24 hervorgehoben- werden innerhalb der UN-Initiativen hoch bewertet. Gerade sie gelten als Chancen für so genannte Entwicklungsländer, die nicht mit den hochtechnisierten Billiglohnländern konkurrieren könnten. 23 | United Nations: »The Marrakech Process. Issues – Sustainable Lifestyles & Education for Sustainable Consumption«, http://esa.un.org/marrakechprocess/pdf/Issues_Sus_ Lifestyles.pdf (31.03.2015). 24 | International Trade Center: »Ethical Fashion Initiative.« www.intracen.org/exporters/ ethical-fashion/the-initiative (31.03.2015).
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Unter der Devise die Ärmsten der Armen über die Mode mit dem Weltmarkt in Verbindung zu bringen und mit dem Ziel eine Brücke zwischen Entwicklungshilfe und der Modeindustrie zu schaffen, begannen die Vereinten Nationen ihr »Ethical Fashion Program« in Ländern, die unter langen Bürgerkriegen gelitten hatten: Elfenbeinküste, Sri Lanka, Äthiopien und Mozambique. Seit 2006 entstand dabei eine neue Ökonomie mit inzwischen mehr als 7000 KunsthandwerkerInnen und Handelsstützpunkten in Haiti/Port-au-Prince, Kenia/Nairobi, Ghana/Accra, Burkina Faso/Ouagadougou und den palästinensischen Autonomiegebieten/Ramallah. Die Initiative konzentrierte sich darauf einen neuen Nischenmarkt für die Luxusindustrie zu schaffen, mit Kunden wie Venturini Fendi, Sass & Bide, Stella McCartney, oder dem Hollywood Juwelier Chan Luu’s.25 Unter Schirmherrschaft des Bengalischen Supermodel Bibi Russell lancierte die UN 2010 sogar noch eine weitere Mode Initiative mit dem Namen Fashion4Development (F4D). Indem F4D vorort DesignerInnen unterstützt, wird Mode ein weiteres Mal deklariert als ein Mittel aufgegriffen um erklärte entwicklungspolitische Ziele der UN zu verfolgen. Zu diesem Zweck schaltete F4D im Juni 2012 eine zusätzliche Marketing Website für afrikanische ModedesignerInnen.26 Auch Vivienne Westwood nutzte zur Produktion ihrer Ethical Fashion Africa Collection (2011) die ökonomischen Strukturen der UN Ethical Fashion Initiative in Kenya.27 Im Miltary-Chic der Goldhelme, die bei Westwoods Fotoshooting inszeniert wurden, spiegeln sich die Pazifzierungsstrategien der UN mit ihren Bestrebungen die Governance der Blauhelme durch die Steuerungstechniken der Mode zu ersetzen. Gleichzeitig diente Westwood’s Kollektion auch als FlagshipKampagne für die Ethical Fashion Initiative der UN, da beide dieselben politischen Schlagworte benutzten: »We are not a charity« – wir sind keine Wohltätigkeitsorganisiation! Westwood wie auch die UN-Kampagne berufen sich auch auf das Postulat der Frauenemanzipation: »Our overarching goal is to empower women« – unser allumfassendes Ziel ist es Frauen zu stärken!28 Darin, dass die am stärksten marginalisierten Menschen als Produzentinnen für führende Lu25 | Sowie für drei weitere große Firmen: United Arrows, Macy’s (USA), Manor (CH) Switzerland and Myer (Australien) vgl.: www.intracen.org/itc/projects/ethical-fashion/ourpartners/ (31.03.2015). 26 | Fashion4Development: »Store Website «, http://store.fashion-4-development.com/ (31.03.2015). 27 | Westwood, Vivienne. »This ist not Charity, this is Work«, in: Vivienne Westwood Ethical Fashion Initiative Collection, January 28, 2011, www.viviennewestwood.co.uk/w/news/ this-is-not-charity-this-is-work (31.03.2015). 28 | International Trade Center/Ethical Fashion Initiative: »We use Fashion as a Vehicle out of Poverty, at the same time fulfilling Fashion’s Desire to be more fair«, in: www.intra cen.org/exporters/ethical-fashion/ (31.03.2015).
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xusunternehmen beschäftigt werden, sieht Simone Cipriani, der Leiter der UNFashion Initiative einen gegenseitigen Mehrwert und Benefit: »We connect the most marginalized people to the top of fashion’s value chain for mutual benefit.«29 Als Teil ihrer Wertschöpfungskette erhält Westwood einen ethischen Status, den einer Weltverbesserin. Unglaublich, dass wir in der Lage sein könnten, die Welt durch Mode retten können, verbreitete sie 2011 in Presseinterviews: »It’s quite incredible to think that we might be able to save the world through fashion.«30 Auch Jürgen Teller, der für Westwood die Ethical Fashion Africa Collection in Kenya fotografiert hatte, erzählte in einem Interview mit der ZEIT, »dass sie beide Teil von etwas Gutem gewesen sei und nicht solche Fashion-Idioten.«31 Slogans wie »This is not charity, this is work« stehen hier für Arbeitsverhältnisse, bei denen mit den Begriffen Spivaks die Nähmaschinen »subalterner« Kunsthandwerker und Arbeiterinnen ethisches Kapital für die westliche Modeindustrie produzieren; und darüber hinaus die Ethik eines unternehmerischen Kalküls einen ethischen Mehrwert für ihre Konsument_innen. Dass die Ethik der Menschenrechte an koloniale Machtstrukturen anknüpft, hat Spivak in ihrer Schrift Righting Wrongs-Unrecht Richten dargelegt.32 Sie betont, dass die Kultur der Menschenrechte auf einem unablässigen ideologischen Druck des Nordens basiert, selbst wenn diese im Süden – und hier insbesondere durch die Nachkommen der kolonialen Mittelklasse – formuliert wird.33 Die Kultur der Menschenrechte hierarchisiert die Subjekte und die Verteiler der mit dem Unrecht Richten verbundenen Arbeiten: entlang der Katagorie Klasse genauso ungleichmäßig wie entlang der Kategorie »Race« sowie in einem Nord-Südgefälle.34 Ethik, schrieb auch Rancière ist eine lediglich neue Form von Ehre, mit der die neue Form von Herrschaft ausgestattet wird.35 Mit der Ethische Wende in Ästhetik und Politik entstehen neue ökonomische Macht- und Legitimationsstrukturen. Von der Ethi29 | Menkes, Suzy: »A Matchmaker Helps Artisans Find Luxury Jobs«, in: New York Times vom 14. November 2012, www.nytimes.com/2012/11/15/fashion/a-matchmaker-helpsartisans-find-luxury-jobs.html?_r=0 (31.03.2015). 30 | Bergin, Olivia: »Vivienne Westwood’s Mission to save the World, one Handbag at a Time. The British Designer’s new Range of Handbags will benefit the people of Kenya who handmake them «, in: Telegraph vom 9. August 2011, http://fashion.telegraph.co.uk/ news-features/TMG8691362/Vivienne-Westwoods-mission-to-save-the-world-onehandbag-at-a-time.html (31.03.2015). 31 | Raether, Elisabeth: »Es sieht gut aus in Afrika«, in: ZEITmagazin, 41 vom 6. Oktober 2011, online www.zeit.de/2011/41/KollektionWestwood (31.03.2015). 32 | Spivak, Gayatri Chakravorty: Righting Wrongs – Unrecht richten, aus d. Engl. von Sonja Finck und Janet Keim, Zürich/Berlin 2008. 33 | Ebd., S. 13. 34 | Ebd. 35 | Rancière, J.: »The Ethical Turn«, S. 18.
Mode als ästhetische Metapolitik. Zum Ethical Turn der Kleidung
cal Fashion Initiative und ihren Partnern in der globalen Luxusindustrie, wurde etwa eine neue Luxusdefinition in Umlauf gebracht, die die Akkumulation des Ethischen Kapitals betont. Zeitgemäßer Luxus, so heißt es, sollte sozial verantwortlich sein und ethisch einwandfrei verfahren, denn wahrer Luxus sollte vom ökonomischen Standpunkt her nachhaltig sein.36 Diese Praktiken knüpfen aus historischer Sicht sowohl an koloniale Traditionen einer christlichen »White Charity«, d.h. weiße christliche Wohlfahrtspraktiken an, als auch an eine Phase der Industrialisierung Mitte des 19. Jahrhunderts, in der Textilarbeiten als soziale und ökonomische Techniken zur Ordnung der Geschlechter und Klassen eine große Bedeutung spielten. Auch Spivak plädiert in Unrecht Richten für einen Perspektivwechsel zum Historisch-Politischen, den sie durch textile Metaphern veranschaulicht. Das kulturelle Skript wird hier zur gewobenen »Text-ilie«, bzw. zum zerrissenen kulturellen Gewebe, das »zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt aus dem dominanten Webstuhl entfernt wurde.«37 Das, so Spivak, »bedeutet es subaltern zu sein.«38 Analogien zwischen dem frühen liberalistischen Kapitalismus und den Strukturen des heutigen neoliberalen globalen Kapitalismus in den so genannten Entwicklungsländern hat der schwedische Soziologe Patrik Aspers konstatiert. Indem »ethische Produkte« hergestellt werden, verfährt der globaler Kapitalismus, der sich heute noch in einer relativ frühen Phase befindet, augenblicklich in den Entwicklungsländern in einer ähnlichen Art und Weise, wie die kapitalistische Frühphase im Westen, die seinerzeit ebenfalls soziale Waren hervorgebracht hat.39 Interessante historische Parallelen zeigen sich auch zu bürgerlichen Wohlfahrtspraktiken des frühen modern westlichen Liberalismus, bei denen Textilien und Handarbeiten als Erziehungs- und Disziplinartechniken eine wichtige Rolle gespielt haben: hinsichtlich Gender, Klasse und Race. Selbst in der bürgerlichen Frauenbewegung um 1900 gab es Initiativen und ein klassenspezifisches Verständnis darüber ethisch »Gutes zu tun«, indem mittellose Frauen in textilen Handarbeiten unterrichtet wurden mit der ökonomischen Perspektive als Arbeiterin in der Textilindustrie in Fabriken, Werkstätten oder in Heimarbeit beschäftigt zu sein. 40 Dies eröff36 | Vgl. International Herold Tribune Luxury Conference 2012: The Promise of Africa, the Power of the Mediteranean, Rom 15./16. November 2012, www.inytconferences.com/luxury2012.aspx (31.03.2015). 37 | Spivak, Gayatri Chakravorty: Righting Wrongs – Unrecht richten, aus d. Engl. von Sonja Finck und Janet Keim, Zürich/Berlin 2008, S. 44. 38 | Ebd. 39 | Aspers, Patrik: A note on Global Capitalism, in: Bharti, Thakar (Hg.): Global Capitalism: The Road Ahead, Hyderabad 2008, S. 3-16, S. 13. 40 | Gaugele, Elke: Revolutionäre Strickerinnen, Textilaktivistinnen und die Militarisierung des Sockenstrickens. Handarbeit und Feminismus in der Moderne, in: Eismann, Sonja/ Gaugele, Elke/Kuni, Verena/Zobl, Elke (= Critical Crafting Circle) (Hg.): Craftista! Handarbeit als Aktivismus, Mainz 2011, S. 15-28.
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net durchaus Parallelen zu den emanzipatorischen Bestrebungen der UN Ethical Fashion Initiative. Auch sie schreiben klassenspezifische Hierarchisierungsmuster fort: gerade indem sie sich auf »weibliches Empowerment« berufen und betonen, dass die für die Luxusindustrie Beschäftigten in »Slums« wohnen oder aus ländlichen Gebieten« stammen. 41 Die Appelle weißer Frauen und DesignerInnen nach der Emanzipation subalterner Frauen durch textile Handarbeiten und Nähwerkstätten, sind Teil einer globalen Ordnung, in der, wie es Spivak formuliert, Menschenrechtsaktivitäten und Wohltätigkeiten durchaus als die »Bürde der Fittesten« gesehen werden, während untergeordnete Subalterne als deren »Empfängerin« diversifiziert werden. 42 Dies ist eine charakteristische Dynamik des Neokolonialismus, denn dieser, so Spivak, lenke das Sprechen über Rechte und Menschenrechte in klassenspezifische Situationen. 43 Dies spiegelt sich auch im Feld der Ethical Fashion wider, da hier die simple ökonomische Verfahrensweise, Menschen für ihre Arbeit akzeptabel zu bezahlen, zu einem performativen Akt von Klassenhierarchie wird. Allein die Idee einer Dritten Welt an sich, betont Spivak, sei bereits Teil des neokolonialen Prozesses; denn dieser definiere sich vorrangig ökonomisch und nicht territorial oder kulturell. 44
D ER N EUE G EIST DES K APITALISMUS UND DAS F ASHIONING VON S OZIALKRITIK Auf diesem Hintergrund erscheint Ethical Fashion als Teil eines Paradigmenwandels hin zu einem »neuen Geist des Kapitalismus« 45, der auf klassenspezifische Werte und ethische Motivationen früherer kapitalistischer Phasen rekurriert. Bereits 1905 hat Georg Simmel in seinem Aufsatz zur Philosophie der Mode eine Analogie zwischen Mode und Ehre formuliert und dabei die klassenformierende Funktion beider Elemente betont, die heute erneut das Konzept der Ethical Fashion rahmen. »Sie (die Mode) ist, wie ich sagte, ein Produkt klassenmäßiger Scheidung und verhält sich so wie eine Anzahl anderer Gebilde, vor allem wie die Ehre, deren
41 | Vgl. www.intracen.org/itc/projects/ethical-fashion/ (31.03.2015). 42 | Spivak, Gayatri Chakravorty: Righting Wrongs – Unrecht richten, aus d. Engl. von Sonja Finck und Janet Keim, Zürich/Berlin 2008, S. 43f. 43 | Spivak, Gayatri Chakravorty: Neocolonialism and the secret Agent of Knowledge. Interview with Robert J.C. Young, in: www.robertjcyoung.com 2007, S. 1-44, S. 7. Originally published in Robert JC Young (ed). Neocolonialism. Oxford Literary Review 1, vol. 3 no.1-2 (1991), S. 220-251. 44 | Ebd., S. 2. 45 | Boltanksi, Luc/Éve Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, aus d. Franz. von Micheal Tillmann, Konstanz 2003.
Mode als ästhetische Metapolitik. Zum Ethical Turn der Kleidung
Doppelfunktion es ist, einen Kreis in sich zusammen- und ihn zugleich von anderen abzuschließen.« 46 Ehre wirkt dabei im Sinne von (Standesehre) korporativ und ist mit ihrer »Doppelwirkung nach innen und nach außen« 47 ein erfolreicher Stablisator gesellschaftlicher Hierarchien. Auch Luc Boltanksi und Ève Chiapello argumentieren, dass sich der Geist des Kapitalismus durch geschichtlich wandelnde und wandelbare Wertemuster mit historisch widerkehrenden Grundmotiven generiert. Den neuen Geist des Kapitalismus definieren sie in Rekurs auf Max Weber als einschlägige Ideologie, die das Engagement in den Kapitalismus rechtfertigt. 48 Kapitalismus, schreiben Boltanski/Chiapello kann sich nicht allein aus seinen eigenen Ressourcen generieren, sondern braucht eine Orientierung gegenüber dem Allgemeingut, das für ein starkes Engagement auch gute Gründe verlangt. 49 Dabei diversifizieren Boltanksi und Chiapello zwei historische Grundmotive. Sie unterscheiden zwischen Künstler- und Sozialkritik als zwei Formen der Opposition, die bereits bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen. Während Sozialkritik Armut und Ausbeutung anklagt, stellt die Künstlerkritik sehr elaborierte Forderungen nach Freiheit, Befreiung und Authentizität.50 In den 1990er Jahren wurden Themen aus der Künstlerkritik in den kapitalistischen Diskurs integriert, was sich beispielsweise am Begriff der Kreativität nachzeichnen lässt. Der Beginn des 21. Jahrhunderts steht demgegenüber einem Revival der Sozialkritik gegenüber.51 Ethische Motivationen beispielsweise, die auf den ersten Blick konträr zur kapitalistischen Logik zu sein scheinen haben Unternehmer letztendlich doch dazu inspiriert unter veränderten Wertauffassungen Kapital zu akkumulieren.52 Ethische Mode und das damit verbundene Fashioning von Sozialkritik sind – so gesehen – Teil dieser dialektischen Operation, in der der globale Kapitalismus die Kritik der Globalisierungsgegner aufnimmt um aus ihnen heraus sein neues Ethos zu generieren. Die Glaubensechtheit an die – wie es Weber formulierte – »guten Werke« und deren Anklänge an die protestantische Ethik des Kapitalismus spielen dabei eine zentrale Rolle.53 Im Aufruf zur Askese und in den religiösen Untertönen, die den Verkauf und 46 | Simmel, Georg: Philosophie der Mode. Reihe Moderne Zeitfragen, herausgegeben von Hans Landsberg, No. 11, Berlin: Pan-Verlag o.J. (1905), o.S., online: http://socio.ch/sim/ verschiedenes/1905/mode.htm (31.03.2015). 47 | Ebd. 48 | Boltanksi, L./Chiapello, É.: New Spirit of Capitalism, S. 9. 49 | Ebd., S. 28. 50 | Ebd., S. 346. 51 | Ebd., S. 346. 52 | Ebd., S. 8. 53 | Weber, Max: Askese und Geist des Kapitalismus, in: Sukale, Michael (Hg.): absolute: Max Weber. Freiburg 2004, S. 122-127. S. 123; vgl. Weber, Max: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, hgg. von Dirk Kaesler, München 2004.
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den Konsum ethischer und ökologischer Kleidung begleiten, spiegeln sich die von Weber benannten Grundmotive des bürgerlichen Lebensstils.54 Doch verschleift die konsumkulturelle Ethik des 21. Jahrhunderts nicht allein christliche Motive, sondern mischt sie mit buddhistischen und hinduistischen Mantras zu einem holistischen Verständnis von Ökologie und Humanität, und damit zu einer globalisierten Fasson der Spiritualisierung von Waren. Nur indem der Kapitalismus Mechanismen von Gerechtigkeit inkorporiert, schreiben Boltanski/Chiapello, kann er zu der ihm selbst mangelnden moralischen Begründung und Unterstützung kommen.55 Ethical Fashion ist Indikator für einen Wandel hin zu einem neuen Geist des Kapitalismus, bei dem es, der globalen Modeindustrie aktuell darum geht, Kritik in ihr System zu integrieren. Boltanski/Chiapello betonen, dass der Kapitalismus seine Feinde braucht und Menschen die er in Wut versetzt und ihn bekämpfen. Ein Beispiel für diese dialektische Beziehung ist das Adbusting der Clean Clothes Campaign, das enragiert gegen das »Greenwashing«, bzw. die Ausbeutung kambodianischer TextilarbeiterInnen durch H&M für die Conscious Collection (2013) protestiert.56 Wenn sich das Feld der Ethischen Mode also durch politischen Aktivismus inszeniert, resultiert dies im Wesentlichen aus einer immanenten dynamischen Beziehung zwischen Kapitalismus und Kritik.57 Als ein Element eines neuen Geistes globalen Kapitalismus entwirft Ethical Fashion ein eigenes Sensorium, das im Rekurs auf Rancière als ein ästhetisches Regime der Wahrnehmung, Empfindung und Sinngebung bezeichnet werden kann.58 Wie bereits eingangs beschrieben, charakterisieret sich ästhetische Metapolitik gerade dadurch, dass sie darauf abzielt »das zu realisieren, was die Politik nur dem Schein nach realisiert: die Formen des konkreten Lebens zu ändern und nicht nur –worauf sich die Politik beschränkt – die Gesetze und Formen des Staates.«59 UN Programme – wie die Ethical Fashion Initiative oder auch der Marrakesch Prozess knüpfen bereits an der Verschränkung dieser beiden Ebenen an, denn hier rücken Eco-Labeling, Öko-Design, Ethische Moden sowie die Performance und Promotion nachhaltiger Lebensstile ins Zentrum suprastaatlicher Politik und zielen konkret darauf ab, »das sinnliche Sein« der Lebensumstände zu verändern.60 In diesem Sinne realisiert Mode – wie es Rancière für die Kunst beschreibt – gerade dadurch ihre politische Wirkkraft, »dass sie einen bestimm54 | Weber, Max: Askese Kapitalismus, S. 123. 55 | Boltanski, L./Chiapello, É.: New Spirit of Capitalism, S. 28. 56 | Clean Clothes Campaign: »Conscious? Not really…« in: Pressemitteilung vom 25.03. 2013, www.cleanclothes.org/news/2013/03/25/conscious-not-really (31.03.2015). 57 | Boltanski, L./Chiapello, É.: Spirit of Capitalism, S. 4. 58 | Rancière, Jacques: Aisthesis: Scenes from the Aesthetic Regime of Art, aus d. Franz. von Zakir Paul, London/New York 2013, S. X. 59 | Rancière, Jacques: »Die Politik der Ästhetik«, in: archpuls, 178 (Juni 2006), S. 96. 60 | Ebd., S. 97.
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ten Raum und eine bestimmte Zeit aufteilt, und dass die Gegenstände, mit denen sie diesen Raum bevölkert, und die Rhythmen, in die sie diese Zeit einteilt, eine spezifische Form der Erfahrung festlegen, die mit anderen Formen der Erfahrung übereinstimmt oder mit ihnen bricht.«61 Als ästhetische Metapolitik stellt Mode ein Sensorium her, das die Grundlage für die Neugestaltung von Erfahrung entwirft und Räume für Formen der politischen Subjektwerdung schafft, die gemeinsame Erfahrung neu gestalten können.62 Da aktuell darum geht, Imaginationen und Entwürfe einer globalen kulturellen Teilhabe zu erzeugen, muss Mode muss also gerade auf ihr ästhetisches Vermögen hin, medial und materiell globale Räume von Zeitgenossenschaft zu schaffen, neu beleuchtet werden. Als Kraft, die neue Mittelklassen und Eliten auf einer globalen Skala verbindet, schafft Mode symbolische Räume: zum Entwurf ihrer Subjektivitäten genauso für deren imaginierte Gemeinschaften.63 Eingeschrieben ist diesen kulturellen Formen die Ethik des unternehmerischen Kalküls und mit ihr – so Spivak – eine höchst ambivalente, klassenformierende Struktur von Globalisierung: die der ermächtigenden Gewalt (enabling violation), die ein jeder mit gutem Willen mit der Rolle und Bürde des weißen Mannes assoziiert.64 Deren unternehmerisches Unterrichten von Menschlichkeit und Ethik sowie deren Anleitungen »Helfer« zu sein sind – Spivak zufolge – »Kulturrelativismus« und »Kulturabsolutismus« in Bestform.65
61 | Ebd., S. 94. 62 | Ebd., S. 97. 63 | Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts, aus d. Engl. von Benedikt Burkard, Frankfurt a.M. 1988. 64 | Spivak, Gayatri Chakravorty: Righting Wrongs – Unrecht richten, aus d. Engl. von Sonja Finck und Janet Keim, Zürich/Berlin 2008, S. 8; S. 34; S. 44. 65 | Spivak, Gayatri Chakravorty: Righting Wrongs – Unrecht richten, aus d. Engl. Von Sonja Finck und Janet Keim, Zürich/Berlin 2008, S. 22.
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Kleidung präsentieren
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1. Z UR E INSTIMMUNG Plötzlich steht Marc Jacobs selbst im Rampenlicht. Die Gäste seiner Prêt-à-porter Show H/W 2010 beobachten gebannt, wie er den Raum durchquert und die braunen Papierwände einer riesigen, leicht erhöhten Box herunterreißt. In ihr kommt eine weitere Box zum Vorschein, eine human box: 64 in einem Quadrat angeordnete, bewegungslose Models. Zu den sanften Tönen von »Somewhere over the rainbow« tröpfeln sie wenig später an einer Seite auf den ebenerdigen Laufsteg aus der Box heraus (vgl. Abb. 1). Die human box schrumpft dabei kontinuierlich bis zu dem Moment, in dem sie sich selbst demontiert hat.
Abbildung 1: Screenshot der Show von Marc Jacobs Prêt-à-porter H/W 2010 Quelle: www.youtube.com/watch?v=rw8HuDXZmJI
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Die Faszination dieses Bildes liegt in der Erschaffung eines Raumes allein durch die Anordnung von Körpern, und seine Auflösung durch die Bewegung aus dieser Ordnung heraus.
2. M ODE UND B E WEGUNG Die Wechselwirkungen zwischen Kleidern und Körpern und ihre Auswirkungen auf die Bewegung der Kleider und bekleideter Körper wurden erst kürzlich in dem von Katharina Tietze und Anna-Brigitte Schlittler herausgegebenen Band Mode und Bewegung. Beiträge zur Theorie und Geschichte der Kleidung1 aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Dieser Artikel beschäftigt sich mit der Modenschau als eine spezifische Präsentationsform von Mode in Bewegung, der bislang nur peripher Beachtung geschenkt wurde. So sei auf einzelne Publikationen von John Potvin2 über die Choreografien der Modenschauen von Giorgio Armani hingewiesen, sowie auf einen Artikel von Caroline Evans3, der Parallelen zwischen der dem Film vorausgehenden Chronofotografie (Fotografieserien von Bewegungsabläufen) und den Bewegungen der Models bei den ersten »mannequin parades« in den Ateliers der DesignerInnen aufweist. 4 Einige Gedanken über das Kleid, das in der Modenschau innerhalb einer kurzen Zeitspanne am und durch den Körper bewegt wird, sollen in die Thematik einleiten. Wie Christoph Allenspach5 darlegt, kann das Kleid als ein »Bewegungsding« definiert werden, insofern es als »bewusst in subjektiver, phänomenaler Erfahrung, räumlich und zeitlich verortet, d.h. in Bewegungsverläufen, dargeboten und erfahren wird«6. Das Kleid sei nur in Bewegung zu denken, d.h. dass das betrachtende Subjekt das Kleid »nicht als statische Form mit einem Blick, 1 | Schlittler, Anna-Brigitte/Tietze, Katharina (Hg.): Mode und Bewegung. Beiträge zur Theorie und Geschichte der Kleidung. 1. Aufl., Emsdetten 2013 (Textile Studies, 5). 2 | Siehe: Potvin, John: Giorgio Armani. Empire of the senses. Farnham, Surrey, England/ Burlington, VT 2013. Potvin, John: Controlling Space/Controlling Movement. Theatre, Ritual and the Illuminated Runway Body, in: Schlittler/Tietze (Hg.): Mode und Bewegung, Emsdetten 2013, S. 153-160. 3 | Evans, Caroline: Multiple, Movement, Model, Mode: The Mannequin Parade 19001929, in: Breward, Christopher/Evans, Caroline (Hg.): Fashion and modernity, Oxford 2005, S. 125-145. 4 | Des Weiteren widmet sich ein Artikel des Modefotografen Vincent Lappartient der Bewegung in der Modenschau – geht jedoch dabei nicht über eine deskriptive Auflistung hinaus: Lappartient, Vincent: Le défilé spectacle. In: Join-Diéterle, Catherine (Hg.): Showtime. Le défilé de mode, Paris 2006, S. 252-271. 5 | Allenspach, Christoph: Mode und Kinästhetik. Das Kleid als Bewegung und in Bewegung. In: Schlittler und Tietze (Hg.): Mode und Bewegung, Emstetten 2013, S. 161-168. 6 | Ebd., S. 161.
Die »Choreotopografie« oder das Schreiben von Modenschauräumen
sondern als Verlauf von Bewegungserscheinungen in unterschiedlicher und veränderlicher Formung« wahrnimmt.7 Allenspach sieht das Kleid als »Teil eines performativen Akts« 8, was auf ein Verständnis von Mode als kulturelle Alltagspraxis schließen lässt. Im Alltag stehen Kleid und Körper, wie Gertrud Lehnert herausarbeitet, in einem ständigen Wechselverhältnis zueinander und erschaffen in ihrem Zusammenspiel sogenannte »modische Körper«9: »Kleidung schafft Körper: fiktionale modische Körper. Kleidung spielt mit dem anatomischen Körper – oder auch nur mit der Idee eines anatomischen Körpers –, sie verändert ihn, verdeckt ihn, macht ihn sichtbar, erweitert ihn gleichsam prothetisch oder reduziert ihn umgekehrt auf ein flächiges Ornament. Dabei bleiben die Kleider immer auf den menschlichen Körper angewiesen: als Bezugspunkt, als impliziter (normativer) Maßstab, auch als die Dreidimensionalität, die den Kleidern Inszenierungsmöglichkeiten gestatten und umgekehrt von ihnen inszeniert werden. Denn ›Mode‹ entsteht erst im Zusammenspiel von dreidimensionalem Körper (wenigstens einer Vorstellung davon) und lebloser, manipulierbarer Materie. Jedes Kleidungsstück will durch Körper im Raum aufgeführt werden, damit es sich als Mode entfalten kann, will einerseits vom tragenden Menschen gefühlt und andererseits von Zuschauern gesehen werden.«10
In der Modenschau haben wir es mit einer sehr speziellen Art der Bewegung und auch Art des performativen Aktes zu tun. Hier stellen sich nicht nur Fragen nach dem Verhältnis von Körper und Kleid im Sinne der gegenseitigen Kodierung und Einschreibung, oder der Ermöglichung bzw. Verhinderung von Bewegung. Hier offenbart sich insbesondere das Problem, dass wir es mit »künstlichen« (und künstlerischen) Bewegungsabläufen innerhalb eines Environments zu tun haben, das nicht als Alltagspraxis verstanden werden kann. Was ist mit einer »künstlichen« Bewegung gemeint? Gibt es überhaupt eine natürliche Alltagspraxis, oder sind alle Praktiken in Verbindung mit Mode, wie das Anziehen vor dem eigenen Spiegel, das Bummeln auf offener Straße oder auch das Defilieren in der Modenschau künstlich inszeniert? Man könnte die These wagen, dass nicht nur alle Alltagspraktiken, in die Kleidung involviert ist, künstlich inszeniert, sondern dass zudem auch alle Bewegungsabläufe innerhalb dieser Praktiken choreografiert sind. In diesem Artikel kann diese These nicht überprüft werden, wohl aber
7 | Ebd., S. 164. 8 | Ebd., S. 165. 9 | Später auch »Modekörper« genannt, bspw. in Lehnert, Gertrud: Mode als Raum, Mode im Raum. Zur Einführung, in: Gertrud Lehnert (Hg.): Räume der Mode, München 2012, S. 7-24. 10 | Aus: Lehnert, Gertrud: Zweite Haut? Körper und Kleid, in: von Arburg, Hans-Georg (Hg.): Mehr als Schein. Ästhetik der Oberfläche in Film, Kunst, Literatur und Theater. 1. Aufl., Zürich 2008, S. 91f.
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auf die Beschaffenheit der Modenschau als eine nichtalltägliche Praxis eingegangen werden, in der Bewegung vorbestimmt, d.h. choreografiert wird. Es sei zu Beginn festgehalten, dass ich unter Mode eine Zuschreibung verstehe, die vom SpezialistInnentum eines Modesystems für eine bestimmte Kleidung verhandelt und ggf. erteilt wird. Hauptkriterium des Aushandlungsprozesses ist die Innovativität der Kleidung bzw. ihres Kontextes, in dem sie präsentiert wird. Da ich in der Modenschaugeschichte seit den 1980er Jahren eine Verlagerung der Innovativität vom Modedesign hin zum Kontext vermute, ist die Modenschau als Ausgangsbasis des Aushandlungsprozesses zum entscheidenden Ort, Moment und Instrument der Aushandlung avanciert. Modenschauen sind dabei in ihren Abläufen nicht vollends planbare Aufführungen, die allerdings auf von den DesignerInnen minutiös geplanten Inszenierungen beruhen. Sie oszillieren zwischen Planung und Emergenz, sind aufgrund ihrer kurzen Dauer ephemer und performativ in dem Sinne, dass in ihnen etwas Neues – das Neue der Mode – hervorgebracht wird.11
3. D ER B E WEGUNGSR AUM Sowohl in Allenspachs als auch in Lehnerts Zitat klang an, dass das Kleid als Bewegungsding nicht ohne die räumliche (und zeitliche) Dimension zu denken ist. Laut Lehnert funktionieren Kleider erst an dreidimensionalen Körpern, die sich durch ihre Position, Dichte und ihre Statik bzw. Dynamik zu Räumen verhalten. Somit verhält sich Kleidung nicht nur räumlich zum tragenden Körper, indem es mit und um ihn herum einen modischen Köper figuriert, sondern gleichzeitig zu dem den Körper umgebenden Raum. Körperlichkeit und Bewegung bringen Kleidung erst zum Vorschein und machen sie erst erfahrbar, und diese zwei Aspekte existieren ohne einen räumlichen Bezug nicht. Folglich braucht Kleidung Raum: »[…] Kleider sind räumliche Gebilde, sie existieren im Raum und treten in Austausch mit ihm. Raum wiederum konstituiert sich modernen soziologischen und kulturwissenschaftlichen Konzepten zufolge durch Dinge und Bewegung. So werden Körper und Kleider zu integralen Elementen der Wahrnehmung und Gestaltung von Raum. ›Mode‹ ist, wie ›Raum‹, dynamisiert worden, und in ihrer Dynamik gehen beide eine unauflösliche Verbindung ein.«12
11 | Diese Definition bildet die Argumentationsgrundlage meiner an der Universität Potsdam eingereichten Dissertation, in der ich mich mit der Behauptung des Neuen in der Mode beschäftigt habe. Vgl.: Kühl, Alicia: Modenschauen. Die Behauptung des Neuen in der Mode. Dissertation. Universität Potsdam, Potsdam. Institut für Künste und Medien, 2014. 12 | Lehnert, Gertrud: Mode als Raum, Mode im Raum. Zur Einführung. In: Gertrud Lehnert (Hg.): Räume der Mode, München 2012, S. 7.
Die »Choreotopografie« oder das Schreiben von Modenschauräumen
Das hier zugrunde liegende relative Raumverständnis als Grundaxiom des spatial oder topografical turns beruht, wie Laura Kajetzke und Markus Schroer erklären, vornehmlich auf drei Achsen: erstens auf der Veränderung des Verhältnisses vom physischen zum sozialen Raum, zweitens auf der Veränderung vom ContainerModell zur relationalen Raumauffassung und drittens auf einer Veränderung des Verhältnisses von Raum und Zeit – beide werden als prozesshaft und in Bewegung verstanden.13 Es kann auf eine Tradition zur Vorbereitung dieses Paradigmenwechsels verwiesen werden 14 sowie auf zahlreiche Werke aus der (Architektur-, Stadt-)Soziologie als auch aus den Kulturwissenschaften, die das neue Raumverständnis für die verschiedensten Bereiche fruchtbar gemacht haben.15 Ich möchte an dieser Stelle jedoch davon ausgehen, dass sie im Groben bekannt sind, und die Diskussion auf die Wechselwirkungen von bewegten modischen Körpern und Raum und später auf die Modenschau als Moment der künstlerischen Inszenierung dieser Wechselwirkungen lenken. Kristin Westphal erklärt, dass der menschliche Körper »als Nullpunkt der Orientierung im Raum zu sehen«16 ist, womit sie auf Edmund Husserls Verständnis von Räumlichkeit verweist, wonach sich der Raum »in der Bewegung des Objektes selbst und in der Bewegung des »Ich«, mit dem dadurch gegebenen Wechsel der Orientierung« konstituiert.17 Husserl erklärt in seinen Vorträgen zur Selbstbewegung, dass sich der visuelle und der taktile Erfahrungsraum eines Menschen im Moment der Bewegung des Körpers durch einen Raum ergänzen. Erst durch die Bewegung wird die anfängliche Zweidimensionalität, die das aus Bildern und visuellen Empfindungen bestehende sog. visuelle Feld liefert, in Dreidimensionalität verwandelt.18 Westphal geht weiter und konstatiert, dass sich der Mensch mit der Bewegung von Ort zu Ort nicht nur in den Raum einschreibt, sondern dass dieser auch auf den Bewegungsverlauf zurückwirkt. »Bewegung als raumbildende Handlung« 13 | Vgl. Schroer, Markus/Kajetzke, Laura: Sozialer Raum: Verräumlichung, in: Günzel, Stephan (Hg.): Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2010, S. 193. 14 | Z. B.: Simmel, Georg (1903): Soziologie des Raumes. In: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich 27 (1), S. 27-71. Husserl, Edmund/Claesges, Ulrich (1973): Ding und Raum. Vorlesungen 1907. Den Haag 1973, (Husserliana, 16). Lefebvre, Henri: La pSroduction de l’espace, Paris 1974. 15 | Z. B.: Augé, Marc (1erstmals frz. 1992): Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt a.M. 1994. Löw, Martina: Raumsoziologie. Orig.-Ausg., 1. Aufl., Frankfurt a.M. 2001. Böhme, Gernot: Architektur und Atmosphäre, München 2006. 16 | Westphal, Kristin: Bewegung. In: Günzel, Stephan (Hg.): Lexikon der Raumphilosophie. 1. Aufl., Darmstadt 2012, S. 54. 17 | Husserl, Edmund; Claesges, Ulrich (1973): Ding und Raum. Vorlesungen 1907, Den Haag: M. Nijhoff (Husserliana, 16), S. 154. 18 | Vgl. ebd., S. 164ff.
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sei »dann mehr als nur eine äußerliche, motorische Aktivität, die mich von A nach B bringt«, sondern sie bohre »sich förmlich in den Raum und hinterl[asse] Spuren auf ihren Wegen sowohl im Raum als auch am und im Körper.«19 Manja Leyk hat in diesem Zusammenhang den nützlichen Terminus des Bewegungsraumes geprägt. Mit Verweis auf die Körper und Bewegungsstudien von Leonardo da Vinci erklärt sie zunächst, dass Bewegung mit dem Ausgleichen des Körpergleichgewichts zu tun hat: »Enthält eine beliebige Architektur eine (optische) Verlagerung des Schwerpunkts, so entsendet sie damit automatische eine Aufforderung an unseren Leib, den eigenen Schwerpunkt ebenfalls zu verlagern. Damit verschiebt sich unser Gravitätszentrum und wir sind genötigt […] durch ein Fortsetzen der begonnenen Bewegung unser Gleichgewicht wieder herzustellen. […] Und so entsteht ein eigener Raum: der Bewegungsraum.«20
Der Bewegungsraum entsteht aber freilich nicht nur durch die architektonischen Vorgaben in unserem Umfeld, sondern wird genauso durch die den Räumen anhaftenden Atmosphären21, durch kulturell tradierte Bewegungsmuster (wie bspw. in Kirchen oder Ausstellungen), durch Reaktionen auf von außen kommende Reize (wie z.B. Geräusche aus einer bestimmten Richtung), durch innere Antriebe oder Interesse an einem Punkt im Raum usw. beeinflusst. Diesen spezifischen Raum nennt Leyk den »individuellen Bewegungsraum«: »Der individuelle Bewegungsraum ist direkte Erweiterung des Leibraumes und Schnittstelle zum bebauten Raum. Er ist ein flüchtiger Raum, der durch konkrete körperliche Bewegungen konstituiert wird, sich mit dem Ablauf der Bewegung modifiziert und mit dem Abschluss der Bewegung wieder vergeht. Er entsteht als Synthese aus individuellem Leibraum, synästhetischer Kopplung und spezifischem körperlichem Bewegungsmuster. Es bleibt kein manifester Raum, der für andere nutzbar ist.«22
Wie verhält sich nun der individuelle Bewegungsraum zum architektonischen Raum? Laut Leyk beschreibt »[d]ieses extensive Wahrnehmen und Interagieren, dieses Erfinden einer zum eigenen Leib und zur momentanen Disposition pas-
19 | Westphal, Kristin: Körper. Bewegung. Raum. Aspekte einer Topophänomenologie am Beispiel eines ortsspezifischen Theaters. In: Vierteljahreszeitschrift für wissenschaftliche Pädagogik (4), 2010, S. 624f. 20 | Leyk, Manja: Von mir aus … bewegter Leib – flüchtiger Raum. Studie über den architektonischen Bewegungsraum, Würzburg 2010, S. 71. 21 | Vgl. hier: Böhme, Gernot: Architektur und Atmosphäre, München 2006. 22 | Leyk, Manja: Von mir aus … bewegter Leib – flüchtiger Raum. Studie über den architektonischen Bewegungsraum, Würzburg 2010, S. 76.
Die »Choreotopografie« oder das Schreiben von Modenschauräumen
senden Choreografie […] den Raum nicht, sondern überschreibt den gebauten Raum mit dem Bewegungsraum.«23 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der sich bewegende Mensch durch eine Gleichzeitigkeit von Raumrezeption und Raumkonstitution auszeichnet.24 Kajetzke sieht in der subjektiven Konstruktion von Raum zudem das Moment der Macht und Ermächtigung. In Verbindung mit Leyks Gedanken würde das bedeuten, dass Kajetzkes »bewegte Baumeister«25 den gebauten Raum trotz etwaiger baulicher Widerstände oder auch trotz tradierter, vorgeschriebener Bewegungsmuster überschreiben können, dass also der bebaute Raum und der Bewegungsraum keineswegs harmonieren müssen. Sogleich fallen mir einige Modenschauen als Beispiele für diese Konfrontation ein, wie z.B. Michael Michalskys Defilee in der Berliner Zionskirche (H/W 2009), Karls Lagerfelds Show auf der Chinesischen Mauer (für Fendi F/S 2008) (Abb. 2) oder auch Alexander McQueens Präsentation in den Gefängnisgewölben der Conciergerie in Paris (H/W 2002).
Abbildung 2: Fendi F/S 2008 auf der Chinesischen Mauer Quelle: www.stuff.co.nz/life-style/38605/Great-Wall-gets-first-major-fashion-show 23 | Ebd., S. 77, kursiv d. AK. 24 | Vgl. ebd., S. 78. 25 | Kajetzke, Laura: Machtbewegungen. Eine raumsoziologische Perspektive auf die Schule. In: Vierteljahreszeitschrift für wissenschaftliche Pädagogik (4), 2010, S. 601.
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Die meisten Räume unserer Gesellschaft, in denen Menschen agieren oder die durch ihre sozialen Handlungen erst konstituiert werden, werden von bekleideten Körpern dominiert. Dies wirft die Frage auf, ob nicht auch die Be- bzw. Entkleidung der AkteurInnen raumkonstituierend wirkt. Auch die Be- bzw. Entkleidung müsste in diesem Falle prozesshaft gedacht werden, als etwas Veränderliches, was zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen sozialen Kontexten variiert. Entsprechend erklärt Lehnert: »Die materielle, körperliche und räumliche Dimension von Kleidung entfaltet sich als räumliches und raumaneignendes Handeln einerseits und in textilen Skulpturen andererseits. […] Im Zusammenhang mit der Kleidung und der Aktivität von Körpern besitzt Mode besondere Raumaspekte, wie Enge bzw. Weite der Bewegung oder den Umfang (Ausdehnung) der Körper. In der konstitutiven Verbindung von dreidimensionalen menschlichen Körpern und vestimentären Objekten entstehen spezifische, historisch und kulturell variable Räumlichkeiten.«26
Die Wechselwirkungen von Kleidung und Bewegungsraum können auf mindestens vier Ebenen skizziert werden: (1) Das Kleid ermöglicht, steuert oder verhindert eine bestimmte Bewegung des ihn tragenden Körpers. So hat beispielsweise die Krinoline wesentlich die Bewegung der Frau im privaten und öffentlichen Raum bestimmt 27 und ihre »Unvereinbarkeit […] mit der modernen Architektur und Möblierung« machte Stimmen laut, die eine Erweiterung der Räume und Anpassung der Möbel als notwendig erachteten.28 (2) Der bebaute Raum ermöglicht, steuert oder verhindert die Bewegung des modischen Körpers (bspw. das Umgehen von Kopfsteinpflastern beim Tragen von Stöckelschuhen). (3) Der bebaute Raum ist symbolisch kodiert und schreibt so die Kleidung und Bewegung vor (z.B. Schulterbedeckung und leise Fortbewegung in Kirchen). In diesem Zusammenhang ist auch auf die gezielte Brechung solcher Kon26 | Lehnert, Gertrud: Mode. In: Günzel, Stephan (Hg.): Lexikon der Raumphilosophie. 1. Aufl., Darmstadt 2012, S. 261f. 27 | Vgl. die zeitgenössische Abhandlung: Vischer, Friedrich Theodor (1859): Vernünftige Gedanken über die jetzige Mode, in: Morgenblatt für gebildete Leser 53, 30.01.1859, S. 97-102. und 06.02.1859, S. 121-128. Und aus der Retrospektive: Lehnert, Gertrud: Der modische Körper als Raumskulptur, in: Fischer-Lichte, Erika (Hg.): Theatralität und die Krisen der Repräsentation, Stuttgart 2001 (1999), S. 528-549. 28 | Aufruf des Publizisten Théophile Gautier aus dem Jahre 1858, zitiert und übersetzt in: Haase, Birgit: »Die Satire attackiert die Krinoline!«. Modekritik in Bild und Wort am Beispiel von Charles Vernier und Friedrich Theodor Vischer. In: Rasche, Adelheid/Wolter, Gundula (Hg.): Ridikül! Mode in der Karikatur 1600 bis 1900, Berlin u.a. 2003, S. 110.
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ventionen und Traditionen durch inadäquate Kleidung und unpassende Bewegungen zu verweisen (z.B. Protestkonzert der vermummten Pussy Riot Bandmitgliederinnen in der Christ-Erlöser-Kirche in Moskau). (4) Die Kleidung anderer AkteurInnen hat Einfluss auf die Bewegung einer AkteurIn, d.h. Kleidung selbst kommuniziert Bewegungsanweisungen (bspw. veränderte Bewegungs- oder Fahrabläufe, wenn Polizeiuniformen in der Nähe erkennbar sind).
4. D ER M ODENSCHAUR AUM Einen besonderen, aber gleichermaßen konstruierten Raum bildet der sogenannte Modenschauraum. In meiner Dissertation und früheren Publikationen29 habe ich zur Analyse von Atmosphären von Modenschauen zwischen drei Raumtypen unterschieden, und zwar zwischen dem Ort (meistens eine Modemetropole), der Location (geschlossener oder öffentlich zugänglicher Raum innerhalb des Orts) und dem sog. Imaginärem Raum (Vorstellungsraum als Produkt des phantasievollen Schaffens der DesignerInnen). Alle drei verschmelzen im Moment der Aufführung zum Modenschauraum, was ich den Verräumlichungsprozess nenne. Hier möchte ich einen weiteren, noch nicht behandelten Aspekt des Modenschauraumes erörtern, nämlich den der Bewegung modischer Körper als einer seiner konstitutiven Bestandteile. Die Bewegung ist als Choreografie zunächst ein Teil des Imaginären Raumes. Die DesignerInnen und ihre Teams überlegen bei der Konzeption der Modenschau, inwiefern der bespielte Ort und die Location von den Models begangen und den Gästen besetzt werden könnten. Dabei ist die Steuerung der Bewegung der Models und Gäste wesentlicher Bestandteil der Modenschau-Atmosphäre, da entweder die Bewegung zur Atmosphäre beiträgt oder die Atmosphäre nur durch eine bestimmte Bewegung erst evoziert oder erfahren werden kann. Zuerst sei diskutiert, inwiefern die Bewegung in der Modenschau eine andere ist als diejenigen bekleideter Körper in anderen sozialen Zusammenhängen. Das Ziel einer Modenschau ist die Präsentation einer neuen Mode. Wie ich in meiner Dissertation argumentiere, ist die Zuschreibung einer Kleidung als neue Mode ein Akt der Etikettierung durch die ModespezialistInnen, die in der Modenschau anwesend sind. Das Etikett »neu« ist, so meine These, eine Behauptung, die gewissermaßen als Verpackung um jegliche Artefakte oder Phänomen »gelegt« werden kann, d.h. nicht unbedingt eine Eigenschaft derselben sein muss. Mei29 | Vgl. Rost, Sophia: Designer ziehen Räume an. Neue Trends oder »Schicht im Schacht« in der Mode? Ein Gespräch mit Alicia Kühl. In: Portal Wissen, Universität Potsdam (2013/1 »Schichten«), S. 89-91. Und: Kühl, Alicia: Wie Kleidung zu Mode wird. Prozesse der Verräumlichung in Modenschauen, in: Gertrud Lehnert (Hg.): Räume der Mode, München 2012, S. 57-74.
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ner Beobachtung nach ist die Etikettierung einer Kleidung als neue Mode seit den 1980er Jahren nicht mehr (nur) von einer Neuerung in der Verarbeitung der Textilien oder im Design abhängig, sondern kann auch über andere Strategien erfolgen, wie beispielsweise durch die Kreation einer Modenschau-Atmosphäre. Was bedeutet dies nun für die Bewegung in der Modenschau? Es bedeutet, dass sie nicht mehr (allein) zur Präsentation der Kleidung eingesetzt wird. Die Kleidung tritt im Hinblick auf die Erschaffung von Neuem und auf die Kreation einer Modenschau-Atmosphäre immer mehr in den Hintergrund und andere Elemente der Show, wie Lichteffekte, Musikeffekte und eben auch Bewegungseffekte rücken immer mehr in den Vordergrund. Der Bewegung des bekleideten Körpers im Raum wird also eine neue Funktion zuteil: sie ist konstitutiver Bestandteil des erfahrbaren Modenschauraumes, der ausschlaggebend ist für die Schaffung von Neuem. Die Bewegung kann den Modenschauraum beeinflussen, ihn sogar formieren, und zwar durch ihre künstliche und künstlerische Anleitung: durch die Choreografie.
5. D IE C HOREOGR AFIE Unter einer Choreografie versteht der Volksmund im Allgemeinen das Inszenieren von Bewegungsabläufen, und im Spezifischen die Kreation und Produktion von Tanzstücken. Otto Schneider erklärt, dass man »auf der Bühne […] mit diesem Ausdruck die gesamte Kunst der tänzerischen Komposition [bezeichnet], die eine Idee mit den Mitteln der Bewegung und unter Zuhilfenahme von Licht, Farbe, Kostüm in Übereinstimmung mit der Musik in eine tanztechnische Form bringt.«30 Diese Bedeutung hat das Wort allerdings erst ab dem 20. Jahrhundert. Zuvor war es ab dem späten 17. Jahrhundert ein Synonym für die Tanznotation bzw. Tanzschrift (altgr. χορός = Tanz und γράφειν = schreiben), also das systematische Niederschreiben bzw. Skizzieren von Tanzbewegungen.31 Die erste tanztheoretische Verwendung des Begriffes findet sich in der Publikation des Tanzmeisters Raoul-Auger Feuillet mit dem Titel Chorégraphie, ou l’art de décrire la danse par caractères, figures et signes démonstratifs (Paris, 1700).32 Die Niederschrift von bereits bestehenden Tänzen wurde von Carl Joseph von Feldtenstein in seinem Lehrbuch 30 | Lexikonartikel zum Begriff »Choreographie« in: Schneider, Otto: Tanzlexikon. Der Gesellschafts-, Volks- und Kunsttanz von den Anfängen bis zur Gegenwart, Wien 1985 [u.a.], S. 95. 31 | Brandstetter, Gabriele: Lexikonartikel zum Begriff »Choreographie«. In: Fischer-Lichte, Erika/Kolesch, Doris/Warstat, Matthias (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart 2005, S. 52. 32 | Wie später bekannt wurde, ging diese auf die Arbeiten des Komponisten und Tänzers Pierre Beauchamp zurück, der vom französischen König Ludwig XIV. mit der Entwicklung
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Die Kunst, nach der Choreografie zu tanzen und Tänze zu schreiben (Braunschweig, 1772-1776) »auf die künstlerisch ambitionierte Tätigkeit, Tänze zu erfinden und kombinieren« übertragen.33 Hier wird die Entwicklung der zuvor als Zeichensystem verstandenen Choreografie, die Tänze festhält und kommuniziert, hin zu einem kreativen Prozess des Kombinierens und Neuerschaffens deutlich. Im beginnenden 20. Jahrhundert löst sich das Verständnis der Choreografie durch die Vertreter des Ausdruckstanzes wie Isadora Duncan vollends von einer literarisch verstandenen Dramaturgie. Die Bewegung ist nun nicht mehr im Voraus beschrieben, sondern entsteht im jeweiligen Kontext und Moment. Für diese Entwicklung und die darauf folgende des Post Modern Dance »wird die Bewegung schließlich zum Ausdruck ihrer selbst, zum reinen Selbstzweck«34 – ein elementarer Grundgedanke der künstlerische Performance, wie sie sich Mitte des 20. Jahrhunderts entwickeln sollte. Die DesignerInnen und ihre Teams bedienen sich bei der Choreografie der Modenschau verschiedener Arten von »Regelsystem[en] für die Organisation von (Körper-)Bewegung in Zeit und Raum«35, die ich später aufzeigen werde. Auch wenn bei dem Einsatz performativer Bewegungen per definitionem nicht von einem Regelsystem gesprochen werden kann, gibt es bei der Modenschau trotzdem eine Art »Skript«, die die Bewegung zumindest in einen bestimmten zeitlichen und örtlichen Rahmen setzt. Das Skript für die Choreografie entsteht meist bereits bei der Konzeption der Modenschau. Die Wahl der Location, die Gestaltung des Laufstegs, die Anordnung der Sitze, die Licht- und Soundführung wird auf die Choreografie abgestimmt und umgekehrt. Beim Casting der Models wird darauf geachtet, dass sie nicht nur einen überzeugenden Laufstil pflegen (homogener Gang, Synchronität, Rhythmusgefühl, gewünschte Mimik etc.), sondern auch einer komplexeren Choreografie gewachsen sein könnten. Tanzchoreografien, vor allem für KaufhausModenschauen, werden im Casting erprobt und vor der Modenschau oft tagelang geübt – für die Stepptanz-Modenschau von Rick Owens beispielsweise mussten die 40 Tänzerinnen sogar vier Monate lang üben.36
einer Tanznotation beauftragt wurde und dem die Erfindung der fünf Positionen im klassischen Ballett zugeschrieben wird. 33 | Koegler, Horst: Friedrichs Ballettlexikon, Velber bei Hannover 1972, S. 118. 34 | Stöckemann, Patricia: Lexikonartikel zu dem Begriffspaar »Choreographie/Choreograph«, in: Brauneck, Manfred/Schneilin, Gérard (Hg.): Theaterlexikon. Begriffe und Epochen, Bühnen und Ensembles. 3. Aufl., Reinbek bei Hamburg 1992, S. 235. 35 | Brandstetter, Gabriele: Lexikonartikel zum Begriff »Choreographie«. In: Fischer-Lichte, Erika/Kolesch, Doris/Warstat, Matthias (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart 2005, S. 52. 36 | Laut einem Bericht der teilnehmenden Tänzerin Arin Lawrence in: Rees, Alex: Exclusive: A Stepper In Rick Owens’ Fashion Show Tells All. Artikel des Online-Magazins Buzzfeed
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Bei Choreografien, die komplexer sind als das einfache Defilee, werden große Schaubilder angefertigt und im Backstage-Bereich aufgehängt und nicht selten auch kleine Markierungen auf dem Laufsteg angebracht. Während der Modenschau werden die Bewegungen der Models gefilmt und direkt hinter dem Eingang auf Bildschirme projiziert, sodass die ModenschauproduzentInnen oder ChoreografInnen den Ablauf direkt kontrollieren und ggf. das Betreten des Laufstegs verzögern oder beschleunigen können. Die klassische Form der Modenschau-Choreografie, das Defilee, setzt sich aus zwei Elementen zusammen: aus der Bewegung und der Pose. Man könnte aus pragmatischer Sicht den Nutzen der Pose am Ende des Laufstegs darin sehen, dass scharfe Nahaufnahmen von den Models hier – direkt vor dem Media Riser – am besten möglich sind. M.E. ist die Pose jedoch viel mehr als das. Der schon zu Beginn erwähnte Artikel von Caroline Evans hilft hier weiter:37 Evans führt die Ähnlichkeiten der »mannequin parades« mit der Chronofotografie darauf zurück, dass ihre zwei wichtigsten Aspekte multiple und movement sind, die eine neue Wahrnehmung von Zeit und Raum möglich machen. Die neuen visuellen Technologien des ausklingenden 19. Jahrhunderts haben laut Evans für den Körper zwei Dinge zur Folge: Einerseits besteht ein Film aus statischen, aneinandergereihten Einzelsequenzen, was eine Rahmung, Erstarrung und in der Serie eine Multiplikation des Körpers bedeutet, andererseits zeigen sie bei einer Beschleunigung der einzelnen freeze frames die abgebildeten Personen in Bewegung.38 Diese beiden Aspekte macht Evans auch bei der Arbeit der Mannequins fest: multiple deswegen, weil die Mannequins zuerst als sosies, d.h. als Doubles der Kundinnen auftraten, dann zunehmend als Doubles ihrer selbst, denn mit der Zeit verlangte man nach identischen Modelkörpern, die alle in jedes beliebige Kleidungsstück passten und sich in ihnen gleich gut bewegen sollen, was man mit antrainierten Gesten und Choreografien, Diäten und uniformeller Bekleidung, Schminke und Haarstyling bewerkstelligen konnte. Diese Multiplikation wurde in den Ateliers durch das Verspiegeln der Wände verstärkt (z.B. Coco Chanel), sowie durch die zunehmende Verbreitung von Fotografien der defilierenden Models. In der Tat erinnern die auf den Webseiten heutiger DesignerInnen abge-
am 30.09.2013, einzusehen unter: www.buzzfeed.com/alexrees/rick-owens-step-tell-all (31.03.2015). 37 | Vgl. im Folgenden: Kühl, Alicia: Modenschauen. Die Behauptung des Neuen in der Mode. Dissertation. Universität Potsdam, Potsdam. Institut für Künste und Medien, 2014, S. 105ff. 38 | Vgl. Evans, Caroline (2005): Multiple, Movement, Model, Mode: The Mannequin Parade 1900-1929. In: Christopher Breward und Caroline Evans (Hg.): Fashion and modernity, Oxford, S. 128.
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bildeten Fotos von Modenschauen in ihrer Aneinanderreihung stark an die Fotoreihe »Woman dressing« von Muybridge aus dem Jahre 1887.39 Dem multiple stellte Evans das movement zur Seite und gegenüber, denn seit Mitte des 19. Jahrhunderts wollte man die Kleidung in Bewegung sehen. Das Laufen und Drehen wurde geübt und mit der Zeit bildeten sich für bestimmte Modehäuser typische Körperhaltungen, Gesten und Schrittabfolgen heraus – beispielsweise die dramatischen Posen bei Lucile, imposante Drehungen von Poirets Lieblingsmodel Andrée, das gelangweilte Schlendern der Chanel-Models oder das Defilieren in Reih und Glied bei Patou 40. In der Pose als eine aus der Bewegung in die Kurzstarre geführte Position vereinen sich die beiden Aspekte multiple und movement. Eine ähnliche Charakterisierung der Pose bietet auch Gabriele Brandstetter, jedoch als Ergebnis einer theaterwissenschaftlichen Analyse. Nach ihr ist die Pose »als Figuration eines Figuralen […], eine herausgehobene Raum-Zeit-Figur, die zwischen dem Einhalt und der Bewegung angesiedelt ist. Und eben in dieser Zwischen-Situation markiert die Pose jene Stelle, in der die Zeitlichkeit des Bildes sich einträgt. […] Die Pose erscheint als Umspring-Zone und als Passage zwischen Bild und Korporalität, zwischen picture und performance; als Relais jener Bild-Bewegung, in der sich das Paradox des Prinzips Tableau vivant verkörpert, nämlich das ›Lebendig-(sich-)Totstellen‹.« 41
Neben dieser elementaren Funktion der Pose, Dichotomien wie Bewegung/Einhalt oder Erstarrung/Lebendigkeit aufzubrechen bzw. in sich zu vereinen, sowie Zeit, Raum und Handlung in ein (zweidimensionales, vermittelbares) Bild festzuhalten, ermöglicht die Pose den ZuschauerInnen einen kurzen Moment der (vermeintlichen) Fassbarkeit und Distanzlosigkeit zum Model und dem gezeigten Kleid. Während die Faszination des Modenschauraumes auf seiner Ephemeralität basiert, und die der Modenschau-Atmosphäre auf der individuellen, einzigartigen Erfahrung der ZuschauerInnen, erlaubt die Pose durch den Einhalt der Bewegung einen Moment der Greif barkeit. Nähe und Berührbarkeit des Models und der getragenen Kleidung sind in der Aufführung zwar nicht realisierbar, werden aber in der Pose als solche inszeniert. Wie Michael Hauskeller erklärt, »bleiben all die Dinge, die ich nicht berühre, als berührbare präsent. So machen sich die Berührungsqualitäten vor allem im Modus ihrer Vorwegnahme atmosphärisch
39 | Vgl. in diesem Zusammenhang Lécallier, Sylvie: El desfile sobreexpuesto. In: Maymó, Jaume (Hg.): Fashion show: les desfilades de moda, Barcelona 2007, S. 163. 40 | Vgl. Evans, Caroline (2005): Multiple, Movement, Model, Mode: The Mannequin Parade 1900-1929. In: Christopher Breward und Caroline Evans (Hg.): Fashion and modernity, Oxford, S. 134. 41 | Aus: Brandstetter, Gabriele: Pose – Posa – Posing. Zwischen Bild und Bewegung. In: Bippus, Elke (Hg.): Fashion, body, cult, Stuttgart 2007, S. 257; kursiv i.O.
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geltend.« 42 Das während der Pose in Ruhe zu betrachtende Kleid ist potentiell berührbar und weckt das Bedürfnis, die Distanz durch eine Berührung und letztendlich durch den Kauf zu überbrücken.
6. C HOREOGR AFIE -T YPEN Die unterschiedlichen Kombinationen aus Bewegung und Pose, denen wir nun einzeln Beachtung geschenkt haben, bilden verschiedene Arten der Choreografie. Im Folgenden sollen fünf Choreografie-Typen skizziert werden, die freilich nicht dem Anspruch an Vollständigkeit gerecht werden und auch in Mischtypen auftreten können. Der Blick soll dabei auf die verschiedenen Weisen der Raumschreibung durch die Choreografie gerichtet werden, was ich die »Choreotopografie« nenne.
(1) Die Choreografie als Defilee Dies ist die für Haute Couture und Prêt-à-porter Modenschauen meist verwendete »klassische« Choreografieform. Die Bewegung der Models ist geradlinig, womit nicht nur die Bewegung auf einem geraden Laufsteg gemeint ist, sondern auch eine ggf. durch Richtungswechsel und Posen unterbrochene Bewegung, allerdings ohne tänzerische Figuren, schauspielerische oder künstlerische Elemente oder Interkationen mit anderen Models oder Tieren. Einen interessanten Gedanken zum Defilee liefert Gunnar Schmidt: Er beobachtet, dass das Defilee »für gewöhnlich die Körper der Models als weiche Versionen des soldatischen Körpers [inszeniert]: Uniformierte Körperanatomien und konditionierte Gleichschritttechniken machen aus ihnen Allegorien eines Kriegers, der einmarschiert, um das Feld des Unmodischen zu kolonisieren.« 43 Die geradlinige Form der Bewegung, oft durch die gerade Form des Laufstegs bestärkt, lässt eine derartige »modetheoretische« Erklärung zu. Die Models schnellen über den langen, in das Publikum ragenden Teil des Laufstegs in die Menge hinein, was durch den gleichförmigen Gang und die rhythmische Musik unterstrichen wird. Sie konfrontieren das Publikum mit ihrer plötzlichen Präsenz und mit dem gezeigten Kleid und machen dann postwendend kehrt – eine Versinnbildlichung der Mode als Wechselphänomen.
42 | Hauskeller, Michael: Atmosphären erleben. Philosophische Untersuchungen zur Sinneswahrnehmung, Berlin 1995, S. 161, kursiv i.O. 43 | Schmidt, Gunnar: Die Auflösung des Körpers in der Bewegung. Zu einer Medieninstallation Alexander McQueens. In: Schlittler, Anna-Brigitte/Tietze, Katharina (Hg.): Mode und Bewegung. Beiträge zur Theorie und Geschichte der Kleidung. 1. Aufl., Emsdetten 2013 (Textile Studies, 5), S. 169.
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Das Defilee ist ein Bewegungsablauf, der durch die vorgegebene Ausrichtung des Laufstegs eher den Raum nachzeichnet als ihn vorzuzeichnen. Durch zusätzliche Inszenierungselemente kann es trotzdem zur Schaffung eines bestimmten Raumes kommen, z.B. durch Referenzierung (tradierter) öffentlicher Räume: Karl Lagerfeld ließ bspw. für die Show Chanel Prêt-à-porter F/S 2009 im Grand Palais eine Straße errichten, an dessen Anfang die erste Boutique von Coco Chanel in der Rue Cambon Nr. 31 nachgebaut wurde, aus der die Models heraustraten, um die Straße hinauf und hinab zu defilieren (Abb. 3). Nicht nur wurde hier auf die Anfänge eines Modeimperiums verwiesen, sondern auch auf die Ermächtigung des öffentlichen Raumes durch die Frau, zu der Coco Chanel mit ihren Bewegungsfreiheit gewährenden Entwürfen Anfang des 20. Jahrhunderts maßgeblich beigetragen hat.
Abbildung 3: Chanel Prêt-à-porter F/S 2009 Quelle: http://media.onsugar.com/files/upl1/12/129120/40_2008/83099757_10.preview.jpg
(2) Die getanzte Choreografie Über die getanzte Choreografie auf Modenschauen gibt es m.W. keine Fachliteratur. Seit den 1960er Jahren sind bei den bekannten DesignerInnen – vor dem Hintergrund der jungen, bewegten und kurzen Mode, der sexuellen Revolution
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und Herausbildung markanter Jugendkulturen wie bspw. den Mods – hier und dort Tanzchoreografien zu finden, z.B. bei Mary Quant, Ossie Clark oder André Courrèges. Insbesondere in den 1970er und 80er Jahren waren tänzelnde, sich beinahe ununterbrochen um die eigene Achse drehende Gruppen von Models auf den Laufstegen von Yves Saint Laurent, Karl Lagerfeld, Emanuel Ungaro etc. üblich. Doch seit den späten 1990er Jahren wird eher darauf verzichtet, den Models tänzerische Bewegungen oder schauspielerische Einlagen beizubringen, und nur selten findet man Gruppierungen von Models (z.B. bei Chanel). Stattdessen werden vereinzelt professionelle TänzerInnen, SchauspielerInnen oder SängerInnen gebucht, bei Alexander McQueen F/S 2004 beispielsweise oder Viktor & Rolf F/S 2007. Einige wenige Labels sind für den regelmäßigen Einsatz professioneller Tanzchoreografien bekannt, wie z.B. Moncler (Tanz-Flashmob bei Moncler Grenoble H/W 2011, Eislauftanz bei Moncler Grenoble H/W 2012). Ansonsten lassen getanzte Choreografien eher auf semi- oder unprofessionelle Modenschauen in großen Malls oder Kaufhäusern schließen. Interessanterweise inszenierte Rick Owens in der letzten Saison F/S 2014 eine Gesamtchoreografie von Stepptänzerinnen aus US-amerikanischen Studentenverbindungen 44 , und bei Jean Paul Gaultier F/S 2014 führten Topmodels wie Karlie Kloss und Coco Rocha vor einer fiktiven Tanzjury verschiedene Tanzstile auf. Eventuell ist dies der Auftakt zu einer neuen Wendung in der Modenschau-Choreografie. Bei der getanzten Choreografie nimmt der bewegte Körper durch die Interaktionen mit den anderen Models und die sich durch die Drehungen auffächernden Kleider mehr Raum ein als beim Defilee. Wie bei der eingangs geschilderten Show von Marc Jacobs H/W 2010 können Aufstellungen und Choreografien, die über das Defilee hinausgehen oder es ergänzen, zu der Bildung einzigartiger, ephemerer Bewegungsräume beitragen.
(3) »Performance-Choreografien« Streng genommen sind alle Modenschauen performativ, denn alle bringen – nach meiner Argumentation – etwas hervor (das Neue). In der journalistischen Berichterstattung werden oft diejenigen Modenschauen als Performances gehandelt, in denen diese Performativität auf die Spitze getrieben wird, d.h. in denen der Aspekt der (vermeintlichen) Unkontrollierbarkeit stark ausgeprägt ist. Das »Unerwartete« oder gar das »Chaos« führt dazu, dass die ZuschauerInnen betroffener sind und sich eingebundener fühlen als bei einer streng durchchoreografierten Show, in der fast nichts aus dem gewohnten Ablauf und Rahmen fällt. Während es bei einigen Shows offensichtlich ist, dass den Models die eigene Ausdrucksbewegung überlassen wird (z.B. bei den frühen Shows von Vivienne Westwood), ist nicht immer genau festzustellen, inwieweit die Choreografien vor44 | Vgl. hierzu: Gaugele, Elke (2014): Blacklisted Glunge-Guru: Rick Owens. In: Pop. Kultur und Kritik (4), S. 42-51.
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gegeben und einstudiert sind oder nicht (z.B. bei der Show von Sonia Rykiel für H&M 2009). Tanzchoreografien und »Performance-Choreografien« sind aus der RezipientInnenperspektive folglich nicht eindeutig voneinander zu trennen. In dieser Kategorie beziehe ich mich auf Modenschauen, deren experimenteller Charakter sich auf die Bewegung der Models gründet. Bei einer Männermodenschau von Maison Martin Margiela am 12.01.2006 zum Beispiel bekamen die ZuschauerInnen im Teatro Puccini in Florenz eine (um wenige Minuten verzögerte) Live-Übertragung des Eingangsbereiches des Theaters zu sehen, in der zuerst ihr eigenes Eintreten und darauf das der Models gefilmt wurde, die – scheinbar als einfache weitere Zuschauer – das Theater betraten. Als die Models im Theatersaal ankamen, mischten sie sich nach einer kurzen Aufreihung auf der Bühne unter das Publikum, sodass die Textilien und Designs aus der Nähe begutachtet und befühlt werden konnten. In diesem Beispiel kann der vom Designer imaginierte Raum nur durch die freie, individuelle Bewegung der Models zum erfahrbaren Modenschauraum werden. Dabei lag die Verantwortung gänzlich bei ihnen – manche mischten sich unter die Leute und unterhielten sich, manche posierten vor den Gästen und schufen so wieder etwas Abstand zu ihnen, manche standen etwas ratlos in der Menge und fühlten sich ggf. Fehl am Platze. Der Modenschauraum wurde hier durch die Bewegungen der Models »geschrieben«.
(4) Besucher-Choreografien Viele DesignerInnen greifen (oft aus finanziellen Gründen) auf eine Präsentation ihrer Kollektion in Form einer Installation zurück. Diese ist meist eine statische Anordnung von Puppen oder Models, die die Kollektion für eine gewisse Dauer zeigen. Dabei sind hin und wieder Positions- oder Posenwechsel möglich. Das Besondere bei diesem Typus ist, dass die Besucher dazu angehalten werden, die Location selbst zu beschreiten und zu erkunden, um die Installation herumzugehen, selbst zu entscheiden, an welchen Stellen sie verweilen oder vorbei gehen wollen. Durch ihre Wege wird der Modenschauraum geschrieben. Dabei ist die Bewegung der Gäste natürlich nicht direkt choreografiert, sehr wohl jedoch gelenkt durch den Aufbau der Installation selbst und durch Licht- und Soundeffekte.
(5) Motorisierte Choreografien 45 Um interessante Bewegungseffekte zu erzeugen, nutzen DesignerInnen immer öfter technische Vorrichtungen, die die Models auf verschiedene Weise durch den Raum bewegen. Dies kann eine kleine rotierende Plattform sein, auf der sich Maggie Rizer bei Viktor & Rolf H/W HC 1999 um die eigene Achse drehte, meh45 | Vgl. hierzu weiterführend: Kühl, Alicia: Mode ist Fernweh. Das Thema Reise in der Modenschau, in: Querformat. Zeitschrift für Zeitgenössisches, Kunst, Populärkultur, Heft 6 »Anziehen – Transkulturelle Moden//Dressed up – Transcultural Fashion«, Bielefeld 2014.
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rere Kaufhaus-Rolltreppen bei Louis Vuitton F/S 2013, motorisierte Festzugwägen bei Sonia Rykiel für H&M 2009, oder, um ein aktuelles Beispiel zu nennen, mechanisierte Fußgestelle, die bei Moncler Grenoble H/W 2014 einen gesamten Männerchor in verschiedene Richtungen bogen (vgl. Abb. 4). Gerade bei diesem letzten Beispiel erlaubt die motorisierte Choreografie den Einsatz unnatürlicher Bewegungen, die Raum auf eine nicht ohne Weiteres nachzuahmende Weise schreiben.
Abbildung 4: Bild der Show von Moncler Grenoble H/W 2014 Quelle: http://nitrolicious.com/2014/02/12/moncler-grenoble-fall-winter-2014-presentation/
7. S CHLUSS Die Funktion der Modenschau liegt nicht mehr (nur) in der Präsentation von Neuem, sondern in der Erschaffung von Neuem im Moment der Aufführung. Die einmalige Erfahrung des Modenschauraumes trägt maßgeblich zur Aushandlung des Neuen bei, die für die ModespezialistInnen (also Buyer, JournalistInnen, Editors, StylistInnen, FotografInnen usw.) in der Modenschau beginnt. Die Choreografie als Kombination von Pose und Bewegung ist eine Strategie, die neue Bewegungsformen und somit neue Raumerfahrungen möglich machen. Die Raumerfahrungen der ZuschauerInnen werden insofern beeinflusst, dass mit der Choreografie im vorhandenen Raum neue, ephemere Bewegungsräume erschaffen werden, die sich zu ihm auf bestimmte Weisen verhalten: ihn nachzeichnen, vorzeichnen, ihn überschreiben oder auch konterkarieren. Unter
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dem hier vorgeschlagenen Begriff der »Choreotopografie« könnten die Wechselwirkungen von Raum und Bewegungsraum bei der Modenschau systematisch untersucht werden.
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Zur Räumlichkeit von Mode — Vestimentäre räumliche Praktiken Gertrud Lehnert
I. A UF TAK T Mode – das Ergebnis spezifischer Weisen kulturellen Handelns mit vestimentären Artefakten 1 – lässt sich auf unterschiedliche Weise kategorisieren. Mich interessiert das Zusammenspiel von Kleidern und Körpern und besonders die spezifische Räumlichkeit, die dieses Zusammenspiel hervorbringt. Das Design der Kleider spielt dabei eine wesentliche Rolle, aber – so meine These – die Kleider bedürfen der Körper, nicht nur um Mode zu sein, sondern vor allem, um zum gestalteten Raum zu werden. Menschen sind räumliche Wesen, ihre Körper sind räumlich, und sie erleben und gestalten Raum. Kleider haben stets eine räumliche Komponente, oder zumindest ein räumliches Potential. Sie fügen dem biologischen Körper etwas hinzu, womit sie ihn entweder erweitern und vergrößern, ihn zuweilen auch verkleinern, ihn jedenfalls durch Techniken des Schnürens oder Polsterns, der Schnitttechniken oder mit Hilfe anderer Methoden verändern. So entstehen im Miteinander von Körpern und Kleidern ganz neue Körperformen, die ich als »Modekörper« bezeichne. Der Modekörper ist mehr als die Summe seiner Teile, denn im Idealfall entsteht in der Amalgamierung von Körper und Kleid ein Neues, und sei es nur für kurze Zeit. Das Resultat sind Körpertechniken, eine Änderung des Körpergefühls und vielleicht sogar des Körperselbst.2 1 | Dazu zählen Zuschreibungs-, Aushandlungs- und Anerkennungsprozesse auf unterschiedlichen Ebenen der Produktion, Vermarktung und Rezeption; ferner die Inszenierung von Kleidern an Körpern in unterschiedlichen Kontexten (zwischen Modenschau, Präsentation in Läden sowie im Alltag). Modekleider sind der Idee des ästhetischen Überflusses verpflichtet, egal ob sie das materialiter verkörpern oder nicht; darum bieten sie einen Spielplatz für ästhetische Experimente. 2 | Die Psychologie definiert Körperselbst als »Summe der zunächst diffusen Empfindungen von der Körperoberfläche und aus dem Körperinneren, die sich in der weiteren Entwicklung zu einem bewussten und unbewussten Bild des eigenen Körpers organisieren.«
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Das wechselnde Spiel unterschiedlicher Materialitäten (Stoffen) mit dem lebenden, dem biologischen Körper bestimmt Mode seit ihrem Anfang. Enthüllung und Verhüllung sind wesentlicher Teil davon. Das führt zur häufig vertretenen Auffassung, Mode sei im Wesentlichen ein erotisches Spiel zwischen Frauen und Männern. Abgesehen von der einseitigen Heteronormativität, die dieser Auffassung üblicherweise zugrunde liegt 3, greift diese Auffassung viel zu kurz, um Mode in ihren kreativen und transformierenden Möglichkeiten zu erfassen. Geht man davon aus, dass Mode das Ergebnis einer – im weitesten Sinne – reflektierenden und reflektierten Kultur ist, besteht ihre Funktion nicht nur – oder vielleicht nicht einmal in erster Linie – darin, Menschen möglichst sexy und begehrenswert zu machen, sondern darin, in spielerischem Umgang mit unterschiedlichen Materialien neue Körper zu schaffen, die die Grenzen des »natürlich« Gegebenen überschreiten. Emphatisch gesagt bedeutet das auch die Hervorbringung neuer sinnlich erfahrbarer und wahrnehmbarer Wirklichkeiten. 4 Es ist eine Inszenierung im besten Sinne einer Hervorbringung und die Sichtbarmachung eines Potentials, das anders nicht zu sehen wäre.5 Dem möchte ich mich im Folgenden in der Perspektive der Hervorbringung von Räumlichkeit am Beispiel avantgardistischer vestimentärer Skulpturen oder genauer: Plastiken aus den letzten 30 Plassmann, Reinhard: Körperbild, Körperschema, Körperselbst, in: Mertens, Wolfgang/ Waldvogel Bruno (Hg.): Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe, Stuttgart/Berlin/ Köln 2002, S. 382-385; hier: S. 383. 3 | Lange gab es in der Mode unreflektiert nur Frauen und Männer und deren wechselseitige Anziehung. Wenn sich das auch geändert hat, ist es weiterhin das herrschende Modeparadigma, auch wenn es zuweilen dekonstruiert wird. Vgl. u.a. Steele, Valerie: Fashion and Eroticism. Ideals of Feminine Beauty from the Victorian Era to the Jazz Age, New York, Oxford 1985; Hollander, Anne: Seeing Through Clothes, Berkeley/Los Angeles/London 1985; Lehnert, Gertrud: Gender, in: Berg Encyclopedia of World Dress and Fashion, Bd. 8: West Europe, Oxford 2010, S. 452-461. 4 | Dass damit immer auch soziale Zeichen und damit die Hervorbringung und Differenzierung von Status und Geschlecht im Sinne gesellschaftlicher Normierung verbunden ist, steht außer Frage; das ist das am häufigsten behandelte Thema in der Modetheorie und -geschichte. 5 | Mit meinem Konzept von Inszenierung folge ich Fischer-Lichte, Erika: Theater als kulturelles Modell, in: Ästhetische Erfahrung. Das Semiotische und das Performative, Tübingen/ Basel 2001, S. 269-343, und Iser, Wolfgang: Akte des Fingierens, in: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt a.M. 1993, S. 18-51; ferner Martin Seel, der Inszenierung definiert als ein »absichtsvoll und artifiziell hervorgebrachtes Ereignis«, das auffällig ist; als »öffentliches Erscheinenlassen von Gegenwart«: Seel, Martin: »Inszenieren als Erscheinenlassen. Thesen über die Reichweite eines Begriffs«, in: Josef Früchtl/Jörg Zimmermann (Hg.): Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens, Frankfurt a.M. 2001, S. 48-62; hier: S. 53 und 56.
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Jahren widmen. Zunächst werde ich mich beispielhaft den japanischen ModemacherInnen (Yamamoto, Kawakubo, Myiake) zuwenden, deren neuartiger Umgang mit der Räumlichkeit vestimentärer Artefakte seit den 1980er Jahren die westliche Mode revolutioniert hat6, und abschließend zwei gegensätzliche und technisch innovative Weisen der Hervorbringung spezifischer Räumlichkeit betrachten: Iris van Herpens raumschaffende Mode einschließlich ihrer 3D-Modelle und auf der anderen Seite diejenigen Moden von Mary Katrantzou, deren Räumlichkeit vornehmlich durch Trompe l’œil-Drucke hervorgebracht wird.
II. D IFFERENZIERUNGEN Zwei Unterscheidungen lege ich meinen folgenden Überlegungen zu Grunde. Sie sind nicht absolut zu verstehen als Entweder – Oder, sondern sie beziehen sich auf jeweils vorherrschende Tendenzen. Die erste bezieht sich auf die spezifische Räumlichkeit der Kleider in der Geschichte der abendländischen Kleidermode. Der Wechsel von Flächigkeit und Voluminosität bestimmt die Modegeschichte. Seit der frühen Neuzeit ist die voluminöse Version vorherrschend, diejenige, die Körper mehr oder weniger komplett verhüllt, auf unterschiedliche Weise und in unterschiedliche Richtungen teilweise oder ganz vergrößert und vom Körper unabhängige vestimentäre Formen schafft, die gleichwohl auf den Körper als Dialogpartner angewiesen sind. Dazwischen tauchen – eher selten – solche Epochen auf, in denen die Konstruktionen/ Schnitte der Kleider einfacher und flächiger, quasi – metaphorisch gesprochen – zweidimensional werden. Sie scheinen die Körper nachzuzeichnen, ja zuweilen sogar zu verflachen, und wenn man sie hinlegt oder hängt, liegen sie selbst mehr oder weniger flach. Die in freier Variation auf die Antike zurück greifende Empiremode um 1800 gehört dazu, dann wieder die Mode der 1920er Jahre und schließlich ein Großteil der Moden seit den 1960er Jahren. Flächigkeit wird oft verbunden mit der Idee von Natürlichkeit. Die Empiremode um 1800 mit ihren Anspielungen auf antike Kleidung verstand sich als Gegenentwurf zu den ausladenden vorrevolutionär-aristokratischen Moden, als »natürlich« und damit letztlich als bürgerlich. Als »nackte« Mode zeigte sie mehr vom menschlichen Körper, als das vorher der Fall gewesen war, als Korsetts, Reifröcke, zu enge Schuhe, pompöse »coiffures« und üppige Dekorationen ausladende, raumgreifende Körper im Interesse der sozialen Distinktion gestaltet hatten. Die neue »natürliche« Mode dauerte nicht lange, die Mode des 19. Jahrhunderts – die nun mit Frauenmode identisch war – entwickelte in immer schnellerem Wechsel ausladende, stoffreiche Kleider, die erneut auf aufwendige Hilfsmitteln (Korsetts, Krinolinen) angewiesen waren. Die Tendenz zur Flächigkeit blieb dem nun eta-
6 | Kawamura, Yuniya: The Japanese Revolution in Paris Fashion, Oxford/New York 2004.
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blierten Männeranzug, der bald nicht mehr als Mode galt, vorbehalten.7 Erst Anfang des 20. Jahrhunderts wurden die Moden wieder zweidimensionaler – und sie gingen erneut mit der Idee von Natürlichkeit einher, nun in Verbindung mit Ideen von Modernität und Funktionalität. Davon blieb das 20. Jahrhundert dominiert, wenngleich es immer wieder Phasen gab, die eine ausladendere Räumlichkeit der Kleiderkörper favorisieren (etwa der New Look). Seit Ende des 20. Jahrhunderts schließlich sind es vorwiegend avantgardistische Designermoden, die auf die Gestaltung betonter vestimentärer Räumlichkeit und damit auf die Gestaltung von Raum durch Kleidung setzen, während die Mainstreammoden bei aller Lust an der Verwandlung tendenziell der Zweidimensionalität verpflichtet bleiben.8 Die zweite Unterscheidung nimmt die einleitend erwähnten Aspekte Verhüllung und Enthüllung auf. Viele Moden – keineswegs nur die »nackten« – zielen darauf, den Körper zu zeigen, ihn (verführerisch) ins Licht zu setzen, indem sie, je nach Zeit und Geschlechterkonzepten, Dekolleté, Arme oder Beine entblößen, unerwartete Durchblicke ermöglichen, transparente Materialien mit opaken wechseln lassen und ähnliches. Andere setzen demgegenüber mehr auf die plastischen Möglichkeiten der Kleider und inszenieren sich stärker als vestimentär strukturierte und geprägte Modekörper. Das entspricht weitgehend den raumgreifenden, betont dreidimensionalen Moden der ersten Unterscheidung. Sie produzieren deutlicher sichtbar eine andere organisch-anorganische Leiblichkeit, einen Modekörper, der nicht zuletzt die Unterscheidung von Oberfläche und Tiefe, Innen und Außen obsolet macht. Denn für Momente wenigstens verschmelzen Körper und Kleid, Mensch und Ding in wechselseitiger Bedingtheit zu einer neuen Einheit. Das gilt grundsätzlich für alle Moden, aber in den zuletzt geschilderten tritt es als Tendenz besonders deutlich hervor.9
7 | Anne Hollander sieht im Männeranzug Prinzipien des modernen Design verwirklicht, er zeige seine eigenen Konstruktion und Struktur und weise eine deutliche Körpernähe auf, während die Frauenmode lange dem veralteten Prinzip des oberflächlichen Aufputzes und damit Verbergen der Konstruktionsprinzipien verhaftet bleibe. Hollander, Anne: Sex and Suits. The Evolution of Modern Dress, New York 1994 (dt.: Anzug und Eros. Eine Geschichte der modernen Kleidung, übers. v. Nele-Löw-Beer, Berlin 1995). 8 | Vgl. dazu: Lehnert Gertrud: Der modische Körper als Raumskulptur, in: Fischer-Lichte, Erika (Hg.): Theatralität und die Krisen der Repräsentation, Stuttgart 2001, S. 528-549; Gertrud Lehnert: Sur la robe elle a un corps… oder: Die Fiktionalität der modischen Körper, in: Antoni-Komar, Irene (Hg.): Moderne Körperlichkeit. Körper als Orte ästhetischer Erfahrung, Bremen 2001, S. 126-151. 9 | Natürlich gibt es auch Verkleidungen und Maskeraden; Mode indessen als Maskerade zu definieren, wie etwa Barbara Vinken das tut, greift m.E. zu kurz: Vinken, Barbara: »Transvestie – Travestie: Mode und Geschlecht«, in: Jael Lehmann, Annette (Hg.): Un/ Sichtbarkeiten der Differenz. Beiträge zur Genderdebatte in den Künsten, Tübingen 2001, S. 273-288.
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III. A VANTGARDEN In den avantgardistischen Entwürfen der letzen 30 Jahre sind es nicht mehr (nur) unsichtbare, stark disziplinierende Gerüste und Schnürungen unter der Kleidung wie noch in Christian Diors New Look, sondern neue Stoffe/Materialien und neue Verarbeitungs- bzw. Schnitttechniken, die das ermöglichen.10 Rei Kawakubo (Comme des Garçons), Issey Miyake und Yohji Yamamoto haben auf unterschiedliche Weise die Perspektive auf den Modekörper verändert. Die Räumlichkeit ist nur ein, wenn auch der wesentliche Aspekt davon. Denn sie alle schaffen auf je eigene Weise Körper, die unterschiedlichen kulturellen Traditionen verpflichtet sind (der europäischen und der japanischen), ohne eine davon zu imitieren. Sie transformieren sie und fusionieren sie vielmehr, aber nicht im Sinne einer bunten globalen Mode wie etwa John Galliano11 das tut, sondern um die vestimentären Prinzipien der jeweiligen Traditionen zu reflektieren. Dazu zählt beispielsweise der Verzicht darauf, die Körper als vorrangig erotische auszustellen, das heißt beispielsweise: sie zugunsten der Schaulust/des Exhibitionismus zu entblößen, wie es in den westlichen Moden oft im Vordergrund stand. Stattdessen zeigen sie beispielsweise, wie die westliche Konstruktion erotischer Körper funktioniert. Wenn Rei Kawakubo in »Body Meets Dress Meets Body« (Abb. 1) Buckel und Beulen an solchen Körperstellen platziert, die gewöhnlich als hässlich gelten – an Bauch, Schultern, Rücken –, dann tut sie im Grunde nichts anderes, als die europäischen Moden mit ihren Korsetts und Krinolinen, mit Culs de Paris und Push-up-BHs seit langem tut, aber sie stellt diese Praxis aus als eine zeichenhafte und folglich arbiträre. Denn es ist reine Willkür, den Busen zu polstern oder den Po oder die Hüften. Wenig später werden sie schon wieder flachgedrückt, um anderen erotischen Zonen Platz zu machen. Es kann folglich jede andere Stelle sein, die auf diese Weise hervorgehoben und – theoretisch – zur erotischen Stelle ernannt wird. Im Sinne der Theorie des Performativen, die Wirklichkeit hervorbringende Vollzüge an die Stelle des Ausdrucks einer vorgegebenen Wirklichkeit oder Wahrheit setzt, werden sie auf diese Weise erst als erotischen Zonen hervorgebracht.
10 | Wenn auch konzediert werden muss, dass zum Beispiel die revolutionäre Kollektion »Body Meets Dress Meets Body« von Comme des Garçons – die Modegeschichte geschrieben hat – mit Polstern arbeitet, die man der Kleidung einschieben kann. Das ist aber eher die Ausnahme. 11 | Vgl. etwa Brand, Jan/Teunissen, José (Hg.): Global Fashion – Local Tradition. On the Globalization of Fashion, Arnhem 2005, 2. Aufl 2006.
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Abbildung 1: Comme des Garçons »Body meets dress, dress meets body«, Frühjahr/ Sommer 1997 Quelle: http://bethanyroselamont.blogspot.de/2014/10/body-meets-dress-dress-meets-body. html Zugleich spielt unter anderem auch die Tradition des japanischen Kimonos in Kawakubos Arbeit eine wesentliche Rolle. Der Kimono besitzt ausgeprägten sozialen Zeichencharakter. Er zeigt und individualisiert die biologischen Körper nicht, sondern vereinheitlicht sie gewissermaßen und schützt sie damit auch. Das bedeutet nicht, dass er nicht erotisch wirken könnte – zum Beispiel gilt der leicht umgefaltete Kragen am Kimono einer Geisha durchaus als erotisch 12 –, aber er tut das – wenn er es tut – auf ganz andere Weise als die oft exhibitionistischen europäischen Moden. Das ist aber nur die eine Seite der vielfältigen Moden der Japaner. Sie werden in vielen Hinsichten von einer ganz anderen als der europäischen Ästhetik in-
12 | www.hanamachi.de/21 %20Kimono.html (31.03.2015), ferner zum Anlegen des Kimonos www.hanamachi.de/41_Kimono_Anlegen.html (31.03.2015), ferner www.kimono. de (31.03.2015).
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spiriert, von einer Ästhetik der Verhüllung, die mit Licht und Schatten spielt 13 und deshalb gedeckte Farben und die Nichtfarbe Schwarz bevorzugt (lange Zeit bevorzugt hat). Das ist nicht zuletzt dem Zen-Buddhismus zu verdanken, der in Yamamotos Schaffen auffallend ist. Für ihn, noch offensichtlicher für Issey Miyake, spielt die japanische Falttechnik des Origami unübersehbar eine wichtige Rolle. Miyakes einzigartige Faltentechnik 14 (die einen Vorläufer in Mariano Fortunys Kreationen Anfang des 20. Jahrhunderts hatte und mittlerweile viel imitiert wird) ist sichtbar vom komplizierten Origami inspiriert. Diese Technik erlaubt die Gestaltung von materiellen Raumkörpern, die keiner inneren Stütze (Prothese) mehr bedürfen, sondern aufgrund der Verbindung von Material und Falttechnik funktionieren. Außerdem bedarf es dazu der menschlichen Körper, denn erst an ihm entfalten sie wirklich ihr Potential. Damit verändert sich auch die Definition von Skulptur bzw. Plastik.15 Die Kleider allein in ihrer Materialität sind noch keine vestimentären Plastiken. Vestimentäre Plastiken entstehen erst im Zusammenspiel von Kleidern mit Körpern, idealerweise in Bewegung. Ohne Körper bleiben sie Potential. Die vestimentäre Plastik ist mithin zu verstehen als eine besonders komplexe Realisierung des Modekörpers. Ich erkenne darin gestalterische Prinzipien des Grotesken im kulturwissenschaftlichen Sinne (nicht zu verwechseln mit dem alltagssprachlichen Verdikt, etwas sei grotesk). Zu dessen wesentlichen Kennzeichen zählen das Überschreiten von Körpergrenzen durch Erweiterungen (maßlose Dicke, übermäßige Größe etc.), die Vermischung von Belebtem und Unbelebtem bzw. die Hybridisierung von unterschiedlichen Existenzformen (aus einer Säule wächst ein Menschenoberkörper), kurz: Metamorphosen; ferner die Vertauschung in Innen und Außen. Die damit verbundene Lust an Körperausscheidungen spielt in der Mode keine Rolle, aber sie kann abstrahiert werden zu einer Obsession mit Fragen von Oberfläche und Tiefe in der Arbeit mit materiellen Schichtungen und Durchblicken. Verallgemeinert liegt das Groteske in maßloser Übertreibung und damit der Abweichung von einer kulturell definierten Norm. Es impliziert eine schier grenzenlose Lust am Spiel mit Formen und daraus resultierend die Verselbst-
13 | Zentral dafür die Ästhetik von Jun’ichiro, Tanizaki: Lob des Schattens [1933], übersetzt von Eduard Klopfenstein, Zürich 2010; siehe auch den informativen Band zur Ausstellung: Ince, Catherine/Nii, Rie (Hg.): Future Beauty. 30 Jahre Mode aus Japan, München/ London/New York 2011. 14 | Vgl. dazu Brandstetter, Gabriele: »Spiel der Falten. Inszeniertes Plissee bei Mariano Fortuny und Issey Miyake«, in: Lehnert, Gertrud (Hg.): Mode, Weiblichkeit und Modernität, Dortmund 1998, S. 165-193. 15 | Skulpturen sind genau genommen dreidimensionale Kunstwerke, die durch Bearbeiten eines festen Materials entstehen, also schnitzen, behauen etc., während Plastiken durch Hinzufügung entstehen.
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ständigung von Formen, ferner die Lust am Körper, seinen Funktionen, Lüsten, Deformationen und Verwandlungen.16 Mode folgt sehr ähnlichen Prozessen. An den erwähnten Beispielen raumschaffender Moden ist das deutlicher zu erkennen als an den Alltagsmoden, die uns ständig umgeben und die am Ende doch immer einer Idee von Angemessenheit (= Alltagstauglichkeit) und Tragbarkeit und sozialer Deutbarkeit folgen. Das Verhältnis von Körper und Kleid ist das Verhältnis von Belebtem und Unbelebtem. Die Erweiterung der Körper durch Kleider ist eine Hybridisierung, die zur zweiten Natur geworden ist. Der Wechsel von Zeigen und Verbergen und das Vergnügen am ständigen Wechsel der Formen, das heißt der Gestaltung der Modekörper, die sich gleichsam von allen vermeintlich natürliche Vorgaben entfernen, ist unabdingbar für das Funktionieren von Mode. Dass das alles im Falle der Mode reguliert wird von den Diktaten der Konsumkultur mit ihrem Zwang zum ständig Neuen, tut den der Mode zugrunde liegenden gestalterischen und spielerischen Prinzipien keinen Abbruch, und auch nicht der Nähe zwischen Mode und Kunst, die oft genug ineinander übergehen. Im Hinblick auf solche Kleider kommt die beliebte psychoanalytische oder soziologische Modeinterpretation an ihre Grenzen, denn es kann nicht mehr nur darum gehen, Mode auf ihre Funktion im sozialen Gefüge oder auf ihre sexuelle Symbolkraft hin zu untersuchen. Diese Bedeutungen sind unleugbar und viel analysiert worden. Es geht mir, wie gesagt, vielmehr darum, sie als eigenständige Kunstform17 ins Auge zu nehmen, die eine starke raumschaffende und transformative Kraft besitzt, die ausgelotet werden soll.
IV. E XKURS R AUMTHEORIE Die moderne Raumtheorie geht längst nicht mehr davon aus, dass Raum statisch sei – quasi ein Container, der gefüllt wird. Raum ist dynamisiert worden; er entsteht in einem fortlaufenden Prozess von Bewegung, Wahrnehmung und Dingen/Körpern 18. Im Raum als einer abstrakten Setzung entstehen konkrete, 16 | Siehe dazu meine Ausführungen u.a. in Lehnert, Gertrud: Mode. Theorie, Geschichte und Ästhetik einer kulturellen Praxis, Bielefeld 2013. 17 | Zur allgemeinen Diskussion der Abgrenzung oder Nähe von Kunst und Mode vgl. u.a. Graw, Isabelle: The latest fashion. On art as fashion and fashion as art, in: Brand, Jan/ Teunissen, José Fashion and Imagination, Arnhem 2009, S. 44-57; Leutner, Petra: Anerkennungspraktiken von Mode und Kunst, in: G. Jain (Hg.): kunsttexte.de, KunstDesignThemenheft 2: Kunst und Mode, 2011 www.kunsttexte.de (31.03.2015). 18 | Vgl. dazu allgemein etwa: Lefebvre, Henri: Die Produktion des Raums (1974). In: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2006, S. 330-342; Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt a.M. 2001.
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begrenzte und stabile Orte, zum Beispiel Häuser19, die wiederum durch unterschiedlichen Gebrauch verwandelt werden können zu Erlebnisräumen.20 Einige davon sind von vornherein als performative Räume21 konzipiert, d.h. auf Verwandlung ausgelegt, wie Theater oder Modegeschäfte. Es ist also immer auch der Gebrauch, der Orte verändert, und es ist menschliches Handeln, das Raum konstituiert und Orte herstellt (sei es durch Definition, z.B. Abgrenzung, sei es durch konkret materielles Bauen). Aus dieser Perspektive ist der Bezug von Menschen, Kleidern und Raum unverzichtbar, um einerseits über Raum und Räumlichkeit und andererseits über Mode zu sprechen. Denn offensichtlich bedingen alle Faktoren einander. Modekörper spielen eine entscheidende Rolle in der Konstitution und Wahrnehmung von Raum – einerseits der visuellen Wahrnehmung und andererseits der Wahrnehmung von Innen, einer Spezialform der haptischen Wahrnehmung, wenn Kleid und Körper aufeinander treffen und sich verbinden. Man könnte auch von Körpergefühl22 oder im psychologischen Sinne von Körperselbst sprechen, also der Vorstellung vom eigenen Körper, die sich zusammensetzt aus Empfindungen sowohl aus dem Körperinneren wie auf der Körperoberfläche, also von Außen kommend.23 Das Körpergefühl und das Körperselbst sind räumlich – das gilt so mehr, wenn der biologische Körper durch Artefakte ergänzt, erweitert bzw. einfach nur verändert wird. Wie fühlt es sich an, ein enges Kleid oder eine bauschige Kreation zu tragen? Wie bewegt man sich, wie verändert man mit dem Körpergefühl Bewegungen und Ausstrahlung? Wie verändert das die Atmosphären in der Umgebung? Und wie verändert sich das gewohnte Gefühl, wenn Kleider aus gänzlich anderen Materialien als Stoff oder Leder hergestellt werden?
V. I RIS VAN H ERPEN Die 1984 geborene Holländerin Iris van Herpen experimentiert mit unterschiedlichsten Materialien von Naturmaterial wie Knochen bis zu Silikon und ande-
19 | Lehnert, Gertrud: Mode als Raum, Mode im Raum. Zur Einführung, in: Dies. (Hg.): Räume der Mode, München 2012, S. 7-24. 20 | Lehnert, Gertrud: Raum und Gefühl, in: G. Lehnert (Hg.): Raum und Gefühl. Der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung, Bielefeld 2011, S. 9-25. 21 | Fischer-Lichte, Erika: Performativität. Eine Einführung, Bielefeld 2012. 22 | Starobinski definiert Körpergefühl als »inner Wahrnehmung des eigenen Körpers, die Könästheisie«: Starobinski, Jean: Kleine Geschichte des Körpergefühls, in: ders., Kleine Geschichte des Körpergefühls, Frankfurt 1991, S. 12-33; hier: S. 12. 23 | S. Plassmann, Reinhard: Körperbild, Körperschema, Körperselbst, in: Wolfgang Mertens, Bruno Waldvogel (Hg.): Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe, Stuttgart/Berlin/Köln 2002, S. 382-385; hier: S. 383.
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ren Techno Textiles.24 Sie verwendet modernste Technologien wie Lasertechnologie und hat im Juli 2010 auf der Amsterdam Fashion Week in der Kollektion »Crystallization« (Abb. 2) mit dem Untertitel »Chaos as Stucture«25 das erste im 3 D-Drucker realisierte Kleidungsstück vorgestellt 26: ein weißes Top, zusammengesetzt aus mehreren großen, wie in mehreren Ebenen plissiert wirkenden, unterschiedlich gebogenen und sich in mehr oder weniger kreisförmig schließenden Gebilden, die entfernt an große plissierte Rüschen oder auch an Muschelgebilde erinnern. Man könnte von Metamorphosen sprechen. Tatsächlich kommt die sprachliche Beschreibung hier an ihre Grenzen. Witzigerweise weist dieses als Kleidungsstück vollkommen surreal anmutende Gebilde in der vorderen Mitte etwas auf, was an eine Knopfleiste erinnert – womit eine der Kleidung meist doch zugehörige Funktion aufgerufen wird, nämlich die, getragen zu werden.
Abbildung 2: Iris van Herpen »Crystallization Wasser«, Frühjahr/Sommer 2011 Quelle: https://lushgazine.files.wordpress.com/2011/03/united_nude_2011_crystallization_ collection_08.jpg 24 | »Ihre Kreationen sind permanente Grenzerweiterungen des Machbaren«, schreibt Silke Bender in der »Welt«: www.welt.de/icon/article119592706/Knochen-Wasser-Silikondie-Alchimistin-der-Mode.html (31.03.2015). Van Herpen hat eine Vielzahl von Preisen erhalten. Bereits 2012 wurden ihre Arbeiten im Groningen Museum gezeigt. Die Mode wandert damit schneller ins Museum als je zuvor, was offenbar macht, wie sehr sie sich gerade im avantgardistischen Experiment der Kunst annähert. 25 | Siehe: www.irisvanherpen.com/DOCS/IVH-Crystallization.pdf; ferner: www.dezeen.com/ 2010/08/11/crystallization-by-iris-van-herpen-daniel-wright-and-mg x-by-materialise/ (31.03.2015). 26 | Jina Khayyer: Kunst oder Kleid?, in: Zeit Online, 4. Juli 2013 www.zeit.de/lebensart/ mode/2013-07/3d-mode-iris-van-herpen (31.03.2015).
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3-D-Produkte sind die Übersetzung von CAD-Entwürfen in dreidimensionale reale Gebilde aus unterschiedlichen Kunststoffen oder Metall. 3d-Drucker addieren Schicht zu Schicht und können die unterschiedlichsten Materialien verbinden.27 Im Widerspruch zu der entwickelten Technologie und den oft harten Materialien steht nur scheinbar, dass – wie viele Kreationen van Herpens – auch dieses erste 3-D-Kleidungsstück aus Hartplastik von organischen Formen inspiriert ist.28 Nicht zufällig findet es sich in der Kollektion »Crystallization«, die den Effekt von sich verfestigendem Wasser hervorrufen will – mit atemberaubenden Effekten von transparenten hoch stehenden Wasserkragen.29 Im Juli 2011 zeigte Iris van Herpen auf ihrer ersten Haute Couture-Show in Paris (»Capriole«) dasselbe und ein zweites Top in 3 D. In »Voltage Haute Couture« im Januar 2013 gab es bereits bewegliche 3D-Kleider, die in Zusammenarbeit mit der Architektin Julia Koerner und der Designerin Neri Oxman sowie Keri Oxman von belgischen Firma »Materialise« entstanden waren.30 Sie nähern sich also der Tragbarkeit. Die oft beschworene Partnerschaft von Mode und Architektur31 erlaubt neue Vorgehensweisen in Entwurf und Herstellung von Kleidern, die mit 3D kompatibel sind: »The architectural structure aims to superimpose multiple layers of thin woven lines which animate the body in an organic way,« Koerner says. »Exploiting computational boundaries in combination with emergent technology selective laser sintering, of a new flexible material, lead to enticing and enigmatic effects within fashion design. New possibilities arise such as eliminating seams and cuts where they are usually placed in couture.« 32
Die Architektur bietet die technischen und künstlerischen Möglichkeiten der Konstruktion statischer, komplex konstruierter Gebilde. So sind auch die Schuhe mit der von Rem Kohlhaas gegründeten Firma United Nudes extrem räumliche 27 | http://3ddrucker.cc/funktionsweise-eines-3d-druckers/ (31.03.2015).: »3D-Drucker produzieren dagegen additiv: Der Drucker fügt so lange Materialpartikel zusammen, bis das Objekt die Form des Computermodells angenommen hat. Gängige Materialien für die Verarbeitung in einem 3D-Drucker sind Kunststoffe wie ABSPlastik, Nylon, aber auch Metall oder Keramik.« 28 | Die Schuhe, die Iris van Herpen in Zusammenarbeit mit der von Rem Kohlhaas gegründeten Firma United Nudes realisiert, sind ebenfalls teilweise in 3-D-Druck entstanden, eine Kollektion sah aus wie aus Wurzeln gebildet. 29 | Die meisten Stücke bestehen aus Lederstreifen, die in unterschiedlichen Formen zusammengefügt oder geflochten sind. 30 | Textilforum Nr. 2, Hannover, Juni 2013, S. 2. 31 | Vgl. dazu Quinn, Bradley: The Fashion of Architecture, Oxford 2003); Quinn, Bradley: Textile Futures. Fashion, design and technology, Oxford 2010. 32 | www.ecouterre.com/iris-van-herpen-debuts-3d-printed-dresses-at-paris-couturefashion-week/iris-van-herpen-couture-paris-fashion-week-2/ (31.03.2015).
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Gebilde, die mit dem biologischen Körper nichts mehr zu tun haben, sondern diesen vollkommen umgestalten.33 Dass die meisten der Kleider der Haute CoutureKollektionen der Iris van Herpen untragbar sind, ist in diesem Segment, das dem künstlerischen Experiment Raum bietet, nicht unüblich, ändert aber nichts an ihrem Status als Mode, und zwar einer Mode, die ganz offensichtlich auch Kunst ist.34 Die Designerin versteht sich selbst sowohl als Künstlerin wie als Designerin. In einem Interview in Zeit Online vom 5. Juli 201135 erklärt sie, die mit 28 Jahren bereits als Gast in die französischen Haute Couture aufgenommen wurde36: »Für mich bestimmen die technischen Grenzen und Stoffe das Design, nicht umgekehrt.« Zugleich betont sie den Bezug zur Natur, die ihre futuristischen Modelle haben. Wie erwähnt, arbeitet sie gern mit organischen Schnitten und Anregungen aus der organischen Welt und strebt danach, auch das nicht Feste, nicht Materielle wie Wasser oder Rauch visuell zu erzeugen – von der Idee geleitet, dass es künftig vielleicht möglich sein könnte, Wasser oder Rauch tatsächlich in Kleider zu verwandeln. Kleidungsstücke erinnern an Käfer, Schlangen oder Mikroorganismen, geschlitztes Leder lässt an die geschlitzte Mode der Landsknechte denken, die im Barock so beliebt war.37 Iris van Herpen inspiriert sich an Mikroorganismen (Micro, Jan. 2012, Paris Haute Couture Week), an der Strahlung um uns herum (Radiation Invasion, Sept. 2009, London Fashion Week) oder an der Elektrizität (Voltage, 2013). Ob die jeweilige Thematik der Kollektionen an den Kleidern immer erkennbar wird, sei dahin gestellt. Man muss der Kollektion »Capriole« (Juli 2011, Paris Haute Couture Week) nicht ansehen, dass sie das Gefühl des Fallschirmspringens in vestimentäre Objekte übersetzen soll. Konzeptmode, wie etwa auch die von Hussein Chalayan, muss auch ästhetisch überzeugen, sonst funktioniert das Konzept nicht. Oft ist das Konzept nur erkennbar in der 33 | www.dezeen.com/2014/03/06/united-nude-designs-sculptural-shoes-for-irisvan-herpens-biopiracy-fashion-collection/ (31.03.2015): »The Iris Van Herpen × United Nude Boot overrules the natural shape of the foot; this makes the graphically leather moulded boots futuristic sculptures extending the legs with a new silhouette into motion. Iris Van Herpen and United Nude is a match made in heaven from day one, as they are both not afraid of breaking boundaries by experimentation with design and technology.« 34 | Beide unterschieden sich aufgrund von Zuschreibungsstrategien, vgl. Leutner, Petra (2011): Anerkennungspraktiken von Mode und Kunst, in: Jain, Gora (Hg.): kunsttexte.de, KunstDesign-Themenheft 2: Kunst und Mode, www.kunsttexte.de; vgl. auch Graw, Isabelle: The latest fashion. On art as fashion and fashion as art, in: Brand, Jan/Teunissen, José (Hg.): Fashion and Imagination, Arnhem 2009, S. 44-57. 35 | www.zeit.de/lebensart/mode/2011-07/fs-van-herpen (Interview mit Estelle Marandon). 36 | Haute Couture ist für sie eine Plattform für neue Ideen; in der Mode laufe nichts ohne Haute Couture, erklärt sie im selben Interview. 37 | Die unter anderem schon – auf andere Weise – in den kühnen Durchblicken der materialgeschichteten Moden von Hussein Chalayan wichtig wurde.
Zur Räumlichkeit von Mode – Vestimentäre räumliche Praktiken
Präsentation der Kleider, also in ihrer Inszenierung in der Modenschau; für den Verkauf gelten dann oft doch andere Kriterien, auch wenn er im besten Falle von der Atmosphäre der Schau profitiert.38 Manchmal scheinen Reminiszenzen an – beispielsweise – die traumhaft, zuweilen alptraumhaft schönen Moden von Alexander McQueen mit ihrer spezifischen Verbindung von Anorganischem und Organischem, von menschlichen und tierischen Körpern und mit fremdartigen Materialien, auf, bei dem van Herpen eine Zeitlang gearbeitet hat. Das insektenartige Modell aus »Capriole« ruft Erinnerungen an Modelle aus Issey Miyakes »Body Works« auf. Und ›kristallisiertes‹ Wasser wie das in van Herpens »Cristallization« findet sich erstaunlicherweise bereits in einem Hut namens »Wash and go« (2005) von Stephen Jones.39 Mode ist, wie Sprache, Sehweisen und alles andere, was wir (er-)leben, zwangsläufig von bestimmten Vorbildern inspiriert. Es ist der kreative Umgang mit ihnen, der Originalität ausmacht 40. Wenn auch anscheinend alles schon einmal da gewesen ist, gibt es doch immer wieder neue formal-ästhetische Varianten oder durch neue Materialien erzeugte andere Versionen. Auch andere Kontextualisierungen sorgen für visuelle Überraschungen. Die Besonderheit von Iris van Herpens Mode ist keineswegs nur in den noch vergleichsweise seltenen 3D-Modellen begründet. Alle Objekte, die sie entwirft, so unterschiedlich deren visuelle Effekte und die Themen sind, besitzen eine ausgeprägte und sehr eigenwillige Räumlichkeit. Räumlichkeit wird ausgerechnet durch transparente Formen erzeugt (wie verfestigtes Wasser in Bewegung), oder durch spezifische Weisen der Verflechtung von Materialien, in denen feste Bestandteile mit Durchblicken wechseln. Filigrane Gebilde, die aussehen wie Gerippe oder Spitzen, haben dennoch eine durchaus massive Materialität und damit auch Räumlichkeit, die zuweilen auch ein »nicht berühren« vermitteln: Sie vermitteln vor allem visuelle Eindrücke, anders als die vestimentären Plastiken von Rei Kawakubo, Yamamoto, Alexander McQueen oder Viktor & Rolf, die durchaus dazu einladen, sie anzufassen, sie anzuziehen, sie unter den Händen oder auf dem Körper zu spüren. Diese Kleidungsstücke vergrößern Körper prothetisch. Sie bringen lebende Körper mit unbelebtem Material in Symbiosen, die völlig neue – hybride – Lebensformen suggerieren: aus der Tier- und Pflanzenwelt, aus der Technologie, aus der Science Fiction. Das Konzept des Grotesken, das ich oben skizziert habe, erweist sich erneut als passend für die Beschreibung dieser Hybridität. 38 | Zur Bedeutung der Modenschau im Modezyklus siehe Kühl, Alicia: Modenschauen. Die Behauptung des Neuen in der Mode, Bielefeld 2015. 39 | Fashion and Art Collusion, Britain Creates/Booth-Clibborn Editions 2012, 50. Vgl. auch: www.theguardian.com/artanddesign/2008/sep/03/exhibition (31.03.2015). 40 | So Alicia Kühl, die die These vertritt, es gebe seit den 1980er Jahren nichts Neues mehr im Modedesign, darum habe die Produktion (und Vermarktung) des Neuen sich auf die Modenschau verlagert.
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Iris van Herpens Kleider werden oft als Skulpturen bezeichnet. Tatsächlich beschreibt diese Metapher ihre Qualität fast noch besser als andere vestimentäre Plastiken, auf die ich den Begriff weiter oben anwandte, die tatsächlich Modekörper sind, was die Wechselseitigkeit von Kleid und Körper voraussetzt – und eben eine materielle vestimentäre Substanz, die flexibler ist. Die architektonischen, d.h. konstruktiven Aspekte von van Herpens Modellen sind offensichtlich. Und doch betont sie, scheinbar paradox, Bewegung sei der Schlüssel. Das heißt, die Kleider sollen getragen werden. Bereits 2011 präsentierte sie zusammen mit der Tänzerin und Choreographin Nanine Linning im Centraal Museum Utrecht die von ihr geschaffenen Kostüme von Ninnings Produktionen Synthetic Twin und Madama Butterfly. 41 Die Zusammenarbeit mit der Choreographin verweist auf den für eine tragbare Mode zentralen Aspekt der Bewegung. Trägerin und Kleid stehen dabei für sie in einer unlösbaren Wechselwirkung, und das Kleid löst nicht nur Gefühle aus, sondern bringt auch Bewegungsformen hervor: »I find that forms complement and change the body and thus the emotion. Movement, so essential to and in the body, is just as important in my work. By bringing form, structure and materials together in a new manner, I try to suggest and realize optimal tension and movement.« 42
Für eine Marke, die auf dem Markt reüssieren will, ist das überlebenswichtig. In den Prêt-à-porter-Kollektionen, die van Herpen seit 2013/14 (»Phy-tha-go-ras«) produziert, wird denn auch die Bewegung bzw. die Möglichkeit der Trägerinnen, sich in den Kleidern zu bewegen, wichtig. Schwarzes geprägtes Leder, geflochtene Kunststoffe, metallische und seidig fließende Materialien beherrschen die tragbare Kollektion, die tragbare Modelle zeigt – darunter auch eine 3-D-Jacke.
VI. M ARY K ATR ANT ZOU Betrachtet man im Vergleich dazu die Moden der griechischen Designerin Mary Katrantzou (geb. 1984 43), dann könnte man leicht in die alte Dichotomie von Schein und Sein verfallen. Während die Moden von Iris van Herpen Räumlichkeit materialiter erzeugen, wird sie in denjenigen von Katrantzou vornehmlich durch Trompe-l-œil-Effekte mit Hilfe von Digitalprints evoziert. Der Digitalprint bietet in seiner Hyperexaktheit völlig neue visuelle Möglichkeiten, die zuweilen an den phantastischen Realismus René Magrittes oder Giorgio de Chiricos ge-
41 | www.naninelinning.nl/p/206.html?m=262 (31.03.2015). 42 | www.irisvanherpen.com/webshop/ (31.03.2015). 43 | Bio nach: www.marykatrantzou.com/biography bzw. www.elle.de/Mary-Katrantzou74957.html (31.03.2015).
Zur Räumlichkeit von Mode – Vestimentäre räumliche Praktiken
mahnen, und Katrantzou erklärt: »Print can be as definitive as a cut or a drape.« 44 Dieser These soll im Folgenden nachgegangen werden. Auch Mary Katrantzou ist ein Wunderkind der Mode. In ihrer Abschlusspräsentation an der Central Saint Martins’s präsentierte sie Kleider, die mit übergroßen Schmuckstücken bedruckt waren; dazu gestaltete sie aus Holz und Metall identisch aussehende Schmuckstücke. Sie gründete 2008 ihr Label. Ihre erste Kollektion (London Fashion Week Frühjahr 2008) war so erfolgreich, dass sie nach ganz vorn katapultiert wurde, und zwar auch im Massensegment: Sie arbeitete mit Swarowski, Lesage, Moncler und Longchamp zusammen, wurde 2010 von Top Shop unter Vertrag genommen, und 2011 wurde ihr die erste Retrospektive gewidmet. Ihre Kleider sind zuweilen üppig, gebauscht oder fließend geschnitten, oft aber auch vergleichsweise schlicht und – trotz räumlicher Formen – an der Oberfläche glatt, denn sie müssen Raum lassen für die Wirkungen der Prints, damit diese eine Tiefendimension entfalten können. Überdimensional große Briefmarken, vergrößerte Details von Schuhen, die man teilweise nicht sofort als solche erkennt, Parfumflakons oder Schmuck sind Themen der Kollektionen. Oft sind es luxuriöse Objekte, die derart hypertrophiert sind, dass die realen Objekte in ihrer Materialität niemals getragen werden könnten, aber in der Symbiose mit dem Kleid ein ganz anderes Leben beginnen. Die Frühjahr-Sommer-Kollektion von 2011 trug den an Magritte gemahnenden ironischen Titel »Ceci n’est pas une chambre« und präsentierte opulente Interieurs auf kurzen Kleidern. Zweifellos: keine Zimmer, sondern bedruckte Kleider, die Zimmer(ausschnitte) zeigen. Das, was sonst die Umgebung der Modekörper ist und mit ihnen in Interaktion tritt, wird zum Teil des Modekörpers selbst. Zwei Räumlichkeiten kommen zusammen und schaffen eine dritte Dimension, in der weibliche Körper auf verblüffende Weise neu zu sehen ist. Der Umriss des Oberkörpers wird modelliert von üppigen grünen Vorhängen, die ein Fenster rahmen, das ins Freie führt – durch den Körper des Models hindurch. Auf den Hüften gehen die Vorhänge in pinkfarbenen Polstersessel über, die wiederum zwei Tische rahmen: einen goldgedrechselten Zier-Beistelltisch in der Fensternische und einen größeren Tisch davor, auf dem zwei Gläser und eine Schale stehen. Seine Beine gehen ebenso wie die der Sessel in ein abstraktes geometrisches Muster über, in dem wiederum ein auseinandergezogenes X die Position des weiblichen Geschlechts markiert, das von dem gedeckten Tisch gleichsam überdacht wird (Abb. 3). Eine Art Schabracke auf den Schultern in Gold, Weiß und Schwarz aus anderem Material als das Kleid schließt die Komposition wie eine kaschierende Gardinenleiste nach oben ab. Dies ist in der Tat keine »chambre« – kein Zimmer und erst recht kein Schlafzimmer. Die Farben des Drucks, neben Weiß und Gold vor allem Pink und leuchtendes Grün, geben dem Eindruck des Raums eine surreale Qualität und machen durchaus klar, dass sich tatsächlich überhaupt nicht 44 | www.marykatrantzou.com/biography (31.03.2015).
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um einen Raum handelt, sondern um das Bild eines Raums. Das Kleid heißt: »Gateway«, es ist der Eintritt in die Kollektion. Kleid Nummer 14 heißt »Picket Parade and Archway« und markiert das Geschlecht alle einen elegant eingezäunten Swimming Pool in einem Park auf einem krinolinenartig breiten Minirock, der ebenso gut ein Sonnenschirmchen mit Fransen am unteren Rand sein könnte. Metamorphosen, Metonymien: Die Dinge gehen in etwas anderes über, Ansichten überlagern sich, Erwartungen und Wissen werden irritiert. Die Bilder auf den Kleidern verweisen auf etwas, was weder Kleid noch Körper ist und doch Kleid und Körper nicht leugnen kann, sondern beide benötigt. Gottfried Boehm nennt »ikonische Differenz« das Verhältnis von materiellem Bild(träger) – üblicherweise der Leinwand, dem Holz o.ä. – und dem, was das Bild zeigt. 45 Die Moden von Mary Katrantzou setzen ikonische Differenz um, indem sie ihr etwas hinzufügen: der Bildträger ist zwar das Kleid, aber er funktioniert nur in Kombination mit einem weiteren »Träger«, dem Körper. Das Bildträger ist also in sich hybrid, und das, was er zeigt, überbietet diese Hybridität.
Abbildung 3: Mary Katrantzou »Ceci n’est pas une chambre«, Frühjahr/Sommer 2011 Quelle: http://abvintage.blogspot.de/2011/04/mary-katrantzou-springsummer-2011.html 45 | Boehm, Gottfried: Die Wiederkehr der Bilder, in: ders. (Hg.): Was ist ein Bild?, München 1994.
Zur Räumlichkeit von Mode – Vestimentäre räumliche Praktiken
Herbst/Winter 2011/12 zeigte Blumen- und Mosaikprints wie Wanddekorationen auf steifen abstehenden Röcken bzw. Jackenschößen, die von ferne an krinolinengestützte Moden des 18. und 19. Jahrhunderts erinnern wie an Diors gepolsterte Hüften im New Look (»Bar«). Manche Oberteile gemahnen an Rüstungen bzw. Teile davon, demgegenüber stehen fließende Blusen und Jacken und Strumpfhosen. Einige Teile waren mit plastischen Blumen besetzt, die den surrealen Eindruck verstärken. Das (ja oft nur scheinbar) zweidimensionale Bild strebt zur Plastizität. Zuweilen gewährten die Ornamente Durchblicke auf Landschaften, auf eine »chinesische« Szenerie, Goldfische, einen Hafen mit Segelschiffen – oder eine Porzellandose. Nie gestaltet Katrantzou einheitliche Landschaften, seien es im Freien oder im Interieur, stets gibt es Brüche im Gesamtbild, die dem surrealen Motto zu folgen scheinen, dass das Unvereinbare zusammen gebracht werden müsse. In der Kollektion von Herbst/Winter 2010 wird mit dem Thema Kleidung selbst gespielt, mit den stofflichen Elementen, den Faltungen von Kleidern, Raffungen, gehalten von Broschen, Rüschen, Spitzen, Jabots und Spitzenkragen wie aus dem 17. Jahrhundert, ein Dekolleté und eine sich verlierende Reihe von Schleifen wie auf einem Kleid der Madame Pompadour – alle Effekte werden durch Prints erzeugt. Barocke Dekorationen und Gemälde des Rokoko werden ebenso aufgerufen wie die am Barock orientierten opulenten Drucke Versaces aus den 1980er Jahren. Man muss sich als Trägerin nicht mehr darum bemühen, dass alles sitzt – es sitzt oder eben auch nicht, aber dann soll es so sein. Das Spiel, das andere Kleidungsstücke provozieren, mit denen man sich dauernd beschäftigen muss, indem man sie so oder so zieht, zupft, drapiert, korrigiert – hier wird es zum Gegenstand der Gestaltung selbst und eines gelassenen Amüsements, zumal die Elemente nicht immer da sitzen, wo sie »hingehören«. Dann wieder wird man überrascht durch einen echten Besatz aus Spitze oder ein üppiges Rüschenjabot, das das gesamte Vorderteil einer weißen Bluse einnimmt. Andere Drucke gehen stärker ins Abstrakte über. Immer aber erforschen Mary Katrantzous Moden die Möglichkeiten, Körper auf unerwartete Weise zu modellieren. Dabei wird der Bezug zur Anatomie einerseits spielerisch ignoriert, andererseits spielt er eine entscheidende Rolle, denn die Betonung der sekundären Geschlechtsmerkmale fehlt an kaum einem Modell. Diese Betonung geschieht auf unerwartete und gleichzeitig vollkommen einsichtige Weise: durch ein Portal, ein Schwimmbad, ein Blumenbouquet. Das Symbol ist evident, da es sich räumlich sozusagen an der richtigen (oder fast richtigen) Stelle befindet. So wird das Geschlecht verhüllt und enthüllt zugleich – was die klassische Funktion des Rocks in der Modegeschichte war. Gehalten wird der Körper in seinen Umrissen durch Säulen, Gardinen oder auch durch zarte Falten, die echte Falten imitieren. Imitieren? Was ist echt, was ist falsch? Was kann falsch sein an einem Gemälde, das materielle Dinge darstellt? Die Perspektive vielleicht, aber diese folgt immer kulturell vorgegebenen Normen der Sichtbarmachung und des Sehens und ist daher niemals absolut richtig oder falsch. Die Malerei unterliegt der Frage nach richtig
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oder falsch so wenig wie ein Roman oder ein Gedicht: es ist Kunst, die sich an der Wirklichkeit orientieren mag, sie aber immer in ein Anderes transformiert und gerade darin neue Sehweisen und Sichtweisen eröffnet. Dieses Recht nehmen der Druck wie die Fotografie für sich gleichfalls in Anspruch, da sie längst nicht mehr nur abzubilden vorgeben. Und die Mode sowieso. Sie hat nie vorgegeben, einen »wahren« biologischen Körper abzubilden. Sie hat immer schon eigene Körper entworfen und gestaltet, die ganz anderen sozialen und ästhetischen Gesetzen folgten, als es Biologie oder Anatomie vorzugeben suchen. Die Dichotomie von Schein und Sein spielt dabei keine Rolle mehr, denn was ist hier Schein, was Sein? Natürlich spielt Katrantzou darauf an, wenn sie Magritte modifiziert zitiert: »Ceci n’est pas une chambre« – »Ceci n’est pas une pipe«. Sie überbietet dessen Ironie, indem sie nicht ein einziges Schlafzimmer in der Kollektion zeigt, sondern nur Salons oder überdachte Veranden. So stimmt der von Magritte übernommene Satz doppelt nicht. Er verweist jedoch darauf, dass ein Gemälde nie ist, was es darstellt, sondern grundsätzlich etwas anderes: Holz, Leinwand … Darin allerdings Vortäuschung und Schein zu sehen würde der Qualität der künstlerischen Re-Präsentation nicht gerecht werden – so wenig wie der Mode. Trompe-l’œil, so der Neurologe Wolf Singer, funktioniert deshalb, weil Bilder und Wirklichkeit auf der Netzhaut gleich abgebildet werden: als pure Verteilung von Helligkeiten. 46
VIII. A USKL ANG Das Spiel mit Perspektive und Wahrnehmung zielt ins Herz dessen, was Mode ausmacht. Die Interaktion von Trompe-l-œil-Drucken, komplexen – auch räumlichen – Schnitten sowie der Bewegung der Trägerinnen bringt eine eigenständige Räumlichkeit hervor, die auf überraschenden Wahrnehmungen beruht. Eine andere Räumlichkeit erzeugen die materiell ausgreifenden Moden von Iris van Herpen, die, betrachtet unter dem Aspekt der Wahrscheinlichkeit im Sinne des 17. Jahrhunderts, keineswegs wahrscheinlicher oder realer sind – immer vorausgesetzt, man setzt eine Norm, zum Beispiel eine Körpernorm, als Maßstab. Surreale Züge tragen beide. Das Gleiche gilt für manche Kollektionen von Comme des Garçons, von Alexander McQueen oder Viktor & Rolf – auf je unterschiedliche Weise. Auch das Surreale setzt ja eine Norm des Realen voraus, die gebrochen werden kann. In diesen Moden wird etwas zu sehen gegeben, was von da an zum kulturellen Reservoir des Sichtbarkeit gehört.
46 | Singer, Wolf (2004): Das Bild in uns – vom Bild zur Wahrnehmung, in: Maar Christa/ Burda, Hubert (Hg.): Iconic Turn – Die neue Macht der Bilder, Köln 2004, S. 56-76.
Mode und die Praxis des Kuratierens 1 Ingrid Mida
Die Mode, das Narrativ unserer gegenwärtigen Gesellschaft, wird zunehmend im Kontext von Kunstmuseen ausgestellt und zieht dabei eine große Zahl von Besuchern an. Die Alexander McQueen Retrospektive im Metropolitan Museum of Art lockte im Jahr 2011 661.509 Besucher in das Museum und landete damit unter den zehn der meist besuchten Ausstellungen in der Geschichte des Museums.2 Obwohl einige KritikerInnen diesen Trend zu einer Geißel kommerzieller Interessen und Erniedrigung zeitgenössischer Kunst3 erklärten, hat die Einbindung von Modeausstellungen in Kunstmuseen bei MuseumsbesucherInnen ein Nachdenken über Kunst angestoßen. 4 Modeausstellungen erwuchsen aus historischen Präsentationen, die man auch mit einem »Friedhof für tote Kleidungsstücke«5 gleichsetzte. Es entstanden neue Formen kreativer Installationen mit thematischen und konzeptuellen Präsentationen unterstützt durch Licht, Klang und performativen Elementen. Das komplexe Verhältnis zwischen Kunst und Mode ist kaum zu entwirren6 und ich möchte an dieser Stelle auch gar nicht den Ver1 | Übersetzung Rainer Wenrich. 2 | The Metropolitan Museum Press Release, 8. August 2011. 3 | In einem Artikel vom 19. August 2013 mit der Überschrift The Degas Wears Prada, warnt Jason Farago Kunstliebhaber davor, dass die Mode das Museum einnimmt und »nur deshalb auftaucht, um Museumsleitungen mit beschränktem Budget vorzugaukeln, die Mode würde jetzt zur Kunst gehören.« 4 | Eine Kolumnistin des Wall Street Journal schreibt in ihrem Artikel Fashion as Art vom 11. September 2010, dass dieser Trend zeigt, die Mode »würde ihr kulturelles Stigma abwerfen«. Man würde sie als »ein Charakteristikum unserer Zivilisation« anerkennen. 5 | Steele, Valerie: A museum of fashion is more than a clothes-bag., in: Fashion Theory: The Journal of Dress, Body & Culture 2 (4), Oxford 1998, S. 327-36. 6 | In der Aufsatzsammlung Fashion and Art, im Jahr 2012 herausgegeben von Adam Geczy und Vicki Kraminas betrachten eine ganze Reihe von Wissenschaftlern, darunter Valerie Steele, Diane Crane, Hazel Clark diesen Diskurs aus der Perspektive der Ästhetiktheorie und Begriffen wie Moderne, Authentizität und Performanz.
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such machen. Dieser Aufsatz befasst sich stattdessen mit der Rolle des Kurators und seiner Aufgabe, die Ausstellung von Mode als Kunstform zu entwickeln. Ein Diskurs über das Kuratieren von Modeausstellungen muss erst noch entwickelt werden. Ebenso wie sich der Begriff der Kunst verschoben hat, so haben sich auch Rolle und Aufgabe des Museums im Laufe der Zeit verändert. Noch vom 16. bis zum 18. Jahrhundert brachte man das private Museum, die Wunderkammer, mit allerlei Wundern und berühmten Merkwürdigkeiten in Verbindung. Ab dem 19. Jahrhundert entstand das Konzept des Museums als öffentliche Einrichtung, mit der die Hochkultur als Teil gesellschaftlicher und politischer Macht repräsentiert werden konnte. Statt wunderlicher Dinge wurden die Artefakte in einem Museum nun mit einer pädagogischen Intention ausgewählt und arrangiert, um »einen Wissenszuwachs, Kultur und Aufklärung für das Volk« sicherzustellen.7 Seit geraumer Zeit hat sich das Museum von einer streng didaktischen Rolle wegbewegt. Dies geschah aufgrund des Einzugs von social media und vielen neuen Technologien, die für mehr Demokratie, Entertainment und eindringlichere Erfahrungen in einem Museum sorgen. Veränderungen im Bereich der Unterstützungssysteme sind dafür verantwortlich, dass es Partnerschaften mit kommerziellen Sponsoren gibt und sich ein vielfältiger Servicebereich mit Museumsshops und Restaurants entwickelt hat. Andy Warhol hatte diese Entwicklungen ironischerweise schon vorausgesehen, als er sagte: »Alle Kaufhäuser werden zu Museen und alle Museen werden Kaufhäuser.«8 Im Mittelpunkt der Sammlung eines Museums steht immer noch das Anliegen Erstaunen oder Wissen zu vermitteln. Dafür muss es eine gut überlegte Auswahl aller »verfügbarer Objekte und seltener Exemplare aus aller Welt« geben, die man so »zusammenstellt, dass sich daraus mehr der Eindruck einer Gesamtheit, als die Summe einzelner Teile ergibt«.9 KuratorInnen treffen solche Entscheidungen als institutionelle Wächter und definieren damit, was als Kunst gelten soll. Seit Marcel Duchamp gab es eine Fülle von KünstlerInnen, die ihre Werke kontextualsiert haben, wie Joseph Beuys mit seinem Filzanzug und Andy Warhol mit seinen Brillo-Boxes. Diese alltäglichen Objekte haben, ausgestellt in einer Galerie, das Wissen um den Begriff der Aura und das mit Kunst in Verbindung gebrachte Prestige herausgefordert. Obwohl die Rolle des Museums als maßgeblich für die Narrative, die Geschichte und den Diskurs in Frage gestellt wurde, so sind es doch die Kunstmuseen, die immer noch als elitäre Räume gelten und mit ihren Präsentationen einen Überblick über die zeitgenössische Kultur einfangen. 7 | Goode (1895) zitiert in: Bennett, Tony: The birth of the museum: History, theory, politics, New York 1995, S. 24. 8 | Potvin, John: Fashion and the Art Museum: When Giorgio Armani Went to the Guggenheim. Journal of Curatorial Studies, Vol. 1. Number 1, Toronto 2012, S. 47. 9 | Pearce, Susan M.: Museums, objects and collectioins: A cultural study, London 1992, S. 66.
Mode und die Praxis des Kuratierens
Mode, für viele möglicherweise leichter greif bar als zeitgenössische Kunst, wird immer häufiger in Kunstmuseen ausgestellt und verursacht dadurch in den Augen der MuseumsbesucherInnen eine Verschiebung des Kunstbegriffs. Der Begriff Kurator stammt vom lateinischen curare und bedeutet sorgen und pflegen. Dies ist aber meist nur ein Aspekt aus dem Tätigkeitsfeld von KuratorInnen. Im musealen Kontext kommt den Mode-KuratorInnen die Aufgabe zu, die Präsentation gesammelter Kleider-Objekte in einem Ausstellungsraum der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Obwohl klar ist, dass das Kleidungsstück eine bestimmte Form annnimt und durch den Körper belebt wird, so sind doch die Möglichkeiten für die Ausstellung vorhandener Kleidungsstücke begrenzt durch die vorgegebenen Rahmenbedingungen des Museums, wie z.B. der Puppen zur Präsentation.10 Das Konzept für Modeausstellungen sah in der Vergangenheit vor allem die retrospektive oder chronologische Präsentation vor. Die Kuratorin und Kleiderhistorikerin Lou Taylor hat ausführlich in ihrem Buch The Study of Dress History über die Ausstellung von Kleidern geschrieben. Aus ihrer Sicht sind historische Genauigkeit, kontextuelle Analyse und Gelehrsamkeit die Kernziele der Präsentation von Mode im Museum.11 Taylor räumt ein, dass »es für den Kurator wenig Möglichkeiten gäbe, die düstere Atmosphäre konventioneller Präsentationen von Kleidungsstücken aufzuhellen. Man kann nur versuchen, den Betrachtern das eigentliche Problem bewusst zu machen.12 Ihre Hinwendung zu einer didaktischen Ausstellungskonzeption für die Präsentation von Kleidern ist ersichtlich, da sie völlig darauf verzichtet auf die Arbeit von Diana Vreeland am Costume Institute des Metropolitan Museum of Art zu verweisen. Als Diana Vreeland, die ehemalige Herausgeberin einer Modezeitschrift [der Vogue; RW] ihre Tätigkeit am Costume Institute aufnahm, brachte sie theatralische Elemente in das Museum 13 und integrierte stilistische Elemente, die man 10 | Im Jahr 1987 verfasste die Costume Society of America eine Resolution, in die sie davon abriet museale Artefakte anzuziehen. Auf der zugehörigen Internetseite ist immer noch nachzulesen, dass »Personen und Organisationen, die mit der Erhaltung von Kleidungsstücken betraut sind, das Tragen und Modellieren der Objekte verbieten sollen«. Im Jahr 1990 machte die Ausgabe der International Museum Practice Guidelines deutlich, dass »kein Objekt zum Zweck der Ausstellung angezogen werden dürfte. Zit. in: Taylor, Lou: Establishing dress history, New York 2004, S. 49. 11 | Taylor gibt einer didaktischen Präsentation den Vorzug und formuliert, dass »jede Epoche und jede Kultur ihre bestimmte Art zu stehen, gehen oder sitzen hat«. Die definiert die Epoche oder den »Look dieser Zeit« (S. 29). Kleidungsstücke zeigt man am besten an »lebensechten, zeitgemäßen Puppen, mit korrekter Haltung, Haar und Make-up« (S. 41). 12 | Taylor, S. 26. 13 | In der Ausstellung Diana Vreeland: After Diana Vreeland in Venedig (10. März–25. Juni 2012) lobte Judith Clark, Mitkuratorin der Ausstellung gemeinsam mit Maria Luisa Frisa,
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bis dahin nicht gesehen hatte. Dazu gehörten abstrahierte farbige Puppen, Requisiten, Musik und Parfum. Zu ihren thematischen Ausstellungen gehörten The Eighteenth century Women, Man and the Horse und La Belle Epoque. Obwohl ästhetisch sehr ansprechend, so wurden die Ausstellungen doch sehr kontrovers und hart dafür kritisiert, mit historischen Fakten freizügig umzugehen, Nachbildungen zu zeigen und kommerzielle Interessen einzubinden.14 Vreeland sorgte während ihrer Tätigkeit von 1972 bis 1989 trotzdem dafür, dass Menschenmengen das Metropolitan Museum of Art besuchten und übte Einfluss auf die Entwicklung von Mode-Sammlungen in Museen auf der ganzen Welt aus.15 Vreeland öffnete buchstäblich die Tür für die Inszenierung von Mode im Museum als ein bezauberndes, stilvolles und dramaturgisches Erlebnis. Modeausstellungen beinhalten in der Zwischenzeit Licht, Klang und Windeffekte, ebenso auch Videoprojektionen und andere Techniken, die der Animation der Besucher dienen. Die theatralischen Elemente und die konzeptuelle Umrahmung haben den Wortschatz von Modeausstellungen neu definiert. Es entstanden eindringliche Ereignisse, die durchaus mit Kunstinstallationen zu vergleichen sind. Bei dieser Art Ausstellungen denkt man an Spectres: When Fashion Turns Back im Victoria & Albert Museum in London kuratiert von Judith Clark (24. Februar bis 8. Mai 2005), The Viktor & Rolf Retrospective in der Barbican Gallery in London kuratiert von Caroline Evans16, The Concise Dictionary of Dress im Blythe House in London kuratiert von Judith Clark 17, Rodarte: States of Matter im Museum of Contemporary Art in Los Angeles kuratiert von Alexandre de Betak (4. März bis 5. Juni 2011)18, The Fashion World of Jean Paul Gaultier im Montreal Museum of Fine Art sowie an weiteren internationalen Orten kuratiert von Nath-
Vreeland dafür, die Schale der didaktischen Modeausstellungen aufgebrochen zu haben. Clark meinte, dass Vreeland nicht zögern würde, ein Kleid von Chanel auf einer purpurfarbenen Puppe zu zeigen. »Heutzutage ist es kaum noch erwähnenswert, da wir intuitiv verstehen, aber früher waren die Modeausstellungen Sklaven historischer Reproduktion,« sagte Clark. »Lasst uns Schwung ins Museum bringen. Sie [Vreeland] hat das so gemacht, dass es verständlich ist, mit Styling, Leichtigkeit und Glamour.« 14 | Im Jahr 1986 schrieb Debora Silverman ein Buch mit dem Titel Selling Culture: Bloomingdale’s, Diana Vreeland, and the New Aristocracy of Taste in Reagan’s America. Darin unterstellte die Autorin Vreeland, die Fantasie über die Fakten zu stellen. 15 | Dazu gehörten auch Sammlungen in Großbrittanien, Frankreich und Japan. 16 | Dazu mein Ausstellungsbericht, 7. Juni 2008 on Fashion is my Muse http://fashionis mymuse.blogspot.ca/2008/07/house-of-viktor-and-rolf-at-barbicon.html (31.03.2015). 17 | Ausstellungsbericht auf Fashion is my Muse, 7. Juni 2010. http://fashionismymuse. blogspot.ca/2010/06/exhibition-review-concise-dictionary-of.html (31.03.2015). 18 | Ausstellungsbericht auf Fashion is my Muse, 7. März 2011. http://fashionismymuse. blogspot.ca/2011/03/rodarte-states-of-matter-at-museum-of.html (31.03.2015).
Mode und die Praxis des Kuratierens
alie Bondil und Thierry Maxim-Loriot (Juni 2011 u.a.)19, Alexander McQueen: Savage Beauty im the Metropolitan Museum of Art in New York kuratiert von Andrew Bolton (4. Mai bis 7. August 2011)20 und Madame Grés, Couture at Work im Musèe Bourdelle in Paris, kuratiert von Olivier Saillard (25. März bis 24. Juli 2011).21 In all diesen Ausstellungen diente die Mode als Mittel, um ein spezifisches konzeptuell gefasstes Leitthema zu vermitteln. Passend zum Thema dieses Aufsatzes möchte ich über zwei Ausstellungen berichten, die mich immer noch bewegen. Bei der Ausstellung The Concise Dictionary of Dress handelte es sich um eine ortsspezifische Installation (28. April bis 9. Juni 2010) bei der Kunst und Sprache der Bekleidung erkundet wurden. Die Präsentation wurde in den Räumlichkeiten des Blythe House, dem Archiv des Victoria and Albert Museum in London gezeigt. Im Auftrag von Artangel brachten die Kuratorin Judth Clark und ihr Ko-Kurator Adam Phillips Kleidungsstücke, Accessoires, Abgüsse und Fotografien in surrealen und sinnstiftenden Szenarien im Archivs des Victoria and Albert Museum unter. Interpretationsansätze zu den 11 Installationen wurden mithilfe von Karten gegeben, die Definitionen zu kleidungsspezifischen Begriffen, verfasst von dem Psychoanalytiker Adam Phillips, enthielten. Die folgenden Begriffe wurden aufgrund ihrer Assoziation mit Mode und Erscheinung gewählt: »bewaffnet, komfortabel, konformistisch, zerknittert, essentiell, modisch, locker, maßvoll, glatt, anspruchsvoll, eng«. Es gab keine weiteren Beschilderungen oder zusätzliche Erklärungen für den Besucher. Die Präsentation von Conformist bestand aus einem Kattundruck auf einem Kleid, bestickt und gestaltet nach den »extrem dekorativen Prinzipien von William Morris«. Gestaltet und in Auftrag gegeben von Judith Clark basierte die Verzierung an diesem Kleid auf dem Design von William Morris für eine Tapete mit dem Namen Windrush. Ausgangspunkt war eine Bleistiftzeichnung, bemalt und mit einem farbig gefassten Seidenfaden gearbeitet. Zusätzlich enthielt das Design Metallfäden und Pailletten. Eine kopflose Puppe, deren Hände in schwarzen Handschuhen steckten, trug das geschmückte Stück und die anderen Baumwollteile, die in Form eines historischen Abendkleides, mit Tunnelzug überhalb der Taille, gesteckt waren. Das Muster entfaltete sich auf dem Rücken des Kleides und erweiterte die Figur in den Raum (Abb. 1).
19 | Ausstellungsbericht auf Fashion Projects, 20. Juni 2011. www.fashionprojects.org/ ?p=2648 (31.03.015). 20 | Ausstellungsbericht auf Fashion Projects, 3. May 2011. www.fashionprojects.org/ ?p=2282 (31.03.2015). 21 | Ausstellungsbericht auf Fashion Projects, 19. Mai 2011. www.fashionprojects.org/ ?p=2462 (31.03.2015).
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Abbildung 1: Conformists 3, photo by Julian Abrams Eine Definition zu Conformist war nicht Teil der Ausstellung, wurde aber in dem Ausstellungskatalog und den Pressematerialien formuliert: »1. Ein Zustand essentieller Vereinfachung; geht auf Sicherheit; 2. Befehlsempfänger, Mitläufer; trifft die Wahl, nicht zu wählen; fügsam, daher aufgebracht; unabsichtlicher Doppelagent; 3. Vermischt mit dem selbst gewählten Hintergrund. 4. Möchte beeinflussen und beeinflusst werden, findet Verlangen erschreckend eigenartig; ist einheitlich gefällig; 5. Akurat, beflissen; von Überraschung abgeschotet; Vielfalt des Betrauerns.«
Die präsentierte Vorstellung von Konformismus bei diesem Exponat war sehr vielfältig. Da ich nicht so vertraut war mit der Tatsache, dass Morris so verbunden mit dem V&A und dessen Vorstellungen des englischen Geschmacks ist und er überdurchschnittlich im V&A vertreten ist, habe ich das Stück auch nicht im Hinblick auf eine Konformität mit ihrer unmittelbaren Umgebung und mit dem Geschmack des Museums« gelesen. So hatte es das Pressematerial vorgeschla-
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gen. Meine eigene Interpretation folgte eher der Vorstellung eines ästhetischen Konformismus in den modischen Frauenkleidern insbesondere des 19. Jahrhunderts. Dies passt gut zu einer weiteren Interpretation, da das gezeigte Tableau ein Kleid zeigt, das Geschmack auf bewahrt. Geschmack und Auffassungen über das Handwerk werden ist diesem Kleid auf bewahrt – die Skizze für eine Tapete wird übersetzt in eine Skizze für ein Kleid und wird präsentiert, um Morris’ Ideal des Handwerks zu entsprechen.22 Die anderen gezeigten Tableaus waren genauso provokativ. Es gab keine Beschilderung bis auf die ausgewählten Begriffe, die man mit Mode und Erscheinung assoziierte. Aufgrund der fehlenden Schilder, die eine historische Herleitung oder eine Erklärung dessen, was zu sehen war, ermöglichen hätten können, ergab sich eine Art innerer Dialog und forderte den Betrachter auf, Verbindungen zwischen den Begriffen und den Mode-Exponaten herzustellen. Die Gegenüberstellung von Kleidungsstücken und gefühlsbeladenen Worten in einem derart unkonventionellen setting war erstaunlich, warf Fragen auf und provozierte eine interne Reaktion als Überraschung, Freude und gelegentlich auch Antipathie. Obwohl diese Ausstellung nicht in den Räumen eines Kunstmuseums gezeigt wurde, so dient das Blythe House doch als Magazin für das Victoria & Albert Museum, repräsentiert also dessen Erweiterung. Der Besuch der Ausstellung erforderte Planung im Voraus und Klärung der Sicherheitsmaßnahmen. Nur Gruppen mit maximal sieben Teilnehmern wurden auf einmal und im Abstand von jeweils 20 Minuten zugelassen. Vor Ort konnte man keine Eintrittskarten kaufen. Die Sicherheitsbestimmungen waren in diesem eingegrenzten und abgeschlossenen Bereich sehr streng. Die Besucher mussten alle Taschen in einem Schließfach zurücklassen. Das Erlebnis war unglaublich theatralisch und die Gruppen mit 7 Teilnehmern wurden von einem Museumspädagogen durch die Ausstellung geführt, der einen großen Schlüsselbund mit sich trug. Es ging durch ein Labyrinth von Korridoren und man wurde ständig dazu angehalten, nicht zu sprechen. Diese Ausstellung war ein buchstäbliches Kuriositätenkabinett im großen Stil. Um Erstaunen zu erzeugen, wurden ausgewählte Mode-Objekte in Form einer konzeptuellen Kunstinstallation gezeigt. Die Ausstellung Alexander McQueen: Savage Beauty (4. Mai bis 7. August 2011) im Costume Institute des Metroplitan Museum of Art präsentierte die Arbeit des verstorbenen Designers Lee Alexander McQueen. Kuratiert von Andrew Bolton stellte diese Ausstellung McQueen als einen romantischen Individualisten vor, »einen Künstler-Held, der überzeugt dem Diktat seiner Inspitation folgte«. Während seiner Schaffenszeit war McQueen fasziniert von Polaritäten, wie hell/ dunkel, Erstaunen/Schrecken, häßlich/schön, Leben und Tod. Bolton übersetzte diese Themen in Ausstellungsräume, umrahmt durch Begriffe wie romantischer Historizismus, Naturalismus, Primitivismus und Nationalismus. 22 | Vgl. dazu ausführlich: www.artangel.org.uk//projects/2010/the_concise_dictionary _of_dress/about_the_project/the_concise_dictionary_of_dress (31.03.2015).
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Der Kurator Andrew Bolton und die Ausstellungsgestalter fingen den Geist von McQueen mithilfe eines multi-sensuellen Eintauchens in sein Werk. Die Materialauswahl für den jeweiligen Ausstellungsraum reichte von rostigem Metall, Tapete zu Acrylfließen und Holz. Dadurch ergaben sich Parallelen zu Themen, die McQueen in seinen Laufstegpräsentationen verwendete, wie die zerbrochenen Bodendielen aus der Highland Rape-Show. Klang-, Luft- und und Licht-Effekte belebten die Ausstellungsräume. Windeffekte sorgten dafür, dass sich die Kleidungsstücke bewegten und es sah so aus, als ob die Puppen lebten, während sich andere auf Plattentellern drehten oder in Spiegeln wiedergegeben wurden. Musik, Klang und Licht zusammen wurden manipuliert, um in den Räumen eine traumgleiche Atmosphäre zu schaffen. Video Projektionen innerhalb, hinter den und um die Objekte herum, in einem Fall sogar von der Decke herab animierten die Ausstellungsbereiche. Ein kleinformatiges Hologramm zeigte Kate Moss, replizierte ihre andere weltliche Präsenz en miniature und stellte Bezüge zu McQueens Herbst/Winter Präsentation des Jahres 2006 her. Mit diesen ganzen Techniken wurde innerhalb der Ausstellung der Effekt einer Laufsteg-Präsentation erzeugt. In dieser gefühlvollen und bezaubernden Präsentation wurde kein Detail übersehen. Masken von Guido wurden aus Leder, Spitze, Leinen und anderen Materialien hergestellt, verbargen die Gesichter der Puppen und schufen eine geisterhafte Präsenz der Figuren. Einige Räume erinnerten an einen barocken Palast und dessen Schränke mit Glastüren, passend zu diesem Ort. Ein Raum deutete ein viktorianisches Kuriositätenkabinett an und präsentierte Accessoires, die McQueen mit Philip Treacy und Shaun Leane gestaltet hatte. Wieder andere Räume waren modern und ebenso disparat wie die Kollektionen des Designers von Saison zu Saison. Bolton und sein Team inszenierten die McQueen-Ausstellung wie eine Kunstinstallation, aber viele einzelne Kleidungsstücke und Accessoires des Designers konnten selbst auch als Kunstwerke aufgefasst werden aufgrund des Materials für ihre Herstellung oder des zugrundliegenden Konzepts. McQueen bearbeitete Federn, Hörner, Holz, Glas, Blumen, Pferdehaar und Muscheln und schuf daraus Hüllen für den weiblichen Körper. Molluske Muscheln wurden so zu einem Korsett, aus Federn entstand ein Rock, die Köpfe von Alligatoren blickten aus den Schulterstücken einer Jacke, geschnitzte Holzstiefel wurden Beinprothesen, aus einem Kieferknochen entstand ein Schmuckstück. McQueens Black Duck Feathers aus der Herbstkollektion des Jahres 2009 ist ein Frauenkleid mit einem maßgeschneiderten Body, langen Armen, panierhaften Hüften, flügel- oder cape-artigen Erweiterungen der Schulterpartie, hohem Kragen und einem eigens geformten Kopfstück, das aussieht wie eine Witwenhaube (Abb. 2) Komplett aus schwarzen Entenfedern gestaltet ist dieses Kleid ein einzigartiger künstlerischer Ausdruck, eigentlich untragbar und ungeeignet für eine kommerzielle Produktion.
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Abbildung 2: McQueen, Horn of Plenty Diese Ausstellung war eine Bühne voller unerwarteter Genüsse mit den besten Beispielen von McQueens Arbeiten vor allem aus dem Archiv von McQueen und Givenchy und privaten Sammlern. Meines Erachtens erzählte diese Ausstellung ein Gothic-Märchen. Man bewegte sich vom Licht in die Dunkelheit und in das Reich der Träume.
M ODE -A USSTELLUNGEN ALS K UNSTINSTALL ATIONEN Modeausstellungen können wie Kunstinstallationen inszeniert werden. Dabei werden Kleidungsstücke und Objekte und/oder Text gegenübergestellt, Klang-, Licht-, Wind-Elemente und neue Medien eingebunden um einen eindringlichen Erlebnisraum zu schaffen. In diesen Fällen sind die KuratorInnen mit einem weitläufigen Vorgehen befasst, der Auswahl von Objekten, der Gestaltung von Beschilderungen und Bildunterschriften, der Installation und Raumplanung. Dazu
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kommt noch die Formulierung der Katalogtexte für Einleitungen und Essays. Für gewöhnlich geben KuratorInnen keine Auskunft über den Verlauf ihres kreativen Prozesses und noch viel weniger darüber wie aus einer Ausstellung eine Kunstinstallation werden kann. Aus Gesprächen mit ausgewählten KuratorInnen zum Thema Mode als Kunst im Museum und der Literatur dazu zeigt sich, dass die vorgetragenen Sichtweisen sehr unterschiedlich sind. Valerie Steele, Direktorin des Museums im Fashion Institute of Technology sagte mir in einem Interview im August des Jahres 2011: »Wenn man Mode im Museum zeigt, dann entsteht die Vorstellung, dass Mode Kunst sei. Das trifft auch zu wenn man ein Kleid von McQueen oder Balenciaga im Kontext eines Kunstmuseums betrachtet. Die Stücke haben die Aura eines Kunstwerks, aber das heißt nicht, dass sie als Kunstwerke geschaffen wurden.« 23
Für Steele hängt es von der Intention der GestalterInnen ab, ob ein Kleidungsstück als Kunst betrachtet werden kann oder nicht. Aus meiner Perspektive als Künstlerin vernachlässigt die Auffassung von Steele aber die Natur des künstlerischen Prozesses. Meiner Erfahrung nach ist die Intention, ein Kunstwerk zu schaffen ein völlig illusorisches Ziel. KünstlerInnen gestalten Skulpturen, Malereien und Fotografien mit dem Wunsch, daraus Kunstwerke zu schaffen, aber nur wenige Stücke sind durchtränkt mit dieser illusorischen und unerklärbaren Aura der Kunst. Man kann sich mit dem kreativen Akt des Spiels befassen, um künstlerische Wahrheit ähnlich Roland Barthes’ punctum zu entdecken, was einer tiefen emotionalen Verbindung mit dem Kunstwerk entspricht. Der Künstler mag intendieren, etwas größeres als das Leben selbst zu erschaffen, aber nicht alle Werke erlangen dies und ich möchte behaupten, dass die Intention für den kreativen Prozess des Künstlers oder Designers irrelevant ist. Das Stück entfaltet sich im Auge des Betrachters zu einem Kunstwerk. Schließlich ist auch für Alexander McQueen das was er macht ein künstlerischer Ausdruck dessen, was durch ihn kanalisiert wird. Die Mode nutzte er dazu, dies umzusetzen. Harold Koda, leitender Kurator im Costume Institute am Metropolitan Museum of Art, stimmt auch darüber ein, dass die Absicht des Gestalters nicht relevant dafür ist, ob Mode als Kunst betrachtet werden kann. Im einem Interview mit mir vom September 2011 sagte er: »Ich möchte herausstellen, dass ebenso wenig wie alle Fotografien Kunst sind, auch nicht jede Mode mit Kunst gelichzusetzen ist. Was in beiden Feldern ein wichtiges Werk konstituiert hängt nicht notwendigerweise von der Absicht der Gestalter oder dem Grund für die Gestaltung ab. Da es Modedesigner gibt, die sich explizit dazu äußern, dass ihre Arbeit von Kunst beeinflusst ist, oder sich mit den Anliegen und Praktiken des Kunstsystems befasst, erscheint es leichter ihre Arbeiten von dem Bereich der kommerziellen Erzeugnisse 23 | www.fashionprojects.org/?p=3055 (31.03.2015).
Mode und die Praxis des Kuratierens zu isolieren. Intention ist keine alleinige Voraussetzung für die Betrachtung von Designers als Künstler.« 24
Mit Bezug auf das Werk von Madelaine Vionnet und Cristobal Balenciaga fährt Koda fort, diese beiden als Künstler zu definieren obwohl »keiner von beiden so anmaßend war, dass sie Kunst schaffen würden«. Koda rekurriert auf ihre Innovation und die skulpturale Qualität ihres Werks und formuliert: »All ihre Kleidungsstücke wurden geschaffen, um sie zu tragen und nicht aus dem Gedanken eines l’art pour l’art. Selbst wenn man ihnen kulturelle, politische, ökonomische oder gender-Aspekte abspricht, so überragen ihre Gestaltungen die Ebenen des rein pragmatischen oder funktionalen und erreichen etwas größeres vergleichbar mit anderen künstlerischen Meisterwerken.« 25
Auf die Frage ob KuratorInnen das Werk eines bestimmten Designers als Kunst festlegen sollten antwortet Koda: »Es geht nur, wenn man ein einzelnes Design oder ausgewählte Werke eines Designers betrachtet – herausarbeitet – indem der Kurator die künstlerische Leistung des Designers beurteilt […] Es gibt Momente wo man als Kurator in einem Design etwas konzeptuell oder kulturell bedeutungsvolleres erkennt, als es der Schöpfer des Werks beabsichtigt hat. Manchmal kann das Design mehr ästhetische, intellektuelle oder emotionale Resonanz enthalten als es sich Gestalter jemals hätte vorstellen können. Ein solches Objekt dann angesichts seiner kulturellen Bedeutung im musealen Kontext zu präsentieren erscheint legitim.« 26
Andrew Bolton, Kollege von Koda im Costume Institute und Kurator der McQueen Ausstellung beschrieb, die Rolle des Mode-Kurators sei es »die Mode mithilfe der Ausstellung zu interpretieren« und »gegenwärtige Umstände zu interpretieren«27. Ich fragte ihn auch nach seinem Standpunkt in der Debatte an der Schnittstelle von Mode und Kunst und inwiefern Kuratoren eine Rolle dabei spielen würden, ob das Werk eines Designers als Kunst präsentiert würde. Bolton meinte, dass diese Debatte überflüssig sei und sagte, dass »Mode ein Stimmungsbarometer unserer Zeit sei, ein Abbild dessen, was sich in unserer Zeit ereignet. In der Mode geht es nicht nur um Funktionalität; sie kann ebenso wie die Kunst auch komplexe Auffassungen ausdrücken.«28
24 | www.fashionprojects.org/?p=3062 (31.03.2015). 25 | Ebd. 26 | Ebd. 27 | Interview mit Andrew Bolton nach seinem Vortrag im Pratt Institute in New York am 17. September 2012. 28 | Ebd.
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Bolton sprach auch über McQueens enormes kreatives Talent und die Intensität mit der er »Mode einsetzte, um komplexe Vorstellungen zu vermitteln«. Er zitierte McQueens Verwendung unorthodoxer Materialien, wie die RasierklingenMuscheln oder die Objektträger des Mikroskops, mit denen er die »Vorstellung dessen, was Mode sei herausforderte.«29 In einem Aufsatz für die Zeitschrift Fashion Theory schlug Maria Luisa Frisa, Kuratorin der Pitti Discovery Foundation in Florenz vor, dass das Kuratieren von Mode »das Einüben eines kritischen Blicks sei, mit dem man die vielfältigen Spuren, Symptome und Fragmente um uns herum erkennen könnte.« Frisa sagte auch, dass das Kuratieren von Mode einem gestatte, »neue Blickwinkel anzubieten«. Es lassen sich Muster erkennen, Teile zusammenfügen und Anhaltspunkte, »die einen dazu befähigen, eine Annahme oder Vorstellung zu bestätigen und sich eine Geschichte vorstellen zu können.« Ihr Ausgangspunkt war typischerweise eine persönliche Obsession, die die Form eines »Bildes, am Rand eines Kleidungsstückes annehmen kann, oder ein Wort, das wie ein Slogan beginnt«. Sie ist »fasziniert von der Art wie ein einzelnes Kleidungsstück oder eine Modefotografie oder ein Aufmacher in einem Magazin uns zu den Hauptthemen des menschlichen Bewusstseins, zu Träumen, Obsessionen und allen Implikationen von Kultur und Gesellschaft führen kann.« Frisa entwickelt Ausstellungen und greift dabei auf Techniken aus der Kunst oder dem Film zurück. Dazu gehört »die dadaistische Idee der Akkumulation unterschiedlicher Materialien, oder die Zusammenstellung ungleicher Teile bei einer Assemblage; die Montage von Fragmenten, die dann wieder in einer linearen Abfolge gezeigt werden oder zu einer dichten Masse zusammenfallen«. Dies spricht für eine interdisziplinäre Perspektive, um den Prozess des Kuratierens zu bereichern und führt dazu ihre Arbeit als etwas zu begreifen, das versucht »die Entfaltung von Zeit zu beobachten, als Vergangenheit und Zukunft zugleich. Das ist eine Dimension, bei der es nicht um die Chronologie von Geschichte geht, sondern die bestimmt wird durch die Art und Weise wie Mode Zeit beugt und führt.«30 Die Kuratorin Judith Clark schreibt, dass die Abwesenheit des lebenden Körpers das Kuratieren von Mode maßgeblich bestimmt. Sie sieht die Priorität nicht in einer Nachstellung von Geschichte, sondern darin, Kleidung dazu einzusetzen »über andere Dinge zu sprechen31«. In ihrem Aufsatz One Object: Multiple Interpretations legt Clark dar, dass »Kuratieren, aufgrund seiner schonungslosen Auswahl unweigerlich neue Muster der Chronologie erzeuge […] Es ermutigt uns
29 | Ebd. 30 | Alle Zitate von Frisa, Maria Luisa vgl. Dies.: The curator’s risk, in: Fashion Theory 12 (2), Oxford 2008, S. 171-177. 31 | Clark, Judith/Phillips, Adam: The concise dictionary of dress, London 2010, S. 110.
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dazu, Zeit rückwärts zu lesen, sie von unserem Standpunkt aus zu lesen, immer in der Gegenwart und dabei anerkennend, dass dies unsere Perspektive ist.«32 Als Zusammenfassung dieser Blickwinkel schlage ich vor, das Kuratieren von Mode als das Lesen von Zeit zu interpretieren, das sich mit der Interpretation von Objekten, dem Auffinden von Mustern befasst und damit neue Interpretationen von Chronologie, Erzählung und Blickrichtungen zu entwickeln. Aus meiner Erfahrung lässt sich dieser Prozess des Beobachtens und das Erkennen von Mustern mit dem Vorgehen von KonzeptkünstlerInnen vergleichen. Auch die konzentrieren sich auf Vorstellungen als Ort für ihre Inspiration.33 Ob Mode Kunst sei, ist eine Frage, die wohl niemals beantwortet werden kann, aber die Wahl die ein Kurator hinsichtlich der Präsentation von Kleider-Objekten trifft, kann deren Wahrnehmung als Kunst formen. Es erscheint naheliegend zu sein, nicht jedes Kleidungsstück zum Kunstwerk erklären zu können. Kleider aus der Massenproduktion, wie ein T-Shirt, verursachen kein Erstaunen, aber Stücke der haute couture, handgemacht und unterlegt mit einem konzeptuellen Ansatz, mögen in den Augen mancher Betrachter die Aura eines Kunstwerks enthalten. Dies gilt insbesondere dann, wenn diese Objekte im Kontext eines Museums präsentiert werden. Stücke der haute couture aus der Nähe zu betrachten, um die Feinheiten des Handwerks und der Verzierung zu untersuchen, welche die Skulpturen für den Körper auszeichnen, ist ein Privileg, das den meisten Menschen nicht zuteil werden mag. Im Zeitalter der mechanischen Reproduktion kann ein reales, handgemachtes Objekt, sei es ein Kleid oder ein Gemälde, eine emotionale Reaktion verursachen und sogar als Kunstwerk erachtet werden. Ich möchte behaupten, dass es eine Aura gibt, die das Kunstwerk umgibt und die als Erstaunen oder emotionale Verbindung mit dem Werk wahrnehmbar ist. Das Objekt, handgemacht oder in einem mechanischen Prozess hergestellt fungiert als Träger von Bedeutung und überwindet damit Funktion und Zeit. Egal ob dieses Objekt nun als Kleid oder Skulptur bezeichnet oder in einem Kunstkontext präsentiert wird, manifestiert sich die Aura der Kunst in der Vorstellung des Betrachters.34 Obwohl einige, darunter auch Ingrid Loschek, der Ansicht sind, dass 32 | De La Haye, Amy/Clark, Judith: One object: Multiple interpretations. Fashion Theory 12 (2), Oxford 2008, S. 162. 33 | Zu erwähnen ist an dieser Stelle das Werk des chinesischen Künstlers Ai Wei Wei, der gefundene Materialien verwendet. Seine Assistenten und Praktikanten entwickeln übergreifende Installationen, Assemblagen und Skulpturen, die die Komplexität der menschlichen Existenz und Konzepte der Erinnerung, Authentizität, Macht und Politik thematisieren. Für weitere Informationen verweise ich auf meinen Ausstellungsbericht zu According to What auf Fashion is my Muse, 14. August 2013. http://fashionismymuse.blogspot. ca/2013/08/fashioning-world-into-art-ai-weiwei-at.html (31.03.2015). 34 | Jeff Koons wird mit den Worten zitiert »Kunst ist im Betrachter«, in: Loschek, Ingrid: When Clothes Become Fashion: Design and Innovation Systems, New York 2009, S. 167.
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Kunst »durch die Anerkennung der regierenden profanen oder kirchlichen Klasse definiert wird«, so haben sich Museen zu demokratischen Räumen entwickelt und bieten Programme um eine breitere Publikumsschichten anzusprechen und gleichzeitig mit anderen Formen des Entertainments konkurrieren zu können. Die meisten MuseumsbesucherInnen machen sich offensichtlich keine Gedanken über die metaphysischen Gedanken von Immanuel Kant oder Theodor W. Adorno35 im Zusammenhang mit dem Ursprung und der Natur von Kunst. Ihre Erfahrung mit Kunst kommt aus dem Bauch.
Z USAMMENFASSUNG In diesem Aufsatz habe ich versucht, die Vorstellung von KuratorInnen zu präsentieren, die eine wesentliche Rolle bei der Wahrnehmung von Mode als Kunst spielen. Bei der Präsentation von Kleidungsstücken in einem musealen Kontext übernimmt KuratorInnen eine weitläufige Aufgabe und trefen Entscheidungen, die die Wahrnehmung von Kleidungsstücken als ästhetische Objekte maßgeblich bestimmen. Sie formen die Erzählung der Ausstellung und integrieren theatralische Elemente wie z.B. Licht, Klang und visuelle Effekte. Modeausstellungen haben sich von chronologisch strukturierten Präsentationen hin zu theatralischen und eindringlichen Ereignissen entwickelt und weisen Charakteristika von Kunstinstallationen auf. Zum Schluss möchte ich den kanadischen Kritiker John Bentley Mays im Zusammenhang mit der Giorgio Armani Retrospektive im New Yorker Guggenheim Museum (20. Oktober 2000 bis 17. Januar 2001) zitieren: »Sie brauchen sie nicht Kunstwerke nennen. Nennen sie diese einfach Anzüge und Kleider. Das sind sie schließlich auch. Aber es macht Sinn daran zu erinnern, dass, obwohl gemacht, um von Menschen getragen zu werden, die prächtigen Kleider im Guggenheim genau das gleiche machen wie alle Kunstwerke, wie auch immer man es sieht: Sie bieten Hinweise und Informationen zu kulturellen Themen, die uns alle tief betreffen.« 36 35 | Theodor W. Adornos Werk zur Ästhetiktheorie bietet eine metaphysische Analyse des Verhältnisses zwischen Mode und Kunst: »Jenseits ihrer kommerziellen Manipulation reicht die Mode tief in die Kunstwerke hinein und beutet sie nicht einfach aus. Erfindungen wie das malen mit Licht von Picasso erscheinen wie die Übertragung von Experimenten der Haute Couture, wo man den Kleiderstoff um den Körper hüllt und für eine Nacht mit Nadeln feststeckt, statt das Kleid auf gewohnte Art und Weise zu nähen. Die Mode ist eine der Arten wie historische Veränderung den Sinn-Apparat erreichen kann und dadurch auch Kunstwerke – in kleinen Zügen und häufig unbemerkt.« In: Lehmann, Ulrich: Tigersprung: Fashion in modernity, Cambridge, MA 2000, S. 204. 36 | Potvin, John: Fashion and the Art Museum: When Giorgio Armani Went to the Guggenheim. Journal of Curatorial Studies, Vol. 1. Number 1, Toronto 2012, S. 54.
Kleider, die berühren Über das Verhältnis von Kleidermode, Taktilität und Wissen in Museumsausstellungen Katja Weise
An einem Kleidungsstück hängt ein weißes Schild mit der Aufschrift: »Try me on.« Unter dieser Aufforderung, in etwas kleinerer Schrift: »If you wish to try on this garment, please ask our staff for assistance.« (Abb. 1) Obwohl einzelne Umkleidekabinen im Raum verteilt sind, befinden wir uns in keiner Boutique, ebenso wenig schlendern wir durch ein Kaufhaus. Weder dem ›Personal‹ noch den anderen Anwesenden scheint es ums Kaufen oder Verkaufen zu gehen, sondern lediglich um das Anschauen und Anprobieren der gezeigten Kleidung. Es ist ein Dream Shop, so der Titel einer Ausstellung über den japanischen Mode-Designer Yohji Yamamoto, die 2006 im Antwerpener Modemuseum besucht werden konnte.
Abbildung 1: Yohji Yamamoto. Dream Shop (Mode-Museum Antwerpen 2006). Aus: Yamamoto, Yohji: An Exhibition Triptych (Ausstellungskatalog). Antwerpen, S. 85.
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Szenenwechsel. Ein Artikel in Fashion Theory überschrieben mit »Untouchable: Creating Desire and Knowledge in Museum Costume and Textile Exhibitions«. Darin schreibt die kanadische Kuratorin und Kostümhistorikerin Alexandra Palmer über Ausstellungen, die jener zu Yamamoto ähneln: »Such spectacular installations are collapsing clear boundaries between museum and non-museum exhibits, and the public does not understand why displays can look so different.«1 Es sind nicht Haute Couture und Prêt-à-Porter eines aktuellen Modeschöpfers oder Labels, die mit ihrem Ausgestelltsein im Museum eine Grenze zum Einstürzen bringen.2 Stattdessen seien es besonders die spektakulären Installationen, die eben nicht nur spektakulär im wörtlichen Sinn sind, weil sie einen visuell überwältigen. Einige Installationen in solchen temporären Kleidermodeausstellungen sprechen nicht nur den Sehsinn an, sondern richten sich zudem an die Hautsinne der BesucherInnen und brechen absichtsvoll eine zentrale Regel im Museum, nämlich das Berührungsverbot.3 Für Palmer »[t]ouch is […] a fundamental aspect of the sensual pleasure of shopping« 4 In Ausstellungen hingegen sei es üblich, »[v]isitors are invited to become involved […] through sight and a remembered experience of the pleasure of touching and wearing what is on view.«5 Die im Museum möglichen sinnlichen Erfahrungen von Kleidung grenzt sie somit scharf von denen in kommerziellen Räumen ab. Ausgehend von der Ausstellungspraxis der letzten zwanzig Jahre hinterfrage ich in den folgenden Ausführungen die von Palmer geforderte klare Trennung von »touch« und »sight« sowie deren Zuordnung zu eindeutig voneinander ab1 | Palmer, Alexandra: Untouchable: Creating Desire and Knowledge in Museum Costume and Textile Exhibitions, in: Fashion Theory 12:1, 2008, S. 34. 2 | Aktuelle Haute Couture sowie Prêt-à-Porter wurden spätestens seit der 1971 von Cecil Beaton für das Victoria and Albert Museum kuratierten Schau »Fashion. An Anthology« in Museen präsentiert. (vgl. dazu: de la Haye, Amy/Clark, Judith/Horsley, Jeffrey): Exhibiting Fashion: Before and After 1971. New Haven u.a. 2014. Zur Geschichte von Kleidung und Kleidermode in Museumssammlungen und -ausstellungen vgl. u.a. Taylor, Lou: Establishing Dress Study. Manchester 2004; Steele, Valerie: Museum Quality. The Rise of the Fashion Exhibition, in: Fashion Theory 12:1, 2008, S. 7-30. 3 | Als ein ›Vorläufer‹ für das Berührungsverbot in Museumsausstellungen wird oft der Ausspruch ›Noli metangere‹ im Johannesevangelium angegeben: »[D]as Berührungsverbot [bildet] die Sphäre des Heiligen oder die Aura von Dingen und Werten, die dem Gebrauch entzogen werden (das reicht bis zu den Berührungsverboten von musealen Kunstwerken).« Böhme, Hartmut: Der Tastsinn im Gefüge der Sinne. Anthropologische und historische Ansichten vorsprachlicher Aisthesis, in: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (Hg.): Tasten, Göttingen 1996, S. 185-210. Dass das Berühren bereits im Christentum eine ambivalente Stellung einnimmt, verdeutlichen Berührungsreliquien. 4 | Palmer, Alexandra: Untouchable: Creating Desire and Knowledge in Museum Costume and Textile Exhibitions, in: Fashion Theory 12:1, 2008, S. 32. 5 | Ebd.; Kursivierung i.O.
Kleider, die berühren. Kleidermode, Taktilität und Wissen in Museumsausstellungen
grenzbaren Präsentationsräumen und Rezeptionsmodi der Kleidermode. Die von ihr getroffene Unterscheidung hat mit einer spezifischen Auffassung vom Museum und seiner Funktion als einer Bildungsstätte zu tun, in der die Dominanz bzw. Ausschließlichkeit des Sehens historisch bedingt sind, wie ich im Anschluss an eine Bestimmung der zentralen Begrifflichkeiten skizzieren werde. Der Dream Shop und andere Ausstellungen brechen damit ganz offensichtlich, wenn die BesucherInnen Exponate nicht nur mit den Händen berühren, sondern anprobieren und am gesamten Körper spüren können, wodurch sich das Spektrum der sinnlichen Wahrnehmungen bei der Rezeption erweitert und andere Wissensformen virulent werden. Ganz ohne Irritationen bei den BesucherInnen auszulösen, so möchte ich behaupten. An das Verhältnis von »touch« und »sight« in Ausstellungen mit vestimentären Exponaten richte ich die Frage: Wie wird die Taktilität von Kleidung und Kleidermode in Szene gesetzt, d.h. dezidiert sichtbar gemacht und als solche gezeigt? Denn es wurden, so meine Hypothese, in Ausstellungsinszenierungen während der letzten zwei Jahrzehnte immer wieder Strategien erprobt, die die Aufmerksamkeit auf die vielfältigen Formen des Taktilen wie das Berühren, Bewegen und Berührtwerden lenken und diese vermitteln können.6 Medialität der Mode meint in dem vorliegenden Beitrag die visuelle ebenso wie die multisensorische Vermitteltheit taktiler Verhältnisse von Körper und Kleid in Museumsausstellungen.7
K LEIDERMODE , TAK TILITÄT, W ISSEN . O DER : K ANN B ERÜHRUNG GE WUSST WERDEN ? Im 20. Jahrhundert haben anthropologische, soziologische und semiotische Fragestellungen den Blick auf die Kleidermode(n) bestimmt, indem sie deren Funktion(en) sowie Bedeutungsdimension(en) untersuchten. Nahmen die VerfasserInnen Bezug auf den Körper, dann schrieben sie hauptsächlich über die Bedeutung 6 | Mit welchem Hintergedanken die AusstellungsmacherInnen dies tun, das soll hier außer Acht gelassen werden. Auch kritische Stimmen gegenüber Kleider(mode)ausstellungen berücksichtige ich in den weiteren Ausführungen kaum, ohne damit den Eindruck erwecken zu wollen, sie seien nicht berechtigt. Indem ich mit dem Konzept des impliziten Wissens operiere, wird eine bislang vernachlässigte Perspektive auf Modeausstellungen eingenommen. Vgl. dazu mein Dissertationsprojekt mit dem Arbeitstitel »Das gezähmte Kleid, der gebändigte Körper – Taktilität und implizites Wissen der Kleidermode in zeitgenössischen Ausstellungsinszenierungen«, das ich im Rahmen des DFG-Graduiertenkollegs »Sichtbarkeit und Sichtbarmachung – Formen hybriden Bildwissens« an der Universität Potsdam bearbeitet. 7 | Das rückt das Verhältnis von ausgestelltem Kleid und Körper auf eine andere Weise in den Fokus als bspw. in stilgeschichtlichen Schauen, in denen häufig die visuellen ›Resultate‹, d.h. die Silhouetten bekleideter Körper im Wandel gezeigt werden.
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von Kleidung und Kleidermode für den Körper. Kleidermode ist häufig darauf reduziert worden, eine soziale Funktion zu haben und als visuelles Zeichen am Körper ›etwas‹ auszudrücken (bspw. über die TrägerInnen, eine bestimmte Zeit), was von den BetrachterInnen gelesen und gedeutet werden kann. Dabei befassten sich bereits Mitte des 19. Jahrhunderts die ersten theoretischen Texte über die moderne Kleidermode mit der Wechselbeziehung von Kleid und Körper. So betonte 1863 Charles Baudelaire, dass zum Kleid der lebendige menschliche Körper gehöre, um überhaupt von Mode sprechen zu können.8 Indem es mit ihm in Berührung komme, von ihm in Bewegung versetzt werde, würden im Moment des Tragens die Eigenschaften des lebendigen Leibes auf das ›tote‹ Objekt übergehen.9 Baudelaires Gedanken zu einer Ästhetik, die das körperliche Tun für das Entstehen und Wirken von Kleidermode berücksichtigt, sind u.a. von Gertrud Lehnert aufgegriffen und weitergeführt worden. Ihr modetheoretisches Konzept betont vor dem Hintergrund v.a. performativer Theorien die Notwendigkeit von Inszenierungen bzw. Aufführungen für die Kleidermode: »Nur durch ihr Inszeniertwerden, ihr Aufgeführtwerden an Körpern und in Räumen werden die Kleider/die Objekte im eigentlichen Sinn zur Mode.«10 Kleidermode ist von Strategien der Verkörperung abhängig, bei denen vestimentäre Objekte räumlich sowie zeitlich an und mit Körpern zur Aufführung kommen und modische Szenen hervorbringen – sei es im Alltag auf der Straße, im Büro, in der Umkleidekabine oder bei Modenschauen, Fotoshootings sowie in Ausstellungen. Damit den bekleideten Körpern sowohl von den TrägerInnen als auch den ZuschauerInnen Bedeutungen zugeschrieben werden können, müssen Körper und Kleid zunächst qua Handlungen in die Wahrnehmung gebracht werden. Den performativ hervorgebrachten und wahrnehmbar gemachten bekleideten Körper bezeichnet Lehnert als »Modekörper«, der »mehr ist als die Summe seiner Teile«.11 Neben Interaktionen zwischen TrägerIn und BetrachterIn, TrägerIn und Raum treffen in den – von mir an anderer Stelle so bezeichneten – »modischen Szenen«12 Kleid und Körper unmittelbar aufeinander. Das Tragen von Kleidern in und als (Selbst) 8 | Vgl. Baudelaire, Charles: Das Schöne, die Mode und das Glück. Constantin Guys, der Maler des modernen Lebens, Berlin 1988, S. 38. 9 | Zugleich würden Baudelaire zufolge die ›toten‹ Dinge eine eigene produktive Kraft entfalten und der Umgang mit ihnen brächte den (in dem Fall weiblichen) Körper als ›schönen‹ und kunstvoll gestalteten hervor. 10 | Lehnert, Gertrud: Wie wir uns aufführen … Inszenierungsstrategien von Mode, in: Fischer-Lichte, Erika u.a. (Hg.): Kunst der Aufführung – Aufführung der Kunst, Berlin 2004, S. 265. 11 | Lehnert, Gertrud: Mode. Theorie, Geschichte und Ästhetik einer kulturellen Praxis, Bielefeld 2013, S. 51. 12 | Weise, Katja (2011): Museen machen Mode. Zur Inszenierung modisches Körper in Ausstellungen. (unveröffentlichte Magisterarbeit, eingereicht an der Freien Universität Berlin).
Kleider, die berühren. Kleidermode, Taktilität und Wissen in Museumsausstellungen
Inszenierungen erweitert die vorrangig visuelle um die taktile Wahrnehmung.13 In der Taktilität manifestiert sich das direkte Wechselspiel von Körper und Kleid, das bei jeder neuen Kleidermode am Anfang steht und mittels visueller und diskursiver Strategien vom Modesystem zu eben dieser ›neuen‹ Mode erklärt wird. Gleichermaßen spielt das taktile Verhältnis im alltäglichen ästhetischen Tun eine entscheidende Rolle und wird von den TrägerInnen leiblich erfahren und von den ZuschauerInnen hauptsächlich visuell rezipiert. Doch was meint Taktilität? Wie Niklaus Largier betont, sei Taktilität nicht das gleiche wie der Tastsinn, denn sie gehe nicht im Modell der fünf Sinne auf14 ,15 und auch Claudia Benthien spricht von den Hautsinnen im Plural.16 Deren Kennzeichen sei eine »Vielfalt der Wahrnehmung und Affizierung«.17 Jedoch lässt sich diese Vielfalt mit physiologischen Differenzierungs- und Erklärungsversuchen wie etwa jenen, dass Sinneszellen durch unterschiedliche physikalische Reize aktiviert werden, nur unzureichend bzw. einseitig erfassen.18 Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive wird der Taktilität häufig zugeschrieben, 1. »für die Authentizität der Erfahrung, die Präsenz oder Unmittelbarkeit des Bezugs zu den Dingen und sich selbst«19 zu stehen.20 Außerdem könne man 2. »nicht
13 | Vgl. Lehnert, Gertrud: Der modische Körper als Raumskulptur, in: Fischer-Lichter, Erika (Hg.): Theatralität und die Krisen der Repräsentation, Stuttgart 2001, S. 532. 14 | Vgl. Largier, Niklaus (2008): Gefährliche Nähe. Sieben Anmerkungen zum Tastsinn, in: 31 – Das Magazin des Instituts für Theorie Nr. 12/13 »Taktilität – Sinneserfahrung als Grenzerfahrung«, 2008, S. 45. 15 | Zum Wandel des Fünf-Sinne-Modells seit der Antike vgl. u.a. Jütte, Robert: Geschichte der Sinne. Von der Antike bis zum Cyberspace. München 2000. Zur Neubewertung und Aufwertung des Taktilen in verschiedenen Diskursen seit den 1970er Jahren vgl. Kamper, Dietmar/Wulf, Christof: Das Schwinden der Sinne, Frankfurt a.M. 1984. 16 | Vgl. Benthien, Claudia: Haut. Literaturgeschichte – Körperbilder – Grenzdiskurse, Reinbek 2001. 17 | Largier, Niklaus: Gefährliche Nähe. Sieben Anmerkungen zum Tastsinn, in: 31 – Das Magazin des Instituts für Theorie Nr. 12/13 »Taktilität – Sinneserfahrung als Grenzerfahrung«, 2008, S. 44. 18 | Aus diesem Grund sieht es Hartmut Böhme als Aufgabe der Kulturwissenschaften, »eine angemessene Beschreibungssprache für die qualitative Seite des Taktilen« (Böhme, Hartmut: Der Tastsinn im Gefüge der Sinne. Anthropologische und historische Ansichten vorsprachlicher Aisthesis, in: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (Hg.): Tasten, Göttingen 1996, S. 191) zu entwickeln. 19 | Largier 2008 (wie Anm. 17), S. 48. 20 | Exemplarisch angeführt seien »Was tastbar ist, existiert.« (Böhme 1996, S. 187) Und: Der Tastsinn »beglaubigt allein […] die Materialität der Dinge und damit ihre Realpräsenz.« (Benthien, Claudia: Haut. Literaturgeschichte – Körperbilder – Grenzdiskurse, Reinbek 2001, S. 233).
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etwas spüren, ohne zugleich sich zu spüren.«21 Hier fällt in einem Ereignis taktiler Wahrnehmung zusammen, was in der abendländischen Philosophie häufig getrennt und gegensätzlich gedacht wurde wie Aktivität und Passivität, Produktion und Rezeption, Subjekt und Objekt, Innen und Außen.22 Der Taktilität fehle 3. die »Fokussiertheit des Blicks und des Wortes«23, ihre »Uneinheitlichkeit und Undeutlichkeit«24 sei im Gegensatz zur Unschärfe anderer sinnlicher Wahrnehmungen besonders offensichtlich. Auch Claudia Benthien nimmt an, dass die »Perzeptionen« der Hautsinne, »im Gegensatz zu sprachlichen Zeichen, nicht konventionalisiert und kodiert«, sondern von einer »produktiven Uneindeutigkeit«25 gekennzeichnet seien. Dies sei spätestens ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert die Begründung dafür gewesen, das Taktile gegenüber anderen Sinnen abzuwerten, gründete die jeweilige Stellung eines Sinns in der Hierarchie doch darin, wie viel ›objektivierbare‹ und sprachlich mitteilbare Erkenntnis er ermögliche.26 Um die Bedeutung der Hautsinne für die Kleidermode zu bestimmen, können zwei Schwerpunkte gesetzt werden:27 »Auf der Ebene des motorischen Bewegens wirken die Schnittführung sowie die Beschaffenheit der Stoffe auf die Wahrnehmung. Die haptische Ebene der Berührung, des Tastens ist dagegen vorwiegend durch die Stoffe selbst geprägt.«28 Neben dem aktiven und oft absichtsvollen Berühren (Haptik) und dem Bewegen/Bewegtwerden (Motorik) soll von mir außerdem das Berührtwerden berücksichtigt werden. Damit meine ich, wie sich Kleidung beim Tragen sowie An- und Ausziehen anfühlt, leiblich gespürt und erlebt wird. Obwohl in der Aufführung von Kleidern an Körpern in Räumen das taktile Erleben und Wahrnehmen v.a. für den bzw. die TrägerIn eine entscheidende Rolle spielt, ist das Wissen davon mitunter sprachlich schwer zu ex-
21 | Böhme 1996, S. 204; Kursivierung i.O. 22 | Vgl. Largier, Niklaus: Gefährliche Nähe. Sieben Anmerkungen zum Tastsinn, in: 31 – Das Magazin des Instituts für Theorie Nr. 12/13 »Taktilität – Sinneserfahrung als Grenzerfahrung«, 2008, S. 44. 23 | Ebd., S. 44. 24 | Ebd., S. 48. 25 | Benthien, Claudia: Haut. Literaturgeschichte – Körperbilder – Grenzdiskurse, Reinbek 2001, S. 19. 26 | Ebd., S. 224. 27 | Sabine Trosse folgt in ihrem Aufsatz »Form follows body. Kleidung und Sinnlichkeit« dem Fünf-Sinne Modell, wobei sie für die Hautsinne eine Unterscheidungen in haptisch, taktil und motorisch trifft. (vgl. Trosse, Sabine: Form follows body. Kleidung und Sinnlichkeit, in: Pohle, Rita (Hg.): Moden und Menschen, Stuttgart 1995, S. 63. Den gesamten Bereich des Fühlens bezeichnet Trosse fälschlicherweise als Kinästhetik, womit laut Duden die Lehre vom Bewegungssinn gemeint ist, d.h. die »Fähigkeit die Bewegungen seiner Körperteile unbewusst zu kontrollieren und zu steuern«. 28 | Trosse 1994, S. 64.
Kleider, die berühren. Kleidermode, Taktilität und Wissen in Museumsausstellungen
plizieren und mitzuteilen.29 Bekannt und in der Modeforschung häufig zitiert ist Umberto Ecos kurzer Artikel über »Das Lendendenken«. Darin beschreibt Eco, wie er beim Tragen einer körpernahen Jeans permanent das spürbare Wechselspiel von Leib und Hose erfährt. »Immerhin hatte ich nun nach langer Zeit wieder das schöne Gefühl, eine Hose zu tragen, die sich, statt die Taille einzuschnüren, an die Hüften schmiegt […]. Das Gefühl war mir, nach der langen Zeit, neu. Nicht daß sie [die Jeans, K.W.] schmerzten, aber sie waren zu spüren. So elastisch sie waren, ich spürte um meinen Unterleib eine Art Rüstung. Ich konnte den Bauch nicht in der Hose bewegen, sondern nur mit der Hose. Ein Umstand, der den eigenen Körper sozusagen in zwei voneinander unabhängige Hälften teilt, eine von der Gürtellinie aufwärts, befreit von der Kleidung, und die andere, vom Gürtel abwärts bis zu den Knöcheln, organisch mit der Kleidung verwachsen. Ich entdeckte, daß meine Bewegungen, die Art, wie ich ging, mich drehte, mich setzte, den Schritt beschleunigte, anders geworden waren. Nicht schwieriger oder leichter, aber entschieden anders. Infolgedessen lebte ich nun im Bewußtsein, Jeans anzuhaben (während man ja gewöhnlich lebt, ohne andauernd daran zu denken, daß man Hosen anhat).« 30
Ecos Versuch, seine körperlichen Erfahrungen der für ihn sehr präsenten Jeans zu beschreiben, verdeutlichen die Schwierigkeit, v.a. die als ›anders‹ wahrgenommenen Bewegungen in Worte zu fassen. Diese scheinen Teil eines Körperwissens31 zu sein, das implizite Züge trägt. Für den Chemiker und Philosophen Michael Polanyi ist es eine »Tatsache, daß wir mehr wissen, als wir zu sagen wissen«.32 Dieses Wissen, »das sich nicht in Worte fassen«33, sondern allenfalls zeigen lässt, stelle eine eigenständige Wissensform dar, die begrifflichem wie auch theoretischem Wissen keinesfalls unterlegen sei. Er nennt es ›tacit‹, also stilles, stummes oder, so die häufigste 29 | Für Gertrud Lehnert sind Fühlen und modisches Wissen, von ihr auch als modische Kompetenz bezeichnet, »unlöslich« miteinander »verbunden; beide wirken wechselseitig aufeinander ein […].« (Lehnert, Gertrud: Mode. Theorie, Geschichte und Ästhetik einer kulturellen Praxis, Bielefeld 2013, S. 61). 30 | Eco, Umberto: Das Lendendenken, in: Ders.: Über Gott und die Welt. Essays und Glossen, München 1992, S. 221; Kursivierung i.O. 31 | Zum Körperwissen vgl. u.a. Hirschauer, Stefan: Körper macht Wissen. Für eine Somatisierung des Wissensbegriffs, in: Rehberg, Karl-Siegbert (Hg.): Die Natur der Gesellschaft Bd. 2, Frankfurt a.M. 2008, S. 974-984. Alkemeyer, Thomas (2010): Körperwissen, in: Engelhardt, Anina (Hg.): Handbuch Wissensgesellschaft. Theorien, Themen und Probleme, Bielefeld 2010, S. 293-308, Keller, Reiner/Meuser, Michael: Wissen des Körpers – Wissen vom Körper. Körper- und wissenssoziologische Erkundungen, in: Dies. (Hg.): Körperwissen, Wiesbaden 2011, S. 9-27. 32 | Polany, Michael (1985): Implizites Wissen, Frankfurt a.M. 1985, S. 14. 33 | Ebd., S. 17.
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Übersetzung ins Deutsche, implizites Wissen. Es handle sich um »praktisches Wissen«34 ,35, wozu sowohl die Ausübung verschiedener Fähigkeiten oder der Gebrauch von bspw. Werkzeugen (also Handlungen) zählen als auch sinnliche Wahrnehmungen als »die reduzierteste Form impliziten Wissens« (ebd.). Doch wie ›funktioniert‹ dieses Wissen? »[B]ei einem Akt impliziten Wissens [verschieben wir, K.W.] unsere Aufmerksamkeit von etwas auf etwas anderes […].«36 Im Fall der sinnlichen Wahrnehmung sei die Aufmerksamkeit von somatischen Vorgängen bestimmt, die jedoch nicht als solche empfunden werden, weil die Aufmerksamkeit von den somatischen Prozessen weg auf die Wahrnehmung äußerer Dinge und ihrer Qualitäten gelenkt werde.37 »Da unser Körper bei der Wahrnehmung von Gegenständen eine Rolle spielt, hat er an unserem Wissen von den äußeren Objekten teil.«38 Wissen geht somit stets vom Körper aus und mit der hier allgemein umrissenen Dynamik, dem Gewahrwerden eigener körperlicher Empfindungen durch die Wechselbeziehung zu ›äußeren‹ Objekten, können ebenso die taktilen Dimensionen der Kleidermode als implizites Wissen beschrieben werden. Denn es ist nicht nur das Wissen darüber, wie sich ein Stoff ›außerhalb‹ unserer selbst, als etwas Äußerliches anfühlt – also ein Wissen, »das man von sinnlich wahrgenommen, äußeren Objekten hat«.39 Im Sinne der weiter oben beschriebenen »Undeutlichkeit« des Taktilen spürt der oder die TrägerIn darüber hinaus im Kontakt mit dem Kleid seinen bzw. ihren eigenen Körper und weiß davon, ohne Grenzen immer klar ausmachen, ohne Empfindungen stets präzise benennen und lokalisieren zu können. Polanyi zufolge sei implizites Wissen hauptsächlich »deiktisch« und könne sich im »Benennen-durch-Zeigen« 40 besser ›mitteilen‹ als sprachlich. »Implizites Wissen ist in einer Weise ›nicht-explizit‹, in der die Art der ›Explikation‹ nicht diskursiv, sondern als präsentativ anschaulich wird.« 41 Folglich interessiert mich hier weniger, wie die Taktilität der Kleidermode in Worte gefasst wird, sondern wie das implizite Wissen, das sie generiert, sichtbar gemacht und gezeigt wird. Oder unter Zuhilfenahme einer Formulierung Hartmut Böhmes gefragt: Wiegelingt 34 | Ebd., S. 16. 35 | Vor Polanyi hat bereits Gilbert Ryle in The Concept of Mind (1949, dt. Der Begriff des Geistes) zwischen Können bzw. knowing how und ›intellektuellem‹ Wissen, dem knowing that, unterschieden. 36 | Polanyi 1985 wie Anm. 34, S. 19; Kursivierung i.O. 37 | Ebd., S. 21f. 38 | Ebd., S. 33. 39 | Ebd. 40 | Ebd., S. 15. 41 | Ernst, Christoph/Paul, Heike (2013): Präsenz und implizites Wissen. Zur Interdependenz zweier Schlüsselbegriffe der Kultur- und Sozialwissenschaften, in: Dies. (Hg.): Präsenz und implizites Wissen. Zur Interdependenz zweier Schlüsselbegriffe der Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2013, S. 14; Kursivierung i.O.
Kleider, die berühren. Kleidermode, Taktilität und Wissen in Museumsausstellungen
es, »im Visuellen das leiblich spürbare Anwesende […] darzustellen«?42 Und zwar an einem Ort, der lange Zeit für die Disziplinierung des Körpers und dessen Reduktion auf den Sehsinn stand: der Museumsausstellung.
B IT TE NICHT BERÜHREN! O DER : D AS M USEUM ALS »S CHULE DES S EHENS « 43 Das mit dem Imperativ »Bitte nicht berühren!« beschriftete Schild sowie das Piktogramm einer durchgestrichenen Hand finden sich auch heutzutage noch häufiger als gedacht in Ausstellungen, um Exponate vor (zudringlichen) BesucherInnenhänden zu schützen. Aufsichtspersonal mit Argusaugen, Sensoren, die bei Unterschreiten eines festgelegten Abstandes einen ohrenbetäubenden Alarm ertönen lassen, Absperrbänder und Vitrinen sind weitere Maßnahmen, um Distanz zu schaffen zwischen Menschen und Dingen. Diese Distanz gilt es, v.a. mit Blicken zu überwinden. Die meisten Museumsausstellungen richten sich immer noch primär an das Sehen, so dass Susan Stewart zu dem Schluss kommt: »[M] useums […] are so obviously […] empires of sight that it hardly occurs to us to imagine them organized around any other sense or senses.« 44 Das war jedoch nicht immer so. In ihren Arbeiten zu einer Anthropologie der Sinne betont Constance Classen u.a. die ›Gemachtheit‹ bzw. ›historische Gewordenheit‹ des Okularzentrismus45, der sich im Museum ab 1800 durchzusetzen begann. 46 Wie ihre Analysen von Tagebucheinträgen, Reiseberichten und Briefen belegen, war es in den vier Jahrhunderten zuvor in den ersten nicht-sakra42 | Böhme, Hartmut: Der Tastsinn im Gefüge der Sinne. Anthropologische und historische Ansichten vorsprachlicher Aisthesis, in: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (Hg.): Tasten, Göttingen 1996, S. 196. 43 | Muttenthaler, Roswitha/Wonisch, Regina: Gesten des Zeigens. Zur Repräsentation von Gender und Race in Ausstellungen, Bielefeld 2006, S. 237. Vgl. auch den Aufsatz »The Museum as a Way of Seeing« von Alpers, Svetlana (1991): The Museum as a Way of Seeing, in: Karp, Ivan/Lavine, Steven (Hg.): Exhibiting Cultures. The Poetics and Politics of Museum Display, Washington/London, S. 25-32. Es entspricht darüber hinaus dem Selbstverständnis vieler Museen wie der Berlinischen Galerie oder dem Museum Folkwang Essen, eine »Schule des Sehens« zu sein. 44 | Stewart, Susan: Prologue: From the Museum of Touch, in: Kwint, Marius/Breward Christopher/Aynsley, Jeremy (Hg.): Material Memories, Oxford 1999, S. 28. 45 | Okularzentrismus meint »[a] perceptual and epistemological bias ranking vision over the other senses in Western cultures.« Chandler, Daniel/Munday, Rod (2011): A dictionary of media and communication, Oxford 2011, S. 301. 46 | Vgl. u.a. Classen, Constance/Howes, David (2006): The Museum as Sensescape: Western Sensibilities and Indigenous Artefacts, in: Edwards, Elisabeth (Hg.): Sensible Objects: Colonialism, Museums and Material Culture, Oxford 2006, S. 207.
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len europäischen Sammlungs- und Ausstellungsräumen den zumeist gebildeten und adligen BesucherInnen möglich, Exponate zu berühren und in die Hand zu nehmen. Zum einen ließen sich so deren (physische) Qualitäten wie Gewicht, Oberflächenbeschaffenheit usw. wahrnehmen, die mit den Augen nur schwer zu erfassen waren oder gar vom visuellen Eindruck abwichen, so dass »touch functioned to correct the misconception of sight […]«. 47 Zum anderen erleichterte das Berühren des Materials, der unmittelbare körperliche Kontakt mit dem Objekt, sich fremden Orten, vergangenen Zeiten und Personen nah zu fühlen. 48 Das Rezeptionsverhalten der BesucherInnen in den frühen Sammlungen ähnelte den Experimentalpraktiken der damaligen Zeit und schloss im Zuge eines multisensorischen Zugangs das Berühren, d.h. die Hautsinne ein. 49 Es gab neben dem intellektuellen auch ein buchstäbliches, weil körperliches Er-Fassen und BeGreifen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts habe es, so Classen, in den Museen einen »sensory shift«50 gegeben, der auf museumsspezifische wie auch gesamtgesellschaftliche Veränderungen zurückgeführt werden könne. Auch außerhalb der Museen kam es zu einer Privilegierung des Sehens gegenüber den anderen Sinneswahrnehmungen, die zu einer Dominanz des Visuellen sowie der Zunahme visueller Praktiken führte: in den Wissenschaften, in der kapitalistischen Waren- und Konsumkultur oder aufgrund neuer visueller Technologien wie der Fotografie.51 Tony Benett bezeichnet die ›moderne‹ Organisation des Sehens, des Sichtbarseins und der Blicke sowie damit verbundene architektonische und pädagogische Leitideen inner- wie auch außerhalb von Museen als »exhibitionary complex«.52 Es handle sich um »an ensemble of disciplines and techniques of display […] translated into exhibitionary forms […] ordering objects for public inspection and ordering the public that inspected«.53 Gemeint sind Architekturen und räumliche Arrangements der Sichtbarmachung und Sichtbarkeit, d.h. visuelle displays sowohl von Dingen als auch von Menschen wie bspw. in Warenhäusern. In Museumsausstellungen können nicht nur die Exponate (aus der Distanz) angeschaut, sondern ebenso andere anwesende BesucherInnen beobachtet, kontrolliert und zur Selbstdisziplinierung bewogen werden.
47 | Classen, Constance: Touch in the Museum, in: Dies.: The Book of Touch, Oxford 2005, S. 277. 48 | Ebd., S. 278. 49 | Ebd., S. 276. 50 | Ebd., S. 276. 51 | Vgl. Classen/Howes 2006 wie Anm. 46, S. 208. 52 | Bennett, Tony (1999): The Exhibitionary Complex, in: Boswell, Davod/Evans, Jessica (Hg.): Representing the Nation: A Reader. Histories, heritage and museums, London u.a. 1999, S. 332-370. 53 | Ebd., S. 333.
Kleider, die berühren. Kleidermode, Taktilität und Wissen in Museumsausstellungen
Doch nicht nur die Museumsarchitektur und die Ausstellungspräsentationen veränderten sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts augenscheinlich. Das ›moderne‹ Museum verfolgt(e) ab diesem Zeitpunkt zwei schwer miteinander in Einklang zu bringende Ziele: Es verstand sich mehr und mehr als eine Volksbildungsstätte, die für jeden zugänglich sein sollte. Parallel dazu sah es seine Hauptaufgabe aber nun darin, Dinge für die Nachwelt zu erhalten, was zu einer Aufwertung der Dinge im Museum führte und in den Ausstellungsräumen den unmittelbaren körperlichen Kontakt mit den Exponaten ausschloss, drohten vom zahlreicher und heterogener werdenden Publikum diverse Gefahren auszugehen, würde dieses die Objekte berühren: Abnutzung, Beschädigung oder gar Diebstahl.54 Das Berührungsverbot führte zu Präsentationsformen, die 1. die BesucherInnen auf Abstand zu den Objekten brachten, wodurch die Exponate – statt wie bisher mit mehreren Sinnen – nur noch über den Fernsinn des Sehens zugänglich waren; und die 2. stärker didaktisch geprägt waren.55 Ausgewählte Angaben wie bspw. zum Material oder Alter der Exponate waren nun auf Schildern, Tafeln, in Begleitheften oder Katalogen zu finden und konnten gelesen werden. Mit weitreichenden Folgen, die viele Ausstellungsbesuche (bzw. das Ideal) auch heute noch prägen: Das Sehen bzw. der Blick richtet sich nicht ausschließlich auf die visuelle Qualität der Exponate, sondern nimmt den ›Umweg‹ über die Worte eines geschriebenen Textes. Die Rezeption ist aufgrund der ›Lektüre‹ stärker begrifflich geprägt und kann mitunter persönliche, emotionale und assoziative Interpretationen einschränken. Der Objekt-, Raum- oder Katalogtext ist von jemand Wissendem geschrieben, der in der Lage ist, die unsichtbare ›Ordnung der Dinge‹ zu kennen und damit auch zu sehen: »eyes that know how to see«.56 Und der mit dem Text das wissende, sprich ›richtige Sehen‹ über schriftlich fixierte Worte an die BesucherInnen weitergibt, um das Wissensgefälle zwischen Experten und Laien auszugleichen: »words […] were to relay an authoritative knowledge from the curator to the visitor«.57 Mit dem Resultat, »›we only see what we read we are seeing‹«.58 Spätestens ab der Mitte des 19. Jahrhunderts ist die öffentliche Museumsausstellung eine »Schule des Sehens« und somit ein Ort, an dem die anderen sinnlichen Wahrnehmungen, aber auch Bewegungen wie das Gehen dem Sehen 54 | Dies waren die Befürchtungen, als zu Beginn des 19. Jahrhunderts mehr und mehr ArbeiterInnen Museen besuchten. Ebenso entscheidend war also, wie Fiona Candlin (2008) überzeugend darstellt, wer die Objekte berührte. Waren es BesucherInnen aus den unteren Schichten, galt das Berühren von Exponaten als schmutzig, dreckig und primitiv. 55 | Vgl. Bennett, Tony: Pedagogic Objects, Clean Eyes, and Popular Instruction: On Sensory Regimes and Museum Didactics, in: Configurations 6:3, 1998, S. 345-371. 56 | Lignac zitiert nach Stafford, Barbara: Artful Science: Enlightenment Entertainment and the Eclipse of Visual Education, Cambridge MA 1994, S. 266. 57 | Bennett, Tony (1998): Pedagogic Objects, Clean Eyes, and Popular Instruction: On Sensory Regimes and Museum Didactics, in: Configurations 6:3, 1998, S. 350. 58 | Bernhard Smith zitiert nach Bennett 1998, S. 368.
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untergeordnet sind. Ebenso gehen Wissen und Sehen Hand in Hand und sind einge- oder beschränkt auf Lektüren mit anschließendem Überprüfen der fachkundigen Informationen am Objekt. Somit wundert es nicht, dass BesucherInnen lange als »an ein Gehirn angeschlossenes Augenpaar«59 betrachtet wurden. Kleider berühren Körper berühren Kleider. Oder: Wie lässt sich Taktilität zeigen? Was bedeutet diese Hierarchie der Sinne, d.h. die Privilegierung des Sehsinns für Museumsausstellungen, die Kleidung und Kleidermode zeigen? Also etwas, das wir im Alltag nicht nur ›als Bild‹ mit den Augen und als BeobachterInnen von ›außen‹ wahrnehmen, sondern mit Haut und Haar erleben, am eigenen Leib und im bewegten Wechselspiel mit dem Körper spüren? Welche Formen des taktilen Erlebens werden in Ausstellungen überhaupt sichtbar gemacht und wie werden die vestimentären Exponate dafür in Szene gesetzt? Ist es nicht die große Abwesenheit des lebendigen Körpers, die in den Ausstellungsinszenierungen besonders deutlich zutage tritt, womit sich jede Frage nach der Sinnlichkeit erübrigt? So beschreibt etwa Elisabeth Wilson den befremdlichen Eindruck, den die abstrakten Ganzkörperfigurinen in einer Pierre Cardin-Ausstellung 1991 im Victoria and Albert Museum auf sie machten: »Strangest of all were the dead, white, sightless mannequins staring fixedly ahead, turned as if to stone in the middle of a decisive movement … […]. But without the living body, they [the clothes, K.W.] could not be said fully to exist. Without movement they became odly abstract and faintly uncanny. Nothing could have more immediately demonstrated the importance of the body in fashion.« 60
Wilsons Reaktion auf die Präsentation der Kleider an unbewegten Puppen verdeutlicht, dass Kleidermode in Ausstellungen nicht nur in ihrer Semiotizität, sondern ebenso in ihrer Materialität erfahren wird, wozu neben dem Material der Artefakte auch die Körperlichkeit gehört. Obwohl es im Museum der häufigste Fall ist, dass der lebendige menschliche Körper im ausgestellten Kleid abwesend ist, zeigen die verwendeten ›Stellvertreter-Körper‹ wie statische Figurinen mögliche Wechselbeziehungen von vestimentärem Artefakt und dreidimensionalem Körper.61 Auch einige taktile Dimensionen wie Enge und Weite von Kleidern 59 | Siepmann, Eckhardt (2003): Ein Raumverhältnis, das sich durch Bewegung herstellt. http://edoc.hu-berlin.de/kunsttexte/download/bwt/siepmann-raumverhaeltnis.pdf (31.03.2015), S. 1. 60 | Wilson, Elisabeth: Fashion and the postmodern body, in: Ash, Juliet/Dies. (Hg.): Chic thrills. A fashion reader, Berkeley u.a. 1993, S. 15. 61 | Gertrud Lehnert zufolge braucht es für die Inszenierungen bzw. Aufführungen keinen lebendigen menschlichen Körper, um aus einem Kleidungsstück Kleidermode zu machen. Auch an einer Puppe oder einem Schaufenstermannequin kann sich die Inszenierung vollziehen. (Vgl. Lehnert, Gertrud: Mode als Spiel. Zur Performativität von Mode und Ge-
Kleider, die berühren. Kleidermode, Taktilität und Wissen in Museumsausstellungen
können an diesen spezifischen Modekörpern sichtbar gemacht werden. Darüber hinaus kommen zuweilen alternative Darstellungsformen wie Installationen und Interaktiva zum Einsatz und erzeugen zwischen Visuellem und Taktilem unterschiedliche Spannungsverhältnisse. In den spektakulär inszenierten Ausstellungen über DesignerInnen ist eine naheliegende Präsentation von Taktilität nicht zu finden, nämlich das Zeigen von Berührungsspuren.
S PUREN Bereits Kleider selbst können auf ganz unterschiedliche Weise ins Gedächtnis rufen, dass sie zu einem Körper gehör(t)en, der sie spürt(e) und bewegt(e). So legen etwa Spuren der Ab- oder Benutzung an Kleidungsstücken nahe, dass diese getragen wurden und »vermitteln besonders viel Atmosphäre«.62 Die sichtbaren Spuren von vergangenen Berührungen mit einem lebendigen, dreidimensionalen Körper (oder genauer: das dadurch veränderte Material) verleihen Kleidungsstücken mit Walter Benjamin gesprochen Aura63 und machen sie zu Zeugen, wie Monika Wagner in ihrer Analyse künstlerischer Installationen aus getragenen Kleidern darlegt.64 Auch in Kleiderausstellungen, so möchte ich behaupten, können getragene Kleidungsstücke als »materielle und damit historische Zeugen der physischen Arbeit konkreter, lebendiger Körper«65 gezeigt werden. Sie dienen »als authentischer Beleg für den Körper«, weil sie »dessen Berührung«66 sichern und bezeugen. Ein vestimentäres Objekt mit sichtbaren Veränderungen kann zum einen belegen, dass der Körper, der es trug und berührte, überhaupt existiert(e), und gewissermaßen zu dessen Stellvertreter67 werden. Zum anderen schlecht, in: Alkemeyer, Thomas u.a. (Hg.): Aufs Spiel gesetzte Körper. Aufführungen des Sozialen in Sport und populärer Kultur, Konstanz 2003, S. 216. 62 | De la Haye, Amy: Objekte einer Leidenschaft, in: Lehnert, Gertrud (Hg.): Die Räume der Mode, München 2012, S. 173. 63 | Sichtbare Flecken und andere Spuren der Nutzung verleihen vestimenären Artefakten in Museumsausstellungen den Anschein, echt zu sein. »Die Echtheit einer Sache ist der Inbegriff […] ihrer geschichtlichen Zeugenschaft.« (Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: Ders.: Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt a.M. 1996, S. 13). 64 | Vgl. Wagner, Monika: Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne, München 2001, S. 83f. 65 | Ebd., S. 87. 66 | Ebd., S. 89. 67 | Dies trifft besonders bei sakralen Berührungsreliquien zu, denn »das Gewand verbürgt die intimste Beziehung zum Körper, dessen Stellvertreter es werden kann.« (Wagner 2002, 89) Die besonderen Kräfte des oder der Heiligen können durch Berührung des Gewandes auf die Gläubigen übergehen. Im profanen Kontext moderner Museumsausstel-
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können durch den Gebrauch bzw. das Tragen eingeprägte Körperformen sehr konkret sein und Auskunft über die individuelle Physis des Trägers oder der Trägerin geben. Diese am Material sichtbaren Spuren vergangener körperlicher Berührungen müssen dezidiert gezeigt werden, damit sie auf die BesucherInnen wirken können. Sie lassen sich nur unzureichend in erklärenden Texten sprachlich beschreiben oder durch Abbildungen vermitteln. Gebrauchsspuren im Stoff wie Flecken, abgeriebene, gerissene, geflickte oder ausgebeulte Stellen – häufig dienen sie als Einsteig, um die »Geschichte der getragenen Kleider«68 zu erzählen. Meistens handelt es sich bei den Erzählungen allerdings um Ereignisse oder Abschnitte im Leben der Trägerin oder des Trägers, bei denen etwa die ausgestellte Ballrobe oder Jacke getragen wurde. Indem sie ›dabei‹, sprich ›hautnahe Begleiter‹ waren, haben die Kleidungsstücke bspw. die Stimmung eines Festes oder das Lebensgefühl eines Moments oder mehrerer Jahre ›eingefangen‹.69 Im Museum (und damit außerhalb der Sphäre ihres Gebrauchs) sind sie materielle Zeugen und fungieren als ›Auslöser‹, um nicht von sich, sondern den Leben der Menschen zu erzählen und daran zu erinnern. Allerdings kommt weder das vestimentäre Exponat im Ganzen noch ein Fleck, eine aufgerissene Naht oder eine ausgebeulte Stelle ohne ergänzende Medien aus, um die biografische(n) Geschichte(n) einem Publikum zu vermitteln. Die mit den Kleidern und ihren Auffälligkeiten verknüpften, jedoch unsichtbaren Geschichten werden erzählt und sprachlich vermittelt, meist als Text zum Lesen (wie Objekt- oder Katalogtexte) oder zum Hören (wie Audioguides oder Hörstationen).70 Sich nicht so sehr eine andere Person oder ihren Körper vorzustellen bzw. sich mit ihrer Lebensgeschichte zu identifizieren, sondern sich selbst als Alltagsexpertin angesprochen zu fühlen, das ermöglichen, so meine These, eher ›ent-personalisierte‹ Präsentationsformen. Damit meine ich Gestaltungsweisen, bei denen vestimentäre Objekte so arrangiert werden, dass sie ›allgemeine‹ Momente der Taktilität sichtbar machen: ohne dass Berührungsspuren am Material auf einen individuellen Körper verweisen, dessen Existenz oder Physis die Exponate bezeugen sollen; die bislang keine Trägerin, keinen Träger hatten, dessen Geschichte zu erzählen sie als ›Auslöser‹ dienen.
lungen ist das Berühren getragener, vielfach abgenutzter und/oder beschädigter Kleidung durch die BesucherInnen hingegen undenkbar. 68 | De la Haye 2012 wie Anm. 62, S. 176. 69 | Gertrud Lehnert weist darauf hin, dass Mode nicht nur Teil des kulturellen, sondern auch Medium des individuellen Gedächtnisses und Erinnerns sei. (Vgl. Lehnert, Gertrud: Mode. Theorie, Geschichte und Ästhetik einer kulturellen Praxis, Bielefeld 2013, S. 142f.). 70 | Hier ließe sich mit Bezugnahme auf Mieke Bal weiter fragen, wessen Stimme(n) und Version(en) der Geschichte die BesucherInnen vernehmen. Die der KuratorInnen? Berichtet der oder die TrägerIn in Briefen, Tagebucheinträgen oder in retrospektiven Äußerungen? Sprechen ZeitzeugInnen?
Kleider, die berühren. Kleidermode, Taktilität und Wissen in Museumsausstellungen
Ausgerechnet eine spezifischen Form der Kleidermode, mit der die wenigsten tatsächlich in Berührung kommen, nämlich die Haute Couture und das Prêt-àPorter zahlreicher bekannter Modelabel, bot in Museumspräsentationen der letzten zwanzig Jahren immer wieder Möglichkeiten, auf dieses implizite, so auch taktile Wissen der Kleider(mode) zu stoßen. Dies geschah eher ›nebenbei‹, denn die Absicht war es häufig, die Einzigartigkeit und Originalität der Entwürfe, die Kreativität der ModeschöpferInnen oder den aufwendigen Herstellungsprozess zu veranschaulichen. Im Folgenden konzentriere ich mich auf ein spezifisches Format, und zwar Sonderausstellungen, die Kleidermode jeweils eines aktuellen Labels oder Designers zeigen71 und die von den Museen in Zusammenarbeit mit dem jeweiligen Label konzipiert und gestaltet wurden. Das ist insofern relevant, als dass viele Exponate aus den Archiven der Labels stammten und von diesen zur Verfügung gestellt wurden. Indem es sich bei den vestimentären Objekten häufig nicht um Bestände aus den Sammlungen der Museen handelte, brauchten konservatorische Vorgaben nicht so streng eingehalten werden,72 was deutlichen Einfluss auf die Präsentation hat(te). Neben dem auf Dauer gestellten, bildhaften (ikonische) Zeigen gab es in einigen Ausstellungen performative Zeigengesten,73 die etwas in der bzw. als Auf- bzw. Ausführung präsentierten und ein Berühren, Bewegen und Berührt-Werden ermöglichten. Anhand ausgewählter Ausstellungsinszenierungen vestimentärer Objekte möchte ich abschließend einige Möglichkeiten vorstellen, die »modische Kompetenz«74 der BesucherInnen anzusprechen und die Taktilität der Kleidermode wie etwa die Haptik, Bewegungen oder das Anziehen und Tragen sichtbar und mitunter auch körperlich erfahr- und nachvollziehbar zu machen. 71 | Beginnend mit der Yves Saint Laurent-Retrospektive im New Yorker Metropolitan Museum 1986/87 ist deren Zahl kontinuierlich angestiegen. Im Rückblick auf die vergangenen fast drei Jahrzehnte lässt sich feststellen, dass keines der existierenden bzw. produzierenden ›großen‹ Modehäuser mit mindestens einer eigenen temporären Schau in einem renommierten Museum fehlt: Chanel, Dior, Balenciaga, Armani, Versace, Prada, Yamamoto, Miyake, Comme des Garçons, Victor & Rolf, Margiela, Alaïa, Vivienne Westwood, Hussein Chalayan, Alexander McQueen, Dries van Noten – um nur die bekanntesten zu nennen. 72 | Nicht nur vestimentäre, sondern sämtliche textile Objekte bedürfen aufgrund der Empfindlichkeit ihres Materials eines besonders aufwendigen Schutzes, wie bereits die Richtlinien des ICOM zeigen: www.costume-committee.org/index.php?option=com_cont ent&view=article&id=17&Itemid=24 (31.03.2015). 73 | Mit der Unterscheidung von ikonischem und performativem Zeigen beziehe ich mich auf Karen van der Berg, die diese in ihrem Aufsatz »Zeigen, forschen, kuratieren. Überlegungen zur Epistemologie des Museums« herausarbeitet. Vgl.: van den Berg, Karen: Zeigen, forschen, kuratieren. Überlegungen zur Epistemologie des Museums, in: dies./Gumbrecht, Hans-Ullrich (Hg.): Politik des Zeigens, Bielefeld 2010, S. 143-168. 74 | Lehnert, Gertrud (2013): Mode. Theorie, Geschichte und Ästhetik einer kulturellen Praxis, Bielefeld 2013, S. 32.
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B ERÜHREN In vielen Designer-Ausstellungen wird auf den Einsatz von Vitrinen zum Schutz der Kleider verzichtet. Stehen die Exponate bzw. die Figurinen, denen sie angelegt sind, noch dazu »ebenerdig« und werden wie »›live‹« gezeigt, entstehe Gertrud Lehnert zufolge der Eindruck von »Nähe und Intimität«.75 Doch das Fehlen sichtbarer, räumlichen Abstand erzeugender Maßnahmen hebt das Berührungsverbot (und damit die Distanz zwischen Ding und BetrachterIn) keineswegs auf – wenngleich einige BesucherInnen die Exponate anfassen, sobald sie sich für einen Moment von anderen unbeobachtet glauben. Da sich das räumliche Nah-Sein als Illusion entpuppt und die Trennung von Exponat und BesucherIn aufgrund der Museumsregeln weiterhin besteht, stellt sich die Frage, ob und wenn ja, wie sich das Gefühl von Stoff auf der Haut zeigen lässt. Je näher BesucherInnen den vestimentären Objekten mit den Augen kommen können, desto genauer lässt sich die Haptik der Kleider, d.h. »die Art und Verarbeitung ihres Materials«76 erahnen. Bis zu einem bestimmten Grad kann die Oberflächenbeschaffenheit der Stoffe visuell erfasst und, je nach modischer Kompetenz, das Gefühl imaginiert werden, sie aktiv mit den Händen und Fingern zu berühren. Je feiner (und damit weniger rau) die Textur, so Charles Spence und Alberto Gallace, desto schwieriger sei es, diese visuell zu erfassen.77
Abbildung 2: Akris. Mode aus Sankt Gallen (Textilmuseum St. Gallen 2006). Aus: www.schnittpunkt.sg/; letzter Zugriff: 23.4.2008.
75 | Ebd., S. 137. 76 | Trosse, Sabine: Form follows body. Kleidung und Sinnlichkeit, in: Pohle, Rita (Hg.): Moden und Menschen, Stuttgart 1995, S. 64. 77 | Vgl. Spence, Charles/Gallace, Alberto: Making Sense of Touch, in: Chatterjee, Helen (Hg.): Touch in Museums: Policy and Practice in Object Handling, Oxford 2008, S. 24.
Kleider, die berühren. Kleidermode, Taktilität und Wissen in Museumsausstellungen
Eine naheliegende Möglichkeit, das Berühren nicht länger auf den Bereich der Imagination zu reduzieren, ist, es gesteuert zu zuzulassen. Um tatsächlich die Qualität von Stoffen zu spüren, kamen in manchen Ausstellungen sogenannte Hands-Ons78 zum Einsatz. Stoffe, aus denen einige der ausgestellten vestimentären Exponate gefertigt waren, gab es noch einmal extra zum Fühlen. Ob Stoff bahnen aus Spitze, die in einer Akris-Ausstellung 2006 im Sankt Gallener Textilmuseum aus der Wand quollen (Abb. 2), oder die wesentlich kleineren Proben etwa in der Vivienne Westwood-Retrospektive 2004 im Victoria and Albert Museum – sie durften angefasst werden. Anders als Materialangaben auf Schildern kann diese Vermittlungsmethode BesucherInnen aktivieren, den direkten Kontakt zu suchen und das Material unmittelbar haptisch zu erleben. Unklar ist bislang, wie bei der aktiven Rezeption durch Hands-On-Exponate die Hierarchie und die zeitliche Aufeinanderfolge unterschiedlicher taktiler Empfindungen ist und wie genau das Zusammenspiel der Hautsinne mit den anderen Sinneswahrnehmungen wie dem Sehen funktioniert.79 Spence und Gallace weisen zudem darauf hin, dass sich Museen ebenso wie die psychologische und neurowissenschaftliche Forschung bislang auf die Mikrostruktur, v.a. die »surface texture«80 konzentriert hätten und weniger makrostrukturelle Eigenschaften wie die Größe oder Form bei der Erstellung von Hands-On-Exponaten berücksichtigen würden. In den erwähnten Ausstellungen sind es (anders als beim Shopping!) Materialproben und Stoff bahnen, die berührt werden können, und nicht die vestimentären Exponate selbst, wodurch die spezifische Verarbeitung des Materials wie bspw. die Form eines Kleidungsstück kaum vermittelt wird. Es sei denn, weitere Exponate wie Entwurfszeichnungen, Schnittmuster, Bilder und Videos (etwa Aufnahmen von Details oder von der Herstellung) oder das ›fertige‹ vestimentäre Objekt nehmen Bezug aufeinander, wie in der Akris-Ausstellung, bei der in einem Teil des Rundgangs ausgewählte Schritte der Herstellung vom Stoff zum Kleid in Szene gesetzt und visualisiert wurden. Im Gegensatz zum Umgang mit anderen Alltagsgegenständen wie Geschirr, Werkzeugen als buchstäbliche Hand-Habung, beziehen modische Handlungen häufig weitere Teile des Körpers ein, die von den vestimentären Artefakten jedoch eher berührt werden als dass sie aktiv und absichtsvoll berühren. Hands-On-Exponate von Stoffen begrenzen das Spüren auf die Hand. Sie stehen in der u.a. philosophischen Tradition, mit der im ausgehenden 18. Jahrhundert die Mannigfaltigkeit der Hautsinne reduziert und unterschieden wurde zwischen passivem, unspezifischem (und nicht objektivierbarem) Hautempfinden und dem aktiven Er-Fassen mit der Hand, der neben dem buchstäblichen körperlichen auch ein 78 | Es handelt sich um einen partizipatorischen Ansatz, der in den 1970er Jahren entwickelt wurde, um durch die Integration von Tastobjekten blinde und sehbehinderte BesucherInnen sowie Kinder als neue Zielgruppen für Museen zu gewinnen. (Vgl. Jütte 2000; Candlin 2008). 79 | Vgl. Spence/Gallace 2008 wie Anm. 77, S. 32. 80 | Ebd., S. 22.
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intellektuelles Be-Greifen zugestanden wurde.81 Exponate zum Anfassen ermöglichen darüber hinaus zumeist nur ein Berühren von außen. Denn wie sich der verarbeitete, d.h. zugeschnittene und vernähte oder drapierte Stoff als Kleid (an, auf und mit der Haut) anfühlt, das leibliche Empfinden, wenn man in ihm steckt und umhüllt, eingeengt oder eingeschränkt wird, bleiben ebenso unklar wie das Gefühl von und für Bewegungen, Schwere und Leichtigkeit, Kühle oder Wärme.
B E WEGEN Wie Christoph Allenspach in seinem Aufsatz »Mode und Kinästhetik. Das Kleid als Bewegung und in Bewegung« betont, seien »Bewegungsverläufe […] grundlegende Elemente der Inszenierung des Kleides und damit des tragenden Körpers«.82 Und weiter: »Das Kleid ist insofern ein Bewegungsding, als dass es bewusst in subjektiver, phänomenaler Erfahrung, räumlich und zeitlich verortet, d.h. in Bewegungsverläufen, dargeboten und erfahren wird.«83 Die Wahrnehmung des vom Körper dynamisierten und in unterschiedliche Formen gebrachten Kleides ist Teil alltäglicher Erfahrungen sowohl von TrägerInnen als auch von BetrachterInnen. Gleichwohl sie dauerhaft »präsent« seien, würden diese Wahrnehmungen und Erfahrungen im Alltag eher »beiläufig«84 geschehen. Damit sind die leibliche Erfahrung ebenso wie die visuelle Wahrnehmung von bewegten Kleiderkörpern, so möchte ich ergänzen, Teil vor allem eines impliziten Kleidermodewissens. Momente dieses Wechselspiels von Kleid und Körper oder Andeutungen dieser (wie Allenspach es nennt) »interaktive[n] Bewegungsdynamik« 85 finden sich auch in Kleidermodeausstellungen und deren Inszenierungen, selbst wenn die vestimentären Objekte in den meisten Fällen dreidimensionalen Körpern angelegt sind, denen die Fähigkeit zur Eigendynamisierung fehlt wie Torsi, speziell angefertigten Hohlformen (sogenannte moulds), naturalistisch oder abstrakt gestalteten Teil- oder Ganzkörperfigurinen. Besonders Figurinen, die aus mindestens einem Torso und Gliedmaßen bestehen, werden von den AusstellungsmacherInnen häufig so angeordnet, dass sie den Eindruck erwecken – und hier sei noch einmal Elisabeth Wilson zitiert –, sie seien »turned as if to stone in the middle of a decisive movement«. Dabei handelt es sich um das Stillstellen, ›Einfrieren‹ oder 81 | Vgl. Benthien, Claudia: Haut. Literaturgeschichte – Körperbilder – Grenzdiskurse. Reinbek 2001, S. 238. 82 | Allenspach, Christoph: Mode und Kinästhetik. Das Kleid als Bewegung und in Bewegung, in: Schittler, Anna-Brigitte/Tietze, Katharina (Hg.): Textile Studies Bd. 5: Mode und Bewegung, Emstetten/Berlin 2013, S. 161. 83 | Ebd., Kursivierung i.O. 84 | Ebd., S. 162. 85 | Ebd., S. 165.
Kleider, die berühren. Kleidermode, Taktilität und Wissen in Museumsausstellungen
Herauslösen eines Bewegungsmoments aus (teilweise alltäglichen und bekannten) Bewegungsabläufen zur einer Pose. Sie ermöglicht ein dauerhaftes Zeigen (wieder)erkennbarer, weil kodierter und konventionalisierter Körper’halt’ungen. Der permanent sichtbaren und hervorgehobenen Pose vor- und nachgelagerte Bewegungen sowohl des Körpers als auch der ihm angelegten Kleidung können im Idealfall imaginiert werden, v.a. in Arrangements, die um Bewegtbilder, etwa Videos von Defilees, ergänzt sind. Besonders oft in Ausstellungen anzutreffen sind innehaltende Figurinen mit ausladendem Vorwärtsschritt oder beim Hinunterschreiten einer Treppe (Abb. 3), also klassische Bildtopoi aus der Modefotografie. Im Unterschied zu Inszenierungen in der Modefotografie handelt es sich um die stillgestellte Präsentation von dreidimensionalen, materiellen Modekörpern (und dadurch unbewegten Kleidern) und nicht um die bildliche Repräsentation eines Bewegungsmoments von tatsächlich dynamischen Kleiderkörpern in einem anderen Medium.
Abbildung 3: Akris. Mode aus Sankt Gallen. (Textilmuseum St. Gallen 2006). Screenshot: www.schnittpunkt.sg/; letzter Zugriff: 23.4.2008.
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Dabei zeigen auch in Ausstellungen viele Posen, dass die Bewegung des Kleides nicht nur von der Dynamik und den Formen des Körpers abhängig ist, sondern ebenso das Kleid eine eigene Form und Materialität hat, die auf den Körper, der es trägt, wirken. Besonders offensichtlich ist dies bei enger Kleidung, die unmittelbar auf der Oberfläche der Figurinenkörper aufliegt. In der Pariser Alaïa-Ausstellung des Musée de la Mode im Palais Galliera zeichnete sich unter den engen Rockteilen einiger Kleider ein gebeugtes Spielbein ab. (Abb. 4) Durch die angedeutete kontrapostische Haltung, die bereits bei antiken Statuen verwendet wurde, um Bewegungen wie das Gehen anzuzeigen, wurde der Einfluss des Kleides auf den Körper sichtbar. Im direkten Kontakt zeigten sich die Eigenschaften des Materials sowie dessen Verarbeitung, besonders die enge Schnittführung im Rockteil. Während Enge v.a. an der Interaktion von Körper und Kleid visualisiert werden kann, wird Weite wie bspw. ausladende Roben nicht ausschließlich am Körper-Kleid-Verhältnis, sondern in Interaktion mit dem umgebenden Raum sichtbar.86
Abbildung 4: Alaïa (Musée de la Mode de Paris 2013/14). Screenshot: www.palaisgalliera.paris.fr, letzter Zugriff: 15.1.2014. 86 | Vgl. Lehnert, Gertrud: Der modische Körper als Raumskulptur, in: Fischer-Lichte, Erika (Hg.): Theatralität und die Krisen der Repräsentation, Stuttgart 2001, S. 528-549.
Kleider, die berühren. Kleidermode, Taktilität und Wissen in Museumsausstellungen
Abbildung 5: Waist down (Prada Transformer Seoul 2009). Screenshot: www.youtube.com/watch?v=coyzUt8kBsg, letzter Zugriff: 26.1.2011. Neben dieser ausgewählten Strategie, Bewegungen als momenthafte Posen ikonisch zu zeigen, waren in einigen Modeausstellungen Installationen von sich bewegenden Kleidern anzutreffen, die das zeigten, was sie ›taten‹, nämlich in Bewegung zu sein. Ungewöhnliche Ideen und ihre technische Umsetzung sorgten dafür, dass sich die vestimentären Exponate zumindest annähernd so bewegten, als würde ein lebendiger Körper in ihnen ›stecken‹, ohne dass dies tatsächlich der Fall war. Im Frühjahr 2009 wurde in Seoul in dem von Rem Koolhaas entworfenen Prada-Transformer, einer temporären und veränderlichen Veranstaltungsarchitektur, die Prada-Ausstellung Waist down gezeigt. Einige der präsentierten Röcke waren an drehenden Rotoren von Deckenventilatoren angebracht und entfalteten ihr Volumen. Autoscheibenwischer waren in weiteren Röcken versteckt, die an Bügeln auf zwei Kleiderstangen hingen, ein Arrangement, das zunächst an einen Laden denken ließ. Dieser erste Eindruck wurde jedoch gebrochen, sobald sich die unsichtbaren Scheibenwischer begannen zu bewegen und die Röcke so hin und her schwangen, als wenn Hüftbewegungen und Beine sie beim Gehen in Bewegung versetzen. (Abb. 5) Im stillgestellten, d.h. statischen Zustand bleiben diese Potentiale vestimentärer Objekte verborgen, etwa bei der Präsentation von Röcken als Flachware, ausgebreitet in Tischvitrinen liegend. In der Prada-Ausstellung wurden (rockspezifische) Formveränderungen gezeigt als die Reaktion des Materials und seiner Verarbeitung auf Bewegungsimpulse wie das Entfalten ganz unterschiedlicher Volumina. Die beiden Installationen zitierten Bewegungen, die im Alltag leiblich erfahren und visuell wahrgenommen werden; die in der Ausstellung – dauerhaft und mit hohem Tempo auf- und vorgeführt – allerdings etwas Übersteigertes hatten.
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A NZIEHEN Haptische und motorische Erlebnisse des alltäglichen Umgangs mit Kleidern, die mitunter vertraut, jedoch sprachlich schwer zu explizieren sind, lassen sich in Ausstellungen zeigen. Bei den Inszenierungen dieser nur schwer ›sagbaren‹ Formen der Taktilität kann es sich sowohl um ikonische als auch um performative Zeigegesten handeln. Eine weitere Möglichkeit und zugleich Steigerung stellt es dar, lebendige Körper in und als Displays zu verwenden und diese die Kleider tragen zu lassen. Lediglich erwähnen möchte ich »Fashion in Motion« am Victoria and Albert Museum, eine Reihe einmaliger Events, bei denen Models die Kleider eines ausgewählten Designers präsentierten, indem sie entweder in einem der Ausstellungsräume wie bei einer Modenschau defilierten oder wie BesucherInnen durch die Museumsräume wandelten. So zeigte sich an den Körpern der Models, wie Kleidung durch Bewegungen nicht nur verlebendigt werden kann, indem sie Körperbewegungen aufnimmt wie das leichte, gefaltete Material der Modelle aus Issey Miyakes Pleats Please-Kollektionen, sondern auch, wie die Steifheit der Materialien einzelner Kleidungsstücke die Bewegung des Models einzuschränken vermag, etwa bei Alexander McQueens skulpturalen Entwürfen aus der Frühjahr/Sommerkollektion 1999. Bislang handelt es sich bei den hier vorgestellten Inszenierungsstrategien, mit Ausnahme der Hands-On-Exponate, um Körper-Kleid-Beziehungen, die eher beiläufig die Taktilität der Kleidermode im Visuellen darstellen und das Berührungsverbot nicht weiter infrage stellen. Implizites Wissen der BesucherInnen, auch um die taktilen Dimensionen, spielt lediglich als imaginiertes oder »remembered experience« (Palmer) eine Rolle. Es wäre zu fragen, ob es für BesucherInnen allein aus der Anschauung vorstellbar ist, wie es sich anfühlen würde, die jeweiligen Kleidungsstücke am eigenen Körper zu tragen oder etwas mit ihnen zu tun, nur weil es sich beim Bekleiden um etwas handelt, das wir jeden Tag tun. Zugespitzt formuliert: Da wir uns tagtäglich kleiden, bräuchten wir Kleidungsstücke im Museum nicht zu berühren, nicht in Bewegung versetzt zu sehen, geschweige denn anzuprobieren, denn allein aus der Anschauung könnten wir (nach)empfinden, wie sich das anfühlen würde. Gerade bei historischer Kleidung wie Krinolinen, Korsetts usw. mag das schwer gelingen, aber auch bei Modellen zeitgenössischer Designer, wenn die Kleider mit ungewohnten Öffnungen versetzt sind oder ungewöhnlicher Drapierungen bedürfen. Von den Kleidern im Museum berührt und umhüllt zu werden, also in ihnen zu stecken, ist immer noch selten. Wie fühlen sie sich auf der Haut an? Welches Gewicht haben sie? Lassen sie Bewegungen zu oder schränken sie sie ein? Nimmt das Material die Körperbewegungen auf? Wie verändert sich die Körperform und -ausdehnung? Eine nicht unwesentliche Steigerung des taktilen Erlebens und Wahrnehmens ist es also, wenn BesucherInnen einige der vestimentären Exponate tatsächlich anprobieren und anziehen dürfen wie im eingangs erwähnten Dream Shop Yamamotos, der kein Einzelfall war. Ebenso war dies in der bereits genannten
Kleider, die berühren. Kleidermode, Taktilität und Wissen in Museumsausstellungen
Akris-Ausstellung möglich. In einem Bereich, dessen Gestaltung auf die AkrisBoutiquen anspielte, hingen an Kleiderstangen Doubleface- sowie Lederjacken in verschiedenen Größen zum Anprobieren. Bestätigen die ausgewählten Beispiele Palmers Befürchtung von spektakulären Inszenierungen, die bei BesucherInnen Irritationen darüber auslösen würden, »why displays can look so different«? Wie Gertrud Lehnert feststellt, sei die Trennung bzw. klare Zuordnung längst aufgehoben: die Shops der meisten Luxuslabels sähen mit ihrer White-Cube-Ästhetik aus wie moderne Kunstmuseen87; und in den Museen haben allein schon mit den Bücher- und Souvenirshops Verkaufsräume Einzug gehalten. Zitieren Ausstellungsinszenierungen kommerzielle Räume der Mode und die mit diesen verknüpften Rezeptionsmodi wird das Spiel um und die Frage nach Abgrenzungen auf die Spitze getrieben. Positiv gewendet stellt dies 1. eine mögliche gestalterische Lösung dar, auch in Museen den kommerziellen Aspekt von Mode einzubeziehen und nicht auszublenden, wie oft von KritikerInnen unterstellt bzw. behauptet wird.88 Für die hier untersuchte Fragestellung ist relevant, dass 2. die Anspielung auf einen anderen Raum der Mode, in dem gegenwärtig das Anfassen, Berühren, Anprobieren usw. dazu gehört, zugleich die Hemmschwelle senkt, auch im Museum mit seinem Berührungsverbot wieder zu multisensorischen Erfahrungen und Wahrnehmungen anzuregen. M.E. gelingt dies damit eher als bspw. in Inszenierungen, die frühneuzeitliche Wissens- und Schauräume zitieren, jedoch nicht die damaligen Rezeptionsmodi, so geschehen in der Alexander McQueen-Ausstellung Savage Beauty 2011 im Metropolitan Museum mit der Abteilung »Cabinet of Curiosities«. Wenn vor über zweihundert Jahren galt, »[that] touch functioned to correct the misconception of sight« (Classen), so kann heutzutage die Möglichkeit, Exponate zu berühren, genau dazu dienen: Kleider, die sich anders anfühlen als sie aussehen. Und damit auch BesucherInnen auf die Grenzen des eigenen Kleiderwissens stoßen, wenn es sich – wie bei Yamamoto – um Kleidungsstücke handelt, bei denen unklar ist, wie sie anzuziehen, zu drapieren, zu tragen sind.
87 | Vgl. Lehnert, Gertrud: Mode. Theorie, Geschichte und Ästhetik einer kulturellen Praxis, Bielefeld 2013, S. 129f. 88 | Vgl. u.a. Link-Heer, Ursula: Die Mode im Museum oder Manier und Stil (mit einem Blick auf Versace), in: Lehnert, Gertrud (Hg.): Mode, Weiblichkeit und Modernität, Dortmund 1998, S. 140-165.
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Kleidung medialisieren
Der Kalte Krieg im Anzug Cary Grants Kleidung in Alfred Hitchcocks Der unsichtbare Dritte Ulrich Lehmann
E INLEITUNG Im Jahre 1991 veröffentlichte ein englischer Filmkritiker eine neue Version seiner Studien aus den späten sechziger Jahren über den Regisseur Alfred Hitchcock. In ihr beklagte er erneut den ausufernden Einfluss, den die Semiotik und der Strukturalismus auf die Filmstudien hätten. So warnte er vor der ›ständig anzutreffenden, besonders ärgerlichen Tendenz‹ gesagt zu bekommen: ›wie Roland Barthes uns zeigt…‹.1 Im Laufe diese Aufsatzes findet sich wiederholt der Halbsatz ›wie Roland Barthes uns zeigt…‹ – oder zumindest etwas Vergleichbares. Dies geschieht nicht aus akademischer Störrigkeit oder um in einem etablierten Interpretationsmuster zu bleiben, sondern weil ich denke, dass eine strukturalistische Lesart am Besten geeignet ist, um Hitchcocks North by Northwest (dt. Der unsichtbare Dritte) zu besprechen. Für mich verwendet dieser Film eine Kinosprache, die sich an der Oberfläche abspielt und es ostentativ vermeidet, in psychologische oder soziologische Tiefen vorzustoßen. Er handelt von Verkleidungen und nicht von materieller Wirklichkeit, und er bleibt beim Warencharakter von Objekten anstatt die Ideologien hinter ihnen aufzuspüren.2 Ich meine, dass Hitchcocks Film und die Rolle, 1 | Wood, Robin: Hitchcocks Films Revisited, London 1991, S. 8. 2 | Vgl. Hartmann, Geoffrey H.: »Plenty of Nothing: Hitchcock’s North by Northwest«, in: The Yale Review, vol.71, no.1 (Herbst 1981), S. 14; in Bezug auf Alain Resnais’ L’Année dernière à Marienbad: ›Die Oberfläche dieser Wort-Bilder bleibt glatt und schlüpfrig; es sind Bilder, die es darauf anlegen, keine Wörter zu sein; sie bestehen auf einem bildhaften wie auch auf einem semiotischen Inhalt, einer unsinnlichen visuellen Stenographie.‹ Dies ist natürlich eine typische Ansicht der gewollten Künstlichkeit – typisch, weil angloamerikanische Kritiker sich seit jeher schwer mit jenem europäischen Autorenkino tun, das offensichtliches Geschichtenerzählen vermeidet. Aber solch ein Zitat kann ebenso auf die
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die Cary Grant darin spielt, am besten durch den Schein erklärt werden – gerade darum weil er täuscht – und nicht durch hermeneutische Analysen filmischer Zitate oder die Deutung einer selbstbezogene Wirklichkeit in der Erzählung. Und weil die äußerste Hülle des Films durch die Kleidung vorgegeben wird (ich sehe hier einmal von Hitchcocks kinomatografischen Stilmitteln ab), nehme ich auch ein Kleidungsstück als roten Faden3 auf: Cary Grants Anzug, der fast durchgängig in jeder Filmszene zu sehen ist. So bleibt der Anzug – der hier nicht das Kostüm für eine Rolle ist – in dem Film dann auch analog zu seiner beständigen Präsenz in der bürgerlichen Männermode seit Anfang des neunzehnten Jahrhunderts bestehen. Wenn ich nun eine so reduzierte oder sogar restriktiven Herangehensweise an den Film versuche, muss ich auch gleich zugestehen, weder genug über Hitchcock als Regisseur zu sagen und noch weniger über den Konsum der Männermode und dessen gesellschaftliche Bedeutung zu sprechen. Hitchcock wird ja gemeinhin für die psychologische Präsenz in seinem Filmen gelobt, als ob eine Schnelllektüre Sigmund Freuds die Rollen seiner Filme geprägt hätte. Und dies wird oft im doppelten Sinne des Wortes gesehen: die Figuren in den Filmen werden scheinbar nach ihrer psychologischen Pathologie karikiert, zum Beispiel der ödipale Mörder (Psycho), der von Höhenangst getriebene Nekrophile (Vertigo – Aus dem Reich der Toten), die homosexuellen Narzissten (Rope – Cocktail für eine Leiche), während filmischen Handlungen sich wie unterwusste Gedankengänge abspielen sollen, zum Beispiel die Traumsequenz in Spellbound – Ich kämpfe um Dich, oder der Voyeurismus als Projektionsfläche eigener Konflikte in Rear Window – Das Fenster zum Hof. Für eine solche Sichtweise auf das Werk des Regisstilisierten (und manchmal stilvollen) Produkte Hitchcocks aus den fünfziger und sechziger Jahren bezogen werden. Die verschiedenen Ansichten von Hitchcocks filmischen Geschichten können zu einer allgemeinen Besprechung zwischen stilistischen und strukturalistischen Aspekten verdichtet werden, als ›in dialektische Beziehung stehende Projektionen der beiden Extreme der modernistischen Formensprache‹, Jameson, Fredric: »Spatial Systems in North by Northwest«, in: Zizek, Slavoj (Hg.), Everything You Always Wanted to Know About Lacan (But Were Afraid to Ask Alfred Hitchcock), London 1992, S. 48. Eine exemplarische Deutung von North by Northwest, welche Barthes’ strukturalistische Lesart von Zeichen/Texten verwendet ist Bellour, Raymond: »Le Blocage symbolique«, in: Communications 23 (»Psychanalyse et cinéma«) (1975), S. 235-263. Bellour erweiterte dann den Aufsatz in seiner L’Analyse du film (S. 131-246), wo man nach einer Einführung in die Methodik des Strukturalismus zur Lacanschen Analyse gebracht wird, die sich dann zu einer fast manisch detaillierten Beschreibung der Filmszene aus Der unsichtbare Dritte auf den Feldern Illinois’ auswächst. 3 | Dies scheint eine sehr altbackene Metapher zu sein, ist aber im Zusammenhang von Text und Textil recht sinnfällig, meine ich.
Der Kalte Krieg im Anzug: Cary Grants Kleidung in Alfred Hitchcocks Der unsichtbare Dritte
seurs kann beispielhaft François Truffauts fast hagiografische Interviews stehen, bei denen er am Ende bemerkt, Hitchcock wäre ›ein Neurotiker‹ und es dürfte ihm nicht leicht gefallen sein, der ganzen Welt seine Neurosen aufzudrängen.‹ 4 Der von der strukturalistischen Zeichentheorie beeinflusste Psychoanalytiker Jacques Lacan postulierte 1964 bekanntermaßen, dass das Unbewusste wie eine Sprache strukturiert sei.5 Für ihn sieht sich das Subjekt einer Dreiteilung des ›Imaginären‹, ›Symbolischen‹ und der ›Realität‹ gegenüber, die seine Wahrnehmung von Objekten strukturiert. Der Ethnologe Lucien Sebag, über mehrere Jahre hinweg ein Analysand Lacans6, folgerte dann im selben Jahr in seinem Buch Marxismus und Strukturalismus, dass die Beziehung des Subjekts zur Wirklichkeit durch die Struktur der Sprache problematisiert wird und sich eine materialistische Sichtweise auf das Objekt mit einer strukturalistischen-anthropologischen verbinden müsste, um zu einem systemisches Verständnis bestimmter Epistemologien und Kulturen zu kommen. Wenn man nun psychoanalytische Deutungsweisen, insbesondere wenn sie populistisch in eine Hollywood-Produktion eingepasst werden, strukturell angeht und die filmische Sprache Hitchcocks durch die Präsenz bestimmter Objekte wie den Anzug analysiert, so offenbart sich deren Oberflächlichkeit als konkrete soziale, sogar politische Aktion. Sebag schrieb: »So gesehen ist die Sprache eine letzte Allgemeinheit, denn sie erlaubt die Brechung jeder Realität durch den zu ihr gehörigen Code; aber das Objekt wird eine Besonderheit, wenn man zu Ideologien übergeht. Von da aus werden wir abwechselnd zu dem Sender und den Bedingungen der Sendung einerseits, zu dem Empfänger und den Bedingungen des Empfanges andererseits gewiesen; es gibt vielleicht kein wichtigeres Gebiet für die Analyse des ideologischen Prozesses […].« 7
Um Hitchcock zu verstehen muss man, wie natürlich bei jedem künstlerischen Ausdruck, die spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen seiner Produktion begreifen. Jedoch werden diese im Diskurs gerade dieses Regisseurs gegenüber formalen und ›psychologischen‹ Interpretationen vernachlässigt, was ja zum Bei-
4 | Truffaut, François: Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? [1966/83], München 1999, S. 338. 5 | Vgl. Lacan, Jacques: Das Seminar, Buch 11: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse [1964], Weinheim/Berlin 1987, S. 26. 6 | Sebag erschoss sich 1965 offenbar auf Grund einer nicht erfüllten Beziehung zu Lacans Tochter Judith. 7 | Sebag, Lucien: Marxismus und Strukturalismus [1964], Frankfurt a.M. 1967, S. 135.
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spiel im Falle des von ihm popularisierten ›MacGuffin‹ 8 problematisch ist, wenn die konkrete, soziale Materialität des Objekts unerkannt bleibt. Die strukturalistischen Analysen von Objekten, in den Massenmedien und als Waren, wie zum Beispiel in Barthes’ Mythen des Alltags, waren von Anfang politisiert. Daher kann die Hollywood-Produktion eines Spionagefilms in der Mitte des kalten Krieges ein überzeugendes Beispiel abgeben, für das man eine strukturalistisch-reduzierte Lesart von Objektoberflächen versucht. Auch macht gerade die Sorgfalt, die Hitchcock selber bei der Auswahl der Kleidung im seinem Film walten ließ – er verbrachte Tage mit seiner Hauptdarstellerin Eve Marie Saint im Luxus-Kaufhaus Bergdorf Goodman in New York, um deren Kleider und Accessoires auszuwählen –, die Kleiderobjekte im Film zu einem bedeutungsvollen Teil der durchkomponierten mise-en-scène.9 So kann der Vorwurf, man würde Hitchcock durch den Fokus auf einen bloßen Anzug nicht gerecht, dadurch entgegnet werden, dass der Regisseur bewusst den äußeren Schein kultiviert, um die (zum Teil auch vorgebliche) Oberflächlichkeit seines Sujets und seiner Geschichte zu bedeuten und die dem Film innewohnende Theatralik ironisiert. Ohne das er, und dies bleibt bedeutsam, die fundamentalen ideologischen und materiellen Prämissen der Geschichte in Frage stellt. Für meine Herangehensweise habe ich in chronologischer Reihenfolge ein Dutzend Szenen ausgewählt, in denen der Anzug als Signifikant in der filmischen Sprache steht oder als Objekt im Dialog die Erzählung vorantreibt; also eine Bedeutung einnimmt, die über seine normative Funktion in der Handlung weit hinausgeht.
8 | Der MacGuffin ist ein Objekt das die filmische Handlung auslöst oder vorantreibt, ohne an sich von Bedeutung zu sein. In Der unsichtbare Dritte könnte man die Statue mit den Mikrofilmen als typischen MacGuffin bezeichnen – oder eben der Anzug unseres Helden… Hitchcock beschied selbst: ›mein bester MacGuffin – darunter verstehe ich: der leerste, nichtigste, lächerlichste – ist der von North by Northwest‹ (Truffaut, F.: Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?, S. 127). Es ist interessant, wollte man die hingeworfene Bemerkung des Regisseurs denn analysieren, zu bedenken, dass also das inexistente Objekt, die Leere zum Gefälligsten und formal Wichtigsten wird. So auch in der dramatischen Sprache, in der die Pause/die Stille/der Raum zwischen den Buchstaben schwerer wiegt als das gesprochene oder geschriebene Wort. 9 | Eine ›clutch‹-Handtasche für den Abend mit dem deutlich sichtbaren Etikett von Bergdorf Goodman ist dann im Hotelzimmer in Chicago zu sehen – Beispiel für ein frühes product placement und/oder stilbildende Referenz an die modische Quelle der Kleiderobjekte im Film?!
Der Kalte Krieg im Anzug: Cary Grants Kleidung in Alfred Hitchcocks Der unsichtbare Dritte
M E THODE Also werden im Folgenden die Kleidungsdetails weder als Metaphern für verhaltenspsychologische Muster gelesen, noch sind sie symbolisch für die Psyche des Trägers. Sie funktionieren zuvorderst als bildliche Signifikanten einer semiotischen Analyse. Zuerst führte Roland Barthes 1957 eine solche Analyse aus, wobei er in vielleicht überraschender Weise die Dominanz der Semiotik über die Linguistik zu Gunsten der Sprache über die Kleidung/der Kleider-Sprache umkehrte. Hierbei stellte er eine dreiteilige Analogie zwischen Kleidung und Sprache her. In seinem Aufsatz ›Geschichte und Soziologie der Kleidung‹10 stellte er eine Parallele zwischen der linguistischen Klassifizierung der Sprache und der Bedeutung der Kleidung als sozial geprägte Objekte mit Warencharakter her. Barthes unterscheidet formal-linguistisch zwischen langage, der Sprache, die in einer anthropologischen Struktur existiert; langue, der Sprache, die in einer kulturellen Gemeinschaft oder einer Gesellschaft gesprochen wird; und der parole, der individuellen Sprache eines einzelnen Subjekts. Diese Klassifizierung findet ihre Entsprechung, so Barthes, in der Unterscheidung zwischen vêtement, Bekleidung des Körpers an sich (zum Schutz, zur Wärmung); costume als Zeichen nationaler oder kultureller Zughörigkeit; und habillement, dem individuellen Ausdruck des einzelnen Trägers der Kleidung.11 Barthes betrachtet langue als eine Institution, als ›einen Körper, der von Beschränkungen abstrahiert wird‹12, vergleichbar mit dem formellen Anzug, der den Körper einzwängt und codiert. Wohingegen die parole den Teil einer gesellschaftlichen und ideologischen Institution (und Institutionisierung) anzeigt, der momentan von dem Einzelnen gewählt werden darf und zur verbalen als auch modischen Kommunikation aktualisiert werden kann. Barthes nimmt somit Sebags materialistische Sichtweise auf das Potential des Strukturalismus vorweg, ohne jedoch konkret politische Konsequenzen daraus gezogen zu haben. Ein Jahrzehnt später, mit der Veröffentlichung Le Système de la mode (dt. Die Sprache der Mode) veränderte Barthes die obige Einteilung und Parallelität und vertauschte vêtement mit costume. Letzteres stufte er auf die allgemeinste Bedeutung zurück, während vêtement nun zum Äquivalent der strukturalistischen Deutung der langue wurde.13 Durch diesen Tausch verliert Barthes ein wichtiges Element in seiner Angleichung von Kleidung und Sprache in ihrem historischen und kulturellen Umfeld: die wortwörtliche Konnotation des Anzuges – im Französischen le costume. Da langue als ›strukturelle Institution‹ bezeichnet wurde, scheint es sinnfällig, dass ihr Äquivalent das Homonym des Anzuges bleiben 10 | Barthes, Roland: »Histoire et sociologie du vêtement«, in: Annales : Économies, Sociétés, Civilisations, vol.12, no.3 (Juni/September 1957), S. 430-441. 11 | Ebd.: S. 435. 12 | Ebd.: S. 13/14. 13 | Ebd.
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muss – als die Institution in der Männerbekleidung der letzten zweihundert Jahre.14 Die Verschiebung, die Barthes in dem Jahrzehnt nach der Veröffentlichung seines ersten Aufsatzes kritisch reflektiert 15, verdeckt so die Bedeutung des Anzuges als struktureller Signifikant, welcher – vielleicht allzu augenscheinlich und logisch – die Norm einer westlichen, patriarchalischen Warengesellschaft repräsentiert. Ich meine daher, dass besser ist, bei der ursprünglichen Parallele von langue und costume zu bleiben, auch weil ›Kostüm‹, als das phonetische Äquivalent auch im Deutschen, die dramatische und filmische Ver- oder Bekleidung bezeichnet, die eben von Cary Grant in Der unsichtbare Dritte gerade nicht getragen wird, da ihm ja vom Regisseur überlassen wurde, sich selber seine Anzüge für den Film in seiner Heimat maßschneidern zu lassen, und ihm so von der Autorität des Regisseurs symbolisch beschieden wird, sich selber zu spielen. Eine Tatsache, die dann wiederum in der Sprache des Films spielerisch und ironisch thematisiert werden kann. Barthes erklärte in seinem Aufsatz von 1957, dass die persönliche Auswahl von Kleidung (›un fait d’habillement‹) zuallererst eine Abschwächung, d.h. eine weniger normative Form von costume bedeutet. Aber diese Form wird dann selbst wieder zu einem sekundären costume wenn die Abschwächung als kollektives Zeichen funktioniert, wenn sie als Wert auftritt. Eine minimale Veränderung des Anzuges (z.B. eine Variation des Kragens oder der Knopfzahl) wird selbst zum costume wenn es zur modischen oder kulturellen Norm einer bestimmten Gruppe wird, was sich besonders im Dandyismus zeigt.16 In den letzten Dekaden hat der ›Post‹-Strukturalismus solche Analysen als formalistisch und statisch kritisiert, aber die Leseart der Kleidung als Text in Barthes (wie auch in Michel Butors Aufsatz von 1969 17) bleibt für mich gerade wegen ihres Formalismus weiterhin relevant, weil dieser strukturelle Verbindungen noch aufdeckt und sie in einen
14 | Vgl. zum Beispiel Harvey, J.: Men in Black, London 1995 oder Breward, C.: The Hidden Consumer: Masculinity, Fashion and City Life 1860-1914, Manchester 1999. 15 | Ein Grund für die Vertauschung von vêtement und costume findet sich schon in dem früheren Aufsatz »Les Maladies du costume de théâtre«, den Barthes 1964 im Zusammenhang mit seinem programmatischen Text »L’Activité structuraliste« wiederveröffentlichte. In diesem Aufsatz verwendet er das Wort costume ausschließlich, um Kostüme auf der Bühne oder im Film zu denotieren. So ersetzte er in der Folge costume durch vêtement, weil letzteres nichts mit Maskerade oder Verkleidung zu tun hat. Vgl. Barthes, R.: »Les Maladies du costume de théâtre«, in: Théâtre populaire 12 (März/April 1955) und »L’Activité structuraliste«, in: Lettres nouvelles 32 (Februar 1963), beide wiederveröffentlicht in: Ders.: Essais critiques, Paris 1964, S. 53-62 und S. 213-220. 16 | Barthes, Roland: »Histoire et sociologie du vêtement«, in: Annales : Économies, Sociétés, Civilisations, vol.12, no.3 (Juni/September 1957), S. 437. 17 | Vgl. Butor, M.: »Mode et moderne«, in: Change 4 (1969), S. 13-28.
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gesellschaftlichen und ideologischen Kontext stellt, anstatt sie diskursiv aufzubrechen und in assoziativen Wortspielen zu dekonstruieren. Im Folgenden möchte ich so den Anzug als Kleidungsoberfläche und als normative Oberflächlichkeit besprechen, der sich als konstanter Signifikant in einer altmodische Geschichte zeigt, die von den Schicksalsschlägen des Helden erzählt; wie er verfolgt, verlacht und misshandelt wird, bis er sich dann aus den dramatischen Einschränkungen durch seine Umgebung lösen kann, um frei zu handeln, als Individuum aufzutreten und am Ende sogar Liebe zu finden. Das diese ›Befreiung‹ natürlich am Ende eine oberflächliche Geste bleiben muss, ganz den Normen der filmischen und sozialen Sprache der späten fünfziger Jahre in den USA angepasst (was auch von Hitchcock zum Teil ironisch kommentiert wird), beeinträchtigt die Deutung des Anzuges im Film aber vorerst nicht. Szene 1 (Erster Tag, später Nachmittag; im Oak Room des Plaza Hotels in New York City) Das Drehbuch zum Film Der unsichtbare Dritte wurde von Ernest Lehman geschrieben, die Kameraführung hatte Robert Burks, und es war schon Hitchcocks 25. Hollywood-Film, der dann 1959 in den Verleih kam. Oberflächlich gesehen – und darum geht es ja hier –, ist der Film ein Spionage-Thriller in der besten Tradition der Paranoia Hollywoods im Kalten Krieg und am Ende des McCarthyismus. Hitchcock wählte Cary Grant aus, einen Werbefachmann zu verkörpern, der für einen Agenten der US Regierung gehalten wird und der nach Verfolgung und Kampf es dann endlich schafft, seine Widersacher (und die der ›freien Welt‹) zu erledigen. Die komödiantischen und absurden Züge des Dramas und Dialoges als auch Grants oft ironische Distanz zu der aktionsgeladenen Handlung schaffen ein Gleichgewicht zwischen der kommerziellen Kinosprache und Hitchcocks formaler Stilbildung in dieser etwas verworrene Geschichte von Verfolgung, Verrat, Bluff und Gegenbluff. Die Exposition des Films – wie gesagt, bleibe ich bei dessen Chronologie gehe aber verständlicherweise nicht auf jede Szene ein – stellt Roger Thornhill vor (Grants Rolle), wie er sich mit Geschäftspartnern in einer Bar in Manhatten trifft. Er trägt einen leichten, grauen Dreiknopfanzug, ein weißes Hemd mit Manschetten, eine graue Seidekrawatte, hellgraue Socken und dunkelbraune Schuhe. Seine drei Begleiter sind dunkel gekleidet: die Figur des Mr. Wade mit einem weißen Hemd und passendem Einstecktuch, Mr. Nelson trägt eine dunkle Krawatte, und die des zweiten Werbefachmanns Mr. Weltner ist dunkelrot. In dieser Szene, in der Grant im Vergleich zum Rest des Films für einen Moment fast inaktiv erscheint, wird dem Zuschauer zum ersten Male der Unterschied zwischen Thornhill und den anderen Protagonisten aufgezeigt; eine Verwendung solcher Kleider-
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signifikanten, die bis zum Ende der Geschichte beibehalten werden soll.18 Dieser Unterschied, der sich sowohl auf die fiktionale Person Thornhills als auch auf den Schauspieler Grant bezieht, von dem Hitchcock nicht mehr verlangte, als eben verfeinerte Variationen seines gewohnten, ihm eigenen Charme und einer ironischer Überheblichkeit darzustellen, wird dadurch objektiviert, dass Thornhill mit den Maßanzügen von Kilgour, French & Stanbury ausgestattet wird – einem Londoner Schneider, den auch Grant selber stets benutzte.19 Die Komparsen in dieser Szene zeigen so einen Hintergrund ›von-der-Stange‹ in der gewöhnliche Kleiderordnung (costume) der späten fünfziger Jahre in den USA, die dann so paradigmatisch von Gregory Peck als Der Mann im grauen Flanell in dem gleichnamigen Film verkörpert wird.20 Grant/Thornhill sitzt mit übergeschlagenen Beinen am Rande des Tisches, den Körper in manierierter Weise dem Betrachter zugekehrt, und zeigt dabei die (besonders für ein amerikanischen Publikum damals als Europäisch anmutende) Beachtung von Details, wie die farblich genau abgestimmten Seidensocken und die braunen (statt schwarzen) Schuhe, während seine Geschäftspartner steif hinter den Tisch gezwängt sind. Er zeigt hierbei seine parole, eine subtile aber ausdrucksvolle Abweichung von der Norm, die hier zu Anfang gleich zu Spekulationen über sein gesellschaftliches wie auch individuelles Verhalten Anlass bietet.21 In dem nachfolgenden Dialog werden diese Spekulationen von Lehman und Hitchcock durch ihre oft übliche, ironische Unterwanderung der Rolle des Kinohelden noch weiter genährt, in dem sie eine ödipale Sequenz einbauen, in der 18 | Vgl. Naremore, J.: »Cary Grant in North by Northwest (1959)«, in: Acting in the Cinema, Berkeley, CA/London 1988, S. 213-235, hier insbesondere S. 214-217 für die enthusiastische Zelebrierung von Cary Grants Modebewusstseins in dem Film. 19 | Rothman schrieb: »Eine weitere Ironie liegt in der vorgeblichen Tatsache, dass Cary Grant überhaupt mit Roger Thornhill verwechselt werden könnte. Roger Thornhill ist eine erfundene Person, die von Hitchcock kreiert wurde und dessen Autorität unterliegt – er ist nicht wirklicher als der nicht existierende Lockvogel ›George Kaplan‹. Hitchcocks wirklicher Agent und Agierender ist – Cary Grant. Grants völlige Zurschaustellung in der Welt von Der unsichtbare Dritte unterstreicht eben nur die Art und Weise mit der er wie gewöhnlich die Kinoleinwand beherrscht.« Rothman, William: »North by Northwest: Hitchcock’s Monument to the Hitchcock Film«, in: North Dakota Quarterly 51 (Sommer 1983), S. 13. 20 | The Man in the Grey Flannel Suit (USA 1956, R & D: Nunally Johnson, nach dem Roman von Sloan Wilson). 21 | Cavell vergleicht so Der unsichtbare Dritte mit dem Hamlet-Thema in der Literatur, wobei er die spätere, ›screwball comedy‹-Szene im Auktionshaus hervorhebt. Von Thornhill wird verlangt, »… dass er sich anpasst, sich sozialisiert; aber die Gesellschaft hat ihm eine Identität und ein Schuldgefühl auferlegt, das er nicht mit sich vereinbaren kann. Somit liegt seine Hoffnung auf einen Ausweg aus dieser Gesellschaft natürlich nur in der Abdankung von derselben.« Clavell, Stanley: »North by Northwest«, in: Critical Inquiry 7 (Sommer 1981), S. 766.
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sich Thornhill übertrieben um eine Nachricht an seine Mutter sorgt. Die führt gleichzeitig dazu, dass die so ausgesuchte parole/habillement des Schauspielers in Lächerliche gezogen wird, wie sie auch den Protagonisten nun in die turbulenten Ereignisse der Geschichte stürzen. Szene 2 (Erster Tag, früher Abend; in der Bibliothek eines Landhauses) Thornhill, der fatalerweise mit dem Regierungsagenten George Kaplan verwechselt wurde22 , wird dem Bösewicht Philip Vandamm (von James Mason gespielt) vorgeführt, der in seiner vorgeblichen Rolle als der unbescholtene Bürger Lester Townsend seiner Gegner zum ersten Mal ins Auge fasst. Vandamm: Doch anders als ich erwartet habe. Ein bisschen größer, und ein bisschen gepflegter als die Anderen. Thornhill [in ironischem Tonfall]: Dass Sie mit mir zufrieden sind, macht mich sehr glücklich lieber Herr Townsend. 23
Hier schon beginnt die Kleideroberfläche ihre eigentliche Dominanz gegenüber erkenntnistheoretischen Zügen der Geschichte auszuüben. Die beiden Männer nehmen einander für jemanden Anderen an, aber keiner der Beiden macht die geringsten Anstalten, durch die jeweilige Verkleidung hindurchzusehen. Im Gegenteil, beide scheinen ehrliche Freude am gegenseitigen Wahrnehmen der äußeren Erscheinung zu empfinden, anstatt einen Versuch zu machen, ihre wirkliche Identitäten herauszufinden. Vandamm trägt einen Neo-Edwardianischen Dreiteiler mit einem weißen Hemd und einer schiefergrauen Krawatte. Sein Anzug soll als gut angepasst gelesen werden; aber eben als ein wenig zu gut: sein Kleidersignifikant ist ein bisschen zu respektabel, zu steif, um die wirkliche Wahrheit über den Mann preiszugeben – im (dialektischen) Gegensatz zu der entspannten Eleganz von Thornhills Anzug, der sich wie ein Schauspieler vor dem Vorhang aufführt. Dies ist dann auch das Thema des ersten Dialoges zwischen Townsend/Vandamm und Thornhill über das Theaterspielen (von Geheimagenten) und den (bürgerlichen) Theaterbesuch. Grant lässt den Zuschauer den ganzen Film hindurch nicht vergessen, dass er in mehr als nur einem Sinne schauspielert. Als ein Mann in dem von ihm bevor22 | Als Thornhill von den beiden Handlangern Vandamms in der Bar festgehalten und mit der Waffe bedroht wird, bemerkt er zuallererst lapidar: ›Was wollen Sie von mir? Gefällt Ihnen der Anzug nicht?‹. 23 | Alle Dialoge werden aus der deutschen Synchronisierung zitiert, die das MGM Synchronstudio in Berlin-Tempelhof 1959 unter der Regie von Erik Ode ausführte.
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zugten Maßanzug findet er sich sowohl konkret-beruflich (als Schauspieler) als auch fiktiv (als falsche Identität in der filmischen Erzählung) mit der Aufgabe konfrontiert, sich selber zu spielen, so dass die Betrachter im Film und des Films ihm dieses Selbst gar nicht abnehmen wollen. Er ist, wie es auch Barthes und Sebag lesen würden, ein Objekt, das durch die Kleidersprache so abstrahiert und strukturiert wird, dass seine Realität nur noch in einer (dramatisierten) Ideologie auftreten kann. Szene 2b Vandamms Handlanger Leonard (von Martin Landau gespielt) betritt in einem eng geschnittenen blauem Anzug und blauer Krawatte den Raum und nimmt Thornhills gutaussehende Oberfläche als genau das war was sie ist (allerdings unterschätzt er sie auch keinesfalls), während er seine eigene Meinung hinter einer ebenso gut geschnittenen Maske verbirgt. Diese Reserviertheit wird Leonard erst in dem letzten, dramatischen Viertel des Films verlieren. Vandamm: ›Ah Leonard, kennen Sie schon unseren erlauchten Gast?‹ Leonard: ›Er lässt beim besten Schneider arbeiten, nicht wahr?!‹
Thornhills fehlt geleitete Internalisierung ödipaler Komplexe, die am Beginn von Hitchcock suggeriert und ironisiert wurde, findet hier ihre Projektion durch die Bewunderung seines Äußeren durch einen Kriminellen, welcher – so das allgemeine kritische Verständnis – eine homosexuelle Rolle spielt. In seiner Serie von Interviews pries Truffaut Hitchcocks Entscheidung Vandamm als einen gut angezogenen und gefälligen Charakter zu präsentieren, weil dadurch ›ein Element von homosexueller Rivalität‹ ins Spiel kommt, in welcher der männlichen Sekretär [i.e. Leonard] ›ganz augenscheinlich auf Eve Marie Saint [welche die weibliche Hauptrolle Eve Kendall spielt] eifersüchtig‹ ist.24 Aber der Sachverhalt gestaltet sich nicht ganz so einfach. Die Sorgfältigkeit der Kleidung soll hier einen narzisstischen Kern anzeigen, der sich unter der Kleidungsoberfläche aller drei Männer verbirgt. Thornhills Eleganz ist zuallererst als eine stilvolle Korrektur zu seinem moralische Fehlverhalten zu lesen: er trinkt zu viel, hat schon zwei gescheiterte 24 | Truffaut, F.: Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?, München 1999, S. 94. Vgl. auch Corber, R. J.: In the Name of National Security: Hitchcock, Homophobia, and Political Construction of Gender in Postwar America, Durham NC/London 1993 und Wood, R.: »The Murderous Gays: Hitchcocks Homophobia«, in: Hitchcocks Films Revisited, London 1991, S. 336-357, 365. Die Filmhistorikerin Leslie Brill setzt die Bösewichter gerade durch ihre Kleidung in Verbindung: ›Als sie zum ersten Male in der Bibliothek auftreten, stehen sich VanDamm [sic!] und Leonard durch Ihre dunklen Anzüge und kalte Kultiviertheit nahe.‹ Brill, L.: »North by Northwest and Romance«, in: The Hitchcock Romance: Love and Irony in Hitchcock’s Films, Princeton 1988, S. 3-21, hier S. 9.
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Ehen hinter sich und stielt die Taxis anderer Leute. Jene, die ihm nur kurz einen Blick zuwerfen, wollen Thornhill als eine gut geschneiderte Hülle wahrnehmen, die man nicht kritisiert und der man nur schwer widerstehen kann. Aber selbst die vergleichbar entspannte Sorgfalt, die er seinem Äußeren widmet, lässt ihn dennoch etwas zu gepflegt und zu gutaussehend erscheinen, zu geschickt in allen Lebenslagen und, im besonderen, ein wenig zu distanziert den Frauen gegenüber agierend. All dies stellt eine normative Männlichkeit in Frage – eine Frage, die Grant als Filmstar sein ganzes Leben verfolgte und mit der Hitchcock ganz offensichtlich gerne spielte.25 Bei Vandamm verdeckt die Kleideroberfläche eine düstere Unterwanderung der Grundwerte der gegenwärtigen Gesellschaft. Sein Anzug, wie auch seine Handlanger und das Landhaus in das Thornhill verschleppt wird, stellen das respektable Äußere dar, welches eine Agententätigkeit verdeckt, die gegen die Kultur und die Nation der USA arbeitet. So ist es folgerichtig, dass sein Akzent (Masons sehr englische Diktion) und seine Kleidung dem Publikum deplaziert und fremd vorkommen sollen. Auch Leonards Anzug verdeckt etwas. In seinem Falle verkleidet er ›unmoralische‹ Triebe: der Schnitt des Jacketts verdeckt die Pistole im Schulterhalfter, die er später zur Bedrohung und zum Mord verwendet; der schlichte und unauffällige Stoff lenkt von seinem leicht weibischen Gehabe ab (eine Kurzformel der Homosexualität) und die enge Steifheit des Anzugs begleitet und bekleidet seine extrem sparsamen Bewegungen, welche zielstrebig asozialen Handlungen ausführen. Szene 2c In dem nun folgenden Kampf wird Thornhill auf ein Sofa geworfen und mit Bourbon abgefüllt. Dabei wird sein Anzug zum ersten Male ernsthaft angegriffen und verdreckt. In der Tat beginnt man nun ›den Anzug‹ ausschließlich als Signifikant zu lesen und die Rolle als Signifikat: der Held wird durch seine Oberfläche bezeichnet und die Verfolgungen im Laufe des Films konzentrieren sich auf seine Kleidung, dessen hellgrauer Wollstoff den Flüchtenden auf absurde Weise beständig herausdeutet. Der Stoff und der Sitz des Anzugs zeigen sich als bewerkenswert haltbar und erholen sich völlig von der Verfolgung und dem Angriff in den vorangegangenen Szenen. Dies muss man als den Versuch Hitchcocks begreifen, dem Zuschauer seinen Helden als stabiles und wiedererkennbares Objekt zu zeigen. Obwohl die ober25 | Grant wies die Hauptrolle des Rupert Cadell in dem obenerwähnten Film Rope – Cocktail für eine Leiche ab, weil sie ihm zu homosexuell erschien. Nachdem auch Montgomery Cliff als Besetzung verworfen wurde (da seine Homosexualität ein offenes Geheimnis war), spielte sie schließlich James Stewart.
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flächliche parole verdächtig scheinen mag, müssen die eigentlichen Signifikanten, der Anzug als geschneiderter Konstituente, das unbefleckte weiße Hemd und die perfekt geknotete Krawatte intakt bleiben. Nichts darf zerreißen, ausfransen oder auf unersetzliche Weise beschmutzt werden. Der Held hat einen kategorischen Imperativ: er muss stets so aussehen, als ob die allgemeine Form seiner Kleidung, sein costume/langue, welches die grundlegende Anpassung an eine Kleidungs- und Sozialnorm darstellt, nicht von Anderen beschädigt werden kann. Die amerikanische Lebensweise (zumindest in ihrer oberflächlichen Wahrnehmung) kann nicht wirklich verletzt oder nach Innen gekehrt werden. Dies hat natürlich eine ideologische und kommerzielle Logik, ist dadurch aber keineswegs natürlich; denn ihre Sprache muss für jede neue Kommunikation, jeden neuen Hollywood Film zu Beispiel, konstruiert werden, um sie den neuesten Umfeld und einer aktuellen Mode anzupassen. Obwohl politisch-ideologisch festgesetzt, muss die langue flexibel genug bleiben, um dem jeweiligen visuellen, künstlerischen Ausdruck Rechnung tragen zu können. Das ›System der Mode‹, wie es Barthes benennt, muss beachtet werden, um die jeweilige Ideologie nicht isoliert oder antiquiert erscheinen zu lassen. Thornhill entkommt, in dem er stark betrunken und mit hochgeschlagenen Jackettkragen seines verknitterten Anzuges die Küstenstraße hinabrast. Er wird von der Polizei festgenommen und verbringt den Rest der Nacht in einer Gefängniszelle. Am nächsten Morgen wird er vernommen, mit einer Geldstrafe belegt und dann freigelassen. Noch immer in demselben Anzug versucht er nun hinter zumindest eine der Oberflächen dieser Geschichte zu kommen, nämlich die Identität von George Kaplan herauszufinden, für den man ihn fälschlich gehalten hat. Szene 3 (Zweiter Tag, gegen Mittag; Zimmer 796 des Plaza Hotels in New York City) Thornhill verschafft sich unbefugter Weise Zutritt zu Kaplans Zimmer, begleitet von seiner Mutter Clara Thornhill (von Jessica Royce Landis gespielt). Dorthin bringt der Hoteldiener einen schwarzen Anzug aus der Schnellreinigung; auf Befragen bestätigt er, dass der Auftrag über das Telefon kam und nicht direkt von dem Anzugträger. Thornhill: ›Ich glaube fast, dass in diesem ganzen, riesen Hotel kein Mensch Herrn Kaplan kennt.‹ Mutter: ›Vielleicht hat dieser mysteriöse Mensch die Gabe, sich unsichtbar zu machen.‹
Im englischen Original sagt die Mutter wörtlich: »Vielleicht lässt er seinen Anzug von unsichtbaren Webern reparieren.« Dieser Satz klingt natürlich sehr merkwürdig, selbst wenn man bedenkt, dass ihn der höchst irrationale Charakter der Mutter ausspricht. (Aber in diesem so klar gezeichneten, ödipalen Verhältnis wird
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ja mit dem Verlust einer Vaterfigur jedwedes Zugeständnis an das Realitätsprinzip von Anfang an ausgeschlossen.) Aber was Clara Thornhill wohl bemerkt, ist die unsichtbare Macht, die den Stoff aus dem die Gesellschaft besteht, immer wieder ausbessert und zusammenflickt. In der filmischen Erzählung erfahren wir später, dass diese Macht eine Spionageabteilung der US-Regierung ist, die Thornhill schließlich hilft, seine gesellschaftliche Rolle wieder einzunehmen. Das Konstrukt ›George Kaplan‹ – den wir nun, genauso wie Thornhill verdächtigen, dass er nicht aufzufinden sein wird – wird also hier durch den dunklen Anzug bezeichnet, dessen anonyme und gewöhnliche Kleidersprache jegliche Identifikation mit einer möglichen parole verbietet. Szene 3b Thornhill nimmt den gereinigten Anzug vom Bügel und zieht sich das Jackett über. Schlecht geschnitten ist es für ihn an den Schultern zu weit und an den Ärmeln viel zu kurz. Betroffen von der Beleidigung seiner Sensibilität und seines Stils, ruckt er mit den Schultern und schaut anklagend auf die Manschette seines linken Hemdsärmels. Mutter: ›Ich hab’ Dir immer gesagt, Du hast zu lange Arme.‹
Szene 3c Thornhill nimmt das Hosenpaar und hält es vor seinen Körper. Am Bund ist sie zu weit und der traditionelle Zuschnitt zeigt schlecht gefertigte Hosenaufschläge im Vergleich zu seinen eigenen Hosenbeinen, die sich elegant auf die polierten Oberfläche seiner Schuhe herablassen. Mutter [voller Ironie]: ›Es geht doch nichts über Maßarbeit.‹ Thornhill: ›Offensichtlich glauben diese Burschen, ich bin ein viel kleinerer Mann.‹
Die parole von Thornhill/Grant kann nicht so einfach in die Gesamtmenge der langue vereinnahmt werden, obwohl ja seine Arbeit als Werbefachmann ihn bisher gelehrt hat, beständig neue Wörter und Sätze zu erfinden, um die immerselbe Form von Waren auf neue, modische Arten anzupreisen – also um immer wieder neue Oberflächen für alte Objekte zu finden. Die Kleideroberfläche von Kaplans Anzug ist nicht speziell genug für unseren Helden. Was noch schlimmer ist, der Anzug ist unbefriedigend klein. Und man muss nicht einmal um Hitchcocks oben erwähnte Vorliebe für Küchenpsychoanalyse und die Popularisierung Freudscher Ideen zu wissen, um die zu kurzen Ärmel und Hosenbeine als das zu lesen, was sie ganz offensichtlich sein sollen: die Unterlegenheit einiger männlicher Glieder anderen gegenüber.
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Die ironische Lobpreisung der zu kurz geratenen Hosenbeine durch die Mutter zeigt, wie stark die ödipale Aufsicht über den Helden bezeichnet ist. Die normative langue wird der individuellen parole vorgezogen. Selbst wenn die erstere unpassend kurz geraten ist, wird sie von dem sozialen und mütterlichen Urteil bestätigt, eben gerade weil sie impotent erscheint, also weit weniger beunruhigend oder verdächtig.26 Szene 4 (Zweiter Tag, Abend; das Schlafwagenabteil des ›Twentieth Century Ltd.‹-Zuges von New York nach Chicago) Nachdem er noch den angeblichen Mörder seiner Sammlung von Rollen hinzugefügt hat, wird Thornhill nun auf den Schnellzug von New York nach Chicago verfolgt, in dem er auf offensichtlich unwahrscheinliche Weise von der Industriedesignerin Eve Kendall (Eva Marie Saint) aufgenommen wird, die Thornhill im oberen Bett ihres Schlafwagenabteils verbirgt. Nachdem die erste, unmittelbare Gefahr vorübergegangen ist, wird Thornhill aus seinem Versteck befreit. Auf dem heruntergelassenen Bett zieht Thornhill eine zerbrochene Sonnenbrille aus der Brusttasche seines Anzuges, welcher trotz der beengten Verhältnisse abermals unberührt geblieben ist. Die Begegnung mit Eve hat wohl eine seiner Oberflächen zerbrochen, die reflektierende, hinter der man sein Gesicht verbergen kann, aber Thornhills eigene Kleideroberfläche ist intakt geblieben. Szene 5 Thornhill: ›Was weißt Du noch von mir?‹ Eve: ›Du verstehst Dich gut anzuziehen und Du verstehst gut zu Essen…‹ Thornhill: ›Und ich verstehe etwas von Frauen, oder bist Du da anderer Meinung?‹ Eve: ›Du verstehst auch sehr geschickt mit Worten umzugehen. Damit hast Du wahrscheinlich Deine größten Erfolge. Du verkaufst den Menschen Dinge die sie nicht brauchen…‹
In der Vielzahl seiner verschiedenen Rollen als Werbefachmann, Mann von Welt, treusorgender Sohn, vorgeblicher Geheimagent seiner Regierung, des Mordes Verdächtigter und nun geschickter Liebhaber, werden die Wünsche und Gefahren im kulturellen Diskurs der fünfziger Jahren in den USA auf die Oberfläche von Thornhill/Grant projiziert. Es scheint keinen Konflikt zu geben zwischen den
26 | Vgl. Bellours ›psychoanalytische‹ Lesart des Anzuges in dieser und der späteren Hotelszene mit Thornhill und Eve in Chicago – wobei er wohlmöglich in die von Hitchcock und Lehman gestellte Falle einer allzu naheliegender Deutung tappt; Bellour, Raymond: »Le Blocage symbolique«, in: Communications 23 (»Psychanalyse et cinéma«), 1975, S. 255.
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maßgeschneiderten Kleidern und der individuellen Rolle, die auf jede Situation in der Verfolgung zugeschneidert ist.27 Die drei linguistischen Verschiebungen (›shifters‹), die Barthes in der Übertragung von Kleidung zu Sprache beschrieben hat, zeigen sich auch in Thornhills Rolle: das ›Reale‹ verschiebt sich zum ›Bild‹ hin; das ›Reale‹ verschiebt sich ebenfalls zur ›Sprache‹ hin, das heißt es wird beschrieben; und zum Dritten verschiebt sich das ›Bild‹ auch zur Sprache‹.28 Und diese linguistischen Prozesse sind ebenso in der Geschichte des Helden von Der unsichtbare Dritte lesbar, trotz dessen so vielzähliger Rollen.29 Anstelle von Thornhill oder Grant (ein objektives oder unvoreingenommenes ›Reales‹ im Kontext Hollywoods ist immer schwer zu erkennen), bekommen wir es mit einem makellosen Anzug zu tun, der scheinbar unzerstörbar ist. Dieses ›Bild‹ des Anzugs wird im Film beständig thematisiert. Es wird nicht nur verfolgt, zerknüllt oder zerdrückt, sondern in der bildlichen Sprache wie auch im Dialog des Films andauernd bemerkt und besprochen. Als Thornhill den Zug mit Eve verlässt, zeigt er sich (nur für einen sehr kurzen Zeitpunkt) in einer erneuten Verkleidung, die er dem Gepäckträger abgekauft hat. Während er neben und hinter seiner Begleiterin geht, sorgt sich Thornhill um das ›Bild‹ und/oder den wirklichen Zustand seines Anzuges. Szene 6 (Dritter Tag, neun Uhr Morgens; auf dem Bahnsteig im Chicagoer Hauptbahnhof) Thornhill: ›In welchem von den beiden [Koffern] ist mein Anzug?‹ Eve: ›In dem kleinem, den Du unter Deinem Arm trägst.‹ Thornhill: ›Ah danke; es geht doch nichts über eine gute Kleiderpflege.‹ Eve: ›Ich glaube nicht, dass Herr Kaplan etwas gegen ein paar Knitterfalten hat.‹
27 | Nochmals Hartman: ›Der Film ist fast zu heilsam. Ohne jedes Trauma lernt es Thornhill wachsam zu werden. Die Psyche spielt keine Rolle. Oder zumindest nicht die einer perversen Leere, stets vor dem Blick der Anderen zu fliehen und auf der Hut zu sein.‹ Hartmann, Geoffrey H.: »Plenty of Nothing: Hitchcock’s North by Northwest«, in: The Yale Review, vol.71, no.1 (Herbst 1981), S. 23. 28 | Vgl. Barthes, R.: Die Sprache der Mode, Frankfurt a.M. 1985, S. 16/17. 29 | Ein weniger strukturalistische Lesart des ›Bildes‹ kommt von Jameson: ›Der Hauptteil des Films kann als Suche oder als Ver-Suchung gesehen werden, als Feuertaufe, Kampf dem Widersacher, Erfahrung des Betruges, als Handlung nicht mit Bildern sondern in Bildern…‹ Jameson, Fredric: »Spatial Systems in North by Northwest«, in: Zizek, Slavoj (Hg.), Everything You Always Wanted to Know About Lacan (But Were Afraid to Ask Alfred Hitchcock), London 1992, S. 48.
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Das ›Bild‹ verschiebt sich zur ›Sprache‹, als er sich um die perfekte Oberfläche seines Anzuges sorgt. Ganz abgesehen von der wirklichen Gefahr in der Thornhill sich befindet, von Spionen, Kriminalbeamten und Polizisten verfolgt, und ebenso von Eve, von der er ja nicht weiß, dass sie mit Vandamm und Leonard gemeinsames Sache macht, ist es ihm zuvorderst um die Knitterfalten in seinem Anzug zu tun, die es nicht geben darf. Aber man muss hier wohl auch Verständnis für Thornhill auf bringen. Außer dem Anzug ist ihm ja nichts geblieben. Er wurde im Laufe des Geschichte mehr und mehr seiner bürgerlichen Identität entkleidet, und seine Legitimation die er aus Eleganz und Stilsicherheit bezieht, hängt nun ausschließlich von dem Fortbestand seiner Kleidung ab. Eves Antwort auf dieses ontologische Dilemma scheint ein wenig achtlos. In der Tat, warum würden George Kaplan ein paar Knitterfalten im Anzug etwas ausmachen?! Was sie angeht, weiß sie ja um die Unmöglichkeit eines Treffens zwischen Kaplan und Thornhill, während Letzterer eigentlich aus dem schlecht geschnittenen Anzugs Kaplans (ganz abgesehen von dessen Haarausfall) schließen müsste, dass es nicht um den Zustand der äußeren Erscheinung geht, sondern zuallererst darum, nicht erkannt zu werden. Nochmals zieht sich Thornhill das stilistische Motiv des hellgrauen Wollstoffes an, der genau so sauber und frisch erscheint wie in der allerersten Szene, wie auch das frisch gebügelte Hemd und die makellose Krawatte. So vage wie seine Rolle auch definiert sein mag, seine Verfolger sollten jetzt zumindest die Kleideroberfläche Thornhills als wichtigsten Anhaltspunkt erkannt haben; trotzdem ist es genau dieser bekannte Signifikant, den Thornhill zu der versprochenen Verabredung mit Kaplan auf den Feldern außerhalb Chicagos trägt. Szene 7 (Dritter Tag, früher Nachmittag; Bushaltestelle ›Prärie Stop‹ auf der Autostraße 41 im Bundesstaat Illinois) Thornhill steht entfremdet in seinem modischen Anzug zwischen weiten, kargen Feldern. Er wartet im Wind und Staub der vorbeifahrenden Autos auf seine Begegnung mit Kaplan. Er vollführt eine Reihe einstudierter Bewegungen, die seine Erwartung anzeigen sollen. Hände werden in Jacketttaschen gesteckt, Manschetten zurechtgezogen, der Sitz des Jacketts wird überprüft und dann schließlich aufgeknöpft. Gerade zur rechten Zeit, denn ein Doppeldecker (›komisch…, dass der Pilot sein Pulver verspritzt, wo schon abgeerntet ist‹) stößt auf ihn herab und beginnt ihn
Der Kalte Krieg im Anzug: Cary Grants Kleidung in Alfred Hitchcocks Der unsichtbare Dritte
zu beschießen. Thornhill verdankt es einigen beeindruckenden Spurts, dem Abtauchen in ein Feld und einem klug gewählten Fluchtweg unter einen Lastwagen, der dann von dem Doppeldecker gerammt wird, dass er diesem bisher brutalsten Anschlag auf seine Rolle entkommt. Der absurde Maßstab dieser Verfolgung – warum einen Mann mit einem Flugzeug über ein Feld jagen, wenn man ihn doch ebenso einfach in ein Hotelzimmer in Chicago locken könnte, um ihn fertig zu machen?! – scheint nun die Entwürdigung des Helden zu vervollständigen. Seine elegante parole wurde nun der mörderischen (wenn auch filmisch dramatisierten) Wirklichkeit unterworfen, und zum ersten Male in diesem Film wird eine existentielle Leere um die Rolle, wenn nicht sogar in der Rolle, sichtbar. Schließlich kehrt Thornhill nach Chicago zurück, um Kaplan zu finden. In Eves Hotelzimmer wird er sich ihres Betruges bewusst.30 Szene 8 (Dritter Tag, Abend; Zimmer 463 des Ambassador East Hotels in Chicago) Obwohl er mit Flecken von weißem und sandfarbenem Staub bedeckt ist, was der Concierge mit Missfallen bemerkt, ist Thornhills Äußeres auf wundersame Weise unberührt. Wieder zeigen sich dem Betrachter keine Risse im Stoff oder aufgeplatzten Nähte, die Bügelfalten sind scharf, der Kragen und die Schultern des Jacketts sind nicht zerknittert, störrisch bleibt das Hemd frisch gebügelt, und die Krawatte sitzt perfekt. Wieder berühren die Auswirkungen einer existenziellen Gefahr nur die Oberfläche; der eigentliche Anzug als Signifikant ist absolut intakt. Doch zeigt sich hier zum ersten Male ein innerer Konflikt oder ein Drama; nicht genug um das Zeichen Thornhill/Grant zu verändern, aber doch lesbar in der verbildlichten Sprache in der er sich mit Eves Charakter austauscht: Eve: ›Ich möchte, dass Du mich verlässt, und zwar sofort. Bleibe bei den Menschen Deiner Sphäre und komm‹ nie wieder in meine Nähe… […] Also bitte, geh’! Viel Glück!… Keine weiteren Erklärungen – geh’ nur einfach!‹ Thornhill: ›Du meinst sofort?!‹ Eve: ›Ja.‹ Thornhill: ›Und das ohne Kommentar?‹ Eve: ›Ja.‹ Thornhill: ›Nein, das kann ich nicht machen.‹ Eve: ›Bitte…!‹ Thornhill: ›Nach dem Essen…‹ Eve: ›Nein jetzt!‹ 30 | Lehman konnte es sich nicht verkneifen, diesen Sündenfall durch den Vornamen der Protagonistin anzukündigen.
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Ulrich Lehmann Thornhill: ›Nach dem Essen. Fair ist fair.‹ Eve: ›Na schön… Aber eine Bedingung stell’ ich: dass Du zuerst den Hoteldiener Deinen etwas mitgenommenen Anzug ausbürsten lässt. So wie Du aussiehst, kann ich leider nicht mit Dir Essen gehen.‹ Thornhill: ›In Ordnung.‹
Was zuerst als floskelhafte Metapher für das bürgerliche Reinheitsbedürfnis gelten mag31, scheint darauf hinzuweisen, dass ein dreckiger Thornhill kein Thornhill im eigentlichen Sinne mehr ist. Seine Identität besteht so auf dem Kleider›Bild‹, dass jede Imperfektion es sofort auf die Ebene des ›Realen‹ verschiebt. Szene 8b Thornhill sitzt auf Eves Bett, in identischer Positur wie in der Bar am Anfang der Geschichte. Er telefoniert mit dem Hoteldiener während er versucht, den Notizblock mit Eves Schrift zu entziffern, um ihre wahre Identität und Absichten zu erraten. Thornhill: ›Sagen Sie, wie schnell können Sie einen Anzug reinigen und bügeln?‹ - …Thornhill: ›Zwanzig Minuten?!‹ - …Thornhill [zu Eve gewandt, die sich im Badezimmer befindet]: ›Siehst Du; es klappt.‹ Eve: ›Lass’ nichts in den Taschen.‹ Thornhill entleert folgsam seinen Anzug – immer noch voller kleinerer Banknoten und persönlicher Habe.
Szene 8c Thornhill [tritt hinter Eve]: ›Was kann ein Mann zwanzig Minuten ohne seine Kleider unternehmen? Könnte es nicht eine Stunde dauern…‹ Eve [zieht ihm das Jackett aus]: ›Man kann zum Beispiel eine schöne kalte Dusche nehmen.‹ Thornhill: ›Das ist eine Idee… – Als ich noch ein kleiner Junge war, erlaubte ich nicht ’mal meiner Mutter, mich auszuziehen.‹ Eve: ›Du bist inzwischen gewachsen.‹ Thornhill [in Hemdsärmeln]: ›Ja…‹
Solch ein Dialog ist ein beständiger Teil von Hitchcocks filmischen Vokabulars. Um das Tempo der Handlung zu verschleppen oder den Spannungsbogen einer 31 | Im Original befindet Eve: ›Du gehörst in die Lagerhallen [stockyards], so wie Du aussiehst.‹
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Kriminalgeschichte zu entlasten, wird ein ›ironischer‹ Wortwechsel in die Geschichte eingebaut. Hier erfreuen sich der Regisseur und der Verfasser des Drehbuchs noch einmal der Referenz zu Freud, der in das amerikanische Bewusstsein der fünfziger Jahre durch die Popularisierung der psychoanalytischen Praxis gedrungen war. Ganz offensichtlich werden die sexuelle Ouvertüre, die darauffolgende Frustrierung, die dann zum Übertrag auf eine ödipalen Abhängigkeit führt, ins Spiel gebracht, um Eves besondere Position vis-à-vis Thornhills zu bezeichnen. Die Tatsache, dass sie aktiv einen Teil des Anzuges ausziehen darf, weißt auf ihr Interesse hin, die Oberfläche Thornhills abzustreifen und zu seiner wirklichen Identität zu gelangen. Ironischer Weise passiert dies genau in jenem Augenblick, in dem Thornhill sich selbst entscheidet, das Doppelspiel als vorgeblicher Geheimagent anzunehmen. Nachdem er Eve beschuldigt hat, ihn nur reizen zu wollen und eine kriminelle Rolle zu spielen, geht Thornhill in das Badezimmer, von wo aus er Eve das letzte Stück seines Anzuges überlässt. Szene 8d Eve: ›Kann ich die Hosen haben?!‹ Thornhill: ›Bin schon dabei. – Hier hast Du sie.‹
Indem sie den Anzug dem Hoteldiener übergibt, hilft Eve unbeabsichtigt Thornhill bei seiner Reife- und Aufnahmeprüfung in das Metier der Spione. Wie auch der fiktive George Kaplan, für den Eve, Vandamm und Leonard Thornhill ja immer noch halten, lässt dieser nun seinen Anzug im Hotel reinigen und auf bügeln, durch unsichtbare Hände und, so scheint es, durch eine fiktive Macht, die alle Rechnungen begleicht. Ohne seinen Anzug, jedoch noch mit Hemd und Krawatte (Freud und sein ungarischer Schüler Stefan Hollós hätten dazu sicher etwas zu sagen gehabt32), absolviert Thornhill seine erste echte Tat als Geheimagent, in dem er Eves Notiz dechiffriert.
32 | Jetzt nun doch Psychoanalyse: vgl. Freud, S.: Die Traumdeutung, Frankfurt a.M. 1991, S. 357; Hollós, Stefan: »Schlangen und Krawattensymbolik«, in: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse 9 (1923), S. 73-74 und Flügel, J. C.: The Psychology of Clothes, London 1930, S. 27.
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Szene 9 (Dritter Tag, Abend; Auktionshaus Shaw & Oppenheim Galleries, 1212 North Michigan Avenue, Chicago) Thornhill, frisch geduscht und in seinem schnell-gereinigten und gebügelten Anzug, betritt das Auktionshaus und geht auf Vandamm zu, der mit Eve und Leonard abseits der Bieter steht. Vandamm hat sich, trotz der späten Stunde, auch einen hellgrauen Anzug mit grauer Krawatte angezogen; trotz der Angleichung an Thornhill ein möglicher faux pas, was die bürgerliche Abendgarderobe angeht. Es ist anzunehmen, dass im Vergleich dazu der Held, der ja seine Kleidung nicht tauschen kann, dem Anlass gemäß in einen dunklen Abendanzug wechseln würde. Der Unterschied in der Kleidung zeigt auch die Differenzierung von parole und langue: Thornhills Maßanzug, der durch den Schnitt der Schulterpartie und dem Revers besticht, gegenüber der Form von Vandamms Anzug, dessen Schultern überschnitten sind und dessen Ärmel zu weit ausfallen. Grau ist hier nicht gleich grau. Der Stoff von Thornhills Kleidung ist merklich individuell, während Vandamm sich bewusst der allgemeinen Kleiderordnung unterwirft, die von den grauen Anzügen der Männer um ihn herum bestimmt wird (einer dieser Männer ist der ›Professor‹, der das Duell der Geheimagenten überwacht). Wie gehabt trägt Leonard seinen steifen dunkelblauen Anzug mit blauer Krawatte, der auf Taille und eng an den Schultern geschnitten ist – somit leicht an ein feminines Kostüm erinnert, unter dem er natürlich seine Pistole trägt. In einem bewussten filmischen Zitat zurück auf die ›screwball comedies‹ der vierziger Jahre macht sich Thornhill in der Auktion lauthals lächerlich, um von der Polizei in Gewahrsam genommen zu werden. In der nachfolgenden Rauferei wird der Anzug wieder einmal zerknittert. Szene 10 (Dritter Tag, Nacht; Flughafen von Chicago) Thornhill trifft nun endlich auf den ›Professor‹ (der von Leo G. Carroll gespielt wird) und spricht mit ihm über die Ereignisse der zurückliegenden Tage. Er erfährt von einer ausgeklügelten Spionageaffäre mit Bluff und Gegenbluff, und hört, dass trotz der im New Yorker Hotelzimmer diskutierten langue des aufgefundenen Anzuges George Kaplan gar nicht existiert.
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Thornhill: ›Wieso gibt es George Kaplan nicht? Ich war in seinem Hotelzimmer, ich habe seine Anzüge anprobiert; er hat zu kurze Ärmel und einen starken Haarausfall.‹ Der Professor: ›Glauben Sie mir doch endlich, Herr Thornhill. Er existiert nicht. – Das ist auch der Grund, warum wir Sie bitten müssen, Ihr Gastspiel als George Kaplan um vierundzwanzig Stunden zu verlängern.‹ 33
Die kontrollierende Instantiierung der Regierungsabteilung scheint auch Thornhills parole zu akzeptieren, die, obwohl abweichend von der Sozialnorm die sie ja aufrecht erhalten soll, nun zu einer Form von langue geworden ist. Also zu einem Wertmaßstab, einem Zeichen der Gemeinschaft mit der er sich mehr und mehr zu identifizieren beginnt. In dem er nun in die Gruppe der Männer in grauen (Flanell)Anzügen aufgenommen wird, die alle für das Gemeinwohl arbeiten sollen und deren Streben auf genormte materielle Ziele hin ausgerichtet ist – was der urbane und zynische Werbefachmann vielleicht nur symbolisch getan hatte – beginnt Thornhills Anzug seine Bedeutung als parole einzubüssen und somit auch die tragende Rolle in der Geschichte zu verlieren. Szene 11 (Vierter Tag, Morgens; Selbstbedienungsrestaurant gegenüber dem Mount Rushmore nahe Rapid City, South Dakota) Thornhill trifft sich mit Vandamm, der sich nun für Kleidung im absurden Landhausstil entschieden hat; in einem graumelierten Tweedanzug, moosgrüner Weste mit passender Krawatte und dunklem Hut. Er schlägt ihm ein Austauschgeschäft vor, bei dem er Eve gegen den freien Abzug der Spione anbietet. Eve provoziert daraufhin einen öffentlichen Eklat bei dem sie Thornhills Anzug mit zwei Kugeln durchlöchert, um danach schreiend von der Szene zu fliehen. Leonard, professionell argwöhnisch gegenüber den ihm gezeigten Oberflächen, scheint sich von dem falschen Blut auf der Hand des Professors täuschen zu lassen. Schließlich wird Thornhills Körper unter einer passenden grauen Decke zu einer Waldlichtung gebracht, wo Eve schon auf ihn wartet. Trotz dieses direktesten Angriff auf den Anzug, der aus nächster Nähe beschossen wurde, bleibt das Objekt so unberührt wie zuvor. Unversehrt lässt sich der Anzug erneut als irreführende Oberfläche der Geschichte lesen und der Zuschauer nimmt die Platzpatronen als eine weitere ›Realität‹ an, die sich wieder als fiktives Konstrukt entpuppt. In dem darauffolgenden kathartischen Dialog fragt Thornhill Eve ob ihr bisheriges ›Leben so oberflächlich gewesen‹ sei, was diese bejaht, um dann das Ausspionieren von Vandamm für die US-Regierung als das 33 | Ein dialektischer Witz des Drehbuchautors; Spinoza hätte gesagt: ›determinatio est negatio‹. Es gibt keinen Kaplan, aber seine Existenz muss unbedingt bestehen bleiben.
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erste Sinnvolle in ihrem Leben zu bezeichnen. Der Konflikt welcher dem Schauspiel innewohnt, das sowohl Eve als auch Thornhill der Geschichte nach als überlebenswichtig erachten müssen, wird nun hier als gegen die Oberfläche gerichtet gezeigt. Das Nicht-Substantielle der Kleidung, der Sprache, und der synthetischen Kleidersprache wird nun zugunsten einer ideologisch verbrämten Materialität aufgegeben. Der Ernst des Lebens beginnt und die komödiantischen Elemente des Films verschwinden im Weiteren völlig. Wobei allerdings die existierende Struktur, die der Sprache der Regierungsmacht Legitimation verleiht und die auch die Kleidung der Protagonisten mit einer formalen langue umgibt, nicht in Frage gestellt wird. Um eine ontologische oder existentielle Perspektive für die Helden aufzuzeigen, obwohl deren Pflicht der Nation zu helfen im Film nie wirklich ausgesprochen wird34 , bleibt es bei der brachialen Symbolik, den Kampf zwischen feindlichen Gesellschaftsstrukturen auf den Köpfen der historischen US-Präsidenten am Mount Rushmore auszutragen. Leonards verbale Demaskierung Eves im Dialog mit Vandamm auf der Berghöhe wird in diesem Sinne bezeichnend sein. Dort spricht er zum ersten Male konkret von einem ›Drüben‹ – dem geopolitischen Äquivalent von Lacans ›großen Anderen‹/›Herrensignifikant‹ – und beschreibt die vorgebliche Erschießungsmethode der US-Regierung als ›einen alten Gestapo-Trick‹. So bietet sich dem Zuschauer nun eine versteinerte Materialität, die nicht mehr den Schein in der filmischen Erzählung thematisieren kann und wohl auch eine strukturalistische Analyse überflüssig zu machen scheint. Um Thornhill davon abzuhalten Eve in ihrer letzten Rolle beizustehen, lässt der Professor ihn von einem Polizisten k.o. schlagen. Der Moment in dem der Held auf den Kiefernadeln aufschlägt, ist auch der letzte Moment, in dem wir den Anzug vollständig zu Gesicht bekommen.35 Szene 12 (Vierter Tag, Nachmittag; Privatzimmer in einem Krankenhaus) Wir sehen Thornhill zum ersten Male ohne Kleidung, wie er in ein Handtuch gewickelt vor dem Radio auf und ab pirscht. Der Professor schließt die Tür zum Zimmer auf.
34 | Der Professor bemerkt in der Waldszene lediglich: ›Jeder Krieg ist die Hölle, auch wenn es ein kalter ist‹. 35 | Er taucht erst wieder in der vorletzten Einstellung des Films auf – allerdings in reduzierter Form ohne Jackett und Krawatte –, im Bett des Schlafwagenabteils auf dem Weg zurück nach New York.
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Der Professor: ›So, da wären wir.‹ Thornhill: ›Hallo.‹ Der Professor [wirft eine Schachtel auf das Bett auf dem Thornhill sitzt]: ›Hosen, Hemd… [er wedelt mit einer Schuhschachtel] und Schuhe.‹ Thornhill:‹ ›Danke.‹ Der Professor: ›Das dürfte Ihre Bedürfnisse für die nächsten paar Tage befriedigen.‹
Von diesem Moment an und, ironischerweise, in seinem Eingesperrtsein wird Thornhill offiziell zum Geheimagenten befördert. Einige Stunden zuvor hatte er zum ersten Male eine Rolle nicht nur für sich selbst gespielt um Andere seiner Gesellschaftsschicht zu beeindrucken oder ihnen etwas vorzumachen; nun spielt er eine echte Rolle zum Nutzen der ganzen Gesellschaft. Er wurde als Teil der Regierung verpflichtet, und natürlich muss dies durch einen Kleidungswechsel ritualisiert werden. So übergibt ihm der Professor, als Vertreter der Gesellschaft, Sachen aus der populären costume/langue der weißen Mittelklasse: ein weitgeschnittenes, Button Down Hemd im Stil der ›Brooks Brothers‹, eine schiefergraue Bundfaltenhosen, einen schwarzen Ledergürtel und schwarze Penny Loafers. Doch ist diese Kleidung nicht notwendigerweise ›respektabel‹, im Sinne der bürgerlichen Norm. Sie scheint viel zu bequem, zu sehr auf Freizeitgestaltung ausgerichtet. Der Professor bestätigt dies dann auch mit der Aussage über die ›nächsten Tage‹ wobei er auf Thornhills gezwungenen Aufenthalt im Krankenhaus besteht, um Eves Doppelspiel nicht zu verraten. Dennoch verspricht die Kleidung Thornhill jene Sicherheit durch die sozial abgesicherte costume/langue einer East Coast-Elite, die ihm erlaubt aus seiner vormals egoistischen Rolle hinauszutreten – und sich dem Zeichen der eleganten parole/habillement des grauen Maßanzuges zu entkleiden – und, nachdem sein Fluchtversuch aus dem Hospital gelungen ist, ›sein Mädchen‹, die amerikanische Lebensweise und die westliche Zivilisation als Ganzes zu retten. Auf den Köpfen der Präsidenten finden so die Bösewichte ihr Ende und Thornhill und Eve vereinen sich. Hitchcock und Lehman konnten es sich nicht verkneifen, auch die letzte Szene des Films mit jener Brachialsymbolik zu versehen. Der (erste?) Geschlechtsverkehr der Helden als eine in den Tunnel einfahrende Lokomotive wirkt auf fast verschämte Weise komisch, als ob sich Regisseur und Drehbuchautor dem Verständnis der Zuschauer nicht so ganz versichern konnten, zeigt aber wiederum die normative Sprache (des Hetero-Sex’) als zu einem ›Bild‹ verschoben auf. Trotz der innewohnenden Logik des Kleidungswechsels in der filmischen Erzählung gibt es auch pragmatische Gründe für Thornhills neue Tracht. Hitchcock hat selber zu Truffaut gesagt, dass er eine große, weiße Hemdfläche brauchte, um Grant von den anderen Schauspielern während der Weitwinkelaufnahmen und Kamerafahrten auf der dunkel gehaltenen ›Mount Rushmore‹-Szenografie
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abzuheben. In der Tat, wenn man die physische Aktion im dramatischen letzten Teil des Films bedenkt, scheint Freizeitkleidung sinnfälliger zu sein als ein Anzug – obwohl dieser ja keine der vorherigen Aktionen behindert hatte, und dann in reduzierter Form auch den Film beschließt.
S CHLUSSBEMERKUNG Es wäre sehr vereinfacht, wollte man den programmatischen Kleidungswechsel zum Ende des Films hin, von traditionellem Anzug zu Freizeitkleidern, von Savile Row zur East Coast der fünfziger Jahre, oder vom individuellen, maßgefertigtem Anzug zum massenproduziertem Hemd und Beinkleid, als eine modische éducation sentimentale lesen, die den Gesinnungswandel im Helden bekleidet/begleitet. Zugegebener Weise scheint die Geschichte zu suggerieren, dass Thornhill lernt, Verantwortung zu übernehmen und sich zu tiefergehenden menschlichen, vielleicht sogar gesellschaftlichen Verhältnissen zu bekennen, um sodann seinen Pflichten als altruistischer und engagierter Bürger nachzukommen. Aber ist dies nicht wiederum nur eine absichtliche Oberfläche? Kann diese klischéhafte Charakterisierung wirklich etwas von der wahren Rolle Thornhills zu erkennen geben, deren bloße Zeichen das Produkt des Films so außerordentlich bestimmen? Als kulturelle Ware muss eine Hollywood-Produktion natürlich auf einer Moral bestehen und Hitchcock hat solche Enden auch in all seinen Filmgeschichten verwirklicht. Jedoch zeigt die Betonung auf den Anzug, der sich durch den ganzen Film Der unsichtbare Dritte zieht, eine parole, die so gewollt und in fast zynischer Weise oberflächlich wirkt, dass das Interesse am Schein viel stärker wird, als die Entwicklung eines psychologischen Rollenspiels für den Hauptdarsteller. Die Materialität liegt hier nicht in einem ideologischen Konstrukt, sondern in den Objekten, die eigentlich Produkte dieser Ideologie sein sollten, aber eben die Ideologie dialektisch erst durch ihre Verschiebung zur Bildsprache hin vorgeben. Die Verwendung von Barthes’ Lesart der Kleidung auf die Erscheinung Thornhills/Grants in Der unsichtbare Dritte scheint mir schlüssig, weil es hier um Warenobjekte geht, welche die Charaktere umgeben und ausstatten. Eines dieser Warenobjekte entwickelt sich analog zum Konstituenten der (Bilder-)Sprache; nicht um Metaphern oder Symbolik zu bedeuten – letztlich handelt es sich ja nur um einen modischen Anzug –, sondern um als fester Bestandteil der Geschichte zu gelten, als eine zeichenhafte Leitfigur die einen thematischen Zusammenhalt schafft. Oberflächlich betrachtet – und diese Exposition ist wie gesagt die Wichtigste hier – erscheint die Jagd auf den Geheimagenten so als die sich schnell entwickelnde Fiktion eines zentrales Kleidungsmotivs, und die Sprache der Filmerzählung befindet sich wirklich und beständig im Anzug.
Die Sprache der Mode am Beispiel von Verbergen und Entblößen Petra Leutner
Wenn man die Mode als ein Medium betrachtet, so geraten ihre potentiell zeichenhaften Momente in den Blick. Kleid und Körper sowie ihre Beziehung zueinander sind für das Funktionieren von Mode entscheidend. Kleider bedecken den Körper und sie entblößen ihn zugleich, indem sie frei bleibende Stellen hervorheben. In den Codes einer Sprache der Mode müssen diese Aspekte folglich repräsentiert sein. Der Gegensatz von Zeigen und Verbergen bildet eine wesentliche ästhetische Artikulationsform der Mode. Dem Körper kommt die Position des zu zeigenden und zugleich des zu verdeckenden zu; er wird durch entsprechende Operationen als Modekörper hervorgebracht. Insofern generieren die signifikanten Oppositionen von Entblößen und Verbergen (auch bekannt in der Sonderform des Kaschierens) spezifische Artikulationsformen der Mode.1 Farben, Schnitte, Faltungen, Drapierungen, Knöpfe, Reißverschlüsse oder Nähte können dieser Sprache als Zeichen einverleibt werden. Sie wird von DesignerInnen vor allem in der Modezeichnung zunächst im Hinblick auf einen virtuellen Körper formuliert und muss dabei doch immer auch auf reale Körper ausgerichtet bleiben. Eine wichtige Basis für die Funktionsweise der modischen Artikulation jener Opposition bildet die Logik des Kleidens und Entkleidens und somit auch die in unserer Kultur übliche lagenförmige Schichtung von Kleidern übereinander. Unterwäsche, Unterröcke, Strümpfe oder Strumpfhosen werden direkt am Körper getragen und konstituieren die unteren Schichten; darüber befinden sich weitere, übereinander angeordnete Lagen. Sie folgen ihrerseits einer Ordnung von Intimität und Verdeckung versus Offenheit und Sichtbarkeit, indem sie als umso intimer gelten, je näher sie am Körper anliegen. Entblößung kann deshalb auch heißen, eine tiefer liegende Schicht von Textilien darzubieten und möglicherweise ein Spiel von Intimität und Exhibitionismus zu initiieren, ohne überhaupt nack-
1 | Vgl. auch Apel, Friedmar: Angezogen – Ausgezogen. Bilder und Texte zum inszenierten Leben, Berlin 1984, S. 12f.
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te Haut zu zeigen.2 Bluse, Weste, Jackett, Hose und Rock sowie der Mantel beispielsweise müssen so gefertigt sein, dass sie offen dargeboten werden können, im Gegensatz zu Kleidungsstücken der ›unteren Lagen‹, die im größeren sozialen Kontext nicht sichtbar sind und in der Logik des Intimen durch ihre Körpernähe durchaus auch als signifikante Fetische verehrt werden können. Zudem gibt es dann wiederum Moden wie den Lingerie-Look, der bewusst die äußere Schicht als innere verkleidet, oder den Lagen-Look, der das untere zum Vorschein kommen lässt und verschiedene Schichten gleichzeitig ausstellt. Schließlich kann man durch einen besonderen Schnitt oder durch enge Kleidung sogar auch bedeckte Körperteile hervorheben. Der nackten Haut kommt trotz solcher Inszenierungen eine herausgehobene Rolle zu, denn in jeder Kultur gibt es körperliche Tabuzonen, welche das Zeigen einzelner Körperteile teilweise oder ganz verbieten und variierende Schamgefühle auslösen.3
N ACK THEIT UND E NTBLÖSSUNG Karl Kraus schrieb in seinem Essay über die Erotik der Kleidung, Nacktheit erscheine immer schon als Entblößung, so sehr sei unsere Kultur an das Tragen von Kleidern gewöhnt. Erotik sei insofern zunächst eine Sache der Kleider: »Wir wissen kaum, wie sehr unsere ganze Erotik eine Erotik der Kleidung ist. Selbst unsere Vorstellung der Nacktheit ist noch unlöslich mit der Vorstellung der Kleidung verbunden. Wir empfinden das Bekleidetsein als den natürlichen Zustand und das Nackte ist für uns in erster Linie das Entkleidete und erscheint uns als Blöße, als Nudität.« 4
Der bedeckte Körper gilt für Kraus folglich als der ›Normalfall‹, und durch geschickte Anordnungen der Kleider wird Erotik überhaupt erst konstituiert. Die soziale Norm des bekleideten Körpers brächte so die Nacktheit nachträglich als eine mit Scham behaftete Form der Entblößung hervor. Auch andere Theoretiker argumentieren in
2 | Der Akt des An- und Ausziehens wird inzwischen bekanntlich auch als performatives Element im Rahmen von Fashionshows genutzt, z.B. von Victor und Rolf in der Show der Kollektion ›Diva‹ von 1999/2000 oder in Hussein Chalayans After Words, 2000/2001; im Werk des österreichischen Künstlers Erwin Wurm wiederum finden sich mehrere Performances zum Thema Anziehen/Ausziehen, vgl. auch Loschek, Ingrid: Wann ist Mode? Strukturen, Strategien und Innovationen, Berlin 2007, S. 56ff. 3 | Vgl. Flügel, J.C.: Psychologie der Kleidung, in: Bovenschen, Silvia (Hg.): Die Listen der Mode, Frankfurt a.M. 1986, S. 208-263, hier S. 244f. 4 | Kraus, Karl: Die Erotik der Kleidung (Die Fackel. Wien 12.März 1906, VII. Jahr, Nr. 198, S. 11-17); verfügbar über: www.modetheorie.de/fileadmin/Texte/k/Kraus_Erotik_der__ Kleidung_1906__70_KB_.pdf (31.03.2015), S. 1-7, hier S. 3.
Die Sprache der Mode am Beispiel von Verbergen und Entblößen
dieser Weise, bekannt ist die Auseinandersetzung J. C. Flügels mit der Wechselwirkung von Scham und Exhibitionismus im Kontext von Körper und Kleid.5 Der Philosoph Giorgio Agamben beschäftigt sich ebenfalls mit dem Thema des nackten Körpers, wobei er verschiedene Formen der Nacktheit unterscheidet und diese theologisch begründet.6 Seiner Meinung nach wird die Nacktheit vor dem Sündenfall aus der Perspektive danach sichtbar als eine Nacktheit, die keine Entblößung war – sie war vielmehr ein »Gnadenkleid« (Agamben), eine Nacktheit, die eine ganz andere ist als die spätere, weil sie nicht als Mangel wahrgenommen wird. Diese Nacktheit liegt gleichsam diesseits der Erfahrung von Entblößung. Die sekundäre Nacktheit nach dem Sündenfall ist dagegen mit Blöße, Scham und Schuld verbunden, aber bekanntlich auch mit der Möglichkeit von Erkenntnis. Man darf Agamben folglich so verstehen, dass weder die nackte Haut als »Gnadenkleid« noch die Nacktheit nach dem Sündenfall in erster Linie mit Erotik assoziiert werden kann. Ihre Unterscheidung entspricht vielmehr einer die christliche Kultur prägenden, tief verwurzelten religiösen Sicht auf die Dinge, und sie ermöglicht erst eine auf ihrer Basis gewachsene Entfaltung der Vorstellung von Erotik, die mit den entsprechenden Tabus der sekundären Nacktheit spielt. Interessanterweise bezieht sich Agamben an späterer Stelle auf eine berühmte Fotoserie von Helmut Newton, deren Deutung nun die Inszenierung und Fortführung der Nacktheiten im Bereich der Mode in ein ganz neues Licht rückt.7 Die beiden Bilder sind erstmals 1981 in der französischen »Vogue« erschienen und wurden inzwischen bekannt unter dem Titel »Sie kommen« (Abb. 1).8 Newton lässt die Models in dem Diptychon in identischen Mode-Posen auftreten, auf dem ersten Foto nackt, nur mit Schuhen bekleidet, auf dem zweiten vollständig angekleidet. Die auf dem ersten Foto vorgeführte Anordnung und Szene der nackten Körperlichkeit unterscheidet sich für die BetrachterInnen überhaupt nicht von der zweiten mit den angezogenen Models. Man nimmt die Nacktheit des ersten Bildes nicht als Entblößung wahr, denn die jeweils gleiche Indifferenz der Blicke und der professionellen Körperhaltung der Models, seien sie angezogen oder nackt, erwecken nicht den Eindruck der Möglichkeit von Verborgenheit, Scham oder Begehren. Agamben schreibt: »Es ist, als ob die nackte Körperlichkeit und die gefallene Natur, die als theologische Voraussetzungen des Kleides dienten, beide eliminiert worden wären und es deshalb nichts mehr gibt, was entblößt 5 | Vgl. Flügel J. C. wie Anm. 3: Psychologie der Kleidung, S. 213. 6 | Vgl. Agamben, Giorgio: Nacktheiten, Frankfurt a.M. 2010, S. 97ff. 7 | Vgl. Agamben: Nacktheiten, S. 130ff. 8 | Ein Abdruck der Seiten aus der Vogue findet sich in: June Newton, Walter Keller (Hg.): Helmut Newton: Pages from the Glossies. Facsimiles 1956-1998, Zürich, Berlin, New York: Scalo 1998, S. 430f. Der Fotograf Daniel Josefsohn hat ein ironisches Remake des ersten Bildes mit dem Titel ›Lieber Helmut, lieber George, ich wollte auch mal mit der Eisenbahn spielen‹ (2008) gemacht, auf dem die nackten Models Science-Fiction-Masken tragen, vgl. www.interview.de/daniel-josefsohn/ (31.03.2015).
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werden könnte.«9 Damit ist eine neue Stufe der Inszenierung von Nacktheit und Kleid entstanden. Agamben fährt fort: »Es gibt nur noch das Kleid der Mode, das heißt, ein unauflösbares Gewebe aus Fleisch und Stoff, Natur und Gnade. Die Mode ist der profane Erbe der Theologie des Kleides, die marktgängige Säkularisierung des paradiesischen Zustands vor dem Fall.«10
Abbildung 1: Hanieh Sabokbar, Pergament Leder Ensemble mit Spitze, Rosshaar und Bergkristall Bestickungen, Parchement Leather Outfit with Lace, Horsehair and Moun-tain Crystall Embroidery, Collection Persistence 2014, Foto: Patrick Schwab. Quelle: Hanieh Sabokbar, Foto: Patrick Schwab 2014. Agambens Beobachtung besteht folglich darin, der Mode die Einheit von Fleisch und Stoff zu attestieren, die der Situation des Gnadenkleids vor dem Sündenfall ähnelt, denn Nacktheit als Entblößung gäbe es genau genommen in der ästhetisch avancierten Mode überhaupt nicht mehr. Auch wenn Fleisch sichtbar würde, handelte es sich um gestaltete Haut. Haut wäre dann gleichsam ihrerseits nur noch eine Schicht der übereinander liegenden Ebenen der Gestaltung. Auch ›des Kaisers neues Kleid‹ aus der Novelle von Hans Christian Andersen verstünde 9 | Agamben, Giorgio: Nacktheiten, Frankfurt a.M. 2010, S. 132. 10 | Ebd.
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man aus dieser Perspektive selbstverständlich als ein Kleid, es könnte im Sinne Agambens als Paradefall des säkularisierten Gnadenkleids gelten, sofern es von einem Designer stammte. Hier muss man bedenken, dass Agambens Argumentation dadurch gestützt wird, dass die Mode heute eine eigenständige ästhetische Logik besitzt. Sie ist kein untergeordnetes Instrument von erotischen oder anderen praktischen Funktionen, sondern inszeniert sich auf dem Schauplatz des Körpers mit eigener ästhetischer und der Neuheit verpflichteter Sprache als performative Setzung. Dies funktioniert insbesondere im Rahmen eines fortgeschrittenen Modesystems, in dessen Herausbildung sich die Mode als ästhetisches Medium autonomisiert hat. Sie vermag insofern andere Blickweisen zunächst zu suspendieren, seien sie ökonomischer, verführerischer oder sonstiger Natur.11 Nur wenn man diese Voraussetzungen ernst nimmt, kann man die Mode als ein avanciertes gesellschaftliches Mdium begreifen, und Agambens Auffassung der modischen Nacktheit als ›Gnadenkleid‹ ist vor diesem Hintergrund besonders einleuchtend. Als anders geartete Formen von nackter Körperinszenierung kann man einige Beispiele ästhetischer Wirkung männlicher Körper interpretieren, die der Kunsthistoriker Horst Bredekamp erwähnt. Es geht dabei zum einen um die Nacktheit bei der Veranstaltung der historisch frühesten Fußballspiele, bei denen adlige Jünglinge sich auszogen, um Sport zu treiben.12 Eine solche, vermeintlich unschuldige, positiv besetzte Nacktheit im Rahmen männlicher Leibesübungen wird seit der Antike in verschiedenem Kontext aus unterschiedlichen Motiven beschworen. Man kann die von Bredekamp angeführten Beispiele nun vor dem Hintergrund von Agambens verlorenem Gnadenkleid als Versuche nachträglicher Unschuldsinszenierung interpretieren. Bredekamp stellt zum anderen eine weitere Form männlicher Nacktheit vor, die nun allerdings als Form der Entblößung zu deuten ist und zur alltäglichen politischen Machtinszenierung genutzt wird, nämlich das strategische Zeigen von Muskeln etwa am entblößten Oberkörper eines Herrschers.13 So gibt es eine Tradition der männlichen Herrscherdarstellung beim Schwimmen, und entsprechend lässt sich beispielsweise der russische Präsident Putin gerne mit nacktem Oberkörper fotografieren, um durch das Präsentieren der realen körperlichen Muskeln seine Macht symbolisch zu untermauern. Nacktheit und Bedeckung, Fleisch und Kleid in der Mode konstituieren dagegen ein autonomes ästhetisches Feld, das allerdings selbstverständlich kulturelle, politische oder religiöse Codes berücksichtigen muss. Es genügt schon, dass 11 | Vgl. Petra Leutner: Anerkennungspraktiken von Mode und Kunst (7 Seiten); in: kunst texte.de, Kunst-Design-Themenheft 2: Kunst und Mode, hg. von Jain, Gora 2011, www. kunsttexte.de (31.03.2015). 12 | Vgl. Bredekamp, Horst: Florentiner Fußball: Die Renaissance der Spiele, Berlin 2006, S. 93ff. 13 | Vgl. Bredekamp, Horst: Der schwimmende Souverän, Berlin 2014, S. 15ff.
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ein Designer wie John Galliano in seinem persönlichen Verhalten die Codes politischer Korrektheit verletzt, um sich als Modemacher vorläufig zu diskreditieren, aber noch unhaltbarer wäre es, verfemte Symbole in der Mode direkt einzusetzen. Die Autonomie der Mode hat Grenzen wie die Autonomie der Kunst. Allerdings können gerade bewusst vorgeführte Formen oder Insignien der Nacktheit auch als gesellschaftlich wirksame Provokationen in Kunst und Mode treffend eingesetzt werden, wie wir an späterer Stelle sehen werden. Der Blick von DesignerInnen ist ein Blick, der die Opposition von Verbergen und Zeigen also zunächst neutralisiert und dem erotischen Kontext entzieht. Der kanadisch-taiwanesische Designer Jason Wu, der seit Frühjahr 2013 für die Firma Boss arbeitet, zeigte in einem Interview mit der Zeitschrift »Vogue« eine konkrete Variante dieser Opposition auf. Die Interviewerin stellte fest: »Ihre erste Boss-Kollektion mit ihren tiefen Falten war fast ein Statement zur Transparenzdebatte«, worauf er antwortete: »Und davon wird es noch mehr geben. In der Mode geht es um das, was man nicht sieht. Darin liegt das Mysterium.« 14 Die angestrebte ästhetische Wirkung entsteht für diesen Designer also tatsächlich nicht in einer – erwartbaren – Entblößung, sondern in der Verbergung oder gar, wie im Falle der Falten, höchstens in einer textilen Andeutung der Bewegung von Entblößung und Verbergung. Falten sind ein Instrument der Verräumlichung durch das Erzeugen von Höhen und Tiefen sowie von Licht und Schatten, und so schaffen sie regelmäßige, bewegliche, textile Raumminiaturen auf der planen Oberfläche des Körpers. Sie tun so, als versteckten sie etwas in ihren Spitzen und erzeugen ein Geheimnis, obwohl es reiner, leerer Raum ist, den sie luxuriös konfigurieren.15 Man kann die Entgegensetzung von Verdeckung und Entblößung folglich auch mit Mitteln des Textilen simulieren oder durch Symbole andeuten. Ein weiterer Aspekt solcher Inszenierungen können tatsächliche oder vorgetäuschte Öffnungen in den Kleidern sein. Sie werden funktional, aber auch dekorativ eingesetzt. So lassen sich Öffnungen beispielsweise sowohl durch rein ornamentale wie auch durch funktionale Reißverschlüsse als Verschluss oder als ›Versprechen‹ einer Öffnung anbringen. Als eine weitere modische Inszenierungsform der Opposition Entblößen und Verbergen seien die Hauttöne genannt. Die Kleidung verfolgt dabei die Strategie einer Mimikry an die Haut. Ein ironisches Beispiel dazu lieferte Martin Margiela, der die Anwendung von Tromp-l’oeil-Effekten liebt. Er stattete einen hautfarbenen, langärmeligen Bodysuit mit einem schwarzen Bikini-Oberteil-Einsatz aus, so dass von Ferne der Eindruck entstand, die entsprechende Person trage nur einen Büstenhalter. Das Kleidungsstück wurde auch Teil der Kollektion für die Kollaboration von Maison Martin Margiela mit H&M im Jahre 2012. 14 | ›Der Nomade‹, Interview von Ingeborg Harms mit Jason Wu, Vogue 7/2014, S. 192. 15 | Vgl. zum Thema Falten: Lehnert, Gertrud: Mode. Theorie, Geschichte und Ästhetik einer kulturellen Praxis, Bielefeld 2013, S. 72ff.; Leutner, Petra: Faltenwelt. Über Figuren des Textilen bei Marion Poschmann, in: Winkels, Hubert (Hg.): Marion Poschmann trifft Wilhelm Raabe, Frankfurt a.M. 2014, S. 56-81.
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Um an Agambens Analyse anzuschließen: in der Mode wird ein ästhetisches Spiel gespielt, bei dem Fragen der Erotik zunächst ausgesetzt sind. Dies lässt sich auch an der Gestalt der heutigen Models beobachten: Ihr Körper ist zuweilen beinahe androgyn; die Silhouette wirkt zwar nicht geschlechtslos, aber doch tendenziell geschlechtsneutral. Weit entfernt von den divenhaften Inszenierungen auf den Modefotografien der 1950er Jahre wird gerade auf dem Laufsteg jede direkte erotische oder sexuelle Anspielung vermieden, obwohl DesignerInnen ihre Entwürfe durchaus auch als sexy bezeichnen.16 Solche Äußerungen widersprechen jedoch nicht dem Umstand, dass das Spiel mit Erotik selbst bei DesignerInnen wie Donatella Versace oder Jean Paul Gaultier den Gesetzen der Darbietung des säkularisierten, neutralisierten Gnadenkörpers gehorcht, indem sie zunächst einmal den ästhetischen Codes des Mediums Mode folgen, die in jeder Modesaison neu hervorgebracht werden.
W ENN K LEIDER SPRECHEN : LITER ARISCHE B EISPIELE Ein etwas anderes Bild ergibt sich, wenn wir die Mode in pragmatischer Hinsicht untersuchen, zunächst einmal aus der Sicht der Trägerin. Je nach Nutzung des Mediums Mode können die im jeweiligen Kleidungsstück angelegten Bedeutungsnuancen ausbuchstabiert oder zur Geltung gebracht werden, und so kommt auch der entblößte Körper im Sinne von Agambens Nacktheit nach dem Sündenfall zum Tragen. Der individuelle Körper wird inszeniert zum Modekörper und kann zudem bestimmten, praktischen Zwecken unterworfen sein, mit denen bewusst oder unbewusst klare Ziele verfolgt werden. Ob man ›sich selbst ausdrücken‹, seine soziale Stellung markieren oder den Feierabend in bequemer Hauskleidung planen möchte – das Medium Mode steht für unterschiedlichste Botschaften zur Verfügung. Solche Botschaften werden in literarischen Texten gerne ausbuchstabiert, denn Autoren und Autorinnen benutzen das Medium Mode für ihre Kommunikation. In dem Roman »Abseits« schildert die Schriftstellerin Gisela Elsner den tragischen Lebensweg ihrer Hauptfigur Lilo Besslein, deren Ehe nach der Geburt eines Kindes immer problematischer wird.17 Die Handlung des Romans spielt in den 1960er Jahren. Lilo Besslein wird gezeigt bei einem Einkauf, der nicht geplant war, sondern der im Gegenteil stattfand, obwohl sich die Protagonistin vorgenommen hatte, nichts zu kaufen. Sie war schon in verschiedenen Läden, dann in ihrer Lieblingsboutique »Countdown«, danach in der Boutique »Bajazzo«. In diesem Geschäft probiert sie schließlich ein Abendkleid an. Gisela Elsner schreibt:
16 | Vgl. ›Der Nomade‹: Vogue 7/2014, S. 192. 17 | Elsner, Gisela: Abseits, Hamburg 1982.
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Petra Leutner »Dann schlüpfte sie in das schwarze Abendkleid. Es war ein sehr enges, paillettenbesetztes Kleid mit Spaghettiträgern, das vorn und hinten so tief dekolletiert war, dass man darunter keinen Büstenhalter tragen konnte. Extravagant wirkte es allerdings nicht nur durch sein tiefes Dekolleté, sondern auch durch einen seitlichen Schlitz im Rock, der bis zur Schenkelhöhe reichte. [...] Sie fand, dass dieses ungemein tief dekolletierte und zudem schenkelhoch geschlitzte Kleid eigentlich zu extravagant für sie war. [...] Sie sagte sich, dass sie dieses Kleid weder in den konservativen Kreisen, in denen sie bislang verkehrt hatte, noch in den ebenso konservativen Kreisen, in denen ihre Eltern verkehrten, würde tragen können. Allein aus diesem Grund gefiel es ihr immer besser.«18
Für die Protagonistin entwickelt sich das Kleid zu einem Gegenstand, dem überragende Bedeutung zukommt. Das Kleid gerät so in die Position eines überdeterminierten Signifikanten, eines dinglichen Zeichens, das für die Romanhandlung eine tragende Rolle spielt. Ausgelöst wird diese Aufladung durch die Verstrickung in eine Problematik, die sich um das Verhältnis von Entblößung und Verdeckung dreht. Durch das tiefe Dekolleté und den ebenso tiefen Rückenausschnitt erfährt die Trägerin ihren Körper auf neue Weise. Er wird zum Gegenstand intensiver Beobachtung und Erfahrung. Der Büstenhalter muss ausgezogen werden, um eine perfekte Aussage des Kleids zu ermöglichen. Der Körper wird an tabuisierten Stellen gezeigt, ja er wird aus Sicht der Trägerin durch das Kleid als begehrenswerter Körper neu konstruiert. Modekörper und erotischer Körper verschmelzen für die Protagonistin zu einer kaum für möglich gehaltenen, einzigartigen Einheit. Gerade deshalb erscheint ihr dieses Kleid für die bürgerlichen Kreise, in denen sie verkehrt, als unangemessen, unter anderem durch die fast bis zum Beinansatz reichenden Schlitze. Beim Laufen entsteht eine Art dynamische Performance, die die Haut unterhalb des Unterleibs sogar beim Tragen eines eigentlich langen Abendkleids abwechselnd verdeckt und entblößt. Für Beobachter werden die Beine als erotisierte Körperzonen markiert, weil durch die Bewegung der permanente spannungsreiche Wechsel von Zeigen und Verdecken exerziert wird. Die Schlitzung lenkt durch das Changieren von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit die Aufmerksamkeit stärker auf sich als ein kurzer Rock, da ein fetischisierendes, voyeuristisches Moment durch die Darbietung von Segmentierung und Zerstückelung virulent wird. Hinzu kommt, dass die partielle Entblößung kraft unserer kulturellen Prägung besonders erotisierend wirkt. Vor allem aus der Perspektive derer, die ihren Körper zur Schau stellen, spielt dies eine wichtige Rolle, doch auch aus der der BetrachterInnen, wie die Äußerungen von Karl Kraus dokumentieren: »Das Erregende einer Entblößung besteht darin, daß ein Körperteil durch die bekleidete Umgebung isoliert zur Schau gestellt wird. Während die Harmonie des völlig nackten Körpers das Auge zur synthetischen Erfassung eines Organismus zwingt, lenkt der entblößte Körperteil den Blick hypnotisch auf sich und wird zum Träger einer erotischen Idee, zum 18 | Ebd., S. 221.
Die Sprache der Mode am Beispiel von Verbergen und Entblößen Fetisch. [...] Wie das Schamgefühl eine Entblößung stärker empfindet als völlige Nacktheit, so wird auch das direkte erotische Empfinden durch die Blöße ungleich heftiger erregt als durch die Nacktheit.«19
Kraus betont also, dass die teilweise Entblößung den Körper zerstückelt und eine stärkere Wirkung ausübt als vollständige Nacktheit. Sie kann je nach Kontext Scham hervorrufen oder als Erotik erlebt werden, auf jeden Fall bezeichnet sie den Körper auf signifikante Weise. Im Falle Lilo Bessleins entsteht eine KörperKonstruktion, die nun nicht mehr übereinstimmt mit der bisherigen Alltagsidentität der Protagonistin. Das entblößende Kleidungsstück baut der Romanheldin vermeintlich eine Brücke in ein neues, freies Leben, in eine neue Identität, die Sexyness und den Ausbruch aus dem Alltagsjoch der Ehe verspricht. Insofern wird das Kleid zu einem utopischen Topos. Die Protagonistin möchte das Kleid sogar als Gradmesser dafür einsetzen, ob sie beim Tragen mutig genug sein würde, ihren eigenen, neuen Körper anzunehmen, und ob die möglichen, zukünftigen Freunde sich tatsächlich als echte Freunde erwiesen, indem sie diese neue Gestalt akzeptierten. Die Tragik der Romanheldin liegt darin, dass sie dieses Kleid nur einmal tragen wird, nämlich im Moment ihres Todes. So fungiert das Kleid als Emblem einer unmöglichen Verwandlung, einer unerfüllten Sehnsucht. Sie manifestierte sich in den ästhetischen Strategien einer Inszenierung von Entblößung und Verbergung, in dem Wunsch nach Umgestaltung des Körpers und mithin der gesamten Persönlichkeit mit den Mitteln der Mode. Die damit verbundene Artikulation wäre das Vehikel zur Neukonstruktion des eigenen Körpers gewesen. Untersuchen wir eine weitere Situation des aussagekräftigen Einsatzes der Opposition von Verbergen und Enthüllen, indem wir einem exemplarischen Blick des Mannes auf den weiblichen Körper folgen, und zwar im Falle textiler Transparenz. In dem Beispiel geht es weniger um Mode als um eine textile Inszenierung des weiblichen Körpers, die vorgeführt wird in Emile Zolas Roman »Nana«.20 Übergeordnetes Thema ist das bekannte Motiv einer imaginierten, gefährlichen und bedrohlichen Weiblichkeit, die angeblich das Zugrunderichten des Mannes zur Folge hat.21 Diese Bedrohung wird versinnbildlicht in der Darbietung des Körpers der Hauptfigur Nana, die als eine Art Verkörperung der Venus figuriert.
19 | Kraus, Karl: Die Erotik der Kleidung (Die Fackel. Wien 12. März 1906, VII. Jahr, Nr. 198, S. 11-17); verfügbar über: www.modetheorie.de/fileadmin/Texte/k/Kraus_Erotik_ der__Kleidung_1906__70_KB_.pdf, S. 3 (31.03.2015). 20 | Zola, Emile: Nana (1879/80), aus dem Französischen und mit einem Nachwort versehen von Erich Marx, Frankfurt a.M. 1979. 21 | Vgl. zu solchen Phantasmen: Bovenschen, Silvia: Die imaginierter Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen, Frankfurt a.M. 1979.
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Zola schreibt: »Ein Schauer durchrieselte den Saal: Nana war nackt. Nackt mit einer gelassenen Frechheit, der Allgewalt ihres Fleisches sicher. Nichts als ein Gazeschleier umhüllte sie; ihre vollen Schultern, ihr Amazonenbusen, dessen rosige Spitzen aufgerichtet und steif wie Lanzen standen, ihre breiten Hüften, die sich wollüstig hin und her wiegten und ihre strammen blonden Schenkel, kurz ihr ganzer Leib zeichnete sich ab und schimmerte durch das dünne Gewebe wie weißer Schaum. [...] Nanas Geschlecht schlug die Männer mit Wahnsinn und riß unbekannte Abgründe der Gier in ihnen auf.« 22
Nanas durchsichtiger Schleier verwischt die Konturen des Körpers. Die Phantasie erhält dadurch genug Raum, um Begehren sinnlich und geistig zu beflügeln. Der textile Schein erhöht und verstärkt die Nacktheit und erhebt den entblößten Körper mit der nichtigen Umhüllung zur erotischen Gestalt. Das durchsichtige Gewand ermöglicht eine gesteigerte Wahrnehmung der Figur als erotischer Körper; Glanz und Schein erzeugen einen außergewöhnichen Effekt. Auch zur Transparenz äußerte sich Karl Kraus auf interessante Weise, und zwar im Falle von Schleier und Spitze: »Der durchsichtige Stoff – der (z.B. als Schleier) auch praktischen und moralisch-religiösen Zwecken dient – und die Spitze (ursprünglich ein bloßes Luxusprodukt) haben ihre feinste Ausgestaltung und sinnreichste Anwendung erst durch den erfinderischen Geist der Erotik erhalten. Sie verwischen oder verwirren die Konturen des Körpers, um die erotische Phantasie zu ihrer kühneren Nachbildung anzuregen, sie lassen die Nacktheit aus einem zarten Nebel hervorschimmern, um sie dem Verlangen begehrlicher zu machen. Beardsley hüllte die Sünde, die er zeichnete, in durchschimmernde Gewänder.« 23
Transparenz bedeckt, aber entblößt zugleich, Enthüllung und Verbergung bilden in ihr eine widersprüchliche Einheit. Angesichts dieser textilen Inszenierung erinnert Kraus an den Kontext von Sünde. Zola bedient sich einer solchen, unentscheidbaren Darbietung von Bedeckung und gleichzeitiger Nacktheit, um eine gesteigerte erotische Botschaft zu formulieren und um das Begehren auf einem Gipfelpunkt darzustellen. Wir konnten erkennen, wie die Literatur die latenten Botschaften der Mode für ihre eigenen medialen Zwecke nutzt. Mode und Kleidung fungieren als wichtige Signifikanten und liefern Informationen über das Innenleben der literarischen Figuren. Es sei an dieser Stelle nochmals betont, dass das Thema Transparenz auch innerhalb der Mode eine unversiegbare Inspirationsquelle darstellt. Ein Beispiel sind die aus dem Frühjahr/Sommer 2014 stammenden langen, durchsichtigen Stoff bahnen, die die Beine wie zerschnittene Röcke bis zur Wade locker 22 | Zola, Emile (wie Anm. 20): Nana, S. 38. 23 | Kraus (wie Anm. 19): Erotik der Kleidung, S. 7.
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umhüllen. Sie lenken die Aufmerksamkeit auf die teilweise bedeckten Beine, verlängern sie optisch und wirken wie die ornamentale Adaption eines Schleiers, der auf die Beinpartie übertragen wurde. Auch in der Kollektion der Hamburger Nachwuchsdesignerin Hanieh Sabokbar aus dem Jahre 2014 kehren variierende Motive von Transparenz wieder. Der schwebende Charakter der Kollektion verdankt sich in erster Linie durchsichtigen Materialien sowie Schnitten, die viel Haut zeigen. Die Designerin experimentiert dabei mit neuen Materialien. Sie nutzt Pergamentleder für ein transparentes Oberteil; ein Rock wiederum besteht aus perforiertem Stoff mit Applikationen (Abb. 1). Eine Bluse aus leicht durchscheinendem Seidencrèpe ist zudem komplett rückenfrei geschnitten (Abb. 2).
Abbildung 2: Hanieh Sabokbar, Rückenfreie Crepe de Chine Bluse, Backless Crepe de Chine Blousse, Collection Persistence 2014, Foto: Patrick Schwab. Quelle: Hanieh Sabokbar, Foto: Patrick Schwab 2014. Ein ganz anderes, alltägliches Beispiel für Transparenz bietet der Seidenstrumpf, der seit jeher Haut unter einer durchsichtigen Hülle sichtbar macht. In diesem Fall kommt nun nicht die schwebende Umhüllung zu Geltung, sondern die eng anliegende Bedeckung, so dass die Konturen der Körperteile, hier des Beins, durch eine Art zweite Haut noch deutlicher hervortreten.
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R EFLE XION DER S E XUALITÄT : P ROVOK ATIONEN Interessanterweise wird gerade die Strategie der Entblößung, da sie Tabus bricht, gern kritisch in provozierenden Gesten vorgeführt, zudem macht man sich durch Übertreibung über die unausgesprochene Erotisierung der Gesellschaft lustig. Einige Beispiele seien genannt. Der belgische Modedesigner Walter van Beirendonck verfremdete in seiner Kollektion »Sexclown« (Sommer 2008) den Penis/Phallus zu einer riesigen, tierartigen Skulptur, die entblößt auf dem Kopf getragen wird. Entblößung, Zerstückelung und Vergrößerung machen hier die fetischisierte phallische Sexualität lächerlich, indem sie ihre verborgene Logik ans Licht bringen. Und in der Kollektion mit dem Titel »Finally Chesthair«, die schon 1997 entstanden ist, ließ er die Abbildungen männlicher Brusthaare auf die Brustseite von T-Shirts aufdrucken. Die Provokation der Punks wiederum lag darin, ihre Kleider zu zerreißen und das Fleisch beliebig zu entblößen, um Blicke auf die Haut freizugeben. Zuweilen wurden auch Bilder von nackten Körpern auf den Kleidungsstücken angebracht, um provozierende pornographische Elemente einzusetzen, wie das Sweatshirt aus der Kollektion »Let it Rock« (1971) der englischen Modedesignerin Vivienne Westwood dokumentiert. Westwood arbeitet mit gesäumten Rissen, Reißverschlüssen und aufgenähten Fotos, wobei eines eine barbusige Blondine zeigt (Abb. 3). Die Sexualisierung des weiblichen Körpers der westlichen Kultur wurde auch durch die Silhouetten der japanischen Mode, die in den 1980er Jahren nach Europa kamen, in Frage gestellt. Neu waren Löcher und Durchblicke in den Entwürfen von Rei Kawakubo und Yohji Yamamoto, die den weiblichen Körper dekonstruierten, indem sie Durchblicke an unerwarteten Stellen schafften oder Röcke und Kleider beliebig perforierten. Die dadurch entstehende, graduelle Entsexualisierung wurde als Befreiung der Frauen vom erotischen Diktat des männlichen Blicks aufgefasst, denn die Körper wurden nicht mehr nach den im Westen üblichen sexuellen Koordinaten konstruiert.24 In der Kunst machte die österreichische Performance-Künstlerin Valie Export mit der Aktion »Genitalpanik« schon 1969 auf die fetischisierende, pornographische Besetzung weiblicher Körperteile aufmerksam. Sie ließ sich sitzend fotografieren in einer Blue Jeans, die exakt die Bedeckung des Genitalbereichs aussparte. Ab 1997 zeigte die Künstlerin Alba d’Urbano in verschiedenen Installationen mehrfach ihre Kollektion: »Il sarto immortale«, in der sie Fotos von ihrem eigenen, nackten Körper in Originalgröße auf Kleider drucken ließ. Wenn die Models diese Kleider trugen, waren sie damit angezogen und erschienen doch zugleich entblößt.25 24 | Vgl. Vinken, Barbara: The Empire Strikes Back, in: Akiko Fukai u.a. (Hg.): Future Beauty. 30 Jahre Mode aus Japan, München/London/New York 2011, S. 27-39, hier: S. 35. 25 | Vgl. zu Beirendoncks Finally Chesthair und zu Alba d’Urbanos Il Sarto immortale auch: Lehnert, Gertrud: Das vergängliche Kleid, in: Dressed! Art en Vogue, Kunstforum International Nr. 197, 2009, S. 266-284, hier S. 272f. und S. 278f.
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Abbildung 3: Vivienne Westwood: Let It Rock, 1971, Shirt mit Applikationen, eingearbeiteten Rissen, Löchern und Reißverschlüssen. Quelle: Claire Wilcox: Vivienne Westwood, übers. von Uta Goridis, Berlin: Nicolai 2004, S. 39, Foto: o.A.
K OMPLE XE M IT TEILUNGEN VON K LEIDUNG UND M ODE Wir haben nun mehrere Arten einer textilen Darbietung der Opposition Verbergung und Entblößung gesehen, die als Elemente einer Sprache von Kleidung und Mode zu verstehen sind. Sie begegneten einerseits im ästhetischen Kontext der Mode, die mit Agamben als neue Form eines ›Gnadenkleids‹ interpretiert wurde, andererseits in pragmatischen Zusammenhängen von Kleidern, wo erotische Inszenierungen als Spiel mit Entblößung zur Geltung kommen, wie sie exemplarisch in literarischen Texten im Sinne einer Indienstnahme textiler Zeichenhaftigkeit geschildert werden. Folgende Arten der Inszenierung konnten wir unterscheiden: 1. die Verräumlichung durch Falten oder Drapage, bei der eine geheimnisvolle Tiefendimension auf der Oberfläche des Körpers entsteht, sowie im Gegensatz dazu die am Körper anliegende Enge (hier geht es jeweils um Andeutungen der Entblößung), 2. Öffnungen der textilen Hüllen, die fiktiv und ornamental, aber auch real und funktional sein können, wie Öffnungen mit Reißverschlüssen oder Knöpfen, aber auch Ausschnitte oder Schlitze, die entblößen und mit einer Fixierung der Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Körperpartie einhergehen, 3. den Einsatz von
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Hauttönen, die das eigentlich verdeckte farblich nachahmen, wobei auch Fotos von nackter Haut auf Kleidern sich solcher Mimikry bedienen, 4. Transparenz, die die Einbildungskraft anregt und die Steigerung des Physischen mit sich bringt. Damit sind exemplarische Artikulationsmöglichkeiten der Opposition von Verbergen und Entblößen benannt – wobei die Aufzählung durchaus fortgesetzt werden könnte. Sie kommen in der Mode im Sinne der Manifestation des säkularisierten Gnadenkleids in Form von ästhetischen Strategien ebenso vor wie als Elemente der erotischen Besetzung der Opposition von Kleid und Körper in der pragmatischen Sicht der Beobachter oder der Trägerinnen. Alle diese Strategien können selbstverständlich aus parodistischen oder provokativen Motiven heraus übertrieben oder travestiert werden. Wenn das Zusammenwirken von Fleisch und Kleid in der Mode auf der Folie von Agambens Vorstellung vom säkularisierten Gnadenkleid gedeutet wird, so wird es hier auch verstanden als Ästhetisierung und partielle Aussetzung anderer pragmatischer Sichtweisen, um eine Art ›Zweckmäßigkeit ohne Zweck‹ zu erreichen, wie man mit Immanuel Kant sagen könnte. Je ausgeprägter sich das Modesystem als autonom in Analogie zur Kunst konstituieren will, desto näher liegt eine solche Deutung. Die Opposition von Verbergung und Entblößung wäre damit im Medium der Mode zunächst den Effekten der Erotisierung entzogen. Sie werden erst virulent in der Praxis bestimmter Zwecke und pragmatischer Kontexte, in denen die Mode weitere Botschaften übermittelt. Inwiefern können wir nun von einer Sprache der Mode mit dem Element von Entblößung und Verbergung sprechen? Was wird artikuliert? Zunächst handelt es sich um eine Hervorbringung des Modekörpers im Sinne der Artikulation von Schönheit und Neuheit versus Nicht-Schönheit und ›Out-sein‹. Erotische und sexuelle Motive klingen an als eine Art Ferndiskurs, und wenn sie tatsächlich virulent werden, können wir von Zeichen der Verführung oder der Fetischisierung sprechen. Natürlich werden solche Zeichen auch durch andere Strategien entstehen, nicht allein durch Verbergung und Entblößung, sondern zum Beispiel ebenso durch sexuelle Symbolik oder besondere Accessoires wie Schmuck. Die Sprache der Mode wird sich auf der Ebene des Modekörpers von diesem erotischen Diskurs nie gänzlich befreien können, sondern ihn nur als partielle Suspension ausblenden, um ihn unter Umständen ebenso bewusst für die eigenen Zwecke zu nutzen.26 Insofern sind die oben angeführten künstlerischen Übertreibungen signifikant, weil sie das verschleierte, von der Gesellschaft tendenziell verleugnete Wirken sexueller und erotischer Sprachen auf den Punkt bringen und Ideologien kenntlich machen. Ziel des Designers oder der Designerin ist wohl eine modischen Sprache, deren Bedeutung ›gegen Null‹ geht, im Sinne eines auf die Mode übertragenen l’art 26 | So verhält es sich auch in der bildenden Kunst, zum Beispiel in der Aktmalerei, die nach ästhetischen Gesichtspunkten bewertet wird, aber dennoch auch mit erotischen Konnotationen spielen kann.
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pour l’art, als couture pure, vergleichbar mit der poésie pure, als verschwenderische Sprache über nichts, die ihre Bedeutungsleere genießt. Doch selbstverständlich erhält die Kleidung gerade dann ihren besonderen Reiz, wenn sie tatsächlich in praktischem Kontext auf einem individuellen Körper getragen wird. Andererseits schließen sich wiederum seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert manche DesignerInnen mit ihren opulenten Kollektionstiteln an die Bedeutungshaltigkeit von bildender Kunst an. In solchen Fällen will die Mode plötzlich doch Aussagen treffen: ein Kollektionstitel wie »Highland Rape« von Alexander McQueen (Herbst/ Winter 1995) oder die Inszenierung einer Kollektion in einem »Chanel-Shoppingcenter« (Herbst/Winter 2014) eröffnet weite Bedeutungshorizonte. Die Sprache der Mode befindet sich folglich in einem mehrfachen Dilemma. Sie changiert zwischen Bedeutungsebenen, die sich durchaus analytisch voneinander trennen lassen, die aber gleichwohl in jedem modischen Statement latent vorhanden bleiben und jeweils in unterschiedlichem Maße aktualisiert und ausbuchstabiert werden. Auch die Opposition von Entblößen und Verbergen entspricht folglich mehrfachen, durchaus widersprüchlichen Codierungen: einer Ästhetik der reinen Verschwendung von Sinn, die die Suspension von jeglicher zielgerichteter Bedeutungshaftigkeit anstrebt, einer mehrdeutigen, unkonventionellen Sprache, die wie die Kunst den Anspruch erhebt, eine Botschaft zu formulieren, und schließlich einer zeichenhaften Aufladung durch pragmatische Kontextualisierungen, die einerseits ausgehen von Medien, die die Modebotschaft für sich in Dienst nehmen, andererseits von Individuen, die der Mode beim Tragen durch ihre einzigartigen Körper und ihre besonderen Motive eine zielgerichtete Artikulation verleihen.
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»Böse« Mode? Visuelle und materielle Kulturen der schwarzen Stile Gothic und Black Metal Birgit Richard
Der Artikel widmet sich einem kleinen Ausschnitt der modischen Jugendkulturen der sogenannten »Schwarzen Stile«1, exemplarisch vorgeführt an ausgewählten Accessoires von schwarzem Schmuck, der Mode ergänzt und visuelle Schwerpunkte setzt.2 Es soll ein kurzer Blick auf die Ästhetik der Gothic-Kultur anhand ihrer Kultgegenstände gerichtet werden, der durch die Ästhetiken der Black-Metal-Kultur ergänzt wird. Sowohl Gothic, als auch Black Metal beziehen sich auf Todesbildmotive, auf Mythen des Bösen, des Satanischen und historischer Kulturen, wie die der Wikinger, von denen z.B. die Axt in die materielle Kultur des Black Metal eingeht. Doch zunächst soll ein Schlaglicht auf die aktuelle Mode bei zeitgenössischen Jugendlichen geworfen werden und auf ihren Zusammenhang mit musikalischen Stilen auf der Grundlage einer Studie zur Jugendkulturen.
1 | Zur Bezeichnung siehe: Richard, Birgit/Grünwald, Jan/Recht, Marcus: Flickernde Jugend –Rauschende Bilder. Netzkulturen im Web 2.0, Frankfurt a.M. 2010; für Gothic, Metal, Punk: Richard, Birgit/Krüger, Heinz-Hermann (Hg.): Inter-cool 3.0. Jugend Bild Medien. München 2010; sowie für Witchhouse: Richard, Birgit/Krüger, Heinz-Hermann/k-haus Wien: Megacool 4.0. Jugend und Kunst, Bielefeld/Berlin 2012. 2 | Die beschriebenen Gegenstände stammen aus dem Archiv der europäischen Jugendkulturen (Privatsammlung Richard, Frankfurt a.M.) www.birgitrichard.de, http://intercool. tumblr.com/archive, www.tedpolhemus.com/main_homepage461.html (31.03.2015).
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M EGACOOL SEIN 2013 : A K TUELLE EUROPÄISCHE J UGENDMODE UND M USIK Für die Megacool 4.0 Studie3 wurden im Anschluss an die intercool 3.0 Jugendstudie von 20104 491 BesucherInnen der Ausstellung Megacool in Wien mittels einer offenen Besucherbefragung interviewt. Ein interessanter Punkt bei der Auswertung war die Korrelation zwischen Musikstil und Mode vor dem Hintergrund, dass vor allem der Anlass bzw. die soziale Situation (Schule, Party etc.) die Kleiderwahl stark beeinflusst. Bei den 13- bis 16-Jährigen beschreibt der Großteil (ca. 75 %) den eigenen Style als normal, modisch, »Jeans und T-Shirt« oder Ähnliches. Dem entspricht ein überwiegend gemäßigter Mainstream Musikgeschmack, der sich aus aktuell bekannten Bands aus Rock und Pop zusammensetzt. Geschlechtsspezifische Variationen zeigen sich z.B. bei Mädchen, die Justin Bieber als Lieblingskünstler angegeben haben und korrespondierend in einem Stil, den sie als »girly« und »etwas sexy« bezeichnen. Sie sind damit klar den modischen Vorstellungen ihrer Alterskohorte angepasst und entsprechen konventionellen Weiblichkeitsbildern. Der modische Stil der 13- bis 16-Jährigen orientiert sich dabei an den großen Textileinzelhandelsunternehmen wie H&M oder New Yorker und auch den Kleidungsstücken, welche die Stars auf Internet-Plattformen wie instagram, youtube oder bekannten styleblogs vorführen. Avantgardistische Modeexperimente sind nicht zu erwarten. Die Devise ist vielmehr: mit dabei sein, aber nicht aus der Reihe tanzen, sich nicht zu sehr exponieren, um nicht den Status der Normalität abgesprochen zu bekommen. Hinzu kommt, dass es in dieser Altersgruppe offensichtlich noch nicht als uncool gilt, sich selbst als Hipster zu bezeichnen: hochmodisch und gleichzeitig in eine Stilrichtung integriert zu sein stellt in dieser Altersphase kein Problem dar. Hingegen ist die Figur des Hipsters bei älteren Befragten durchaus negativ konnotiert. Die modisch homogene Gruppe der Hipster hat nur wenige Überschneidungen im Musikgeschmack, das zeigt, dass sich dieser modische Stil fast komplett von der Musik abgekoppelt hat und in der Mode quer zu allen musikalischen Stilen liegt5 . Die Musikpräferenzen variieren bei den Befragten zwischen Hardcore, Brit-Pop, Alternative und K-Pop bzw. keiner Festlegung. Auffällig ist in den Fragebögen, dass diejenigen, welche sich als Hipster bezeichnen oftmals weiblich sind, obwohl das modische Bild des Hipsters in den Medien als männliche Figur, durch Insignien wie Vollbart oder Moustache, gekennzeichnet ist. Ray-Ban Brillen und Schlumpf-Mützen sind dagegen ein unisex-Merkmal. 3 | Teilauswertung der Studie von Judith Leitermann und Teresa Wenz, Datenerhebung im Sommer 2012: Nina Kleindienst und Hildegard Stephan. 4 | Richard, Birgit/Krüger, Heinz-Hermann/Bogner, Peter/Heidrich, Anna Lena: Megacool 4.0. Jugend und Kunst (Beiträge: Krüger, Heinz-Hermann; Richard, Birgit; Tilgner, Alexander), Bielefeld 2012. 5 | Ebd.
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Auch der Hang zu härteren Musikstilen (Rock 10 %, Metal 9 % und Punk 6 %) drückt sich bei den Befragten, welche diese Stile angegeben haben, in ihrer Kleidung aus. So gibt es Übereinstimmungen bei der Nennung von Punk, Punkrock und Alternative und zu deren Kleidungsstil. Dieser Stil wird zwar nicht näher an Hand von modischen Elementen konkretisiert, jedoch als alternativer Stil bezeichnet. Dieser Alternative-, oder Indie-Stil ist ebenso unbestimmt, wie die Figur des Hipsters und zehrt noch von der subkulturellen Substanz ihrer Gründertage in den 1970er Jahren. Die so bezeichnete Mode oder Musik ist seit langem nicht mehr Independent, sondern Teil des großen Marktes der scheinbaren Abweichungen – ist äußerst schwammig und modisch nicht fassbar. Das ist beim Metal einfacher: Bei den »klassischen« Metal-Fans, insbesondere des Death-, Black- oder auch Symphonic-Metal, sind schwarze Accessoires und Kleidungsstücke durchgehend zu finden. Es gibt aber auch Metal-Fans, die ihren Style freier bezeichnen, z.B. als »antikapitalista«, »freakig/crazy« oder »diffus alternativ« – wobei hier eine Mischung aus Gothic, Hippie und Punk kreiert wird. Liebhaber weiterer harter Musikstile – Deathcore, Deathgrind und Brutal Underground – drücken ihren Style eher mit Bandshirts und »Merchandise« aus. Auch wenn es aus der Auswertung nicht explizit hervorgeht, so ist doch auch bei Konzerten und im Alltag zu bemerken, dass das Gebot der schwarzen Kleidung teilweise aufgebrochen wird und einzelne, grelle Farben (z.B. bei Tunnels) eingesetzt werden. Obwohl der Anteil der Hiphop-Fans mit 9 % in dieser Altersgruppe sehr hoch ist, wird von diesen eher selten ein entsprechender Stil angegeben. Lediglich ein weiblicher Hiphop-Fan gibt an, Jogging-Hosen und Tanktops oder Printshirts zu tragen.6 Bei den J-Rock und J-Pop-Fans verhält es sich anders; sie orientieren sich auch optisch an »Visual Kei« oder beschreiben ihren Style mit den Worten: »Was andere denken, interessiert mich weniger«. Ähnliche Ergebnisse zeigen die 17- bis 20-Jährigen. Die Bezeichnung als Hipster ist hier ebenfalls noch nicht negativ konnotiert. Allerdings wird hier die »Hipster«-Kennzeichnung durch genauere Modebeschreibungen ergänzt (z.B. »Hemden«, »punkig«, »nerdig« oder mit »Ethno-Einschlag«). Keine andere Gruppe mit optischen Gemeinsamkeiten ist so heterogen im Musikgeschmack wie diese; das zeigt sich in dieser Altersgruppe überdeutlich: das Spektrum reicht von Mittelalter, Jazz, Soul, Rock bis zu Mainstream-Pop (wie Lady Gaga oder Lana del Ray). Die Gruppe der Metal-Fans weist die schon oben benannten Gemeinsamkeiten auf – z.B. die Farbe Schwarz und den Merchandise-Style (vor allem bei den
6 | Vgl. Richard, Birgit u.a. Ergebnis der intercool Studie 2010: HipHop Mode liegt zu sehr über der Normalitätslinie von Mode, es macht die Jugendlichen zu schnell identifizierbar. Richard, Birgit/Krüger, Heinz-Hermann (Hg.): Inter-cool 3.0. Jugend Bild Medien, München 2010.
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«-core«-Fans zudem auch die Punks gehören7). Auch werden Baggy-Hosen, teilweise mit Camouflage-Muster, Band-Shirts, Turnschuhe und Stiefel genannt. Ein weiblicher Deathcore-Fan beschreibt ihren Style als »rockig, glamourös und auch retro«. Auch im Stil des Hiphop-Style gibt es recht klare Vorstellungen, was darunter, sowohl musikalisch als auch optisch, zu verstehen ist: Baggy-Style, knallig bunt, witzige Accessoires bzw. schicke oder hohe Schuhe bei den weiblichen Fans und Baseball-Kappe, Ohrringe, weiße Schuhe zu blauen oder schwarzen Hosen; hier wird größtenteils Wert auf Markenkleidung gelegt. Die J-Rock/-Pop-Fans haben keinen einheitlichen Stil. Mitunter werden aber auch »Cosplay-Kleidung« und »Gothic-Kleidung« angegeben, was dem »Black Lolita-« oder auch »Gothic Lolita-Style«, der in Japan recht verbreitet ist, nahe steht. Ansonsten werden aber auch nicht-musikverwandte Attribute genannt wie Skater-Sachen oder bunte und bequeme Kleidung. Sehr interessant erscheinen die Fans, die »Emo« als Style angeben. Es gilt hier als ein Zeichen von Individualität, dass sich verschiedenster Strömungen bedient wird, um einen persönlichen Stil zu kreieren. Dies legt auch folgende Style-Beschreibung eines Fans nahe: »Rockig bis punkig, individuell mit der Absicht, eine persönliche Aussage zu treffen. [Dazu gehören auch viele] Einzelteile.« Der »Emo«-Stil scheint in dieser Befragung eher visuell eine Rolle zu spielen, als musikalisch. Eine rein weibliche Gruppe, die einen relativ homogenen Stil aufweist, bezeichnet den eigenen Kleidungsstil als Hippie, Ethno, Gipsy bzw. Neo-Hippie. Es gibt musikalisch einige Verwandtschaften zum äußeren Style: spirituelle, schamanische und orientalische Musik, aber auch Ska, Jazz, Elektro, Metal, Minimal, Folk, Indie und Singer & Songwriter werden genannt. Eine 19-Jährige bezeichnet ihren Style als eine Mischung aus Hippie und Eco-Punk, während eine andere ihren Geschmack als »alternativ, naturverbunden und feminin mit vielen langen Kleidern und Röcken« beschreibt. Eine relativ hohe Übereinstimmung gab es auch zwischen Indie-Fans und dem Vintage-Style, der vor allem durch Kleidungsstücke wie Röhrenjeans, Sneakers, Stoffschuhe und Band-Shirts gekennzeichnet ist; eine Person nennt explizit »Converse«-Sneakers als ein Muss. Es wurden auch Attribute wie »merkwürdig«, »retro« und »nerdig« gefunden. In dieser Altersgruppe der 17- bis 20-Jährigen sind zwei Äußerungen besonders gemischt: Die Erste bezeichnet sich als »French-Synthie-Rock-HiphopEmo-Freak« und beschreibt ihren Style als kreativ und künstlerisch. Die Zweite schreibt: »Ich bin mein Stil! Und dazu gehöre ich und alles, was ich tue: MetalHören, Malen, Pop-Hören.« Bei 21- bis 24-Jährigen bezeichnen sich nur noch wenige als Hipster und dann mit dem Zusatz »urban Hipster« mit Vans und Skater-Klamotten oder in Kombina7 | Gemeint sind hier: Hardcore, Metalcore, Deathcore und Hardcore-Punk.
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tion mit dem Bobo-Style8 inklusive Birkenstock, Röhrenjeans und Second-HandKlamotten. Auch ist ein geringer Teil nur über die modischen Merkmale dem Hipstertum zuzurechnen: als Style mit hochgeschnittenen Hosen, Kurzhaarfrisur und Hornbrille. Musikalisch betrachtet geht diese Gruppe eher in die ElektroRichtung; auch Singer & Songwriter und isländische Künstler werden genannt. Im Vergleich zu den vorhergehenden Altersgruppen gibt es hier kaum noch weibliche Metal-Fans. So definiert eine Befragte ihre Präferenz als »brootal-Style«, ordnet sich musikalisch dem Metal und Hardcore zu und definiert ihre modischen Attribute durch Shirts mit Mosh-Motiven, Tanktops oder Shorts. Bei den Hiphop-Fans treten in dieser Altersgruppe klassische Kleidungsstücke, wie Baggie-Pants, weite T-Shirts, Sneakers, Baseball-Caps, Goldketten bis hin zu Second-Hand-Kleidung und bei den weiblichen Fans kurze Röcken, klar hervor. Aber auch das Markenbewusstsein steht hier im Vordergrund des Styles. Die J-Rock/-Pop-Gruppe wird in dieser Altersklasse nur durch einen weiblichen Fan repräsentiert; dieser bezeichnet seinen Style als »niedlich, außergewöhnlich und farblich zusammenpassend«. Interessant erscheinen einige Punk-Fans: hier legen gleich zwei Personen großen Wert auf ökologische, hochwertige Kleidung. Dieses Bewusstsein findet sich ansonsten nur noch bei einem Reggae-Fan wieder, der gerne Pluderhosen und Bio-Baumwolle trägt. Daneben gibt es aber auch eine Punk-Rockerin, die »Strapse, Nieten, Abgetragenes und Selbstgemachtes« trägt, was dem ursprüngliche Punk-Style noch am nächsten kommt. Diese und einer der Eco-Punks hören hauptsächlich Hardcore-Punk. Wie schon zuvor beschrieben, gibt es auch hier die Tendenz, dass Indie-Fans eher zum Vintage- oder Second-Hand-Style neigen. Auch genannt wurden Band-Shirts, Karohemden, Shirts mit »lustigen oder politischen Motiven« und die Marke All Stars. Eine Person trägt »eher« Skater-Klamotten und bezeichnet den eigenen Style als »alternativ«. »Emo«- und Hippie-Styles gibt es in dieser Altersgruppe gar nicht; stattdessen drei Elektro-Rock-Fans, die alle recht individuell erscheinen. Bei einer steht der plötzliche Wechsel der Haarfarben von grün bis weiß im Vordergrund. Eine andere schreibt: »I wear what I like. Sometimes a little Punk«. Dieser lockere Streifzug durch die aktuellen individuellen, jugendlichen- und jungen Erwachsenen-Moden, am Beispiel von Besuchern der Ausstellung »Megacool 4.0: Jugend und Kunst«, bietet den Rahmen für einen fokussierten Blick auf eine bestimmte Motivik in den modischen Accessoires, als unverzichtbare Stilelemente für Punk, Metal, Gothic und Emo.
8 | Bobo steht für bohemien/bourgeois.
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»B ÖSE « M ODE — 1. A K T : D ER TOTENSCHÄDEL ALS M OTIV AUF JUGENDSPE ZIFISCHEN A CCESSOIRE -K ATEGORIEN Unter böser Mode wird hier die pathetische und theatralische Mode der sogenannten schwarzen Stile verstanden. Ein immer wiederkehrendes Motiv findet sich in Todessymbolen wie dem Totenschädel oder den gekreuzten Knochen. In den Jugendkulturen steht dieser generell für eine dynamische Vitalität und exzessiven Lebenswillen mit Tendenzen zur körperlichen Grenzüberschreitung. Generell hat der Todesschmuck in der Mode der Jugendkulturen generell viele verschiedene Bedeutungen und Funktionen: Er kann Dekor und Muster aber auch Auseinandersetzung mit dem Tod sein. Er signalisiert Bedrohlichkeit und ist damit abstandgebietend, er kann auch Teil eines Rollenspiels sein, wie beim Cosplay. Die Symboliken können als Schock und Provokation gemeint sein, was heute jedoch nicht mehr so gut funktioniert und sie können aber auch subkultureller Totentanz und Feiern des Todes sein.9 Jugend- bzw. subkulturelle Ursprünge als Todesbild und Motiv liegen vor allem in den subkulturellen Stilen der 1970er Jahre, wie Punk und Wave. Vorher war der Totenkopf bei Rockern und Rockabillys zu finden. In den 1990er Jahren wurde er zum Teil des schwarzen Schmucks in der Gothic Szene10, die hier insbesondere den direkten Todesbezug schätzt und verschiedene Ästhetisierungen des Todes hervorbringt. Der Totenkopf ist zu dieser Zeit ein gesellschaftlich negativ konnotiertes Motiv; es dient der Distanzierung, der visuellen Aggression und folgt somit dem Konzept des Dread.11 Das Symbol des Totenschädels war schon immer Teil einer schwarzen Symbolik (hierunter werden alle »schwarzen todesaffinen« sub- und jugendkulturellen Stile stark vereinfachend zusammengefasst). Der Schädel ist schon lange nicht mehr nur in den jugendlichen Subkulturen angesiedelt, es ist auch in der zeitgenössischen Kunst zu finden, wie z.B. in Damien Hirsts Kunstwerk »For the Love of God« von 2007, einem diamantenbesetzter Totenschädel. Aber auch im normalen Alltagssortiment der großen Modediscounter findet sich mehr und mehr das einst abschreckende Motiv. Seit 2000 lässt sich ein Transfer des Totenkopfmotivs in Schmuck und Accessoires des Mainstreams feststellen. Das Motiv dient als Visualisierung einer inhärenten Form der Distanzierung und zur Diversifizierung der Symbolik, die innerhalb verschiedener Styles nicht mehr unbedingt den Bezug zu Tod und Horror sucht. Um 2005 findet ein ikonisch-symbolischer Shift aus den subkulturellen Stilen hinaus statt. Die symbolische Kraft des jeweiligen Objekts wird abgeschwächt, die 9 | Vgl. Richard, Birgit/Zybok, Oliver (Hg.): DEAD_Lines. Der Tod in Kunst – Medien – Alltag, Ostfildern 2011. 10 | Richard, Birgit: Todesbilder. Kunst Subkultur Medien, München 1995. 11 | Siehe Hebdige, Dick: Subculture – Die Bedeutung von Stil. In: Diedrich Diederichsen, Dick Hebdige, Olaph-Dante Marx: Schocker – Stile und Moden der Subkulturen, Hamburg 1983 (engl. Original: Hebdige, Dick: Subculture: The Meaning of Style 1979), S. 62.
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damit verbundene rebellische Geste ist zwar noch anwesend, aber dekontextualisiert. Die Totenkopfsymbolik wird seither ständig aktualisiert und in neue Designs verpackt, so ist 2012 und 2013, das übergeordnete Motto, der mexikanische »Day of the Dead«, d.h. seine Form wird durch die dementsprechende verspielte Ornamentik gebildet. Somit wird der Totenkopf ein stilistisches Muster unter vielen, welches aber das Versprechen der (ehemals subkulturellen) Einzigartigkeit impliziert. Dann unterscheidet er sich klar von der Ikonographie der Ursprungssubkultur und lässt durch diese »Authentizitätsbrüche« eine völlig neue, oder teilweise auch sinnbefreite Sicht zu. Es gibt Varianten, bei denen es schwer fällt, zu erkennen, ob das jeweilige Accessoire einem speziellen kleinen subkulturellen Geschäft oder den Regalen der großen Kette New Yorker entstammt. Dies bringt eine neue Sichtweise auf Stilmerkmale von jugendkultureller »Realness« mit sich und soll anhand von konkreten zentralen Beispielen für schwarzen Schmuck, einem Teil der materiellen Kultur der schwarzen Stile, erläutert werden. Der Totenkopf ziert sehr gerne jugendspezifischen Gegenstandsgruppen von Mode12 wie z.B. die Nietenarmbänder; Gothic- und Punk-Armbänder sind meist aus schwarzem Leder und mit silbernen Totenköpfen verziert, sie können auch im Sado/Maso-Stil gehalten sein; dann besitzen sie Ringe zum Einhaken und verweisen beispielsweise auf eine spezifische Richtung der Gothic-Bewegung. Ein großer Totenkopf, Ketten und Ringe sind Dekoration und nicht auf die Funktion der S/M-Praxis festgelegt. Es zeigt sich ein visuelles Spiel mit der sexuellen Abweichung. Es handelt sich um Todessymbole im Schmuck, die auch ein Sound erzeugen: sie klimpern. Eine Sonderform wäre ein Bettelarmband, ein Armband mit verschiedenen modularen Anhängern, JouJou genannt, die als Glücksbringer dienen sollen. Die Grundform des Bettelarmbands kann modifiziert werden, indem Anhänger mit verschiedensten Bezügen angehängt werden. Das Totenkopf-Motiv findet sich hier, einmal mit gekreuzten Knochen und wird kombiniert mit Teilen, die dem Symboluniversum des Gothic zu entstammen scheinen, wie der Spinne. Somit braucht ein Schmuckstück keinen authentischen Szenebezug oder Sinnzusammenhang, um zu gefallen. (Vgl. den Modeschmuck von Thomas Sabo). Der Totenkopf wird neben dem Kreuz zum beliebten Handyschmuck, er ist in modifizierter Form mit Strasssteinen und Perlen Attachment eines technischen Gegenstandes. Die Idee des Handyschmucks kommt aus Japan und konterkariert in Objekt und Motiv die Funktionalität des technischen Geräts. Schädel und Kreuz sind in der Gothic-Szene angesiedelt, die zusätzlichen Materialien wie Perlen und Kunstbrillianten nehmen die abschreckende Wirkung des Symbols: der Tod wird auch für weibliche Mainstream-Trägerinnen akzeptabel. Die düsteren 12 | Im Rahmen des Volkswagenstiftung-Kooperationsforschungsprojekts (Baßler, Drügh, Richard, Ullrich www.konsumaesthetik.de und www.birgitrichard.de) »Konsumästhetik. Formen des Umgangs mit käuflichen Dingen soll ein Inventar der »schwarzen Stile« erstellt werden, also eine spezielle »schwarze Konsumästhetik« charakterisiert werden.
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Konnotationen werden abgemildert. In einem solchen Objekt werden ferner Referenzen zu Schmuckkonzepten anderer Styles sichtbar, wie zum BlingBling des HipHop. Patches als Auf bügelstoffe mit Totenkopf-Motiv Accessoires, sind ihrem ursprünglichen Zweck (nämlich Löcher in Textilien zu überdecken) entwachsen. Das Patch bietet sich zur ästhetischen und subkulturellen Verortung, durch Platzierung von Bild- oder Schrift-Motive besonders gut an. Während Patches aus der alltäglichen Stilwelt Jugendlicher Mitte der 1980er Jahre verschwanden, blieben sie in der Punk- und Metal-Kultur präsent, um dann als Retro-Accessoire, besonders auf Taschen, Kappen und Hüten, re-etabliert zu werden. Ein Skull mit gekreuzten Knochen kann als klassisches Punk-Motiv interpretiert werden – ein Flammender Totenkopf kann einer Rock’n’Roll-Stilistik zugeordnet werden. Ein Totenkopfring mit Lipgloss, als Kiss of Death ist ein besonderes Objekt. Ein Ring aus transparentem Kunststoff als Nachkomme des Memento Mori Rings13, der es in sich hat. Er ist aufklappbar und verweist auch auf Film- und Fernsehbezüge, in denen der Ring beispielsweise mit Gift gefüllt ist. Unter dem aufgedruckten Totenschädel, des analysierten Rings, verbirgt sich ein quasi »mobiles« Lipgloss, das man mit sich herumträgt, immer bereit für den trockenen Lippen-Notfall. Wer in den düsteren Nebeln der schwarzen Wave/Gothic-Szene oder auch in den bunten Clublandschaften unterwegs ist, muss versorgt sein: Pflege und Subkultur schließen sich also nicht aus. Lipgloss entstammt den späten 1970er Jahren, im speziellen der Disco-Szene, wurde in verschiedenen Geschmacksvarianten angeboten und erzeugte glänzende glamouröse Lippen. Lipgloss stand lange nicht mehr im Schwerpunkt des Interesses von Szenegängern bis es vor einigen Jahren, im Zeichen einer düsteren Symbolik, wiederbelebt wurde. Hier hat sich ein MainstreamProdukt eng an die Gothic-Szene angelehnt und wird auch von dieser angenommen. Ein weiteres speziell designtes schwarzes Objekt ist die Haarspange, z.B. der Marke Liquorbrand, die zunächst an eine traditionelle Form des Haarschmucks, als klassisches Accessoire der Körperdekoration, anschließt. Verpackung und Branding sind bei dieser Marke spezifisch auf ein Szenepublikum zugeschnitten. Dieses subkulturelle Produkt ist dem Gothic Lolita-Style oder der Visual KeiKultur zuzuordnen. Beide sind zeitgenössische Abwandlungen gothischer Stile, die eine Kombination von Girlie- und Todesmotiven zeigen; eine andere Marke, welche sich einer Gothic-Version der Haarspange angenommen haben ist »Little Miss Lucifer«. Das Produkt von Liquorbrand lässt sich folgendermaßen beschreiben und weist verschiedene materielle Ebenen auf: Sie ist überzogen mit einem Leopardenmuster-Kunstpelz, darauf befindet sich eine girlie-artige rosa Schleife, darüber als Krönung der silberne Totenkopf. Gothic Lolita bricht die Düsternis des schwarzen Stils zugunsten augenzwinkernder teuflischer Andeutungen in Kombination mit Anleihen aus den japanischen Mangas und Animé. Dieses Accessoire verbindet also diverse subkulturelle Stile und funktioniert auf verschie13 | Verweis auf das 17. Jahrhundert. Vgl. Memento Mori-Schmuck: Aries, Philippe: Geschichte des Todes, München 1977.
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denen Ebenen: das Leopardenmuster ist aus einem weichen fellartigen Material, darüber liegt eine klassisch kindlich und weiblich konnotierte rosa Schleife und darauf, an oberster Position, ein silberner Totenkopf. Die Verpackung, auf der die Spange angebracht ist, verweist, ähnlich wie das Leopardenmuster, weitergehend auf die Rock’n’Roll Ästhetik: Hier sind Flammen, Sterne und Tätowiermaschinen abgebildet. Es findet die Verniedlichung des Totenkopf-Motivs durch die Schleife, die Farbe rosa und das Girlie-Image mit japanischer Herkunft aus dem Manga und Visual Kei statt. Die Beispiele verdeutlichen die Verbreitung des Totenschädels als Schmuckmotiv und als Bestandteil einer »bösen Mode«. Die historische Karriere des Totenkopfs in Mode und Objektwelt führt vom Memento Mori-Schmuck des 17. Jahrhunderts, als permanente Erinnerung an die Endlichkeit des eigenen Lebens, über die weitestgehende Unsichtbarkeit dieses Motivs im 19. und 20. Jahrhundert (mit Ausnahme der jugendlichen Subkulturen) bis zur Überpräsenz des Totenschädels als Motiv im 21. Jahrhundert in Medien und Mode. Der Totenkopf gehört außerhalb von Kunst und Kunstgewerbe zur ästhetischen Geste der Abstand gebietenden Drohung14 und der visuellen Aggression in Subkulturen, wie z.B. im Punk und Wave der 1970er Jahre. Vorher war die Symbolik bei Rockern und im Hardrock zu finden. Ihre Verwendung impliziert immer eine Abweichung von einer allgemeinen westlichen Schmucksymbolik und signalisiert meist »männliche« bedrohliche Einzigartigkeit. Auch der deutsche zeitgenössische HipHop mit Rappern wie Sido nutzt den Totenkopf in diesem Sinne zur aggressiven Abgrenzung. In dem Moment, wo sich die schwarze Szene die Mainstream-Produkte als für sie billige Konsumangebote wieder ein- und anverleibt, ist die symbolische Hochspannung als Hinweis auf die Vergänglichkeit alles Irdischen im Sinne eines »memento mori« und der Huldigung der dunklen Macht des Todes wiederhergestellt und zugleich aktualisiert. Damit befinden sich Todes-Mode und Schmuck in ständiger Bewegung: zunächst von der (christlich-)historischen und rituellen Alltagskultur in die Jugendkultur (subkulturelle Strategie der Enteignung). Es gibt aber eine Simultaneität der verschiedenen Bedeutungen, die subversive Kraft des Totenkopfs schwindet somit nicht mit ihrer Verbreitung, da die noch existierenden Subkulturen wie z.B. Gothic und Black Metal den symbolischen Kern bewahren.
14 | Siehe zum Konzept des »dread« bei: Hebdige, Dick: Subculture – Die Bedeutung von Stil. In: Diederichsen, Diedrich/Hebdige, Dick/Marx, Olaph-Dante: Schocker – Stile und Moden der Subkulturen, Hamburg 1983 (engl. Original: Hebdige, Dick: Subculture: The Meaning of Style 1979), S. 62.
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Der schwarze Stil Black Metal ist eine extreme Spielart des Heavy Metal. Black Metal-Musiker präsentieren in Musik, Kleidung und Haltung, den Versuch sich abweichend zu inszenieren, indem sie Motive des Bösen und des Unheimlichen ästhetisieren. Die Selbstdarstellung von Black Metal-Musikern wird von Moynihan und Soderlind (1998) als Reaktion auf den Kleidungsstil der Death Metal-Szene gesehen, bei dem sich die Musiker nicht vom »normalen« Metal-Fan unterscheiden. Death Metal Musiker zeigen sich bei Konzerten, auf Fotos und in Musikvideos in Jeans, Jogginghose mit Sweatshirt oder einem T-Shirt mit Band-Logo. Im Black Metal hingegen, führt der Weg zurück zu Inszenierungen von Metal-Bands wie beispielsweise W.A.S.P., die in den 1980er Jahren durch Fantasy-Outfits und Blut provozieren wollten und zur Ästhetik eines King Diamond, der durch Corpse Paint sein Gesicht zur Totenmaske stilisierte (auch die geschminkten Gesichter der Hard Rock-Band KISS können einflussreich gewesen sein). Das Make-up des Corpse Paint ist hierbei ein wichtiges Erkennungsmerkmal des Black Metal. Solche vergangenen Szenarien und Outfits werden vom Black Metal adaptiert, aber in einen neuen, komplett ironiefreien Bedeutungszusammenhang gestellt. Es findet eine Vermischung von bewusster Inszenierung und Authentizitätsgebahren statt. Während Authentizität gewöhnlich durch die Verschleierung der Inszenierung entsteht, die dann den Eindruck der Echtheit erwecken soll, wird Authentizität hier durch ein Zusammenspiel von Stilmerkmalen und einer Strategie »des Ernst machens«15 zum Konzept der archaischen Männlichkeit. Die aggressiv anmutende Mode wird zur Manifestation einer Ernsthaftigkeit, die über die ästhetische Inszenierung hinausgehen soll. Kleidung und Habitus dienen im Black Metal, genau wie in anderen Szenen und Alltagskulturen, einer Individualisierung mit gleichzeitigem Wiedererkennungswert – sprich einer individualisierten Uniformierung.16 Der Stil formt sich konkret in der Kleidung folgendermaßen aus: Ähnlich wie in einigen Gothic-Styles, findet sich in der Verwendung von Leder als Hauptmaterial der Bekleidung, der Verweis auf Individualismus und Tradition. Leder ist ein Naturprodukt, gilt als tragbare Trophäe eines Jägers und auch als symbolische Repräsentation von Andersartigkeit (Lederjacken bei Rockern, James Dean). Der ursprüngliche Black Metal-Look – es gibt diverse Variationen dieses Stils – ge15 | Vgl. Richard, Birgit und Grünwald, Jan: Verführer und Zerstörer – Mediale Bilder archaischer Männlichkeit im Black Metal. In: Nohr/Schwaab (Hg.): Metal Matters – Heavy Metal als Kultur und Welt. Münster/Hamburg/Berlin/London 2011 und besonders Grünwald, Jan: Male Spaces – Bildinszenierungen archaischer Männlichkeiten im Black Metal, Frankfurt a.M. 2012. 16 | Vgl. Sammelband Mentges, Gabriele/Richard, Birgit: Schönheit der Uniformität, Frankfurt a.M. 2005.
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staltet sich durchweg schwarz und umfasst enge Lederhosen mit Nietengürteln und Patronengurten und Lederwesten, die oft mit satanischer Symbolik wie Pentagrammen, umgedrehten Kreuzen, Lucifer-Darstellungen, Symbolen der nordischen Mythologie (Thors Hammer) und der Nazizeit (Hakenkreuz, Eisernes Kreuz) verziert sind. Die manchmal bis zu 10 cm übertrieben langen Nieten und Spikes werden an Lederarmbändern bzw. Armstulpen (hier auch Andeutung mittelalterlicher Wehrhaftigkeit) und Stiefeln angebracht und repräsentieren einen »Confrontation Dress«17. Schwarz gefärbte Haare werden, wie im Heavy Metal allgemein, lang getragen und sind Erkennungszeichen für die Teilnahme an dieser Subkultur. Die für Heavy Metal und andere schwarze Szenen, relativ gewöhnlichen Inszenierungsmerkmale, werden durch Ernsthaftigkeits-Signifikanten wie Waffen und Gesichtsbemalung erweitert. Die autonome Stil- und Bildwelt des Black Metal ist auch für Musiker anderer Musikstile reizvoll aufgrund des Versprechens der Teilhabe an der widerständigen und abseitigen Ästhetik und einer archaischen Selbstdarstellung in der dramatischen Form von wilder und unzivilisierter Männlichkeit.18 Ein stilgebendes Merkmal und dominantes Objekt ist die altertümliche Waffe. Die Visualisierung kriegerischer Männlichkeit erfolgt durch das Präsentieren von mittelalterlichen, meist übertrieben übergroßen Waffen wie Schwertern, Streitäxten, seltener mit modernen Schusswaffen. Das Musikinstrument, als Zeichen musikalischer Virtuosität, welches sonst den bevorzugten Präsentationsgegenstand bildet, wird durch ein Zeichen des Kriegerischen ersetzt. Der beschriebene Look kann variiert und erweitert werden, wie es zum Beispiel im Viking-Metal, der mittelalterlich aussehende Kleidungselemente adaptiert und somit geschichtliche Anknüpfungspunkte aufweist, die allerdings fiktional überformt werden. Das Outfit setzt sich aus verschiedenen Komponenten mittelalterlicher Kleidungsformen zusammen, wie dem Umhang, Teilen von Ritterrüstungen, Brustschild und Wikingerhelm. Zur Pose gehören mittelalterliche Waffen wie Schwert, Morgenstern und Axt oder Doppelaxt. Die Haare sind nicht mehr schwarz gefärbt und das Gesicht ist hier ungeschminkt. Die Authentizität der Inszenierung wird durch eine möglichst »realitätsnahe« Interpretation des Wikingerbildes über die aufgeführten Objekte vermittelt. Der heldenhafte Krieger kommt aber aus einer dunklen Vergangenheit und ist bewaffnet.19
17 | Hebdige, Dick: Subculture – Die Bedeutung von Stil. In: Diederichsen, Diedrich/Hebdige, Dick/Marx, Olaph-Dante: Schocker – Stile und Moden der Subkulturen, Hamburg 1983 (engl. Original: Hebdige, Dick: Subculture: The Meaning of Style 1979), S. 107; siehe auch: Cunningham, Patricia/Lab, Anne/Voso, Susan: Dress and popular culture, Bowling Green 1991. 18 | Grünwald, Jan: Male Spaces – Bildinszenierungen archaischer Männlichkeiten im Black Metal, Frankfurt a.M. 2012. 19 | Siehe z.B. die Dokumentation zu »Ein Mann Blackmetal Bands« auf YouTube von noisey: www.youtube.com/watch?v=UQl6PzXU4cQ (31.03.2015).
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Ein wichtiges Objekt des »bösen« Gesamt-Modeensembles ist ein historisch angehauchtes Objekt: die Wikinger Axt, die nun in ihren Kategorien auf der Plattform YouTube und bei flickr kurz nachverfolgt werden soll.20 Der Begriff Axt findet sich bei YouTube generell 46600 mal (abgefragt 10.2.2013, 16:00). Das englische Wort Axe zeigt 462.000 Treffer (abgefragt 10.2.2013, 16:00, fast alle nicht einschlägig). Ergebnisse bringt nur der tag »Viking Axe« mit 2050 hits (abgefragt 10.2.2013, 16:00), z.B. in »epic Battle viking axe und Schwert« oder »wie man eine handelsübliche Axt in eine Wikinger Waffe verwandelt« oder eine »Axt schmiedet«.21 Weniger einschlägige Videos finden ihren Ursprung in der Re-enactment Szene des Mittelalters. Bei der Suche auf Youtube finden sich unter dem Suchbegriff »Black Metal Axe« 2.370 Clips (abgefragt 13.2.2013), die jedoch nicht auf die Axt als Waffe oder Werkzeug verweisen, sondern eine Gitarre beschreiben. Es finden sich Tutorial-Clips, die zeigen, wie man einen bestimmten Black Metal Song auf der Gitarre spielt und Black Metal-Songs, die das Wort »Axe« im Songtitel tragen (z.B. »Unleashed Axe-Age«, »The Axe of Wrath«…). Die meisten Clips jedoch haben keinen Bezug zu Black Metal und noch weniger zur Axt; sie zeigen Gitarristen, deren Gitarre schwarz-metallisch gestyled ist oder Bands deren Namen oder Songtitel ein oder mehrere der Suchbegriffe beinhalten. Zur Suche Black Metal Axe/Axt auf Flickr findet man den Suchbegriff: »Black Metal Axe« nur in der Volltextsuche (d.h. man muss nicht nur die Tags in die Suche miteinbeziehen, sondern auch die Titel der Bilder). Es werden 1264 Bilder (im vgl. zu Tag-Suche: 54 Bilder) am 13. Februar auf flickr gefunden. Unter den 1264 Bildern finden sich nur auf der ersten Seite (unter den ersten 60 Bildern) Bezüge zu Black Metal und Axt (ca. 30 % zeigen ein passendes Motiv). Die Bilder präsentieren entweder nur die Axt, als martialisches Werkzeug, verziert und altertümlich wirkend oder sie zeigen einen Black-Metaller (mit Corpse Paint und Nieten) oder eine andere Person (jedoch mit direktem Bezug zum Black Metal) mit einer ebenfalls altertümlich wirkenden Axt, posierend. Die meisten Bilder bei Flickr beziehen sich auf den Begriff »Axe« als Beschreibung für eine Gitarre. Bei der »Tags Only«-Suche finden sich noch weniger passende Bilder. Von den 54 Bildern weisen nur 5 Bilder Black Metal-Bezüge auf. Unter dem Suchbegriff »Axe« finden sich neben Bildern des Männerdeodorants Axe, viele Bilder von der Axt als Werkzeug, jedoch kaum als Waffe (wie im Black Metal). Wenn man den deutschen Begriff »Axt« anstatt »Axe« verwendet, findet sich nur ein, nicht einschlägiges Bild. Es zeigt sich, dass die Axt zwar ein wichtiger Gegenstand für die Inszenierung von Black Metal darstellt, jedoch nur für die Bands und sonst nicht in den Vordergrund rückt bzw. nicht bewusst benannt oder getagged wird. Bei der Google20 | Zum Verfahren siehe: Richard, Birgit/Grünwald, Jan/Recht, Marcus/Metz, Nina: Flickernde Jugend – Rauschende Bilder. Netzkulturen im Web 2.0, Frankfurt a.M. 2010. 21 | www.youtube.com/watch?v=AJF0sGm4V-A (31.03.2015).
»Böse« Mode? – Visuelle und materielle Kulturen
Bildsuche findet man die klassischen Axt-Fotos der Band Immortal und ein paar andere Bands, die mit Axt und anderen Waffen posieren. Bei der Google-Suche wird vor allem auf die Waffe »Black Metal Axe« aus dem MMORPG Spiel »World of Warcraft« verwiesen. Die Bildersuche zeigt also anhand der historisierenden Gegenstände, dass »böse Mode« eher im Verborgenen stattfindet und nicht Teil der Selbstdarstellung der Black Metalheads als Fans ist. Die Axt dient Bands wie Immortal oder dem Pagan- und Viking Metal als Bezugspunkt zur Historie und Tradition der norwegischen Wikinger: sie hat damit eine Funktion wie ein Requisit auf einem Mittelaltermarkt. »Böse« Mode ist dabei Teil des Inszenierungsprinzips, da die Axt wie eine Theaterwaffe visuell eingesetzt wird. Die Pose des Ernstmachens wird durch die unzeitgemäße Waffe gleichzeitig aufgebrochen. Die Axt wird zur Extension der dramatischen Gesten des bedrohlich inszenierten Körpers. Die »böse« Mode der schwarzen Stile ist damit eine Strategie zur Repräsentation einer auf ungewöhnliche Weise in die materielle Realität umgesetzten Drohung. »Böse« Mode steht also nicht für eine wirkliche aggressive Wehrhaftigkeit der schwarzen Stile, da die gesamten Objekte sowohl des Black Metal-, als auch des Gothic-Stils in der Praxis eher Verletzlichkeit als Kampftüchtigkeit bedeuten.
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Vestimentäre Einschreibungen — Über mediale Verknüpfungen in der Kleidermode Rainer Wenrich »Das Entwerfen von Mode ist in den letzten Jahren verstärkt zu einem Sinn- und Ausdrucksmedium geworden, das jenseits des Modischen zahlreiche Themen, die im aktuellen Kunstdiskurs eine wichtige Rolle spielen, ganz unschuldig reflektiert.«1
P R ÄSENTIEREN , A USSTELLEN UND A NZIEHEN IM S PANNUNGSFELD VON K UNST UND M ODE 2 Das Zitat von Nicolaus Schaff hausen, mittlerweile Direktor der Kunsthalle Wien, machte bereits vor über zehn Jahren deutlich, dass das Entwerfen von Mode über die bloße Gestaltung einer Körperhülle hinausgreift. Naturgemäß liegt die Mode im Interesse der Kunst- und Kostümgeschichte. Seit dem späten 19. Jahrhundert beschäftigt sie darüber hinaus auch Soziologie, Psychologie und Philosophie. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Mode hat ihr Augenmerk seither auf soziale, psychologische und ökonomische Aspekte gerichtet und die ›Sprache der Mode‹3 analysiert. Daraus entstanden lebendige Diskurse zu Körperbild, Schönheitsbegriff und Geschlechterkodierung. Im Zusammenhang mit Gesellschaft, Geschichte und Politik bilden die genannten Kontexte Themenfelder für vielfältige vestimentäre Einschreibungen. Der Vorgang der Einschreibung bedient sich dabei der bildenden und angewand1 | Schafhausen, Nicolaus: Vorwort in: Ausstellungskatalog Bernhard Willhelm, Kraichtal 2004, o.S. 2 | Bei diesem Text handelt es sich um eine überarbeitete und aktualisierte Fassung des Beitrags: Wenrich, Rainer: Exponer y vestir – El campo de tensión entre el arte y la moda (Ausstellen und Anziehen – Über das Spannungsfeld von Kunst und Mode), in: El Barril: Imágenes del Petróleo, Ausstellungskatalog Goethe-Institut Caracas, Caracas 2004, S. 21-23. 3 | Barthes, Roland: Die Sprache der Mode, Frankfurt a.M. 1985.
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ten Kunst als strukturierende Elemente im Zusammenhang mit Entwurf und Umsetzung. Die Einschreibungen rekurrieren auch auf historische und gesellschaftspolitische Gegebenheiten. Modemacher wie Charles James haben schon früh die Potentiale der Architektur für die Konstruktion ihrer Körperhüllen übernommen. 4 Die Einschreibungen von kostümhistorischen Wegmarken, politischen Statements in ihre Kleidungsstücke sind aus dem Schaffen von Vivienne Westwood nicht wegzudenken. Gleichzeitig beeinflussten ihre Stücke im Zusammenhang mit der Verwendung von Materialien aus dem alltäglichen Gebrauch auch die zahllosen Folgeerscheinungen in Form der DIY (do-it-yourself)-Bewegung.5 Bei Yohji Yamamoto und Rei Kawakubo ist die Thematisierung von Zeit ein fester Bestandteil der ästhetischen Erscheinungsform einzelner Stücke. Und wenn Hussein Chalayan Themen wie Heimat und Migration aufgreift, dann handelt es sich um subtile Einschreibungen in die Kleidungsstücke, die das Ergebnis einer langwierigen Recherche und intensiven Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie darstellen. Als Alexander McQueen vor nunmehr 20 Jahren seine Kollektion ›Highland Rape‹ (Herbst/Winter 1995/96)6 präsentierte, wurde sie aufgrund ihres provokativen Titels vielerorts missverstanden. Erst der Blick in die Geschichte der politischen Verhältnisse von England zu Schottland ermöglichte ein Dechiffrieren des von McQueen zugrunde gelegten Konzepts.7 Die ModemacherInnen arbeiten die herausgestellten Einflüsse in ihre Kollektionen ein und transportieren damit Narrative, die weit über bloße Illustrationen hinausgreifen. Sie schaffen mit diesen vestimentären Einschreibungen ikonische Merkmale, die sich in das Bild- und Formgedächtnis der Mode einprägen. Ein weiteres Mal werden die Überlegungen Walter Benjamins bestätigt, mit denen er der Mode die Fähigkeit zu antizipieren und damit gesellschaftliche und politische Strömungen vorwegzunehmen zubilligte.8
4 | Koda, Harold: Architectural Shaping, in: Koda, Harold/Reeder, Jan Glier (Hg.): Charles James. Beyond Fashion, New Haven/London 2014, S. 193. 5 | Bolton, Andrew et al.: Punk. Chaos to Couture, New Haven/London 2013. 6 | Die gesamte Präsentation ist online verfügbar: https://www.youtube.com/watch?v =5Fs2nEKCT1o (31.03.2015). 7 | Alexander McQueens Schaffen ist eng verbunden mit aufwendigen Recherchen für die Konzeption seiner Kollektionen. Darüber hinaus zeigte er aber auch keine Zurückhaltung im Umgang mit den Signaturen seiner Kollegen. Eine Kollektion wie ›The Horn of Plenty‹ (Herbst/Winter 2009) spielt mehrfach u.a. mit dem berühmten Hahnentrittmuster von Christian Dior. 8 | Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk, Erster Band, Frankfurt a.M. 1983, S. 112.
Vestimentäre Einschreibungen — Über mediale Verknüpfungen in der Kleidermode
O FFENHEIT VON M ODE UND K UNST Bevor anhand von Beispielen das Moment der vestimentären Einschreibung ausführlicher dargestellt wird, ist es notwendig, relevante Aspekte des Verhältnisses von Mode und Kunst zu skizzieren. So entsteht eine Grundlage für das Verständnis der komplexen medialen Verknüpfungen, wie wir sie in der zeitgenössischen Kleidermode vorfinden. Seit den frühen 80er Jahren des 20. Jahrhunderts bis hin zu ganz aktuellen Gestaltungen, lassen sich deutliche Ansätze erkennen, die Mode auch als eine visuelle, moderne Kunst zu begreifen, »weil ihre formalen Veränderungen diese Idee des Prozesses aus der Entfernung illustrieren, wie es andere moderne Kunst tut; sie ist immer eine Repräsentation […]«.9 Dies geschieht nicht zuletzt deshalb, da die Mode mindestens seit den letzten einhundert Jahren eine dialogische Beziehung mit der bildenden Kunst führt und Modemacher uno actu das wertvolle Repertoire der bildenden Kunst für die Erweiterung ihres Vokabulars nutzen.10 Die verstärkte Öffnung der Kunst für die Mode vollzieht sich deutlich seit den frühen 80er Jahren des 20. Jahrhunderts mit Publikationen in Kunstmagazinen, Ausstellungen 11 in Museen und Galerien 12 und spektakulären Präsentationen. 9 | Hollander, Anne: Anzug und Eros. Eine moderne Geschichte der Kleidung, München 1997, S. 33. 10 | Vgl. dazu: Townsend, Chris: Rapture. Art´s seduction by Fashion, London 2002. Hallström Bornold, Salka/Nilsson, Lars/Nittve, Lars/Af Petersens, Magnus (Hg.): Fashination, Stockholm 2005. 11 | Bereits in den 1990er Jahren habe ich begonnen, Modeausstellungen zu analysieren: Gegen den Strich (A Contre Courant) – Kleider von Künstlern 1900-1940, Museum Bellerive, Zürich, 30.09.1992–17.01.1993/Musée des arts décoratifs de la Ville de Lausanne, 04.02.1993–08.03.1993; Mode et Art 1960–1990, Société des Expositions du Palais des Beaux Arts, Brüssel, 29.09.1995–07.01.1996, Musée d’art Contemporain de Montréal, 27.09.1996–06.01.1997; Looking at Fashion, Biennale di Firenze, 21.09.1996–15.12.1996; Künstler ziehen an – Avantgardemode in Europa 1910–1939, Museum für Kunst und Kulturgeschichte der Stadt Dortmund, 08.02.–19.04.1998; The Warhol Look – Glamour, Style, Fashion, Barbican Art Gallery London, 28.05.1998–16.08.1998; Addressing the Century – 100 Years of Art and Fashion, Hayward Gallery London, 8.10.1998–11.01.1999, Kunstmuseum Wolfsburg, 06.03.1999–06.06.1999; Believe – Walter van Beirendonck & wild and lethal trash! Boijmans van Beuningen Museum, Rotterdam, 10.09.1998–15.11.1998; Louise Bourgeois. Jenny Holzer. Helmut Lang, Kunsthalle Wien, 09.10.1998–17.01.1999; Issey Miyake & Dai Fujiwara APOC MAKING, Vitra Design Museum Berlin, 01.06.2001–01.07.2001; untragbar – Mode als Skulptur, Museum für angewandte Kunst, Köln, 14.07.2001–06.09.2001. Vgl. hierzu: Orte der Präsentation, in: Wenrich, Rainer: Kunst und Mode im 20. Jahrhundert, Weimar 2003, 141ff. 12 | Vgl. hierzu ausführlich: Clark, Judith/de la Haye, Amy/Horsley, Jeffrey (Hg.): Exhibiting Fashion: Before and after 1971, New Haven/London 2014.
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Ein präganter Ausgangspunkt hierfür ist die Ausgabe der Zeitschrift Artforum vom Februar des Jahres 1982 in der erstmalig die Arbeit eines Kleidermachers auf dem Titelblatt erscheint. Das Cover des Kunstmagazins zeigt Issey Miyakes Rattan Body, ein breitschultriges Oberteil aus Bambus und Rattan. Miyake gelingt es mit diesem Stück den kostümhistorischen und den vestimentären Code an sich gleichermaßen zu dekonstruieren und beide für eine semiotische Analyse in der Kunstwelt bereitzustellen.13 Zu nennen ist auch die Retrospektive des französischen Modemachers Yves Saint Laurent, die im Jahre 1983 in den Räumen des Costume Institute im Metropolitan Museum of Art in New York stattfindet.14 Zahlreiche Präsentationen auf internationaler Ebene, die in der Nachfolge kuratiert wurden, lassen sich durch spezifische Schwerpunktsetzungen charakterisieren. So wurden historische Überblicke aus der Sicht bildender Künstler, welche Kleidungsstücke als Kontrapunktierung gängiger Modevorstellungen entwerfen konzipiert und es wurden Werke bildender Künstler präsentiert, welche in ihrem Werk Kunst und Mode vereinten bzw. Entwicklungen im Bereich der Mode durch ein Verständnis von Kleidung als tragbare Skulptur beeinflussten.15 Schließlich erschien die Darstellung von Kleidermachern, welche immer noch als ›Grenzgänger‹ zwischen Kunst und Mode gelten, wie z.B. Issey Miyake, Rei Kawakubo (Comme des Garçons) und Yohji Yamamoto oder als Konzeptkünstler unter den Modedesignern bezeichnet werden, wie Martin Margiela, Alexander McQueen oder Hussein Chalayan. Seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts lässt vor allem auch die Fotografie u.a. von Wolfgang Tillmans oder Jürgen Teller vor dem Hintergrund der Popkultur einen gestalterischen Kontext entstehen, in welchem sich Kunst und Mode wechselseitig intensiv bereichern. Zahllose Repräsentationen der Arbeit internationaler ModemacherInnen in Art/Fashion-Magazinen, wie z.B. purple16, selfservice17, 032c18 , auf blogs und den digitalen Bildarchiven instagram und tumblr haben in der Zwischenzeit eine enorme Dynamik in der Steigerung des Bekanntheitsgrads von Werk und AutorIn erzeugt. Wie bereits in der Einführung zu dieser Publikation dargestellt, werden die Einzigartigkeit des Kleiderentwurfs und die Momentaufnahme der Präsentation
13 | Holborn, Mark: Issey Miyake, Köln 1995, S. 58. 14 | Diana Vreeland kuratierte im Jahr 1983 die Ausstellung zu dem Werk von Yves SaintLaurent im Costume Institute des Metropolitan Museum of Art in New York. Erstmalig erhielt ein noch lebender Designer eine Einzelausstellung in einem Kunst- und Kulturhistorischen Museum. 15 | Anna, Susanne/Heinzelmann, Markus: untragbar. Mode als Skulptur, Ostfildern-Ruit 2001. 16 | http://purple.fr (31.03.2015). 17 | http://selfservicemagazine.com (31.03.2015). 18 | http://032c.com (31.03.2015).
Vestimentäre Einschreibungen — Über mediale Verknüpfungen in der Kleidermode
einer neuen Kollektion durch die nahezu simultane und vielfache Schau im Internet ihrer »Aura«19 enthoben.
M ODE GEGEN DIE M ODE Das späte 19. Jahrhundert, Ursprungsort der Moderne, generiert ein Verständnis der Mode als flüchtige Erscheinung, als Zeitgeist 20 und Statussymbol. Dies sind die Impulse für die KünstlerInnen der Avantgarde, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit dem Entwerfen von Kleidung zu befassen. Die bildende Kunst beginnt schon früh, sich mit den der Mode impliziten Aspekten auseinanderzusetzen. In vielerlei Hinsicht stellen diese Formen der Gestaltung eine Gegenbewegung zu gängigen ästhetischen Idealen dar dar. Mit ihren Konzeptionen stellen sich ArchitektInnen, DesignerInnen und KünstlerInnen wie Henry van de Velde, Gustav Klimt, Sonia Delaunay, die Wiener Werkstätten, das Bauhaus, die russischen KonstruktivistInnen und VertreterInnen der unterschiedlichen Stilrichtungen wie Kubismus, Futurismus und Surrealismus gegen eine Mode als Instrument der Standesunterschiede, wie es von Georg Simmel so treffend analysiert wurde.21 Ihnen allen dient die Kleidermode dazu, sowohl das Modesystem, als auch die Grenzen der Kunst aufzubrechen und somit als Anti-Mode die Kunst dem Leben anzunähern.22 Aber auch die KleidermacherInnen entwickeln ihre Ideen als Werke der Kunst. Zu berücksichtigen ist dabei, dass die Betrachtung eines Kleidungsstücks als Kunstwerk auch den Blickwinkel hinsichtlich der wirtschaftlichen Dimension des Modesystems miteinbeziehen muss, war doch zumindest die Funktionsfähigkeit des letzteren vor allem in den Prozessen der (saisonalen) Veränderung und dem Ephemeren im Gegensatz einem künstlerischen Ewigkeitsanspruch begründet. In der Zwischenzeit haben sich beide Systeme auch in diesem Punkt wesentlich mehr angenähert.
19 | Der von Walter Benjamin konstatierte Verlust der Aura des Kunstwerks kommt bei diesen Überlegungen unweigerlich zum Tragen. Vgl. dazu: Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit, Frankfurt a.M. 19631, S. 12, 13. 20 | Vgl. hierzu besonders: Vinken, Barbara: Mode nach der Mode. Geist und Kleid am Ende des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1993. Vinken, Barbara: Fashion Zeitgeist. Trends and Cycles in the Fashion System, Oxford/New York 2005. 21 | Vgl. Georg Simmel in: Mattick, Paul: The avant-garde in fashion, in: ders.: Art in its Time. Theories and practices of modern aesthetics, London/New York 2003, S. 164-165. 22 | Stern, Radu: Gegen den Strich. Kleider von Künstlern 1900-1940, Bern 1992. Ders.: Against Fashion. Clothing as Art, 1850-1930, Cambridge MA/London 2004.
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I ST M ODE K UNST ?23 Eine Überlagerung der Gestaltungsformen von Kunst und Mode hält auch in der Zeit nach 1945, durch die Verlagerung der Kunstmetropole von Paris nach New York an. Stilrichtungen wie der Abstrakte Expressionismus avancieren zum szenischen Attribut renommierter Modefotografien wie Cecil Beaton, der das Werk von Jackson Pollock für eine Ausgabe der Vogue im Jahr 1951 einsetzt. Kunst und Mode, Aktion und Leben verschmelzen in der Folgezeit immer deutlicher miteinander. Andy Warhols Beschäftigung als Künstler mit der Modeszenerie im New York der 60er Jahre führen zu einer Amalgamierung unterschiedlichster Gestaltungsmöglichkeiten und zu ständigen Wandlungen seines ganz persönlichen Stils, dem ›Warhol-Look‹, welchen er in seiner ›Factory‹ (196368) immer wieder von neuem erfindet. Warhol entnimmt Teile aus dem Designreservoir berühmter Modemacher wie Yves Saint Laurent, Valentino oder Oscar de la Renta und entwickelt daraus ›Cut-up-Dresses‹, vorher zerschnittene und unterschiedlich zusammengefügte Kleidungsstücke. Das von Andy Warhol 24 im Jahre 1969 erstmals herausgegebene Magazin ›Interview‹25 kann als Pilotprojekt für weitere Kunst und Mode verbindende Zeitschriften, wie die bereits genannten purple26 oder selfservice27 betrachtet werden. Fotografen wie David LaChapelle, Bruce Weber und Ellen von Unwerth begannen in Warhols Kunst- und ModePortfolio ihre bis heute andauernden Karrieren. Ebenso wie sich Yves Saint Laurent in der Mitte der 1960er Jahre aus dem Repertoire der modernen Kunst bedient und mit von Kunstwerken inspirierten Kollektionen Aufsehen erregt, greifen auch VertreterInnen der Aktions- und Konzeptkunst auf die mit reichhaltigen Aspekten bestückte Domäne der Kleidermode und vor allem der darin verwendeten Materialien zurück und nutzen sie als wirksames Instrumentarium ihrer künstlerischen Handlungsstrategien. Joseph Beuys demontiert den Herrenanzug, tradiert als maskuline Statushülle, mit seinem als multiple in einer Auflage von 100 Stück im Jahre 1970 erscheinenden ›Filzanzug‹. Rebecca Horns körperverhaftete Objekte, ihre Performances und auch ihre filmischen Dokumentationen werden durch Kleidungstücke und Körperextensionen akzentuiert. In ihrem ›Strickkleid‹ (1986) verwendet Rosemarie Trockel mit dem Wollsiegel-Logo ein semiotisches ready-made und die BetrachterInnen erkennen darin die Anverwandlungen von Kunst und Mode und den Vorgang der Umkodierungen in ihren jeweiligen Zeichensystemen.28 23 | Vgl. dazu: Geczy, Adam/Karaminas, Vicki (Hg.): Fashion and Art, London/New York 2012. 24 | Zusammen mit dem britischen Journalisten John Wilcock. 25 | www.interviewmagazine.com (31.03.2015). 26 | http://purple.fr (31.03.2015). 27 | http://selfservicemagazine.com (31.03.2015). 28 | Wenrich, Rainer: Kunst und Mode im 20. Jahrhundert, Weimar 2003, S. 102ff.
Vestimentäre Einschreibungen — Über mediale Verknüpfungen in der Kleidermode
E INE M ODE ÜBER DIE M ODE Vor diesem Hintergrund lassen die letzten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts die Grenzen zwischen Kunst und Mode, in der Erscheinung als Kleidungsobjekte, Kunst und Mode-Fotografien und aufwändige Ausstellungen fließend erscheinen. Neben dem japanischen Modemacher Issey Miyake sind es Yohji Yamamoto und Rei Kawakubo mit ihrem Label Comme des Garçons (Wie die Jungs), welche einer konzeptionellen Grundhaltung innerhalb der Verbindung von Kunst und Mode den Weg bereiten. Präsentations- und Verkaufsräume von Rei Kawakubo in der Zusammenarbeit mit Cindy Sherman oder Helmut Lang in Kooperation mit Jenny Holzer machen den Prozess der genannten Anverwandlung von Kunst und Mode und formen den Übergang von einem Verkaufsraum zu einer Galerie als temporäre Installation. Der Warencharakter der Kleidungsstücke tritt zurück zugunsten der Präsentation von auflagenbegrenzten multiples. In einem Projekt mit offenem Ausgang zeigte die Mode Offenheit und Kommunikationsfreiheit, von der die bildende Kunst am Übergang vom 20. Jahrhunderts zum 21. Jahrhundert profitierte. Zu einem Zeitpunkt, an dem Kunst, Mode, Popkultur, Culture- und Gender-Studies einen neuen Themenstrang der Kulturwissenschaften formten, konnten KünstlerInnen wie Wally Salner und Johannes Schweiger zwischen 1998 und 2011 mit ihrem Modelabel »fabrics interseason ®« Irritationen erzeugen und dekonstruierten das Kleidungsstück als Parameter gesellschaftlicher Entwicklungen und »politisch-feministisch konnotierten Bekleidungsstandards«.29 In ihrer Kollektion »(visual noise) FEM« für Frühjahr/ Sommer 2002 wurde die tradierte Laufstegpräsentation und die gängige Ästhetik der Modefotografie aufgebrochen zugunsten der Auseinandersetzung mit einem spezifisch geprägten und gesellschaftlich festgelegten Frauenbild. In Video-Interviews wurde die aktuelle Kollektion vorgestellt. Auch die weiteren Arbeitsergebnisse basierten, zum damaligen Zeitpunkt noch weitgehend untypisch für den Modebetrieb, auf Konzepten, »denen intensive Recherchen zu gesellschaftspolitischen Phänomenen und Diskursen vorausgehen«.30 Bei dieser Form der Präsentation ließen sich Anklänge an die (Laufsteg)-Präsentationen von Maison Martin Margiela erkennen, in denen im Zusammenhang mit der Damenkollektion für Frühjahr/Sommer 1998 die Stücke auf Kleiderstangen hereingefahren wurden.
29 | Anlässlich einer Ausstellung von fabrics interseason ® in der Galerie für zeitgenössische Kunst Leipzig (29.09.2002 – 05.01.2003). Vgl.: www.gfzk-leipzig.de/?p=711 (31.03.2015). 30 | 3. Berlin Biennale für Zeitgenössische Kunst (Ausstellungskatalog), Berlin 2004, S. 69. Ausführliche Informationen zu allen Kollektionen von fabrics interseason ®: www. fabrics.at/index.php?option=com_content&task=view&id=33&Itemid=53 (31.03.2015).
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Die Vorstellung der Kleider erfolgte durch einen begleitenden Film und einen erläuternden Text.31
O THERNESS PR ÄSENTIEREN Die Défilés auf den Laufstegen wichen in den vergangenen beiden Dekaden immer häufiger den Präsentationen an ungewöhnlichen Orten oder aufwendig gestalteten Mode-Mediatekturen, um einem etablierten Ästhetizismus der Mode eine Otherness entgegenzusetzen und das gängige Bild der von Luxus und Glamour durchwirkten Mode immer wieder aufzubrechen und zu dekonstruierten. In Modeperformances, wie z.B. Alexander McQueens The Horn of Plenty (Damen, Herbst/Winter 2009)32 wurden dabei Schönheitsideal, Funktionalität und Alltagstauglichkeit der jeweiligen Kleidungsstücke in unserer Gesellschaft mit drastischen Mitteln hinterfragt. McQueen zerstörte die fête champêtre der haute couture, in dem er sie im Umfeld von Zivilisationsmüll und Überresten vergangener Präsentationen aufführte und dabei Christian Diors und Hubert de Givenchys Kostüm-Signaturen sezierte. Im selben Moment erschienen die Modells gekleidet in McQueen-Roben aus feinsten Materialien, auf schwindelerregend hohen Schuhen und erhoben die haute couture auf das nächste level innerhalb des fortschreitenden Modezyklus’. Designer wie Alexander McQueen oder Hussein Chalayan, die in denvergangenen Jahren bewusst an der Schnittstelle von Kunst und Mode arbeiteten, bedienten sich meisterhaft der Möglichkeiten ihrer Gestaltungssysteme. Sie entwarfen Kleidung und konterkarierten die Kollektions-Rhythmik des Modesystems, sie parodierten Dress-Codes und sie verwendeten für ihre Produktionen konventionelle textile und viele weitere, ungewöhnliche Materialien, Formen und Muster, deren komplexe Bedeutungen und kulturelle Einschreibungen von den jeweiligen TrägerInnen aufwendige Rekodierungsansätze forderten. Aktuell macht dies auch Felix Chabluk-Smith, von dessen MA Abschlusskollektion am Londoner Royal College of Art im Jahr 2013 einige Teile durch das Costume Institute des Metropolitan Museum of Art in New York angekauft wurden. Chabluk-Smith zeigt einen meisterhaften und ungezwungenen Umgang mit der Geschichte der Mode. In seiner Kollektion disjecta membra (Abb. 1) setzt Chabluk Smith die Technik der Collage für den Entwurf seiner modehistorischen Kom-
31 | Vgl. hierzu ausführlich: Maison Martin Margiela Street Special Edition, Band 1, Tokyo 1999. 32 | Das Titelblatt der vorliegenden Publikation zeigt ein Beispiel aus der Kollektion »The Horn of Plenty« von Alexander McQueen aus dem Jahr 2009. Vgl. dazu auch die filmische Dokumentation: www.alexanderMcQueen.com/experience/en/alexanderMcQueen/archive/ ?years=2009#id_article=254 (31.03.2015).
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positionen ein und verwendet dabei raffinierteste Schnitte und kostbar gefertigte Stoffe.33
Abbildung 1: Felix Chabluk Smith, 1670/1720/1951, Parka aus der »Disjecta Membra« MA Abschluss Kollektion 2013 Quelle: http://www.felixchabluksmith.com/7.html
B AROCKES IN DER ZEITGENÖSSISCHEN M ODE 34 »Die Kleider wurden Stück für Stück ausgepackt, und, am Kleiderbügel hängend, am Publikum vorbeigetragen. Dazu wurde ein Film gezeigt, als Anleitung, wie das Stück zu tragen war.«35 Das Zitat beschreibt den Moment der Präsentation einer Kollektion von Martin Margiela im Jahr 1998. Der Designer leitet damit eine 33 | Levy, Madelaine: The past is present, in: Disegno, No.6 S/S 2014, London 2014, S. 28/29. Vgl.: www.felixchabluksmith.com (31.03.2015). 34 | Bei diesem Text handelt es sich um eine überarbeitete und aktualisierte Fassung des Beitrags: Wenrich, Rainer: Wenrich, Rainer: Lo Barroco en la moda contemporanèa, in: Cafe con Leche. Cultura, Migración, Itentidad, Caracas 2005, S. 161-162. 35 | Fast Forward, Mode in den Medien der 90er Jahre, Wien 1999, S. 19.
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Folge von Mode-Performances ein, die ein neuartiges inszenatorisches Moment in der Vorstellung von Mode bedeuten. Diese Art der Präsentation erweitert die bis dahin etablierte Laufsteg-Choreografie, sie führt die Regieanweisung aus dem backstage-Bereich in den Vordergrund, kehrt innen nach außen, macht sichtbar, was bislang verdeckt war. Darüber hinaus antizipieren die Anweisungen im Film schon Teile der möglichen Kommentierungen aus der Modepresse. In den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts beginnt eine Aufführung der Mode, die auf aufwendige, theoriebezogene Performanz und komplexe Raumsituationen setzt. Seither werfen Mode und Kunst als Gestaltungsfelder den Blick zurück und interpretieren das barocke Zeitalter wieder und wieder. Ihre Wurzeln haben diese Inszenierungen in derjenigen Epoche zwischen 1600 und 1770, die immer noch mit gängigen Attributen wie bizarr, schwülstig, überladen und pompös charakterisiert wird. Dieser gedankliche Ausgangspunkt findet sich in zahlreichen weiteren Gestaltungsfeldern und wurde von Angela Ndalianis schon vor geraumer Zeit ausführlich analysiert.36 Die folgenden Ausführungen nehmen deshalb zunächst eine kunstgeschichtliche Verortung vor. Nach einer kurzen Darstellung der gesellschaftlichen Strukturen wird an beispielhaften Modedesigns die Übernahme barocker Gestaltungskonzepte aufgezeigt.
B AROCK ALS KUNSTGESCHICHTLICHE E POCHE Bis vor einiger Zeit wurde innerhalb der Kunstgeschichte eine Sichtweise des Barocks tradiert, die auch dort die Signaturen der Irrationalität, Überladenheit und Sinnenlust trug. Die negative Konnotation des Barock, hergeleitet aus der Wortbedeutung des portugiesischen Adjektivs barocco, d.h. unregelmäßig, schief, hält sich bis in das frühe 20. Jahrhundert, als Kunsthistoriker wie Heinrich Wölfflin beginnen, Stilbegriffe aus der reinen Anschauung der Kunstwerke abzuleiten.37 Dieses Vorgehen bildet nur einen möglichen Ansatzpunkt der Betrachtung, die als linear oder biologistisch verstandene Stilentwicklung eine nachträgliche Konstruktion darstellt.38 Daraus resultierende Stilbegriffe können den historischen Aspekt der Kunstentwicklung jedoch kaum abbilden.39 Ebenso finden künstlerische Differenzierungen außerhalb Italiens, Frankreichs und Deutschlands, wie in England, Spanien oder Südamerika erst in jüngerer Zeit Beachtung. 36 | Ndalianis, Angela: Neo-Baroque Aesthetics and Contemporary Entertainment, Cambridge 2004. 37 | Vgl. Wölfflin, Heinrich: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stileentwicklung in der neueren Kunst, Basel/Stuttgart 1984. 38 | Ähnliches findet sich auch hinsichtlich der Beschreibung und Zuordnung weiterer Epochen. 39 | Hoppe, Stephan: Barock. Einführung, in: Kunsthistorische Arbeitsblätter, Zeitschrift für Studium und Hochschulkontakt, Ausgabe 7/8 04, Köln 2004, S. 9.
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Ein Verständnis für die seit einiger Zeit deutliche Hinwendung von Kunstund Kulturschaffenden zum Barock als komplex organisiertes und vielschichtiges Ideen- und Gestaltungsrepertoire lässt sich anhand zentraler Aspekte dieser Epoche entwickeln. Aus dem Blickwinkel der Kunstproduktion entwickelt sich im Verlauf des 17. Jahrhunderts eine europaweite Bewegung aus der Kenntnis des antiken Formenrepertoires und der italienischen Renaissance. Sowohl die Herrscherfamilien als auch die Kirche nutzen diesen Umstand als Auftraggeber innerhalb eines internationalen Netzwerks und manifestieren ihre Existenz in Form von umfangreichen Selbstdarstellungen und repräsentiert in jeglicher Form künstlerischer Gattung. Neben dem Begriff des Hofkünstlers, wie z.B. bei Diego Velazquez, entwickelt sich ein mit immer mehr Kunstverstand ausgestattetes Bürgertum mit individuellen Anliegen und Vorlieben. Die Kunstakademien in Rom und Paris unter Louis XIV. bedingen zwar eine Auflösung der barocken Verbindung der Künste in Einzeldisziplinen, forcieren aber gleichsam auch eine Verwissenschaftlichung der Kunstproduktion, die sich im Wissen über das bereits erwähnte antike Kulturgut, der Vielfalt an inhaltlichen Themen und einer Auseinandersetzung mit beispielhaften Werken und Traktaten äußert. Dem barocken Künstler gilt die antike Vorlage weniger als Muster, welches es zu übertragen gilt, sondern vielmehr als Methode zur Erweiterung seiner künstlerischen Rhetorik. Dabei gelingt es ihm, variantenreiche und an den jeweiligen Rahmenbedingungen orientierte Gestaltungsprogramme40 zu realisieren. In Kombination mit einem Bewusstsein für die im europäischen Kunstschaffen vorhandenen (Stil)pluralitäten entstehen Werke, die das gestalterische Prinzip und dessen Variation deutlicher in den Vordergrund stellen als die tradierte und allgemeingültige Lösung.
D IE BAROCKE E RLEBNISGESELLSCHAF T Die barocke Gesellschaft, feudal strukturiert, mit König und Gott am oberen Ende der Hierarchie, formt ein weiteres Tableau, welches sich durch Ambivalenzen auszeichnet. Im 17. und frühen 18. Jahrhundert erscheint die ganze Welt als Bühne. In einem verschwenderisch, synästhetisch inszenierten theatrum mundi dominiert die theatrale Semantik. Bei höfischen Theater- und Tanzaufführungen, Festen und Bällen bildet die perfekte raumliche und vestimentäre Illusion den Hintergrund, während das Bürgertum unaufhörlich die finanziellen Ressourcen dafür bereitstellt. Die höfische Gesellschaft vergnügt sich in künstlichen Parklandschaften und verläuft sich gerne in floralen Labyrinthen. Bühnenkostüme und festliche Alltagsmode amalgamieren und dabei mag es nicht verwundern, wenn 40 | Hierfür sei stellvertretend Andrea Pozzos Deckenfresko in der Kirche S. Ignazio in Rom, 1691-94, genannt.
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in einer Art trickling down auch das Bürgertum von der monarchischen Maskerade profitieren möchte. 41 Gerade die Kleidermode wird zu dieser Zeit als das Medium der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung und -positionierung erschlossen und als Modus der Kommunikation ist dieser Umstand in der modernen Gesellschaft immer noch mehr als offensichtlich. Im selben Moment erkennt der Einzelne allerdings auch den Schein hinter allem Glanz, wird ihm das Ephemere und die vanitas der menschlichen Existenz bewusst.
B AROCK ALS BLUEPRINT FÜR DIE ZEITGENÖSSISCHE M ODE Im späten 20. Jahrhundert und am Beginn eines neuen Jahrtausends, einer Periode der Globalisierung und der schnell sich wandelnden Technologie dient das barocke Projekt als Hintergrundfolie und dem performative turn als perfekter ›Bühnenprospekt‹. Dynamik und Komplexität, Multiperspektivität und Vieldimensionalität des barocken Raums, aber auch die Vielschichtigkeit barocker Text(il)gewebe äußern sich nun in Form von Intertextualiät, Hypertextstrukturen, Mappings aber auch in einem virtuosen Einsatz der Special- und After-Effects zahlreicher Filmproduktionen und der Konzeption der bereits genannten Mediatekturen als Ausstellungs- und Event-Räumen. Eine Reihe der beschriebenen Ambiguitäten bleiben ebenso transformiert in die Jetztzeit erhalten: Opulenz, Sehnsucht nach Jugendlichkeit, Spiel mit Identitäten, ein Verlangen danach, Extreme zu erfahren, aber auch Traumata, Gegenwarts- und Zukunftsangst. Auch die Mode und dies mag vor dem Hintergrund der vorangestellten Ausführungen als deutlich (neo)barockes Signal gelten, bewegt sich aus der Dunkelheit zur Feier des hier und jetzt, zu Jugend, Schönheit und Vergnügen – und oszilliert dann wieder zwischen beiden. 42 In ihren Designs und Repräsentationsformen führt die Mode die unterschiedlichsten künstlerischen Gattungen zusammen. Häufig bedient sie sich des memento mori oder der Vanitas-Symbolik und die im 17. Jahrhundert generierte und im 19. Jahrundert verdichtete Idee des Gesamtkunstwerks bildet die Grundlage der am performative turn orientierten Vorführungen neuer Kollektionen. Es liegt in der Natur der Mode, äußere Einflüsse aufzunehmen und umzuwandeln. Wie selten zuvor wird aus der Mode die vestimentäre Hülle als Instrument der Identitätenvielfalt. Der »Extreme Beauty« 43 dient sie als »extreme
41 | Poschardt, Ulf: Anpassen, Hamburg 1998, S. 47. 42 | Evans, Caroline: Fashion at the Edge, New Haven/London 2003, S. 241. 43 | Koda, Harold: Extreme Beauty. The Body transformed, New Haven/London 2001.
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Mode« 44 , der »Extension des Körpers«45 und wird als »Fashion at the edge« 46 tituliert. Inwieweit unsere Gegenwart als regelrecht »barockes Moment« bezeichnet werden kann, formuliert Bryan S. Turner in den folgenden Überlegungen bereits in der Mitte der 90er Jahre: »Barocke Kultur war eine konservative Kultur, deren Anliegen es war, die Massen durch fantastische Bildwelten, Farbe und elaborierte Musik zu manipulieren […] genauso wie der Barock das Spektakel erfand, um die Massen zur konformen Vergnügungsgesellschaft zu wandeln, kann auch die moderne Konsumwelt kann als Spektakel gesehen werden […] die Kulturindustrie der modernen Gesellschaft ist somit eine neue Version der Kulturindustrie zur Zeit des Barock.« 47
D AS NEO - BAROCKE G ESTALTUNGSPROGR AMM Die Wandelbarkeit der aktuellen Mode gleicht einem Changieren von Bedeutungen wie es auf barocken Emblemen sichtbar wird. Modefotografien der jüngeren Vergangenheit machen dies deutlich, indem sie das melancholische Bewusstsein, die Unsicherheit des Lebens und die Vergänglichkeit von Schönheit transportieren. Gleichzeitig erkennen wir die Leidenschaft und Lust an und nach materiellen Werten, nach prominenten Labels, kostbaren Materialien, Luxus und Künstlichkeit – ein weiteres Mal also das barocke Streben nach dem Bizarren und fantastischen Kreationen. 48 Ganz im Sinne des Prinzips der weiter oben angeführten barocken Rhetorik entwickeln die Modemacher unserer Zeit ihre Entwürfe. Ihr Gestaltungsrepertoire beinhaltet dabei das Zitieren historischer Kleiderstile ebenso, wie ein Aufgreifen und Dekontextualisieren einzelner Details oder ganzer Ensembles. Die Methodik der Herstellung oder der handwerklichliche Modus werden, angefangen bei Rei Kawakubo bis zu Martin Margiela und aktuell bei Gareth Pugh oder Ines van Herpen nach außen erkennbar vermittelt, indem die (Innen-)Konstruktionen des Kleidungsstücke und der Einsatz modernster Techniken und Materialien offengelegt werden. Einzelne Teile des Kleidungsstücks werden variantenreich, pointiert asymmetrisch, wie beispielsweise immer wieder bei bei Hussein Chalayan, gestaltet. Modenschauen an ungewöhnlichen Orten verlassen den 44 | Smith, Courtenay/Topham, Sean: xtreme fashion, München/Berlin/London/New York 2005. 45 | Pantellini, Claudia/Stohler, Peter (Hg.): Body Extensions. Art, Photography, Film, Comic, Fashion, Stuttgart 2004. 46 | Evans, Caroline: Fashion at the Edge, New Haven/London 2003. 47 | Bryan S. Turner: Einführung zu: Christine Buci-Glucksmann: Baroque Reason. The Aesthetics of Modernity, New Dehli 1994, S. 22-25. 48 | Evans, Caroline: Fashion at the Edge, New Haven/London 2003, S. 243.
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Laufsteg und werden als am Kunstkontext orientierte Performances im outfit des multimedialen Gesamtkunstwerks inszeniert. Der letzte Gedanke erfuhr seine Neuinterpretation in Gestalt von Kooperationsprojekten, die zum Zeitpunkt des Milleniums starten und bis heute weiter perfektioniert werden. 49 Ausgangspunkt hierfür waren die Raumkonzepte von Issey Miyake mit Frank O. Gehry (Gehry Partners, 2001) in New York, Miuccia Prada mit OMA50 in New York (epicenter, 2001) und mit Herzog & de Meuron in Tokyo (2003). Diese Räume dienen nicht mehr nur dem Verkauf von Kleidung. Sie sind auch Galerie, Performance-Center mit eigener Bühne und Labor für die Erprobung von verstimentären Szenarien.51
TECHNIK , P OLITIK UND A RCHITEK TUR — H USSEIN C HAL AYANS E INSCHREIBUNGEN IN K LEIDUNGSSTÜCKE Wie Hussein Chalayan mit dem Moment der Einschreibung in seine aktuelle Kollektion That Night (Herbst/Winter 2015) (Abb. 2) umgeht, beschreibt die Modekritikerin Suzy Menkes: »Chalayan hat schon häufig mit Themen gearbeitet und sein handwerkliches Können als Schneider ist dabei gelegentlich in der Komplexität seiner Gedanken verloren gegangen. Aber dieses Mal haben wir es mit einem Beispiel aus dem Lehrbuch zu tun, wie Kleidungsstücke die Inspiration absorbieren können. Jede Modeschule sollte dieses Vorgehen in ihr Curriculum aufnehmen, um den Studenten zu zeigen, wie man auf anspruchsvolle Weise Ideen umsetzen kann.« 52
Die Inspiration für seine Herbst/Winterkollektion 2015 entnahm Chalayan der Kriminalgeschichte »Mord im Orientexpress« von Agatha Christie aus dem Jahr 1934. Alles andere als eine bloße Illustration der Reise und der Charaktere zu präsentieren, schreibt der Modedesigner auf subtile Art und Weise die Geschichte in die Kleidungsstücke ein. Dies wird offensichtlich wenn ein Schneesturm, entscheidend für die Dramaturgie des plots, sich in dem Gewebe der Stoffmuster auf49 | Hanisch, Ruth: Absolutely Fabulous! Architecture and Fashion, München/Berlin/London/New York 2006. 50 | OMA – Office for Metropolitan Architecture. Vgl. die ausführliche Dokumentation aller Projekte: www.oma.eu/home (31.03.2015). 51 | Zu dieser Zeit existiert bereits die fondazione prada (www.fondazioneprada.org, seit 1993) und auch das Label Louis Vuitton stärkt seinen Bekanntheitsgrad durch die Zusammenarbeit mit KünstlerInnen. Vgl.: http://de.louisvuitton.com/deu-de/kunst/freunde-deshauses (31.03.2015), w ww.fondationlouisvuitton.fr (31.03.2015). 52 | www.vogue.fr/suzy-menkes/la-chronique-de-suzy-menkes/articles/fwah2015-scene -by-suzy-menkes-undercover-chalayan/24641 (31.03.2015).
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löst. Die Asymmetrie, eine der Signaturen Chalayans, erscheint in der Kollektion mehrfach, in dem er ganze Stoffteile ansetzt bzw. heraustrennt.53
Abbildung 2: Hussein Chalayan, Kollektion That Night (Herbst/Winter 2015) Quelle: http://chalayan.com/aw-2015-night Hussein Chalayan ist Modedesigner, Visionär und Grenzgänger. Er wurde in den 1990er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gleichermaßen in der Mode- und Kunstwelt bekannt und verdankt dies gleich mehreren Schnittstellen, die sich in seinem Schaffen vereinen. Chalayan wandert zwischen vielen Welten, nicht nur zwischen angewandter Kunst, d.h. Modedesign und Architektur und bildender Kunst, sondern auch zwischen unterschiedlichen kulturellen und philosophischen Topoi.54 Seit einigen Jahren nimmt er an etablierten Ausstellungen teil und präsentiert seine Werke in Kunstmuseen und Galerien. Dabei durchdringen sich bei ihm auf beeindruckende Weise meisterhaftes Schneiderhandwerk und experimentell-freie Kunst. Als Sohn türkisch-zypriotischer Eltern kommt der im Jahr 1970 geborene Chalayan im Alter von 12 Jahren nach London. Dort absolviert er das berühmte Central St. Martins College of Art & Design und betritt im Jahr 1993 mit seiner Abschlusskollektion The Tangent Flows die Bühne der Modewelt. Chalayan hatte dazu die einzelnen Stücke seiner Kollektion zusammen mit Eisenspänen für mehrere Wochen in seinem Garten vergraben. Was wie ein banal anmutendes Experiment klingt, ließ wenig später ein bekanntes Londoner Modegeschäft diese verwitterte, rostrot-verfärbte Kollektion komplett aufkaufen und Hussein Chalayan acancierte zu einem bedeutenden neuen Modemacher in einer Stadt der Modeninnovationen.55 53 | http://chalayan.com/wp-content/uploads/2013/07/Show-Looks.jpg (31.03.2015). 54 | Af Petersens, Magnus: Fashion art. In: Fashination, Stockholm 2005, S. 15. 55 | Evans, Caroline: No Man’s Land. In: Hussein Chalayan, Groninger Museum, Groningen 2005, S. 8.
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K ONZEP T UND U MSE T ZUNG Der experimentelle Zugang, um Kleidungsstücke, Hüllen für den menschlichen Körper zu erschaffen, begleitet Chalayan von Beginn an. Es sind philosophische Theorien und wissenschaftliche Erkenntnisse, die seine Gestaltungen durchsetzen. Das Konzept ist ihm ebenso wichtig wie der Schnitt und die perfekte Umsetzung. Mit einem bei weitem atypischen Vorgehen innerhalb des zumeist auf ökonomischen Profit ausgerichteten Modesystems greift er auf Themengebiete wie kulturelle Identität, Entwurzelung, Vertreibung, Flucht oder Migration, zurück. Gleichzeitig zeigt der nahe Blick auf seine Kleidungsobjekte aber auch auf, wie sehr Chalayan seine Idee eines Kleidungsstückes als Architektur für den Körper verfolgt. Modedesign versteht er als eine Suche nach der idealen Hülle, als Schutz für den Körper im Kontext seiner jeweiligen Zeit in der Auseinandersetzung mit den jeweiligen Einflüssen und Rahmenbedingungen seiner Existenz. Dies sind Überlegungen, die bereits auch das Schaffen von Pierre Cardin oder Paco Rabanne in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts bestimmten. Beide Modedesigner orientierten sich an den Innovationen der damaligen Architektur, integrierten neue Materialien und Technologien in die Entwürfe ihrer Kleidungsstücke. Die enge Verbindung von Kleidung und Architektur, welche dann in den 80er Jahren noch offensichtlicher wird, beruht auf der wechselseitigen Beeinflussung durch eine Vielzahl von visuellen und konzeptuellen Prinzipien. Beide Gestaltungsfelder haben den menschlichen Körper als Ausgangspunkt, nutzen Raum, Volumen und Bewegung als Referenz für ihre Gestaltungsideen. Sowohl Kleidung als auch Architektur fungieren als Schutz und Hülle, als Vermittler zwischen dem menschlichen Körper und seiner Umgebung und schließlich als Ausdruck seiner personalen, sozialen, politischen, religiösen und kulturellen Identität.56 In all diesen Aspekten finden sich Leitthemen für Chalayans Werk, aus denen heraus er die Konzeptionen für seine Kollektionen entwickelt. Was dann auf den Laufstegen, umrahmt von modernistischen Settings und avantgardistischen Klängen, präsentiert wird, sind, wie Chalayan es formuliert ›iconic pieces‹, aus denen heraus dann auch tragbare Teile für den Verkauf entwickelt werden.57 Vor diesem Hintergrund platziert er seine Ideen häufig gleichzeitig in Präsentationen anlässlich einer Modewoche in Paris oder New York, als filmische Arbeit oder künstlerische Rauminstallation und schließlich als Teil einer kommerziellen Kollektion.
56 | Hodge, Brooke/Mears, Patricia/Sidlauskas, Susan: Skin + Bones. Parallel Practices in Fashion and Architecture, Los Angeles 2006. 57 | Georgiou, Kiki: Hussein in the Brain. www.dazeddigital.com/fashion/article/1705/1/hussein-in-the-brain (31.03.2015).
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K OLLEK TIONEN ALS K UNSTPROJEK TE Beispielhaft für die beschriebenen Zusammenhänge steht Chalayans für die Herbst/Winter Kollektion Afterwords des Jahres 2000 konzipierte LaufstegShow.58 Die existentiellen Ausnahmezustände von Flucht und Vertreibung, Chalayan aufgrund seines biografischen Hintergrundes auf dramatische Weise vertraut, bilden den Rahmen für die Kollektion und deren Präsentation. Der Designer verbindet die Flüchtlingsthematik mit den Möglichkeiten von Versteck und Camouflage inmitten von Bühnenrequisiten, die an ein Wohnzimmer mit Mobilar denken lassen. Am Ende der Laufstegperformance bekleiden sich die Models mit den Stoffüberzügen von Stühlen, deren Gestelle sich wiederum zu Koffern zusammenklappen lassen. Schließlich steigt eines der Models in einen runden hölzernen Tisch, der dann als Reifrock fungiert. Am Ende der ästhetisch inszenierten Flucht bleibt ein verlassener Raum. Die traditionellen Funktionen von Kleidung verbinden sich gleichsam mit innovativem Möbeldesign und wieder vermittelt das Kleidungsstück als skulpturale, flexible Hülle zwischen Körper und dem gebauten Umraum. Die Mode wird in diesem Moment zu einer tragbaren Architektur und dennoch steht das eigentliche Anliegen von Chalayan im Vordergrund. Afterwords thematisierte die Not der Heimatlosigkeit, der Entwurzelung und der erzwungenen Migration. Hussein Chalayans Begeisterung für Technik und deren Nutzbarmachung für den Menschen äußert sich erstmalig in der Herbst/Winter-Kollektion Echoform des Jahres 1999. Ein Rekurrieren auf technische Innovation bildet seither eine Konstante in einzelnen der nachfolgenden Entwürfen. Die Kollektion Echoform thematisiert Geschwindigkeit und ist inspiriert durch die Interieurs von Automobilen und Flugzeugen. Deren Einzelteile dienen als Referenzpunkte für die Schnitte und Formen unterschiedlicher Kleidungsstücke. Das Aeroplane-Dress welches die Laufsteg-Präsentation eröffnete, entstand aus einer Fiberglas-Konstruktion mit beweglichen, elektronisch-gesteuerten Details. Wie Klappen von Flugzeugflügeln verschoben sich einzelne Segmente und dekonstruierten den an sich minimalistischen Schnitt zu einer variierbaren Silhouette. Die Wahrnehmung unterliegt zumeist den Parametern der Kategorisierung und Symbolisierung. Vor diesem gedanklichen Hintergrund löst Hussein Chalayan in seinen Entwürfen die festen Grenzen der Gestaltung auf und begegnet einer einzigen, allgemeingültigen Form des Kleidungsstückes mit auf Dekonstruktionen verweisenden Eingriffe. Damit ist aber bei weitem nicht gemeint, das Chalayan die Strukturen seiner Kleidungsstücke auf bricht im Sinne einer banalprovokativen Collage von Details. Seine Form der Dekonstruktion gewinnt ihre Kraft aus einem Ineinandergreifen von künstlerischer Ästhetik und Stabilität, spannungsreicher Proportion und Einheit in der Anwendung handwerklichen Könnens. In immer wieder sich wandelnden Präsentationsräumen, den Filmen 58 | http://chalayan.com/afterwords/ (31.03.2015).
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und Installationen unterzieht Chalayan seine Mode einer neuen Lesbarkeit und erzählt dabei von der einem Kleidungsstück inherenten Dramatik.
V ESTIMENTÄRE E INSCHREIBUNGEN ALS I NTERTE X TUALITÄT ALS BEI A LE X ANDER M C Q UEEN 59 »Give me time, and I’ll give you a revolution.« (L EE) A LEXANDER M C Q UEEN 60 Mit der Ausstellung Savage Beauty über das Werk des im Jahr 2010 verstorbenen Alexander McQueen wird die Medialität der Mode um eine weitere Dimension erweitert. Bereits im Jahr 2011 wurde McQueens Stücke im Metropolitan Museum of Art in New York, kuratiert von Andrew Bolton, präsentiert und verzeichneten dabei bislang nicht erreichte BesucherInnenzahlen. Parallel zu der von Claire Wilcox konzipierten aktuellen Ausstellung im Londoner Victoria & Albert Museum finden sich nun zahlreiche Themenpräsentationen und Buchpublikationen61, die einen detaillierten Einblick in das Schaffen des Ausnahmekünstlers geben. Wurden bislang blogs zu den Websites von Museen und Ausstellungen eingerichtet, so öffnet die reichhaltige Internetseite62 zu Savage Beauty das unerschöpfliche Cabinet des Curiosites von Alexander McQueen, aus dem er die Ideen für seine außergewöhnlichen Kollektionen gewann. Die folgenden Ausführungen nähern sich mit den Mitteln einer kritischen Bildwissenschaft einem Kleidungsstück von Alexander McQueen. Dieses Vorgehen vollzieht sich inmitten des ›interdiskursiven Kulturthemas‹63 der Kleidermode. Mit dem Repertoire der bildwissenschaftlichen und kostümkundlichen Kunstgeschichte wird der Blick dabei auf einzelne Schnittstellen einer ›Sprache 59 | Bei diesem Beitrag handelt es sich um die für die vorliegende Publikation überarbeitete Fassung von: Wenrich, Rainer: Der ›Union Jack Coat‹ von Alexander McQueen und David Bowie – Zur Intertextualität eines vestimentären Topos, in: Lutz-Sterzenbach, Barbara/ Peters, Maria/Schulz, Frank (Hg.): Bild und Bildung. Praxis, Reflexion, Wissen im Kontext von Kunst und Medien, München 2014, S. 537-550. 60 | »The Year in Style«, by Cathy Horyn. The New York Times, January 1, 2012. Vgl.: quer y.ny times.com/gst/fullpage.html?res=9900E4DD153CF932A35752C0A9649D 8B63&pagewanted=all (31.03.2015). 61 | Vgl. dazu auch: Baker, Kent: inferno. Alexander McQueen, London 2015. Die Publikation zeigt bislang unveröffnetliches Bildmaterial aus dem Bckstagebereich anlässlich der Kollektion »Dante« (Herbst/Winter 1996/97). 62 | http://savagebeauty.alexanderMcQueen.com (31.03.2015). 63 | Diesen wichtigen Aspekt griff die an der Universität Salzburg veranstaltete öffentliche Ringvorlesung »Kleiderfragen: Mode und Kulturwissenschaft« auf (09.10.2013 –29.01.2014).
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der Mode‹64 gerichtet. Kleidungsstück, gestalterische Signatur, visuelle Sprache, kunst-, kultur- und kostümhistorische Randdaten formen eine Intertextualität aufeinander bezogener Einzelaspekte, die zusammen die Einschreibungen in das Kleidungsstück bilden. Mithilfe einer mehrdimensionalen Auseinandersetzung wird sichtbar gemacht, dass vielfältigen Einschreibungen in ein Kleidungsstück gestalterische und gesellschaftliche Zusammenhänge in eine vestimentär-visuelle Topologie übersetzen. Die Kleidermode, ein nach Bourdieu »prestigereiches, aber immer auch im Geruch der Frivolität stehendes Thema«65, zu einem Bestandteil einer formalistisch-bildwissenschaftlichen Betrachtung zu machen, ist eine Vorgehensweise, die sich schrittweise vollzieht und bei der verschiedene geisteswissenschaftliche Denkwege zusammenlaufen.66 So haben Kunstgeschichte, Philosophie67, Zeichentheorie und nicht zuletzt auch die Soziologie bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts gemeinsam den Weg geebnet, sich mit visuellen Phänomenen zu beschäftigen.68 Dies gilt insbesondere für die Konstituierung einer interdisziplinären Modetheorie, bei der die wissenschaftliche Beschäftigung mit Kleidung als ästhetisches Alltagsphänomen und kulturelle Praxis69 im Mittelpunkt steht und aus einem Verständnis der Kleidermode als Untersuchungsgegenstand seitens der ›visual culture studies‹ hergeleitet wird. Ein derart theoretisches Konstrukt bildet sich in den nachfolgenden Ausführungen ab. In einem Plädoyer für die Kostümkunde als Instrumentarium der Kunstgeschichte formulierte der Bildwissenschaftler Philipp Zitzlsperger, dass sich die Forschung bisher »zwar ausgiebig mit der Geschichte der Textilien, Kleidung und bisweilen auch mit ihrer Symboltheorie beschäftigt. Doch über die sozialhistorische Komponente hinaus wird die kunsthistorische Relevanz der ›zweiten Haut‹ des Menschen und seiner ebenso dekorativen wie bildhaften Verwendung
64 | Vgl. dazu: Barthes, Roland: Die Sprache der Mode, Frankfurt a.M. 1985. 65 | Eismann, Sonja (Hg.): Bourdieu, Pierre: Haute Couture und Haute Culture (1974), in: Dies.: absolute Fashion, Freiburg 2012, S. 117. 66 | Kedves, Jan: Barbara Vinken, in: Ders.: Talking Fashion. Von Helmut Lang bis Raf Simons. Gespräche über Mode, München/London/New York 2013, S. 55. 67 | Ausgangspunkt hierfür ist Walter Benjamin, wenn er auf die Mode rekurriert: »Das brennendste Interesse der Mode liegt für den Philosophen in ihren außerordentlichen Antizipationen. […] Wer sie zu lesen verstünde, der wüßte im voraus nicht nur um neue Strömungen der Kunst, sondern um neue Gesetzbücher, Kriege und Revolutionen.« Benjamin, Walter: Mode, in: Tiedemann, Rolf (Hg.): Walter Benjamin. Das Passagen-Werk. Erster Band, Frankfurt a.M. 1983, S. 112. 68 | vgl. Schade, Sigrid/Wenk, Silke: Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld, Bielefeld 2011, S. 50. 69 | Lehnert, Gertrud: Mode. Theorie, Geschichte und Ästhetik einer kulturellen Praxis, Bielefeld 2013, S. 15.
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von Textilien noch immer unterschätzt«.70 Im Rahmen der wissenschaftlichen Fundierung einer Modetheorie wird diese zunehmend als eine eigenständige Kulturwissenschaft mit einer ihr eigenen Wissenskultur gefestigt.71 An diesem Punkt möchten die vorliegenden Überlegungen ansetzen und stellen deshalb die Beschäftigung mit einem Kleidungsstück in den Mittelpunkt.
Z UR V ORGEHENSWEISE INNERHALB DER A NALYSE Gegenstand der Untersuchung bildet ein beispielhaftes Kleidungsstück als Artefakt materieller Kultur, Ergebnis eines komplexen Gestaltungsgeflechts und Motiv einer Bildkonzeption. Aus unterschiedlichen Blickrichtungen wird die Mehrschichtigkeit von Bedeutungsebenen des fokussierten Kleidungsstücks beschrieben. Die Darstellung vollzieht sich als Iteration zur Erschließung der Bedeutung mit dem bildwissenschaftlichen Instrumentarium von Analyse und Interpretation. Konzeption, Umsetzung und Präsentation des Kleidungsstücks werden zum Bestandteil der Darstellung.
H INTERGRÜNDE ZUR E NTSTEHUNG DES ›U NION J ACK C OAT‹ Im Mittelpunkt der vorliegenden Betrachtung steht der ›Union Jack Coat‹, (Abb. 3) ein Kleidungsstück aus dem Jahr 1997, das der Zusammenarbeit des Kleidermachers Alexander McQueen und des Musikers und bildenden Künstlers David Bowie entstammt. Die beiden herausragenden Künstlerpersönlichkeiten begegneten sich in den frühen 1990er Jahren.72 Alexander McQueen73 hatte nach einer Schneiderlehre bei Anderson & Sheppard in der Old Burlington Street und bei Gieves & Hawkes74 an der berühmten Savile Row im Londoner Stadtteil Mayfair sein Studium mit Auszeichnung am St. Martins College of Art and Design abgeschlossen. Schon vor seinem Studium folgten für McQueen, dann ein wenig mehr als zwanzig Jahre alt, Stationen in 70 | Zitzlsperger, Philipp (Hg.): Zur Ikonologie dargestellter Gewandung, Emsdetten/Berlin 2010, S. 7. 71 | Lehnert, Gertrud: Mode. Theorie, Geschichte und Ästhetik einer kulturellen Praxis, Bielefeld 2013, S. 11. 72 | Vgl. dazu ein dokumentiertes Gespräch zwischen David Bowie und Alexander McQueen: www.dazeddigital.com/fashion/article/15910/1/bowie-McQueen (31.03.2015). 73 | www.alexanderMcQueen.com/de/alexanderMcQueen (31.03.2015). 74 | Anderson & Sheppard und Gieves & Hawkes gehören zu den traditionsreichen Schneideratelier im Stadtteil Mayfair, die den Ruhm der britischen Schneiderkunst begründet haben. Alexander McQueens spezialisiert sich in seiner Lehre bei Gieves & Hawkes auf militärische Uniformen.
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den Ateliers berühmter Kleidermacher, wie z.B. Koji Tatsuno oder Romeo Gigli. Schließlich arbeitete er auch als Chefdesigner im Hause Givenchy. Mehrfach war er ›British Designer of the Year‹ und erhielt im Jahr 2003 von der englischen Königin den Rang eines ›Excellent Commander of the British Empire (CBE)‹ verliehen. Im Jahr 2010 schied McQueen, zu Beginn seiner Karriere der »bad boy of British fashion« und später der »genius«75, freiwillig aus seinem Leben.
Abbildung 3: David Bowie/Alexander McQueen, Union Jack Coat 1997 (Vorderseite) Quelle: Broackes, Victoria/Marsh, Geoffrey: David Bowie is, London 2013, S. 260 David Bowie76 war in der Mitte der 1990er Jahre einer der etabliertesten Rockstars, der bereits auf eine mehr als dreißig Jahre andauernde Karriere als Musiker und Schöpfer von Konzeptalben zurückblicken konnte. Berühmt wurde Bowie vor allem auch durch seine beeindruckende Wandelbarkeit, die er in Figuren wie Ziggy Stardust oder Aladdin Sane verkörperte. Bowie gelang es immer wieder, künstlerische und musikalische Meilensteine zu setzen. Wegbereitend waren die mit ihm konzipierten filmischen Umsetzungen seiner Musikstücke, mit denen die Geschichte des Musikvideos begründet wurde.77 75 | Steele, Valerie: ›Style in Revolt‹. Hussein Chalayan, Alexander McQueen and Vivienne Westwood, in: Wilcox, Claire (Hg.): Radical Fashion, London 2001, S. 47. 76 | www.davidbowie.com (31.03.2015). 77 | Hierzu zählt vor allem das Video zu dem Song ›Ashes to ashes‹ aus dem Jahr 1980, das die Farb- und Bildsprache der 1970er Jahre aufnimmt und Bowie ein weiteres Mal als ›Chamäleon‹ der Popgeschichte zeigt.
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Alexander McQueen entwarf mehrmals Kleidung für David Bowie und Musiker in dessen Band. Für den ›Union Jack Coat‹ übernahm McQueen den Schnitt von einem kostümhistorisch bedeutsamen Kleidungsstück, dem sogenannten ›Frock Coat‹. Der Designer orientierte sich mehrfach an dieser spezifischen Schnittform, variierte sie und entwarf schließlich daraus eines der signature pieces für seine Kollektionen, sowohl für Männer als auch für Frauen78 und mit einer fast chirurgischen Präzision der Schneiderkunst, die sich vielmehr während der Anproben als auf dem Schnittbogen vollzog. David Bowie wurde auf den jungen Designer Alexander McQueen im Jahr 1995 aufmerksam. Es erwuchs daraus eine Kooperation für die Touren zu den Alben ›Outside‹ (1995) und ›Earthling‹ (1997). Für die Präsentation des letztgenannten Albums, welches von dem damaligen Drum’n‘Bass-Sound geprägt war, hatte Bowie ein Kleidungsstück vor Augen, das sich an dem Sakko orientierte, welches Pete Townsend, Gitarrist der Band ›The Who‹, in den 60er Jahren trug, »aber im Stil von McQueens Signatur des ›frock coat‹« gefertigt werden sollte.79 David Bowie trug den ›Union Jack Coat‹ mehrfach zu Konzertauftritten. Gleichzeitig entstand mit diesem Kleidungsstück auch das berühmte Foto für das Cover des Albums ›Earthling‹, welches Bowie im Jahr 1997 veröffentlichte. Er produzierte das Album, welches in New York aufgenommen wurde, selbst. Auf der Vorderseite des Covers ist Bowie in einer Rückenansicht, welche einen Figurentypus der Romantik zitiert, mit ineinandergreifenden Händen in einer signifikanten virilen und nahezu machtvollen Pose mit Blick auf eine weite Landschaft zu sehen. Der Musiker verkörpert als Protagonist dieser Szenerie den Inbegriff des Künstlers, der, so Werner Hofmann, »mit den Elementen allein sein [will]«. Hofmann beschreibt weiter: »Das Randerlebnis der Einsamkeit ist mehr als thematischer Anlass, es prägt den Lebensraum des Künstlers.« 80 Die Aufnahme, die beim Betrachter Assoziationen an Caspar David Friedrich, Auguste Rodin oder Victor Hugo weckt, stammt von dem in Los Angeles lebenden Fotografen Frank W. Ockenfels.81 (Abb. 4) David Bowie arbeitete bei dem Musikvideo für den Song 78 | Bolton Andrew: Alexander McQueen. Savage Beauty, New York 2011. 79 | Cullen, Oriole: Changes. Bowie’s Life Story, in: Broackes, Victoria/Marsh, Geoffrey: David Bowie is, London 2013, S. 253. 80 | Hofmann, Werner: Das irdische Paradies. Motive und Ideen des 19. Jahrhunderts, München 19915, S. 134. 81 | Auf dem Bild für das Albumcover erkennt man eine Figur, die mit dem Rücken zum Betrachter steht und den ›Union Jack Coat‹ trägt. Die Figur steht vor einer Landschaft. Es ist nicht weit zu einem Gewässer und die Figur hat den Blick frei auf das Wasser. Der Horizont ist tief. Unmittelbar werden Assoziationen zu C. D. Friedrichs Malereien am Beginn des 19. Jahrhunderts hervorgerufen (z.B. Frau vor untergehender Sonne 1818, Wanderer über dem Nebelmeer 1818). Die Figur steht mit dem Rücken zum Betrachter, zieht ihn gleichsam in den Bildraum hinein. Die Hände der Figur sind am Rücken verschränkt. Es handelt sich um
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›Little Wonder‹82 (1997) außerdem mit dem amerikanischen Videokünstler Tony Oursler zusammen. Auch in diesem Musikvideo trug Bowie einen ›Frock Coat‹ und der weitere Protagonist einen Gehrock im Stil des ›Union Jack Coat‹.
Abbildung 4: David Bowie, Cover des Albums ›Earthling‹, 1997 Quelle: Archiv des Verfassers
eine Geste der Ruhe und des in sich gekehrt seins, gleichwohl auch der Macht, steht doch die Figur breitbeinig da. Die Figur trägt schwarze Lederstiefel, einen knielangen Mantel. Die Haare sind kurz geschnitten und auffällig rot. 82 | Das Video entstand unter der Regie der italienischen Foto- und Videokünstlerin Floria Sigismondi, die auch verantwortlich für die Videos zu dem aktuellen Album ›The next day‹ von David Bowie zeichnet.
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A US DEM ›F ROCK‹ WIRD DER ›U NION J ACK C OAT‹ Alexander McQueen ging für den ›Union Jack Coat‹ von der Grundform des Fracks aus, einem mantelhaften Gehrock, dessen Schnitt aus dem späten 17. und 18. Jahrhundert in England stammte. Mithilfe einer Brechung der formalen Signifikanz durch Schnitte, Risse und deutlichen Brandspuren, Dekonstruktion und der Überlagerung mehrerer semantischer Ebenen, welche sich auf der Grundlage der Verwendung des Stoffes der britischen Flagge vollzogen, formte McQueen das eigentliche Kleidungsstück als Kunstwerk. Grundlage für den ›Union Jack Coat‹ bildet die englische Flagge, der ›Union Jack‹. Die Geschichte der englischen Flagge, ihre politischen und gesellschaftlichen Bedeutungsebenen sind entscheidend für das gesamte Erscheinungsbild des Stückes. Der ›Union Jack‹ in seiner heutigen Form stammt aus dem Jahr 1801 und beinhaltet das rote Kreuz auf weißem Grund des heiligen Georg als Schutzpatron Englands seit dem Jahr 1270. Das Kreuz des Schutzheiligen von Schottland, St. Andrew, erscheint als diagonales weißes Kreuz auf blauem Grund. Und schließlich beinhaltet die Flagge das diagonale rote Kreuz auf weißem Grund von St. Patrick, dem Schutzheiligen Irlands. Mit exzellenter Schneidertechnik, dem Schnitt und den an die visuelle Grammatik des Punk erinnernden gestalterischen Eingriffen, wie Schlitzen und Schnitten im Stoff und einer überdimensionierten Sicherheitsnadel als Schließe entstand ein vestimentärer und textiler Topos, den David Bowie mehrfach für seine performative Präsenz auf der Bühne einsetzte. Die Verwendung des ›Frock Coat‹ und des Flaggenstoffes formulierte im Ergebnis eine Intertextualität aus mehreren visuellen Bezügen. Die Modetheoretikerin Gertrud Lehnert beschreibt treffend die Vorgehensweise des Modemachers: »Alexander McQueen arbeitete in der klassischen englischen Schneidertradition und verfremdete diese noch radikaler.«83
D IE UNTERSCHIEDLICHEN SEMANTISCHEN E BENEN IM S CHAFFEN VON A LE X ANDER M C Q UEEN Das Kleidungsstück wird hier verstanden als ein textiler Text, der den Weg in eine Analyse im weiten Feld des Bildbegriffs eröffnet und eine Ortsbestimmung des formalen Bestands und einer Untersuchung der vestimentären Semiotik und Semantik, Konnotation und Kollokation fordert. Entlang dieser Basislinie bewegt sich der kulturanalytische Blick. Die nähere Betrachtung von Kleidungsstücken ist demnach eine kulturanalytische und anthropologische Sicht auf die materielle
83 | Lehnert, Gertrud: Mode. Theorie, Geschichte und Ästhetik einer kulturellen Praxis, Bielefeld 2013, S. 148.
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Kultur. Das Kleidungsstück ist dabei ein visuelles Modell mit mehreren semantischen Ebenen, welche die Analyse begleiten. Die kritischen Bildwissenschaften haben den kulturanalytischen Blick erweitert und die Untersuchung von materieller Kultur, z.B. in Form von Kleidungsstücken ermöglicht. Kleidung wird zur Mode, wenn sie sich innerhalb eines gesellschaftlichen Gefüges etabliert als Standardgröße individuellen Ausdrucks und multidisponibler Tauglichkeit und Verwendbarkeit. Sie wird populär und verliert damit ihr Alleinstellungsmerkmal der Innovation, Irritation, Provokation. Die Meisterschaft des Schneiderhandwerks geht verloren zugunsten der Reproduzierbarkeit. Alexander McQueen bürstete diese Mechanismen gegen den Strich indem er mit seinen Kollektionen und signature pieces, wie dem ›Frock Coat‹ die Geschlechtergrenzen aufhob und das Kleidungsstück zu einem ›Nullzeichen‹ formte, mit kleidungssprachlichen Codes, die er häufig auch an den Abwegen der menschlichen Existenz fand. Davon zeugen die Konzeptionen seiner Kollektionen spätestens seit seinem Abschlussdefilee am Londoner Central Saint Martins College of Art and Design im Jahr 1992. McQueens ›Union Jack Coat‹ mit seiner extravaganten Silhouette, seinem bahnbrechenden Schnitt, den ausladenden Schößen und pointierten Schultern ist aus der Sicht des Schneiderhandwerks eine Herausforderung. Der Körper erhielt dadurch eine besondere Hülle, in welche die Geschichte der Mode ebenso eingeschrieben ist wie diejenige Englands. Zeit seines Lebens war McQueen immer wieder inspiriert von künstlerischen Strategien und hat diese verschiedene Male in seine Gestaltung integriert. Man denke nur an die Frühjahr/SommerKollektion des Jahres 1999, bei der Tänzerin und Model Shalom Harlow in einem weißen Trapezkleid auf dem Laufsteg erschien und von zwei Robotern mit Farbe besprüht wurde. Alexander McQueens Schaffen stand aber auch für das Spiel mit den Insignien des memento mori, den Totenkopf-Ornamenten, zerschnittenen, zerschliessenen Stoffen oder verblichenen Farben, die er mit meisterhaftem Schneiderhandwerk kontrapunktiert. Die Motive der vanitas tauchen häufig in seinen Kollektionen auf und schmücken Schals, Schleifen und Manschettenknöpfe. Mehrfach hatte Alexander McQueen in seinen Kollektionen auf unterschiedliche Misstände in Gesellschaft und Politik hingewiesen, verwies doch seine Herbst/Winter-Kollektion des Jahres 1995 mit dem Titel Highland Rape auf das einstige kriegerische Vorgehen Englands gegenüber Schottlands. McQueen entwickelte in dieser Kollektion seine unverwechselbare Sprache aus dem TartanMuster, zerschnittenen Militärjacken und zerissenen Stoffen. Er definierte dabei die Präsentation von Kleidung auf dem Laufsteg auf neuartige Weise. Seine Inszenierungen waren Irritationen, sie verlagerten die Präsentation von Kleidung in ungewohnte Rezeptionssituationen. Kleidung erhielt somit eine ihr eigene Medialität, die sich durch Vielschichtigkeit in ihrem ästhetischen und semantischen Erscheinungsbild und in einem shift innerhalb einzelner medialer Felder, wie z.B. Fotografie, Film und Musik auszeichnet. McQueen kannte die Skripte
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des Modesystems detailliert. Er wusste, wo und wie er Irritationen und Provokationen einsetzen und die Abläufe des Systems dekonstruieren konnte. Seine Orientierungspunkte, Vivienne Westwood und John Galliano, hatten bereits aufgezeigt, wie Historie in Kleidungsstücke einzugravieren und das Stilmittel des pastiche einzusetzen ist. In den 1990er Jahren verwandelten sich die Laufstege von Präsentationsbühnen hin zu temporären Ausstellungshallen, komplexen und aufwendigen Inszenierungen, wobei sie sich dabei häufig an den Strategien der zeitgenössischen Kunst orientierten. Sie nahmen die Sprache der Kunst auf und machten sich diese zu eigen. Die Präsentation von Mode fand immer häufiger an ungewöhnlichen, temporär ausgestalteten Orten und Räumen statt. Der Begriff des Mode-Künstlers formierte sich in dieser Zeit und wurde durch eine ganze Reihe von internationalen Ausstellungen in Kunstmuseen und Galerien untermauert als ein Entwicklungsprozess, der bis heute andauert.84 Nur wenige Kleidermacher, wie z.B. Hussein Chalayan, Martin Margiela, Walter van Beirendonck oder Vivienne Westwood bekannten sich allerdings dazu, die unverkennbare Liaison von Mode und Kunst deutlich zu artikulieren.85
D ER ›U NION J ACK C OAT‹, DIE F IGUR DES J OHN B ULL UND EIN PASTICHE AUF DEN ENGLISCHEN P ATRIOTISMUS Das pastiche ist bei David Bowie, sowohl als Hommage oder Parodie, ein fester Bestandteil seines Rollenrepertoires, das vor allem in den frühen 70er Jahren des 20. Jahrhunderts in der Figur des Ziggy Stardust gipfelte. Bowie verkörperte mit Stardust einen nahezu klischeehaften Rockstar, der schließlich am Höhepunkt seiner Karriere unterging. Mit dem ›Union Jack Coat‹ verwendet Bowie zusammen mit McQueen erneut das Stilmittel des pastiche. Basierend auf dem Stoff mit dem Muster der englischen Flagge, des ›Union Jack‹, referieren die beiden Künstler die Figur des John Bull. Bull ist ein Geschöpf des englischen Arztes und Polit-Satirikers John Arbuthnot. Er führte den allegorischen Charakter des John Bull im Jahr 1712 mit seiner Schrift ›Law is a bottomless pit‹ ein und zeichnete Bull darin als den Inbegriff des konservativen, gierigen und jähzornigen Engländers (Abb. 5). Im Verlauf des 18. Jahrhunderts erfuhr die Figur des John Bull aber einen signifikanten Bedeutungswandel, steht sie doch danach für einen vielmehr heroischen Geist, einem Archetypus des freigeborenen Engländers gleichend. Was dennoch blieb, ist die typische Erscheinungsform des John Bull, in kniehohen Lederstiefeln, Kniebundhosen und einem blauen ›Frock Coat‹, der die englische Herrenmode des 18. und frühen 19. Jahrhunderts stark 84 | Vgl. dazu u.a. Wenrich, Rainer: Kunst und Mode im 20. Jahrhundert, Weimar 2003. 85 | Hussein Chalayan. Die Anziehungskraft des Grenzgängers, in: Gockel, Cornelia/Kirschenmann, Johannes (Hg.): Orientierung in der Gegenwartskunst, Seelze 2010, S. 66-67.
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beeinflusste. Der ›Frock‹, der danach in verschiedenen Varianten erschien, häufig mit aufgeschlagenen Manschetten, Stehkragen oder Revers, definierte sich vor allem durch seine Schlichtheit und seine ungezwungene Form. Das Kleidungsstück avancierte in einer Zeit, die vor allem für einen zunehmenden Individualismus im Bereich der Kleidermode steht, zu dem herausragenden vestimentären Symbol Englands.
Abbildung 5: John Bull Quelle: Bolton, Andrew: AngloMania, New York 2006, S. 18 Es ist gerade aber auch der ›Frock Coat‹, der das Erscheinungsbild des jungen Werther in Johann Wolfgang Goethes als Briefroman formulierter Liebesleid-Geschichte prägt. Die ›Leiden des jungen Werther‹ aus dem Jahr 1774 wurden von Goethe aufgrund seiner Leidenschaft für die für ihn unerreichbare Lotte Buff autobiografisch angelegt. Der Briefroman basiert aber vor allem im Hinblick auf seinen dramatischen Ausgang auf der Geschichte des unglücklich in die Gattin eines Freundes verliebten Legationssekretärs Jerusalem, von dem Goethe im zwölften Buch seiner ›Dichtung und Wahrheit‹ erzählt.86 Goethe beschreibt darin jenen 86 | Goethe, Johann Wolfgang: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, Dritter Teil, Zwölftes Buch, Stuttgart/Tübingen 1840, S. 118.
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englischen Kleidungsstil des Legationssekretärs, der als ›Werthertracht‹ bekannt werden sollte: »Seine Kleidung war die unter den Niederdeutschen, in Nachahmung der Engländer, hergebrachte: blauer Frack, ledergelbe Weste und Unterkleider, und Stiefeln mit braunen Stolpen.« Nicholas Boyle beschreibt in seiner Goethe-Biografie den Protagonisten und die berühmte ›Werthertracht‹, die ihn »[…] als einen Menschen verriet, der lieber der englischen als der französischen Mode folgte und ein Leben in der freien Natur, nicht in den Salons führte.«87 Der Maler Johann Georg Ziesensis zeigte in seinem Portrait des Prinzen Ernst Ludwig von Sachsen-Gotha-Altenburg aus dem Jahr 176888, demnach sechs Jahre vor dem Erscheinen von Goethes Werther, den späteren Herzog Ernst II. in jener englischen Kleidung, die wenig später als ›Werthertracht‹ bekannt wurde. Die angesprochene Farbkombination in den einzelnen Stücken des englischen Stils symbolisierte in ihrer politischen Komplexität das Bild der Freiheit und Unabhängigkeit. Nicht zuletzt deshalb wurde sie auch von der englischen Partei der ›Whigs‹ als ein »Kennzeichen einer kompromisslos bürgerlichen Partei gewählt«.89
Z USAMMENFASSUNG Nimmt man die im vorangegangenen Abschnitt formulierten Gedanken und führt sie zurück auf das weiter oben analysierte Kleidungsstück des ›Union Jack Coat‹, dann verknüpfen sich das formale Erscheinungsbild des ›Frock‹ und sein signifikanter Schnitt mit der starken grafischen Wirkung der englischen Flagge, der Irritation und Provokation durch die dramatischen Eingriffe in den Stoff und einer Ambivalenz von gestalterischer Dekonstruktion und nationaler Identifikation. David Bowies und Alexander McQueens Mantel erinnert mehr an die Figur des John Bull und transportiert in seiner Erscheinung den Bedeutungswandel dieser für England so wichtigen Personifikation, wie sie weiter oben skizziert wurde. Der ›Frock‹ ist völlig zerschunden, voller Löcher und brachial vorgetragenen Brandspuren, gleichzeitig, aber aufgrund von McQueens meisterlicher handwerklicher Kompetenz explizit geschneidert. Der ›Frock‹ ist somit ein pastiche auf den englischen Patriotismus, ein schichtweises Abtragen politischer und gleichzeitig kleidermodischer Hegemonie, die, so wie es Andrew Bolton, Kurator des Costume Institute am Metropolitan Museum New York, bezeichnete, ihn als »postmoderne Umarbeitung von Hogarths ›O! the Roast Beef of Old England‹« 87 | Vgl. dazu auch: Lehnert, Gertrud: Rosa Schleifen, blaue Fräcke. Zur Verbürgerlichung der Mode im 18. Jahrhundert. In: Der Deutschunterricht 60, 08/4, Seelze 2008, S. 20-30. Boyle, 1995, S. 208. 88 | Der Standort des Bildes ist die Gemäldegalerie der Staatlichen Museen zu Berlin. http:// ieg-ego.eu/de/mediainfo/johann-georg-ziesensis-171620131776-prinz-ernst-ludwigvon-sachsen-gotha-altenburg-in-werthertracht (31.03.2015). 89 | Boyle, Nicholas: Goethe. Der Dichter in seiner Zeit, München 1995, S. 208.
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auszeichnet.90 William Hogarths gleichnamiges Bild aus dem Jahr 1748/49 91 steht dabei beispielhaft für die von Voltaire ausgerufene ›Anglomania‹ des 18. Jahrhunderts und emblematisch für England als Land des Verstandes, der Freiheit und Toleranz. Alexander McQueen, der den ›Frock‹ mehrfach in seinen Kollektionen verwendete entwickelte mit diesem Schnitt Kleidungsstücke, in die Geschichte gleichsam eingeschrieben wurde, symbolisch für England und englisches Gedankengut. Der ›Frock‹ wirkt dabei wie eine Allegorie, die England verkörpert, hervorgegangen aus der Figur des John Bull. Dadurch wurde er zu einem herausragenden Bekleidungssymbol, ein kraftvoller Signifikant für Englands wahrgenommene Freiheiten.92 Mit der Kollektion ›Highland Rape‹ des Jahres 1995/96, die den Durchbruch für ihn als Kleidermacher markierte, öffnete McQueen einen Blick auf seinen eigenen Patriotismus, vor allem seine schottische Herkunft. Mit ›Highland Rape‹ zeichnete McQueen, dessen Vorfahren von der Isle of Skye stammen, den verheerenden Umgang Englands mit seinem Nachbarn Schottland nach. Der gemusterte Spitzenstoff wurde von McQueen zerschnitten, die handwerklich meisterhaft verarbeiteten Stücke wurden von ihm rigoros mechanisch manipuliert.93 Es sind diese Aspekte, zusammen mit weiteren für McQueen typischen Gestaltungsvokabeln, wie etwa die Taillierung, das Schlitzen und die betonten, emporgehobenen Schultern, die sich in der Umsetzung des ›Union Jack Coat‹ gemeinsam mit David Bowie vereinen.94 Die Schnitte, Risse und mannigfaltigen Manipulationen des Stoffes wurden in McQueens Kollektion ›Highland Rape‹ präfiguriert. Schneiderkunst der Savile Row, historisches Bewusstsein und politische Komplexität griffen ineinander und übersetzten als ›vestimentärer Text‹ Bowies Körper in einen eigenständigen performativen Modekörper.95 90 | Bolton, Andrew: AngloMania. Tradition and Transgression in British Fashion, New York 2006, S. 19. 91 | Das Bild befindet sich in der Tate Britain in London. www.tate.org.uk/art/artworks/ hogarth-o-the-roast-beef-of-old-england-the-gate-of-calais-n01464 (31.03.2015). 92 | Buruma, Ian: Tell a Man by his Clothes, in: Bolton, Andrew: AngloMania. Tradition and Transgression in British Fashion, New York 2006, S. 19. 93 | »[This collection] was a shout against English designers ... doing flamboyant Scottish clothes. My father’s family originates from the Isle of Skye, and I’d studied the history of the Scottish upheavals and the Clearances. People were so unintelligent they thought this was about women being raped—yet Highland Rape was about England’s rape of Scotland.« Time Out (London), September 24–October 1, 1997. http://blog.metmuseum.org/alexanderMc Queen/tag/highland-rape/ (31.03.2015). 94 | Blanks, Tim: An Interview with Sarah Burton. Creative Director Alexander McQueen, in: Bolton, Andrew: Alexander McQueen. Savage Beauty, New York 2011, S. 225. 95 | Lehnert, Gertrud: Mode. Theorie, Geschichte und Ästhetik einer kulturellen Praxis, Bielefeld 2013, S. 10.
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Autorinnen und Autoren
Burcu Dogramaci, Dr. phil., Professorin für Kunstgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München; Studium der Kunstgeschichte in Hamburg und 2000 Promotion; 2003-2006 Forschungsstipendiatin der DFG; 2005 Stipendium des Aby M. Warburg-Preises; 2007 Habilitation und 2008 Kurt-Hartwig-SiemersWissenschaftspreis. 2011/12 Fellow am Center for Advanced Studies (CAS) der LMU. Forschungen zu Mode, Medien und Moderne, Exil und Migration, Stadtkultur und Fotografie. Publikationen zu Mode und Fotografie (u.a.): Fotografieren und Forschen. Wissenschaftliche Expeditionen mit der Kamera im türkischen Exil nach 1933, Marburg 2013; Wechselbeziehungen. Mode, Malerei und Fotografie im 19. Jahrhundert, Marburg 2011; (Hg.) Großstadt. Motor der Künste in der Moderne, Berlin 2010; Lieselotte Friedlaender (1898-1973); (Hg. m. S. Lux/U. Rüter) Schnittstellen. Mode und Fotografie im Dialog, Hamburg 2010; Eine Künstlerin der Weimarer Republik. Ein Beitrag zur Pressegraphik der zwanziger Jahre, Tübingen 2001. Elke Gaugele, Dr. phil., ist Empirische Kulturwissenschaftlerin und Professorin an der Akademie der Bildenden Künste in Wien. Am Institut für das künstlerischen Lehramt leitet sie den Fachbereich »Moden und Styles«: ein künstlerischwissenschaftliches Studium, das gestalterische Praxis mit dem Studium kritischer Theorien und der Vermittlung von Moden und Styles verbindet. Sie forscht und publiziert zu den Epistemologien von Mode und Stil, zu postkolonialen und queer-feministischen Perspektiven für die Fashion Studies, zu Biopolitiken und ästhetischen Politiken der Mode, Migration und Globalisierung sowie zu Open Cultures/D.I.Y. Aktuelle Publikationen: Aesthetic Politics in Fashion. New York/ Berlin: Sternberg 2014 (Hg.); Do it with Others! Gemeinsam anders tun: Moden, Styles und Postkolonialismus Weinheim: Beltz 2014/15 (Hg. mit Ruby Sircar und Sabina Muriale); Craftista! Handarbeit als Aktivismus, Mainz 2011(Hg. mit Sonja Eismann, Verena Kuni, Elke Zobl); Blacklisted Glunge-Guru: Rick Owens. In: »Pop.Kultur und Kritik«, H. 4 (2014); Fashion & Textile Studies. Positionen und Perpektiven eines neuen transdisziplinären Fach- und Forschungsprofils. In: FKW. Zeitschrift für Geschlechterforschung und Visuelle Kultur. H 52 12/2011;
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Die Medialität der Mode
Fashion Design, in: Michael Erlhoff, Tim Marshall (Hg.): Design Dictionary (Board of International Research in Design), Cambridge MA 2008, S. 273-276. Heike Jenß, Dr. phil., seit 2006 Assistant Professor of Fashion Studies, Parsons The New School for Design; Studium der Vergleichenden Textilwissenschaft (kulturgeschichtlich), Kunstgeschichte und Amerikastudien in Dortmund, Bochum und Glasgow; 1999-2002 wissenschaftliche Hilfskraft an der Universität Dortmund; 2002-2005 wissenschaftliche Angestellte in dem an den Universitäten Dortmund und Frankfurt angesiedelten Forschungsprojekt »Uniform in Bewegung: Zum Prozess der Uniformierung von Körper und Kleidung« (www.unifrankfurt.de/uniform/). Dissertation über Konsum- und Inszenierungspraktiken in der Sixties-Szene; 2005-2006 wissenschaftliche Angestellte am Institut für Kunst und Materielle Kultur an der TU Dortmund mit dem Schwerpunkt Kulturanthropologie des Textilen. Yuniya Kawamura, Professorin für Soziologie am Fashion Institute of Technology (F.I.T.)/State University of NY. Sie ist die Autorin von Fashion-ology: An Introduction to Fashion Studies (Berg 2005), übersetzt in das Italienische, Schwedische, Russische und Chinesische. Mitglied im Board der Herausgeber von Fashion Theory (Berg/Bloomsbury), Fashion Practice (Berg/Bloomsbury) und dem International Journal of Fashion Studies (Intellect). Promotion im Fach Soziologie an der in Columbia University im Jahr 2001. Sie hat auch eine Ausbildung als Modedesignerin. Harold Koda, seit Curator in Charge im Costume Institute des Metropolitan Museum of Art in New York; B. A. an der University of Hawaii, B.F.A. in Kunstgeschichte; Studium am Institute of Fine Arts der New York University, M.A. im Fach Landschaftsarchitektur an der Harvard University in 2000; Auszeichnungen durch das Council of Fashion Designers of America im Jahr 1986 und 1997, durch die Costume Society of America den Richard Martin Award für die Ausstellung Poiret: King of Fashion. Zahlreiche Ausstellungen u.a. Goddess (2003), Dangerous Liaisons (2004), Poiret: King of Fashion (2007), The Model as Muse: Embodying Fashion (2009), Schiaparelli and Prada: Impossible Conversations (2012) und Charles James: Beyond Fashion (May 2014); er war verantwortlich für den Transfer der Brooklyn Museum’s Costume Collection in das Metropolitan Museum of Art im Jahr 2009 und die Neueröffnung des Costume Institute im Mai 2014 als Anna Wintour Costume Center; er arbeitete gemeinsam mit Richard Martin, seinem Vorgänger als Kurator und entwickelte mit ihm 12 herausragende Ausstellungen, u.a. Diana Vreeland: Immoderate Style (1993), Madame Grès (1994) und Christian Dior (1996). Koda publizierte als Mitherausgeber 20 Bücher, darunter 12 Ausstellungskataloge; er lehrt an unterschiedlichen Hochschulen und Instituten und publiziert regelmäßig in Fachzeitschriften, Kokurator für
Autorinnen und Autoren
die Ausstellung Giorgio Armani (2000) im Solomon R. Guggenheim Museum in New York, er arbeitete 11 Jahre im Edward C. Blum Design Laboratory am Fashion Institute of Technology, als Kurator für die dortige Costume Collection, und als Leiter des Design Laboratory von 1979 bis 1992, war Kurator für die Ausstellung Balenciaga (1986) und konzipierte die Ausstellungen Jocks and Nerds (1989), Splash! (1990) und Halston: Absolute Modernism (1991). Er war Ausstellungsassisstent bei Diana Vreeland am Costume Institute des Metropolitan Museum of Art und entwickelte die Ausstellungen: The Glory of Russian Costume (1976) und Vanity Fair (1977). Antje Krause-Wahl, Dr. phil., Studium der Kunst/Kunsterziehung, Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft in Kiel, Wien und Leipzig. 2011-2013 Vertretungsprofessorin für Kunsttheorie an der Kunsthochschule Mainz. Zur Zeit forscht sie auf einer von der DFG geförderten Stelle am Institut für Kunstgeschichte Frankfurt a.M. über die Beziehungen zwischen Kunst und Mode in Künstler- und Modezeitschriften im 20. Jahrhundert. Alicia Kühl, Dr. phil., studierte Kulturwissenschaften an der Universität Leipzig und promovierte an der Universität Potsdam bei Prof. Dr. Gertrud Lehnert über die Rolle der Modenschau im Modezyklus. Der Dissertation mit dem Titel »Modenschauen. Die Behauptung des Neuen in der Mode« liegt die These zugrunde, dass die Etikettierung einer Kleidung als Mode bereits in der Modenschau beginnt. Es wird angenommen, dass sich der Ort der Innovativität vom Modedesign zum Modenschaudesign verlagert hat, und damit nicht nur die Position und Funktion der Modenschau, sondern auch die der Kleidung innerhalb des Modezyklus in Frage gestellt werden können. Im Wintersemester 2010 war sie Lehrbeauftrage an der Universität Potsdam und seit April 2011 Promotionsstipendiatin des DFG-Graduiertenkollegs »Sichtbarkeit und Sichtbarmachung. Hybride Formen des Bildwissens«. Ihre Forschungsinteressen liegen in der Modetheorie und -geschichte sowie in den Theorien über Raum, Performativität, Atmosphären und über das Neue. Mahret Kupka, Dr. phil., Kuratorin für Mode, Körper und Performatives am Museum Angewandte Kunst in Frankfurt a.M.; studierte Kunstwissenschaft/ Medientheorie, Philosophie und Ausstellungsdesign an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe, sowie Volkswirtschaftslehre in Heidelberg. Promotion bei Prof. Dr. Wolfgang Ulrich und Prof. Dr. Elke Gaugele über Modeblogs als Effekt und Ergebnis kultureller Werteproduktion; tätig als freie Autorin und Dozentin für Modetheorie und Ausstellungskonzeption u.a. an der Akademie Mode und Design in Berlin und der Johann-Wolfgang-Goethe Universität Frankfurt.
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Die Medialität der Mode
Ulrich Lehmann, Dr. phil., hat eine Forschungsprofessur an der University for the Creative Arts in Rochester (Kent) inne, wo er auch den Master-Kurs in Modedesign leitet, ist u.a. Honorary Research Fellow am Victoria and Albert Museum, London; studierte Philosophie, Soziologie and Kunstgeschichte in Frankfurt a.M., Paris und London. Seine Forschungsinteressen liegen in der Geschichte der europäischen Materialkultur von 1780 bis 1850 und der Materialität des Gegenwartsdesign, insbesondere der Mode. Gertrud Lehnert, Dr. phil., seit 2002 Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Potsdam, Institut für Künste und Medien; 1985 Promotion in Vergleichender Literaturwissenschaft an der Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn; 1994 Habilitation in Allgemeiner und Vergleichender Literaturwissenschaft an der Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt a.M., 1984-1990 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität Bonn, 1990 -1991 Feodor-LynenStipendiatin der Alexander von Humboldt-Stiftung an der Columbia University, New York; 1992-1996 Vertretungsprofessuren an den Universitäten Mainz und Bielefeld; 1999-2002 Oberassistentin am Institut für Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin; Geschäftsleitung des Sonderforschungsbereichs »Kulturen des Performativen«, 2005-2006 Studiendekanin, 2005 Gastprofessorin an der Université de Limoges. Seit 2002 Gutachterin für die Alexander von Humboldt-Stiftung und die Studienstiftung des deutschen Volkes; seit 2012 Vertrauensdozentin der Studienstiftung des deutschen Volkes und Beirätin für die Sektion Mode der Deutschen Gesellschaft für Semiotik; seit 2012 Herausgeberin der Buchreihe Fashion Studies im transcript Verlag, Bielefeld. Forschungsschwerpunkte in den Bereichen Modegeschichte und -theorie, Kulturelle Visualisierungs- und Inszenierungsstrategien, Gender Studies, Raum und Emotion. Petra Leutner, Dr. phil., seit 2006 Professorin für Modetheorie und Ästhetik an der AMD School of Fashion, Fachbereich Design der Hochschule Fresenius. Davor Gastprofessur für Wahrnehmungstheorie an der HfG Offenbach sowie Lehre und Forschung an der TU Darmstadt, der Universität Siegen, der TU Karlsruhe, der Goethe-Universität Frankfurt a.M. Studium der Germanistik, Philosophie und soziologie in Frankfurt a.M.; Promotion 1993 zum Thema »Wege durch die Zeichen-Zone. Reflexion der Sprachmagie in der absoluten Poesie«; zahlreiche Publikationen auf den Gebieten Wahrnehmungstheorie, Modetheorie, Ästhetik, Absolute Poesie u.a. mit Hans-Peter Niebuhr: Bild und Eigensinn. Über Modalitäten der Anverwandlung von Bildern, Bielefeld 2006; zuletzt: »Faltenwelt. Über Figuren des Textilen bei Marion Poschmann«, in: Hubert Winkels (Hg.): Marion Poschmann trifft Wilhelm Raabe, Berlin 2014.
Autorinnen und Autoren
Gabriele Mentges, Dr. phil., Professur für Kulturgeschichte der Bekleidung/ Mode/Textilien am Institut für Kunst und Materielle Kultur an der Technischen Universität Dortmund; Studium der Ethnologie, Volkskunde, Soziologie und Philosophie an den Universitäten Hamburg, Heidelberg, Marburg; Studienaufenthalt in Paris Musée de l’Homme; Konservatorin am Württembergischen Landesmuseum (Stellvertretende Abteilungsleiterin, Referate Textilien, Industrielle Alltagskultur); Konzeption und Realisierung von Ausstellungen: Dauerausstellung des Museums für Volkskultur in Württemberg, Waldenbuch Schloss, Außenstelle des WLM; Email-Reklameschilder. Die Sammlung Maurer; Auf und Zu. Von Knöpfen, Schnüren, Reißverschlüssen. Arbeitsschwerpunkte in der Bekleidungsund Körpergeschichte seit der frühen Neuzeit, Modediskurse, Museologie, Alltags- und Industriekultur. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Kleidung – Körper und Technoculture (Technotextiles, Piercing). Ingrid Mida, BA (University of Waterloo), MA in Fashion (Ryerson University), Kuratorin und Sammlungskoordinatorin der Fashion Research Collection an der Ryerson University in Toronto/Kanada und baut derzeit den Online-Katalog zu dieser Sammlung auf; Doktorandin in Kunstgeschichte an der York University, Toronto/Kanada. Sie arbeitet an einer Publikation mit dem Titel The Dress Detective: A Practical Guide to Object-based Research in Fashion, die im Jahr 2015 bei Bloomsbury Fashion erscheinen wird. Birgit Richard, Dr. phil., Professorin für Neue Medien in Theorie und Praxis am Institut für Kunstpädagogik der Goethe-Universität Frankfurt a.M. Ihre Hauptarbeitsfelder und Forschungsprojekte konzentrieren sich insbesondere auf mediale Bildkulturen (Jugend – Kunst – Gender), Todesbilder, audiovisuelle Mediengestaltung sowie jugendkulturelle Ästhetiken. 1994 initiierte sie das Jugendkulturarchiv, eine stetig wachsende Privatsammlung, die unterschiedlichste Objekte vor der ästhetischen Lebenswelten von Jugendlichen und Subkulturen beherbergt und momentan an der Goethe-Universität in Frankfurt a.M. untergebracht ist. Als Kuratorin realisierte sie Ausstellungen im In- und Ausland u.a. inter-cool 3.0. Jugend, Bild, Medien (2010, Dortmund), DEAD Lines. Der Tod in Kunst, Medien, Alltag (2011/2012, Wuppertal und Remscheid) Megacool 4.0 – Jugend und Kunst (2012, Wien). Valerie Steele, Dr. phil., Direktorin und Kuratorin »The Museum at the Fashion Institute of Technology« in New York. Seit dem Jahr 1997 hat sie dort mehr als 20 Ausstellungen organisiert: A Queer History of Fashion: From the Closet to the Catwalk (2014), Shoe Obsession (2013), Daphne Guinness (2011), Gothic: Dark Glamour (2008); Love & War: The Weaponized Woman (2006); London Fashion (2002) und The Corset (2000). Sie ist Gründerin und Herausgeberin von Fashion Theory: The Journal of Dress, Body & Culture.
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Die Medialität der Mode
Dagmar Venohr, Dr. phil., ist Modewissenschaftlerin und Geschäftsführerin eines Stoffgeschäfts; studierte nach einer Schneiderlehre Kulturwissenschaften, Philosophie und Bildende Kunst in Hildesheim und Bologna. Ihre Themenschwerpunkte liegen in der Sprachphilosophie, der Mode- und Medientheorie, der Popkultur und im Modejournalismus. Sie promovierte im Bereich der Modewissenschaft über die Konstitution von Mode innerhalb des Text-Bild-Verhältnisses von Modezeitschriften. www.dagmar-venohr.de Barbara Vinken, M.A., Dr. phil. (Konstanz), Ph.D. (Yale), Dr. phil. habil. (Jena); seit 2004 Professorin für Allgemeine Literaturwissenschaft und Romanische Philologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU); sie war Gastprofessorin an der New York University (zuletzt 2012), der Humboldt-Universität zu Berlin, der EHESS Paris, der Université Michel de Montaigne in Bordeaux, der Johns Hopkins University in Baltimore, der FU Berlin, am Zentrum für Literaturund Kulturforschung in Berlin (ZfL, 2011) und an der University of Chicago (The Franke Institute for the Humanities, Center for Disciplinary Innovation, 2012). Bevor sie an die LMU wechselte, folgte sie Rufen auf die romanistischen Lehrstühle in Hamburg und Zürich; 2012/2013 arbeitete sie als Senior Researcher in Residence in einem Fellowship am Center for Advanced Studies der Ludwig-Maximilians-Universität München. Katja Weise, M.A.; seit 2012 Assoziierte am Graduiertenkolleg »Sichtbarkeit und Sichtbarmachung. Formen hybriden Bildwissens« an der Universität Potsdam. Lehrbeauftragte an der Universität Potsdam sowie freiberufliche Tätigkeit im Bereich kulturelle Bildung v.a. in Museen.Studium der Theaterwissenschaft und Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Promotionsprojekt mit dem Titel »Das gezähmte Kleid, der gebändigte Körper – Taktilität und implizites Wissen der Kleidermode in zeitgenössischen Ausstellungsinszenierungen«. Rainer Wenrich, Dr. phil., Kunstpädagoge und Kunstwissenschaftler, Studiendirektor im Hochschuldienst für Kunstdidaktik, Kunstgeschichte und Kunsttheorie am Lehrstuhl für Kunstpädagogik der Universität Augsburg und Geschäftsführer der Bayerischen Museumsakademie; Mitglied von ICOM und des ICOM Costume Committee; Studium der Malerei und Kunsterziehung an der Akademie der Bildenden Künste München; Studium der Kunstgeschichte, Kunstpädagogik, Psychologie und Promotion an der Ludwig-Maximilians-Universität in München über »Kunst und Mode im 20. Jahrhundert«. Bisherige Tätigkeitsfelder (in Auswahl): Vertretungsprofessur an der Akademie der Bildenden Künste München, Fachreferent am Bayerischen Staatsministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst, Forschungsaufenthalt im Costume Institute des Metropolitan Museum of Art New York; Teilnehmer des »Project Zero Classroom« an der Harvard Graduate School of Education, Cambridge/MA und Visiting Scholar an
Autorinnen und Autoren
der Columbia University, New York. Forschungsschwerpunkte in den Bereichen Kunstdidaktik, Design- und Kostümgeschichte sowie Modetheorie. Philipp Zitzlsperger, Dr. phil., seit 2010: Professur für Bildwissenschaft an der Hochschule Fresenius, Fachbereich Design, seit 2013 dort Forschungsdekan; studierte Kunstgeschichte, Archäologie und Neuere Geschichte in München und Rom. In seiner Magisterarbeit bearbeitete er das Thema »Die gotischen Skulpturenzyklen der ›klugen und törichten Jungfrauen‹ in Deutschland«. In seiner Dissertation beschäftigt er sich mit der politischen Ikonographie der Papst- und Herrscherporträts des Gianlorenzo Bernini. Habilitation 2007 wurde an der Humboldt-Universität zu Berlin. Die Habilitationsschrift (Titel: Kleider sprechen Bände. Kostümkunde als Methode der Kunstgeschichte erläutert an Beispielen von Crivelli, Dürer, Giorgione, Tizian, Raffael und Bernini) ist eine Reflexion methodischer Möglichkeiten, die durch die interdisziplinäre Kombination von Kunstgeschichte und Kostümgeschichte entstehen. Sie liegt in zahlreichen Einzelpublikationen vor; 2001-2010 Leitung des Forschungsprojekts »REQUIEM – Römische Papst- und Kardinalsgrabmäler der Frühen Neuzeit« als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kunst- und Bildgeschichte der HU-Berlin [zusammen mit Arne Karsten]; 2002-2008 verschiedene Lehraufträge in Basel, Braunschweig, Fribourg (Schweiz); 2009 Gastprofessur am Kunsthistorischen Seminar der Friedrich-Schiller-Universität Jena; 2004-2013 Vorstandsmitglied des Ulmer Vereins, Verband für Kunst- und Kulturwissenschaften e.V. (www.ulmer-verein.de).
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Fashion Studies Christa Gürtler, Eva Hausbacher (Hg.) Kleiderfragen Mode und Kulturwissenschaft Juli 2015, 214 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2819-7
Alicia Kühl Modenschauen Die Behauptung des Neuen in der Mode März 2015, 334 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2885-2
Gertrud Lehnert Mode Theorie, Geschichte und Ästhetik einer kulturellen Praxis (2., unveränderte Auflage 2015) 2013, 200 Seiten, kart., 24,90 €, ISBN 978-3-8376-2195-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Fashion Studies bei transcript Gertrud Lehnert, Alicia Kühl, Katja Weise (Hg.)
Modetheorie Klassische Texte aus vier Jahrhunderten
2014, 240 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2250-8 E-Book: 21, 99 € ISBN 978-3-8394-2250-2 Was ist Mode? Wozu Mode? Seit Jahrhunderten erklären Theoretiker und Theoretikerinnen auf unterschiedlichste Weise dieses facettenreiche Phänomen, das die modernen Gesellschaften prägt wie kaum ein anderes. Der Reader versammelt eine repräsentative Auswahl von modetheoretischen Originaltexten vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart, die mode- und diskursgeschichtlich eingeordnet und erläutert werden. Der Band ist ein unverzichtbares Arbeitsbuch für Studium, Lehre, Forschung und Praxis.
www.transcript-verlag.de