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German Pages 466 Year 2014
Christian Mersch Die Welt der Patente
Sozialtheorie
Christian Mersch (Dr.), Studium der Soziologie in Bielefeld, Bilbao, Luzern und Berlin, Promotion 2011. Zu seinen Forschungsinteressen zählen Patente, die Pharmabranche, Globalisierung und strategisches Management. Er arbeitet als globaler Vertriebsmanager für ein Pharmaberatungsunternehmen.
Christian Mersch
Die Welt der Patente Soziologische Perspektiven auf eine zentrale Institution der globalen Wissensgesellschaft
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Vorwort | 9 Kapitel 1: Einführende Perspektiven | 15
Impressionen | 15 Wissenschaftliche Positionierung | 20 Gedankengang und Gliederung | 23 Theoretisch-methodisches Selbstverständnis | 28 Hinweise zur Lektüre | 30 Kapitel 2: Funktion(en) des Patents: Von der ökonomischen zur soziologischen Perspektive | 33
Ökonomische Theorien des Patents | 33 Funktion, Gesellschaft, Autonomie | 46 Funktion und Leistungen des Patents | 51 Fazit: Von den „Patent Economics“ zur soziologischen Theorie | 57
Kapitel 3: Das Patent: Systemtheoretische Perspektiven | 61 Einleitung | 61
Rechtsinterne Stellung des Patentrechts | 62 Operativer Kern des Systems | 73 Interne Differenzierung: Zentrum und Peripherie | 83 Spezifika patentierten Wissens und die Universalität des Beobachtens | 95 Fazit: Autonomie, Interdependenz, strukturelle Kopplung | 116 Kapitel 4: Patentschriftlichkeit: Perspektiven auf die „Intertextualität“ des Patentsystems | 123
Einleitung | 123 Patentschrift: Aufbau und Funktion | 124 Patentschrift und Publikation: Divergenzen und Konvergenzen | 134 Patentindikatoren und -statistiken | 138 Fazit: Normativität, Öffentlichkeit und Gedächtnis | 145
Kapitel 5: Die Welt der Patente: Weltgesellschaftliche Perspektiven | 149
Patentrecht als Weltrecht? | 149 Der Globalisierungsbegriff und die Theorie der Weltgesellschaft | 154 Weltpatentsystem: Universalität und Globalität | 171 Harmonisierung des Patentrechts | 190 Das globale Gedächtnis des Patentsystems | 213 Fazit: Auf dem Weg zum Weltpatent? | 226 Kapitel 6: Vom Privileg zum Weltpatent: Historische Perspektiven | 231
Theoretische Vorbemerkungen | 231 Das Privileg | 237 Ausdifferenzierung: Umstellung auf schriftbasierte Öffentlichkeit | 249 Patentschriftlichkeit und Öffentlichkeit: Folgen und Limitierungen | 267 ‚Verweltlichung‘ des Patents: Absolute Neuheit und der Drang zum Globalen | 278 „Industrial research“ und organisiertes Patentmanagement | 287 Fazit: Zur Emergenz des Weltpatentsystems | 302 Kapitel 7: Patentmanagement in forschenden Unternehmen: Strategische Perspektiven | 307
Einleitung | 307 Patentmanagement: Unternehmerische Funktion | 309 Normative Aspekte des Patentmanagements | 321 Kognitive Aspekte des Patentmanagements | 342 Akademisches Patentieren | 368 Fazit: Patente und Konkurrenz | 375 Schlussbetrachtung | 383 Literatur | 389 Ausführliches Literaturverzeichnis | 449 Index | 453
Anhang | 461
Verzeichnis der Abbildungen | 461 Verzeichnis der Tabellen | 461 Verzeichnis der durchgeführten Interviews | 462
Vorwort
Dieses Vorwort eröffnet mir die Gelegenheit, mich bei all denjenigen zu bedanken, die mich bei meiner Forschung zu Patenten und bei der Erstellung dieses Buchs unterstützt und persönlich begleitet haben. Zunächst bedanke ich mich bei meinem Betreuer Rudolf Stichweh, der mich nicht nur früh für das Thema Patente zu begeistern wusste, sondern mich auch über alle „Längen“ in der Erstellung der Dissertation hinweg fachlich unterstützt hat. Ich bedanke mich ebenfalls bei Bettina Heintz, Martin Bühler, Wolfgang Knappe, Johannes Schmidt, Hartmann Tyrell, Raf Vanderstraeten für viele wertvolle Hinweise und Feedback zum Text und meiner Forschung zu Patenten; Tobias Werron danke ich im Besonderen für alltäglich gelebte Theoriekonsistenzinsistenzkommunikationskompetenz in früheren Phasen der Arbeit. Ich bedanke mich ferner bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft für das gewährte Promotionsstipendium und dem Bielefelder DFG-Graduiertenkolleg „Weltgesellschaft“ sowie der Universität Luzern für die Gewährung von Druckkostenzuschüssen. Ebenfalls bedanke ich mich bei Jan Beckmann, Martin Grunsky, Lutz Mensendiek, Burkhard Meyer, Anton Rochowski, Karl Schütt und Hanno Wolfram für all die freundschaftliche Unterstützung, die ich von ihnen nicht nur, aber vor allem auch während meiner Promotionszeit erfahren durfte. Mein besonders ausdrücklicher und herzlicher Dank gilt Klemens Rethmann. Ein letztes und ganz besonders herzliches Danke schön gilt meiner Familie. Zunächst meinen Eltern, die mir ein fortwährender großer Rückhalt sind. Und dann endlich meiner Frau Larissa, die mich bei der Fertigstellung dieses Projekts stets unermüdlich, geduldig und liebevoll unterstützt hat. Gewidmet sei dieses Buch meinem Freund Bastian Krauß, dessen Bemerkungen zu meinen Forschungen „in der Weltgeschichte“ mir fehlen.
Für Bastian (†)
„The very first official thing I did in my administration – and it was on the very first day of it too – was to start a patent office; for I knew that a country without a patent office and good patent laws was just a crab and couldn’t travel anyway but sideways and backwards.“ A Connecticut Yankee in King Arthur’s Court, by Mark Twain
Kapitel 1: Einführende Perspektiven
x „Öl des 21. Jahrhunderts“, x „Währung der Wissensgesellschaft“, x „Lifeblood of our industry“, das sind nur einige der schillerndsten Schlagwörter für Geistiges Eigentum und speziell für Patente. Das Patent, das neben dem Urheberrecht die bekannteste Variante des Geistigen Eigentums (Intellectual Property) darstellt, wird von vielen Beobachtern als eine der wichtigsten rechtlichen Institutionen in der modernen Gesellschaft angesehen. Da, so die herrschende Meinung, die moderne Gesellschaft (zunehmend) auf Wissen als „axialem Prinzip“ (Bell 1973) basiert, werden Einrichtungen, die wie der Patentschutz oder Urheber-und Markenrechte die Produktion von Wissen begünstigen, zu einem nicht mehr wegzudenkenden institutionellen Rückgrat dieser Gesellschaft. Von diesem positiven Zusammenhang zwischen Patenten und gesellschaftlicher Entwicklung war auch schon der „Connecticut Yankee“, ein Romanheld Mark Twains, überzeugt. Auf seine erste ministeriale Amtshandlung zurückblickend, formulierte dieser ein emphatisches Plädoyer für Patente: „The very first official thing I did in my administration – and it was on the very first day of it too – was to start a patent office; for I knew that a country without a patent office and good patent laws was just a crab and couldn’t travel anyway but sideways and backwards.“1
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Und er fährt fort: „The first thing you want in a new country is a patent office; then work up your school system; and after that, out with your paper“ (hier zitiert nach
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Eine Gesellschaft, die Erfindern keinen angemessenen rechtlichen Schutz für die wirtschaftliche Auswertung ihrer Erfindungen („good patent laws“) gewährt, muss früher oder später zur strukturellen Stagnation, wenn nicht sogar evolutionären Regression tendieren („couldn’t travel anyway but sideways and backwards“), so die beachtenswerte Aussage des Connecticut Yankee. Dass Patentrechte bzw. allgemeiner dass „Geistiges Eigentum“ einen wichtigen und auch zunehmend thematisierten Faktor in der modernen Gesellschaft repräsentiert, lässt sich auch an der Häufigkeit und Intensität, mit der um immaterielle Schutzrechte und deren Begründung gerungen wird, ablesen. Dies zeigt ein Blick auf das Urheberrecht: Angestoßen durch Vorstöße der Piratenpartei, das derzeit geltende Urheberrecht in Deutschland drastisch einzuschränken, eskalierte im Frühsommer 2012 ein öffentlicher Streit um die Begründung und zukünftige Gestaltung von Urheberrechten. Besonderes Aufsehen erregte der „Aufruf gegen den Diebstahl Geistigen Eigentums“, der von mehreren tausend Schriftstellern, Künstlern, Musikern und Wissenschaftlern unterschrieben wurde und der sich vehement gegen politische Forderungen, das Urheberrecht abzuschaffen, wandte.2
Richey 1947: S. 387). Beim Connecticut Yankee handelt es sich um einen amerikanischen Fabrikarbeiter, der in ein Zeitloch fällt und im sechsten Jahrhundert an König Artus’ Hof zum Minister ernannt wird. Mark Twain hielt im Übrigen unter seinem bürgerlichen Namen Samuel Clemens mehrere Patente beim US-amerikanischen Patentamt (vgl. Federico 2003). 2
Der Aufruf richtete sich insbesondere gegen die Postulierung eines grundsätzlichen Interessengegensatzes zwischen Urhebern und der Verwertungsindustrie und betonte die Notwendigkeit eines funktionierenden Urheberrechts als Grundlage für geistige/künstlerische Tätigkeit: „Mit Sorge und Unverständnis verfolgen wir als Autoren und Künstler die öffentlichen Angriffe gegen das Urheberrecht. Das Urheberrecht ist eine historische Errungenschaft bürgerlicher Freiheit gegen feudale Abhängigkeit, und es garantiert die materielle Basis für individuelles geistiges Schaffen. Der in diesem Zusammenhang behauptete Interessengegensatz zwischen Urhebern und „Verwertern“ entwirft ein abwegiges Bild unserer Arbeitsrealität. In einer arbeitsteiligen Gesellschaft geben Künstler die Vermarktung ihrer Werke in die Hände von Verlagen, Galerien, Produzenten oder Verwertungsgesellschaften, wenn diese ihre Interessen bestmöglich vertreten und verteidigen. Die neuen Realitäten der Digitalisierung und des Internets sind kein Grund, den profanen Diebstahl geistigen Eigentums zu rechtfertigen oder gar seine Legalisierung zu fordern. Im Gegenteil: Es gilt, den Schutz des Urheberrechts zu stärken und den heutigen Bedingungen des schnellen und massenhaf-
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Etwa ein Jahr zuvor hatte der Skandal um die plagiierte Doktorarbeit des damaligen Verteidigungsministers zu Guttenberg für einige Wochen die Medien beherrscht. Neben der politischen Brisanz und Skandalträchtigkeit des Vorgangs war vor allem die Geschwindigkeit bemerkenswert, mit der Freiwillige – gestützt auf einen Anfangsverdacht (vgl. Fischer-Lescano 2011) – auf der Internetplattform „Guttenplag“ binnen weniger Tage das drastische Ausmaß des wissenschaftlichen Betrugs anhand von mehreren hundert Fundstellen belegten (www.guttenplag.de).3 Auch über Patentrechte wird intensiv debattiert und rechtlich gestritten, insbesondere dann, wenn sie kommerziell attraktive Marktinnovationen betreffen. Pharmaunternehmen etwa, für die im Falle lukrativer „blockbuster“ jeder verbleibende Tag Marktexklusivität kommerziell bedeutend ist, sehen sich regelmäßig mit Patentklagen von Generikaproduzenten konfrontiert. Diese Hersteller von Nachahmerpräparaten sind in patentrechtlicher Hinsicht darauf spezialisiert, wichtige Teilpatente einer Gesamtinnovation durch gezieltes Beklagen zu Fall zu bringen. Die Häufigkeit von Patentanmeldungen und die Intensität rechtlicher Auseinandersetzungen ist in der Halbleiter- und Elektronikbranche besonders ausgeprägt, wo weltweit jedes Jahr Hunderttausende von Patenten angemeldet und Patentstreitigkeiten mitunter durch Zahlungen in Höhe von mehreren Hundert Millionen Dollar beigelegt werden. Als bekanntes Beispiel gilt der Betrag von 625 Millionen US-Dollar, die der Hersteller der blackberry™-Mobiltelefone, R.I.M. (Research in Motion), der Patentverwertungsagentur NTP im Jahr 2006 überwies, um eine Fortsetzung des Streits um verletzte NTPPatente und damit einen drohenden Produktions- und Betriebsstopp qua einstweiliger Verfügung abzuwenden.4
ten Zugangs zu den Produkten geistiger Arbeit anzupassen […]“ (www.wir-sind-dieurheber.de); vgl. als Kommentar Kaube 2012. 3
Zum Zeitpunkt des Abschlusses dieses Manuskripts im Oktober 2012 sieht sich mit der Bildungsministerin Annette Schavan eine weitere hochrangige Politikerin mit massiven Vorwürfen konfrontiert, beim Verfassen ihrer Dissertation plagiiert zu haben (siehe etwa Hoffmann 2012).
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Als die wahrscheinlich höchste Summe, die ein Unternehmen durch die Lizenzierung bzw. den Verkauf seines Patentportfolios bis heute erlöst hat, dürften die 4.5 Milliarden Dollar gelten, die ein Konsortium um Apple im Jahr 2011 bot, um den Patentpool des liquidierten Telekommunikationsausrüsters Nortel Networks zu ersteigern. Ein weiteres interessantes Beispiel für die im Telekommunikationsmarkt typischen extrem hohen Investitionen in Patente ist die Übernahme der Handy-Sparte von Motorola, für
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Ein weiteres aktuelles Beispiel sind die Auseinandersetzungen zwischen den Softwarekonzernen Oracle und Google. Oracle warf Google vor, mit seinem Smart-Phone Betriebssystem Android Patente und zusätzlich urheberrechtliche Ansprüche auf die Programmiersprache Java zu verletzen.5 Gleichzeitig laufen zur Zeit in vielen Ländern Patentauseinandersetzungen zwischen Kommunikationstechnologiekonzernen wie Apple, Samsung, HTC, Samsung und Motorola: ein jüngstes besonders prominentes Beispiel sind die patentrechtlichen Auseinandersetzungen zwischen Apple und Samsung mit dem vorläufig schlechteren Ende für Samsung, da ein kalifornisches Gericht im August 2012 entschied, dass Samsung mit mehreren Geräten (vor allem Galaxy-Smartphones) Softwarepatente und Geschmacksmuster (design patents) von Apple verletzt.6 Während Urheberrechte in der Öffentlichkeit eher als personenbezogene Schutzrechte wahrgenommen werden, wird das Patent stärker mit der von großen Unternehmen und technologischer Forschung und Entwicklung (F&E) vorangetriebenen „capitalist engine“ (Schumpeter) in Verbindung gebracht. Wie bereits eingangs illustriert und vom Connecticut Yankee nachdrücklich postuliert, stellen Patente in der vorherrschenden, dem technologischen Fortschritt positiv gegenüber eingestellten Beobachterperspektive einen unverzichtbaren rechtlichen Rahmen für den kapitalistischen Wirtschaftsprozess dar. Es hängt auch mit dieser engen Beziehung zwischen Patenten und dem modernen Kapitalismus zusammen, dass diese positiv-affirmative Einstellung gegenüber Patenten
die Google im Jahr 2011 12.5 Milliarden US-Dollar aufwandte. Für Google bestand der Zweck dieser Übernahme vor allem darin, sich die Rechte an den ca. 17.000 Patenten Motorolas zu sichern, um sich eine bessere Verhandlungsposition für die Patentstreitigkeiten um die Android Handy-Technologie zu verschaffen (Schmidt 2011); vgl. auch die diesbezüglichen Analysen im letzten Kapitel, insbesondere S. 352ff. 5
Diese Schutzrechte waren im Zuge der Übernahme von Sun Microsystems durch Oracle im Jahr 2009 auf Oracle übergegangen. Sun Microsystems hatte eine Benutzung dieser Schutzrechte im Rahmen seiner „open access“-Politik noch geduldet bzw. (mutmaßliche) Patent- und Urheberrechtsverletzungen nicht aktiv verfolgt. Die Auseinandersetzung zwischen Oracle und Google kam im Mai 2012 zu einem vorläufigen Ende, als ein Gericht in San Francisco entschied, dass Google die Patentrechte Oracles nicht widerrechtlich benutzt habe; zudem wurde Oracle im September 2012 dazu verurteilt, Google Prozesskosten in Höhe von mehr als einer Milliarde US-Dollar zu erstatten.
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Samsung wurde zu einer Schadensersatzklage von mehr als einer Milliarde US-Dollar verurteilt und legte umgehend Revision gegen das Urteil ein.
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nicht von allen Beobachtern geteilt wird: Vielen Patentkritikern wie z.B. Michele Boldrin und David Levin gelten Patente eher als Innovationshemmer und weiteren Kritikern zudem als illegitime Machtinstrumente eines Großkapitalismus, der kleineren Unternehmen und unabhängigen Erfindern keine faire Chance mehr im technologischen Wettbewerb lasse. Zudem spielt das Patent auch im (Anti-)Globalisierungsdiskurs eine der (negativ besetzten) Hauptrollen. Der Patentschutz, allen voran der Schutz auf bio- und gentechnologisches Wissen (Biodiversität), gilt als ein wichtiger Faktor des globalen Nord/Süd-Gefälles und als Hauptwerkzeug multinationaler Unternehmen (nord-)westlicher Provenienz, welche sich unrechtmäßig indigenes Wissen aneigneten, ohne die ursprünglichen Erfinder bzw. Wissensträger hinreichend zu entschädigen.7 Ein weiterer Stein des Anstoßes in diesem Diskurs ist der Patentschutz auf Medikamente, auf den Patentkritiker eine Verschlechterung der Zugänglichkeit von lebensrettenden Medikamenten, z.B. für die Behandlung von AIDS, zurückführen.8 Unabhängig davon, was man im Konkreten für oder gegen Patente und Geistiges Eigentum vorbringen mag, können wir an dieser Stelle das Folgende festhalten: Bei der in den letzten Jahrzehnten stark intensivierten Nutzung und Beachtung von Patenten („patent awareness“) handelt es sich nicht lediglich um eine vorübergehende (massenmediale) Aufmerksamkeitsverschiebung in Richtung einer dann auch wieder rasch wirtschaftlich uninteressanteren oder an Nachrichtenwert verlierenden ‚Mode‘. Die zunehmende Produktion von Wissen und der Bedarf für dessen wirtschaftliche Auswertung im Kontext der wirtschaftlichen Konkurrenz zwischen multinationalen, technologieintensiven Unternehmen sind zwei wichtige Aspekte eines sich verstetigenden Trends der Bedeutungsaufwertung von Patenten. Das Patent scheint demnach – ähnlich wie das Urheberrecht und andere geistige Eigentumsrechte – eng mit wesentlichen Merkmalen und Akteuren der modernen Gesellschaft und deren Entwicklung verflochten zu sein. Die Entwicklung einer soziologischen Perspektive auf das Patent, dies ist eine bereits an dieser Stelle festhaltenswerte soziologische Intuition, hängt somit
7
Siehe zu diesem Vorwurf der „Biopiraterie als Kolonialismus des 21. Jahrhunderts“
8
Auch Papst BENEDIKT XVI. äußerte sich im Jahr 2009 in seiner Sozialenzyklika „In
explizit Shiva 2002. Caritas Veritate“ kritisch zu diesem Thema: „Es gibt übertriebene Formen des Wissensschutzes seitens der reichen Länder durch eine zu strenge Anwendung des Rechtes auf geistiges Eigentum, speziell im medizinischen Bereich“ (Absatz 22, zugänglich über: www.vatican.va).
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stark davon ab, wie man diese Gesellschaft und deren Evolution begreift, in der das Patent Karriere macht.
W ISSENSCHAFTLICHE P OSITIONIERUNG Anmerkungen zur Forschung über Patente Es gibt eine Reihe bereits etablierter Forschungsansätze, die sich mit dem Patent beschäftigen und auf die wir im Laufe dieser Arbeit immer wieder zu sprechen kommen werden. Wir halten es einleitend nicht für notwendig, diese ökonomischen, historischen, juristischen, (wissenschafts-)soziologischen Perspektiven an dieser Stelle im Detail vorzustellen; die Hauptaussagen und zentralen Konzepte, mit denen dort im Einzelnen gearbeitet wird, werden sich im Laufe einer sich davon distanzierenden Beobachtung und Reformulierung im Rahmen einer eigenständigen theoretischen Perspektive besser herausarbeiten lassen. Bevor wir die Umrisse dieser von uns zu entwickelnden Perspektive skizzieren und die wesentlichen Stationen unseres Gedankengangs überblickend abschreiten werden, sind jedoch einige wenige Bemerkungen zur existierenden Literatur zum Patent und den dort jeweils verhandelten Hauptproblemen angebracht.9 Das Gros der wissenschaftlichen Arbeiten zum Patent entstammt wirtschaftswissenschaftlichen Forschungszusammenhängen, die sich vor allem mit der Frage beschäftigen, wie der Patentschutz am effizientesten vom Gesetzgeber gestaltet und von Unternehmen (und weiteren Akteuren wie Universitäten) genutzt werden kann. Das Ziel dieser Forschung ist häufig ein praxisorientiertes: Man möchte verstehen, wie sich Investitionen in Forschung und Entwicklung optimal amortisieren lassen, um diese Einsichten dann in praktische Ratschläge umzusetzen. Wie wir im nächsten Kapitel ausführlicher ausarbeiten werden, verfolgen viele der wirtschaftswissenschaftlichen Theorien – insbesondere auch dann, wenn sie historisch ansetzen – einen rechtfertigenden bzw. legitimierenden Anstrich. Es geht darum zu begründen, warum das Patent – verstanden als (vorübergehendes) wirtschaftliches Monopol – ein wirtschaftspolitisch sinnvolles Institut ist, dessen unterstellte und erwünschte fortschrittsstimulierende Wirkung mögliche negative Folgen von Monopolen aufwiegt. Auch die meisten historischen Analysen des Patents machen die Wirtschaft der Gesellschaft zu ihrem Hauptreferenzpunkt und Thesen zum Zusammenhang 9
Wir verzichten hier im Folgenden auf Literaturhinweise und fügen diese jeweils an Ort und Stelle ein.
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von Patenten und der (Volks-)Wirtschaft zu ihren Kernaussagen. Häufig wird die These vertreten, dass ein konsolidierter Patentschutz zu bestimmten Zeitpunkten eine nationale Volkswirtschaft besonders beflügelt hat: Hier werden häufig England seit Beginn des 19. Jahrhunderts sowie das Deutsche Reich im späten 19. Jahrhundert genannt, d.h. es wird auch hier vor allem mit Blick auf die (unterstellte) Wirkung, die das Patentrecht auf die Wirtschaft und damit auf die Gesellschaft ausübt, analysiert. Eher rechtshistorisch orientierte Forschungen untersuchen beispielsweise, wie das Patent sich im Verlaufe des 17. und 18. Jahrhunderts parallel zu anderen Rechtsformen als positives Recht mit eigenen Gesetzen und Rechtsdogmatiken entwickelte und sich somit vom seinem geschichtlichen Vorläufer, dem Privileg, endgültig absetzte. Partiell überlappend mit der patentrechtshistorischen Forschung lässt sich ferner ein umfangreicher patentjuristischer bzw. patentrechtswissenschaftlicher Diskussionszusammenhang ausmachen, der Patentrechtsdogmatik betreibt und das Patentgesetz, dessen Änderungen sowie die vom Patentgericht und von anderen mit Patentfragen befassten Gerichten getroffenen Entscheidungen kommentiert. Häufig werden hier Fragen der Anpassung des nationalen Rechts an internationales Recht oder Interpretationen von zentralen gesetzlichen Begriffen wie „Erfindung“ oder „Patentierbarkeit“ diskutiert. Es handelt sich hier um eine Pluralität von in sich relativ geschlossenen nationalen Forschungs- und Kommentierungszusammenhängen, die wir schon im Fall der sprachlich prinzipiell zugänglichen Diskurse in England und den USA in ihren Hauptaussagen und Strömungen nicht mehr überblicken können. Der deutschsprachige patentrechtswissenschaftliche Zusammenhang blickt auf eine lange und reiche Tradition zurück: auf die dort transportierten Semantiken und Rechtsterminologien werden wir insbesondere im dritten Kapitel zurückgreifen, wo sie uns bei der Beobachtung der Autonomie des Patentsystems hilfreich sein werden. Weiterhin lässt sich ein immer stärker anschwellender Forschungszusammenhang beobachten, der sich im Unterschied zu den bislang erwähnten Literaturkorpora nicht um einen einheitlichen disziplinären Kern (Recht, Ökonomie, Geschichtswissenschaft) herum organisiert, sondern primär methodischen und z.T. politisch-anwendungsbezogenen Fragestellungen verpflichtet ist. Die Rede ist von szientometrischen und patentbibliometrischen Forschungen, die mit Datensätzen zu Patenten (Anmelderaten, Anteil ausländischer Erfinder, Anteil der Frauen etc.) Statistik betreiben und dabei Fragen aufwerfen wie z.B. die, ob die Patentanmeldezahlen in einer bestimmten Branche und einer bestimmten Region mit der durchschnittlichen Höhe der dort für Forschungs- und Entwicklungsleiter gezahlten Gehältern zusammenhängen. Die Antworten auf solche Fragen werden dann in einer Reihe von benachbarten Forschungszusammenhängen wie z.B.
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Forschungen zu regionalen oder nationalen Innovationssystemen als Material und zum Teil von politischen Entscheidungsträgern in Form von „policy recommendations“ benutzt. An dieser Stelle stoßen wir auf einen Überschneidungsbereich mit den Science & Technology Studies (STS) und der Wissenschaftssoziologie, der einzigen soziologischen Teildisziplin, die sich regelmäßig mit Patenten und Patentdaten beschäftigt. Man arbeitet dort häufig mit Patentdaten, um den vielerorts konstatierten Strukturwandel der Universität zu belegen oder zu widerlegen. Zum Beispiel werden die vor allem im Bereich der „Life Sciences“ in den letzten Jahrzehnten signifikant gestiegenen akademischen Patentanmeldezahlen und Lizenzeinnahmen als Indikator für einen institutionellen Wandel der Universität hin zu verstärkter wirtschaftlicher Wettbewerbsorientierung – in negativer Lesart: in Richtung von „commercialization“ und „commodification“ – interpretiert. Gleichzeitig wird – ebenfalls unter Rückgriff auf Patentstatistiken – darauf hingewiesen, dass die Annahme negativer Effekte von Patentierung und Lizenzierung auf die akademische Wissenschaft keine Gültigkeit beanspruchen könnten, da diejenigen Wissenschaftler, die in erwähnenswertem Ausmaß patentieren, auch überdurchschnittliche Publikationsraten aufweisen können. Alles in allem lässt sich also eine umfangreiche Literatur zu Patenten ausmachen, bei deren Lektüre man viel über den Gegenstand Patent und die unterschiedlichen Perspektiven der benachbarten Disziplinen auf einen Forschungsgegenstand lernen kann. Erwartungsgemäß sind diese disziplinären Ansätze gegeneinander weitestgehend abgeschlossen. Es ist zwar nicht undenkbar, dass z.B. ein Artikel aus der patentrechtswissenschaftlichen Zeitung „Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht“ bibliometrische Forschungen zu Patentzitationen aufgreift, oder dass ein Wissenschaftssoziologe bei der Beobachtung der Effekte akademischen Patentierens auf patenthistorische Literatur oder patentrechtsdogmatische Texte rekurrierte – aber es kommt de facto kaum vor. Kontakte dieser Art sind in der Regel ja auch weder zu erwarten noch unbedingt über die Maßen wünschenswert, da man im Forschungsalltag – d.h. fernab von der Drittmittelantragsrhetorik und dem Modebegriff „Interdisziplinarität“ – aus fachlicher Abgrenzung hohe Produktivität ableiten kann. An diesem Status Quo ist allerdings zu bemängeln, dass keine Perspektive in Sicht ist, welche den Reichtum an verfügbarem empirisch-historischen Material zu ‚lesen‘ in der Lage ist und mit eigenen konzeptionellen Mitteln konstruktiv verarbeiten könnte. Wir haben unser Projekt der Arbeit an einer Theorie des Patents von Anfang an mit der Intuition verfolgt, dass eine begrifflich abstrakter ansetzende Perspektive dies leisten könnte, dass aber bis jetzt ist unklar geblieben ist, wie eine solche Perspektive im Einzelnen aussehen, mit welchen Kon-
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zepten sie arbeiten und wie sie auf die Diversität der fachlichen Perspektiven auf Patente fruchtbar zugreifen könnte. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass sich die Soziologie einer tiefgehenden Auseinandersetzung mit Patenten bzw. mit gewerblichem Rechtsschutz/Intellectual Property überhaupt bis heute weitestgehend verweigert hat und es daher fachintern kaum Anknüpfungspunkte für ein Weiterdenken und Weiterforschen gibt.10 Es hat den Anschein, als hätte man das Patent – soweit überhaupt eine Anschauung von diesem Gegenstand zur Verfügung steht – voreilig den Disziplinen Rechts- und insbesondere den Wirtschaftswissenschaften überantwortet und sich selbst für nicht zuständig erklärt. Vor allem auch angesichts des eingangs beschriebenen strukturellen Relevanzgewinns des Patents, der unseres Erachtens mit Strukturveränderungen der modernen Gesellschaft insgesamt zusammenzuhängt, drängt sich der Eindruck auf, dass die Soziologie – wenn man sie als Wissenschaft von dieser modernen Gesellschaft versteht – mehr zum Patent zu sagen haben müsste. Aber wie könnte sich ein solches Arbeitsprogramm gestalten, worin das Eigenständige und Innovative eines soziologischen Ansatzes bestehen?
G EDANKENGANG
UND
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Wir werden im Laufe dieser Arbeit eine systemtheoretisch angeleitete Perspektive einnehmen, was in einer ersten Annäherung vor allem meint, dem Gegenstand des Patents eine strukturelle Eigenständigkeit und Selbstbestimmtheit zuzugestehen. Der Titel „Die Welt der Patente“ ist in diesem Sinne des systemtheoretischen Autonomiepostulats bereits als eine theoretische Ausgangsaussage zu lesen: es geht um die eine Welt, die das Patentsystem selbst entwirft, die Art und Weise, wie das Patentsystem partikularen Sinn produziert und verbreitet. Von den meisten Theorien des Patents wird dem Patentsystem diese Autonomie nicht zugebilligt und auch die einleitend geschilderten Impressionen könnten einem Verständnis dafür, was mit „Autonomie-des-Patents“ gemeint sein könnte, eher im Wege stehen. Dies liegt unserer Meinung nach daran, dass das Patent im Wesentlichen als eine gesellschaftliche Institution beobachtet wird, die vor allem (volks-)wirtschaftliche Zwecke zu erfüllen hat und im Hinblick auf seine wirtschaftlichen Folgen und Funktionen beobachtet wird.
10 Vgl. aber einige Arbeiten von Hutter zum Patentrecht (insbesondere Hutter 1989) sowie auch die „Soziologie der Marke“ von Kai-Uwe Hellmann (Hellmann 2003, Hellmann/Pichler 2005).
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Dass die Karriere des Patents sehr eng mit der Karriere von technologieproduzierenden Unternehmen und der zunehmenden Relevanz von Wissen in der „global knowledge economy“ verflochten ist, hatten wir eingangs selbst festgehalten; dies sei hier und im Folgenden auch nicht in Frage gestellt. Die Behauptung der wirtschaftlichen (wirtschaftspolitischen) Relevanz des Patents wird aber unseres Erachtens dann problematisch, wenn man sich im theoretischen Verständnis des Patents auf diese Feststellung beschränkt, d.h. immer schon an Unternehmen und die Wirtschaft und deren Zusammenhang mit Patenten denkt, wenn man Patente beschreibt, ohne sich zunächst auf die Beschreibung des Patents selbst zu konzentrieren. Zugespitzt gefragt: Lässt sich eine Theorie des Patents entwickeln, die zunächst mit der Frage ansetzt, inwiefern das Patentsystem selbst ein eigensinniges, selbstgeschaffenen Relevanzen verpflichtetes, gesellschaftliches Phänomen ist und erst in einem daran anschließenden Schritt nach der Relevanz des Patents für die Gesellschaft (die Wirtschaft) fragt? Um diese Frage beantworten zu können, setzen wir dasjenige Kapitel, das die Relevanz des Patents aus Sicht einer wichtigen Umwelt des Patents, nämlich dem Patentmanagement des forschenden Unternehmens beobachtet, in unserer Arbeit nicht an den Anfang, sondern an den Schluß (Kapitel 7). Die Kapitel 2-6 setzen zunächst mit der Leitthese an, dass es sich beim Patentsystem um ein autonomes soziales System handelt. Sie arbeiten mit der systemtheoretischen Leitunterscheidung von System und Umwelt und untersuchen, wie sich das Patentsystem, indem es eigene Sinnwelt entwirft, von seiner Umwelt unterscheidet und an dieser Unterscheidung selbst Halt gewinnt, also Identität anhand von Differenzen entwickelt. Wir werden dabei viele Einsichten und Materialien der von uns oben angedeuteten Perspektiven auf das Patent verarbeiten, müssen uns aber gleichzeitig von den meisten analytischen Prämissen dieser Ansätze verabschieden. Im Folgenden werden wir entlang der Kapitelfolge den Gedankengang der Arbeit noch etwas genauer umreißen. Dem folgenden Kapitel 2 kommt eine eröffnende und Grund-legende Funktion zu; es entwickelt die Grundrisse unserer systemtheoretischen Perspektive auf das Patent und emanzipiert uns zugleich von der herrschenden Meinung im Diskurs über Patente. Wir werden zunächst den Kern des ökonomischen Denkens über das Patent freilegen, der durchgängig von einem rechtfertigenden Ton geprägt ist. Die klassischen ökonomischen Theorieangebote – die Anspornungsund die Vertragstheorie – begreifen das Patent als etwas, dessen gesellschaftlicher Zweck aufgrund seiner Monopolwirkung in einer freien Marktwirtschaft sehr gut begründet werden muss. Im Vergleich dazu setzt eine Systemtheorie des Patents anders, nämlich distanzierter gegenüber der Annahme der Zweckmäßigkeit des Patents an. Mit Hilfe der in der Luhmannschen Theorie funktionaler Dif-
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ferenzierung zu findenden Unterscheidung von Funktion und Leistung wird zwischen der grundlegenden gesellschaftlichen Funktion der rechtlichen Patentnorm und der Leistung der Veröffentlichung patentierten Wissens (die von der Patentökonomie ebenfalls als funktional (zweckmäßig) beschrieben wird) unterschieden. Grundlage dieses Ansatzes ist ein Gesellschaftsbegriff, der Gesellschaft nicht lediglich über die Funktionskomplexe Politik/Recht und Wirtschaft begreift, sondern als heterarchisches Arrangement verschiedener funktionaler Kommunikationszusammenhänge: das (Patent-)Recht, so unsere systemtheoretische Ausgangsthese, ist eines dieser funktionalen (Sub-)Systeme. In Kapitel 3 wenden wir Konzepte der Luhmannschen Theorie funktionaler Differenzierung an, um herauszuarbeiten, wie sich das Patentsystem selbst organisiert und intern gliedert und somit eine eigenständige, sich distanzierende Perspektive auf die Gesellschaft (insbesondere auf andere Funktionssysteme wie Wirtschaft und Wissenschaft) zu entwerfen und durchzuhalten vermag. Der Gedankengang wird gesteuert von der Annahme eines sachspezifischen Universalismus des Patentsystems, die besagt, dass das System eine eigenständige (spezifische), sachlich orientierte Fokussiertheit entwickelt, die ‚in der Sache‘ keine Restriktionen hinsichtlich der Inklusion von Wissen, Personen und Räumen zulassen kann. Zunächst wird beschrieben, wie sich der operative Kern des Systems, die Patentnorm von anderen Formen geistigen Eigentums unterscheidet und wie sich die Patentkommunikation in ein Entscheidungszentrum und eine Peripherie differenziert, mit der die strukturelle Autonomie gegenüber der Umwelt stabilisiert wird. Unter Rückgriff auf die Semantiken des Patentgesetzes und der Patentdogmatik werden wir empirisch herausarbeiten, nach welchen spezifischen Prämissen das System technisches Wissen beobachtet und wie es zu Entscheidungen über die Patentfähigkeit von Erfindungen kommt. Von wesentlicher Bedeutung wird dabei die Präzisierung des Begriffs der absoluten Neuheit, der Keimzelle des sachspezifischen Universalismus des Systems sein: Die wichtigste Patentierungsbedingung ist, dass technisches Wissen absolut neu ist, so dass jedes Kommunizieren über Patente ein universales kognitives Ausgreifen auf Welt impliziert. Da das Gros von patentfähigem Wissen in den F&E-Laboratorien multinationaler Unternehmen produziert wird, widmet sich der letzte Teil dieses Kapitels den „strukturellen Kopplungen“ des Patentsystems an F&E. Kapitel 4 knüpft an die im vorherigen Kapitel entfaltete Systemtheorie des Patents an und argumentiert mit einem Interesse an der „Intertextualität“ der Patentkommunikation. Im Vordergrund dieses Kapitels steht die Patentschrift als zentrale Kommunikationsform, die Patentkommunikationen dokumentiert und durch Patentzitationen miteinander verknüpft. In Anlehnung an systemtheoretische Arbeiten zur wissenschaftlichen Publikation werden wir zunächst Gemein-
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samkeiten und Unterschiede zwischen akademischen Publikationen und Patentschriften herausarbeiten. Dabei werden wir auch an einen Forschungszusammenhang anschließen, der (latente) Folgen der Anwendung von Publikationsund Patentstatistiken für die Messung und Evaluation wissenschaftlichtechnologischer Produktivität diskutiert. Wir identifizieren in der „reactivity“ auf Patentstatistiken einen weiteren wichtigen Faktor des starken systemischen Wachstums der letzten Jahrzehnte. Ein Zwischenresümee verknüpft die Einsichten der Kapitel 3 und 4 und beschreibt in Anknüpfung an die bereits eingeführte Unterscheidung von Funktion und Leistung das funktionale Zusammenwirken des normativen Systemkerns und der Öffentlichkeit von Systemkommunikationen im Medium von Patentschriften. Kapitel 5 knüpft eingangs noch einmal an den Befund der strukturellen Kopplung des Systems mit multinationalen Unternehmen an und macht die Diskrepanz zwischen der Territorialität des Patents und dem wirtschaftlichen Interesse an einer globalen Auswertung von Patenten zum analytischen Ausgangspunkt. Diese grundlegend zwischen Recht und Wirtschaft angelegte Spannung lässt sich auch am Beispiel des Patentsystems nachverfolgen. An unserem Leitmotiv der Respektierung systemischer Autonomie festhaltend werden wir allerdings nicht danach fragen, wie sich das Patent zur (wirtschaftlichen) Globalisierung (passiv) verhält, sondern wir werden untersuchen, inwiefern sich von einer Globalisierung des Patentsystems oder von einem Weltpatentsystem selbst sprechen lässt. Lässt sich eine globale, die territorialen Entscheidungszentren transzendierende Struktur des Systems ausmachen bzw. lässt sich das Patentsystem als ein Weltsystem, d.h. als ein universeller, weltgesellschaftlicher und singulärer Kommunikationszusammenhang begreifen? Und lassen sich spezifische Kommunikationsformen und Mechanismen beobachten, die das Anmelden und Durchsetzen eigener Schutzrechte sowie das Beobachten und Rezipieren von anderen Patenten in einem globalen Rahmen institutionell begünstigen und wahrscheinlich machen? Dieses Kapitel wird aus einer weltgesellschaftstheoretischen Perspektive heraus Antworten auf diese Fragen entwickeln und dabei die Stärken des weltgesellschaftstheoretischen Denkens gegenüber konventionellen globalisierungstheoretischen Ansätzen anhand einer konkreten empirischen Anwendung weltgesellschaftstheoretischer Konzepte herausarbeiten. Im Laufe des Kapitels 6 machen wir uns die Haltung des Evolutionstheoretikers zu eigen und fragen, wie das Weltpatentsystem – wie wir es in den vorangegangenen Kapiteln mit system- und weltgesellschaftstheoretischen Mitteln beschrieben haben werden – möglich werden konnte. Dabei werden wir Antworten auf leitende Fragen nach den evolutionären Faktoren, welche die Emergenz des Patents als eigensinniger Kommunikationsform begünstigt haben und nach dem
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Zusammenhang zwischen der Distanzierung des Patents gegenüber dem frühneuzeitlichen Patentprivileg und dem gesamtgesellschaftlichen Umbruch von stratifikatorischer zu funktionaler Differenzierung zu entwickeln versuchen. Auch in diesem Kapitel werden wir in Distanzierung von vorliegenden historischen Arbeiten ein alternatives Erklärungskonzept auszubreiten versuchen und mit einem medientheoretischen Akzent argumentieren. Wir postulieren, dass das Patent im Laufe seiner Evolution zwei wesentliche evolutionäre Schwellen nimmt, die sehr eng mit den sich wandelnden gesellschaftlichen Kommunikationsweisen zusammenhängen. Wir behaupten, dass die Ausdifferenzierung des Patents im Wesentlichen als ein Effekt der Durchsetzung der Patentschrift als tragendem Kommunikationsformat des Systems und der durch die Patentschrift ermöglichten Versachlichung und öffentlichen Zugänglichkeit der Patentkommunikation begriffen werden muss. Die direkt daran anknüpfende These ist, dass im Zuge des Weltverkehrs des 19. Jahrhunderts der take-off zu einem Weltpatentsystem beginnen kann, weil die neuen Verkehrs- und Kommunikationsmittel Eisenbahn, Dampfschiff und Telegraphie die Transformation des bis dahin zumeist regional-territorial verstandenen Neuheitsbegriffs zu einem universal verstandenen, absoluten Neuheitsbegriff begünstigen. Dieser Universalismus ist die Keimzelle des Prozesses der globalen Patentrechtsharmonisierung, der bereits gegen Ende des 19. Jahrhundert anläuft. Das abschließende Kapitel 7 wechselt die Blickrichtung. Das Hauptinteresse dieses Kapitels liegt nicht mehr darin zu erkennen, wie sich das Patentsystem in Differenz zu seiner Umwelt strukturiert und reproduziert, sondern es rekonstruiert den Blick, den Unternehmen der Wirtschaft – als primäre Umwelt des Patentsystems – auf dieses System einnehmen. Das Kapitel fragt danach, wie Unternehmen die Kommunikations- und Erwartungsmöglichkeiten, die das Patentsystem zur Verfügung stellt, für ihre eigenen, profitabilitätsorientierten Zwecke in Form des Patentmanagements zu nutzen versuchen. Dabei wird heuristisch zwischen normativen und kognitiven Aspekten des Patentmanagements unterschieden. Die normativen Aspekte und Tätigkeiten beziehen sich stärker auf die Bearbeitung und Beeinflussung derjenigen zentralen Organisationen des Patentsystems (den patentrechtlichen Instanzenzug), die über die Konzession, Negation, Aufrechterhaltung etc. von Patentansprüchen befinden. Die kognitiven Aspekte referieren eher Vorgänge in der systemischen Peripherie und zielen demgegenüber direkter auf die technologischen Aspekte der Beobachtung von Konkurrenten und Fragen wie die Bewertung und Lizenzierung von patentiertem Wissen und deren Instrumentalisierung als symbolischem Verhandlungspotential ab. Im Vergleich zu den anderen Abschnitten der Arbeit ist Kapitel 7 stärker empirisch angelegt und wird einige unserer Interviewpartner (F&E- und Patent-
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manager, Patentanwälte und weitere Patentfachleute) zu Wort kommen lassen. Das Kapitel hat zum Ziel, die Dynamik und Komplexität zu veranschaulichen, die aus der wirtschaftlichen Konkurrenz um Patente resultiert. Dabei wird ein alternativer analytischer Blick auf die in letzter Zeit häufig diskutierten Phänomene der sogenannten „patent trolls“ und des akademischen Patentierens gewonnen. Das Kapitel schließt mit dem Versuch einer Anwendung eines soziologischen Begriffs der Konkurrenz auf den wirtschaftlichen Wettbewerb um Patente; es wird auch hier die These durchgespielt, inwiefern man Patente nicht als etwas der ‚eigentlichen‘ wirtschaftlichen Konkurrenz Äußerliches verstehen muss, sondern sie als Mittel einer eigenständigen Konkurrenz um Patente beschreiben kann. Diese Übersicht abschließend halten wir fest, dass wir uns ein vielschichtiges und historisch differenziertes Profil des Patentsystems als gesellschaftlichem Phänomen erarbeiten wollen. Die Arbeit ist somit dezidiert gesellschaftstheoretisch angelegt. Sie lässt sich einerseits von der Überzeugung leiten, dass sich am Beispiel der Ausdifferenzierung, den strukturellen Eigentümlichkeiten und der dynamischen globalen Entwicklung des Patentsystems Charakteristisches über die moderne Gesellschaft insgesamt lernen lässt. Gleichzeitig geht der Text von der Annahme aus, dass sich dann, wenn man theoretisch von zentralen Strukturmerkmalen der modernen Gesellschaft auf den Untersuchungsgegenstand Patent blickt, mehr über dessen Komplexität und Spezifik in Erfahrung bringen lässt, als wenn man das Patent eher isoliert oder mit ausschließlichem Bezug auf spezifische Akteure – beispielsweise multinationale Unternehmen und ihre ökonomische Nutzung von Patenten, Universitäten und ihre Strukturkonflikte, Patentämter und die Überlastung der Patentprüfer, soziale Bewegungen und ihre Protesthaltung etc. – beobachtet.
T HEORETISCH - METHODISCHES S ELBSTVERSTÄNDNIS Die vorliegende Arbeit versteht sich selbst als primär theoretisch-konzeptionelle Arbeit, die ihr Forschungsmaterial vor allem aus der Lektüre anderer Forschungen gewinnt. Wie bereits angedeutet, besteht der Hauptanspruch dieses Texts darin, eine gesellschaftstheoretisch abstrakte Perspektive auf das Patent zu entwickeln, die es erlaubt, die Literatur zum Patent aus anderen Fächern und Forschungskontexten wie den Wirtschafts- und Rechtswissenschaften zu rezipieren und konstruktiv, d.h. im Rahmen eines eigenständigen soziologischen Begriffsapparats zu verarbeiten. Dem soziologisch-gesellschaftstheoretischen Anspruch unseres Texts versuchen wir vor allem mit der Methode der funktionalen Analyse, d.h. dem problemorientierten Vergleichen verschiedener gesellschaftlicher
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Systeme gerecht zu werden. Indem wir aus verschiedenen Blickwinkeln heraus die Spezifik des Patentsystems im Vergleich mit anderen Systemen herauszuarbeiten versuchen, soll nicht nur am Patent das Patentförmige und an anderen System das ‚Nicht-Patentförmige“, sondern gleichzeitig an den verglichenen Systemen das Gesellschaftliche hervortreten. Das gesellschaftliche Funktionssystem, das uns hierbei am häufigsten begegnen wird, ist die moderne Wissenschaft, aber auch gelegentliche Verweise auf den Sport, die Politik, die Kunst, die Erziehung und vor allem auch auf das Wirtschaftssystem kommen vor. Der ein oder andere Vergleich mag vielleicht unerwartet sein und überraschen, erfüllt aber vielleicht gerade dann seine Funktion der Beschreibung des Patents als gesellschaftlichem Phänomen, mit dessen Studium sich eventuell mehr als erwartet über die moderne Gesellschaft lernen lässt. Insgesamt ist unser Ziel, uns kognitiv für Empirie offen zu halten und uns nicht auf ein theorieimmanent-rekonstruktives oder theorievergleichendes Arbeiten zu beschränken. Unsere Forschung versteht sich somit dezidiert nicht als reine „Literaturarbeit“, d.h. wir beziehen zwar die meisten Informationen aus sekundäranalytischer Lektüre, ergänzen diese aber bewusst mit sehr konkreten, z.T. aktuellen empirischen Informationen und Daten. Diese entnehmen wir Internetrecherchen, Patentstatistiken und sehr selektiv auch einer eigenständigen historischen Quellenrecherche in Zeitschriften wie der London Gazette oder dem Simplicissimus.11 Nicht ausschließlich, aber vor allem im letzten Kapitel werden wir die Analyse mit Ergebnissen aus einer Reihe von Forschungsinterviews anreichern, die wir im Laufe unserer Forschungen am Patent mit Patent- und Forschungsmanagern, akademischen Wissenschaftlern, Patentanwälten, Patentprüfern und weiteren ‚Patentexperten‘ durchgeführt haben.12 Primär methodisch arbeitende Forscher könnten an uns angesichts dieser selektiven Handhabung von Daten den Vorwurf mangelnder „Repräsentativität“ richten. Um Repräsentativität im Sinne statistischer Validität kann es allerdings im vorliegenden Text ohnehin nicht gehen, bereits deshalb nicht, weil es wie angedeutet verschiedene
11 Aufgrund der häufig eher verwirrenden denn informierenden Länge von Internetlinks werden in Fällen einer unmittelbaren Zugänglichkeit des Links durch eine GoogleRecherche oder einer leichten Auffindbarkeit innerhalb der Hauptdomain lediglich die dafür benötigten Stichwörter angegeben; auf die Angabe von Abrufdaten verzichten wir: alle angegebenen Internetlinks wurden am 31. Oktober 2012 zum letzten Mal überprüft. 12 Vgl. die Gesamtliste und weitere Informationen auf S. 414.
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fachliche (inkommensurable) Perspektiven auf das Patent gibt, deren Plausibilität in ihren Herkunftszusammenhängen unterschiedlich beurteilt werden muss. Wenn wir im Laufe dieser Arbeit mitunter Daten, Interviewzitate und zudem das ein oder andere graphische Hilfsmittel wie Tabellen und Bilder (screenshots) benutzen, geht es uns vielmehr um die Steigerung der Anschaulichkeit unserer begrifflichen Einschnitte. Wir möchten den Leser damit zum einen dazu ermuntern, sich an einigen Stellen konkreter in empirische Handlungszusammenhänge hineinzudenken, als dies mit einer ausschließlich textlich-begrifflichen Annäherung möglich wäre; an anderen Stellen versuchen wir vereinzelt mit Auflistungen und Tabellen die Argumentation punktuell zu konsolidieren, den Überblick zu verbessern und die Lesbarkeit zu erhöhen. Dies wäre in anderen Forschungszusammenhängen vielleicht überhaupt nicht erwähnenswert; wir wissen allerdings um den Vorwurf „schwer zugänglich“, der mitunter an systemtheoretische Texte gerichtet wird. Wir sehen einen Bedarf für das systemtheoretische Denken, verstärkt Rezipienten – auch aus anderen, empirielastigeren Fächern – zu gewinnen. Unsere Perspektiven auf die Welt der Patente verstehen sich als ein Versuch, an diesem Desiderat zu arbeiten und weitere Leser zu einem systemtheoretisch inspirierten Nachdenken und Forschen anzuregen; gleichzeitig sind wir uns der Tatsache bewusst, dass sich theoretische Präzision nicht durch die Suggestivität von Bildern und Eindrücken ersetzen lässt.
H INWEISE
ZUR
L EKTÜRE
Diese Arbeit macht ein Lektüreangebot an einen heterogenen Leserkreis mit unterschiedlichen fachlichen Hintergründen, verschiedenen Interessenlagen und Kenntnisständen sowie nicht zuletzt unterschiedlichen Zeitbudgets. Obwohl der Text sich am besten mit einer vollständigen Lektüre erschließen dürfte, haben wir die Kapitel als in sich relativ geschlossene Teilargumente konzipiert, um ein auf Teilaspekte fokussiertes Lesen zu ermöglichen. Die diskutierte Literatur wird relativ extensiv zitiert, um dem Leser ein selektives Weiterverfolgen verschiedener Literaturkorpora und Diskussionszusammenhänge zu ermöglichen. Die Verweise auf andere Passagen im Text sollen es vereinfachen, ein Teilthema unmittelbar in einem anderen Kapitel weiterzuverfolgen oder noch einmal andere Stellen zum selben Themenkreis nachzuschlagen. Das ausführliche Inhaltsverzeichnis sowie der Gesamtindex am Ende der Arbeit möchten selektives und punktuelles, ggfls. nur an einem Teilausschnitt oder an einem Teilargument oder -beispiel (die Patentschrift, Ausdifferenzierung, Siemens AG etc.) interessiertes Lesen ermöglichen. Neben zentralen theoreti-
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schen Konzepten und wichtigen empirischen Beispielen fließen in den Gesamtindex auch die im Text erwähnten Organisationen und Unternehmen ein.
Kapitel 2: Funktion(en) des Patents: Von der ökonomischen zur soziologischen Perspektive
Ö KONOMISCHE T HEORIEN
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Kritik und Rechtfertigung des Patents Intellectual Property Rights im Allgemeinen bzw. konkreter das Patent – darauf macht das folgende Zitat aufmerksam – sind eine soziale Einrichtung, die zwar mit einer zunehmenden Akzeptanz rechnen kann, für die aber gleichzeitig noch keine hinreichende Begründung oder Rechtfertigung gefunden werden konnte: „Given the ever-widening acceptance of a right to protection of intellectual property (IP), one might assume that there is at least implicitly an equally broad and agreed upon rationale or justification for this right. This, however, is not the case“ (Ostergard 1999: S. 156).
Diese Aussage darf als charakteristisch für das Gros der ökonomischen Erklärungen des Patents angesehen werden: es geht vor allem um eine angemessen begründete ‚Entschuldigung‘ für seine Existenz, weniger um eine (distanzierte) Erklärung des Phänomens des Patents selbst. Der kleinste gemeinsame Nenner von sowohl emphatischen Advokaten als auch erbitterten Gegnern von Patenten ist die Frage nach deren volkswirtschaftlichen Zweckmäßigkeit. Boldrin und Levine beispielsweise fragen in ihrem bekannten Anti-IP-Manifest „Against Intellectual Property“: „Are the two essential components of our current system of intellectual property – patents and copyrights – with all of their many faults, a necessary evil we must put up with to enjoy the fruits of invention and creativity? Or are they just unnecessary evils, the relics of
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an earlier time when governments routinely granted monopolies to favored courtiers? That is the question we seek to answer“ (Boldrin/Levine 2008: S. 3).1
„Necessary evil“ deutet es noch einmal an: seit seinen Ursprüngen wird das Patent selbst von überzeugten Befürwortern als eine soziale Einrichtung gesehen, auf dessen wirtschaftspolitische Verschreibung man aufgrund signifikanter Risiken und Nebenwirkungen im Idealfall am liebsten verzichten würde. Diese zwiespältige Einstellung gegenüber dem Patent ist seit Jahrhunderten gewachsen: die Kritik am Patent ist fast so alt wie das Patent selbst und spätestens seit Beginn des 19. Jahrhunderts läuft eine kaum enden wollende Debatte zwischen Apologeten und Kritikern des Patentschutzes.2 Das Unbehagen am Patent nährte sich insbesondere an seiner Verwandtschaft mit Monopolen und Privilegien, den ‚Horrorwörtern‘ des aufkeimenden Liberalismus, der beginnt, der „invisible hand“ des Marktes mehr Vertrauen zu schenken als der gönnerhaften, Privilegien zuteilenden Hand des politischen Souveräns. Waren Monopole und Privilegien im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit noch ein nicht kritisch hinterfragtes merkantilistisches Steuerungsinstrument, gerieten sie im Zuge der Durchsetzung der modernen Marktwirtschaft und deren affirmativer Beschreibung durch den Liberalismus von Adam Smith und Anderer zunehmend unter Rechtfertigungsdruck. So waren es etwa im 17. Jahrhundert in Großbritannien die „odious monopolies“, deren man sich entledigen wollte,3 während im 18. Jahrhundert revolutionäre Stimmen in Frankreich die „privilèges odieuses“ als eines der größten Übel der Herrschaftspraxis des Ancien Régime ausmachten und im Zuge der Französischen Revolution abzuschaffen versuchten. Im 19. Jahrhundert eskaliert der Streit um die „Patentmonopole“ im Kontext der internationalen „patent controversy“, einer polemisch geführten 1
Zitiert nach der von den Autoren im Internet veröffentlichten open access-Version; als
2
Scherer (ebd.: S. 94) zitiert einen US-amerikanischen Richter, der sich zur Patentde-
kritischen Review des Werks vergleiche z.B. Scherer 2009. batte im Jahr 1956 wie folgt äußerte: „You can find – I have been at the job nearly 50 years – there are two schools, and the one school beats the air and says that without the patent system the whole of American industry would never have been developed ... and the other says it is nothing but a beastly method... No one really knows. Each side is beating the air.“ 3
Besondere Beachtung hat hier das englische „Statute of Monopolies“ von 1624 auf sich gezogen. Es handelte sich hier um ein Verbot jeglicher Art wirtschaftlicher Monopole, mit dem das englische Parlament das ausufernde royale Monopolwesen abzuschaffen beabsichtigte; vgl. unten S. 231ff.
FUNKTIONEN
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internationalen Auseinandersetzung zwischen entschlossenen Befürwortern des Patents und scharfen Gegnern jeglicher monopol- und privilegienartiger Einschränkungen des freien Wettbewerbs. Privilegien generell und damit auch das verwandte Patentprivileg – so scheint es – haben ausgedient: „Das Wort ‚Privilegium‘ gehört zu denjenigen, welche man in unseren Tagen fast unbedingt perhorrescirt, weil man die Sache, welche man damit bezeichnet, nicht mehr für zeitgemäß hält“, formuliert etwa Pözl im „Deutschen Staatswörterbuch“ von Bluntschli und Brater in seinem Beitrag zum „Privilegium“ und kritisiert die Vielzahl der für überkommen erachteten Formen der wirtschaftlichen und politischen Privilegierung weniger Günstlinge gegenüber der disprivilegierten Masse (Pözl 1864: S. 372).4 Im 20. Jahrhundert dann ist es beispielsweise Schumpeter, der in Patenten „monopolistische Praktiken, Einschränkungen der freien Konkurrenz von Art der Kartelle“ sieht und sie als „Zwischenfälle eines langfristigen Expansionsprozesses, den sie mehr schützen als hemmen“ diskreditiert, Patente gleichzeitig aber als „unvermeidbar“ bezeichnet (vgl. Schumpeter 1946: S. 146ff.). Warum eigentlich „unvermeidbar“, wenn doch in einer liberalen Marktwirtschaft prima facie so viel gegen Patente und ihre monopolartige Wirkung zu sprechen scheint: Inwiefern lassen Patente sich angesichts des kaum überwindbar scheinenden Monopolverdachts dann trotzdem noch als „unvermeidbar“ bezeichnen? Denn – man mag es rhetorisch drehen und wenden wie man will – das Patent war und ist in vielen Hinsichten ein Monopol bzw. ein wirtschaftlichen Monopolen den Weg bereitendes Rechtsinstitut: Wie sonst sollte man den Sachverhalt bezeichnen, dass ein Patentinhaber mit den ihm zugesicherten exklusiven Patentansprüchen effektiv seine wirtschaftliche Konkurrenz ausschalten kann? Vor dem Hintergrund dieser Leitfragestellung haben sich bereits im 18. Jahrhundert und dann verstärkt im Laufe des 19. Jahrhunderts unterschiedliche Strömungen im Diskurs der Rechtfertigung des Patents ausgebildet; diese lassen sich – wie in der Tab. 1 dokumentiert – grob vereinfacht in zwei verschiedene Theoriekomplexe aufteilen.5
4
Als Überblick zur „patent controversy“ vgl. Machlup/Penrose 1950; häufiger zitiert als Beispiel für die Antipatenthaltung wird in diesem Kontext die schroffe Ablehnung des Patents durch Böhmert 1869: S. 80: „Die Patente sind reif zum Fallen und werden mehr und mehr als eine faule Frucht am Baume der menschlichen Kultur erkannt.“
5
Siehe hierzu sehr lesenswert das Überblickswerk „Economics of the patent system“ von Fritz Machlup (Machlup 1958) sowie die deutsche Übersetzung „Die wirtschaftlichen Grundlagen des Patentrechts“ (Machlup 1962); vgl. als knappen Überblick – mit
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Tabelle 1: Traditionelle Theorien des Patents Traditionelle Theorien der Rechtfertigung des Patents Naturrechtlicher Diskurs Utilitaristische Tradition
Eigentumstheorie Belohnungstheorie Anspornungstheorie Vertragstheorie
Der erste Ansatz bemühte sich um eine naturrechtlich-eigentumsphilosophische Begründung des Patents, die an die bereits bei Locke formulierte Eigentumskonzeption – Arbeit begründet Eigentum – anknüpft: „Gegen Arbeit ist zunächst nichts einzuwenden. Jedem Individuum ist das natürliche Recht zum Gebrauch seiner körperlichen und geistigen Fähigkeiten zuzubilligen, und daraus folgt, daß ihm das als Eigentum zufällt, was es sich aufgrund dieser Fähigkeit erarbeitet hat“,
so lautet eine knappe Zusammenfassung dieses Denkens bei Niklas Luhmann.6 Diese naturrechtliche Semantik wurde vor allem im französischen revolutionären Diskurs im Zuge der Einführung des ersten französischen Patentgesetzes kultiviert. Sie nahm ebenfalls eine zentrale Rolle im parallel ablaufenden Urheberrechtsdiskurs ein, in dem die Legitimität von Privilegien gegen den Büchernachdruck heftig diskutiert wurde.7 Dieser heute primär im Urheberrechtsdiskurs kontinuierten naturrechtlich inspirierten Doktrin des „Geistigen Eigentums“ (vgl. auch weiter unten im nächsten Kapitel) steht die sogenannte „utilitarian tradition“ gegenüber, die sich – unabhängig von der Frage nach Moral und Gerechtigkeit – von der Prämisse leiten
kontrastierendem Blick auf die Situation in den kommunistischen Ländern – Beier 1970. 6
Vgl. Luhmann 1989: S. 33. Zur Entwicklung des frühneuzeitlichen Eigentumsverständnisses siehe interessant Damler 2008; vgl. begriffsgeschichtlich überblickend Schwab 1975.
7
Gegen den „schändlichen Nachdruck andern gehöriger Bücher“ äußerte Gundling bereits 1726 sein „Rechtliches und Vernunfft-mäßiges Bedencken“ (vgl. Lück 2008); als historischen Überblick zur Debatte siehe für andere Klippel 1993, 2008.
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lässt, dass man auf Patente schon allein deshalb nicht verzichten kann, weil sie in der Nettobilanz mehr volkswirtschaftlichen Nutzen als Kosten generieren. Das utilitaristische Patentdenken lässt sich in zwei zentrale Teiltheorien gliedern: die „Anspornungstheorie“ und die „Vertragstheorie“. Im Folgenden wollen wir durch eine Diskussion dieser beiden Komplexe den Argumentationskern der ökonomischen Funktionalisierung des Patents freilegen, der uns anschließend als Kontrastfolie für eine soziologische Funktionsbestimmung des Patents dienen wird.
Anspornungstheorie, Marktversagen und die Vertragstheorie Das Patent als wirtschaftlicher Anreiz Apologeten des Patents befinden sich in der schwierigen Situation, eine Unvermeidbarkeitsrhetorik aufbauen zu müssen, mit der sich das Patent auch angesichts seiner kaum zu leugnenden negativen Effekte legitimieren und wirtschaftspolitisch halten lässt. Utilitaristisch denkende Befürworter des Patents setzen bei ihrem funktionalistischen Argument wie folgt an: Sie räumen ein, dass aus Patenten zwar häufig monopolartige, marktbeherrschende Stellungen eines einzelnen Akteurs/Unternehmens resultieren könnten und damit der Wettbewerb massiv eingeschränkt würde, was grundsätzlich soweit wie möglich zu vermeiden sei.8 Allerdings bedürfe der kreative Erfinder und insbesondere die profitorientiert operierende Wirtschaftsorganisation eines besonderen Anreizes für die Unterstützung von Erfindungs- und Innovationstätigkeiten. Ohne einen staatlich abgesicherten Exklusivschutz für Erfindungen und die damit verbundene Aussicht auf einen höheren als unter normalen Wettbewerbsbedingungen zu erwartenden Gewinn („Monopolrendite“) wäre aber die Hemmschwelle, systematisch in Gedanken, Ideen, Forschung und Entwicklung zu investieren, zu hoch. Diese funktionalistische Beschreibung des Patentrechts als staatlichem Anreizinstrument ist unter dem Etikett „Anspornungstheorie“ zu einem zentralen Ansatz für die Erklärung und politisch-ökonomische Rechtfertigung der volkswirtschaftlichen Funktion des Patents geworden.9 Das Patent fungiert demnach vor allem als 8
Vgl. zum Begriff des Anreizes Baecker 1988: S. 135ff.
9
Die Anspornungstheorie, wir zitieren eine einschlägige Passage aus Fritz Machlups „wirtschaftlichen Grundlagen des Patentrechts“, „geht von den Annahmen aus, daß der industrielle Fortschritt wünschenswert ist, daß für diesen Fortschritt Erfindungen und ihre industrielle Verwertung notwendig sind, daß aber die Zahl der Erfindungen und/oder das Ausmaß ihrer Verwertung unzureichend wären, wenn Erfinder und
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ein Mechanismus der Absorption wirtschaftlicher Risiken: Hinreichende Anreizstrukturen für riskante, weil langwierige und umfangreiche Investitionen in die systematische Organisation von Erfindungsarbeit und der anschließenden Vermarktung des F&E-Outputs könnten nur in Form der Inaussichtstellung eines rechtlichen Erwartungsschutzes gegenüber Imitatoren geschaffen werden. Dieses Anreizargument wurde von verschiedenen wirtschaftswissenschaftlichen Theorieströmungen, insbesondere der Institutionenökonomie aufgegriffen.10 Deren Nestor Douglass C. North etwa sieht in intellektuellen Eigentumsrechten, insbesondere dem Patent, nicht weniger als eine der wesentlichsten Voraussetzungen für systematische Innovationsanstrengungen privater Wirtschaftsakteure und damit die Entstehung der modernen Wirtschaft und Gesellschaft. Der volkwirtschaftliche Stellenwert der Institution des Patentrechts wird im historischen Vergleich plausibel gemacht, indem die moderne patentrechtsgestützte Gesellschaft anderen patentlosen Phasen gesellschaftlicher Evolution gegenübergestellt wird: „As compared to no protection at all, the value of some property rights over invention is not an issue. Idle curiosity or learning by doing will produce some technological change of the type we have observed throughout human history. But the sustained devotion of effort to improve technology – as we observe in the modern world – is stimulated only by raising the private rate of return“ (North 1981: S. 165).11
Geldgeber keine größeren Gewinne erwarten dürfen, als sie sich aus der wettbewerblichen Ausnutzung allen technischen Wissens ergeben. Um es für Erfinder und ihre Geldgeber der Mühe wert zu machen, sich anzustrengen und ihr Geld aufs Spiel zu setzen, muß die Gesellschaft eingreifen und die Gewinnerwartungen erhöhen. Die einfachste, billigste und wirkungsvollste Weise, einen solchen Ansporn zu schaffen, sei die Verleihung zeitlich befristeter Monopolstellungen in Form ausschließlicher Patentrechte an Erfindungen“ (Machlup 1962: S. 21, Herv. i. O.). Die Passage sensibilisiert am Rande auch für ein heute in der Regel nicht mehr hinterfragtes Grundaxiom der Debatten um Patente und Intellectual Property: Eine Rechtfertigung des Patentschutzes als Promotor von Innovation ruht ihrerseits bereits auf der Prämisse auf, dass wettbewerbsbasierter technologischer Fortschritt per se wünschenswert und staatlich förderungswürdig ist. 10 Vgl. als selektive Referenzen North 1981, 1986, 1990; siehe auch Nelson 2008 als Überblick. 11 Als historisches Gegenargument wird von Kritikern der Anspornungstheorie häufig die Studie von Eric Schiff zur „Industrialization without patents“ referiert, in der für
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Für North stellt das Patent eine unverzichtbare Institution dar, weil es bei der Realisierung der übergeordneten politisch-wirtschaftlichen Zwecksetzung technologischer Innovation und wirtschaftlichen Wachstums institutionell förderlicher ist als „no patent protection at all“. Andere, an North anschließende Autoren aus demselben Forschungskontext der „(New) Institutional Economics“ argumentieren ähnlich. So liest man etwa in einer von Robert P. Merges und Anderen verfassten Monographie zu „Intellectual Property in the New Technological Age“: „The central theory behind patent law is relatively straightforward. This theory posits that inventions are public goods that are costly to make and that are difficult to control once they are released into the world. As a result, absent patent protection inventors will not have sufficient incentive to invest in creating, developing, and marketing new products. Patent law provides a market-driven incentive to invest in innovation, by allowing the inventor to appropriate the full economic rewards of her invention“ (Merges/Menell/Lemley 2000: S. 137).
Auch hier wird die Unverzichtbarkeit eines Anreizmechanismus („market-driven incentive“) für die Schöpfung und Vermarktung von Innovationen als evolutionärer Auslöser des Bedarfs nach Rechtsschutz hervor gehoben und auch hier wird das Argument ex negativo entwickelt und eine typische Rechtfertigungsrhetorik des Typs „Anspornungstheorie“ verfolgt. Wenn wir davon ausgehen, dass die Argumente der Anspornungstheorie zutreffen und vom Patent eine wettbewerbsstimulierende Wirkung ausgeht, erklärt dies aber noch nicht hinreichend, warum es insbesondere zur Hervorbringung und Vermarktung von Erfindungen und neuen Technologien eines besonderen Anreizes bedarf. Auf diese Frage wollen wir deshalb im nächsten Absatz etwas genauer eingehen. die Schweiz und die Niederlande in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als beide Staaten Patentrechte für lange Zeit abschafften, ein starkes Wirtschaftswachstum nachgewiesen wird (vgl. Schiff 1971). Man kann hier ferner an die vielbeachtete „Economic Theory concerning Patents of Invention“ von Arnold Plant denken, der die These vertritt, dass die stimulierende Wirkung des Patentrechts weit überschätzt würde, da auch in Branchen, in denen Patentieren eine geringere Rolle spielt als etwa in Chemie und Pharma intensiv in Erfindungsarbeit und Marktinnovationen investiert und häufig für andere Formen der Wissensausbeutung wie z.B. einen überraschenden Markteintritt optiert würde (Plant 1934); vgl. zu funktionalen Äquivalenten für Patente auch unten S. 303ff.
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Dispossession impossibility und market failure Das letzte Zitat, das den „public good“-Charakter von Erfindungen hervorgehoben hat, weist uns bei der Beantwortung dieser Frage den Weg. Sie spielt auf eine besondere Eigenschaft von intellektuellem Eigentum bzw. Wissen schlechthin an. Das einer Erfindung zugrunde liegende Wissen verliert seine Exklusivität, sobald es die Schwelle von privat zu öffentlich überschreitet. Macht man eine Erfindung am Markt öffentlich zugänglich, wird sie zu einem öffentlichen Gut, über das man nicht mehr alleine verfügen kann und aus dem man keinen exklusiven kommerziellen Nutzen mehr ziehen kann. Im Gegensatz zu physikalischem Eigentum wie Autos und Bananen oder auch im Gegensatz zu Geld ist Wissen nicht teilbar. Geistiges Eigentum bzw. Wissen schlechthin kann nicht physikalisch oder wertmäßig – etwa wie ein Grundstück oder eine Aktie – in Form eines Nullsummenspiels übertragen werden. „Knowledge transfer“ von ego zu alter ist insofern insbesondere für alter immer prekär, weil er sich nicht sicher sein kann, was ego zukünftig mit dem Wissen, das er ja nach einer Transaktion immer noch hat, machen wird. Alter ist insbesondere in denjenigen Situationen, in denen es für ihn darauf ankommt, einen Wissensvorsprung gegenüber ego zu entwickeln, unsicher, ob es für ihn attraktiv sein kann, Geld oder Mühe für den Erwerb von Wissen aufzuwenden; schließlich hat er das Wissen auch nach dem Kauf nicht exklusiv für sich allein. Man kann Wissen nicht aus- oder wie einen Schuh anprobieren und sobald man es sich angeeignet hat, kann man es nicht wieder „wegwissen“ und zurückgeben: Umtausch ausgeschlossen! Die „Dingmetaporik“, deren Unbrauchbarkeit sich auch bei der Beschreibung von Kommunikation herausgestellt hat (vgl. hierzu explizit Luhmann 1984: S. 193), erweist sich demnach auch bei der begrifflichen Erfassung von Wissen und seiner gesellschaftlichen Allokation als ungeeignet: „In fact, a given piece of information is by definition an indivisible commodity, and the classical problems of allocation in the presence of indivisibilities appear here“ (Arrow 1962: S. 615).
Was folgt aus der „dispossession impossibility“ für den Markt? Die Antwort lautet, wir haben es hier mit einem für Ökonomen alarmierenden Sachverhalt zu tun: Marktversagen. Der „market failure“ (Arrow) beim Handel mit Wissen rührt daher, dass Wissen in scharfem Kontrast zu konventionellem Eigentum aufgrund seiner Unteilbarkeit nicht knapp, sondern prinzipiell universell verfügbar ist. Nicht erst, aber in besonders radikaler Weise mit der Durchsetzung von Digitalisierung lassen sich Daten (Informationen, Wissen, Erfindungen, Entdeckungen) derart einfach übertragen (scannen, kopieren, downloaden, faxen, abdrucken etc.), dass die
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Kosten der Produktion des Wissens in ein eklatantes Missverhältnis zu den Kosten der Rezeption und Imitation des Wissens, d.h. den Kosten der Fremdaneignung geraten.12 Auch der physikalische Nachbau (reverse engineering) von neuen Produkten ist in vielen Fällen nicht aufwendig, sobald man die dem Produkt zugrunde liegende Erfindung erkannt und verstanden hat. Es dauert z.B. zehn bis fünfzehn Jahre und erfordert sehr beträchtliche Investitionssummen, um ein marktfähiges Pharmazeutikum zu entwickeln, aber es erfordert vergleichsweise wenig Aufwand, dieses Medikament zu kopieren und massenhaft zu vertreiben, ohne selbst der Erfinder dieses Medikaments gewesen zu sein.13 Ökonomen formulieren hier, dass der Imitator (der Hersteller von Generika) keine Deckungsbeiträge für die in Forschung und Entwicklung versunkenen (hohen) Kosten („sunk costs“) erwirtschaften muss, deshalb mit viel geringeren Preisspannen kalkulieren und sich somit als „cost leader“ am Markt positionieren kann. Aus diesem Problem der defizitären „appropriability“ von „intangible assets“ folgt dann im Extremfall, dass Wissen überhaupt nicht mehr entwickelt und verbreitet oder nur sehr spät der Allgemeinheit gegenüber offenbart würde. Eine solche Situation würde zu einer massiven und weitflächigen Fehlallokation von Ressourcen führen, weil viele private Akteure in Unkenntnis des Wissens anderer Akteure redundantes Wissen, oder von vorne herein gar kein neues Wissen hervorbringen würden, da für sie die Ungewissheit einer hinreichenden Amortisierung der Investition zu hoch wäre. Da aber – so der typische Argumentationsduktus – nur die breitflächige Produktion und Zirkulation von innovativem Wissen technischen Fortschritt und wirtschaftlichen Wettbewerb fördern könne, müsse die öffentliche Hand einer erfinderischen Privatperson (einem Unternehmen) mit der Institution des Patentschutzes entgegenkommen, damit diese genügend wirtschaftliche Anreize für die öffentliche Zurverfügungstellung ihres privaten Wissens habe: Damit schließt sich der Kreis der rechtfertigenden Argumentation. Der Staat springt in Form des Patentrechts steuernd mit einem Anreiz ein, damit private Akteure gewillt sind, ihr kostenintensiv erzeugtes privates
12 „Economics explore ways of efficiently allocating scarce resources to unlimited wants and find that private property rights are a plausible way of dealing with scarcity in an efficient manner. Knowledge, however, is a unique resource given that it is not inherently scarce. Theoretically speaking, the potential use of existing knowledge is unlimited and may be diminished only when such knowledge becomes obsolete. Thus, the use of any invention by one individual does not reduce its accessibility to others but is more likely to increase it“ (Pugatch 2004: S. 16). 13 Vgl. hierzu auch die Ausführungen in Kapitel 7 (S. 315ff.).
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Wissen zu veröffentlichen, um damit den öffentlichen Wissensaustausch und die technologische Konkurrenz anzuregen. Das Patent als privat-öffentlicher Vertrag Dieser kosten- und allokationstheoretisch verfeinerte Gedankengang begegnet uns auch bei einem Blick auf die zweite Säule der utilitaristischen Tradition wieder: Hier basiert die Institution des Patents auf einem Austauschvertrag zwischen Gesellschaft und Erfinder: „By its nature, a patent can be seen as a socio-economic contract between an inventor (or IPR holder) and society. Upon voluntary request by an inventor who fulfils certain requirements, society grants patent rights to the inventor, who in turn ‚pays‘ for the rights by disclosing the invention to the public“ (Granstrand 1999: S. 71).14
Die der Idee des contrat social entlehnte „contract theory of patents“ begreift das Patent demnach als öffentlich-privaten Tausch von Wissenskontrollrechten. Der Erfinder bzw. ein Unternehmen offenbart mit der Veröffentlichung der Patentschrift proprietäres, möglicherweise sehr aufwendig und kostenintensiv entwickeltes Wissen gegenüber der Gesellschaft (aus seiner Sicht: gegenüber den Mitbewerbern) und erhält als Gegenleistung die Konzession des Patentmonopols. Der Patentinhaber tauscht also die normative Verfügungsgewalt über sein Wissen gegen den kognitiven Kontrollverlust ein. Die restlichen Gesellschaftsmitglieder (Erfinder, Unternehmer) gewinnen im Umkehrschluss kognitive Verfügungsgewalt und verlieren (vorübergehend) das Recht auf die wirtschaftliche Verwertung dieses Wissens.15 Das Patentsystem schützt also zugleich Privat- und Kollektivinteressen, indem es als Ausgleich für den prinzipiell negativ zu bewertenden wettbewerbsbeschränkenden Effekt der Monopolstellung eines Einzelnen die Veröffentlichung des Wissens verlangt und das Wissen damit jedem potenziell interessierten Dritten zur Verfügung stellt. Privates Gewinnstreben und staatliches Fortschrittssowie Wohlfahrtsinteresse und die entsprechenden Transaktionskosten (private
14 „The patent constitutes a genuine contract between society and inventor; if society grants him a temporary guaranty, he discloses the secret which he could have guarded; quid pro quo, this is the very principle of equity“, formuliert der französische Nationalökonom Wolowski im Jahr 1869 (zitiert nach Machlup 1958: S. 25). 15 „Vorübergehend“, weil jedes Patent in seiner Schutzwirkung zeitlich begrenzt ist; vgl. hierzu das nächste Kapitel.
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vs. social cost) kommen im Patentvertrag so effizient wie möglich (paretooptimal) zur Deckung: „A systematic set of incentives to encourage technological change and raise the private rate of return closer to the social rate of return was established only with the patent system“ (North 1981: S. 164).
Während sich die Anspornungstheorie auf den Anreizaspekt des exklusiven Rechtsschutzes für den Erfinder und damit die Funktion der Risikoabsorption konzentriert, betont die Vertragstheorie stärker den komplementären Effekt der Veröffentlichung neuen Wissens aus Sicht der an technologischem Fortschritt interessierten Gesellschaft. In einer Kombination beider Ansätze wird dann häufig von der Doppelfunktion des Patents als Schutz- und Veröffentlichungsinstrument oder von der Schutz- und Informationsfunktion des Patents gesprochen.16 Der Sinn und Zweck des Patentrechts liegt demnach gleichermaßen darin, die Produktion neuen Wissens ökonomisch zu motivieren und die Beschleunigung der Kommunikation technischen Wissens zu ermöglichen. In der Kombination von Schutz und Öffentlichkeit des produzierten technologischen Wissens entfaltet das Patentrecht eine besondere volkswirtschaftliche und damit gesamtgesellschaftliche Funktionalität. Das Patent fungiert in dieser Perspektive als Schwungrad des technischen Fortschritts und wird damit zum rechtlichen Kernbestandteil einer modernen staatlichen Wirtschaftsordnung: „Wir sollten über alledem jedoch nicht die grundlegenden rechtspolitischen Ziele des Patentrechts aus dem Blickfeld verlieren und uns daran erinnern, daß die möglichst reibungslose Erlangung und Durchsetzung von Schutzrechten kein Selbstzweck ist, sondern nur das Mittel zur Zielverwirklichung, nämlich zur möglichst optimalen Förderung des technischen, wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts“ (Beier 1972: S. 215).
Im Anschluss an diese von Patentbefürwortern (grundsätzlich) kaum mehr hinterfragten Prämissen bearbeiten die meisten der heutigen volkswirtschaftlichen und rechtspolitisch orientierten Arbeiten dementsprechend die Fragestellung, wie der Interessensgegensatz zwischen öffentlicher Hand und privatem Investor möglichst effizient reguliert werden kann.
16 Vgl. für andere Zitscher 1997.
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Übergang zur soziologischen Theorie Aus unserer Perspektive ist nun entscheidend, dass auch die zum Teil bissige Kritik am Patent und der Patentapologetik nichts Grundsätzliches am ökonomischen Erklärungsduktus an sich einzuwenden hat. Ganz im Gegenteil: Auch die Kritiker des Patents reproduzieren in ihrer Kritik das Denken in Termini ökonomischer Effizienz, indem sie das Patent gerade aufgrund einer unterstellten volkswirtschaftlichen Ineffizienz ablehnen. Abgesehen von den angesprochenen Fundamentaldebatten setzt das Gros der zeitgenössischen Patentökonomik den Nettonutzen des Patents allerdings in der Regel voraus und konzentriert sich auf Fragen der optimalen Ausbalancierung von Kosten und Nutzen, d.h. zwischen monopolartigem Schutz und öffentlicher Zurverfügungstellung von Wissen. Die nachfolgend zitierte Aussage des „Chairman“ der US-amerikanischen Kartellbehörde Federal Trade Commission (FTC) steckt die Eckpfeiler dieser Diskussionen und Forschungen repräsentativ ab; die Abb. 1 auf der folgenden Seite illustriert dieses Denken ergänzend in graphischer Form:17 „Consumers and innovators win when patents and competition policy are aligned in the proper balance. Although questionable patents can harm competition and innovation, valid patents work well with competition to promote innovation.“18
Es geht in diesen Debatten im Einzelnen darum, wie systemische Stellschrauben wie z.B. die „Weite der Patentansprüche“ optimal justiert werden, um für die Verteilung von volkswirtschaftlichen „costs and benefits“ eine möglichst effiziente Lösung zu finden.19 Man ist für oder gegen das Patent, für starken oder schwachen Rechtsschutz, für oder gegen eine stärkere Nutzung der „Informationsfunktion“ des Patents etc. Weder von Apologeten noch von Kritikern des Patents wird aber in Abrede gestellt, dass es die Frage nach der wirtschaftlichen 17 Es handelt sich um die Wiedergabe einer Folie, die ein Vertreter des Europäischen Patentamts bei einer Informationsveranstaltung zur Messung und Evaluation von wissenschaftlicher Produktivität („Science Metrics“) im Europäischen Parlament auflegte (14. April 2010 in Brüssel). 18 Vgl. www.ftc.gov (Search: FTC Chairman Patents Innovation); vgl. ferner Federal Trade Commission 2003. 19 Drei häufig zitierte Beispiele aus der einschlägigen Literatur: Nordhaus 1972 zur optimalen Patentlebensdauer („optimal life of a patent“), Merges/Nelson 1990 zu den „complex economics of patent scope“ und Mazzoleni/Nelson 1998 zu den „benefits and costs of strong patent protection“.
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Wirkungsweise des Patents ist, an der jede Analyse des Patents ihren Ausgangspunkt nehmen muss. Abbildung 1: Patent Policy: The right balance
Um es auf den Punkt zu bringen: an den (politisch-)ökonomischen Beschreibungen der Patentfunktion fällt einem Soziologen somit unweigerlich auf, dass das Patent vor allem von seinen (wirtschaftlichen) Wirkungen her gedacht wird. Das Patentrecht sorgt in Form des Anreizes Patent dafür, dass geforscht, vermarket, gewirtschaftet wird, es wird also wirtschaftlich benötigt. Das (Patent-)Recht muss einspringen, wenn es wirtschaftlich nicht läuft (market failure) etc. Dieser Fokus auf Wirtschaft war von der Ökonomie, bzw. einer ökonomischen Theorie des Rechts zu erwarten: Genauso wie man von der Ökonomie erwarten muss, dass sie gesellschaftliche Phänomene wie das (Patent-)Recht im Hinblick auf Wirtschaftliches beobachtet, würde man von Wissenschaftstheoretikern erwarten, dass sie das Patent im Hinblick auf seine (mitunter als deformierend bewerteten) kompetitiven Effekte für die wissenschaftliche Wissensproduktion beobachten. Sportwissenschaftlern würde man unterstellen, dass sie zu erklären versuchen, warum es funktional destruktiv für den Sport wirken könnte, wenn athletische Techniken patentiert werden könnten etc.20 Wegweisend wird deshalb vielmehr die Frage, worin nun der soziologische Anspruch besteht, mit dem wir uns von den „economics of the patent“ absetzen können. Was gibt es über
20 Vgl. Kukkonen 1998; siehe auch den Hinweis bei Werron 2010: S. 159; weitere Hinweise auch auf der webpage der WIPO (www.wipo.int/ip-sport).
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die Ökonomie hinaus eigentlich noch zu sagen, wenn sich der Wert des Patents doch von seinen wirtschaftlichen Effekten her ableitet? Erinnern wir uns an dieser Stelle an die in der Einleitung formulierten Prämissen eines soziologischen Ansatzes; vielleicht ist der „Wert des Patents“ ein Stichwort, bei dem es sich lohnt, genauer nachzufragen. Angenommen, es ginge uns überhaupt nicht um Wert und Wirkung des Patents, sondern wir würden – ganz klassisch und „werturteilsfrei“ – unterstellen, das Patent wäre buchstäblich gesehen eine gesellschaftliche Institution ‚by its own right‘ und daher nicht nur fremden, sondern vor allem auch eigenen Imperativen verpflichtet? Lassen sich am Patent etwa Züge von Modernität ausmachen, deren Analyse es in einen Kontext des Vergleichs mit anderen modernen Phänomenen einrücken lassen könnte? Mit anderen Worten: Ist das Patent eine soziale Institution, die es unabhängig von ihrer wirtschaftlichen Zweckmäßigkeit zu untersuchen lohnt, weil man am Gegenstand etwas über Gesellschaft schlechthin lernen kann? Und umgekehrt: kann man über das Patent neuartige Erkenntnisse produzieren, indem man Wissen über die moderne Gesellschaft und moderne Phänomene wie Wissenschaft, Kunst, Organisationen, Unternehmen etc. auf das Patent anwendet? Lässt sich mit einem solchen Vorgehen eine Funktion des Patents identifizieren und hinreichend abstrakt beschreiben, so dass Unterschiede und Gemeinsamkeiten des Patents mit Blick auf andere moderne gesellschaftliche Systeme hervortreten und auf diesem Wege eine Theorie des Patents informieren könnten? Eine entsprechende Vermutung haben wir bereits in der Einleitung formuliert: allerdings lassen sich diese Fragen nur dann bejahen, wenn man bereit ist, sich auf einen anderen Denkstil einzulassen, der eine stärkere Distanz zu seinem Objekt sucht und das Patent nicht begründen, sondern ergründen möchte. Um zu einer angemessenen soziologischen Beschreibung des Patents zu gelangen, so unsere (system-)theoretische Intuition, müssen wir im Folgenden als erstes eine wichtige terminologische Weichenstellung vornehmen: wir beginnen unsere Arbeit an der Soziologie des Patents mit einem Austausch der Gegenbegrifflichkeit („antonym substitution“) und ersetzen die ökonomisch zentrale Gegenüberstellung von Patent/Wirtschaft durch die soziologisch-gesellschaftstheoretische Unterscheidung Patent/Gesellschaft.
F UNKTION , G ESELLSCHAFT , A UTONOMIE Um das Patent gesellschaftstheoretisch beschreiben zu können, müssen wir zu Beginn zwei wesentliche „obstacles épistémologiques“ umschiffen. Bei der ersten Erkenntnisbarriere handelt es sich um ein – auch bei vielen Soziologen anzutreffendes – problematisches Verständnis des Funktionsbegriffs. Zum Zweiten
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lässt sich ferner zeigen, dass dieses funktionalistische Denken-in-Wirkungen mit einem inhaltlich aufgeladenen und auf Staatliches und Wirtschaftliches fokussiertem Gesellschaftsbegriff zusammenhängt; dieser macht gemeinsame Sache mit einer (einseitigen) funktionalen Inanspruchnahme des Rechts für einen identifizierten gesellschaftlichen Regulierungsbedarf und verstellt dadurch den Weg zu einer abstrakter ansetzenden theoretischen Perspektive auf das Patent. Wir starten unsere Abgrenzung mit einem funktionalistischen Analogieschluss (-fehlschluss). Wenn die Funktion des Patentrechts vor allem darin läge, die Erfindungstätigkeit anzuregen und den wirtschaftlichen Wettbewerb anzuspornen, dann könnte man von der Politik sagen, dass ihre Funktion darin bestünde sicherzustellen, dass Schwimmbäder gebaut würden. Oder man würde sagen, es wäre die Funktion des Sports, Sportfreunden einen spannenden Fernsehabend zu bescheren oder Menschen auf der Straße des 17. Juni zu versammeln (siehe auch die Passagen zum Sport im nächsten Abschnitt). Oder man behauptete, die Funktion der Wirtschaft sei darin zu sehen, dass Menschen Arbeit haben und Steuern zahlen. Diese Beispiele versuchen lediglich anzudeuten, dass es verführerisch, weil so scheinbar ‚einleuchtend‘ sein kann, Funktionssysteme und Funktionen von ihren Externalitäten, d.h. ihren (unterstellten) und (heute) nicht mehr wegzudenkenden Folgen in der und für die Gesellschaft zu denken und zu „begründen“. Eine solche Vorgehensweise ist sehr häufig anzutreffen und das Argument läuft wie folgt: Man beobachtet die (gewünschten) Folgen bzw. Wirkungen eines Funktionssystems und definiert diese dann ‚retrograd‘ als zu bewirkende Zwecke dieses Systems bzw. das System als die Ursache, welche die Wirkungen bewirkt. Der Funktionsbegriff nimmt dann eine teleologisch-ontologische Ausrichtung an.21 Teleologische Funktionalismen dieser Art neigen dann ferner – dies sieht man an Anspornungs- und Vertragstheorie sehr deutlich – zu einem affirmativen Verhältnis zur beschriebenen Funktion. Die Funktion wird damit zu einem positiven Bestandserfordernis, einem gesellschaftlich in positiver Hinsicht zu erfüllenden Zweck. Im Umkehrschluss werden unerwünschte (unintendierte) Struktureffekte eines Systems, man denke an Korruption, Doping, Fälschung, als dysfunktional oder als „nichtintendierte“ Nebenfolgen markiert.22
21 „Der Terminus ‚Funktion‘ impliziert eine Art teleologischer Qualität, die sozialen Systemen zugeschrieben wird: man hält soziale Gegenstände bzw. Aktivitäten für existent, weil sie funktionalen Erfordernissen entsprechen“ (Giddens 1988: S. 454). 22 Vgl. überblickend zu „Nebenfolgen“ Holzer 2006.
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Die soziologische Systemtheorie hat sich von diesem substantialistischen Denken in Bestandsvoraussetzungen gelöst. Sie deduziert gesellschaftliche Funktionen überhaupt nicht von einer von einem Beobachter unterstellten gesellschaftlichen Notwendigkeit her, sondern beobachtet eher induktiv und beschreibt in einem ersten Schritt, wie ein System die eigene Funktion für die eigene Reproduktion nach eigenen Prämissen nutzt. Bei einer Funktion handelt es sich demnach um einen kommunikativen Problembezug, an dem sich ein Funktionssystem dauerhaft abarbeitet. Problem wird hier sehr allgemein verstanden und meint nicht Dinge wie Arbeitslosigkeit, Inflation, unterdurchschnittliche „Innovationskraft“ etc. sondern bezieht sich auf allgemeine Grundkonstellationen menschlicher Kommunikation, die im Laufe der soziokulturellen Evolution in der Gesellschaft anfallen und als Katalysator für Systembildung wirken können: „Funktionsbestimmungen dienen nur der Herstellung eines Gesellschaftsbezugs, gleichsam als Problem, an dem Ausdifferenzierung kristallisiert“ (Luhmann 1993: S. 143).
Der „gesellschaftliche Bezug“ einer Funktion wird bei Luhmann nicht mehr mit einem positiven Beitrag eines Teilsystems für das gesellschaftliche Ganze gleichgesetzt, da aufgrund der Polykontexturalität des Gesellschaftlichen und seiner Beschreibungen überhaupt nicht konkret angegeben werden kann, worin dieses Ganze, diese gesellschaftliche Einheit überhaupt bestehen soll.23 Die Grenzen der Gesellschaft sieht Luhmann ‚nur‘ in den Grenzen sinnhafter Konstitution, es sind also Sinngrenzen eines globalen Kommunikationsnetzwerks, der Weltgesellschaft.24 Es macht dann keinen Sinn, sich diese Gesellschaft als ein Ganzes vorzustellen, das aus diesen Funktionssystemen als Problemlösungsinstanzen zusammengesetzt ist. „Gesellschaftlicher Bezug“ stellt dann vor allem auf das operative Referieren auf ein kommunikatives Problem ab, das in der Kommunikation als der Letzteinheit alles Gesellschaftlichen selbst entsteht und auch dort gelöst werden muss (vgl. so auch dezidiert Nassehi 2003: S. 162). Funktionssysteme monopolisieren den in ihrer spezifischen Funktionalität angelegten Weltbezug und negieren Zweitzuständigkeiten anderer Funktionssys23 Zur Systemtheorie der funktionalen Differenzierung vgl. etwa überblickend Luhmann 1986. 24 „Das Problem, die Grenzen des Systems der Gesellschaft anzugeben – seien es territoriale Grenzen, Grenzen personeller Zugehörigkeit, Grenzen der integrierenden Kultur oder was immer als Kriterium angeboten worden ist –, ist bis heute nicht befriedigend gelöst worden. Es ist deshalb notwendig, sich vor Augen zu führen, daß es sich nur um Sinngrenzen handeln kann […]“ (Luhmann 1971: S. 7).
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teme. Ebenso wenig wie sich religiöse Kommunikationsbezüge in ihrer Deutung der Eucharistie von der Politik ‚reinreden‘ lassen, beobachten umgekehrt wirtschaftliche Kommunikationsbezüge Sonntagsarbeit unter Vorzeichen von Umsatz und Kosten und nicht unter religiösen Gesichtspunkten usw. Die moderne Gesellschaft verlässt sich in ihrem Funktionieren nicht mehr auf funktionale Redundanzen, sondern besteht in einem heterarchischen Arrangement funktionaler Weltsichten, die strukturelle Abhängigkeiten und Unabhängigkeiten aneinander steigern. Wir werden im Laufe dieser Arbeit diese differenzierungstheoretische Leitthese von einem Steigerungszusammenhang zwischen funktionaler Autonomie und Interdependenz auf das Patentsystem anwenden und insbesondere zu zeigen versuchen, inwiefern sich das Patentsystem in seiner funktionalen Spezifikation gegenüber wirtschaftlicher Kommunikation verselbstständigt und gleichzeitig höhere Abhängigkeiten eingehen kann. Ein solcher nur mehr formal über Kommunikationsbezüge und Differenzierungsmuster entwickelter Gesellschaftsbegriff mag nicht nur für die meisten Ökonomen und Rechtswissenschaftler befremdlich und schwer nachvollziehbar klingen, er ist es auch für viele Soziologen. Die meisten Sozialwissenschaftler arbeiten weiterhin mit einem an Nationalstaatlichkeit, d.h. primär an den Funktionssystemen Politik und Recht angelehnten Gesellschaftsbegriff, an den häufig sozialintegrative Ordnungsvorstellungen gebunden werden.25 Dem nationalstaatlichen, politisch-rechtlichen Komplex kommt dann – wenig distanziert von politisch-staatlichen Selbstbeschreibungsformeln wie „Rahmenbedingungen setzen“, „in der Krise gegensteuern“ etc. – vor allem eine gesellschaftliche Rolle der Steuerung zu. Die Politik – mitsamt Recht und Rechtsprechung als ihrem „Erzwingungsstab“ – müsse durch Anreize, Sanktionen etc. konditionieren, was in anderen – zudem (vermeintlich) stärker globalisierten – Gesellschaftsbereichen wie allen voran der Wirtschaft möglich ist oder eben (un)möglich gemacht werden soll.26
25 Siehe interessant die Kritik Tenbrucks an diesem Gesellschaftsverständnis, der bemängelt, dass die „soziologische Konstruktion der „Gesellschaft eher dem Bedürfnis nach einer sinnvollen und vorhersehbaren Ordnung galt als der Aufgabe, die Tatsachen in den Blick zu nehmen“ (Tenbruck 1981: S. 333); vgl. auch S. 114ff. im weltgesellschaftstheoretischen Kapitel 5 zu dieser Diskussion. 26 Neben das staatszentrierte Gesellschaftsverständnis tritt dann in aller Regel die (implizite) Annahme eines gesellschaftlichen Bedeutungsprimats des Funktionssystems Wirtschaft; für eine Diskussion dieser Frage siehe etwa Pahl 2008: S. 55ff., Schimank 2009.
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Auch von Soziologen, die mit dem Theorem funktionaler Differenzierung arbeiten, werden integrations- und steuerungsorientierte Vorstellungen kontinuiert. Man kann hier an die Arbeiten Helmut Willkes denken, der Gesellschaft explizit als „viable polit-ökonomische Einheit“ (Willke 2000: S. 204) mit der Fähigkeit zur Selbststeuerung denkt und eine supervisionäre politisch-rechtliche Steuerung der Wissensgesellschaft zwar als unwahrscheinliche aber mögliche Leistung beschreibt (vgl. etwa Willke 1997).27 Die Nähe der soziologischen Gesellschaftstheorie zur Institutionenökonomie und politischen Ökonomie bleibt dann begrifflich gewahrt. Entscheidend für unseren Gedankengang ist hier, dass dem Recht insgesamt von diesen in Kategorien des Nationalstaatlichen denkenden Theorien nichts weniger als die Rolle zugemutet wird, die Gesellschaft insgesamt zu steuern. Recht oder „reflexives Recht“ ist dann die gesellschaftliche Instanz, der man zutraut, die evolutionäre Entwicklung anderer gesellschaftlicher Funktionssysteme sinnvoll in die ‚richtige‘ Richtung zu lenken. Recht wird in einem solchen Verständnis zur „Planungsmacht schlechthin“ (Schelsky 1970: S. 73), zum Steuerungsrelais der Gesellschaft. Nimmt man dagegen die Differenzierungstheorie im systemtheoretischen Sinne einer Theorie geschlossener, selbstbezüglich operierender Systeme ernst, muss man mit steuerungstheoretischen Ansätzen dieser Art einige Probleme haben. Wir vermuten, dass steuerungs- und zweckorientierte Ansätze – ganz gleich ob ökonomischer oder soziologischer Provenienz – dem Recht im Allgemeinen und damit auch dem Patentrecht im Besonderen gleichzeitig zu wenig und zu viel zutrauen (würden). Zu wenig, weil sie unseres Erachtens die Autonomie des Patents als eigensinniger Kommunikationsform unterschätzen und das Recht als sekundäre gesellschaftliche Institution begreifen, welche die gesellschaftliche, insbesondere wirtschaftliche Evolution, zumeist ‚nachempfinden‘ muss und das seine Funktion vor allem darin findet, auf die Wirtschaft zu reagieren, d.h. z. B. wirtschaftliche Exzesse und Ausfälle zu regulieren. Zu viel trauen sie Recht und Patentrecht zu, weil es zwar durchaus Wirkungen in seiner gesellschaftlichen Umwelt, vor allem in der Wirtschaft, hervorruft, aber gerade nicht im Sinne ei-
27 Hieraus folgt dann im Umkehrschluss, dass der modernen Gesellschaft der Status Weltgesellschaft (noch) nicht zuerkannt werden kann: „Im Gegensatz zu der Position von Niklas Luhmann verstehe ich die Gesellschaft der Moderne allerdings nicht als Weltgesellschaft, sondern nach wie vor als territorial und normativ delimitierte Einheit sozialer Selbstorganisation. Solange es keine Instanz, kein Verfahren und keine Regeln gibt, welche für die Welt insgesamt verbindliche Normen der Selbststeuerung setzen, macht die Rede von der Weltgesellschaft keinen Sinn“ (Willke 1997: S. 9f.).
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ner „Trivialmaschine“, die bei entsprechender Programmierung die ‚richtigen‘ Folgen, und sei es nur in einer ‚abgespeckten‘ Variante der „Kontextsteuerung“ (Willke/Teubner 1984) hervorbringt. Hier wollen wir diese Sichtweisen nunmehr hinter uns lassen. Im nächsten Abschnitt werden wir im Rekurs auf den präsentierten systemtheoretischen Funktionsbegriff eine anders gelagerte Funktionsbestimmung des Patents vornehmen. Der Begriff der Funktion wird dabei explizit vom Begriff der systemischen Leistung unterschieden, der stärker die Umweltwirkungen eines Systems beobachtet und für uns die Einsatzstelle sein wird, an der wir die von der Veröffentlichungs- und Vertragstheorie beschriebenen gesellschaftlichen Wirkungen des Patents in unsere soziologische Analyse des Patents integrieren werden.
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Die systemtheoretische Unterscheidung von Funktion und Leistung lässt sich auf alle Funktionssysteme anwenden. Vereinfacht gesagt bezeichnet in diesem Begriffsdual „Funktion“ die Seite des systemischen Inputs, d.h. die Informationen, die das System anderen Kommunikationen in seiner Umwelt qua seiner spezifischen Operativität (Autonomie) abgewinnen kann. „Leistung“ bezeichnet demgegenüber die Output-Seite, die Externalitäten des Systems in seiner sozialen Umwelt. Der wesentliche Unterschied zwischen Funktion und Leistung wird meistens nicht genau genug gesehen, weil und wenn keine Begrifflichkeiten zur Verfügung stehen, die ein soziales System als unabhängig von (erwünschtem) gesellschaftlichem Output zu konzipieren imstande wären.28 Ein Seitenblick auf den in dieser Hinsicht als Beispiel sehr instruktiven, weil häufig drastisch missverstandenen Sport soll dies illustrieren.29 So besteht eine wichtige Leistung des Sports in der regelmäßigen und somit redaktionell erwartbaren Produktion von berichtenswerten Neuheiten (Ergebnisse, Zahlen, Statistiken, Tabellen etc.). Dies lässt den Sport für die Massenmedien zu einer unverzichtbaren informationellen Alimentationsquelle werden (Sportteil, Sportschau, espn.com etc.). In dieser Neuheitsproduktion (etwa: CL-Finale 2013: Bayern München: 6 vs. Barcelona: 1) besteht aber nicht die Funktion des Sports selbst (so aber etwa die Vermutung bei Luhmann 1981): Das massenmediale Gefallen an der Neuheit-als-Neuheit ist in Differenz zur Funktion des Sports zu beobach28 Bei Rehbinder liest man etwa: „Unter gesellschaftlichen Funktionen verstehen wir die Leistungen des Rechts für die Gesellschaft“ (Rehbinder 2000: S. 117). 29 Siehe zum Folgenden Werron 2010, insb. S. 37ff.
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ten, Höchstleistungen zu kommunizieren und zu vergleichen. Übersieht man diese Differenz und denkt den Sport primär von seiner Leistungsseite her, beispielsweise auch, in dem man ihn als „Medium des Fernsehens“ begreift (so Bartz 2003), dann wird man im Sinne des systemtheoretischen Funktionsbegriffs an den genuinen Strukturen und Dynamiken des Sports vorbeiargumentieren. Zwar ist der Sport durch Verbände und Vereine von dieser Bindung an die Massenmedien und damit vor allem auch an stetig fließende Werbeeinnahmen inzwischen gänzlich abhängig geworden und es mag beispielsweise beim Aufstellen eines „Fabelweltrekords“ und dem sich anschließenden „hype“ und „buzz“ manchmal nur mehr schwerlich auseinanderzuhalten sein, welche Anschlussbeobachtungen genuin sportlicher und welche massenmedialer Qualität sind. Entscheidend dürfte aber sein, zu beobachten, wie der Sport intern und im Anschluss an sein eigenes sportliches Gedächtnis (Leistungsnarrative, Rekorde, Statistiken) an dieses Einzelereignis anschließt, d.h. entscheidend wird immer die Frage sein, ob und wie auf Leistung, hier nicht verstanden als systemischer Output, sondern als Spitzenleistung (gute, schlechte, verbesserungswürdige, grausame etc. Leistung) zugerechnet wird. Kommen wir damit zurück zur Frage nach der Funktionalität des Patents. Die Systemtheorie entwickelt eine von externen Effekten (Leistungen) abstrahierende Antwort auf die Frage nach der Funktion des Rechts und setzt zunächst sehr allgemein an. Das Recht spezialisiert sich in systemtheoretischer Lesart auf die Erzeugung und Behandlung eines spezifischen Typs von Erwartungen, nämlichen normativen Erwartungen: Normative Erwartungen sind kontrafaktisch stabilisierbare Erwartungen, d.h. Erwartungen, deren Geltung sich auch bzw. erst im Fall der Normübertretung erweisen lässt: „Die Funktion des Rechts besteht nur darin, Erwartungssicherheit zu ermöglichen, und zwar gerade angesichts von absehbaren, nicht zu verhindernden Enttäuschungen“ (Luhmann 1993: S. 153).
Auch das Patent operiert unter dem Regime dieser Funktion, die Erzeugung von Erwartungssicherheit bildet das Zentrum allen Kommunizierens und Handelns: Wenn ein formal und materiell rechtmäßiger Anspruch auf die Erteilung eines Patents formuliert worden ist, dann entsteht ein entsprechender Rechtsanspruch. Der Inhaber eines Patentanspruchs kann erwarten, dass andere (die Konkurrenz) die von ihm patentierte Erfindung nicht in einer mit seinem Rechts-, d.h. Patentanspruch kollidierenden Art und Weise nutzen werden. Der Gegenstand seines Anspruchs besteht in der Erwartung,
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„that the object claimed and owned is merely the expected behavior of other people to be obtained through expected restraint of competition“ (Commons 1924: 279, Herv. C.M.).
Das Adjektiv „expected“ ist von entscheidender Bedeutung. Es geht bei der Funktion des Patentrechts nicht um die zweckorientierte, direkte Steuerung von Verhalten („behavior“), sondern in einem viel weitreichenderen und komplexeren Sinne darum, dass unwahrscheinliches Verhalten (Warum soll man Erfindungen anderer nicht selbst auch nutzen können?) und deren Erwarten durch Andere erwartet werden kann – und dies pauschal und für zukünftige, noch nicht absehbare Lagen. Beim Patent handelt es sich demnach ausdrücklich nicht um eine kognitive Erwartung, die man – wie Wettervorhersagen oder Wahlversprechen – bei einer sich (überraschend) ändernden Faktenlage rasch ändern muss, um noch kommunikativ anschlussfähig zu bleiben. Es handelt sich um normative Erwartungen, deren Sinn gerade darin besteht, dass man sie nicht unversehens austauscht, wenn sie ‚falsch‘ waren und enttäuscht wurden, sondern sie aufrechterhält.30 Die Funktion der Norm liegt – um diesen Sachverhalt noch einmal zu betonen – nicht zuerst in der Sicherung von Verhaltensweisen, dem Erreichen eines Handlungszwecks, sondern in der Stabilisierung eines Erwartungsarrangements, das bereits in und mit der kommunikativen Unterstellung wirkt und Enttäuschungen überdauert: Der Patentinhaber genießt Rechtssicherheit.31 In dieser Definition des Patentrechts als Produzenten und Stabilisierer einer normativen Exklusivitätserwartung sehen wir die funktionale Eigentümlichkeit des Patents und damit auch den Kern der strukturellen Autonomie des Patents. Dieses Verständnis von Autonomie und Funktionalität setzt nicht primär am social engineering, der Effektivität an, sondern an der Patentnorm und des laufen30 Der normativ Erwartende verarbeitet Irritationen grundsätzlich als zu negierende oder zu sanktionierende Abweichung, d.h. er ist ‚stur‘ und bleibt unbelehrbar bei seiner Meinung, das Geschehe und nicht sein Anspruch sei ‚falsch‘; zur Unterscheidung von kognitiven und normativen Erwartungen vgl. grundlegend Luhmann 2008 [1972]: S. 40ff. 31 „Indem ich alles Gesagte zusammenfasse, gestatte ich mir das Urteil, dass im Patentrecht so gut wie in andern Disziplinen die Hervorkehrung der methodologischen Bedeutung des Begriffs „Zweck“ ungeeignet ist. Bei sonst gleichem rechtlichen Wert zweier Bestimmungen könnte die Fähigkeit der einen, unmittelbar zu nützen, ein entscheidendes Kriterium bilden. Aber das Grundideal des Juristen kann kein anderes sein, als das Durchringen zur absoluten Rechtssicherheit. Alles weitere bei diesem Kriterium ergibt sich von selbst“ (Pilenko 1907: S. 32).
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den operativen und selbstbezüglichen (autopoietischen) Abarbeitens am Problem der Erwartungssicherheit selbst. In diesem (systemtheoretischen) Sinne ist das Patentsystem Zweck-los.32
Leistungen des Patents Mit dieser auf die Bearbeitung des Problems der Rechtssicherheit abstellenden Funktionsbestimmung des Patents ist über die Qualität der aus der Rechtsnorm resultierenden Folgen des Patentrechts noch nichts gesagt. Was allerdings theoretisch gesagt wurde, ist, dass wir die Externalitäten und Umwelteffekte des Systems, die für andere soziale Systeme, insbesondere Unternehmen relevant werden, vom Begriff der Funktion trennen und unter den Begriff der Leistung, der dem Begriff der Funktion nachgelagert ist, summieren. Im Anschluss an die diskutierten ökonomischen Theorien des Patents und Einsichten der klassischen rechtssoziologischen Theorie lassen sich drei primäre Leistungsbezüge des Patents ausmachen: x Anreiz zu Investitionen in Forschung & Entwicklung („Anspornungstheorie“) x Veröffentlichung technischen Wissens („Informationsfunktion“) x Konfliktregulierung Anreiz zu F&E-Investitionen Ähnlich wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen zeigt sich auch für das Patentrecht eine verhaltenssteuernde Wirkung. Ein wirtschaftlicher Akteur kann mit einem Patent für seine Erfindung buchstäblich rechnen und in ihm die effizienteste Möglichkeit für eine profitable Ausbeutung seines kostenintensiv erzeugten Wissens sehen. Insofern lässt sich dem Patentrecht eine forschungsstimulierende Wirkung zuschreiben. Über den ‚Umweg der Risikoabsorption‘ kann es für Unternehmen zudem attraktiv werden, in Forschung & Entwicklung zu investieren. Risikokapitalgeber in der Biotech-Branche etwa machen ihre Zustimmung zur Zurverfügungstellung ihres „venture capitals“ vor allem auch von der Existenz oder der Aussicht auf „starke Patente“ abhängig (vgl. z.B. Lemley 2000). Die Absorption von Investitionsrisiken beruht allerdings auf keiner exklusiv dem Patentrecht zuzuschreibenden Qualität; für diese Leistung gibt es vielmehr
32 „Autopoiesis ist ein ateleologisches Prinzip“ liest man hierzu bei Luhmann 1990: S. 285.
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Äquivalente wie z.B. die Geheimhaltung von Wissen oder Handelsgeheimnisse (trade secrets). Jede Form der Risikoabsorption resultiert demnach aus einem immer schon mit wirtschaftlichen Erwartungen rechnenden Kalkulationsvorgang, der die Option zu Patentieren als eine Möglichkeit der Risikoabsorption betriebswirtschaftlich immer kontingent setzen muss. So kann es z.B. im Falle von technologisch aufwendigen Verfahren manchmal unattraktiv werden zu patentieren, weil sich Verfahren nur aufwendig imitieren lassen und der Nachteil der Veröffentlichung des Verfahrens den Vorteil, dieses Wissen exklusiv zu haben, bei weitem überwiegt. Die Nähe dieses Arguments zum Erwartungsbegriff und damit vermeintlich auch zum Begriff der rechtlichen Funktion der Erwartungsstabilisierung darf also nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich auch bei der Absorption von Investitionsrisiken um eine Leistung des Patentsystems handelt, die ähnlich wie Zwecke aus Sicht des wirtschaftlichen Akteurs austauschbar sind bzw. situativ wirtschaftlich (!) Sinn machen oder nicht. Die normative, also auch kontrafaktisch stabilisierte Erwartungssicherheit einer exklusiven Auswertungschance bietet allerdings nur das Patent und keine andere Institution und man muss – wenn man patentiert – auch mit der zweiten Leistung des Patentsystems, der Veröffentlichung, leben, ob man möchte oder nicht. Veröffentlichung technischen Wissens Zurzeit wird im wissenschaftlich-akademischen Bereich viel über Vor- und Nachteile von „open access“ diskutiert. Die Befürworter sehen einen gesellschaftlichen Nettonutzen in der Verbesserung der Verfügbarkeit des (weitestgehend mit öffentlichen Steuergeldern finanzierten) Wissens und die Gegner sehen in der open access-policy der Universitäten einen zu weit gehenden Eingriff in die Publikationsautonomie des Wissenschaftlers (vgl. bereits die Anmerkung in der Einleitung). Im Patentsystem ist open access bereits seit langem institutionalisierte Routine: Patentschriften und weitere Patentdokumente sind öffentlich zugänglich und in der Leistung der Veröffentlichung und Zugänglichmachung patentierten Wissens liegt eine der wesentlichen Aufgaben, die der Gesetzgeber dem Patentamt übertragen hat. Der Effekt der oben beschriebenen Transaktion zwischen privatem und öffentlichem Akteur, technisches Wissen in der standardisierten und gut zugänglichen Form der Patentschrift zur Verfügung zu stellen, wird häufig auch als Informations- oder Veröffentlichungsfunktion des Patentsystems beschrieben.33 Im Lichtkegel unserer Unterscheidung von Funktion und Leistung wird es möglich, die systematische öffentliche Verbreitung von techni33 Vgl. etwa Beier 1977 und die Abschnitte weiter oben in diesem Kapitel zur Vertragstheorie.
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schem Wissen im Medium von Patentschriften als Leistung deutlicher von der rechtlichen Funktion normativen Erwartens abzugrenzen. Regulierung und Produktion von Konflikten In vielen rechtssoziologischen Texten wird die Regulierung von Konflikten als die zentrale „Funktion“ des Rechtssystems begriffen. Entstehen nicht mehr anderweitig lösbare Konflikte, wird das Recht als schlichtende Konfliktlösungsinstanz angerufen. Besondere Plausibilität erhält diese Auffassung im Strafrecht und vor allem für Gewaltstraftatbestände. Das Recht reguliert Konflikte, indem die Schuldigen sanktioniert werden, was gleichzeitig die Hemmschwelle für potenzielle weitere Täter erhöhen soll. Auch dem Patentsystem kann in diesem Sinne eine konfliktregulierende Leistung zugeschrieben werden. Verletzt jemand ein Patent, steht dem Patentinhaber oder Dritten jederzeit die Möglichkeit offen, ein Patent- oder anderweitiges zuständiges Gericht anzurufen und es kommt, wenn man sich auf keine gütliche Beilegung wie z.B. eine Lizenzzahlung einigen kann, zu einem Patentstreit, der durch eine richterliche Entscheidung rechtlich reguliert, nämlich entschieden werden kann. Von „Konfliktregulierung“ als Leistung des Systems zu sprechen, darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass von der Patentnorm auch eine konflikterzeugende Wirkung ausgeht. Gerade weil man um die Möglichkeit der rechtlichen Regulierung zukünftiger Schäden weiß, ist man bereit, Konflikte einzugehen bzw. die Grenzen des möglicherweise (rechtliche!) Konflikte nach sich ziehenden Verhaltens auszudehnen. Das Patentrecht provoziert Konflikte um die wirtschaftlichen Auswertungsbefugnisse von technischem Wissen, die ohne das Patentrecht ‚an sich‘ nicht existieren würden. Für die letzten drei Jahrzehnte ist vor allem in den USA ein Anstieg von „patent litigation“, insbesondere von Fällen mit hohen Streitwerten registriert worden, der neben weiteren Faktoren auf eine Ausweitung der „enforceability“ von Patentrechten und das Entstehen eines gänzlich neuen Geschäftsmodells, der patent holding company, zurückgeführt werden kann.34 Diese vor allem im Bereich „High Technology/Electronics“ operierenden Unternehmen kaufen Patentlizenzrechte und zapfen direkt die Funktionalität des Patents an, ohne selbst neue Erfindungen zu produzieren. Vielmehr entwickeln sie eine besondere Expertise im Klagen oder im Drohen mit zeit- und kostenaufwendigen Patentstreitschlichtungsverfahren. Der Grund dafür, dass diese Unternehmen von forschungsintensiven Unternehmen als „patent trolls“, 34 In den USA etwa hat sich die jährliche Anzahl von „patent lawsuits“ von Beginn bis Ende der 1990er Jahre verdoppelt. Zur „patent litigation explosion“ vgl. etwa Bessen/Meurer 2005; vgl. auch unten S. 240ff.
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oder „Parasiten“ desavouiert werden, scheint darin zu liegen, dass sie weder selbst forschen noch selbst Wissen offenbaren. Ihr ‚business‘ besteht vielmehr darin, aktiv nach Patentverletzungen zu suchen und diese durch Patentklagen in lukrative Verhandlungspositionen zu transferieren. Patent Trolls nutzen die Kommunikationschancen, die in der Patentnorm angelegt sind, ohne auf die dem Patent von anderen Beobachtern zugedachte Funktion der Anspornung angewiesen zu sein. Man könnte das Argument zuspitzen und sagen, dass das Geschäftsmodell der „patent trolls“ erst in voller Radikalität vor Augen führt, welche rechtlichen (und daraus ableitbaren) wirtschaftlichen Möglichkeiten in der Patentnorm angelegt sind: „Haben wir ein Problem mit den so genannten Trolls als einer neuen Kategorie von Rechteinhabern, die in Patenten neue „Wertpapiere“ sehen oder haben wir es bei näherem Hinsehen mit Problemen des Patentsystems zu tun, welche nur dadurch sichtbar werden, dass sich die Trolls seiner Mittel bedienen“ (Osterrieth 2009: S. 540)?
Patent Trolls und der Bedarf für ihre analytische (Mit-)Erfassung, aber auch Phänomene wie akademisches Patentieren oder der Protest gegen Patentrechte werden dann zu einem Argument für unsere, abstrakter ansetzende Definition des Patents.35 Diese setzt für das Folgende lediglich die Funktion der Patentnorm, die den Horizont des im Patentsystem Möglichen aufspannt, als unverrückbaren Ausgangspunkt. Wir werden, wie einleitend postuliert, im Laufe dieser Arbeit zu zeigen versuchen, dass wir uns in dieser soziologisch enthaltsameren und distanzierteren Einstellung offener halten können für eine empirisch und historisch differenzierte Analyse von Strukturbildungen vor dem Hintergrund dieses Möglichkeitshorizonts.
F AZIT : V ON
DEN „P ATENT E CONOMICS “ ZUR SOZIOLOGISCHEN T HEORIE
Dieses Kapitel war geleitet von einem Willen zu soziologischer Autonomie und sollte vor allem deutlich machen, dass wir das Patent soziologisch dezidierter vom Recht selbst her denken wollen. Die ausführliche Distanzierung von den „economics of the patent system“ war für den Einstieg unverzichtbar, um eine eigenständige soziologische Perspektive auf das Patent entwickeln zu können. 35 Vgl. hierzu auch den Abschnitt im letzten Kapitel (siehe S. 362ff.).
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Bei der Durchsicht der beiden Hauptkonzepte der „utilitarian tradition“ hat sich deren Untauglichkeit für eine soziologische Analyse des Patentsystems erwiesen. Wir wollen resümierend noch einmal herausstreichen warum uns im Folgenden die ‚conventional wisdom‘ der Patentökonomie nicht weiter helfen kann. Bei der Anspornungstheorie handelt es sich nicht um eine Erklärung des Patents als Recht oder als Recht-in-einer-spezifischen-Umwelt und weniger noch um eine historisch-genetische Erklärung dessen Entstehung, sondern primär um die Beschreibung einer spezifischen Leistung des Systems. Beschränkt man sich in rechtfertigender Absicht darauf, die Output-Seite des Systems, d.h. die Wirkungen auf wirtschaftliche Akteure (Erfinder, Unternehmer, Investoren) affirmativ und primär aus Sicht der Bedürfnisse eines ökonomischen Akteurs (Risikoabsorption) zu beschreiben, dann macht die Beschreibungsformel der Anspornung (Anreizsetzung) durchaus Sinn. Im Rahmen unserer Analysen taugt Anspornung hingegen nicht als Grundbegriff, weil es im Rahmen einer systemtheoretischen Differenzierungs- und Strukturtheorie des Patents zunächst nicht darauf ankommt, zu erkennen, ob Psychen oder Organisationen sich angespornt (motiviert) fühlen oder so beschrieben werden können. In Distanzierung von dieser ‚reduktio-ad-hominem‘ (ad organisationem)-Sicht kommt es für uns darauf an zu erklären, wie sich die soziale Emergenz eines sich dauerhaft operativ schließenden Zusammenhangs sozialen Sinns, d.h. eines Patentsystems, beschreiben lässt und welche Mechanismen ineinandergreifen müssen, damit eine solche unwahrscheinliche Ausdifferenzierung möglich wird. Wie die Anspornungstheorie verfolgt auch die Vertragstheorie rechtfertigende Ziele. Auch hier wird das normalerweise zu meidende wirtschaftliche Übel „Monopolrendite“ volkswirtschaftlich mit der Gegenleistung des Patentanmelders legitimiert. Es ist dann für beide Seiten – Prinzipal und Agent – rational, Patente zu ermöglichen und Patente zu suchen. Diese rationalitätsorientierte Modellierung des sozialen Geschehens als Tausch ist auf den ersten Blick einleuchtend, bietet aber letztlich auch nicht mehr als eine intuitiv plausible Beschreibung des Patents.36 „Vertrag“ eignet sich nicht als Grundbegriff, da es sich bei
36 Bei Luhmann wird „Tausch“ bereits früh als Zentralbegriff der Beschreibung der Kopplung zwischen Politik und Wirtschaft verabschiedet: „Diese wechselseitige Leistungsbereitschaft von Wirtschaft und Staat läßt sich jedoch nicht als „Tausch“ motivieren. Die Unabhängigkeit, Sachlichkeit und Neutralität der staatlichen Problementscheidung mit ihren wichtigen Vorzügen beruht ebenso wie die Rationalität des Wirtschaftsbetriebes darauf, daß das Entscheiden von fallweise gegebenen Tauschchancen unabhängig gemacht wird. [...] Die Interdependenz von Staat und Wirtschaft kann
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positiv gesetztem Patentrecht gerade nicht um ein (voluntaristisches) Vertragsverhältnis handelt, sondern um Recht, das als Recht kollektiv bindend gilt und auf das Individuen einen subjektiven Rechtsanspruch haben können oder nicht. Hierbei handelt es sich – aus der Binnensicht des Patentsystems – um die entscheidende Frage. Die Semantiken „Anspornung“ und „Vertrag“ können keine adäquate soziologische Theorie des Systems mehr anleiten – im Rahmen unseres Interesses an einer soziologischen Strukturtheorie des Patents helfen sie uns nicht mehr weiter. Die Ablehnung patentökonomischer Ansätze als Ausgangspunkte einer soziologischen Theorie bedeutet dabei selbstverständlich nicht, konkrete Einsichten der verworfenen Theorien gänzlich übergehen zu können. So haben wir etwa gesehen, dass wir die von der Vertragstheorie beschriebenen Effekte der Öffentlichkeit des Patents mitverarbeiten müssen, um zu einem vollständigen Bild des Patents-in-einer-Umwelt zu gelangen. Hierbei war uns in diesem Kapitel zunächst die Unterscheidung von Funktion und Leistung behilflich; sie erlaubt, das strukturell Unhintergehbare am Patentrecht auf den Punkt zu bringen und gleichzeitig von parallel produzierten Effekten (Leistungen) zu unterscheiden, die aber selbst nicht den funktionalen Kern des Systems repräsentieren, so ‚notwendig‘ und ‚unverzichtbar‘ sie auch in der Umwelt des Systems gesehen werden mögen. Wir werden auf das Zusammenspiel zwischen dieser öffentlichen Dimension des Patents und seiner normativen Schutzfunktion im Laufe dieses Texts noch an mehreren Stellen zu sprechen kommen. Diese Umpolung der Perspektive vom Interesse an der Beobachtung wirtschaftlich zweckmäßiger Externalitäten des Patents auf eine soziologische Rekonstruktion eines Patentsystems als Rechtssystems (in der Gesellschaft), erfordert im Folgenden ein alternatives Vokabular. An diesem Vokabular arbeitet das folgende Kapitel.
deshalb nicht tauschförmig organisiert werden. Sie muß ihre Handlungsmotive und ihre Rationalität aus Systemzusammenhängen gewinnen, die je für sich leistungsspezifisch eingerichtet und als System generalisiert sind, aber als solches von ihrer Umwelt abhängig bleiben“ (Luhmann 1965: S. 114).
Kapitel 3: Das Patent: Systemtheoretische Perspektiven
E INLEITUNG Wir haben im vorangegangenen Kapitel eine Perspektive zu entwickeln begonnen, die sich bei der Beobachtung des Patents darauf konzentriert, dessen gesellschaftliche Funktion zu identifizieren und zu beschreiben. Im Folgenden wollen wir nun einen genaueren Blick auf die internen Systemstrukturen werfen, mit denen sich das Patentsystem zu einem autonomen System eigenen Rechts ausformt. „Eigenen Rechts“ wird dabei in einem zweifachen Sinne verstanden. Zum einen geht es um die rechtsinterne Differenzierung gegen andere Formen des immateriellen Rechtschutzes (Geistigen Eigentums) und zum anderen stellen wir die Frage, inwiefern das Patentrecht ein spezifisches Verhältnis zu seiner rechtsexternen Umwelt gewinnt, das es von anderen Systemen in seiner Umwelt, wie insbesondere auch der Wirtschaft, strukturell abhebt und in dieser Differenz Autonomie gewinnen lässt. Das gesamte Kapitel folgt in diesem Sinne einer system- und differenzierungstheoretischen Analyselogik, die im nun folgenden Abschnitt mit dem ersten Aspekt der rechtssysteminternen Abgrenzung startet und in einer resümierenden Analyse zu den strukturellen Kopplungen des Systems ihren vorläufigen Abschluss findet. In den mittleren Abschnitten dieses Kapitels wird es uns vor allem darum gehen, herauszuarbeiten, mit welchen strukturellen und semantischen Mitteln es dem System gelingt, sich als ein autonomer Kommunikationszusammenhang zu behaupten, der sich gegenüber seiner Umwelt abschließt und gleichzeitig von dieser Umwelt abhängig bleibt. In einem ersten Schritt werden wir zunächst den operativen Kern des Systems freilegen und beschreiben, wie das Patentsystem seine Operationen um einen zentralen Patentcode herum organisiert und sich in dieser Kommunikation gegenüber seiner Umwelt autonomisiert. Danach werden wir einen näheren Blick auf interne Differenzierungen wer-
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fen und am Beispiel des deutschen Patentrechts ausführen, wie sich im System zentrale und periphere Kommunikationen unterscheiden lassen und wie diese Differenzierung zur operativen Geschlossenheit des Systems beiträgt. In einem letzten Zwischenschritt werden wir im Detail herausarbeiten, wie wichtige patentrechtliche Begrifflichkeiten wie Erfindung und absolute Neuheit dazu beitragen, dass das System einen spezifischen Universalismus eigener Art ausbildet, der auf der Öffentlichkeit patentierten bzw. potentiell patentierfähigen Wissens basiert. Insbesondere in diesem vorletzten Abschnitt werden wir uns auf ein fremdes, normalerweise den Juristen überlassenes Feld begeben: der Interpretation des Gesetzestextes. Wir erhoffen uns von einer soziologischen Interpretation der zentralen Rechtsbegriffe und einiger Grundsatzentscheidungen zum Patentrecht wegweisende Aufschlüsse darüber, wie das System sich in einer dynamischen Umwelt strukturell einrichtet. Das heißt, wir analysieren zentrale Semantiken und Strukturen des Systems aus unserer soziologischen, am funktionalen Problem der Autonomie orientierten Perspektive heraus und machen uns nicht selbst den juristisch-dogmatischen Blick zu Eigen. Mit anderen Worten: Es geht uns soziologisch nicht um die patentrechtliche ‚Richtigkeit‘ von konkreten Handlungen und Entscheidungen, sondern wir wollen aus der soziologischen Distanz den durch die systemischen Semantiken und Strukturen aufgespannten Horizont kommunikativer Möglichkeiten und Effekte rekonstruieren, der die Evolution des Systems in einer ihrerseits evoluierenden wirtschaftlich-technologischen Umwelt bestimmt.1
R ECHTSINTERNE S TELLUNG
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Das Patentparadox und andere gewerbliche Schutzrechte Das Patentrecht ist ein primär auf wirtschaftliche Akteure und genauer: den wirtschaftlichen Wettbewerb bezogenes Recht; aus legislativer Perspektive kommt 1
Mit anderen Worten: Wir nehmen dem Recht gegenüber eine inkongruente Perspektive ein: „Ein anderer bezeichnender Unterschied der dogmatischen und der soziologischen Betrachtungsweise besteht darin, daß jene die Normen und Rechte in ihrem gemeinten Sinn interpretiert, sie also so erläutert, wie der Handelnde sie verstehen soll; während der Soziologie das Erwarten und Handeln an „inkongruenten Perspektiven“, an nicht notwendig mitbedachten Strukturen der Sozialordnung mißt, dem Erleben des Handelnden also sehr viel distanzierter gegenübersteht“ (Luhmann 1965: S. 186f.).
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Patenten wie bereits im letzten Kapitel ausgeführt eine wettbewerbssteuernde Funktion zu. Patente konditionieren den wirtschaftlich-technologischen Wettbewerb zwischen Akteuren und nicht etwa deren private Vermögensverhältnisse. Eine Verortung des Patentrechts innerhalb des übergeordneten Wettbewerbsrechts lässt sich von dem bereits beschriebenen Spannungsverhältnis zwischen privaten und öffentlichen Interessen an immateriellem Eigentum (private vs. social cost) ableiten. Vor diesem Hintergrund muss das Patent als ein paradox wirkendes Instrument anmuten: Es fördert den Wettbewerb (mittel- bis langfristig) und damit – wie weithin angenommen wird – das öffentliche Interesse, in dem es ihn (kurzfristig) – durch die Förderung privater Interessen – behindert.2 Die faktische (aber aufgrund der semantischen Negativkarriere des Monopolbegriffs selten explizit als solche benannte) rechtliche Monopolstellung des einzelnen Akteurs steht somit zunächst im Konflikt mit der übergeordneten Ausrichtung des Wettbewerbsrechts, dessen wesentliches Ziel es ist, den Wettbewerb zu entmonopolisieren sowie Kartelle (trusts) und unlauteres Verhalten wie z.B. Preisabsprachen zu sanktionieren.3 Dieser Interessenskonflikt wird entschärft, indem die wettbewerbshemmenden Wirkungen des Patents in einigen wesentlichen Punkten relativiert werden. Einer der wichtigsten Hebel ist hier das Institut der „Zwangslizenz“, mit der verfügt wird, dass der Patentinhaber der Konkurrenz (der Allgemeinheit) die Benutzung seiner Erfindung gestatten muss, d.h. der ausschließende Effekt des Patents nicht wirksam werden kann. Die Zwangslizenz findet dann Anwendung, wenn ein einzelnes oder eine Reihe miteinander verknüpfter Patente das Marktgeschehen gänzlich monopolisieren und in der Folge der Zugang der Allgemeinheit zu wichtigen als „öffentlich“ verstandenen Gütern und Rechten unmöglich gemacht würde (vgl. § 24 PatG). Am häufigsten wird dieses Instrument im Bereich von technischen Normen und Standards (z.B. im Mobilfunk) in Anspruch genom-
2
Zu diesem „paradox of patents“ vgl. Robinson 1956: S. 87; vgl. zum „Patent-Antitrust
3
„Was uns an diesen Bestimmungen hier interessiert, ist der scheinbar ganz neue Ge-
Paradox“ aus US-amerikanischer Sicht Carrier 2002. sichtspunkt, den Konkurrenten, der unsaubere Mittel der Kundengewinnung verschmäht, gegen denjenigen, der sie benutzen möchte, zu schützen“, formuliert Simmel in seiner „Soziologie der Konkurrenz“ (ursprünglich 1903) angesichts der im Deutschen Reich seit den 1890er Jahren anlaufenden Gesetzgebung zum Lauterkeitsrecht, die 1909 in die Verabschiedung des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) mündet; vgl. Simmel 1995: S. 229; siehe hierzu auch den Hinweis bei Werron 2011 (S. 233).
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men, deren Monopolisierung durch einen einzelnen privaten Akteur den Wettbewerb gänzlich zum Erliegen bringen würde (vgl. etwa Ullrich 2007). Innerhalb des übergeordneten Bereichs des Wettbewerbsrechts fällt das Patentrecht in den Bereich der mit dem Überbegriff „Gewerblicher Rechtsschutz“ bezeichneten Rechte: „Der Begriff »gewerblicher Rechtsschutz« bezeichnet in Deutschland traditionell die Vorschriften zum Schutz des sogenannten gewerblichen Eigentums, nämlich die Regelungen, die dem Schutz des geistigen Schaffens auf gewerblichem Gebiet dienen, d.h. das Patent-, das Gebrauchsmuster-, das Geschmacksmuster- und das Markenrecht“ (Starck 2003: S. XIX).
Deklinieren wir kursorisch die neben dem Patent zu den gewerblichen Schutzrechten zählenden Rechte durch, um die wettbewerbsrechtliche Einordnung des Patents im Gesamtkontext des gewerblichen Rechtsschutzes besser nachvollziehen zu können. Gebrauchsmusterrecht Das Gebrauchsmuster wird gelegentlich als „kleiner Bruder“ des Patentrechts bzw. als „kleines Patent“ bezeichnet (Asendorf 1990: S. 1283). Die Verwandtschaft zwischen beiden Schutzrechten geht sehr weit, denn das Gebrauchsmustergesetz schützt technische Erfindungen nach nahezu identischen Kriterien wie das Patentgesetz. Das Gebrauchsmuster stellt insbesondere für kleinere und mittelgroße Unternehmen eine pragmatische Ersatz- oder Zwischenlösung dar, weil es seine Schutzwirkung bei einer formal genügenden Anmeldung im Idealfall bereits nach acht Wochen entfaltet: ein Gebrauchsmuster wird in das Gebrauchsmusterregister eingetragen und anders als das Patent keinem intensiven Prüfungsverfahren unterzogen. Unterschied zum Patent sind dem Gebrauchsmusterrecht allerdings technische Verfahren nicht zugänglich, d.h. es werden ausschließlich produktbezogene Schutzrechte erteilt (§2 GebrMG); die Schutzwirkung eines Gebrauchsmusters ist zudem auf drei Jahre begrenzt. Geschmacksmusterrecht Im Geschmacksmusterrecht geht es um den Schutz von „ästhetischen“ „Mustern“ und „Modellen“, d.h. Flächen- und Raumformen wie etwa spezifischen Kleiderschnitten, Schmuckstücken, Stoffmustern etc.4 Auch hier wird die ge4
Maßgeblich ist §1 GeschmMG: „Im Sinne dieses Gesetzes 1. ist ein Muster die zweidimensionale oder dreidimensionale Erscheinungsform eines ganzen Erzeugnisses
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werbliche Anwendbarkeit zur Voraussetzung der Erteilung des Schutzrechts gemacht. Es unterscheidet sich vom Gebrauchsmuster vor allem darin, dass es nicht die im Zweck des gewerblichen Gebrauchs selbst liegende Formgebung schützt, sondern den „ästhetischen Überschuss“ (Hubmann/Götting 2002: S. 242). Ein entscheidender Unterschied zum Urheberrecht (s.u.) besteht neben dem Kriterium der gewerblichen Anwendbarkeit in der Forderung, dass die ästhetische Leistung nicht in einer Beschreibung einer Formvorstellung mit Worten liegen kann, sondern buchstäblich „anschaulich“, d.h. über das Auge visuell erschließbar sein muss. Markenrecht Das Markenrecht entfaltet eine gänzlich andere Wirkung. Marken sind Kennzeichnungen, mit denen sich die Produkte eines Unternehmens (Sachen und Dienstleistungen) von denjenigen anderer Unternehmen unterscheiden lassen.5 Eine wichtige materielle Voraussetzung für die Markenfähigkeit ist die „Selbstständigkeit“ der Marke gegenüber dem durch die Marke geschützten Gegenstand, d.h. das Zeichen darf kein funktionell notwendiger Bestandteil der entsprechenden Ware sein.6 Marken werden darüber hinaus noch eine Reihe weiterer „Funktionen“ zugeschrieben, etwa die „Herkunftsfunktion“, die „Vertrauensfunktion“ und die „Werbefunktion“ (vgl. Hubmann/Götting 2002: S. 266). Marken kommt heute ein zunehmender und eigenständiger wirtschaftlicher Wert zu, was sich im Fall von „Luxusmarken“ (Edel brands) auch darin ausdrücken kann, dass sich das Image auf zusätzliche Produktgruppen transferieren lässt (Boss™, Bugatti™, Camel™ etc.), oder dass z.B. bei einem Merger von zwei Unternehoder eines Teils davon, die sich insbesondere aus den Merkmalen der Linien, Konturen, Farben, der Gestaltung, Oberflächenstruktur und der Werkstoffe des Erzeugnisses selbst oder seiner Verzierung ergibt“ (zitiert nach Brückmann/Günther/Beyerlein 2007). 5
Das Markenrecht schützt „Marken, geschäftliche Bezeichnungen, geografische Herkunftsangaben“ (§1 MarkenG). Als markenrechtlich schutzfähig gelten „alle Zeichen, insbesondere Wörter einschließlich Personennamen, Abbildungen, Buchstaben, Zahlen, Hörzeichen, dreidimensionale Gestaltungen einschließlich der Form einer Ware oder ihrer Verpackung sowie sonstige Aufmachungen einschließlich Farben und Farbzusammenstellungen […], die geeignet sind, Waren oder Dienstleistungen eines Unternehmens von denjenigen anderer Unternehmen zu unterscheiden“ (vgl. §3(1) GeschmMG).
6
Vgl. hierzu und als ausführlichen Kommentar von Schultz 2007; für eine „Soziologie der Marke“ siehe auch Hellmann 2003.
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men das ursprüngliche Branding der aufgekauften Produktlinien kontinuiert wird (ein insbesondere von Brauereigesellschaften und Autoherstellern praktiziertes Verfahren).7 Die Unterschiedlichkeit der Schutzgegenstände und Rechtsfähigkeitskriterien schließt nicht aus, dass Gegenstände in verschiedenen Hinsichten zwei oder mehreren dieser Schutzrechte gleichzeitig oder sukzessive gleichzeitig zugänglich sind. Zu rechtsdogmatischer Berühmtheit hat es hier der Legoklemmbaustein gebracht, für den international verschiedene Rechte mit Erfolg beantragt wurden, dem allerdings in den letzten Jahren der Markenschutz durch höchstrichterliche Rechtsprechung versagt geblieben ist (Wahl 2008). Im Vordergrund steht bei der Beurteilung von Grenzfällen regelmäßig die Frage nach der Kumulierbarkeit gewerblicher Schutzrechte, die im engen Zusammenhang mit den Bestimmungen des Kartellgesetzes und des Gesetzes gegen unlauteren Wettbewerb diskutiert wird (Jaeschke 2008). Ein sehr wesentlicher, aber nur bei genauerem Hinsehen erkennbarer Unterschied zwischen dem Patent und weiteren Schutzrechten besteht darin, dass sich das Patentrecht durch einen sehr hohen Verfahrensaufwand und hohe, progressiv steigende Gebühren auszeichnet. Patentansprüche auf eine Erfindung müssen sowohl formal relativ aufwendig beantragt, sehr sorgfältig geprüft und abschließend erteilt werden, um als Recht zu entstehen und begründet zu werden. Mit diesem vergleichsweise hohen Formalisierungsgrad und Dokumentationsaufwand geht eine Intensivierung des wechselseitigen Beobachtens auf der Basis von Patentdokumenten, insbesondere Patentschriften, einher. Wie wir in Kapitel 4 im Einzelnen zeigen werden, bildet das Patentsystem aufgrund des hohen textlichen Dokumentationsaufwandes eine spezifische Form der Intertextualität von Patentschriften und den darin transportierten Erfindungen und Ansprüchen aus, die es von den anderen gewerblichen Schutzrechtssystemen unterscheidet.
7
Gemäß eines Rankings der Firma Interbrand vom Oktober 2011 ist Coca-Cola™ (71.8 Milliarden US-Dollar), vor IBM (69.9 Milliarden USD) und Microsoft (59 Mrd. USD) die wertvollste Marke der Welt (vgl. Internet-Recherche nach „Interbrand 2011“); ein weiteres bekanntes Ranking („Brandz 2012“) bewertet mit einer anderen Methodologie, die zu insgesamt höheren Werten und Top-Plätzen für Apple, IBM und Google führt (vgl. Internet-Recherche nach „Brandz 2012“). Meisterkusen™ (DE 3020090756104) und Vizekusen™ (DE 302010011572), die im Jahr 2010 von der Bayer AG beim DPMA angemeldet wurden, können noch nicht Werte in dieser Größenordnung vorweisen.
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Der abstrakte gemeinsame Nenner dieser Schutzrechte besteht darin, dass sie nicht das Eigentum an physikalischen Gegenständen (Sachen), sondern Wissen, Kreationen, Ideen, Formen und Muster, Erfindungen etc. schützen. Oder um es mit einem anderen – in Mode gekommenen – Begriff auszudrücken: sie protegieren intangible assets. Konzipiert als Ausschließlichkeitsrechte geben alle diese Rechte einer Privatperson oder einem Unternehmen die Möglichkeit, Wissensvorsprünge in eine rechtlich geschützte exklusive Position zu transformieren, indem sie denjenigen belohnen, der sein Wissen als erster offenbart (Prinzip der Priorität). Diese grundlegenden Prinzipien gelten auch für das Urheberrecht, das unter dem Dachbegriff der Immaterialgüterrechte als Parallelinstitution zu den gewerblichen Schutzrechten aufgefasst wird. Wir wollen dessen wesentliche Merkmale deshalb kurz skizzieren. Urheberrecht Das Urheberrecht wird rechtsdogmatisch nicht zu den gewerblichen Schutzrechten gezählt, weil es grundsätzlich nicht darauf abzielt, technisches, mittel- oder unmittelbar marktrelevantes Wissen zu schützen und somit indirekt die Produktion technischen Wissens und damit den technologischen Wettbewerb zu fördern. Vielmehr schützt es künstlerische, wissenschaftliche und literarische Leistungen. Im §1 des Urheberrechtsgesetzes liest man: „Die Urheber von Werken der Literatur, Wissenschaft und Kunst genießen für ihre Werke Schutz nach Maßgabe dieses Gesetzes.“8
Während das Patentgesetz Erfindungen und nicht (mehr) Erfinder schützt, schützt das Urheberrecht Personen, nämlich Urheber. Hieran lässt sich bereits ablesen, dass das Urheberrecht stärker als das Patentrecht persönlichkeitsrechtlich geprägt ist. Dies belegt ein Blick auf die gängigen Semantiken der Rechtfertigung und Interpretation des Urheberrechts, die stärker als die im letzten Kapitel referierten ökonomischen Patentsemantiken auf individuelle Leistungen und deren Schutzwürdigkeit abstellen und zumeist noch deutlichere Spuren beloh-
8
Und weiter bei §2 zu „Geschützte Werke“: „(1) Zu den geschützten Werken der Literatur, Wissenschaft und Kunst gehören insbesondere: 1. Sprachwerke, wie Schriftwerke, Reden und Computerprogramme; 2. Werke der Musik; […]. (2) Werke im Sinne dieses Gesetzes sind nur persönliche geistige Schöpfungen“; vgl. erläuternd zum Werkbegriff Rehbinder 2006: S. 59 ff; siehe ferner auch Loewenheim 2006 als allgemeinen Kommentar zum Urheberrecht.
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nungs- und naturrechtlicher Formeln in sich tragen.9 Ein weiterer fundamentaler Unterschied zwischen Patent- und Urheberrecht besteht darin, dass Urheberrechte nicht formal beantragt werden müssen: urheberrechtlicher Schutz entsteht „ipso iure formfrei durch die Werkschöpfung“ (Schricker 1987: S. 65) und erlischt im deutschen Recht spätestens 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers. Maßgeblich für die Frage nach der Urheberrechtsfähigkeit einer künstlerischwissenschaftlichen Leistung ist der Werkbegriff. Der Werkbegriff des Urheberrechts ist ähnlich wie der Erfindungsbegriff des Patentrechts angelegt. Während dem Patentrecht nie eine Entdeckung als solche, sondern nur eine in der Praxis anwendbare Anwendung dieser Entdeckung (das US-amerikanische Patentrecht spricht von „reduction to practice“) zugänglich ist, schützt auch das Urheberrecht keine Ideen, abstrakte Konzepte oder Theorien.10 Das Urheberrecht schützt grundsätzlich nur eine praktische Umsetzung in Form eines Werks: „One copyrights "original works of authorship", including writings, music, drawings, dances, computer programs, and movies; one may not copyright ideas, concepts, principles, facts or knowledge. Expressions of ideas are copyrightable; ideas themselves are not“ (Hettinger 1989: S. 32, Herv. C.M.).
Einen Schritt weiter gehend verdeutlicht das Zitat noch einmal den fundamentalen Unterschied zwischen Erfindungen und Werken, Patent- und Urheberrecht. Das Urheberrecht erklärt sich zuständig für Neuheiten, die im Kontext von Wissenschaft und Kunst entstehen. So ist ein wissenschaftlicher Artikel urheber9
§ 11: „Das Urheberrecht schützt den Urheber in seinen geistigen und persönlichen Beziehungen zum Werk und in der Nutzung des Werkes. Es dient zugleich der Sicherung einer angemessenen Vergütung für die Nutzung des Werkes.“ Dieser Paragraph verweist auf die Dualität des Urhebergesetzes, das auf zwei Komponenten, nämlich einer persönlichkeitsrechtlichen (das französische Recht spricht von „droit moral“) und einer vermögensrechtlichen basiert. In der deutschen Urheberrechtsdogmatik ist die herrschende Meinung die „monistische Theorie“, die von der urheberrechtlichen Einheitlichkeit beider Komponenten ausgeht (vgl. Benkard 2006). Vergegenwärtigt man sich die bisweilen schrillen Hinweise im Kinovorprogramm oder die Spots der GEZ im deutschen Fernsehen (Rundfunkgebühren bezahlen: „Weil es fair ist“) macht auch dies deutlich, dass hier insgesamt ein stärker moralisierender Ton vorherrscht als man es vom Patentrecht kennt. Auch im Patentgesetz wird die „Erfinderehre“ als schützenswert bezeichnet, allerdings erst in § 37 PatG.
10 Wir müssen z.B. keine Lizenzgebühren für die Anwendung der soziologischen Systemtheorie an einen ‚Inhaber‘ der Theorie und ihrer Hypothesen zahlen.
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rechtlich geschützt, ohne dass hieraus eine Schutzwirkung für die praktische, wirtschaftliche Anwendung seines Inhalts entstünde. Dieser Artikel mag ein technisches Problem zum Inhalt haben, Patentschriften aus demselben Problemkreis zitieren und eine Lösung für das technische Problem präsentieren und insofern einem Patent im gleichen Forschungsfeld sehr ähneln: Urheberrechtlich geschützt ist immer nur das Werk im Sinne der kreativen Leistung eines Autors, dem mit dem Akt der Werkschaffung urheberrechtlich die Kontrolle über sein Werk (Werkherrschaft) zufällt. Sein Werk mag erfinderisch sein; das enthaltene Wissen und dessen Darstellung wird vom Urheberrecht aber als „Werk“ und nicht als „Erfindung“ beobachtet.11
„Geistiges Eigentum“ Lassen sich die erwähnten Schutzformen auf eine Einheitsformel bringen, welche die genannten Unterschiede übergreift und lässt sich vom Schutz „geistigen Eigentums“ (Intellectual Property) als gemeinsamer rechtlicher Klammer der genannten Schutzrechte oder von einem übergeordneten „Intellectual Property System“ sprechen? Dies ist auch rechtsvergleichend eine interessante Frage, insofern sich in diesem Punkt die deutsche Rechtsordnung historisch und auch heute noch deutlich von Diskursen in anderen Rechtsräumen unterscheidet. In Frankreich wird juristisch häufiger von intellektuellem Eigentum generell bzw. im konkreten Fall von Patenten von „propriété industrielle“ gesprochen. In Deutschland dagegen hat sich bereits Ende des 19. Jahrhunderts im Zuge der ersten ausführlichen Kommentare zum Reichspatentgesetz von 1877 die Begrifflichkeit des „Immaterialguts“ bzw. des „Immaterialgüterrechts“, etabliert; vor allem die Schriften Josef Kohlers haben hier einen prägenden rechtsdogmatischen Einfluss ausgeübt: „Hiernach kann die Konstruktion des geistigen Eigenthums weder für das Autor- und Erfinder- noch weniger für das Markenrecht wissenschaftlich aufrecht erhalten werden; und zwar deshalb, weil sie den Eigenthumsbegriff so sehr ausdehnen und verflüchtigen würde,
11 Allerdings können im Falle eines wissenschaftlichen Artikels die Werkinhalte eine entscheidende, prohibitive Wirkung auf die Patentfähigkeit des kommunizierten Wissens ausüben. Auch das in Publikationen transportierte Wissen zählt de iure zum „Stand der Technik“ und kann damit eine materiellrechtliche, nämlich neuheitsschädliche Wirkung entfalten (s.u. S. 100ff.).
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dass er wenig mehr geeignet wäre, die juristische Erkenntnis zu fördern und ihr Halt und Stütze zu geben; […].“12
„Geistiges Eigentum“ hat sich in Deutschland im juristischen Diskurs somit weder als Bezeichnung für einzelne Schutzrechte wie das Urheberrecht noch als übergreifende Klammerbezeichnung für die Bandbreite der Schutzrechte durchsetzen können. Allerdings erfährt die Semantik des geistigen bzw. intellektuellen Eigentums in Deutschland und auf internationaler Ebene in den letzten Jahren eine beachtliche Renaissance: „Intellectual Property“ ist der diskursive Drehund Angelpunkt der Suche nach einer integrativen und plausiblen Begründungsformel für verschiedene Formen immateriellen Eigentums in verschiedenen kulturellen Kontexten dieser Welt (vgl. überblickend die Sammlung der Beiträge in Grosheide/Brinkhof 2005).13 Bei der wiederaufkeimenden Diskussion nach einer adäquaten Bezeichnung dieser Rechte handelt es sich indes nicht um eine rein terminologische ‚Geschmacksfrage‘, sondern um einen reflexiven rechtsdogmatischen Streit um die rechtliche Begründbarkeit des gesetzlichen Schutzes für nicht-dingliche Güter selbst. Eine wegweisende Implikation der Terminologie des „Geistigen Eigentums“ liegt ja in der naturrechtlich inspirierten Vorstellung, ein Erfinder oder Autor besitze ein ihm natürlich zustehendes Verfügungsrecht an seinen Erfindungen und Werken, das auf seine eigene schöpferische Vorleistung zurückzuführen sei (Arbeit begründet Eigentum). Ein wichtiger Einwand gegen diese Konstruktion verweist vor allem auf die mangelnde Vergleichbarkeit zwischen dem vom römischen Recht tradierten Begriff des Eigentums an Sachen (dominium) und der Verfügungsgewalt über Wissen, die in der Nichtteilbarkeit von immateriellen Gütern begründet liege. In einem viel zitierten Standardkommentar zum Urheberrecht von Manfred Rehbinder heißt es somit auch spöttisch, das Konzept des Geistigen Eigentums entstamme der „Mottenkiste der Rechtsgeschichte“ und es verkenne schon insofern die Nichtanalogiefähigkeit zwischen
12 Kohler 1894: S. 161; vgl. ferner grundlegend zur Lehre des Immaterialgüterrechts Kohler 1878 und 1907; vgl. hierzu auch Dölemeyer 1993. 13 So liest man etwa auf der Webpage der WIPO: „The World Intellectual Property Organization (WIPO) is a specialized agency of the United Nations. It is dedicated to developing a balanced and accessible international intellectual property (IP) system, which rewards creativity, […]“ (Herv. C.M.).
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materiellen und immateriellen Gütern, als „die Verwendung eines geistigen Gutes Dritte von der faktischen Nutzung desselben Gutes nicht ausschließt.“14 Horst-Peter Götting befürwortet demgegenüber die rechtsdogmatische Kultivierung einer Überbegrifflichkeit „Geistiges Eigentum“ und führt im Wesentlichen drei Gründe hierfür an. Erstens liege die Problematik eher in der engen Eigentumsbegrifflichkeit des BGB selbst und nicht im Begriff des „Geistigen Eigentums“.15 Zweitens ließen sich zunehmende Überschneidungen zwischen den verschiedenen Schutzrechtsformen konstatieren, was der Vorstellung einer Zugehörigkeit von verschiedenen Schutzrechten zu einer übergeordneten Gattung des Geistigen Eigentums weiter untermauere. Drittens wäre ferner eine Reihe von eher pragmatischen Gründen wie die Tatsache der überragenden internationalen „Verkehrsgeltung“ und der besseren Geeignetheit des Begriffs, Eingang in das allgemeine Rechtsbewusstsein zu finden, zu bedenken.16 Auch wenn wir uns insbesondere die eher pragmatischen sowie in sprachlichen Präferenzen liegenden Gründe pro „Geistiges Eigentum“ nicht zu eigen machen wollen, kann bezweifelt werden, ob der an sich richtige Hinweis Rehbinders auf die „dispossession impossibility“ von Wissen als Argument gegen die Verwendung des Eigentumsbegriffs im Kontext der immateriellen Schutzrechte hinreichend ist. Über das rechtspolitische Lamento17 hinausgehend,
14 Und mehr noch: Für Rehbinder ist „Geistiges Eigentum“ ein „ideologischer Kampfbegriff“ (Rehbinder 2002: S. 41), der durch die Terminologie der „Werkherrschaft“ zu ersetzen sei; siehe auch Jänich 2002; vgl. auch interessant Fisher 1999, der von der „Suggestivkraft“ des Begriffs spricht und in der Durchsetzung der Semantik des Geistigen Eigentums einen wesentlichen Grund für das zunehmende „Ausufern“ von immateriellen Schutzrechten sieht. 15 Das BGB kennt (in der Tradition des römischen Rechts) grundsätzlich nur ein Recht an Sachen. „Geistiges Eigentum ist dem BGB zumindest begrifflich ebenso fremd wie Eigentum an Rechten, zum Beispiel an Forderungen“ (Ann 2004: S. 697). Der verfassungsrechtliche Eigentumsbegriff ist demgegenüber offener angelegt; zum Verhältnis zwischen Patentrecht und Art. 14 des Grundgesetzes vgl. Timmann 2008. 16 Vgl. zu diesen Argumenten Götting 2006: S. 357ff.; für näher an diesem Thema Interessierte sei hinzugefügt, dass der hier wiedergegebene Aufsatz eine Rede Göttings als Direktor des neu gegründeten Dresdner Instituts für Geistiges Eigentum darstellt. Als weiteres Plädoyer für ein Denken in Kategorien Geistigen Eigentums siehe Pahlow 2006; vgl. ferner auch Ohly 2003. 17 Hierzu der damalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Roman Herzog: „Erbärmlich ein Eigentumsbegriff, der sich nur auf Sachgüter, Produktionsmittel und
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scheint es für unsere soziologischen Zwecke in der Tat möglich, den Eigentumsbegriff theoretisch neu zu bestimmen und so für eine Verwendung im Rahmen einer soziologisch informierten Beobachtung von Patenten zu öffnen? Ein Blick auf einen attributionstheoretischen Eigentumsbegriff hilft hier weiter. In der Systemtheorie wird Eigentum als eine kommunikative Zurechnungsfigur begriffen, die von der herkömmlichen substanziellen Auffassung von Eigentum abstrahiert. Eigentum ist eine Frage der Zurechnung von Kontrollrechten und wird verstanden als eine „Form der Beobachtung von Gegenständen“ im Rahmen der Unterscheidung von verschiedenen Eigentümern, „mag dies nun Sachherrschaft, Verfügungsmöglichkeit oder was sonst bedeuten“ (Luhmann 1993: S. 454). Der Sinn von Eigentum liegt vor dem Hintergrund dieser abstrakt und offen gehaltenen Definition dann im Effekt der „Unterbrechung von Konsenserfordernissen“ (ebd., Herv. i. O.), d.h. darin, dass es für jeden, der etwas mit dem Eigentum anfangen möchte, einzig und allein auf die Zustimmung des Eigentümers ankommt.18 Ausgehend von einem solchen attributionstheoretisch konzipierten Begriff des Eigentums erscheint es dann plausibel, Patentrechte (andere gewerbliche Schutzformen, das Urheberrecht) als Eigentumsrechte zu begreifen. Sie wirken wie ‚herkömmliches‘ Eigentum, insofern man als Patentierender – abgesehen vom Ausnahmefall der Zwangslizenz – die alleinige (wirtschaftliche) Verfügungsgewalt über eine Erfindung (dispositio) innehat und es dann für alles Weitere auf die Zustimmung des Patentinhabers, etwa seine Bereitschaft zur Lizenzvergabe, ankommt. Ferner können Patentrechte genau wie das klassische Eigentum verletzt werden, allerdings ist die Verletzung nicht mit konventionellem Diebstahl gleich zu setzen, weil der Verletzende dem Verletzten materiell nichts weg nimmt. Aber die Patentverletzung nimmt dem rechtmäßigen Patentinhaber faktisch seine rechtmäßige Exklusivitätserwartung, was vor dem Hintergrund der hier verwandten Eigentumsdefinition einem zum materiellen Diebstahl funktional äquivalenten Schaden entspricht. Der insofern besser als ‚In-seinerExklusiverwartung-Enttäuschte‘ denn als Bestohlener aufzufassende Geschädigte sinnt (!) dann auf die Restitution seiner exklusiven Erwartung für die Zukunft:
Wertpapiere bezieht und die Leistungen des menschlichen Geistes ausklammert! Erbärmlich eine Gesellschaft, die sich einen solchen Eigentumsbegriff leisten wollte!“ (zitiert nach Götting 2006: S. 358). 18 „Die Universalität des Eigentums […] besteht darin, daß in bezug auf jedes Eigentum alle anderen Nichteigentümer sind“ (Luhmann 1993: S. 267).
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Genau hierin liegt der funktionale Kern der Patentnorm und der Bezugspunkt jeder Patentkommunikation und jeder Patentierungsentscheidung. Im Folgenden wird es wichtig, die interne Differenziertheit und die spezifischen Umweltbezüge des Patentsystems genauer herauszuarbeiten. Im Rückblick wird man dann genauer sehen, inwiefern das Patentrecht als ein spezifisches System „eigenen Rechts“ gelten kann, das sich von anderen gewerblichen Schutzrechten und dem Urheberrecht sowie insgesamt von seiner gesellschaftlichen Umwelt operativ und strukturell absetzt – unbeschadet der Tatsache, dass das Patentrecht anderen Schutzrechten in vielen Hinsichten ähnelt und von vielen Beobachtern gemeinsam mit diesen unter dem Begriff des „Geistigen Eigentums“ zusammengefasst wird.
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Unsere Leitprämisse ist, dass wir das Patentsystem als ein Kommunikationssystem begreifen, das sich aus seiner natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt aussondert (ausdifferenziert), indem es eine eigene funktional spezifizierte Weltsicht entwickelt und laufend operativ reproduziert. Diese Aussage besitzt aber noch keinen empirisch erklärenden Gehalt. Abstrakte systemtheoretische Grundbegriffe wie „operative Geschlossenheit“, „Autopoiesis“ und „Kommunikation“ rahmen unsere Überlegungen theoretisch, sagen aber in ihrer Abstraktheit noch nichts darüber aus, wie der funktionale Bezug des Patents kommunikativ umgesetzt – man könnte systemtheoretisch buchstäblich sagen: operationalisiert – wird: sie sind selbst noch nicht empiriefähig.19 Daher muss in einem ersten Schritt soziologisch beschrieben werden, wie die patentrechtliche Funktionalität und die ihr korrespondierende Kommunikation beschaffen ist, d.h. wie sie sich „materiellrechtlich“ organisiert und in die Form von kognitiv umweltoffenen Normen gegossen wird.
19 Vgl. hierzu am Beispiel des Begriffs der Autopoiesis auch ausdrücklich Luhmann: „Der bloße Begriff der Autopoiesis dient dem Unterscheiden und Bezeichnen eines entsprechenden Sachverhalts. Er hat, als Begriff, keinen empirischen Erklärungswert“ (Luhmann 2000: S. 49); vgl. zur Funktion von Grundbegriffen in der soziologischen Theorie auch Fuchs 1997.
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Die Patentnorm Konditionalität und Positivität Ungeachtet aller formalrechtlichen und z.T. materiellrechtlichen Unterschiede zwischen verschiedenen nationalstaatlichen Ausarbeitungen des Patentgesetzes: der materiellrechtliche Kern des Systems gestaltet sich in den meisten Patentgesetzen nahezu identisch. Im ersten Absatz des ersten Artikels des Deutschen Patentgesetzes (§ 1 Abs. 1 PatG) mit dem Übertitel „Patentfähige Erfindungen“ heißt es: (1) Patente werden erteilt für Erfindungen, die neu sind, auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhen und gewerblich anwendbar sind.20
Der Artikel formuliert die positive Normativität des Patentgesetzes in einer Wenn-Dann-Form: Wenn jemand beim Patentamt einen rechtlichen Anspruch auf ein Patent anmeldet und den Kriterien der Patentfähigkeit genügt, dann wird ein Patent erteilt, d.h. dann entsteht ein individuales Patentrecht. Das Patentgesetz lässt sich somit als konditionale Programmierung des Patentsystems begreifen.21 Die Konditionalität der Programmierung sorgt für eine relative Rigidität in der Bestimmung des Verhältnisses von Norm und Fakten, von Patentierungskommunikation und patentfähigen Erfindungen. Ein Patentanmelder kann sich sicher sein, wie und dass die neue Faktenlage, d.h. seine Patentanmeldung, normativ traktiert wird. Allerdings ist dieses relativ eng geführte Aufeinanderbeziehen von Selbst- (Norm) und Fremdreferenz (Fakten) nicht mit einem simplen Input/Output-Modell zu verwechseln. Konditionalprogramme machen das System nicht zu einer „Trivialmaschine“ (von Foerster), die für einen definierten Input einen kalkulierbaren Output produziert, sie sorgen aber wesentlich für die Spezifizierung des Umweltbezuges und erleichtern die interne Weiterbearbeitung eines ‚Patentfalls‘: „Programme des Rechtssystems sind immer Konditionalprogramme. Nur Konditionalprogramme instruieren die laufende Verknüpfung von Selbstreferenz und Fremdreferenz; nur sie geben der Umweltorientierung des Systems eine kognitive und zugleich im System deduktiv auswertbare Form“ (Luhmann 1993: S. 195, Herv. weggel.).
20 Vgl. hierzu und bei weiteren Zitaten aus dem deutschen Patentgesetz die Webseite www.patentgesetz.de. 21 Vgl. zum Folgenden Luhmann 1993: S. 195ff.
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Von der Patentnorm als Konditionalnorm sind rechtliche Zwecknormen wie etwa technische Grenzwertsetzungen im Bereich des Umweltrechts zu unterscheiden. Beide Normtypen charakterisieren sich in der Entscheidungsfindung durch einen unterschiedlichen Umgang mit der Zeit. Während die auf Erwartungsstabilisierung abstellende Perspektive stärker die im Rückblick zu findende Konsistenz der Entscheidung (Gerechtigkeit) und damit den Aspekt der Rechtssicherheit betont, ist der Entscheider bei Zwecknormen mehr von der in der Zukunft anfallenden und als notwendig unterstellten Wirkung geleitet: „Im ersten Fall erstrebt das Recht nur eine Sicherung des Erwartens: In einer im Prinzip unkontrollierbaren Welt will man wenigstens sicher sein, mit welchen Erwartungen man im Recht ist und mit welchen Einstellungen man auf sozialen Konsens rechnen kann; auch wenn es immer wieder Menschen gibt, die anders handeln. Im zweiten Falle geht es dagegen um die Sicherung bestimmter Effekte. Man will reale Verhaltenswahrscheinlichkeiten ändern und setzt das Recht dazu mehr im Sinne eines Sanktionsmechanismus ein“ (Luhmann 1981f: S. 73 f.).
Das Zitat provoziert eine naheliegende Frage. Ist nicht das Patent ein prototypisches Beispiel für „social engineering“, d.h. für die Inanspruchnahme des Rechts zum Zweck der Steuerung der Wirtschaft, indem es das beim Handeln mit Wissen unvermeidlich eintretende Marktversagen zu kurieren hilft? Selbstverständlich ist auch das Patentrecht nicht ohne die gesetzgeberische Erwartung einer (ökonomischen) Zweckmäßigkeit entstanden – im Gegenteil.22 Allerdings ist es wichtig, hier verschiedene Systemreferenzen auseinanderzuhalten, denn die fundamentale Konditionalität des Patents und seine Inanspruchnahme im Rahmen von Zweckprogrammen schließen sich wechselseitig nicht aus. Es handelt sich hier aber um politisch-legislativ induzierte Programme mit den modernen Meta-Zwecken „Fortschritt“ und „Innovation“, welche in Folge der Durchsetzung dieses Programms in der Politik in positiver Setzung von Recht (Gesetzgebung) münden. Allerdings, hierin liegt der evolutionäre Auslöser für die Entstehung eines positivierten Patentrechts, bedarf die Umsetzung dieser Zwecke aber in der modernen Gesellschaft der patentrechtlichen Konditionalprogrammierung, damit überhaupt hinreichende Rechtssicherheit emergie22 „To promote the Progress of Science and useful Arts, by securing for limited Times to Authors and Inventors the exclusive Right to their respective Writings“ ist bekanntlich die feierliche und viel zitierte Zweckformel, mit der in der US-amerikanischen Verfassung die Installierung von Patentrechten vorgegeben und begründet wird (vgl. hierzu ausführlich Walterscheid 1998).
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ren, sich somit die gewünschten Anspornungseffekte einstellen und damit die Verabschiedung des Gesetzes als politisch sinnvolle ‚Fortschrittsmaßnahme‘ machtförmig ausgewertet werden kann. Finalisierungen des Patentrechts beschränken sich also auf die Gesetzgebung und die dogmatische Interpretation von Normen: Im Zweifelsfall kann die unterstellte „Intention des Gesetzgebers“ zur Richtschnur für eine richterliche Entscheidung werden, im Regelfall spielt ein Rekurs auf Zweckmäßigkeiten keine Rolle.23 Mit der fortlaufenden Anwendung seiner spezifischen Konditionalnorm auf neue Patentfakten (Patentanmeldungen, Patentklagen) differenziert sich das Patentsystem gegenüber seiner Umwelt aus. Es immunisiert sich gegenüber dem Anspruch, wirtschaftliche oder moralisch-ethische Folgen einer Patenterteilung oder -verweigerung bzw. wirtschaftlichen Erfolg als Patentierungsbedingung mit beobachten zu müssen. Zwar sind die Formeln „gewerbliche Anwendbarkeit“ sowie die Generalklausel „gute Sitten“ noch im Patentrecht zu finden, im Grundsatz verfügt das Patentrecht aber über keine ‚Antennen‘ für die Frequenzen von Wirtschaft oder Moralkommunikation. Der wirtschaftliche Erfolg oder etwaige wettbewerbsschädliche Konsequenzen einer Erfindung sind keine Bedingung der Beurteilung ihrer Patentfähigkeit – wer wollte das a priori sicher prognostizieren?24 Ferner verpflichtet der Besitz eines Patents in aller Regel nicht zu einer Vermarktung oder ggfls. zur Lizenzierung des Patentrechts. Zwangslizenzen werden nur in besonders begründeten Ausnahmefällen erteilt (vgl. Beier 1998) und ein Ausführungszwang für patentierte Erfindungen wurde zwar historisch
23 „Unser Recht ist nicht mehr wie das alteuropäische Naturrecht […] inhärent ethischteleologisch gebaut, sondern von Zweckerwägungen und daher auch von Zweckverantwortung weitgehend entlastet. Die finale Struktur ist nur noch für die Setzung und die Auslegung von Normen relevant“ (vgl. Luhmann 1981a: S. 276, Herv. i. O.). Allerdings hat Luhmann an vielen Stellen auch sehr skeptisch auf den Trend einer zunehmenden Folgen- und Zukunftsorientierung im Recht hingewiesen (vgl. etwa Luhmann 1991: S. 67ff.). 24 „Dafür sind die Wettbewerbsbehörden zuständig“ so wehrte angesichts des öffentlichen Aufruhrs um das „Brokkoli-Patent“ im Jahr 2010 ein Sprecher des Europäischen Patentamts noch einmal alle Appelle an die Große Beschwerdekammer, die möglichen wettbewerbsschädlichen Folgen der Aufrechterhaltung des Patents in die Entscheidungsfindung einfließen zu lassen, ab (zitiert nach Amann 2010). Und ferner wurde hinzugefügt, „eine soziale, ökonomische oder ökologische Folgenabschätzung“ liege weder in der „Kompetenz“ noch „Möglichkeit“ des Patentamts (zitiert nach Schmidt 2010).
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immer wieder gefordert und gelegentlich auch getestet, ist allerdings in fast allen Patentrechtsregimen endgültig abgeschafft worden.25
Codierung der Kommunikation Der im ersten Satz des Patentrechts formulierten Grundnorm kommt als Konditionalnorm eine zweifache Bedeutung im System zu. Zunächst ermöglicht erst ihre Geltung die operative Autonomie des Patentsystems, weil nur eine stabilisierte Wenn-Dann-Verknüpfung von Fakten (Fällen) und Normen dauerhaft unterscheidbar werden lässt, was Recht (rechtsfähiger Patentanspruch) und was Unrecht (kein rechtsfähiger Patentanspruch) ist. Gleichzeitig stellt das Gesetz konkrete Bedingungen für das Erkennen auf Recht oder Unrecht im Hinblick auf zu entscheidende Patentierungsanträge, Nichtigkeitsklagen etc. auf. Diese materiellen Schutzvoraussetzungen, denen wir uns weiter unten ausführlicher widmen werden, instruieren als „Programm“ den internen Prozess der Entscheidungsfindung für die folgende Leitfrage: Ist eine Erfindung patentfähig oder nicht? In Anlehnung an die Konzeptualisierung des zweiwertigen Schemas von Recht und Unrecht als übergeordnetem binären Operationscode des Rechtssystems lässt sich in der Unterscheidung von patentfähig/nicht patentfähig die operative Leitdifferenz des Patentsystems, der basale „Kommunikationscode“, identifizieren (vgl. zur Codierung des Rechtssystems Luhmann 1986).
25 „Patent law almost entirely disregards the use that a patent holder will make of its right and is blind to the purpose for which protection is sought“ (Ann 2009: S. 356). Das deutsche Patentrecht kennt für Ausnahmefälle eine „Staatliche Benutzungsanordnung“, vgl. hierzu PatG § 13 (1): „Die Wirkung des Patents tritt insoweit nicht ein, als die Bundesregierung anordnet, daß die Erfindung im Interesse der öffentlichen Wohlfahrt benutzt werden soll.“ Hinsichtlich der Zwangslizenz stellen sogenannte „standard essential patents“ eine Ausnahme dar. Bei diesen vor allem aus der Eletronik- und Mobilfunkbranche bekannten „SEPs“ handelt es sich um Patente, welche die Umsetzung eines Standards, z.B. eines Mobilfunkstandards wie GRPS, blockierten, würden sie nicht lizenziert. Der Patenthalter kann in diesen Fällen zu einer Lizenzierung an weitere Marktteilnehmer zu „fairen“ Konditionen verpflichtet werden; vgl. auch unten Kapitel 7 S. 346ff.; zur Zwangslizenz, die gemäß des TRIPS-Abkommens erteilt werden kann, um die Produktion kostengünstigerer Generika zu ermöglichen, damit der Zugang zu wichtigen Medikamenten verbessert werden kann, siehe unten S. 202f.
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Ob Patente erteilt oder verweigert werden, ob Patentnichtigkeitsklagen Erfolg haben oder nicht, abstrakt gesehen geht es im System immer um die Differenz von Patentfähigkeit oder Nichtpatentfähigkeit. Immer wenn Kommunikationen mit dieser Unterscheidung geformt werden, wird unter den Vorzeichen des Patentrechts kommuniziert. Im kommunikativen Akt des Bezeichnens von Patentfähigkeit oder seines Gegenteils werden patentrechtliche Sinnhorizonte aktiviert, unabhängig davon, ob die Beobachtungen im deutschen Patentamt, im Forschungslabor bei Toyota in Japan, während einer Protestkundgebung gegen Patente auf gentechnisch veränderten Brokkoli, dies- oder jenseits der Pyrenäen, am Telefon oder im Patentklageverfahren vor Gericht, oder wo immer und von wem immer gemacht werden. Die Patentierungsentscheidung Für Patentkommunikation gilt, wie grundsätzlich bei jeder rechtlichen Kommunikation, dass sie sich an Entscheidungen orientiert. Erst aufgrund der Entscheidbarkeit der Frage nach der Rechtmäßigkeit eines Patentanspruchs macht Patentkommunikation Sinn, denn nur Entscheidungen können dauerhaft die rechtliche, d.h. stabilisierende Absicherung von Erwartungen auch im Fall der Enttäuschung (kontrafaktisch) leisten.26 Erst die patentrechtliche Entscheidung beendet zumindest vorläufig das Oszillieren der Kommunikationen innerhalb des Patentcodes und absorbiert die rechtliche Ungewissheit, wie mit einem Patentanspruch oder einer Patentklage zu verfahren ist. Salopp gesagt: der von einer patentrechtlichen Entscheidung Betroffene mag vom einem „postdecisional regret“ heimgesucht werden – „wie konnte ich dieses „lousy patent“ nur anmelden!“ – oder vor Stolz und der Höhe der erhofften „royalties“ feuchte Augen bekommen: in jedem Fall ist er die Ungewissheit hinsichtlich seiner patentrechtlichen Anspruchshaltung los, was auch immer die Entscheidung für seine wirtschaftlichen Chancen oder die von Dritten implizieren mag. Die Entscheidung besitzt für die an Patentkommunikation Beteiligten damit auch in zeitlicher Hinsicht eine entlastende Wirkung. Nach der Entscheidung kann man sich anderen Dingen zuwenden und kann für die wirtschaftliche Zukunft planen: ohne oder mit Patent. Wenn wir von der „Patentierungsentscheidung“ sprechen, können damit konkret verschiedene Typen der Entscheidung gemeint sein. Erstens denken wir an die Patenterteilung, d.h. den Patentierungsbeschluss, der das Ende eines Pa-
26 Zum systemtheoretischen Begriff der Entscheidung vgl. Luhmann 1984: S. 399ff. sowie ausführlich Luhmann 2000a (insbesondere Kap. 4), vgl. auch Luhmann 2009.
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tentierungs- und Patentprüfungsverfahrens markiert.27 Ferner beziehen wir uns auf die patentrichterliche Entscheidung, auf die ein Beschwerde- oder Nichtigkeitsverfahren am Patentgericht hinausläuft. Ferner trifft bei Rechtsfragen von besonderer Bedeutung auch der Bundesgerichtshof (BGH) patentrechtliche Entscheidungen. Die in Patentfragen appellierbaren Gerichte formieren insofern zusammen mit dem Patentamt das patentrechtliche Entscheidungszentrum; ihnen kommt im System eine zentrale Stellung zu, die sie von der Peripherie des Systems unterscheidet (wir kommen auf diese Unterscheidung und auf die besondere Stellung des Patentamts im Folgenden zurück). In dieser strukturellen Festlegung auf Entscheidungen unterscheidet sich Recht von anderen funktionalen Systemen wie Kunst, Wissenschaft und Sport, in denen man auch ohne Entscheidung zu (vorläufigen) Festlegungen kommen können muss. Man kann nicht entscheiden, dass Spitzbögen stimmiger wirken als Rundbögen, dass Luhmann mehr (wissenschaftliche) Wahrheit verbreitet als Habermas, dass Roger Federer sportlich mehr geleistet und Geschichte geschrieben hat als Pete Sampras oder Rod Laver usw. Man kann es erahnen, plausibilisieren, mit Zahlen, Bildern, Worten zu evidenzieren und belegen versuchen und für sich selbst und andere ‚entscheiden‘ oder negieren, aber eben nicht: für beliebige andere kollektiv verbindlich entscheiden. Die durch die Entscheidung entstandene Rechtslage kann demgegenüber nicht mehr durch neue Stile, Meinungen, Argumente, Ergebnisse, Befunde etc., mit anderen Worten: durch Kognitionen, sondern nur mehr durch das Einlegen von Patentrechtsmitteln (Einspruch, Patentklage) geändert werden.
Dimensionen der Schutzwirkung Im Gegensatz zu den im frühneuzeitlichen Europa verbreiteten Patentprivilegien und Gewerbemonopolen handelt es sich bei modernen Erfindungspatenten nicht um Erlaubnisnormen, d.h. wirtschaftliche Nutzungsrechte. Die wirtschaftliche Nutzung einer nicht rechtlich geschützten Erfindung bedarf grundsätzlich überhaupt keiner zusätzlichen rechtlichen Erlaubnis und im Umkehrschluss liefert das Patent keine Benutzungserlaubnis, wenn die wirtschaftliche Ausführung der Erfindung aus anderen, etwa kartell- oder verbraucherschutzrechtlichen Gründen verboten wird.28 Das Patent versetzt seinen Inhaber gegenüber Dritten (und das 27 Wir argumentieren im Folgenden am deutschen Beispiel. 28 Man erinnere sich beispielsweise an den politischen Streit um die transgene Maissorte „Mon 810“ der Firma Monsanto, deren Zulassung im April 2009 von der Bundesmi-
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meint im wirtschaftlichen Alltag: gegenüber der Konkurrenz) vielmehr aufgrund seines Ausschlusscharakters in eine exklusive rechtliche Stellung. Das Patent ist eine Ausschlussnorm. Zur „Wirkung des Patents“ formuliert § 9 PatG: Das Patent hat die Wirkung, daß allein der Patentinhaber befugt ist, die patentierte Erfindung zu benutzen. Jedem Dritten ist es verboten, ohne seine Zustimmung 1. ein Erzeugnis, das Gegenstand des Patents ist, herzustellen, anzubieten, in Verkehr zu bringen oder zu gebrauchen oder zu den genannten Zwecken entweder einzuführen oder zu besitzen; 2. ein Verfahren, das Gegenstand des Patents ist, anzuwenden oder, wenn der Dritte weiß oder es aufgrund der Umstände offensichtlich ist, daß die Anwendung des Verfahrens ohne Zustimmung des Patentinhabers verboten ist, zur Anwendung im Geltungsbereich dieses Gesetzes anzubieten; 3. das durch ein Verfahren, das Gegenstand des Patents ist, unmittelbar hergestellte Erzeugnis anzubieten, in Verkehr zu bringen oder zu gebrauchen oder zu den genannten Zwecken entweder einzuführen oder zu besitzen.
Die Funktion des Patents ist somit nicht permissiver, sondern prohibitiver Natur. Das Patent wirkt diskriminierend, indem es den wirtschaftlichen Raum in einen Berechtigten, nämlich den Patentinhaber, und alle anderen unterteilt. Die Erteilung von zwei Patenten für dieselbe Erfindung an verschiedene Personen käme einem Rechtsirrtum gleich: „Doppelpatentierungen“ sind (deshalb) rechtlich ausgeschlossen. Die Erteilung eines individuellen Nutzungsrechts für eine schon in wirtschaftlicher Nutzung befindliche Erfindung würde die Funktionalität des Patents ad absurdum führen und gliche der frühneuzeitlichen Privilegienpraxis, die einem oder mehreren Günstlingen des Herrschers monopolartige Sonderrechte für die Ausführung einer Erfindung oder eines Gewerbes konzedierte.29 Es kann zu einem Zeitpunkt immer nur einen Patentinhaber geben und die Schutzwirkung des Patents gilt universell: sie betrifft grundsätzlich jeden und zu jeder Zeit:
nisterin für Landwirtschaft, Ernährung und Verbraucherschutz, Ilse Aigner, ausgesetzt wurde, ohne dass dies etwas an der Patentfähigkeit dieser Erfindung geändert hätte (die ihrerseits wiederum Gegenstand von Kontroversen um „Genpatente“ ist). 29 Vgl. Fox 1947: S. 8ff.
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„Das Patent ist ein absolutes Recht; es erzeugt subjektive Rechte des Patentinhabers gegen alle, nicht nur gegen bestimmte Personen. Solange und soweit es Bestand hat, ist es von allen zu achten“ (Benkard 2006: S. 76).
Allerdings sind der Geltung eines Patents in zwei Hinsichten wesentliche Grenzen gesetzt. Erstens ist die Schutzwirkung des Patents in zeitlicher Hinsicht beschränkt. Die Patentlaufzeit ist grundsätzlich auf eine maximale Patentdauer von zwanzig Jahren begrenzt, wobei das entscheidende Referenzdatum der Anmeldetag ist.30 In empirischer Hinsicht schwankt die effektive Dauer von Patenten in Abhängigkeit der von Branche zu Branche stark divergierenden Dauer von Produktlebenszyklen. So werden in der Pharmabranche beispielsweise die Patentlaufzeiten in der Regel vollständig ausgenutzt, während Patente in Branchen wie Elektronik („High Technology“) manchmal bereits nach einigen Jahren ihren wirtschaftlichen Wert verlieren und aus diesem Grund häufig nicht mehr verlängert werden oder eine alternative Bedeutung als „bargaining chips“ gewinnen (vgl. unten S. 317). Abbildung 2: Patentlaufzeiten in verschiedenen Regionen
Abb. 2 aus dem „Four Offices Statistical Report 2010“ illustriert die durchschnittlichen Patentlaufzeiten in Europa, Japan, USA und Korea (vgl. Japanese Patent Office 2011: S. 52).
30 Über verschiedene Möglichkeiten der Verlängerung des Patentschutzes handelt das letzte Kapitel auf den S. 325ff.
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Der Gesetzgeber setzt in vielen Staaten einen Anreiz dafür, Patente nicht zu verlängern, indem vom Patentamt ein „progressives“ Patentgebührenmodell verfolgt wird. Das heißt, die Aufrechterhaltung eines Patents zieht jährlich steigende Gebühren nach sich, so dass es bei wirtschaftlich weniger relevanten Patenten insbesondere für kleinere Unternehmen und Privaterfinder attraktiver sein kann, das Patent aufzugeben oder in manchen Fällen an eine patent holding company zu veräußern. Diese gesetzliche Regelung stellt im Rahmen der gesetzgeberischen Abwägung zwischen öffentlichem und privatem Nutzen des Patents eine Konzession an die Seite des öffentlichen Interesses dar, weil sie die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass wirtschaftlich als nutzlos erachtete Patente den freien Markt nicht unnötig mit reaktivierten ‚Blindgängern‘ aus vergangenen „patent wars“ belasten. Zweitens ist die Wirkung der Patentnorm in räumlich-sozialer Hinsicht begrenzt, weil das Patentrecht wie Recht zunächst grundsätzlich nur innerhalb eines nationalstaatlich delimitierten Rechtsraums gilt, d.h. nur diejenigen betrifft, welche in diesem Territorium eine rechtlich relevante Adresse unterhalten. Ebensowenig kann ein Patentrichter stellvertretend für Kollegen in anderen Ländern Recht sprechen, kein Patentprüfer ein Patent mit Wirkung für die Anrainerstaaten erteilen. Ein deutsches Patent gilt von Flensburg bis Passau, von „Basel/Badischer Bahnhof“ bis Usedom (deutscher Teil), aber in Odense, Linz, „Basel SBB“ und Usedom (polnischer Teil) schon nicht mehr. Patente unterliegen einem strikten Territorialitätsprinzip.31 Im Gegensatz zu wissenschaftlichen Publikationen, wirtschaftlichen Zahlungen oder Kunstwerken sind die Sinnbezüge des Patents demnach kategorisch mit einem staatlich-territorialem Index versehen. Während Wissenschaft, Wirtschaft und Kunst ihre Primärdifferenzierung nicht in Staaten sondern in Disziplinen (communities, Forschungsfeldern), Märkten (Unternehmen) oder Stilen (Genren/Epochen) finden und sich diese Binneneinheiten unmittelbar und plausibel als weltweite Zusammenhänge denken lassen, ist das Patentsystem in einer globalen Perspektive durch eine Segmentierung in staatliche Rechtsregime gekennzeichnet. Man macht dann selbst in vergleichsweise stark harmonisierten Rechtsräumen wie der Europäischen Union die Erfahrung, dass die nationalen Patentju-
31 Vgl. Peifer 2006 und Haupt 2007 zum patentrechtlichen Problem, das sich aus dem Prinzip der Territorialität für den Umgang mit Erfindungen oder Technikanwendungen in Weltraumstationen ergibt; zum Problem des Patentschutzes beim Betrieb von Satelliten siehe auch Böckstiegel/Krämer/Polley 1999.
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risdiktionen für ‚denselben‘ Fall mitunter zu stark divergierenden Ergebnissen kommen: plaisante justice! (vgl. unten S. 196ff.). Jede Form der Globalisierung des Patentrechts und auch jeder Versuch der soziologischen Beschreibung globalen Patentrechts muss daher die Segmentierung der Patentwelt in nationalstaatliche Rechtsräume miteinkalkulieren. Diese Primärsegmentierung des Weltpatentsystems in Nationalstaaten setzen wir an dieser Stelle voraus, wir werden ihr an späterer Stelle im Rahmen einer weltgesellschaftstheoretischen Analyse des „Weltpatentsystems“ ein ausführlicheres Augenmerk widmen (Kap. 5). Wenn wir im nun Folgenden weiterhin von „Patentsystem“ und seiner internen Differenzierung sprechen, nehmen wir damit exemplarisch auf ein staatliches Segment des Weltpatentsystems, nämlich das Deutsche Patentrecht, Bezug und befinden uns damit bereits auf einer Ebene sekundärer, innerstaatlicher Differenzierung.
I NTERNE D IFFERENZIERUNG : Z ENTRUM
UND
P ERIPHERIE
Ausdifferenzierung und interne Differenzierung von Funktionssystemen stehen in einem konstitutiven wechselseitigen Zusammenhang. Funktionssysteme differenzieren sich in dem Maße aus, als es den Systemen intern gelingt, eigensinnige Strukturen interner Differenzierung durchzusetzen und aufrechtzuerhalten, die sich von Mustern struktureller Differenzierung in den Systemen in ihrer Umwelt unterscheiden. Für das, was im System gilt, d.h. dafür, wie im Rechtssystem Umweltirritationen absorbiert und selektiv traktiert werden, dafür gibt es dann sowohl in den rechtsinternen Anrainergebieten sowie in der rechtsexternen Umwelt des Systems keine Entsprechung mehr. Funktionssysteme charakterisieren sich durch verschiedene Formen sachlicher, sozialer und zeitlicher Differenzierung. Man kann hier an Rollendifferenzierungen, etwa an die bekannte Unterscheidung von Leistungs- und Publikumsrollen (Experte, Laie) denken, die unter anderem beobachtet, wie Funktionssysteme die Universalisierung der Inklusion durch die Ausbildung von komplementär zu den Professionen angelegten Publikumsrollen vorantreiben.32 Das Patentsystem kennt in einer solchen Lesart verschiedene Publikumsrollen wie z.B. klassischerweise den Erfinder, Unternehmen, Professoren oder auch Protestgruppen. Wir werden zu einem späteren Zeitpunkt im historischen Kapitel sehen, inwiefern sich ein wesentlicher Ausdifferenzierungsschub der Transformation der dominanten Inklusionsstruktur, nämlich der Verdrängung des Privaterfinders durch die „corporate organization“, 32 Vgl. hierzu Stichweh 1988.
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verdankt (s. S. 287ff.). Auch eine detaillierte Analyse der Professionsrolle des Patentrichters und seiner hybriden Rolle als juristischer und technischer Experte ließe sich zum Ausgangspunkt einer differenzierungs- und rollentheoretischen Analyse machen.33 Ausgearbeitete empirische Analysen zu systemischen Leitrollen wie dem Erfinder, dem Forscher, dem Patentanwalt, dem Patentrichter, dem F&E-Manager etc. würden hier den Rahmen sprengen, wir werden wie gesagt im historischen Kapitel teilweise auf diese inklusionstheoretischen Aspekte der Differenzierung zu sprechen kommen. An dieser Stelle wollen wir uns auf die Anwendung einer anderen differenzierungstheoretischen Unterscheidung auf das Patentsystem konzentrieren. Es geht um die Unterscheidung von Zentrum-und-Peripherie, die von Niklas Luhmann insbesondere für die Analyse des Rechts fruchtbar gemacht wurde (vgl. etwa Luhmann 1990a und 1993, Kap. 7). Zielsetzung der Anwendung dieser Unterscheidung ist für uns, konkrete Anhaltspunkte für die differenzierungstheoretische Annahme zu finden, dass das Patentsystem mit dieser Form interner Differenzierung einen spezifischen Modus des Austarierens von Selbstund Fremdbezügen entwickelt, mit dem es sich innerhalb einer dynamischen Umwelt nach eigenen Prämissen reproduziert.
Zentrum und Peripherie Das Differenzierungsschema von Zentrum-und-Peripherie steht für eine attributionstheoretisch fundierte Reformulierung klassischer Konzepte der Differenzierung des Rechts. Es ersetzt die in der Theorie des Rechts prominente Unterscheidung von Gesetzgebung und Rechtsprechung, indem sie den Begriff der rechtlichen Entscheidung in das Zentrum des differenzierungstheoretischen Interesses rückt. Ein unterschiedlicher Bezug verschiedener Kommunikationsbereiche zur rechtlichen Entscheidung und zum ‚Entscheiden-Müssen‘ werden zum Hauptkriterium der systeminternen Differenzierung im Rechtssystem. Entscheidungszwang herrscht nur in den Gerichten (Justizverweigerungsgebot); diese Qualität unterscheidet sie in maßgeblicher Hinsicht von allen anderen Organen und Kommunikationsbereichen im Rechtssystem: „Weder Gesetze noch Verträge stehen unter rechtlichem Entscheidungszwang. Man kann die Geltungslage im Rechtssystem mit Wahl dieser Formen ändern – oder es lassen. Nur Gerichte haben in dieser Hinsicht eine Ausnahmestellung. […] Nur sie sind zur Entschei33 Zum „technischen Richter“ vgl. etwa Ulrich 1964.
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dung gezwungen und genießen folglich das Privileg, Zwang in Freiheit umwandeln zu können. Kein anderes Organ der Rechtspflege hat eine derartige Stellung“ (Luhmann 1993: S. 320).
Der patentrichterlichen Entscheidung kommt die Funktion des „Paradoxiemanagements“ zu. Damit ist gemeint, dass nur die Gerichte und das richterliche Entscheiden in der Lage sind, die Paradoxie der Anwendung des Rechtscodes auf sich selbst zu entfalten.34 Es wird damit strukturell eingerichtet, dass nur die Patentgerichtsbarkeit die widersprüchliche Situation auflösen kann, die entsteht, wenn Patentrecht, z.B. in Form eines gewährten Patentanspruchs, qua Negation der Rechtmäßigkeit dieser Ansprüche durch Rechtsbeschwerden und Klagen als Patentunrecht markiert wird. Insofern, d.h. unter der Prämisse, dass dieses Paradoxiemanagement verlässlich geleistet werden und damit Rechtssicherheit produzieren kann, macht es Sinn, von einer zentralen Stellung der Gerichte innerhalb des Rechtssystems zu sprechen: „Und jeweils wird im Zentrum des Systems eine Paradoxieumwandlung vollzogen, die voraussetzt, daß es eine Peripherie gibt, die die autopoietische Reproduktion des Systems mitträgt und zugleich Irritationen durch die Umwelt abfiltert“ (Luhmann 1990a: S. 470).35
Von den Gerichten als zentralen Institutionen der Organisation von Gerichtsbarkeit sind alle Institutionen und Kommunikationskontexte zu unterscheiden, in denen ohne Entscheidungszwang operiert wird und operiert werden kann. Die Peripherie des Rechtssystems ist durch „Verzicht auf Entscheidungszwang“ (ebd. S. 324) gekennzeichnet. Zur Peripherie gehören demnach auch die Gesetzgebung sowie jegliche Form von Verträgen und auch alle ‚informelleren‘ und 34 Vgl. Luhmann 1993: S. 320ff. Eine ähnliche Funktion zentralen Entscheidens lässt sich auch in anderen Funktionssystemen beobachten. Dies wird deutlich mit Blick auf die Zentralbanken der Wirtschaft. Die Zentralbanken übernehmen die Funktion der Entparadoxierung des Systems: „Aber nur im Zentrum des Systems wird die Paradoxie der Knappheit verwaltet, nur hier wird Beschränkung mit der gebotenen Vorsicht in Überfluß transformiert“ (Luhmann 1990a: S. 471); vgl. ausführlicher Luhmann 1988: S. 144ff. sowie Baecker 1991. 35 Es ist wichtig, die Unterscheidung von Zentrum und Peripherie ohne räumliche Implikationen (etwa Stadt vs. Land) zu denken (vgl. hierzu Stichweh 2006). Wir halten hier noch einmal dezidiert fest, dass die Differenz verschiedene patentrechtliche Kommunikationsweisen unterscheidet, sie aufeinander bezieht und damit das System als Einheit dieser Differenz verschiedener Kommunikationstypen konzipiert.
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‚privaten‘ Kommunikationen, die im Schema der Unterscheidung von Patentrecht oder Patentunrecht kommunizieren (Code patentfähig/nicht patentfähig). Die Peripherie des Patentsystems ist mit einer höheren Sensibilität für die Funktionen und Erfordernisse anderer Funktionssysteme ausgestattet und kanalisiert die an das systemische Zentrum gerichteten Erwartungen. Neben Rechtsprechung und Verträgen lassen sich in der Patentperipherie dann eine Reihe verschiedener Kommunikationskontexte beobachten, die wir im Anschluss an die Diskussion des zentralen patentrechtlichen Instanzenzugs skizzieren werden. Zentralität des Entscheidens: Der patentrechtliche Instanzenzug Während sich das Rechtssystem insgesamt demnach nicht primär hierarchisch differenziert, sind im Zentrum des Rechtssystems weitere Muster vertikalhierarchischer und auch horizontaler Differenzierung zugelassen. Gerichte sind auf einer horizontalen Ebene in verschiedene Zuständigkeiten segmentiert – das Patentgericht ist für Patente und nicht für Mord, Betrug, Scheidung zuständig – und gliedern sich darüber hinaus vertikal in über- und untergeordnete Gerichte. So hat man es auch im Fall des Patentrechts mit einem für das Zentrum des Rechtssystems typischen „Instanzenzug“ zu tun. Dieser gliedert sich im deutschen Patentrecht wie folgt: x Das Deutsche Patent- und Markenamt (DPMA) führt das Patentierungsverfahren durch, an dessen Ende mit der Patenterteilung (Nichterteilung) der entscheidende Patentierungsbeschluss steht. Es fällt ferner Entscheidungen zur Aufrechterhaltung von Patenten im Fall von Einsprüchen gegen eine Patenterteilung. x Das Bundespatentgericht (BPatG) und die Patentkammern der Landesgerichte sind zuständig im Falle von Rechtsbeschwerden gegen Beschlüsse der Patentabteilungen des Patentamts und urteilen über Nichtigkeitsklagen. x Der Bundesgerichtshof (BGH) trifft letztinstanzliche Entscheidungen bei Rechtsbeschwerden, d.h. bei patentrechtlichen Fragen von grundsätzlicher Bedeutung, d.h. Entscheidungszwängen, in denen die Einheit des Systems, d.h. die Bestimmung der Systemgrenzen, zum Problem wird. Das Patentsystem findet innerhalb des deutschen nationalstaatlichen Patentrechtsraums somit in den Verfahren und Entscheidungen des Bundesgerichtshofs
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seinen letzten Fluchtpunkt: dort wird „höchstrichterlich“ Patentrecht gesprochen und damit ein Patentrechtskonflikt letztinstanzlich entschieden.36 Entscheidungen des Patentgerichts und des BGH haben es insbesondere mit Nichtigkeitsklagen, d.h. Anträgen auf die Nichtigkeit von Patenten bzw. des sie erzeugenden patentamtlichen Beschlusses zu tun.37 Die richterliche Entscheidung entfaltet dann eine konfliktlösende und systemstabilisierende Wirkung, indem sie den für die am Klageverfahren Beteiligten den Zustand rechtlicher Ungewissheit auflöst und Erwartungssicherheit wiederherstellt. Bei vielen Entscheidungen des Bundespatentgerichts dreht es sich konkret um die Handhabung der Kriterien zur Beurteilung der Patentfähigkeit einer Erfindung, insbesondere des Kriteriums der „Erfindungshöhe“.38 Diese Entscheidungen entfalten zwar für das Patentamt keine pauschale Bindung, weil ihnen keine gesetzliche Wirkung zu kommt.39 Allerdings geht die Funktion dieser Entscheidungen über eine akzidentell streitschlichtende Funktion weit hinaus, weil sie zukünftige Verfahren und Patentierungsentscheidungen und die dazugehörige juristische Argumentation, mit anderen Worten: Prämissen der Entscheidung und der Entscheidungsfindung zwar nicht determinieren, aber maßgeblich orientieren. In seltenen, besonders herausragenden Fällen, nehmen (höchst)richterliche Entscheidungen eine besondere systemische Tragweite an. Wir denken an die in der Patentrechtsdogmatik zitierten Grundsatzentscheidungen, auf die häufig bei der Entscheidungsfindung und Interpretation des Patentgesetzes zurückgegriffen wird. „Rote Taube“, „Chakrabarty“, oder „Street“ fungieren als „scripts“, die Entscheidungen über die grundsätzliche Patentierbarkeit von Biotechnologie, Software, Finanz- und Geschäftsmethoden bzw. die Weite des Erfindungsbe-
36 Vgl. hierzu Rebel 2007: S. 297 ff sowie sehr ausführlich den einschlägigen Patentrechtskommentar Benkard 2006: S. 813ff.; wir vereinfachen die Darstellung hier etwas und gehen weder auf eine mögliche Anrufung des Bundesverfassungsgerichts, noch auf die Rolle des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), der Europäischen Kommission oder der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts ein. 37 Einen historischen Überblick zur deutschen Entwicklung des patentrechtlichen Instituts der Nichtigkeitsklage gibt Pitz 1995; zu den Hintergründen der Entstehung des bundesdeutschen Patentgerichts siehe auch Völp 2009. 38 Vgl. hierzu etwa Meier-Beck 2008: v.a. S. 1033f. 39 „Auch bei einer Entscheidung in einem Verfahren, das als Musterprozeß geführt worden ist, beschränkt sich die Bindung auf Grund der Rechtskraft auf den entschiedenen Fall. […] Eine rechtliche Verpflichtung des Patentamts, einer Entscheidung des Gerichts in Zukunft zu folgen, besteht aber nicht“ (Schulte 1975: S. 574f.).
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griffs informieren.40 Je weiter man dann den Instanzenzug ‚nach unten‘ durchschreitet, desto weniger grundsätzlich werden die getroffenen Entscheidungen. Vom Patentamt bzw. dem Patentprüfer werden im Rahmen des Patentierungsverfahrens keine „Grundsatzentscheidungen“ getroffen, sondern es wird anhand des Einzelfalls und seiner materiellrechtlichen Prüfung über die Rechtmäßigkeit eines konkreten Patentanspruchs entschieden. Das System reproduziert sich hier auf einer sehr elementaren Ebene des Erzeugens von rechtlich bindenden Positionen, erzeugt hiermit aber keinen Wandel oder Kontinuität auf der Ebene seiner Strukturen, d.h. der Prämissen zukünftigen Entscheidens. Ein Patenterteilungsbeschluss stellt keine (richterliche) Rechtsprechung dar, sondern ist ein rechtserzeugender Verwaltungsakt: „Das Patent ist ein Recht, das seine Entstehung dem Erteilungsakt verdankt. [...] Der Erteilungsakt ist ein zweiseitiger Verwaltungsakt, durch den dem Anmelder das Recht zur ausschließlichen gewerblichen Benutzung der im Patent unter Schutz gestellten Erfindung verliehen wird“ (Benkard 1993: S. 139).
Ausgehend von diesem Verständnis der patentamtlichen Entscheidung als einem administrativen Erteilungsakt, könnte eine Zuordnung des Patentamts zum Zentrum des Patentsystems fraglich erscheinen. Schließlich handelt es sich beim Patentamt um eine Verwaltungsbehörde und damit um ein Organ ohne genuin rechtsprechende Qualität und es wäre damit der Peripherie des Systems zuzuordnen.41 Hierzu eine abschließende Anmerkung. Das Patentamt ähnelt strukturell stärker als andere Verwaltungsbehörden ordentlichen Gerichten. So agiert der Patentprüfer ähnlich wie ein Richter, wenn er im Patentprüfungsverfahren eine Beweismittelaufnahme durchführt und im Laufe des Verfahrens ferner Anhörungen und Vernehmungen durchführen kann.42 40 Zum BGH-Urteil „Rote Taube“ sowie den US-amerikanischen Präzedenzfällen „Chakrabarty“ und „Street“ siehe unten S. 90 ff; zu „Skripten“ als Schemata, welche ein verkürzt-selektives Orientieren in Entscheidungssituationen ermöglichen vgl. am Beispiel politischen Entscheidens Luhmann 2000a: S. 154ff. 41 Bis in die 1950er Jahre wurde das Patentamt in seiner Gesamtheit bzw. mit Blick auf die damals noch im Patentamt inkorporierten Nichtigkeitssenate allerdings als rechtsprechendes Organ angesehen; vgl. hierzu überblickend Benkard 2006: S. 1080f. 42 Das Patentamt „ist freilich eine Verwaltungsbehörde besonderer Art. Die Amtsverfassung ist […] der eines Gerichts angenähert. Auch das Verfahren ist weitgehend justizförmig gestaltet. […] Auch die Möglichkeit, Zeugen, Sachverständige und Beteiligte eidlich zu vernehmen, geht über die den Verwaltungsbehörden sonst zugestandenen
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Der Patentprüfer entscheidet hier zwar nicht über Entscheidungen – etwa von anderen Patentprüfern –, aber er muss die Konsistenz zu früheren Entscheidungen des Patentamts in hohem Maße wahren, weil er keine rechtlich redundanten, weil überlappenden Anspruchspositionen („Doppelpatentierungen“) ermöglichen darf. Ferner trifft der Patentprüfer seine Entscheidungen unabhängig wie ein Richter, d.h. er ist hierbei nicht an Direktiven des Präsidenten des Patentamts gebunden. Weiterhin lässt sich sagen, dass der Patentprüfer bzw. das Patentamt auf den rechtsgültigen Antrag eines Patentanmelders hin gezwungen ist, zu einer Patentierungsentscheidung zu kommen und insofern ebenfalls einem quasirichterlichen Entscheidungszwang unterliegt. Man kann einer formal gültigen Patentanmeldung nicht die Annahme (und anschließende Behandlung) verweigern. Und schließlich sieht auch das Patentierungsverfahren bereits ein nachgeschaltetes Einspruchsverfahren vor, welches einem ordentlichen Nichtigkeitsverfahren beim Patentgericht stark ähnelt (vgl. hierzu Koppe 1986).43 Summa summarum behelfen wir uns damit, dem Patentamt und dem Patentierungsverfahren im Rahmen der Unterscheidung von Zentrum und Peripherie einen hybriden Status zuzuweisen. Es ist Bestandteil des patentrechtlichen Instanzenzugs (erste Instanz) und seine Strukturen weisen eine Reihe von ‚quasigerichtlichen‘ Zügen auf. Anders als die Gerichte aber beschäftigt es sich im Patentierungsverfahren alltäglicher und unmittelbarer mit Ansprüchen, die im Kontext peripherer Kommunikationen produziert und zumeist in Form von unternehmerischen Patentanmeldungen an das Patentamt adressiert werden. Insofern steht das Patentamt auch als periphere Institution in engerem Kontakt mit Systemen in der Umwelt des Patentsystems als die von der Peripherie stärker ‚abgeschirmten‘ Gerichte.
Befugnisse hinaus. Auch im Übrigen weist das Verfahren Züge auf, die nicht dem normalen Verwaltungsverfahren entsprechen“ (Benkard 2006: S. 758). 43 Historisch waren patentrechtsprechende Funktionen im deutschen Patentrecht noch innerhalb des Patentamts angesiedelt, wurden dann aber mit der Konstituierung des Bundespatentgerichts im Jahre 1961 aus dem Patentamt ausgegliedert (begründend Völp 1960). Das Inkrafttreten des Grundgesetzes machte diesen Schritt verfassungsrechtlich zwingend, weil dadurch verfügt wurde, dass jeder behördliche Beschluss durch eine nachrangige Behörde überprüft werden kann. Einen Vergleichsfall stellt das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) dar, das vorsieht, dass gegen Verfügungen des Bundeskartellamts bei Oberlandesgerichten Rechtsmittel eingelegt werden können (s. Starck 2003: S. 931ff.); zur Gesamtentwicklung des Patentamts seit seinen Ursprüngen als Reichspatentamt vgl. ausführlich Hallmann/Ströbele 1977.
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Peripherie des Systems Der starke strukturelle Abhängigkeit des Systems von zentralen (staatlichen) Organisationen und Entscheidungsträger könnte dazu verleiten, das System analytisch mit diesen zu verwechseln. Eine solche organisations- und professionszentrierte Sichtweise mag sich ‚intuitiv‘ aufdrängen, da die genannten Organisationen, Verfahren und Rollen dem Patentsystem ein nach außen erkennbares institutionelles Profil geben und dem System ferner eine Aura offizieller Würde und gesellschaftlicher Relevanz verleihen.44 Es ist es allerdings zwingend notwendig, sich von dieser korporatistischen-professionsbezogenen Lesart von Funktionssystemen zu trennen. Denn das organisierte und professionsbasierte Zentrum des Patentsystems sieht sich einer Peripherie gegenüber, deren maßgebliches Merkmal darin besteht, nicht rechtlich entscheiden zu müssen (und ebenso wenig hierfür autorisiert zu sein). Periphere Kommunikationen beziehen sich auf Entscheidungen bzw. die Entscheidungsfähigkeit im Zentrum des Systems und charakterisieren sich durch ein laufendes Beobachten dieser Entscheidungstätigkeit; sie sind aber selbst keine patentrechtlichen Entscheidungen. Peripher heißt nicht: weniger wichtig, sondern „peripher“ zu kommunizieren, heißt im Patentsystem, Entscheidungen über Patentanprüche bzw. deren Entscheidbarkeit als Fluchtpunkt des eigenen Handelns und Kommunizierens voraussetzen zu können. Auch periphere Kommunikationen kommunizieren – sonst wären sie nicht Teil des Systems – unter den Vorzeichen des Patentcodes. Die Funktion peripherer Kommunikationen besteht primär darin, Irritationen aus der Umwelt des Systems – Erfindungen, Profitmotive u.a. – in eine rechtlich anschlussfähige und damit auch entscheidbare Form zu bringen, ohne selbst unter dem Gebot der Konsistenz im Hinblick auf frühere Fälle entscheiden zu müssen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien im Folgenden vier Kontexte skizziert, die sich in der systemischen Peripherie ansiedeln lassen. Sie zeichnen sich durch eine besondere ‚Nähe‘ zu anderen Systemen, nämlich insbesondere der Wirtschaft aber auch andere Systeme wie Wissenschaft und Protestkommunikation aus.
44 „Selbst wenn das Rechtssystem in einem empirischen Sinne als System beschrieben wird, denkt man dabei zunächst nur an die Organisationen bzw. an die Profession der Juristen. Mit anderen Worten: das gesellschaftliche Funktionssystem Recht und die in diesem System gebildeten Organisationen werden nicht ausreichend unterschieden. Daß Kommunikation über Recht und Disposition über Recht in weitestgehendem Maße außerhalb dieses organisierten und professionell kompetenten Systemkerns stattfinden, wird nicht gesehen“ (Luhmann 1990a: S. 465).
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Patentabteilungen: In den Patentabteilungen großer Unternehmen beschäftigen sich „Patentbeauftragte“ oder Patentanwälte (interne oder externe) mit Erfindungsmeldungen von Forschern und Entwicklern und analysieren diese Erfindungen im Hinblick auf ihre Patentfähigkeit. Ein wichtiger Aspekt der Vorbereitung einer Patentanmeldung für das Patentierungsverfahren beim Patentamt ist die angemessene rhetorische Darstellung der Erfindung und der Patentansprüche in Form eines formalisierten Texts. Die Patentanmeldung wird Grundlage des Patentierungs- und Prüfverfahrens und der Veröffentlichung des Patents in der Patentschrift. Patentabteilungen kommt eine „clearing“-Funktion in patentierenden Unternehmen zu. Sie informieren Unternehmens- und Forschungspläne im Hinblick auf Restriktionen, die vom patentrechtlichen Status quo für Forschungs- und Geschäftsziele ausgehen; eine typische Fragestellung in diesem Zusammenhang könnte lauten: Macht es Sinn, dieses Forschungsprojekt weiter zu verfolgen, wenn die Konkurrenz fast alle wichtigen Patente hält?45 Patentanwaltskanzleien: Patentanwaltskanzleien operieren im unmittelbaren Grenzgebiet zwischen Wirtschaft und Recht und beobachten auch die ‚Nahtstellen‘ des Patentrechts mit anderen Rechtsgebieten: „Patentanwälte sind für das Patenterteilungsverfahren unverzichtbar. Sie sind technisch versiert und in den Verfahren vor den Patentbehörden sowie den für den Bestand des Schutzrechts relevanten Verfahren vor BPatG und BGH beschlagen. Ihre Mitwirkung in der Patentdurchsetzung, perspektivisch möglicherweise auch in der Patentverwertung erfordert freilich fundierte Kenntnisse auch des allgemeinen Zivil-, namentlich des Vertragsrecht, des Zivilprozessrechts und angesichts einer zunehmenden Zahl von Sachverhalten mit Auslandsberührung auch des einschlägigen Kollisionsrechts“ (vgl. Ann 2004: S. 699).
Der Patentanwalt fungiert demnach als Intermediär zwischen dem Patentamt bzw. dem Patentgericht und einem Unternehmen oder einem Erfinder. Seine Kernexpertise liegt in der ‚Übersetzung‘ von Erfindungen bzw. der in der Regel vom Erfinder (zusammen mit dem Forschungsleiter) angefertigten Erfindungsbeschreibung (Erfindungsmeldung) in die prozeduralen und rhetorischen Erfordernisse des Patentierungs- und Prüfungsverfahrens; ferner gehört es zu seinen Kernaufgaben, ein Unternehmen und Erfinder in Beschwerde- oder Klageverfahren patentrechtlich zu vertreten. Er beobachtet die Rechtslage und die Entscheidungen und bewertet die Aussichten eines Patentanspruchs im Patentierungsprozess. Patentanwälte entwickeln somit eine besondere Expertise in der Einschät-
45 Vgl. hierzu auch weiter unten Kapitel 7.
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zung der „Stärke“ eines Patentanspruchs, d.h. der Chance eines Patents, ein Patentverfahren unbeschadet zu überstehen. Technologietransferstellen: In universitären Technologietransferstellen werden Erfindungsmeldungen von Hochschulangehörigen im Hinblick auf ihre Kommerzialisierbarkeit beobachtet. Grundlage einer möglichen Kommerzialisierung ist in einem Zwischenschritt die rechtliche Prüfung der Patentierbarkeit und Patentfähigkeit des neu entstandenen technischen Wissens. „Technology Transfer Offices“ (TTOs) sind eine US-amerikanische Erfindung, die sich seit der Verabschiedung des Bayh-Dole-Acts 1980 an nahezu allen US-amerikanischen Universitäten und dann rasch auch in weiteren Ländern verbreitet hat. Die Idee dieser Institutionalisierung von Verwertungstätigkeiten ist, die Hochschule verstärkt an Kommerzialisierungstätigkeiten teilhaben zu lassen, aber man stellt häufig fest, dass viele Forscher nach wie vor primär andere Wege der Erfindungsverwertung wie z.B. eigene spin-off’s verfolgen.46 Protest gegen Patente: In den letzten Jahren lässt sich neben der allgemein verstärkten massenmedialen Sensibilität für Patente auch ein zunehmender Protest gegen Patentierungsentscheidungen durch Protestgruppen und Nichtregierungsorganisationen beobachten. Soziale Bewegungen und Organisationen, die sich auf den ‚Patentprotest‘ spezialisieren, siedeln sich vor allem in zwei Bereichen an. Erstens protestieren sie gegen sogenannte „Genpatente“ oder „Biopatente“ („Patente auf Leben“) und klagen selbst gegen Entscheidungen, die als Grundsatzentscheidung als Anzeichen für eine Ausdehnung der Grenzen der Patentierbarkeit interpretiert werden könnten. Zweitens aktivieren internationale Nichtregierungs- und Protestorganisationen wie z.B. Greenpeace oder ATTAC gegen westliche Pharmaunternehmen, die versuchen, ihre – aus ihrer Sicht – verletzten Ansprüche aus Patenten für lebenswichtige Aids- oder Krebsmedikamente einzuklagen. Auch internationale Hilfsorganisationen wie die „Médécins sans frontières“ aktivieren menschenrechtliche Diskurse um die Legitimität der (ggfls.) legalen Ansprüche und versuchen, auf diesem Weg Einfluss auf die lokalen richterlichen Entscheidungen über Patentverletzungsklagen zu nehmen und Unternehmen zu einem Kalkül der Abwägung der Kosten einer Patentaufgabe gegen die Kosten des drohenden Imageverlusts zu bringen.47 Diese kurz vorgestellten Beispiele zu peripheren Akteuren, denen wir an verschiedenen Stellen dieser Arbeit wiederbegegnen werden, haben noch einmal die nicht ausschließliche, aber besonders enge Bindung des Patentsystems an die 46 Vgl. zu Technologietransfer und akademischem Patentieren auch unten S 356ff. 47 Vgl. etwa www.msf.org (Search: patents).
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Wirtschaft deutlich werden lassen. Die in der Peripherie des Systems laufende Beobachtung und Produktion von patentrechtlicher Kommunikation wird vor allem von (profitorientierten) Organisationen wie Unternehmen (und deren F&Eund Patentabteilungen) und Patentanwaltskanzleien gestaltet. Man könnte insofern auch formulieren, dass es sich bei diesen Systemen um Grenzstellen handelt.48 Sie formen strukturelle Kopplungen zwischen Recht und Wirtschaft und dienen in beide Richtungen als ‚Frequenzkonverter‘. Sie können insofern als Peripherie des Patentrechts oder Peripherie der Wirtschaft beschrieben werden, je nachdem in welche Richtung man beobachtet (s.u. im letzten Abschnitt dieses Kapitels).
Strukturelle Effekte der Unterscheidung von Zentrum und Peripherie Die Autonomie des richterlichen Entscheidens ist gesamtgesellschaftlich gesehen eine riskante evolutionäre Errungenschaft.49 Dies gilt zunächst für Recht schlechthin, lässt sich aber gerade auch an patentrichterlichen Entscheidungen beobachten. So entscheiden Patentrichter beispielsweise prinzipiell ohne Sensibilität für Folgen in der akademischen Wissenschaft, wenn sie bei der Interpretation des Erfindungsbegriffs zu dem Schluss kommen, dass „Entdeckungen“ innerhalb einer technischen Anwendung relativ leicht zu „Erfindungen“ umgestaltet werden können und dann in dieser Form dem Patentrecht zugänglich werden – mit weitreichenden oder zumindest häufig als weitreichend eingeschätzten Folgen für Selbstorganisation und Selbstverständnis der akademischen „Life Sciences“. Ferner haben patentrichterliche Entscheidungen ‚per default‘ kein Gehör für die wirtschaftlichen Konsequenzen, die von ihnen ausgelöst werden: Ob z.B. ein Biotech-Patent als unrechtmäßig erklärt und einem gesamten Unternehmen damit seine wirtschaftliche Grundlage entzogen wird, ist von einem Patentrichter nicht zu verantworten.50 Ferner weisen Entscheidungsträger im Pa48 Zum organisationstheoretischen Konzept der „Grenzstellen“ vgl. Luhmann 1964: S. 221; vgl. auch Tacke 1997. 49 Dies wird bei Luhmann verschiedentlich mit Nachdruck betont: „Die Göttin Evolution hat offenbar Mut gehabt – mehr Mut als ein Planer mit Voraussicht je hätte haben können. Sie kappt gesamtgesellschaftliche Vorgaben der Rechtsentscheidung – ohne sie zu ersetzen“ (Luhmann 1993: S. 328). 50 Hiermit ist nicht gesagt, dass Patentrichter als einzelne Psychen gegen die (eigene oder fremde) Beeinflussung in Richtung einer Berücksichtigung externer (wirtschaft-
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tentsystem und Dogmatiker regelmäßig den Anspruch von sich, ethischmoralische Erwägungen in den Entscheidungsprozess einfließen zu lassen: „Das Patentamt ist keine Ethikkommission“.51 Um diesen wichtigen Punkt noch einmal zu betonen: es wäre ein Fehlschluss, den organisatorisch-professionalisierten Kern des Patentsystems mit dem Patentsystem zu verwechseln. Dies liefe auf ein sehr einseitiges Bild des Patentsystems hinaus, welches einen Großteil der Patentkommunikationen und die Dynamik der nicht rechtlich organisierten Rechtsproduktion und -beobachtung nicht ausreichend analytisch erfassen könnte. Die zum Zentrum des Systems komplementäre Peripherie ist als derjenige Bereich aufzufassen, in dem die strukturellen Kopplungen des Systems, insbesondere zu den Forschungslaboratorien, Patentabteilungen und den beauftragten Anwaltskanzleien eingelassen sind. In diesen sich sehr dynamisch entwickelnden peripheren Bereichen wird neues technisches Wissen (Erfindungen) im Hinblick auf seine Inkludierbarkeit in die entscheidenden Systembereiche materiellrechtlich beobachtet und das Patentsystem an die vom wirtschaftlichen Profitabilitätskalkül voran getriebene Konkurrenz um Patente gekoppelt. Wir hatten diesen Abschnitt mit der differenzierungstheoretischen Leitthese begonnen, dass die Aus-Differenzierung des Patentsystems in wechselseitigem Zusammenhang mit der Binnen-Differenzierung des Patentsystems steht. Im Zuge der Entfaltung dieser These sind die Konturen von Autonomie und Interdependenzen des Patentsystems zum ersten Mal deutlicher hervorgetreten. Das System gliedert sich intern nicht hierarchisch, sondern Zentrum und Peripherie tragen auf komplementäre Art und Weise zur Autopoiesis des Systems bei. Hierarchie kommt dann nur noch im Zentrum selbst vor, aber weder als primärer Modus der patentrechtlichen Binnendifferenzierung noch als primäres Muster des Designs des Umweltverhältnisses – etwa im Sinne eines mitlaufenden Bedarfs der Bestätigung von sozialer Stratifikation durch patentrechtliche Entscheidungen. Dank dieser komplexeren Binnendifferenzierung immunisiert sich
licher) Folgen immunisiert, also z.B. nicht bestechlich sind. Entscheidender ist (soziologisch) der Sachverhalt, dass die Entscheidungsbegründung nur dem rechtlichen Gebot der Konsistenz (Gerechtigkeit) verpflichtet sein darf und nur diesbezügliche Argumentationshilfen zur Verfügung stehen. Ein Patentrichter kann nicht sagen: „Der in Frage stehende Patentanspruch wird aufrecht erhalten, weil anderenfalls die Investoren der Biotech-Firma X abspringen.“ 51 So äußerte sich der Patentjurist Joseph Straus in einem Zeitungsinterview (vgl. www.welt.de; Google-Suche nach „Straus + Patentamt + Ethikkommission“).
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das System gegen eine direkte Intervention von außen in die entscheidungsleitenden Strukturen: das System operiert im Modus normativer Schließung. Gleichzeitig macht sich das aber System in hohem Maße abhängig von seiner Umwelt, insbesondere von der wirtschaftlichen Umwelt forschungsintensiver Unternehmen. Vermittelt über periphere Kommunikationen, wird das System mit einem unaufhörlichen Strom an Patentanmeldungen konfrontiert, der es ständig durch technische Neuheiten und daran gekoppelte rechtliche Ansprüche (und deren Negation durch Patenteinsprüche und –klagen) irritiert: das System operiert im Modus kognitiver Öffnung. Am Patentsystem erhellt somit exemplarisch ein typischer Effekt von Differenzierung und Ausdifferenzierung. Direkte „Punkt-zu-Punkt-Abhängigkeiten“ im Verhältnis Patentsystem-Umwelt werden durch elastischere, zu höherer Komplexität ausbaubare Interdependenzen zwischen System und Umwelt ersetzt: Unabhängigkeit und Abhängigkeit des Patentsystems steigern sich wechselseitig, indem das System dank seiner Geschlossenheit Umweltoffenheit organisieren und aufrechterhalten kann: „L’ouvert s’appuie sur le fermé“.52 Im Folgenden wollen wir einen genaueren Blick auf das Verhältnis zwischen normativer Geschlossenheit und Umweltoffenheit des Systems werfen, in dem wir – weitestgehend am Beispiel des deutschen Patentrechts – die Frage diskutieren, mit welchen spezifischen patentrechtlichen Begrifflichkeiten das Patentsystem Irritationen aus seiner Umwelt konstruiert und in eine im System behandelbare Form bringt.
S PEZIFIKA PATENTIERTEN W ISSENS UND U NIVERSALITÄT DES B EOBACHTENS
DIE
Wir hatten weiter oben das Patentrecht mit anderen gewerblichen Schutzrechten und dem Urheberrecht verglichen. Diese Rechte teilen die übergeordnete Spezifik immaterieller Schutzrechte, neues, kreatives Wissen in Form eines Ausschließlichkeitsrechts zu schützen. Das Spezifische am Patentsystem ist, dass über die Schutzfähigkeit von Erfindungen kommuniziert wird. Das Gesetz, wir erinnern uns an den bereits oben zitierten ersten Paragraphen des Patentgesetzes zu „patentfähigen Erfindungen“, ist hier unmissverständlich: „Patente werden erteilt für Erfindungen“ und das heißt: nur für Erfindungen. Grundsätzlich patentierbar sind demnach nur Erfindungen. Dem Erfindungsbegriff kommt eine wei52 So die auch häufig bei Luhmann zitierte Formulierung Edgar Morins (Morin 1977: S. 201).
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chenstellende, programmatische Bedeutung für die Handhabung der internen Informationszufuhr, oder mit einem anderen, bereits mehrfach gebrauchten Begriff: für die Irritabilität des Systems zu. Von einem präzisen Verständnis des Begriffs erhoffen wir uns wichtige Aufschlüsse darüber, wie im System der Bezug zwischen der Patentnorm (Norm, Selbstreferenz) und dem geschützten Wissen (Fakten, Fremdreferenz) gehandhabt wird, um herauszuarbeiten, wie das Patentsystem eine spezifische Universalität in der Behandlung von Wissen ausbildet. Bevor wir näher auf den Erfindungsbegriff eingehen, müssen wir allerdings eine klärende Bemerkung zum Unterschied zwischen den Begriffen Patentfähigkeit und Patentierbarkeit einschieben.
Patentfähigkeit versus Patentierbarkeit Die Begriffe „Patentfähigkeit“ und „Patentierbarkeit“ werden häufig sprachlich nicht ausreichend auseinandergehalten, obwohl sie sehr Unterschiedliches meinen. Patentierbarkeit bezieht sich auf die Möglichkeit, dass Wissen überhaupt patentiert werden könnte, was vor allem impliziert, dass es sich um eine Erfindung und nicht etwa um ein Lied oder einen Limerick handelt. Patentfähigkeit bezeichnet demgegenüber den Sachverhalt, dass sich eine patentierbare Erfindung über ihre grundsätzliche Eignung hinaus auch des patentrechtlichen Schutzes effektiv würdig erwiesen hat. In seiner Monographie zum Begriff der Patentierbarkeit definiert der deutsche Patentrechtswissenschaftler Nack die Unterscheidung wie folgt: „Mit „patentierbar“ ist die grundsätzliche Eignung einer Erfindung gemeint, Gegenstand eines Patents zu sein – unbeachtet der Frage, ob sie die erforderliche Neuheit, erfinderische Tätigkeit und gewerbliche Anwendbarkeit aufweist. »Patentfähig« soll nach der hiesigen Diktion dagegen eine Erfindung sein, die nicht nur grundsätzlich patentierbar, sondern auch neu, erfinderisch und gewerblich anwendbar ist“ (Nack 2002: S. 8).
Systemtheoretisch ließe sich deshalb auch von einer zweistufigen Programmierung des Patentcodes sprechen. Bei Patentkommunikation geht es letztlich immer um die (entscheidbare) Frage, ob eine Erfindung patentfähig ist oder nicht, d.h. darum, ob die Erwartung, eine Erfindung exklusiv wirtschaftlich nutzen zu können, kontrafaktisch – ggfls. auch gegen Einsprüche und Nichtigkeitsklagen – aufrechterhalten werden kann. Die materiellen Voraussetzungen der Patentfähigkeit lassen sich dann als der Kern der patentrechtlichen Programmierung begreifen, der die schiere Selbstreferenz des Codes fremdreferentiell informiert und das System dadurch befähigt, zu Festlegungen zu gelangen: patentfähig oder
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nicht patentfähig. Das Kriterium der Patentierbarkeit wirkt hier wie ein Vorselektor, der den Kreis von Erfindungen, die genauer materiellrechtlich beobachtet und somit letztlich einem der beiden Codewerte zugeteilt werden, a priori massiv einschränkt.53 Patentierbarkeit läuft somit bei den meisten Patentkommunikationen latent mit, ohne explizit thematisiert werden zu müssen. Wird Patentierbarkeit allerdings ausdrücklich zum Thema der juristischen Argumentation – z.B.: lassen sich Geschäftsmethoden oder gentechnisch modifizierter Brokkoli patentieren? – ist dies bereits ein Symptom eines gesteigerten Bedarfs für das Reflektieren und Rekonsolidieren der Systemgrenzen inmitten einer dynamischen Umwelt technologischen Wandels.54
Der Erfindungsbegriff Technizität Patentrechtskommentare und Rechtsprechung verstehen unter einer Erfindung üblicherweise eine „Lehre zum technischen Handeln, um beherrschbare Naturkräfte zur Erzielung eines kausal übersehbaren Erfolges einzusetzen, ohne menschliche Verstandestätigkeit dazwischenzuschalten, wobei der kausal übersehbare Erfolg die unmittelbare Folge des Einsatzes beherrschbarer Naturkräfte ist“ (vgl. www.patentgesetz.de).
Von entscheidender, den Erfindungsbegriff von anderen Wissensformen abgrenzender, Bedeutung ist das Erfordernis der Technizität.55 Damit Wissen patentrechtlich überhaupt als Erfindung beobachtet, grundsätzlich patentierbar und somit (ggfls.) auch patentfähig werden kann, muss es sich um technisches Wis53 In diesem Sinne lässt sich Patentierbarkeit als analog zur Reputation im Wissenschaftssystem begreifen, die für ein hochselektives Wahrnehmen von wissenschaftlichen Beiträgen sorgt. Allerdings fungiert Patentierbarkeit nicht als kumulierbare symbolische Ressource, welche die individuelle Chance, als Zurechnungsadresse für den positiven Codewert (Patentfähigkeit) wahrgenommen zu werden, erhöht. 54 Vgl. auch Eisenberg 2006 als Analyse des Zusammenhangs zwischen „technological change“ und dem Wandel der „subject matter boundaries of the patent system“; wir kommen auf diesen Sachverhalt bei der Diskussion der International Patent Classification (IPC) zurück. 55 Vgl. als ausführlichen Überblick Schrader 2007.
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sen handeln, also um Wissen, das zur Lösung eines konkreten technischen Konstruktions- oder Anwendungsproblems benutzt wird („Lehre zum technischen Handeln“).56 Vor dem Patentgesetz geht es darum, zeigen zu können, was durch eine Erfindung technisch gelernt wurde bzw. verändert werden kann, und nicht darum, welche theoretische Einsicht hinter diesem Lernerfolg steckt. Was zählt, ist das technische Resultat.57 Patentrechtlich gesehen ist es nicht relevant, auf welchen (möglicherweise sogar falschen) theoretischen Prämissen das zum Schutz beantragte technische Wissen basiert. Es handelt sich dementsprechend bei Erfindungen definitionsgemäß nicht um wissenschaftliches Wissen: „Gegenstand eines Patents ist eine konkrete Lehre zum technischen Handeln, nicht die dazu gegebene theoretische Begründung. Ein Irrtum des Erfinders über die Wirkungsursachen ist unschädlich“ (Mes 1997: S. 5, Herv. C.M.).
Hiermit ist selbstverständlich weder etwas über die Qualität der funktionalen Referenz möglicher Anschlusskommunikation noch der psychischen Vorgänge in den beteiligten Personen gesagt. Wissenschaftliche Anschlußkommunikation beim Studieren von Patentschriften ist möglich und vielleicht mögen der Patentprüfer oder andere Beobachter auch stillschweigend über die fehlende theoretische Fundierung und das offenkundig fehlende wissenschaftliche Wissen eines Anmelders den Kopf schütteln; all dies ist jedoch nicht maßgeblich, wenn es um die patentrechtlich zu entscheidende Frage nach der Patentfähigkeit einer Erfindung geht. Diese sehr grundsätzliche Diskrepanz zwischen technischem und wissenschaftlichem (wahren) Wissen darf allerdings nicht über eine wichtige Gemein56 Die Systemtheorie beispielsweise verwendet einen ähnlichen Technikbegriff und spricht von einer „funktionierenden Simplifikation kausaler Zusammenhänge“, die buchstäblich sinn- und bewusstlos ist; vgl. zum systemtheoretischen Technikbegriff etwa Japp 1998, Luhmann 2000: S. 370ff.; siehe auch Passoth 2007 als Überblick zu sozialwissenschaftlichen Techniktheorien. 57 „It is of no consequence whether the thing be simple or complicated, whether it be by accident or by long laborious thought, or by an instantaneous flash of the mind, that it was first done. The law looks to the fact, and not the process by which it is accomplished“, heißt es bereits in einer US-amerikanischen Grundsatzentscheidung von 1825 (Beier 1985: S. 608). „A patent is not a hunting license. It is not a reward for the search, but compensation for its successful conclusion“, heißt es in einer weiteren vielzitierten Entscheidung im Fall Brenner vs. Manson (US Supreme Court 1966, zitiert nach Bakels 2005: S. 359).
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samkeit beider Wissenstypen hinwegtäuschen. Sowohl bei wissenschaftlichen als auch bei technischen Neuheiten wird gefordert, dass es sich um ein replizierbares und insofern objektives bzw. universal gültiges Forschungsergebnis handelt. Dieses muss für die jeweiligen Primäradressaten – dort den wissenschaftlichen „peer“ und die „scientific community“, hier den fiktiven „Durchschnittsfachmann“ des Patentgesetzes, den Patentprüfer – experimentell nachvollziehbar sein. Ist die Replikation des zum Patent angemeldeten Wissens nicht möglich, kann grundsätzlich kein Patent erteilt werden. In der Patentrechtsprechung hat das Postulat der Replizierbarkeit z.B. auch zu einer prinzipiellen Nichtsubsumierbarkeit von Züchtungsverfahren unter den Begriff der technischen Erfindung geführt, da insbesondere bei tierischen Züchtungen die Replizierbarkeit häufig nicht gesichert ist. Wir geben hier die in der deutschen Patentdogmatik maßgebliche Passage eines viel zitierten BGH-Urteils („Rote Taube“) ausführlich wieder, weil sie zusätzlich auch sehr gut über die in der Rechtsprechung und Systemreflexion immer wieder gesuchte Distanz zum Begriff des Monopols, informiert: „Es ist kein mit den Prinzipien des Patentrechts zu vereinbarender Grund ersichtlich, der es gestatten könnte, von dem Erfordernis der Wiederholbarkeit der zum Patent angemeldeten Verfahrenslehre abzusehen, weil das Ergebnis der Züchtung aus sich selbst heraus erbbeständig vermehrbar sei und somit eine Bereicherung der Allgemeinheit besser garantiere als eine Wiederholung der oft mühsamen und langwierigen Züchtung selbst. Wäre nämlich ein solches Verfahren nicht wiederholbar, so würde die „Bereicherung der Allgemeinheit“ allein in dem einmal erzielten tatsächlichen Ergebnis bestehen. Der Züchter gäbe dem Fachmann dann nicht eine Lehre, wie die neue Art herzustellen ist, sondern er würde die Allgemeinheit nur auf das zunächst allein in seiner Hand befindliche körperliche Züchtungsergebnis verweisen. An die Stelle einer Belehrung, wie jeder Fachmann zu dem gleichen Ergebnis gelangen kann, träte ein tatsächliches Monopol auf die Erzeugnisse, das allein aus dem einmaligen Züchtungsvorgang abgeleitet wäre. Eine solche Art der Monopolisierung ist dem Patentrecht fremd“ (GRUR 1969: S. 674, Herv. C.M.).58
58 „GRUR“ steht für „Gewerblicher Rechtschutz und Urheberrecht“, die Fachzeitschrift, in der dieses Urteil abgedruckt wurde; vgl. hierzu auch ausführlich Straus 1991. Man könnte bei dieser Gelegenheit systemtheoretisch versuchsweise formulieren, dass „Monopol“ als ‚Anti-Kontingenzformel‘ des Patentsystems fungiert. Der Begriff steht als Gegenbegriff kanonisch für eine immer und unter allen Umständen zu negierende ungerechte Ausbalancierung des privaten und öffentlichen Nutzens einer Patentierung: ein Exklusivrecht des Patentinhabers ohne das komplementäre Zugänglichma-
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Wir halten fest: Dem Patentschutz zugänglich ist lediglich technisches Wissen, das sich replizieren lässt. Mit dem Begriff der Technizität als Bestimmungskriterium der Erfindung legt sich das Patentrecht in vorentscheidender Weise bei der Spezifizierung der Bedingungen der Inkludierbarkeit von Wissen fest. Patentierbar sind immer nur „Lehren zum technischen Handeln“ und jede Erfindung muss dieser Anforderung genügen können, um als patentwürdig eingestuft werden zu können. Neben dieser grundsätzlichen Qualifikation von Patentierbarkeit über den Erfindungsbegriff definiert sich das Patentgesetz durch eine Reihe weiterer Abgrenzungen von anderen Wissensformen. Hierbei ist von besonderem Interesse, dass diese Demarkationslinien in den letzten Jahrzehnten in Richtung einer Ausweitung des Kreises der patentierbaren Gegenstände verschoben worden sind. Kriterien der Abgrenzung: wichtige Grundsatzentscheidungen Über die grundsätzliche definitorische Anbindung an Technik hinausgehend, grenzt das Patentgesetz den Begriff der Erfindung explizit von einer Reihe weiterer Begriffe ab und markiert somit auch explizit die Grenzen gegenüber anderen Wissens- und Schutzrechtstypen. So liest man unter den Absätzen (2) und (3) von §1 PatG: (2) Als Erfindungen im Sinne des Absatzes 1 werden insbesondere nicht angesehen: 1. Entdeckungen sowie wissenschaftliche Theorien und mathematische Methoden; 2. ästhetische Formschöpfungen; 3. Pläne, Regeln und Verfahren für gedankliche Tätigkeiten, für Spiele oder für geschäftliche Tätigkeiten sowie Programme für Datenverarbeitungsanlagen; 4. die Wiedergabe von Informationen (3) Absatz 2 steht der Patentfähigkeit nur insoweit entgegen, als für die genannten Gegenstände oder Tätigkeiten als solche Schutz begehrt wird.
„Entdeckung“ fungiert als die wichtigste Gegenbegrifflichkeit zur technischen Erfindung. Bei einer Entdeckung handelt es sich in patentrechtsdogmatischem
chen einer replizierbaren Erfindung für die „Öffentlichkeit“ ist patentrechtlich nicht begreiflich; vgl. auch Teubner in einem Beitrag zur rechtlichen Kontingenzformel Gerechtigkeit: „Kontingenzformel heißt: Negationsverbot, Kanonisierung, Unbestreitbarkeit“ (Teubner 2007: S. 306).
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Verständnis um das Auffinden eines auch unabhängig von einem technischen Schöpfungsakt ‚existierenden‘ natürlichen Sachverhalts oder lebenden Wesens, z.B. eines Naturgesetzes, einer Pflanze oder eines Tiers.59 Entdeckungen sind grundsätzlich nicht patentierbar. Die Unterscheidung von „Erfindung“ und „Entdeckung“ war zur Zeit der ersten Positivierungen des Patentrechts noch nicht gebräuchlich. Das US-amerikanische Patentrecht schützte gleichermaßen inventions and discoveries und in Frankreich schützte das Patentgesetz von 1791 inventions und découvertes. Die später konsolidierte rechtsdogmatische Differenzierung der beiden Begriffe lässt sich somit als ein wichtiges Moment in der Ausdifferenzierung des Patentrechts als eines auf den Schutz von nichtwissenschaftlichem Wissen spezialisierten Rechtssystems begreifen.60 Allerdings gerät die Unterscheidung in den letzten Jahrzehnten – forciert insbesondere von der durch wirtschaftliche Konkurrenz beschleunigte Forschungsdynamik in den „Life Sciences“ – verstärkt unter Druck. In der Praxis der bio- und gentechnologischen Forschung – die Bezeichnung als „technologisch“ legt das bereits nahe – lässt sich häufig kaum mehr trennscharf zwischen Erfindung und Entdeckung, Erkenntnis und ihrer Anwendung, unterscheiden (vgl. ausführlich Straus 1987): „In principle there is a clear divide between science and technology. In practice, there isn’t. In principle, while practical inventions can be patented, scientific findings can’t be. In practice, increasingly scientific findings are being patented“ (Nelson 2003: S. 455).
Dieser Sachverhalt hat – unterfüttert durch den hohen Grad institutioneller und persönlicher Verflechtung von Akademie und Industrie (etwa in Biotech-
59 Mit (radikal-)konstruktivistischen Kontroversen darüber, ob auch wissenschaftliche „Entdeckungen“ letztlich immer eine spezifische, theoretisch-methodische „Erfindung“ darstellen, müssen sich Juristen nicht belasten (vgl. etwa von Foerster 1985). 60 Vice versa wurde etwa in den Statuten der wissenschaftlichen Akademien in England und Frankreich (noch) nicht explizit zwischen Entdeckungen und Erfindungen, Wissenschaft und Technik/Mechanik, unterschieden. So heißt es in einem Entwurf zu den Statuten der „British Royal Society“ von 1662 bekanntlich: „The Business and Design of the Royal Society is: To improve the knowledge of natural things, and all useful Arts, Manufactures, Mechanick practices, Engynes and Inventions by Experiments – (not meddling with Divinity, Metaphysics, Moralls, Politicks, Grammar, Rhetorick, or Logick)“ (zitiert nach Ornstein 1975: S. 108, Anm. 63).
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Inkubatoren und Biotech-Cluster61) – mit der Anwendungsaffinität des produzierten Wissens zu tun. Man kann z.B. die Wirkweise von Insulin als Hormon zur Regulierung des Glukosespiegels im Blut entdecken: indem man es in einer spezifischen therapeutischen Anwendungs- und Darreichungsform als medizinisches Heilmittel anwendbar macht, hat man es aber als Antidiabetikum erfunden (Banting 1923; Sinding 2002). Besondere strukturelle Tragweite hat in diesem Zusammenhang eine 1980 gefällte Grundsatzentscheidung des Supreme Court in den USA erlangt. Die Rede ist vom Verfahren „Diamond v. Chakrabarty“, das unter dem Kürzel „Chakrabarty“ zum Symbol für die Patentierbarkeit biotechnologischer Erfindungen geworden ist (Kevles 1994). Angemeldet worden war im Jahr 1972 eine von Ananda Chakrabarty, einem Biochemiker bei General Electric, erfundene Bakterienkultur, die unter anderem in der Dekontaminierung von ölverseuchten Böden („oil-eating bacteria“) ein wirtschaftliches Einsatzgebiet finden sollte. Dieses Patent war auf einen Einspruch hin zunächst mit der Hauptbegründung abgelehnt worden, dass „living creatures“ per se nicht patentierbar seien. Letztinstanzlich hielt schließlich der Supreme Court das Patent mit der Begründung aufrecht, dass „Leben“ kein hinreichendes Argument für die Verweigerung von Patentansprüchen sei, solange diese den materiellen Schutzvoraussetzungen der Patentfähigkeit genügten: „A live, human-made micro-organism is patentable subject matter […]. Respondent’s micro-organism constitutes a „manufacture“ or „composition of matter“ within that statute.“62
Diese Rechtsprechung ist im Anschluss sukzessive in der Patenterteilungspraxis übernommen geworden.63 Bei einem weiteren in diesem Zusammenhang häufig
61 Man denke etwa an Silicon Valley oder Martinsried bei München, um bekannte Beispiele zu nennen; am Beispiel der Schweiz siehe auch Hasse/Passarge 2009. 62 Vgl. zum Hintergrund den Eintrag in der englischsprachigen Wikipedia-Seite (Search: Diamond Chakrabarty); siehe auch Kevles 1994. 63 Patentierungen und patentgerichtliche Urteile auf diesem Gebiet sind wie bereits angedeutet immer wieder Anlass zu einer ethischen Reflexion der Grundlagen und Grenzen des Patentsystems und sie sind Eckpunkte fortdauernder Diskussionen zu den (ethischen) Grenzen der Patentierbarkeit und auch des (z.T. als schädlich empfundenen) Einflusses des Patentrechts auf wissenschaftliche Kommunikationszusammenhänge, vgl. etwa Eisenberg 1987, Hughes 2001. Als erstes „Patent auf Leben“ gilt das
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zitierten Fall handelt es sich um das berühmt-berüchtigte US-Patent 4,736,866, das erste Patent, das auf einen lebenden tierischen Organismus, eine gentechnisch modifizierte Maus, erteilt wurde („Harvard oncomouse“). Auf diese Erfindung (Kritiker fragen: „Erfindung“?) wurde 1992 auch vom Europäischen Patentamt ein Patent erteilt; das Patent ist in der Folge wiederholt angefochten worden, um schließlich in einer Fassung mit eingeschränkten Patentansprüchen aufrechterhalten zu werden (Leese 1996, Kevles 2002). Einen weiteren wichtigen Grenzfall bei der Bestimmung des Erfindungsbegriffs stellt das weite und komplexe Feld von Computerprogrammen, Software, Datenverarbeitungsprogrammen etc. dar. Softwareprogramme und Algorithmen fallen nach herkömmlichem Verständnis unter das Regime des Urheber- und nicht des Patentrechts. Nach konventionellem Verständnis sind sie somit auch nicht „als solche“ (s.o. im zitierten Gesetzestext) patentierbar. Sie sind es aber dann, wenn sie einen „technischen Charakter“ aufweisen: „In Europe, patents have in general only been rewarded to inventions in the software area if they have a technical character, that is, in simple language, if they fulfill a function by means of a technical apparatus, if they are based on technical considerations, if they cause a technical effect or if they influence a physical characteristic of an apparatus. When we talk of patents on software- and computer-related inventions, then those inventions patentable in actual practice are meant“ (Blind/Edler/Friedewald 2005: S. 5).64
Auch hier sind Entscheidungen des US Supreme Court von ausschlaggebender Bedeutung bei der Flexibilisierung der Patentierbarkeitsbedingungen gewesen. Dort wurde zwar in einer häufig zitierten Grundsatzentscheidung des US Supreme Courts im Fall „Gottschalk vs. Benson“ (1972, vgl. Cardwell 1976) Software „als solche“, d.h. die zugrunde liegenden Algorithmen als nicht patentierbar definiert; allerdings erleichterten zwei weitere Folgeentscheidungen des Supreme Courts die Patentierung von computerimplementierten Erfindungen stark, wenn auch an der Verneinung der Patentierbarkeit von Algorithmen per se festgehalten wurde (Parker vs. Flook und Diamond vs. Diehr; vgl. z.B. Bauer-Mengelberg 1980, Blumenthal 1981). Die nationalen europäischen Patentämter und das Europäische Patentamt (EPO) sind in diesem Bereich zunächst sehr zögerlich geim Jahr 1873 Louis Pasteur für seine nicht folgenlos bleibende Erfindung eines Verfahrens zur Reinigung (Isolierung) von Bierhefe („levure isolée“) erteilte Patent. 64 Der bekannte Adobe-Reader, um ein Beispiel zu geben, ist durch mehrere Dutzende Patente geschützt: vgl. im Pull down-Menü „Hilfe“ den Menüpunkt „Info über Adobe Reader“.
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wesen. Allerdings lässt sich in den letzten Jahren eine graduelle Verschiebung der Erteilungspraxis und Patentrechtsprechung in Richtung der Inklusion von Softwareapplikationen und sogenannten „computerimplementierten Erfindungen“ unter den Erfindungsbegriff beobachten.65 In diesem Zusammenhang wird seit einigen Jahren insbesondere auch die Subsumierbarkeit von Geschäftsmethoden (business method patents) sowie Finanzmodellen und -instrumenten (financial instruments) unter den Erfindungsbegriff sehr kontrovers diskutiert und gehandhabt. De facto werden seit einigen Jahren, zunächst in den USA, dann auch in den Europäischen Staaten, Patente für Finanz- und Geschäftsmethoden erteilt. Auch hier ist die US-amerikanische Rechtsprechung Grundlage gewesen: Der amerikanische Court of Appeals for the Federal Circuit (CAFC), das US-amerikanische Pendant zum deutschen Patentgericht, entschied im Jahr 2001 im Verfahren „State Street Bank vs. Signature Financial Group“, weithin zitiert unter dem Kürzel „State Street“ („Street“), dass Geschäftsmethoden (bereits) dann patentierbar sind, wenn sie ein „useful, concrete and tangible result“ produzieren, und brach damit einer stupenden Patentierungsaktivität im Bereich von Geschäftsmethoden und Finanzierungsinstrumenten die Bahn. Allerdings hat eine im Jahr 2008 getroffene Entscheidung des CAFC („In re Bilski“) diese sehr stark ausgedehnte Interpretation von „patentable subject matter“ bzw. „patent eligibility“ partiell zurückgenommen (vgl. Schlicher 2009, Ocksrider 2009). Diese Entscheidung des CAFC ist vom Supreme Court im Jahr 2010 zwar bestätigt worden, allerdings nicht dahingehend, die Grenzen der Patentierbarkeit von Geschäftsmethoden grundsätzlich zu verneinen.66 Der kommende Abschnitt fasst auf der Grundlage dieser knappen Diskussion einiger wesentlicher Grundsatzentscheidungen zusammen, inwiefern dem Erfindungsbegriff eine für die Systemautonomie und -Dynamik tragende Rolle zukommt. Erfindung als „unbestimmter Rechtsbegriff“ Beim patentrechtlichen Begriff der Erfindung handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff. Was als Erfindung zählt, bestimmt sich nicht positiv, sondern nur ex negativo, d.h. es ist nur eindeutig definiert, was patentrechtlich 65 Siehe Mcqueen/Olsson 2003, Beysen 2003, insbesondere S. 60 ff; siehe ferner überblickend Leith 2007. 66 Vgl. die Argumentation unter www.supremecourt.gov (Search: „Bilski“); vgl. überblickend Lemley et al. 2011 und als historischen Überblick zum Kriterium der „patent eligibility“ bis zur Bilski-Entscheidung auch Sarnoff 2011.
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nicht als Erfindung zählen kann. Dieses Charakteristikum des Erfindungsbegriffs wurde auch in der Patentrechtsprechung mit Nachdruck hervorgehoben: „Eine historische Auslegung des Begriffs der „Erfindung“ kann […] im Patentgesetz um so weniger ausreichen, als es sich hier um den Zentralbegriff für ein Rechtsgebiet handelt, dessen vornehmlichste Aufgabe es ist, die nach dem jeweils neuesten Stand der Wissenschaft und Forschung patentwürdigen Ergebnisse zu erfassen. Es ist deshalb nicht nur erlaubt, sondern nach dem Sinn gerade des Patentgesetzes geboten, den jeweiligen Stand naturwissenschaftlicher Erkenntnisse zur Auslegung des vom Gesetzgeber nicht näher begrenzten und auch seinem Wesen nach an sich schon unbestimmten Begriffs der „Erfindung“ heranzuziehen“ (BGH 1969: S. 672, Herv. C.M.).
Das Patentsystem programmiert sich an dieser für den „evolutionären Drift“ des Systems maßgeblichen Funktionsstelle demnach bestimmt und unbestimmt zugleich. Indem lediglich negiert, aber nicht sachlich positiv bestimmt wird, was patentierbar ist, tritt ein Effekt generalisierter bzw. universalisierter Inklusion ein: außer dem explizit Negierten kommt dann für die Beobachtung der Patentfähigkeit zunächst alles in Betracht.67 Diese Elastizität des Erfindungsbegriffs sorgt dafür, dass das Funktionieren der Patentnorm sich nicht von einem bestimmten status quo in der naturwissenschaftlich-technischen Evolution abhängig macht, sondern mit der permanent voran getriebenen Wissensproduktion koevoluieren kann. Die nicht mehr überschaubare Anzahl von Kunstwerken, wissenschaftlichen Aussagen, Entdeckungen etc., die laufend produziert werden, ist dem Patentsystem dagegen nicht zugänglich und ‚rauscht‘ am System vorbei, so sehr wie auch z.B. das Format einer wissenschaftlichen Wahrheitsbehauptung einer Patentschrift ähneln mag (siehe nächstes Kapitel). Eine unter Umständen außerhalb des Systems als marginal eingestufte Änderung einer existierenden Erfindung (Verbesserungserfindung) oder der technische Einsatz von Softwarealgorithmen ist demgegenüber grundsätzlich patentierbar. Wird das für eine Patentierung beantragte Wissen als Erfindung eingestuft, gilt es bis auf wenige Ausnahmefälle grundsätzlich als patentierbar. Inwiefern eine Erfindung darüber hinaus auch patentfähig ist, d.h. in einen konkreten Patentrechtsanspruch konvertiert werden kann, erweist sich im Anschluss durch eine Prüfung der materiellrechtlichen Schutzvoraussetzungen. Damit sind wir beim Thema des nächsten Abschnitts.
67 Zur „Generalisierungsleistung“ von Negationen vgl. allgemein Luhmann 1981b: S. 37.
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Neuheit und der Stand der Technik: Universalität des Patents Die materiellen Schutzvoraussetzungen Die materiellen Schutzvoraussetzungen sind die maßgeblichen patentrechtlichen Hürden, die eine Erfindung überwinden muss, um als schutzwürdig, d.h. als patentfähig zu gelten. Sie sind die maßgeblichen Parameter, die im Einzelfall ausschlaggebend dafür sind, Patente anzumelden, Patente zu erteilen oder ihnen die Patentfähigkeit abzusprechen, Patente zu beklagen oder als nichtig zu erklären etc. In diesem Abschnitt wollen wir herausarbeiten, wie diese über das Kriterium der Patentierbarkeit (Technizität, Erfindung) hinausgehende Spezifizierung patentrechtlicher Kommunikationen mit einer Universalisierung des systemischen Kommunikationsraums einhergeht. Vergegenwärtigen wir uns einleitend noch einmal die basale Konditionalnorm des Patentgesetzes, sie formuliert die materiellen Schutzvoraussetzungen aus. Patente werden erteilt für Erfindungen, die „neu sind, auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhen und gewerblich anwendbar sind“.
Im folgenden widmen wir diesen Schutzvoraussetzungen ein genaueres Augenmerk. Wir beginnen mit der dritten Voraussetzung, die für die folgende Argumentation weniger wichtig ist, um uns im Anschluss auf die wesentlicheren Voraussetzungen „Neuheit“ und „erfinderische Tätigkeit“ zu konzentrieren. Gewerbliche Anwendbarkeit: Bei der gewerblichen Anwendbarkeit als der dritten materiellen Schutzvoraussetzung handelt es sich um eine Patentierungsbedingung, die sukzessive an Bedeutung verloren hat. Sie ist eine Residualkategorie der inzwischen überholten Patentierungsbedingung „Nützlichkeit“, die sowohl in der frühneuzeitlichen Patentprivilegienpolitik als auch in den Anfangszeiten der Patentgesetze noch in Gebrauch war und für den inzwischen weitestgehend aufgegebenen Anspruch stand, wirtschaftliche Innovativität als Bedingung für ein Patent zu behandeln. Symbolisierte der Begriff „nützlich“ demnach noch deutlicher den Anspruch, wirtschaftliche Folgen einer Patenterteilung abschätzen zu können, erfüllt die ‚schwache‘ Formulierung der „gewerblichen Anwendbarkeit“ nur mehr die Minimalfunktion der Abwehr von ‚spinnerten‘, nicht wirtschaftlich innovationsfähigen Erfindungen.68
68 Die Anmeldung wirtschaftlich völlig irrelevanter Erfindungen ist heute ferner aus dem eher pragmatischen Grund der hohen Anmeldekosten und jährlich progressiv steigenden Patentaufrechterhaltungsgebühren unwahrscheinlich geworden.
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Diese faktische patentrechtliche Irrelevanz der dritten Schutzvoraussetzung ist nicht gleichbedeutend mit einer wirtschaftlichen geringen Relevanz patentierter Erfindungen. Selbstverständlich ist das Gegenteil der Fall: die enge strukturelle Kopplung zwischen dem Patentsystem und wirtschaftlichen Interessen kann heute vielmehr ungefragt vorausgesetzt und muss nicht mehr in den zentralen patentrechtlichen Begrifflichkeiten untergebracht werden. Ferner verweist das Irrelevantwerden dieser Schutzvoraussetzung auf die Verselbstständigung der Patentnorm gegenüber dem Einfluss politisch-staatlicher Interessen und der Indienstnahme im Rahmen von wirtschaftspolitischen Interventionen. Die Frage, ob ein einzelnes Patent „nützlich“ ist (für wen und aus wessen Perspektive eigentlich?) kann nur mehr im wirtschaftlichen Marktgeschehen selbst entschieden werden, ist aber keine Angelegenheit patentrechtlichen Entscheidens. Das Patentsystem hat keinen direkten Einfluss auf die wirtschaftliche Auswertbarkeit von Patenten; das Patent ist bestenfalls eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für den Erfolg einer wirtschaftlichen Innovation am Markt.69 Neuheit: Der patentrechtliche Neuheitsbegriff, so formuliert Edward C. Walterscheid, liegt „at the heart of the patent system“ (Walterscheid 1993: S. 689). Für altes Wissen sind keine Patentrechte zu haben. Bei allen fortdauernden Divergenzen zwischen nationalstaatlichen Rechtsordnungen: Das Erfordernis Neuheit wird heute ausnahmslos von allen Patentgesetzen geteilt (vgl. überblickend Loth 1988). Das Patentsystem hat demnach mit den meisten Funktionssystemen eine dezidierte strukturelle Präferenz für Neuheit gemeinsam. Besonders augenfällig ist hier die Verwandtschaft mit dem Wissenschaftssystem, das sich ebenfalls ganz der Hervorbringung von Neuheit verschrieben hat. Von jedem neuen Kommunikationselement (Artikel, paper) wird der (wie immer minimale) Beitrag einer neuen Einsicht, einer neuen Erkenntnis, neuer Daten etc. erwartet und für das schiere Reproduzieren schon existierenden Wissens kann keine Reputation aufgebaut werden. Die materiellrechtliche Forderung nach neuen Erfindungen legt die kontraintuive Interpretation nahe, dass es auch alte Erfindungen geben kann. Diese „Tautologie“ (Mintz 1903: S. 372) wird dahingehend aufgelöst, dass eine Erfindung
69 „The patent system does not require a finished, commercially relevant invention. It only requires something that works“ (Kitch 1977: S. 270f.). Im Umkehrschluss kann man Erfolg am Markt haben, ohne daraus einen Anspruch auf ein Patent ableiten zu können oder ein Patent angewiesen zu sein. Eine (wirtschaftlich erfolgreiche) technische Innovation ist nicht dasselbe wie eine (patentfähige) Erfindung, auch wenn sie häufig auf einer oder mehreren Erfindungen beruht.
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für den Erfinder subjektiv (psychisch) neu sein kann, objektiv allerdings als alt zu kennzeichnen ist, wenn sie zum Zeitpunkt der Patentanmeldung bereits in Form anderer Patentschriften oder sonstiger Publikationen öffentlich bekannt sein konnte und somit ein anderer für sie Priorität beanspruchen kann. In kommunikationstheoretischen Termini könnte man dann formulieren, dass sich die im Patentrecht verankerten strukturellen und semantischen Bedingungen des Erfolgs vom subjektiven Erfolgserlebnis („Heureka“) des Erfinders abkoppeln. Subjektiv empfundene Neuheit und objektive Neuheit im Sinne einer nachweislich prioritären und eindeutig zurechenbaren Kommunikationsleistung treten strukturell auseinander: „Ob der Erfinder das, was er, vielleicht in heißem Bemühen, zutage gefördert hat, für etwas bisher noch nicht Dagewesenes hält, ist für die Mitwelt ohne jedes Interesse. […] Wenn daher für die Erfindung das Erfordernis der Neuheit aufgestellt wird, so ist darunter nicht die subjektive, sondern nur die objektive Neuheit zu verstehen“ (Damme/Lutter 1925: S. 164, Herv. i.O.)70
Wer diese Differenz zwischen subjektivem Erleben neuen Wissens und öffentlicher Dokumentation patentierten Wissens nicht hinreichend unter Kontrolle hat, macht (immer häufiger) die unangenehme Erfahrung, dass man Zeit und Geld in eine Erfindung investiert hat, die keinerlei Chance auf Patentfähigkeit mehr hat und somit nicht in eine exklusive Marktposition konvertiert werden kann. Oder – nicht weniger problematisch – man benutzt eine ‚eigene‘ Erfindung auf dem Markt, ohne sich der Tatsache bewusst zu sein, dass damit bereits existierende Schutzrechte für eben diese schon existente Erfindung verletzt werden, sei es weil man sich selbst (kontrafaktisch) für innovativer als die Konkurrenz gehalten und eine Vergewisserung hinsichtlich objektiver Priorität für überflüssig befunden hatte oder man bei der Patentrecherche zu oberflächlich vorgegangen war. Der Neuheitsbegriff und der darin angelegte Prioritätszwang induziert damit vor allem in systematisch patentierenden Unternehmen eine ‚phänomenale Para70 Dieses auf öffentliche Verfügbarkeit abstellende Neuheitsverständnis des Patentrechts steht gleichzeitig für den Bruch mit einer personen- und naturrechtlichen Begründung des Patentschutzes und richtet den Neuheitsbegriff am volkswirtschaftlichen Ziel der effizienten Allokation von Wissen aus: „Der deutsche Gesetzgeber hat demnach das Interesse der Allgemeinheit über das Einzelinteresse des Erfinders gestellt, denn letzterer verdient nur dann die Belohnung durch Gewährung eines Auschließungsrechts, wenn die erfundene technische Lehre vorher nirgendwo offenbart gewesen ist“ (Held/Loth 1995: S. 220).
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noia‘, die sich darin ausdrückt, dass man versuchen muss, alles was auf einem wichtigen technologischen Gebiet relevant sein könnte, zu beobachten und im Hinblick auf die Relevanz für das eigene Unternehmen zu evaluieren (vgl. Kapitel 7 zu „patent monitoring“). Erfinderische Tätigkeit: Die Schutzvoraussetzung „erfinderische Tätigkeit“ stellt eine mittlerweile von den meisten Patentgesetzen berücksichtigte Verschärfung des Neuheitsanspruchs dar. Auch dieses Kriterium klingt zunächst tautologisch: um patentfähig zu sein, muss eine Erfindung erfinderisch sein. Damit ist gemeint, dass eine patentfähige Erfindung nicht lediglich aus einer unmittelbar nachvollziehbaren Kombination früherer Erfindungen und somit einer kleinformatigen Verbesserung bestehen darf, sondern sich auf kreative und überraschende Art und Weise vom bekannten technischen Wissen, dem „Stand der Technik“, abheben muss. Die Erfindung muss zusätzlich zur Neuheit auf eine originelle Leistung zurechenbar sein oder mit einem anderen, heute seltener gebrauchten Begriff: sie muss „Erfindungshöhe“ aufweisen.71 Das Zusatzkriterium der erfinderischen Tätigkeit verkompliziert den Entscheidungsfindungsprozess im Patentierungsverfahren wesentlich, da sich hierüber nicht vollkommen eindeutig, etwa durch das routinehafte Anwenden standardisierter Prüfregeln, entscheiden lässt. Die patentrechtliche Entscheidung über erfinderische Tätigkeit ist vielmehr „notwendig subjektiv“ (Zitscher 1997: S. 262) und entzieht sich einer sachlich eindeutigen Auslegung.72 Einige Juristen
71 Vgl. den interessanten Überblicksaufsatz zur „Erfindungshöhe“ von Beier, in dem ein US-amerikanisches Grundsatzurteil zitiert wird: „The improvement is the work of the skillful mechanic, not that of the inventor“, so der Supreme Court in Sachen „Hotchkiss v. Greenwood“ im Jahr 1850 (Beier 1985: S. 608). Dieses Urteil, das eine naheliegende Verbesserung als nicht ausreichend für die Patentfähigkeit auffasst, gilt als Geburtsstunde des Kriteriums der „non-obviousness“; der deutschsprachliche Begriff der „Erfindungshöhe“ wurde in Wirth 1906a geprägt. 72 „This goes a little bit into philosophy“, so die diesbezügliche Aussage eines Patentprüfers am Europäischen Patentamt in einem Interview (vgl. Int.-Nr. 26). Es gibt allerdings verschiedene Ansätze, die Entscheidungsfindung durch (semi-)quantitative methodische Entscheidungsregeln zu unterstützen. Bekannt ist der TSM-Test (Teaching-suggestion-motivation), der die Erfindungshöhe beim Vorliegen einer besonderen „suggestion“ oder „motivation“, die neue Erfindung aus dem Stand der Technik abzuleiten, verneint; in diesem Kontext hat es in den letzten Jahren eine wichtige Grundsatzentscheidung des US Supreme Court gegeben (KSR. v. Teleflex), von der für einige Branchen, insbesondere Pharma, eine Einschränkung des Bereichs patentfähiger
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sehen daher im Kriterium „erfinderische Tätigkeit“ bzw. der „non-obviousness“ auch das „principal issue of patentability“: „As most patents can meet the comparatively liberal requirements of utility and novelty, non-obviousness is the most frequently dispositive patentability issue, occupying the heartland of patent law“ (James 2005: 67f.).
Zwecks einer besseren Handhabung des Kriteriums sind verschiedene juristische Hilfskonstruktionen entwickelt worden. Das deutsche Patentrecht führte zur Beurteilung des Kriteriums der erfinderischen Tätigkeit z.B. die „Fiktion“ des „Durchschnittsfachmanns“ ein, für den sich die Erfindung nicht in „naheliegender Weise“ aus dem zum Zeitpunkt der Anmeldung verfügbaren Wissen (stateof-the-art) ergeben darf. Das US-amerikanische Patentrecht spricht sinngemäß von der „person having ordinary skill in the art“ (PHOSITA), dem Idealtypus des „patent examiners“, für den die Erfindung „non-obvious“ sein müsse (nonobviousness).73 Die Einführung der Schutzvoraussetzung „erfinderische Tätigkeit“ lässt sich historisch als eine ‚Immunreaktion‘ des Patentsystems auf den starken Anstieg von Patentanmeldungen interpretieren. Der inflationären Spirale von Patentansprüchen, die sich – forciert durch Portfoliostrategien patentintensiver Unternehmen – über die Peripherie in das Patentsystem hineindreht, setzt das System in seinem Entscheidungszentrum anspruchsvollere Standards der Patentfähigkeit entgegen. Das Kriterium der erfinderischen Tätigkeit gilt als „Korrektiv des Patentrechts“ (Koch 2008) und zielt unter anderem darauf ab, die Entscheidungsorgane im Patentsystem (v.a. das Patentamt) in quantitativer Hinsicht zu entlasten: kleinformatige Verbesserungen im Rahmen der „normalen technologischen Erfindungen erwartet wird (s. hierzu Eisenberg 2008). Häufig zitiert wird ferner auch der Fall „Graham et al. vs. John Deere“, in dem der US. Supreme Court 1966 eine Reihe von Faktoren für die Prüfung von non-obviousness – bekannt geworden als „graham factors“ – definierte (Kitch 1967). 73 Ähnliche dogmatische Konstruktionen lassen sich in anderen Rechtsbereichen beobachten. So kennt etwa die Rechtsprechung zum Straßenverkehrsgesetz den „Idealfahrer“. Diese Legalfiktion bezieht sich auf den Sachverhalt, dass der Fahrzeugführer im Falle des Entstehens eines Personen- oder Sachschadens während der Benutzung eines Kraftfahrzeugs dann nicht in Gefährdungshaftung genommen werden kann, wenn das eingetretene Ereignis unter Berücksichtigung des von ihm erwartbaren Verhaltens als „unabwendbar“ (durch höhere Gewalt verursacht) interpretiert werden muss; mit anderen Worten: wenn er sich wie ein „Idealfahrer“ verhalten hatte.
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Entwicklung“ sollen dem Patentschutz nicht zugänglich sein. Vorschläge zur Reformierung des Patentsystems nehmen daher auch häufig an der Änderung dieses Kriteriums ihren Ausgangspunkt und plädieren für eine weitere Erhöhung der Ansprüche („raising the bar“), wovon man sich eine weitere Entlastung der Patentämter, eine Reduzierung von Patentstreitigkeiten sowie eine bessere Balance zwischen dem privaten und öffentlichen Nutzen von Patenterteilungen erhofft (vgl. überblickend Mandel 2008). Diese patentrechtliche Erwartung einer qualitativ besonderen, überraschenden Neuheit verdeutlich eine interessante Verwandtschaft zwischen Patentkommunikationen und Kommunikationen im Kontext der Kunst. Ähnlich wie Erfindungen müssen auch Kunstwerke nicht nur neu, sondern auch auf eine überraschende, besonders kreative („geniale“) Leistung zurechenbar sein, um sich in der Kunstkommunikation durchsetzen zu können.74 Besonderen Nachklang hat die Forderung des – zum damaligen Zeitpunkt tendentiell patentavers eingestellten – US Supreme Courts entfaltet, dass eine Erfindung ein besonders überraschendes und kreatives Moment, einen „flash of creative genius“ aufweisen müsse (vgl. Beier 1985 zu dieser im Jahr 1941 getroffenen Entscheidung im Fall „Cuno Engineering v. Automatic Devices“). Im Gegensatz zum Beobachten in der Kunst können Akteure im Patentsystem – Patentanmelder, Patentprüfer, Patentrichter etc. – allerdings nicht mit „gutem Geschmack“ oder „Stilsicherheit“ argumentieren oder kokettieren, sondern müssen andere Argumente für den Nachweis des ‚Besonderen‘ an einer Erfindung entwickeln. Sie recherchieren und interpretieren, ob und inwiefern eine Erfindung sich in signifikanter Weise vom Stand der Technik abhebt.
Der „Stand der Technik“ und der absolute Begriff der Neuheit Die Schutzkriterien Neuheit und erfinderische Tätigkeit werden bisweilen auch „relative Patentierungsvoraussetzungen“ genannt. Diese Bezeichnung bezieht sich auf das von ihnen geteilte Definitionsmerkmal, dass sie von der Erfindung eine (hinreichende) Differenz in Relation zum vorherrschenden Stand des Wissens, dem „Stand der Technik“ – im Englischen „state of the art“ oder „prior 74 „Es liegt im Sinn des Neuen und Überraschenden, daß es nicht als Regelanwendung definiert werden kann. Die Kriterien müssen also entsprechend unbestimmt bleiben. Der Verweis auf die Sozialdimension ersetzt die fehlende Spezifikation in der Sachdimension“ (Luhmann 1989a: S. 203); vgl. auch interessant Thill 2004 zu „intersections between contemporary art and utility patents“.
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art“ – verlangen. Im deutschen Patentrecht findet man hierzu die folgenden Bestimmungen: „Eine Erfindung gilt als neu, wenn sie nicht zum Stand der Technik gehört“ (§ 3 Abs. 1 PatG, Herv. C.M.). „Eine Erfindung gilt als auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhend, wenn sie sich für den Fachmann nicht in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergibt“ (§ 4 PatG, Herv. C.M.). „Der Stand der Technik umfaßt alle Kenntnisse, die vor dem für den Zeitrang der Anmeldung maßgeblichen Tag durch schriftliche oder mündliche Beschreibung, durch Benutzung oder in sonstiger Weise der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sind“ (§ 3 Abs. 1 PatG, Herv. C.M.).
Unmittelbar augenfällig ist der hohe Grad der Unbestimmtheit, der auch diesem patentrechtlichen Begriff eigen ist. Dekliniert man die Zitate im Hinblick auf die drei „Stellen“ des systemtheoretischen Kommunikationsbegriffs durch (vgl. Luhmann 1984, Kap. 4), lassen sich die Implikationen dieser begrifflichen Unbestimmtheit besser nachvollziehen. Weder die Art des mitgeteilten Wissens („alle Kenntnisse“ – Information), noch die Art und Weise des Zugänglichmachens dieser Kenntnisse („Beschreibung“, „Benutzung“, „sonstige Weise“ – Mitteilung), noch die Umstände der Rezeption oder der Empfängerkreis („der Öffentlichkeit zugänglich gemacht“ – Verstehen) sind substantiell definiert. Neuheits- und damit patentschädlich kann somit jede technische Information werden, die vor der Patentanmeldung zugänglich war, unabhängig davon, von wem, wann und unter welchen Umständen sie der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden war. (Druck-)schriftliche Kommunikationsformen, vor allem Patentoffenlegungen und Patentschriften, machen den Großteil der materiellrechtlich relevanten Veröffentlichungen aus. Weitere wichtige druckschriftliche Medien stellen technische Zeitschriften und Fachmagazine und wissenschaftliche Journals dar. Allerdings ist der patentrechtliche Begriff der Öffentlichkeit nicht kategorisch an die Druckschriftlichkeit der Publikationen gebunden. Auch eine Vorlesung in einem kleineren Hörsaal oder ein mündlicher Vortrag in einem größeren Raum kann bereits dann patentrechtlich als öffentlich gewertet werden, wenn der Zuhörerkreis nicht unmittelbar überblickt werden konnte. Ferner gibt es keine sprachlichen Einschränkungen (à la: nur Englisch und Schwedisch, aber auf keinen Fall Chinesisch oder Finnisch) oder Abstufungen der Prominenz bzw. ‚Durchschlagskraft‘ eines Veröffentlichungsorgans oder Autors (à la: nur ab impact factor 1,345 oder Hirschfaktor 12). Dies impliziert, dass prinzipiell auch Inhalte von
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abseitigen kleinen Lokalzeitungen für die Einschätzung von Patentfähigkeit eine entscheidende, neuheitsschädliche Rolle spielen können.75 Seit einigen Jahren wird auch das Internet zu einer immer relevanteren Quelle bei der Beobachtung der Patentfähigkeit von Erfindungen. Große Unternehmen wie z.B. das Pharmaunternehmen Merck unterhalten internetbasierte Wissensplattformen wie den Merck Gene Index, auf dem möglicherweise patentrelevantes neues gentechnologisches Wissen publiziert, dadurch zum Stand der Technik wird und somit seine Patentfähigkeit eindeutig verliert.76 Nicht zuletzt zählt auch die öffentlich sichtbare Anwendung einer Erfindung (Vorbenutzung) zum Stand der Technik. Dies kann z.B. schlicht die Vermarktung und in diesem Sinne öffentliche Zugänglichmachung der Erfindung bedeuten. Auch hier ist das entscheidende Kriterium nicht, dass die Erfindung notwendigerweise sehr großen Kreisen von Dritten effektiv zugänglich war, sondern lediglich, dass für einen unbestimmten Personenkreis die Möglichkeit der Kenntnisnahme bestand.77 Mit einer Spur Übertreibung könnte man demnach davon sprechen, dass sich der „Prüfstoff“ auf das „gesamte praktische technische Wissen der Menschheit“ (Wagner 1982: S. 33) bezieht. Es fließt alles (technische) Wissen ein, von dem beliebige Dritte, die „Öffentlichkeit“, vor dem Zeitpunkt einer Patentmeldung,
75 Insbesondere diese Unbestimmtheit hat häufig Kritik auf sich gezogen, weil sie Patentstrategen dazu provoziert, neuheitsschädliche Informationen in abseitigen Organen zu ‚verstecken‘, um dann nach einer erfolgten Patenterteilung die eigene Publikation als neuheitsschädliche Entgegenhaltung hervorzuholen und eine Patentklage anzustrengen. Ein Autor fordert daher, den Begriff der Stand der Technik mit dem Kriterium der „qualifizierten Ermittelbarkeit“ zu definieren, um somit etwa zu verhindern, daß eine Druckschriftlegung einer technischen Information im „Annoncenblatt des Münchner Gärtnerplatz Viertels“ zum Stand der Technik werden könne (Bossung 1978: S. 390, 1990); zur „Guerilla-Strategie“ des Publizierens vgl. auch unten in Kap. 7 ( S. 341). 76 Vgl. Klicznik 2007 (v.a. S. 81ff.) als detaillierte patentrechtliche Würdigung des Internets als neuer Quelle für die Offenbarung (disclosure) technischen Wissens; siehe ferner van Staveren 2009 zur Frage der Neuheitsschädlichkeit von Beiträgen auf Preprint-Servern wie arXiv.org. 77 So sind z.B. bereits technische Apparaturen auf einer Baustelle, die während ihrer Benutzung beobachtet werden konnten, als Stand der Technik und damit als neuheitsschädlich bewertet worden. Für diesen Hinweis bedanke ich mich bei Karl-Heinrich Schütt (vgl. Int.-Nr. 21); zum patentrechtlichen Begriff der Vorbenutzung siehe auch Aúz Castro 1996 und Sosnitza 2008.
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dem Prioritätstag, Kenntnis nehmen konnten, weil es nach patentrechtlichem Verständnis der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden war: „Der Begriff ‚Stand der Technik‘ ist allumfassend, Beschränkungen in gegenständlicher, räumlicher oder zeitlicher Hinsicht bestehen nicht“ (Held/Loth 1995: S. 220).
Fasst man die beiden diskutierten materiellen Schutzkriterien „Neuheit“ und „erfinderische Tätigkeit“ unter einem Überbegriff (qualifizierter) Neuheit zusammen, wird deutlich, dass das Patentrecht auf einem absoluten Neuheitsbegriff basiert. Diese Absolutheit ist in der Kopplung des patentrechtlichen Neuheitsverständnisses an den Begriff des Stands der Technik angelegt: Die Universalität des „Stands der Technik“ impliziert eine korrespondierende Universalität des Neuheitsbegriffs. Neuheitsschädlich ist heute demnach (fast) alles. Dieser auf die Spitze getriebene Abstrahierung und Verabsolutierung des Neuheitsbegriffs korrespondiert ein legislatives Bekenntnis zu einem an wirtschaftlicher Steuerung und nicht an Gerechtigkeits- und Belohnungskriterien orientierten Patentrechtsdesign. Prämiert wird aus Sicht der Patentrechtsdogmatik weniger die subjektive Leistung (das „heiße Bemühen“) des Patentsuchenden, sondern vielmehr die (unterstellt) effiziente Allokation von Forschungsressourcen, insofern ähnlich gelagerte Bemühungen Dritter noch nicht eine ähnliche Erfindung hervorgebracht und zugänglich gemacht haben. Ergibt allerdings eine Patentrecherche, dass dies der Fall ist, handelt es sich definitiv um „neuheitschädlichen Stand der Technik“, und dies gilt – hier wird die Distanzierung von Theorien der Erfinderbelohnung besonders deutlich – selbst dann, wenn diese Vorveröffentlichungen von derselben Person stammen.78 Es ist allerdings eine wesentliche Einschränkung der Universalität des Begriffs zu beachten, die mit der Notwendigkeit, Prioritäten eindeutig feststellen zu müssen, zusammenhängt. Der „state of the art“ bezieht sich immer auf ein zu78 „Die schonfristlose Einbeziehung eigener Vorverlautbarungen auch bei der Beurteilung der Erfindungshöhe […] machen den absoluten Neuheitsbegriff in seinen Auswirkungen daher absoluter als er es in irgendeinem Patentrecht der Welt jemals war“ (Bossung 1978: S. 382). Diese (schmerzliche) Erfahrung machen mitunter auch akademische Wissenschaftler, die ihre Erfindung vor der Anmeldung bereits publiziert hatten. Das Patentrecht der USA beispielsweise sieht für Wissenschaftler eine einjährige Neuheitsschonfrist (grace period) vor, die es ihnen ermöglicht, vor einer Patentanmeldung, Forschungsergebnisse ohne neuheitsschädliche Wirkung zu publizieren (vgl. unten S. 169f.).
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rückliegendes Datum, nämlich das Datum der Patentanmeldung. Der Stand der Technik ist demnach bei der Patentprüfung oder einer Patentklage immer als eine retrospektive Größe zu sehen, er ist insofern immer fiktiv. Dieses Moment legaler Fiktionalität und Retrospektivität des Beobachtens unterscheidet den patentrechtlichen Stand der Technik und dessen Beobachtung innerhalb der Patentkommunikation wesentlich von der Wissenschaft. Dort macht es grundsätzlich – wir sehen hier von Ausnahmen ab – wenig Sinn, eine Wissensbehauptung mit einem fiktiven, manchmal Jahre vergangenen Wissensstand abzugleichen und die inzwischen gemachten Fortschritte dabei auszublenden. Aus der Absolutheit und Abstraktheit des patentrechtlichen Neuheitsbegriffs resultiert damit eine Verpflichtung auf ein unbegrenztes und vollumfassendes Beobachten des technischen Wissensfortschritts, der de facto nicht nachgekommen werden kann. Patentrechtlich ist es unerheblich, ob jemand effektiv Kenntnis von einer Veröffentlichung genommen hat. Maßgeblich für die Beantwortung der Frage, was am Prioritätstag zum Stand der Technik zählte, ist die gänzlich entsubstantiierte abstrakte Möglichkeit der Kenntnisnahme. Der „Stand der Technik“ ist somit eine kommunikative Kategorie, der keine psychischen und handlungsbezogenen Realitäten des Wissens, Überprüfens und Überblickens mehr gerecht werden können. Er ist eine „legale Fiktion“. Ob eine Erfindung, für die Patentansprüche geltend gemacht werden, tatsächlich neu ist, lässt sich (ebenso wenig wie ein wissenschaftlicher Wahrheitsanspruch) auch anhand einer noch so ausführlichen Patentprüfung nicht positiv beweisen, sondern immer nur bis auf weiteres annehmen oder negieren (falsifizieren). Juristisch gesprochen gilt das Prinzip der Beweislastumkehr, das heißt ein erteiltes Patent kann nur dann zu Fall gebracht werden, wenn der Kläger Beweise gegen die Patentfähigkeit, z.B. in Form von neuheitsschädlichen Entgegenhaltungen, vorbringen kann. 79
79 Ein Seitenblick auf das Erziehungssystem mag den Abstraktionsgrad dieses öffentlichkeitsbasierten Neuheitsbegriffs noch einmal hervorheben. Im Fall von schulischen Prüfungen geht es gerade nicht um abstrakte Neuheit, sondern ausschließlich darum zu zeigen, ob der Schüler imstande war, sich vorhandenes Wissen anzueignen und rekonstruktiv zu verarbeiten. Entscheidend bei einer Prüfung zu Kurvendiskussionen oder einem statistischen T-Test ist immer wieder die individuell hervorgebrachte Leistung – unabhängig davon, wie viele Generationen sich bereits in Gymnasium und Vorlesung mit diesem Thema auseinandersetzen durften. Mit einer anderen, bereits oben zitierten Wendung: Es zählt das „heiße Bemühen“ des Schüler oder Studenten. Die Produktion von (absoluten) Neuheiten durch Schüler irritiert viel mehr und wird
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Dieser Prämisse universaler Öffentlichkeit kann sich kein Akteur im Kontext des Patentsystems entziehen. Ob man Patente anmelden möchte, dienstlich zu ihrer Prüfung angehalten ist, gerichtlich über einer Patentklage sitzt, strategisch entscheiden muss, Publikationen als Instrument der Neuheitsschädlichkeit einzusetzen etc.: unausweichlich läuft die Erwartung der materiellrechtlichen Relevanz alles schon Bekannten bzw. aller den state-of-the-art modifizierenden Handlungen mit. Man sieht hier am Beispiel des Patentsystems sehr gut den „Unterstellungscharakter“ und die abstrakte Integrationskraft, die von Öffentlichkeit ausgeht. Die Öffentlichkeit des Patentsystems ähnelt in diesem Sinne der „öffentlichen Meinung“ des politischen Systems bzw. anderen funktionssystemspezifischen Öffentlichkeiten, die sich über die Unterstellung, für eine gemeinsame Sache zu streiten, um dasselbe knappe Gut zu konkurrieren, sportliche oder ästhetischkünstlerische Leistungen zu beurteilen etc., strukturell integrieren, ohne dass es einer effektiven Vernetzung zwischen diesen Akteuren bedürfte;80 wir kommen im fünften und im sechsten Kapitel unter globalisierungs- und ausdifferenzierungstheoretischen Vorzeichen ausführlich auf die wichtige strukturelle Rolle, die Öffentlichkeit für das Patentsystem spielt, zurück.
F AZIT : A UTONOMIE , I NTERDEPENDENZ , STRUKTURELLE K OPPLUNG Zusammenfassung: Abhängigkeit und Unabhängigkeit Das Patentsystem ist als Teilsystem des Rechtssystems ein operativ geschlossenes und insofern autonomes Teilsystem der modernen Gesellschaft. So viel ließ sich eingangs dieses Kapitels sagen bzw. behaupten. Die Frage, die wir im Verlauf dieses Kapitels empirisch zu beantworten versucht haben, lautete im Anschluss an diese systemtheoretische These, inwiefern man sinnvoll von Autonomie und operativer Schließung des Systems sprechen kann. Ausgehend von eiin Extremfällen mit Absonderungssemantiken wie „Wunderkind“ oder „Hyperintelligenz“ isoliert. Historisch ein besonders berühmter Fall: Carl Friedrich Gauß, seine verblüffend einfache Lösung für die kumulative Addition von 1-100 („der kleine Gauß“), die zunächst vom Lehrer eher als zu sanktionierende Abweichung vom pädagogischen Lernauftrag denn als (revolutionäre mathematische) Neuheit beobachtet wurde (vgl. auch unten Fn. 83). 80 Zum Unterstellungscharakter von Öffentlichkeit siehe z.B. Stichweh 2008.
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nem system- und differenzierungstheoretischen Ansatz haben wir herausgearbeitet, dass das Patentsystem eigensinnige kommunikative Formen und Strukturen ausgebildet hat, die es von anderen Formen und Strukturen in der Gesellschaft effektiv abgrenzen: rechtsintern von anderen rechtlichen Subsystemen, namentlich anderen immateriellen Schutzrechten wie insbesondere dem Urheberrecht, und rechtsextern von anderen Funktionssystemen, insbesondere von Wissenschaft und Wirtschaft. Der nicht weiter abstrahierbare Kern der Autonomie und Eigenweltlichkeit des Systems besteht in der Patentnorm: dem subjektiven Anspruch auf die ausschließliche, kontrafaktisch gesicherte Verfügungsgewalt über patentfähige Erfindungen. In Analogie zu anderen funktionalen Systemen differenziert sich demnach auch das Patentsystem nach dem Prinzip des spezifischen Universalismus aus seiner gesellschaftlichen Umwelt aus: Das System bearbeitet (genauer gesagt: konstruiert) nur einen sachlich stark eingegrenzten Ausschnitt der Wirklichkeit – es geht nicht um Werke, nicht um Marken, aber auch nicht um Wahrheit oder Profitabilität oder Ästhetik oder pädagogische Vermittelbarkeit des Wissens, sondern um technische Erfindungen und deren Schutzfähigkeit. Das System pflegt dann gerade mit und aufgrund dieser Fokussierung einen universellen Weltentwurf: sowohl das Recht auf das Patent als auch die Rechte aus dem Patent sind universalen Charakters. Jeder, der Schutz für Erfindungen oder Zweifel an der Rechtsfähigkeit von Patenten reklamieren möchte, kann dies (nahezu) überall tun und jeder ist von der Ausschließlichkeitswirkung des Rechts betroffen. Darüber hinaus geht vom Begriff des Stands der Technik und dem absoluten Neuheitsbegriff eine verblüffende Wirkung aus: neuheitsschädlich und damit materiellrechtlich relevant kann alles öffentlich zugänglich gemachte technische Wissen werden – universell und ohne Einschränkung. Diese strukturelle Systemautonomie wird erst durch eine selektive Forcierung von Umweltabhängigkeiten möglich. Indem das Patentsystem den Bereich des grundsätzlich sinnvoll Kommunizierbaren massiv einschränkt auf normatives und kognitives Beobachten von Erfindungen und Ansprüchen –, macht es sich dann innerhalb dieses Bereichs allerdings auch in hohem Maße von seiner Umwelt abhängig, insbesondere von der in technologieintensiven multinationalen Unternehmen betriebenen Weiterentwicklung der Technik. Forschung & Entwicklung liefert einen nicht abreißenden Strom an evolutionärem Rohmaterial für Erfindungen und daraus abgeleitete Rechtsansprüche, an dem sich die Patentkommunikation bei der Beobachtung des „Stands der Technik“ laufend abarbeitet. Diese Kopplung an technische Neuheiten und den maßgeblichen Orten der Produktion dieser Neuheiten, ist strukturprägend für das Patentsystem. Wir haben gesehen, wie diese Bindung in den zentralen Rechtsbegrifflichkeiten (v.a.
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Erfindung, Patentfähigkeit, Patentierbarkeit, absolute Neuheit) eingelassen ist und von der Einzelperson und dessen Erleben und Handeln strukturell abhebt. Das Patentsystem stattet sich mittels der grundsätzlichen Unbestimmtheit des Erfindungsbegriffs mit einem ausreichenden Maß an evolutionärer Reagibilität auf Umweltveränderungen aus. Die im Rahmen des korporativen Innovationsmanagements eingesetzten Patentportfoliostrategien intensiv patentierender Unternehmen setzen die die „conceptual barriers of patentability“ (Leith 2007: S. 135) an verschiedenen Stellen unter einen zunehmenden Druck. Diesem Druck wird in Extremfällen nicht mehr tragbarer Inkonsistenz des Entscheidens dadurch begegnet, dass sich das System programmatisch auf einer neuen Ebene (re-)stabilisiert, indem die Grenzen der Patentierbarkeit durch höchstrichterliche Grundsatzentscheidungen oder legislative Reformen ausgedehnt oder ggfls. auch grundsätzlich wieder enger gesteckt werden. Gleichzeitig macht sich das technologieintensive multinationale Unternehmen in seiner wirtschaftlichen Aktivität abhängig von den rechtlichen Erwartungssicherheiten (Anspruch) und kognitiven Irritationen (Wissen), welche die Konkurrenz um Patente laufend produziert. Das Patentsystem wird dann für das Unternehmen zu einer weiteren Primärumwelt, die man zum einen permanent und sorgfältig beobachten muss und zum anderen durch Strategien der Patentanmeldung, der Patentklage und des Patentportfoliomanagements im Sinne der eigenen Zwecke in Anspruch zu nehmen sucht. Wir werden im letzten Kapitel näher auf „Patentkonkurrenz“ und die strategische unternehmerische Perspektive auf Patente eingehen; im kommenden Abschnitt werden wir zunächst resümierend den wechselseitigen strukturellen Einfluss zwischen Patentsystem und Unternehmen, die strukturellen Kopplungen des Patentsystems, diskutieren.
Strukturelle Kopplung mit Unternehmen Diese historisch gewachsene und auf beiden Seiten fest verwurzelte wechselseitige Abhängigkeit zwischen dem Patentsystem und multinationalen Unternehmen lässt sich auch als „strukturelle Kopplung“ begreifen.81 Der Begriff impli81 Der Begriff der strukturellen Kopplung („structural coupling“) geht auf Arbeiten Humberto Maturanas zurück (z.B. Maturana 1982) und wurde von Niklas Luhmann in die soziologische Systemtheorie eingeführt; vgl. allgemein Luhmann 1997: S. 776ff. und zugeschnitten auf das Recht Luhmann 1992 und 1993 (Kap. 10). „Strukturelle Kopplung“ ist ein Komplementärbegriff zu Autonomie und Autopoiesis und ersetzt gesellschaftstheoretisch ältere Begrifflichkeiten wie „double interchanges“ und „In-
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ziert keine Relativierung oder gar Aufhebung von struktureller Autonomie und meint auch nicht vermeintlich nahe liegende soziale Sachverhalte wie „Reziprozität“ oder „Korrelation“, sondern verweist darauf, dass sich die gekoppelten Systeme in ihrer Programmierung auf eine permanente wechselseitige Bezüglichkeit und eine sich dann entwickelnde und verstetigende Abhängigkeit voneinander einstellen – jeweils nach eigenen Prämissen. Gerade weil sich das Patentsystem auf die routinemäßige Konfrontation mit Neuheitsbehauptungen (Patentanmeldungen) und deren Negation durch Dritte (Einspruch, Nichtigkeitsklagen) sehr sensibel einstellt, kann und muss es sich in anderen Hinsichten indifferent zeigen. Strukturelle Kopplung impliziert somit immer eine „Intensivierung bestimmter Bahnen wechselseitiger Irritation bei hoher Indifferenz gegenüber der Umwelt im übrigen“ (Luhmann 1997: S. 779). Es ist hilfreich, sich an dieser Stelle an den im letzten Kapitel eingeführten Begriff der Leistung zu erinnern. Patent- und Wirtschaftssystem stellen sich in ihren eigenen Operationen auf die routinisierte Beobachtung und Verarbeitung von Leistungen des anderen Systems ein. So kann ein Unternehmen die Schlichtung eines Patentstreitverfahrens intern in Form von Unsicherheitsabsorption ‚verbuchen‘ („das Patent besteht (doch) noch zwei Jahre“) und das Patentsystem ‚rechnet‘ mit Erfindungen als Output organisierter Neuheitsproduktion und verarbeitet Erfindungen dann als Thema der Kommunikation über Patentfähigkeit intern weiter. Das Patentsystem ähnelt in seiner Strukturdeterminiertheit durch Dauerirritation mit organisatorisch hervorgebrachten Neuheiten den Funktionssystemen Wissenschaft und Kunst. Auch in jenen Kontexten muss man sich auf die organisierte und damit auf die erwartbare Produktion von Neuheiten als immer wieder neuen Anlass für Kommunikation einstellen (können). So benötigt der globale Wissens- und Reputationskreislauf der Wissenschaft den Output des ‚Minimalneuheitsmassenproduktionsbetriebs‘, der sich ohne die in akademischen Forschungsorganisationen (Universitäten, NIH, MPG etc.) und Verlagshäusern prozessierten Interessen und Motivlagen (Gehalt, Forschungsgelder, Profite) nicht am Laufen halten ließe. Ebenso wenig kann Kunstkommunikation auf Dauer oh-
terpenetration“, die im Werk von Talcott Parsons eine prominente Stelle einnehmen. Es ist – wohl auch aufgrund einer relativen sprachlichen Einprägsamkeit – ein inflationärer Gebrauch dieses Begriffs zu beobachten. Letztlich bleibt aber häufig unklar, was der Begriff genau leisten kann oder können muß. Nicht alles, was (irgendwie) zusammenhängt, ist auch strukturell gekoppelt. Auch hier könnten empirische, historisch-differenzierende Forschungen hilfreich sein.
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ne die organisatorisch eingebettete Dauerproduktion von Neuheiten funktionieren. Man denke an Museen, Galerien, Kunstschulen etc., welche der Kommunikation im Medium der Kunst einen institutionellen Ort geben, Geldverdienst und Karrieren ermöglichen und somit die Produktion des Unerwarteten („Genialen“) erwartbar machen (Luhmann 1995: insb. S. 249).82 Ähnlich wie Kunst und Wissenschaft ist auch das Patentsystem durch und durch neuheitsaffin. Es richtet sich mit Hilfe des Erfindungs- und des Neuheitsbegriffs darauf ein, sich permanent durch die in F&E-Laboratorien produzierten Variationen im Medium der Technik irritieren zu lassen und diese als patentfähige Neuheit positiv zu konnotieren und (ggfls.) mit einem Patent zu ‚belohnen‘. Wissenschaft und Kunst funktionieren hier in analoger Weise, weil auch dort die Systemstrukturen auf eine unumstößliche Präferenz für Irritabilität-durchNeuheiten festgelegt sind und sich die beteiligten organisatorischen und personalen Umwelten ihrerseits darauf einstellen, serienmäßig Neuheiten zu produzieren. Das Patentsystem lässt sich auch in dieser Hinsicht als prototypischer Repräsentant der Moderne begreifen, weil es wie Kunst und Wissenschaft Irritationen nicht als Abweichung, sondern als Neuheit behandelt und den in der modernen Gesellschaft beobachtbaren Trend in Richtung Wertschätzung des Neuen forciert.83 In Anlehnung an den Luhmannschen Vorschlag, Anwaltskanzleien als Medien der strukturellen Kopplung zwischen Recht und Wirtschaft zu begreifen, liegt es nahe, die Patentanwaltskanzlei und die Person des Patentanwalts als Kristallisationspunkt der strukturellen Kopplung zwischen Patent- und Wirtschaftssystem aufzufassen. Der Patentanwalt operiert in den Peripherien der beiden Systeme und nimmt eine Kopplungsrolle ein, indem er in Patentierungs- und Klageverfahren die verschiedenen Systemlogiken von Rechtmäßigkeit und Profitabilität aufeinander bezieht. Er transformiert wirtschaftlich-technologische Irritationen in rechtsfähige Ansprüche und leitet aus der Beobachtung von (eigenen und fremden) Patentansprüchen wirtschaftliche Informationen für das von ihm patentrechtlich vertretene Unternehmen ab. Patentanwälte dienen als zwischensystemische Zurechnungsadressen, an denen die strukturelle Kopplung ‚andocken‘
82 Zur Bedeutung von Organisationen für strukturelle Kopplung allgemein vgl. Luhmann 2000: S. 397ff. sowie Lieckweg 2001; siehe auch Kneer 2001 für eine ReKonzeptionalisierung des systemtheoretischen Verhältnisses zwischen Funktionssystemen und Organisationen. 83 Zur Unterscheidung von „Neuheit“ und „Abweichung“ als verschiedenen Formen der Behandlung von Irritationen siehe wissenssoziologisch grundlegend Luhmann 1995a.
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kann. Eine wichtige Rolle kommt hier den großen „patent law firms“ zu, die Jahr für Jahr an mehreren tausend erteilten Patentfällen beteiligt sind.84 Der starke Relevanzgewinn des Patents in der Wirtschaft in den letzten Jahrzehnten lässt sich als Effekt einer evolutionären Führung durch die strukturelle Kopplung an das Wirtschaftssystem und den Bedeutungsgewinn von Patentmanagement in technologieintensiven, multinationalen Unternehmen interpretieren. Ein stabiles Interesse (vor allem im Sinne des englischen „interest“) am Patent und damit eine hinreichende Zufuhr von Irritationen für die systemeigene Kommunikation in Form von Patentanmeldungen scheint in einem derart hohen Ausmaß gesichert, dass die wichtigsten Patentämter mit einem immensen Rückstau von Patentanmeldungen (patent backlog) belastet sind.85 Technologieintensive Unternehmen müssen dann ihrerseits lernen, mit der Welt der Patente als permanent mitlaufender Quelle der Irritation zu rechnen (!) und dafür eigens auf die Kopplung an das Patentsystem ausgerichtete Beobachtungs-, Handlungs- und Wissenskapazitäten auszudifferenzieren, um sich strategisch günstige Positionen im Verdrängungswettbewerb auf technologischen Märkten sichern zu können. (Wir werden auf diese strategischen Perspektiven auf das Patent in Kapitel 7 ausführlicher zu sprechen kommen). Die im Patent angelegten Kopplungen von Wirtschaft (Profitabilitätsstreben), Recht und Technologie werden indes von vielen weiteren Autoren und Beobachtern gesehen und hervorgehoben. Bereits Abraham Lincoln feierte die Multireferentialität des Patents mit Emphase: „The patent system added the fuel of interest to the fire of genius“ (zitiert nach Machlup/Penrose: S. 22). Sideri und Giannotti sprechen beispielsweise von der Situierung des Patents „at the crossroad of law, technology and economics” (Sideri/Giannotti 2003) und Michael Hutter bezeichnet in seiner Studie zum Arzneimittelrecht die „Patentregel […] als evolutionäres Ergebnis der Konversation zwischen Wirtschaft, Recht und politischem System“ (Hutter 1989: S. 83). Auch wenn diese Semantiken – es ließen sich einige weitere Beispiele finden – wichtige Intuitionen hinsichtlich der strukturellen Kopplungen des Patents andeuten mögen, sehen wir diese Ansätze insofern skeptisch, als sie nicht eindeutig zwischen Effekten von Kopplungen des Patents
84 Vgl. etwa als laufend aktualisierte Auflistung der größten US-amerikanischen patent law firms die Website http://iptoday.com (Reports – Top Patent Firms 2011). 85 Zum „patent backlog“ des US-amerikanischen Patentamts USPTO vgl. Ackerman 2011; im September 2012 belief sich der Rückstau an ungeprüften Patentanmeldungen beim USPTO auf 608.283 (www.uspto.gov/dashboards/patents).
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und der Funktion des Patents selbst zu unterscheiden wissen. Dieser Eindruck entsteht allerdings, weil die zitierten Formulierungen das Patent als etwas dem Recht Äußerliches („at the crossroads of law“; „Ergebnis der Konversation zwischen Wirtschaft, Recht“) zu beschreiben scheinen und damit die irreführende Assoziation erwecken, dass es sich bei Patenten nicht wie etwa bei Straf- oder Wettbewerbsrecht in erster Linie um Recht selbst handelte, das entsprechend auch als Recht beschrieben und soziologisch verstanden werden müsse. Im Rahmen der in diesem Kapitel entfalteten differenzierungstheoretischen Perspektive auf das Patent halten wir demgegenüber noch einmal fest, dass die (erwünschten oder unerwünschten) Kopplungseffekte (und deren gesellschaftliche Folgen) ohne die andere Seite der Autonomie des Patents nicht ausreichend zu erklären sind. Patente sind Rechtsansprüche und dürfen mit Effekten der Kopplung dieser Rechtsansprüche an wirtschaftliche Unternehmen nicht verwechselt werden. Die Beschaffenheit und evolutionäre Dynamik der strukturellen Kopplungen des Patentsystems lassen sich vielmehr nur ausgehend von einem hinreichenden soziologischen Verständnis für dessen funktionale Autonomie erklären: dies zu leisten war der Arbeitsauftrag für dieses Kapitel.
Kapitel 4: Patentschriftlichkeit: Perspektiven auf die „Intertextualität“ des Patentsystems
E INLEITUNG Charles Bazerman hat vor einigen Jahren eine historisch-linguistische Monographie zur gesellschaftlichen Einbettung der Erfindungen und Patente von Thomas A. Edison publiziert.1 In „The languages of Edison’s light“ beobachtet er, wie in verschiedenen sozialen Bereichen anhand verschiedener Kriterien über die Implikationen des Durchbruchs der Erfindung des elektrischen Lichts kommuniziert („gesprochen“) wurde.2 Bazerman betont dabei im Hinblick auf einen dieser Bereiche, Patente, dass Edison und seine Patentanwälte für eine erfolgreiche Vermarktung der Erfindungen aus Menlo Park “eine besondere Expertise im Verfassen und Interpretieren von Patentdokumenten entwickeln mussten, nicht zuletzt um sich gegen die Vielzahl von Angriffen auf ihre Patente zur Wehr setzen zu können. Er bezeichnet das Patentsystem als „document-circulation system“ (Bazerman 1999: S. 15) und verweist mit dieser Formulierung auf den Sachverhalt, dass das Patentsystem permanent Patentdokumente, allen voran Patentschriften hervorbringt und aufeinander bezieht, in denen das patentierte Wissen in einer eigentümlichen Sprache präsentiert und genutzt wird. Wir werden in diesem Kapitel mit systemtheoretischen Mitteln an die Bazermansche Beschreibung des Patentsystems anknüpfen, indem wir untersuchen, wie sich das Patentsystem als System beschreiben lässt, das Patentdokumente zirkulieren lässt. Dabei arbeiten wir heraus, welche Funktion und welche Folgen 1
Näheres zu Thomas A. Edison und seiner Forschungs- und Patentaktivität findet sich im historischen Kapitel auf S. 276ff.
2
Vgl. Bazerman 1999, v.a. Kap. 5 und 12.
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diese Form der Selbstorganisation auf das Patentsystem selbst hat. Zentrale Aspekte unseres Gedankengangs werden in der Unterscheidung von Patentschriften und akademisch-wissenschaftlichen Publikationen ihren Ausgangspunkt nehmen.3 Zunächst gehen wir näher auf den Aufbau und die systemische Funktion der Patentschrift und der Patentzitation ein, anschließend folgt dann ein Abschnitt zu Konvergenzen und Divergenzen zwischen beiden Publikationstypen, wobei die Betrachtung der Nichtpatentzitation als Mechanismus der operativen Verknüpfung von Patent- und Wissenschaftssystem wichtig wird. Ein weiterer Abschnitt widmet sich dem Thema der Patentstatistik, die anhand von einigen Beispielen illustriert wird und deren Analyse wir zudem die vielleicht zunächst überraschend klingende These einer indirekten Beeinflussung des Systemwachstums abgewinnen werden. In einem resümierenden Abschnitt binden wir die Erkenntnisse des vorangehenden und dieses Kapitels zusammen und zeigen, wie der funktionale Kern der Patentnorm und die dokumentenbasierte Öffentlichkeit des Patents zwei komplementäre Seiten des Patents darstellen.
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UND
F UNKTION
Ob als Patentrichter, Patentanwalt, Patentprüfer, Erfinder, Patentkritiker, „entrepreneurial scientist“, oder Technologietransferbeauftragter: Wer Patentkommunikation betreibt, hat es mit Patentschriften zu tun. Eine rein mündliche Kommunikation über die Rechtmäßigkeit von Patentansprüchen ist möglich und kommt vor; allerdings gewinnt Kommunikation auch im Gerichtsverfahren oder anderen Ebenen der interaktiven Kommunikation über Patentansprüche – etwa im Forschungslabor – ihre Bedeutung als erinnenswerte Systemkommunikation immer erst in Bezugnahme auf das schriftliche Material von Patentschriften oder anderen Patentdokumenten wie Einsprüchen, Klagen etc. Die von uns im zweiten Kapitel als systemische Leistung reformulierte „Veröffentlichungsfunktion“ ruht auf dieser unhintergehbaren, von den meisten Patenttheorien aber kaum für erwähnenswert befundenen, infrastrukturellen Voraussetzung auf, dass patentiertes Wissen in Form von schriftlichen Dokumenten, zirkuliert und zugänglich gemacht wird: das System reproduziert sich im Medium veröffentlichter Patentschriften. Zunächst müssen wir noch einmal betonen, dass wir die Patentschrift-alsDokument vom Patent selbst, nämlich dem in der und durch die Patentschrift dokumentierten Rechtsanspruch, der für eine Erfindung reklamiert wird, analy3
Ausführlich Mersch 2002, vgl. auch Mersch 2010.
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tisch sorgfältig trennen müssen.4 Die Patentschrift stellt zum einen ein rechtlich bindendes und sanktionsbewehrtes Dokument dar, das vom Patentamt ausgestellt wird und die Öffentlichkeit (die Konkurrenz) über die dem Patentanmelder gewährten normativen Ansprüche informiert (Funktion). Gleichzeitig wird mit der Patentschrift die Erfindung in standardisierter Form öffentlich dokumentiert und einem unbegrenzten Publikum zugänglich gemacht (Leistung). Die Patentschrift verwebt demnach rechtlich-normative und technisch-kognitive Aspekte und Bezüge der Systemkommunikation ineinander, indem sie beide Sinnhorizonte in der Form eines häufig auch graphisch angereicherten Texts, der einige oder mehrere Dutzende von Seiten lang sein kann, zusammen bringt. Sie ist die zentrale Form der „Materialisierung“ von Patentkommunikation; im Folgenden gehen wir auf ihre wichtigsten Merkmale ein. Patentschriften charakterisieren sich heute weltweit durch ein vereinheitlichtes Format. Eine Patentschrift gliedert sich in drei zentrale Abschnitte: x das Deckblatt x die Beschreibung des Patentgegenstands (der Erfindung) x die Patentansprüche Das Deckblatt informiert auf einen Blick über die wesentlichen Parameter eines Patents. In der Sachdimension wird unmittelbar ersichtlich, welche Erfindung inwieweit geschützt ist (der Gegenstand des Patentanspruchs und der sachliche Schutzbereich) und an welche früheren Veröffentlichungen (Patentschriften, Publikationen) die Patentschrift anknüpft (Patentzitationen). Ferner wird informiert, für welchen Rechtsraum das Patent gilt (räumlicher Erstreckungsbereich), was sich bereits vom Namen der ausstellenden Patentbehörde, in unserem Fall: dem DPMA (Deutsches Patent- und Markenamt), ableiten lässt. Ferner gibt die Titelseite Informationen zum Anmelder und Erfinder, die heute meistens nicht mehr identisch sind und sich in den meisten Fällen in ein Unternehmen als An-
4
Wenn es beispielsweise in einer einschlägigen Monographie zur Patentschrift heißt – „A patent is a legal document as well as a technical document” – verdeutlicht dies die für das Patentsystem charakteristische enge Verschränkung von normativen und kognitiven Bezügen (Walker 1995: S. 134). Gleichzeitig läuft allerdings auch diese Formulierung – hier ließen sich viele andere Beispiele finden – Gefahr, den Begriff des Patents unscharf zu verwenden, weil nicht sauber genug zwischen der Rechtsstellung (Patent) und Dokumentation dieser Rechtsstellung (Patentschrift) unterschieden wird. Siehe dies betonend auch Weiß: „Das Wort „Patent“ sollte daher nicht benutzt werden, um die Patenturkunde, oder die Patentschrift zu bezeichnen“ (Weiß 1973: S. 4).
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melder und Patentinhaber und einen Angestellten als Erfinder aufgliedern. Und schließlich erfährt man in der Zeitdimension, wann das Patent beantragt und wann es gewährt wurde (Anmeldedatum und Beginn der Patentlaufzeit); der Beginn der Patentlaufzeit ist von entscheidender Bedeutung für die Konkurrenz, weil dies einen wichtigen Hinweis darauf gibt, wann das Patent spätestens auslaufen und somit die wirtschaftliche Anwendung des Schutzgegenstands für Dritte wieder frei gestellt sein wird. Auf das Deckblatt folgt die Beschreibung des Patentgegenstands (patent specification), deren Aufbau der Struktur eines wissenschaftlichen Papers sehr ähnlich ist.5 Der Text beginnt typischerweise mit der überblicksförmigen Beschreibung eines technischen Problems und der Diskussion der relevanten Literatur hinsichtlich ihrer Defizite für die Lösung des avisierten technischen Problems.6 Darauf folgt die Präsentation der erfundenen Problemlösung, die verbunden wird mit der Aufzählung der spezifischen Vorteile, welche die angemeldete Erfindung im Unterschied zu den bis dahin gemachten Lösungsvorschlägen auszeichnen. Es schließt sich eine präzise Schilderung des Erfindungsgegenstands an, die in der Regel mit mehreren beigefügten Skizzen illustriert wird. Der letzte Teil der Patentschrift dokumentiert die Patentansprüche, in denen angegeben wird, welche Komponenten der zuvor beschriebenen Erfindung unter den Schutzbereich des Patents fallen. Die Patentansprüche bestehen aus mindestens einem Hauptanspruch sowie in der Regel weiteren Unteransprüchen, die den zuerst formulierten Anspruch für verschiedene technische Ausgestaltungen im Detail spezifizieren. Profunde naturwissenschaftliche Expertise ist eine unerlässliche Bedingung, um Patentansprüche in ihrer multireferentiellen Relevanz, verstehen und strategisch gestalten zu können.7 Für den Patentanmelder hängt in ei-
5
Vgl. hierzu auch Walker 1995: S. 141ff.
6
Eine Interviewpartnerin vergleicht diese Einleitung mit der Funktion eines wissenschaftlichen „Reviewartikels“: „Das ist ja Pflicht, daß man das so einleitet. Und das ist wie ein ganz toller Reviewartikel im eigenen Fachgebiet. Daß man nochmal richtig lückenlos aufgelistet bekommt, was es bis dato schon gab und wo jetzt die neuen Ansätze sind. Da kann man sich manchmal unheimlich schnell auf einen neuen Stand bringen. Und wenn noch sehr gut zitiert wird, kriegt man auch noch ganz viele Referenzen auf andere Arbeiten“ (vgl. Int.-Nr. 5).
7
„Many topics of concern to writers of claims involve very esoteric details and highly technical matters. Claims written in the field of biotechnology, for instance, may involve hydridomas and monoclonal antibodies, and it is critical to the understanding of the patent and what is protected to understand the science and technology of the field.
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nem Patentierungsverfahren in kommerzieller Hinsicht sehr viel davon ab, wie gut die Transformation des Patentgegenstands (welches Konstruktions- oder Anwendungsproblem wird gelöst?) in die Patentansprüche (welche wirtschaftliche Anwendung ist Dritten rechtlich untersagt?) gelingt. Es handelt sich hier um einen strategisch-rhetorischen Abwägungsprozess. Dehnen die Formulierungen den Schutzbereich („patent scope“) stark aus, läuft das Patent schnell Gefahr, Opfer eines Einspruch-, oder Klageverfahrens zu werden, so dass es für den Inhaber keine hinreichende Absicherungswirkung entfaltet. Sind die Ansprüche allerdings sehr eng gefasst, erhält der Anmelder eine vielleicht unerschütterliche Rechtsposition, die aber nur einen geringen wirtschaftlichen Wert haben könnte (vgl. auch unten S. 322ff. zur Patentrhetorik).
Die Patentschrift im Vergleich zum wissenschaftlichen Paper Die strukturelle Verwandtschaft zwischen Patentschriften und Publikationen ist augenfällig.8 Entscheidend hierfür ist nicht nur der unmittelbar auffallende Sachverhalt, dass Format und Aufbau von Patenten und wissenschaftlichen Publikationen sehr ähnlich sind. Gemeint ist darüber hinausgehend in einem systemtheoretisch präzisen Sinne die These, dass die Patentschrift wie die wissenschaftliche Publikation als konstitutives Element des Prozessierens und Kommunizierens von Wissen und den an das Wissen gekoppelten Ansprüchen – dort: auf Wahrheit, hier: auf ein Patentrecht – begriffen werden kann. Im Vergleich zur umfangreichen Literatur zur akademischen Publikation und Zitation ist die Erforschung von Patentschriften und der Patentzitation theoretisch-konzeptionell relativ unterbelichtet geblieben. In den letzten Jahrzehnten haben im Kontext von Innovationsforschung und den “Science-and-Technology Studies” (STS) zwar bibliometrische Analysen von Patentverteilungen und Zitationsnetzwerken und damit die Analyse des Patentsystems als „document circulation system“ insgesamt an Bedeutung gewonnen. Zudem existiert mit dem Journal „World Patent Information“ eine Zeitschrift, die sich eigens der Analyse der Patentschrift und weiteren Patentdokumentationsformen als Träger von technischem Wissen verschrieben hat. Allerdings ist die dort publizierte Literatur The reader of claims in these and other fields needs to understand the science and the technology in order to analyze them rationally and to use them intelligently“ (Walker 1995: S. 148). 8
Einige der Passagen in diesem und in den folgenden Abschnitten sind bereits publiziert in Mersch 2010.
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primär der Konzeption der „Informationsfunktion“ als Zweck des Patents und damit verbundenen Effizienz- und Optimalitätsvorstellungen verpflichtet. Insgesamt betrachtet interessieren sich die meisten dieser Beiträge somit letztlich mehr für methodische Fragen und Interessen forschungspolitischer Anwendbarkeit („policy implications“) und weniger für grundlagentheoretische Überlegungen.9 Im Hinblick auf unsere systemtheoretische Beschreibung des Patentsystems können wir diesen Diskursen daher zwar interessantes Material, aber keine direkten konzeptionellen Anschlüsse abgewinnen, so dass wir uns selbst um eine theoretische Ausarbeitung der Funktion von Patentschriftlichkeit bemühen müssen. Werfen wir daher zunächst einen kurzen Blick auf die Systemtheorie der wissenschaftlichen Publikation. Die dort entwickelten Überlegungen werden hilfreich dabei sein, sowohl die Verwandtschaft als auch die entscheidenden Differenzen zwischen Patentschrift und Publikation näher zu beleuchten und uns zu einem differenzierteren Verständnis der patentsysteminternen Funktionalität der Patentschrift führen. Rudolf Stichweh hat in mehreren Studien die Genese und Funktionalität der wissenschaftlichen Publikation herausgearbeitet. In Anlehnung an die Arbeiten von Niklas Luhmann zur Autopoiesis der Wirtschaft als einem Verweisungszusammenhang von Zahlungen (Luhmann 1988) besteht der Ausgangspunkt dieses systemtheoretischen Ansatzes darin, die Publikation als basales autopoietisches Element der Wissenschaft zu begreifen: „Die Publikation erfüllt die Definitionsbedingungen eines autopoietischen Elements auf verblüffend genaue Weise. Sie ist ein Element, das auf anderen Elementen desselben Typs, ie. anderen Publikationen, aufruht und sie verweist auf diese anderen Elemente durch Zitation (Fremdreferenzen)“ (Stichweh 1994: S. 65).10
Im Gegensatz zur frühneuzeitlichen Wissenschaft, die noch durch die – insbesondere in modernen Termini von Digitalizität sehr schwerfällig wirkende – Enzyklopädie als Ausdruck (!) eines konservierend-klassifizierenden wissenschaftlichen Selbstverständnisses geprägt war, hat sich heute der kleinformatigere Aufsatz in akademischen Fachzeitschriften als dominierende Form der Publikation von wissenschaftlichen Wahrheitsansprüchen durchgesetzt. Diese fortschrei9
Weitere wichtige Journals für diesen in den letzten Jahrzehnten stark wachsenden Forschungszweig sind „Research Policy“, „Scientometrics“, „Science and Public Policy“ und einige weitere (Überblick bei Braun 2005: S. 188).
10 Vgl. auch Vanderstraeten 2010.
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tende Parzellierung des Wissensfortschritts in kleinformatige Beiträge ist insbesondere für die Natur- und Ingenieurswissenschaften konstitutiv, während in den Geistes- und Sozialwissenschaften die Monographie demgegegenüber einen immer noch sehr wichtigen, wenn auch möglicherweise abnehmenden Stellenwert besitzt. Die moderne Wissenschaft reproduziert sich heute – wir sehen hier von den Geistes- und Sozialwissenschaften, auf die diese Annahme nur zum Teil zutrifft, ab – als immer weiter fortschreibender Zusammenhang von Zeitschriftenartikeln (journal papers). Die operative Schließung des Wissenschaftssystems etabliert sich auf einer Ebene der „Beobachtung zweiter Ordnung“, die von den Handlungsrealitäten des „Laboratory Life“ (Latour/Woolgar 1979) und den praktischen Vollzügen der „Manufacture of Knowledge“ (Knorr-Cetina 1981) strukturell abhebt. Wissenschaftler beobachten (und kontrollieren) sich dann nicht mehr direkt bei ihren Forschungshandlungen – dies ist heute in aller Regel institutionell weder möglich noch notwendig –, sondern referenzieren die Beiträge relevanter anderer Forscher durch die Zitation der entsprechenden Publikationen.11 Die basale kommunikative Funktion der Zitation lässt sich darin sehen, dass sie für wissenschaftliche Anschlussbeobachter sichtbar macht und öffentlich dokumentiert, auf welchen kognitiven Relationierungen früherer Publikationen der Neuheitsanspruch einer neu veröffentlichten Publikation beruht. Die Zitation ist ein konnektiver Attributionsmechanismus: Sie verknüpft Publikationen miteinander und weist ihnen damit uno actu eine Adresse und eine Position im Kommunikationsnetzwerk der Wissenschaft zu. Das wissenschaftliche Publikationssystem reproduziert seine strukturelle Einheit also in Form eines sich immer weiter fortpflanzenden, netzwerkförmigen Zitationszusammenhangs, in dem Publikationen an die Wissensofferten früherer Publikationen qua Zitation anschließen und dadurch weitere Publikationen provozieren, die ihrerseits den neu hergestellten kognitiven Bezug durch weitere Zitationen dokumentieren (Stichweh 1994: S. 64ff.). Neben diesem Verständnis der Zitation im Rahmen einer Systemtheorie der Wissenschaft als eines autopoietischen Kommunikationssystems lässt sich die Zitation auch mit stärkerem Bezug auf die sie anfertigende(n) Psyche(n) und deren Absichten der Selbst- und Fremdpositionierung in wissenschaftlichen Gemeinschaften begreifen. Gilbert hat in diesem Zusammenhang – viel zitiert – von „Referencing as persuasion“ gesprochen (Gilbert 1977, vgl. auch Cozzens 1989).
11 Vgl. überblickend zur Bandbreite von Theorien der Zitation Moed 2005: S. 193 ff (dort auch eine tabellarische Auflistung der gängigsten Theorien).
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In dieser Lesart von Zitationen wird der publizierende Wissenschaftler als ein strategischer Rhetoriker beschrieben, der mit Zitationen seine akademische Nahumwelt (scientific community) von seiner wissenschaftlichen Glaubwürdigkeit (Innovativität, Originalität) persuasiv zu überzeugen sucht. Wissenschaft wird als ein zitationsförmig vernetzter „credibility cycle“ (Latour/Woolgar 1979) begriffen, der Reputation und wissenschaftliche Glaubwürdigkeit prozessiert.12 Man kann die Zitation in dieser Hinsicht dann auch als „reward“ auffassen, mit der ein Wissenschaftler seine akademischen Kollegen belohnt oder im Umkehrschluss mit Missachtung bedenkt.13 Lassen sich diese Erkenntnisse zur Publikation und Zitation in der Wissenschaft auf die Patentschrift und das Patentsystem übertragen?
Funktion von Patentschrift und Patentzitation Auf einen ersten (systemtheoretischen) Blick kann man die Patentschrift als funktional äquivalent zur wissenschaftlichen Publikation begreifen. Wie der wissenschaftliche Aufsatz dokumentiert die Patentschrift – wir haben dies bereits anhand der Gliederung der Patentschrift illustriert – neues Wissen in einer standardisierten, kleinformatigen Weise. Sie rekurriert mit Zitationen auf ältere Patentschriften (den „Stand der Technik“) und dient gleichzeitig als Anknüpfungspunkt für darauffolgende Patentschriften, die wiederum diese oder auch andere Patentschriften referieren und damit den Stand der Technik variieren (Reproduktion durch Variation). Insofern ist es möglich, auch die Patentschrift als autopoietisches Element eines Vernetzungszusammenhangs von technischem Wissen und somit das Patentsystem als System der öffentlichen Kommunikation von
12 Henry Small hat im Anschluss an Eugene Garfield den Begriff „concept symbol“ geprägt, der für die Einsicht steht, dass Autoren andere Publikationen zitieren, um sie als Evidenz erzeugendes Symbol für das eigene Argument einzusetzen (Small 1978). 13 In der Systemtheorie wird Reputation klassisch als „Zweitcodierung“ der Wissenschaft aufgefasst: Reputation steuert die Verteilung von (knapper) wissenschaftlicher Aufmerksamkeit und erzeugt motivationale Effekte, die sich nicht hinreichend durch Erkenntnisstreben erzeugen lassen (vgl. etwa Luhmann 1990: S. 245ff.; siehe auch den früheren Beitrag Luhmann 1970; als aktuellere Diskussion wissenschaftlicher Reputation siehe Schimank 2010, der spekuliert, dass Reputation – quantifiziert durch Leistungsindikatoren wie etwa „impact factors“ – Wahrheit als Hauptcode der Wissenschaft zunehmend ablöse.
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Wissen durch Patentschriften, mithin wie einleitend bereits gesagt als „document circulation system“ zu beschreiben. Auch das Patentsystem organisiert sich dann in Analogie zur Durchsetzung der wissenschaftlichen Publikation auf einer Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung. Diese Form des Beobachtens ermöglicht es, Evidenzen nicht mehr in einem (theatralischen) Akt der Demonstration ‚sur place‘ (populäre Assoziation: Die Magdeburger Halbkugeln) erzeugen zu müssen, sondern findet andere, sachbezogenere Formen der Validierung von Ansprüchen, die von der Einbettung in situative, stärker personenbezogene Plausibilitäten und Evidenzen abheben. Bazerman beschreibt die Effekte der Vertextung und (drucktechnischen) Visualisierung mit Blick auf die historische Situation, in der sich Thomas A. Edison befand, wie folgt: „The United States had developed a system of patent examination based on the novelty of a conception rather than on its proven viability, usefulness or market value. The examination process, carried out in government offices in Washington, was based largely on submitted paper representations of an idea (picture and text), abstracted out of the particular object or product that was the realization of the idea. Neither a working prototype nor a competed product nor evidence of economic value was a part of the process of establishing that an idea was ownable and was owned by a particular person. Viability and economic value were only projected consequences – hopes that drove invention and the desire for ownership“ (Bazerman 1999: S. 85, Herv. C.M.).
Das Zitat verdeutlicht den Zusammenhang zwischen der internen Organisation von Patentkommunikation als Prozessieren von Dokumenten und dem gleichzeitigen Herauslösen aus externen wirtschaftlichen und technologischen Relevanzen. Das System emanzipiert sich von Zwängen eines produktionstechnischen Funktionsnachweises (Prototyp) und eines Belegs für einen besonderen wirtschaftlichen Wert einer zum Patent angemeldeten Erfindung und schöpft seine Dynamik ‚intrinsisch‘ aus dem Zirkulieren und Vergleichen von Patentdokumenten. Auch in dieser Hinsicht ist das System ausdifferenziert („abstracted out“).14 14 Ein interessanter, hier erwähnenswerter Ausnahmefall sind Mikroorganismen, die sich in der Regel in einem Patentdokument nicht eindeutig beschreiben lassen und daher bei einer registrierten, der Öffentlichkeit zugänglichen Stelle hinterlegt werden müssen (vgl. Meyer 1983). Der im Jahr 1977 verabschiedete „Budapester Vertrag über die internationale Anerkennung der Hinterlegung von Mikroorganismen für die Zwecke von Patentverfahren“ regelt die wechselseitige Anerkennung der für die Patentprüfung
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Die Patentzitation Wie die wissenschaftliche Zitation dokumentiert die Patentzitation („patent reference“) die kognitive Kontextuierung einer Patentschrift vor dem Hintergrund anderer Patentschriften (und weiterer Publikationstypen). Wie wissenschaftliche Zitationen verknüpfen Patentzitationen Patentschriften miteinander und bringen sie damit in einen zirkulären operativen Zusammenhang, der sich in seiner Interkonnektivität gegenüber anderen funktionalen Zusammenhängen wie dem wissenschaftlichen Publikationssystem abschließt. Patentschriften verweisen durch Zitationen auf andere Patentschriften und werden selbst zum Anknüpfungspunkt für weitere Patentschriften, die wiederum den state-of-the-art, d.h. die bekannten Patentschriften und ggfls. weitere Veröffentlichungen wie akademische Papers zitieren (wir kommen auf Nichtpatentzitationen weiter unten zurück). In dieser autopoietischen Lesart leistet die Patentzitation einen zur wissenschaftlichen Zitation funktional analogen Beitrag zum operativen Prozessieren von Systemkommunikation. Ein wichtiger Unterschied zwischen Patentschriften und Publikationen liegt nun darin, dass sich Patentzitationen im Gegensatz zu wissenschaftlichen Referenzen nicht eindeutig auf einen Urheber zurechnen lassen. Patentzitationen verteilen sich auf zwei gänzlich unterschiedliche institutionelle Adressen, nämlich den Patentsuchenden (das anmeldende Unternehmen) und den Patentprüfenden (das Patentamt). Bei den „für die Beurteilung der Patentfähigkeit in Betracht gezogenen Druckschriften“ (vgl. das Deckblatt einer Patentschrift auf S. 207) handelt es sich nämlich um die dokumentierten Resultate der Prüfrecherchen des Patentprüfers, die mit den Zitationen, die in der Erfindungsbeschreibung vom Patentanmelder beigebracht werden, nicht zwingend und in der Regel lediglich zum Teil übereinstimmen. Der Prüfer übernimmt zwar in der Regel einige vom Anmelder beigefügte Referenzen; häufig werden Anmelderzitationen jedoch auch nicht berücksichtigt und vielmehr im Laufe des Rechercheprozesses noch weitere, von Seiten des Anmelders nicht dokumentierte Referenzen hinzugefügt. Es kommt somit bei vielen Patentschriften vor, dass der Patentprüfer eine Patentschrift mit anderen Patentschriften durch Zitationen verknüpft, ohne dass diese Erfindung dem Patentanmelder selbst bekannt gewesen war bzw. obwohl er das Wissen um die vom Prüfer zitierte Patentschrift latent halten wollte.15
hinterlegten Mikroorganismen durch die Vertragsparteien – dies waren 76 im Mai 2012 (vgl. den Eintrag in www.transpatent.com). 15 Siehe hierzu auch Meyer 2000: S. 97ff.; den vom Europäischen Patentamt ausgefertigten Patentschriften ist ein „search report“ beigefügt, der grundsätzlich nur Referenzen
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In der „editorial conference“ (Reingold 1960: S. 160) zwischen Anmelder und Prüfer trifft letztlich der Patentprüfer die Entscheidung darüber, welche Referenzen offengelegt und endgültig mit der Patentschrift veröffentlicht werden.16 Den Patentzitationen kommt somit in erster Linie die Funktion zu, den „Prüfstoff“, d.h. das vor dem Zeitpunkt der Anmeldung bereits bekannte technische Wissen im Hinblick auf die Patentfähigkeit der angemeldeten Erfindung, d.h. mit Blick auf die Kriterien von Neuheit und erfinderischer Tätigkeit selektiv zu dokumentieren; sie ermöglichen es nur in einem eingeschränkten Maße, auf kognitive Selektionen der ursprünglichen Wissensproduzenten (Erfinder) zuzurechnen.17 Auch an dieser Stelle wird somit ein Mal mehr deutlich, wie sehr sich das Patentsystem in seinen Kommunikationsstrukturen und -routinen inzwischen von einer Behandlung und Würdigung des Patents als Produkt individuellpersönlicher Schaffenskraft und Kreativität distanziert hat und auf die abstrakte Zugänglichkeit von Wissen abstellt. Patentreferenzen entsprechen somit weder zwingend einem ‚tatsächlichen‘ Wissensstand des Patentanmelders bzw. Erfinders noch einer auf Individuen oder Unternehmen zurechenbaren Motivation, sich in einem technologischen Feld reputational zu positionieren. Patentierende sind im Gegensatz zum akademischen Wissenschaftler am „reward“ einer Zitation in der Regel nicht interessiert; eine Zitation deutet auf ein Ausmaß an Sichtbarkeit der eigenen Erfindungen hin, welche man – zumindest aus Sicht des unternehmerischen Patentmanagements – zunächst und in der Regel so weit wie möglich reduzieren möchte. Dem Patentanmelder liegt vielmehr a priori – dies impliziert auch die „Vertragstheorie“ – an einer Invisibilisierung seiner Kognitionen mindestens insoweit, als sie die Erfolgswahrscheinlichkeiten seiner Patentanmeldung nicht unnötig
des Patentprüfers enthält. Bei US-amerikanischen Dokumenten bleibt die Unsicherheit, ob Zitationen von Anmelder oder Prüfer stammen, bestehen. 16 Um diesen Sacherhalt noch einmal zu verdeutlichen, stelle man sich für einen Moment das zumindest für das Beispiel der Geistes- und Sozialwissenschaften recht erheiternde Szenario vor, ein Wissenschaftler hätte bei der Veröffentlichung keinen alleinigen Einfluss auf seine Referenzen, sondern wäre dazu verpflichtet, die Zitationen von Gutachtern, Lektoren, Sammelbandherausgebern mit in die Bibliographie aufnehmen. 17 „The connections reflected by citations are not necessarily causal links: in other words, patentpaper citation data are more appropriate for statistics on the interaction between science and technology, rather than the strength of those linkages or the degree of connectedness“ (Tijssen 2004: S. 704).
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schmälern, d.h. nahelegen könnten, dass seine Erfindung sich in zu enger kognitiver Nähe zum Stand der Technik befindet und einer genauen Prüfung auf „nonobviousness“ (siehe hierzu oben S. 109) nicht Stand halten könnte. Der Patentierende, in aller Regel ein durch Profitabilitätserwägungen gesteuerter unternehmerischer Akteur, möchte sein Wissen zunächst grundsätzlich gar nicht publizieren. Er muss es aber tun, wenn er seine Marktinnovation rechtlich durch das Patent absichern möchte, um einen möglichst maximalen privaten Nutzen zu generieren. Das patentierende Unternehmen verfolgt in dieser Situation eine ‚Mini-Max-Strategie‘, d.h. legt es darauf an, die Öffentlichkeit des Patents zu minimieren und den privaten Nutzen, d.h. die Weite des Patentanspruchs, zu maximieren.18 Diese Grundkonstellation kontrastiert fundamental mit der Situation des primär akademisch vernetzten Wissenschaftlers, dessen privater Nutzen in einem positiven Steigerungszusammenhang mit seiner öffentlichen Sichtbarkeit steht und für den die Idee, Zitationen seiner Publikationen zu vermeiden, einem sehr irritierenden Gedanken gleich kommen muss.19
P ATENTSCHRIFT UND P UBLIKATION : D IVERGENZEN UND K ONVERGENZEN Patentschriften schreiben und Patente anmelden sind Praktiken der Wissensauswertung, die viele Parallelen zum wissenschaftlichen Publizieren aufweisen. Wie die wissenschaftliche Publikation transportiert auch die Patentschrift verschriftlichtes Wissen und unterliegt spezifischen Dokumentations- und Formalisierungszwängen, die man berücksichtigen muss, wenn man erfolgreich am System teilhaben möchte. Und wie bei wissenschaftlichen Publikationen erfolgt die Vernetzung von Patentschriften über Zitationen, wobei sich wie gezeigt beide Zitationstypen zunächst funktional äquivalent als Prozessoren und Dokumentatoren von kognitiven Verknüpfungen begreifen lassen. Aber die Patentzitation entfaltet 18 Alternativ entschließen sich viele Unternehmen dazu, überhaupt nicht zu patentieren und auf funktionale Äquivalente der Amortisierung von F&E-Aufwendungen wie Geheimhaltung oder „first-to-market“-Effekte zu setzen; vgl. hierzu mehr unten in Kap. 7. 19 Allerdings ist es auch für Unternehmen wichtig, die Reputation ihrer angestellten Forscher zu fördern. Zum einen, um die Motivation ihrer auch an akademischem Prestige interessierten Forscher zu fördern und zum anderen, um über diese Forscher Zugang zu akademischen Netzwerken und dem dort zirkulierenden Wissen zu erhalten; siehe hierzu auch unten S. 337ff.
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im Prüfungsverfahren primär rechtlich-normative Relevanz und eine Patentschrift ist für den Anmelder letztlich nur dann brauchbar, wenn die Patentansprüche einer Patentklage oder anderen Patentrechtsmitteln standhalten können: „Just as an academic publication is only effective as the citations that show its use, the patent is worthless (indeed, very costly) if it will not stand up in court and also beat the competition” (Myers 1995: S. 73).20
Um diesen Punkt noch einmal fest zu halten: im Patentsystem ist es entscheidend, über solide Rechtsansprüche, d.h. sogenannte „starke Patente“ mit möglichst weitreichenden und belastungsfähigen Patentansprüchen zu verfügen, mit anderen Worten: Rechtsansprüche durchsetzen zu können. In der Wissenschaft kommt es dagegen darauf an, mit zitier- und reputationsfähigen Wahrheitsbehauptungen aufwarten zu können. Indem das Patentsystem sich im operativen Rekurs auf Normativität schließt, immunisiert es sich gegenüber Anforderungen wissenschaftlicher Wahrheit und Reputation – bei Patentkommunikation geht es grundsätzlich um etwas Anderes. Die Funktionssysteme Wissenschaft und Patentrecht, die sich über das laufende Prozessieren von Publikationen operativ fortpflanzen, sind auf dieser strukturellen Ebene also als überschneidungsfrei zu denken. Funktionale Autonomie schließt allerdings die wechselseitige Inanspruchnahme von zunächst ‚fremdproduziertem‘ Wissen in den Netzwerken von Publikationen und Patentschriften nicht aus. Gemeint ist die Möglichkeit, dass Patentschriften und Publikationen den jeweils anderen Veröffentlichungstyp durch Zitationen in die eigenen Kommunikationsnetzwerke einbinden. Diese Möglichkeit ist immer gegeben und lässt sich auch für beide Richtungen beobachten. Während akademische Publikationen Patentschriften allerdings nur relativ selten zitieren (vgl. Glänzel/Meyer 2003), werden Publikationen von Patentschriften in einem signifikanten Ausmaß zitiert. Diese Referenzen werden in der Szientometrie Nichtpatentzitationen („non patent references“) genannt.
20 Auf diese unterschiedlichen Selektionslogiken, die über die Wertigkeit von Patenten und Publikationen entscheiden, weisen auch Gittelman/Kogut 2003 am Beispiel von Biotech-Patenten hin.
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Nichtpatentzitationen Nichtpatentzitationen sind patentschriftliche Referenzen sogenannter „Nichtpatentliteratur“ (NPL); es handelt sich hierbei neben einigen kleineren Randbereichen wie technischen Reports und Berichten zu Standards und Normen vor allem um akademische Publikationen handelt (vgl. überblickend Callaert et al. 2006). Im Durchschnitt entfallen 20% der Referenzen aus Patentschriften auf Nichtpatentzitationen und von diesen referieren die meisten Zitationen akademische Veröffentlichungen (Michel/Bettels 2001). Akademische Veröffentlichungen sind wie alle anderen verfügbaren Druckschriften integraler Bestandteil des „Stands der Technik“, dem zum Tag der Patentanmeldung öffentlich zugänglichen Status quo technischen Wissens (s.o. S. 111ff.) Sie werden sowohl vom Anmelder als auch vom Patentprüfer zitiert; häufig finden sie ferner in Nichtigkeitsklagen als „Entgegenhaltungen“ Verwendung und üben dort dann eine neuheitsschädliche und damit patentverhindernde Wirkung aus, falls sie zuvor übersehen worden waren und somit die Neuheit und die Originalität der zum Patent beantragten Erfindung überschätzt worden war. Die Nichtpatentzitation bindet das akademische paper in die Operationen des Patentrechts ein und beobachtet das in der Publikation enthaltene Wissen nach den für die Patentfähigkeit einer Erfindung maßgeblichen Rechtskriterien. Besonders hoch ist der Anteil von Nichtpatentzitationen erwartungsgemäß in wissenschafts- bzw. grundlagenforschungsaffinen Forschungsfeldern wie den „Life Sciences“, in denen sich Erfindungen und Entdeckungen (s.o. S. 97ff. zur juristischen Begrifflichkeit) manchmal nur mehr schwer auseinanderhalten lassen und in denen das hohe Ausmaß an personalen und institutionellen Verflechtungen die in anderen Gebieten institutionell deutlicher gezogenen Demarkationslinien zwischen akademischer und industrieller Forschung undeutlich werden lässt. So ergaben etwa Studien zu Nichtpatentzitationen in US-amerikanischen Biotech-Patenten, dass ca. 70% aller Zitationen Artikel referierten, die von „public science institutions“ wie NIH-Instituten und wissenschaftlich führenden Universitäten wie zum Beispiel der Harvard University autorisiert wurden (vgl. etwa McMillan/Hamilton III 2007). In technologischen Bereichen wie Halbleitern oder elektronischen Konsumgütern ist die „science intensity“ – gemessen durch Nichtpatentzitationen – demgegenüber sehr gering (vgl. etwa am Beispiel von Patenten in den USA Guan/He 2007). Nichtpatentzitationen werden somit zu einem wichtigen Teilaspekt einer vor allem in der biotechnologischen Forschung beobachtbaren Tendenz einer voranschreitenden Konvergenz von primär industriell und primär akademisch orientierten Beobachtungshorizonten: die Selektionshorizonte von Forschern und Or-
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ganisationen münden in ein universalisiertes, sektorübergreifendes Beobachten im Medium des „Stands der Technik“. Patente und Publikationen stellen für Forscher in diesen Bereichen punktuell informationell gleichwertige Quellen dar. Diese Konvergenz der patentrechtlichen und wissenschaftlichen Horizonte wird durch die in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten stark veränderten kommunikationstechnischen Möglichkeiten des simultanen Beobachtens und Rezipierens von Patentschriften und Publikationen mit hervorgebracht. Zu nennen sind hier insbesondere elektronische Datenbanken, die immense Quantitäten von Patentschriften und Publikationen prozessieren und für übergreifende Recherchen zur Verfügung stellen. Ein wichtiges Beispiel sind die CHEMICAL ABSTRACTS (CA) der amerikanischen Gesellschaft für Chemie, in denen man in einer Suchroutine nach Namen, Stichwörtern, Substanzen etc. in Patentschriften aus 60 Patentämtern und Publikationen aus den führenden 10.000 journals recherchieren und sich somit sehr schnell einen Überblick zum „state-of-the-art“ verschaffen kann (CA Plus).21 Szientometrische Studien weisen darauf hin, dass die sektorübergreifende Rezeption und Auswertung von technologischem Wissen vor allem ein Charakteristikum wissenschaftlicher Eliten ist, die imstande sind, über institutionelle Grenzen hinweg Ressourcen und Reputation zu mobilisieren. So patentieren „Star scientists“ an „Research One universities“ (Owen-Smith 2003) nicht nur zusätzlich ihre Forschungsergebnisse, sondern publizieren auch noch deutlich mehr als ihre nicht patentierenden Kollegen22, und Nichtpatentzitationen referieren mit einer neun Mal höheren Wahrscheinlichkeit Publikationen aus dem Top-Perzentil der meistzitierten Papers als beliebige andere Papers (Hicks et al. 2001).
21 „An integrated chemical and scientific resource of journals, patents, and reputable web sources. CAS databases provide millions of journal article references from more than 10,000 major scientific journals worldwide, patent and patent family references from 61 patent authorities around the world, and other reputable web sources“ (Herv. C.M., www.cas.org; Search: „CAS databases provide“). 22 Am Beispiel der Nanotechnologie vgl. etwa Meyer 2006; vgl. überblickend auch Czarnitzki/Glänzel/Hussinger 2007, 2009.
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UND - STATISTIKEN
„Indikatorfunktion“ des Patents Bisweilen wird in Ergänzung zur „Schutz- und Öffentlichkeitsfunktion“ von der „Indikatorfunktion“ des Patents gesprochen (vgl. etwa Schade 2006: S. 11). Diese zusätzliche Inanspruchnahme des Patentsystems macht sich den Sachverhalt zunutze, dass die „document circulation“ von Patenten einen permanenten, statistisch sehr gut bearbeitbaren Strom an quantitativen Daten produziert, die sich für Zwecke der Analyse und Evaluation von Forschungsaktivitäten und der Steuerung der Allokation von Forschungsressourcen benutzen lassen.23 Patentbezogene Indikatoren gehören neben der Messung von akademischen Publikationen und Verteilungen von wissenschaftlichen Zitationen zu den wichtigsten Kennzahlen für die Messung des „outputs“ von Forschern und Forschungsorganisationen (S&T-indicators).24 Das methodische Vorbild für die Anwendung von Patentindikatoren sind szientometrische Studien zur Distribution von Publikationen und Zitationen in der akademischen Wissenschaft, die ursprünglich von Eugene Garfield und Derek de Solla Price angeregt wurden (Garfield 1955, de Solla Price 1963). Auszählungen von Publikationsverteilungen und die Analyse und Visualisierung von Zitationsströmen belegen extreme Konzentrationsmuster, die auf Effekte kumulativer Abweichungsverstärkungen im Medium wissenschaftlicher Reputation zurückgeführt werden.25 Ein weiteres interessantes Beispiel sind Analysen von internationaler Ko-Autorschaft als Maß für internationale Kollaborationen zwischen Forschern und Forschungsinstituten und Messungen zur wissenschaftlichen Produktivität einzelner Staaten. Um ein Beispiel zu geben: Aktuellere Analysen und Prognosen zeigen, dass China insbesondere aufgrund eines sehr star23 Griliches schwärmt bei einem Überblick zu Indikatoren von der Anwendungsbreite und Güte von Patentdaten und -statistiken: „In this desert of data, patent statistics loom up as a mirage of wonderful plenitude and objectivity“ (Griliches 1990: S. 1661). 24 Als Überblick zu Science and Technology-Indicators vgl. Godin 2003 und die Beiträge in Moed/Glänzel/Schmoch 2004. 25 Robert K. Merton hat bekanntlich in Anlehnung an das Matthäus-Evangelium das Wort vom „matthew effect“ geprägt: Wer zitiert wird, wird häufiger wieder zitiert, was seine Chancen, erneut zitiert zu werden, weiter erhöht (Merton 1988); vgl. auch de Solla Price 1965 (v.a. S. 515); siehe klassisch für die Behauptung einer eklatanten Ungleichverteilung wissenschaftlicher Produktivität auch Lotka 1926 (Lotka’s law).
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ken Wachstums in den 1990er Jahren bereits seit mehreren Jahren den zweithöchsten Anteil des weltweiten Outputs an akademischen Publikationen verantwortet und in den nächsten Jahren die USA als Spitzenreiter überholen wird (vgl. The Royal Society 2011, Leydesdorff 2012). Anwendungsbeispiele für Patentindikatoren In Analogie zur szientometrischen Analyse von Publikationsnetzwerken werden auch Maßzahlen zu Patenten und Patentzitationen als Indikatoren technologischer Produktivität eingesetzt. Patentauszählungen zeigen z.B. für den Bereich der technischen Erfindungstätigkeit Muster der Konzentration von Produktivität, die der von Lotka für wissenschaftliche Tätigkeiten behaupteten „skewness“ entsprechen (vgl. Narin/Breitzman 1995, Ernst/Leptien/Vitt 2000). Diese Unterschiede lassen sich auf der Ebene von Individuen, Organisationen/Unternehmen, aber auch im Querschnittsvergleich von Staaten oder Regionen feststellen. Um ein Beispiel zu geben: Annähernd 60% aller deutschen Patentanmeldungen beim DPMA stammen von Anmeldern aus Baden-Württemberg und Bayern während etwa die fünf neuen Bundesländer mit 5,4% nur einen geringen Teil des Patentanmeldeaufkommens auf sich vereinen.26 Internationale Patentanmeldungen werden in den Science & TechnologyStudies beispielsweise als Indikator zur Messung der Globalisierung von Forschung und Entwicklung benutzt. Diese vollzieht sich vor allem über eine Internationalisierung von Strategien der technologischen Auswertung und nur in einem weit geringeren Maße über eine Globalisierung der Standorte technologischer Produktion (vgl. überblickend Archibugi/Michie 1995). Das massive Anschwellen des weltweiten Patentaufkommens lässt sich somit nicht ausschließlich auf eine allgemein gestiegene technologische Produktivität und Patentierungsneigung zurückführen; es ist vor allem auch Ausdruck der sich intensivierenden internationalen Anmeldung von Patenten in verschiedenen Wirtschaftsräumen und somit ein Indikator für die Globalisierung technologieintensiver Märkte. Patentanmelde- und Erteilungsstatistiken der World Intellectual Property Organization (WIPO) und der drei wichtigsten Patentämter aus den Vereinigten Staaten, Japan und Europa (USPTO, JPO, EPO) dokumentieren die hohe Konzentration technologischer Produktions- und Absatzmärkte in der gegenwärtigen Weltwirtschaft.
26 Auf Baden-Württemberg und Bayern entfallen 144 bzw. 101 Anmeldungen auf 100.000 Einwohner, auf Mecklenburg-Vorpommern beispielsweise lediglich 11; vgl. Deutsches Patent- und Markenamt 2011: S. 7.
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Abbildung 3: Weltweite Verteilung von Patenterteilungen im Jahr 2000
18% 26%
Andere USA
25%
Japan 31%
Europa
Abbildung 4: Weltweite Verteilung von Patenterteilungen im Jahr 2009
15% 39%
Andere USA
25%
Japan 21%
Europa
Die Abb. 3 und 4 veranschaulichen die Anteile der drei wichtigsten Patentämter und der restlichen Länder am weltweiten Aufkommen von Patenterteilungen für die Jahre 2000 und 2009. Der Bedeutungszugewinn der „Anderen“ geht vor allem auf das starke Wachstum in Korea und China zurück.27 Patentzitationen werden als Annäherungsmaß für die unterschiedliche technologische Relevanz einzelner Patente und die Dokumentation von technologi27 Eigene Darstellungen, zu den verwandten Daten aus den „trilateral offices“ siehe www.trilateralnet.org/statistics; man spricht inzwischen auch von den „IP-5“ (USA, Japan, Europa, China, Korea): siehe www.fiveipoffices.org.
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schen Wissensflüssen genutzt.28 Bei der Analyse von Patentzitationen ist allerdings deren bereits erwähnte Eigenart zu berücksichtigen, nicht (ausschließlich) auf eine eindeutige Forscheradresse zurechenbar zu sein. Nichtsdestotrotz lassen sich vorbehaltlich dieser methodischen Beschränkung aus den gut dokumentierten und recherchierbaren Patentzitationen statistische Kennzahlen zu technologischem „knowledge spillover“ – zwischen verschiedenen Forschungsadressen wie Universitäten und Unternehmen, zwischen Adressen in verschiedenen Staaten, zwischen verschiedenen Personen etc. – generieren. Diese lassen sich z.B., wie wir oben bei der Diskussion von Nichtpatentzitationen bereits angedeutet hatten, als Maß für die Verdichtung von Zusammenarbeit und Konkurrenz, z.B. in nationalen oder regionalen Innovationssystemen oder der „Triple Helix“ von Universität, Wirtschaft und Politik“ statistisch interpretieren.29 Eine in diesem Kontext interessante Frage ist, ob sich ein statistischer Zusammenhang zwischen der technologischen Bedeutung eines Patents (operationalisiert über die Häufigkeit des Zitiertwerdens) und dem kommerziellen Wert eines Patents beobachten lässt: „One quote, one penny?“ (vgl. Trajtenberg 1990). Mit anderen Worten: sind Patente, die in einem technologischen Feld auf herausragende Art und Weise den state-of-the-art repräsentieren, auch von besonders hohem wirtschaftlichem Wert? Verschiedene bibliometrische Studien kommen zu dem Schluss, dass sowohl die Anzahl von Anschlusszitationen durch andere Patentschriften (subsequent citations) als auch die Anzahl von Zitationen in der Patentschrift (backward citations) positiv mit dem finanziellen Patentwert (operationalisiert als Kaufpreis, für den der Patentinhaber eine Lizenz zu vergeben bereit wäre) korrelieren. Der Anzahl an Nichtpatentzitationen zu akademischen Artikeln kommt dagegen in den meisten Branchen kein Erklärungswert zu, mit den interessanten Ausnahmen Pharma und Chemie.30
28 Vgl. grundlegend zu Methode und Theorie von Patentzitationen als Forschungsindikatoren Carpenter/Narin 1983, Griliches 1990, Narin 1994; siehe auch das Handbuch der OECD 1994. 29 Vgl. als selektive Hinweise: Lundvall 1992, Nelson 1993 zu „innovation systems“ und Etzkowitz/Leydesdorff 1997, Etzkowitz 2003 zur „triple-helix“. 30 Am stärksten korreliert allerdings das Auftreten von Einspruchs- oder Klageverfahren mit dem Patentwert; vgl. Allison et al. 2004, Hall/Jaffe/Trajtenberg 2005; siehe auch überblickend Giummo 2010, insbesondere die Tabellen auf S. 970 und 976.
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„Nebenwirkungen“ von Patentindikatoren In den Science & Technology-Studies (STS) läuft seit einigen Jahren ein Diskurs, der sich kritisch gegen die zunehmende Verwendung von quantitativen Indikatoren bei der Evaluierung von Forschungsleistungen, insbesondere in der akademischen Wissenschaft, wendet. Eines der Hauptargumente der Kritiker lautet, dass die Benutzung von Kennzahlen wie z.B. dem Hirsch-Index und der metrischen Kennzahlen anhaftende Trend zur Klassifikation der beobachteten Leistungen in Rankings (z.B.: Uni A: 280 Patentanmeldungen, Uni B: 123 und Uni C: „nur“ (!) 18) die Wissenschaft mit einem Zwang zur rastlosen Mehr- und Überproduktivität („publish or perish“) beeinflusse, der deutliche Qualitätseinbußen zur Folge habe.31 So zeigt etwa eine Studie zum Publikationsverhalten von Forschern an australischen Universitäten, dass die Verwendung von „publication counts“ als Entscheidungsparametern der Forschungsförderung zu einem signifikanten Anstieg von Publikationsaktivitäten, insbesondere in qualitativ als weniger wertvoll eingestuften „lower impact journals“ führte.32 Wir vermuten, dass auch Patentindikatoren und -statistiken vergleichbare performative Effekte entfalten. Die in Analogie zu Beobachtungen der Effekte von Wissenschaftsindikatoren entwickelte These, ist, dass Patentstatistiken nicht nur ‚objektiv‘ Verteilungen von Patentanmeldungen messen, sondern in einem komplexen Sinne auf das Patentierungsverhalten selbst einwirken und auch bei der Formulierung von Konzepten und Modellen der Forschung(sförderung)
31 Für skeptische Einschätzungen in diese Richtung siehe etwa van Raan 2005, Weingart 2005; zur „Tonnenideologie“ der Forschung siehe auch Kieser 2010; lesenswert auch Schollwöck 2009. 32 Butler 2004; zur „reactivity“ auf „public measures“ siehe am Beispiel einer Studie zu US-amerikanischen law schools auch interessant Espeland/Sauder 2007, vgl. auch Wedlin 2006. Dass Statistiken und Aggregationsmodelle das Beschriebene und Gemessene in Richtung einer Approximierung der formulierten Modelle verändern können, wurde auch in verschiedenen Studien zur „performativity“ von „economics“ gezeigt (vgl. etwa MacKenzie 2009). Ein interessantes Beispiel ist „Moore’s Law“, das prognostiziert, dass sich die Anzahl der Schaltelemente in integrierten Schaltkreisen im Zweijahresrhythmus (zunächst sprach Moore von einem Jahr) verdoppelt; der Versuch, dieses ‚Gesetz‘ zu belegen, bestimmt in Form einer auch von Moore selbst so bezeichneten „self-fulfilling prophecy“ die Entwicklungsziele der Chip-Industrie (vgl. den Eintrag in www.wikipedia.de).
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maßgeblich beteiligt sind.33 Ob im Fall des universitären oder industriellen Forschers, des Forschungsabteilungsleiters, des Forschungsministers und vieler weiterer Akteure: (Mehr) Patente gelten als Nachweis einer höheren technologischen Aktivität und lassen sich für die persönliche Vita und somit für Karriereund Gehaltschancen symbolisch auswerten. Patenten dienen z.B. als Argument dafür, bei der unternehmensinternen Forschungsmittelvergabe bevorzugt behandelt zu werden und lassen sich auch in nationalen und internationalen Forschungsministertreffen als Beleg einer innovationsorientierten Forschungspolitik gut ‚verkaufen‘ etc. Insofern es also auf sehr verschiedenen Ebenen Anreize dafür gibt, in Patentstatistiken und insbesondere patent rankings an einer günstigen, d.h. weiter oben befindlichen Stelle platziert zu sein, stellt sich für alle beteiligten Akteure ein kompetitiver Zwang zum ‚Mitziehen‘ ein: Man hat im Zweifelsfall besser ein Patent mehr als ein Patent weniger. Wir gehen demnach davon aus, dass das Wissen um und die Nutzung von patent metrics selbst einen Trend zum Mehrpatentieren stimuliert und somit am starken Anschwellen von Patentanmeldezahlen mit beteiligt ist. Insbesondere das Ranking und Benchmarking von patent counts – Forscher vs. Forscher, Abteilung vs. Abteilung, Region vs. Region, Staat vs. Staat etc. – stehen offenbar in einem wechselseitigen Steigerungszusammenhang mit der Zunahme von Patentaktivitäten. Je mehr patentiert wird und je mehr dies als Ausdruck von Innovativität und Produktivität (positiv) gewertet wird, desto intensiver und aufwendiger werden diese Zahlen erhoben, korreliert, ‚gerankt‘ etc., um dann in Form von Steuerungsparametern34 in das anhand von Patentdaten scheinbar im „Urzustand“ gemessene Niveau technologischer Innovativität und Produktivität zu interferieren.35 Weil es z.B. heißt, dass hochinnovative Firmen besonders häufig
33 In einem interessanten Artikel zeigt Godin 2006 auf, dass statistischen Indikatoren eine wesentliche Rolle für die Formulierung des „linear model of innovation“ zukam und die Verfügbarkeit von zu diesem Modell passenden statistischen Daten zu dessen fortwährender steuerungspolitischer Benutzung beiträgt, obwohl (uni-)lineare Innovationsmodelle von den meisten Forschern als obsolet angesehen werden. 34 Denkbare Beispiele: „Wir müssen nächstes Jahr mehr Patente als Hessen haben“; „In 2010 jede Forschungsabteilung 10% mehr Erfindungsmeldungen pro Jahr“; „Wir müssen annähernd so viele Patentanmeldungen produzieren wie die Transferstelle an der RWTH Aachen“. 35 In einem Beitrag zu S&T-Indikatoren weisen Freeman und Soete auf diesen Zusammenhang hin und zitieren das „Goodhart Law“: „The reason that we will tend to affect the statistic in the cheapest and simplest ways, which are probably going to be those
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patentieren und dass die besten Universitäten auch die meisten Patente halten, setzen (vermeintlich) weniger innovative Firmen und Universitäten mitunter alles daran, im nächsten Ranking deutlich besser auszusehen, um sich im „numbers game“ (vgl. Int.-Nr. 17) um Aufmerksamkeit, Reputation und Forschungsgelder eine gute Ausgangsposition zu verschaffen.36 Es wäre lohnenswert, Gedankengänge zu dieser (latenten) Funktion von Statistiken theoretisch zu verfeinern, am Beispiel von Patentindikatoren und Patentrankings empirisch zu plausibilisieren und ggfls. auf weitere soziale Zusammenhänge anzuwenden (vgl. Andeutungen hierzu ausgehend vom Sport bei Werron 2005a, 2007).37 Eine solche Analyse würde vielleicht dafür sensibilisieren können, dass der als Nebeneffekt (Haupteffekt?) der zunehmenden Erfassung und statistischen Verarbeitung von Patentdaten steigende Vergleichs- und Konkurrenzdruck eher zu einem Mehr an Patenten und damit auch einem Mehr an der grundsätzlich zu vermeidenden Monopolwirkung führt. Einsichten dieser Art wären ein Problem für die Apologeten der „Informationsfunktion“ des Patents und eine Erschütterung des Glaubens, mit einem Mehr an Öffentlichkeit, Transparenz und Analyse von Patentwissen die bisweilen als wettbewerbsschädlich eingestufte normative (Monopole erzeugende) Funktion des Patents besser kompensieren zu können.38
which artificially inflate the statistic without addressing the problem it is supposed to measure. The correlation measured „in the wild“ and the correlation once we start targeting this statistic will usually be different“ (Freeman/Soete 2009); vgl. auch interessant Wilhite/Fong 2012, die in ihrer Studie zu „coercive citation in academic publishing“ zeigen, dass wissenschaftliche Zeitschriften vielen Autoren im Begutachtungsprozess ‚nahelegen‘, weitere Zitationen von Artikeln aus derselben Zeitschrift einzufügen – mit dem offensichtlichen Zweck, den eigenen „impact factor“ hochzutreiben. 36 Patente können insofern auch „symbolisch“ zu einem wichtigen asset werden (vgl. Long 2002); siehe dsbzgl. auch interessant Narin/Noma/Perry 1987, die in einer Studie zu US-amerikanischen Pharma-Unternehmen einen engen statistischen Zusammenhang zwischen der Anzahl gehaltener Patente und Experteneinschätzungen zur „corporate technological strength“ dieser Unternehmen belegen. 37 Vgl. auch die Überlegungen zu einer „Soziologie des Vergleichs“ Heintz 2010. 38 In diese Richtung äußerte sich ein Vertreter des Europäischen Patentamts bei einer Informationsveranstaltung zu „Science Metrics“ im Europäischen Parlament (14. April 2010). Es wurde postuliert, dass man durch eine gezieltere Analyse der wirtschaftlich „weniger wichtigen 80% aller Patente“, bei denen man gleich wohl hohes technologisches Innovationspotential vermutet (woher diese Einschätzung kam, blieb unklar),
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F AZIT : N ORMATIVITÄT , Ö FFENTLICHKEIT UND G EDÄCHTNIS Das Patentsystem lässt sich – in Analogie zur modernen Wissenschaft – als ein Dokumenten-prozessierendes öffentliches System begreifen, das durch Patentzitationen Patentschrift an Patentschrift, Veröffentlichung an Veröffentlichung, reiht und sozusagen als ‚Abfallprodukt‘ der Dokumentenzirkulation große Datenmengen erzeugt, die z.B. in der Wissenschaftsforschung als Patentstatistiken und Patentindikatoren zur Messung von technologischer Produktivität eingesetzt werden. Diese wichtige Dimension des Patents tritt an die Seite der im vorherigen Kapitel analysierten normativen Funktionalität der Patentkommunikation, technisches Wissen im Hinblick auf seine Patentfähigkeit zu beobachten. An dieser Stelle wollen wir den Zusammenhang zwischen der Normativität und der Öffentlichkeit des Patents noch einmal genauer auf den Punkt bringen und theoretisch einordnen. Dieses Zwischenfazit wird für die folgenden Kapitel als Grundlage dienen, in denen uns diese „two sides to the patent coin“ (Granstrand 1999: S. 71) in globalisierungs-, ausdifferenzierungs- und patentmanagementtheoretischer Hinsicht wiederbegegnen werden. Der Kern der Funktion und Autonomie des Patentsystems liegt in der kontrafaktischen Stabilität der Patentnorm begründet. Diese Funktion lässt sich nicht substituieren: würde sie entfallen, kollabierte das Patentsystem und mit ihm die Plausibilität der von uns gewählten soziologischen Beschreibung. Wir können uns damit die von der Vertragstheorie und vielen weiteren Beobachtern des Patents geteilte Hypothese, das Patent erfülle in Form der Patentschrift (primär oder zusätzlich) die Funktion der öffentlichen Verbreitung technischen Wissens (Öffentlichkeits- bzw. Informationsfunktion), nicht zu eigen machen. Wir begreifen den Aspekt der Transformation privat kontrollierten Wissens in öffentlich verfügbares Wissen zwar als wichtigen und auch in der sozialen Umwelt erwarteten und nicht mehr ersetzbaren Effekt des systemischen Funktionierens. Diese Leistung der permanenten Produktion kognitiven Outputs kann allerdings die im Recht ‚tiefer gelegte‘ Funktionalität des Systems als Zusammenhang von Patentnormen nicht substituieren:
einen wichtigen Beitrag zum Zweck der öffentlichen Wissensverbreitung leisten und somit ein Gegengewicht zur Monopolwirkung des Patents schaffen wolle; siehe hierzu auch oben Kap. 2.
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„Aber das System sieht sich nicht vor der Aufgabe, einen Wissenszusammenhang herzustellen und sich auch kognitiv zu schließen, wohl aber einen Normzusammenhang“ (Luhmann 1993: S. 81, Herv. i. O.).
Das Zitat betont die für das Rechtssystem fundamentale Leitdifferenz von normativer Schließung und kognitiver Öffnung. Interessant ist beim Patent, dass das System auf den von ihm selbst erzeugten Output in Form der Patentschrift insofern wieder reagiert, als es Patentschriften selbst als Dokumentation des Stands der Technik für die eigene Kommunikationen und Patententscheidungen nutzt. Damit muss die Funktion der Patentschriften in einem anderen Licht gesehen werden. Sie dienen nicht nur der öffentlichen Verfügbarmachung des Wissens in der wirtschaftlichen und politischen Systemumwelt (auch wenn dies auch zutrifft), sondern sie erfüllen im Sinne des im zweiten Kapitel eingeführten Funktionsbegriffs eine unersetzbare Funktion im und für das System selbst. Dieser systeminterne Bedarf für Öffentlichkeit hängt zusammen mit dem strukturellen Imperativ, absolute Neuheit und die entsprechenden Prioritäten eindeutig feststellen zu können. Die Öffentlichkeit der Patentschriften wird demnach in erster Linie zum strukturellen Erfordernis der eigenen rechtlichen Funktion, Patentansprüche kontrafaktisch zu stabilisieren, selbst. Der Zugriff auf Informationen und die erreichbare Komplexität des Entscheidens unter Wahrung von Gerechtigkeit lässt sich nicht mehr durch den Rekurs auf einzelne Personen (Patentprüfer, -richter, -anmelder etc.) und deren erinnernde Psychen konditionieren, sondern hängt entscheidend von der Interpretation der schriftlich zirkulierenden Dokumente, also davon ab, was sich öffentlich bzw. öffentlich nachvollziehbar feststellen lässt. Die Öffentlichkeit von Patentnormen und patentiertem Wissen wird zum konstitutiven Garanten von systemischer Rechtssicherheit, da man rechtsstaatlich eine Rechtsnorm nicht zur Geltung bringen kann, wenn derjenige, der ihr zuwider handelt, nicht zumindest die Möglichkeit der Kenntnisnahme besaß. Dieser Bedingungszusammenhang zwischen dem funktionalen Problem der Rechtssicherheit und der Öffentlichkeit wird auch vom Rechtsdogmatiker gesehen. Dort stellt sich dieses Problem allerdings vor allem in Bezug auf die Begründbarkeit und die Konsistenz juristischer Entscheidungen und Argumentationen vor dem Hintergrund bereits getroffener Entscheidungen.39 Die Rechtsdog39 Vgl. bereits ausdrücklich Kohler 1878: S. 378; Beier sieht in seinem Überblicksartikel zur „Informationsfunktion des Patentsystems“ in der Perspektive, die Öffentlichkeit des Patents mehr unter ihrem rechtlichen Aspekt der Abgrenzung des Schutzrechts und weniger unter dem technologischen Aspekt der Wissensvermittlung zu sehen, in-
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matik hat und benötigt somit auch keinen Blick für die sozialstrukturellen Effekte, die von der Öffentlichkeit von Systemoperationen hervorgebracht werden. Der Mehrwert einer systemtheoretischen soziologischen Perspektive besteht dann in der Erkenntnis, dass sich das System im Zuge der öffentlichen Verfügbarmachung von Patentansprüchen und Erfindungen im Medium der Patentschrift stärker auf zirkuläre und konnexionistische und damit eigenbestimmtere Formen der Patentkommunikation einstellt. Jede einzelne Patenterteilung, Patentverweigerung oder Patentklage, definiert sich dann gleichzeitig mehr von dem her, was sie nicht ist, d.h. durch die Differenz zu anderen Patenten, mit denen sie gleichzeitig verknüpft werden kann. Jedes Kommunikationselement entfaltet seine systemische Funktionalität im Kontext anderer Elemente und das System ‚ist‘ dann dieses ständige Schließen und Öffnen von Anschlusskontexten (différance). In Anlehnung an systemtheoretische Arbeiten zum Gedächtnis von Funktionssystemen kann man auch davon sprechen, dass das Patentsystem durch die Fundierung im Medium der Druckschrift eine eigene Form von Gedächtnis ausbildet (vgl. überblickend Esposito 2002). Was sich systemisch erinnern und vergessen lässt, hängt zunächst vor allem von den technischen Möglichkeiten der Verfügbarmachung, Zirkulation und selektiven Zugänglichkeit von Patentdokumenten ab. Unter dem Regime von Druckschriftlichkeit (und mehr noch seit der Durchsetzung elektronischer Patentdatenbanken) sind Operationen des sozialen Erinnerns und Vergessens dann nicht mehr abhängig von psychischem Erinnern, Mündlichkeit und dem „bona fide“ des Patentanmelders. Patentschriften kann man überall lesen, es gibt von ihnen heute beliebig viele Kopien, und man kann keinem das Lesen von Patentschriften untersagen. Dank der Ausbildung dieser öffentlichkeitsbasierten Gedächtnisfunktion werden Erfindungen und Patentansprüche somit über einzelne funktional spezifizierte Situationen hinweg dezentral miteinander vernetzbar. Kognitive Anschlüsse an das Systemgeschehen werden flexibilisiert und universalisiert und das Systemgeschehen wird dann zunehmend inklusionsfähig und irritabel. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ein ausdifferenziertes Patentsystem ohne diese in der Schriftlichkeit der Patentschrift angelegten Möglichkeiten der ‚zirkulären Zuspitzung‘ systemischen Kommunizierens nicht denkbar ist. Wie man Patente beobachten muss, wie man zitiert, wie man Patente rhetorisch ver-
teressanterweise ein besonderes „Defizit“ der (traditionell stark von Kohler beeinflussten) deutschen Patentrechtsdogmatik (Beier 1977: S. 286, Fn. 49), vgl. auch Ordover 1991.
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klausuliert, inwiefern Patentschriften neuheitsschädlich wirken können und welches Geschick man ausbilden muss, um mit allen diesen Komplikationen gewinnbringend umzugehen: All dies lässt sich nur mehr im System selbst nach Maßgabe selbstgeschaffener und selbstweiterentwickelter Prämissen, Ressourcen, Expertisen, das heißt systemspezifisch beurteilen. Diese öffentliche „document circulation“ erzeugt Dynamiken und Struktureffekte eigener Art, die im System selbst wirken und nicht mit der von uns als „Leistung“ reformulierten „Öffentlichkeitsfunktion“ des Patents für (vor allem wirtschaftliche) Umwelten des Patentsystems verwechselt werden dürfen. Bei der Öffentlichkeit des Patents geht es dann in erster Linie um die Öffentlichkeit des Systems selbst, d.h. um Öffentlichkeit als einen für die Funktionalität des Systems konstitutiven Modus des Kommunizierens und Beobachtens.
Kapitel 5: Die Welt der Patente: Weltgesellschaftstheoretische Perspektiven
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Macht es Sinn, eine globale Perspektive auf das Patentsystem erst im fünften Kapitel dieser Arbeit zu beginnen? Oder wäre es analytisch überzeugender gewesen, die Frage nach der Globalität bzw. Weltgesellschaftlichkeit des Patents ‚vor die Klammer zu ziehen‘ und alles weitere von dieser Perspektive aus zu entwickeln? Es handelt sich hier nicht um ein rein kompositorisches Darstellungsproblem, sondern um eine sehr grundsätzliche theoretische Frage, die auch an die Gesellschaftstheorie Niklas Luhmanns gerichtet worden ist. In der „Gesellschaft der Gesellschaft“ etwa ist das Thema „Weltgesellschaft“ explizit lediglich in Form eines kurzen Kapitels aufgenommen und steht in einem weiteren kurzen Teilkapitel im Fokus. Bei einem Blick in die Bücher zu den Funktionssystemen der modernen Gesellschaft findet man ferner sehr wenig zu konkreten, empirisch beobachtbaren globalen Formen und Strukturen der beschriebenen Systeme. In der „Wirtschaft der Gesellschaft“ sucht man z.B. vergeblich nach Passagen zu multinationalen Unternehmen und in der „Wissenschaft der Gesellschaft“ sucht man ebenso vergeblich nach einer empirischen Stützung der Argumentation auf Befunde zu scientific communities, transterritorialen Zitationsströmen, internationale Forschungseinrichtungen etc. als Mechanismen systemischer Globalisierung. Gleichzeitig ist evident, dass sich Luhmanns Werk insgesamt nicht des „methodologischen Nationalismus“ verdächtig gemacht hat. Dies zeigt sich insbesondere daran, dass Luhmann bereits sehr früh dafür optiert hat, den Begriff der Gesellschaft nur mehr im Singular zu verwenden. „Gesellschaft ist die eine Weltgesellschaft“, dieses Insistieren auf den Singular war in Luhmanns Theorie
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kein Wortgeplänkel, sondern seit Beginn der Theoriegenese eine dezidierte theoretische Aussage, die alle theoretischen Revirements überdauert hat.1 Dass Luhmann seine wesentlichen gesellschaftstheoretischen Werke nicht von der Zentralperspektive der Weltgesellschaft her durchgearbeitet hat, lag vermutlich auch daran, dass in den 1970er und z.T. auch noch in den 1980er Jahren keine Literaturkorpora vorlagen, die der Systemtheorie hinreichende kognitive Anschlüsse und Materialien zur Verfügung gestellt hätten (vgl. hierzu Stichweh 2001, 2002).2 Über diese exegetischen und wissenssoziologischen Fragestellungen hinaus gehend lässt sich ferner vermuten, dass auch in den Forschungsgegenständen, d.h. den Strukturen der sozialen Systeme selbst Gründe für die Schwierigkeit der Entwicklung einer vom Globalen ausgehenden theoretischen Perspektive liegen könnten. Denn, erinnern wir uns an dieser Stelle zunächst an die in Kapitel 2 formulierten Passagen zur Territorialität des Patentrechts, jedes Patent unterliegt dem Territorialitätsprinzip und kann demnach ausschließlich nationalstaatlich begrenzte Rechtsgeltung entfalten. Wie das Recht schlechthin zeichnet sich auch das Patentrecht durch eine territoriale Segmentierung in Nationalstaaten und den dort institutionalisierten Entscheidungszentren (Patentämter; Patentgerichte) aus und unterscheidet sich hierin von Kommunikationszusammenhängen wie Weltwirtschaft und Weltwissenschaft, für die transterritoriale Kommunikationsnetzwerke (scientific communities, internationale Finanzmärkte etc.) strukturprägend sind. Im Gegensatz beispielsweise zu Kunstwerken oder wissenschaftlichen Publikationen tragen Patente den Stempel der Territorialität und sind räumlich ‚indexikalisiert‘: Es gibt kein global geltendes Weltpatent. In Differenz zu Funktionssystemen wie Wissenschaft oder Wirtschaft entspricht dem universalen Weltentwurf, der Universalität des Systems, also keine Globalität in Form einer
1
„Eine Theorie der Gesellschaft kann heute nur, so viel ist zu sehen, eine Theorie der Weltgesellschaft sein und muß ihren Begriff der Gesellschaftsgrenze entsprechend abstrakt (und vielleicht uninstitutionalisierbar) ansetzen“ (Luhmann 1975: S. 61). „Singular oder Plural?“, fragt mit Blick auf den Begriff der (Welt-)Gesellschaft „wortgebrauchsanalytisch“ anregend auch Tyrell 2005.
2
Die Flut der Globalisierungsliteratur begann erst später in den 1980er Jahren zu steigen, um sich rasch in eine Springflut zu verwandeln. Weitere Begriffe und Theorien, die „methodological nationalism“ effektiv zu verabschieden im Stande gewesen wären, setzten sich erst nach und nach als auch globalisierungstheoretisch brauchbare Konzepte durch (z.B. der Netzwerkbegriff und einige Begrifflichkeiten des NeoInstitutionalismus).
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singulären globalen Relevanz einer rechtlichen Entscheidung: Ein Patent auf ‚dieselbe‘ Erfindung kann in Winterthur gelten, in Bregenz jedoch nicht, in China aber vielleicht schon, in Brasilien aber wieder nicht etc. (wir kommen auf die Unterscheidung von Universalität und Globalität unten auf S. 164 ausführlicher zu sprechen). Diese Inkongruenz von Universalität und Globalität versetzt das System in eine ‚Schieflage‘ gegenüber der Weltwirtschaft, deren wesentliche Protagonisten, die multinationalen Unternehmen, auf eine Anmeldung und Durchsetzung von Patentansprüchen in verschiedenen Regionen der Welt wirtschaftlich angewiesen sind. Die Globalität des Patents ist geltungsbezogen dann nur mehr in ‚verkappter‘ Form, nämlich in Form der multiplen Anmeldung von Patenten in Rechtsräumen mit Patentgesetzen, d.h. in der Form der Multi-Nationalisierung möglich und man muss sich dann noch nachdrücklicher mit der Frage auseinandersetzen, inwiefern sich das Patentsystem überzeugend als globales Kommunikationssystem denken lässt. Dass sich das (Patent-)Recht (und die Politik) in der unhintergehbaren nationalstaatlichen Imprägnierung ihrer Sinnbezüge maßgeblich von anderen Systemen und funktionalen Bereichen wie insbesondere Wirtschaft, Wissenschaft und Technologie unterscheiden, ist kein neuer Sachverhalt; auch wir haben ihn in den letzten Kapiteln schon des Öfteren (indirekt) gestreift und er wird von der klassischen Globalisierungstheorie auch häufig hervor gehoben. Im Kontext dieses Kapitels wird jetzt wichtig, dass dieser Befund von den meisten Forschern in die globalisierungstheoretische These hinein verlängert wird, dem Recht eine vergleichsweise geringe Globalisierungsfähigkeit zuzustehen. Politik und Recht, oder zusammengenommen: der nationale Verfassungsstaat, sind – so eine von vielen geteilte Einschätzung sowohl im wissenschaftlichen als auch im populären öffentlich-massenmedialen Globalisierungsdiskurs – mindestens Nachzügler, wenn nicht gar Verlierer der Globalisierung. Globalisierung wird von den Protagonisten Massenmedien, Wirtschaft und Wissenschaft-Technologie vorangetrieben und kann dann von Recht und Politik nur mehr permanent „erlitten“ und ‚nachrationalisiert‘ werden: „Die Kräfte der Globalisierung treiben aber das Recht gewissermaßen vor sich her. Nach alter Tradition marschiert das Recht auch im einzelstaatlichen Zusammenhang nicht vo-
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ran, sondern hinkt gewissermaßen der gesellschaftlichen Entwicklung hinterher“ (Voigt 1999: S. 30).3
Die ganz herrschende Meinung im rechtssoziologischen Globalisierungsdiskurs ist somit auch, dass sich Weltrecht, solange es keinen Weltstaat gibt, „nicht im Zentrum nationalstaatlicher oder internationaler Institutionen“, sondern nur „jenseits von Staatlichkeit entwickeln“ (Teubner 1996: S. 229) kann. Die Bindung des Rechts an den Nationalstaat verhindert die Entstehung von globalem Recht in Form einer Expansion konventionellen, nationalstaatlich einheitlichen Rechts. Solange ein Weltstaat, wenn auch mitunter als „inevitable“ (Wendt 2003) angesehen, weder in Reichweite, noch wünschenswert scheint, kann in dieser Lesart kaum von einem ‚echten‘ weltweiten Rechtssystem die Rede sein (so z.B. auch dezidiert Krawietz 2005). Luhmann teilt diese Ansicht grundsätzlich nicht, beurteilt die Globalisierungsfähigkeit des Rechts aber im Vergleich mit anderen Funktionssystemen ebenfalls relativ skeptisch. In seinem frühen, systemtheoretisch zunächst anschlusslos gebliebenen Text zur Theorie der Weltgesellschaft findet sich die These, dass sich die Weltgesellschaft zunächst und vor allem in denjenigen Bereichen konstituiert, in denen lernbereite, kognitive Erwartungsstile dominieren, d.h. insbesondere in Wirtschaft, Wissenschaft, Technologie: „Achtet man auf die Erwartungsstrukturen, die jene universell gewordenen Interaktionsfelder der Wissenschaft und der Technik, der Wirtschaft, der öffentlichen Kommunikation von Neuigkeiten und des Reiseverkehrs orientieren, dann fällt ein deutliches Vorherrschen kognitiver, adaptiver, lernbereiter Erwartungen auf, während normative, Moral prätendierende und vorschreibende Erwartungen zurücktreten“ (Luhmann 1975: S. 55).4
3
Diese Diagnose wird häufig in griffigen Dekadenz-, Retardierung-, oder Verabschiedungsformeln wie „the end of the nation-state“ (Ohmae), „postnationale Konstellation“ (Habermas), „Abschied vom Nationalstaat“ (Albrow) u.v.m. abgepackt. Viel zitiert in diesem Kontext auch die folgende ‚catch-phrase’ von Daniel Bell: „The nation state is becoming too small for the big problems of life, and too big for the small problems of life“ (Bell 1987: S. 13f.).
4
Und wenig später in einem Unterkapitel der „Rechtssoziologie“: „Die Weltgesellschaft konstituiert sich in primär kognitiven Erwartungseinstellungen. In spekulativer Überziehung dessen, was gegenwärtig schon sichtbar ist, könnte man von einer Verlagerung des Primats von normativen auf kognitive Mechanismen sprechen“ (Luhmann
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Entsprechend wird für das Rechtssystem‚ das normative System schlechthin, nur eine relativ ‚schwache‘ Begrifflichkeit von Weltrecht veranschlagt, die an Mindeststandards des Rechtsverständnisses, internationalen Übersetzungs- und Kollisionsregeln und einer weitgehenden Respektierung von fundamentalen Menschen- und Fremdenrechten festgemacht wird.5 Richtet man den Blick auf spezifischere Arbeiten zum internationalen Patentrecht, begegnet man unverändert dieser skeptischen Haltung gegenüber der Annahme der Globalität des Rechts. Von den meisten Autoren wird zwar immerhin ein inkrementeller, manchmal gar ein „strong drive toward a world patent system“ (Barton 2004: S. 341) diagnostiziert, die Existenz eines umfassenden Weltpatentsystems wird aber in der Regel explizit mit der Begründung negiert, dass noch keine internationale politische Einigung über ein einheitliches Weltpatent erzielt worden sei. „Weltpatentsystem”, oder „globales Patentsystem“ ist dort kein denkbarer Begriff, der das Patentsystem zu beschreiben versucht, sondern ein politisch-diplomatisches Projekt. Ähnlich wie viele Globalisierungsanalyen den Begriff der Weltgesellschaft zur Beschreibung eines (utopischen) zukünftig vielleicht möglichen Zustands benutzen, wird also auch der Begriff des Weltpatentsystems nicht zur Bezeichnung eines systemischen Realzustands eingesetzt, sondern lediglich als „Limesbegriff“ (Nassehi 2000: S. 262) mitgeführt.6 Indem die Benutzung dieses Begriffs an die Emergenz eines „truly world patent“ geknüpft wird, wird „Weltpatentsystem“ somit im Sinne eines empirisch einlösbaren Begriffs verunmöglicht. Zunächst sei festgehalten: diese zögerliche Haltung, das Recht im Allgemeinen bzw. das Patentrecht im Besonderen als globales Recht, oder als Weltrecht zu denken, überrascht uns nicht; sie befindet sich in Übereinstimmung mit einer Reihe von Prämissen des „main stream“-Globalisierungsdiskurses, von denen
1972: S. 340); vgl. als einen skeptischen Kommentar zur Stichhaltigkeit dieses Arguments Stichweh 2001. 5
Luhmann spricht an der referierten Stelle davon, dass „man in allen Regionen Rechtsfragen von anderen Fragen unterscheiden kann, in dem Übersetzungsregeln von einer Rechtsordnung in andere existieren, vor allem in der Form des internationalen Privatrechts, und man normalerweise beim Betreten eines Gebietes, in dem man nicht zu Hause ist, nicht damit rechnen muß, als rechtloser Fremder behandelt zu werden“ (Luhmann 1993: S. 573).
6
Für Recht allgemein: „Ein für alle Menschen dieser Erde geltendes und durchsetzbares, einheitliches Weltrecht von nennenswertem Umfang liegt noch in weiter Ferne. Lediglich Ansätze hierzu sind erkennbar“ (Voigt 1999: S. 22).
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wir uns im Folgenden distanzieren werden, indem wir eine andere Lesart der Globalisierung des Patentsystems bzw. von „Weltpatentsystem“ vorschlagen werden. Zu diesem Zweck werden wir im nächsten Abschnitt anhand zweier wichtiger Problemkreise die Hauptdifferenzen zwischen einem konventionellen globalisierungstheoretischen und einem weltgesellschaftstheoretischen Ansatz markieren und die Konsequenzen andeuten, die dadurch für das soziologische Denken über das Patentsystem entstehen. Das dadurch gewonnene konzeptionelle Potential wollen wir im Anschluss daran in der Anwendung auf das Patentsystem ausspielen und empirisch zeigen, inwiefern sich das Patentsystem sinnvoll als Weltpatentsystem beschreiben lässt.
D ER G LOBALISIERUNGSBEGRIFF DER W ELTGESELLSCHAFT
UND DIE
T HEORIE
Probleme mit „Globalisierung“ Globalisierung ist in den letzten Jahren zum wohl prominentesten Begriff nicht nur von sozialwissenschaftlichen, sondern auch populäreren, zeitdiagnostischen Diskursen geworden.7 Die Globalisierungsliteratur schwillt in einem derart atemberaubenden Tempo an, dass es bereits für kleinere disziplinäre Teilausschnitte der Globalisierungsdebatte als ausgeschlossen gelten muss, sich ein vollständiges Bild verschaffen zu können.8 Der Begriff selbst droht dabei zu einem „cliché” (Held et al. 1999: S. 1) abgewertet zu werden und mit dem Fortschreiten der Globalisierungsforschung wird es nicht eindeutiger, sondern zunehmend unklarer, was genau mit dem „all purpose buzz-word“ (Rowe 2003: S. 282) bezeichnet werden soll: 7
Hirst und Thompson bezeichnen den Begriff als „fashionable concept in the social sciences, a core dictum in the prescriptions of management gurus, and a catch-phrase for journalists and politicians of every stripe“ (Hirst/Thompson 2003: S. 98).
8
Vgl. hierzu und als informative soziologische Meta-Analyse der Leitlinien der Globalisierungsforschung Werron 2009 und 2012. Zum Anschwellen der Globalisierungsliteratur seit den 1980er Jahren vgl. auch Guillén 2001 (S. 239), der neben den Standardindikatoren (FDI etc.) die wachsende Globalisierungsliteratur als Indikator für Globalisierung aufzählt. Besonders rasant verlief das Wachstum zu Beginn der 1990er Jahre; zu dieser Zeit beginnt auch die Renaissance der systemtheoretischen Theorie der Weltgesellschaft unter anderem aufgrund der Beiträge Rudolf Stichwehs (kompiliert in Stichweh 2000).
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„Indeed, globalization itself is such a buzz word that seems to have achieved hegemonic status in the social science vocabulary. No global understanding has been reached, however, as to the exact meaning and implications of ‚globalization‘“ (Wimmer 2001: S. 435).9
Wir wollen an dieser Stelle nicht auf die daraus resultierenden Probleme im Detail eingehen, geschweige denn auch nur die wichtigsten Inhalte der Globalisierungsdebatte referieren. Wir beschränken uns daher im Folgenden auf die Diskussion zweier Problemkreise: das „Auszählproblem“ und den Umgang mit Inhomogenität und Ungleichheit.10 Enträumlichung und das „Auszählproblem“ Ein erster Problemkreis liegt in der für weite Teile der Globalisierungsdebatte charakteristischen Festlegung auf einen primär räumlich konnotierten Begriff von Globalisierung. Globalisierung wird als ein Prozess der (zunehmenden) Verknüpfung über (große) räumliche Distanzen hinweg gedacht. Die viel zitierte Formel von Anthony Giddens bringt dieses Verständnis gut auf den Punkt. Globalisierung wird dort definiert als „intensification of worldwide social relations which link distant localities in such a way that local happenings are shaped by events occuring miles away and vice versa“ (Giddens 1990: S. 64).11
Das Denken von Globalisierung in Termini von Räumlichkeit bzw. (zunehmender) Interkonnektivität über (weite) Distanzen wird in vielen Ansätzen in Thesen 9
Stiglitz spricht in diesem Sinne auch vom „overselling of globalization“ (Stiglitz 2005).
10 Als Blicke über Leitthemen der Globalisierungstheorie vgl. etwa Lechner/Boli 2000, Robertson 2001, Held/McGrew 2000. Wir müssen vor diesem bereits hochselektiven Vorgehen einen weiteren Schnitt setzen, indem wir diejenigen Bereiche des Globalisierungsdiskurses, die Globalisierung von vorneherein mit wirtschaftlicher Globalisierung gleichsetzen, vollkommen ausblenden. 11 „Globalization, simply put, denotes the expanding scale, growing magnitude, speeding up and deepening impact of transcontinental flows and patterns of social interaction. It refers to a shift or transformation in the scale of human organization that links distant communities and expands the reach of power relations across the world’s regions and continents“, um ein weiteres Beispiel für eine typische Formulierung im Mainstream des Globalisierungsdiskurses wieder zu geben (Held/McGrew 2002).
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von der „Zerstörung“ oder „Kompression“ des Raums verlängert, die postulieren, dass die Kategorie des Raums in der globalen Gesellschaft zunehmend an Bedeutung verliert, insbesondere weil die universelle Verfügbarkeit von „Echtzeitmedien“ den Raum zunehmend in Zeit verrechenbar erscheinen lässt.12 Diesem Befund der (relativen) „Bagatellisierung des Standorts“ (Luhmann) ist an sich grundsätzlich zuzustimmen und auch wir werden weiter unten die Bedeutung von elektronischer Kommunikation auf Weltpatentkommunikation heraus arbeiten. Allerdings ist es deswegen noch nicht zutreffend, Enträumlichung mit Globalisierung gleichzusetzen. Ferner darf die Relevanz dieses Aspekts der gesellschaftlichen „Kontrolle des Raums“ (Stichweh 2003) nicht über ein anderes, sehr weitreichendes Erkenntnisproblem hinwegtäuschen, das man sich unweigerlich einhandelt, wenn man Globalisierung (Verweltgesellschaftung) primär oder ausschließlich über die (zunehmende) räumliche Distanz zwischen Kommunikationspartnern versteht. Wir definieren dieses „obstacle épistémologique“ in Anlehnung an eine Aussage von Niklas Luhmann als Auszählproblem. Wenn man Globalisierung (fast) ausschließlich über die Raumdimension (und ihrer Überwindung ohne oder mit nur mehr geringem Zeitverlust) – man ist geneigt zu sagen: logistisch – definiert, handelt man sich die ebenso prekäre wie häufig übersehene Erkenntnisbarriere eines Globalisierungsbegriffs ein, der sich negativ über die Gegenbegrifflichkeit des Lokalen definiert. Man läuft dann in die Falle einer „Zwei-Reiche-Lehre“ von Globalem und Lokalem: Etwas ist entweder ein globales oder ein lokales Phänomen, ohne dass präzise Parameter zur Bestimmung von Globalität oder Lokalität zur Verfügung stünden. Ein Flug London-Sydney ist „global“, eine Zugfahrt von Freiburg nach Mailand aber nicht, so eine sicherlich bei vielen auf Zustimmung treffende Intuition. Wenn man sich mit Intuitionen analytisch nicht zufrieden geben will, stellt sich dann aber die Frage, wo man die Grenze zwischen Globalität und Lokalität ziehen soll: Bei 1700 km, oder doch erst ab (transatlantischer) Überquerung des Ozeans, oder reicht per se die Überquerung einer territorialen Grenze etc.?13 Man kann dann dem Problem dahingehend ausweichen, dass man immer von Mischverhältnissen ausgeht, anders ausgedrückt: die Unterscheidung von global und lokal als in sich wiedereintrittsfähig denkt. Aber auch „glocalization“
12 Giddens etwa spricht von der „Distanzierung von Raum und Zeit“ (time-spacedistantiation), Harvey von „time-space-compression“ und Cairncross von der „destruction of space“; siehe hierzu und zu den Literaturhinweisen Stichweh 2003. 13 Luhmann weist in der entsprechenden Passage darauf hin, „daß sich das Problem nicht einfach durch Klassifikation und Auszählung lösen lässt“ (Luhmann 1975: S. 67).
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(Robertson 1995) ist dann – wenn auch sehr prominent – nicht viel mehr als ein ‚work-around‘ und keine überzeugende, das analytische Problem effektiv lösende Alternative: Man ‚entgeht‘ dem Problem dadurch, dass man etwas nicht als global oder lokal definiert, sondern sagt, dass ohnehin immer schon „glokale“ Situationen beobachtbar seien. Aber was ist damit analytisch gewonnen, warum sollte man den Begriff der Globalität oder das Begriffspaar global-lokal dann überhaupt noch benutzen?14 Neben Kilometer als ‚Maßeinheit von Globalisierung‘ kursieren im Globalisierungsdiskurs eine Vielzahl weiterer Kategorien und Parameter, die in der Regel ihre ‚Eignung‘ als Indikator für Globalisierung aus der eindeutigen Unterscheidbarkeit von intra- und transterritorialen (transnationalen) Handlungen und Kommunikationen beziehen. Zu den prominentesten gehören der Anteil von Auslandsdirektinvestitionen (foreign direct investments), internationale Ferngespräche, die Anzahl von internationalen Organisationen und viele mehr.15 Welche dieser Indikatoren man auch plausibler finden oder häufiger antreffen mag: Gemeinsam ist allen diesen Indikatoren aufgrund ihres Designs als (metrischer) Skala, dass in ihnen nolens volens ein Steigerungsimperativ angelegt ist: Globalisierung – hierauf verweist ja bereits das „ierung“ – bezieht sich in der Regel immer auf ein „Mehr“ an Interkonnektivität, aber es bleibt unklar, wie viel „Mehr“ ausreichend ist, um von „Globalisierung“ sprechen zu können. Es überrascht dann nicht, dass man in Definitionen von Globalisierung, die auf diesen konventionellen Prämissen beruhen, sehr häufig ‚Netz und doppelten Boden‘ in Form von Attributen wie „ziemlich“, „relatively“, „increasing“, „considerable extent“, „gewisses Maß“ etc. antrifft. Die Funktion dieser Formulierungen scheint darin zu bestehen, dass man dem Problem der Binärklassifikation durch eine untergeschobene ‚Trichotomisierung‘ (lokal-regional-global) oder eine diffuse Gradualisierung zu entgehen versucht. Eine diesbezüglich frappierende ‚Definition‘ der Globalisierung liest man bei Thompson: „Globalisierung entsteht nur dann, wenn es sich um Aktivitäten handelt, die (1) in einer (tendenziell) weltweiten, statt z.B. bloß regionalen Arena stattfinden, (2) in einem weltweiten Maßstab organisiert, geplant und koordiniert werden und (3) ein gewisses Maß an 14 Stichweh stellt somit auch das harsche Zeugnis aus, dass „die Omnipräsenz der Unterscheidung von Globalität und Lokalität nicht dem wissenschaftlichen Erkenntnispotential dieser Unterscheidung geschuldet ist“ (Stichweh 2004: S. 196). 15 Vgl. zunächst Inkeles 1975; für aktuelle Daten zu Globalisierungsindikatoren dieser Art siehe den von Foreign Policy und der Unternehmensberatung A.T. Kearney jährlich herausgegebenen „Globalization Index“ (www.foreignpolicy.com).
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Reziprozität und Interdependenz aufweisen, so daß lokale, an verschiedenen Orten in der Welt situierte Aktivitäten einander wechselseitig mitgestalten“ (Thompson 1997: S. 881, Herv. C.M.).
Das „Auszählproblem“ erstreckt sich dann auch auf Fragen nach Entstehungsbedingungen, Reversibilität, Anfang und Ende von Globalisierung. Wenn man dann, wie z.B. zur Zeit der Wirtschaftskrise 2008/2009, einen Rückgang in den Zahlen bei wichtigen Indikatoren wie z.B. Dienstreisen, internationalen Ferngesprächen etc. beobachtet – ergibt sich unmittelbar die Frage, ob man dies als Entglobalisierung bezeichnen sollte, oder ob es sich lediglich um einen (weiteren) „bump in the road“ (Cowen 2009) im letztlich unaufhaltsamen Prozess der Globalisierung handelt. Man macht in diesem Zusammenhang dann z.B. den frappierenden Befund, dass Argentinien in Termini des Anteils von Außenhandelsvolumina an der Gesamtwirtschaftsleistung gegen Ende des 19. Jahrhunderts ‚globaler‘ war als in den 1990er Jahren.16 Ein beliebtes konzeptionelles Ausweichmanöver ist dann Periodisierung: Es werden dann etwa eine „1st and 2nd wave of globalization“ unterschieden, die von der Zeit der beiden Weltkriege und der „great depression“ mit ihrem heftigen „globalization backlash“ unterbrochen wurde.17 Schlussfolgerungen wie „end of globalization“ und „globalization backlash“ ergeben sich somit fast automatisch, wenn man ökonomischquantitative Indikatoren zum Maßstab für Globalisierung macht. Der Methode, Globalität über Kategorien der Trans- bzw. Internationalität zu operationalisieren, liegt die (stillschweigende) Prämisse zu Grunde, den Nationalstaat als Basiseinheit des Lokalen zu setzen (Exterritorialisierung). Das Aus16 Vgl. hierzu James 2001 („The end of globalization“); der bekannte Autor sieht „figures“ als die einzigen wesentlichen Indikatoren für Globalisierung an; andere Faktoren wie „standardization“ und insbesondere „attitudes to internationalism“ werden als „impressionistic“ abgetan (vgl. James 2001: S. 12). 17 Siehe hierzu etwa die Arbeiten von Harold James (ebd.); vgl. ferner O’Rourke und Williamson für eine schillernde Beschreibung des von ihnen diagnostizierten „globalization backlash“: „The impact of the railroad and the steamship was reinforced by political developments after 1860 as European economies moved rapidly toward free trade. The world was becoming a much smaller place, and to an observer in 1875, it must have seemed as if it was going to get a lot smaller. Yet nothing is inevitable. History shows that globalization can plant the seeds of its own destruction. Those seeds were planted in the 1870s, sprouted in the 1880’s, grew vigorously around the turn of the century, and then came to full flower in the dark years between the two world wars“ (O’Rourke/Williamson 1999: S. 93).
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maß, in dem diese Annahme in der Globalisierungsliteratur immer noch – zumeist unreflektiert – mitgeführt wird, fällt auf; es wird allerdings vor allem unter der eingangs dieses Kapitels bereits erwähnten Chiffre „Methodologischer Nationalismus“ zunehmend kritisch verhandelt: „We are designating as methodological nationalism the assumption that the nation/state/society is the natural social and political form of the modern world“ (Wimmer/Glick Schiller 2002: S. 302, Herv. i. O.)18
Demgegenüber insistiert vor allem auch die Theorie der Weltgesellschaft, sowohl system- als auch neoinstitutionalistischer Provenienz, auf einem makrophänomenalen Ansatz, dessen globalisierungstheoretische Hauptaussage bezüglich der Frage nach dem Verhältnis von Staat und (Welt-)Gesellschaft vereinfacht gesagt darin besteht, Weltgesellschaft nicht als Resultat von (Mikro-)Beziehungen zwischen einzelnen Staaten, sondern diese Staaten als Konstrukte einer übergeordneten Ordnungsebene zu begreifen. Diese Makroebene gibt anhand in Form einer „Leitidee“ vor, was unter Staatlichkeit im Einzelnen zu verstehen ist: „Staatlichkeit in der Form nationaler Souveränität ist eine auf der Ebene der Weltgesellschaft institutionalisierte Leitidee, die als institutionalisierte Idee Prozesse weiterlaufender Staatsbildung und interethnischer Auseinandersetzung in der Weltgesellschaft formt“ (Stichweh 2000a: S. 55).
Auch insofern dürfen Theorien der Weltgesellschaft als Vorreiter eines Denkens gelten, das die Erkenntnisbarrieren des „methodological nationalism“ zu überwinden sucht.19 Im Folgenden werden wir mit der Frage nach dem analytischen Umgang mit Ungleichheit ein weiteres Problem des konventionellen Globalisierungsdiskurses einkreisen. Auch dort werden uns die anders ansetzenden Prämissen der Theorie der Weltgesellschaft behilflich dabei sein, uns von einem weiteren prominenten Denkfehler zu verabschieden.
18 Vgl. hierzu auch den Begriff der „container society“ (vgl. Beck 1997, Taylor 1994); zur „territorial trap“ der Politikwissenschaft siehe Agnew 1994. 19 Siehe hierzu als Referenztext Meyer et al. 1997; vgl. ferner Stichweh 2000a als Überblicksartikel.
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Inhomogenität und Ungleichheit Ein weiterer Problemkreis eröffnet sich ausgehend von der Kontrastierung verschiedener Verständnisse von Welt, welche sich beim vergleichenden Blick auf Globalisierungsforschung und die Theorie der Weltgesellschaft auftun. Mit dem Weltbegriff wird häufig eine substantialistische Vorstellung weltweiter struktureller Isomorphie und der Überwindung der materiellrechtlichen Heterogenität nationalstaatlicher, räumlich gebundener Rechtsordnungen assoziiert. Homogeneität wird dann zum analytischen Gradmesser dafür, sinnvollerweise von einem weltweiten Kommunikationszusammenhang, für unseren Fall: überhaupt von einem Patentsystem sprechen zu können. Gleichförmigkeit wird zum Gradmesser für Systemhaftigkeit und Globalität: „The international patent system as we know it today consists of a complex structure of national laws and customs, international private agreements and practices, and intergovernmental conventions and arrangements regarding patents of invention. This network of patent laws can be called a ‚system‘ only in a very loose sense“ (Penrose 1951: S. 1).
Wie bereits ausgeführt, wird die Existenz eines „echten Weltpatents“ dann häufig zum entscheidenden Kriterium dafür, ob es Sinn macht, von der Existenz eines Weltpatentsystems auszugehen: Das Desiderat „Weltpatent“ steht dann stellvertretend für diese konventionelle Begrifflichkeit von Welt, die sich aus Vorstellungen von Omnipräsenz und Homogeneität speist. Insofern ist dann auch gegenüber der Theorie der Weltgesellschaft folgerichtig der Vorbehalt geäußert worden, dass angesichts der fortdauernden Entwicklungsunterschiede und Ungleichheiten zwischen verschiedenen Regionen der Welt die theoretische Annahme eines singulären Gesellschaftssystems eine realitätsfremde Beschreibung von Gesellschaft darstelle: „The idea that globalisation is creating a single world society is contentious, for it masks the forms of ethnic and cultural fragmentation that are increasingly becoming a feature of global reality“ (Smart 1994: S. 152).
Ähnlich wie in der Debatte zur Globalisierung des Rechts wird also auch hier aus der Beobachtung von Heterogenität und Fragmentierung auf die Unmöglichkeit der Existenz eines umfassenden, regionale und kulturelle Disparitäten in sich einschließenden Gesamtsystems geschlossen. Die systemtheoretische Weltgesellschaftstheorie hat auf diese Kritik mit der konzeptionell überzeugenden Antwort reagiert, dass regionale Differenzen oder nationalstaatliche Segmentierung kein Argument gegen Weltgesellschaft sind, da die Wahrnehmung von Differenzen immer schon die Selektion eines übergeord-
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neten Vergleichsmaßstabs voraussetzt, der Unterschiede überhaupt erst als Unterschiede wahrzunehmen und damit aufeinander zu beziehen erlaubt. Ungleichheiten werden damit „kein Argument gegen, sondern für Weltgesellschaft“ (Luhmann 1997: S. 162).20 In der neo-institutionalistischen Variante der Weltgesellschaftstheorie wird das Ungleichheitsargument mit einer ähnlichen Argumentationsstrategie entkräftet. Auch dort werden kulturelle Differenzen zwischen verschiedenen Staaten oder Regionen und die Multiplizität von Staaten schlechthin nicht als Beleg gegen, sondern für die Annahme einer „Weltkultur“ (Meyer 2005, Lechner/Boli 2005) interpretiert. Staaten sind „exogenously constructed entities“ (Meyer et al. 1997: S. 150), deren kulturellen, ökonomischen etc. Merkmale erst vor dem Hintergrund des Anspruchs einer universalen Vorstellung von Staatlichkeit und des darin angelegten Vergleichsdrucks zu wahrnehmbaren Differenzen werden: „The world system has moved towards a single stratification system, in which all nations compare their progress on the same scales. Differences among societies are seen more as inequalities and distributional inequities within a single system, rather than as the result of independent evolution of discrete units“ (Meyer/Hannan 1979: S. 301, Herv. C.M.).
Da es uns hier nicht um eine ausführliche Diskussion von Globalisierungstheorie zu tun ist, wollen wir an dieser Stelle auch nicht auf die wiederum an diesen Antworten geäußerte Kritik eingehen, die makro-phänomenologischen Ansätze von Systemtheorie und Neo-Institutionalismus machten es sich mit dieser eleganten analytischen Reinterpretation von Differenzen, Fragmentierungen, Konflikten zu leicht. Wir wollen vielmehr zunächst die Voraussetzungen dieses Denkens näher einkreisen und diskutieren, inwiefern es überhaupt erst eine andersartige, phänomenologisch angelegte Vorstellung von Welt ist, die es der Theorie der Weltgesellschaft analytisch möglich macht, die Weltgesellschaft (und andere Systeme) als ein umfassendes System zu denken, das alle weiteren Differenzierungen und Disparitäten in sich einzuschließen vermag. Dieser Überblick wird unserer Analyse des Weltpatentsystems den Weg weisen.
20 „But a sociological theory that wants to explain these differences, should not introduce them as givens, that is, as independent variables; it should rather start with the assumption of a world society and then investigate, how and why this society tends to maintain or even increase regional inequalities“ (Luhmann 1997a: S. 73).
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Welt, Selektivität, Makrodeterminierung: Prämissen der Theorie der Weltgesellschaft Niklas Luhmann hat in mehreren weltgesellschaftstheoretischen Beiträgen mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass sich die Realität der Weltgesellschaft nicht in ihrer strukturellen globalen Einheit erschöpft, sondern sich gleichzeitig in der Emergenz eines singulären, alle Kommunikationsmöglichkeiten einschließenden Möglichkeitshorizonts manifestiert. Auf den Punkt gebracht: „The world-wide communicative system constitutes one world which includes all possibilities“ (Luhmann 1982: S. 132)
Das Zitat öffnet den Blick für die Funktionsstelle, die der Weltbegriff in der Theorie der Weltgesellschaft besetzt. Welt läuft als Horizont des überhaupt Möglichen in der Weltgesellschaft immer mit. Wenn und sobald sich – auf Grundlage verschiedener „evolutionärer Errungenschaften“ wie z.B. des Buchdrucks und der Dampfschifffahrt – irreversibel die Vorstellung durchsetzt, dass es weltweit nur noch einen gesellschaftlichen Makrokontext geben kann, der alle kommunikativen Möglichkeiten umfasst, müssen Kommunikationen dann auch vor dem Hintergrund eines weltweiten Kontinuums von Möglichkeiten realisiert und bewertet werden. Die Welt, verstanden als Horizont des überhaupt kommunizierbaren Sinns, gibt es dann nur noch einmal. „Welt“ ist ein singulärer, nicht erschöpfbarer Horizont, der alles Kommunizieren und Handeln konturiert.21 Die Realität globaler Kommunikation beschränkt sich in dieser Lesart demnach nicht auf das (wichtige) Faktum kommunikativer Vernetzungen über den gesamten Globus (globale Interkonnektivität), sondern basiert in einem viel grundlegenderen Sinne darauf, dass sich jede kommunikative Vernetzung gegen einen globalen Auswahlhorizont anderer Möglichkeiten als Selektion vollziehen muss und dass sich sozialer Strukturaufbau dann durch eine erhöhte Kontingenz und Selektivität (und damit auch Riskanz) auszeichnet: „Die eigentliche Neuerung aber besteht in der Konstituierung eines weltweiten Bewußtseinshorizontes, in der entsprechenden Steigerung des Selektivitätsbewußtseins und in der
21 Zu diesem Argument vgl. ferner Stichweh 2000b; zur Weltbegrifflichkeit bei Luhmann siehe überblickend auch Thomas 1992; vgl. begriffsgeschichtlich zu „Welt“ Braun 1992.
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Umformung der Institutionen dahin, daß sie hohe Selektivität rechtfertigen und Selektionsleistungen übertragen können“ (Luhmann 1975: S. 67, Fn. 12).22
Der Ansatz verknüpft ein phänomenologisches mit einem strukturtheoretischen Argument. Sobald der mitlaufende Sinnhorizont von Kommunikation sich universalisiert, hat dies Struktureffekte für jede einzelne Kommunikation. Jede Kommunikation profiliert sich prinzipiell vor dem Hintergrund dieses Horizonts und wird somit in ein infinites „und-so-weiter“ von Kommunikationen eingetaktet. Rudolf Stichweh identifiziert in dieser „Und-so-weiter-Hypothese“ eine der wichtigsten Prämissen einer Theorie der Weltgesellschaft: „Diese besagt, daß der für die Theorie der Weltgesellschaft entscheidende Sachverhalt nicht ist, daß die einzelne Interaktion enorme räumliche und zeitliche Distanzen überspannt. Es geht also nicht darum, daß mit großer Häufigkeit interkontinentale Ferngespräche geführt werden oder Fernreisen unternommen werden, obwohl leicht belegbar ist, daß auch in diesen Hinsichten die Wachstumsraten enorm sind. Der für mein Argument an dieser Stelle entscheidende Punkt ist aber, daß in jeder einzelnen Interaktion ein Und-soweiter anderer Kontakte der Teilnehmer präsent ist. Erst dies eröffnet die Möglichkeit weltweiter Verflechtungen, eine Möglichkeit, die wiederum als Selektivitätsbewusstsein in der einzelnen Interaktion relevant wird und auf diese Weise in die Interaktionssteuerung eingreift“ (Stichweh 2000c: S. 257, Herv. i. O.).
Die These „globaler Selektivität“ ist eng mit einer weiteren Prämisse der Theorie der Weltgesellschaft verbunden, die bereits angeklungen ist, die wir hier aber noch einmal hervorheben wollen. Wenn und insofern die Selektivität einer jeden Kommunikation erst gegen einen unbegrenzten Vergleichshorizont Konturen gewinnen kann, dann resultiert hieraus zunächst in einem sehr grundsätzlichen Sinn, dass das System der Weltgesellschaft auf die in ihm ablaufenden Kommunikationen eine formatierende Wirkung ausübt und dann interne Strukturen als „strukturelle Effekt der Weltgesellschaft selbst“ (ebd.: S. 13) zu analysieren
22 „Welt ist also in dieser Perspektive nicht mit Globus gleich zu setzen, „Weltgesellschaft ist nicht Globalgesellschaft, Globalisierung ist nicht identisch mit der Verweltlichung der modernen Gesellschaft, formuliert in diesem Sinne Fuchs (2001: S. 76f., Fn. 207, Herv. i.O.); zur „‘Welt‘fremdheit der Globalisierungsdebatte“ siehe auch Nassehi 1998; vgl. auch den Beitrag von Heintz und Werron zur Anwendung der These globaler Vergleichszusammenhänge auf Wissenschaft und Sport (Heintz/Werron 2011.
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sind.23 Das heißt, strukturelle Phänomene müssen dann ausgehend von dieser Annahme „weltgesellschaftlicher Strukturprägekraft“ untersucht werden, und das theoretische Potential der Theorie der Weltgesellschaft bestimmt sich dann von dem Ausgangspunkt her, ob es gelingt, „Unterschiede im System der Weltgesellschaft als interne Differenzierungen dieses Systems zu erweisen“ (ebd.). Vermutlich liegt in dieser Annahme der Emergenz und Strukturprägekraft von Weltgesellschaft der weitreichendste Unterschied zu herkömmlichen Globalisierungsansätzen, die vor allem auf die Delokalisierung von (wirtschaftlichen) Strukturen aus ihren historisch gewachsenen lokale(re)n nationalstaatlichen Ordnungen blicken. Weiten Teilen dieses Globalisierungsdiskurses entgeht damit die zentrale Fragestellung, ob und inwiefern der Nationalstaat selbst an dieser Extension ursächlich beteiligt und insofern immer schon mehr aktiver Promoter denn ‚Opfer‘ von Globalisierung gewesen sein könnte.24 Dieses „Paradoxon des Nationalen“ (Sassen 2006) ist dann auch ein in der jüngeren Globalisierungsliteratur zunehmend diskutiertes Phänomen und wir werden in diesem und dem folgenden Kapitel den ko-evolutionären Zusammenhang von Staatlichkeit, funktionaler Differenzierung und Verweltgesellschaftung am Beispiel des Patents herausarbeiten (vgl. auch S. 283ff.).
Unterscheidungen der Globalisierungstheorie In der Globalisierungstheorie reklamieren eine Reihe von Begriffspaaren einen Status als „key dichotomy“ (Bairner 2001: S. 8). Neben der bereits erwähnten Unterscheidung von global/lokal werden vor allem Unterscheidungen wie universal/partikular, homogen/heterogen, Hegemonie/resistance to globalization, Konvergenz/Divergenz, modern/traditional in Anschlag gebracht (Werron 2005a). Diese Unterscheidungen werden uns im Weiteren an der einen oder anderen Stelle wieder begegnen, wir werden sie uns im Folgenden aber nicht im Sinne einer uns leitenden Schlüsselunterscheidung zu eigen machen. Die Begründung dafür liegt darin, dass wir sie nicht für ausreichend anschlussfähig mit Blick auf die für uns leitende Systemtheorie der Gesellschaft halten, die auch in 23 Dies ist der gemeinsame Nenner des weltgesellschaftstheoretischen Denkens, das die Ansätze von Peter Heintz, Niklas Luhmann und John Meyer et al. übergreift; vgl. hierzu auch überblickend Greve/Heintz 2005. 24 Vgl. als Überblick zum Forschungsstand die „sieben Thesen“ Werrons zum Verhältnis zwischen dem Modell des Nationalstaats und Globalisierungsprozessen Werron 2012a.
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ihrer weltgesellschaftstheoretischen Ausarbeitung vor allem auf funktionale Differenzierung als Haupttreiber weltgesellschaftstheoretischer Evolution setzt: „The inclusion of all communicative behavior into one societal system is the unavoidable consequence of functional differentiation. Using this form of differentiation, society becomes a global system. For structural reasons, there is no other choice” (Luhmann 1990b: S. 178).
Die Frage, ob Verweltgesellschaftung sich dann zusätzlich als eher homogenisierend oder heterogenisierend, als Produzent von Konvergenz oder Divergenz, als Durchsetzen eines eurozentrischen Universalismus oder des Aufblühens regionaler Partikularismen und Fundamentalismen etc. beschreiben lässt müssen deshalb zunächst hinter den zentralen theoretischen Problemaufriss der Analyse von funktionaler Differenzierung als Movens von Weltgesellschaft in das zweite Glied zurück treten. In weltgesellschaftstheoretischen Studien systemtheoretischer Provenienz hat im Anschluss an die Theorie funktionaler Differenzierung die Unterscheidung von Universalität und Globalität zunehmend an Relevanz gewonnen. Diese „distinction directrice“ verdankt sich der theoretischen Reaktion auf das bereits weiter oben angeschnittene theoretische Desiderat, die Theorie der Weltgesellschaft konsequenter als Theorie weltgesellschaftlicher Funktionssysteme zu konzipieren und empirisch-historisch durchzuführen. Die Frage nach Weltgesellschaft wird dann also vor allem eine Frage nach der Weltgesellschaftlichkeit von Funktionssystemen; die Frage nach Globalisierung meint dann erst einmal nicht die Frage nach einem allem übergeordneten Metaprozess, sondern zielt ab auf das Aufspüren von Globalisierungen, die mit den Strukturen von Funktionssystemen auf unterschiedliche und ggfls. vergleichbare Weise verknüpft sind (vgl. hierzu Stichweh 2000d: S. 14). Der innere Zusammenhang zwischen Universalität und Globalität findet seine theoretische Herleitung in der von uns bereits eingeführten Annahme, dass Funktionssysteme sich durch einen „spezifischen Universalismus“ auszeichnen. Aufgrund ihrer sachthematischen Fokussierung – „es werden Patente erteilt“ und keine Ehre, Gnade, Bauberechtigungen, Zeugnisse etc. – erheben Funktionssysteme universelle Ansprüche: x „Jeder kann/darf (uns) wählen. x Auch Du brauchst einen Schulabschluss. x Gott liebt auch Dich. x Jedes Tor zählt, egal wer es geschossen hat.
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x Jeder ist wirtschaftlich relevant, insofern er Geld oder (genügend) Schulden hat. x Alles kann wahr oder falsch sein. x Man kann für alles eine technische Lösung finden. x Jeder kann im (Patent-)Recht sein, wenn er es formal und materiell begründen kann“ – etc. Sachspezifik und Universalismus von Funktionssystemen sind wechselseitig konstitutiv und steigern sich aneinander: Weil das Patentamt Patente für Erfindungen erteilt, kommt es beispielsweise auf die Person des Erfinders (schwarz/weiß, groß/klein, Mann/Frau, Entwickler/Wissenschaftler, Deutscher/Schweizer etc.) prinzipiell nicht an. Weil Erfindungen von jedem zum Patent angemeldet werden können, kommt es dann im Umkehrschluss umso mehr darauf an, die Erfindung als Erfindung genau zu beobachten und zu prüfen. Universalität ist tief in die Sinnstrukturen von sachthematisch spezialisierten Funktionssystemen eingelassen, sie ist dem ‚sense-making‘ funktionaler Systeme inhärent.25 Die Universalität von Funktionssystemen, die sich aus der Sachlichkeit autonomer funktionaler Spezifizierungen ergibt, löst eine evolutionäre Dynamik aus, die als „Drängen zur Globalität“ beschrieben werden kann. Weil Sachkriterien eben Sachkriterien sind, kennen sie grundsätzlich keine soziale Exklusivität oder zeitliche und räumliche Begrenzungen und sind daher strukturell darauf angelegt, ihre Universalität in alle denkbaren Sinnrichtungen hin auszuarbeiten, zu ‚materialisieren‘. So äußert sich Werron mit Blick auf die Wissenschaft und den Sport: „In diesem präzisen Sinne könnte man dann sagen, dass Funktionssysteme zur Globalität hindrängen oder tendieren. So wird Wissenschaft zur „Weltwissenschaft“, wenn und soweit ihre Wahrheiten für alle, überall und unbefristet gelten sollen, solange sie nicht wiederlegt werden […] Und so wird ein Sport zum „Weltsport“, indem er sein Angebot, nach Leistungskriterien zwischen den Besten und weniger Guten zu unterscheiden, auf ausnahmslos alle erstreckt, unabhängig von ethnischen oder territorialen Kriterien. In beiden Fällen folgt die „Grenzenlosigkeit“ des Anspruches – seine Universalität – aus der Grenzenlosigkeit der Sachkriterien“ (Werron 2004: S. 1).
25 Im historischen Kapitel werden wir auf die evolutionären Bedingungen, welche diesen Steigerungszusammenhang von Sachspezifik und Universalität ermöglicht haben, näher eingehen.
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Globalität kann demnach – zunächst in dezidierter Abstraktion von inhaltlichen Konkretisierungen – als die diesen Universalitätsanspruch eines Systems realisierende Ausarbeitung eines globalen Vergleichsraums und darauf eingestellter Strukturen und Mechanismen begriffen werden. Funktionssysteme wie insbesondere Wissenschaft, Wirtschaft, Tourismus aber auch Politik, Erziehung, Religion und auch das (Patent-)Recht spannen globale Vergleichsräume auf, die auf ein unbegrenztes Prozessieren von Informationen und Adressieren von Personen und Organisationen angelegt sind. Eine solche analytische Auffassung von Globalität impliziert, dass es sich bei Globalität um kein neuartiges, etwa erst im Zuge von Microsoft Windows und Mobiltelephonie durchgesetztes ‚add-on‘ zum Prinzip funktionaler Differenzierung handelt. Globalität ist vielmehr dem sachspezifischen Universalismus eines jeden Funktionssystems inhärent: Jedes Funktionssystem verfügt über eine, jeweils unterschiedliche soziale Formen in Anspruch nehmende Tendenz zum Globalen. Sinntheoretisch zwingend muss dann analog zu Universalität auch der Begriff der Globalität pluridimensional aufgefasst werden. Globalität lässt sich nicht auf Aspekte wie das Auseinanderziehen von Raum- und Zeitdimension (“time-space-distantiation“), zunehmende Homogenität und Diversität (Hybridisierung, Kreolisierung) reduzieren, mag es sich hierbei auch um sehr wichtige Effekte von Globalisierung handeln. Der Begriff ermöglicht es gerade aufgrund seiner inhaltlichen Unbestimmtheit, vielfältige Aspekte der Verdichtung und Intensivierung kommunikativer Vernetzungen nicht nur in räumlicher und zeitlicher, sondern auch in sachlicher und vor allem in sozialer Hinsicht analytisch aufzuschlüsseln und in Kombination mit der Prämisse sachspezifischer Universalität zu beobachten. In Anlehnung an einen Begriffsvorschlag von Werron (ebd.) lassen sich dann zwei besonders wichtige Ausprägungen von Globalität beobachten: 1. Erstens lässt sich von „sachlich-räumlicher Penetration“ sprechen, die sich auf die Diffusion spezifischer Sinnangebote über die Regionen der Weltgesellschaft und Prozesse der Harmonisierung und Diversifizierung bezieht. Funktionssystemen wohnt ein Hang zum ‚Omnipräsentismus‘ inne; die Universalität der Sachkriterien ergibt einen ‚missionarischen‘ Drang zum unbeschränkten Verbreiten von funktional spezifizierten Wissensbeständen und Kommunikationen über den gesamten Globus.26 Dieser Drang zu ubiquitärer Ausbreitung lässt
26 ‚Missionarisch‘ lässt sich mit Bezug auf Religion beim Wort nehmen; zu „Weltmission“ als einem Treiber von Verweltgesellschaftung vgl. den globalisierungstheoretisch instruktiven Einleitungsartikel Tyrell 2004 in Bogner/Holtwick/Tyrell 2004.
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sich für alle Funktionssysteme beobachten und wird am Beispiel der Weltpolitik besonders augenfällig: Der gesamte Globus ist inzwischen mit Ausnahme der Antarktis in Staaten segmentiert (vgl. Stichweh 2008a). Aber auch viele Sportarten werden inzwischen buchstäblich überall auf dem Globus gepflegt und die FIFA, die Weltorganisation des Fußballs, zählt gar mehr Mitglieder als die UNO.27 „Ubiquität“ steht im wechselseitigen Zusammenhang mit der „Singularität“ eines Systems. Gerade weil es (nahezu) überall Staatlichkeit, d.h. Politik und (Patent-)Recht gibt, lässt sich die Evolution dieser Systeme nicht mehr als Evolution lokaler Einheiten, sondern nur mehr als Evolution eines Weltsystems denken. Allerdings wäre es irreführend, Ubiquität im Sinne eines räumlichen ‚Überall-Seins‘ wörtlich zu nehmen. Unter der Allgegenwärtigkeit von Sinngehalten lässt sich die Möglichkeit der ortsungebundenen Verfügbarkeit von Informationen, Wissen und Kontakten verstehen, und wir werden in den nächsten Abschnitten zu zeigen versuchen, wie Standardisierung und Computerisierung das Patentsystem mit einem globalen Gedächtnis ausstatten, das (fast) alle patentrelevanten Informationen ‚überall‘ elektronisch verfügbar hält. 2. Neben Ubiquität als zentrales Moment sachlich-räumlicher Erarbeitung von Welt tritt dann zweitens „sozial-räumliche Penetration“. Dieser zweite Mechanismus funktionsspezifischer ‚Weltaneignung‘ dient zur Bezeichnung verschiedener Formen sozialer Inklusivität. Der Begriff der Inklusion meint zunächst ganz grundsätzlich, „daß ein Individuum oder eine Population in den Kommunikationsprozessen eines sozialen Systems berücksichtigt, bezeichnet oder adressiert wird“ (Stichweh 2000e: S. 85f.). Der Begriff der Inklusion bezeichnet hier die progressive Realisierung des universellen Postulats der möglichen Berücksichtigung von jedermann. Man mag hier im Fall des Sports beispielsweise an die Talentsuche im Weltfußball denken, die sich in den letzten Jahrzehnten über den gesamten Globus ausgebreitet hat. Globale Inklusion bezieht sich – gerade auch im Fall des Rechtssystems – dabei nicht nur auf Perso-
27 Siehe hierzu Werron 2010: S. 58; vor diesem Hintergrund werden Auffälligkeiten wie etwa dass in England kein bzw. kaum Handball, in Deutschland dagegen kaum Cricket gespielt wird, zu einem interessanten Gegenstand der Untersuchung lokaler Pfadabhängigkeiten und des weltgesellschaftlichen Beobachtungs- und Kontingenzdrucks, unter den einst nicht hinterfragte ‚Lokalkulturen‘ unter modernen Bedingungen häufig geraten.
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nen, sondern auch auf Organisationen (insbesondere Unternehmen) als denkbaren Adressen funktionaler Kommunikationen.28 Dieser weltgesellschaftstheoretische Dualismus von Universalität und Globalität bietet gegenüber dem ‚mainstream‘ der Globalisierungsdebatte eine Reihe von Vorzügen. Entfaltet man den Kompaktbegriff der Globalisierung in die Zweiseitenform von Universalität und Globalität, ist man nach wie vor imstande, konventionelle Globalisierungsbefunde zu (zunehmenden) strukturellen Vernetzungen über weite Distanzen hinweg analytisch zu integrieren. Man macht sich aber von einer Zu- oder Abnahme solcher kommunikativen ties insofern nicht abhängig, als man nicht jedes räumliche (quantitative) Schrumpfen unmittelbar als einen gegen Globalisierung laufenden Trend behandeln muss. Im Gegenteil, gerade durch einen Abgleich unterschiedlicher Erscheinungsformen und Grade räumlicher Penetration mit anderen Formen der Globalität eröffnet man sich Freiräume für ein differenzierteres Beobachten unterschiedlicher Ausprägungen der Realisierung und Dynamisierung von Globalität. Diese Differenzierung des Beobachtens lässt sich sowohl sachthematisch-systematisch als auch primär historisch-differenzierend durchführen und es wird dann zu einer so anregenden wie herausfordernden Chance, Unterschiede und Ungleichzeitigkeiten in der Globalisierung von Funktionssystemen auf ihre unterschiedlichen Sinnstrukturen (sachspezifischen Universalismen) und deren struktureller Relation zu wichtigen „Innovationen der Weltgesellschaft“ wie Verbreitungsmedien und Organisationen zu beziehen (Stichweh 2000c). Konkreter werdend und überleitend zu unserem Interesse an einer Globalisierungstheorie des Patents ist festzustellen, dass diese theoretischen Stärken der Theorie der Weltgesellschaft noch nicht ausreichend in empirisch-historischen Studien zu Funktionssystemen fruchtbar gemacht worden sind. Es ist somit auch davon auszugehen, dass die kaum systematisch ausgearbeitete und empirisch plausibilisierte Ineinssetzung der Theorie funktionaler Differenzierung mit der Theorie der Weltgesellschaft ein fruchtbares Arbeiten an der Theorie der Weltgesellschaft eher blockiert denn befördert hat: „However, even the most elaborate criteria of differentiation and system evolution do not explain how these systems develop an inherent tendency towards globalization. It is one thing to show that economy, politics, law, science, art, sport etc. create their own codes, 28 Inklusion ist gemeinsam mit seinem Begriffskomplement Exklusion von der Systemtheorie für die Theorie der Weltgesellschaft fruchtbar gemacht worden, vgl. konzeptionell überblickend zur systemtheoretischen Unterscheidung Inklusion/Exklusion Göbel/Schmidt 1998 und Farzin 2006.
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programmes, and roles, and quite another to show how these characteristics drive the globalization of these fields“ (Werron/Holzer 2009: S. 7, Herv. i. O.).
Hervorzuhebende Ausnahmen stellen die bereits zitierten Arbeiten Rudolf Stichwehs zum Wissenschaftssystem und Tobias Werrons Analysen des Weltsports dar.29 In diesen Studien wird jeweils gezeigt, wie der universelle Weltentwurf des Systems (Universalität wahren Wissens und Universalität des Leistungsvergleichs) wie ein evolutionärer ‚trigger‘ wirkt, der ein „Hindrängen zur Globalität“ auslöst, das sich als ‚Antwort‘ auf diesen universalistischen Selbstanspruch begreifen lässt und diesen damit gleichzeitig sichtbar macht. Universalitätsansprüche werden in der Wissenschaft bereits seit vielen Jahrhunderten formuliert, aber von einem singulären System der Weltwissenschaft lässt sich erst dann sprechen, wenn Errungenschaften wie Buchdruck, Fachzeitschriften und dann später Eisenbahn und Dampfschifffahrt hin zu treten, die ein kontinuierliches und termingebundenes globales Zirkulieren von Publikationen effektiv ermöglichen und in der Folge dann auch erwartbar und notwendig machen. Auch im Sport entstehen schon früh Universalitätsansprüche, die sich in Weltsemantiken wie der „world series“ (vgl. Werron 2007a) und Steigerungspostulaten wie „der Weltbeste“ manifestieren, deren strukturelle Umsetzung allerdings zusätzlicher Einrichtungen wie z.B. globaler Sportverbände und Ligensysteme bedarf, die einen Leistungsvergleich „der Besten mit den Besten“ erst strukturell ermöglichen und auf Dauer stellen können. Lässt sich das auf den letzten Seiten ausgebreitete Instrumentarium der Theorie der Weltgesellschaft auch am Beispiel des Patentsystems fruchtbar machen? Lässt sich in Analogie zum allgemeinen Fall der Weltgesellschaft (und anderen weltgesellschaftlichen Funktionssystemen) zeigen, dass sich das Patentsystem als singuläres weltgesellschaftliches System ausgebildet hat, das jede Patentkommunikation innerhalb eines globalen Beobachtungs- und Vergleichshorizonts integriert? Wenn dies möglich sein sollte, für welche Zeitpunkte lassen sich historisch Belege für ein Anlaufen dieses Prozesses beobachten? Lassen sich Mechanismen und Struktureigentümlichkeiten des Systems beobachten, die einen unterstellten Prozess der Globalisierung (Verweltgesellschaftung) des Patentsystems systematisch forcieren? Worin manifestiert sich der Universalanspruch des Patentsystems und welche kommunikativen Formen und Einrichtungen setzen diesen Anspruch um? Antworten auf diese grundlegenden weltgesellschaftstheoretischen Fragen werden wir im Folgenden aus zwei verschiedenen Perspektiven heraus entwi29 Vgl. insbesondere Stichweh 1999, 2003a, 2005; Werron 2007a, 2007b, 2010.
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ckeln. Ausgehend von der Leitannahme, dass es gegenwärtig – wie eine Weltgesellschaft und eine Weltpolitik, einen Weltsport etc. – bereits ein Weltpatentsystem gibt, delegieren wir die Frage nach der Genese dieses Systems primär an das historische Kapitel. Dessen Funktion wird auch darin bestehen, historisch zu (re)problematisieren, was wir uns bis zum Ende dieses Kapitels insbesondere auch an weltgesellschaftstheoretischen Einsichten erarbeitet haben werden. Die folgenden, eher ‚systematisch‘ argumentierenden Abschnitte wollen und müssen sich deswegen nicht ‚krampfhaft‘ auf die Gegenwart des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts beschränken, sind aber empirisch stärker an denjenigen gegenwärtigen Mechanismen interessiert, welche die globale Integration und Kommunikationsdynamik eines bereits entstandenen universalen Patentsystems vorantreiben.
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UND
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Universalität des Patents In Analogie zu anderen Funktionssystemen entspringt auch im Fall des Patents die Universalität des Sinnentwurfs der Unbegrenztheit des Möglichkeitsraums, der durch die zu Grunde liegenden Sachkriterien aufgespannt wird. Folgende Universalitätsnormen lassen sich für das Patentrecht formulieren: x Jeder kann Patente anmelden x Ein Patent entfaltet für jeden rechtlich bindende Geltung. x Jeder hat das Recht, die Patente von anderen zu beklagen. Diese ‚Maximen der Universalität‘ resultieren aus dem „Recht aus dem Patent“, („Wirkungen des Patents“, PatG §9) und auch aus dem „Recht am Patent“ („Patente werden erteilt…“, PatG §1). Sie garantieren in der Sozialdimension das bereits oben erwähnte Inklusionspostulat der „Einbeziehung von jedermann“ (Stichweh 1988: S. 262). Aktive Beteiligung am oder passive Betroffenheit vom Patent macht nur ohne Grenzen Sinn. Der durch das Patent aufgespannte Adressenraum ist in diesem zweifachen Sinne ein universeller: Jede Person darf patentieren und jede Person ist (potentiell) von einem Patent betroffen.30 Diese Universalismen entsprechen ganz grundsätzlich dem rechtsstaatlichen Anspruch, 30 Mit „jede Person“ sind selbstverständlich insbesondere auch „juristische Personen“ wie Unternehmen und Organisationen gemeint. Allgemeine Ausnahmen wie „nicht geschäftsfähige Personen“, z.B. Kinder, können wir hier vernachlässigen.
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dass Recht „ohne Ansehen der Person“ zu garantieren ist und sind parallel zum Patentrecht auch für andere Rechtsgebiete formulierbar. Allerdings impliziert das Postulat der Universalität des Patents nicht, dass sich jedes Einzelereignis als Beleg für die Norm der Universalität subsumieren lässt. Die Rede von „Universalität des Patents“ meint hier und d.h. weltgesellschaftstheoretisch, dass sich alles was ‚lokal‘ passiert, auf einen universalistischen Beobachtungsdruck einstellen und insofern als global begriffen werden muss. Jeder Patentprüfer, oder -richter, der sich der „xenophobia“31 gegenüber ausländischen Patentanmeldern verdächtig macht, muss damit rechnen, dass ihm die Gebote der Universalität vorgehalten werden und jedem, der äußert, er habe von einer Patentverletzung (durch ihn selbst) nichts gewusst, wird die Erfahrung machen müssen, dass diese Unwissenheit nicht vor der Strafe der weiteren Unterlassung dieser Patentverletzung schützen wird. Voraussetzung für die Universalität in der Sozialdimension – dies hatten wir bereits weiter oben heraus gearbeitet – ist die Öffentlichkeit des Patentsystems, d.h. die öffentliche Zugänglichkeit relevanter (Gesetzes-)Texte und der in den Patentschriften dokumentierten Patentansprüche. Das Bekanntsein eines Patentanspruchs kann und muss dann unterstellt werden. „Öffentlichkeit“ wird darüber hinaus in einem ergänzenden, für den Nachweis der Patentfähigkeit des Patents entscheidenden Sinn wichtig. Jede bereits patentierte Erfindung und darüber hinaus sämtliches öffentlich zugängliches Wissen wird relevant für die Erfolgsaussichten einer Patentanmeldung oder einer Patentklage, weil es den „Stand der Technik“ repräsentiert: x Jede Erfindung kann zum Patent angemeldet werden x Jede Patentschrift repräsentiert den Stand der Technik und ist neuheitsschädlich (Begriff der absoluten Neuheit) Aus dieser universalen Programmierung auf absolute Neuheit resultiert eine prinzipielle Unbegrenztheit des Beobachtens, die keine regional-territorialen Grenzen für die Beobachtung der Patentfähigkeit einer Erfindung mehr zulässt. Neuheitsschädlich ist im Prinzip jede technische Information, gleichgültig,
31 Vgl. etwa Moore 2003 mit Blick auf die Patenterteilungspraxis in den USA; zum „home court advantage“ in den USA allgemein vgl. auch den Artikel von Bhattacharya/Galpin/Haslem 2007. Ein Patentanwalt äußerte sich in einem Interview sehr negativ zur Einstellung von US-amerikanischen Patentakteuren gegenüber ausländischen (hier: deutschen) Anmeldern. Er vermutet, eine Doktrin „Ausländer platt machen“ sei hier am Werk (vgl. Int.-Nr. 27).
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wann, wo und vom wem sie publiziert oder einer unbestimmten Zuhörerzahl mitgeteilt worden ist (Stand der Technik). Sprachliche Barrieren mögen bei der richterlichen Bewertung des Schweregrads von Patentverletzungen eine Rolle spielen, für die Beurteilung von Neuheitsschädlichkeit sind sie nicht (mehr) entscheidend. Es ist damit weder eine neue Patentierung möglich, die sich nicht vor diesem nicht ausschöpfbaren Möglichkeits- und Vergleichshorizont bewähren müsste, noch kann es im Umkehrschluss irgendeine patentierte oder anderweitig publizierte Erfindung geben, der man ihre informationelle Relevanz, d.h. ihre möglicherweise neuheitsschädliche Bedeutung für die Beobachtung neuer Patentansprüche absprechen könnte. In diesem kognitiv-phänomenologischen Sinn gibt es ein deutsches Patent ebenso wenig wie US-amerikanische oder japanische Patente. Es gibt nur mehr ein Patent: es gibt nur noch Weltpatente.32 Die Welt der Patente kann dann als der universelle Möglichkeitsraum begriffen werden, der sich mit jeder an Patentfähigkeit orientierten Beobachtung des weltweiten Stands der Technik eröffnet. Dieser Vergleichshorizont ist unerschöpfbar und wird laufend neu aufgespannt: Jede neue Patentschrift (Erfindung) verweist zum Zweck der Abgrenzung vom Stand der Technik durch Patentzitationen auf frühere Patente (altes Wissen) und konditioniert gleichzeitig den bisher geltenden Weltzugriff aller Beobachter neu, indem mit ihrer Veröffentlichung der für die Neuheits- und damit Patentfähigkeitsbeurteilung maßgebliche state of the art variiert wird. Unter diesem universalen Regime des absoluten Neuheitsbegriffs kann weder ein Patentprüfer noch ein Privaterfinder oder Unternehmen dann für sich das Recht beanspruchen, Patentkommunikationen aus anderen Regionen der Welt der Patente ignorieren zu dürfen (vgl. auch Mersch 2005). Wir wollen an dieser Stelle eine Bemerkung zu einer sich unmittelbar aufdrängenden Kritik an dieser These einflechten. Wie wir bereits in der Einleitung erwähnt hatten, wird westlichen Konzernen mitunter der Vorwurf gemacht, sie
32 Wir formulieren „nur noch“, weil unsere These vom Weltpatentsystem ebenso wenig wie die These der Weltgesellschaft zeitlich invariant angelegt ist, sondern theoretisch insbesondere an die Emergenz des absoluten Neuheitsbegriffs im 19. Jahrhundert gekoppelt ist (siehe nächstes Kapitel). Noch bis in das 20. Jahrhundert hinein wurde Neuheit häufig als nationalstaatlich-territorial delimitierte Neuheit verstanden. Australien kannte z.B. noch sehr lange eine auf das australische Territorium beschränkte „Inselneuheit“. Für diesen Hinweis danke ich einem Interviewpartner (vgl. Int.-Nr. 27).
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betrieben „Biopiraterie“ oder „Bio-Kolonialismus“33 Dieser Vorwurf richtet sich gegen die die Patentierung von (mehr oder weniger stark biotechnologisch modifizierten) tradiertem indigenen Wissen, z.B. im Bereich der Pflanzenheilkunde. Eines der bekanntesten und am heftigsten diskutierten Beispiele war die Patentierung von Wirkstoffen aus den Blättern des indischen „Neem tree“ durch ein US-amerikanisches Unternehmen in den 1990er Jahren. Aufgrund der Modifizierung des Wirkstoffs wurde der (vermeintlichen) Erfindung ausreichende Neuheit zugestanden. Vandana Shiva, eine der zentralen Figuren des Protests gegen „biopiracy“, äußerte sich zu diesem Patentierungsvorgang entsprechend zynisch: „In short, the processes are supposedly novel, an advance on Indian techniques. This novelty, however, exists mainly in the context of the ignorance of the West. Over the 2,000 years that neem-based biopesticides and medicines have been used in India, many complex processes were developed to make them available for specific use, though the active ingredients were not given Latinized scientific names“ (vgl. Shiva 1997: S.71).
Wir müssen hier nicht in die politisierte Debatte um „bio-piracy“ selbst einsteigen, konzedieren aber, dass die faktische Patentierung von bereits in Anwendung befindlichem Wissen den absoluten Neuheitsbegriff einem empirischen Belastungstest unterzieht. Der Protest gegen die Patentierung von „traditional knowledge“ führte indes zu einem paradoxen Resultat: Indem er zu einer verstärkten Berücksichtigung lokaler Wissenskulturen in der Patentprüfung bei trug, sorgt er gleichzeitig dafür, dass dieses Wissen unter das Regime des absoluten Neuheitsbegriffs, eines der Beispiele für westlichen Universalismus, gezogen wird. Die Sammlung und Zurverfügungstellung von „traditional knowledge“ in Datenbanken verstärkt dann den Trend, dieses partikulare, ursprünglich nicht kodifizierte Gebrauchswissen an „westliche“ Standards der Wissenspflege und öffentlichen Dokumentation anzugleichen.34 Man sieht an diesem Beispiel somit prototypisch, dass gerade auch Partikularität (Traditionalität) in der heutigen Weltge-
33 Pharma- und Biotechnologie-Konzerne betreiben ein systematisches „bioprospecting“, d.h. eine gezielte Suche nach potentiellen biologischen Wirkstoffen für pharmazeutische Medikamente vor allem in der südlichen Hemisphäre der Erde, die den Großteil der natürlichen Biodiversität in sich birgt. 34 Wir spielen auf das Beispiel der indischen Traditional Knowledge Digital Library (TDKL), an, deren immense Bestände im letzten Jahr dem Europäischen Patentamt zu Recherchezwecken zur Verfügung gestellt wurden, um die Patentierung von indigenem indischen Wissen einzudämmen (vgl. http://www.tkdl.res.in).
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sellschaft nur mehr durch eine Berücksichtigung in zunehmend universalistischen Vergleichs- und Beobachtungskontexten postuliert werden kann.35 Das Welt-Ignoranzverbot gilt somit, hierin liegt eine der wichtigsten Implikationen des weltgesellschaftstheoretischen Begriffs der Universalität, ‚nur‘ prinzipiell. Das heißt – dies hat der kurze Exkurs zu Biopiraterie noch ein Mal vor Augen führen wollen –, dass die Beobachtung und Prüfung von Patentfähigkeit nie einen allumfassenden und erschöpfenden Vergleich aller theoretisch öffentlich verfügbaren Informationen realisieren müsste, geschweige denn könnte. Der Weltcharakter von Patentkommunikation ist vielmehr darin zu sehen, dass jeder beliebige Dritte die Rechtmäßigkeit von Patentrechten anzweifeln und sich im Einspruchs- oder Klageverfahren auf jede zugängliche Information stützen kann, völlig unabhängig davon, zu welchem Zeitpunkt, an welchem Ort und vom wem sie publiziert worden war.36 Unter diesen Umständen wird jede einzelne Patentkommunikation in der Tendenz zu einem globalen Geschehen, da sie – wie ‚lokal begrenzt‘ einzelne Beteiligte wie Patentprüfer, Patentanwälte oder Entwickler auch immer (psychisch) beobachtet und verglichen haben mögen – von Anschlussbeobachtungen rekursiv in einen unbegrenzten, sich global fortschreibenden Vergleichszusammenhang eingeschrieben wird. Der penetrierenden Wirkung dieser universellen Hintergrunderwartung kann sich keine Kommunikation mehr entziehen, ohne ihren spezifischen Sinn als Patentkommunikation zu verlieren. In Analogie zur weltgesellschaftstheoretischen Annahme, dass es sich unter Bedingungen universeller kommunikativer Erreichbarkeit bei jeder Kommunikation um „Weltkommunikation“ handelt, ist seit der weltweiten Durchsetzung des absoluten Neuheitsverständnisses damit jede Patentkommuni-
35 Es bleibt dann manchmal der etwas fade Beigeschmack haften, dass die Respektierung und Pflege dieses Wissens mit modernen Mitteln gleichzeitg verloren gehen lässt, was an diesem Wissen und seinen Wissensträgern partikular und einzigartig gewesen war; vgl. in diese Richtung argumentierend auch zynisch Bereano 1994: S. 1358: „Do we really believe we can protect and preserve indigenous tribes and their cultures yet still expect them to partake in a world of patent lawyers and infringement litigation?“ 36 So äußerte sich auch ein Patentrechtsanwalt, der die hohe faktische Selektivität der Recherche im Hinblick auf den absoluten Neuheitsbegriff wie folgt kommentiert: „Der Begriff ist dadurch nicht in Frage gestellt“ (vgl. Int.-Nr. 27, Herv. C.M.).
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kation als Weltpatentkommunikation zu verstehen (vgl. Stichweh 2005a: S. 179f.).37 Mit diesem stark auf die universale Selektivität der Kommunikation abstellenden Argument ist weltgesellschaftstheoretisch nicht gesagt, dass die Zunahme (oder manchmal die Abnahme) der transterritorialen strukturellen Vernetzungen, die für die meisten Globalisierungstheoretiker im Vordergrund des Interesses stehen, für Weltgesellschaft nicht wesentlich ist. Allerdings sei noch ein Mal hervorgehoben, dass für die Annahme, dass es nur noch ein Patentsystem als weltweit integrierten Beobachtungs- und Vernetzungszusammenhang gibt, Transterritorialität im Einzelfall nicht entscheidend ist. Auch das ausschließliche Referieren von deutschen Patenten in einer deutschen Patentschrift ist in diesem Sinne, d.h. insofern die Unterstellung der Universalität des absoluten Neuheitsbegriffs soziale Geltung reklamieren kann, Weltpatentkommunikation. Allerdings wäre die Prämisse absoluter Neuheit nicht denkbar oder degenerierte zu einer ‚weltutopischen Leersemantik‘, wenn es nicht Patentrecherchen und Grundsatzentscheidungen gäbe, welche am Einzelfall plausibilisierten, dass man auch Neuheiten, die „von anderswo“ kommen, nicht ignorieren soll bzw. kann. Patentanmeldungen, Rechercheberichte oder Patentklagen müssen sich (hinreichend) häufig auf Patent- oder andere Schriften aus dem Ausland, auf wissenschaftliche Publikationen oder auch abseitige neuheitsschädliche Veröffentlichungen oder Veröffentlichungsformen (Entgegenhaltungen) beziehen. Nur dann ist und bleibt es möglich, dass die Unterstellung von Welt plausibel bleibt und der gemeinsame Beobachtungs- und Vergleichshorizont nicht in wechselseitig isolierte Teilkontexte auseinanderbricht.
Globalität des Patents Wir hatten bereits zu Beginn dieses Kapitels noch einmal hervor gehoben, dass das Patentsystem aufgrund des rechtsstaatlichen Prinzips der Territorialität seine strukturelle Einheit nicht auf eine singuläre, global geltende Einheitsoperation (unit act) stützen kann, die wie eine Wahrheitsbehauptung oder ein sportlicher Rekord globale (territoriale Grenzen transzendierende) Geltung entfalten könnte. Patentrechtliche Normativität trägt unweigerlich den Stempel der Territorialität in sich, weil sie – wir kommen auf Ausnahmen zu sprechen – auf die durch das 37 Zum Hintergrund dieses auf die „mathematische Kommunikationstheorie“ Claude Shannons und Warren Weavers zurückgehenden Kommunikationsbegriffs vgl. überblickend Baecker 2005.
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Gewaltmonopol souveräner Staaten gekoppelte Durchsetzbarkeit angewiesen ist. Entsprechend weist das Patentsystem – wie das Recht schlechthin und insbesondere auch das politische System – eine Primärsegmentierung in territorialstaatliche Geltungsräume auf. Der Universalität des Sinnentwurfs entspricht somit prima facie keine Globalität im Sinne einer globalen rechtlichen Geltung und Durchsetzbarkeit eines Patentanspruchs. In diesem Sinne gibt es nur (national)staatliche Patente. Das Territorialitätsprinzip dürfte der Hauptgrund dafür sein, dass es vielen Forschern – hierin liegt eine Parallele zum breiteren Diskurs zur Globalisierung des Rechts – schwer fällt, die Globalität des Patentsystems zu denken. Die Globalisierung des Patentrechts wird weitestgehend mit Homogeneisierung oder Isomorphisierung gleichgesetzt und Befunde zu fortdauernden Divergenzen und unterschiedlichen Patentrechtskulturen in der Regel als ein der Annahme von Globalität widersprechender Sachverhalt interpretiert. In einem ersten Schritt einer weltgesellschaftstheoretischen Neubeschreibung der Globalität des Patentsystems wollen wir dagegen zeigen, inwiefern sich auch am Patentrecht der Drang von Funktionssystemen zur globalen Ausbreitung (Ubiquität) nachweisen lässt. Ubiquität und Isomorphie Wir starten mit der Beobachtung, dass man heute von einer nahezu ausnahmslosen Verbreitung des Patentrechts in der Staatenwelt ausgehen kann. Während noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts in vielen Staaten der Patentschutz noch nicht existierte bzw. gar vorübergehend abgeschafft wurde (vgl. für die Beispiele Schweiz und Niederlande Schiff 1971), ist das zunächst in den USA, England und Frankreich entstandene Patentrecht im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in allen wirtschaftlich relevanten Staaten implementiert worden. Die Weltorganisation für Geistiges Eigentum (WIPO) zählt beispielsweise 184 Mitglieder (Juli 2010). Da es fast überall staatliche Territorien gibt und in fast allen dieser Territorien ein Patentrecht erlassen worden ist, lässt sich davon sprechen, dass das Patentsystem global omnipräsent ist. Die Institutionalisierung von Patentrechten gehört heute – so würden NeoInstitutionalisten formulieren – zum Inventar der „Formalstruktur“ moderner Nationalstaaten. Ein Staat, der sich selbst als Förderer von Wissen und Innovation versteht und verstanden wissen will, benötigt, so zumindest die ganz herrschende Meinung des globalen innovationspolitischen Diskurses, institutionelle Instrumente wie das Patent, um die Forschungs- und Innovationstätigkeit anzuregen. Wer in der ‚wirtschaftspolitischen Weltliga‘ mitspielen will, kann es sich nicht leisten, gänzlich auf den Schutz von proprietären Technologien zu verzichten
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und damit gleichzeitig auch die Interessen einflussreicher, vor allem westlicher Investoren zu brüskieren. Die Pflege eines Patentrechts bzw. der Schutz von Geistigem Eigentum/Intellectual Property schlechthin gehören zu einem als legitim attribuierten Staat heute ebenso wie ein Strafgesetzbuch oder Universitäten (vgl. hierzu z.B. Schofer/Meyer 2005). Patentschutz ist einer der wesentlichen Rationalitätsmythen der modernen „world polity“ und ist aus dem weltpolitischen „script“ (Meyer et al. 1997: S. 150) für einen modernen, von Technik und Technologie „besessenen“ Staat nicht mehr weg zu denken.38 Der Grad an materiellrechtlicher „Isomorphie“ zwischen den Patentgesetzen verschiedener Nationalstaaten ist relativ hoch. Die Patentgesetze machen nahezu ausnahmslos die absolute Neuheit einer Erfindung zum Kriterium der Patentfähigkeit, und in fast allen Staaten ist inzwischen auch das Patentprüfungsverfahren als obligatorisch eingeführt worden (mit einer wichtigen Ausnahme: Frankreich). Diese Homogeneität der rechtlichen Programmierung in den nationalstaatlichen Segmenten des Weltpatentsystems ist eine historische Errungenschaft, die auf einem inzwischen weit fortgeschrittenen Prozess der Verbreitung und wechselseitigen Kompatibilisierung (Harmonisierung) verschiedener Patentrechte beruht, auf den wir im Folgenden noch detaillierter zu sprechen kommen werden. Einer der wichtigsten institutionellen Motoren weltweiter Diffusion und Isomorphie ist die 1971 konstituierte World Intellectual Property Organization, ein in Genf ansässiger Dachverband für alle internationalen Übereinkommen auf dem Gebiet des Geistigen Eigentums. Die WIPO ist Mitglied der Vereinten Nationen und ruht völkerrechtlich auf der Pariser Verbandsübereinkunft (1883) und der Berner Übereinkunft (1886) auf. Die Hauptaufgabe der WIPO, so lautet ihre öffentliche Selbstbeschreibung, besteht in der „protection of intellectual property
38 „In fact, the effectiveness of the patent system is less important than the fact that every industrialized country in the West has made patenting a national institution, complete with supporting bureaucracy, legislation, and state funding. When combined with the zealous pursuit of patents by industry, the existence of professional careers in patent law practice, the transformation of the patent in Communist countries, the popular enthusiasm for the idea of the patent, and the economist’s and historian’s interest in probing the meaning of patents, the result is an obsession with technological knowledge that is without precedent. No other cultures have been as preoccupied with the cultivation, production, diffusion, and legal control of new machines, tools, devices, and processes as Western culture has been since the eighteenth century“ (Basalla 1988: S. 124).
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throughout the world“. Das innovationspolitische Credo der Organisation wird im „WIPO Handbook“ wie folgt beschrieben: „The protection afforded by intellectual property laws results in more creations, innovations and inventions, more investment and effort in research and development (R&D) in technical fields, leading to technological improvements, and thereby to improvement in the quality of industrial output, and by greater access to creations of foreign origin, in an educational and cultural climate that promotes development in general“ (WIPO 2008: S. 18).
Die WIPO steht somit für den universalen Anspruch, dass sich Intellectual Property bzw. Patente im Speziellen heute nur mehr als ‚Weltangelegenheit‘ behandeln und regulieren lassen. In Analogie zu anderen Weltorganisationen wie der World Trade Organization (WTO), der World Health Organization (WHO) oder der International Labour Organization (ILO) lässt sich die WIPO als Treiber von globaler Diffusion und Standardisierung begreifen. Neben den einflussreichsten Patentämtern stellt die WIPO den wichtigsten Repräsentant einer Weltpatentkultur dar, deren zentrale ‚Patentidee‘, d.h. das Postulat, dass Fortschritt und technologische Innovation des rechtlichen Schutzes technischen Wissens bedürfen, immer weiter verbreitet und zementiert wird.39 Diversität in der Patentgesetzgebung Muss man sich das Weltpatentsystem demzufolge als ein homogenes Ganzes vorstellen, dessen interne Globalisierungsdynamik sich nur mehr ausschließlich als Prozess der Konvergenz verschiedener Rechtsordnungen und Rechtskulturen denken lässt? Ist das Patentsystem ein weiterer Repräsentant einer „isomorphic brave new world” (Hirsch 1997: S. 1702), die immer mehr von Nivellierungstendenzen geprägt wird und von überlieferten lokal-regionalen Ordnungsmustern und Idiosynkrasien nicht mehr viel übrig lassen wird?40 Bei dieser „Konvergenzfrage“ handelt es sich um eine der am häufigsten gestellten Fragen der Globali39 Vgl. aktuell zur Rolle der Patentämter aus den wirtschaftlich wichtigsten Staaten auch kritisch Drahos 2010. 40 George Ritzer darf mit seinem Schlagwort der „McDonaldization“ als bekanntester Vertreter dieser These gelten (vgl. Ritzer 1993, 2004). Andreas Wimmer zählt weitere Autoren dieser Argumentationsrichtung auf, in der die Vorstellung einer vereinheitlichten (amerikanisierten) Weltkultur und die damit einhergehende Uniformisierung regionaler Kulturen als „horribulum“ transportiert werde (vgl. Wimmer 2001: S. 436ff.).
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sierungstheorie und auch eine der wichtigsten Antriebsfedern des Globalisierungsprotests und der Globalisierungskritik.41 Die Antwort auf diese Frage fällt unentschieden aus. Sieht man von der etwas überzogenen ‚brave new world‘-Kritik ab, lässt sie sich einerseits tendentiell bejahen, weil sich die unterschiedlichen gesetzlichen „Programme“ des Patentsystems, wie im letzten Abschnitt erwähnt, durch eine ausgeprägte und heute bereits weit vorangeschrittene wechselseitige Angleichung und Harmonisierung charakterisieren. Die Konvergenzthese ist allerdings in anderen Hinsichten auch zu negieren bzw. mindestens zu relativieren, weil sich in der Welt der Patente neben Homogeneität auch ein hohes Ausmaß an Diversität beobachten lässt, von der nicht ein umstandsloses Aufgehen in einer (westlich dominierten) Weltpatentkultur zu erwarten ist. Diversität innerhalb des globalen Patentsystems lässt sich an verschiedenen Punkten festmachen. Wir gehen im Folgenden zunächst exemplarisch auf zwei konkrete Momente materieller patentrechtlicher Diversität ein. Danach werden wir mit besonderer Berücksichtigung der Situation in China untersuchen, wie sich weltgesellschaftstheoretisch auf die augenfälligen Divergenzen im empirisch beobachtbaren Ausmaß der Realisierung von Patentrechtssicherheit reagieren lässt. Der materiellrechtliche Kern von Patentgesetzen, die grundlegende Patentnorm, ist weltweit identisch: Es geht wie im dritten Kapitel beschrieben um die kontrafaktische Stabilisierung eines exklusiven wirtschaftlichen Nutzungsanspruchs für neues, technisches Wissen (patentfähige Erfindungen). Allerdings tun sich bei einer ins Detail gehenden Betrachtung eine Reihe signifikanter Unterschiede in der konkreten Ausgestaltung der basalen Patentnorm auf, die bei einer oberflächlichen makroskopischen Analyse durch das Raster fallen könnten, für die beteiligte Akteure wie Patentprüfer, -richter, -anmelder und insbesondere auch für Patentjuristen allerdings von hoher alltäglicher Bedeutung sind. Der wahrscheinlich substantiellste Unterschied, der auch häufig als wichtigstes Prohibitiv eines weltweit harmonisierten Patentrechts bezeichnet wurde, ist die Differenz zwischen Anmelderprinzip und Erfinderprinzip. Mit Ausnahme der Vereinigten Staaten verfolgen inzwischen alle Staaten das Anmelderprinzip, das häufig auch first-to-file genannt wird.42 Es beruht auf der
41 Guillén bezeichnet in seinem informativen Überblicksartikel zur Globalisierungsforschung die Konvergenzfrage („Does it [globalization, C.M.] produce convergence“) als eine der „five key debates“ der Globalisierungsforschung (2001: S. 244ff.et passim).
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Annahme, dass derjenige unwiderruflich für sich die Neuheit einer Erfindung reklamieren kann, der zuerst eine Patentanmeldung für sie einreicht. Der Vorteil dieses Prinzips der Anmelderpriorität dürfte in seiner Klarheit liegen: Patentrechtlich gesehen gewinnt immer und ausschließlich derjenige das „patent race“, der als Erster die Patentanmeldung einreicht, was auch immer, wo auch immer und von wem auch immer bereits weit zuvor gedacht oder zu spät in die (elektronische) Post gegeben worden seien mag. Die Vereinigten Staaten verfügten dagegen bis zur Patentgesetzreform im Jahr 2011 über das first-to-inventPrinzip, das dem ersten Erfinder die Priorität auch gegenüber einem Erstanmelder einräumt, wenn er binnen Jahresfrist (z.B. mit einer notariell beglaubigten Erfindungsmeldung) nachweisen kann, dass er die Erfindung bereits zuvor gemacht hatte (Stedman 1972). Diese Prioritätsregelung führte vor allem in der Vergangenheit zu komplizierten Prioritätsstreitigkeiten zwischen Anmelder und Erfinder, sogenannten interference-Verfahren, in denen über das Recht auf das Patent entschieden wurde (vgl. Nicolai 1972, Roberts 1998).43 Ein weiteres wichtiges Beispiel für materiellrechtliche Diversität sind unterschiedliche Ausnahmeregelungen bei der Bestimmung patentrechtlicher Neuheit. Während die USA und Japan beispielsweise eine Ausnahmeregelung bei akademischen Patentanmeldern vorsehen, kennt das deutsche Patentrecht eine solche „Neuheitsschonfrist“ („grace period”) nicht. Das Institut der Neuheitsschonfrist zielt auf einen Ausgleich zwischen akademischen und kommerziellen Auswertungsinteressen ab, in dem es akademischen Anmeldern ermöglicht, ihre neuen Forschungsresultate zunächst über akademische Zeitschriften zu veröffentlichen. Die „grace period“ ermöglicht es nun dem Publizierenden, auch bereits öffentlich zugängliches und insofern als neuheitsschädlich zu bewertendes Wissen in-
42 Ab März 2013 gilt allerdings auch in den USA das Erstanmelderprinzip, dessen Einführung mit dem Patent Reform Act im Jahr 2011 beschlossen wurde. 43 Dieser Umstand wurde von europäischen Anmeldern häufig als diskriminierend empfunden, weil laut amerikanischem Patentgesetz eine „interference“ nur dann vorliegen konnte, wenn der Nachweis erbracht wurde, dass eine Erfindung in einem amerikanischen Labor entstanden war. Diese Regelung ist inzwischen im Rahmen des TRIPSAbkommens aufgehoben worden. Die weitestgehende Durchsetzung des Anmelderprinzips ist auch kommunikations- und inklusionstheoretisch insofern von Interesse, als sie einen weiteren Mosaikstein in der systemischen Akzentverschiebung von individuellem Handeln und dessen Belohnung zu Kommunikation von Wissen und dessen Schutz sowie von Einzelperson zu Organisation als dominierender Inklusionsform darstellt. Wir kommen hierauf im historischen Kapitel zurück.
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nerhalb einer festgesetzten Frist (USA: ein Jahr; Japan: sechs Monate) durch Patentrechte abzusichern. Der Stand der Technik wird demnach durch diese Schonfrist ‚eingefroren‘ und das innovative Wissen kann somit einer akademischen und einer kommerziellen Auswertungsmöglichkeit zugänglich gemacht werden, ohne dass man gezwungen ist, zuvor zu patentieren, falls man sich nicht jeder Möglichkeit einer patentrechtlich/kommerziellen Auswertung seiner Erfindung begeben will.44 Rechtsunsicherheit: Das Beispiel China Ergänzend zur Beobachtung dieser relativ eindeutigen und sichtbaren materiellrechtlichen Unterschiede zwischen verschiedenen Patentgesetzen handeln wir unter dem Konzept der Diversität einen weiteren, soziologisch interessanteren Aspekt ab. Wir beziehen uns dabei auf den Sachverhalt des stark divergierenden Ausmaßes an Rechtssicherheit, das in unterschiedlichen Rechtsräumen beobachtet werden kann. Mit „Rechtssicherheit“ lässt sich das soziale Funktionieren der Unterstellung bezeichnen, dass die Klage gegen eine Rechtsverletzung nicht nur ‚theoretisch‘ als durchsetzungsfähig qualifiziert wird, sondern auch tatsächlich vor Gericht durchgesetzt und geltend gemacht werden kann. Soll ein Gesetz nicht nur ein ‚Papiertiger‘, sondern auch real und effektiv in der Lage sein, normative Erwartungserwartungen dauerhaft zu stabilisieren, muss es „hinreichende Aussicht auf Durchsetzung haben, weil man anderenfalls sich schließlich doch lernend den Fakten beugt. Es darf nicht dabei bleiben, daß dem, dessen Rechtserwartungen enttäuscht worden sind, nur bestätigt wird, richtig erwartet zu haben. Es muß etwas für eine sei es reale, sei es kompensatorische Durchsetzung seines Rechts geschehen“ (Luhmann 1993: S. 18).
Als wichtigstes Beispiel für Rechtsräume, in denen die faktische Durchsetzung geltender Patentansprüche (nach durchschnittlichen OECD-Maßstäben) nur in eingeschränktem Maße möglich ist, wird vor allem China angeführt. Dass China als Paradebeispiel für einen defizitären Rechtsschutz gilt, liegt nicht daran, dass die Rechtssituation in China im weltweiten, d.h. nicht nur im OECD-Vergleich, besonders schlecht ist, sondern hat vielmehr auch damit zu tun, dass die Situation in China viel intensiver als in anderen Staaten beobachtet wird. Dies liegt vor allem auch daran, dass ausländische Investoren aufgrund der in den letzten Jahrzehnten explosiv zugenommenen wirtschaftlichen Relevanz Chinas immer stär44 Zur Neuheitsschonfrist siehe überblickend Straus 2001, VDI Technologiezentrum 2004 und aktuell Franzoni/Scellato 2010.
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ker auf Rechtssicherheit angewiesen sind.45 Ein gänzlicher Verzicht auf den Standort China stellt nicht mehr nur wegen günstiger Produktionsfaktorpreise, sondern auch aufgrund Chinas zunehmender Attraktivität als Absatzmarkt und Forschungsstandort keine ernstzunehmende Geschäftsoption mehr für große multinationale Unternehmen mehr da.46 Der chinesische Staat hat erst in den 1980er Jahren ein Patentgesetz eingeführt; allerdings adoptiert dieses in allen entscheidenden materiellrechtlichen Hinsichten die europäische Patentgesetzgebung.47 Seit ihrem Beginn werden die Bemühungen der chinesischen Regierung, Patentrechte zu institutionalisieren mit patentrechtlicher Expertise und institutionellem Know-How aus Staaten mit einem etablierten Patentschutz, insbesondere auch Deutschland, unterstützt und unterfüttert. Darüber hinaus wird auf der weltwirtschaftspolitischen Bühne in letzter Zeit häufig der „Fortschritt“ hervorgehoben, den man in China in den letzten Jahren auf dem Gebiet der Geistigen Eigentumsrechte gemacht habe und es werden ‚Präzedenzfälle‘ aufgezählt, die auf eine zunehmende Rechtssicherheit von Schutzrechten westlicher Konzerne hindeuten.48 Dieses Bild von einem funktionsfähigen und sich dynamisch entwickelnden Patentsystem wird durch den statistischen Befund einer massiven Zunahme von Patentanmeldungen beim chinesischen Patentamt (SIPO) im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts bestätigt. Von gut 50.000 Anmeldungen im Jahr 2000 stieg
45 Im 2011 Corruption Perception Index (CPI) von Transparency International belegt China Rang 75 (vgl. www.transparency.org). In letzter Zeit gerät z.B. auch der indische Staat stärker in das Blickfeld, insbesondere im Hinblick auf den von vielen Beobachtern als problematisch eingeschätzten Umgang mit Patentrechten westlicher Konzerne auf Medikamente (siehe zum Fall des Krebsmedikaments Nexavar® Balzter 2012, siehe auch unten S. 193). Wir beschränken uns im Folgenden auf Beispiele aus China. 46 China verzeichnete beispielsweise im Jahr 2010 hinter den USA mit ca. 154 Milliarden US Dollar die dritthöchsten Gesamtausgaben für R&D (vgl. OECD 2010OECD 2012: S. 18). 47 Vgl. hierzu überblickend Steinmann 1992; Qingjiang 2005. 48 Siehe etwa Hein/Knop 2006; siehe hierzu auch das Statement von Dan Vasella, dem damaligen CEO von Novartis, der im November 2009 bei der Ankündigung des Ausbaus eines R&D-hubs in Shanghai konzedierte, China habe – im Gegensatz zu Indien – bedeutende Fortschritte beim Patentschutz gemacht: „China has made tremendous progress in IP and is enforcing IP in pharmaceuticals.“
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das Anmeldevolumen mit einem durchschnittlichen jährlichen Wachstum von 22,4% auf bis über 390.000 Anmeldungen im Jahr 2010 (Abb. 5).49 Abbildung 5: Dynamik der Patentanmeldungen in China 450.000
391.177
400.000 350.000 300.000 250.000 200.000 150.000 100.000
51.906
50.000
Bei einer oberflächlichen Beobachtung könnte es naheliegen, diesen Diffusionsund Wachstumsvorgang als ein weiteres erfolgreiches Kapitel in der Geschichte des Patentrechtstransfers zu verbuchen und als einen Meilenstein in der Verbreitung des Patentrechts zu feiern. Informiert man sich nun aber konkreter und hört etwas genauer hin bei Erfahrungsberichten von Managern, die vor Ort in China wirtschaftlich-operativ tätig sind, stößt man auf sehr nüchterne bis skeptische Einschätzungen. Befragt zur Patentrechtssicherheit in China, äußerte sich ein für China zuständiger „Managing Director“ eines großen Strategieberatungsunternehmens in einem Interview wie folgt: „China hat zur Zeit weder Interesse daran, noch die Möglichkeit, ein echtes Patentsystem aufzubauen; bei dem extremen Wachstum wäre eine zu starke rechtliche Regelung eher hinderlich. Vergessen Sie das; China ist hier sehr pragmatisch; die Entwicklung wird nicht primär getrieben von den multinationals.“50
49 Unsere Darstellung und Berechnung, zu den Daten vgl. die Sektion „Statistics“ auf der webpage des chinesischen Patentamts unter www.sipo.gov.cn; siehe zu den Hintergründen dieses Wachstums auch Hu/Jefferson 2009, Hu 2010, Li 2012. 50 Vgl. Int.-Nr. 23, mit „multinationals“ sind die in China operierenden westlichen multinationalen Unternehmen gemeint; für eine „patent checklist“ für westliche in China patentierende Unternehmen vgl. auch Sun/Barner/Wegner 2012.
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Unter deutschen Top-Managern ist in diesem Kontext nicht zuletzt die Erfahrung, die der Siemens-Konzern mit der Transrapid-Technologie in China machte51, zu einem ‚running gag‘ geworden, aber auch für weniger bekannte mittelständische Unternehmen aus Hochtechnologiebranchen stellt die Patentrechtsunsicherheit in China ein mitunter existentielles kommerzielles Risiko dar: „Wir machen nicht gerne die anderen schlau. Wenn wir den Chinesen zeigen, wie unsere Prozesse laufen, können wir unseren Laden sofort dichtmachen.“52
Der (aus Sicht ausländischer Unternehmen) defizitäre Patentschutz in China galt somit lange Zeit auch als einer der wichtigsten diplomatischen Hemmschuhe für die Aufnahme des chinesischen Staats in die WTO; insbesondere die USA übten im Kontext der WTO-Beitrittsverhandlungen und darüber hinaus beträchtlichen politischen Druck auf den chinesischen Staat aus, ein funktionierendes Patentregime zu installieren (vgl. Klunker 2008, Ganea 2009). Ein Beispiel: der chinesische Staat befindet sich weit oben auf der berühmt-berüchtigten „Annual priority watch list“ des US-amerikanischen „Office of the US Trade Representative“ (USTR). In dessen Jahresbericht 2009 liest man: „China’s IPR enforcement regime remains largely ineffective and non-deterrent“ (vgl. USTR 2009: S. 13). Dieses Beispiel verdeutlicht, dass sich die globale Diffusion des Patentrechts nicht nur als Beispiel für „mimetic“, sondern auch für „coercive isomorphism“ (DiMaggio/Powell 1983) anführen ließe: die Strukturanpassung erfolgt nicht nur ‚freiwillig‘, sondern wird durch das Ausspielen weltpolitischer Machtressourcen ‚erzwungen‘. Die Frage nach der Patentrechtssicherheit in China ist Teil einer sehr weitreichenden Meta-Fragestellung nach dem Verständnis und der Verortung von Recht, insbesondere Eigentumsrechten in China (und weiteren Staaten) überhaupt. Sie berührt wesentliche Kritikpunkte an weltgesellschaftlichen Theorien sowie an klassischen modernisierungstheoretischen Ansätzen, denen häufig eine zu westlich imprägnierte Sicht der globalen Dinge vorgeworfen wird. Wir müssen hier auf den Versuch der Entwicklung einer effektiven rechtsstrukturellen 51 Der Siemens-Konzern hatte gemeinsam mit dem Transrapid-Konsortium (v.a. auch ThyssenKrupp) die Magnetschwebebahn in Shanghai gebaut, sah sich dann aber wenige Jahre später mit der Situation konfrontiert, dass ein chinesisches Konsortium eine eigene Magnetschwebebahntechnologie entwickelt hatte. Milieukenner gehen davon aus, dass bei diesem Projekt in signifikantem Ausmaß Patente des TransrapidKonsortiums verletzt worden sind (vgl. Sucher 2006). 52 So der Verkaufsleiter eines Airbus A380-Zulieferers (zitiert nach Che 2006: S. 19).
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oder gar ausgreifenden historisch-kulturellen Erklärung verzichten und werden uns vielmehr darauf beschränken, einige Aspekte und Implikationen eines weltgesellschaftstheoretischen Umgangs mit dieser Frage wieder zu geben.53 Der Neo-Institutionalismus macht aus der Beantwortung der Frage nach divergierenden Erwartungsstrukturen und strukturellen Partikularismen ein ‚Heimspiel‘. In Anlehnung an organisations- und interaktionstheoretische Einsichten arbeitet die Stanford School um John Meyer W. seit Jahrzehnten routiniert mit der Unterscheidung von formalen und informalen Strukturen („Aktivitätsstrukturen“), um den Sachverhalt zu bezeichnen, dass sich die nach außen sichtbare „Vorderbühne“ sozialer Systeme (Staaten, Verwaltungen, Organisationen) häufig von der im Alltag entscheidenden „Hinterbühne“, d.h. dem, was sich letztlich ‚operativ‘ und vor Ort vorfinden lässt, drastisch unterscheiden kann. Während ‚nach außen hin‘ – beispielsweise durch die Mitgliedschaft in einschlägigen Meta-Organisationen54 – um Legitimität geworben wird und sich im Rahmen von weltpolitischem ‚window-dressing‘ ein Prozess andauernder Angleichung von Strukturen beobachten lässt (Isomorphie), realisiert sich vor Ort ‚off the record‘ und ‚backstage‘ in der Implementierung ein permanentes Anpassen formaler Modelle an die verfügbaren Ressourcen und Gelegenheiten (vgl. überblickend auch Hasse/Krücken 2005, 2009). Die Implementierung des chinesischen Patentgesetzes wäre demnach ein guter Anwendungstest für die neo-institutionalistische Leitthese, dass Formal- und Aktivitätsstrukturen durch ein Verhältnis von „decoupling“ gekennzeichnet sind. Dieses Phänomen des „decoupling of general values from practical action“ (Meyer et al. 1997: S. 154ff.) äußert sich in den staatlichen Peripherien besonders deutlich. Während an den zentralen Gerichten in Shanghai und Peking in den letzten Jahren häufiger wichtige Entscheidungen getroffen werden, welche den durch das Patentgesetz formal abgesicherten Erwartungen entsprechen, ist in
53 Diesbezügliche Pflichtlektüren für Soziologen wären die wirtschaftsethischen Studien Max Webers zum Konfuzianismus und Taoismus sowie die voluminösen Studien Joseph Needhams und seiner Mitarbeiter zu „Science and Civilisation in China“ (Überblick unter www.nri.org.uk); geschichtlich ausführlich zu China vgl. Osterhammel 1989; vgl. auch Holzer 1999: S. 48ff. zur „Konfuzianismusthese“. 54 Das Studium der Mitgliederlisten von Weltverbänden sorgt gelegentlich für Erheiterung, z.B. im Fall von Sportverbänden. Geht man etwa die Mitgliederliste der „International Biathlon Union“ (www.biathlonworld.com) durch, begegnet man ‚großen Wintersportnationen‘ wie Algerien, Monaco, Neuseeland u.v.m.; vgl. zum Phänomen der „Meta-Organizations“ auch Ahrne/Brunsson 2005.
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den chinesischen Provinzen nach wie vor ein massiver ‚mismatch‘ zwischen den materiellrechtlichen Vorgaben (Formalstruktur) und der Entscheidungspraxis der jeweils regional zuständigen Behörden (Aktivitätsstruktur) beobachtbar. Nicht nur, aber vor allem in den Peripherien überlagert eine analytisch nicht leicht zu erfassende Gemengelage aus persönlichen commitments, klientelistischen Abhängigkeitsgeflechten, wechselseitiger Vorteilsnahme und fachlicher Inkompetenz die (nur) formal geltenden Erwartungsstrukturen. Die Folge sind Gerichtsund Verwaltungsentscheidungen, die sich häufig nicht der (westlichen) Erwartung einer konsistenten (gerechten) Subsumtion von Patentfakten fügen, sondern immer auch damit beschäftigt sind, informelle Reziprozitätspflichten zu bedienen. Den formal fixierten Erwartungshaltungen wird damit ihre effektive bindende Relevanz genommen und das Patentgesetz degeneriert dann in einer das Problem zuspitzenden Sichtweise zu einem reinen „patent law on paper“ (so ein Interviewpartner – vgl. Int.-Nr. 17).55 Das Recht – die Inflationierung einer Währung ist ein Parallelbeispiel – kann dann nicht einlösen, was man sich von ihm in puncto generalisierter und kontrafaktischer Absicherung von unwahrscheinlichen Erwartungen erwartet hatte. Ob das manchmal wie eine theoretische ‚one-size-fits-all-solution‘ daherkommende decoupling-Argument des Neo-Institutionalismus hinreicht, um das Ausmaß beobachtbarer Rechtsunsicherheit in China ausreichend erklären zu können, darf bezweifelt, kann aber hier nicht abschließend beantwortet werden. Auf jeden Fall stellt der weltgesellschaftstheoretische Neo-Institutionalismus einen möglichen Ansatz zur Verfügung, mit dem sich an dem Desiderat einer detaillierteren Auseinandersetzung mit dem Problem der Patentrechtsunsicherheit in China und (vielen) weiteren Staaten zu arbeiten beginnen ließe. Einerseits helfen neoinstitutionalistische Konzepte, das hohe Ausmaß an Verbreitung und materiellrechtlicher Konvergenz innerhalb des Weltpatentsystems (Isomorphie) zu erklären und andererseits eröffnet sich eine soziologische Perspektive auf Effekte der Fragmentierung und Einbettung in die Pluralität der „legal cultures“ der
55 In diesem Kontext fällt häufig der Begriff Guanxi, der wörtlich übersetzt so viel wie „Beziehung“ meint und als Sammelbegriff für die Beschreibung der angedeuteten informalen Strukturphänomene dient. „Guanxi spielt immer eine Rolle“, so die lapidaren Worte einer chinesischen Patentrechtsanwältin in einem Interview (Int.-Nr. 25); vgl. z.B. den Sammelband Gold/Guthrie/Wank 2002 und für einen Vergleich von guanxi und dem russischen blat als einem ähnlichen Phänomen siehe Ledeneva 2008, vgl. auch Krauße 2010.
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modernen Gesellschaft (vgl. in diesem Diskussionstext zu „Zonen der Informalität“ Holzer 2006a). Vom Problem der Patentrechtsunsicherheit in China ausgehend, kann dann an die systemtheoretische Theorie der Weltgesellschaft die Frage gerichtet werden, inwiefern die von ihr postulierte Kongruenz der Durchsetzung funktionaler Differenzierung und der Emergenz von Weltgesellschaft in einigen Hinsichten etwas zu einseitig, weil zu sehr mit Blick auf das europäisch-transatlantische Beispiel und das (relative) Funktionieren von Recht als unabhängiger, vielleicht deutlicher als anderswo ausdifferenzierterer funktionaler Sphäre, entwickelt worden sein könnte.56 Auch wenn die These der Weltgesellschaft selbstverständlich nicht mit einer These konvergenter Evolution der Regionen in der Welt verwechselt werden darf, wirft nicht zuletzt das hervorstechende Beispiel China immer wieder die Frage auf, ob nicht die Vorstellung von der modernen Gesellschaft in der Tat zu eng an die These der Ausdifferenzierung von Funktionssystemen, allen voran der Autonomie des Rechts als wichtigstem normativen Garanten der gesellschaftlichen Gesamtordnung, gekoppelt ist, um direkt in eine Theorie der Weltgesellschaft verlängert werden zu können: In anderen Regionen scheint es zum Teil auch ‚anders zu gehen‘ als in der ‚OECD-Welt‘, ohne dass man diesen Regionen der Erde Modernität oder gar Gesellschaftlichkeit absprechen wollte.57
56 Die weiter oben diskutierten politisch-ökonomischen Fremdbeschreibungen und institutionenökonomischen Theorien des Patents (Anspornungs- und Veröffentlichungstheorie) kann man bei dieser Frage unmittelbar in cc: nehmen, da auch sie sich mit der Frage zu konfrontieren haben, wie ein Wirtschaftswachstum ohne vollkommen funktionierenden Patentschutz, wie es sich in Asien, insbesondere China, in den letzten Jahrzehnten vollzieht, aus ihrer Perspektiver erklärbar ist; vgl. zu dieser Fragestellung interessant Richter/Streb 2009. 57 Überlegungen in diese Richtung finden sich vereinzelt auch bei Luhmann (vgl. dezidiert Luhmann 1972: S. 338 und auch die abschließenden Bemerkungen im „Recht der Gesellschaft“); vgl. zu dieser Frage auch Holzer 2007. Es wird in dieser Lage dann vielleicht fruchtbar, zusätzliche soziologische Konzepte einem weltgesellschaftstheoretischen Tauglichkeitstest zu unterziehen. Der Begriff des Netzwerks mit seinem Potential sowohl für Anschlüsse an die Globalisierungsforschung (small worlds) als auch für eine Verknüpfung mit der Analyse von Phänomen wie „guanxi“ und „blat“ etc. dürfte hier derzeit eines der vielversprechendsten Konzepte sein (vgl. etwa Wellman/Chen/Weizhen 2002).
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Ein Zwischenresümee dieses Kapitels lautet somit, dass sich das Patentsystem in mehreren Hinsichten als globales System qualifizieren lässt. Es gibt kaum mehr ‚weiße Flecken auf der Patentlandkarte‘ (Ubiquität) und die materiellrechtlichen Konturen der Patentgesetze sind nahezu identisch: Dies ist Konsequenz des im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sich stark beschleunigenden Prozesses der Diffusion und wechselseitigen Kompatibilisierung des Patentrechts (Harmonisierung). Diese beiden Aspekte sind wichtige Faktoren einer zunehmenden sachlich-räumlichen Penetration der Welt mit Patentansprüchen. Ungeachtet dieser voranschreitenden „Orientierungssicherheit“, so könnte man mit Theodor Geiger formulieren, ergibt sich allerdings nach wie vor ein sehr heterogenes Bild, was die „Realisierungssicherheit“ bei der Patentierung in internationalen Rechtsräumen angeht. Die „enforceability“ von Patentrechten ist in vielen Staaten mit hohen Rechtsunsicherheiten verbunden und es ist zum jetzigen Zeitpunkt unklar, inwiefern sich Ansprüche auf ‚starke Patente‘ in wirtschaftlich bzw. rechtlich derzeit weniger entwickelten Regionen der Weltgesellschaft zukünftig erfolgreicher durchsetzen lassen. Mit anderen Worten: Man sieht, dass den universalen Ansprüchen des Systems nicht unmittelbar und in konvergentem Maße strukturelle Realitäten entsprechen. So kann zwar jeder nahezu in jedem Staat so gut wie jede technische Erfindung zum Patent anmelden, aber wer an welchem Patentgericht in welchem Maße (zu Recht oder zu Unrecht) zu seinem Recht kommt oder nicht, ist eine sich erst im komplexen Zusammenspiel mit regionalen Pfadabhängigkeiten und divergierenden Formen der Einbettung und Kopplung von Wirtschaft, Politik und Patentrecht beantwortende Frage. Die globale Realität des Patentsystems lässt sich somit nicht schlicht aus dem Argument einer Selbstentfaltungslogik universalistischer Maximen theoretisch-deduktiv ableiten, sondern kann nur empirisch und historisch-differenzierend beschrieben und erforscht werden. Dies heißt allerdings dezidiert nicht, dass wir in Anlehnung an Eisenstadt von „multiple patent modernities“ ausgehen, sondern wir postulieren, dass die beschriebenen Divergenzen sich erst beobachten und verstehen lassen, wenn man von der Annahme eines globalen Verknüpfungs- und Relevanzkontinuums, eines Weltpatentsystems, das diese unterschiedlichen Patentkulturen einschließt, ausgeht.58 In diesem Sinne werden wir uns in den nächsten beiden Abschnitten auf zwei Aspekte der Globalisierung des Patentsystems konzentrieren, an denen sich zeigen lässt, inwiefern die in der Universalität der Patentnorm angelegten Möglichkeiten sich bereits in konkret beschreibbaren globalen Kommunikations- und
58 Zur These der „multiple modernities“ vgl. etwa Eisenstadt 1979 und 2000.
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Handlungszusammenhängen operativ entfaltet haben. Es wird uns zum einen darum gehen, zu skizzieren, wie eine in den 1960er Jahren einsetzende „Harmonisierungsdiplomatie“ die effektiven Möglichkeiten, Patentrechte weltweit anzumelden und durchzusetzen, stark forciert und somit Hemmschwellen des internationalen Patentierens progressiv abgebaut hat. Die Diskussion dieses Harmonisierungsprozesses berührt zunächst vor allem die materiellrechtlich-normative Seite des Patents und geht gegen Ende des Abschnitts dann auf stärker kognitiv geprägte Aspekte der Ermöglichung eines systematischen Vergleichs von Patentinformationen ein. Dies wird überleiten zum darauffolgenden Abschnitt, in dem wir zum anderen einer weiteren weltgesellschaftstheoretischen Leitfrage nachgehen, nämlich der nach der Bedeutung von kommunikationstechnischen Infrastrukturen (Verbreitungsmedien) für die Globalisierung von Funktionssystemen am Beispiel des globalen Gedächtnisses des Patents. Der Protagonist dieses Abschnitts wird die elektronische Patentdatenbank sein.
H ARMONISIERUNG
DES
P ATENTRECHTS
Standardisierung und Harmonisierung Die Pluralität von Patentrechtsräumen kollidiert augenfällig mit globalen Vermarktungsstrategien technologieintensiver multinationaler Unternehmen, die Erfindungen in der Regel nicht nur im Land ihres Stammsitzes, sondern in einer Reihe wirtschaftlich bedeutsamer Märkte als Marktinnovation profitabel auszuwerten versuchen, damit sich ihre Investitionen in F&E, Marketing, Vertrieb etc. amortisieren. Wirtschaftsunternehmen haben daher sehr häufig ein dezidiertes Interesse an einer Harmonisierung des Patentrechts. In diesem Abschnitt wollen wir den Prozess der patentrechtlichen Harmonisierung beschreiben, allerdings auch hier wiederum nicht mit primärem Interesse daran, inwiefern die patentrechtliche Harmonisierung wirtschaftlicher Logik folgt und wirtschaftspolitische Bedürfnisse erfüllt. Wir machen vielmehr auch hier das (Weltpatent-)System zum Hauptausgangspunkt unserer Analyse und beschreiben, inwiefern Harmonisierung und Standardisierung zunächst als Momente der patentrechtlichen Globalisierung selbst zu verstehen sind und nicht als reine ‚Erfüllungsgehilfen‘ von wirtschaftlicher Globalisierung (vulgo: „der Globalisierung“).59 59 Brunsson und Jacobsson haben in ihrem Buch „World of standards“ auf den Bedingungszusammenhang zwischen Standardisierung und Globalisierung verwiesen; allerdings transportiert auch ihr Argument ein primär wirtschaftsbezogenes Verständnis
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Standardisierung ist nicht nur in wirtschaftlichen Bereichen ein konstitutives Moment von Globalisierungsprozessen. Für den technisch-regulatorischen Bereich lässt sich etwa an die DIN A4-Norm und das normierte Schraubengewinde oder die QWERTY-Tastatur denken, für die internationale Rechnungslegung an Standards wie IFRS oder GAAP, für den Sport an die Größe eines Fußballtors, für das Erziehungssystem an Curricula, für das Religionssystem an geregelte Abläufe von Gottesdiensten, für Wissenschaft/Technik an Maßeinheiten wie den Meter etc.60 Indem Standards einen vereinheitlichenden Bezugspunkt setzen, ermöglichen sie die „Interoperabilität“ zwischen tendenziell weltweit verteilten Akteuren und Systemen; Standards sind Bedingungen der Möglichkeit, Ungleiches (Individuelles) aufeinander zu beziehen und zu vergleichen. Sie lösen einen Drang zum Vergleichen, Abgleichen und Austesten des von ihnen vorgegebenen Möglichkeitsraums aus, wodurch sich wiederum neue Standardisierungsnotwendigkeiten ergeben. Standards und Standardisierungen sind somit zugleich Voraussetzung und Folge von Globalität. Standardisierung – dies wird am Beispiel des Patentrechts besonders deutlich werden – ist nicht mit Homogenisierung gleich zu setzen. Wie die Diskussion zu Isomorphie und Diversität gezeigt hat, lässt sich kein weltweit vereinheitlichtes Patentrecht beobachten, sondern ein homogener materiellrechtlicher Kern, der als fixer Referenzpunkt regionale Unterschiede in der gesetzlichen Ausgestaltung und Durchsetzbarkeit von Patentrecht sichtbar und praktisch spürbar macht. Harmonisierung setzt diesen homogenen Kern voraus und geht gleichzeitig über ihn hinaus, indem in Form eines inkrementellen Austarierens von Interessen und Auslotens des (politisch-diplomatisch) ‚Machbaren‘ zunehmende Interoperationalität geschaffen wird. Patentrechtliche Harmonisierung – verstanden als voranschreitender Prozess – ist somit ein funktionales Äquivalent zu bereits vollrealisierten Weltstandards wie den oben bereits erwähnten oder auch der Standardgröße von Schiffscontainern, Software und Betriebssystemen wie dem Win-
von Globalisierung: „The need for standardization increases with globalization, because of the absence of a strong formal organization at the global level, and because, in the multitude of cultures encompassed, there are often no common norms. […] Global standardization can be an important instrument for creating truly transnational markets“ (Brunsson/Jacobsson 2000: S. 38). 60 Als selektive Hinweise vgl. Vec 2006: S. 302, David 1985, Mennicken/Heßling 2007, Werron 2010: S. 463ff., Meyer/Kamens/Benavot 1992; vgl. auch Loya/Boli 1999.
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dows-Betriebssystem der Firma Microsoft.61 Insoweit es keinen ‚echten‘ Weltstandard gibt und dessen Vollrealisierung zunächst utopisch scheint, behilft man sich mit schrittweiser Harmonisierung.
Meilensteine patentrechtlicher Harmonisierung Vor dem Hintergrund dieses Begriffsverständnisses beginnen wir unsere Beschreibung der internationalen Harmonisierung des Patentrechts. Wir werden uns dabei auf eine Reihe relativ neuer internationaler Verträge beschränken, welche in den letzten drei bis vier Jahrzehnten die Rahmenbedingungen für internationales Patentieren stark verändert haben. Es handelt sich bei den referierten Abkommen um ‚Meilensteine‘ eines voranschreitenden Prozesses, dessen historisches Fundament – wie bei vielen Errungenschaften der Harmonisierung und Standardisierung – aus dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts stammt. Zusammengebunden werden die einzelnen Abschnitte durch die Leitfragestellung, inwiefern die einzelnen Regelungen im Harmonisierungsprozess zu einer Erleichterung und ‚Probabilisierung‘ globalen Patentierens führen und somit als Prämissen einer zunehmend ausgreifenden Nutzung des universalen Möglichkeitsraums des Patentsystems durch multinationale Unternehmen zu wirken beginnen. Ferner lassen wir unterschwellig die Frage mitlaufen, ob zu erwarten ist, dass der beobachtbare Harmonisierungstrend sich in Richtung eines materiell homogenen Weltpatents bewegt oder ob für die absehbare Zukunft auch weiterhin mit einer Pluralität von (ggfls. immer weniger) heterogenen Patentrechtsordnungen zu rechnen ist.62 Wir werden einleitend die beiden wichtigsten frühen Errungenschaften der Patentrechtsharmonisierung, nämlich die Unionspriorität und das Prinzip der Inländerbehandlung hervorheben, da sie von fundamentaler Bedeutung für alles Folgende sind.
61 Vgl. Friedman zur Rolle von „Work-Flow-Software“ bei der von ihm diagnostizierten Verflachung der Welt: „Shared Standards are huge flattener, because they both force and empower more people to communicate and innovate over much wider platforms“ (Friedman 2005: S. 77); zu „Standardsoftware“ siehe am Beispiel der Programme der Firma SAP Mormann 2010. 62 Vgl. überblickend aus patentjuristischer Perspektive auch Klunker 2010.
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Die Pariser Verbandsübereinkunft Unter dem Eindruck des verstärkt Fuß fassenden internationalen Handels im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts hatte es sich zunehmend aufgedrängt, den entstehenden forschungsintensiven multinationalen Unternehmen die internationale Mehrfachpatentierung einer Erfindung zu ermöglichen und diesbezügliche Rechtssicherheiten zu schaffen. Das Ausgangsproblem war hier der absolute Neuheitsbegriff, der es bei einer strengen Auslegung unmöglich gemacht hätte, eine Erfindung nach der Veröffentlichung der Patentanmeldung in weiteren Ländern zu patentieren: „Gleichwohl würde eine internationale Vereinbarung unter den patentertheilenden Staaten wünschenswerth sein, des Inhaltes, daß die Veröffentlichung der amtlichen Patentbeschreibungen kein Hinderniß für die Patentierung in einem anderen Lande sei“,
so formuliert der Patentjurist Klostermann das Desiderat einer Harmonisierung des absoluten Neuheitsbegriffs mit der Internationalisierung von Patentansprüchen (1877: S. 129). Die sich immer stärker durchzusetzen beginnende kognitivphänomenologische Integration des Weltpatentsystems stand einer globalen Entfaltung von Patentansprüchen im Weg: Dies war die Ausgangssituation für die Arbeit an einem multilateralen Harmonisierungsvertrag, der beim „Wiener Patentschutzkongreß“ von 1873 zum ersten Mal verhandelt wurde und 1883 als „Pariser Verbandsübereinkunft“ (PVÜ) in Kraft trat (vgl. Bodenhausen 1971, Beier 1983).63 Die Pariser Konvention muss als bahnbrechendes Ereignis im Prozess der globalen Harmonisierung des Patentrechts angesehen werden, weil mit ihr zum ersten Mal die Möglichkeit der internationalen Mehrfachpatentierung auf eine multilaterale rechtliche Grundlage gestellt und somit zumindest in Ansätzen ein funktionales Substitut für eine zunächst angestrebte weltweit einheitliche Regelung, ein Weltpatent, geschaffen wurde.64 Die Hauptleistung des noch heute geltenden Unionsvertrags bestand in der Einführung einer sechs-, später zwölfmo63 Zum „Wiener Patentschutzkongreß“, abgehalten während der Weltausstellung in Wien, siehe Manegold 1971. 64 Die PVÜ ist „nicht nur die Wiege des internationalen gewerblichen Rechtsschutzes, sondern seine fortbestehende und fortwirkende Klammer“ (Straus 2003: S. 805); das Pendant zur PVÜ auf dem Gebiet des Urheberrechts – die Berner Übereinkunft – tritt drei Jahre später in Kraft; vgl. zum übergreifenden rechtsgeschichtlichen Kontext Vec 2008; das Deutsche Reich ist indes erst 1903 der PVÜ beigetreten (vgl. KunzHallstein 2003).
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natigen Prioritätsfrist für die Anmeldung von Patenten. Der wesentliche Effekt dieser „Unionspriorität“ (Art. 4) besteht darin, einem Anmelder eines nationalen Patents innerhalb der Vertragsstaaten ein Jahr Zeit für die Anmeldung weiterer Patente für dieselbe Erfindung zu gewähren. Für die Dauer dieses Jahres entfaltet die Erstanmeldung keine neuheitsschädliche Wirkung für darauf folgende Anmeldungen, denn alle Folgeanmeldungen genießen den Zeitrang der Erstanmeldung. Erst durch die Etablierung dieser – über die Nachträglichkeit des Stands der Technik noch einmal hinausgehenden – „fiktiven Neuheit“ (Wieczorek 1975: S. 200) wurde die wirtschaftlich motivierte Erweiterung der Geltung des Patents auf mehrere Rechtsräume faktisch ermöglicht. Die Verabschiedung des „Grundsatzes der Inländerbehandlung“ (Art. 2) stellte darüber hinaus einen zweiten fundamentalen Schritt in der internationalen Harmonisierung des Patentrechts dar. Das Inländerprinzip zementierte den universalen Anspruch eines Patentanmelders, in jedem der Verbandsländer dieselben Patentrechte wie jeder Staatsangehörige reklamieren zu können: „Die Angehörigen eines jeden der Verbandsländer genießen in allen übrigen Ländern des Verbandes in bezug auf den Schutz des gewerblichen Eigentums die Vorteile, welche die betreffenden Gesetze den eigenen Staatsangehörigen gegenwärtig gewähren oder in Zukunft gewähren werden […]“ (Art. 2, Abs. 1, zitiert nach Bodenhausen 1971: S. 20).
Die katalytische Bedeutung der Unionspriorität und des Inländerprinzips für die globale Evolution des Patentsystems kann kaum überschätzt werden. Sie sind die grundlegenden Globalnormen eines durch die Nationalismen und Weltkriege der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lange retardierten Prozesses der globalen Harmonisierung nationaler Patentrechte. Beide Harmonisierungsnormen schufen (und schaffen) die rechtlichen Voraussetzungen und Sicherheiten für die internationale wirtschaftliche Auswertung von Erfindungen und ermöglichen ein strukturelles Einlösen der Maximen der Universalität des Patents. Die PVÜ ist somit auch eine wichtige, in der Literatur nur selten explizit thematisierte Bedingung der Globalisierung des technologieintensiven multinationalen Unternehmens. Patent Cooperation Treaty Auf der Grundlage der PVÜ wurden seit den 1970er Jahren eine Reihe weiterer zwischenstaatlicher Konventionen verabschiedet, die vor allem in formalrechtlichen Hinsichten eine Erleichterung internationalen Patentierens bedeuteten. Hier hat der im Jahr 1970 beschlossene Patent Cooperation Treaty (PCT) zentrale Bedeutung erlangt. Dessen wesentliche Innovation bestand in der Einführung eines international vereinheitlichten Patentanmeldeverfahrens, das es erlaubt, mit einer standardisierten Patentanmeldung Priorität für alle Verbandsstaaten geltend
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zu machen und ein vorläufiges internationales Rechercheverfahren zu beantragen (vgl. Trinks 2008). Der PCT wirkt auf den ersten Blick zwar unscheinbarer als die bahnbrechenden Errungenschaften der Pariser Union, er ist aber für die effektive Umsetzung der Pariser Verbandsübereinkunft von hoher Bedeutung. Ein wesentlicher transaktionskostentechnischer Vorteil besteht für Anmelder nämlich darin, dass sie sich anhand des vorläufigen internationalen Rechercheberichts über die Erfolgsaussichten ihrer Patentanmeldung informieren können und sich erst dann entscheiden müssen, für welche Vertragsstaaten sie die internationale Anmeldung „nationalisieren“, d.h. in Prüfungs- und Erteilungsverfahren weiterverfolgen möchten.65 Die Einführung der internationalen Patentanmeldung stellt für Unternehmen somit eine wesentliche logistische und kostenmäßige Entlastung dar, weil sie die Extension ihrer Schutzansprüche über den Globus behutsamer anbahnen können, ohne sich unmittelbar auf die Risiken des Patentierens in unbekannten Rechtsräumen und die damit verbundenen Transaktionskosten (Übersetzungen, Rechtsvertreter vor Ort u.a.) einlassen zu müssen. Die Möglichkeit der internationalen Patentanmeldung nach den Statuten des PCT darf allerdings nicht mit einem überstaatliche Rechtsgeltung entfaltenden Patentierungsverfahren, geschweige denn einem echten „Weltpatent“ gleichgesetzt werden, auch wenn eine Reihe von Unternehmen mitunter mit dem Verkaufsargument „Weltpatent“ für ihre nach PCT geschützten Innovationen werben. Das auf das transnationale Anmelde- und provisionale Rechercheverfahren folgende Patenterteilungsverfahren vollzieht sich nach wie vor in Form eines nationalen, bzw. in Europa gegebenenfalls auch europäischen Prozederes. Der wesentliche wirtschaftliche Effekt von PCT liegt in seiner hohen Praktikabilität und der starken formalrechtlichen Erleichterung und Vergünstigung des Patentierens in international bedeutenden Wirtschaftsräumen. Diese Erleichterungen schlagen sich seit den 1980er Jahren in signifikanten Zuwachsraten bei den ausländischen Patentanmeldungen nieder. Abbildung 6 dokumentiert den deutlich steigenden Anteil ausländischer Patentanmeldungen am weltweiten Patentaufkommen für die letzten 25 erfassten Jahre.66
65 „Der Anmelder kauft Zeit“, weil er nach einer PCT-Anmeldung maximal 31 Monate bis zu seiner endgültigen Entscheidung, die Anmeldung (auf kostenintensivem Niveau) international weiter zu verfolgen, warten kann (vgl. Preu/Brandi-Dohrn/Gruber 1995: S. 37). 66 Das im Jahr 2008 lancierte Pilotprojekt „Patent Prosecution Highway“, an dem die Patentämter aus den wichtigsten Wirtschaftsregionen teilnehmen, stellt einen Versuch
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Abbildung 6: Zunahme ausländischer Patentanmeldungen: 1985-2010
45% 2010: 37,92% 40%
35%
30%
25%
Europäisches Patent: Auf dem Weg zum Gemeinschaftspatent? Das strikte Territorialitätsprinzip des Patentschutzes ist bis heute durch drei überstaatlich geltende Regionalpatente durchbrochen worden. Neben zwei relativ selten in Anspruch genommenen Patenten der afrikanischen Regionalverbände ARIPO und OAPI (www.aripo.org; www.oapi.wipo.net) ist die Europäische Patentübereinkunft (EPÜ) das einzige transnationale Patentrecht (als Überblick siehe Artelsmair 2004, Liedl 2009). Das Europäische Patentamt in München erteilt auf Grundlage der 1977 in Kraft getretenen Europäischen Patentübereinkunft (EPÜ) im Rahmen eines vereinheitlichten Patenterteilungsverfahrens ein Europäisches Patent für maximal 40 Staaten. Man kann daher im Fall des Europäischen Patents zunächst plausibel von der Etablierung materiellen supranationalen Patentrechts sprechen, weil die „Verbandsstaaten den für die Patenterteilung erforderlichen Handlungen dieser Behörde selbst Wirkung für ihr Territorium“ (Wieczorek 1975: S. 253) zugestehen. Der Erstreckungsraum des Europäischen Patents deckt inzwischen nahezu alle europäischen Staaten als Vertrags-
dar, den Patentierungsprozess zu beschleunigen, indem Patentämter sich dazu verpflichten, Resultate von Patentprüfungen anderer Patentämter zu übernehmen und die entsprechende Anmeldung selbst einem beschleunigten Verfahren (fast track) zu unterziehen (vgl. www.wipo.int; Search: patent prosecution); vgl. auch Pitts/Kim 2009.
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parteien sowie Bosnien-Herzegowina und Montenegro als sogenannte „Erstreckungsstaaten“ ab.67 Das europäische Patent stellt somit insbesondere auch für ausländische Unternehmen eine wesentliche Erleichterung bei der Anmeldung ihrer Auswertungsansprüche in der europäischen Patentregion dar, da sie sich auf eine Anmeldung für die Entfaltung einer (nahezu) gesamteuropäischen Schutzwirkung für ihre Erfindungen beschränken können. Bei Interesse an einem flächendeckenden Schutz in Europa erzielt ein Unternehmen beträchtliche Einspareffekte bei den initialen Übersetzungskosten für die Anmeldung, was eine weitere Patentierungshemmschwelle absenkt. Die nationalen Patentämter werden gleichzeitig durch die Tätigkeit des Europäischen Patentamts in ihrer Entscheidungstätigkeit entlastet, da viele Patenterteilungsverfahren nicht mehr von ihnen selbst bewältigt müssen, sondern zentral beim Europäischen Patentamt in München durchgeführt werden. Ein weiterer wichtiger Harmonisierungsschritt ist das London Agreement, das im Jahr 2008 in Kraft getreten ist und dem inzwischen 18 EPO-Vertragsstaaten angehören. Der wesentliche Effekt dieses Übereinkommens liegt in einer signifikanten Reduktion von Übersetzungskosten und einer Beschleunigung des Patenterteilungsprozesses: Vertragsstaaten, die als offizielle Sprache Englisch, Deutsch oder Französisch haben, verzichten auf eine Übersetzung der Patentschrift in eine ihrer offiziellen Sprachen; andere Mitgliedsstaaten wählen aus den drei Amtssprachen des Europäischen Patentamts eine „prescribed language“ für ihre Patente, in der Regel Englisch.68 Lediglich die Patentansprüche werden weiterhin in die jeweilige Landesprache übersetzt. Die Zentralität der Patenterteilung wird allerdings durch den zunächst paradox klingenden Sachverhalt konterkariert, dass das europäische Patent im Akt seiner Erteilung wieder in nationale Einzelpatente zerfällt. Diese „Nationalisierung“ hat zur Folge, dass gegen das Patent jeweils nur in einem der Vertragsstaaten geklagt und somit die Geltung des Patents nur für dieses Territorium verneint oder bestätigt werden kann. Schließlich gibt es kein europäisches Patentgericht,
67 Vgl. www.epo.org (Search: member states). 68 Beispielsweise werden also europäische Patente, die sich auf Finnland erstrecken, nicht mehr ins Finnische übersetzt, da Finnland der Konvention 2011 beigetreten ist und als „prescribed language“ Englisch gewählt hat. Eine Reihe wirtschaftlich wichtiger Staaten wie insbesondere Italien und Spanien ist dem London Agreement noch nicht beigetreten.
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das eine endgültige, für alle Mitgliedsstaaten verbindliche Entscheidung treffen könnte.69 Ein Seitenblick auf das in Termini von Harmonisierung avanciertere europäische Markenrecht mag diesen Sachverhalt einer ‚halben Vereinheitlichung' verdeutlichen. Auf dem Gebiet des Markenschutzes ist eine einheitliche Regelung bereits definitiv realisiert. Zur 1993 verabschiedeten „Gemeinschaftsmarke“ liest man in der entsprechenden Verordnung: „Die Gemeinschaftsmarke ist einheitlich. Sie hat einheitliche Wirkung für die gesamte Gemeinschaft: Sie kann nur für dieses gesamte Gebiet eingetragen oder übertragen werden […] und ihre Benutzung kann nur für die gesamte Gemeinschaft untersagt werden“ (zitiert nach Bastian/Knaak/Schricker 2006: S. 4).
Die Gemeinschaftsmarke stellt ein demnach ein „autonomes gemeinschaftsrechtliches Markensystem“ (Knaak 2006: S. 69) dar, das Verweise auf nationales Markenrecht so weit wie möglich vermeidet; sie ist ferner im Gegensatz zum Europäischen Patent in territorialer Hinsicht definitiv unteilbar.70 Im Gegensatz zur Gemeinschaftsmarke stellt die uneinheitliche europäische Patentstreitregelung insbesondere für die mit der Diversität der europäischen Rechtsprechung weniger vertrauten nichteuropäischen Unternehmen eine permanente Quelle von Rechtsunsicherheit dar (Smith 2002), was den angesprochenen Anreiz, mit einer Anmeldung nahezu den gesamten europäischen Kontinent mit Schutzrechten ‚überziehen‘ zu können, abschwächt. Ein jüngeres Beispiel für die Uneinheitlichkeit der Patentrechtsprechung ist der „Epogen case“, der in der Pharmabranche viel Aufsehen erregt hat. Mehrere Patentgerichte in Europa gaben der Klage von Amgen gegen Konkurrenzunternehmen (insbesondere Roche) wegen Patentverletzung bei der Fabrikation eines neuen „EPO’s“ (Erythropoietin) statt; eine Reihe von anderen nationalen Gerichten wies die Klage dagegen zurück.71
69 Vgl. überblickend Schneider 2005, 2009. 70 „Eng verknüpft mit dem Grundsatz der Autonomie ist das Prinzip der Einheitlichkeit der Gemeinschaftsmarke. Einheitlichkeit bedeutet territoriale Unteilbarkeit des Rechts an der Gemeinschaftsmarke“ (Knaak 2006: S. 70, Herv. weggel.); vgl. auch Sosnitza 1999. 71 Vgl. hierzu Fabry 2008, Welch 2003. Ein in diesem Kontext ferner häufig zitiertes Beispiel stellen die „Epilady-Fälle“ dar, eine Serie von Verfahren um ein Epiliergerät, die seit den 1980er Jahren zu einer „Nagelprobe der Harmonisierung“ für die europäi-
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Angesichts dieser trotz aller inkrementellen Fortschritte nicht überwundenen Defizite der EPÜ in puncto Rechtssicherheit laufen schon seit 1975 multilaterale Verhandlungen innerhalb der Europäischen Union, deren erklärtes Ziel die Einführung eines einheitlichen „Gemeinschaftspatents“ ist. Das Ziel dieser Verhandlungen über ein „Gemeinschaftspatentübereinkommen“ ist langfristig gesehen die Ersetzung nationalstaatlichen Patentrechts durch ein einziges zentrales und europaweit gültiges Patentrecht.72 Das Gemeinschaftspatent konnte allerdings bis heute nicht verabschiedet werden, da insbesondere Einigungsversuche über die Verfahrenssprache und die Regelung der Patentgerichtsbarkeit noch zu keinem Erfolg geführt haben.73 Die Durchsetzung eines ‚echten‘ Gemeinschaftspatents würde die heute mit dem Fortdauern nationaler Patentrechte verbundenen Rechtsunsicherheiten tendenziell überwinden und daher vermutlich die Attraktivität der europäischen Wirtschaftsregion vor allem auch für amerikanische und japanische Unternehmen weiter erhöhen. Projiziert man diesen Aspekt auf die Frage nach der internationalen Harmonisierung des Patentrechts insgesamt, ergibt sich somit der widersprüchliche Befund, dass das Europäische Patent im weltweiten Maßstab ein unerreichtes Maß an materieller Patentrechtsharmonisierung realisiert, aufgrund der Uneinheitlichkeit der Patentstreitregelung allerdings strukturell unterbietet, was im europäi-
sche Patentgerichtsbarkeit wurden (hierzu Adam 2003: S. 290ff.); vgl. hierzu auch Burke/Reitzig 2004. 72 Ursprünglich war geplant, gleichzeitig mit dem vereinheitlichten Anmelde- und Prüfungsverfahren eine einheitliche Patentstreitregelung mitzuverabschieden. Dieser letztere Teil des Abkommens ist indes nie ratifiziert worden und das Gemeinschaftspatent ist aus diesem Grund gar als „ill-born companion“ der EPÜ bezeichnet worden (vgl. Ullrich 2002: S. 8ff.). 73 Eine Vertreterin aus dem Deutschen Patentamt macht in einem Interview insbesondere Vertreter aus den südlichen Mitgliedsländern für den diplomatischen Stillstand verantwortlich: „Es gibt Bremser, das kann man sagen, vor allem die Mittelmeerstaaten, also jetzt Spanien, Griechenland, Portugal, die haben damit [dem Gemeinschaftspatent, C.M.] am meisten Probleme, weil die dann nicht mehr so sehr viele nationale Anmeldungen haben, und auch Angst haben, dass ihr eigener Anteil nicht mehr weiterbesteht. Und auch das Sprachproblem ist da ganz wichtig, weil sich die die romanischen Muttersprachler irgendwie immer schwer tun mit Englisch und die wollen da immer nur schwer abrücken von ihrem Standpunkt“ (vgl. Interview-Nr. 28).
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schen Maßstab möglich erscheint.74 Sprach man in den 1970er Jahren noch fast euphorisch von einer „Integrations- oder geradezu Pilotfunktion des Patentrechts für die europäischen Einigungsbemühungen“ (Krieger 1979: S. 350), so hat sich diese Begeisterung mittlerweile spürbar gelegt. Das Europäische Patent wird im Vergleich zu Harmonisierungserrungenschaften wie dem einheitlichen Währungsraum oder auch der angesprochenen Gemeinschaftmarke heute eher als Hemmschuh im Prozess der europäischen Einigung aufgefasst. Dieser Sachverhalt verweist exemplarisch auf die enge Abhängigkeit der Harmonisierung des (Patent-)Rechts von international erreichbarem politischen Konsens. Die Globalisierungschancen des Patentrechts sind eng an die Segmentierung der Weltpolitik in Staaten und damit an das im Rahmen der internationalen „Harmonisierungsdiplomatie“ in Verhandlungen Erreichbare gekoppelt. Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights (TRIPS) Das „TRIPS-agreement“, dem alle Mitglieder der World Trade Organization (WTO) angehören,75 stellt in materiellrechtlicher Hinsicht den seit der PVÜ wichtigsten und zudem öffentlich am stärksten beachteten Meilenstein in der Harmonisierung und Adaptabilisierung von Patentrechten dar. Es wurde 1994 im Rahmen der Verhandlungen zur „Uruguay Round“ verabschiedet und gilt als Vorreiter einer voranschreitenden und substanziellen multilateralen Harmonisierung der Handelspolitik: „Undoubtedly, it forms the vanguard of efforts to establish deep integration of domestic regulatory policies among countries“ (Maskus 2000: S. 2.). TRIPS unterstützt den politischen Anspruch, weitere Regionen der Weltwirtschaft in eine patentgestützte wirtschaftliche Weltordnung einzubinden. Eine zentrale Leistung von TRIPS besteht darin, alle WTO-Mitglieder zur Inkorporierung aller materiellrechtlich relevanten Bestimmungen der PVÜ zu verpflichten. Der Patentschutz wird zudem enger an das regulatorische Regime der WTO und insbesondere auch das WTO Dispute Settlement-Verfahren gekoppelt: Das TRIPS-Agreement konsolidiert damit den seit Ende des 19. Jahrhunderts laufenden Harmonisierungsprozess und bettet ihn in den weltwirtschaftspolitisch 74 Man denke etwa an aktuellere Errungenschaften wie die EU-interne Standardüberweisung ohne Zusatzkosten (SEPA). 75 Dies sind derzeit 153 Staaten (Stand 30. April 2012); eine aktuelle Liste befindet sich auf der webpage der Welthandelsorganisation WTO (www.wto.org; Search: members). TRIPS bezieht sich neben dem Patentrecht auch auf andere immaterielle Schutzrechte wie vor allem dem Urheberrecht; wir beschränken uns im Folgenden auf die für das Patentsystem relevanten Faktoren; als aktuellen Überblick zu TRIPS mit Fokus auf Probleme der Implementierung siehe Deere 2009.
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übergeordneten Regulierungsrahmen der WTO ein. Aus der Perspektive westlicher Interessen zielen die Anstrengungen vor allem darauf ab, den als „Anomalie“ (Straus 1996) wahrgenommenen Sachverhalt der ‚kostenlosen‘ Aneignung und Imitation von (westlich finanziertem) Wissen durch wirtschaftlich weniger entwickelte Länder ohne Patentschutz zu korrigieren (vgl. überblickend Niemann 2008). Die entscheidende „Sachbestimmung“ von TRIPS, die von Patentrechtlern mitunter als „revolutionär“ (Straus 1999: S. 167) bezeichnet wird, ist die weitgehende Harmonisierung des Kriteriums der Patentierbarkeit. Während es im Rahmen von PVÜ und PCT nationalen Rechtsordnungen noch gestattet war, den Patentschutz für bestimmte Erfindungsarten kategorisch auszuschließen, sieht TRIPS nunmehr die generelle Patentierbarkeit von Erfindungen, explizit auch Produkterfindungen, in allen Bereichen der Technik vor. Im § 27.1 des TRIPSAgreements heißt es zu „Patentable Subject Matter“: „Subject to the provisions of paragraphs 2 and 3, patents shall be available for any inventions, whether products or processes, in all fields of technology, provided that they are new, involve an inventive step and are capable of industrial application.“76
Diese Vorgabe („all fields of technology“) weitet den Kreis der patentierbaren Erfindungen insbesondere auf pharmazeutische und chemische Erfindungen aus, die in vielen Ländern wie z.B. in Indien bis in die 1990er Jahre noch von der Patentierbarkeit ausgeschlossen waren. Dort waren in der Regel lediglich technische Verfahren zur Herstellung von pharmazeutischen oder chemischen Endprodukten dem Patentschutz zugänglich, der Schutz eines therapeutischen Wirkstoffs („Stoffschutz“) war nicht vorgesehen. Diese internationale Angleichung in der Ausgestaltung der Kriterien der Patentierbarkeit impliziert im Rahmen unserer Perspektive, dass die Universalisierung der Inklusion relevanten Wissens nicht mehr nur von den größten Patentämtern, insbesondere den USA, hervorgebracht und vorangetrieben wird, sondern sich (in der Tendenz) auf eine größere Pluralität von Staaten erstreckt. Dies bedeutet praktisch, dass sich Patentämter in vielen weiteren Ländern, etwa in den das weltweite Wirtschaftswachstum treibenden „BRIC-Staaten“ (Brasilien, Russland, Indien, China) auf die Beobachtung zusätzlicher Wissensgebiete und somit an einen kaum mehr eingeschränkten state-of-the-art und dessen Ver-
76 Siehe als ausführlichen juristischen Kommentar des TRIPS-Abkommens Correa 2009: S. 271ff. (271) et passim.
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arbeitung institutionell einstellen müssen.77 Auch hier deutet sich demnach der von uns immer wieder hervorgehobene Trend an, dass universale Maximen des Patentsystems – hier: alles Technische kann patentiert werden – in Kopplung an Umweltdynamiken und Erfordernisse der Weltpolitik zunehmend effektiv einlösbar werden. Insbesondere für westliche Pharmakonzerne stellt das TRIPS-Abkommen somit eine auf Patente gestützte Chance zur Ausweitung ihres Absatzes auf bisher kaum erschlossene Märkte dar. Sie müssen bei ihren Strategien der progressiven Inklusion neuer Staaten und Regionen allerdings häufig feststellen, dass sich Patentrechte nicht im selben Maße wie in den wichtigsten Märkten USA, Deutschland, Frankreich etc. in hohe Marktpreise und Monopolrenditen ummünzen lassen. Ein diesbezüglich häufig zitiertes Beispiel ist die in Indien abgewiesene Patentklage des Schweizer Pharmakonzerns Novartis gegen Nachahmerpräparate des Krebsmedikaments Glivec®, das ‚formal‘ noch über einen geltenden Patentschutz verfügt, der allerdings auch von Seiten der indischen Regierung keine Unterstützung bei der Klage gegen Nachahmung erfährt.78 Die lokalen Regierungen geraten hier in einen Zielkonflikt. Einerseits haben sie sich zur Implementierung der Bestimmungen von TRIPS verpflichtet und andererseits müssen sie dem Anspruch genügen, wohlfahrtsstaatlichen und menschenrechtlichen Erfordernissen und Interessen der einheimischen Generika-Industrie Rechnung zu tragen. Einen strategischen Ausweg in dieser Lage bietet in einigen Fällen das Institut der „Zwangslizenz“ („compulsory licensing“), die ausländischen Phar-
77 Dies wird ‚vor Ort‘ häufig durch einen Mangel an infrastrukturellen Ressourcen und professioneller Expertise erschwert. Einer der Hauptaufgabenbereiche der WIPO liegt laut der „Development Agenda“ somit auch in „Technical Assistance and Capacity Building“. 78 Der Konzern Novartis hat sich hierfür inzwischen am indischen Staat ‚revanchiert‘. Der damalige CEO Dan Vasella ließ im November 2009 öffentlichkeitswirksam verlautbaren, dass man den Ausbau von R&D-Kapazitäten in Indien stoppe und dafür den Bau eines R&D-Hubs in Shanghai mit einem Gesamtvolumen von einer Milliarde Dollar fördere. Laut Vasella ist der Patentschutz in Indien daher auch als „not up to the standard that I would expect to make an investment into discovery-led research“ einzuschätzen (www.pharmalot.com); die Novartis-Sicht auf den Glivec-Fall liest man auf www.novartis.com (Search: Glivec).
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ma-Unternehmen nach TRIPS-Statuten unter besonderen Umständen auferlegt werden kann.79 Eine Reihe von Beobachtern verbindet mit TRIPS daher eine sehr grundsätzliche menschenrechtliche Problematik, die aus dem fundamentalen Konflikt zwischen dem Menschenrecht auf die Versorgung mit lebensrettenden Medikamenten und den durch das TRIPS-Regime rechtlich besser abgesicherten Marktmonopolisierungsstrategien der westlichen Big Pharma resultiert. Insbesondere im Bereich von AIDS-Medikamenten haben westliche Unternehmen mit massiven Problemen der Legitimität und Rechtssicherheit zu kämpfen. Ihnen wird z.B. in Südafrika und Brasilien vorgeworfen, Exklusions- und Marginalisierungsprozesse zu verschärfen, indem sie durch (im Vergleich zu lokalen Generikaherstellern) überhöhte Preise einem Großteil der Kranken den Zugang zu lebensrettenden Medikamenten erschwerten oder gänzlich unmöglich machten (vgl. überblickend auch Scherer 2000). Aufgrund dieser sehr grundsätzlichen „access-tomedicine“-Problematik sehen vor allem engagierte Globalisierungskritiker, aber auch sachlicher argumentierende Beobachter im TRIPS-Agreement ein Symbol der fortdauernden politisch-rechtlichen und wirtschaftlichen Ungleichheiten zwischen den Staaten der nördlich und südlichen Hemisphäre (Nord-Süd-Konflikt).80 Diese Kritik an TRIPS, die unter anderem von einflussreichen Ökonomen wie Joseph Stiglitz vorgetragen wird, läuft im Grundsatz darauf hinaus, dass das Patentrecht in den weniger entwickelten Staaten die Chancen der einheimischen
79 Zur Einführung einer Zwangslizenz durch die brasilianische Regierung für das AIDSMedikament Viracept® (Nelfinavir) des Roche-Konzerns siehe etwa Cohen/Lybecker 2005. Im Jahr 2012 sorgte die Erteilung einer Zwangslizenz des indischen Patentamts für das von Bayer vertriebene Krebsmedikaments Nexavar™ (Sorafenib) an den indischen Hersteller Natco für Aufsehen in der Pharmabranche (vgl. Balzter 2012); vgl. auch oben S. 173. 80 Vgl. kritisch Shiva 2000 und als Überblick zu diesem Diskurs Hestermeyer 2007. Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang auch die Gründung des „Medicines Patent Pool“ im Jahr 2010, eine UN-Einrichtung in Genf, die HIV-Patentrechte von westlichen Herstellern wie etwa GlaxoSmithKline oder oder Gilead einlizenziert, um sie dann den Herstellern von Generikapräparaten in einkommensschwachen Ländern zur Verfügung zu stellen und damit die Zugänglichkeit dieser Präparate für breite Bevölkerungsschichten zu verbessern; vgl. Bermudez/’t Hoen 2010, Cox 2012; siehe auch die Internetseite www.medicinespatentpool.org.
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Industrie, technologisch aufzuholen, weiter verringere.81 Beim TRIPS-Agreement handelt es sich vor allem im Hinblick auf die Interessen der sogenannten Entwicklungsländer somit auch weniger um eine ‚Liebesheirat‘ mit ‚dem Westen‘, sondern bestenfalls um eine „Vernunftehe“.82 Insbesondere Vertreter aus geringer entwickelten Ländern interpretieren das TRIPS-Abkommen als illegitimes Produkt des Lobbyings von US Big Pharma wie Pfizer, Merck und anderen und sehen in der Geltendmachung von Patentrechten darüber hinaus eine der Speerspitzen eines globalen „Information Feudalism“ (Drahos 2002), der die Kommodifizierung von „indigenous“ und „traditional“ knowledge vorantreibe und die Biodiversität der südlichen Hemisphäre auf illegitime Art und Weise ausbeute (vgl. King/Stabinsky 1999, Shiva 2002, Thaler 2004). Die WIPO hat indessen mit der „Development Agenda“ auf die Einsicht in das Nichtfunktionieren einer ggfls. zu massiv über westlichen politischen Druck erzwungenen Isomorphie des Patentrechts reagiert und spricht in den letzten Jahren verstärkt von der Notwendigkeit einer individuell angepassten Entwicklung und verpflichtet sich insbesondere auf die für die Erreichung dieses Zwecks notwendige „technical assistance“ (vgl. Netanel 2009). In summa lässt sich festhalten, dass das TRIPS-agreement ein großes Harmonisierungspotential in sich birgt, es allerdings in praktischer Hinsicht noch unklar ist, inwieweit dieses Potential im Einzelnen umgesetzt werden wird. Denn es handelt sich bei TRIPS um ein internationales Kollisionsrecht, das seine Wirkung nicht direkt aus sich selbst, d.h. aus einer unmittelbaren Geltung und Unteilbarkeit einer Rechtsnorm schöpfen kann, sondern von einer effektiven Umsetzung und Kompatibilisierung mit nationalem Recht abhängig bleibt. An TRIPS treten mehrere Dimensionen von Weltgesellschaft und Globalisierung exemplarisch hervor. TRIPS steht vor allem für den Trend zu einer immer weiter voranschreitenden Entfaltung des patentrechtlichen Relevanz- und Möglichkeits-
81 „The TRIPS Agreement has considerable implications for technological and industrial policy. By strengthening the intellectual property rights in developing countries, it is likely to increase the royalty payments demanded by technology holders there, and also to create or reinforce monopolistic positions in small markets. It also restricts reverse engineering and other important methods of imitating innovation, thereby limiting the ability of firms in developing countries to reduce their technological disadvantage“ (Stiglitz/Charlton 2005: S. 103); siehe auch Stiglitz 2006. 82 So Joseph Straus, zitiert nach Klunker 2008: S. 212. Ein ehemaliger Mitarbeiter der WIPO spricht in einem Interview auch lapidar von einem Deal „Patente gegen Bananen“ (vgl. Int.-Nr. 22).
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raums: Sowohl in sachthematischer als auch in räumlich-sozialer Hinsicht ermöglicht TRIPS eine forcierte Penetration zusätzlicher Märkte (v.a. Medikamentenmärkte) und zusätzlicher Regionen mit Patentansprüchen. Der Grundsatz der Territorialität des Patentrechts wird durch das Abkommen aber nicht unterminiert, sondern eher unterstrichen. Patente gelten immer nur national und die politisch garantierte territoriale Souveränität der Staaten lässt nur so viel an patentrechtlichem ‚Zusammenwachsen‘ zu, wie sich diplomatisch unter Berücksichtigung lokal-regionaler ‚Kultur‘ und anderer Rechtsregime wie z.B. dem Menschenrecht auf einen Zugang zu Medikamenten und der Berücksichtigung des Schutzes von traditionellem, lokal-mündlich tradiertem Wissen erreichen lässt. Die bis hierher erwähnten Meilensteine in der Harmonisierung des Patentsystems (PVÜ, PCT, Europäisches Patent, TRIPS) beziehen sich vor allem auf die globale Ausweitung der Möglichkeiten, Patentrechte anzumelden und durchzusetzen, mithin auf die normative Seite der Globalisierung des Patentsystems. Im Folgenden werden wir auf zwei weitere Aspekte der Harmonisierung und Standardisierung im Patentsystem im Zusammenhang mit Globalisierung eingehen. Diese beziehen sich primär auf das Verstehen, Einordnen, Beobachten und Prüfen der Anspruchsinhalte, mithin stärker auf die kognitive Seite des Patents. Mit der Beschreibung der standardisierten Patentschrift und der Internationalen Patentklassifikation (IPC) knüpfen wir an unsere Überlegungen zum Patentsystem als „document circulation system“ im vierten Kapitel an und leiten gleichzeitig über zum darauffolgenden Abschnitt, der vom globalen Gedächtnis des Patentsystems handelt.
Standardisierung der Patentschrift und die Internationale Patentklassifikation Im Bereich der schriftlichen Dokumentation von Wissen lässt sich ein weit vorangeschrittener Prozess der Standardisierung von Kommunikationsformaten beobachten, der sich inzwischen auf nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche erstreckt. Man kann hier an wissenschaftliche Publikationen, an Bilanzen, an Fußballtabellen und vieles mehr denken. Dieses Muster lässt sich auch für die Patentliteratur und ihren Protagonisten, die Patentschrift, beobachten. Das Format und der Aufbau von Patentschriften sind hochgradig standardisiert: das Erscheinungsbild und die inhaltliche Struktur von deutschen, amerikanischen oder japanischen Patentschriften ist nahezu identisch (vgl. oben Kap. 4). Patentdokumente ähneln in dieser Hinsicht wissenschaftlichen, insbesondere naturwissenschaftli-
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chen Papers, deren Aufbau ebenfalls über regionale und disziplinäre Grenzen hinweg nahezu identisch ist.83 Dieses international vereinheitlichte Patentdokumentationsformat wird von der WIPO definiert und geht auf die im Rahmen der ICIREPAT-Initiative in den 1960er Jahren etablierten Standards für die internationale Patentdokumentation zurück.84 Ausschlaggebend war hier vor allem der anschwellende Arbeitsaufwand, mit dem sich nationale Patentämter aufgrund der Zunahme internationaler Patentanmeldungen konfrontiert sahen sowie der auch politisch hervorgehobene Bedarf nach einer weltweit effizienteren Aufteilung von Lasten und Ressourcen bei der Neuheitsrecherche.85 Die technische Standardisierung der Patentschrift war eine entscheidende strukturelle Antwort auf die Einsicht in die Notwendigkeit weltweiter Kooperation. Ein Blick auf das Patentdeckblatt (vgl. Abb. 7) soll die Funktionalität von Standardisierung veranschaulichen:
83 Ein Blick in das WIPO Handbook on Industrial Property Information and Documentation gibt einen Einblick in die Bandbreite und Tiefe der auf die Patentdokumentation bezogenen Standards. Dort wird die Größe des Patentdokuments, Länderkürzel und vieles mehr als Standards vorgegeben oder in Form von „recommendations“ und „guidelines“ zur Adoption nahe gelegt (vgl. www.wipo.int/standards/en). 84 ICIREPAT war die erste weitreichende Harmonisierungsinitiative der wirtschaftlich relevantesten Patentämter, die 1961 anlässlich des 125. Geburtstags des U.S. Patent Acts ins Leben gerufen wurde (vgl. überblickend Pfeffer 1966). 85 Eine der im Zuge der ICREPAT-Initiative gemachte Forderung liest sich als ein nachdrückliches Plädoyer für internationale Zusammenarbeit: „We must make sure that the Patent Offices of the World perform adequately their key function of examining patent applications and issuing valid patents promptly. […] This important mission of the Patent Offices must be accomplished not only on a national basis but now more than ever on an international basis. Thus the Patent Offices of the world must work together more closely than ever to accomplish these goals through their contacts with other Offices as well as through the United International Bureaus for the Protection of Intellectual Property (BIRPI) [Vorläuferorganisation der WIPO, C.M.]. […] The job of ultimately solving the entire problem of handling the enormous volume of technical publications is too immense an undertaking for any one Patent Office, or, for that matter, for all of the Patent Offices of the world. The Patent Offices must therefore plan the use of their manpower, money, and other resources wisely so that the maximum help for their patent examiners can be obtained from the resources available“ (Brenner 1966: S. 14f.).
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Abbildung 7: Deckblatt einer Patentschrift
Die Titelseite der Patentschrift enthält auf einen Blick alle wesentlichen bibliographischen Informationen zum Patent, namentlich den Anmelder, den rechtlichen Vertreter, den Erfinder, die Patentnummer, die Kurzbeschreibung der Erfindung und den Schutzgegenstand sowie die technische Referenzgruppe gemäß der Internationalen Patentklassifikation. Es handelt sich hier um die wesentli-
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chen Eckdaten des Patents, die eine reduzierte und zeitlich effiziente Extraktion des Wesentlichen erlauben. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass alle relevanten Informationen nicht nur in allen Patentdeckblättern am selben Ort zu finden, sondern darüber hinaus mit weltweit identischen Suchkürzeln versehen sind. Die angesprochenen „INID-Codes“86 sind eine sehr folgenreiche Standardisierungserrungenschaft: Erst die einheitliche Codierung der wichtigsten Informationsfelder macht den unbegrenzten Abgleich und Vergleich der wichtigsten Patentdaten praktisch handhabbar und damit realisierbar.87 Diese Codierung ist die Grundlage für die „Maschinenlesbarkeit“ und spätere „Computerisierung“ der Verarbeitung von Patentinformationen: erst sie ermöglicht eine länderübergreifende maschinelle Informationssuche nach den wichtigsten Angaben auf dem Deckblatt eines jeden Patents.88 Bei der standardisierten Patentschrift handelt es sich demnach um eine konstitutive infrastrukturelle Innovation der globalen Patentkommunikation. Erst eine in wesentlichen Aspekten gleichformatige Patentschrift und Patentdokumentation legt die strukturelle Basis für einen umfassenden internationalen Vergleich der Wissenskorpora aus verschiedenen Patentämtern. Auf Patentanmelder und Patentprüfer steigt dann der systemische Druck, dem universellen Postulat des absoluten Neuheitsbegriffs in einer global selektiven Neuheitsrecherche Rechnung zu tragen. Aus dieser anfänglichen Möglichkeit und Konvenienz unbegrenzten Beobachtens in Patentrecherchen und Patentprüfungen wird dann zunehmend eine strukturelle Unhintergehbarkeit, insbesondere seitdem elektronische Datenbanken infrastrukturell zur Verfügung stehen (vgl. folgender Abschnitt). Im Zuge der zunehmenden Internationalisierung von Patentanmeldestrategien und der globalen Umsetzung des absoluten Neuheitsbegriffs mit der Verabschiedung des internationalen Patent Cooperation Treaty hatte sich die operative Notwendigkeit einer international vereinheitlichten Klassifikation patentierter Erfindungen herauskristallisiert. Es entstand die internationale Vereinbarung, eine weltweit geltende Klassifikation zu schaffen, die 1971 mit dem „Strasbourg
86 INID steht für „ICIREPAT numbers for the Identification of data“. 87 Ein manueller Handabgleich wäre bereits ab einem Volumen von mehreren Hundert Dokumenten pro Patentprüfung kaum mehr verlässlich durchzuführen: aus kognitivkapazitativen und aus kostenmäßigen Gründen. 88 Siehe hierzu etwa aus den Anfangszeiten Sviridov 1978. Wir kommen auf das computerisierte „information retrieval“ noch einmal im nächsten Abschnitt zu sprechen.
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Agreement“ verabschiedet wurde.89 Die Internationale Patentklassifikation (IPC) wird von der World Intellectual Property Organization herausgegeben. Sie ist weltweit das wichtigste einheitliche Klassifikationsschema für technische Erfindungen; sie wird von nahezu allen Patentämtern für die Ein- und Zuordnung von beantragten und erteilten Patenten benutzt. Die IPC ist hierarchisch strukturiert. Sie besteht aus acht Sektionen, die sich jeweils in Klassen und Unterklassen differenzieren, welche sich wiederum in Hauptgruppen und Untergruppen aufgliedern.90 Die zur Zeit geltende achte Ausgabe der IPC besteht aus 8 Sektionen (A, B, C etc.), 120 Klassen (z.B. A21), 640 Unterklassen (A21B) und insgesamt annähernd 70.000 Gruppen (z.B. A21B 1/00), davon ca. 90% Untergruppen (z.B. A21B 1/05).91 Das Wachstum der IPC wurde in den 1990er Jahren vor allem von Erfindungen in den Gebieten Biotechnologie und Telekommunikation vorangetrieben; für die kommenden Jahrzehnte wird erwartet, dass nanotechnologische Erfindungen den Hauptwachstumstreiber repräsentieren werden (vgl. überblickend Lemley 2005).92 Tab. 3 dokumentiert am Beispiel von Patentanmeldungen beim Deutschen Patent- und Markenamt die zehn wichtigsten Patentklassen im Jahr 2011 (vgl Deutsches Patent- und Markenamt 2012: S. 10).93
89 Vgl. den Volltext unter www.wipo.int (Search: Strasbourg); das US-amerikanische Patentamt benutzt neben der IPC weiterhin parallel eine eigene nationale Patentklassifikation (USPTO) und auch das Europäische Patentamt kontinuiert parallel eine Europäische Klassifikation (ECLA). 90 Als methodischen Überblick zum Aufbau der IPC siehe Hansson/Makarov 1995; die aktuelle achte Version befindet sich unter www.wipo.int (Search: IPC). 91 Die erste Version von 1971 hatte noch aus ungefähr 47.000 Gruppen bestanden; vgl. www.wipo.int/classifications/ipc/en (siehe FAQ). 92 Die Anzahl der für die Klassifikation biotechnologischer Erfindungen eingerichteten Subgruppen stieg beispielsweise von den anfänglichen 107 im Jahr 1971 bis 1995 annähernd um den Faktor 7 auf 706 Subgruppen (WIPO 2002). In der Nanotechnologie ergeben sich indes Probleme der Abgrenzung nanotechnologischer Erfindungen von anderen Forschungsgebieten, was zu einer vorübergehenden statistischen Abnahme nanotechnologischer Patenten aufgrund neuerer, engerer Definitionskriterien führte (vgl. Scheu 2006, Chen et al. 2008). 93 Hauptsektionen der IPC: A – Human Necessities; B – Performing Operations, Transporting; C – Chemistry, Metallurgy; D – Textiles, Paper; E – Fixed Constructions; F – Mechanical Engineering, Lighting, Heating, Weapons, Blasting; G – Physics; H – Electricity.
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Tabelle 2: Patentanmeldeklassen in Deutschland – 2011 IPCKlasse
Bezeichnung
Anmeldungen 2011
Anteil am Gesamtaufkommen in %
B60
Fahrzeuge allgemein
5,993
10,7%
F16
Maschinenelemente oder -einheiten
4,809
8,6%
H01
Grundlegende elektrische Bauteile
4,101
7,3%
G01
Messen, Prüfen
3,677
6,6%
A61
Medizin oder Tiermedizin; Hygiene
2,485
4,4%
F02
Brennkraftmaschinen
2,193
3,9%
H02
Erzeugung, Umwandlung, Verteilung elektrischer Energie
2,191
3,9%
1.497
2,7%
1.489
2,7%
1.306
2,3%
B65 F01 G06
Fördern, Packen, Lagern; Handhaben von Stoffen Kraft- und Arbeitsmaschinen allgemein Datenverarbeitung; Rechnen; Zählen
Die IPC ähnelt wissenschaftlich-bibliographischen Klassifikationen wie der Klassifikation der US-amerikanischen Library of Congress oder der DeweyDezimalklassifikation. Diese Klassifikationen leisten etwas funktional Äquivalentes: Sie reduzieren Komplexität, indem sie verfügbare Informationen durch eine Segmentierung nach Kategorien (Alter, Größe, Körperteil, pharmazeutischer Wirkungsmechanismus, Sachgebiet, technisches Gebiet etc.) selektiv strukturieren und dokumentieren. Im Zuge der statistischen Auflösung eines Datensatzes erhöhen sich gleichzeitig die Möglichkeiten selektiver Rekombination und man gewinnt z.B. durch die statistische Analyse von Unterschieden in der Entwicklung verschiedener Klassen eine differenziertere Sicht auf die in einer Population oder in einem System beobachtbaren Einheiten (vgl. überblickend Bowker/Star 1999, siehe auch Vanderstraeten 2006.). Man kann am Beispiel der Internationalen Patentklassifikation gut nachvollziehen, wie Ausdifferenzierung, interne Differenzierung, funktionale Spezifikation, Standardisierung und Globalisierung miteinander verknüpft sind. Das Pa-
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tentsystem reagiert mit der zunehmend differenzierteren Klassifizierung seiner Wissensbestände auf das starke Wachstum, mit dem es sich aufgrund der in den letzten Jahrzehnten stark beschleunigten technologischen Produktion und daraus hervorgehenden Patentanmeldedynamik konfrontiert sieht. In Analogie etwa zur disziplinären Differenzierung im Wissenschaftssystem (vgl. Stichweh 1984) kann man hier beobachten, wie permanentes Wachstum und der Anstieg der intern zu bewältigenden Komplexität mit zunehmender Subdifferenzierung einhergehen. Die voran schreitende Differenzierung sorgt für eine strukturierte Reduktion von Komplexität, indem sie Patentprüfern und Unternehmen erlaubt, sich bei der Wissensrecherche präziser auf besser eingrenzbare Subgruppen zu beschränken und patentiertes Wissen selektiver zu beobachten.94 Was dann im Rahmen der Internationalen Patentklassifikation für Suchen, Vergleichen, Zitieren von Patentschriften etc. gilt, hat dann in anderen Systemen wie der akademischen Wissenschaft und ihrem von disziplinärer Differenzierung angetriebenen Publikationsnetzwerken keine unmittelbare Relevanz mehr (und umgekehrt). Wachstum, Differenzierung interner Strukturen und Ausdifferenzierung bedingen sich wechselseitig und steigern sich aneinander. Standardisierung und Klassifizierung patentierten Wissens verstärken die Abstraktion und Spezifik interner Differenzierungsmuster, die sich von externen Schemata sachlicher und sozialer Differenzierung zunehmend lösen. Wie eine Erfindung einzuordnen und zu bewerten ist, bestimmt sich nach Maßgaben der IPC und des materiellen Prüfungsverfahrens von der Sache, d.h. der Erfindung und ihrer patentrechtlichen Qualität selbst her. Personenbezogene Informationen wie z.B. die staatliche Herkunft des Patentanmelders mögen zwar in anderen Hinsichten, etwa bei patentrichterlichen Entscheidungen, immer noch eine Rolle spielen; dies hatten wir bei der Diskussion des Patentstandorts China angedeutet. Allerdings lässt die gesteuerte Rekonstruktion von prüfungsrelevanten Informationen in Klassen, Subklassen etc. an einer Erfindung verstärkt seinen patentrelevanten, etwa neuheitsschädlichen Informationswert hervortreten und blendet anderes tendenziell aus. Fängt man einmal damit an, Anmeldungen beim deutschen und englischen Patentamt nach einem gemeinsamen Schema zu kategorisieren, ist dann kein in der Sache, nämlich im funktionalen Problem der Patent-
94 Man könnte systemtheoretisch auch sagen, dass die Differenzierung in Sub- und Subsubklassen wie ein Interdependenzunterbrecher wirkt. Nicht alles ist mit allem verknüpfbar, sondern es ergeben sich Muster der verdichteten Konzentration von Kontakten.
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prüfung liegender Grund mehr ersichtlich, warum man belgische und niederländische Patente von der Klassifizierung ausschließen sollte. Klassifizierungen wie die IPC steigern demnach den in der Sachspezifik der Patentnorm angelegten Sog zur Inklusion immer weiterer Wissensgebiete, indem sie ein autonomes und zugleich für die Rezeption technologischen Wissens hochsensibles Raster der Beobachtung zur Verfügung stellen. Die Internationale Patentklassifikation lässt sich demnach als ein genuiner Katalysator von globalisierendem ‚Weltvergleich‘ beschreiben. Jedes Patent wird bei seiner Anmeldung in einen singulären globalen Vergleichszusammenhang eingeschrieben, der einer Erfindung im prüfenden Vergleich mit den bereits veröffentlichten Erfindungen sowie anderen relevanten technischen Dokumenten einen zweifachen Strukturwert abgewinnt: Einerseits lässt sich über die Patentfähigkeit der an die Erfindung gekoppelten Ansprüche befinden und andererseits wird die Erfindung klassifiziert und somit der globale Stand der Technik und die IPC in (minimal) variierter Form reproduziert. Das Patentsystem rückt damit in eine zunächst vielleicht nicht erwartete Nähe zu anderen funktionalen Weltvergleichssystemen wie Kunst, Sport, Wissenschaft, Wirtschaft, die ebenfalls durch einen stark komparativ-konnektiven Operationsstil gekennzeichnet sind. Am Beispiel der standardisierten und klassifizierenden Beobachtung von Patenten zeigt sich ferner, dass es sich bei der Unterscheidung von Homogeneität und Heterogeneität (Uniformität/Diversität; Isomorphie/Heteromorphie) nicht um ein Nullsummenspiel handelt – das Gegenteil ist der Fall. Das Wissen darum wie eine Patentschrift aussieht, wo die wichtigsten Informationen in der Patentschrift zu finden sind und dass die benötigten Informationen in einer Patentklasse (etwa E 04) und im Rahmen von standardisierbaren Suchroutinen, d.h. nicht ‚irgendwo‘ und ‚irgendwie‘ und eher gelegentlich, sondern mit einem gezielten (programmierbaren) Zugriff zu finden sind, sorgt dafür, dass die Heterogenität der beobachteten Wissenspartikel (Erfindungen und Schutzansprüche) besonders deutlich hervortritt. Gerade wenn man wichtige Standards der Kommunikation und Vergleichbarkeit effektiv voraussetzen kann, kann die Beobachtung und die anschließende Produktion von Differenzen, d.h. Erfindungen immer weiter ins Detail getrieben werden.95 Bei der Unterscheidung von Homogeneität und Heterogeneität handelt es sich demnach um einen dynamischen Zusammenhang wechselseitiger Intensivierung: Die Konstanz von Standards ermöglicht die permanente Produktion von Differenzen bei gleichzeitiger Reproduktion des Standards.
95 Dies führt am Beispiel des Sports Werron 2010 vor (v.a. S. 142ff.).
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D AS
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G EDÄCHTNIS DES P ATENTSYSTEMS
Wir hatten im letzten Kapitel bereits den Begriff des Gedächtnisses des Patentsystems eingeführt und uns dabei insbesondere auf die Patentschrift und deren öffentliche Verfügbarkeit bezogen. Da die wesentlichen Informationen der Patentkommunikation schriftlich dokumentiert vorliegen und für den öffentlichen Anschluss zur Verfügung gestellt werden, können prinzipiell beliebige Personen und Organisationen am Systemgeschehen in dezentralisierter Form teilhaben. Das Gedächtnis des Systems abstrahiert als öffentliches Schriftgedächtnis dann zunehmend von der Psyche als Träger relevanter Informationen. Das Gros dessen, worauf es systemisch ankommt, befindet sich in den Patentschriften und erschließt sich aus der vergleichenden Beobachtung im Prozess der sich immer weiter fortschreibenden „document circulation“. Im nächsten Kapitel werden wir uns auf den evolutionären Ursprung dieser Systemerrungenschaften im 18. Jahrhundert konzentrieren, nämlich die Durchsetzung der Patentschrift und die darin angelegte Umstellung des Systems auf Kommunizieren im Medium einer schriftlichen Öffentlichkeit; im Folgenden setzen wir diese Errungenschaft als bereits strukturell amortisiertes evolutionäres Erbe voraus und konzentrieren uns auf die Beobachtung der Rolle, welche die neueren digital-elektronischen Kommunikationstechniken für die Ausbildung eines globalen Systemgedächtnisses spielen. Wir schieben einen kurzen Exkurs zum Verhältnis zwischen Kommunikationstechnologie und Globalisierung ein.
Kommunikationstechnologie und Globalisierung Versteht man soziale Systeme wie das Patentsystem als Kommunikationszusammenhänge, liegt ein besonderes Interesse an spezifischen technischen Möglichkeiten des Zirkulierens, Erinnerns und Vergessens von Kommunikationsinhalten nicht nur nahe, sondern wird theoretisch zwingend. Von der Systemtheorie werden Kommunikationstechnologien grundsätzlich eine zentrale Rolle in der gesellschaftlichen Evolution zugewiesen: „Aus sehr weitem Abstand und mit Hilfe scharfer begrifflicher Abstraktion kann man erkennen, wie gesellschaftliche Evolution zusammenhängt mit Veränderungen in den Kommunikationsweisen. Ein solcher Zusammenhang ist zu erwarten. Schlielich wird das soziale System der Gesellschaft durch Kommunikationsprozesse konstituiert. […] Aber diese These des Zusammenhangs von Kommunikationsweisen und Gesellschaft bleibt ein Allgemeinplatz, solange es nicht gelingt, sie historisch zu differenzieren“ (Luhmann 1981: S. 309).
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Die große analytische Bedeutung von Kommunikationstechniken – die Systemtheorie spricht häufig von „Verbreitungsmedien“ –, wird gar auf die Spitze getrieben, wenn Schrift und Buchdruck als „kommunikativere Formen der Kommunikation“ bezeichnet werden, weil sie verglichen mit interaktiv realisierter Kommunikation eine komplexere Ausarbeitung und Entfaltung sozialen Sinns ermöglichen (vgl. Luhmann 1984: S. 224). Wir werden im Folgenden am Beispiel des Patents anzudeuten versuchen, was mit dieser weitreichenden These gemeint ist. Die sich aus dieser Grundaussage analytisch fast zwangsläufig ergebene Anschlussintuition eines engen Zusammenhangs von Kommunikationstechnologien, insbesondere elektronisch-digitaler Art, und Globalisierung teilt die Systemtheorie mit den meisten medien- und globalisierungstheoretischen Ansätzen.96 Will man allerdings über Intuitionen hinaus gehend zu theoretisch präziseren Aussagen kommen, wird dann jedoch hier und dort in der Regel nicht klar, wie sich neue Kommunikationsmöglichkeiten im Einzelnen und konkret in unterschiedlichen Systemen mit jeweils unterschiedlichen Strukturen und Historien auswirken. Diese Unschärfe rührt häufig ferner daher, dass nicht eindeutig genug zwischen dem breiten Spektrum an Kommunikationstechniken wie Druck, Telegraphie, Funk, Fernsehen, Mail, Internet einerseits und Massenkommunikation bzw. massenmedialer Kommunikation andererseits differenziert wird. Systemtheoretisch lässt sich beobachten, dass diese Lücke einem fehlenden Verständnis von funktionaler Differenzierung geschuldet ist und damit auch davon, dass sich Globalisierung immer bereichsspezifisch d.h. erst im Zusammenwirken von Verbreitungsmedien, dem spezifischen Weltentwurf eines Systems sowie weiteren Faktoren wie v.a. systeminternen Möglichkeiten der Organisationsbildung und Standardisierung von Kommunikationen realisieren kann. Soviel lässt sich – systemtheoretisch – behaupten, allerdings wird aber auch die Systemtheorie mit dem Vorwurf konfrontiert, die Meta-These des Zusammenhangs von Medien der Kommunikation und Globalisierung noch nicht häufig genug in konkretanschaulichen Einzelstudien empirisch und historisch differenziert operationalisiert zu haben. Die folgenden Abschnitte sowie weitere Abschnitte im historischen Kapitel versuchen, einen Beitrag zu der Arbeit an dieser Forschungslücke zu leisten.
96 Der bekannteste Topos in diesem Kontext ist das „global village“ von McLuhan; vgl. McLuhan 1968, McLuhan/Powers 1995.
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Patentdatenbanken „The debate about whether print or electronic resources are better for legal research ended essentially because the consumers of the resources made a decision. Electronic resources are now used so overwhelmingly for legal research that their relative merit seems almost irrelevant. Faculty, attorneys, and law students voted with their feet, and their feet led them to the computer terminal“ (Bintliff 2008: S. 79).
Diese Aussage aus einem US-amerikanischen Sammelband mit Beiträgen zum Thema „legal information“ lässt sich nahtlos auf das Patentsystem und den Themenkreis Patentdokumentation und Patentliteratur übertragen. Im Patentsystem hat sich die computervermittelte Dokumentation und Recherche der Patentliteratur mittels elektronischer Datenbanken in den letzten 10-15 Jahren strukturell durchgesetzt. Datenbanken mit digitalisierten Wissensbeständen haben für die Beobachtung patentierter Erfindungen und die Neuheitsrecherche inzwischen eine so selbstverständliche wie vorherrschende Rolle eingenommen, dass der herkömmlichen Präsenz-Recherche nach Wissen über die (aus)gedruckte Patentschrift eine nur mehr marginale Bedeutung zu kommt. Dieser auch in anderen Systemen wie der akademischen Wissenschaft parallel zu beobachtende Umbruch von ortsgebundener Wissensrezeption und –Kommunikation zu telekommunikativ-elektronisch vermittelter dezentraler Kommunikation soll im Folgenden am Beispiel der strukturellen Transformation des Deutschen Patentamts (DPMA) und dessen Hauptdatenbank, dem Depatisnet, kurz skizziert werden. Noch bis in die 1980er Jahre hinein waren Patentschriften ausschließlich in gedruckter Form erhältlich; die Rezeption patentierten Wissens war somit noch an den Aufenthaltsort des Originals respektive seiner Papierkopie und insofern lokalisiert: Wer in Deutschland nach aktuellen Patentinformationen recherchieren wollte, war darauf angewiesen, die „Auslegehallen“ des Patentamts in München bzw. Berlin oder regionale Patentinformationszentren persönlich aufzusuchen (vgl. Greif 1998: S. 218); alternativ konnte auch auf den vom DPMA angebotenen „Schriftenvertrieb“ zurückgegriffen werden. Mit der Implementierung der ersten Online-Patentdatenbanken erfolgte dann Anfang der 1980er Jahre der Durchbruch zur digitalen Dokumentation und computervermittelten Zugänglichkeit und Diffusion von Patentliteratur. Dieser Umstellungsprozess hat in den letzten Jahren einen institutionellen Beschleunigungsschub erfahren. So stellte das Deutsche Patent- und Markenamt seit 2001 mit dem elektronischen Archiv DEPATISnet einen Bestand von zunächst 25 Millionen Dokumenten für die Online-Recherche zur Verfügung, der inzwischen auf annähernd 70 Millionen Patentdokumente angewachsen ist (vgl. hierzu und überblickend zu Patentdatenbanken Birkner 2009: S. 20ff.). Diese Datenbank enthält alle seit 1877 veröffent-
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lichten deutschen Patentschriften und erlaubt Zugriff auf die aktuellen Veröffentlichungen der wichtigsten ausländischen Patentämter, also insbesondere auf japanische, US-amerikanische, weitere europäische und zunehmend auch südkoreanische und chinesische Patentdokumente.97 DEPATISnet wird vom Patentamt selbst zu Prüfungszwecken benutzt, gleichzeitig wird der „Prüfstoff“ im Internet ohne Zugangsbarrieren zum Recherchieren und Herunterladen zur Verfügung gestellt.98 Ähnlich umfassende elektronische Patentinformationsportale wie DEPATISnet werden mittlerweile von allen größeren Patentämtern betrieben. Die Institutionalisierung dieser Veröffentlichungsleistung entspricht der dem Patentamt durch den Gesetzgeber zugewiesenen Aufgabe, in Ergänzung der Erzeugung von Patentrechten, patentiertes Wissen der „Allgemeinheit“ zur Verfügung zu stellen.99 Diese Datenbanken werden in der Regel wöchentlich aktualisiert, so dass sich der aktuelle globale Stand der Technik in der Online-Patentrecherche mit relativ geringfügiger zeitlicher Verspätung ermitteln lässt. Neben die von den Patentämtern angebotenen Großdatenbanken treten weltweit mittlerweile mehrere hundert kleinere, z.T. kostenpflichtige Patentdatenbanken, die meistens auf die Erfassung und Dokumentation der Veröffentlichungen spezifischer Patentämter oder bestimmter technologischer Klassifikationsgruppen spezialisiert sind und elaboriertere Suchroutinen und Ergebnisdarstellungen erlauben. Ergänzt werden diese öffentlich zugänglichen Datenbanken durch eine in Qualität und Quantität nur schwer einschätzbare Menge an unternehmensinternen Datenbanken, welche die für die Patentstrategien des Unternehmens relevanten Bestände an eigenen und fremden Schutzrechten sowie die für die eigene Forschung und Entwicklung relevanten Teilgebiete des globalen state-of-the-art verwalten, spezifisch aufbe-
97 Insgesamt enthält die Datenbank Patentdokumente aus 70 Patentämtern und dürfte damit einer der weltweit umfangsreichsten Datenbanken darstellen; eine laufend aktualisierte Übersicht zum Datenbestand findet man auf der Webpage des Depatisnet. 98 Auf die Frage an einen Patentprüfer am Europäischen Patentamt: „Do you still use printed materials for your patent research? wurde geantwortet: „Of course not, I work with databases. But, eight to ten years ago, it was still different and mainly printed materials were used“ (Int.-Nr. 26). 99 Dies geht einher mit einer akzentuierteren Selbst- und Fremdbeschreibung des Patentamts als Informationsdienstleister für die Öffentlichkeit. In einem Interview sprach der Leiter des Intellectual Property Managements bei der (damaligen) Daimler Chrysler AG auch von einem Wandel der Patentämter von „Patentverhinderungsagenturen zu kundenorientierten Serviceunternehmen“ (Int.-Nr. 21).
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reiten und intern zugänglich machen (vgl. hierzu auch Kapitel 7, insbesondere S. 343ff.). Dieser fundamentale Umbruch von druckschriftlicher zu elektronischer, internetbasierter Kommunikation und damit auch zur ‚Computerisierung‘ von Kommunikationen ist ein universelles gesellschaftliches Phänomen, das sich in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen auf verschiedene Art und Weise ausprägt, aber ähnlichen Prinzipien folgt. Ein wichtiger übergeordneter Effekt dieser Transformation liegt in einer (gegenüber dem Buchdruck noch einmal radikal) gesteigerten Vergleichbarkeit von Daten, Personen etc. und einem entsprechend erhöhten Vergleichsdruck. In der Wirtschaft etwa führt Vergleichbarkeit zu einer deutlich höheren Markttransparenz, die in dem Maße zu einer Aushöhlung von klassischen Informationsasymmetrien zwischen Anbieter und Nachfrager führt, als die Transaktionskosten des Vergleichs für den Einzelnen sinken. Internetportale wie comparis.ch oder guenstiger-fliegen.de und unzählige mehr erhöhen drastisch die Transparenz „am Markt“ bei gleichzeitig dramatisch sinkenden Vergleichstransaktionskosten. In der (Erziehungs-)Politik stellt sich ein (verstärkter) Druck des Ableitens politischer Zielsetzungen aus internationalen Vergleichen ein. So gehört es z.B. im Bereich der Erziehungspolitik nicht erst seit PISA zum guten Ton, sich mit dem finnischen Erziehungssystem zu vergleichen und erziehungspolitische Abgesandte nach Skandinavien zu senden. In Fragen von Liebe und Intimkommunikation wird von Anbietern wie Elitepartner.de darauf insistiert, dass Liebe „kein Zufall“ ist100, mit anderen Worten: in ihrer Anbahnung nicht einfach den interaktiv und organisational eingebetteten ‚Zufälligkeiten‘ von kollegialem Zusammentreffen (Aufzug, Kantine, Parkplatz), Vereinszugehörigkeiten und Supermarkteinkäufen („Ach, bevorzugen Sie auch Produkte mit dem Bio-Siegel?“) überlassen bleiben sollte, sondern eine Frage des „Matches“ von algorithmisch erzeugten Suchprofilen, d.h. dem systematisierten dekontextualisierten Vergleich von möglichen Zielprofilen, darstellt. Viele weitere Beispiele für diesen Trend zum Vergleichen ließen sich finden. Zurückkommend auf das Patent sollen zwei konstitutive Aspekte dieser Umstellung auf digital-elektronische Internetkommunikation und ein global ausgreifendes Vergleichen noch einmal näher bestimmt werden. Die folgenden Überlegungen bemühen sich um eine erste globalisierungstheoretische Einordnung, die – wiederum – weniger an der Frage der volkswirtschaftlichen Effizienz dieser veränderten Qualität von Öffentlichkeit und Operationen des Wissensvergleichs in-
100 Vgl. www.elitepartner.de.
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teressiert ist, sondern primär an einer verfeinerten Beobachtung der Veränderung des Kommunikationsstils im System selbst. Die sich verstärkende elektronische Dokumentation und Veröffentlichung von Patentliteratur bedingt zunächst eine von räumlichen und zeitlichen Beschränkungen unabhängige Zugänglichkeit des Wissens. Der jederzeit und von jedem Ort mögliche (atopische) Zugang zu stetig evoluierenden Wissensbeständen führt zu einer technisch nur mehr inkrementell steigerbaren Synchronisierbarkeit wechselseitiger Beobachtungen von Akteuren im Patentsystem. Dies wird möglich, weil der physikalische Ort der Veröffentlichung und die Rezeption des Wissens räumlich beliebig auseinander gezogen werden können, ohne dass dies noch mit entsprechenden Zeitverlusten einhergeht (time-spacedistantiation). So wird insbesondere das von den in wirtschaftlicher Hinsicht wichtigsten Patentämtern veröffentlichte Wissen durch Datenbanken unmittelbar und ohne weitere Verzögerung in den global verfügbaren „state-of-the-art“ inkludiert und damit für beliebige Anschlussbeobachtungen bereitgestellt. Eine zweite wichtige Konsequenz dieser beschleunigten und umfassenden Zugänglichkeit des Wissens ist die Amplifikation von Selektionshorizonten und eine höhere Selektivität der Patentrecherche. Wenn Wissen um ein Vielfaches leichter und schneller verfügbar ist, wird eine immer umfassendere Wissenssuche und permanente Informiertheit über den aktuellen Stand der Technik effektiv unabdingbar, will man nicht Gefahr laufen, den kognitiven Anschluss an den technologischen Fortschritt zu verlieren oder permanent in „Patentminen“ der Konkurrenz zu treten. Das Übersehen relevanter Informationen wird dann prekär und im schlimmsten Fall extrem teuer, weil es zu langwierigen Einspruchs- und Nichtigkeitsverfahren führen kann, falls konkurrierende Unternehmen einer Patenterteilung ihren Wissensvorsprung mit dem Ziel der Patentlöschung bzw. Beschränkung des Schutzumfangs entgegen halten. Allerdings – und dieser wichtige Punkt sei hier noch einmal hervorgehoben – ist es im Sinne des oben zum Universalisierungseffekt des absoluten Neuheitsbegriffs Gesagten entscheidend, dass von einer Umstellung auf ein prinzipiell grenzenloses Beobachten ausgegangen werden muss. Entscheidend ist, dass die Unterstellung universellen Informiert-Seins als Zurechnungsarrangement funktioniert. Sie macht zudem in großen Unternehmen ein sehr aufwendig betriebenes globales „patent monitoring“ erforderlich, dem wir uns im letzten Kapitel ausführlicher widmen werden (insbesondere S. 343ff.). Dieses „Davon-Ausgehen“ lässt sich nicht zureichend als ein Umstellen psychischer Selektionshorizonte, d.h. eines mentalen Anpassens des Bewusstseins an veränderte (globale) Lagen verstehen. Dieses psychische ‚Mitziehen‘ ist ein unerlässlicher Begleiteffekt der Ausweitung von kommunikativ verfügbaren Se-
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lektionsräumen, aber entscheidender dürfte sein, dass unbeschränkt zugängliches, digital verfügbares und bearbeitbares Patentwissen noch stärker durch den Vergleich mit anderen Patenten definiert und dynamisiert wird. Der strukturelle Verweisungszusammenhang von Patenten lässt dann das einzelne Patentelement noch deutlicher von seinen lokalen Erzeugungskontexten abheben als dies für gedrucktes und spezifisch klassifiziertes Wissen ohnehin schon gilt (Dekontextualisierung).101 Das Ausmaß an systemisch erreichbarer Komplexität wird somit heute vor allem von den Vergleichs- und Auflösungsmöglichkeiten, welche von elektronischen Datenbanken und dem Internet technisch zur Verfügung gestellt werden, bestimmt. Wie wird diese systemische Komplexität in der alltäglichen Arbeit erzeugt und traktiert? Was sind wichtige Formen und Faktoren der laufenden Wissensarbeit im System? Der nächste Abschnitt entwickelt exemplarisch einige Antworten auf diese Fragen.
Patent Information Retrieval: Techniken der Patentrecherche Internetpatentdatenbanken üben eine ambivalente Wirkung im Hinblick auf die Komplexität des Beobachtens im Patentsystem aus. Einerseits treiben sie die schiere Gesamtkomplexität des Systems in einem solchen Ausmaß in die Höhe, dass die Vorstellung, ein einzelner Akteur oder eine Gruppe von Akteuren könne auch nur noch ungefähr die Entwicklung des im Gesamtsystem prozessierten Wissens nachvollziehen, als absurd gelten kann. Andererseits liefern Patentdatenbanken bzw. die entsprechenden Softwareprogramme auch zugleich die ‚Lösung‘ für dieses Komplexitätsproblem, indem sie beschleunigte und neuartige Formen und Techniken des selektiven Beobachtens und Recherchierens zur Verfügung stellen und damit anschwellende Komplexität handhabbar machen. Sie sind demnach Problem und Lösung zugleich.102 Wir wollen im Folgenden bei101 Recherche nach Patentinformationen vollzieht sich somit auch zunehmend innerhalb eines rollenmäßig verselbstständigten Arbeitsbereichs. In großen Patenanwaltskanzleien arbeiten Recherche-Spezialisten den Patentanwälten, die sich primär um Fragen des rechtlichen Schriftverkehrs und der patentrechtlichen Vertretung kümmern, zu: „Wir haben da Profis, die von morgens bis abends recherchieren“ (vgl. Int.-Nr. 27). 102 Es handelt sich um einen Effekt, der sich in sehr grundsätzlicher Weise auch für andere soziale Systeme nachweisen lässt. Luhmann nennt beispielsweise in einem frühen Aufsatz „analytische Problemlösung“ als wesentlichen Effekt der Einführung elektronischer Datenverarbeitung in die politische Planung und Verwaltung: „Man kann also nicht von einer Konstanz gegebener Problemmengen ausgehen; vielmehr
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spielhaft drei Aspekte von „patent information retrieval“ benennen, um eine genauere Anschauung davon zu entwickeln, wie unter modernen Kommunikationsbedingungen im Patentsystem systemische Komplexität erzeugt und selektiv traktiert wird. Kombinierte Feldsuche Die einfachste Möglichkeit des „patent data mining“ ist die auch jedem Wissenschaftler vertraute Recherche nach spezifischen Feldern und Kategorien. Zu den wichtigsten Feldern gehören die bereits im vorherigen Abschnitte eingeführten standardisierten Kategorien des Deckblatts: Abb. 8 veranschaulicht eine Patentrecherche am Beispiel der „Einsteigerrecherche“ im Depatisnet des DPMA. Gibt man, wie illustriert, Daten in den Feldern [Anmelder], [Bibliographische IPC] und [Suche im Volltext] ein, erhält man als Treffer das bereits oben in Kapitel 4 dokumentierte Patent der Bilfinger Berger AG (siehe oben S. 207). Abbildung 8: Patentrecherche mit dem Depatisnet
Wenn man die Suche im Rahmen einer „Profi-Recherche“ verfeinern möchte, kann man sich verschiedener, etwa Boolescher Operatoren, bedienen, um zu einem besser eingrenzbaren Resultat zu gelangen. Man kann dann zu genaueren und hoher aufgelösten Schlüssen bezüglich der Neuheitsschädlichkeit des Stands der Technik, der mutmaßlichen Patentstrategien eines Konkurrenten etc. kommen: „Zeige und gruppiere alle Patenthauptansprüche der in Deutschland und Japan in der Untergruppe L13/06 zwischen 1993 und 2000 angemeldeten Patente außer den Patenten von Siemens“, könnte eine typische, bereits etwas komplexere Suchanfrage an eine Datenbank lauten. Oder in der Pharmabranche werden durch die modernen Techniken die lösungsbedürftigen Probleme zunächst vermehrt, weil mehr Kombinationsmöglichkeiten berücksichtigt werden können“ (Luhmann 1972a: S. 46).
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könnte ein typisches Suchkalkül folgendermaßen angelegt sein: „Zeige mir alle Patentausläufe der Unternehmen Pfizer, Merck, GSK, S.-A., J&J für die nächsten fünf Jahre in den Bereichen der Blutfettsenker und Antihypertensiva“; dies setzt selbstverständlich voraus, dass man weiß, in welchen IPC-Klassen entsprechende Wirkstoffe und ‚Lifecycle-Patente‘ gruppiert werden. Man sieht: Digitale Datenbanken ermöglichen und bewirken zugleich eine Universalisierung und Spezifizierung der Beobachtung von Patentwissen. Content based processing In Analogie zu allgemeinen Entwicklungen in der Internetrecherche lässt sich auch bei der Patentrecherche ein Trend in Richtung eines „content oriented processing“ von Patentdokumenten und Patentwissen beobachten. Abbildung 9: Struktursuche mit dem Programm SureChem
„Semantic processing“ zielt etwa im Fall von Patenten auf pharmazeutische Erfindungen darauf ab, die entsprechenden Patentschriften auch in graphischer Form nach chemischen Strukturen und Molekülen durchsuchen zu können, also die konventionelle, textgesteuerte Recherche nach Wissenspartikeln um eine
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graphische Suche zu ergänzen.103 Suchroutinen der in Abb. 9 illustrierten Art ermöglichen ein graphisches „matching“ von ähnlichen Molekülen, mit denen eine qualitativ neue Ebene des Vergleichs von Patenten und Wirkstoffen betreten wird. Man ist für die Identifikation von ähnlichen Mustern in einem ersten Schritt nicht mehr auf psychische Repräsentationsleistungen angewiesen, sondern überlässt den Abgleich ähnlicher Strukturen und deren Darstellung dem Computer. Übersetzungsprogramme Aus einer abgeklärten, erfahrungsgesättigten Perspektive heraus wird man die Reichweite dieser digitalen technischen Möglichkeiten eventuell etwas skeptisch sehen und hervorheben, dass diese neuen Techniken zwar manchmal hilfreich seien, aber effektiv im Alltag schon dann nicht mehr weiter helfen würden, wenn man in fremdsprachigen Patentdokumenten suche. Dies gelte umso mehr, wenn man auf Informationen aus asiatischen, schriftzeichenbasierten Patentdokumenten angewiesen sei. Allerdings lässt sich auch hier für die letzten Jahre ein Trend beobachten, der asiatische Patentdokumente (aus westlicher Sicht) zunehmend besser im Rahmen von integrierten Patentrecherchen zugänglich macht. So bietet beispielsweise die Firma Minesoft Patentdatenbanken mit „Non-Latin text“Suchmöglichkeiten an (siehe Abb. 10) und immer mehr Firmen versuchen, mit automatischen Übersetzungsprogrammen an einem sich neu bildenden Markt teil zu haben, der auf das Einsparen von Personalkosten für intensive Übersetzungstätigkeiten setzt.104 103 „PatExpert’s overall scientific objective is to change the paradigm currently followed for patent processing from textual (viewing patents as text blocks enriched by picture material that are interpreted as “canned” material, sequences of morpho-syntactic tokens, or collections of syntactic structures) to semantic (viewing patents as multimedia knowledge objects) processing”; vgl. www.patorg.de und Wanner 2008; siehe auch überblickend zu visuellem data mining Bonino/Ciamarella/Corno 2010, Vrochidis 2010. 104 Man beachte auch das Programm „Patent Translate“, welches gemeinsam vom Europäischen Patentamt und Google entwickelt wurde und im Oktober 2012 sieben europäische Sprachen abdeckte – mit einer geplanten Erweiterung auf alle Sprachen der EPO-Mitgliedsländer bis 2014 (vgl. FAZ 2012); siehe beispielsweise auch Wang 2009, der skizziert, wie am chinesischen Patentamt SIPO Patentansprüche von automatischen Übersetzungstools ins Englische übersetzt werden. Unser Interviewpartner am Europäischen Patentamt (vgl. Int.-Nr. 26) geht davon aus, dass in seinem Bereich „telecommunications“ etwa 80-85% aller relevanten Dokumente englischsprachig
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Abbildung 10: Patentrecherche mit asiatischen Schriftzeichen
Für uns sind an dieser Stelle die praktischen Probleme, die auch den qualitativ hochwertigsten Übersetzungsprogrammen anhaften, nicht von Relevanz. Entscheidend dürfte vielmehr sein, dass Übersetzungstools der Unterstellung, dass basale Patentinformationen ungeachtet der Sprache, in der sie publiziert werden, universell und unmittelbar digital zugänglich sind, zusätzliche Plausibilität verleihen.
Das globale Gedächtnis: Resümierende Bemerkungen Diese konkreten Beispiele sollten noch weiter verdeutlicht haben, wie weit inzwischen die Transformation des Gedächtnisses des Systems in ein weitestgehend computerisiertes und internetbasiertes Gedächtnis vorangeschritten ist. Versteht man mit Luhmann unter Gedächtnis eine spezifische Form der „Organisation des Zugriffs auf Informationen“ (Luhmann 1993: S. 118), dann wird deutlich, dass wir es im Fall des Patentsystems unter modernen Umständen nur mehr mit einem sich immer mehr globalisierenden Gedächtnis, d.h. mit ‚Weltzugriffen‘ zu tun haben. Ein wichtiger infrastruktureller Aspekt der Globalität des Patentgedächtnisses ist die von den großen Patentämtern geleistete Vollerfassung seien. In anderen Gebieten wie „mechanics“ sei der Anteil an deutschen Dokumenten dagegen deutlich höher.
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aller Patentdokumente inklusive der retrospektiven Digitalisierung früherer Dokumente, die zunächst nicht in digitaler Form vorlagen.105 Prinzipiell jedes Patentdokument, respektive die wichtigsten Eckdaten (INID-Felder) zu einem Patent, sind über einen Computer- und Internetanschluss bzw. über ein „Smartphone“ zugänglich, so dass sich im Fall des Patents – so könnte man mit etwas Übertreibung sagen – der alte Traum einer „Universalbibliothek“ in radikalisierter Form erfüllt: es ist ‚nicht nur‘ alles an einem (einzigen) Ort, sondern auch von (fast) jedem denkbaren Ort aus zugänglich. Allerdings erschöpft sich die Qualität des globalen Patentgedächtnisses nicht im schieren Faktum der Verfügbarkeit und Zugänglichkeit von Patentliteratur. Mit „Gedächtnis“ ist keine reine Speicherung von Patentwissen gemeint, sondern eine immer mitlaufende Systemfunktion, die Neues selektiv mit Vorhandenem abgleicht. Patentdatenbanken sind die Infrastruktur eines universalen Substrats von Patentwissen, dessen einzelne Elemente durch unzählige Operationen des Prüfens und Recherchierens immer wieder aufgelöst und rekombiniert werden können. So ermöglichen elektronische Suchroutinen ein hochaufgelöstes Vergleichen und Kombinieren von Text- und zunehmend auch Bildelementen in großen Datensätzen in sehr kurzer Zeit und eröffnen somit immer wieder neue, überraschende Perspektiven auf Patentwissen, die es ohne die Möglichkeiten dieser ausgeklügelten „search queries“ und „retrieval techniques“ nicht gäbe.106
105 Ein Begleiteffekt der retrospektiven Digitalisierung ist, dass die umfangreichen alten Printbestände damit in informationstechnischer Hinsicht aufgegeben werden können, wenngleich sie auch als Originalschriftstücke von historisch-archivarischem Wert bleiben mögen. Hierzu eine Anekdote: Im Zentralen Verzeichnis antiquarischer Bücher (ZVAB) findet man alte Schweizer Patentdokumente zum Verkauf angeboten. Dort liest man als Produktbeschreibung für potenzielle Interessenten: „Ca. 50.000 Patentschriften des Eidgenössischen Amts für geistiges Eigentum, meist aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, haupts. aus den Klassen 100ff. Chronologisch nach Klassen in ca. 650 Archivschachteln geordnet. Jew. Konstruktionszeichnung bzw. Schaltplan und Text; mittels 2 Messingschrauben geheftet […]. Die Patentschriften sind in einer der drei offiziellen Sprachen der Schweiz abgefaßt (deutsch, französisch, italienisch). Der Bestand benötigt gut und gerne den Raum eines größeren Bibliothekszimmers“ (www.zvab.com, Herv. C.M., Suche: Patentschriften). 106 Elektronische Datenbanken radikalisieren somit das Prinzip des Zettelkastens, dessen mediale Besonderheit vor allem in den Überraschungsmomenten liegt, die sich beim Arbeiten mit ihm einstellen. In Analogie zum Papierzettelkasten lässt sich ihr Innenleben ebenfalls als „nichtlineare, rekursive, verweisungsreiche Innenstruktur“
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Das Beobachten kann in Raum und Zeit, Zurechnungen auf Personen und Organisationen sowie sachlichen Fragen stärker ausgreifen, weil sich mit verschiedenen Perspektiven und Fragerichtungen („Warum wird hier die Patentfähigkeit negiert, wenn doch schon das Patent x, im Jahr y, der Firma z beim selben Patentprüfer durchgekommen ist“ etc.) experimentieren lässt. Elektronische Patentdatenbanken und ihre Recherchemöglichkeiten stellen Wissen demnach nicht ‚objektiv‘ dar, sondern wirken selbst ausweitend auf den Möglichkeitsraum des in ihnen transportierten Patentsinns zurück. Restriktionen der Verknüpfbarkeit von Systemelementen sind kaum mehr zeitlichen Verzögerungen oder Komplikationen beim Transport von Dokumenten, natürlichen Einflüssen, kategorischem (nationalistischen) Ignorieren von Wissensbeständen etc. geschuldet, sondern sind ein Resultat sachlich-spezifischer Differenzierungen (IPC) oder kapazitativer und kognitiver Begrenzungen von Beobachtern. Komplexität im System ist Weltkomplexität. Ein struktureller Komplementäraspekt zur gesteigerten Vergleich- und Relationierbarkeit von Patenten sind die Standardisierungen, die wir im letzten Abschnitt (siehe S. 205) beschrieben haben.107 Dies gilt zunächst mit Blick auf den ‚Urstandard‘, d.h. die wesentlichen Dimensionen der Patentnorm selbst. Es muss klar sein und bleiben, dass eine angemeldete Erfindung vom universalen Stand der Technik abheben muss, dass ein Patentanspruch universell gilt etc. Neben diesem sehr grundsätzlichen Standardisierungserfordernis ist ferner an die im letzten Abschnitt erwähnten technisch-klassifikatorischen Aspekte von Standardisierung zu denken. Erst die Errungenschaften der IPC und der standardisierten Suchfelder (INID-Codes) sowie das Standardformat der Patentschrift ermöglichen die vereinheitlichte Indizierung der wesentlichen Patentinformationen und somit einen unmittelbar auf IPC-Klassen eingrenzbaren und damit hochselektiven, kombinatorischen Vergleich von Patenten. Standardisierung und Digitalisierung wirken zusammen und erzeugen einen zugleich komplexeren und selektiver bearbeitbaren Möglichkeitsraum.
(Luhmann 1992a: S. 66) verstehen; siehe zum Zettelkastenprinzip auch Krajewski 2002, Kaube 2009. 107 Vgl. hierzu auch Luhmann: „Die Verbreitungsmedien seligieren durch ihre eigene Technik, sie schaffen eigene Erhaltungs-, Vergleichs- und Verbesserungsmöglichkeiten, die aber jeweils nur auf Grund von Standardisierungen benutzt werden können“ (Luhmann 1984: S. 221).
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Unsere globale Perspektive auf die Welt der Patente hatte ihren Ausgangspunkt der Beobachtung abgewonnen, dass es zunächst schwerfällt, Patentrecht als Weltpatentrecht und somit das Patentsystem als Weltpatentsystem zu denken. Aus einer systemtheoretischen Perspektive war zunächst festzuhalten, dass das dem sachspezifischen Universalismus des Wirtschaftssystems inhärente Drängen zu einer umfassenden globalen wirtschaftlichen Auswertung von Patentrechten mit der nationalstaatlichen Fragmentierung des Weltrechts kollidiert. Dieser strukturelle Konflikt wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts durch eine Reihe von internationalen Harmonisierungsverträgen bearbeitet, deren Hauptfunktion in der Standardisierung und Interoperabilisierung von Patentgesetzen liegt. Da Patentgesetze heute ubiquitär verbreitet sind, ist es aufgrund der Vereinbarungen der PVÜ und des PCT sowohl möglich, einen nahezu vollständigen globalen Patentschutz für eine Erfindung zu erhalten, als auch weltweit jedes Patent durch Nichtigkeitsklagen zu Fall zu bringen. Bereits insofern lässt sich in einem anspruchsvollen Sinne von der Globalität des Patentsystems sprechen. Zur Erosion der territorial-segmentären Struktur des Systems würde jedoch erst die Verabschiedung eines weltweit materiellrechtlich vereinheitlichten Patentschutzes und die Installierung eines ‚Weltpatentgerichts‘ führen. Unter einem solchen, ‚echten‘ Weltpatent könnte ein weltweit, d.h. in jedem Staat der Erde geltendes Schutzrecht für neue technische Erfindungen verstanden werden, das einem Patentanmelder kraft eines einmaligen zentralen Erteilungsbeschlusses konzediert würde. Ein solches ‚truly world patent‘ würde auf einer Reihe sehr voraussetzungsvoller Bedingungen aufruhen. Eine erste conditio-sine-qua-non wäre ein Ausmaß an materieller Patentrechtsharmonisierung, das über die im Rahmen von PCT, EPÜ und TRIPS erzielten Anpassungen noch deutlich hinaus gehen würde. So müsste etwa ein weltweit verbindliches Prüfungsverfahren eingeführt und ein internationales Patentgericht für die zentrale Schlichtung von Patentstreitfragen installiert werden, um nur die unmittelbar auffallenden Hürden der Harmonisierung zu benennen.108
108 Ein weiterer Hemmschuh, das lange währende Festhalten der USA am Ersterfinderprinzip (first-to-invent) das mitunter gar als „Embarrassment to the International Community“ (Dickey 2006) gebrandmarkt wurde, entfiel mit der Ratifizierung des Leahy-Smith America Invents Act durch US-Präsident Barack Obama im September 2011, mit dem das US-amerikanische Patentgesetz mit Wirkung ab März 2013 auf das Erstanmelderprinzip umgestellt wird; vgl. etwa Bui 2012.
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Die wirtschaftlichen Konsequenzen eines solchen Weltpatents für multinationale Unternehmen schienen – in Analogie zum EU-Gemeinschaftspatent – prima vista durchweg begrüßenswert. Die globale wirtschaftliche Durchsetzung technologischen Wissens wäre dank der Reduktion auf ein Patentierungsverfahren mit deutlich geringeren Patenttransaktionskosten verbunden. Sie würde für Unternehmen wesentlich vereinfacht und wahrscheinlich auch um ein Vielfaches kostengünstiger. Schaut man dann genauer hin, geraten allerdings auch erhebliche Risiken in den Blickpunkt, die ein weltweit standardisierter Patentschutz für Unternehmen mit sich bringen würde. Würde nämlich in Analogie zum (avisierten) Gemeinschaftspatent eine Erfindung kraft eines einzigen Rechtsbeschlusses nicht nur für alle in der Anmeldung benannten Staaten geschützt, sondern gleichzeitig auch vor einem zentralen Patentgericht legal durchsetzbar und anfechtbar, bedeutete dies folgerichtig, dass auch die Entscheidung in einem Nichtigkeits- oder Patentklageverfahren unmittelbare Rechtskraft für alle Erstreckungsstaaten des Patents gewinnen müsste. Ein Unternehmen würde das Plus an Rechtssicherheit demnach mit einem deutlichen Minus an Risikodiversifikationsmöglichkeiten bezahlen müssen.109 Ohne hier weiter ins Detail gehen zu müssen, sollte hinreichend deutlich geworden sein, dass die Durchsetzung eines materiellrechtlichen Weltpatents – wenn auch von dem einen oder anderen Autor mitunter emphatisch gefordert (Sherwood 1993) – kaum realisierbar scheint. Die zu erzielenden internationalen Kompromisse auf der politisch-legislativen Ebene und das erforderliche Ausmaß an Überformung lokal überkommener Traditionen und „legal cultures“ durch eine singuläre globale Rechtsform scheinen zum jetzigen Zeitpunkt das offensichtlich Machbare deutlich zu übersteigen (so auch Kober 2001). Summa summarum gilt für die Vision des Weltpatents demnach auch heute noch, was schon vor einigen Jahrzehnten galt: „To put it briefly, the world patent is an ideal and like every ideal it will be unobtainable – at least in the foreseeable future“ (Haertel 1965: S. 9).
109 Es scheint dann nur mehr schwer vorstellbar, dass Unternehmen dieses Risiko einzugehen gewillt sein könnten. Gleichzeitig sei an dieser Stelle erwähnt, dass eine weitere wichtige Interessensgruppe, nämlich die Patentanwälte, kaum Interesse an einer raschen Beseitigung dieser Partikularismen und Rechtsunsicherheiten etc. haben dürfte: „Heerscharen von Patentanwälten leben von diesen Komplikationen“, formuliert ein Interviewpartner im Hinblick auf diesen Sachverhalt (vgl. Int.-Nr. 22).
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Die Quintessenz des von uns verfolgten weltgesellschaftstheoretischen Ansatzes und damit die Pointe dieses Kapitels liegt aber darin, dass wir uns in der Konzeption des Patentsystems als Weltpatentsystem von der Bedingung eines weltweit materiell vereinheitlichten Rechts unabhängig machen können. In unserer Lesart ist heute jedes Patent ein Weltpatent, da es nur innerhalb eines unentrinnbar globalen Vergleichszusammenhangs von Patentinformationen (Patentschriften und anderen Informationsquellen) Rechtsgeltung erlangen kann. Mit dem im Prozess der Rechtsharmonisierung zunehmend weltweit umgesetzten Prinzip des universellen Neuheitsverständnisses gibt es faktisch nur mehr einen weltweit integrierten Beobachtungs- und Vergleichszusammenhang von Patenten: Patentkommunikation ist Weltpatentkommunikation. Fortdauernde Heterogenität zwischen verschiedenen nationalstaatlichen oder regionalen Patentrechtskulturen kann vor diesem Hintergrund kein Argument mehr gegen die Annahme eines Weltpatentsystems sein. Die persistierende Diversität in der lokalen Einbettung von Patentrecht wird zum einen ihrerseits selbst erst vor dem Hintergrund eines rechtlichen Vergleichs- und Geltungsanspruchs und globalen wirtschaftlichen Auswertungsinteresses manifest und problematisch. Zum anderen wird sie wie geschildert auf zwei Ebenen zunehmend strukturell unterlaufen. Erstens ist der voranschreitende Harmonisierungsprozess zu nennen (PVÜ, PCT, TRIPS, Europäisches Patent), der die in Unternehmen anfallenden Transaktionskosten internationalen Patentierens signifikant verringert und somit ein globales Durchsetzen von Schutzansprüchen zunehmend ermöglicht und dann im Rahmen von ‚Mitzieheffekten‘ in der wirtschaftlichen Konkurrenz auch erforderlich macht (siehe Kap. 7). Dieser Prozess setzt rechtliche Standards, die eine immer weiter vorangetriebene Inklusion von Erfindungen und Adressen in den Möglichkeitsraum des Systems stimulieren. Zweitens sei an die standardisierten Kommunikationsformen und technischen Infrastrukturen eines globalen Patentgedächtnisses (Patentschrift, IPC, elektronische Patentdatenbanken) erinnert, die das systemische Drängen zur Globalität noch weiter forcieren und das Patentsystem immer stärker zu einem globalen Relevanzraum ausbauen, in dem unsachliche Grenzziehungen und Einschränkungen der universalen Maximen des Patents progressiv ausgehöhlt werden. Elektronische Datenbanken und eingebettete Techniken des Beobachtens ermöglichen sowohl eine extensivere wie intensivere Beobachtung und Bearbeitung des weltweit öffentlich zugänglichen Patentwissens. Dokumentieren, Vergessen, Erinnern, Wiederzugänglichmachen etc. von Patentinformationen sind nicht mehr lokal oder anderweitig eingrenzbar, sondern mit der Durchsetzung von computerbasierten Patentdatenbanken endgültig zu einer Weltangelegenheit geworden.
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Auch wenn es kein einheitliches globales Patentrecht gibt und auch wenn den Akteuren ‚im Feld‘ die Annahme eines in dem hier vorgestellten Sinne zu verstehenden Weltpatents unplausibel und ‚unpraktisch‘ erscheinen mag, lautet die resümierende Hypothese dieses Kapitels: Die Existenz eines Weltpatentsystems kann nicht mehr plausibel negiert werden und eine gesellschaftstheoretische Beschreibung des Patentsystems kann überzeugend nur mehr als Theorie des Weltpatentsystems durchgeführt werden.
Kapitel 6: Vom Privileg zum Weltpatent: Historische Perspektiven
T HEORETISCHE V ORBEMERKUNGEN Fragen an die Geschichte und Entstehung des Patents Das Patent ist bereits von vielen Studien aus sehr unterschiedlichen Forschungsperspektiven historisch untersucht worden. Wir wollen zu Beginn dieses Kapitel einige der Leitfragestellungen herausstreichen, die üblicherweise in diesen Arbeiten verfolgt werden. Diese kurze Aufarbeitung des Forschungsstands wird hilfreich sein bei der Entwicklung unseres eigenen soziologischen Blicks auf die Geschichte des Patentsystems. Bei den Rechtshistorikern steht ein Interesse am Herauswachsen des Patents aus der spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Privilegienordnung im Vordergrund. Die von Mossoff in einem Artikel zur Patentgenese in England aufgeworfene Frage – „What accounts for this radical shift from a grant by royal prerogative to common-law property right?“ – kann als repräsentativ für diese Richtung des patenthistorischen Denkens betrachtet werden (Mossoff 2001: S. 1255). Dieser Forschungszweig konzentriert sich auf den Aspekt der Positivierung des Patentprivilegs. Dabei werden Grundsatzentscheidungen und Kodifikationen betrachtet sowie die nichtpositive Natur des Patentvorläufers Privileg analysiert. Ein wichtiger Teilbereich dieser Forschungen sind Ideen- und begriffsgeschichtliche Untersuchungen zur Semantik des Geistigen Eigentums, die sich unter anderem auf Phänomene wie den Streit um die Legitimität der Druckprivilegien und die große „patent controversy“ im Verlauf des 19. Jahrhunderts konzentrieren.1 1
Vgl. etwa die Beiträge in dem Sammelband Pahlow/Eisfeld 2008.
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Ein aufschlussreiches Charakteristikum dieser Studien ist die in der Regel beobachtbare Konzentration der Patent- und Privilegienhistoriker auf ein begrenztes Territorium bzw. einen bereits formierten Staat wie Frankreich oder England sowie einen begrenzten Zeitausschnitt. „Inventing the Industrial Revolution. The English Patent System, 1660-1800“, dieser Titel einer viel zitierten Studie von Christine MacLeod zur Entwicklung des englischen common law of patents, steht – auch in der Fokussierung auf England – programmatisch für viele dieser Arbeiten.2 Mitunter werden diese in ihrem Detailreichtum hervorstechenden Studien auch als vergleichende oder als an Rechtstransfer orientierte Arbeiten angelegt. Man erfährt dort viel über die Ungleichzeitigkeit der Entwicklung in verschiedenen, v.a. europäischen Regionen und Richtungen des Transfers und der Diffusion von Patentrechten bzw. den sie beschreibenden und rechtfertigenden Ideen. Eine hier typische Fragestellung lautet, mit welchen semantischen Formeln und Strategien zu unterschiedlichen Zeitpunkten in verschiedenen Ländern um die Begründung von Patentrechten gerungen wurde (vgl. überblickend Machlup 1962). Unter den Wirtschaftshistorikern nimmt im Hinblick auf die Geschichte des Patents vor allem die Institutionentheorie von Douglass C. North einen herausragenden Stellenwert (vgl. hierzu auch oben Kapitel 2, vor allem S. 37ff.) ein. Deren zentrale Fragestellung lautet, inwiefern die durch den Rechtsschutz geleistete Unsicherheitsabsorption entscheidend für die Ausbildung des modernen, von technologischen Innovationen angetriebenen Wirtschaftssystems war.3 Ein weiterer wirtschaftshistorischer Zugang weist eine Schnittmenge mit primär technikgeschichtlichen Ansätzen auf. In diesem Bereich werden statistische Verzeichnisse und Archive von Patentschriften („patent records“) als Indikatoren für
2
MacLeod 1988; vgl. auch die Studie Silbersteins zur Entwicklung der europäischen Patentprivilegien in der frühen Neuzeit, der die übliche Fokussierung auf England scharf kritisiert und die lange herrschende Meinung, merkantilistische Patentprivilegien seien ein (fast ausschließlich) britisches Phänomen gewesen, verabschiedet: „Wie Blei lag diese Vorherrschaft auf den theoretischen Auseinandersetzungen über Ursprung und Probleme der Patentgesetzgebung. Die eindrucksvolle Kontinuität und der Glanz des englischen Patentsystems im 19. Jahrhundert ließen keinen Gedanken zu, daß sein Ursprung anderswo zu suchen sei“ (Silberstein 1961: S. IV); vgl. so auch energisch Pohlmann 1960, 1962 mit Quellenfunden zu Erfinderprivilegien im 16. Jahrhundert in deutschen Territorien (z.B. in Kursachsen).
3
Vgl. auch die Beiträge im Sonderheft der Zeitschrift Geschichte und Gesellschaft „Neue Institutionenökonomik als historische Sozialwissenschaft“ (Abelshauser 2001).
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die divergierenden Niveaus von Erfindungstätigkeit und Innovationskraft in verschiedenen Regionen und zu verschiedenen Zeitpunkten ausgewertet. Leitende Fragen sind hier häufig methodischer Natur und richten sich an die Validität von Patentdokumenten als Indikatoren der technologischen Evolution, häufig mit dem Verweis darauf, dass der rhetorische Charakter von Patentschriften sowie nichtdokumentierte funktionale Alternativen wie Geheimhaltung zu berücksichtigen seien.4 Während einige Studien zeitlich sehr weit zurückgreifen und sich beispielsweise vor allem für das Wesen der frühneuzeitlichen Privilegien interessieren und sich weitere Autoren auf die Entwicklung von Patenten in anderen Weltregionen, etwa Asien, konzentrieren, lässt sich zusammenfassend feststellen, dass das Gros der Arbeiten jedoch einen gemeinsamen Bezugspunkt aufweist: die Industrialisierung bzw. die Industrielle Revolution im transatlantischen Raum, namentlich in Großbritannien, Frankreich, Deutschland und den USA im Vorfeld und insbesondere nach der Französischen Revolution. Die Französische Revolution sowie die Industrielle Revolution des 18. und 19. Jahrhunderts gelten den meisten Historikern als die wesentlichen Zäsuren, welche die vormoderne (europäisch-transatlantische) Gesellschaft von der modernen Gesellschaft scheidet. Patent und Patentrecht sind gemäß der herrschenden Meinung bei den Historikern Produkte und/oder kausale Faktoren der Industriellen Revolution und wieder begegnet uns hier das bereits zu Beginn dieser Arbeit heraus gearbeitete Erklärungsmuster der herkömmlichen Patenttheorien: Das Patent und seine Genese wird vor allem in Differenz zur Wirtschaft und ihrem evolutionären Wandel erklärt (vgl. Kapitel 2).
Prämissen und Gliederung Wenn wir nun im Folgenden eine eigenständige historisch-soziologische Perspektive auf die Evolution des Patents entwickeln wollen, müssen wir uns zunächst von diesen geschichtswissenschaftlichen Prämissen des historischen Erklärens distanzieren. Diese Ambition zur Distanz gegenüber den Patenthistorikern resultiert weniger aus der Annahme, dass die dort verfolgten Fragestellungen in sich nicht instruktiv oder die Leitthesen wie vor allem der behauptete Konnex zwischen Emergenz des Patents und der Industriellen Revolution an sich gänzlich unbrauchbar wären. Es sei aber noch ein Mal daran erinnert, dass wir 4
Vgl. hierzu etwa Gilfillan 1945, Reingold 1960, Schmookler 1966 (v.a. Kap. 2), Sokoloff 1988.
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uns in den voran gegangenen Kapiteln auf gänzlich andere theoretische Prämissen festgelegt hatten, von denen wir behauptet hatten, dass sie besser als andere Ansätze dazu in der Lage sind, die Entstehung, Funktionsweise und Dynamik des Patentsystems auf den Begriff zu bringen. Hier knüpfen wir an dieses Erklärungsprogramm an, indem wir die Emergenz des Patentsystems als autonomen, funktionalen Kommunikationssystems historisch zu erklären versuchen. Der Dreh- und Angelpunkt unserer Perspektive ist, dass wir das Patent in einem elaborierten theoretischen Sinne als gesellschaftliches Phänomen begreifen. Wenn man Gesellschaft als funktional differenzierte Weltgesellschaft begreift, wird eine analytische Ambition, das Patent als weltgesellschaftliches Phänomen erfassen zu wollen, nahezu unabweisbar. Das vorangehende Kapitel hat bereits verschiedene Evidenzen dafür zusammen tragen können, dass sich das Patentsystem heute nur mehr plausibel als Weltpatentsystem beschreiben lässt. Wenn wir nun mehr nach der Entstehung des Weltpatents und deren Bedingungen fragen, fragen wir somit gleichzeitig nach der Entstehung der Weltgesellschaft. Wir nehmen im Laufe dieses Kapitels mit anderen Worten eine historische Differenzierung der im ersten Kapitel eingeführten Unterscheidung von Patent und Gesellschaft vor. Die uns leitende Problemintuition ist, dass die Evolution des Weltpatents mit tief liegenden Umbrüchen in der Gesellschaftsstruktur zusammen hängt, die von der soziologischen Systemtheorie auch als Umstellung des gesellschaftlichen Differenzierungsprimats von stratifikatorischer auf funktionale Differenzierung beschrieben worden ist. Die differenzierungstheoretische Leitthese, dass sich die Emergenz eines funktional spezifizierten Patentsystems als Produkt und als Konstitutivum der Umstellung auf eine funktional differenzierte Weltgesellschaft erklären lässt, ersetzt die rechts- und wirtschaftshistorisch leitenden Analyseschemata ‚Patent-Wirtschaft‘ und ‚Patent-Revolution‘ und die dort mitgeführten Prämissen sachlicher und zeitlicher Differenzierung.5 Eine wichtige Teilthese der folgenden Ausführungen ist, dass sich die Ausdifferenzierung des Systems mehrfach vollzieht, nämlich zu unterschiedlichen Zeitpunkten in unterschiedlichen Staaten und Regionen, und man zu einem Zeitpunkt, für den man unseres Erachtens sinnvoll von einer Ausdifferenzierung des Patentsystems sprechen kann (ca. 1800) von einer Pluralität von Patentsystemen ausgehen muss. Diese Beobachtung mündet aber bei uns weder in eine diachrone noch in eine synchrone Komparatistik dieser divergenten territorialen Patentord-
5
Vgl. etwa auch Stichweh 1994a, der für eine Kombination des Untersuchens von funktionaler Spezifikation und dem Wechsel der gesellschaftlichen Differenzierungsform als fruchtbare Forschungsstrategie plädiert (explizit S. 42).
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nungen. Im Zentrum steht weder das französische privilège noch das englische monopoly oder das amerikanische patent für sich noch der Vergleich deren Teilgenese(n); bereits aus der sehr grundsätzlichen analytischen Position heraus, dass für uns der Nationalstaat bzw. die territoriale Einbettung des Patents keine sinnvolle Letzteinheit der Analyse darstellt.6 Erkenntnisleitend ist vielmehr die Analyse von abstrahierbaren Faktoren und Merkmalen einer ausdifferenzierten Sinn- und Kommunikationsform Patent, deren Universalität sich als evolutionär geeignet für das später einsetzende Zusammenwachsen verschiedener Patentrechtsordnungen erweist. Von hervorragender Bedeutung wird dabei die besonders früh und prägnant an der englischen Situation beobachtbare Umstellung auf die Patentschrift (patent specification) als Standardmedium der öffentlichen Kommunikation über Patentwissen und Patentansprüche sein. Im Anschluss daran postulieren wir, dass mit dem Hinzutreten weiterer evolutionärer Errungenschaften, beginnend ungefähr ab der Mitte des 19. Jahrhunderts, das Zusammenwachsen dieser relativ isolierten territorialen Patentregime zu einem Weltpatentsystem strukturell ermöglicht wird. Mit „evolutionären Errungenschaften“ werden wir uns auf die häufig unter dem Kompaktbegriff „Weltverkehr“ verhandelten transport- und kommunikationstechnischen Neuerungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beziehen. Wir machen diese Faktoren für die Entstehung des absoluten Neuheitsbegriffs verantwortlich, welcher die vorher relativ isolierten Patentrechtsordnungen zu einem globalen Selektions- und Vergleichsraum zusammenzuweben beginnt. Schließlich werden wir in Anlehnung an unsere Ausführungen zu den strukturellen Kopplungen des Patentsystems an Wirtschaftsunternehmen nach einem historischen Wandel der dominierenden Form der Inklusion in das System fragen. Das hier leitende Argument wird sein, dass das im Zuge der Ausdifferenzierung von unternehmerischer Forschung und Entwicklung entstehende Patentmanagement den Einzeler-
6
Zu „vergleichender Geschichtswissenschaft“ vgl. überblickend Osterhammel 2001, Kaelble/Schriewer 2003, siehe auch Kocka 2003; von unserer methodischen Distanz gegenüber herkömmlichen Methoden von Geschichtswissenschaft bzw. allgemein gegenüber „methodologischem Nationalismus“ scharf zu trennen ist die weiter unten getroffene theoretische Aussage, dass ein territorialstaatlicher Rahmen in einer Übergangszeit für die Autonomisierung und Institutionalisierung des Patentsystems eine förderliche Rolle gespielt hat. So konzentrieren wir uns selbst an vielen Stellen auf die Situation in Großbritannien, was sowohl Gründe in der Sache, d.h. in der tatsächlich realisierten Evolution des Systems selbst, als auch in der Verfügbarkeit von Quellen und Literatur hat.
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finder als primäre Figur der Inklusion strukturell zunehmend verdrängt und fortan zum entscheidenden Impulsgeber der globalen Evolution des Patentsystems wird. Die konzeptionellen Scharnierstücke zwischen den Leitbegriffen Ausdifferenzierung, Universalisierung und Globalisierung bilden die Verbreitungsmedien (und Transportmedien) sowie der Begriff der Öffentlichkeit. Die allgemeine evolutionstheoretische These der Transformation einer stark durch Schichtungseffekte überformten mündlichen Interaktivität zu einem anonymeren öffentlichen Kommunikationsstil im Medium eines ‚beobachtenden Lesens‘ lässt sich am Beispiel des Patents und der Durchsetzung der Patentschrift als wichtigstem Kommunikationsformat erhärten. Gleichzeitig wollen wir zeigen, inwiefern in der Öffentlichkeit strukturell Weltöffentlichkeit angelegt ist: Am Beispiel der Rekonstruktion der Emergenz des absoluten Neuheitsbegriffs werden wir ausführen, wie sich das moderne Patentsystem dank der Ausbildung einer universalen Öffentlichkeit von patentrelevantem Wissen als Weltpatentsystem denken lässt. Wir belasten uns somit im Folgenden nicht mit dem (illusionären) Unterfangen, eine Global-, Welt-, oder Universalgeschichte des Patentrechts schreiben zu wollen, sondern widmen unsere Aufmerksamkeit der historisch-empirischen Anwendung der skizzierten Leitthesen und Leitbegrifflichkeiten.7 Diese abstrahierende Vorgehensweise impliziert einen hochgradig selektiven Umgang mit dem reichlich zur Verfügung stehenden Material, insbesondere mit der Fülle an Studien zur Geschichte von Erfindern, Unternehme(r)n, Technik, Einzelpatenten etc. An diesen sowie an weiteren – im Zuge der retrospektiven Digitalisierung von Zeitschriften zunehmend besser zugänglichen Primärquellen8 – können wir somit nicht im Interesse einer rekonstruktiven Detailverliebtheit „verzückt schnuppern“, sondern wir setzen das Material konstruktiv-selektiv im Interesse einer Beantwortung unserer Frage nach den historischen Möglichkeiten der unwahrscheinlichen Genese eines Weltpatentsystems ein.
7
Für eine bemerkenswert detailreiche „Weltgeschichte des Erfindungsschutzes“ siehe Kurz 2000.
8
Siehe unten illustrierende Funde aus der Digitalausgabe der „London Gazette“ (www.london-gazette.co.uk) sowie den komplett digitalisiert vorliegenden Bänden des „Simplicissimus“ (www.simplicissimus.com).
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D AS P RIVILEG Privileg, Patent, Gesellschaft „Der langsame Abschied vom Privileg“, so lautet der Titel eines Aufsatzes des Urheberrechtshistorikers Elmar Wadle, der beispielhaft auch für den Prozess der Ausdifferenzierung des Patents stehen könnte.9 Der Abschied vom Privileg ist ein vielschichtiger und langwieriger evolutionärer Vorgang und er vollzieht sich unter verschiedenen Ausgangsbedingungen in verschiedenen Regionen der Welt zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Uns wird es nun nicht darum gehen, diese lokal je unterschiedlichen Trajektorien historisch zu vergleichen – etwa USA vs. Deutsches Reich – bzw. nachzuweisen, inwiefern diese Prozesse ineinander verwoben waren und einander wechselseitig bedingten. Wir werden uns darauf beschränken, die wesentlichen Charakteristika des Privilegs als sozialer Form herauszuarbeiten und wir lassen uns dabei von der Vermutung leiten, dass dem Privileg eine wichtige anbahnende Strukturbedeutung für die Entstehung des modernen Patents zukommt.10 Das Patentprivileg lässt sich in einem nun näher zu präzisierenden Sinn als evolutionärer Vorläufer des Patents und des Patentsystems begreifen. Soweit herrscht auch in der Geschichtswissenschaft weitestgehend Konsens.11 Uneinigkeit besteht indes hinsichtlich der Frage, wie der Übergang und das Verhältnis zwischen Privileg und Patent zu fassen ist. Im geschichtswissenschaftlichen Diskurs lassen sich mit etwas idealtypischer Vereinfachung zwei diametrale Positionen identifizieren. Auf der einen Seite wird das Privileg eher in Form einer negativen Kontrastfolie aufgegriffen und ein drastischer Unterschied zwischen Privileg und Patent betont. Das Privileg wird als klassisches Merkmal einer überkommenen, ständischen Gesellschaftsordnung begriffen, während das Patent als positivierter Rechtsanspruch als typisch für eine moderne und freiheitliche Gesellschaft aufgefasst wird:
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Vgl. Wadle 1997; siehe ferner die interessante Sammlung von Beiträgen zur Urheberrechtsgeschichte Wadle 1996.
10 Wir konzentrieren uns auf Privilegien für Erfindungen und klammern somit alle weiteren Typen von Privilegien aus, vgl. überblickend zu Privilegien die Sammelbände Dölemeyer/Mohnhaupt 1997 und 1999. 11 Siehe aber anders Klippel mit der überraschenden Begründung, dass Privilegien nicht kompatibel mit einem „freien Markt und dessen Grundlagen“ seien (Klippel 1997: S. 337).
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„In der historischen Forschung besteht weitgehende Einigkeit über die Bedeutung bestimmter Leitbegriffe für das Verständnis historischer Gesellschaften. Reputation, Ehre, Privileg, Geburt, standesgemäßes Verhalten sind so eindeutig der ständischen Gesellschaft zuzuordnen wie die Begriffe Leistung, Verdienst, Rechtsgleichheit oder Aufstieg die entstehende und sich festigende bürgerliche Gesellschaft charakterisieren“ (Schulze 1986: S. 595, Herv. i. O.).
Auf der anderen Seite finden sich Ansätze, welche die Uneindeutigkeit des Übergangs betonen und vor allem die historisch-genetische Abstammung des Patents vom Privileg in den Vordergrund rücken. Insbesondere mit Blick auf die englische Situation wird das Fließende am Übergang zwischen der royalen Patentprivilegienpraxis der englischen Krone und des im 18. und 19. Jahrhundert sukzessive durchsetzenden Patentrechts betont: „The crown’s prerogative to issue letters patent was a central tool in bestowing privileges upon individuals in the furtherance of royal policies. When the crown thus wished to buttress the realm’s lagging industrial development at the end of the Middle Ages, the issuance of letters patent was central to enticing tradesmen and industrialists to come to England. This policy is the progenitor of the doctrine of patents for inventions“ (Mossoff 2000: S. 59, Herv. C.M.).
Als dezidierter Vertreter dieser Argumentationsrichtung gilt vor allem Marcel Silberstein mit seiner detailreichen Studie zur Entwicklung der merkantilistischen Patentprivilegien in Europa. Silberstein lehnt eine scharfe Zäsur zwischen Privileg und gesatztem Recht (Gesetz) ab und hebt den gewohnheitsrechtlichen Charakter der zum Teil bereits vor den Kodifikationen gegen Ende des 18. Jahrhunderts konzedierten Patentrechte hervor. Gleichzeitig wird betont, dass die missbräuchlich-inflationäre Praxis der Konzession von Monopolen und Privilegien (insbesondere etwa im frühen 17. Jahrhundert in Großbritannien) nicht über die Kontinuität im Übergang und ihrer Ähnlichkeit als „(Quasi-)Monopol“ hinwegtäuschen dürfe.12
12 So zum Beispiel auch Fox: „It was not the monopolies which were bad, but only their abuse. The monopoly policy of the sixteenth and seventeenth centuries was based on sound and legitimate economic principles and was a sincere effort to further new industries and arts. The patents issued in pursuance of that policy were, in general, designed to promote laudable objects, but were perverted in operation. The patent system, as a system based on a preconceived national policy, has subject to the abuses at-
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Für uns erübrigt es sich im Folgenden, für die eine oder die andere Seite zu argumentieren, da eine evolutionstheoretische Analyse der Emergenz des Patents anders ansetzen und ein Erklärungsdesign entwerfen muss, das beide Positionen im Rahmen einer (aus-)differenzierungstheoretischen Lesart übergreift. Idealtypisierend begreifen auch wir das (Welt-)Patent als charakteristisch für die moderne Gesellschaft, unter Berufung auf die Definition von moderner Gesellschaft als funktional differenzierter Gesellschaft und das Privileg als typischen Repräsentanten der vormodernen Gesellschaft, die wir als stratifikatorisch differenziert verstehen. Das heißt, das Patent steht auch in unserer Analyse stellvertretend für den radikalen Bruch zwischen vormoderner und moderner Gesellschaft. Allerdings springt die Evolution weder unversehens von der vormodernen Gesellschaft zur modernen Gesellschaft noch vom Privileg zum Patent. Wir müssen daher erklären, wie dieser Übergang im Einzelnen möglich wurde, ohne sich selbst als Übergang begreifen zu können oder zu müssen. Wir folgen dabei der Vermutung, dass einerseits im Privileg Sinnbezüge angelegt sind, mit denen zu späteren Zeitpunkten radikal gebrochen werden muss, um sinnvoll von einem Patentrecht als kontrafaktisch stabilisierbarer Norm sprechen zu können: Dies ist vor allem der fakultative Gelegenheitscharakter des Privilegs. Zum anderen wird es wichtig sein zu sehen, dass im Privileg mit Neuheit und Nützlichkeit bereits wichtige ‚Spurenelemente‘ sozialen Sinns angelegt sind, welche später eine entscheidende katalytische Rolle bei der Ausdifferenzierung des Patentsystems spielen.
Fakultativer Charakter des Privilegs Privilegien waren bereits seit dem Spätmittelalter bzw. der frühen Neuzeit in vielen europäischen Territorien wie z.B. Preußen noch bis in das 19. Jahrhundert hinein ein sehr häufig eingesetztes politisches Steuerungsinstrument.13 Ähnlich wie heute das Patent wurde das Erfinderprivileg vom politischen Souverän zum tendant upon the operation of the individual monopolies, a long and honourable tradition“ (Fox 1947: S. 189). 13 Vgl. etwa Beier et al. 1991. Für Frühphasen der Erfindungstätigkeit und vereinzelt nachweisbare Privilegien siehe z.B. Dohrn-van Rossum 1999. Vereinzelt sind weitere privilegienähnliche Formen des Erfinderschutzes für deutlich weiter zurückliegende Zeitpunkte nachgewiesen: z.B. für das sechste Jahrhundert in der griechischen Kolonie Sybaris in Apulien ein einjähriges Privileg für die Zubereitung von neuen Speisen (Lutter 1922).
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Zwecke der Förderung von wirtschaftlichen Innovationen eingesetzt. Eine sehr prominente Rolle spielte dabei die Form des Einführungsprivilegs, das einem Fremden bzw. einem Ausländer für das Inverkehrbringen einer noch inexistenten Technologie konzediert wurde, es handelte sich also um eine vormoderne Form territorialer ‚Standortpolitik‘. Im Folgenden arbeiten wir in einem ersten Schritt den Hauptunterschied zwischen einem Privileg und einem modernen Patent heraus. Das Privileg war im Gegensatz zum heutigen Patentanspruch eines Rechtssubjekts fakultativer Natur: Es wurde durch den Souverän erteilt und konnte in der Regel auch wieder entzogen werden. Ein Erfinder bzw. der Importeur einer Erfindung konnte lediglich darum „bitten, dass der König ihm die Gnade erweise, aber er darf sie nicht fordern: ebensowenig, wie er z.B. als Angeklagter die Begnadigung fordern darf. Gnade wird aus freier Regung heraus erteilt und kann deshalb nicht unter juristische Normen gebracht werden: wenn eine Regierung ‚auf den Vorschlag eines Erfinders eingeht‘, so erteilt sie ihm eben ein Privilegium. […] Eine Regierung, die willkürlich die Erteilung eines erbetenen Privilegiums versagt, verletzt damit allenfalls die Pflicht der Großmütigkeit und Menschenfreundlichkeit, aber durchaus keine Rechtsvorschrift […] es gab keine – wie ich sie nennen werde – obligatorischen Patente“ (Pilenko 1907: S. 62).
Hieraus folgte, dass das Privileg einem damaligen Erfinder keine Rechtssicherheit bieten konnte, weil sich mit seiner Erteilung nicht sicher, d.h. zeitstabil und im Hinblick auf eine ausnahmslose Wirkung für beliebige Dritte kalkuliert werden konnte. Die Situation wird nicht von einer stabilisierbaren und sachlich zu prüfenden Exklusivitätserwartung strukturiert. Es kommt vielmehr auf den ‚good will‘ des Regenten an; die Erteilung des Privilegs ist kein unpersönlicher Aktenvorgang, sondern ein hochpersönlicher Austausch von Rechten und Pflichten: Man sichert zu, eine Technologie zu offenbaren bzw. in Verkehr zu bringen und erhält im Gegenzug eine Erlaubnis, dies – in der Regel – als einziger Berechtigter exklusiv zu tun. Der Privileginhaber war buchstäblich ein „Begünstigter“, ein „Günstling“, aber kein Rechtssubjekt mit unpersönlichen Rechten.14 Man sieht, dass die Sozialdimension die anderen Dimensionen noch deutlich dominiert. Im 14 Zur Figur des Günstlings siehe auch die Beiträge in Hirschbiegel/Paravicini 2004; zur Figur des „favourite“ vgl. Elliott/Brockliss 1999. Sir Edward Coke formuliert im Jahr 1644: „Monopolies in time past were ever without law, but never without friends“ (zitiert nach Mossoff 2000: S. 1265); zu Cokes heftiger Ablehnung von Monopolen vgl. auch Atiyah 1979: S. 118.
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konkreten Akt der Konzession und Negation von Privilegien werden immer auch Status- und Schichtmerkmale reproduziert, und Versuche der Beeinflussung des Entscheiders glichen eher einem demütigen Vorsprechen und Umschmeicheln und hatten mit den schriftbasierten Patentrhetoriken der heutigen Zeit noch nichts gemein. Die soziale Form Privileg ist also in die „ständische Art“ eingebunden; sie bleibt ein charakteristisches Beispiel für „patrimonialfürstliche Rechtsschöpfung“ (Weber 1960: S. 245) und in der hierarchisch-stratifikatorischen Grundordnung rückversichert: Das Privileg ist eine durch den politischen Souverän erwiesene Gnade.15 Das Recht vermag sich evolutionär noch nicht zu einem gegenüber der politischen Sphäre unabhängigen System auszudifferenzieren, sondern weist noch einen hybriden Charakter auf. Hybrid insofern, als das Privileg einerseits bereits patentrechtsförmige Elemente wie die Exklusivität, den Zweck der Innovationsförderung und eine entsprechend ähnliche Rechtfertigungssemantik in sich trug. Das Privileg vermochte allerdings andererseits noch keine Autonomie im Sinne eines sich eigenständig vernetzenden begrifflichen Systems von Normen, Regeln, Subsumtionen zu entwickeln. Ein Privileg wurde nach Maßgabe konkreter, lokaler und zeitgebundener politischer Zweckmäßigkeiten erteilt, so dass man das Wesen des Privilegs daher auch als „kasuistisch“ oder „akzidentell“ bezeichnen kann: jedes Privileg ist ein Einzelfall, der in der Regel weder eine präjudizielle Wirkung entwickelte, noch nach konsistenten, erwartungsstabilen Rechtskriterien behandelt wurde. Es handelt sich beim Privileg somit nicht um ein „subjektives Recht“.16
15 „Privilegien, Privilegium, Privilegia, eine Freyheit, Begnadigung“ heißt es etwa in „Zedlers Universallexikon“ von 1741 (Zedler 1961: S. 589, im Volltext zugänglich über die digitalisierte Gesamtausgabe www.zedler-lexikon.de). In Preußen galt der Gnadencharakter des Patentprivilegs noch weit bis in das 19. Jahrhundert hinein und wurde grundsätzlich bis zur Verabschiedung des Reichspatentgesetzes 1877 nicht geändert. So erlaubte sich der preußische Finanzminister Albrecht Graf von Alvensleben 1839 gegenüber König Friedrich Wilhelm III. „allerunterthänigst“ zu bemerken, „daß auf die Ertheilung eines Patents, als eines besonderen Privilegiums, Niemand sich einen rechtlichen Anspruch beimessen darf, da die Bewilligung von Privilegien lediglich ein Akt der Gnade ist, und solche dadurch nicht zum Gegenstande eines rechtlichen Anspruchs werden kann“ (zitiert nach Heggen 1975: S. 29, Fn 12). 16 „Dann ist die Chance des einzelnen Rechtsinteressenten eine bestimmte Art von Entscheidung zugunsten seiner Wünsche und Interessen zu empfangen, nicht dessen »subjektives Recht«, sondern nur der faktische, nicht rechtlich ihm unverbürgte „Re-
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Das frühneuzeitliche Privileg weist allerdings einige Charakteristika sachlicher Spezifizierung auf, in denen bereits ein Potential für die spätere Entfaltung autonomer Sinnstrukturen eingelassen ist. Es handelt sich hier vor allem um die von der Diskussion der materiellen Schutzvoraussetzungen bereits vertraut klingenden Entscheidungskriterien „Neuheit“ und „Nützlichkeit“ (vgl. überblickend zu diesen Topoi aus technikgeschichtlicher Perspektive Popplow 1998). Sie machen das Privileg zu einem evolutionären ‚carrier‘ von Patentsinn, einem „preadaptive advance“, der später unter anderen gesellschaftlichen und infrastrukturellen Umständen in einer anderen Funktionalität gesellschaftlich voll zum Tragen kommt.17
Kriterien der Erteilung von Privilegien: Neuheit und Nützlichkeit Neuheit und die routinisierte Produktion von Neuheiten sind in unserer zeitgenössischen Gesellschaft bereits so vertraute Phänomene, dass es eines sehr weiten Blickwinkels bedarf, um zu verstehen, wie der „neurotische Zwang“ zum Neuen (Luhmann 1996: S. 44) im Übergang zur Moderne Fuß fassen konnte. Das frühneuzeitliche Privileg ist ein gutes Beispiel für frühe Spuren einer die statische mittelalterliche Ordnung zunehmend zersetzenden Orientierung am Neuen und dessen semantischer Positivwertung. Ein besonderes Augenmerk verdient hier die norditalienische Frührenaissance (Quattrocento), die auch in anderen Bereichen wie vor allem der Kunst für eine frühe Privilegierung der Erzeuger von neuen Werken steht und als evolutionäre Keimzelle langsam einsetzender funktionaler (Aus-)Differenzierungsprozesse gilt.18
flex“ jener Bestimmungen des Reglements (Weber 1960: S. 246); als Überblick zur Semantik der subjektiven Rechte siehe Luhmann 1981c. 17 „Preadaptive advances sind Errungenschaften, die im Rahmen eines älteren Ordnungstypus entwickelt und stabilisiert werden können, die aber erst nach weiteren strukturellen Änderungen des Systems in ihre endgültige Funktion eintreten“ (Luhmann 1981d: S. 191). 18 Zu diesem „Einbruch des Neuen“ vgl. etwa Esposito 2004: S.96ff.; insbesondere auch Elisabeth Eisenstein hat auf die hierfür entscheidende Bedeutung des Buchdrucks hingewiesen (Eisenstein 1979, sehr pointiert auf S. 124, vgl. auch Eisenstein 1969). Luhmann beschreibt diesen vom Buchdruck induzierten Wandel zur Erfahrung und Positivwertung von Neuheit an einer Stelle gar als das „disruptive Moment“ im Übergang zur modernen Gesellschaft (Luhmann 1997: S. 1000ff.).
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Unter Patenthistorikern hat ein vom venezianischen Senat bereits im Jahr 1474 erlassenes Dekret besondere Beachtung erfahren. Dieser rückblickend auch mitunter als „erstes Patentgesetz der Welt“ bezeichneter Senatsbeschluss weist in der Tat eine frappierende Ähnlichkeit mit dem Wortlaut und den Begründungen späterer Patentgesetze auf.19 Der Beschluss stellt ein beeindruckendes Frühdokument einer sozialen Ordnung dar, die technische Innovationen nicht nur toleriert, sondern im Stile einer innovations- und gemeinwohlorientieren Gesetzgebung aktiv zu fördern begonnen hatte: „Es wird daher Kraft der gesetzmäßigen Macht und Gewalt dieses Rates zum Gesetz erklärt, dass jeder, der in dieser Stadt irgendeine neue und erfinderische Vorrichtung bauen sollte, die bisher in unserem Gemeinwesen noch nicht hergestellt worden ist, dem Provveditori di Comun hiervon Mitteilung machen soll, wenn die Erfindung so zur Vervollkommnung gebracht ist, dass sie benutzt und betrieben werden kann. Es ist jedem Dritten in irgend einem unserer Gebiete und Städte für die Dauer von 10 Jahren verboten, ohne die Zustimmung und Lizenz des Urhebers eine weitere Vorrichtung zu bauen, die mit besagter Vorrichtung übereinstimmt oder ihr ähnlich ist.“20
Das im Text transportierte Neuheitsverständnis lässt sich wie folgt beschreiben: Einerseits wird ein qualifizierter Neuheitsbegriff verwandt, der ergänzend ein erfinderisches Moment reklamiert (im Originaltext heißt es: „algun nuovo et engegnoso artificio“); andererseits ist das Neuheitsverständnis ein sehr pragmatischpraktisches, das an die Nützlichkeit der Erfindung rückgekoppelt bleibt. Neuheit und wirtschaftlich-technische Nützlichkeit werden noch nicht deutlich gegeneinander differenziert. Was (in Venedig) als nützlich erscheint, kann auch als neu gewertet werden. Allerdings ist das, was neu ist, noch nicht eines Privilegs würdig, wenn es nicht in Differenz zum technologischen Status quo in Gewerbe und insbesondere auch Verteidigung als ein nützlicher Fortschritt angesehen werden kann. Neuheit wird somit noch sehr konkret und anschaulich verstanden, der Begriff bezieht sich gleichsam lokal auf das Territorium der Republik Venedig, d.h. neu kann sein, was vorher in Venedig noch nicht hergestellt oder angewandt wurde (im Originaltext: „non facto par avanti nel dominio nostro“). Bereits exis19 Vgl. Berkenfeld 1949. Forschungsgeschichtlich interessant ist hier, dass die scientific community hiervon erst seit den 1930er Jahren Kenntnis hat – dank der Archivfunde und Publikationen Giulio Mandichs (vgl. zuerst Mandich 1936, siehe ferner 1948, 1958, und 1960). 20 Für den kompletten Wortlaut der deutschen Übersetzung siehe Berkenfeld 1949: S. 140f.
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tentes Wissen um eine Erfindung in Venedig und/oder anderswo wirkt sich somit nicht neuheitsschädlich aus, sondern stellt im Gegenteil gerade einen standortpolitischen Anreiz dar, die Diffusion der neuen „Kunst“ nach Venedig zu motivieren.21 Mit Blick auf die norditalienische Patentprivilegienpraxis des 15. und 16. Jahrhunderts halten wir fest, dass es sich um einen evolutionären Sonderfall handelt, bei dessen Beschreibung man zwei wichtige Sachverhalte nicht übersehen darf. Erstens darf der verwaltungsförmige Charakter der Erteilung eines Patentprivilegs nicht darüber hinweg täuschen, dass die Förderung und Prämierung der Herstellung von neuem und nützlichem Wissen in den meisten Regionen noch für Jahrhunderte eine Angelegenheit von Hofpatronage war, d.h. dem Prärogativ eines politischen Souveräns vorbehalten und somit ein unregelmäßiger, nicht formalisierter Akt blieb.22 Zweitens war die Konzession eines Patentprivilegs primär in opportunistische Kalküle und politisch-wirtschaftliche Zweckerwägungen des venezianischen Senats eingebettet, d.h. sie war vor allem eine Frage der situativ gegebenen Nützlichkeit einer Erfindung. Von einem stabilen Rechtsanspruch, der sich auf eine rigide Anwendung und Durchsetzung des objektiven Kriteriums (absoluter) Neuheit hätte verlassen können, kann auch im Fall des venezianischen Senatsbeschlusses keine Rede sein. Als ein weiterer Meilenstein in der Durchsetzung von (nützlicher) Neuheit als Prämisse der Erteilung von Erfindungsprivilegien gilt das im 17. Jahrhundert in Großbritannien vom britischen Parlament erlassene „Statute of Monopolies“ (1623). Dessen Hauptfunktion bestand darin, mit der zunehmend ausufernden Monopol- und Privilegienpraxis der englischen Krone zu brechen – das Statut nahm allerdings Privilegien für „any manner of new manufacture“ hiervon explizit aus: „Provided also (and be it declared and enacted) that any declaration before mentioned shall not extend to any letters patent and grants of privilege for the term of fourteen years or under, hereafter to be made, of the sole working or making of any manner of new manufacture within this realm to the true and first inventor and inventors of such manufac21 Ein 1469 Johannes von Speyer erteiltes Patentprivileg für die Herstellung von Druckerzeugnissen mag dies veranschaulichen. Dessen „Druckkunst“ war, wie auch in Venedig bekannt war, zuvor vor allem im deutschen Raum verbreitet und auch schon von Gutenberg wirtschaftlich genutzt worden. Entscheidend für die Erteilung des Privilegs war aber einzig und allein der wirtschaftsstimulierende Wert, den man sich in Venedig von der neuen Technologie erhoffte (vgl. Kurz 2000: S. 50ff.). 22 Vgl. hierzu überblickend die Beiträge in dem Sammelband Moran 1991.
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tures, which others at the time of making such letters patent and grants shall not use, so as also they be not contrary to the law nor mischievous to the State, by raising prices of commodities at home, or hurt of trade, or generally inconvenient“ (zitiert nach Mossoff 2000: S. 1272).
Auch hier werden Priorität und Neuheit zur Prämisse für die Gewährung eines Privilegs erhoben. Insbesondere aufgrund der expliziten Nennung des „true and first inventor“ wurde das Monopolstatut im Rückblick als „magna charta“ der Erfinderrechte (so Kohler 1900: S. 19) gewürdigt. Das „statute“ diente zum einen als repräsentatives Symbol des Bruchs mit der despotisch-willkürlichen Monopolpraxis der englischen Krone und wurde zum anderen als Startpunkt der langen britischen Patentrechtstradition gefeiert.23 Einige Autoren lehnen das Argument ab, dass das Monopolstatut den takeoff zu einem modernen Patentgesetz markiert hat. Sie argumentieren, dass es sich beim Statut um nicht mehr als eine deklaratorische Zusammenfassung einer sich während des 16. Jahrhunderts bereits eingespielten Privilegienerteilungspraxis handelte, die nicht mit einem rechtlich-positivierten Erfindungsschutz verwechselt werden dürfe. Fritz Machlup macht diese Kritik vor allem an dem sowohl vor als auch nach der Erlassung des Status beobachtbaren Neuheitsverständnis fest. Er weist darauf hin, dass es sich um einen pragmatisch, zweckmäßig gehandhabten Neuheitsbegriff gehandelt habe, dessen Anwendung keinesfalls ausschließlich als Belohnung des „true inventor“ oder als stabiler Rechtsanspruch aufgefasst werden könne. In Analogie zu anderen Territorien, die das Institut der Privilegien kannten – etwa Venedig – waren nämlich auch gemäß des Monopolstatuts Erfindungsprivilegien und Einführungsprivilegien gleichgestellt (vgl. Machlup 1964). Auch beim englischen Privileg handelt es sich demnach nicht um ein subjektives Recht, das positive Geltung hat, sondern um ein eher ad hoc eingesetztes gewerbepolitisch motiviertes Instrument, mit dem die wirtschaftliche Ausführung von Erfindungen und vor allem der Import von auf der Insel noch unbekannten „manufactures“ gefördert werden sollte.24 23 Turner beschreibt das Monopolstatut beispielsweise emphatisch und bildreich als „first germ of the Patent Law, springing forth from the destruction of despotic privilege, like the young tree from the ruined feudal castle“ (1848, zitiert nach Dutton 1984: S. 17); vgl. überblickend auch Dent 2006. 24 Siehe hierzu eine Fallentscheidung eines britischen Gerichts von 1691: „If the invention be new in England, a patent may be granted though the thing was practised beyond the sea before; for the statute speaks of new manufactures within this realm; so that, if they be new here, it is within the statute; for the act intended to encourage new
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Privilegien und gesellschaftliche Evolution Insbesondere Einführungsprivilegien stellten eine institutionelle Bedrohung für die seit Jahrhunderten gewachsene Ordnung der Handwerkskorporationen, Zünfte und Gilden dar.25 Diese etablierten Statusgruppen sahen sich regelmäßig mit dem vom politischen Souverän protegierten Import von Innovationen durch Fremde konfrontiert.26 Diese doppelte Irritation in der Sach- und Sozialdimension – es taucht ein (verdächtiger) Fremder auf und bringt zudem technischwirtschaftliche Neuheiten mit – konnte in den statischen Rollen- und Produktionsregimen lokaler Korporationen nicht als (positive) Neuheit seligiert, sondern musste als abweichend und (potenziell) schädlich für die Kohäsion des lokalen Sozialzusammenhang abgewiesen werden. So wurden z.B. noch im Großbritannien des frühen 18. Jahrhunderts, das bereits gewohnheitsrechtliche Züge der Erteilung von Patenten kannte, Patentprivilegsgesuche von Ausländern häufig aufgrund protektionistischer Motive abgewiesen oder Patente erfolgreich von (Londoner) Handwerkskorporationen angefochten. Beispielsweise ersuchten der Genfer Mathematiker Nicolas Facio und die aus Frankreich geflohenen Uhrenmacher Pierre und Jacob Debaufre in England zu Beginn des 18. Jahrhunderts um ein Patent für eine Uhr mit einer Drehlagerung. Die Londoner Clockmakers Company begründete ihren Einspruch gegen dieses Patentprivileg wie folgt: „If such Watches as these Persons pretend to make should come into use, all other watches will be undervalued, and consequently few or none of them will be made, and all the Workmen now imploy’d therein must become Servants or Tributary to these French Patentees or go into Foreign Parts to exercise their trades“ (zitiert nach Landes 1983: S. 138, Herv. i. O.).
devices, useful to the kingdom, and whether learned by travel or by study it is the same thing“ (zitiert nach Walterscheid 1993: S. 698, Herv. C.M.). 25 Vgl. Belfanti 2004, der allerdings auch die wesentliche Rolle der Handwerksgilden bei der Kodifizierung und Tradierung von Wissen hervorhebt; vgl. auch Vardi 1988, Kieser 1989; zum „Ende der Zünfte“ siehe die Beiträge in Haupt 2002 und zur „Zersetzung der Zünfte“ klassisch Weber 1923: S. 140ff. 26 Häufig zitiert als Beispiel für Neuheitsaversion wird die „Thorner Zunfturkunde von 1523: „Kein Handwerksmann soll etwas Neues erdenken, erfinden oder gebrauchen, sondern jeder soll aus bürgerlicher und brüderliche Liebe seinem Nächsten folgen und sein Handwerk ohne des nächsten Schaden treiben“ (zitiert nach Lütge 1976: S. 360).
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Diese tiefliegende strukturelle Aversion gegenüber technischen Neuheiten lässt sich in vielen Regionen Europas noch im 18. Jahrhundert beobachten und erhält zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch die „Maschinenstürmer“ eine neue, radikalisierte Note (vgl. Sieferle 1984, Spehr 2000). Im Rückblick wirken diese Widerstände gegen Neuheiten und technischen Fortschritt als hilfloses Festhalten an einer statischen, buchstäblich konservativen gesellschaftlichen Ordnung, deren Zerfall sich – rückblickend betrachtet – immer deutlicher abzeichnet. Der Erfinder und insbesondere der Importeur von Erfindungen befand sich somit zur damaligen Zeit in einem strukturellen Spannungsfeld zwischen der Protektion und Patronage durch den politischen Souverän und sozialer Abweisung durch die etablierten korporativen Statusgruppen. Er war insofern einerseits Nutznießer einer privilegierten Inklusion und andererseits Opfer von Exklusion und Marginalisierung.27 Am Privileg lassen sich somit sowohl strukturelle Charakteristika der stratifikatorischen Gesellschaft als auch Übergangs- und Auflösungsphänomene beobachten. Das Privileg ist einerseits noch nicht als Recht ausdifferenziert; als politisches (merkantilistisches) Steuerungsinstrument, das sehr eng an Nützlichkeitserwägungen des politischen Souveräns (Raison) rückgebunden bleibt und auf keinen Fall den Staatszwecken abträglich („mischievous to the State“, s.o.) sein darf, wird es in seinen potentiellen Entfaltungsmöglichkeiten beschnitten. Das Privileg ist noch eine hybride Mischung aus Ausschließlichkeit- und Erlaubnisnorm, es trennt noch nicht deutlich zwischen Rechten und Pflichten.28 Patentfähigkeit kann sich somit noch nicht als autonomer, positiv geltender Kom-
27 Hier deuten sich Möglichkeiten einer fruchtbaren Verknüpfung mit der Soziologie des Fremden an; vgl. Stichweh 1992, 2010. Eine weitere Figur des evolutionären Übergangs, die Überschneidungen mit dem Erfinder-Importeur aufweist, ist die des Projektemachers, vgl. hierzu die Beiträge in Krajewski 2004, insbesondere Krajewski 2004a, der Daniel Defoe’s „Essay upon projects“ (1697) zitiert: „A mere Projector [„mere Projector“ im Gegensatz zum „honest projector“, C.M.] then is a Contemptible thing, driven by his own desperate Fortune tu such a Streight, that he must be deliver’d by a Miracle or Starve; and when he has beat his Brains for some such Miracle in vain, he finds no remedy but to paint up some Bauble or other, as Players make Puppets talk big, to show like a strange thing, and then cry it up for a New Invention, gets a Patent for it, divides it into Shares, and they must be Sold“ (Krajewski 2004: S. 14, Herv. C.M.). 28 „Negative Drittwirkung und persönliche Berechtigung bilden die beiden Seiten der Medaille Privilegium“ (Mohnhaupt 1984: S. 46).
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munikationscode entwickeln, der sich von anderen funktionalen Imperativen, insbesondere politischer Herkunft, hätte lösen können. Andererseits sind mit der Neuheitsprämisse und der zweckmäßigen Orientierung an wirtschaftlicher Nützlichkeit bereits zwei wichtige strukturelle Merkmale des späteren Patents im Privileg verankert. Neuheitserfordernis und wirtschaftlicher Bezug setzen sich im Übergang zur funktional differenzierten Gesellschaft in Analogie zu anderen Systemen (Zeitungen verbreiten Neuheiten an zahlende Leser; Künstler produzieren neue Werke für einen Markt; Wissenschaftler produzieren für die Verlagspresse) auch nach und nach beim Privileg durch. Das Privileg steht somit exemplarisch dafür, wie eine ständischhierarchisch eingebettete soziale Form aufgrund einer sich aus politischpragmatischen Motivlagen speisenden Präferenz für Neues in Konflikt gerät mit neuheitsaversiven, immobileren Ordnungsgefügen, die Innovationen entweder pauschal zu unterdrücken oder unter ihre eigene Kontrolle zu bringen versuchen. Die parallele Positivwertung von Neuheiten in der Wissenschaft, in der aufkommenden Presse (Massenmedien), der Wirtschaft und insbesondere auch in der Kunst setzt die überkommene gesellschaftliche Ordnung unter zunehmenden Druck. Diese funktionalen Kontexte begünstigen und prämieren auf verschiedene Art und Weise die Hervorbringung von Neuheiten und distanzieren sich und damit die entstehende moderne Gesellschaft in diesem Prozess immer mehr vom strukturellen Konservatismus der stratifizierten Gesellschaft. (Tab. 3). Das frühneuzeitliche Patentprivileg könnte somit auch als ein trojanisches Pferd funktionaler Differenzierung begriffen werden: Es scheint äußerlich die tradierte Ordnung zu reproduzieren, trägt allerdings bereits ein sich zu entfalten beginnendes ‚subversives Potential‘ in sich. Tabelle 3: Neuheit in frühneuzeitlichen Funktionskontexten Funktionale Domäne
Neuheitstypus
Kunst/Literatur
Schöne/ästhetische Neuheiten (Kunstwerke)
Wissenschaft
Wahre Neuheiten (Erkenntnisse)
Patentprivileg
Nützliche Neuheiten (Erfindungen)
Wirtschaft
Absatzfähige Neuheiten (Innovationen)
Presse/Massenmedien
Berichtenswerte Neuheiten (Nachrichten)
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Für den Moment halten wir mit Blick auf unser Leitproblem der Ausdifferenzierung des Systems aber noch einmal die Erkenntnis fest, dass es sich bei Privilegien um keinen Systemzusammenhang im von uns zu Grunde gelegten Sinne des Begriffs handelt. Aufgrund der engen Einkapselung des Privilegs in das ständisch-hierarchische Ordnungsgefüge und insbesondere auch der Begrenztheit des Neuheitsverständnisses kann sich kein universales Privilegiensystem ausdifferenzieren, für das im Rückblick erkennbar wäre, dass zunehmend und ab einem bestimmten Zeitpunkt ausschließlich nach eigenen Prämissen operiert wird und Privilegien unter Rück- und Vorgriff auf andere, beliebig sozial und räumlich distribuierte Privilegien vergeben würden. Es ist noch keine strukturelle Klammer erkennbar, welche die Vielzahl der einzelnen lokalen Akte, die jeder für sich der Erteilung und den Wirkungen eines Patents in einer Reihe von Hinsichten ähneln, auf einer neuen Ebene der Selbstorganisation zu einer kommunikativen Einheit verweben würde. Es herrscht eine nicht überschaubare Zahl an lokalen Kulturen der Privilegierung von Erfindern vor, die aber noch nicht zu einem autonomen, universalen Systemgeschehen gehören, sondern sich in ihrer je unterschiedlichen Einbettung in lokal-regionale ständisch-korporative Kontexten idiosynkratisch entwickeln. Auch wenn initiale Ansätze einer Distanzierung von Stratifikation erkennbar sind, fehlen für ein Zusammenwachsen zu einem übergeordneten System noch infrastrukturelle Errungenschaften, mit denen die im Privileg angelegten sachspezifischen Sinnbezüge zu einem autonomen funktionalen System ausgearbeitet werden könnten. Der nächste Abschnitt arbeitet heraus, inwiefern die Emergenz der Patentschrift in dieser Hinsicht Wesentliches leistet.
A USDIFFERENZIERUNG : U MSTELLUNG SCHRIFTBASIERTE Ö FFENTLICHKEIT
AUF
Leitthese In der frühen Neuzeit wurden Privilegien lateinisch mitunter auch „litterae patentes“ genannt. In diesen offenen Schutzbriefen, die ein Privilegierter innerhalb des ihm vom Landesfürst garantierten Schutzterritoriums als Beweisdokument mit sich führte und vorzeigte, liegt die Wurzel für die spätere Bezeichnung von Schutzrechten für Erfindungen als Patente.29 In diesen buchstäblich verbrief29 „Patentes“ leitet sich ab von „patens“ bzw. „patere“, was so viel bedeutet wie „offen stehen; offenkundig sein“; vgl. als etymologische Studie Köbler 2008: S. 505ff. Im
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ten Rechten lassen sich frühe Formen von Schriftlichkeit und Öffentlichkeit identifizieren, welche bereits den in der Schrift angelegten Gewinn an Mobilität und Adressabilität von Informationen, hier: die Zurechnung einer exklusiven Ausführungsbefugnis, nutzten. Dieser frühneuzeitlichen Lage steht die gegenwärtige Situation gegenüber, die wir im letzten Kapitel umrissen hatten. Wir können heute von einer universalen Öffentlichkeit ausgehen: Patentinformationen sind prinzipiell unbegrenzt zugänglich und unbegrenzt relevant. Weltpatentöffentlichkeit lässt sich im Patentsystem von nahezu jedem Ort beobachten und herstellen: Das System findet seine funktionale Autonomie in einem weltweiten Zusammenhang von Patentansprüchen und Erfindungen vor dem Horizont des universellen Stands der Technik (absoluter Neuheitsbegriff). Im Folgenden werden wir genauer die strukturellen Bedingungen der Möglichkeit der Entstehung dieser radikalisierten Öffentlichkeit herausarbeiten. Die unsere Überlegungen leitende evolutionstheoretische These ist, dass der Durchsetzung der Patentschrift(lichkeit) sowie später hinzutretenden infrastrukturellen Faktoren der Zugänglichkeit von Patentschriften hier eine alles überragende Bedeutung zukommt. Die Patentschrift und deren öffentliche Zugänglichkeit ist sowohl Bedingung als auch Garant eines sich verselbstständigenden Prozesses des „Aneinander-Halt-Findens“ von Sachspezifik und Universalität, mit anderen Worten: der Ausdifferenzierung eines autonomen Patentsystems, das sich auf einer öffentlichen Ebene der Beobachtung von Patentinformationen integriert. Wir schließen somit an die allgemeinere medien- und evolutionstheoretische These an, dass die Durchsetzung von Schriftlichkeit zu einer vollkommen neuen Form gesellschaftlicher Selbstorganisation führt.30 Die darauf aufbauende Annahme, dass dem Buchdruck, insbesondere in seinen technischen avancierteren Formen, eine überragende Bedeutung für den Umbau einer geschichteten Gesellschaft in eine primär nach Sachgesichtspunkten differenzierten, d.h.: funktional differenzierten Gesellschaft zu kommt, gehört zu den wenigen sozial- und geisteswissenschaftlichen Thesen, die mit einem transdisziplinären Konsens rechnen können.31 Historisch interessierte Arbeiten über Geistiges Eigentum nehmen diese Thesen auf, spitzen sie allerdings in der Regel ganz anders, nämlich dahingehend zu, dass sie die Entstehung von Schutzrechten, insbesondere des Urheber-
Französischen haben sich der Begriff brevet (d’invention) und entsprechende Derivate wie brevetabilité durchgesetzt. 30 Siehe etwa Ong 1987, Goody 1990, Havelock 1990. 31 Vgl. als bekannteste Monographien Eisenstein 1979 zum Buchdruck als „agent of change“ und Giesecke 1991 zum Buchdruck als „Katalysator neuen Wandels“ (S. 21).
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rechts, als rechtliche Reaktion auf den durch die explodierende Verfügbarkeit von Druckerzeugnissen gestiegenen wirtschaftlichen Regulierungsbedarf sehen. Das Recht am Geistigen Eigentum – so cum grano salis der common sense – musste entstehen, weil der Nachdruck von Büchern derart verbreitet geworden war, dass Autoren und Originalverleger um eine angemessene wirtschaftliche Kompensation ihrer Vorinvestitionen gebracht wurden.32 Was unserem Kenntnisstand nach aber fehlt, sind Arbeiten, welche den Einfluss der Durchsetzung von Druckschriftlichkeit auf Urheber- und Patentrechte selbst, d.h. unabhängig von dem ihnen zugedachten wettbewerbsregulierenden Zweck, zum Thema machen würden. Wir stoßen somit auch hier auf eine Forschungslücke, deren Ursachen mit den im zweiten Kapitel näher eingekreisten Prämissen des konventionellen Denkens über Patente verknüpft sind. Man kann immaterielle Schutzrechte im Allgemeinen und vor allem auch das Patentrecht im Speziellen fast ausschließlich nur als etwas denken, das als Reaktion auf technologische Umwälzungen zu evolutionären Anpassungszwecken entsteht. Wir wollen demgegenüber im Folgenden andeuten, wie das Patentsystem im Kielwasser sich durchsetzender (Druck-)Schriftlichkeit und damit öffentlich verfügbarer Patentschriften als ausdifferenziertes, autonomes System selbst erst evolutionsfähig wird.33 Bei der Ausführung dieser These wird es uns demnach darum gehen vorzuführen, dass Schriftlichkeit und Öffentlichkeit des Patents mit der Ausdifferenzierung der rechtlichen Funktion des Patents in einem kointensiven evolutionären Zusammenhang stehen, d.h. sich vor allem auch aus Erfordernissen des Rechts selbst als spezifisch patentrechtlicher Kommunikationsstil entwickeln.
Zwischen Privileg und Patent: Die Ausgangslage Auch wenn sich bereits im Laufe des 17. Jahrhunderts in Großbritannien im Rahmen des „statute of monopolies“ eine gewohnheitsrechtliche Kontinuität im (schriftlichen) Beantragen und Erteilen von Patenten eingestellt hatte, werden die in der technisch verfügbaren Schriftlichkeit liegenden Komplexitätschancen (zunächst) nicht ausgereizt. Patentieren bzw. das Ersuchen von Patentprivilegien gestaltet sich als ein statisches, adhokratisches und hierarchisches Geschehen. 32 Vgl. überblickend zur Debatte über den Büchernachdruck Gieseke 1995. 33 Elizabeth Eisenstein nimmt eine ähnliche Position ein: „Laws pertaining to licensing and privileges have been extensively studied. But they have yet to be examined as byproducts of typographical fixity“ (Eisenstein 1979: S. 120).
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Zwar wurden etwa in Großbritannien Patentgesuche schon seit langem in Form schriftlicher Gesuche eingereicht und Patentrechte häufig auch in Form von Patenturkunden schriftlich fixiert, allerdings sind diese Kommunikationsformen noch eingebettet in mündlich-interaktiv integrierte soziale Settings, die auf Personenvertrauen, persönlicher Bekanntschaft und dem persönlich gebundenen Wissen und Erinnern von beteiligten Akteuren aufruhen. Dies lässt sich an zeitgenössischen Patentanmeldungen ablesen, die – im Lichte heutiger Maßstäbe – sehr unvollständig waren und kaum eindeutige Zurechnungen auf Inhaber von Patenten und Privilegien durch unbekannte Dritte erlaubten: „Restoration patentees were extremely reticent about themselves: only 27 per cent mentioned their occupation or place of residence. Most probably thought it otiose to supply such information, being sufficiently well known at Court“ (MacLeod 1988: S. 116, Herv. C.M.).
Dem kommunizierten Anspruch, etwas erfunden bzw. importiert zu haben, das in England zuvor noch nicht in Gebrauch gewesen war, wurde in aller Regel treu guten Glaubens stattgegeben: „Novelty was generally taken on trust“ (ebd.: S. 41). Das persönliche, in der Bekanntschaft von Patentanmelder und Patentgaranten fundierte, Personenvertrauen dominiert; von einem anonymisierten, generalisierten Systemvertrauen lässt sich für den damaligen Zeitpunkt nicht sinnvollerweise sprechen.34 Diese wenig abstrahierte, auf Bekanntschaft und ‚Hören-Sagen‘ beruhende Ordnung geht einher mit sehr begrenzten Möglichkeiten der Partizipation an Patentkommunikation. Die Inklusionsschwellen werden z.B. in Großbritannien durch ein extrem langwieriges, statisches und kostenaufwendiges Patenterteilungsverfahren hoch gehalten, das vor allem sozial und/oder räumlich peripher angesiedelte Akteure bei ihren Ansinnen auf Teilhabe am System permanent frustriert. Kommunikation von und über Patentinformationen war hochzentralisiert (London, Paris, Washington) und ohne räumliche und soziale Nähe zu relevanten Akteuren, insbesondere den politischen und (zunehmend wichtiger wer-
34 „Normally, the scrutiny of a petitioner’s claims went no further than hearing his verbal assurance of novelty – supplemented, from around 1707, by the presentation of a sworn affidavit (of affirmation by Quakers) to that effect“ (MacLeod 1988: S. 42); zur Unterscheidung von System- und Personenvertrauen vgl. allgemein Luhmann 2010.
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denden) administrativen Entscheidern, war eine Teilhabe am Geschehen zum Teil entmutigend aufwendig und sehr häufig zur Erfolglosigkeit verurteilt.35 Dem noch stark personalisierten, man könnte formulieren: sozial überspezifizierten Adress- und Attributionsraum entspricht eine Unterspezifikation von Patentinformationen in der Sachdimension. Das durch Patentprivilegien geschützte Wissen ist zum Teil kaum eindeutig offenbartes oder nur sehr idiosynkratisch beschriebenes Wissen. Es handelt sich zumeist nicht um präzise, eingrenzbare Darstellungen technischer Erfindungen, sondern häufig um einen Mix der Beschreibung technischer Neuerungen und produktbasierter Marktinnovationen (art, trade, manufacture). In den verfügbaren Patentdokumenten der damaligen Zeit findet man entsprechend kaum technisch stilisierte Ausführungen, sondern vor allem Rhetoriken, die den Vorteil der Gewährung eines Patentprivilegs für den Staat oder den politischen Souverän bisweilen schmeichlerisch herausstreichen. Argumentiert wird also nicht in Richtung eines technischen Vorteils gegenüber den Beiträgen Dritter, sondern mit den aus der Neuheit und Nützlichkeit entstehenden Vorteilen für den Erteiler des Patents, d.h. den politischen Entscheider. Zunächst gilt demnach nach wie vor: Man orientiert sich am Souverän, nicht am System. Diese statische, sozial überintegrierte und sachlich wenig spezifizierte Gemengelage von Patentkommunikationen verändert sich im Laufe des 18. Jahrhunderts immer mehr in Richtung einer autonomen, funktional spezifizierten und öffentlichen Ordnung, d.h. beginnt, Konturen eines Patentsystems anzunehmen: Wie war das möglich?
Anlaufen von Patentschriftlichkeit Weite Teile des 18. Jahrhunderts könnten in einer historischen Betrachtung des Patents relativ leicht untergehen, denn die großen patentgeschichtlichen ‚Paukenschläge‘ in Form der Verabschiedung der Patentgesetze in den USA und 35 Diese erschwerenden Begleitumstände hielten noch bis weit in das 19. Jahrhundert nicht nur in England, sondern z.B. auch in Preußen an (vgl. hierzu Heggen 1974, 1977). Literarische Berühmtheit hat in diesem Zusammenhang die 1850 erschienene Kurzgeschichte „A Poor Man’s Tale of a Patent“ erlangt, in dem der an der englischen Patentrechtsreform arbeitende Charles Dickens (dem Anschein nach angeregt durch Erzählungen seines Bekannten Henry Cole) in grotesker Form die bisweilen absurden bürokratischen Hürden, die bis zur Erteilung eines Patents zu nehmen waren, schildert (vgl. Kurz 2000: S. 188ff.; Phillips 1984).
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Frankreich ertönen schließlich erst kurz vor Ende dieses Jahrhunderts und die industrielle Revolution – in der Regel für Wirtschaftshistoriker der primäre analytische Referenzpunkt für das Patentsystem – beginnt zumindest in Kontinentaleuropa erst nach der Wende zum 19. Jahrhundert ‚unter Volldampf‘ zu laufen. Ein Blick auf englische Patentwachstumsraten ließe sich dann auch als Bestätigung einer solchen Einschätzung lesen. Abb. 11 dokumentiert das mit einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate von ca. 4,2% zwar bemerkenswerte, aber relativ zum wirtschaftlichen Wachstum nicht sehr spektakuläre Wachstum des Patentsystems zwischen 1750 und 1830; das Wachstum bewegt sich gemessen an heutigen Zahlen zudem auf einem sehr geringen absoluten Niveau. Abbildung 11: Patentanmeldungen in Großbritannien: 1750-1850 50'000 40'000 30'000 20'000 10'000 '0
Die Wachstumsrate erhöht sich erst mit Beginn des zweiten Drittels des 19. Jahrhunderts auf einem deutlich höheren Ausgangsniveau: Während 1750 ca. 100 Patente in Kraft sind, sind es im Jahr 1800 bereits annähernd 900 und im Jahr 1850 deutlich mehr als 6.000.36
36 Vgl. zu den Zahlen Dutton 1984, Appendix C für die jährlichen Daten (Wachstumsraten: eigene Berechnung); wir haben die Daten für Darstellungszwecke zu Jahrzehnten (z.B. 1750-1759) aggregiert. Methodisch ist zu beachten, dass es sich um die potenzielle Anzahl von in Kraft befindlichen Patenten handelt. Eine Reihe dieser Patente mag formal gegolten haben, dürfte aber bereits nach zwei bis drei Jahren aufgegeben worden seien. Als illustrativer proxy für die Grundlinien der Entwicklung dürften die Zahlen jedoch genügen.
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Folgerichtig werden von Wirtschaftshistorikern die vor allem bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts stark ansteigenden Patentanmelderaten häufig als Indikator für den engen Zusammenhang zwischen „Hochindustrialisierung“ und technischer Evolution in Anspruch genommen. Aus einer solchen meistens immer schon auf die Beobachtung der (Hochzeit der) Industrialisierung fokussierten Perspektive lässt sich feststellen, dass das Patentsystem erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts den entscheidenden Schritt zu einem wesentlichen wirtschaftlichen Faktor macht: die Vorgeschichte dieses Wachstums im 18. und früherem 19. Jahrhundert kann dann ohne weiteres vernachlässigt werden. Richten wir jedoch den Blick zurück auf das Patentsystem und bewahren uns ein Interesse für die infrastrukturellen Bedingungen der Patentkommunikation selbst, dann lässt sich zeigen, dass sich hinter dem unscheinbar anmutenden Wachstum des Patentsystems in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine radikale Strukturtransformation verbirgt, ohne die das spätere sprunghafte Wachstum im Kontext der über Europa hereinbrechenden industriellen Revolution gar nicht denkbar gewesen wäre. Dieser Strukturwandel – so unsere evolutionstheoretische Hauptthese – verdankt sich vor allem der Durchsetzung von Patentschriftlichkeit und der darin angelegten Öffentlichkeit von Patentwissen und Patentansprüchen. Während um 1700 die schriftliche Offenbarung (disclosure) einer Erfindung noch unüblich war, wird es im Laufe des 18. Jahrhunderts in Großbritannien zur Regel, vom Schutzsuchenden eine detaillierte, schriftliche Beschreibung seiner Erfindung zu verlangen.37 Edward W. Hulme hat die vor allem am Beispiel Englands gut beobachtbaren Anfänge der Umstellung in mehreren Beiträgen detailliert beschrieben. Er schreibt zum historischen Hintergrund der anlaufenden Durchsetzung der „patent specification“: „So long as the monopoly system aimed at the introduction of new industries such as copper, lead, gold and silver mining, or the manufacture of glass, paper, alum etc. etc., the requisition of a full description would have required a treatise rather than a specification [...]. But when, by natural development, the system began to be utilised by inventors working more or less on the same lines for the same objects, the latter for their own protection draughted their applications with a view of distinguishing their processes from those of their immediate predecessors, and of ensuring priority against all subsequent ap37 Laut Hulme wurde in Großbritannien zum ersten Mal 1663 die Offenbarung einer Erfindung verlangt, doch der Erfinder Garill weigerte sich, seine Erfindung preiszugeben: „The nature of the invention is obscure, and, indeed, the secret died with the inventor; for the proceedings end abruptly with Garill’s refusal to disclose his invention to the King and Council“ (Hulme 1917: S. 65).
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plicants […] These recitals, therefore, while forming no part of the consideration of the grant, are undoubtedly the precursors of the modern patent specification“ (Hulme 1897: S. 317).
Das Zitat gibt einen ersten wichtigen Hinweis zu den Hintergründen der Entstehung des Bedarfs für eine präzise schriftliche Dokumentation von Patentwissen. Hulme spielt auf das beschleunigte Wachstum technischen Wissens und die einsetzende interne Differenzierung von wissenschaftlichen und technischen Feldern an, die von einer zunehmenden Zahl von „inventors“ besetzt und voran getrieben werden. Diese Entwicklung verdankt sich einem vielschichtigen Ursachenkomplex, dem man sicherlich weder mit dem schlichten Verweis auf „Industrialisierung“ noch mit der etwas hilflosen Hulmeschen Formulierung „by natural development“ gerecht werden kann. Wir können uns an dieser Stelle nicht in einer tiefergehenden Diskussion verlieren, sondern benennen lediglich zwei Faktoren, welche aus einer differenzierungs- und kommunikationstheoretischen Perspektive für die starke Zunahme der Komplexität und Spezialisierung technischen Wissens besonders ausschlaggebend gewesen sein dürften.38 Erstens denken wir an die sich immer weiter entwickelnde druckschriftliche Zugänglichkeit des im Zuge der Durchsetzung von experimenteller Wissenschaft immer schneller produzierten technischen und wissenschaftlichen Wissens.39 Zweitens ist insbesondere die Ausdifferenzierung kapitalbasierter Wirtschaft zu nennen, mit der sich das Hervorbringen technischer Neuheiten verstärkt an die in der wirtschaftlichen Konkurrenz angelegte Intensivierung wechselseitiger Beobachtung und der Geschwindigkeit des Auswechselns von Rentabilitätskalkülen koppelt (vgl. hierzu dezidiert Luhmann 1980: S. 255). Insgesamt wird die Entwicklung von technischem Wissen dann immer interdependenter, spezialisierter und kleinschrittiger. Es ist diese bereits im Laufe des 18. Jahrhunderts stark anschwellende Komplexität des verfügbaren technischen Wissens, welche den wirtschaftlichen Hintergrund für die Transformation des traditionellen Patentpri38 Als Überblick zur „industrial revolution“ siehe Landes 1969; vgl. auch Headrick 2000 zur Evolution der „technologies of knowledge“ zwischen 1700 und 1850. 39 Mit dem „journal des sçavants“ und den „Philosophical Transactions“ waren bereits im 17. Jahrhundert die ersten periodischen Publikationsorgane entstanden; allerdings ist das 18. Jahrhundert noch stark von der Enzyklopädie geprägt: zwischen 1750 und 1781 erscheinen etwa die 35 Bände des bekanntesten Repräsentanten der Hochphase der Universalenzyklopädien, nämlich der von Denis Diderot und Jean Baptiste le Rond d’Alembert edierten «Encyclopédie (,ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers)»; vgl. hierzu einschlägig Darnton 1979.
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vilegs abgibt. Es wird dann sowohl zunehmend attraktiv, einen exklusiven Rechtsschutz zu bekommen als auch schwieriger, ihn aufrecht zu erhalten, weil man sich immer weniger sicher sein kann, effektiv Priorität für seine technische Neuheit reklamieren zu können. Für eine dogmatische Konsolidierung dieses Trends zur schriftlichen Offenbarung sorgen in England zwei Entscheidungen des berühmten Richters Lord Mansfield.40 Dieser verfügte in zwei Urteilen von 1778 und 1785, dass ein Erfinder nur dann ein Recht auf ein Patent beanspruchen dürfe, wenn er die Erfindung ausreichend detailliert offenbare und somit die Öffentlichkeit an seiner Erfindung teilhaben lasse. Gemäß der Urteilsbegründung musste der Erfinder „disclose his secret and specify his invention in such a way that others may be taught by it to do things for which the patent is granted, for the end and meaning of the specification is to teach the public after the term for which the patent is granted what the art is, and it must put the public in the possession of the secret in as sample and beneficial way as the patentee himself uses it. This I take to be clear law […] If the specification in any part of it be materially false or detective, the patent is against law and cannot be supported“ (zitiert nach Dutton 1984: S. 75).41
Dieser sich zunächst im englischen Common Law schon auf längerfristiger Basis durchsetzende Umschwung auf Öffentlichkeit im Medium der schriftlichen „patent specification“ lässt sich indes auch für Frankreich nachweisen. Das im Zuge der französischen Revolution nahezu zeitgleich mit dem US-amerikanischen Gesetz entstehende französische Patentgesetz (USA: 1790, Frankreich: 1791) kodifizierte die Öffentlichkeit des Patents wie folgt: 40 Sir William Murray, Earl of Mansfield („Lord Mansfield“), gilt als einer der einflussreichsten britischen Richter des 18. Jahrhunderts und als maßgeblicher Entwickler des britischen Common Law. Besondere Aufmerksamkeit hat seine Entscheidung im „Somerset trial“ erlangt, die den rechtsdogmatischen Boden für die Abschaffung der Sklaverei bereitet hat (vgl. hierauf zugeschnitten Wise 2005); siehe zur Person Mansfields die Studie von Oldham 2004. 41 Vgl. auch Adams/Averley 1986 zum Hintergrund der Urteile, insbesondere am Beispiel des häufiger zitierten ersten Falls „Liardet vs. Johnson“; zu Mansfields wirtschaftsrechtlichem Grundverständnis vgl. Atiyah: „On the Bench, Mansfield’s objective with regard to commercial law was to make the law more serviceable to the commercial community. That meant that it must become more rational, more intelligible, more predictable, and more just according to the standards of the mercantile world“ (Atiyah 1979: S. 122).
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„Il sera libre à tout citoyen d’aller consulter, au secrétariat de son département, le catalogue des inventions nouvelles; il sera libre, de même, à tout citoyen domicilié de consulter, au dépot général établi à cet effet, les spécifications des différentes patentes actuellement en exercise“ (Art. 11, Abs. 1, zitiert nach Beier 1977: S. 285).
Die besondere Bedeutung der Durchsetzung von Patentschrift und Öffentlichkeit für die Entstehung des modernen Patentsystems wird von Patent- und Wissenschaftshistorikern ausdrücklich und bisweilen emphatisch hervorgehoben. Roger Hahn spricht in seiner Monographie zur Pariser Akademie der Wissenschaften hinsichtlich des zitierten Plans, ein öffentliches Patentarchiv einzurichten, beispielsweise von der „embryonic idea of the modern patent system, by which a limited monopoly is granted in exchange for placing the invention in the public domain“ (Hahn 1971: S. 67). Dutton argumentiert in einem ähnlichen Duktus und beschreibt den Wandel als einen „change from a contract between the patentee and the Crown to a ‚social contract’ between patentee and society“ (Dutton 1984: S. 75). Und der bereits zitierte Hulme drückt sich mit Bezug auf die Bedeutung der Urteile von Lord Mansfield als Zäsur in der Entwicklung des Patentrechts besonders radikal aus: „So complete a volte-face could hardly have been effected if the history of the law had preserved some sort of continuity. This however does not appear to have been the case“ (Hulme 1897: S. 318, Herv. i. O.).
Unmittelbar augenfällig am Wortlaut der ersten beiden Zitate ist ihre Verwandtschaft mit den von uns im zweiten Kapitel diskutierten austausch- bzw. vertragstheoretischen Ansätzen zur Erklärung bzw. Rechtfertigung des Patents. Das Patent wird gewährt „in exchange“ für die Veröffentlichung des patentierten Wissens („placing the invention in the public domain“). Diese enge Anlehnung des Historikers an die Vertragstheorie („social contract between patentee and society“) legt den Verdacht nahe, dass es sich bei diesen Interpretationen um eine Vereinnahmung des historischen Geschehens im Lichte parallel oder erst im Nachhinein entstandener Semantiken und Ideen (Austausch, Vertrag) handelt: Die Umstellung auf die öffentliche Verfügbarkeit von Patentinformationen spielt einer zeitgenössischen Beschreibung des modernen Patentsystems als Diener des für die Innovationsförderung unerlässlichen Technologietransfers und damit den
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heutigen Gewissheiten der dominierenden Patenttheorien schließlich sehr gut in die Karten.42 Vielleicht zu gut? Handelt es sich bei der Umstellung auf Öffentlichkeit historisch in der Tat um einen Prozess, der aus der „embryonic idea“ der Zweckmäßigkeit öffentlicher Wissensdiffusion heraus entstand, oder projiziert man mit einer solchen Annahme eventuell retrospektiv zu viel „Fortschritt“ in einen evolutionär ‚blinder‘ emergierenden Sachverhalt? Wir wollen im nächsten Abschnitt diesem Verdachtsmoment nachgehen und auf diesem Weg zu einer alternativen historischen Deutung der Gründe für die Umstellung auf Patentschriftlichkeit und Öffentlichkeit gelangen. Dabei werden wir auf den bereits gestreiften Zusammenhang zwischen technologischer Evolution und den entstehenden Rechtsunsicherheiten zurückkommen und insbesondere auch hervorheben, wie von den Patentanmeldern selbst – von denen heute angenommen wird, sie besäßen selbst wenig Interesse an der Veröffentlichung ihrer Patente – ein struktureller Druck in Richtung einer schriftlichen Offenbarung ihres Wissens und ihrer Ansprüche ausgeübt wird.
Schriftlichkeit, Öffentlichkeit und die Funktion des Patents Die Patenthistorikerin Christine MacLeod sucht in Auseinandersetzung mit den Studien Hulmes nach einer anderen Erklärung für die Emergenz von Patentschrift und Öffentlichkeit. Sie bezieht sich dabei im Wesentlichen auf den bereits als wichtigen Faktor angedeuteten technisch-wirtschaftlichen Wachstum- und Spezialisierungsschub, der die Anzahl ‚ähnlicher‘ technischer Erfindungen immer stärker in die Höhe treibt. Es entsteht eine ungleich komplexere Lage, in der sich ein gesteigerter Bedarf für eindeutige Diskriminierungen zwischen verschiedenen Patenten und den mit ihnen reklamierten Ansprüchen einstellt. Es wird in dieser Situation für die am Patentgeschehen beteiligten Akteure unumgänglich, einen eindeutigeren Zugriff auf Patentinformationen zu erhalten, um zu konsistenten Entscheidungen und präziseren Beobachtungen zu gelangen. Dies 42 Auch die herrschende Meinung unter Patentrechtlern sieht die Durchsetzung der Patentschrift als Keimzelle der „Informationsfunktion“ des Patents: „Für die Aufnahme dieser Bestimmung mögen zwar auch die Fälle der Mehrfacherteilung von Ausschließlichkeitspatenten für gleiche Erfindungen, die sich in der Zeit unmittelbar vor Erlaß des Gesetzes gehäuft hatten, eine gewisse Rolle gespielt haben. Entscheidend war aber die Erkenntnis, daß die Patentbeschreibungen als wichtige Quelle technischen Wissens jedermann zugänglich sein müssen“ (so Beier 1977: S. 285).
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gilt insbesondere für die mit Patentprüfungen und -entscheidungen beauftragten Behörden, die sich zunehmend mit dem Problem konfrontiert sehen, zwischen sehr ähnlichen Patenten unterscheiden zu müssen, um Doppelpatentierungen vermeiden und zu konsistenten Entscheidungen kommen zu können:43 „Why was specification introduced? It was certainly not for the purpose of disseminating inventions by disclosure. […] It seems more likely, however, from the wording of specification clauses in numerous patents and law officers’ reports that it was introduced on the government’s initiative, to make discrimination between superficially similar inventions easier“ (MacLeod 1988: S. 51; Herv. C.M.).
Patentschriftlichkeit wird dieser Argumentation zufolge von den zentralen Behörden als effektives Mittel konsistenter Rechtspflege gebraucht und obligatorisch gemacht, weil sich mit ihr ein Komplexitätsproblem lösen lässt. Da es immer schwieriger wird, eindeutig zwischen sich überlappenden und wechselseitig ausschließenden Patentansprüchen zu diskriminieren und somit Doppelpatentierungen und Rechtsstreitigkeiten zu vermeiden, muss man über das traditionelle „bona fide“ hinaus gehend präzisere und reproduzierbare Beschreibungen von Patenten – eine patent specification – verlangen. Entsteht die Patentschrift – so lautet eine rhetorische Zwischenfrage – demnach vor allem als Antwort auf den Bedarf nach Rechtssicherheit und nicht in erster Linie als Medium des Ausgleichs zwischen privaten und öffentlichen Zwecken der Nutzung neuen technischen Wissens? Tragen wir zunächst etwas mehr Material zusammen, um unseren bislang eher theoretisch abgeleiteten Verdacht empirisch zu unterfüttern. Als frühes Beispiel für die Etablierung der Patentschrift wird von Patenthistorikern das 1711 dem Apotheker John Nasmith erteilte Patent erwähnt, das in der Patentrolle mit dem Hinweis darauf gerechtfertigt wird, dass er die schriftliche Beschreibung und Offenbarung seiner Erfindung zugesichert habe.44 Das Interessante am Nasmith-Case und ähnlich gelagerten Fällen liegt für uns darin, dass die Erfinder selbst beginnen, die schriftliche Dokumentierung des patentierten Wissens in Aussicht zu stellen – offenbar um den von ihnen reklamierten Ansprüchen Nachdruck und rechtliche Legitimität zu verleihen. Diese sich 43 Vgl. hierzu anhand von Beispielen aus Frankreich auch Neumeyer 1956. 44 „But has proposed to ascertain the same in writeing under his hand and seale to be Inrolled in our high Court of Chancery within a reasonable time after the passing of these our Letters Patents“ (zitiert nach Hulme 1897: S. 316, Herv. i.O); siehe zum Nasmith-Patent auch Davies 1934.
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durchsetzende Praxis ist offensichtlich von der Annahme getragen, die erforderliche Rechtssicherheit könne nur mehr effektiv im Medium von (Patent-)Schrift und deren öffentlicher Offenbarung erreicht werden: „From these cases we may deduce the origin of the specification, viz. that the practice arose at the suggestion, and for the benefit, of the grantee with the view of making the grant more certain, and not primarily as constituting the full disclosure of the invention now required at law for the instruction of the public“ (Hulme 1897: S. 317).
Dieser Trend in Richtung einer von den Patentinhabern selbst forcierten schriftlichen und öffentlich zugänglichen Offenbarung von Patenten lässt sich auch mit Blick auf andere Publikumsmedien ausmachen. So finden sich in der „London Gazette“ regelmäßig kurze, von den Patentinhabern selbst aufgegebene Anzeigen. Diese dienten zum einen dem zum Teil noch heute gebräuchlichen Zweck, mit dem Besitz eines Patents für sein Produkt „advertising“ zu betreiben, zum anderen fungierten sie allerdings auch als Abschreckungsinstrumente, die etwaigen Patentverletzern mit einem Klageverfahren („prosecution“) drohten. Abb. 12 auf der folgenden Seite zeigt eine im April 1778 in der London Gazette erschienene Anzeige eines „cabinet maker“ namens William Allan, der mit Nachdruck darauf hinweist, dass er als Patentinhaber der einzig rechtmäßige Produzent der neuen Technologie der „Original Patent Water-closets“ sei.45 Parallel hierzu entwickeln sich weitere Organe der kontinuierlichen Publikation von Patentinformationen. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang das gegen Ende des 18. Jahrhunderts ins Leben gerufene „Repertory of Arts and Manufactures“. Dieses Journal widmet dem Abdruck von „Specifications of Patent Inventions“ einen beträchtlichen Raum und beschrieb sich in seinen Gründerjahren mit der folgenden Zielsetzung: „To establish a vehicle, by means of which new discoveries and improvements in any of the useful arts and manufactures, may be transmitted to the public […] conceiving that it would be interesting to our readers to be informed what patents are taken out“ (zitiert nach MacLeod 1988: S. 146f.).
45 Siehe www.london-gazette.co.uk (Search: „Patent water-closets“, Anzeige der Treffer umstellen auf „date – oldest first“; unsere graphische Zusammensetzung von Ausschnitt des Titelblatts und Text der Anzeige).
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Abbildung 12: „The Original Patent Water-closets“
Wir interpretieren diese Beispiele als erhärtende Belege für die These, dass die spezifische Funktionalität der Veröffentlichung im Zusammenhang mit der Notwendigkeit entsteht, spezifische, auf das Patent bezogene Rechtsunsicherheit zu überwinden bzw. behandelbar zu machen. Öffentlichkeit, in Form der Öffentlichkeit des Wissens in der Patentschrift, gewinnt dann eine genuin patentrechtliche Funktion. Die sich mit der patent specification und weiteren Publikationsorganen durchsetzende Öffentlichkeit im Medium der (Patent-)Schrift ist demnach nicht primär als Ausfluss einer steuerungspolitischen Einsicht in die Notwendigkeit öffentlichen Technologietransfers zu interpretieren, sondern als eine auf Patentkommunikation selbst bezogene strukturelle Lösung zu verstehen, die vom funktionalen Problem der Rechtsunsicherheit induziert wird. Die Öffentlichkeit des Patents kompensiert nicht den vom Patent gewährten Rechtsschutz, sondern ermöglicht ihn erst. Ein vergleichender Blick auf andere gesellschaftliche Funktionsbereiche soll diese „ironische“ These mit zusätzlicher Plausibilität ausstatten.46 46 „Ironisch“ dann, wenn man die Patentschrift theoretisch in den Dienst der „Öffentlichkeitsfunktion“ stellt; vgl. hierzu Hulme, der die Patentschrift mit Blick auf die
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Ein vergleichender Blick auf Öffentlichkeit(en) Auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen hatte sich im hier interessierenden Zeitraum bereits eine Orientierung an druckschriftbasierten Formen öffentlicher Kommunikation durchzusetzen begonnen. Im Laufe des 18. Jahrhunderts entstehen eine Reihe von Publika, d.h. eine Pluralität von spezifischen Öffentlichkeiten, die vom Kollektivsingular der (einen, meist vor allem politisch verstandenen) Öffentlichkeit zu unterscheiden sind. Diese Teilöffentlichkeiten entfalten ihre Kommunikationsdynamik auf je spezifische Art und Weise in Wechselwirkung mit den sich ausdifferenzierenden Sachlogiken und Publikationsformaten der entstehenden Funktionssysteme. Bei diesem Trend zur „Veröffentlichisierung“ von Funktionssystemen handelt es sich um einen charakteristischen gesamtgesellschaftlichen Vorgang, dessen große Bedeutung für die Ausdifferenzierung und Dynamisierung von Funktionssystemen und damit für den take-off der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft gesellschaftstheoretisch wahrscheinlich noch nicht hinreichend erfasst worden ist.47 Dies lässt sich an einigen Beispielen zeigen. Politik: Man kann hier vor allem an die politische öffentliche Meinung denken, die sich schon während des 17. Jahrhunderts mit der Etablierung von Zeitungen auszudifferenzieren beginnt und im 18. Jahrhundert zunehmend die arcana imperii, die geheimen Staats- und Regierungskünste, als legitime Ausdrucksform der Staatsraison verdrängt. Literatur/Kunst: Ferner kann man an die mit der Erfindung des (massenweise gedruckten) Romans entstehenden „reading publics“ – verstanden als anonymer Masse von Lesern – denken. Wissenschaft: Oder man vergegenwärtige sich die Rolle der Durchsetzung von Fachzeitschriften und dem Zeitschriftenaufsatz (paper) bei der Entstehung eines als universal zu denkenden wissenschaftlichen Publikums. Recht: Im Recht setzt sich die Aufkonventionellen Theorien als „instrument introduced by the irony of fate to make the grant more certain!“ beschreibt (1897: S. 318). 47 Vgl. hierzu die Arbeiten Michael Warners (Warner 1990, 2002, 2002a). Er formuliert: „What is a public? It is a curiously obscure question, considering that few things have been more important in the development of modernity“ (Warner 2002a: S. 49). Tobias Werron hat den Begriff des Publikums in einem differenzierungs- und globalisierungstheoretischen Sinne stark und zuerst in seiner Analyse der Entstehung des Weltsports fruchtbar gemacht (vgl. insbesondere Werron 2007b, 2010; zu „Veröffentlichisierung“ siehe ders. 2010: S. 260ff.). Publika sind nicht als Gruppen von Individuen bzw. rollentheoretisch zu denken, sondern als „mitlaufende Fiktion öffentlicher Kommunikationsprozesse“ (vgl. Werron 2011: S. 239, Herv. i. O.).
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fassung durch, dass man Gerechtigkeit nur noch im Modus von Öffentlichkeit, d.h. der Möglichkeit der öffentlichen Einsicht in Akten und der Teilnahme an Gerichtsverfahren, gewährleisten kann. Besonders eindrucksvoll lässt sich der Zusammenhang von Verbreitungsmedien, Öffentlichkeit und der Emergenz einer funktionalen Logik auch am sich später entwickelnden Sport studieren, der sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts als öffentlich realisierendes Geschehen von Leistungskommunikation aus Geselligkeit, Clubleben und Kulturen des Spiels auszudifferenzieren beginnt. In allen genannten Bereichen wird es zwingender, kommunikative Akte von ihrer Bezogenheit auf spezifische Publika her zu denken und entsprechend als öffentliche Beiträge zu stilisieren.48 Als Korrelat dieses Strukturwandels entstehen Semantiken, welche die Öffentlichkeit von Kommunikationen positiv werten und Geheimhaltung zunehmend diskreditieren: Die „Heimlichkeit ist Charakter der Unredlichkeit“, reklamiert etwa Feuerbach in seinen „Betrachtungen über die Oeffentlichkeit und Mündlichkeit der Gerechtigkeitspflege“ (zitiert nach Fögen 1974: S. 64). Für das politische System lässt sich die aufklärerische Diskreditierung von Arkanpolitik und der Geheimhaltung von politischen Geschehnissen als ein korrespondierender Vorgang interpretieren. In wissenschaftlichen Kommunikationszusammenhängen wird die Veröffentlichung von Ergebnissen der Forschung zum reflexiven Imperativ: „secrecy“ und das Verschweigen von wichtigen Forschungsresultaten (berühmtes Beispiel: Henry Cavendish) werden dann zur „antithesis of this norm“ (Merton 1973: S. 274). Öffentlichkeit wird somit gegen Ende des 18. Jahrhunderts in immer mehr gesellschaftlichen Bereichen als reflexives Kommunikationsprinzip zur Maxime für die Teilhabe an und Durchsetzung in der Kommunikation.49 Ein kurzer Seitenblick auf die bereits zitierten Studien von David Zaret zur Entstehung öffentlicher Meinung im frühmodernen England mag die Stoßrichtung unseres Erklärungsansatzes noch besser veranschaulichen. Zaret arbeitet heraus, dass die „public sphere“ beginnend im England des 17. Jahrhunderts
48 Selektive Nachweise: zu „petitions“ und der „public sphere“ siehe Zaret 1996, 2000; vgl. Watt 1957 für die Entstehung eines „reading public“ (insb. S. 35ff.), siehe Stichweh 1984, Kap. 6 (S. 394ff.) für die Durchsetzung der Zeitschriftenpublikation in der Wissenschaft; vgl. ferner Fögen 1974 zur Durchsetzung von Gerichtsöffentlichkeit und bereits erwähnt Werron 2010 für den Trend zum „publicizing“ im Sport; vgl. auch den Sammelband Jäger 1997. 49 Für einen ausführlichen begriffsgeschichtlichen Überblick vgl. Hölscher 1978 und 1979.
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nicht als Ausfluss einer „elusive idea of public opinion“ oder einer Philosophie von „civil society“ emergiert, sondern sich vor allem den durch die Druckpresse radikal verschiebenden Möglichkeiten des Verfassens und Distribuierens von Petitionen („petitions“) verdankt. Bereits der Akt des Druckens einer Petition signalisiert per se eine erhöhte Reichweite und damit auch eine (unterstellte) hohe Relevanz des Gedruckten.50 Der direkte Appell an das Parlament und die Krone wird umdirigiert in ein indirektes Kommunizieren mit einer persönlich unbestimmt bleibenden Meinungsmasse, und die politischen Entscheider sehen sich dann mehr und mehr dazu gezwungen, politische Akte im Spiegel einer unterstellten Öffentlichkeit zu entwerfen und zu kommunizieren.51 In dieser druckschriftlichkeitsinduzierten Umstellung des alltäglichen politischen Kommunikationsstils und nicht im normativ-aufklärerischen Demokratie- und Öffentlichkeitsdiskurs etc. sieht Zaret den wesentlichen operativen („practical“) Treiber der Entstehung einer politischen Öffentlichkeit: „In arriving at these conclusions this study of the shift from secrecy to public opinion reverses the priority accorded to theoretical over practical developments in early democratic culture. Public opinion was a factor in English politics long before philosophers extolled the idea of a civil society where politics emerge from appeals to the reason of private persons. The “invention” of public opinion was a practical accomplishment, propelled by the economic and technical aspects of printing, respectively, its relentless commercialism and its potential for efficient reproduction of texts. […] Though innovative, the development arose as an unreflective practice […]“ (Zaret 2000: S. 9).
Die Befunde Zarets lassen sich als weiterer Beleg dafür werten, dass sich die Öffentlichkeit des Patents nichts sinnvoll als strukturelle Folge der Durchsetzung einer rationalen Einsicht in die Vorteile öffentlichen Technologietransfers verstehen lässt, so willkommen diese Interpretation auch vielen heutigen Beobachtern des Patentsystems sein mag. Die Öffentlichkeit des Patents muss vielmehr kommunikationstheoretisch abstrakter gedacht werden und ist als strukturelle Folge eines in vielen Einzelereignissen gerinnenden neuen Kommunikationsstils 50 Zaret zitiert einen kritischen Beobachter, der von einem Plan, von einer Petition 3000 Kopien drucken zu lassen, Kenntnis nimmt und diesen wie folgt kommentiert: „If it be a petition to the House, why is it printed and published to the people, before the presenting of it to the House? Is it to get the approbation of multitudes?“ (Zaret 2000: S. 240f.). 51 Zur Metapher des Spiegels vgl. am Beispiel wirtschaftlicher Märkte Luhmann 1988: S. 91ff., der auf White 1981 rekurriert.
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aufzufassen, der entsteht, wenn Ansprüche – hier: subjektive Patentansprüche – qua Adressierung eines unbestimmten Publikums markiert, reklamiert und erinnert werden. Es geht demnach bei der Öffentlichkeit des Patents nicht nur um eine räumlich-soziale Extension der Kommunikation, sondern auch um eine Spezifizierung in der Sache selbst, die aus dem indirekten (anonymen) Charakter der Kommunikation erwächst. Weil die Adressaten im Einzelnen unbestimmt bleiben, kann und muss man sich dann noch stärker auf eine Ausarbeitung von Differenzen in der Sache konzentrieren, um in der Konkurrenz um Patente bestehen zu können: „Die durch Konkurrenz strukturierte Sozialdimension preßt geradezu eine Ziel- und Sachorientierung heraus“, formuliert Luhmann in Anlehnung an die „Soziologie der Konkurrenz“ Georg Simmels (Luhmann 1988: S. 102; Simmel 1903; vgl. auch unten den letzten Abschnitt in Kap. 7). Von der Öffentlichkeit des Patents lässt sich dann in zwei Hinsichten sprechen. Zum einen geht es um eine neue Struktur von spezifischen Patentoperationen, welche Öffentlichkeit benötigen, um als Patentrecht zu funktionieren (!), d.h. um stabile Rechtspositionen zu kommunizieren. Zum anderen lässt sich von Öffentlichkeit als reflexiv-normativer Semantik der Fremd- und Selbstbeschreibung dieser sich durchsetzenden Struktur, die auch in der juristischen Argumentation zunehmend Resonanz findet, sprechen (Mansfield). Die auch für andere Felder bzw. die gesamte Gesellschaft entwickelte Vertragstheorie stellt wie im ersten Kapitel angesprochen eine wichtige Durchsetzungs- und Plausibilisierungssemantik dar (vgl. Luhmann 1997: S. 707 zum Begriff der „Durchsetzungssemantik“), die zunächst bei der Abgrenzung gegenüber dem Gnadencharakter des Privilegs hilfreich war. Sie liefert aber selbst – und dies ist hier der springende Punkt – keine angemessene Erklärung der Emergenz und der evolutionären Bedeutung von Öffentlichkeit für das Patentsystem, ebenso wenig wie die Aufklärungssemantik des „contrat social“ als eine theoretisch adäquate Beschreibung der Entstehung der modernen Gesellschaft gelten kann.52 Wir halten diesen wichtigen Punkt fest: Die Entstehung der Öffentlichkeit des Patentsystems ist aus unserer Perspektive weder sinnvoll als ein die sozialen Kosten der Patentnorm kompensierendes Instrument der Verwirklichung der „Informationsfunktion“ noch als Umsetzung einer reflexiv-normativen (bürgerlichen) Idee von öffentlicher Teilhabe und öffentlichem Wettbewerb zu erklären. Aus einer kommunikationstheoretischen – auf eine Erklärung der Genese des Patentsystems selbst fokussierten – Perspektive entsteht Öffentlichkeit als Effekt
52 Zur Unterscheidung von Struktur und Semantik siehe Luhmann 1980a, Stäheli 1998, Stichweh 2006a.
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eines Bedarfs nach Rechtssicherheit, der nur mehr im Medium von Patentschriften und weiteren Veröffentlichungsformen gestillt werden kann. Weil und nur weil Prioritäten und damit die (Un)rechtmäßigkeit eines Patentanspruchs angesichts einer Klage von Dritten eindeutig feststellbar werden und bleiben, kann der immer spürbarer werdende Bedarf, subjektive Patentrechte zu bekommen und aufrechtzuerhalten, strukturell gedeckt werden. Erst durch die Durchsetzung von Öffentlichkeit als Prinzip des Kommunizierens von Patentwissen und Patentansprüchen kann die funktionale Autonomie der Kommunikation über Patentrechte evolutionär stabilisiert werden.
P ATENTSCHRIFTLICHKEIT UND Ö FFENTLICHKEIT : F OLGEN UND L IMITIERUNGEN Strukturelle Implikationen der Durchsetzung von Patentschriftlichkeit Von der Umstellung auf einen auf Öffentlichkeit hin angelegten Kommunikationsstil und ein schriftgestütztes Systemgedächtnis im Medium der Patentschrift (und weiteren Publikationsformen) geht ein „anchoring effect“ für die Ausdifferenzierung des Patentsystems aus. Schriftbasierte Öffentlichkeit und Rechtssicherheit des Patents verweben sich mit Beginn der Wende zum 19. Jahrhundert immer mehr miteinander und forcieren die Ausdifferenzierung eines sachspezifischen Sozialzusammenhangs, der sich aus seiner gesellschaftlichen Umwelt herausschält und zunehmend nach eigenen Prämissen betreibt: Der englischsprachige Begriff „patent specification“ bringt dieses evolutionäre Steigerungsverhältnis in einem doppeldeutigen Sinne auf den Punkt. Bei diesem Herauswachsen aus der alten Privilegienordnung handelt es sich um einen vielschichtigen, multifaktoriellen Prozess, der um 1800 nicht abgeschlossen ist, sondern sehr weit in das 19. Jahrhundert, in einigen Regionen der Welt bis in das 20. Jahrhundert hineinreicht. Wir nutzen diesen Abschnitt, um wesentliche strukturelle Folgen dieser Transformation noch einmal theoretisch zusammenzufassen und durch einige weitere Belege anzureichern. Gegen Ende dieses Abschnitts werden wir dann überleitend zum nächsten Abschnitt herausarbeiten, inwiefern es sich bei dieser Umstellung auf einen notwendigen, aber noch nicht hinreichenden Schritt in der evolutionären Herausbildung des Weltpatents handelt. Sehr allgemein lässt sich sagen, dass sich Patentkommunikation, d.h. Kommunikation von und über die Rechtmäßigkeit von Patentansprüchen, erst mit und dank der Schriftlichkeit der Patentschrift von mündlicher Interaktion als der das
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System bestimmenden Kommunikationsform emanzipieren kann. Die Gewöhnung an die Patentschrift ist heute im Patentsystem so weit fortgeschritten, dass es eines (relativ weit ausgreifenden) historischen Rückblicks bedurfte, um die besondere Tragweite dieser Umstellung zu erkennen. Zwar dienten auch die früheren Privilegurkunden bereits als objektivierter schriftlicher Nachweis der Existenz eines Ausschlussrechts, aber erst die präzise Dokumentation von Patentinformationen erlaubt es, das Patent aus der für das Privileg noch charakteristischen Einbettung in konkrete soziale, zeitliche und räumliche Evidenzen herauszulösen. Das System ‚klebt‘ dann immer weniger an der einzelnen Situation und einzelnen Personen, sondern beginnt in dem Maße zu wachsen (zu schrumpfen) und zu pulsieren, in dem Patentschriften gelesen, kommentiert, beklagt etc. werden, d.h. insoweit Patentsinn auch im zeitversetzten Verstehen aktualisiert werden kann und dies fortan als immer mitlaufende Möglichkeit dann zunehmend einkalkuliert wird und unterstellt werden muss.53 Mit der Durchsetzung von Schrift ändern sich auch die für Patentkommunikation maßgeblichen Kulturtechniken. Kommunikation im Kontext des Patentsystems wird immer mehr zu einer Angelegenheit von Lesen und Schreiben. Es reicht dann nicht mehr aus bzw. wird wirtschaftlich riskant, sich auf das HörenSagen und das bloße Wahrnehmen von neuen Gegebenheiten und Produkten zu verlassen, vielmehr muss man Patentschriften zu lesen und zu verstehen im Stande sein, um in einem aktiven Sinne am System partizipieren zu können und nicht lediglich passiv die Auswirkungen der Patente anderer erleben zu müssen. Rezipieren und Redigieren von Patentschriften wird dann in der Folge zu einem Können eigener Art, das sich vom Akt des Erfindens und der dafür erforderlichen technischen Expertise ablöst. Die heute für das System charakteristische Unterscheidung der Inklusionsfiguren Erfinder vs. Patentanmelder sowie die Rolle des Patentanwalts existieren zwar noch nicht, aber ohne die Umstellung auf Lesen und Schreiben und den darin angelegten Drang zur Ausdifferenzie-
53 Dem entspricht die Beobachtung, dass auch die Gesellschaft insgesamt beginnt, sich in ihrem Selbstverständnis von Interaktion als wesentlichem Treiber der Evolution zu lösen: „Auch nach der Einführung und der raschen Ausbreitung des Buchdrucks in Europa hat es noch Jahrhunderte gedauert, bis die Gesellschaft und ihre Transformation als unabhängig von der Interaktion unter Anwesenden aufgefaßt werden konnten. Erst um etwa 1800 kann man dieses Umdenken feststellen“ (Luhmann 1990c: S. 121).
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rung von Spezialkompetenzen ist diese später Fuß fassende Rollendifferenzierung weder möglich noch denkbar.54 Die öffentliche Verfügbarkeit schriftlicher Patentinformationen wirkt enthierarchisierend: soziale Schichtung verliert zunehmend ihren das Systemgeschehen steuernden Charakter. Dies ist allerdings kaum auf eine demokratische Einsicht in die „égalité“ aller Bürger zurückzuführen, sondern verdankt sich primär dem Umstand, dass man potenzielle Patentinhaber nicht mehr persönlich kennen und deren Rang einschätzen können muss, weil man sich die notwendigen Informationen auch mittels der Lektüre von Patentinformationen verschaffen kann. Der Raum der möglichen Adressanten von Systemkommunikation abstrahiert und anonymisiert sich und die Schwellen der Entmutigung, an einem immer schon faszinierenden, vielleicht aber bis dato auch einschüchternden Systemzusammenhang teilzunehmen, werden deutlich gesenkt. In Frankreich beispielsweise wurde die Einrichtung eines öffentlichen Archivs für Patentschriften von Boufflers, einem der wichtigsten Advokaten des französischen Patentgesetzes, mit der Statusdifferenz zwischen einem „Old Regime bureaucrat […] anxious to demonstrate his superiority“ und dem „simple inventive genius […] unable to express himself clearly“ begründet. Rangunterschiede würden viele Erfinder derart einschüchtern, dass sie ihre Erfindungen nicht persönlich anmelden würden. Der damit verbundene Verlust vieler Erfindungen („loss of countless inventions“) könne nur durch die Einrichtung eines „impersonal registry of inventions open equally to all claimants“ institutionell verhindert werden (vgl. hierzu Hahn 1971: S. 188; Feldmann 1998: S. 41ff.). Es wäre allerdings verfehlt zu glauben, dass Schichteffekte mit der Einführung öffentlich verfügbarer Patentinformationen überhaupt keine Rolle mehr spielen würden. Allerdings deutet sich bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts deutlich an, dass Schichtung im Zuge der Abwertung von Interaktion als dominierender Ebene der Systemrealisation ihre Qualität als Strukturdeterminante immer mehr einbüßt. Die Frage, wer und warum mit seinem Patentgesuch Erfolg hat, muss immer mehr von der Sache her beantwortet werden und ob eine patentierte Erfindung zu einem wirtschaftlichen Erfolg wird, lässt sich nicht mehr aufgrund von Kriterien antizipierter Nützlichkeit oder persönlicher Gunst entscheiden, sondern kann nur mehr der buchstäblich gnadenlosen „laissez-faire competition“ überlassen bleiben – so auch die Quintessenz des zitierten Plädoyer
54 Allgemein zur Differenz von mündlich/schriftlich im Übergang zur modernen Gesellschaft vgl. Bohn 1999, v.a. S. 200ff., 2005.
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Boufflers für die Verabschiedung eines Patentgesetzes in einer Rede vor der Assemblée nationale (Hahn 1971: S. 188). Ein weiterer mit Enthierarchisierung eng zusammenhängender Effekt der Öffentlichkeit des Patents besteht in der Dezentralisierung und Zirkularisierung von Operationen. Hiermit ist vor allem impliziert, dass räumliche Differenzierung ihren Charakter als Inklusionsdeterminante zunehmend verliert. So kann man auch am Beispiel des Patents den charakteristischen Trend beobachten, dass Patentierungsgesuche zunehmend „von überall her“ kommen.55 Diese Abstraktion von Raumgrenzen ist ihrerseits ein Effekt der Erleichterung des Zugangs für beliebige Dritte und der zunehmenden Inrechnungstellung dieses Sachverhalts. Systemisch wichtige Informationen lassen sich weder ausschließlich noch ausreichend durch Beobachtung eines omnipotenten Zentrums oder einiger weniger Akteure erschließen, sondern resultieren immer mehr aus Informationen, die sich aus den Patentgesuchen prinzipiell beliebig distribuierter anderer erschließen lassen: Man muss nicht anwesend sein, um eine Wirkung zu entfalten. Diese anderen müssen ihrerseits die gleichzeitige Beobachtung durch weitere andere unterstellen, die wiederum selbst andere beobachtet hatten und beobachten werden usw. Diese Publikumseffekte erzeugen ein völlig neues Ausmaß an Dynamisierung und Tempo – der Informationswert von Patenten bestimmt sich immer mehr im permanenten und unmittelbaren Vergleich mit anderen Patenten, das System ist jetzt ständig ‚im Fluss‘.56 Der Prozess der Ausdifferenzierung des Patentsystems lässt sich in einer systemtheoretischen Letztabstraktion sowohl als Ursache als auch Resultat einer radikaleren Ausarbeitung des in den Dimensionen von Sinn liegenden Systembildungspotentials auffassen. Zunächst lässt sich eine klare Versachlichung des Kommunizierens und Beobachtens beobachten. In Patentierungsgesuchen und Patentstreitsachen tritt das Argumentieren entlang von verobjektivierbaren Fakten immer mehr in den Vordergrund.57 Gleichzeitig kann man eine Tendenz zu
55 Die geographische Streuung der Patentanmelder verdoppelt sich in England im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von 19 auf 38 counties um den Faktor 2 aus und erstreckt sich somit fast auf das gesamte Territorium (vgl. MacLeod 1988: S. 147). 56 Dieser Umstellung entsprechen zeitgenössische Semantiken, die verstärkt den „Umlauf“ und die „Circulation“ von Waren, Ideen etc. beschreiben; vgl. hierzu Koch 2002: S. 56 ff; zum damaligen „Diskurs des Kreislaufs“ siehe auch Schmidt/Sandl 2002. 57 „Patent disputes that reached the bench at this time were extremely fact intensive and as a matter of course accentuated technical issues touching upon mechanical designs
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einer Entfaltung der Sozialdimension (Universalisierung) beobachten: Das System öffnet sich zumindest potenziell für einen unbegrenzten Kreis von Beobachtern und/oder Patentinhabern, und man muss dann immer mehr mit deren Patentkalkülen rechnen. Hierin liegt die Verbindung zu einer stärkeren Akzentuierung der Zeitdimension. Im Zuge der Unterstellung des permanenten Informiertseins anderer wird Nichtpatentieren zu einer zu riskanten Option. „Riskant“ ist hier nicht im diffus-alltagsweltlichen, sondern dem präzisen theoretischen Sinne gemeint, dass sich die Gefahr des Betroffenseins durch die Patente anderer in das Risiko des Unterlassens eigener Patentierungen, bzw. des (zu) späten Patentierens transformiert, d.h. in eine Handlungsattribution, die als (falsches) Entscheiden beobachtet (und bedauert) wird.58 Die bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts verstärkt beobachtbare Taktik des ‚präventiven Erstschlags‘ ist ein struktureller Effekt der Spannung zwischen Sozial- und Zeitdimension, der sich nicht mehr sachlich beruhigen lässt. Im Gegenteil: Das Patentsystem gewinnt seine Dynamik jetzt gerade aus der sachspezifischen Logik des Patentsystems, Prioritäten für technische Neuheiten besser heute als morgen reklamieren zu müssen, weil man gar nicht mehr anders kann als zu unterstellen, dass dies schon morgen ein vielleicht noch unbekannter anderer versuchen könnte. Anders gesagt: Patente werden zu einem Mittel öffentlicher wirtschaftlicher Konkurrenz, die sich im Modus der (fiktiven) Unterstellung des Informiertseins und Relevantseins vieler unbestimmter anderer dynamisiert.59 James Watt gilt als einer der ersten Erfinder und Unternehmer, der aus dieser sich intensivierenden Patentkonkurrenz systematisch Vorteile zu ziehen verstand. Als früher Vorläufer eines modernen Patentmanagers betrieb er ein systematisches „preemptive patenting“, das auf dem systematisierten Versuch beruht, einen ständigen Informationsvorsprung zu besitzen und der Konkurrenz bei Patentanmeldungen immer ‚einen Schritt voraus‘ zu sein. Aus dieser Strategie re-
or upon distinctions between prior inventions or practices and the patentee’s improvement thereto (Mossoff 2000: S. 1296f., Herv. C.M.). 58 Vgl. zum Unterschied von „Risiko und Gefahr“ Luhmann 1990d , 1991, Japp 2000. 59 „Accessibility, knowledge, and at times painful experience established a positive feedback mechanism in the patent system: the more it was used, the more it was likely to be used, since people calculated that they could not afford not to seek a patent for their invention, design, or, simply, product. The patent system generated its own logic, and encouraged a ‚first strike‘ mentality“ (MacLeod 1988: S. 147, Herv. i. O.).
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sultierte der Bedarf für ein permanentes Beobachten der Patentlage. In einem Brief an seinen Geschäftspartner Boulton im Jahr 1782 bittet Watt diesen darum, „to enquire what new patents are now going through the office, for I do not think that we are safe a day to an end in this enterprising age. One’s thoughts seem to be stolen before one speaks. It looks as if Nature had taken up an adversion to monopolies and put the same thing in several people’s heads at once“ (zitiert nach Robinson/Musson 1969: S. 92).60
James Watts strategischer Umgang mit den sich heraus kristallisierenden Möglichkeiten der Nutzung von Patenten als strategisches Marktinstrument statuiert ein Exempel für die im Laufe des späten 19. Jahrhunderts Konturen annehmende Systemrolle des „inventor-entrepreneur“, die schließlich in ein hochspezialisiertes unternehmerisches Patentmanagement mündet. Watt steht exemplarisch für die enge Kopplung des Patentsystems an die Investitionskalküle kapitalbasierten Wirtschaftens: Das Wirtschaftssystem wird zum primären „Anlehnungssystem“ für das Patentsystem, das seine Frequenzen zunehmend auf den anschwellenden Lärmpegel der Wirtschaft einstellt und gerade in dieser sich verschärfenden Abhängigkeit vom Geldmechanismus und Investitionsbereitschaft verstärkte Unabhängigkeit von alten, statischeren Formen von Gesellschaft (Zünfte, Gilden, Patronage) gewinnen kann.61 Selbstverständlich handelt es sich bei der Person von James Watt um eine Ausnahmeerscheinung, einen ‚hero‘, den man nicht als repräsentativ für die damalige Situation in Großbritannien oder anderswo ansehen darf. Aber um „Repräsentativität“ von Ereignissen oder Personen geht es im Rahmen unserer Überlegungen zur Evolution des Patents ohnehin nicht. Es geht vielmehr darum, die Umrisse eines sich einstellenden Strukturwandels anzudeuten, dessen retrospektives Verstehen uns eine analytische Ahnung von weiteren möglichen und effek60 Ausführlich zu Watt, seinem Partner Boulton und der Entwicklung der Technologie der Dampfmaschine siehe Smiles 1865; vgl. auch Robinson 1972, Stirk 2001. 61 Vgl. zum Konzept des „Anlehnungssystems“ Stichweh 1991; ähnliche Steigerungsverhältnisse von Ab- und Unabhängigkeit lassen sich auch für andere Funktionssysteme beobachten. Man kann hier exemplarisch an die Literatur denken, die sich von dem Moment an von Patronage als Hauptimpulsgeber emanzipieren kann, wenn sie verlegt und von Lesern gekauft wird; d.h. der entscheidende Schritt zu funktionaler Autonomie gelingt dann, wenn Herstellung und Rezeption in ein Verhältnis von Angebot und marktförmiger Nachfrage (Produktion und Konsum) gebracht werden. „Markt ist der generalisierte Patron“, sagt dazu Luhmann 1995: S. 267f.
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tiv vollzogenen evolutionären Schritten auf dem Weg zum Weltpatent geben kann.
Zwischenfazit: Das unvollendete Weltpatent In summa bewirken die beschriebenen Faktoren eine initiale und dann rasch voranschreitende Ausdifferenzierung des Patentystems: Das System reagiert immer mehr auf in ihm selbst liegende und durch es selbst hervorgebrachte Effekte und gewinnt in dieser dynamisierten Selbstbezüglichkeit strukturelle Autonomie. Es entwickelt sich eine eigene Welt der Patente, deren Strukturen bereits um 1800 vor allem in England weit gereift sind: Man kann routinemäßig Patente für neue, technische Erfindungen beantragen und für den Fall einer Verletzung der eigenen Rechtsansprüche gibt es Routinen der Wiederherstellung von Rechtssicherheit, d.h. Rechtsverfahren, in denen Teilnehmern realistische Erwartungen auf ein faktenbasiertes und „ohne Ansehen der Person“ getroffenes Urteil entwickeln können. Das moderne Patent distanziert sich als subjektives Patentrecht immer weiter von seinem evolutionären Vorläufer, dem fakultativen Erfinderprivileg. Dieser Ausdifferenzierungsschritt ist für das Patent und die Systemgenese von kaum zu überschätzender Bedeutung. Dies darf aber selbstverständlich nicht darüber hinweg täuschen, dass wir es zum damaligen Zeitpunkt insgesamt mit einem vergleichsweise ‚überschaubaren‘ System zu tun haben. Es ist unübersehbar, dass die sich anbahnenden Möglichkeiten der Teilhabe an Patentkommunikation sowie die Größe des Patentsystems bei weitem noch nicht das Ausmaß heutiger Tage erreichen. Auch Öffentlichkeit ist noch längst nicht so allgegenwärtig und selbstverständlich wie heute: Patentschriften werden noch nicht massenweise reproduziert, distribuiert und gelesen und von regional über das Land verteilten „Auslegehallen“ für Patentschriften kann noch keine Rede sein. Das Lesen, Verfertigen, Anwenden und Verstehen von Patentschriften ist damals auch noch aus sehr basalen Gründen wie einer noch geringen Alphabetisierungsquote nicht ‚jeder Manns Sache‘. Auch die faktischen Einflüsse von Schichtung auf Erfolgsaussichten in der Patentkommunikation dürften noch deutlich ausgeprägter als heute gewesen seien, auch wenn zunehmend unplausibler wird, auf Schichtung oder andere soziale Differenzen bei der Begründung eines Rechtsurteils zu rekurrieren.62 62 „Das Recht muß von den Rangverhältnissen der Personen abstrahieren können – eine historisch schwer durchsetzbare Strukturbedingung, deren Unwahrscheinlichkeit auch in elaborierten Rechtskulturen als schichtbedingter bias immer wieder auftritt“
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Ferner erreicht die Binnendifferenzierung des Systems bei weitem noch nicht die heutige Komplexität: Es gibt noch keine eigenständigen Patentgerichte, keine spezialisierten Patentrichter und noch keine Patentanwälte. Ebenso wenig existieren elaborierte Gesetzestexte, Dogmatiken und präzise patentrechtliche Begrifflichkeiten wie z.B. ein scharf gegenüber der wissenschaftlichen Entdeckung distanzierter Erfindungsbegriff etc. All dies wird sich später herausbilden: vor allem dank des anschwellenden Regulierungsbedarfs innovationsbasierter Wirtschaft und im Kontext der Evolution des Rechtssystems insgesamt. Wir halten folgende Erkenntnis aber als Zwischensumme hier explizit fest: Das Grundgerüst des Patentsystems, ein autonomer sachspezifischer Kern mit einem universalen Möglichkeitsraum, ist um 1800 in seinen Konturen bereits deutlich zu erkennen. Eine Verortung dieser Erkenntnis im Lichte der Analysen der vorangegangenen Kapitel zeigt demnach, dass die Grundrisse des Patentsystems in zentralen Aspekten bereits der kommunikativen Logik des Sinnentwurfs Patent ähneln, die wir zu Beginn des dritten Kapitels skizziert hatten. Wenn wir uns jetzt allerdings in einem nächsten Schritt auf die Erkenntnisse des letzten weltgesellschaftstheoretischen Kapitels rückbesinnen, fällt eine fundamentale Differenz zum kontemporären Patentsystem unmittelbar auf: die enge territorialstaatliche Einbettung der Ausdifferenzierung von subjektiven Patentrechten. Die Patentrechtsregime in England, USA, Frankreich und weiteren Staaten entstehen zwar nicht in wechselseitiger Isolierung, allerdings lässt sich nicht sinnvoll davon sprechen, dass sie sich in Form eines singulären (weltgesellschaftlichen) Systems von Patentkommunikationen ausdifferenzieren würden. Aus globaler Perspektive vollzieht sich die Ausdifferenzierung des Patentsystems also mehrfach und jeweils in enger Anlehnung an die (Rechts-)Sicherheiten einer zentralisierten Staatsgewalt. Die Positivierung von Patentgesetzen parallel zur Verfassungsgebung in den USA und Frankreich darf als besonders leuchtendes Beispiel für die enge Kopplung der Genese des Patentsystems an Staatlichkeit gewertet werden. Die Ausdiffe-
(Luhmann 2000b: S. 30). Wer ohnehin nicht als Subjekt mit eigenen Rechten galt, konnte dann auch im Patentsystem nicht darauf hoffen, Patentrechte zugesprochen zu bekommen; siehe hierzu die Aussage eines Patentprüfers (patent commissioners) in Mississippi in den 1850er Jahren, der dem Halter eines Sklaven angesichts einer vom Sklaven gemachten Erfindung beschied: „A Machine invented by a slave, though it be new and useful, cannot, in the present state of the law, be patented. I may add that if such a patent were issued to the master, it would not protect him in courts against persons who might infringe it“ (zitiert nach Cowser Yancy 1984: S. 48).
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renzierung des Patentrechts vollzieht sich also im Schoße der übergeordneten Ausdifferenzierung nationalstaatlicher Rechtssysteme. Diese Beobachtung entspricht der von Rudolf Stichweh entwickelten These, dass man die Ausdifferenzierung des Rechts als einen Prozess denken muss, in dem sich die strukturelle Kopplung des Rechts an die Politik im Rahmen von Staatlichkeit als „Impulsgeber für eine beschleunigte Ausdifferenzierung eines oder beider dieser Systeme“ (Stichweh 1990: S. 261) erweist. Es scheint, dass es sich bei diesem strukturellen Ineinandergreifen von Staatlichkeit und funktionaler Ausdifferenzierung um ein charakteristisches, auch an anderen Funktionssystemen beobachtbares Muster handelt. Einen parallelen Vorgang kann man am Beispiel der modernen Wissenschaft beobachten. Dort läuft die für Ausdifferenzierungsprozesse konstitutive Verdichtung der wechselseitigen Beobachtung von Veröffentlichungen zunächst in Form von nationalen wissenschaftlichen Gemeinschaften an. Diese Phase des „nationalizing“ von Wissenschaft löst die res publica literaria als bestimmende wissenschaftliche Kommunikationsstruktur der modernen Neuzeit ab und bereitet gleichzeitig den Boden für die spätere Globalisierung der Wissenschaft.63 Diese spezialisierten Publika kommunizieren relativ abgeschlossen im Medium der sich von Latein als konkurrenzloser lingua franca emanzipierenden Nationalsprachen; der hohe Anteil an Übersetzungszeitschriften lässt sich dann nicht nur als Indikator für wechselseitige kognitive Öffnung, sondern auch als Bestätigung des Strukturmusters nationaler wissenschaftlicher Gemeinschaften verstehen. Der Prozess des „denationalizing“ von Wissenschaft und die Entstehung globaler (natur-)wissenschaftlicher communities setzt erst später ein (vgl. Crawford/Shinn/Sörlin 1993). Um auf das Patentsystem zurückzukommen: Unter dem Gesichtspunkt der Inklusion von Erfindern muss festgehalten werden, dass das Patent im Jahr 1800 regional begrenzter ist als das frühneuzeitliche Patentprivileg. Dessen politischer Zweck hatte in Gestalt des Einführungsprivilegs (pro arte introducenda) vor allem in der Attraktion fremder Erfinder und fremden Wissens gelegen. Im Gegensatz zur heutigen Situation, die in den letzten Jahrzehnten vor allem vom stark überproportional steigenden Anteil an „internationalen Patentanmeldungen“ durch multinationale Unternehmen geprägt ist, muss man das im 19. Jahrhundert einsetzende starke Wachstum des Patentsystems primär als pluri-
63 „Der Weg zur modernen globalen und universellen Wissenschaft führt über eine Zwischenphase einer in hohem Grade nationalisierten Wissenschaft“ (Stichweh 2000f: S. 105, Herv. i. O.).
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territorialen Vorgang begreifen, der auf innerterritorialen Wachstumsschüben im Zuge der Verschärfung von „native competition“ aufruht: „Patents ceased to be the prerequisite of courtiers, office-holders and immigrant tradesmen. They began to assume a more distinct and recognizable form as instruments of protection and competition among native inventors and entrepreneurs and, increasingly, if hesitantly, to leave London for the provinces“ (MacLeod 1988: S. 40, Herv. C.M.).
Das Patentsystem wurde damals demnach vor allem als Instrument der Protektion einheimischer Märkte aufgefasst, die ihre Produktivität und Dynamik – die „early English cotton industry“ ist das Paradebeispiel – zunehmend aus der Nutzung technologischer Innovationen beziehen.64 Die im letzten Kapitel beschriebenen Effekte internationaler Standardisierung und Harmonisierung von Patentrecht(en) laufen in dieser Zeit noch nicht an und eine über routinemäßig betriebene multinationale Anmeldestrategien vermittelte globale Interkonnektivität von Patentregionen, lässt sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht beobachten. Patentieren war für Ausländer nach wie vor ein ungewisses Unterfangen und aufgrund der Technologieführerschaft Englands war die Zahl an Erfindungen, für die man auf der britischen Insel Neuheit reklamieren konnte, ohnehin sehr begrenzt. Vor allem dort sind Politiker und Unternehmer besorgt über den Trend, dass Technologien wie insbesondere die Dampfmaschine von ausländischen Reisenden ausgespäht und in ihren Heimatländern als Innovation eingeführt werden (vgl. hierzu am Beispiel österreichischer Einführungsprivilegien für die Technologie der „spinning jenny“ den Artikel von Dölemeyer 1985). In England werden daher im 19. Jahrhundert eine Reihe von Gesetzen zum Verbot des Exports von ‚Schlüsseltechnologien‘ und der Emigration von Erfindern erlassen, mit denen man dem Problem der „industrial leakage“ Herr zu werden versuchte.65 64 Gegen Ende des 18. Jahrhunderts kommen in Manchester zum ersten Mal dampfmaschinenbetriebene mechanische Webstühle systematisch zum Einsatz. Die Webmaschinentechnologie ist indes seit ihren Anfängen ein Objekt patentrechtlicher Streitigkeiten, zu den Patentstreitigkeiten um die neuen Webmaschinentechnologie, v.a. um die Erfindungen von Arkwright und Hargreaves („spinning jenny“); siehe hierzu Unwin/Daniels 1920: S. 92ff. und Fitton 1989 (v.a. Kap. II). 65 Vgl. hierzu Jeremy 1977; dieser Verdacht richtete sich vor allem auch gegen Preußen und die dort forcierten gewerbepolitischen Ambitionen, die zum damaligen Zeitpunkt große technologische Lücke gegenüber England zu schließen. Dort entwickelte sich zur gleichen Zeit eine neue Form der ‚Bildungsreise‘, die „technologische Reise“
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Die nur rudimentäre rechtliche Vernetzung zwischen den ohnehin noch sehr wenigen Staaten mit einem ausdifferenzierten Patentrecht ist ein wesentlicher Aspekt der Beobachtung, dass es sich beim damaligen Patentsystem um ein Phänomen im Plural handelt. Einen zweiten mit dem ersten eng zusammenhängenden Aspekt machen wir am gegenüber dem Privileg noch kaum veränderten Neuheitsbegriff aus. Das Neuheitsverständnis war „eng lokalisiert“ (Wehr 1936: S. 36), so dass es z.B. für die Konzession eines Patents in Paris keine Rolle spielte, ob der Patentsuchende im Rheinland für seine Erfindung bereits ein Patentprivileg erhalten oder diese als Marktinnovation bereits ausgeführt hatte. Im französischen Patentgesetz von 1791 heißt es: „Quiconque apportera le premier, en France, une découverte étrangère, jouira des mêmes avantages que s’il en était l’inventeur.“66
Die entscheidende strukturelle Restriktion, die von diesem territorialen Neuheitsverständnis ausgeht, ist die Begrenztheit der Vergleichshorizonte, aus denen die für Patentierungsentscheidungen instruktiven Informationen gewonnen werden. Auch phänomenologisch gibt es die Welt der Patente demnach noch mehrfach: Es ist kein singulärer Welthorizont beobachtbar, der alle Patentkommunikationen innerhalb eines globalen Relevanzzusammenhangs integrieren könnte. Diese Beobachtung zusammenfassend lässt sich sagen, dass das damalige Patent demnach einen bereits weit vorangeschrittenen, aber noch ‚unvollendeten‘ Eindruck macht. Die sich dann unmittelbar aufdrängende Frage ist, wie es trotzdem zur Emergenz eines universalen und globalen Patentsystems kommen konnte. Wir werden hierfür im Folgenden vor allem zwei Faktoren geltend machen. Erstens den im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts über die Welt hereinbrechenden „Weltverkehr“ und die mit diesen transport- und kommunikationstechnischen Globalisierungsschüben zusammenhängende Emergenz des absoluten (Pierenkemper 2007: S. 274f.). So unternahm beispielsweise der Vorsitzende der Technischen Deputation Preußens Beuth eine Reihe von Reisen nach England, um dort verbreitete Technologien kennenzulernen und dann in Preußen zu verbreiten (vgl. hierzu Heggen 1975a); überblickend zum Prozess der „continental emulation“ siehe auch Landes 1969 (v.a. Kap. 3). 66 Zitiert nach Dölemeyer 1985: S. 741; zur englischen Situation siehe Holdsworth: „The question whether an invention was sufficiently novel was made to depend, not on prior publication, but wholly on the question whether or not there had been a prior user in England; and the invention must be wholly new – not merely a small improvement upon an older invention“ (Holdsworth 1924: S. 354).
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Neuheitsbegriffs. Zweitens das sich im Zuge der Durchsetzung des (multinationalen) Unternehmens etablierende organisierte Patentmanagement, das die bis dahin dominierende Inklusionsfigur des Erfinders durch systematisierte, entlang von internationalen Geschäftstätigkeiten entwickelte Patentauswertungskalküle zu verdrängen beginnt.
‚V ERWELTLICHUNG ‘ DES P ATENTS : A BSOLUTE N EUHEIT UND DER D RANG
ZUM
G LOBALEN
Absolute Neuheit Die Rede von „absoluter Neuheit“ könnte heute als tautologische Formulierung abgetan werden, so befremdlich wirkt im Zeitalter von elektronisch-basierter „Echtzeitkommunikation“ die Vorstellung einer nur regional begrenzt geltenden Neuheit von Dingen, Nachrichten oder Erfindungen (s.o.). Auch im Patentsystem hat man sich längst an die Idee einer universal verstandenen Neuheit gewöhnt. Man muss gar nicht mehr explizit darüber sprechen, dass es um absolute Neuheit geht, denn nicht zuletzt aufgrund der flächendeckenden Verbreitung von multinational gespeisten Patentdatenbanken ist die Suche nach Neuheit zumeist schon automatisch (!) Suche nach absoluter Neuheit. Dieser Universalismus des Patentsystems entspricht den Universalismen anderer Systeme wie etwa dem der Wissenschaft: Auch dort wird man nicht plausibel eine non-universale Neuheit – etwa: nur in der (Zentral-)Schweiz neu – postulieren können, ohne sich dem Verdacht der nicht nur wissenschaftlichen Unzurechnungsfähigkeit auszusetzen. Ein Blick in das fortgeschrittene 19. Jahrhundert reicht indes aus, um eine Welt zu entdecken, in der das Patentierungskriterium der Neuheit fast ausschließlich lokal-territoriale Züge trägt. Denn die meisten Patentgesetze verfügen zunächst noch über einen territorial eingeschränkten Begriff der Neuheit.67 Das Ende des Jahrhunderts ist dann aber bereits Zeuge der starken internationalen Verbreitung eines weitestgehend absolut verstandenen Neuheitsbegriffs. Die Ab67 Eine frühe Ausnahme stellt das französische Patentgesetz von 1844 dar, das in Artikel 31 verfügt: „Ne sera réputée nouvelle toute découverte, invention ou application qui, en France ou à l’étranger, et antérieurement à la date du dépôt de la demande aura reçu une publicité suffisante pour pouvoir être exécutée“ (Art. 31, zitiert nach Kohler 1878: S. 35); das amerikanische Patentgesetz von 1790 betont weder explizit den territorialen noch einen internationalen Charakter von Neuheit und spricht pauschal von „novelty“.
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ruptheit des Bruchs mit der alten Neuheitsbegrifflichkeit lässt sich besonders gut am Beispiel Preußens bzw. des Deutschen Reichs studieren – eine Episode aus dem Alltag der Preußischen Patentdeputation soll dies einleitend veranschaulichen. Die mit Patentprüfungen beauftragte Technische Deputation in Preußen lehnte im Jahre 1849 einen Austausch von Patentschriften mit dem amerikanischen Patentamt entschieden ab. Dies geschah vor allem aus pragmatischen Gründen, weil man nicht zuletzt aufgrund der hohen Zahl der dort jährlich erteilten Patente (fast 1.000) eine zeitlich und fachliche Überlastung fürchtete (Heggen 1975: S. 52f.). Interessant sind an diesem Vorgang zwei Aspekte: Erstens zeigt die ablehnende Haltung, dass zum damaligen Zeitpunkt eine staatlich begrenzte oder nur sporadisch erweiterte Neuheitsprüfung üblich war, eine Praxis, die zum damaligen Zeitpunkt auch in anderen Territorien in der Regel noch Standard war. Zweitens – und dies ist der wichtigere Punkt – zeigt die Ablehnung des Schriftenaustauschs bzw. deren pragmatische Begründung im Umkehrschluss, dass eben dieser Austausch und somit eine international abgestimmte Neuheitsprüfung zum damaligen Zeitpunkt bereits denkbar geworden war. Denn der sich offenbar immer stärker aufdrängende Wandel hin zu einem ausgeweiteten Austausch und Vergleich technischer Neuheiten musste bereits ausdrücklich zurück gewiesen werden. Das 1877 in Kraft getretene Reichspatentgesetz löste sich dann bereits dezidiert von territorialen Neuheitsvorstellungen und definierte Neuheit schon nicht mehr ausschließlich über inländische Zugänglichkeit, sondern installierte einen nahezu absoluten Neuheitsbegriff, der sich über eine nicht mehr als territorial begrenzt verstandene Öffentlichkeit von Druckschriften definierte: §2 des Reichspatentgesetzes lautete: „Eine Erfindung gilt nicht als neu, wenn sie zur Zeit der auf Grund dieses Gesetzes erfolgten Anmeldung in öffentlichen Druckschriften bereits derart beschrieben oder im Inlande bereits so offenkundig benutzt ist, daß danach die Benutzung durch andere Sachverständige möglich erscheint“ (zitiert nach Seckelmann 2006: S. 440).68
Was führte zur Entstehung des absoluten Neuheitsbegriffs, welche evolutionären Faktoren haben diesen abrupten Wandel bewirkt? Bei der Beantwortung dieser Frage folgen wir konsequent der evolutionstheoretischen Leitthese dieses Kapitels und vermuten, dass dieser Wandel vor allem eine Folge der sich dramatisch 68 Die Einschränkung des Kriteriums der Vorbenutzung auf das Inland wurde in späteren Fassungen des Gesetzes aufgegeben.
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ändernden technischen Infrastrukturen der Kommunikation ist. Ein kursorischer Blick auf den „Weltverkehr“ der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird deutlicher machen, worauf dieses Argument abzielt.
Der Weltverkehr Während die Qualität kommunikativer Infrastrukturen zwischen 1500 und 1800 im Wesentlichen durch schrittweise Verbesserungen der Drucktechnologie und inkrementellen Fortschritt bei den Transporttechniken geprägt war, brechen sich im Laufe des 19. Jahrhunderts binnen weniger Jahrzehnte mehrere vollkommen neuartige Kommunikations- und Transportmittel die Bahn.69 Die zunächst schrittweise Erprobung, dann immer schnellere Diffusion und schließlich sich wechselseitig verstärkende Durchsetzung von Eisenbahn, Dampfschifffahrt und Telegraphie löste einen dramatischen gesellschaftlichen Umbruch aus, dessen Umrisse wir in diesem Abschnitt kurz skizzieren wollen. Es ist für unser Argument nicht notwendig, die Entwicklung und Implikationen dieser drei Transportund Kommunikationstechniken en détail zu rekonstruieren.70 Vielmehr sollen hier nur zwei Aspekte dieser Strukturtransformation hervorgehoben werden, die von zeitgenössischen Beobachtern häufig unter dem Kompaktbegriff Weltverkehr zusammengefasst und mit der für Zäsuren in der Medienevolution charakte-
69 Viele Historiker bringen dem 19. Jahrhundert ein großes Interesse entgegen und benutzen starke Formeln wie „Verwandlung der Welt“ oder „Geburt der modernen Welt“ – so Osterhammel 2009 und Bayly 2004 in ihren Synthesen zur Geschichte des 19. Jahrhunderts –, um dessen besondere weltgeschichtliche Bedeutung zu betonen. Es ist dann allerdings aufschlussreich, dass Verkehrs- und Kommunikationstechnologien kaum über den Status von eher randständigen Notizen hinaus kommen. So widmet Osterhammel dem Thema „Verkehr und Kommunikation“ nur einige Seiten im kurzen Kapitel „Netze“ (ebd.: S. 1010ff.) und im Register von Baylys Buch sucht man (in der deutschen Übersetzung) vergeblich nach Einträgen wie „Telegraphie“, „Eisenbahn“, oder „Dampfschiff“; vgl. auch als Rezension dieser beiden Synthesen Werron 2010a. 70 Vgl. z.B. überblickend Hobsbawm 1977 (Kap. 3) und die Beiträge in North 1995 und Headrick 2009 (dort insbesondere das siebte Kapitel zur „Acceleration of Change“).
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ristischen Melange aus ehrfürchtigem Staunen, Fortschrittsoptimismus und emphatischer Ablehnung beobachtet wurden.71 Zunächst ist die immense Beschleunigung der Verbreitung von Gütern und Druckschriften bemerkenswert (zum Topos der „Beschleunigung“ siehe auch Borscheid 2004, Rosa 2005). Dies gilt sowohl für den intra- wie internationalen Transport von Paketen, als auch – in radikalisierter Form – für das elektronische Versenden von Informationen im Medium der Telegraphie. Während die anfänglichen Effekte der Beschleunigung eher inkrementellen Charakter hatten – die Geschwindigkeitsvorteile der ersten Dampfschiffe gegenüber den schnellsten Segelschiffen waren zu Beginn eher gering – markiert die weltweite Durchsetzung der Telegraphie – symbolisiert durch die Fertigstellung des transatlantischen Kabels im Jahre 1866 – den Bruch mit überkommenen Kommunikationsstrukturen auf besonders frappierende Weise.72 Es entwickelt sich in den kommenden Jahrzehnten rasch ein „Weltkabelnetz“ (Roscher 1914) und zum ersten Mal in der Evolution der Kommunikation koppelt sich der Transport von Informationen vom Transport von Gütern ab. Abstrakter formuliert: Das Durchqueren des Raums löst sich aus der Zeitdimension („time-space-distantiation“) und die Beobachtung von Raumdifferenzen wird dann zunehmend ersetzt durch ein Kalkül der Zeit: London und Amsterdam sind von New York dann informationell nicht mehr räumlich – und das heißt vor allem: eine mühselige, insbesondere zeitlich nur schwer einzuschätzende Fahrt über den Ozean – voneinander entfernt, sondern nur mehr einige Minuten.73 Dieser Punkt leitet bereits über zur zweiten, vermutlich noch folgenreicheren Wirkung der neuen Kommunikations- und Transportmedien. Durch die Abkopplung aller drei Kommunikationsmittel vom kaum kalkulierbaren Faktor der Naturgewalten wurde das Durchschreiten von Raum und Zeit in einem zuvor nicht denkbaren Maße kalkulier- und erwartbar. Dieses Wissen um die zunehmende
71 Zum „Weltverkehr“ vgl. zeitgenössisch Geistbeck 1986 und Wirth 1906, siehe hierzu auch Krajewski 2006; als anschauliche Lektüre ist ferner empfehlenswert die Sammlung zeitgenössischer Semantiken von Carl Löper 1984 (Originalausgabe: 1881). 72 Selektive Hinweise: Czitrom 1982, Marvin 1988, Standage 1998; vgl. als interessante Studie zum Telegraphen als Taktgeber der Börse auch Stäheli 2004. 73 Im Schiffsverkehr treten neben dem beschleunigten und kalkulierbaren Zurücklegen derselben Strecke mit dem Dampfschiff auch noch effektive Wegkürzungen durch den Bau von neuen Kanälen hinzu. Man denke hier insbesondere an Großkanalprojekte wie z.B. den 1869 eröffneten Suez-Kanal, der den Seeweg zwischen London und Bombay um 40% verkürzte (vgl. Wilkins 2005: S. 53).
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Kalkulierbarkeit des Gütertransports und die Unmittelbarkeit des Informationstransfers dürfte eine der intensivsten Erfahrungen bei der Synchronisierung und Universalisierung des gesellschaftlichen Kommunikationsraums gewesen sein: „There is no competition against instantaneousness“, formuliert der Präsident der Canadian Telegraph System im Jahr 1899 (zitiert nach Marvin 1988: S. 193) und bringt damit den nicht nur, aber vor allem auch an der Wirtschaft beobachtbaren Trend zur globalen Synchronisation von Kommunikationen prägnant auf den Punkt. Für den Fall der Wirtschaft lässt sich die Annahme globaler Interkonnektivität anhand von quantitativen Indikatoren wie ausländischen Direktinvestitionen, Faktorpreiskonvergenzen, transatlantischen Frachtraten etc. am besten plausibilisieren.74 Wer, wie viele Wirtschaftshistoriker, die Globalisierung der Wirtschaft bzw. Globalisierung schlechthin vor allem an diesen Makrokennzahlen festmacht (vgl. hierzu bereits oben S. 155ff.), läuft allerdings Gefahr, eine entscheidende gesellschaftliche Innovation zu vernachlässigen Die Rede ist von der Emergenz des multinationalen Unternehmens als eines neuen Akteurtypus, dessen Genese in einem wechselseitigen Steigerungszusammenhang mit den infrastrukturellen Innovationen des Weltverkehrs steht (vgl. Stichweh 1999: S. 32f.). Es entstehen die ersten Vorläufer heutiger Weltunternehmen, welche die sich neu bietenden Kommunikationsmöglichkeiten am schnellsten nutzen und damit auch stark zu ihrer gesamtgesellschaftlichen Diffusion beitragen. Weltunternehmen versuchen zunehmend, ihre Innovationen auf globaler Ebene wirtschaftlich auszuwerten und beginnen dementsprechend zwecks rechtlicher Absicherung ihrer Geschäftstätigkeiten, verstärkt Schutzrechte wie Patente und Marken im Ausland zu reklamieren. Wir kommen hierauf im nächsten Abschnitt zurück. Die mit dem „Weltverkehr“ massiv anschwellende Flut von internationalen Konventionen und der zu Standardisierungs- und Harmonisierungszwecken gegründeten Weltorganisationen ist eine politisch-diplomatisch vorangetriebene Antwort auf diesen vor allem von multinationalen Unternehmen forcierten Drang zur Globalität.75 Man kann hier an die Gründung des Weltpostvereins, die internationale Standardisierung der Eisenbahnspurbreite, die Pariser Meterkonvention, die Verabschiedung der Greenwich Mean Time im Jahr 1882 u.v.m. denken. Diese Weltkonventionen machen Globalität buchstäblich zur Norm: sie
74 Zu konvergierenden Faktorpreisen siehe O'Rourke/Taylor/Williamson 1996, für die seit 1850 massiv gefallenen „ocean freight rates“ siehe etwa North 1958, Harley 1988. 75 Häufig wird in diesem Zusammenhang auch von „internationalism“ gesprochen; vgl. hierzu überblickend etwa Geyer/Paulmann 2001; Friedemann/Hölscher 1982).
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sind wichtige infrastrukturelle Garanten der vom Weltverkehr vorangetriebenen „Netzverdichtung“.76
Eine Patentwelt und Mechanismen der Globalisierung Es ist die Beobachtung dieser sich so dramatisch ändernden „Verkehrsverhältnisse“, die für die zeitgenössische Patentdogmatik eine Kopplung des Kriteriums der Neuheit an eine (weitestgehend) uneingeschränkte Öffentlichkeit juristisch zwingend macht: „Von einer Beschränkung der Veröffentlichung auf das Inland ist mit Rücksicht auf die Entwicklung der Verkehrsverhältnisse Abstand genommen“ (Mintz 1903: S. 375).
Der damals patentrechtlich verbindlich werdende Begriff der Öffentlichkeit fällt demnach bereits weitestgehend mit ‚Weltöffentlichkeit‘, d.h. der Vorstellung eines singulären Publikums von patentrelevanter technischer Literatur zusammen. Aus Neuheiten werden Weltneuheiten, Patentliteratur wird zu Weltpatentliteratur: „Die Litteratur betrachtet man als die allgemeine Vermittlerin der Nationen; öffentliche Druckschriften werden darum berücksichtigt, gleichgültig ob sie in der in- oder in einer ausländischen Sprache geschrieben, gleichgültig ob sie im In- oder Auslande erschienen sind“ (Kohler 1900: S. 182).77
76 Vgl. sehr selektiv Zerubavel 1982, Wobring 2005 (S. 74ff.); Vec 2006. Vgl. auch die programmatische Aussage Hermann Lübbes: „Dabei wäre der Universalismus moderner, herkunftskulturindifferenter geltender Normensysteme mißverstanden, wenn man darin die Kraft zwingender Argumente philosophischer Letztbegründungsbemühungen wirksam sähe. Der Universalismus moderner Normensysteme folgt der Expansion unserer netzverdichtungsabhängig sich intensivierenden Interaktionen“ (Lübbe 1996: S. 136); vgl. zum Zusammenhang zwischen Telegraphie (und Radio) und internationaler Politik auch Headrick 1991. 77 Im Gegensatz zum radikalisierten, noch weiter abstrahierten Neuheitsverständnisses des späteren 20. Jahrhunderts (vgl. oben S. 102ff.) werden im Duktus des seiner Zeit häufig noch üblichen Gestus der Überlegenheit gegenüber anderen „Culturen“ allerdings einige Einschränkungen vorgenommen: „Jedoch gilt folgende natürliche Begränzung. Das Druckwerk muss in einer allgemein bekannten Sprache erschienen sein
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Wir nehmen nun den in unseren Bemerkungen zur Imperfektion des Weltpatents (s.o. S. 273ff.) ausgelegten Argumentationsfaden wieder auf und spinnen ihn unter Rückgriff auf die im letzten Kapitel entfalteten weltgesellschaftstheoretischen Einsichten weiter: In der Etablierung des Prinzips der absoluten Neuheit als juristischer Implikation einer universal verstandenen Öffentlichkeit identifizieren wir den entscheidenden Umbruch in der Evolution des Patentsystems von einer Vielzahl von Patentwelten und Territorialpatenten zu einem integrierten Weltpatentsystem. Wir postulieren, dass das Patentsystem im Zuge des Weltverkehrs eine „evolutionäre Schwelle“ in Richtung der Emergenz einer singulären Welt der Patente überschreitet und sich fortan vor dem Hintergrund dieses einen universalen Möglichkeits- und Selektionsraums fortentwickelt.78 Wie wir im letzten Kapitel bereits ausgeführt haben, muss sich diese Annahme theoretisch weder auf eine vollendete materiellrechtliche Konvergenz von Patentrechtskulturen, noch auf explosiv steigende Raten von internationalen Patentanmeldungen und ebenso wenig auf eine effektiv umfassende Prüfung aller für eine Patentierung potenziell relevanter Druckschriften stützen – letzteres war bereits im 19. Jahrhundert undenkbar geworden. Die Weltgesellschaftlichkeit von Patentkommunikation ist zunächst und vor allem eine phänomenale, die darin auszumachen ist, dass man sich in einem Einspruchs- oder Klageverfahren auf jede zugängliche, d.h. öffentliche Information stützen kann, völlig unabhängig davon, zu welchem Zeitpunkt, an welchem Ort und vom wem sie publiziert worden war. Das System beginnt im Modus eines Unterstellens von Welt zu operieren und entfaltet einen Drang zum Globalen, den man nicht mehr revidieren, sondern bestenfalls noch koordinieren kann: auf der Seite der zentralen Institutionen der nationalen Patentsysteme durch internationale Standardisierungsbemühungen; auf der Seite der patentierenden Akteure durch ein managementförmig
[…] es muss in einer unserer europäischen Sprachen erschienen sein; ein chinesisches, japanisches Druckwerk kann für unsere Kultur keine Offenkundigkeit bewirken; ebenso wenig ein Schriftstück, das in der Sprache der Azteken oder der Peruaner oder in der Sprache eines Rothhautstammes abgefasst würde. […] Es ergibt sich aus dem gleichen Prinzip, wonach eine Publikation in der Sprache eines Negerstammes nicht als Bekanntgabe für unsere Kulturwelt betrachtet werden kann“ (Kohler 1900: S. 182). 78 „Evolutionäre Schwellen bringen eine durchgehende Veränderung des Möglichkeitshorizonts der Gesellschaft und der Selektivität aller Strukturen und Prozesse mit sich. Alles einzelne wird zur Auswahl aus mehr Möglichkeiten – mag es auch formal identisch bleiben […]“ (Luhmann 1981e: S. 374f.).
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systematisiertes Steuern der Auswertung von Patentansprüchen (internationale Patentanmelde- und Durchsetzungsstrategien) und ein ausgeklügeltes Instrumentarium der Beobachtung globaler Patentierungsaktivitäten (patent monitoring). Die im universalen Öffentlichkeitsverständnis des Patentrechts fundierte Absolutheit des Neuheitsbegriffs bringt einen systemischen Mechanismus zur Entfaltung, den man mit Rudolf Stichweh als globale Selektivät bezeichnen kann.79 Patente lassen sich nurmehr vor dem Hintergrund eines unbegrenzten Welthorizonts von anderen Patentierungsereignissen rechtlich, technisch und wirtschaftlich bewerten und verwerten. Dieser Strukturhebel befindet sich in der von uns beobachten Phase noch im Geburtsstadium und der absolute Neuheitsbegriff ist noch weit entfernt von einer Vollrealisierung im Sinne einer flächendeckenden globalen Verbreitung und strikten rechtlichen Umsetzung. Dessen ungeachtet sieht man, dass der globalen Selektivität des absoluten Neuheitsbegriffs eine verweltgesellschaftende Strukturprägekraft inne wohnt, welche regionale Einseitigkeiten und Abkapselungen in der Beobachtung von Patentwissen progressiv aushöhlt und tendenziell in die Beobachtungszusammenhänge des Weltpatentsystems hineinzieht. Um diesen Punkt noch einmal zu betonen: Wir sehen in dieser patentspezifischen globalen Selektivität den entscheidenden Treiber der Emergenz des Weltpatentsystems und in der Umstellung auf ein universales Neuheitsverständnis die initiale Zündung für den take-off zu einem singulären, nur mehr global integrierbaren Patentrelevanzraum.80 Der im letzten Kapitel bereits skizzierte zeitgleiche Start eines heute immer noch anhaltenden Prozesses der globalen Verbreitung und Harmonisierung von Patentrecht im Kielwasser der PVÜ ist ein hieran unmittelbar anknüpfender Vorgang, den man einem weiteren Mechanismus von Verweltgesellschaftung, nämlich dem Mechanismus der globalen Diffusion zuordnen kann. Ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts diffundiert das Patentwesen ausgehend von Eu-
79 Vgl. hierzu und zum Folgenden Stichweh 2008: S. 346ff. 80 Schimank scheint ein diametral entgegengesetztes Verständnis von Verweltgesellschaftung und gesellschaftlicher Integration zu pflegen – leicht verwundert liest man: „Die Weltgesellschaft steht in Gefahr, sich ähnlich wie Großbritannien im 19. Jahrhundert zu spalten, weil Informations- und Vergleichshorizonte immer weniger an Staatsgrenzen enden und diese auch als Migrationshorizonte immer durchlässiger werden“ (Schimank 2005: S. 405). Vergleich, Transfer und Migration führt zu „Spaltung“. Muss man dann folgerichtig annehmen, dass Schimank Nordkorea als die noch am besten beobachtbare Reinform von integrierter (nicht gespaltener) „Gesellschaft“ bezeichnen würde?
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ropa und den USA über den gesamten Globus und gilt als unverzichtbarer Bestandteil des Institutionen-Sets eines ‚Culturlandes‘.81 Besonders gut lässt sich dies am Beispiel Japans studieren, das sich während des Tokugawa-Regimes noch vehement gegen die Integration in weltweite Zusammenhänge gewehrt hatte, im Zuge der Meiji-Restauration aber rasch institutionelle Standards westlicher Staaten wie unter anderem eine Patentgesetzgebung adoptierte.82 Andere Länder, welche im auslaufenden 19. Jahrhundert noch keinen Patentschutz unterhalten, werden weltpolitisch zunehmend diskreditiert und unter diplomatischen Anpassungsdruck gesetzt.83 Als Korrelat dieser globalen Diffusion des Patentrechts läuft – vor allem in der deutschen Rechtsdogmatik – zeitgleich ein Trend zur Patentrechtsvergleichung an. Es werden frühe Fundamente für den bereits anlaufenden Prozess globaler Patentrechtsharmonisierung gelegt, der dann aber durch die Nationalismen und Kriege der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis in die 1960er Jahre blockiert werden sollte.84
81 „Der Erfinder, der dem gewerblichen Leben neue Bahnen weist, in rastloser Arbeit den Kreis unseres Wissens und Könnens erweitert, repräsentirt gleichsam die knospenden Triebe am grünen Baum des industriellen Lebens der Nation. Diese Triebe vor muthwilliger Schädigung zu schützen, ist die heilige Pflicht eines weise verwalteten Staates. Nur das Volk hat das Recht, sich ein Kulturvolk zu nennen, welches seine schaffenden Geister nicht schutzlos verkommen lässt“, so der Berliner ChemieProfessor Witt im Jahre 1893 (Witt 1893: S. 42, Herv. i. O.). 82 Der erste Präsident des japanischen Patentamts umschrieb dies im Rückblick wie folgt: „Wir haben uns umgesehen, welche Nationen die größten sind, damit wir es ihnen gleichtun können. Wir fragten: Warum sind die Vereinigten Staaten eine so große Nation? Und wir forschten nach und stellten fest, daß es die Patente sind. Also werden wir Patente haben” (siehe hierzu Rahn 1982: S. 577); vgl. ferner Rahn 1979 und 1994. Der japanische Staat installierte 1871 ein Patentgesetz, das in weiten Teilen dem USamerikanischen Patentrecht sehr ähnelt, vgl. hierzu Granstrand 1999: S. 134ff.; vgl. auch allgemein zum Prozess der japanischen Modernisierung Westney 1978, 1987 und Robertson 1987. 83 „Vous êtes un peuple de brigands!“, echauffieren sich während der Pariser Verbandsübereinkunft von 1883 die französischen Organisatoren gegenüber dem niederländischen Delegierten – die Niederlande hatten zuvor die Patentgesetzgebung abgeschafft (s. Schiff 1971: S. 78). 84 Für das Programm des Patentrechtsvergleichs steht im deutschsprachigen Raum vor allem der Name Josef Kohler: „Das Urheberrecht ist, wie das Erfinderrecht, ein Weltrecht und kann nur rechtsvergleichend behandelt werden“, so formuliert Kohler 1907
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Die Pariser Verbandsübereinkunft stellt mit der Etablierung der „Unionspriorität“ und der „Inländerbehandlung“ (s.o. S. 193ff.) die strukturellen Weichen für eine Dynamik der operativen globalen Verknüpfung von verschiedenen Patenträumen (national patentrechtlich regulierten Märkten), die man – ebenfalls in Anlehnung an Begriffsvorschläge Rudolf Stichwehs – globale Vernetzung oder globale Interrelation nennen kann. Bezug genommen ist mit diesem Konzept eines dritten zentralen Mechanismus der Verweltgesellschaftung vor allem auf den gegen Ende des 19. Jahrhunderts anlaufenden Trend, für Erfindungen auch im internationalen Maßstab Patentrechte geltend zu machen. Angetrieben wird diese Vernetzung vom wirtschaftlichen Kalkül technologieintensiver Großunternehmen, welche damit beginnen, die Hervorbringung von Erfindungen in Form von F&E- und Patentabteilungen zu internalisieren, in organisierter Form zu betreiben und deren Auswertung durch Patentschutzrechte zunehmend vor dem Hintergrund eines globalen Kalküls von Produktabsatzmöglichkeiten betreiben.
„I NDUSTRIAL RESEARCH “ P ATENTMANAGEMENT
UND ORGANISIERTES
Neben der Ausbildung des absoluten Neuheitsbegriffs im Zuge des Weltverkehrs erlebte das Patentsystem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen weiteren drastischen Wandel in Gestalt eines sich intensivierenden Prozesses der Konzentration und Professionalisierung der Produktion und Patentierung von Erfindungen in den Händen von forschungsintensiven Großunternehmen. Mit der Entstehung des „corporate capitalism“ (Noble 1977) sieht sich das Patentsystem binnen weniger Jahrzehnte mit einer vollkommen veränderten wirtschaftlichen Umwelt konfrontiert, deren Hauptakteure, forschungsbasierte multinationale Unternehmen, das System in einer qualitativ völlig neuen Weise für eigene Zwecke in Anspruch zu nehmen versuchen. Die ungefähr bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts dominierende Figur des unabhängigen Privaterfinders, der ein oder ein paar, maximal ein dutzend Patente anmeldet, wird immer mehr verdrängt und (zitiert nach Dölemeyer 1993: S. 141); bereits das Grundlagenwerk „Patentrecht“ von 1878 war von Kohler „unter systematischer Berücksichtigung des französischen Patentrechts“ entworfen worden; als ersten umfassenden Überblick über die Patentgesetze der Erde siehe ferner das von Kohler und Mintz autorisierte doppelbändige Werk „Die Patentgesetze aller Völker“ (Kohler/Mintz 1912); dezidiert rechtsvergleichend hatten zuvor bereits auch Kleinschrod 1855 und Klostermann 1876 und 1877 ihre dogmatischen Erörterungen des Patentrechts angelegt.
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schließlich durch den angestellten Erfinder ersetzt. Dieser verfügt über keinerlei eigene patentrechtliche Ansprüche mehr, sondern partizipiert am Patentsystem nur mehr in Form der Lektüre von Patentschriften und der Belohnung für Erfindungsmeldungen und Patentanmeldungen im Rahmen seines Arbeitsvertrags. Seine Erfindungen sind „Diensterfindungen“ und werden von Forschungsmanagern und der sich formierenden Profession der Patentanwälte bearbeitet und als strategische Hebel im technologischen Wettbewerb ausgebeutet.
Exkurs: Thomas A. Edison Die großen Erfinderfiguren wie Thomas A. Edison, Alexander G. Bell, Nikola Tesla, Werner (von) Siemens, um nur einige wenige zu nennen, nehmen in der Entwicklung hin zu systematischem Patentmanagement eine herausragende Rolle ein.85 Diese „great inventors“ stellen das evolutionäre Bindeglied zwischen dem Gelegenheitserfinder und den kapitalistischen Massenerfindungsmaschinerien des 20. Jahrhunderts dar, die jedes Jahr alleine in ihren Stammländern mehrere tausend Patente anmelden.86 Edison & Co. verkörpern einerseits das (bisweilen nostalgische) Bild des „heroic inventor“, der unermüdlich an seinen Erfindungen arbeitet (und diese häufig auch patentiert); andererseits personifizieren sie die Rolle des „inventor-entrepreneur“, dessen Interesse sich nicht in der technisch-wissenschaftlichen Dimension seiner Erfindungen erschöpft, sondern 85 Für biographische Würdigungen siehe neben anderen Dyer/Martin 1929 und Josephson 1959 (Edison), Mackenzie 1928 (Bell), Feldenkirchen 1996 (Siemens). Werner Siemens (später: von Siemens) nimmt in Preußen und dem Deutschen Reich insofern eine von Edison und Bell zu unterscheidende Rolle ein, als er nicht ‚nur‘ „Erfinder und Unternehmer“ war, sondern zudem als Patentprüfer fungierte und als ein gewiefter Patentlobbyist maßgeblich an der Durchsetzung des Reichspatentgesetzes von 1877 beteiligt war (vgl. Seckelmann 2006: S. 163ff. zu Siemens’ Rolle als Lobbyist im Deutschen Patentschutzverein, Kurz 1994 zu dessen Arbeit als Patentprüfer in Preußen). 86 Lamoreaux und Sokoloff berichten in einer Studie zu Mustern der Konzentration erfinderischer Produktivität (skewness), dass sich auch unterhalb dieses ersten Perzentils der ‚Mega-Erfinder‘ à la Edison ein massiver Konzentrationsprozess vollzog: Der Anteil von Erfindern, die zehn oder mehr Patente hielten, lag in der ersten Jahrhunderthälfte noch bei lediglich 5% und verfünffachte sich bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts auf 25% (Lamoreaux/Sokoloff 2001: S. 41); vgl. zu „great inventors“ auch Khan 2005 (v.a. Kapitel 7).
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der auch eine gezielte marktförmige Nutzung der durch Patente abgesicherten Erfindungen betreibt. Die Person Edisons verkörpert in besonders eindrucksvoller (und in vielen Studien gut dokumentierter) Art und Weise die wichtige Rolle der Großerfinder im evolutionären Übergang zur „corporatization of invention“. Zunächst fällt an Edisons Erfindungs- und Patentierungsaktivitäten nicht nur ihre stupende Quantität auf, sondern auch der Sachverhalt, dass Edison insgesamt mehr Patente im Ausland als in den USA selbst hielt und somit als früher Vorläufer des heutigen internationalen Patentportfoliomanagements gelten kann. Edison erhielt zwischen 1868 und 1926 in den USA 1.093 und im Ausland insgesamt 1.239 Patente, von denen etwas mehr als ein Zehntel vom deutschen Reichspatentamt stammt (130).87 Er richtete bereits 1876 ein Forschungslaboratorium ein (Menlo Park) und gilt heute noch als einer der wichtigsten Pioniere der industriellen Forschung und Entwicklung.88 Edison war einer der ersten, der in der Edison Light Company eigene Patentanwälte beschäftigte und somit den Grundstein für ein organisiertes Management von Forschungen und Patenten legte. Dieser Trend hin zu einer zunehmend kapitalistisch motivierten und professionalisierten Handhabung von Patenten wurde durch eine sieben Jahre andauernde Patentauseinandersetzung mit der United States Electric Lighting Company symbolisiert, der eine dauerhafte Verletzung der von der Edison Light Company hervorgebrachten Technologie für Glühlampen (incandescent light) vorgeworfen wurde. Frappierend an dieser Auseinandersetzung ist nicht nur ihre Intensität und Langwierigkeit; darüber hinaus lässt sie sich im Rahmen unseres globalisierungstheoretischen Ansatzes als ‚Musterprozess‘ lesen, der die anlaufende Unterstellung von Welt als Letzthorizont der patentjuristischen Argumentation anschaulich vor Augen führt (globale Selektivität). Es lohnt sich, eine diesbezügliche Passage aus der Edison-Biographie von Dyer und Martin ausführlich wiederzugeben: „Edison claims were strenuously and stubbornly contested throughout a series of intense legal conflicts that raged in the courts for a great many years. Both sides of the controversy were represented by legal talent of the highest order, under whose examination and cross-examination volumes of testimony were taken, until the printed record (including 87 Vgl. die Auflistung in Dyer/Martin 1929: S. 975ff. 88 „Edison’s greatest invention was that of the industrial research laboratory […]. The GE Company, the Westinghouse interests and the Bell Telephone Labs followed in his footsteps, employing scientists by hundreds where Edison employed them by tens“, so die Worte Norbert Wieners (zitiert nach Noble 1977: S. 113); vgl. auch Wiener 1993 (insb. S. 65).
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exhibits) amounted to more than six thousand pages. Scientific and technical literature and records in all parts of the civilized world were subjected to the most minute scrutiny of opposing experts in the endeavor to prove Edison to be merely an adapter of methods and devices already projected or suggested by others. The world was ransacked for anything that might be claimed as anticipation of what he had done. Every conceivable phase of ingenuity that could be devised by technical experts was exercised in the attempt to show that Edison had accomplished nothing new. Everything that legal acumen could suggest – every subtle technicality of the law – all the complicated variations of phraseology that the novel nomenclature of a young art would allow – all were pressed into service and availed of by the contestors of the Edison invention in their desperate effort to defeat his claims“ (Dyer/Martin 1929: S. 715f., Herv. C.M.).
Insgesamt waren mehr als 50 Patente der Edison Light Company zwischen 1885 und 1900 Gegenstand von über 200 Patentklageverfahren und Edisons Unternehmen verbuchten für diese „patent wars“ mit mehr als zwei Millionen Dollar Ausgaben in einer für die damaligen Verhältnisse horrenden Höhe.89 Edison selbst kann bereits in den 1880er Jahren nicht mehr als einer der Hauptakteure dieser Patentauseinandersetzungen angesehen werden. Von ihm wird berichtet, dass er Patente und vor allem patent litigation bestenfalls als notwendiges Übel zum Zweck ansah und sich verstärkt seinen erfinderischen Tätigkeiten widmen wollte: „A law-suit is a suicide of time“, so schreibt er in einem Tagebucheintrag von 1885.90 Edison selbst war allerdings mit seiner stupenden Erfindungs- und Patentanmeldeaktivität einer der Haupttreiber der Entwicklung hin zu einem professionellen Patentmanagement und der Verselbstständigung von patent litigation gewesen; es entbehrt somit nicht einer gewissen Ironie, dass Edison die ‚Auswüchse‘ eines Prozesses zynisch kommentiert, den er durch die Gründung von Erfindungsverwertungsfirmen und einem professionellem Patentmanagement selbst mit in Gang gesetzt hatte: „I lost the German patent on the carbon telephone through the insert of a comma which entirely changed the interpretation of the patent. Another foreign patent was lost because the patent office in that country discovered that something similar had been used in Egypt
89 „What the directors and attorneys of the Edison Company sought, by a legal action conducted at prodigious cost, was to establish once and for all the priority of Edison’s key invention and thus remove the threat of the ‚patent pirates‘ “ (Josephson 1959: S. 343). 90 Zitiert nach Josephson 1959: S. 295.
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in 2000 B.C. – not exactly the same device, but something nearly enough like it to defeat my patent“,
so äußert sich Edison rückblickend in einem Interview.91 An diesen komplizierten (und für viele Beteiligten wie Edison ermüdenden und zum Teil finanziell desaströsen) Rechtsstreitigkeiten um die Edison-Patente wird prototypisch deutlich, wie Patente bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts systematisch als Markthebel für den Aufbau und die Verteidigung von komplexen, ineinander verschachtelten Rechtspositionen genutzt werden. Wir vermuten, dass sich in diesen intensiven Patentauseinandersetzungen eine neue Qualität des Verständnisses und der Handhabung von Patenten herauskristallisierte. Gerade in diesen sich anbahnenden engen Kopplungen von Patentkommunikation an kapitalgesteuerte Profitmotive findet das Patentsystem eine eigene, unersetzbare Autonomie und Funktionalität als Produzent von (wirtschaftlich verwertbaren) Rechtsansprüchen: „A patent is merely a title to a lawsuit“ (Dyer/Martin 1929: S. 700), so lässt sich zumindest für die Elektrotechnikindustrie, die sich mit dem hart umkämpften Glühlampenmarkt auszudifferenzieren beginnt, die damals herrschende Einstellung zur ‚fatal attraction‘ Patent und der bisweilen so lästig wie unvermeidlich scheinenden patent litigation resümieren.92
91 Das Interview wurde 1913 unter dem Titel „My forty years of litigation“ mit dem Wall Street Journal geführt (hier zitiert nach The Literary Digest 1913: S. 449). 92 Die chemische Industrie ist ein Parallelbeispiel: „In einer besonderen Abtheilung, die unter der Leitung eines Patentjuristen stehe, arbeite man die täglich sich mehrenden Patentschriften aus und kämpfe für den Schutz der eigenen Erfindung. gegen unberechtigte Aneignung und die viel verwerflichere »Umgehung«, mit scharfer Feder und den Waffen der beweisführenden Experimente. Diese Patentcontroversen seien ein Krebsschaden für die Industrie, in langwierigen und unbefriedigenden Kämpfen vergeude man die besten Arbeitskräfte. Doch müsse man sie als ein nothwendiges Uebel hinnehmen. Denn aus ihnen entwickele sich immer klarer das Erfinderrecht auf dem eigenartig gestalteten Rechtsgebiete der modernen chemischen Technik. An dem Ausbau dieses Gebietes betheilige sich daher vor Allem die deutsche Theer-Industrie, im Vereine mit dem deutschen Patentamt und dem Reichsgericht“ (siehe Caro 1893: S. 67, der einen fiktionalen Fabrikvorsteher einer Teerfarbenfabrik zitiert, Herv. i.O.).
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F&E-Laboratorien und Patentmanagement In den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts beginnt sich auf dem Fundament der durch ‚Vorreiter‘ wie Edison und Bell angestoßenen Entwicklung somit ein neuer Typus forschungsintensiver Unternehmen zu entwickeln, der sich in „Scale and Scope“ (Chandler 1990) massiv von den zumeist noch relativ überschaubaren und auf Kernfunktionen wie Produktion und den Vertrieb fokussierten Vorgängerunternehmen unterscheidet.93 Zu diesem Zeitpunkt entstehen – initial in den Bereichen Chemie(Pharma) und Elektrotechnik/Elektronik – wirtschaftliche Branchen als neuartige Strukturen intensivierter Konkurrenz und Beobachtung zwischen Großunternehmen. Patente stellten in dieser Entwicklung einen wesentlichen Faktor dar: „The late nineteenth century witnessed a period of inventive breakthroughs and corporate formations that is often described as the beginning of a „second industrial revolution“. The opening of new technological fields, especially science-based ones such as electrical engineering and synthetic chemistry, coincided with a rise in the scale of business organization that gave firms new capabilities to manage technology and control markets. Thanks to their position at the intersection of these trends, patents became enormously important to the organization of entire new industries – including electric light and power, communications, sound recording and film, chemicals, bicycles, automobiles, and aircraft“ (Beauchamp 2009: S. 593, Herv. C.M.).
General Electric (entstanden 1892 in einem Merger der Edison Light Company mit dem Hauptkonkurrenten Thomson Houston), AT&T, BASF, DuPont, Siemens und einige weitere sind die ersten Unternehmen, welche ihre Geschäftstätigkeit auf einem neuartigen, deutlich komplexeren Organisations- und Geschäftsmodell aufbauen.94 Dieses Geschäftsmodell zeichnet sich – in ökonomischen Termini – durch eine Tendenz zur vertikalen Integration verschiedener 93 Möglich wurde dieser quantitative und qualitative Wandel vor allem durch die Transport- und Kommunikationsmöglichkeiten des „Weltverkehrs“, der ein neuartiges Niveau an logistischer Koordination von Gütern und Informationen zugleich ermöglichte und erforderlich machte; vgl. hierzu z.B. Chandler 1992: S. 80: „By the 1880s, the new railroad, telegraph, steamship and cable systems made possible the steady and regularly scheduled flow of goods and information, at unprecedented high volume, through the national and international economies.“ 94 Vgl. zur Entstehung und Dynamik der Branchen Pharma/Chemie und Konsumelektronik/Computer Chandler 2005 und 2005a.
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Wertschöpfungsstufen aus. Viele Leistungen, allen voran die Produktion wissenschaftlichen Wissens, werden von diesen Großunternehmen nicht mehr von „consulting scientists“ eingekauft (einlizenziert), sondern selbst erbracht (make, not buy).95 Während heute – vor allem etwa in der Pharmabranche – eher gegenläufige Trends in Richtung von Outsourcing (buy, not make) und Dezentralisierung beobachtbar sind, sind die „science-based industries“ des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts demnach durch das Streben zur Integration unternehmerischer Funktionen innerhalb der eigenen Wertschöpfungskette gekennzeichnet. Der zunächst vor allem in Deutschland und den USA beobachtbare organisatorische Aufbau von internen Forschungslaboratorien ist ein integrales Moment dieses Trends zum ‚Unter-Kontrolle-Bringen‘ von Forschungstätigkeiten im Kontext der eigenen unternehmerischen Wertschöpfungskette. Industrielle Laborforschung – als erstes modernes industrielles Großlabor gilt das 1900 von General Electric auf der Grundlage der Laboratorien von Thomas A. Edison und Elihu Thompson errichtete Laboratorium – wird von Anfang an als eine unverzichtbare Investition in die Zukunft eines Unternehmens verstanden.96 Willis Whitney, der erste Forschungsleiter bei General Electric umschrieb die Notwendigkeit für große Unternehmen, sich mit einer eigenen Innovationsbasis ausstatten zu müssen, mit der Metapher der „Lebensversicherung“: „Our Research Laboratory was a development of the idea that large industrial organizations have both an opportunity and a responsibility for their own life insurance. New discovery can provide it“ (zitiert nach Reich 1987: S. 341).
Industrielle Forschung (Research & Development, kurz R&D) ist seit ihren Anfängen ein organisatorisch gesteuertes und kontrolliertes Unterfangen. Sie definiert sich über eine hierarchische Supervision und das formalisierte Setzen von Zwecken und Zielen für die angestellten Forscher durch ein weisungsberechtigtes Forschungsmanagement. Aufgrund ihrer engen Kopplung an markt- und pa95 „In the last decades of the nineteenth century the relationship between science and industry changed in a decisive way. Invention was industrialized. Large company laboratories were set up. The consulting scientist and the scientific entrepreneur were replaced by the salaried industrial research worker. Applied science became a driving force for technical development and economic growth“ (Meyer-Thurow 1982: S. 363, Herv. C.M.). 96 Vgl. als ausführliche Monographien zur Entwicklung von R&D bei General Electric (GE) und AT&T (bell labs) Wise 1985 und Reich 1985; für eine ausführliche vergleichende Rezension beider Monographien siehe Dennis 1987.
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tentbasierte Zwecke und ihre stärkere Einbettung in formale Weisungszusammenhänge ist R&D daher von „Grundlagenforschung“ („basic science“) zu unterscheiden, wenn man hierunter einen Typus Forschung verstehen will, der in erster Linie nicht auf die technisch-wirtschaftliche Anwendbarkeit selbst abstellt, sondern stärker an der theoretischen Erklärung grundlegender Phänomene interessiert ist und sich darüber hinaus ein stärkeres Maß an Unberechenbarkeit und Nichtkalkulierbarkeit erlaubt (als Überblick zu Typen der Forschung siehe Stokes 1997).97 Eine sich so vom wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn abgrenzende anwendungsbezogene Industrieforschung entfaltet eine doppelte unternehmerische Funktionalität. In einem seiner Beiträge zur Entwicklung des forschungsbasierten Kapitalismus in den USA beschreibt Leonard S. Reich die bi-dimensionale Funktion industrieller Forschung am Beispiel der Entwicklung der „Bell Labs“ wie folgt: „Industrial research thus formed the basis for both offensive and defensive business strategies. The research-induced offensive strategy, characterized by the introduction of new products or processes to increase profits and/or gain a larger market share, was but a new means of advancing a long-standing corporate strategy. In the defensive uses of industrial research, the aim was to secure large numbers of patents in areas that were or might become of commercial interest“ (Reich 1980: S. 506).
97 Folgerichtig läuft etwa zeitgleich ein Diskurs der Abgrenzung akademischer Grundlagenforschung von „industrial research“ an, der in den USA zudem mit der Aufforderung verbunden wird, die heimische Grundlagenforschung zu stärken und sich nicht auf die Anwendung importierten Grundlagenwissens (insbesondere aus dem Deutschen Reich) zu beschränken. Berühmt geworden ist in diesem Zusammenhang „the plea for pure science“ des Experimentalphysikers Henry A. Rowland bei einer Versammlung der American Association for the Advancement of Science im Jahr 1883: „The proper course of one in my position is to consider what must be done to create a science of physics in this country, rather than to call telegraphs, electric lights, and such conveniences, by the name of science…“ (vgl. hierzu Hounshell 1980, Zitat auf S. 612); siehe auch weiter interessant zum Hintergrund dieses Diskurses Holton 1984, dessen Artikel ferner auf das 1884 eröffnete, programmatisch als ‚pure science institution‘ geplante „Jefferson Physical Laboratory“ an der Harvard University eingeht: „the first building in the western hemisphere designed for research and teaching in physics“ (Holton 1984: S. 32).
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Laboratorien lieferten ‚Erfindungen-in-Serie‘ und sorgten somit für eine kontinuierliche Auffrischung des Innovationspotentials eines Unternehmens. Für diese sich rasch als unverzichtbar stabilisierende Innovationsfunktion des Labors standen zu Beginn paradigmatisch die chemischen Labors der deutschen Teerfarbenindustrie, deren Forschungsanstrengungen zu einer Fülle an neuen Produkten und Prozessen und insbesondere einer massiv gestiegenen Produktivität in der Farbstofferzeugung führten.98 Neben diese an der Produktion eigener Innovationen ausgerichtete Funktion der Industrieforschung tritt die von Reich als „defensive“ bezeichnete Funktion der „market protection“. Dieser kommt die Rolle zu, den Markt mithilfe von Patentrechten gegenüber der Konkurrenz abzusichern. Während die Innovationsfunktion eher eine expansive, auf Kosten- oder Innovationsführerschaft ausgerichtete Marktausweitungs- und Markteroberungsstrategie flankiert, geht die Schutzfunktion mit einer „defensiven“ Geschäftsstrategie einher, die darauf ausgelegt ist, Geschäftserfolge mit Patentrechten abzusichern und/oder in Antizipation zukünftiger Technologieentwicklungen, Markteintrittsbarrieren für Konkurrenten zu errichten und Lizenzverhandlungspotentiale zu erschließen (invention-on-demand). Die „science-based industries“ der Pionierzeit sind von Beginn an auch patent-based industries. Die Hauptaufgabe des Forschungsmanagements beschränkt sich demnach von Anfang an nicht auf die Produktion von Forschungswissen; sie erstreckt sich darüber hinaus auf die weitflächige patentförmige Absicherung der Forschungsresultate und der Entwicklung von Patentstrategien zwecks Abwehr kompetitiver Angriffe auf das eigene Geschäft: „The idea of research as a producer of new and useful knowledge was altered as research administrators and Bell executives learned that it was in the company’s interest to patent every possible minor variation of device in order to forestall future encroachment by competitors“ (Basalla 1988: S. 127).
Die Aufgabe der Koordination der beiden Kernfunktionen industrieller Forschung obliegt dann zunehmend den für diese Aufgabe gesondert eingestellten 98 Das Programm der wissenschaftsbasierten Rationalisierung der chemischen Produktion ist in Deutschland vor allem mit dem Namen Heinrich Caro verbunden, der als erster Forschungsleiter der Badischen Anilin- und Sodafabrik (BASF) fungierte; vgl. dazu Caro 1893, Homburg 1992, von Hippel 2002 (S. 46ff.); vgl. Hounshell/Smith 1988 zur parallelen Entwicklung beim Konkurrenten DuPont; siehe zur Entwicklung der Chemiebranche seit ihren Ursprüngen in der Farbenindustrie aus organisationssoziologischer Sicht Tacke 1997a.
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Forschungsmanagern, deren zunächst noch nicht immer präzise eingegrenzter Verantwortungsbereich sich sukzessive zu einer eigenständigen internen Unternehmensfunktion, dem Forschungsmanagement, ausdifferenziert. Die Teilnahme an Patentkommunikation wird demnach jetzt zu einer Managementaufgabe und zu einer Kernfunktion innerhalb der Geschäftsstrategie forschungsbasierter Unternehmen. Patentanmeldungen und Patentklagen werden immer mehr zu Tätigkeiten, die unter ‚corporate control‘ ablaufen und somit zu einem integralen Bestandteil von „managerial capitalism“ (Chandler 1984) werden.99 Zwar zeigen Statistiken, dass um 1900 immer noch der Großteil der Erfindungen von Einzelerfindern gemacht wird, aber dieses Muster ist seit der Einrichtung von Forschungslaboratorien und Patentmanagement einem zunehmenden Erosionsprozess unterworfen und heute geht man davon aus, dass durchschnittlich mehr als 80% patentierter Erfindungen aus den Forschungslaboren von Unternehmen stammen.100 Die Absorption von Erfindungs- und Patenttätigkeiten in die Geschäftskalküle der Großindustrie bleibt seit ihrem Beginn nicht ohne Kritik. Einige Kritiker hängen eher romantischen Verklärungen des genialen Erfinders nach: dieser habe sich mit Patenten eigenständig seinen Lebensunterhalt gesichert und sehe sich jetzt in Industrielaboratorien zum Lohnarbeiter degradiert, der seine Unabhängigkeit und Genialität verliere. Bei anderen Beobachtern stößt man auf härtere Töne:
99 „If science was to be effectively controlled, scientists had to be effectively controlled; the means to such control was the fostering of a spirit of cooperation among researchers second only to a spirit of loyalty to the corporation“ (vgl. Noble 1977: insbesondere Kap. 7, hier S. 119). 100 Siehe Hughes 1989: S. 104 ff; vgl. auch Statistiken des US-amerikanischen und des Deutschen Patentamts, aus denen für das Jahr 2009 respektive 2008 hervorgeht, dass etwas mehr als 15% bzw. in Deutschland lediglich 8,4% der Patenterteilungen auf „independent inventors“ bzw. die Kategorie „Anmelder = Erfinder“ entfallen (www.uspto.gov, Deutsches Patent- und Markenamt 2009: S. 14, für ausländische Patentanmeldungen waren es in den USA lediglich 3,1%); siehe allerdings auch Whalley 1991, der die These der Umstellung und die Größenordnungen insgesamt nicht bestreitet, allerdings die Rede einer gänzlichen Verabschiedung von „independent inventing“ als überzogen einschätzt und am Beispiel der USA darauf hinweist, dass nach wie vor viele (qualitativ) wesentliche Erfindungen von nicht unmittelbar unternehmerisch gebundenen Erfindern hervorgebracht würden.
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„I know of rich companies here in the U.S. whose main method of procedure is to frighten, bulldoze, and ruin financially the unfortunate inventor who happens to have a patent which he is not willing to concede to them on their own terms; that is to say, for next to nothing“ (Baekeland 1909: S. 205).
Das Patentsystem gilt als Steigbügelhalter für die Bildung von Monopolen und Kartellen, welche den einzelnen Akteur auf mindestens illegitime (unlautere) Art und Weise an die Seite drängen und zudem – so der sich immer stärker verfestigende Vorwurf, der schließlich in die antitrust-Gesetzgebung mündet – der Idee der freien Konkurrenz gleichwertiger Marktteilnehmer diametral entgegenstehe.101 Es ist für uns hier nicht notwendig, in diese Debatte über ein moralisches Für und Wider oder ein ökonomisches Pro und Contra des evolutionär sich durchsetzen unternehmerisch-strategischen Umgangs mit Patenten einzusteigen. Was allerdings aus unserer Sicht durch die harte Kritik der Monopolisierung des Patentmonopols durch Unternehmen deutlich wird, ist, dass sich belohnungs- und vertragstheoretische Rechtfertigungstheorien des Patents an diesem Punkt noch stärker ins analytische Abseits bewegen, insofern sie dem Einzelerfinder als Hauptreferenzpunkt ihrer Bemühungen um die Rechtfertigung des Patents verhaftet bleiben: „Whatever merit these theories [gemeint sind die konventionellen Patentrechtfertigungstheorien, C.M.] may have when they are applied to the work of individual inventors in a society of small enterprises in which inventions are relatively infrequent, they do not adequately describe the impact of the patent system in a society in which large corporations maintain research departments, and simultaneously and consecutively, the monopoly power given by many patents. Change of scale in the use of patents has substantially affected both the nature of the patent grant and the effect of the patent monopoly on the market“ (Edwards 1949: S. 217f., zitiert nach Machlup 1958: S. 38).
Ob sich einzelne Personen (oder Unternehmen) mit einem Patent „belohnt“ fühlen, oder ob einzelne Beobachter eine Austauschsituation in die Konkurrenz um Patente ‚hineinlesen‘ mögen: Mit diesen Ansätzen lässt sich nicht erklären, inwiefern das System eine neue Qualität und Dynamik annimmt, wenn ein neuer 101 Zum „great merger movement“ vgl. Lamoreaux 1985; im Jahr 1890 wird in den USA mit dem „Sherman antitrust act“ eine Antikartell- und Monopolgesetzgebung installiert; im Deutschen Reich tritt 1909 das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) in Kraft.
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Typus von Akteur, nämlich forschende (und multinationale) Unternehmen die Funktionalität des Patentrechts für ihre eigenen Zwecke zu instrumentalisieren beginnen und Patentrechte und ihr effektives Management dann zu einem kritischen Erfolgsfaktor auf wirtschaftlichen Märkten werden.
Interne Differenzierung, Professionalisierung und strukturelle Kopplung Die von uns verfolgte Leitthese ist, dass man auch an dieser Stelle in einem präzisen theoretischen Sinne differenzierter ansetzen muss, wenn man zu einer hinreichenden historischen Erklärung der Entwicklung und Strukturtransformation des Patentsystems gelangen will. Aus einer auf die Evolution des Patentsystems selbst als Untersuchungseinheit (und nicht dessen – ggfls. kritikwürdigen – wirtschaftlichen Wirkung) fokussierten system- und differenzierungstheoretischen Perspektive interpretieren wir die Verschiebung hin zu Unternehmen als Hauptpatentanmeldern als einen Wechsel der dominierenden Inklusionsform des Systems von Person zu Organisation. Man arbeitet den Prozess der Erfindungsgenerierung, Patentanmeldung und -durchsetzung jetzt in Form von vielen kleineren Patentepisoden ab. Es geht immer seltener um den einen ‚großen Wurf‘, an dem man jahrzehntelang in der Dachstube – bzw. seit Ford gängiger: in der Garage – gearbeitet hat, sondern Erfinden ist eine nach dem Prinzip der „group method“ (Noble 1977: S. 119f.) geleisteter kollektiver und routinehafter ‚going concern‘ im Rahmen formalisierter Mitgliedschaftspflichten. Angestellte Erfinder genießen kein persönliches Recht zur kommerziellen Nutzung der während der Dienstzeit mit unternehmerischen Ressourcen getätigten Erfindungen: Erfindungen unterliegen einer gesetzlichen Meldepflicht, die darüber hinaus arbeitsvertragsrechtlich abgesichert wird.102 Es ist hier wichtig, zwischen Organisation und Unternehmen (als spezifischem Typus von primär wirtschaftsbezogener Organisation, die profitable Geschäfte zu betreiben versucht) zu unterscheiden, um damit soziologisch klarzu102 Im deutschen Arbeitnehmergesetz liest man unter §5 (1): Der Arbeitnehmer, der eine Diensterfindung gemacht hat, ist verpflichtet, sie unverzüglich dem Arbeitgeber gesondert schriftlich zu melden und hierbei kenntlich zu machen, dass es sich um die Meldung einer Erfindung handelt.“ Und weiter unter §6 (1): „Der Arbeitgeber kann eine Diensterfindung unbeschränkt oder beschränkt in Anspruch nehmen“ (zitiert nach Bartenbach/Volz 2002: S. 6); zur Geschichte des Arbeitnehmererfinderrechts vgl. Kurz 1997, Gispen 2002; siehe juristisch überblickend auch Lüken 2008.
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stellen, dass wir entscheidende strukturverändernde Effekte nicht ausschließlich am Aspekt des Kommerzialisierens festmachen, sondern vor allem auch am Organisieren von Forschung und deren patentförmiger Auswertung. Gleichzeitig ist evident, dass es vor allem industrielle Unternehmen sind, welche sich des Mittels der Organisation von Forschung und deren Auswertung bedienen, um experimentell erzeugtes Wissen in komplexe Patentpositionen und damit in exklusiv abgesicherte Marktinnovationen zur Erzielung von Monopolrenditen umzumünzen. Der unaufhörliche Strom an Erfindungen, die in Form von Erfindungsmeldungen unternehmensintern und in Form von Patentschriften extern zirkulieren, stimuliert ununterbrochen Kommunikation über die Patentfähigkeit von Erfindungen, aus der heraus wiederum permanent Patentanmeldungen und Patentklagen, mitunter auch alternative strategische Optionen wie Geheimhaltung generiert werden. Das Zentrum des Systems, Gerichte und Patentämter, das sich als (tendenziell) global ubiquitäres Phänomen selbst erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts formiert – besonders nachdrücklich in Deutschland mit der Verabschiedung des Reichspatentgesetzes und der Installierung des Reichspatentamts 1877 – sieht sich dann mit einer radikal veränderten Systemperipherie konfrontiert, in der Großunternehmen die entscheidenden „Publikumsrollen“ einnehmen.103 Die Evolution des Patentsystems wird seit dieser Umstellung der Primärinklusion auf Unternehmen maßgeblich von der engen Verflechtung mit der technologischen Evolution beeinflusst, die seit der strategischen Nutzung industrieller Forschung als Wettbewerbsfaktor mit einer Intensität und Geschwindigkeit voranschreitet, die von den Leistungen einzelner „independent inventors“ strukturell nicht hätte getragen werden können. Vermittelt über unternehmerische Patentanmeldestrategien wird das Wirtschaftssystem jetzt zum ‚Dauerirritator‘ des Patentrechts und „überredet es zur Ko-Evolution“.104 Patentprüfungen, Patentrechtsprechung und Patentlegislation sehen sich unter einen permanenten Aktivitäts-, Beobachtungs- und Handlungsdruck von Seiten der systemischen Peripherie gesetzt. Es entwickelt sich ein Prozess des „Wettrüstens“ um patentrelevantes Wissen und ‚Systemexpertise‘, nicht nur zwischen verschiedenen Unternehmen, sondern auch zwischen Unternehmen und Patentämtern. In dieser Dauerauseinandersetzung geht es aus Sicht
103 Zur Unterscheidung von Leistungs- und Publikumsrollen als verschiedenen Inklusionsrollen siehe u.a. Stichweh 1988, für diesbezügliche empirisch-historische Ausarbeitungen und Anwendungen siehe Bohn 2006. 104 Wir formulieren in Anlehnung an Teubner 1991, Hutter 1992.
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von Unternehmen um die Maximierung von Patentansprüchen bei weitestgehender Minimierung der Offenbarung sensiblen, möglicherweise bezüglich zukünftiger Innovationsstrategien aufschlussreichen Wissens. Maßgeblich für den Erfolg im Wettbewerb um Patentpositionen ist nicht nur die schiere Menge gehaltener Patente, sondern auch deren wechselseitige Verflechtung. Von spektakulären Ausnahmesituationen abgesehen, in denen mit einem einzelnen Patent eine gesamte Branche monopolisiert werden konnte oder zumindest der Versuch dazu unternommen wurde, resultiert der effektive wirtschaftliche Wert eines Patents jetzt verstärkt aus einer Verknüpfung mit anderen Patenten innerhalb eigener bzw. bezüglich in Relation zu Patentportfolien der Konkurrenz.105 Mit der anschwellenden Komplexität des unternehmerischen Patentmanagements entsteht ein struktureller Bedarf für Spezialisierung: Spezifische Leistungen wie das Verfassen und Interpretieren von patent claims können nicht mehr von Forschungsmanagern oder Erfindern ‚nebenbei‘ erbracht werden, sondern erfordern zunehmend elaborierte Kompetenzen in rechtlichen, technischen und wirtschaftlichen Fragestellungen. Diese Querschnittsexpertise wird mit der funktionalen Rolle des Patentanwalts systemisch institutionalisiert. Patentanwälte arbeiten selbstständig oder werden in einer externen Kanzlei, in Großunternehmen aber bereits auch intern als „patent professional“, beschäftigt. Der Patentanwalt, der im Deutschen Reich zunächst noch „Civilingenieur“ genannt und 1900 mit der Verabschiedung des „Gesetzes betreffend die Patentanwälte“ zu einem Organ der Rechtspflege mit einer geschützten Berufsbezeichnung wird, übernimmt die Mittlerfunktion zwischen System und Peripherie.106 Der Patentanwalt leistet aus Sicht des Unternehmens nach außen hin die Übersetzung von technischem Wissen in rechtliche Patentansprüche und nach innen hin übersetzt er die Beobachtung des Stands der Technik und relevanter anderer Patentansprüche in den Bedarf der gezielten Erzeugung eigener patentrechtlicher Positionen (invention on demand) oder des Beklagens fremder Patentansprüche. Patenanwälte bzw. Patentkanzleien werden zum ‚switch board‘ der strukturellen Kopplung von Unternehmen, Patentämtern und Patentgerichten; nicht zuletzt aufgrund ihres Eigeninteresses an komplizierten und daher einträglichen „Patentcontroversen“
105 Zum „infamous Selden patent“, dessen vom amerikanischen Patentamt zunächst 1895 konzedierter Hauptanspruch de facto jede Form von Automobil abgedeckt hätte und 1911 schließlich stark eingeschränkt wurde, vgl. Merges/Nelson 1990: S. 846f., 888ff. 106 Zur Bedeutung der früheren Rolle des „patent practitioner“ in den USA vgl. Swanson 2009: S. 520, siehe auch Grubb 2004: S. 303ff.
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steigern und verfeinern sie die wechselseitige Irritabilität zwischen Patent- und Wirtschaftssystem. Die folgende Abb. 12 illustriert das Inserat eines „Civilingenieurs“ namens Dickmann aus einer Ausgabe des Simplicissimus aus dem Jahr 1896.107 Abbildung 13: Civilingenieur Dickmann – Berlin 1897
In der Kopplung des Systems an den im unternehmerischen Dauerproblem Rentabilität angelegten Bedarf für Innovation und Wirtschaftswachstum liegt ein wesentlicher Treiber systemischer Globalität. Im Zuge der ökonomischen Erschließung internationaler Märkte wächst dann der Bedarf, Patentrechte auch im internationalen Maßstab zu suchen. Das bereits erwähnte bemerkenswerte Ausmaß ausländischer Patentierungsaktivität Edisons und seiner Unternehmen ist hier ein erster wichtiger Impuls bei der Herausbildung globaler Technologiegütermärkte, die sich durch eine dichte internationale Verflechtung von patentrechtlichen Exklusivitätsansprüchen charakterisieren. Wenn auch die Anteile ausländischer Patente zum damaligen Zeitpunkt noch vergleichsweise gering waren, kann man die Umrisse des durch die Weltkriege stark verzögert durchbrechenden Strukturtrends zum internationalen Patentieren (rückblickend) bereits erkennen. Der anlaufende Trend zur globalen Auswertung von Patentansprüchen verstärkt gleichzeitig den Prozess der strukturellen Abwertung des Einzelerfinders als systemisch maßgeblichen Inklusionsfigur. Zum einen fehlen dem Einzelerfinder meistens materielle Ressourcen, um die ungleich höheren Transaktionskosten internationalen Patentierens (ausländische Rechtsvertretung; Übersetzen von Dokumenten, Patentgebühren etc.) zu decken. Zum anderen ergibt sich ein struktureller Nachteil auch mit Blick auf die für Einzelpersonen notwendigerweise limitiert bleibenden kognitiv-infrastrukturellen Kapazitäten, die es nicht
107 Simplicissimus, 1. Jg., Heft 11: S.7 (13. Juni 1896); zugänglich über die digitalisierte Gesamtausgabe auf der Webseite www.simplicissimus.com.
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erlauben, alleine einen hinreichenden Überblick über den nun immer komplexer und globaler werdenden Stand der Technik zu behalten. Abschließend halten wir somit an dieser Stelle fest, dass sich bereits ungefähr um 1900 in den zentralen Patentregionen der Welt die im dritten Kapitel beschriebene Binnenstruktur des Patentsystems und die strukturelle Kopplung des Patentsystems an Unternehmen der Wirtschaft etabliert hat. Die „industrialization“ des Patentsystems muss man gleichzeitig auch als „organization“ des Systems beobachten, welche die Produktivitätspotentiale der formalisierten Steuerung von Erfindungsarbeit nutzt. Dieser Umbruch geht einher mit einer „professionalization“ des Systems, die patentspezifische Leistungsrollen ausbildet, die Patentrecht und Wirtschaft strukturell koppeln. Die Inklusion in das System wird nun immer mehr durch die Inklusion in Organisationssysteme vermittelt. Das ‚alltägliche‘ Gesicht des Systems wird nicht mehr von vereinzelten, mitunter ‚spinnerten‘ Genies und ihren bahnbrechenden Erfindungen geprägt. Das Patentsystem entwickelt sich vielmehr zu einem rationalisierten, von organisierter Arbeit geprägten System, in dessen Kontext spezifisch akademisch ausgebildete Patentspezialisten arbeiten: die Welt der Patente ist entzaubert.
F AZIT : Z UR E MERGENZ
DES
W ELTPATENTSYSTEMS
Mit der Beschreibung der Emergenz des absoluten Neuheitsbegriffs und des forschenden Unternehmens als zentraler Form organisierter Inklusion haben wir zu unserer historischen Skizze der Entstehung des Weltpatents zwei weitere wesentliche Punkte hinzugefügt, mit denen wir nun dieses Kapitel abschließen können. Wenn wir nun noch einmal den Bogen schlagen x von den ‚Spurenelementen‘ der Patentnorm Neuheit und Nützlichkeit in den frühneuzeitlichen Praktiken der Privilegienerteilung x über die Entstehung der ersten nationalstaatlichen Patentrechtssysteme mit der Durchsetzung und Kodifizierung patentschriftlicher Öffentlichkeit x bis hin zur Etablierung des absoluten Neuheitsbegriffs und der Emergenz des forschenden multinationalen Unternehmen als dominierenden Inklusionsform im Zuge des Weltverkehrs des 19. Jahrhunderts, dann gibt bereits diese vereinfachende Aufzählung eine Ahnung von der historischen Tragweite und Vielschichtigkeit dieses evolutionären Prozesses. Tab. 4 kontrastiert daran anknüpfend schlagwortartig die wesentlichen Eigenschaften von Privileg und Weltpatent als Start- und Endpunkt unserer Analyse:
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Tabelle 4: Frühneuzeitliches Privileg und Weltpatent im Vergleich Privileg
Weltpatent
lokal-territorial
staatlich-territorial (multi- und transnational)
Gewerbe (manufacture, art)
technische Erfindung
neu, nützlich
universell und hinreichend neu / gewerblich anwendbar
permissiv und prohibitiv
prohibitiv
Gnadencharakter
subjektiver Rechtsanspruch
Ehre/Reputation (ascribed)
Fachliche Kompetenz (achieved)
Patronage/Klientelismus
formal- und materiellrechtliche Schutzkriterien
fakultativ Territorialpolitischer Souverän
obligatorisch Patentprüfer/Patentrichter (Staat)
Erfinder/Importeur
Erfinder/Anmelder
Einzelerfinder
Unternehmen
mündlich/schriftlich
gedruckt/digital
geheimes Wissen
öffentliches Wissen
Schmeichelei, Gunsterweisung Psychisches Erinnern, schriftliche Fragmente
Schriftliche Rhetorik und Argumentation Elektronische Datenbanken, Computerisierung
Verbergen sich hinter diesen 15 Gegensatzpaaren abstrakte Leitlinien, evolutionäre „Metatrends“, mit denen sich die Vielschichtigkeit der aufgelisteten Merkmale konzeptionell auf den Begriff bringen lässt? Ein erstes sich durchziehendes Moment der Strukturentwicklung lässt sich mit dem differenzierungstheoretischen Leitbegriff der (Aus-)Differenzierung fassen. Die Genese des Patentsystems ist eine Geschichte des Unabhängigwerdens von leitenden Prämissen der vormodernen stratifizierten Gesellschaft bei gleichzeitigem Abhängigwerden von zentralen Strukturen und Akteuren der modernen Gesellschaft. Ein wesentliches Moment dieses Ausdifferenzierungsprozesses
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stellt die Überformung des althergebrachten Privilegs, d.h. die Adoption wesentlicher Sinnelemente wie Neuheit und Nützlichkeit bei gleichzeitiger rechtlicher Emanzipation von stratifikatorisch geprägten Strukturüberhängen dar. Bestand die primäre gesellschaftliche Umwelt des Privilegs noch im Prärogativ und der „Policey“ des politischen Souveräns, umfasst die Primärumwelt des modernen Patents zunächst primär nationale Märkte und einheimische Erfinder und dann wie beschrieben verstärkt internationale, forschende Unternehmen, die im internationalen Maßstab nach Patentrechten zur Absicherung ihrer technologiebasierten Innovationen suchen. Die Kopplung des Systems an die soziale Form Organisation trägt den Ausdifferenzierungsprozess maßgeblich mit, läuft aber gerade nicht darauf hinaus, dass sich das entstehende System auf der Ebene von Organisationen und Professionen, d.h. über formalisierte Rollenbezüge integrieren ließe. Dieser zweiseitige Prozess des Ab- und Unabhängigwerdens von sich ihrerseits transformierenden Umwelten geht einher mit einem Aufbau von interner Komplexität qua interner Differenzierung (Entstehung und Differenzierung von Rollen, Zentrum vs. Peripherie, einem öffentlichen Gedächtnis von Rechtsansprüchen, Urteilen, patentiertem Wissen etc.). Die Genese des Patentsystems lässt sich somit als Ausdifferenzierung eines autonomen Sinnkerns begreifen, an dem strukturierte Komplexität ankristallisiert, indem die Reagibilität auf spezifische Umweltbedingungen (technologische Evolution) auf hochselektive Art und Weise gesteigert wird bei gleichzeitigem Abschleifen von tradierten Relevanzen, die für die sachliche Logik dieses Sinnkerns immer weniger eine Rolle spielen. Sachbezogene, bearbeitbare und juristisch endscheidbare Fragen z.B. nach der Neuheitsschädlichkeit von Wissen treten zunehmend an die Stelle von (unterschwelligen) an Personen und ihrem Rang orientierten Fragen wie: „Ist der Erfinder ein ‚Ehrenmann‘, auf dessen Wort man zählen kann?“ oder: „Kommt der Erfinder aus einer guten (Londoner) Familie?“ etc. Das Patent ist somit ein Forschungsgegenstand, an dem exemplarisch die Emergenz des für die moderne Gesellschaft charakteristischen Prinzips des sachspezifischen Universalismus studiert werden kann. Patente erweisen sich in dieser differenzierungstheoretischen Sicht zugleich als Ursache und Konsequenz von moderner Gesellschaft. Die moderne, d.h. vor allem: funktional differenzierte Gesellschaft, emanzipiert sich – als das umfassende System – ihrerseits mit der Teilevolution des Patents von ihren Vorgängergesellschaften und verselbstständigt sich damit unwiderruflich gegenüber Stratifikation als tragendem Prinzip gesellschaftlicher Ordnung. Eine zweite, eng mit dem differenzierungstheoretischen Gedankengut verknüpfte Sichtweise setzt einen medientheoretischen Akzent. Mit dieser auf tech-
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nische (infrastrukturelle) Möglichkeiten der Kommunikation fokussierenden Perspektive lässt sich zeigen, dass die Ausdifferenzierung und Expansion des Patentsystems historisch als ein Effekt evoluierender Kommunikationsweisen ermöglicht wird. Eine Distanzierung gegenüber den Zumutungen von Schichtung kann erst dann effektiv gelingen, wenn sich im Medium von Patentschriften und anderen öffentlichen Kommunikationsorganen ein unpersönlicherer, anonymisierter Kommunikationsstil etablieren kann, der immer weniger die Reproduktion von Status und Schichteffekten leisten muss – und dies auch immer weniger zu leisten imstande ist –, sondern einen Drang zur Evidenz-in-der-Sache auslöst. Druckschriftliche Kommunikation, d.h. öffentlich zugängliche und im Hinblick auf Öffentlichkeit stilisierte Kommunikation via Zeitschriften und Patentschriften ermöglicht und erzwingt einen konnektiveren und komparativeren Kommunikationsstil; einzelne Patentelemente gewinnen ihren Sinn nunmehr ausschließlich aus dem Vergleich mit anderen Patentelementen: das System schöpft aus sich selbst (Autopoiesis). Wir haben gesehen, dass diese autonome Welt der Patente mit der im Zuge des Weltverkehrs Fuß fassenden kommunikations- und transporttechnischen Neuerungen einem hieran anknüpfenden Universalisierungs- und Globalisierungsschub unterworfen wird. Die Reichweite von Patentkommunikation ist nun tendenziell unbegrenzt bei einem gleichzeitigen Trend zur Synchronisierung. Systemische Selektionen orientieren sich nun an der laufenden Unterstellung eines singulären Horizonts patentierten und patentfähigen Wissens. Dies leitet über zu einer dritten, die beiden ersten Ansätze zusammenführenden, weltgesellschaftstheoretischen Perspektive. Fasst man das Patentrecht wie Wissenschaft, Wirtschaft etc. als einen funktionalen Kommunikationszusammenhang auf, der eine spezifische Sinndomäne monopolisiert und in diesem reduktiven Weltzugriff eine grundsätzliche Einschränkung der Inklusion von technischem Wissen und Akteuren ablehnt (Universalismus) und analysiert zusätzlich die expansiven, konnektiven und inklusiven Potentiale von Kommunikationsverbreitungstechniken und Organisationen, dann wird die Evolution des Patentsystems als Problem fassbar und erklärbar. Wir beobachten dann, in weltgesellschaftstheoretischer Zuspitzung der kurz zuvor aufgelisteten Merkmale des Weltpatents: x ein funktional ausdifferenziertes System, x das es nur noch einmal gibt, x das sich auf ein einheitliches globales Gedächtnis (Weltöffentlichkeit von Wissen) stützt, x an dem grundsätzlich jeder – wenngleich auch unter ähnlich voraussetzungsvollen Bedingungen wie in der Wissenschaft – teilhaben kann,
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x dessen Patentgesetze sich im Zuge von Rechtsvergleichung beobachten und einem globalen Isomorphisierungsdruck unterliegen, x das sich auch über politischen Druck und mit der voranschreitenden Staatenbildung weltweit weiter verbreitet, x das von den wirtschaftlichen Interessen multinationaler Unternehmen angetrieben wird, die tendenziell überall auf der Welt Patente reklamieren. Dieses Weltpatentsystem – so der von uns in diesem (und z.T. im letzten Kapitel) herausgearbeitete Befund – lässt sich bereits um 1900 beobachten; es weist eine für das späte 19. Jahrhundert charakteristische und auch für andere Zusammenhänge beobachtbare ‚Weltstruktur‘ auf. Diese Struktur beruht ihrerseits auf einem evolutionären Prozess der Entfaltung, Expansion und Autonomisierung von Sinnbezügen, die sich bereits ein Jahrhundert zuvor um 1800 herauskristallisiert hatte. Mit dieser Zusammenfassung soll auch noch einmal denjenigen Perspektiven eine dezidierte Absage erteilt werden, die unter der Globalisierung des Patentsystems einen Prozess verstehen, der erst weit später – etwa ab den 1970er Jahren mit dem Inkrafttreten des Patent Cooperation Treaty– beginnt und mit dem TRIPS-Agreement einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Der Weltcharakter des Systems hängt nicht entscheidend ab von diesen späteren Errungenschaften rechtlicher Harmonisierung und Standardisierung, er hängt auch nicht entscheidend ab von den später massiv ansteigenden Raten internationalen Patentierens, die ca. um das Jahr 2000 einen Höhepunkt erreichen. Die Weltlichkeit liegt vor allem in der Universalität der Patentnorm begründet, die zunächst vor allem in Form des patentrechtlichen Neuheits- und Öffentlichkeitsverständnisses globale Relevanz entfaltet. Zunehmende internationale Diffusion und Isomorphie sowie die voranschreitende überregionale Verknüpfung von Patentrechten sind allerdings – insbesondere für den im Feld agierenden Akteur Bedeutung für die globale Evolution des Weltpatents. Bei den meisten Akteuren setzt sich zudem wahrscheinlich erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts mit der Vereinfachung internationalen Patentierens und den „patent wars“ (siehe das nächste Kapitel) unwiderruflich die Erfahrung durch, innerhalb eines globalisierten Patentrelevanzraums zu operieren. Im Rahmen unserer analytischen Perspektive sei an dieser Stelle abschließend festgehalten, dass es sich bei diesen Vorgängen um globale Expansionsprozesse und die Ausweitung psychischer und organisatorischer Reflexionshorizonte innerhalb eines ungefähr seit 1900 bereits beobachtbaren Weltpatentsystems handelt.
Kapitel 7: Patentmanagement in forschenden Unternehmen: Strategische Perspektiven
E INLEITUNG In den letzten Kapiteln haben wir an einer soziologischen Beschreibung des Patentsystems gearbeitet, die sich um Distanz zu den ökonomischen Modellen der Erklärung (Rechtfertigung) des Patents und den Perspektiven der handelnden Akteure wie Erfindern und Unternehmen bemüht hat. Diese soziologische Distanz ist wesentlich für diese Arbeit, denn nur sie ist es, die uns ein hinreichendes Verständnis für die strukturelle Selbstständigkeit des Kommunikationszusammenhangs der Patente (Autonomie des Patentsystems) eröffnet. Wir haben das Patentsystem daher bewusst abstrakt als System beschrieben, das sich von einer Umwelt unterscheidet, in der nicht nur wirtschaftliche Akteure und wirtschaftliche Interessen (und deren Entstehung und Wandel) vorkommen, sondern in einem abstrakteren Sinne Gesellschaft, d.h. sehr unterschiedliche gesellschaftliche Kommunikationsformen, soziale Strukturen und Semantiken, die sich ihrerseits ständig selbst verändern. Nur auf diesem Wege ließ sich ein historisch differenzierungsfähiges Konzept des Patents entwickeln, das einen offeneren Blick für verschiedene Formen und Motivationen der Inklusion in das System hat und nicht a priori auf betriebswirtschaftliche bzw. volkswirtschaftliche Perspektiven und Fragen zum ökonomischen Pro und Contra von Patenten fixiert ist. Allerdings sind wir gerade mit dieser zunächst abstrakter ansetzenden Analyse des Patents zu dem Schluss gekommen, dass es sich bei Wirtschaft in einem allgemeinen und bei Unternehmen in einem präziseren Sinne um die primäre ge-
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sellschaftliche Umwelt des Patentsystems handelt.1 Mit der Rede von „Primärumwelt“ verbinden wir nicht die Aussage, dass anderes und andere Akteure – indigene Gruppen als Patentkläger, Patentprotestgruppen, Technologietransferstellen, die politische Legislative – weniger wichtig wären, sondern konstatieren lediglich, dass an den Kernoperationen des Systems (Patente anmelden, prüfen, negieren) fast immer unternehmerische Akteure als Adressen beteiligt sind und die Systemkommunikation daher eng an unternehmerische Patentkalküle, korrespondierende Infrastrukturen und deren Steuerung (Patentmanagement und Patentstrategien) gekoppelt ist. Das unternehmerische Interesse an Patenten als Mittel zum Zweck der Generierung von Profiten – sei es durch Monopolrenditen für eigene Innovationen, durch Patentlizenzen oder durch das Drohen mit folgenreichen Patentklagen und das Profitieren von lukrativen „litigation settlements“ – ist die ‚Unruhe‘ des Patentsystems: Es ist dieses Interesse, welches das System permanent mit technischem Wissen und daran gekoppelten subjektiven Patentansprüchen versorgt und somit ständig Patentkommunikationen anregt. Indem wir im Folgenden die unternehmerische Perspektive auf das Patentsystem zum Hauptreferenzpunkt unserer Analysen machen, wechseln wir somit unseren Blickwinkel auf das Patent. Wir schwenken über zu einer Analyse des Patents als Tätigkeitsgebiet und Thema im Rahmen anderer, nämlich wirtschaftlicher und unternehmerischer Probleme, d.h. wir versuchen, das Patent als spezifischen Problemlösungsmechanismus aus Sicht des Unternehmens zu verstehen. Wir werden diese Analyse dabei mit einer Reihe von Beispielen, Tabellen und Schaubildern anreichern und auch häufiger veranschaulichende, praxisbezogene Stellungnahmen unserer Interviewpartner aus dem Forschungsmanagement von Unternehmen und akademischen Einrichtungen zitieren. Die folgenden Beschreibungen verstehen sich deswegen allerdings nicht als ‚Praxisleitfaden‘ für das Handeln im Feld, sondern zielen ausgehend von einer theoretischen Anleitung darauf ab, eine empirisch gesättigte Anschauung zentraler Problemstellungen unternehmerischen Patentmanagements zu entwickeln. Bei unseren Beobachtungen werden wir uns im Wesentlichen auf zwei Branchen bzw. Branchenkomplexe beschränken: Pharma (und z.T. Biotechnologie) und den Komplex der patentförmig stark miteinander verflochtenen Branchen Konsumelektronik/Chips/Halbleiter/Telekommunikation. Wir verfolgen dabei
1
Dies zu übersehen, wäre vergleichbar mit dem Fehler, aus der Ablehnung der Reduktion von Globalisierung auf Wirtschaftliches zu schließen, die Wirtschaft und multinationale Unternehmen seien nicht einer der wichtigsten Treiber von Globalisierungsprozessen.
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kein Interesse an einem ausführlichen Branchenvergleich in dem Sinne, dass die Branchen und ihre Unterschiede im Umgang mit Patenten die primäre analytische Bezugseinheit darstellten und wir Merkmale dieser Branchen im Hinblick auf einige übergeordnete Dimensionen durchdeklinieren wollten. Vielmehr werden diese Differenzen für uns im Hinblick auf die Vielschichtigkeit der strategischen Optionen informativ, mit denen man den Möglichkeitsraum des Patentsystems auszuschöpfen versuchen kann. In einem ersten Schritt werden wir zunächst die gestiegene Bedeutung von Patenten für technologieintensive Unternehmen herausstreichen, um dann in Anlehnung an managementtheoretische Einsichten die unternehmensinterne Funktion abzuleiten, die Patentmanagement in intensiv patentierenden Branchen zukommt. Wir werden dann mit Hilfe der analytischen Unterscheidung von normativen und kognitiven Aspekten einige zentrale Momente des unternehmerischen Managements von Patenten beobachten. Daran anknüpfend gehen wir auf das Phänomen des akademischen Patentierens ein, bevor in einem resümierenden Abschnitt skizziert wird, wie sich ausgehend von den gesammelten empirischen Einsichten und einem alternativen soziologischen begrifflichen Verständnis ausgehend Patente und Patentmanagement als Mechanismen unternehmerischer Konkurrenz beschreiben lassen.
P ATENTMANAGEMENT : U NTERNEHMERISCHE F UNKTION „Patent awareness“ Patentmanagement – oder in allgemeinerer Form: Intellectual Property Management – spielte im Bewusstsein des Unternehmensmanagements insbesondere im Vergleich zu Funktionen wie Produktion, Vertrieb und Marketing lange eine eher marginale Rolle. Patente wurden eher als etwas ‚Störendes‘ wahrgenommen, da ihnen in der Regel keine wettbewerbsentscheidende Bedeutung zugemessen wurde. IP- bzw. Patentmanagement war häufig noch nicht zu einer unternehmerischen Aufgabe eigenen Rechts ausdifferenziert und wurde primär als eine defensiv-reaktive Aufgabe verstanden: „Managing intellectual assets used to be a backwater, consigned to research laboratories and to dusty file drawers in the offices of patent attorneys. Insofar as such assets were managed at all, they were mostly managed defensively: after a company’s lab developed something new, the legal department would get a patent and try to ensure that third parties didn’t infringe on it or otherwise misappropriate it“ (Torres 1999: S. 28).
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Dieser eher zögerlich-passive Umgang mit Patenten und IP beginnt sich seit den 1980er Jahren immer mehr zu verändern: Es lässt sich ein deutlicher volkswirtschaftlicher und betriebswirtschaftlicher Relevanzgewinn von Patenten und IP beobachten. Diesen Wandel kann man zunächst in einem allgemeinen Sinne mit gesellschaftlichen Strukturveränderungen in Verbindung bringen, die unter dem Stichwort der „Wissensgesellschaft“ verhandelt werden.2 Bezug genommen wird in den Theorien bzw. Diagnosen der Wissensgesellschaft – nomen est omen – auf den explosiven Bedeutungszuwachs von Wissen in der modernen Gesellschaft, der sich nicht ausschließlich, aber insbesondere auch in der Wirtschaft beobachten lässt (knowledge economy). Ökonomen gehen heute davon aus, dass es vor allem das in Personen, Prozessen, Produkten, Patenten etc. verkörperte firmenspezifische Wissen, ist, welches den Wert eines Unternehmens definiert.3 Das populärste Beispiel ist die Marke Coca-Cola™, die als der wesentliche „intangible asset“, als der Kern des immateriellen Vermögens des gleichnamigen Unternehmens gilt und in ihrem Wert weit höher als das materielle Anlagevermögen des Unternehmens veranschlagt wird.4 Diese Behauptung einer starken Bedeutungszunahme von Patentschutz lässt sich durch eine Reihe von patentspezifischeren Faktoren konkretisieren. Seit Beginn der 1980er Jahre setzt ein kontinuierliches weltweites Wachstum an Patentanmeldungen und Patenterteilungen ein, das in absehbarer Zeit wahrscheinlich die Marke von zwei Millionen Patentanmeldungen pro Jahr erreichen wird. Abb. 14 illustriert diesen Anstieg des weltweiten Aufkommens an Patentanmel-
2
Vgl. selektiv Bell 1973, Gibbons et al. 1994, Stehr 1994, Willke 1998, Weingart 2001, Steinbicker 2001, Stichweh 2004a; siehe auch ausdrücklich Drucker: „The basic economic resource – ‚the means of production‘ to use the economist’s term – is no longer capital, nor natural resources (the economist’s ‚land‘), nor ‚labor‘. It is and will be knowledge“ (Drucker 1994: S. 8).
3
Wir zitieren aus Quinns „intelligent enterprise“: „With rare exceptions, the economic and producing power of a modern corporation lies more in its intellectual and service capabilities than in its hard assets – land, plant and equipment“ (Quinn 1992: S. 241).
4
„Trademarks are a form of property; they are considered intellectual rather than commercial property but can be extremely valuable to their owners. For example, it has been suggested that if all the plants and inventories of the Coca-Cola Company were to go up in smoke overnight, the company could acquire funds to rebuild by using the inherent goodwill in the marks alone as security“ (Cohen 1986: S. 61).
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dungen, der sich für die 25 letzten dokumentieren Jahre (1985-2010) auf 115% beläuft.5 Abbildung 14: Zunahme weltweiter Patentanmeldungen 1985-2010 2.000.000 1.800.000
2010: 1.979.133
1.600.000 1.400.000 1.200.000
1985: 921.715
1.000.000 800.000
Ein weiterer, vielleicht aussagekräftigerer Indikator ist der sprunghaft steigende Handel mit Patentlizenzen. Lizenzmanagement wird vor allem in sehr patentintensiven Branchen, die hohe Überschüsse an verwertbaren Erfindungen produzieren, zunehmend als Wettbewerbsinstrument eingesetzt und als zusätzliche Umsatzquelle erschlossen. So steigerten beispielsweise US-amerikanische Unternehmen ihre geschätzten Patentlizenzerlöse von 15 auf bereits hundert Milliarden US-Dollar und für das Jahr 2009 wurden die Höhe weltweiter Patentlizenzeinnahmen auf etwa 180 Milliarden US-Dollar geschätzt (OECD 2012a: S. 197f., Athreye/Yang 2011). Für diese massive Zunahme an weltweiten Patent- und Lizenzierungsaktivitäten lässt sich eine Reihe von Ursachen ausmachen, die wir an dieser Stelle nicht ausführlich diskutieren, sondern lediglich kurz benennen können.6 Erwähnenswert sind vor allem Aspekte der regionalen und internationalen Harmonisie5
Daten liegen bis 2010 vor; der Gesamtzuwachs entspricht einem durchschnittlichen jährlichen Wachstum (CAGR) von 3.10%; Datenquelle: www.wipo.int (section: statistics); vgl. auch World Intellectual Property Organization 2011.
6
Vgl. überblickend zum Beginn der „pro patent area“ und zum Wachstum des Systems Grandstrand 1999: S. 38ff., Kortum/Lerner 1999, Hall 2005.
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rung von Patentrechten und die mit der Digitalisierung von Datenbeständen einher gehende Verbesserung der Verfügbarkeit von Patentinformationen. Eine besondere Bedeutung wird hier dem 1980 in den USA erlassenen Bayh-Dole-Act zugeschrieben, der insbesondere Universitäten das Patentieren erleichterte (Mowery et al. 2001) und somit auch das akademische Interesse an einem Geschäft mit Patentlizenzen erhöhte. Weiter wird in der Literatur häufig die Installierung des U.S. Court of Appeals for the Federal Circuit (CAFC) im Jahr 1982 genannt, mit der die Chance, ein Patent in den USA durchzusetzen (enforceability) stark erhöht wurde (überblickend Sutton 1982, Coolley 1989). Ferner ist von der bereits thematisierten Ausweitung des Kriteriums der Patentierbarkeit auf biotechnologische Erfindungen (Stichwort: Chakrabarty), Software und Geschäftsmethoden eine stimulierende Wirkung auf Patentierungsaktivitäten ausgegangen (vgl. oben in Kap. 3, S. 102ff.). Darüber hinaus hatten wir schließlich auch die „performativen Effekte“ von Patentindikatoren und -statistiken als einen weiteren ausschlaggebenden Faktor für systemisches Wachstum ausgemacht (Kap. 4, v.a. S. 142ff.). Der Bedeutungsgewinn von Patenten für Unternehmen lässt sich auch an weiteren Indikatoren wie dem Sprachgebrauch bei der Beschreibung von Patentkonkurrenz festmachen. In Selbst- und Fremdbeschreibungen der Hauptakteure in der globalen Konkurrenz um Patente stößt man häufig auf kriegerischmilitärisch klingende Töne. Wendungen wie global patent races, aggressive Patentierungsstrategien, defensive publishing und Lizenzgefechte symbolisieren, in welchen Termini die Beteiligten und deren Beobachter die Konkurrenz um die wichtigen „Markthebel“ Patente heute imaginieren bzw. öffentlichkeitswirksam beschreiben.7 Etwas anders, aber mit einem vergleichbaren Hang zur ‚Dramatik‘ setzen Pharma-Unternehmen und ihre politische Lobby bei der Beschreibung der wichtigen Wirkung von Patenten in der finanziell aufwendigen Arzneimittelforschung an; dort werden Patente mitunter als „Brot und Butter“, oder als „life blood“ (Drews 1998) der Industrie bezeichnet: „Patents and the pharmaceutical industry form a symbiosis which is inseparable“ (Cueni 1999: S. 13). Zu einer Zuspitzung in der internationalen Konkurrenz um Patente kam es in den 1980er Jahren zunächst in der seit ihrer Entstehung immer schon ver-
7
Auch wenn man etwas weiter historisch zurückblickt, trifft man auf ähnliche Semantiken. Danielian etwa beschreibt in seiner Monographie zu AT&T die gegen Ende des 19. Jahrhunderts anlaufenden strategischen Forcierungen von technologischer Konkurrenz als „Napoleonic concept of industrial warfare, with inventions and patents as the soldiers of fortune“ (Danielian 1939: S. 117).
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gleichsweise patentintensiven Elektronik- und Halbleiterindustrie, als japanische und US-amerikanische Unternehmen mit massiv verstärktem Einsatz von organisationalen Ressourcen begannen, sich wechselseitig mit Patentklagen zu überziehen. Diesen „patent wars“ (Warshofsky 1994) nahmen nicht nur in Asien und den USA, sondern rasch auch in Europa eine wichtige Rolle bei der Steigerung der „patent awareness“ ein. Patente sind nicht mehr lediglich „nice-to-have“, sondern werden zu einem entscheidenden Wettbewerbsrisiko, welches man unternehmerisch zu nutzen versuchen muss, indem man die für die systematische Bearbeitung dieses Risikos entsprechenden internen organisatorischen Ressourcen aufbaut. Spätestens in den 1980er Jahren beginnt der take-off zu einem systematisch organisierten Management von Patenten und patentrelevantem Wissen.
Patentmanagement als „core competence“ Patentmanagement findet sich besonders ausgeprägt in technologieintensiven Unternehmen, deren Wertschöpfungsprinzip vor allem in der Produktion und Kommerzialisierung technologischen Wissens besteht. Für moderne Technologieunternehmen – etwa in den Branchen Automotive, Electronics, Semiconductors, Chips, Chemicals, Pharma, Biotech –, besteht das primäre Problem verkürzt gesagt darin, technisches Wissen so profitabel wie möglich in Umsatzerlöse umzuwandeln, sei es in Form von eigenständig vermarkteten Produktinnovationen oder in Form von Erlösen durch das Lizenzieren von Technologien. Die „knowledge creating company“ (Nonaka/Takeuchi 1994) muss demnach auch eine knowledge managing company werden, d.h. ein fortlaufendes Wissensmanagement betreiben, das die Erzeugung sowie die Kommunikation von technischem und vermarktbarem Wissen über interne und externe Grenzen des Unternehmens hinweg beobachtet und zu koordinieren sowie zu planen versucht: „In an economy where the only certainty is uncertainty, the one sure source of lasting competitive advantage is knowledge. When markets shift, technologies proliferate, competitors multiply, and products become obsolete almost overnight, successful companies are those that consistently create new knowledge, disseminate it widely throughout the organization, and quickly embody it in new technologies and products“ (Nonaka/Takeuchi 1994: S. 12).
Das Schlüsselproblem für das Management eines technologieintensiven Unternehmens liegt dann vereinfacht gesagt in der Verknüpfung von technischem Wissen mit einem Markt, also darin, sachliche assets (Erfindungen) in soziale
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assets (Kunden) und somit in (möglichst profitable) Geschäfte zu transformieren. Anders formuliert kommt es dann aus Sicht des Unternehmensmanagements vor allem darauf an, die Unternehmensfunktion der Forschung und Entwicklung (F&E) effizient mit anderen Funktionen wie Marketing, Sales und Logistik zu kombinieren und aus dieser Kombination eine attraktive Innovation zu generieren. Eine solche Sichtweise auf Marktinnovationen und deren Management entspricht einer auf interne Ressourcen fokussierenden Perspektive auf Strategie und Wettbewerbsvorteile und damit einem Paradigma, das in der Managementliteratur unter dem label „resource-based view of the firm“ bzw. daran anschließend unter dem „dynamic capabilities approach” verhandelt wird. Diese Ansätze, die unter anderem mit Autoren wie Robert M. Grant und David J. Teece verbunden werden, gehen in Distanzierung vom entgegengesetzten Ansatz „marketbased view of the firm“ davon aus, dass Wertschöpfung und Wettbewerbsvorteile vor allem auf eine optimale Ausbeutung der internen Ressourcen bzw. „dynamic capabilities“ einer Firma-in-einer-turbulenten-Umwelt zurückzuführen sind (siehe zum Vergleich beider Ansätze Mauri/Michaels 1998). Demgegenüber sei „strategizing“, nämlich das ‚Ausmanövrieren‘ der Konkurrenz, das gezielte Anheben von Markteintrittsbarrieren etc. von sekundärer Bedeutung.8 Wir wollen in diesem Zusammenhang auf einen naheliegenden problematischen Aspekt hinweisen, der uns den Weg zu einem konkreten Verständnis der unternehmerischen Funktion des Patentmanagements weisen wird. Die Frage, die man – insbesondere als systemtheoretisch sensibilisierter Beobachter – an die Ressourcentheorie richten kann, lautet: Inwiefern ist es sinnvoll, von internen Ressourcen und der Effizienz ihrer Ausbeutung als den strategisch entscheidenden Managementfaktoren zu sprechen, wenn die hervorgebrachten Marktinnovationen in ihrem kommerziellen Wert sehr wesentlich auch
8
„The framework suggests that private wealth creation in regimes of rapid technological change depends in large measure on honing internal technological, organizational, and managerial processes inside the firm. In short, identifying new opportunities and organizing effectively and efficiently to embrace them are generally more fundamental to private wealth creation than is strategizing, if by strategizing one means engaging in business conduct that keeps competitors off balance, raises rival’s costs, and excludes new entrants“ (Teece/Pisano/Shuen 1997: S.509); siehe z.B. auch Wernerfelt 1984, Grant 1991.
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von Umwelt- bzw. Marktbedingungen abhängig sind?9 Unter „Marktbedingungen“ lassen sich Faktoren wie Gehaltsniveau, geographische Lage, regulatorische Bedingungen und vieles mehr subsummieren, all dies ist hier nicht unser Thema. Im Folgenden wollen wir unter Umwelt- oder Marktbedingungen insbesondere die patentrechtliche Situation verstehen. Die patentrechtliche Lage kann, wie wir wissen, mindestens in zweierlei Hinsicht von entscheidender Relevanz für den Erfolg bei der Kommerzialisierung technologischen Wissens sein. Zunächst in dem grundsätzlichen Sinne, dass die Patentsituation die Vermarktung einer technologischen Innovation ausschließt, weil dies bestehende Patentrechte von Konkurrenten in (zu) massiver Weise verletzten könnte. Umgekehrt werden eigene Patente zu einem entscheidenden Wettbewerbsfaktor, wenn sie die Imitation einer Innovation durch Konkurrenten verhindern oder zumindest verteuern und somit eine wirkungsvolle Markteintrittsbarriere repräsentieren können. Ein wesentlicher Gradmesser der Höhe von Markteintrittsbarrieren sind Imitationskosten. Diese variieren – sehen wir für einen Moment von der konkreten patentrechtlichen Situation ab – zunächst grundsätzlich in Abhängigkeit von der Qualität und/oder dem Reifegrad einer Technologie. Grundsätzlich gilt, dass die Imitierbarkeit negativ mit der Komplexität einer Technologie korreliert. Man sieht hier zum Beispiel, dass komplexe Produktionsverfahren und Maschinen nur sehr kostenaufwendig zu replizieren sind, relativ ‚unintelligente‘ Produkte wie Arzneimittel (z.B. Kopfschmerztabletten) dagegen meistens sehr leicht und kostengünstig kopiert und daher mit viel geringeren Deckungsbeiträgen als die Originalpräparate vertrieben werden können.10 Bei Produktinnovationen ist darüber
9
Michael E. Porter spricht z.B. von den „five forces of competition“; er sieht die Performance eines Unternehmens von den folgenden fünf Hauptfaktoren (five forces) konditioniert: „intensity of competitive rivalry, barriers to entry/threat of entry, bargaining power of suppliers, bargaining power of customers, threat of substitutes“ (vgl. Porter 1985).
10 Wir haben gestern Abend ein Glas zu viel getrunken und zahlen heute auf dem Weg in die Berliner Staatsbibliothek in einer Charlottenburger Apotheke einen (Sonderangebots-)Preis von lediglich 75 Cent für eine Packung mit 20 Tabletten Paracetamol Hexal (13. März 2010). Während der Markt für nicht verschreibungspflichtige und in der Regel auch nicht erstattungsfähige Präparate (OTC-Markt) allerdings auch bei den Originalpräparaten durch relative geringe Preise gekennzeichnet ist (bei unserem Beispiel Paracetamol ist das entsprechende Originalpräparat Benuron® von der Firma Bene), gestaltet sich der Preisunterschied zwischen Original und Generikum bei den
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hinaus das Risiko eines frühzeitigen „technology leakage“, d.h. dem (aus Sicht des Innovators ungewollten) Bekanntwerden sensiblen Wissens bereits während der Entwicklungsphase, besonders hoch (vgl. hierzu Mansfield 1985). In dieser Situation können Patentrechte zu einem entscheidenden Wettbewerbsvorteil werden, so lautet nicht zuletzt eine der uns bereits bekannten Leitprämissen der wirtschaftspolitischen Rechtfertigung des Patents. Gestützt auf eine Vielzahl empirischer Studien wird diese Generalthese allerdings zunehmend in Frage gestellt. Die Kritik an der Anspornungstheorie läuft allerdings nicht auf eine pauschale Negation der These der investitions- und innovationsstimulierenden Wirkung von Patenten hinaus, sondern postuliert in erster Linie die Notwendigkeit einer differenzierteren, verschiedene Branchen und ihre Charakteristika unterscheidenden Sichtweise. Die Annahme, Patente seien ein wirkungsvoller Mechanismus der Amortisierung von F&E-Investitionen läßt sich aus dieser Perspektive nicht pauschal belegen. Die Patentierungsneigung hängt vielmehr sehr stark von den gerade angesprochenen Imitationskosten ab und damit vom relativen Wert des (kostenaufwendigen) Patents in Differenz zu anderen Mechanismen von „appropriability“. Empirische Studien zur unternehmerischen Bewertung verschiedener Mechanismen der Amortisierung von F&E-Aufwendungen kommen so auch zu dem Schluss, dass in vielen Branchen das Patentieren als nachrangige Alternative wahrgenommen wird, während Geheimhaltung („secrecy“), insbesondere bei neuen Prozessen, und der Überraschungseffekt eines abrupten Markteintritts („lead time“, „First-mover-advantage“) als die attraktivsten Mechanismen bewertet werden.11 Der strategische Wert von Patenten divergiert also stark zwischen verschiedenen wirtschaftlichen Branchen. Allerdings ist ein weiterer stabiler Befund dieser Studien, dass sich in der Pharmabranche und zum Teil in der Chemiebranche eine starke Präferenz für Patente beobachten lässt; sie gelten als die einzigen Industrien, in denen Patente flächendeckend und mit hoher kommerzieller Relevanz effektiv als Ausschluß-
verschreibungspflichtigen Präparaten (RX-Markt) deutlich größer; zur „generic erosion“ von Pharma-Märkten siehe weiter unten S. 315ff. 11 Vgl. etwa Levin et al. 1987 (häufig zitiert als „Yale Survey“), Cohen/Nelson/Walsh 2000; für britische Unternehmen siehe bereits Taylor/Silberston 1973; vgl. auch Arundel 2001 für den Befund, dass die Wahrscheinlichkeit einer höheren Wertschätzung von Geheimhaltung im Vergleich zum Patent bei Produktinnovationen moderat negativ mit der Unternehmensgröße korreliert; vereinfacht ausgedrückt: Große Unternehmen patentieren relativ gesehen etwas mehr; zum „first-mover-advantage“ siehe auch Lieberman/Montgomery 1988.
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rechte, d.h. vor allem als Mechanismus der Abwehr des Eintritts von Konkurrenten („entry deterrence“) eingesetzt werden. Dies lässt sich auf den bereits weiter oben beschriebenen Imitationskosteneffekt zurückführen. Je besser eine Marktinnovation durch Patentansprüche auf die in der Innovation eingebetteten Erfindungen abgesichert ist, desto aufwendiger wird die Imitation dieser Innovation für die Konkurrenz. Sie wird durch Patentansprüche auf eine bestimmte Molekülwirkung, ohne deren Verwendung man keine funktionierende Imitation entwickeln kann, mitunter gänzlich verunmöglicht. Die Folge ist für potenzielle Imitatoren, dass man mitunter 10 bis 15 Jahre bis zum Patentablauf warten muss, bis man berechtigt ist, ein preisgünstigeres Nachahmerpräparat (Generikum) zu lancieren, was allerdings häufig immer noch hochlukrativ sein kann, da es einen unveränderten, an die Prävalenz von Krankheiten gekoppelten Bedarf für die therapeutische Wirkung der Substanz gibt. Die Pharmaindustrie ist somit auch die einzige Industrie, in der sich eine Differenzierung von Unternehmenstypen entlang des Patentlebenszyklus beobachten lässt: in die sogenannten Originalhersteller („ethical drug companies“) und die Hersteller von Nachahmerpräparaten, die sogenannten Generikaproduzenten (s.u. in diesem Kapitel).12 Ein weiteres hervorzuhebendes Beispiel sind die Branchen Telekommunikation, Elektronik, Chip- und Halbleitertechnologien, die sich ebenfalls durch eine hohe Patentierungsneigung auszeichnen (vgl. z.B. Callaway 2008). In diesen Branchen wird in einem quantitativ weit höheren Ausmaß als in Pharma, allerdings mit einer vollkommen anders gelagerten Zielsetzung patentiert. Marktinnovationen sind hier von Dutzenden, mitunter Hunderten oder gar Tausenden von Patenten durchsetzt, so dass es effektiv unmöglich ist, eine Marktinnovation ohne die Verletzung fremder Patentansprüche zu entwickeln. Patente werden dann hier weniger im Hinblick auf ihre Ausschlusswirkung beobachtet, auch wenn diese selbstverständlich strukturell immer vorausgesetzt werden muss, sondern vor allem im Hinblick auf ihre Lizenzierbarkeit und Eignung als Verhandlungskapital („bargaining chip“). Komplexe Patentportfolios werden zu einem unverzichtbaren Verhandlungspotential in Kreuzlizenzierungsverhandlungen und somit zu einer conditio sine qua non für die bei der Entwicklung und
12 „In this regard, the innovators in the pharmaceutical industry stand at a stark disadvantage to those who are developing satellites, communication devices, and other high-tech hardware that is difficult to replicate. In the pharmaceutical industry, an innovator could pour large amounts of money into developing and bringing to market a new drug, and without patent protection, lose that entire investment to a competitor who merely copied the innovator’s invention“ (Philipps 2006: S. 406).
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Vermarktung von Innovationen notwendige „freedom-to-operate“ (vgl. unten S. 355ff.). Wir kommen auf diese Aspekte branchenspezifischer Patentnutzungsprofile in den folgenden Abschnitten zurück. An dieser Stelle ist zunächst die Beobachtung wesentlich, dass eigene und fremde Patente und deren Nutzung und Beobachtung zu einem integralen Aspekt des Innovationsmanagements technologieintensiver Unternehmen werden. Zugespitzt gesagt: Ohne Patentmanagement zu betreiben, liefen das F&E- und Innovationsmanagement) ständig in die ‚kommerzielle Leere‘, weil man weder ohne Patentrechte noch ohne adäquate Analysen der Patentkonkurrenz in hinreichendem Maße die Unsicherheiten absorbieren könnte, die von der Entscheidung, eine Innovation kostenaufwendig zu entwickeln und zu vermarkten, produziert werden. Mag eine Innovation auch intern den Anschein einer perfekten „unique selling proposition“ haben, wird dies kommerziell nicht weit tragen, wenn sie sich auf dem Markt schutzlos potenziellen Imitatoren ausgeliefert sieht. Das Risiko einer sich nicht amortisierenden Fehlinvestition ist angesichts der Imitationsrisiken auf dem Markt in vielen Fällen immens: auch die besten internen Ressourcen („dynamic capabilities“) können an dieser Ausgangskonstellation grundsätzlich nichts ändern: „A related and long-familiar example of a disadvantageous dynamic capability is innovative R&D that does not pay off in the presence of strong rivals who invest only in imitative R&D“ (Winter 2003: S. 994).
Patentmanagement wird insofern zu einer unverzichtbaren Beobachtungskapazität und vermittelnden Instanz zwischen internen Ressourcen und Marktbedingungen, als es ständig die eigene schutzrechtliche Situation im Abgleich mit derjenigen der Konkurrenten fortentwickelt, d.h. fortlaufend die Ausbeutung der eigenen Ressourcen durch Patentierungen zu maximieren sucht und gleichzeitig immer von den Patenten und Patentstrategien anderer abhängig bleibt. Abhängig bleibt sie zum einen, weil der eigene Manövrierraum für Innovationen durch die Exklusivansprüche dieser fremden Patente konditioniert (eingeengt, behindert, eliminiert) wird und zum anderen, weil man ständig die mit diesen Patenten zugänglich werdenden Patentinformationen beobachten muss, um die für die Zukunft geplanten Innovationen der Konkurrenz antizipieren sowie Rückschlüsse auf die Steuerung der eigenen F&E ziehen zu können.13 13 Patentmanagement so verstanden, wäre dann auch ein guter illustrativer Beleg für die Fruchtbarkeit einer Begrifflichkeit des Unternehmens, welches das Ressourcenmodell und die marktbasierte Sicht auf Unternehmen miteinander zu verknüpfen weiß. Jedes
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Patentmanagement wird dann mit anderen Worten zu einer unverzichtbaren „core competence“ (Prahalad/Hamel 1990) technologieintensiver Unternehmen, indem es die exklusive Funktion übernimmt, die Ausbeutung der unternehmenseigenen Ressource F&E im Hinblick auf die Beobachtung patentrechtlicher Faktoren und Optionen zu beobachten und zu irritieren.14 In diesem Kontext wird auch davon gesprochen, dass dem Patentmanagement eine „clearing-house“Funktion zu kommt (Grandstrand 1999: S. 263). Es versorgt den internen Forschungs- und Entwicklungsprozess mit externem Wissen, im Wesentlichen dokumentiert in der öffentlichen Patentliteratur und anderen Quellen, und trägt damit dazu bei herauszufinden, wie der Weg zu einer profitablen Marktinnovationen (unter den neu gegebenen Umständen jetzt noch) gefunden werden kann. Es übernimmt eine Vermittlerfunktion zwischen wissenschaftlich-technischen und rechtlichen Aspekten des Innovationsprozesses und sorgt in beiden Dimensionen für eine Sensibilisierung (Problematisierung) der Geschäftsstrategie. Ob ein Unternehmen Erfolg am Markt hat, hängt dann vor allem vom Ausmaß ab, in dem es einem Unternehmen gelingt, sich in seinen Innovationsbemühungen durch das Patentmanagement irritieren zu lassen. Und umgekehrt ist der Markterfolg vom Ausmaß abhängig, in dem es dem Patentmanagement gelingt, die übergeordneten Geschäftsziele („wir müssen die Investoren ruhig stellen und mindestens fünf Quartale in Folge mit mindestens 8% gegenüber dem Vorjahr wachsen“), die ihrerseits bereits in Innovationsziele („Wir müssen MS Office 2014 unbedingt vor dem Launch des iOffice auf den Markt bringen“) und konkretere Forschungstargets („Uns muss es gelingen, den Effizienzgrad von Hybridmotoren um 0,2 Prozentpunkte zu steigern“) heruntergebrochen werden, in den Prozess des patent strategizing einfließen zu lassen. Resümierend lässt sich das Patentmanagement dann als diejenige unternehmensinterne Funktion begreifen, welche sich in ihren nach innen wie nach außen gerichteten Handlungen und Kommunikationen immer an der Konkurrenz um
Unternehmen betreibt sich selbst, in Ab- und Unabhängigkeit von seiner Umwelt, d.h. vor allem von anderen Firmen, und gewinnt aufgrund dieser singulären Kombination von Innen- und Außenaspekten ein unverwechselbares Profil. 14 „Irritieren“ manchmal auch im doppelten Sinne des englischen „to irritate“, weil patentrechtliche Einwände bei der Planung von wissenschaftlich und wirtschaftlich vielversprechenden Projekten mitunter vom Managern aus anderen Funktionsbereichen als sehr störend empfunden werden. In diese Richtung ging die Aussage eines Patentmanagers eines großen deutschen Pharmaunternehmens in einem Interview: „Man mag uns nicht, weil wir mit unangenehmen Sachen kommen“ (vgl. Int.-Nr. 24).
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(aussichtsreiche) Patentpositionen orientiert und ausgehend von dieser Beobachtung Rückschlüsse für die Steuerung interner Operationen der Entwicklung und Auswertung von proprietärem Wissen entwickelt. In dieser unternehmensinternen Zuständigkeit für die Beobachtung von und der aktiven Teilhabe an der Konkurrenz um Patentansprüche identifizieren wir die zentrale Funktion des Patentmanagements. Mit dem folgenden Abschnitt wollen wir übergehen zu einer detaillierteren Beobachtung der konkreten Aufgaben und Leistungen des Patentmanagements, die sich ausgehend von diesem abstrakten Grundriss ableiten und empirisch beobachten lassen.
A UFGABEN UND P ROBLEME DES P ATENTMANAGEMENTS : N ORMATIVE UND KOGNITIVE A SPEKTE Es gibt eine relativ umfangreiche betriebswirtschaftliche Literatur zu dem weiten Spektrum an Aufgaben und Tätigkeiten, die mit (strategischem) Patentmanagement assoziiert werden. Ein großer Teil dieser Literatur, insbesondere die Monographien, hat Einführungs- und Überblickscharakter („Guide to patent management“) und macht sich insbesondere auch für eine höhere „patent awareness“ stark. Unter Zuhilfenahme von sich ständig weiterentwickelnden Datensätzen wird häufig branchenvergleichend und longitudinal gearbeitet, d.h. mit der Überprüfung von Thesen und Modellen zu branchenspezifisch divergierenden Patentierungsneigungen u.v.m. Wirft man dann einen Blick auf weitere Informationsquellen, nämlich Selbstauskünfte von F&E- und Patentmanagern im Internet und den von uns geführten Interviews sowie wertet darüber hinaus Stellenanzeigen aus, ergibt sich ein noch facettenreicheres Bild der Aufgabenbereiche des Patentmanagements.15 Insgesamt stößt man bei der Annäherung an das Patentmanagement auf eine große Menge an analytischen Beobachtungen, Fallstudien, Empfehlungen etc., die einerseits viel Material zur Verfügung stellt, uns andererseits anfangs etwas orientierungslos zurück lässt: Wie lassen sich heuristische Schneisen in dieses Dickicht schlagen, die einen selektiven Umgang mit dem Material und ein Anknüpfen an die Einsichten der vergangenen Kapitel erlauben? 15 Vgl. hierzu interessant Obrecht 2009, dessen Studie anhand der Auswertung von Stellenanzeigen für Patentanwälte zeigt, wie sich das Anforderungsprofil an einen „proactive IP-Manager“ über die technisch-juristischen Kernkompetenzen hinausgehend um die Faktoren ökonomisches und managementbezogenes Wissen erweitert hat; überblickend zum „IP-Manager“ vgl. die Beiträge in Wurzer 2009.
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Vergegenwärtigen wir uns an dieser Stelle noch einmal die „two sides to the patent coin“, die normative und die öffentliche Dimension des Patents, die ja in der Regel mit den Termini Schutz- und Öffentlichkeitsfunktion umschrieben werden, denen wir aber eine andere systemtheoretische Bedeutung zugeschrieben hatten (Kap. 2). Wir hatten gesehen, dass das Patentsystem sich um einen funktionalen Kern herum organisiert: den Patentanspruch und seine normative, d.h. kontrafaktische Stabilisierung (operative Geschlossenheit, Normativität). Gleichzeitig lässt sich das Patentsystem als System der Dokumentation und Vernetzung von Patentschriften beschreiben, das ein öffentliches Gedächtnis ausbildet, welches auf die basale Systemoperation, nämlich das Entscheiden über die Patentfähigkeit von Wissen zurückwirkt (kognitive Öffnung, Universalität). Wir werden im Folgenden die Unterscheidung normativ/kognitiv als heuristisches Einstiegsschema benutzen, um uns eine Leitorientierung für die Analyse der Vielfalt der Aufgaben des Patentmanagements zu verschaffen. „Heuristisch“ ist diese Unterscheidung insofern, als dieses Schema in der Praxis des Patentmanagers bzw. des Patentanwalts selbst als strukturelle Unterscheidung nicht vorkommt, etwa in Form einer zeitlichen oder sachlichen Differenzierbarkeit von Tätigkeiten („Herr Müller, Sie liefern mir bis heute Nachmittag die normative Seite des Novartis case und Sie, Herr Meier bis morgen früh die kognitiven Aspekte!“); schließlich gewinnt ein Patent seinen besonderen Informationswert erst in der Verschränkung rechtlich-normativer und technisch-kognitiver Aspekte patentfähigen Wissens und hierauf basierend das Patentmanagement seine Komplexität. Die normativen Aspekte und Tätigkeiten des Patentmanagements beziehen sich stärker auf die Bearbeitung und Beeinflussung derjenigen zentralen Organisationen des Patentsystems (den patentrechtlichen Instanzenzug), die über die Konzession, Negation, Aufrechterhaltung etc. von Patentansprüchen befinden. Die kognitiven Aspekte referieren eher Vorgänge in der systemischen Peripherie und zielen demgegenüber direkter auf die technologischen Aspekte der Beobachtung von Konkurrenten und Fragen wie die Bewertung und Lizenzierung von patentiertem Wissen und deren Instrumentalisierung als symbolischem Verhandlungspotential ab. Die rechtliche Geltung eines Patentanspruchs wird hier zunächst nicht in Frage gestellt, sondern läuft als Voraussetzung mit.
N ORMATIVE A SPEKTE
DES
P ATENTMANAGEMENTS
Wer Patente hat, kann seine Erwartungen im Hinblick auf die exklusive Berechtigung zur Nutzung des patentierten Wissens stabil halten und verfügt dann – in einem nächsten Schritt – über bessere Chancen, eine Monopolrendite für seine
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Marktinnovation zu erlösen. Das Hauptausgangsproblem des Patentmanagements liegt deshalb darin, an ‚gute‘ Patente zu kommen, bzw. umgekehrt – dieser Konkurrenzeffekt ist dabei immer schon mit eingerechnet – keine oder zu wenige Patente zu haben und dann häufig erleben zu müssen, dass andere Patente haben, die einem selbst Probleme bereiten. Neben einem möglichst vollumfänglichen Informiertsein über fremde Patente, von Konkurrenten möglichweise zu erwartenden Patenten und den Fundus an patentinternem Wissen16, bestimmt sich die Hauptaufgabe des Patentmanagers etwas vereinfacht zusammengefasst von zwei Leitprämissen her. Erstens geht es um die Generierung von Patentansprüchen: Es müssen aus dem intern verfügbaren Wissen so viele Patente wie möglich, so schnell wie möglich, mit möglichst weitreichenden und belastungsfähigen Patentansprüchen generiert und zum bestmöglichen Zeitpunkt angemeldet werden. Zweitens geht es um das Einlegen von Patentrechtsmitteln: Neben der Verbesserung der patentrechtlichen Position, die auf eigenen Patenten und daraus resultierenden Optionen und Handlungsspielräumen beruht, kann es ein strategisch ebenbürtiges Ziel sein, möglichst viele Patente der Konkurrenz durch Einsprüche und Patentklagen zu eliminieren bzw. soweit wie möglich in ihren Schutzansprüchen zu beschneiden, um sich auf diesem funktional äquivalenten Wege die gewünschte Handlungsfreiheit am Markt (wieder) zu beschaffen. Im Anschluss an die Besprechung dieser zwei Leitfunktionen werden wir noch auf einen weiteren entscheidenden Moment im Lebenszyklus eines Patents und den damit verknüpften Herausforderungen für das Patentmanagement eingehen: den Patentauslauf. Diesem kommt vor allem in der Pharmabranche eine hohe Bedeutung zu und er muss dort – je nach Interessenslage – möglichst verzögert oder beschleunigt werden, um die nach Patentablauf einbrechenden Umsätze des Originalpräparats abzufedern oder für eigene Umsätze mit Generika zu nutzen.
Generierung von Patentansprüchen und die Patentrhetorik Eine der wichtigsten operativen Kompetenzen des Patentmanagements besteht darin, technisches Wissen in rechtliche Exklusivitätsansprüche zu transformieren bzw. pointierter gesagt: aus Erfindungen Patente zu machen. Diese Aufgabe drückt sich vor allem in einem Prozess der Verschriftlichung und formalisierten Dokumentation der Erfindung und den daraus abgeleiteten Ansprüchen aus. Die 16 Wir kommen auf diese Aspekte des patent monitorings verstärkt im nächsten Abschnitt zu sprechen.
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Aufgabe, Patentanmeldungen zu verfassen und an das Patentamt zu kommunizieren, obliegt in der Regel externen oder internen Patentanwälten (patent professionals). Der Entscheidung, ein Patent anzumelden, geht zunächst eine ausführliche Evaluierung des state-of-the-art voraus, da es häufig vorkommt, dass eine Erfindungsmeldung in unternehmensinterner Perspektive neu scheint, allerdings von anderen schon patentiert oder in sonstigen Quellen technischen Wissens zu offensichtlich vorbeschrieben ist und somit der Versuch der Patentierung ein unsinniges Unterfangen wäre (s. auch nächster Abschnitt zu patent monitoring). Wenn die absolute Neuheit einer Erfindung zunächst unterstellt werden kann, findet in größeren Unternehmen ein internes „clearing“ statt, in dem unter Maßgabe der patentrechtlichen Lage erörtert wird, ob eine Patentanmeldung – und damit in der Regel einkalkuliert: die spätere Veröffentlichung der Erfindung – zu der unternehmerischen F&E-Strategie passt, oder ob man sich ggfls. für andere Optionen wie z.B. Nichtweiterverfolgung des Projekts oder vorerst absolute Geheimhaltung entscheidet. Votiert man für eine Patentierung, muss die Erfindungsmeldung patentrechtlich formalisiert, d.h. in die Form einer Patentanmeldung mit der Erfindungsbeschreibung (specification) und den aus der Erfindung abgeleiteten Patentansprüchen gebracht werden. Im Anschluss daran wird die Anmeldung schriftlich an das Patentamt kommuniziert, was dann im Idealfall zu einem reibungslos und zügig ablaufenden Patentprüfungs- und Erteilungsverfahren führt, das in die Erteilung der beantragten Patentansprüche mündet. Soweit der Ablauf im „textbook“; der Alltag gestaltet sich in der Regel anders. Meistens kommt es nicht zu einer zügigen und umstandslosen Konzession oder Zurückweisung der formulierten Ansprüche. Die Prüfrecherchen des Patentamts führen vielmehr häufig zu dem Ergebnis, dass die Erfindung nicht in so weitreichendem Ausmaß schutzwürdig ist, wie in der Patentanmeldung vom Anmelder gefordert. So können die Recherchen des Patentprüfers zum „state of the art“ etwa ergeben, dass nur einzelne Komponenten des Erfindungsgegenstands als neu und erfinderisch qualifiziert werden können, so dass das Patent in seiner ursprünglich beantragten Form nicht erteilt werden kann. Der Anmelder hat die Möglichkeit, auf diesen Bescheid mit einer Reformulierung seiner Ansprüche zu reagieren. Damit ist konkret gemeint, dass er den ursprünglich immer möglichst weit gefassten Hauptschutzanspruch und/oder einige der ergänzenden Unteransprüche zurücknehmen und dahingehend spezifizieren muss, dass er nur mehr die vom Patentprüfer als schutzwürdig eingestuften Komponenten des Er-
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findungsgegenstands abdeckt, so dass das Unternehmen sich zumindest einige ‚abgespeckte‘ Patentansprüche sichern kann.17 Es ist eine wesentliche Herausforderung für Patentanwälte, in diesen mitunter mehrere Jahre andauernden Patentierungsverfahren, die Patentansprüche so weitgefasst wie möglich zu halten und gleichzeitig sicherzustellen, dass der verbliebene Kern des Patents normativ belastungsfähig ist, d.h. einem möglichen Einspruchsverfahren standhalten kann. Das Ziel „wasserdichte Patente“ zu haben, sei sehr ambitioniert, äußert sich in diesem Sinne der Geschäftsführer des Schweizer Pharma-Interessenverbands V.I.P.S. (Int.-Nr. 15) und häufig zeigt sich erst einige Jahre nach der Patenterteilung, ob die konzedierten Patentansprüche einer minutiösen Überprüfung durch Patentanwälte der Konkurrenz und einer möglicherweise folgenden „patent litigation“ gewachsen sind.18 Ein ehemaliger Patentmanager von Novartis bekräftigt diese Einschätzung und sagt, es gäbe insbesondere im biotechnologischen Bereich eine Menge von „lousy patents“, deren Patentansprüche sehr schlecht formuliert seien und einer genauen Überprüfung der materiellrechtlichen Bestimmungen im Klagefall nicht gewachsen wären.19 Eine weitere, immer mitlaufende strategische Option beim Anmelden von Patenten ist der Versuch, die Erfindung so undurchsichtig wie möglich zu offenbaren, d.h. in einer sprachlich nur schwer zugänglichen Art und Weise zu beschreiben. Dieser für Patentschriften charakteristische rhetorische Stil, auch „patentese“ genannt, reflektiert sich vor allem in der sprachlichen Formulierung der patent specification, lässt sich aber auch durch das gesamte Patentdokument hin-
17 Ein Vertreter der Technologietransferstelle der Universitäten Zürich und Bern (Unitectra) benutzt zur Beschreibung dieses Prozesses ein interessantes Vokabular. Er spricht davon, dass dieser „iterative Prozess“ des Aushandelns der Patentansprüche zwischen Patentprüfer und Patentanmelder einem „Ping-Pong-Spiel“ bzw. einem „Zwiebelschalensystem“ gleiche (vgl. Int.-Nr. 20). 18 „Die Fassung des Anspruchs ist für das Patent von grundlegender Bedeutung, sie kann nicht sorgfältig genug erfolgen“, heißt es in bereits in einem Patentkommentar von 1926 (Isay, zitiert nach Bruchhausen 1982: S. 1). 19 Vgl. Int.-Nr. 17. Als Beispiel werden die Viagra-Patente angeführt, die sehr schlecht geschrieben seien. Derselbe Interviewpartner führt diese Qualitätsmängel in vielen Patenten interessanterweise auf den Sachverhalt zurück, dass viele Patentanwälte heute unternehmensintern auch Manageraufgaben mit erfüllten und die eigentliche Kernkompetenz des Patentanwalts – das Verfassen von „water-proof patents“ – mitunter unter dieser Ausweitung des Aufgabenspektrums leide.
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durch beobachten. So wird z.B. schon der Titel auf dem Deckblatt des Patentdokuments in vielen Patentschriften möglichst vage und allgemein gehalten, um für Konkurrenten die Recherche nach strategisch wichtigem Wissen zu verkomplizieren. Die Logik der Patentrhetorik zielt demnach vor allem darauf ab, den Inhalt und die wettbewerblichen Implikationen der angemeldeten Patentansprüche bei maximal realisierbarer Weite und Sicherheit so weit wie möglich zu verschleiern: „Although patentees may value the patent system in general, in writing their own application they will try to keep the box around their own invention as black as possible while still satisfying the enablement requirement. Penetrability is not in their interest. […]. Perhaps, it would be best to characterise the rhetorical structure of patent applications as a ‚fence of interests‘.“20
Diese Taktik der Verschleierung und Vernebelung der eigenen Rechtsansprüche und der damit verbundenen Produkt- und Marktstrategien muss selbstverständlich immer mit Konkurrenten rechnen, die nicht nur um diese Möglichkeiten wissen, sondern sie selbst auch anwenden: Man kann insbesondere angesichts der heutigen elektronischen Recherchemöglichkeiten nicht davon ausgehen, eine patentierte Erfindung komplett invisibilisieren zu können. In kompetitiver Sicht dürfte allerdings ein wichtiger Teilerfolg bereits darin bestehen, die Transaktionskosten der Patentinformationsrecherche für die Konkurrenz so weit wie möglich in die Höhe zu schrauben. Die rhetorischen Nutzenmaximierungsstrategien können sich allerdings in einem sehr wesentlichen Punkt in einen Nachteil verkehren. Während es im Patentprüfungsverfahren zunächst vorteilhaft erscheinen mag, den ein oder anderen Hinweis auf „prior art“ zu unterlassen oder etwas zu ‚verklausulieren‘, etwa um dem Verdacht des Patentprüfers auf „obviousness“ aus dem Weg zu gehen, kann genau diese Uneindeutigkeit im Falle eines späteren Einspruchs- oder Klageverfahrens unangenehme Konsequenzen nach sich ziehen. Daher raten einige Autoren dezidiert von zu übertriebenem „patentese“ ab und empfehlen eine möglichst klare und unmissverständliche Dokumentation von „prior art“ durch den Patentanmelder.21 20 Vgl. Rip 1986: S. 92. Patentschriften stellen insofern auch einen sehr interessanten argumentationstheoretischen Untersuchungsgegenstand dar; siehe hierzu im Anschluss an Robert Alexys Theorie der juristischen Argumentation Schamlu 1985. 21 Vgl. etwa interessant Trop 1988, der darauf hinweist, dass der Patentanmelder häufig nicht mit der Person, die ein Patent ggfls. in einem Verletzungsverfahren zu verteidi-
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Patentrechtsmittel: Patenteinspruch und Patent litigation Es kann nicht nur sehr profitabel sein, Patente zu haben, sondern auch sehr nachteilhaft, gelegentlich ruinös, über keine bzw. nicht die richtigen Patente zu verfügen. Wenn man sich in einer patentrechtlich nachteilhaften Situation befindet, gibt es aus Sicht des Patentmanagements mehrere (legale) Möglichkeiten, die eigene Situation zu verbessern.22 Erstens kann man den Patentinhaber um eine Lizenz des Patents ersuchen, was aber in vielen Fällen, etwa bei der Konkurrenz unter Unternehmen der „Big Pharma“ ein illusorisches Unterfangen bleiben dürfte, da der Wert des begehrten Patents zu hoch ist.23 Oder man versucht zweitens, an den Patenten des Kompetitoren „vorbei zu erfinden“ (patenting/ inventing around), um eine ähnliche, auf diesen Umgehungspatenten basierende Marktinnovation zu generieren, die unabhängig von dem ursprünglich Probleme bereitenden Patent der Konkurrenz lanciert werden kann. In der dritten, in diesem Abschnitt im Vordergrund stehenden Variante geht es darum, direkt auf den konkreten Patentanspruch selbst abzuzielen, d.h. das Patent des Konkurrenten mit rechtlichen Mitteln anzugreifen. Hier stehen vereinfacht gesagt zwei Rechtsmittel zur Verfügung: entweder man legt unmittelbar im Zeitraum nach der Patenterteilung Einspruch gegen ein Patent ein oder man strengt zu einem späteren Zeitpunkt – mit einem deutlich erhöhten sachlichen, zeitlichen und finanziellen Aufwand – eine Nichtigkeitsklage gegen ein Patent an. Dies ist ein erster – man könnte sagen: offensiver – Grund für einen Patentstreit. Ein zweiter – defensiver – Anlass für patent litigation kann vorliegen, wenn ein Unternehmen den Verdacht hat, dass Konkurrenzunternehmen die eigenen Patentansprüche – willentlich oder unwillentlich – verletzen (patent ingen hat, identisch ist und in dieser Rollendifferenzierung eine strukturelle Labilität von Patenten und ihrer Verteidigung angelegt sei: „Thus, the patent solicitor may sometimes, at least unconsciously, consider litigation of the patent someone else’s problem“ (Trop 1988: S. 162). 22 Sich (stillschweigend oder unwissentlich) über das Patent hinwegzusetzen ist selbstverständlich eine weitere (illegale) Option, die – dies zeigt der weiter unten folgende Abschnitt zu dem Patentstreit zwischen RIM und NTP – häufig zunächst unbemerkt bleiben, in einigen Fällen bei ihrer Entlarvung allerdings zu mitunter drastischen wirtschaftlichen Folgen führen kann. 23 Anders gelagert sind Fälle wie die Patente von kleineren Biotech-Unternehmen oder akademisch autorisierte Patente, bei denen das Patent nicht die Grundlage für eigene Geschäfte ist, sondern kommerzielle Relevanz in der Regel nur in einem Lizenzgeschäft entfalten kann.
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fringement) und man sich nach dem vergeblichen Einsatz anderer Mittel wie z.B. eines Mahnschreibens (warning letter) veranlasst sieht, eine Patentverletzungsklage einzureichen.24 In Analogie zur überzeichneten Rede von der „litigious society“ oder von „hyperlexis“ (siehe überblickend Galanter 1983) wird auch mit Bezug auf Statistiken zu Patentstreitfällen mitunter von der „patent litigation explosion“ gesprochen. Bessen und Meurer berichten in ihrem gleichnamigen Beitrag zur Entwicklung von patent litigation in den USA, dass sich die Anzahl der Patentstreitfälle von knapp 800 im Jahr 1984 bis auf knapp 1.600 im Jahr 1999 verdoppelt hat (vgl. Bessen/Meurer 2005: S. 38). Gleicht man dieses Wachstum allerdings mit der Dynamik von Patentanmeldungen und -erteilungen ab, ergibt sich indes rasch ein etwas unspektakuläreres Bild von ‚patent litigiousness‘. Sieht man zudem von einigen spektakulären und die Wahrnehmung der Entwicklung stark zu beeinflussen scheinenden Fällen mit sehr hohen Streitwerten ab, verstärkt sich der Eindruck, dass es sich durchschnittlich und branchenübergreifend gesehen bei patent litigation um ein seltener auftretendes Phänomen handelt als gemeinhin vermutet: „While a few patents are in fact for inventions that change the world, most are not. Inventors come up with a new idea, hire a lawyer, write a patent application, spend years in the arcane and labyrinthine procedures of the U.S. Patent and Trademark Office (PTO), get a patent, and then ... nothing. Ninety-nine percent of patent owners never even bother to file suit to enforce their rights. They spend $4.33 billion per year to obtain patents but no one seems to know exactly what happens to most of them. Call it ‚The Case of the Disappearing Patents‘“ (Allison et al. 2004: S. 435, Herv. C.M.).
Als Begründung für das relative Desinteresse am Einklagen von Patentansprüchen führen die Autoren an, dass der wirtschaftliche Wert von Patenten extrem ungleich verteilt ist und es im Falle einer vermuteten Patentverletzung sehr häufig wirtschaftlich unverhältnismäßig ist, das Risiko eines zeitraubenden und ressourcenintensiven Patentstreits einzugehen. Litigation ist – analog zu Rechtsstreitigkeiten in anderen Gebieten – ein sehr kostenaufwendiges und langwieriges Unterfangen, so dass in vielen Situationen, die es in rechtlich-normativer Hinsicht erlauben würden, Rechtsmittel einzulegen, darauf komplett verzichtet
24 Vgl. Rajwani 2010 zum Ablauf eines Patentstreitverfahrens.
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wird und/oder andere Regelungsformen wie (Kreuz-)Lizenzen oder ein Vergleich („settlement“) angestrebt werden.25 In der Pharmabranche lässt sich ein überproportional hoher Anteil an Patenteinsprüchen und Patentstreitigkeiten beobachten. Dies ist insofern nicht überraschend, als einzelne Patente in der Pharmabranche einen weit überdurchschnittlichen strategischen und kommerziellen Wert besitzen können, weil im Gegensatz zu anderen Bereichen wie z.B. Telekommunikationstechnologien ein einzelnes Patent eine Marktinnovation bereits hinreichend absichern, d.h. den Eintritt von Konkurrenten, insbesondere Generikaproduzenten, effektiv blockieren kann. So berichten z.B. Harhoff und Reitzig für einen Datensatz europäischer Patente in Pharma und Biotech, dass ca. jedes zwölfte Patent Gegenstand des „EPO opposition procedures“, des Einspruchsverfahrens beim Europäischen Patentamt wird.26 Von dieser Einsicht in den hohen Wert von Pharmapatenten lässt sich dann ableiten, dass in der Pharmabranche der Auslauf eines Patents ein Ereignis von besonderer Tragweite ist, weil das Ereignis des Patentauslaufs gleichbedeutend mit dem faktischen Verlust eines profitablen Umsatzträgers sein kann. Wir widmen dem Patentablauf am Beispiel der Pharmabranche deshalb im Folgenden einen eigenen Abschnitt.
Patentablauf und Generika in der Pharmabranche Patente und die Pharmabranche Patentansprüche bringen für denjenigen, der über sie verfügen darf, bereits bei ihrer Erteilung ein Problem mit sich: Sie laufen eines Tages aus. Die Konkurrenz mag sich von einem Patentablauf in einigen Fällen für die eigenen Geschäfte so viel versprechen, dass sie sich jahrelang auf den Tag des Patentablaufs vorbereitet, um dann mit ihrer Imitation der ursprünglichen Marktinnovation in den Markt einzutreten. Dies ist etwas vereinfacht gesagt die Ausgangskonstellation, um die herum sich die Pharmabranche organisiert. Dass der Patentauslauf für pharmazeutische Unternehmen eine sehr bedeutende geschäftliche Zäsur darstel25 Zum historischen Paradebeispiel für langwierige und extrem teure Patentstreitverfahren vgl. bereits oben den Exkurs zu Edison (S. 284ff.); im Jahre 2003 betrug beispielsweise der Median der Kosten eines patent case in Kalifornien drei Millionen Dollar (vgl. Lowrie 2004: S. 270), zu Strategien des „litigation settlement“ siehe auch Crampes/Langinier 2002, Cremers 2009. 26 Die ausgewerteten Daten erstrecken sich auf den Zeitraum 1978-1996: bei 8,6% der untersuchten Patente wurde Einspruch erhoben (Harhoff/Reitzig 2004).
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len kann, dokumentiert eine Graphik aus einer Präsentation des Pharma Informations- und Consulting-Unternehmen IMS Health zu den Umsatzverlusten, die Originalpräparate nach dem Eintritt eines Generikums erleiden („generic erosion“): Abbildung 15: Umsatzverluste durch Generika
Diese erreichen in vielen Fällen, insbesondere in den voluminösen „RetailMärkten“27 bereits nach zehn bis fünfzehn Wochen Werte von bis zu 80%.28 Der nach Patentablauf eintretende Umsatzverlust nimmt aus verschiedenen Gründen häufig derart drastische Ausmaße an. Der wichtigste Grund ist, dass
27 Retail-Märkte ist die häufig gebrauchte Bezeichnung für Märkte bzw. Indikationen, in denen Allgemeinpraktiker (Hausärzte, „family doctors“) die meisten Verschreibungen veranlassen und Fachärzte (abgesehen von ihrer häufig meinungsbildenden Rolle) im Hinblick auf Verschreibungspotential keine wichtige Rolle spielen. 28 „Brand share of Mol RXs“ (Beschriftung der Ordinate) bezieht sich auf den Anteil, den der Originalhersteller (brand) an allen Verschreibungen (RX) an einem Wirkstoff (Mol: molecule) hält. Da einige Originalhersteller ihre Preise kurz vor dem Markteintritt von Generika senken (in einigen Ländern ist dies ein regulatorischer Automatismus), kann der Gesamtumsatzverlust wertmäßig bisweilen noch höher ausfallen als die stark fallende Zahl verschriebener Packungen („counting units“) dies bereits nahelegt (Datenquelle: IMS US National Prescription Audit).
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Generikahersteller ihre Präparate zu einem signifikant günstigeren Preis als die Originalhersteller anbieten können, weil sie mit einem weitaus niedrigeren Deckungsbeitrag betriebswirtschaftlich kalkulieren können. Während Originalhersteller in langwierigen und kostenaufwendigen klinischen Studien die Wirksamkeit und Verträglichkeit ihrer Innovationen wissenschaftlich dokumentieren müssen, um eine Marktzulassung zu erhalten, können sich Generikahersteller bei ihrer Zulassungsbeantragung auf diese Daten stützen, ohne selbst „clinical trials“ durchführen zu müssen. Diese hohen Aufwendungen für Forschung und (klinische) Entwicklung fehlen somit in der Gewinn- und Verlustrechnung des Generikaproduzenten, der mit einem entsprechend geringeren Umsatzerlös eine ausreichende Rentabilität erwirtschaften kann. Die Pharmabranche weist für EU-, japanische und US-amerikanische Unternehmen mit einem Wert von 16,5% durchschnittlich gesehen die höchste relative Forschungsintensität auf; für andere bekannte Branchen wie Automobil oder Chemie zeigen sich mit 4.4%, respektive 2.9% deutlich geringere Werte (vgl. Guevara/Tübke/Moncada-Paternò-Castello 2010: S. 34). Tab. 5 zeigt selektiv einige Werte zu absoluten F&E-Ausgaben und zur F&E-Intensität pharmazeutischer Unternehmen mit Hauptsitz in der EU (R&D/Sales – ratio).29
29 Vgl. Guevara/Tübke/Moncada-Paternò-Castello 2010 mit weiteren Daten für das Jahr 2008 (in Millionen Euro). Merck steht für die deutsche Merck Group (früher Merck KG) aus Darmstadt, die nicht mit dem US-amerikanischen Unternehmen Merck zu verwechseln ist. Die Gesamtentwicklungskosten einer pharmazeutischen Großinnovation werden bisweilen auf über eine Milliarde US Dollar veranschlagt (Referenzstudie: DiMasi/Hansen/Grabowski 2003); mit Blick auf diese exzessiven Kosten, die Pharmahersteller und Lobbyverbände gerne öffentlichkeitswirksam publizieren, um die besonders hohe Innovationskraft und Forschungsaffinität von Big Pharma zu symbolisieren, wird häufig bemängelt, dass sie – wenn überhaupt – nur auf einen verschwindend geringen Anteil von pharmazeutischen Innovationen, nämlich die von Pharmaunternehmen selbst erforschten, d.h. nicht einlizenzierten und komplett eigenständig entwickelten NCEs (new chemical entities) zuträfen und zudem auf Kapitalwertberechnungen beruhten (discounted cash flow), d.h. nicht das Ausmaß von ‚tatsächlichen‘ Investitionen dokumentierten (vgl. – diesen „Pharma Bluff“ anklagend – Angell 2005); siehe überblickend zum Problem der Produktivität in Pharma auch allgemein Cockburn 2006.
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Tabelle 5: F&E-Ausgaben europäischer Pharmaunternehmen
Sanofi-Aventis
F&E-Ausgaben (2008. in Mio. Euro) 4,608
GlaxoSmithKline
3,835
15,2%
AstraZeneca
3,622
15,9%
Boehringer Ingelheim Merck
2,109
18,2%
1,234
16,3%
Unternehmen
F&E-Intensität 16,7%
Einer der weltweit umsatzstärksten Pharmamärkte ist der Markt für Statine, eine therapeutische Gruppe von Blutfettsenkern, in der sich mit dem Präparat Lipitor® (Sortis®) der Firma Pfizer auch das umsatzstärkste Präparat aller Zeiten befindet, das im Jahr 2008 den Rekordumsatz von 12,4 Milliarden US-Dollar generierte.30 Wie die folgende Abb. 16 zum US-amerikanischen Markt dokumentiert, befindet sich dieser Markt bereits inmitten einer Umbruchphase in Richtung eines von Generika dominierten Markts (genericization): für den Gesamtzeitraum 2006-2016 wird von einer Werterosion des Marktes in Höhe von 80% ausgegangen (vgl. Emerton 2006: S. 77).31
30 Vgl. zur Entwicklung der „breakthrough invention“ der Statine Baba/Walsh 2010; zur gesundheitsökonomischen Bedeutung des Markteintritts generischen Atorvastatins siehe Jackevicius et al. 2012. Atorvastatin wurde ursprünglich von der Firma Warner Lambert entwickelt und vermarktet und mit der Übernahme durch Pfizer gingen auch das Patent auf das Basismolekül Atorvastatin sowie weitere Patente in den Besitz von Pfizer über; im deutschsprachigen Raum wird das Medikament unter dem Namen Sortis® vertrieben. 31 In Deutschland wurden beispielsweise seit 2003, dem Jahr des Patentablaufs des Produkts Zocor® der US-amerikanischen Firma Merck, 32 verschiedene Generika des Originalwirkstoffs Simvastatin auf dem Markt gebracht (vgl. Raasch 2006: S. 50). In Kanada wurde im Mai 2010 die erste (legale) generische Version von Lipitor in vom Generikaproduzenten Apotex auf den Markt gebracht (siehe hierzu etwa www.apotex.com – Suche nach „Lipitor“).
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Abbildung 16: „Generic Erosion“ im Markt für Statine
Wie gehen Pharma-Unternehmen mit dem Patentablauf von wichtigen Umsatzund Profitabilitätsgaranten um; wo werden Hebel angesetzt, um die hohen Geschäftsrisiken, die insbesondere bei der Vermarktung der umsatzstärksten Originalpräparate auftreten, zu mildern?32 Die Standardantwort von Pharmaunternehmen auf diese Frage ist das Bestreben, immer wieder neue patentgeschützte Innovationen zu erzeugen, um somit wegbrechende Umsätze durch neue Umsatzquellen aufzufangen. Allerdings sehen sich Pharma-Unternehmen an diesem Punkt mit der Kopplung ihrer Geschäfte an die Evolution des menschlichen Organismus mit einem Sonderproblem konfrontiert. Dies besteht darin, dass sich Krankheiten im Gegensatz zu Konsumwünschen weniger leicht (re)produzieren lassen und zudem darin, dass alternative innovative Medikamente und Behandlungen manchmal viele Jahr-
32 Für die umsatzstärksten Präparate wird häufig von sogenannten „blockbustern“ gesprochen, d.h. Medikamenten, die jährlich Umsätze von mehr als einer Milliarde Dollar erzielen. Blockbuster stellen für Pharmaunternehmen in positiver Lesart eine enorme Umsatzquelle und in der Umkehrperspektive ein großes „Klumpenrisiko“ dar; um beim Beispiel Lipitor der Firma Pfizer zu bleiben: Dieses Präparat erzielte im Jahr 2008 mit 12,4 Mrd. US Dollar 25,7% des von Pfizer ausgewiesenen Gesamtumsatzes von 48,3 Mrd. US Dollar (vgl. Pfizer 2009).
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zehnte auf sich warten lassen.33 Der wissenschaftliche Durchbruch gelingt häufig viele Jahre nicht, bis er sich dann manchmal unter gänzlich unerwarteten, nicht kalkulierbaren Umständen einstellt. Für dieses der Forschung innewohnende Überraschungsmoment steht bekanntlich der Begriff der Serendipität.34 Im Diabetes-Markt hat es beispielsweise seit der Erfindung von Metformin und Sulfonylharnstoffen im Bereich der oralen Antidiabetika seit den 1960er Jahren eine sehr lange Zeit keine wesentlichen Innovationen gegeben, bis erst in den 1990er Jahren mit den Glitazonen erfolgreich eine therapeutische Gruppe mit einem neuen Wirkmechanismus (im Branchenjargon häufig kurz „MoA“ für „Mechanism of Action“) lanciert wurde. Inzwischen gibt es neben einer Reihe von synthetischen Insulinen (v.a. Lantus® der Firma Sanofi-Aventis) einige weitere neue, oral verabreichte Wirkstoffgruppen und fast alle Pharmaunternehmen haben z.T. Dutzende von Molekülen in fortgeschrittenen Phasen der klinischen Entwicklung. Die stark steigende globale Prävalenz von Diabetes stellt für die nächsten Jahrzehnte ein ständig wachsendes Marktwachstum in Aussicht, von dem man sich für die Zukunft ähnlich hohe Volumina und Rentabilitäten wie in den zurzeit wertmäßig uninteressanter werdenden Massenmärkten „Antihypertensiva“ und „Lipidsenker“ erhofft. Das sogenannte „blockbuster model“, d.h. das Erwirtschaften von hohen Profiten mit einigen sehr umsatzstarken Präparaten, hat sich für Big Pharma in den letzten Jahrzehnten als hochprofitables Geschäftsmodell bewährt, es gerät aller-
33 Es entsteht immer wieder der Verdacht, dass Pharmaunternehmen in bewährter funktionalistischer Manier Probleme zu ihren Lösungen, d.h. Krankheiten, die zu ihren eigenen Produkten passen, erfinden. Die Strategie Pfizers, die „erektile Dysfunktion“ als anerkanntes Krankheitsbild zu etablieren, war beispielsweise nur begrenzt erfolgreich: Potenzmittel wie Viagra® und Cialis® sind in den meisten Ländern nicht rückerstattungsfähig und gelten als „lifestyle drug“; vgl. ferner historisch interessant am Beispiel der Roche-Forschung zu Vitamin C und der „Hypovitaminose“ Bächi 2009. 34 Zu Serendipität in der pharmazeutischen Forschung siehe etwa Drews 1996, insb. S. 27ff.; am Beispiel des Rattengifts Warfarin vgl. auch Rogers 2003: S. 156f.; als weiteres klassisches Beispiel wird häufig die klinische Entwicklung des Wirkstoffs Sildenafil angeführt, der ursprünglich vor allem für kardiovaskuläre therapeutische Anwendungen entwickelt worden war, bis man dessen Zusatzeffekt bei Männern mit Erektionsstörungen entdeckte und der dann zur therapeutischen Grundlage für Viagra® wurde (vgl. Ban 2006); als ausführlichen begriffsgeschichtlichen Überblick zu „serendipity“ siehe Merton/Barber 2004.
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dings in den letzten Jahren verstärkt unter Druck.35 Die Antworten der großen Pharmaunternehmen auf diesen (v.a. auch durch Investoren forcierten) Druck, alternative Geschäftsmodelle zu entwickeln, fallen unterschiedlich aus. Erkennbar ist derzeit ein Trend zur „Marktkonsolidierung“, d.h. der Verringerung der Anzahl der Akteure durch Übernahmen und Fusionen. Das Hauptziel von großen „mergers“ – als jüngeres Beispiel steht hierfür die Übernahme von Wyeth durch Pfizer im Jahr 2009 – besteht darin, durch ein Bündeln von Ressourcen in Unternehmensfunktionen wie Sales & Marketing und insbesondere auch F&E Kostendegressionseffekte zu erzielen. Ein weiterer beobachtbarer Trend ist der Versuch großer Unternehmen, die Absorptionsfähigkeit für den wissenschaftlichen Fortschritt durch das Stricken eines komplexen Netzes von Allianzen, insbesondere mit kleineren, wissenschaftsaffinen Biotechnologiefirmen und akademischen Instituten zu erhöhen und die eigene „pipeline” durch eine forcierte Einlizenzierungspolitik mit vielversprechenden Wirkstoffen zu munitionieren.36 Insgesamt ergibt sich derzeit der Befund, dass es dem Management großer Pharmaunternehmen tendenziell schwerer fällt, mit neuen (und selbstentwickelten) Innovationen die Umsatzlücken, die durch Patentabläufe entstehen, zu
35 Eine Diskussion der vielschichtigen Gründe würde hier zu weit führen, so dass nur stichwortartig einige Aspekte genannt werden können: eine insgesamt sinkende F&EProduktivität (d.h. immer weniger gänzlich neue Wirkstoffe – new chemical entities – in Relation zu den Ausgaben für F&E), sich zunehmend verschärfende Sicherheitsauflagen der Zulassungsbehörden (z.B. der FDA in den USA, der EMEA als zentraler Marktautorisierungsbehörde für die EU), zunehmender Kostendruck durch einen Trend zur gesundheitsökonomisch mitbestimmten Bewertung der Erstattungsfähigkeit von Medikamenten (hierfür stehen in Europa v.a. das britische N.I.C.E und IQWIG in Deutschland), starker Druck von Seiten der Generikahersteller, durch Patentklagen zum Teil vor Ablauf aller patentrechtlichen und weiterer Schutzfristen in den Markt zu gelangen. In Deutschland z.B. findet zudem in den letzten Jahren mit den „Rabattverträgen“ zwischen Krankenkassen (wie AOK et al.). und Arzneimittelherstellern ein neues Kostensenkungsinstrument verstärkt Anwendung (vgl. Beck/Seiter/Wartenberg 2007). Während wir dieses Manuskript abschließen, wird für Oktober 2012 in Deutschland die „achte Tranche der AOK-Rabattverträge“ angekündigt (vgl. www.aerzteblatt.de; Suchen in: Rabattverträge). 36 Siehe Schmidt/Rühli 2002 für den „Mega-Merger“ von Ciba und Sandoz zu Novartis; für eine Analyse des zweiten Trends („from science-based knowledge creators to drug-oriented innovation brokers“) siehe Gassmann/Reepmeyer 2005.
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schließen. Die Frage nach einer optimierten kommerziellen Ausbeutung der bereits im Markt befindlichen Medikamente stellt sich somit noch dringlicher: „Pharmaceutical companies can no longer simply allow post-patent profits to be eroded and rely on new, patented products to replace their lost revenues. As it becomes ever more costly and difficult to develop new products, so it becomes increasingly important to defend revenues from an existing product portfolio“ (Bruce 2003: S. 195, Herv. C.M.).
Dies lenkt den Blick auf die Frage, mit welchen konkreten Mechanismen Pharmaunternehmen versuchen, drohende Umsatzerosionen abzuschwächen, indem sie den Markteintritt von Generika verhindern oder verzögern. Zur Beantwortung dieser Frage gehen wir zunächst auf das „Lifecycle Patent Management“ ein und diskutieren anschließend kurz einige weitere Möglichkeiten, mit denen sich Pharmaunternehmen eine ausgedehnte Exklusivität am Markt zu sichern versuchen.
Lifecycle Patent Management Am Anfang des Lebenszyklus eines Medikaments, d.h. unmittelbar nach der experimentellen Identifikation eines pharmazeutischen Wirkstoffs, melden Unternehmen ein Patent an, das die exklusiven Rechte an diesem sichert. Mit diesem sogenannten „basic patent“ kann in vielen Fällen bereits eine weitgehende Ausschlusswirkung erzielt und die Chance auf eine langjährige Monopolrendite massiv erhöht werden. Dieser beträchtliche Wert auch einzelner Patente unterscheidet die pharmazeutische Industrie wie gesagt von anderen Branchen (z.B. Elektronik), in denen sich der Wert eines Patents stärker an seiner Vernetzung mit anderen Patenten innerhalb eines komplexen Patentportfolios bemisst. Die Pharmaindustrie von heute ähnelt in diesem Sinne noch stärker der Situation wie sie für die Frühphase der systematischen industriellen Nutzung von Patenten charakteristisch war, als man eine Innovation noch mit einem oder einigen wenigen Patenten absichern konnte. Diese ‚romantische‘ story von der langwierigen und kostenaufwendigen (serendipitösen) Suche nach einem neuen Heilmittel, das der Staat mit einem Patent prämiiert, damit der mutige Investor seine Kosten wieder einspielen kann, entspricht den herkömmlichen Ideen vom Patentsystem (incentive theory of patents) und korrespondiert mit der Selbstbeschreibung von Big Pharma als wissenschaftlichem Innovator, die Pharmahersteller unablässig
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und öffentlichkeitswirksam hervorheben.37 Aber auch in der Pharmabranche gestaltet sich die patent- und schutzrechtliche Situation nicht nach Maßgabe dieser simplen Vorstellung, sondern sieht realiter anders, nämlich komplexer, eigensinniger und umkämpfter aus. Denn große Pharmaunternehmen melden insbesondere bei kommerziell wichtigen Medikamenten über die basic patents hinausgehend Dutzende bis Hunderte von ergänzenden Patenten an, mit denen eine Schutzzone um die Basisinnovation und deren Anwendungsbereiche herum eingerichtet werden soll.38 Diese „lifecycle patents“ schützen diejenigen zusätzlichen Erfindungen, mit denen aus einem Wirkstoff (der grundlegenden Erfindung) ein vermarktungsfähiges pharmazeutisches Produkt konstruiert wird. Sie beziehen sich auf unterschiedliche Formen der Dosierung (z.B. 50mg zweimal täglich oder 100 mg einmal täglich) und der Verabreichung (Formulierung: z.B. intravenös/subkutan, oral – fest oder auflösbar etc.), oder auch auf unterschiedliche Verpackungsformen und können den Markteintritt von Generika dadurch de facto stark verzögern: „Once the active ingredient has been identified as a candidate for launch by an innovator company, the product must then be developed in a manner that makes it stable, functional and efficacious as a final product. Decisions must be made in relation to the basic product in terms of the most appropriate salt, crystalline form, excipients, structural form, dosing regimen indications etc. In order to protect the ‚core‘ product from susceptibility to generic competition after API expiry39, many of these incremental decisions form the basis of patent protection, most of which will not expire until long after this time. These types of patents are mostly not ‚blocking‘ in themselves, but simply create different degrees of difficulty for generic competitors in developing a bioequivalent product given the regulatory parameters that they must work within“ (Howard 2007: S. 88, Herv. C.M.).
Das Lebenszyklusmanagement der Originalhersteller zielt demnach auf eine Blockade bzw. Verzögerung des Markteintritts durch Generikaunternehmen ab, die zwar nach Patentablauf ‚prinzipiell‘ den generisch gewordenen Wirkstoff 37 Im Pfizer „Science Annual Review 2009“ liest man auf der ersten Seite: „We bring the best scientific minds together to challenge the most feared diseases of our time“; vgl. www.pfizer.com/annual. 38 In der Managementliteratur wird an dieser Stelle häufig von „patent fences“, „patent thickets“ und weiteren Strategien wie „blanketing“ und „flooding“ gesprochen; vgl. hierzu z.B. Shapiro 2000 und Harhoff 2005. 39 API: „Active Pharmaceutical Ingredient“, d.h. der Wirkstoff, auf dem eine pharmazeutische Innovation basiert.
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kommerziell verwenden und vermarkten können, sich aber z.B. damit konfrontiert sehen können, dass eine bestimmte Darreichungsform noch geschützt ist und daher ein alternativer Weg der Verabreichung des Medikaments gefunden werden muss. Dies ist für den Imitator nicht nur zeit- und kostenaufwendig, sondern kann auch den Markteintritt de facto verunmöglichen; etwa auch dann, wenn eine neue Darreichungsform „im Markt“ nicht angenommen, d.h. von den Ärzten nicht verschrieben wird.40 Generikahersteller reagieren auf dieses „tail management“ des PharmaProduktlebenszyklus ihrerseits mit einem „entry management“, indem sie frühzeitig versuchen, selbst Patente zu Dosierungen, Galeniken etc. anzumelden, um die Verzögerung des Markteintritts zu verringern und gleichzeitig auch, um sich mit Verhandlungspotential für die mitunter massive Konkurrenz unter den Generikaherstellern selbst zu versorgen. Abb. 17 zeigt die stark gestiegene Anzahl von Patentfamilien, d.h. multiplen internationalen Anmeldungen, die im bereits erwähnten Markt der Statine im Vorfeld des Patentverlusts von Zocor, dem nach Lipitor umsatzstärksten Statin, im Jahr 2006 für unterschiedliche „Formulierungen“ (Darreichungsweisen) angemeldet wurden (vgl. Howard 2007 und 2008 für die Daten). Abbildung 17: Lifecycle-Patente im Markt für Statine 25 20 15 10 5 0
40 Ein bekanntes Beispiel für eine nicht funktionierende „market adoption“ ist das erste inhalative Insulin Exubera®, das im Jahr 2007 von der Firma Pfizer aufgrund einer zu geringen Verschreiberakzeptanz vom Markt zurückgezogen wurde.
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Die Graphik deutet die Intensität und Komplexität der Konkurrenz um Lebenszykluspatente an, die in kommerziell hochrelevanten Märkten wie Blutfettsenkern durch langwierige und heftige Patentstreitigkeiten, vor allem zwischen Original- und Generikaherstellern, gekennzeichnet ist. Ergänzende Mechanismen der Exklusivität In den letzten Jahrzehnten sind eine Reihe von alternativen Anreizmechanismen geschaffen worden, die es ökonomisch attraktiver machen sollen, in die Erforschung und klinische Entwicklung von pharmazeutischen Wirkstoffen zu investieren. Diese Anreizinstrumente sind hier deshalb erwähnenswert, weil ihr Hauptanreiz in einer Verlängerung der Marktexklusivität besteht und sie somit hinsichtlich ihrer Ausschlusswirkung für die Konkurrenz auf dem Markt ein funktionales Äquivalent zum Patent darstellen. Zu diesen Mechanismen, die im internationalen Maßstab unterschiedlich zur Anwendung kommen, zählen insbesondere: x das Ergänzende Schutzzertifikat (Supplementary Protection Certificate), x die Zulassung als Medikament gegen seltene Leiden (Orphan Drug Status), x die pädiatrische Extension (paediatric extension), x die Verwertungssperre (data protection, data exclusivity), x Absprache zur Verzögerung des Markteintritts (Pay-for-delay)41
41 Raasch nennt in ihrer Monographie zum Patentauslauf in der Pharmabranche zusätzlich auch den Markenschutz als weiteres Mittel zum Schutz pharmazeutischer Innovationen; ein interessantes Beispiel ist die blaue, diamantförmige Viagra-Tablette, die Pfizer mit einer Marke abgesichert hat ( Raasch 2006: S. 40f.); man kann zusätzlich an die bekannte „purple pill“ des Präparats Nexium® der Firma AstraZeneca denken (www.purplepill.com). Wir werden hier nicht weiter auf den Markenschutz (trademarks) eingehen, zumal Marken im Gegensatz zu den genannten alternativen Schutzformen nicht in funktionaler Äquivalenz zum Patent, den generischen Markteintritt verhindern bzw. verzögern, sondern das Umsatzwachstum neuer Generika im Markt abbremsen, indem sie helfen, eine Verschreiber- und Patientenpräferenz für das Originalpräparat zu kontinuieren. Dem Markenschutz kommt in der Pharmabranche allerdings eine deutlich geringere Bedeutung zu als in anderen Branchen wie z.B. der Konsumgüterindustrie, was sich auch daran ablesen lässt, dass man sich an Namen von Medikamenten häufig nur schlecht erinnern kann: so ergab eine USamerikanische Studie aus dem Jahr 2007, dass knapp 40% der befragten Patienten mit einer Medikation gegen Bluthochdruck den Namen der von ihnen eingenommenen Antihypertensiva nicht korrekt wiedergeben konnten (Persell et al. 2007) – man ver-
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Ergänzendes Schutzzertifikat: Die Beantragung eines Ergänzenden Schutzzertifikats (SPC) ist in den meisten Patentrechtsräumen vorgesehen. Das SCP beläuft sich in der Regel auf fünf Jahre und wird von den meisten Pharmaherstellern bei kommerziell attraktiven Innovationen in Anspruch genommen. Als Begründung für dieses Anreizinstrument, das prinzipiell in verschiedenen Branchen anwendbar ist, sich aber de facto weitestgehend auf pharmazeutische Medikamente beschränkt, wird der besondere hohe zeitliche und finanzielle Aufwand für die klinische Entwicklung und Marktzulassung von Medikamenten genannt, der es als volkswirtschaftlich gerechtfertigt erscheinen lässt, dem jeweiligen Unternehmen einen längeren Zeitraum für die Amortisierung der Kosten zuzugestehen (vgl. Howard 2009). Orphan-Drug-Status: Ein besonderer Schutzstatus für Heilmittel gegen „seltene Leiden“ – orphan drug status – existiert in den USA in Ansätzen bereits seit 1979. In der Europäischen Union wurde im Jahr 2000 ein entsprechendes Gesetz verabschiedet. Bei „orphan diseases“ handelt es sich um seltene Krankheiten42, für die eine Erforschung und Entwicklung aus kommerzieller Sicht unattraktiv ist, selbst dann noch, wenn sie konventionell durch ein Patent geschützt ist. Neben einer deutlichen Erleichterung des Zulassungsverfahrens wird einem Unternehmen, das „orphan drugs“ entwickelt, als Hauptanreiz ein zehnjähriges exklusives Vermarktungsrecht eingeräumt (vgl. Hiltl 2001, Rzakhanov 2009). Paediatric Extension: Die medikamentöse Behandlung von Kindern stellt häufig ein Problem dar, weil für viele Medikamente keine ausreichende Evidenz zu Wirksamkeit und Verträglichkeit vorliegt. Dies rührt vor allem daher, dass sich klinische Studien mit Kindern nur unter stark erhöhtem finanziellen und sicherheitsmäßigen Aufwand durchführen lassen; zudem sind die meisten Medikamente auf ältere Patientengruppen zugeschnitten, weil sie – Asthma und Diabetes sind bekannte Ausnahmen – nicht oder kaum bei jüngeren Menschen auftreten. Ärzte sehen sich somit häufig bei der Behandlung von Kindern zu einem Einsatz von Medikamenten gezwungen, die gesetzlich nicht für Minderjährige zugelassen sind (off-label use). Die zunächst in den USA eingeführte und inzwischen auch in Europa anwendbare paediatric extension schafft hier einen Anreiz für Pharmaunternehmen, ihre klinischen Studien auf minderjährige Populationen
gleiche diesen Befund mit den Ausmaßen des Markenbewusstseins in der Zigarettenoder Automobilindustrie; vgl. überblickend auch Fackelmann 2009 und mit vielen Fallstudien Martin 2010. 42 „Selten“ entspricht nach gängigen Definitionen einer Prävalenz (Verbreitung einer Erkrankung in der Bevölkerung) von