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German Pages 382 Year 2014
Kurt Dröge, Detlef Hoffmann (Hg.) Museum revisited Transdisziplinäre Perspektiven auf eine Institution im Wandel
2010-03-08 15-04-20 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02ff235845546554|(S.
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Kurt Dröge, Detlef Hoffmann (Hg.)
Museum revisited Transdisziplinäre Perspektiven auf eine Institution im Wandel
2010-03-08 15-04-20 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02ff235845546554|(S.
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© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Castelvecchio mit Studentin; Foto: Detlef Hoffmann Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1377-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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Inhalt
Einführung
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KURT DRÖGE, DETLEF HOFFMANN
AUSSTELLUNGSKONZEPTE IM WANDEL Ausstellungen und Museen der Elektrizitätswirtschaft zwischen Museumsanspruch und Corporate Communication
15
TOBIAS DETERDING Textilindustriemuseen und ihre Ausstellungsmethoden
31
ANJA OTTEN Carlo Scarpas Projekte für Dauerausstellungen. Der Umgang mit Bausubstanz und Kunstpräsentation in historischen Museumsgebäuden
49
ELENI TSITSIRIKOU Archäologische Museen zwischen Tradition und Innovation
63
KAREN AYDIN Zwischen Wunderkammer und Pictorial Turn. Zum Umgang mit Naturkunde im Museum am Beispiel Oldenburg
73
ANETTE DITTEL „Was Ihr wollt!“ Partizipatorisches Ausstellen aus der Perspektive der Kunstvermittlung ANTJE NEUMANN
81
MUSEUMSSAMMLUNGEN UND INSTITUTIONENGESCHICHTE Sammlungsarchäologie. Annäherung an eine Ruine der Museumsgeschichte
97
ULFERT TSCHIRNER „Der Sammler und die Seinigen“. Die Gemäldesammlung des Aeltermann Lürman in Bremen
113
ANDREA WENIGER Die Sammlungs- und Ausstellungstätigkeit der Kunsthalle Bremen unter Emil Waldmann 1914-1932
119
VERENA BORGMANN Zur Wissensvermittlung in Museum und Schule
133
CHRISTINA PÖSSEL
INNENANSICHTEN – ANALYSEN, NOVATIONEN, VERGLEICHE Eingangssituationen in deutschen Museen. Geschichtliche, analytische und kritische Anmerkungen
143
MELANIE RICHTER Schaudepots. Zu einer ergänzenden Form der musealen Dauerausstellung
153
VERA BEYER Selectie 1: achter de schermen – Annäherungen an Modemuseen
167
KATRIN RIEF Produktpolitik als Instrument des Marketings an Kunstmuseen am Beispiel ausgewählter Sonderausstellungen BETTINA KRATZ
179
AUSSTELLUNGEN IM MEDIENKONTEXT UND -KONFLIKT Museum contra Eventkultur? Zur Doppelausstellung „Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962 bis 1806“ in Magdeburg und Berlin
195
TOBIAS MÜLLER Museum und nationale Identität. Überlegungen zur Geschichte und Gegenwart von Nationalmuseen
209
AIKATERINI DORI Magazinfiktion im Objektlabyrinth. Die aktuelle Dauerausstellung des DHM
223
SUSANNE RUTH HENNIG Die Fotografie der deutsch-deutschen Grenze in den Präsentationen ausgewählter Grenzmuseen
235
ANTJE HAVEMANN Flucht ins Museum? Flucht im Museum? Das Ostpreußische Landesmuseum Lüneburg zwischen Mythos, Erinnerung, Geschichte und Gegenwart
249
ULRICH MÜLLER „Maikäfer flieg...“ Kindheitserfahrungen, Erinnerungsobjekte und Dinggeschichten
261
KARINA PROBST Topkapi. Zur Geschichte der Orient-Rezeption im Museum
267
SIBYLLE TURA
UMGANG MIT KUNST UND KÜNSTLERN „Damit jeder Fürst was sonders habe“. Überlegungen zum Pommerschen Kunstschrank und zu seiner musealen Präsentation KATJA SCHOENE
277
Heimatmalerei, Lebensreform und Museum. Hugo Duphorn als widersprüchlicher Künstler um 1900 und um 2000
291
ULRIKE STEFFEN Zur strukturellen Entwicklung von Künstlerhäusern in Norddeutschland
295
ANKE OTTO Zur Ausstellungsinszenierung der documenta 12 (2007) im Museum Fridericianum
303
LINDA REINER Über das Kuratieren im OFF-Bereich
317
MAGDALENA ZIOMEK-BEIMS
MUSEUMS- UND GEDENKSTÄTTENLANDSCHAFTEN Die Musealisierung der Landschaft in den Abruzzen. Stillstand oder Chance für die Zukunft?
323
ANNIKA HOSSAIN Die Freilichtbühne „Stedingsehre“ Bookholzberg im Kontext vergleichbarer NS-Kultstätten. Ein Konzept für ein zukünftiges Dokumentationszentrum
337
HEIKE HUMMERICH Regionale Museumsberatung in Deutschland. Institutionalisierte Betreuung von Museen
349
STEPHANIE BUCHHOLZ Heimatmuseen mit Leitbild und Entwicklungskonzept? Das Beispiel Leer
365
SWANTJE HEUTEN Verzeichnis der Masterarbeiten Autorinnen und Autoren
371 375
Einführung KURT DRÖGE, DETLEF HOFFMANN Kurz vor Weihnachten 2009 drehte ein altes kulturpolitisches Thema des Museumswesens erneut seine Runde in der Tagespresse: Angesichts desaströser Wirtschaftsführung in Hamburger Museen kam zum wiederholten Mal die Forderung auf, Depotbestände an alter oder auch zeitgenössischer Kunst zu verkaufen, um die öffentlichen Kulturbudgets zu entlasten. Wiewohl kein Debattentabu mehr, so kommt diese Forderung doch immer dann, wenn sie wieder mal auftaucht, der Infragestellung der Grundfesten allen Museums-Selbstverständnisses gleich. „Heilig, heilig, heilig“, lautet der Aufschrei der Insider, zur Jahreszeit zwar passend, aber durchaus nicht mehr adäquat zum Stand der museumswissenschaftlichen Diskussion, die den Schritt zur Möglichkeit des Ent-Sammelns längst getan hat, sich dabei allerdings noch schwer tut mit kommerziellen Begleitgedanken: Tauschen ja, und das seit langem, aber Verkaufen? Das – erneut aktuelle – Thema und Problem, Sammlungsbestände oder zumindest -segmente zu Geld zu machen, kam für den vorliegenden Band zu spät, um noch ausführlicher behandelt zu werden. Fasst man es jedoch als eine Art Spitze des Eisbergs auf in dem Sinne, dass es als so ziemlich einziges „internmuseologisches“ Thema regelmäßig den Weg in die publizistische Öffentlichkeit findet, so lässt sich sagen, dass der riesige, im Wasser unsichtbare Eisberg des Museumswesens selbst, der sich für PR-trächtige Zeitungsmeldungen weniger zu eignen scheint, zu großen Teilen in diesem Sammelband umkreist, betrachtet und analysiert wird. Im Mittelpunkt stehen eine Überwindung des herkömmlichen Spartendenkens im neuzeitlichen Museum und eine Betrachtungsweise, die das Museum als Institution ernst nimmt – ernster als aus kulturpolitischer Sicht, nicht so ernst freilich wie manche puristischen Museumsleute selbst, aber fast so ernst wie zum Beispiel das Archivwesen. Die Strukturen des Museums befinden sich in einem Prozess des Wandels, dessen Ende noch unterschiedliche Konturierungen möglich erscheinen lässt. Das ist wohl auch gut so, wenngleich solche Entwicklungen im Hinblick etwa auf die Ausbildung von Menschen, die in einem Museum tätig werden wollen, Schwierigkeiten mit sich bringen. Die Berufsbilder zwischen Magazinverwalter, Doku-
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mentarin, Ausstellungsgestalter, Kuratorin, Marketingmanager und Generaldirektorin sind in solch teilweise heftiger Veränderung begriffen, dass es schwierig ist, Profile zu definieren und entsprechende Ausbildungsgänge zu konzeptionieren. Dahinter steht: wenn nicht die zeitlos virulente Frage: Was ist ein Museum?, so doch der leider immer wieder generalisierte Problemkomplex: Was macht ein Museum, mit welchen Zielen, wie und für wen? Dass es darauf Antworten gibt, die das Museumswesen formulieren kann im Sinne eines Arbeits- und Sinnkanons, die aber gleichzeitig in ihrer auf den jeweiligen Einzelkomplex bezogenen Vielfalt insgesamt kaum eine normative Kanalisierung, Eingrenzung oder Beschränkung vertragen, mag der vorliegende Band mit seinen verschiedenartigen, ja wohl auch heterogenen Beiträgen erweisen. Er pendelt damit zwischen einer konservativen Museumswissenschaft, die ihren objektkulturbewahrenden Auftrag ernst nimmt, und den innovativen Ansätzen einer vielgestaltigen Neuverortung von Museumstätigkeit, die gegenüber ihren Nachbarn, den schier übermächtig wirkenden Medien Film und Internet, der Erlebnisindustrie, den Kulturevents und Büchern nicht arrogant-zaghaft die Augen schließt, sondern ihre „Alleinstellungsmerkmale“ heraus arbeitet. Dabei stellt gerade das Wissen um die Veränderbarkeit dessen, was als „kulturelles Erbe“ definiert wird und entsprechende Sammelkonzepte begründet, die Crux des Museums par excellence dar. Gäbe es eine allgemein anerkannte, verbindliche und festschreibbare Definition des Sammel-, Bewahrungs- oder Archivauftrags für das Museum, so wäre sie sicherlich, analog zu Archiv- und Denkmalschutzgesetzen, als Regelwerk auch von staatlich-öffentlicher Seite juristisch fixiert, mit der Konsequenz, dass allein der Bewahrungsauftrag mit seinen festgelegten und konkret festlegenden Inhalten bereits als Konstituens des Museums ausreichen würde. Es gäbe also auch Museen ohne Ausstellung. Von dieser Position ist die kulturpolitische Debatte derzeit allerdings weit entfernt. Ob andere, manchmal Gegenpositionen, die das Museum vollständig oder hauptsächlich als Medium (zur Vermittlung von Wissen und/oder Spaß) begreifen, hier hilfreiche Lösungen anbieten, darf bezweifelt werden – wenn sie nicht ohnehin nur versuchen, den kniffligen Fragen um die Nutzung von modernen Medien in der Museumsausstellung aus dem Weg zu gehen. Noch vor gut einer Generation gab es wenige Bücher über das Was? und Wie? für Museen. Die wissenschaftlich tätigen Museumsleute erwarben ihr Wissen in einem Volontariat nach einem zumeist nicht museumsbezogenen Fachstudium in Kunstgeschichte oder Volkskunde, Klassischer Archäologie , Vor- und Frühgeschichte oder Ethnologie, also in Fächern, deren Quellen auch Objekte sind, Gegenstände aus bestimmten Kulturkreisen, die als „stillgelegte“ Objekte letztlich ja Museen kennzeichnen, indem sie aus dem ursprünglichen Lebens-, Arbeits- und Alltagsprozess heraus genommen sind. Zu lernen war aber, dass nicht die Museen stillgelegt sind, sondern dass sie die Objekte als erkenntnisgenerierendes Material nutzen und benutzen können und sollen, in Richtung Bil-
EINFÜHRUNG | 11
dung, Pädagogik, Anschauung, Wissensvermehrung, letztlich also kulturbildend, -weiterführend und -erzeugend. Die Objekte wurden als Exponate im Museum gezeigt – das war der öffentlich zugängliche Teil – oder im Magazin verwahrt – das war der wissenschaftlich aufregende Teil. Das Publikum, im wesentlichen ein Bildungsbürgertum, besuchte – mit einer sich freilich zunehmend vermindernden Intensität – die Ausstellungen, Fachkolleginnen und -kollegen besuchten die Magazine und führten mit den Museumsleuten Gespräche über Fragen ihres Faches. Museen waren primär Institutionen der Forschung, sekundär versorgten sie das Bürgertum mit Anlässen, seine Allgemeinbildung zu aktivieren. Die Welt war sozusagen in Ordnung. Volontäre hatten in erster Linie als Berufsanfänger in diese Form der Kommunikation hineinzuwachsen, sie lernten zudem den Handel und die Auktionshäuser kennen, machten die Arbeiten, die den schon länger im Betrieb befindlichen Museumsleuten eher lästig waren. Die Verwaltung wurde von einem klassischen Verwaltungsleiter des Öffentlichen Dienstes geführt, dem wirtschaftliches Denken zwar fremd war, aber hier konnte ein Volontär wichtige Informationen über den Haushalt einer öffentlichen Institution oder auch über Ausstellungsetats erhalten. Volontäre verfügten also in der Regel über eine sorgfältige fachwissenschaftliche Ausbildung und erwarben das für das Museum spezifische Wissen als Gesellen – oder besser wohl: als Lehrlinge – in der Praxis. Die Karriere wurde vorrangig über die wissenschaftliche Leistung (und über Kungeleien) bestimmt, und die innerfachlichen Schubladen blieben dabei fest geschlossen. Mit der Bildungsreform, die primär Schulen und Universitäten betraf, erst in zweiter Linie auch die Museen, wurde auch diese ehrwürdige Institution verändert. Auf „Wohlstand für alle“ folgte „Kultur für alle“, die Öffnung der Museen war angesagt, insbesondere da das klassische Bildungsbürgertum als solches kaum noch existierte. Gegen zum Teil erbitterten Widerstand führte die Politik nach angelsächsischen Vorbildern Cafeterias ein, museumspädagogisch mitstrukturierte Ausstellungen folgten. Während ein Fachwissenschaftler in den 1960er Jahren noch alle „seine“ Ausstellungen im In- und Ausland besuchen konnte, nahm nun deren Zahl ständig zu. Die Institution der Beständigkeit und der Erhaltung musste sich dem Wechsel permanenter Neuerungen unterziehen. Heute gilt als Faustregel, dass eine Dauerausstellung nach fünf bis zehn Jahren unmodern ist und durch ein neues „Design“ ersetzt werden muss, wenngleich die große Zeit der „Inszenierung“, die auf den Musentempel und den Lernort gefolgt war, bereits wieder der Vergangenheit anzugehören scheint und von der „sinnlichen Erkenntnis“ als Schlagwort museologischer Meinungsführer abgelöst worden ist. Designer haben seit den 1970er Jahren zunehmend Museumsausstellungen gestaltet (oder missgestaltet, ganz wie man will), vorher hatte das der Chef oder ein Kurator gemacht: Es galt damals, die Vitrinen „geschmackvoll“ zu bestücken, und die Bilder mussten in einer wissenschaftlich erhellenden Weise (was auch immer das bedeutete) an den Wänden zusammengefügt werden. Den durch die Ausstellung markierten Stand des Wissens signalisierte ein Katalog, in dem
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jedes ausgestellte Objekt nach dem Stand der Forschung bearbeitet war. Die Abbildungen waren schwarz-weiß – Farbe war ein seltener Luxus. Während die alte Situation gern mit einem Elfenbeinturm identifiziert wurde, diente die Fußgängerzone als Allegorie des Neuen. Im Elfenbeinturm beschäftigten sich Eliten mit den sie interessierenden Fragen, in der Fußgängerzone wurde das Publikum umworben, im ersten Fall fehlte die Außenwirkung, im zweiten Fall die inhaltliche Konzentration, auch auf die Spezifika von Objektkultur, mit denen umzugehen die Geschichtswissenschaft, die nunmehr verstärkt ins Museum drängte, nicht lehrte und nicht gelernt hatte. Doch nicht nur mit der Änderung der Prioritäten kann die Wende im Museumswesen beschrieben werden, sondern sie ging auch mit einer beschleunigten Spezialisierung einher, die durch neue Techniken und die Bemühung um höhere Effektivität gekennzeichnet ist. Für alles gibt es nun Spezialisten, für den Katalogdruck und die Ausstellung, für die Beleuchtung und das Miteinander der Kolleginnen und Kollegen („das Team“), für die richtige Lagerung der Objekte im Magazin und den Umgang mit den Besuchern. Um 1970 gab es kaum ein Büro, das Erfahrungen mit dem Ausstellungswesen hatte, heute hat sich diese Aufgabe zu einer ernst zu nehmenden Verdienstmöglichkeit für Architekten, Designer und „Ausstellungsmacher“ entwickelt. Während in den „alten Zeiten“ ein Museumswissenschaftler alles selbst machte, von der Ausstellung und dem Katalog über die Ankäufe und den Haushalt bis hin zu Neueinstellungen und Führungen, muss er oder sie heute als Managerin mit den verschiedenen Angeboten umzugehen verstehen, Beratung wird eingekauft, aber zugleich wird auch altes Knowhow der Institution ausgelagert. Im Falle der Gastronomie erscheint dies selbstverständlich, aber schon die Ersetzung des eigenen Putzdienstes durch eingekaufte Putzkolonnen mit oft wöchentlich wechselndem Personal ist nicht ohne Probleme. Die Trennung der Museumspädagogik von den Fachwissenschaften ist genauso mit Vor- und Nachteilen behaftet wie die Produktion der Kataloge durch Verlage. Doch gerade das letzte Beispiel zeigt, dass die Praktiken der 1960er Jahre heute nicht mehr funktionieren. Durch Verlage wird ein Katalog natürlich auf einem viel größeren Markt abgesetzt als es der Verkauf an der Museumskasse allein ermöglichen würde. Über das Wissen um preisgünstige Druckereien etwa in China verfügt ein Verlag, wie sollten Museumsleute sich hier auskennen? Aber eine die Forschung reflektierende Katalognummer halten die meisten Verlage für wenig attraktiv für eine große Abnehmerschaft: So ist die Entwicklung zum Bilderbuch wohl unaufhaltsam. Das Mitspracherecht eines Museums gegenüber dem Verlag bei diesen Fragen ist weitgehend durch die eigene finanzielle Beteiligung definiert und reduziert sich zusehends. Solche Symptome für den strukturellen Wechsel gibt es viele, bis hin zur partiellen Gewohnheit oder inzwischen Tendenz, den Besucher durch den Kunden zu ersetzen, die Gäste zu Konsumenten zu erklären und die Mitarbeiter zu Produzenten zu machen.
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Die Institution Museum hat sich in den letzten 30 bis 40 Jahren vollständig verändert. Manche ihrer alten Aufgaben, etwa die Forschung, sind nur noch schwer gegen Politik und Öffentliche Meinung durchzusetzen, andere wie publikumswirksame Ausstellungen werden zunehmend gefordert. Das Museum soll Umsatz machen, soll den Standort aufwerten. Während zuvor eine Art Interessengleichheit zwischen Bildungsbürgertum und Verwaltung bestand, werden nunmehr manche Forderungen an das Museum gerichtet, die nur noch schwer mit seinem Material, nämlich seinem Bewahr-, Erforschungs- und Dokumentationsauftrag in Einklang zu bringen sind. Andererseits sieht sich das Museum einem dispersen Publikum gegenüber, das mit großer Neugier ins Museum kommt. Hier ist nicht mehr das gleiche Vorwissen voraus zu setzen, aber dafür spielen neue und teilweise sehr unterschiedliche Interessen hinein, mit denen das Museum konfrontiert wird. Gleiches trifft für die Geldgeber in Politik und Wirtschaft zu (mit stark zunehmender Tendenz): Entscheidungsträger sind dort oft keine Menschen, die mit Museen groß geworden sind, sondern solche, deren naive Forderungen in der altehrwürdigen Institution Museum nach wie vor Unverständnis hervor rufen können. Die vorliegende Aufsatzsammlung geht in vielen Beiträgen auf die hier nur angedeutete neue Situation ein, ja die meisten Autorinnen und Autoren gehören einer Generation an, die das alte Museum nur vom Hörensagen oder aus ihrem Studium kennt – für sie sind die Forderungen an die Institution nichts Neues, sie stellen vielmehr den Status quo dar, von dem auszugehen ist. Die hier schreibenden, vornehmlich jüngeren Fachkolleginnen und -kollegen, die sich unter anderem eine Überwindung der herkömmlichen Disziplinarität in der Museumsarbeit zum Ziel gesetzt haben, sind heute in unterschiedlichsten Feldern, in Museum und Kulturpflege, im Bildungswesen und Kunstleben oder in der Ausstellungspraxis und Kommunikationsarbeit tätig. Alle Aufsätze gehen von praktischen Erfahrungen im Museum bzw. intensiven Untersuchungen vor Ort aus. Die in diesem Band versammelten 30 Beiträge sind eigens für dieses Buch geschrieben worden und bislang unpubliziert. Sie bilden gleichsam Stichgrabungen in neue Fragestellungen, die immer exemplarisch in bestimmte theoriegeleitete Problemkomplexe einführen wollen: dann aber so konkret wie möglich. Sie basieren, als Zusammenfassungen und als weiter führende Forschungen, auf 30 Masterarbeiten, die zwischen 2002 und 2009 im Studiengang Museum und Ausstellung an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg gefertigt worden sind. Der auf eine interdisziplinär arbeitende Museumswissenschaft ausgerichtete Masterstudiengang gehörte zu den allerersten seiner Art und verfügte über ein singuläres, allgemein anerkanntes Profil. Er wurde im Jahre 2000 eingerichtet, 2003 erstmals akkreditiert und zum Zeitpunkt der Herausgabe dieses Bandes 10 Jahre alt. Zwei Fakultäten bieten ihn gemeinsam und fächerübergreifend an – beteiligt sind hauptsächlich die Fächer Geschichte, Kunst und Kulturwissenschaft.
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Die diesem Band zugrunde liegende Forschung und Lehre ist gleichzeitig theoriebezogen und anwendungsorientiert gewesen. Entsprechend zielen auch die Aufsätze nicht auf eine bloße Addition zusätzlichen Fachwissens, sondern auf die besondere museologische Qualität interdisziplinär gewonnener Kenntnisse, die als Ergebnisse auch umgesetzt werden können: wiederum theorie- und anwendungsbezogen. Sie legen Rechenschaft ab von einer bestimmten Phase innerhalb der nunmehr zehnjährigen Geschichte des Oldenburger Studienganges und verstehen sich bezogen auf diese Phase durchaus auch als Leistungsnachweis – wobei der Aktualitätsgrad von Beitrag zu Beitrag unterschiedlich sein kann. Im Buchanhang finden sich die ursprünglichen Titel der Masterarbeiten genannt. Alle Abschlussarbeiten selbst sind – und bleiben wohl auch – unpubliziert. Die Gesamtheit der Beiträge mag zeigen, wie in einer zeitgemäßen Museumswissenschaft Praxis und Theorie sinnvoll miteinander verknüpft werden können nach dem Motto Forschungsfeld Museum in doppelter Bedeutung: Forschung im Museum und Erforschung des Museums. Alle Beiträge gehen von übergeordneten Fragestellungen aus und untersuchen sie anhand von konkreten Einzelfällen in Gestalt von Museen, Ausstellungen und kulturellen Initiativen. Ein gewisser Schwerpunkt liegt auf Museen in Nordwestdeutschland, ein anderer auf landesweiten oder internationalen Vergleichen. Unterschiedlichste Ausstellungsprojekte werden hinterfragt und häufig auch komparativ untersucht. Dabei öffnet sich der Blick auf das allgemeine Museumswesen der Gegenwart und seine Tendenzen sowie immer wieder auf seine Geschichte. Der Band möchte für Museen und für Kulturschaffende von Interesse sein. Er versteht sich als ein Plädoyer für eine offene, engagierte Museumswissenschaft. Diese hat sich in letzter Zeit auf einer eher allgemeinen Ebene mit Praxisund Theoriebezügen neu etabliert, wovon Handbücher und Überblicksdarstellungen Zeugnis ablegen. Hingegen findet spezialisiertere, institutionenbezogene Museumsforschung auf der Basis sowohl eines historisch hergeleiteten Theoriegerüstes als auch von empirischen Erhebungen eher selten statt. Deshalb betrifft die Themenpalette hier das Museum und die Museumswissenschaft in der ganzen Breite. Behandelt oder berührt werden viele museumsrelevante Arbeitsbereiche und Fachdisziplinen, ohne einen Anspruch auf Geschlossenheit zu erheben. Die Beiträge analysieren museologische Konzeptionen der letzten 200 Jahre mit einem Schwerpunkt auf der gegenwärtigen Situation. Sie sollen vor allem zeigen, dass eine fächer- und kanonübergreifende, offene und auch medial sorgsam reflektierende Museumsarbeit einschließlich Forschung und Lehre ein geeignetes Grundkonzept für neue Museumsentwicklungen sein kann. Sie nehmen das Museum als Institution im Wandel exemplarisch und vergleichend in den Blick. Allen beteiligten Autorinnen und Autoren danken wir für ihre solidarische und nicht immer leicht realisierbare Mitarbeit. Der Kollegin Antje Sander im Schlossmuseum Jever sei für bereitwillig-hilfreiche Unterstützung gedankt. Abschließend ist der EWE-Stiftung, Oldenburg, für freundlich gewährte finanzielle Förderung bei der Drucklegung dieses Bandes zu danken.
Au sstellungen und Museen der Elektrizitätsw irtschaft zw ischen Muse umsa ns pruc h und Corporate Communication TOBIAS DETERDING Es ist nicht übertrieben zu behaupten, das Image der deutschen Energieversorgungsunternehmen wäre nicht das beste. Kaum ein Wirtschaftszweig verkörpert heute so eindeutig das Dilemma der modernen Konsumgesellschaft: Produkte wie Öl, Gas und vor allem elektrischer Strom sind so allgegenwärtig und selbstverständlich, dass sie als absolut unverzichtbar betrachtet werden, doch wird der Produktionsprozess, die Gewinnung und Bereitstellung dieser Energien, weitgehend kritisch beurteilt. In das Bewusstsein der Öffentlichkeit rückt diese Dichotomie vor allem dann, wenn der hohe Lebensstandard durch Verknappungen der sonst jederzeit verfügbaren Energien gefährdet ist, oder wenn einzelne Skandale die Gefahren für Gesundheit und Umwelt verdeutlichen und damit den Preis, mit dem dieser Lebensstandard erkauft wird. Besonders anhand der Geschichte der Atomkraft lässt sich der Vertrauensverlust verfolgen, dem die Elektrizitätswirtschaft im Verlauf des späten 20. Jahrhunderts unterlag. Dieser Diskurs hat sich so tief eingeprägt, dass auch der alltägliche Sprachgebrauch davon beeinflusst wurde. So hat Alexander Schug ein Unterkapitel seines Ratgebers „History Marketing“ im Abschnitt „Geschichte als kritischer Faktor der Unternehmenskommunikation“ mit folgender Überschrift versehen: „Die Zwangsarbeiterfrage als kommunikativer Super-Gau [sic!] für Unternehmen“.1 Trotz des Rechtschreibfehlers wird sofort klar, dass hier nicht auf eine Organisationseinheit der NSDAP, sondern auf den „größtmöglichen anzunehmenden Unfall“ (GAU) angespielt wird, einen Begriff, der dem Fachjargon der Atomwirtschaft entnommen ist, umgangssprachlich inzwischen aber auf jede außer Kontrolle geratene Situation angewandt werden kann. In dieser Überschrift werden – vielleicht absichtlich, vielleicht unbewusst – zwei große Problem- und Arbeitsfelder für die Public Relations eines Konzerns miteinander 1
Alexander Schug: History Marketing. Ein Leitfaden zum Umgang mit Geschichte in Unternehmen, Bielefeld 2003, S. 47.
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verknüpft. Ein Industrieunternehmen ist immer mit der Erwartung seitens der Öffentlichkeit konfrontiert, sowohl hinsichtlich seiner Vergangenheit (beispielsweise seiner Rolle im Dritten Reich) als auch für Gegenwart und Zukunft, insbesondere im ökologischen Bereich, Verantwortung zu übernehmen und dies auch zu zeigen. Sein Agieren als „Corporate Citizen“, als verantwortungsvoller Bürger, muss adäquat nach außen kommuniziert werden, um sein Image positiv zu beeinflussen. Dieses Image bildet zusammen mit der Kommunikation nach innen die „Corporate Identity“. Zu den Orten, an denen seit jeher Identitäten konstruiert werden, gehören auch die Museen, seien sie nun volkskundlicher, historischer oder künstlerischer Ausrichtung. Es verwundert daher nicht, dass sowohl historische Ausstellungen als auch Firmenmuseen seit dem 19. Jahrhundert zu den Werkzeugen der Public Relations von Unternehmen verschiedenster Größenordnung zählten. Zwar wurden elektrisches Licht und Elektromotoren durch Ausstellungen und öffentliche Vorführungen beworben wie kaum ein anderes Produkt im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, doch erst relativ spät, in den 1960er Jahren, wurden auch die ersten Museen der Elektrizitätswirtschaft für die gesamte Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Eine Herausforderung besteht auch heute noch darin, ein für gewöhnlich nicht sichtbares Produkt, nämlich elektrischen Strom, für den Besucher anschaulich und interessant darzustellen. So wie ihr Produkt scheinen auch die Energieversorgungsunternehmen selbst in der Öffentlichkeit die meiste Zeit „unsichtbar“ gewesen zu sein. Demarkationen der Versorgungsgebiete, das heißt Versorgungsmonopole, sowie Abnahmegarantien ließen es offenbar nicht nötig erscheinen, dem jeweiligen Stromlieferanten eine unverwechselbare Identität zu geben, die auch über ein Museum hätte kommuniziert werden können. Erst mit der Liberalisierung des Strommarktes entstand der Druck, elektrischen Strom (wieder) als „Marke“ mit einem bestimmten Image zu definieren. Jeder Konzern ist gezwungen, sich mittels öffentlichkeitswirksamer Maßnahmen zu profilieren und von der Konkurrenz abzugrenzen, sei es durch seine Unternehmensphilosophie oder durch Sponsoring im sozialen oder kulturellen Bereich. In das letztere Feld fallen auch die Firmenmuseen. Ob und in welchem Ausmaß sie von diesem Wandel tangiert werden, ist eine der Fragen dieses Beitrags. Von den Begriffen Elektrizitätswirtschaft, Corporate Communication, Firmenausstellung und Firmenmuseum soll zum besseren Verständnis nur der letztere genauer erläutert werden. Anne Mikus schlägt in ihrem Grundlagenwerk folgende Definition vor: „Ein Firmenmuseum ist eine als Ausstellung aufbereitete ständige Sammlung, die von einem Unternehmen ins Leben gerufen und unterhalten wird.“2 Ihre Definition soll hier erweitert werden um Sammlungen, die von einem Unternehmen ins Leben gerufen oder unterhalten werden. Die Industrie nutzt Museen in der Regel ganz gezielt, um ein bestimmtes Publikum an2
Anne Mikus: Firmenmuseen in der Bundesrepublik. Schnittstelle zwischen Kultur und Wirtschaft, Opladen 1997, S. 15.
MUSEEN DER ELEKTRIZITÄTSWIRTSCHAFT | 17
zusprechen und auf die Arbeit des Unternehmens bezogene Inhalte zu transportieren. Dabei ist der formalrechtliche Aspekt der Trägerschaft nicht unbedingt entscheidend. Die Gründung einer Stiftung als Träger eines Museums kann ebenso wie die Einbindung der Institution in die Organisationsstruktur3 als Methode der Corporate Communication gelten und einen Beitrag zum Corporate Citizenship leisten. Es können hier nicht sämtliche Stationen und Entwicklungen der Elektrifizierung, von der Erforschung des Phänomens Elektrizität bis zu den kürzlich diskutierten Ereignissen in der Energiebranche wie Preisabsprachen oder Vertuschungsskandalen dargestellt werden. Stark vereinfacht lassen sich vier große Perioden in der Kulturgeschichte der Stromversorgung ausmachen: 1. die Phase der Einführung und Popularisierung von elektrischem Strom, als die Kunden mit einer neuen, fremdartigen Form der Energie bekannt gemacht werden mussten und ein Bedarf zu erzeugen war, der Markt erst geschaffen werden musste; 2. die Elektrifizierung als Selbstläufer, in der Strom für Fortschritt, Sauberkeit und neue Lebensqualität stand; 3. die Zeit der Energiekrisen und des neuen Umweltbewusstseins, als ungehemmter Energieverbrauch stark in die Kritik geriet und die Stromversorger unter Rechtfertigungsdruck standen; 4. die Phase der Liberalisierung des Strommarktes und der neuen Konkurrenz, in der wir uns noch heute befinden. Eine Leitfrage ist, ob in Ausstellungen und Museen, die von Energiekonzernen finanziert wurden und werden, Unternehmensgeschichte überhaupt thematisiert wird, und wenn ja, in welcher Form. Findet man dort auch die problematischen Aspekte der Energieversorgung vor, wie Umweltgefährdung oder Monopolisierung, oder setzen die Kuratoren auf Nostalgie und die Ästhetik des Industriedesigns? Wie werden die Besucher als Betrachter, Gesprächspartner und Konsumenten einbezogen? Dabei soll der Gesichtspunkt des Marketing, der Einbindung in die Unternehmenskommunikation, stets präsent sein.
Ausstellungsformen in der Energie- und Elektroindustrie vor dem Museum Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Produkte der Elektroindustrie auch auf Industriemessen und firmeneigenen Ausstellungen beworben. Bedeutend war die Berliner Gewerbeausstellung von 1879, auf der mit der ersten elektrischen Eisenbahn der Firma Siemens und Halske die Möglichkeit des Einsatzes elektrisch betriebener Transportmittel im Nahverkehr prinzipiell bewiesen wurde. Zwar hatte der Kleinzug mit einer maximalen Geschwindigkeit von 7 km/h noch keinen praktischen Nutzen, doch wurde die symbolische Bedeutung dieses Proto-
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So war das Electrum und ist das Museum für Energiegeschichte(n) dem Bereich Unternehmenskommunikation des jeweiligen Konzerns zugeordnet.
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typs schon damals erkannt.4 AEG und Siemens & Halske hatten zuvor schon eigene Ausstellungsräume auf ihrem jeweiligen Firmengelände eingerichtet, die sowohl Schulungszwecken als auch der Besucherinformation dienten.5 Auf Industriemessen war die Elektrotechnik nur eine Sparte unter vielen, bis 1881 in Paris die erste internationale elektrotechnische Ausstellung stattfand. Die ersten World Fairs setzten Standards für die zukünftige Zurschaustellung technischer Exponate und postulierten Jahrzehnte vor dem Deutschen Museum bereits die Gleichsetzung von Technik und Kultur. Die zentrale Bedeutung, die das elektrische Licht als Schauwert bei der Bewerbung der neuen Energieform erhalten sollte, kündigte sich schon auf der Weltausstellung in Paris 1867 an. Großbritannien hatte einen Leuchtturm erbaut, dessen Bogenlampen sämtliche anderen Lichtquellen der Stadt bei weitem überstrahlten. Auch die dynamoelektrische Maschine der Firma Siemens & Halske war ein Vorbote der späteren Weltausstellungen im Zeichen der Kraft und des Lichts aus elektrischem Strom.6 Auf der Weltausstellung, die 1889 wieder in Paris stattfand, wurde zum ersten Mal die Elektrizität regelrecht zelebriert.7 Dabei war Elektrizität umso attraktiver und spektakulärer, je mehr ihr technischer Charakter verschleiert wurde und je stärker ihre Fähigkeit in den Vordergrund rückte, Natur zu simulieren oder „magische“ Effekte hervorzurufen. Die immer wiederkehrende Personifikation als Gottheit (Prometheus) oder Märchengestalt (Fee) zeugen nicht von bloßer Unfähigkeit des Laien, den technischen Prozess der Stromerzeugung völlig zu begreifen, sondern entspringen offenbar dem Willen, in der Elektrizität eine göttliche oder magische Kraft zu sehen, deren schöpferisches und heilsbringendes, erlösendes Potenzial nicht durch nüchterne technische Fakten profaniert werden soll. Im Gegensatz zu den elektrotechnischen Ausstellungen, die ihren Zweck schon um die Jahrhundertwende erfüllt hatten und damit bald von der Bildfläche verschwanden8, blieben die Weltausstellungen noch bis in die Dreißiger Jahre Feste der Elektrizität.9 Die elektrotechnischen Ausstellungen standen dagegen weniger im Zeichen nationalen Prestiges und internationaler Konkurrenz, sondern sollten vor allem den Zweck erfüllen, das Publikum mit den praktischen Verwendungsmöglichkeiten des Stroms vertraut zu machen. Es galt, Berührungsängste abzubauen und Skeptiker zu überzeugen, um letztlich einen Markt für elektrotechnische Produk4
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Anne-Kathrin Ziesak: Am Vorabend des elektrischen Saekulum. Die Zeit der Ausstellungen 1882-1891. In: Rolf Spilker (Hg.): Unbedingt modern sein. Elektrizität und Zeitgeist um 1900. Bramsche 2001, S. 26-33, hier S. 27. Astrid Zipfel: Public Relations in der Elektroindustrie. Die Firmen Siemens und AEG 1847 bis 1939. Köln 1997, S. 49-50 und S. 152-154. Wilfried Kretschmer: Geschichte der Weltausstellungen. Frankfurt/M. und New York 1999. S. 83. Ebd., S. 128-130. Ziesak (wie Anm. 4), S. 32. Ulrike Felber: „La fée electricité“. Visionen einer Technik. In: Klaus Plitzner (Hg.): Elektrizität in der Geistesgeschichte. Bassum 1998, S. 105-122, hier S. 119-121.
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te zu schaffen. Den Charakter eines Wettbewerbs bekamen diese Messen weniger wegen des impliziten Mottos eines internationalen sportlichen Wettstreits wie im Fall der World Fairs, sondern durch die Konkurrenz innerhalb der Elektroindustrie. Der „Systemstreit“ zwischen dem speicherbaren Gleichstrom und dem transformierbaren Wechselstrom war dabei ein wesentlicher Faktor. Nicht weniger als die World Fairs waren diese Fachmessen Produzenten von Visionen einer besseren Welt, die mittels technischen Fortschritts verwirklicht werden sollten. Auf der ersten internationalen elektrotechnischen Ausstellung in Paris dominierte die Edison Gesellschaft die Szene. Hier stand noch vor allem das elektrische Licht in seiner praktischen Anwendung im Vordergrund. Die Veranstaltung bot außerdem eine Plattform für zahlreiche Tagungen und den allgemeinen Austausch zwischen Ingenieuren und Unternehmern. Die Pläne Oskar von Millers zur Ausstellung von 1882 in München gingen direkt auf seine Erfahrungen in Paris zurück. Beleuchtung von Theatern, Kunstausstellungen, Geschäftsräumen und Privatwohnungen sollte in ihren verschieden Spielarten vor allem dem Laien anschaulich demonstriert werden.10 Auf der neun Jahre später in Frankfurt am Main stattfindenden internationalen Elektrizitätsausstellung gelang eine Übertragung von Drehstrom von Lauffen am Neckar zum Ausstellungsgelände über 170 Kilometer. Die wiederum unter der Regie von Oskar von Miller konzipierte Ausstellung stand im Zeichen der Energieerzeugung und -weiterleitung sowie der Konkurrenz von Gleichstrom- und Wechselstromgeneratoren. Die Gebäude im historisierenden Stil bildeten das Modell einer elektrifizierten Stadt, in der alle Geräte und Maschinen aus der neuen Kraftquelle gespeist wurden.11 Außerdem war hier schon die Musealisierung der Elektrotechnik zu beobachten. So befanden sich unter den Exponaten der Ausstellung unter anderem Goethes Elektrisiermaschine, die Versuchsanordnung von Heinrich Hertz zum Nachweis der elektromagnetischen Wellen sowie historische Telefonapparate, Leitungen und Beleuchtungsanlagen.12 Spätestens seit den 1860er Jahren war die Festbeleuchtung bei öffentlichen Feiern ein wichtiger Aspekt der Inszenierung. Firmen wie Siemens & Halske konnten durch die Installation ihrer Beleuchtungsanlagen zu Nationalfeiertagen die allgemeine Begeisterung über die pompöse Inszenierung zur Steigerung ihres eigenen Ansehens nutzen.13 Auch zu kleineren festlichen Anlässen, wie Empfängen oder Theateraufführungen, gehörte die elektrische Beleuchtung Ende des 19.
10 Wilhelm Füßl: Oskar von Miller: 1855 – 1934. Eine Biographie. München 2005, S. 52 und S. 58-61. 11 Jürgen Steen: Die „fée électricité“ trifft Prometheus – Die internationale elektrotechnische Ausstellung 1891 und die „Neue Zeit“. In: Spilker (wie Anm. 4), S. 3449, hier S. 41. 12 Füßl (wie Anm. 10), S. 136-137. 13 Beate Binder: Die elektrifizierte Stadt. In: Spilker (wie Anm. 4), S. 62-75, hier S. 63.
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Jahrhunderts zum guten Ton. In Theatern war sie bald gesetzlich vorgeschriebener Standard.14 Schon kurz nach der Erfindung der Jablochkowschen Kerze wurde diese Weiterentwicklung der Bogenlampe 1877 in Paris zur Straßenbeleuchtung eingesetzt.15 Für die übrigen europäischen Großstädte, insbesondere Berlin, war es eine Frage des nationalen Prestiges wie des Images als Weltstadt, so schnell wie möglich gleichzuziehen. Das Bogenlicht verlieh einer Metropole erst den Rang einer modernen Weltstadt und ließ demgegenüber die noch mit Gas illuminierten Städte als provinziell erscheinen. Zudem bildeten die elektrisch beleuchteten Plätze und Straßen neue städtische Mittelpunkte, die alle anliegenden Geschäfte und Hotels in den Ruf der Modernität und Exklusivität setzten. Auch Geschäfts- und Hotelinhaber setzten sich für schnellstmöglichen Anschluss an das Netz ein, wobei hier in erster Linie wieder ökonomische Gründe im Vordergrund standen. Das erste elektrisch beleuchtete Schaufenster, den ersten mit Glühlampen ausgeleuchteten Verkaufsraum zu besitzen, bedeutete einen enormen Vorsprung in der Werbung. Für Hotels war elektrisches Licht ein Symbol für Exklusivität, Sauberkeit und Modernität. Der Schaufensterbummel entwickelte sich proportional zur Verbreitung der Leuchtreklame zu einer immer beliebteren Freizeitbeschäftigung. Werbung für elektrische Beleuchtung wurde für die Elektrounternehmen praktisch durch ihre Kunden übernommen. Erst als die Stromversorger neue Absatzgebiete für Tagstrom suchten, um eine gleichmäßige Ausnutzung ihrer Anlagen zu erreichen, waren auch der Mittelstand und die Arbeiterhaushalte als Abnehmer für Elektrogeräte aller Art von Interesse. Der Wandel der Produkte von Luxusgütern zu erschwinglichen Haushaltsgeräten für Jedermann erforderte eine Neustrukturierung der Werbemaßnahmen. Neben neuen Finanzierungsmodellen beinhaltete dies auch den Aufbau von Beratungsstellen und den Einsatz mobiler Vorführeinrichtungen. Die Kundenberatungsstellen waren in den Zwanziger Jahren gleichzeitig Verkaufsausstellungen und Vorführräume, die stets eine Zusammenstellung ausgewählter Geräte enthielten. Das moderne Medium des Films wurde zu Schulungs- und Werbezwecken schon häufig eingesetzt.16 Auch Lehrküchen waren nun erstmals fester Bestandteil der Beratungsstellen. Es galt, Ängste und Vorbehalte der Hausfrauen zu überwinden und den praktischen Umgang mit den ungewohnten elektrischen Kochgeräten zu lehren.17 Doch erst in den 1950er Jahren nahm der Absatz elek14 Ebd., S. 66-70. 15 Lindner, Helmut: Strom. Erzeugung, Verteilung und Anwendung der Elektrizität. Reinbek 1995, S. 18. 16 Peter Döring und Christoph Weltmann: „Die Erweckung von Stromhunger“. Elektrizitätswerbung im 20. Jahrhundert. In: Horst A. Wessel (Hg.): Das elektrische Jahrhundert. Entwicklungen und Wirkungen der Elektrizität im 20. Jahrhundert. Essen 2002, S. 93-108, hier S. 100. 17 Peter Döring: Vom Vorführungs- und Ausstellungsraum zum Kundencenter. Werbung für die Strom- und Gasnutzung in Recklinghausen. In: ders. (Hg): 100 Jahre Strom für Recklinghausen 1905-2005. Essen 2005, S. 83-97, hier S. 84-86.
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trotechnischer Produkte enorm zu, und Kundenzentren erlebten ebenso wie Lehrküchen eine Blütezeit. Die Benutzung elektrischer Haushaltsgeräte schnellte derart in die Höhe, dass die Stromversorger nach neuen Absatzmöglichkeiten für Nachtstrom suchen mussten, um die täglichen Stromspitzen auszugleichen. So wurden auch die Nachtspeicherheizungen als moderne Wärmequelle in die Palette der beworbenen Produkte aufgenommen. Erst die Ölkrisen und die zunehmend kritische Berichterstattung über die Gefahren der Kernkraft sorgten in den Siebziger Jahren für eine Neuorientierung der Beratungstätigkeit hinsichtlich einer möglichst energieeffizienten Nutzung elektrischer Energie. Zum festen Geräte-Ensemble der Kundenzentren gehörten jetzt ausleihbare Strommessgeräte zum Aufspüren von Energieverschwendern im Haushalt.18 Die Stromversorger versuchten auf diese Weise, dem sich abzeichnenden Imagewandel vom Wohlstandsbringer zum Umweltzerstörer entgegenzusteuern. In den 1990er Jahren begann mit der Öffnung des Strommarktes und der freien Wahl des Anbieters wiederum ein Wandel in der Kundenorientierung. Der Schwerpunkt verlagerte sich auf Werbemaßnahmen, die wieder verstärkt in den Medien stattfanden. Inzwischen hatten sich die Verbraucher an die Benutzung elektrischer Geräte gewöhnt, auch hinsichtlich der sparsamen Anwendung, sodass Ausstellungen und Vorführungen kaum noch notwendig waren.19 Die nachfolgend vorgestellten Institutionen bilden eine Auswahl, die den Anforderungen des ICOM an Museen am nächsten kommt, wobei die Grenzen fließend sind. Weitere, kleinere Einrichtungen, auf die hier nicht näher eingegangen wird, sind z.B. das Elektro-Museum im Solarhaus Illingen (eine Sammlung elektrotechnischer Produkte), das Wasserkraftwerk in Wülmersen, das im Rahmen einer wöchentlich stattfindenden Führung besichtigt werden kann, oder die „Elektrothek“ des RWE in Krefeld, die Exponate aus den Bereichen Umspannwerk und Regelungstechnik sammelt und nur nach Anmeldung zugänglich ist.
Energiemuseum Rendsburg Das Energiemuseum in Rendsburg hat seinen Ursprung in den 1960er Jahren, als die erste Schausammlung von Elektrogeräten im jetzigen Museumsgebäude der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde.20 Urheber der Sammlung war ein Mitarbeiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der ehemaligen Schleswag AG. Sowohl die Dauerausstellung als auch das spätere Museum wurden im ehemaligen Verwaltungsgebäude eingerichtet, das der Hamburger Architekt Fritz Höger
18 Ebd., S. 92-93. 19 Ebd., S. 94-96. 20 Sofern keine Literaturangaben gemacht werden, stammen die Beschreibungen aus Informationsmaterial des Museums oder sind Auskünften der Museumsmitarbeiter entnommen.
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1920 für den damaligen Schleswig-Holsteinischen Elektrizitätsverband entworfen hatte. Aus diesem Verband ging 1928 die Schleswig-Holsteinische Stromversorgungs Aktiengesellschaft (SCHLESWAG) hervor, die bis 2003 auch Träger des Museums war. In diesem Jahr ging die SCHLESWAG in der E.ON Hanse AG auf, die nunmehr die rechtliche Trägerschaft des Museums innehat. Die grundlegende Neukonzeption der Dauerausstellung als Museum wurde 1990 im Auftrag der SCHLESWAG durch das „Wandernde Museum“ vorgenommen, eine Einrichtung der naturwissenschaftlichen Museumsdidaktik der Universität Kiel. Das Leitmotiv war dabei, die Elektrifizierung des Alltags anhand elektrotechnischer Geräte und ihrer stromlosen Vorläufer darzustellen. Zu diesem Zweck wurde das gesamte Erdgeschoss als ein symbolisches Wohnhaus gestaltet, das ein Büro, ein Wohnzimmer, eine Küche, ein Musikzimmer und ein Kinderzimmer beinhaltete. Der Eingangsbereich war der Darstellung der Geschichte der Elektrotechnik und der Elektrifizierung Schleswig-Holsteins gewidmet. Durch zusätzliche Exponate wie schriftliche Dokumente im „Herrenzimmer“ wird abermals der Bezug zur Stromversorgung der Region hergestellt. Das zentrale Merkmal des Museums war die Verschränkung des inhaltlichen Schwerpunktes mit der Ausstellungstechnik, die für die damalige Zeit eine Innovation darstellte. Ein elektronisches Netzwerk, das sogenannte DERY21-System, war in sämtlichen Ausstellungsräumen zur Unterstützung der Inszenierung installiert: „Es wird über eine einfache Leitung in Form eines Klingeldrahtes durch alle Räume verlegt, ähnlich der bekannten Stromnetzleitung einer Wohnung. In jedem Raum befinden sich mehrere Informationssteckdosen, an die die einzelnen Stationen als Informationssender oder -empfänger angesteckt werden können. Jede Station hat eine individuelle Adresse, unter der sie von anderen Stationen angesprochen werden oder unter der sie Informationen senden kann. Eine Zentrale – die DERY-Zentrale – organisiert den Datenaustausch und versorgt alle Stationen (Exponate) mit Energie. In jedem Raum installierte Bewegungsmelder liefern Informationen an die Zentrale und aktivieren ein Programm. Dadurch werden über ein elektronisches Drehbuch Szenarien inszeniert. [...] Die Programme der einzelnen Räume sind voneinander völlig unabhängig: es werden z. B. Die Rollos gesenkt, Leuchten oder Motoren eingeschaltet oder Tonquellen aktiviert.“22
Das Leitsystem sollte nicht nur die Ausstellung unterstützen, sondern gleichzeitig auch als Beispiel für Vernetzung dienen. Inzwischen ist die Anlage nicht mehr in Betrieb, womit ein wesentlicher Bestandteil des Gesamtkonzeptes entfällt. Heute steht stattdessen das Museumspersonal den Besuchern mit den benötigten Erläuterungen zur Seite. Die DERY-Anlage ist selbst zum Relikt geworden. Die Inszenierung des elektrifizierten Hauses in Verbindung mit der Vernetzung der Exponate verwirklichte eine im Laufe der Stromwerbung schon von Beginn an immer wieder formulierte Vision: Das all-elektrische Haus, das hier in einem Mu-
21 Digitales Einleiter-Ringsystem. 22 Schleswag Aktiengesellschaft Rendsburg (Hg.): Elektro-Museum der SCHLESWAG Aktiengesellschaft. Kiel 1993, S. 7.
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seumskontext erfahren werden konnte. Heute kann es wiederum als Beleg dienen für die schnelle Alterung technischer Systeme, insbesondere der Informationssysteme.
Museum Strom und Leben im Umspannwerk Recklinghausen Die jüngste der hier vorgestellten Einrichtungen der Elektrizitätswirtschaft ist zum Teil im historischen Gebäude des Recklinghauser Umspannwerks untergebracht. Als Träger wurde ein Verein gegründet, dessen sieben Mitglieder sämtlich RWE-Mitarbeiter sind. Auf dem Museumsgelände ist auch das historische Archiv des Konzerns und der VEW, die im RWE aufging, untergebracht. Die Auswahl der Exponate ist in erster Linie einer allgemeinen Kulturgeschichte der Elektrifizierung verpflichtet. Diese generiert sich vor allem über die Objekte und nicht über Texttafeln, die nur sehr zurückhaltend eingesetzt werden. Die Ausstellung ist nach Themen geordnet, dafür ist die Anordnung in der Binnenstruktur, den einzelnen Abteilungen, chronologisch. Überschriften in NeonSchrift über den Abteilungen lauten unter anderem „Erzeugen“, „Arbeiten“, „Heilen“, „Wohnen“, „Vergnügen“ und „Werben“. Das Umspannwerk als Baudenkmal wird ebenfalls thematisiert, so z. B. auf Tafeln zur Erklärung der generellen Funktionsweise von Umspannwerken oder zur Architektur des Recklinghauser Werkes. Eines der spektakulärsten Objekte ist, neben den Umspannanlagen selbst, ein frei zugänglicher Straßenbahn-Triebwagen aus der Zeit um 1915/16. Bei dessen Restaurierung habe man „bewusst auf eine Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes verzichtet, um die Spuren der jahrzehntelangen Nutzung sichtbar zu erhalten“, wie eine Tafel erklärt. Hervorzuheben ist die Offenheit, in der das Museum seine Arbeit reflektiert. Die Tafel „Vom Elektroschrott zum Exponat“ geht auf das schnelle Altern elektrotechnischer Geräte ein, das auch die Sammeltätigkeit des Museums beeinflusst. In dieser Abteilung werden einige elektronische Objekte, wie Handys oder Computer, als Exponate gezeigt, die erst wenige Jahre alt sind. Dies ist nicht nur ein Hinweis auf die Kurzlebigkeit der modernen materiellen Kultur, sondern auch eine Anspielung auf einen museologischen Diskurs.23 Inszenierungen in der Art von Bühnenbildern durchziehen die Ausstellung, so z.B. ein Kino, ein Friseursalon, eine Werkstatt, eine Bar oder Küchen verschiedener Jahrzehnte. Eine wirklichkeitsgetreue Rekonstruktion ist dabei jedoch nicht angestrebt. So wurden z. B. auch Vitrinen, Podeste oder Wandbilder in die Räume integriert. Die Einbeziehung des authentischen Ortes, die mutige Entscheidung, Original-Exponate nicht nur berührbar, sondern für den Besucher auch benutzbar zu machen, der Grad an Reflektion der museologischen Tätigkeit und die Ironisierung des Themas weisen das Museum Strom und Leben nicht nur im Hinblick 23 Vgl. Wolfgang Zacharias: Zeitphänomen Musealisierung. Das Verschwinden der Gegenwart und die Konstruktion der Erinnerung. Essen 1990.
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auf sein Alter als eines der modernsten und professionellsten der Branche aus. Allerdings finden sich auch hier die unangenehmen Seiten der Elektrifizierung, nämlich die Themen Umweltschutz, Rohstoffverknappung und Kartellbildung, nicht wieder.
Das Museum für Wasserkraftnutzung Ziegenrück (Thüringen) Die 1965 außer Betrieb genommene und seit 1966 als Museum erhaltene „Fernmühle“ kann als ehemaliger Standort der Stromproduktion der Industriekultur zugeordnet werden. Das Wasserkraftwerk wurde Ende des 19. Jahrhunderts auf dem Gelände der ältesten Wassermühle an der oberen Saale errichtet. Abgesehen von einigen kleineren Umbauten, Beschädigungen und Instandhaltungsmaßnahmen blieb das Kraftwerk bis in die Sechziger Jahre unverändert erhalten. 1965 wurde es wegen Verschleißes, seiner Unwirtschaftlichkeit im Vergleich zu anderen Kraftwerken und der Baufälligkeit der Wehre stillgelegt. Es sollte jedoch als „Anschauungsobjekt“ erhalten bleiben. Seit 1966 wird es, anfangs unter Trägerschaft der Stadt, als Museum für die Geschichte der Wasserkraftnutzung geführt.24 „Das technische Denkmal beinhaltet die originale Turbinen- und Generatoranlage in den Kraftwerksgebäuden, die Schützen- und Wehranlage am Obergrabeneinlauf, den Oberund Untergraben, die Mühlgrabeninseln, das 1860 erbaute Spinnereigebäude und das 1868 erbaute Wohn- und Wirtschaftsgebäude. Alle Gebäude und Anlagen sind Objekt der Bezirksdenkmalliste Gera.“25
1997 ging die Trägerschaft aus der öffentlichen Hand zuerst auf die VEAG (Vereinigte Energiewerke AG), 2002 dann auf Vattenfall über. Damit kann die Institution nur für die letzten 11 Jahre der insgesamt 43 Jahre ihres Bestehens als Firmenmuseum angesehen werden und davon nur die letzten 6 Jahre unter dem derzeitigen Träger. Dessen Einfluss auf die Gestaltung ist erwartungsgemäß gering. Konzept und Sammlung sind weitgehend unangetastet geblieben. Viele Ausstellungstexte gehen noch auf die DDR-Zeit zurück. Allerdings sind auch neue Exponate und Installationen hinzugekommen, so z. B. eine über einen Touchscreen zu bedienende Multimedia-Station. Der Träger tritt nur in einem kleinen Bereich in Erscheinung, in dem sich der Konzern Vattenfall mit seinen Projekten und Angeboten vorstellt. Das eigentliche Museum verbindet technische (Turbinen und Stauwerke), naturwissenschaftliche (Geologie des Saale-Raumes) und heimatkundliche (vorindustrielle Arbeit im Saale-Gebiet) Aspekte miteinander. Die Corporate Communication beschränkt sich hier, abgesehen vom separaten Informationsbereich im Museum, auf das Vorzeigen eines Prestige-Objektes, mit dem sich das Unternehmen als „Corporate Citizen“ profilieren kann. Auf24 Harald Mittelsdorf: Zur Geschichte der ersten drei Wasserkraftwerke an der obern Saale. Ziegenrück o. J., S. 26-28. 25 Wilhelm Läsker: Papiermühlen in Ziegenrück. Ziegenrück o. J., S. 18.
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grund des überkommenen Sammlungsschwerpunktes wird hier nicht wie in anderen Museen indirekt Produktwerbung betrieben, sondern, untypisch für ein Museum der Elektrizitätswirtschaft, auch die Arbeitergeschichte, einschließlich der „Klassenkämpfe“, thematisiert. Damit geht eine vergleichsweise hohe Dichte an erklärenden und didaktischen Ausstellungstexten einher. In dieser Hinsicht ist das Museum, ähnlich wie in Rendsburg, selbst zu einen Exponat geworden, anhand dessen sich die Museumspädagogik der ehemaligen DDR nachvollziehen lässt.
Museum für Energiegeschichte(n) Hannover Das Museum wurde zum 50jährigen Jubiläum des früheren Trägers, der HASTRA, eröffnet.26 Der Grundstock der Sammlung wurde schon vorher gelegt, vor allem durch Ingenieure des eigenen Hauses. Der erste Standort des Museums nach der Eröffnung befand sich im jetzigen E.ON-Hochhaus, dem früheren Verwaltungsgebäude der HASTRA, und war in der Anfangszeit nur für Mitarbeiter und externe Besucher nach Anmeldung geöffnet. Der Wechsel in das heutige Museumsgebäude, ein ehemaliges Möbelgeschäft direkt an der Humboldtstraße in Hannover, geschah noch zu HASTRA-Zeiten. Das Museum ist dem Bereich Unternehmenskommunikation des jetzigen Trägers E.ON angegliedert. Der Schwerpunkt des Sammlungskonzeptes liegt bewusst nicht auf Exponaten der Energieerzeugung und -verteilung, sondern auf elektrischen Alltagsgegenständen (samt der stromlosen Vorgänger), wobei die gesamte Wohn- und Arbeitswelt einbezogen wird. Daneben werden auch einige Objekte aus der Frühzeit der Erforschung der Elektrizität gezeigt, etwa Elektrisiermaschinen. Ein zentraler Blickfang ist eine senkrecht stehende Glasvitrine mit Radiogeräten, die sich über zwei Stockwerke erstreckt. Auf Texttafeln wurde verzichtet; einzig Objekttexte in einigen Vitrinen bieten hin und wieder in knapper Form Erklärungen zu den Exponaten. Die Aufgabe der Kontextualisierung wird stattdessen von mehreren Broschüren im DIN-A-4-Format erfüllt, die in den verschiedenen Ausstellungsbereichen ausliegen und gewissermaßen die Abteilungsund Objekttafeln ersetzen. Diese zwei- bis vierseitigen Infoblätter können sowohl als Führer durch die Ausstellung benutzt als auch als „Andenken“ oder zum späteren Durchlesen mitgenommen werden. Beispiele für Texte sind: „Der Fön. Kalt! Heiß! Aus! Unentbehrlich für jedes Haus“, „Der Zahnbohrer. Sportliche Ärzte bringen Zähne in Schwung“ oder „Töne aus der Konserve. Der Wettstreit zwischen Walze und Platte“. Ein regionaler oder biographischer Zugang, also die Elektrifizierung im individuellen lebensgeschichtlichen Zusammenhang, verbindet sich mit den titelgebenden „Geschichten“ nicht. Sie können vielmehr als Aspekte einer allgemeinen Entwicklungs- und Konsumgeschichte aufgefasst wer26 Soweit nicht anders angegeben, stammen die Informationen aus einem Interview mit der wissenschaftlichen Mitarbeiterin Silvia Schmitz.
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den. Die Art der Räumlichkeiten unterstützt die optische Anlehnung an den Charakter eines Kundenzentrums oder einer Industriedesign-Ausstellung. Das Museum für Energiegeschichte(n) verkörpert in seiner engen inhaltlichen und optischen Anbindung an die Öffentlichkeitsarbeit des Konzerns, an das Corporate Design und die Corporate Communication von allen vorgestellten Institutionen am deutlichsten das titelgebende Spannungsfeld.
Das Electrum in Hamburg Das Electrum in Hamburg zählte zu den ältesten und aktivsten der Branche und existiert als solches heute nicht mehr. Der Förderverein, der gegründet wurde, nachdem das Hamburger Elektrizitäts-Werk (HEW) seine Unterstützung eingestellt hatte, konnte das Museum noch ein Jahr lang weiterführen, danach wurden alle Exponate in einer Halle des HEW eingelagert.27 In deren kostenloser Überlassung besteht die einzige Unterstützung des jetzigen Trägers Vattenvall, in dem das HEW aufgegangen war. Die geplante Übernahme der Trägerschaft durch das Hamburger Museum der Arbeit scheiterte an der ablehnenden Haltung seitens des Konzerns. Die Aufgabe des Fördervereins besteht derzeit in der Betreuung der Sammlung. Deren Grundstock wurde bereits in den 1920er Jahren gelegt und als Studiensammlung für die Ausbildung im Unternehmen genutzt. Das Museum wurde anlässlich des 70jährigen Jubiläums des Unternehmens eröffnet, wobei das Gebäude der Umformerstation als Ausstellungshalle diente. In dieser Verbindung eines baulichen Relikts mit der Ansiedlung einer technikgeschichtlichen Ausstellung ähnelt die Entstehungsgeschichte des Museums vielen Orten der Industriekultur. In der Anfangszeit war das Museum der Presseabteilung des Unternehmens zugeordnet, später der Abteilung Messen und Ausstellungen und zuletzt der Abteilung Unternehmenskommunikation. Der Schwerpunkt der Darstellung lag auf der Stadtgeschichte und der Elektrifizierung Hamburgs, die hier schon früh mit der Einführung elektrischer Kräne im Hafen begann. Die Dauerausstellung, die auf Inszenierungen verzichtete, war zuerst stark auf das Unternehmen bezogen, erst später kamen die Aspekte der Elektrizitätsanwendung in Haus und Gewerbe und im Hafen hinzu. An den vielfältigen museumspädagogischen Programmen lässt sich das Bemühen erkennen, möglichst viele unterschiedliche Besuchergruppen einzubeziehen. Wie andere Museen der Branche verfolgte das Electrum eine eigene Kommunikationsstrategie, die mit der zuständigen Organisationsebene des Konzerns abgestimmt und manchmal gegen deren Widerstand durchgesetzt wurde. Über reine Museumspädagogik hinausgehend, nahm die Einrichtung auch gewisse Charakteristika eines lokalen Kulturzentrums an. 27 Soweit nicht anders angegeben, sind die Angaben einem Interview mit dem ehemaligen Leiter des Electrum, Manfred Matschke entnommen.
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Das Wasserkraftwerk Heimbach (NRW) Das einzige Jugendstil-Kraftwerk, das noch in Betrieb ist, wurde von 1900 bis 1904 gebaut, nach Entwürfen des Architekturbüros Frenzer in Aachen.28 Vier Turbinen waren von Beginn an bis 1978 in Betrieb, danach wurden sie durch zwei Turbinen mit höherer Leistung ausgetauscht. Zwei der alten Turbinen wurden für das Museum aufbewahrt und in der großen Halle aufgestellt, in der auch noch die alte Schalttafel im Jugendstil zu sehen ist. Das Museum wurde Mitte der Achtziger Jahre auf Initiative der RWE-Hauptverwaltung in Essen eingerichtet und 1989 eröffnet. In den Türmen des Gebäudes befindet sich heute die Elektrogeräte-Ausstellung, die zudem mit sieben stromlosen Modellen (etwa einem AEG-Kohleherd als besondere Kuriosität) durchsetzt ist. Die Objekte sind nach Funktionen gruppiert (Küche, Wäsche, TV, Radio), aber auch in Inszenierungen arrangiert, wie der „guten Stube“ oder dem Büro des Kraftwerksleiters, das noch größtenteils im Originalzustand belassen wurde. Für die Betreuung der Sammlung ist ein Ingenieur des Kraftwerks verantwortlich. Ein als Faradayscher Käfig konstruierter Gang mit Schaltanlagen ist außer Betrieb, aber als Museumsexponat erhalten. Die Fenster im Innenraum sind teilweise in Glühbirnenform gestaltet, die originalen Fliesen in Terrakotta gehalten. Im Untergeschoss ist ein Wasserrohr des Kraftwerks zu besichtigen. Die neue Eingangstür der Halle befindet sich in einem umgebauten ehemaligen Fenster, während das alte Tor zugemauert ist. Im Sommer finden in der Halle für die Dauer von zwei Wochen klassische Konzerte unter dem Label „Spannungen“ statt. Für diese Veranstaltungsreihe wird die moderne Schalttafel aus den Siebziger Jahren hinter Vorhängen verborgen, und die modernen Turbinenköpfe verschwinden hinter chinesischen Wänden. Mehr noch als das Umspannwerk in Recklinghausen ist das Wasserkraftwerk in Heimbach ein „begehbares Exponat“, das auf Umbauten zulasten des Denkmalschutzes verzichtet, sofern diese nicht für die Aufrechterhaltung des modernen technischen Betriebes unvermeidlich sind. Öffentlich zugänglich ist das Gebäude nur im Rahmen einer Führung. Den größten Teil des Rundgangs beansprucht erwartungsgemäß das Kraftwerk selbst. Das Gewicht liegt in Heimbach auf dem authentischen Ort und nicht auf der Ausstellung. Wie in den übrigen vorgestellten Museen auch, ist der Träger, hier der Konzern RWE, weder in der Ausstellung noch im technischen Denkmal nennenswert präsent. Somit ist auch das Kraftwerk Heimbach für das Unternehmen mehr ein kulturelles Aushängeschild und weniger eine direkte Werbeplattform.
28 Soweit nicht anders angegeben, stammen die Informationen aus den Aussagen der Angestellten des Wasserkraftwerks.
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Zugänge zur Elektrifizierung Die Elektrifizierung ist ein Prozess sowohl wissenschaftlichen als auch technischen, politisch-gesellschaftlichen, ästhetischen und konsumgeschichtlichen Wandels in großem Umfang. Es sollte im Idealfall das Ziel des Museums sein, für den Besucher die Tragweite dieses Wandels auf allen Ebenen begreiflich zu machen. Theoretisch bieten die verschiedenen strukturellen Ansätze aus den Bereichen der Technikgeschichte, der Sozialgeschichte, der sogenannten Industriearchäologie, der Alltagsgeschichte, der Kunstgeschichte und der Volkskunde das Rüstzeug, das Phänomen Elektrifizierung aus den unterschiedlichsten Perspektiven zu erhellen. Zu den Aspekten, die auch heute noch für Museen relevant sind, zählen: • Technikgeschichte, die in ihren Anfängen vor allem als Entwicklungs- und Erfindungsgeschichte eine Disziplin innerhalb der Ingenieurwissenschaften war und im Deutschen Museum ihre zwar nicht erste, aber wichtigste und vorbildhafte Umsetzung in eine dauerhafte Ausstellungskonzeption fand, • Biographik, in der frühen Technikgeschichte vor allem wegen des GenieBegriffes von Bedeutung, erlebte im späten 20. Jahrhundert eine Renaissance durch die Oral History und den von Thomas Hughes beschriebenen Typus des „System Builder“, • Wirtschaftspolitik, von der die Elektrifizierung seit ihrer Frühzeit abhängig und beeinflusst war und die zur Sonderstellung des Energiesektors in Deutschland im 20. Jahrhundert führte: Versorgungsmonopole und Abnahmegarantien bei staatlicher Aufsicht, • Kulturgeschichte, die sich mit Aspekten wie den symbolischen und allegorischen Darstellungen der Elektrizität, technischen und sozialen Utopien des Atomzeitalters und der Entstehung kritischer Bewegungen wie Heimatschutzbünden und Kernkraftgegnern befasst, • Industriekultur, der auch einige historische Anlagen und Baudenkmäler der Stromversorger zugerechnet werden können, • Architektur, der die Elektroindustrie z. B. durch die Arbeit von Peter Behrens für die AEG neue Impulse geben konnte und in der im 20. Jahrhundert eigene Stile für den Energiesektor entwickelt werden konnten, • Kunstgeschichte, mittels derer Einflüsse auf Strömungen wie Futurismus, Neue Sachlichkeit, Expressionismus oder Industriefotografie näher gebracht werden können, • Ethnographie und Heimatgeschichte, die sich unter anderem mit der Aneignung neuer Technik im Alltag und mit möglichen Resistenzen und regionalen Unterschieden in der Technikadaption befassen, • Science Center, die in ihrem Einfluss auf die Museumspädagogik der Technik- und Industriemuseen zunehmende Beachtung erhalten.
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Dabei muss zwischen den methodischen Ansätzen der Fachwissenschaften und der Umsetzung in das Medium Ausstellung differenziert werden. Die Anforderungen dieser besonderen Kommunikationsform sollten berücksichtigt, aber auch die Museen daraufhin untersucht werden, ob sie ihr Potential voll ausschöpfen. Es wird ferner der Umgang mit Realien daraufhin untersucht, ob diese auch als „Zeitzeugen“ sinnvoll genutzt werden, oder ob sie lediglich einen Text illustrieren und durch ihren suggestiven Gehalt unterstützen.29 Damit verbunden ist das Problem der Restaurierung von Gebrauchsgegenständen, die das Aussehen des Objektes auf einen bestimmten Zeitpunkt seiner Herstellung, Benutzung oder Lagerung festlegen.30 In zusammenfassende Beobachtungen sollen Möglichkeiten der weiteren Profilbildung der untersuchten Museen einfließen. Nach der Auffächerung des Themenspektrums soll nun die Schwerpunktsetzung innerhalb des reichen Angebotes möglicher Zugänge diskutiert werden. Hier kann die vorhandene Sammlung eine große Herausforderung darstellen. Nicht alle der genannten wissenschaftlichen Ansätze sind anhand der gegebenen Exponate in einer Ausstellung gleich gut zu verwirklichen, und oft stehen auch die vorhandenen Konzepte und Ansprüche einer Neuausrichtung im Sinne der Profilschärfung im Weg. Manchmal kann eine durchaus originelle Konzeption auch zum Hindernis für die weitere Entwicklung werden (wie in Rendsburg); das Problem kann aber auch in der Authentizität des Ortes liegen (wie in Ziegenrück) oder schlicht in fehlenden Kapazitäten mangels Unterstützung durch den Konzern (wie im Fall des geschlossenen Electrum). Von allen vorgestellten Einrichtungen sind das Museum Strom und Leben, das Wasserkraftwerk in Heimbach und das Museum für Energiegeschichte(n) diejenigen, für die eine weitere Akzentuierung ihrer elektrotechnischen Sammlungen am ehesten denkbar ist. Jedes Museum kann für sich genommen ein klares Profil und ein rundes Konzept besitzen, was tatsächlich für die vorgestellten Institutionen in unterschiedlichem Ausmaß auch zutrifft. Für diese Museen in ihrer Gesamtheit lassen sich folgende Tendenzen feststellen: Der Technikgeschichte wird gegenüber der Sozial- und Politikgeschichte der Vorzug gegeben, die allgemeine Geschichte der Elektrifizierung wird gegenüber einem biographischen und regionalgeschichtlichen Zugang bevorzugt behandelt, die Leistungen der Elektrotechnik werden
29 Vgl. z. B. Andrea Hauser: Museum als Feld der Transformation von Erfahrungen. In: Katharina Eisch und Monika Hamm (Hg.): Die Poesie des Feldes. Beiträge zur ethnographischen Kulturanalyse. Tübingen 2001, oder aktuell: Detlef Hoffmann: Zeitgeschichte aus Spuren ermitteln. Ein Plädoyer für ein Denken vom Objekt aus. In: Zeitgeschichtliche Forschungen. Online-Ausgabe 4 (2007) H. 1 und 2, http:// www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Hoffmann-2-2007 (5.4.2008). 30 Siehe dazu Jobst Broelmann: Zeitzeuge oder Zeitmaschine? Objekte als „gegenständliche Quellen“ und ihre Verwendung und Behandlung in technischen Museen. In: Dresdener Beiträge zur Geschichte der Technikwissenschaften (1999). H. 26, S. 35-42.
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stärker betont als das Tätigkeitsfeld der Energieversorgungsunternehmen, die als Institutionen in den Ausstellungen so gut wie überhaupt nicht in Erscheinung treten. Der Ausbau des Stromversorgungsnetzes erscheint als eine lineare Erfolgsgeschichte, Brüche und Widerstände werden dagegen kaum sichtbar. Diese Entwicklung vollzieht sich demzufolge nach weitgehend rationalen technischen Abläufen und Entscheidungsprozessen, wohingegen die Kulturgeschichte der Elektrifizierung, inklusive ihrer Präsenz in Kunst, Literatur und Medien, marginal bleibt. Am eindeutigsten von allen genannten Punkten fällt die Abwesenheit der Träger – oder allgemeiner: der mit dem Museum assoziierten Unternehmen – auf. Weder die Unternehmensgeschichte eines Stromversorgers noch die Geschichte des Wirtschaftszweiges ist über das Medium einer Ausstellung erfahrbar. Es existiert bundesweit weder ein Museum der RWE-Geschichte noch ein Museum der deutschen Verbundwirtschaft. Offenbar hat auch der Schnitt der Liberalisierung des Strommarktes, der das Ende einer über 60 Jahre dauernden Ära im deutschen Energieversorgungssystem markierte, zu keiner wesentlichen Veränderung in den Konzepten der Museen der Elektrizitätswirtschaft oder in der Beziehung zu den assoziierten Unternehmen geführt. Obwohl der historische Umbruch bereits 10 Jahre zurückliegt, ist eine Aufarbeitung der Geschichte dieses Systems, zumindest im Museumskontext, erst noch zu leisten. Vor allem die Darstellung der wirtschaftlichen, politischen und rechtlichen Besonderheiten der deutschen Elektrizitätswirtschaft, deren Geschichte auch die der heutigen Konzerne ist, kann ein zukünftiges Arbeitsfeld des „History Marketing“ sein.
Textilindustriemuseen und ihre Ausstellungs me thoden ANJA OTTEN Industriemuseen bilden einen relativ jungen Typus von Museen. Ihr Aufschwung folgte in der Bundesrepublik Deutschland dem Niedergang der produzierenden Industrie. Dieser begann am Ende der 1970er Jahre und dauert bis heute an.1 Der Begriff Industriemuseum wird in der Literatur nicht einheitlich verwendet. Bei der Beschäftigung mit der Musealisierung2 von Maschinen und Arbeitswelten werden etwa die Begriffe Industriemuseum, Museum der Industriekultur, Technikmuseum oder Museum für Arbeit und Technik benutzt. Ihre Verwendung erscheint oft austauschbar.3 In diesem Beitrag soll zu Beginn eine mögliche definitorische Annäherung an das Industriemuseum vorgestellt werden. Dafür wird untersucht, aus welchen Museumsideen sich die Industriemuseen entwickelten und wie sich ihr Selbstverständnis von anderen Museumstypen unterscheidet. Im zweiten Teil sollen Tendenzen der Ausstellungsmethoden von Textilindustriemuseen herausgearbeitet werden. Als Arbeitsgrundlage dient der Vergleich von zehn Institutionen in Großbritannien und Deutschland, die sich mit der Musealisierung von Textilindustrie befassen. Dabei bietet die Einschränkung auf den Produktionssektor der
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1979 wurde das Westfälische, 1984 das Rheinische Industriemuseum gegründet, beide mit dezentral angelegten Konzepten. Im Januar 2010 wurde das StaatlichBayerische Textil- und Industriemuseum (tim) in Augsburg eröffnet. Musealisierung soll möglichst wertneutral die Überführung eines Gegenstandes (einschließlich Gebäuden) aus seinem primären „Arbeitsleben“ in seine sekundäre Rolle als Museumsobjekt bezeichnen. Vgl. Thomas Parent: Das Industriedenkmal als Museum der Arbeit. Anmerkungen zu einer aktuellen Spielart des historischen Museums. In: Achim Preiß, Karl Stamm und Frank Günter Zehnder (Hg.): Das Museum, die Entwicklung in den 80er Jahren. München 1990, S. 245-260, hier S. 246, und Thomas Schleper: Was ist ein Industriemuseum? Zur Aktualität von Fernand Léger. In: Nachlass des Fabrikzeitalters. Alte Leitbilder. Nostalgische Baukunst. Industriemuseen. Köln 1989, S. 63101.
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Textilindustrie den Vorteil, dass der Umgang mit der Präsentation von ähnlichen Fertigungsprozessen direkt verglichen werden kann. Was sind Industriemuseen? Dieser Begriff verbindet zwei Wörter, die auf den ersten Blick sehr gegensätzlich sind: „Industrie“, vom lateinischen industria, Tätigkeit, Betriebsamkeit, Fleiß stammend, wird auf den wirtschaftlichen, produzierenden Sektor bezogen. „Museum“, abgeleitet von den Musen, in der homerischen Götterwelt die für Künste und Wissenschaft zuständigen Töchter des Zeus, sowie von ihrem „Aufenthaltsort“, dem mouseíon, dient als Bezeichnung für einen Ort der gelehrten Beschäftigung, an dem „zweckfreie“4 Gelehrsamkeit und „kulturelle Bildung“ im Mittelpunkt stehen.5 Tatsächlich fanden Objekte, die von einem besonderen menschlichen „Fleiß“ zeugten, seien es ausgefallene Kunstwerke oder spezielle medizinische und astronomische Instrumente oder mechanische Geräte zum Staunen, bereits Eingang in die ersten Raritätenkammern. Die eigentlichen Werkzeuge und Geräte, mit denen ein Produkt hergestellt wurde, rückten allerdings erst ab der Mitte des 18. Jahrhunderts in den Stand auf, „sammlungswürdig“ zu sein. Ein wichtiger Schritt zur Entwicklung von „technischen“ Museen war dann der Aufbau von Sammlungen mit Prototypen und Modellen neu erfundener Maschinen durch weitgehend bürgerlich geprägte Institutionen wie die britische „Society for the Encouragements of Arts, Manufactures and Commerce“6 1754 oder das „Conservatoire des Arts et Métiers“ 1794 in Paris. Ziel und Zweck dieser Sammlungen war zum großen Teil die Aus- und Weiterbildung von Fachleuten in den sich heraus bildenden Ingenieurwissenschaften. Durch die Präsentation von technischen Leistungen auf den Weltausstellungen bekam diese Entwicklung ab der Mitte des 19. Jahrhunderts noch mehr Schub. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert bekam eine neue Vorstellung von technischen „Museen“ Auftrieb. Sie beruhte auf der Ansicht, dass Einrichtungen notwendig wären, welche die allgemeinen naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten und technischen Produktionsprozesse dem Laien verständlich machen. Dieses Bedürfnis führte zur Gründung von zwei „neuen“ Typen von Einrichtungen, die sich mit „Technik“ und naturwissenschaftlichen Zusammenhängen beschäftigten. Zum einen entwickelten sich die Vorläufer der heutigen Science Center, wie z. B. die Urania in Berlin, die ab 1889 neben einer Volkssternwarte, einem „wissenschaftlichen Theater“ und „populärwissenschaftlichen“ Vortragsreihen auch einen Experimentiersaal mit einer Vielzahl von physikali4 5
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Im Sinne von materiell gewinnorientiert. So definiert Zedlers Universal Lexikon (1731-1754) „Museum, heißt sowol ein Tempel, darinnen die Musen verehret wurden, als auch eine Kunst-Kammer, MünzCabinet, Rarität und Antiquitäten-Kammer. Ins besondere aber ein Gebäude, darinnen die Gelehrten beysammen wohnten“. Noch die Brockhaus Enzyklopädie von 1989 definiert Museum als „seit dem 18. Jh. öffentl. Sammlung von künstler. und wiss. Gegenständen und deren Geschichte.“ Sie wurde von William Shipley mit der Aufgabe, „to embolden enterprise, enlarge science, refine arts, improve our manufactures and extend our commerce", gegründet. Vgl. http://www.rsa.org.uk/rsa/index.asp (5.11.2005).
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schen Versuchen umfasste. Zum anderen wurde 1903 das technische Museum, das Deutsche Museum in München, gegründet. Während sich die Science Center zu einem (im besten Fall) Lern- und Erfahrungsort durch eigene Experimente am Modell entwickelten, blieb der Typ „Deutsches Museum“ eng dem „originalen“ Prinzip von Oskar von Miller verhaftet und stellte die individuelle Leistung des einzelnen Ingenieurs oder Erfinders in den Mittelpunkt mit einer Erklärung des Funktionsprinzips. Die Erfahrung und das Wissen der (Vor-)Führer und der Einsatz moderner Medien innerhalb der Ausstellung wurden zu einem zentralen Bestandteil des Vermittlungskonzeptes.7 Das Deutsche Museum näherte sich mit diesem Konzept der Forderung an, dass „the industrial museum in its highest development endeavors to accomplish this purpose [die Entschleierung von Produktionsprozessen] by displays of materials that clearly [...] illustrate industrial processes in ways that may readily understood by both young and old“8. Diese Museen waren und sind als technische Zentraleinrichtungen angelegt, die alle Bereiche der „Technik“ behandeln. Eine weitere Bewegung, die wichtig für die Entstehung von Industriemuseen wurde, war der Denkmalschutz. Nach dem Ersten Weltkrieg griff die Heimatschutzbewegung auch auf den industriellen Bereich über. Ab den 1920er Jahren fanden auch „Industrien“ Beachtung. Dabei war vor allem Werner Lindner9, Bauingenieur und seit 1914 Geschäftsführer des Deutschen Bundes Heimatschutz, die treibende Kraft. Das Augenmerk lag besonders auf dem Erhalt von schwindenden vor- und frühindustriellen Betrieben. Der ästhetische Aspekt spielte bei der frühen Auseinandersetzung mit „technischen Kulturdenkmalen“ eine zentrale Rolle. Dieser umfasste sowohl die Architektur als auch den Eindruck der „Idylle“, welche die frühindustriellen Anlagen im Zusammenspiel mit der sie umgebenden Landschaft für den Betrachter entwickelten. Der erste Versuch, den Schutz von technischen Kulturdenkmalen deutschlandweit zu organisieren und voranzutreiben, war 1928 die Gründung der „Deutschen Arbeitsgemeinschaft zur Erhaltung technischer Kulturdenkmäler“ durch das Deutsche Museum unter Oskar von Miller, den Verein Deutscher Ingenieure, Conrad Matschoß, und den Deutschen Bund Heimatschutz. Mit der Gründung des kurhessischen „Landesamtes für Kulturgeschichte der Technik“ 1939 wurden technikgeschichtliche Denkmale gesetzlich auf die gleiche Ebene wie Kunstdenkmäler gestellt.10 Nach dem Zweiten Weltkrieg stand die Industrie unter dem 7 8 9
Charles Richards: The Industrial Museum. New York 1925, S. 5. Ebd., S. 2. Er schaffte es, in dem Begriff der organischen Industriekultur „Fortschrittsoptimismus und Technikbejahung auf der einen Seite und die Rückkehr zu den handwerklich-völkischen Wurzeln des Kulturschaffens“ zusammen zu führen. Vgl. Ulrich Linse: Die Entdeckung der technischen Denkmäler. Über die Anfänge der „Industriearchäologie“ in Deutschland. In: Technikgeschichte. Bd. 53. Nr. 3 (1986), S. 201-222, hier S. 210. 10 Ebd., S. 202.
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Zeichen des „Wiederaufbaus“ und des wirtschaftlichen Aufbruchs. Der Erhalt von Industriebauten aus Überlegungen des Denkmalschutzes erschien anachronistisch. Erst mit dem Niedergang der traditionellen Industriezweige des Kohleabbaus und der Schwerindustrie fand seit dem Ende der 1960er Jahre der Erhalt von architektonisch herausragenden Bauten der Industrie wieder neue Beachtung. Bemerkenswert dabei ist beispielsweise, dass der entscheidende Faktor für den Erhalt der Zeche Zollern II/IV (Westfälisches Industriemuseum, Zentrale) in Dortmund der Hinweis auf die kunstgeschichtliche Bedeutung ihres Jugendstilportals der Maschinenhalle von Bruno Möhring war. Eine weitere sehr wichtige Entwicklung für die Entstehung von Industriemuseen fand in den „historischen“ Museen statt.11 Nach der ideologischen Aufladung der Museen im Dienste des Weltbildes der Nationalsozialisten schlugen die Museumsleute den gleichsam entgegen gesetzten und vermeintlich „sicheren“ Weg einer „Deutungsabstinenz“ ihrer Ausstellungen ein. Erst seit dem Ende der 1960er Jahre stellten einige historische Museen an sich den Anspruch, auch Bevölkerungsschichten anzusprechen, die nicht über den nötigen bildungsbürgerlichen Hintergrund verfügten, um sich in diesen Ausstellungen sicher zu bewegen. Mit diesem veränderten Bewusstsein ging auch eine Änderung der Wahrnehmung dessen einher, was ausstellungs- und damit sammlungswürdig ist. Grob skizziert kann eine Hinwendung zum „Typischen“ und eine Abwendung vom „Besonderen“ beobachtet werden. Durch diese Entwicklung wurden alle Gegenstände des alltäglichen Bedarfs prinzipiell museumswürdig. Damit waren die Ausstellungsmacher mit dem Problem konfrontiert, zu Themen zu arbeiten, zu denen das Museum noch keine Sammlung von Objekten aufgebaut hatte. Für die Abschnitte der neueren Geschichte wurden oft Photographien verwendet, mit oder ohne „Lesehilfe“. Der Text als Vermittlungsmethode gewann auch in kulturhistorischen Museen mehr und mehr an Bedeutung.12 Zugleich wurde der „Zuständigkeitsbereich“ von Museen sowohl thematisch als auch zeitlich bis in die Gegenwart ausgeweitet. Ins Interesse rückte die Alltagsgeschichte, die sich mit den konkreten Lebensumständen des „einfachen Mannes“ beschäftigte und sich mit ihrer „Mikrohistorie“ jenseits der Ereignisgeschichte oder von Strukturanalysen bewegte. Nun konnte „die Maschine als Arbeitsgerät (nicht als Ingenieur-Leistung im technischen Spezialmuseum)“, die „ebenso ‚unwürdig‘“ gewesen war, „im Museum präsent zu sein, wie die Arbeiter, die mit den Maschinen ‚handgemein‘ wurden“, gemeinsam ausgestellt werden. Dabei war es den Museumsmachern wichtig, „technischen Fortschritt und
11 Vgl. Detlef Hoffmann: Drei Jahrzehnte Museumsentwicklung in der Bundesrepublik – Trends, Strukturen, Perspektiven. In: Alfons W. Biermann (Hg.): Vom Elfenbeinturm zur Fußgängerzone. Opladen 1996, S. 13-23. 12 Ebd., S. 18.
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soziale Situation [...] gleichermaßen“13 zu dokumentieren. Eine Vorreiterrolle bei dieser Entwicklung spielte das Stadtmuseum Rüsselsheim. Den technischen Geräten blieb bei dieser Konzeption oft nur die Rolle des schmückenden Beiwerks zu Texttafeln. Auf diese Entwicklungen konnte zurück gegriffen werden, als sich am Ende der 1970er Jahre ein tiefgreifender Wandel des „Wirtschaftsstandortes BRD“ mit dem Niedergang traditionsreicher und arbeitskraftintensiver Industrien abzeichnete. Die neu entstehenden Industriemuseen versuchten nun, wie die technischen Museen, die Funktionsweise der „überflüssig“ gewordenen Maschinen verständlich zu machen, wollten aber auch die soziale Bedeutung der Fabrikarbeit greifbar machen und dabei die „originalen“, wenn auch zumeist nur die prägnanten, Gebäude nutzen. So vereinten sie die Aufgaben verschiedener Museumstypen. Industriemuseen sind also Institutionen, die dingliche und mentalitätsgeschichtliche Zeugnisse aus allen Bereichen der „Industrie“, wie etwa Maschinen, Fertigungsprozesse, Architektur, Alltagsgegenstände, Zeugnisse der Ideen- und Mentalitätsgeschichte in jeder Form zum Zweck wissenschaftlicher Untersuchung, der Bildung und des Vergnügens unter Einbezug des „historischen“ Ortes der Produktion erhalten, erforschen, vermitteln und ausstellen.14 Entsprechend den vielfältigen Aufgaben, die sich Industriemuseen stellen, setzen sie ihre Schwerpunkte unterschiedlich. Im folgenden Abschnitt werden zehn Textilindustriemuseen15 und ihre Methoden, die allen gemeinsame Thematik darzustellen, kurz vorgestellt. Bei der Betrachtung der Museen werden vor allem ihr Umgang mit den Gebäuden und Objekten sowie die Art und Weise der Wissensvermittlung herausgestellt.
Cromford Mill in Cromford Cromford liegt im Derwent Valley in Derbyshire in England. In dieser Region entstanden am Ende des 18. Jahrhunderts einige Spinnereien im „großen“ Stil. Dort begann der Siegeszug der „Arkwright Type Mills“16, von denen die Crom13 Peter Schirmbeck: Konzeption der Abteilung Industrialisierung. In: Vom Beginn der Industrialisierung bis 1945. Katalog der Abteilung 1. Rüsselsheim 1988, S. 4-9, hier S. 6. 14 Definition nach ICOM: A museum is a non-profit making, permanent institution in the service of society and of its development, and open to the public, which acquires, conserves, researches, communicates and exhibits, for purposes of study, education and enjoyment, material evidence of people and their environment. http:// icom.museum/statutes.html#2 (22.12.2004). 15 Der Begriff des Textilindustriemuseums ist sehr weit gefasst. In diesem Aufsatz fallen alle Einrichtungen darunter, die sich mit dem Erhalt von ausrangierten Textilindustrieanlagen oder -elementen befassen, sei es rein archäologisch, ohne hohen wissenschaftlichen Anspruch wie Masson Mill, oder eher spielerisch, wie das tim. 16 Sir Richard Arkwright gilt als der Begründer der ersten funktionierenden, mit Wasserkraft betriebenen Baumwollspinnerei. Dabei stellte er vorhandene technische Er-
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ford Mill, gegründet 1771 von Richard Arkwright, die erste war. Sie wurde zu einem Symbol für die Frühphase der Industrialisierung. Diese Entwicklung wird als genuin britisch wahrgenommen, und die Cromford Mill, die seit 2001 mitsamt dem Derwent Valley als Kulturerbe der Menschheit der UNESCO aufgenommen wurde, wird zu ihrem Wahrzeichen stilisiert. „I appeal for the restoration of Cromford Mill because it is sacred to our nation [Hervorhebung Verf.], sacred to our history, sacred to everything that we are as a people, for good and for ill. This was the world´s first factory. This was the place where industrial production first started, consumerism first started, the way we live now first started.”17 Allerdings steht die museale Aufarbeitung der Cromford Mill, zumindest bis 2003, in einem Widerspruch zu der ihr zugemessenen Bedeutung. Das Areal wird archäologisch erschlossen. Federführend dabei ist die Arkwright Society, eine private Initiative. Aber außer den archäologischen Befunden und unbeschilderten, zum Teil halb verfallenen Gebäuden ist auf dem Gelände wenig erklärt, Informationen gibt nur ein Shop mit Büchern und Broschüren. Für den interessierten Besucher werden geführte Touren angeboten. Das Firmengelände ist weitgehend sich selbst überlassen, während ein Fußweg zum Cromford Kanal ausgewiesen und mit informativen Tafeln zum Thema Transport versehen ist. Die „countryside“ ist wesentlicher Bestandteil der Besucherattraktion Cromford Mill.
Quarry Bank Mill, Styal (nahe Manchester) Die Baumwollspinnerei Quarry Bank Mill wurde 1784 gegründet und war bis 1959, immer wieder modernisiert, in Betrieb, obwohl sie 1939 dem National Trust übergeben wurde.18 Erhalten haben sich auf dem Gelände neben dem Hauptgebäude der Spinnerei noch das ehemalige Wohnhaus der „Lehrlinge“, das größtenteils aus dem Jahr 1790 stammt, das „Styal Estate“ mit „miles of riverside and woodland walks“ und das Dorf Styal mit einer Arbeiterhauskolonie. Nach umfangreichen Restaurierungsmaßnahmen wurden das Hauptgebäude der Spinnerei und das Apprentice House 1978 als Museum eröffnet, das 1984 die Auszeichnung „Museum of the Year“ gewann. In den Räumen der Spinnerei wird die Geschichte der Garnverarbeitung von der Handspindel bis zur Ringspinnmaschine und vom einfachen Handwebstuhl
findungen so zusammen, dass die Maschinen in Reihe arbeitsteilig, also „fabrikmäßig“ liefen. Seine Rolle als Erfinder ist heftig umstritten. 17 Matthew Parris: http://www.bbc.co.uk/pressoffice/pressreleases/stories/2003/07_ju ly (26.1.2008). 18 Der National Trust arbeitet von der Regierung unabhängig und verfügt mittlerweile über 2,7 Millionen Mitglieder. Er ist Eigentümer von mehr als 248.000 Hektar Land, 600 Meilen Küstenlinie und mehr als 200 Gebäuden und Gärten und damit der größte Landbesitzer in Großbritannien. http://www.nationaltrust.org.uk/ main/nationaltrust/ (17.3.2005).
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bis zum „Lancashire Loom“ an exemplarischen Geräten (oder deren Nachbau) veranschaulicht und demonstriert. Dabei sind so gut wie keine Ausstellungsstücke dabei, die in ihrem „Arbeitsleben“ in der Spinnerei vorhanden waren. Die aktive Vermittlung durch das Vorführen und Erklären der Maschinen und Arbeitsbedingungen durch ehemalige Arbeiter aus Textilfabriken oder begeisterte „Quereinsteiger“ spielt die entscheidende Rolle. Jeder der „Führer“, die nur nach Bedarf tätig sind, betreut einen Zeitabschnitt, trägt „historische“ Tracht und erzählt dem Besucher direkt über die konkrete Arbeit. Neben der Garnverarbeitung werden auch die Themen „Geschichte der Quarry Bank Mill“, ihres Gründers Samuel Greg, die Herkunft der Baumwolle und ihrer Anpflanzung (Plantagen und Sklaverei), der Energiegewinnung mit Wasserrad und Dampfmaschine behandelt. Die Ausstellung ist mit der Zeit gewachsen, und entsprechend wechseln die Darstellungsformen von Texttafeln, Modellen, Ausprobierstationen bis hin zu Multimediainstallationen. Der Ansatz, Geschichte zu verlebendigen, wird im „Apprentice House“ noch stärker betont. Dort bringen verkleidete „museum interpreters“ die Geschichte der Fabrikkinder zum Leben. Der Innenbereich ist „originalgetreu“ eingerichtet, so dass „every grim detail of a child worker‘s life“ is „recreated, from the home-grown food and crowded dormitories to the primitive medicine (watch out for the leeches!)“19.
Queen Street Mill, Burnley 1885 wurde in Burnley, Lancashire, einer Hochburg der Baumwollverarbeitung, die Queen Street Mill als Genossenschaft gegründet. 1982 wurde die gewerbliche Produktion eingestellt und der Betrieb in ein Museum, das vom Lancashire County betrieben wird, überführt. Mit der Umnutzung von Fabrik zu Museum wurde die Fabrik verkleinert. Von den bis zu 1200 Webstühlen existieren „nur“ noch 308. Die 500 PS Dampfmaschine Peace, die die Maschinen seit dem Ersten Weltkrieg antreibt, und das Kesselhaus sind ebenfalls erhalten.20 Das Museum besteht aus zwei Hauptattraktionen: dem Websaal und der Dampfmaschine nebst Kessel. An den Öffnungstagen wird ein Teil der Webstühle in Betrieb genommen, als Antriebskraft dient die ursprüngliche Dampfmaschine, die unter Dampf gesetzt wird. Die Schauweberei produziert in kleinem Umfang Tuche, die vermarktet werden. Der Websaal bleibt ohne Erklärungen, die laufenden Webstühle sprechen für sich und vermitteln eindrucksvoll den Lärm, der in den Hallen herrschte, nebst dem Geruch der Fabrik. Die Funktionsweise der Dampfmaschine wird mit Hilfe von Skizzen und Querschnitten dargestellt. Der Rundgang endet, oder beginnt, beim Kessel, den ein Heizer, der aus der Zeit des gewerblichen Betriebs „übernommen“ wurde, kontinuierlich befeuert. Der Heizer gibt auch weitere Erklärungen zur Fabrik und 19 Prospekt Quarry Bank Mill, 2003. 20 http://www.spinningtheweb.org.uk/partners12.php (23.2.2005).
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zu seiner Arbeit. Das Museum möchte die Arbeitsbedingungen in der Textilindustrie und die Begeisterung für die Dampfmaschine vermitteln und setzt dabei ganz auf die Wirkung der Vorführung der Originalmaschinen in großer Zahl und das Wissen des Heizers.
Textilmuseum Bocholt Einen ganz anderen Weg, Textilindustrie im Museum aufzuarbeiten, ging das Westfälische Industriemuseum. 1989 eröffnete es in Bocholt eine Niederlassung zur Textilindustrie der Region. Man entschied sich in einem Gebiet mit ehemals starker Textilindustrie und vielen von dieser Industrie geprägten Orten trotz heftiger Kritik dazu, keine vorhandenen Gebäude zu nutzen: „Nach authentischen Vorbildern entstand eine funktionstüchtige „Museumsfabrik“ – eine typische Baumwollweberei mit Kessel- und Maschinenhaus, Werkstatt, Websaal, Meisterbude, Kontor und zwei Arbeiterhäusern.“21 Das Museum verfolgt das Ziel, die technische Entwicklung in der Weberei von 1870 bis 1975 zu veranschaulichen und Einblicke in die Arbeitsabläufe und das Leben von Textilarbeitern zu geben. Die „funktionstüchtige Museumsfabrik“ besteht aus einem Kassen- und Shopbereich, einem Kesselhaus mit der Fassade eines Boilers, einer beeindruckenden Maschinenhalle mit dem Dach einer „echten“, nun abgerissenen Halle und einer auf Strom umgestellten Dampfmaschine. Im anschließenden Websaal sind mehr als 30 funktionstüchtige Webstühle in Reihe aufgestellt, die aus unterschiedlichen Epochen und Orten stammen und mit Hilfe von langen Texttafeln, die zum Teil sehr weit vom Objekt entfernt stehen, erklärt werden. Die technische Entwicklung der Weberei lässt sich für den Laien nur sehr mühsam heraus arbeiten. Die Arbeiter finden sich in der Museumsfabrik als Schattenrisse inszeniert in typischen Körperhaltungen wieder. Ein Arbeiterhaus soll ein Musterbeispiel von der ehemaligen Wohnsituation der Arbeiter abgeben und durch das reine Ansehen einen Eindruck vom damaligen Leben vermitteln. Das Museum arbeitet ohne alte Gebäude. Die Dampfmaschine wurde den Erfordernissen des Museumsbaus angepasst. Das hauptsächliche Medium der Wissensvermittlung ist die Texttafel, die sehr häufig als alleinige Informationsgrundlage zum Objekt, seiner Bedeutung und seiner Geschichte dient. Einzelne Webstühle werden vorgeführt und produzieren dabei Waren für den Eigenbedarf des Museums oder angefragte Tuche, z. B. Grubentücher für den Versandhandel Manufactum.22 Vorführungen finden sonntags zu festgesetzten Zeiten oder nach Anmeldung statt. Dem Museum gelingt es nicht, seine beiden großen Ziele, die „Fabrik“ und die technische Entwicklung der Webstühle überzeugend zu verbinden. In ihm wird, in Anlehnung an Siegfried Cracauer, deutlich, dass hundert Maschinen „aus einer Fabrik 21 Nah dran. Industriekultur an 14 historischen Schauplätzen. Remscheid 2002, S. 11. 22 Auskunft des Vorführers, Mai 2004.
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[...] sich nicht zur Wirklichkeit der Fabrik addieren“23 lassen. Allerdings kaufte das Westfälische Industriemuseum zum Jahresende 2004 die in den 1970er Jahren stillgelegte Spinnerei Herding, die fast direkt neben dem Museumsneubau liegt, auf und ist dabei, sie als Ausstellungsraum umzunutzen.
Baumwollfabrik Ermen & Engels, Engelskirchen 1837 wurde die Firma von Peter Ermen und Friedrich Engels im Aggertal gegründet. 1845 wurde eine Dampfmaschine zur Energiegewinnung neben der Wasserkraft angeschafft. Seit den 1880er Jahren setzte die Fabrik auf die Elektrifizierung.24 Die Energie dafür wurde durch eine Turbinenanlage gewonnen. 1979 wurde die Fabrik geschlossen. Kurz vor dem Abriss griff der Denkmalschutz ein und stellte die Gebäude der Fabrik unter Schutz. Anschließend wurde ein Nutzungskonzept erarbeitet, das vorsah, die Anlage mit einem Restaurant, Museum, Wohneinheiten und Verwaltungsbüros zu versehen. Dieses Konzept wurde umgesetzt, so ist z. B. in den Resten der Shedhallen die Freiwillige Feuerwehr untergebracht. 1987 wurde in der ehemaligen Fabrik eine Zweigstelle des Rheinischen Industriemuseums eingerichtet, 1996 wurde die Ausstellung neu konzipiert. Da die Räume bis auf die Turbine und das Schalthaus leer übernommen wurden, setzt das Museum seinen Schwerpunkt auf die Stromgewinnung und die Folgen des Stromverbrauchs. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf den Gründern der Fabrik und den Auswirkungen, die die Gründung auf die Entstehung des Ortes hatte. Die Verarbeitung von Baumwolle wird eher am Rande mit wenigen angekauften Geräten und mit Text- und Bildbeispielen erklärt. Die ehemaligen Arbeiter der Fabrik kommen in einem „Großbuch“, in dem ihre Lebenserinnerungen und die Geschichte der Fabrik nachgelesen werden können, zu Wort. Das Gebäude der Spinnerei wird, bis auf den Turbinenraum, nicht in die Ausstellung integriert. Auf dem Areal der Fabrik, das dem Entwicklungskonzept entsprechend vielfältig genutzt wird, sind sogenannte „Schatzkisten“, Miniaturbühnen mit besonderen Seherlebnissen aufgestellt, welche „die einstige Nutzung der Gebäude“25 erläutern und dadurch einen Bezug zwischen dem Museumsgebäude und seinem Umfeld herstellen. Das Museum vermittelt seine Inhalte mit einer Mischung aus Installation/Bühnenbild und Text. Beim Thema „Stromerzeugung“ werden Mitmachexperimente für Kinder eingesetzt, die die Anstrengung der Energiegewinnung fühlbar machen.
23 Siegfried Cracauer: Die Angestellten. Frankfurt/M. 2004. S. 16. 24 Nah dran (wie Anm. 21), S. 9. 25 Aufbruch statt Abbruch. Industriedenkmalpflege in Nordrhein-Westfalen. Düsseldorf 2003, S. 63.
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Textilfabrik Cromford, Ratingen 1783/84 gründete Johann Gottfried Brügelmann bei Ratingen eine mechanische Baumwollspinnerei, die er nach seinem Vorbild der Cromford Mill benannte. Sie erwarb sich den Ruf, die erste moderne Fabrik auf dem europäischen Festland zu sein. Um 1800 wurde die „Hohe Fabrik“ daneben gegründet. Zu dem Fabrikgelände gehörten auch noch Arbeiterhäuser, der Herrensitz und seit 1853 eine mechanische Weberei. Bis 1977 wurde das Gelände weiterhin als Fabrik genutzt. Danach fand eine grundlegende Umstrukturierung des Areals statt. Bis in die heutige Zeit haben vor allem die Gebäude der frühen Industrialisierung überlebt, welche die Stadt Ratingen auf Druck der Denkmalpflege kurz vor dem Abriss aufkaufte. Die Arbeiterhäuser von 1800 an der mittlerweile begrünten „Cromford Allee“ werden als schön renovierte Wohnungen genutzt, ebenso die „Alte Fabrik“. Die „Hohe Fabrik“ wurde grundlegend saniert und dient zusammen mit dem Herrenhaus des Fabrikgründers als Räumlichkeit für das Rheinische Industriemuseum. Das Gelände der ehemaligen Weberei wurde komplett „bereinigt“ und als Neubaugebiet ausgeschrieben. Auf ihm befinden sich Bungalows. Die „Hohe Fabrik“ ist das zentrale Gebäude des Museums. Der Schwerpunkt der Konzeption wurde auf das „Besondere“, die „erste“ Fabrik gesetzt und der zeitliche Rahmen von 1780 bis 1850 gewählt. Thematisch sollten die Fragen nach „dem technischen Stand und der Funktionsweise der Maschinen, nach den Menschen, die an ihnen tätig waren, nach den Arbeitsbedingungen in den Fabriksälen“26 behandelt werden. So wurde die „Hohe Fabrik“ von außen auf den Tag ihrer Eröffnung hin restauriert, im Untergeschoss wurden die Spuren der baulichen Veränderungen während ihres „Fabriklebens“ sichtbar gemacht, während die oberen Räume „nur“ als Zimmer für die Ausstellung dienen. Da es aus der Zeit ihrer Gründung kaum noch Maschinen gibt, behilft sich das Museum mit aufwändigen Nachbauten der Arkwright’schen Maschinen, deren Fertigung in einem Videofilm dokumentiert wird. Es wird immer eine Maschine ihrer Art in der Reihenfolge der Verarbeitungsprozesse aufgestellt. An der Wand erfährt man mehr über die Baumwolle, den Sklavenhandel, und welche grundlegenden Veränderungen das Fabriksystem für die Lebensweise mit sich brachte. Das Herrenhaus ist der Unternehmerfamilie Brügelmann gewidmet. Dabei werden auch die Entwicklung des (Selbst-)Bildes von Unternehmern und die politischen Rahmenbedingungen behandelt. Der Zeitraum erstreckt sich von 1750 bis ca. 1860. Die Baugeschichte des Fabrikgeländes wird anhand guter Karten bis in die heutige Zeit offengelegt. Bei dem Aufbau der Ausstellungen spielt das Prinzip der Distanz eine große Rolle. Sie möchte den Besucher zum Erkunden einladen, nicht zum Staunen. Bis auf das Kontor und den prunkvollen „Garten26 Eckhard Bolenz: Das Museum in der ersten Fabrik. In: Die erste Fabrik. Ratingen – Cromford. Köln 1996, S. 8–11, hier S. 9.
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saal“ werden keine Räume rekonstruiert. Auch „historische Räume“ werden nur angedeutet und durch modernes Equipment visuell gebrochen. In der „Hohen Fabrik“ sind Führungen mit dem Betrieb der Maschinen die zentrale Vermittlungsmethode. Weiter führende Informationen verbergen sich in Schubladen oder hinter „Schiebetafeln“. Oft werden Orginalzitate z. B. von Brügelmann zum Lesen oder Hören an Hörstationen eingesetzt.
Masson Mill, Matlock Bath In Matlock Bath, im Derwent Valley gelegen und Bestandteil des Weltkulturerbes, liegt die Masson Mill. Sie wurden 1783 von Richard Arkwright als Vorzeigespinnerei gegründet und mehrfach erweitert und mit zusätzlichen Antrieben ausgestattet. 1991 wurden sie geschlossen. Ein privater Unternehmer mit einem Faible für alte Industriebauten und Maschinen übernahm die Gebäude. Die Nutzung des Geländes folgt der Logik des Sammlers, der seine Schmuckstücke präsentieren und seiner Leidenschaft frönen will, ohne Bankrott zu gehen. So wird die Masson Mill zu einem „working museum“ im wahrsten Sinne des Wortes. In ihr produzieren alte Maschinen für den Museumsshop, die Turbinen liefern Strom, der ins örtliche Stromnetz eingespeist wird, die repräsentativen Nebengebäude bilden den Rahmen für ein „shopping village“, das Hauptgebäude beinhaltet in den oberen Stockwerken Konferenzsäle. Im Hauptgebäude der Spinnerei wird ein Sammelsurium von Textilverarbeitungsmaschinen vorgestellt, die ohne erkennbaren Zusammenhang oder eine zeitliche Abfolge aufgestellt sind. Didaktisch aufgearbeitet ist die Ausstellung praktisch nicht. Ein Teil der Maschinen wird vorgeführt, Gedenktafeln erinnern an den Gründer der Fabrik. Informationen zu den ausgestellten Maschinen erfährt der Besucher durch Faltblätter, die an der Kasse ausliegen. Die undurchsichtige Anordnung mechanischer Maschinen mit verrosteten Blechdosen zum Auffangen von leckendem Öl und der „Werkstattgeruch“ der unrenovierten Räume wecken beim Besucher Assoziationen an den „Charme“ einer alten Fabrik und lassen ein Gefühl für den Raum als Arbeitsort aufkommen. Es werden Emotionen wach gerufen, ohne Einfluss darauf zu nehmen, ob diese historisch „korrekt“ sind. Dabei werden die Gebäude nach Möglichkeit außen erhalten und im Innern dem Bedürfnis, Geld einzubringen, angepasst. Weitere Gebäude wie das Maschinenhaus werden nach den Vorstellungen des Eigentümers wieder in Stand gesetzt.
Stadtmuseum Povelturm, Nordhorn Das niedersächsische Nordhorn war bis in das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts eine der wichtigsten Textilindustriestädte Deutschlands. Dafür waren drei große Textilunternehmen, Nino, Povel und Rawe verantwortlich. 1979 ging die Firma Povel in Konkurs, 1995 die Firma Nino, Rawe stellte 2001 die Produktion in Nordhorn ein. Das Firmengelände von Povel wurde bis auf die unter Denkmal-
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schutz stehenden Gebäude komplett geräumt und in den 1990er Jahren zu einem Wohngebiet umgebaut. Erhalten blieben das 1906 gebaute Verwaltungsgebäude, der Sprinklerturm von 1906 und die „Neue Weberei“ von 1949/1950. Der Sprinklerturm und die Neue Weberei werden als Museum genutzt. 1996 wurde die Ausstellung im Povelturm eröffnet. Sie ist stark durch das Gebäude, einen siebengeschossigen, schmalen Turm mit Treppen im Innern, bestimmt. Die Schwerpunkte der Ausstellung liegen dabei auf der Entwicklung der Stadt, geprägt von der Textilindustrie, dem Zuzug von Arbeitskräften und der Geschichte der drei großen Firmen und ihrer Produkte. Das Medium der Vermittlung sind Texttafeln und vor allem Abzüge alter Bilder. Die „Neue Weberei“ wurde zu dem soziokulturellen Zentrum „Alte Weberei“ umgenutzt, das auch ein Textilmuseum beinhaltet. Die erhaltene Halle wird als bedeutendes technisches Baudenkmal eingestuft. Sie ist eine sechsschiffige Tonnenhalle in Schalenbauweise von 1948/49. „Ihre herausragende Bedeutung gewinnt diese Halle als Pionierbau des inzwischen weitverbreiteten Prinzips, Produktionsvorgänge in vollklimatisierten und ausschließlich künstlich beleuchteten Räumen stattfinden zu lassen.“27 Neben Maschinen aus den „frisch geschlossenen“ Nordhorner Textilbetrieben konnte das Museum den gesamten Maschinenpark der Gewerblichen Berufsbildenden Schulen Nordhorn – Fachbereich Textiltechnik, der zum Schuljahr 1998/99 aufgelöst wurde, übernehmen. Damit verfügt es über „moderne“ Maschinen aus den Jahren 1960 bis 2001. Die Maschinen werden, je nach Abteilung, zu festen Zeiten von einem ehemaligen Facharbeiter der geschlossenen Betriebe vorgeführt und erklärt. Ansonsten helfen dem Besucher Schautafeln aus den Zeiten des Schulbetriebs zu der Funktionsweise der Maschinen weiter. So wird das Museum praktisch zum „Lehrbetrieb“. Außerdem produziert es aufwändig gewebte Tragetaschen mit seinem Logo, dem Povelturm.
Tuchfabrik Müller, Euskirchen/Kuchenheim Die besten Voraussetzungen für ein „perfektes“ Textilindustriemuseum bietet die rheinische Tuchfabrik Müller.28 1801 wurde das Gebäude der zukünftigen Tuchfabrik Müller als Papiermühle gebaut, was die Architektur geprägt hat. Ab 1843 fand eine sukzessive Umrüstung zur Tuchfabrik statt. 1894 wurde sie von Ludwig Müller aus Lamprecht ersteigert. Dieser erneuerte den Maschinenpark grundlegend bis ca. 1903. Ebenfalls auf dem Gelände befindet sich das schlichte Wohnhaus des Eigentümers und daran angeschlossen das Kontor von 1867. 27 Michael Mende: Museum und Soziokulturelles Zentrum im Povelturm und im Hallenbau der Weberei. Gutachten für die Stadt Nordhorn. Nordhorn (unveröffentlicht) 1993, S. 4. 28 Vgl. Detlef Stender: Papiermanufaktur – Tuchfabrik – Industriemuseum, die Fabrikgeschichte im Zeitraffer. In: Rheinisches Industriemuseum, Kleine Reihe Heft 17. Köln 1997, S. 24-32.
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Kurt Müller, der die Fabrik seit 1929 leitete, ließ die Maschinen vom Anfang des 20. Jahrhunderts ebenso in Betrieb wie er seine Produkte weitgehend unverändert beibehielt. Die Fabrik musste schon vor der ersten großen Krise der Textilherstellung in Deutschland die Produktion 1961 einstellen. Allerdings erhielt der Eigentümer die Fabrik in betriebsbereitem Zustand, bis sie 1988 dem Rheinischen Industriemuseum übergeben wurde. Von diesem wurde die Fabrik auf ihren Zustand von 1961 hin restauriert, wobei die Eingriffe sichtbar gemacht wurden. Im Innern des Museums/der Fabrik blieben die Maschinen und Kleinobjekte an ihrem ehemaligen „Arbeitsplatz“, die Spuren an dem Gebäude selbst, die die Arbeit hinterließ, blieben in ihrem Zusammenhang vor Ort sichtbar (auch etwa ausgetretene Stufen blieben so weit wie möglich erhalten). Das Museum steht so zwischen den Polen „begehbares Denkmal“ einer mittelständischen rheinischen Tuchfabrik und „einem Museum für Industrie- und Sozialgeschichte“29. Das Ziel war es, den gesamten „Fabrikkosmos“ in möglichst vielen Facetten zu behandeln. 1999 wurde die Tuchfabrik Müller als Zweigstelle des Rheinischen Industriemuseums eröffnet. Die Fabrik selbst ist nur im Rahmen einer Führung zugänglich. Die Beschilderung ist auf das Nötigste beschränkt, in jedem Raum gibt es an unauffälliger Stelle einen Plan, in dem die jeweiligen Maschinen verzeichnet und benannt sind. Einzelne Maschinen können zu Vorführungszwecken mit Strom in Betrieb genommen werden. Durch Zitate von ehemaligen Arbeitern der Fabrik, die an den Maschinen befestigt sind, und durch „Installationen“ soll die Faszination für die Maschinen und das alte Gemäuer wieder auf die Menschen gelenkt werden. Der Museumscharakter des Gebäudes wird auch durch die Heraushebung einzelner „Alltagsgegenstände“ von Arbeitern, etwa einer liegengebliebenen Tasse, in Vitrinen unterstrichen. Im Erdgeschoss des Wohnhauses wird die Geschichte der Unternehmerfamilie Müller dargestellt, das Kontor widmet sich der Geschichte der rheinischen Tuchproduktion und den Lebensläufen von Arbeiter(innen) der Tuchfabrik. In dem Neubau befinden sich eine Ausstellungshalle, Shop, Cafeteria und ein Veranstaltungsraum. Die dortige Ausstellung umfasst die Themen „Materialkunde“, „Färbemethoden“, „Wollhandel“ „Mode und Kleidung“, einen Ausblick auf die Weiterverarbeitung der Tuche „Schnittmuster und Nähen“ und einen Rückblick auf traditionelle Wollverarbeitung. In diesem Museum wird stark mit der Wirkung der Anmutung der „authentischen“ Fabrik gearbeitet. Von diesem Eindruck ausgehend wird versucht, die verschiedenen Ebenen des „Fabriklebens“ anschaulich zu machen. Die Maschinen dienen zum Bewundern, zeigen den Produktionsweg auf und werden zum menschlichen Arbeitsplatz. Das Gebäude selbst wird auf verschiedene Weise
29 Markus Krause: Das Industriedenkmal zum Sprechen bringen. Grundzüge des Museumskonzepts. In: ebd., S. 100-111. Vgl. allgemein dazu auch Hartmut John und Ira Mazzoni (Hg.): Industrie- und Technikmuseen im Wandel. Perspektiven und Standortbestimmungen. Bielefeld 2005.
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„benutzt“. Als Industriedenkmal ist es sorgfältig restauriert und spiegelt einen konservierten vergangenen Zustand wider, als Museum stellt es sich als ehemaliger Arbeitsplatz vor, der viel über die Arbeiter und den Besitzer verrät.
Staatliches Textil- und Industriemuseum (tim), Augsburg Das Staatliche Bayerische Textil- und Industriemuseum (tim) wurde im Januar 2010 mit mehrjähriger Verspätung am 20. Januar 2010 in den Gebäuden der Augsburger-Kammgarnspinnerei (AKS) eröffnet. 1836 gründete der Nürnberger Johann Merz die AKS als eine der ersten „modernen“ Fabriken Augsburgs. Mit kriegsbedingten Unterbrechungen arbeitete sie bis 2002. Die AKS liegt im „Textilviertel“, im östlichen Stadtgebiet von Augsburg. Dieses Viertel durchläuft gerade ein städtebauliches Sanierungsprogramm, in dessen Konzept das tim als „kulturelles Zentrum“ eine wichtige Rolle spielt. „Die Stadtväter träumen von tausenden Touristen, die erst ins Museum gehen und dann durchs Viertel streifen.“30 Dementsprechend sieht das tim seine Aufgabe sowohl darin, der Vergangenheit Augsburgs als Textilstadt zu gedenken, als auch das Viertel „wiederzubeleben“. Dazu arbeitet es etwa mit der Deutschen Meisterschule für Mode in München zusammen und zählt „innovative“ Firmen wie Schöffel und Linde zu seinen Förderern. Für das Gelände der AKS ist eine Mischnutzung geplant. Für die Erschließung ist eine nicht näher definierte „public private partnership“ vorgesehen. Die Gebäude sind weitgehend leer, die Maschinen wurden nach der Stilllegung nach Rumänien verkauft.31 Das tim will sowohl die Geschichte Augsburgs als Textilstadt als auch als Landesmuseum die Industrialisierung des Freistaats Bayern aufarbeiten. Sein wichtigster Museumsbestand sind die Musterbücher der Neuen Augsburger Kattunfabrik (NAK). Als Motto nimmt es sich die vier M: Mensch, Maschine, Muster und Mode. Um seinem Anspruch gerecht zu werden, schachtelt das Museum mehrere Ausstellungskonzepte ineinander, was die Orientierung trotz auf den Boden gezeichneter Führungslinie erschwert. Im „Hauptteil“ wird der Prozess der Stoffproduktion vom natürlichen Rohstoff bis zum fertigen Kleid dargestellt. Zum Abschluss wird Mode aus verschiedenen Jahrhunderten präsentiert. Parallel zu dieser Ausstellung werden in sechs kleinen Räumen weitere Schwerpunkte des tim abgehandelt: die Geschichte Augsburgs als Textilstadt vor der Industrialisierung, der Weberaufstand zusammen mit der Geschichte des Unternehmers Schüle, die Ansiedlung von Industrie im Textilviertel, Gründungsboom und soziale
30 Guido Kleinhubbert: Alte Spinnerei und neue Hoffnung. Augsburg will sein traditionsreiches Textilviertel wiederbeleben – ein Museum soll Touristen und Investoren locken. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 204, 3. September 2004. 31 http://www.dotko.net/tim/tim_konzept.htm (25.2.2005).
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Frage, die Krisen des 20. Jahrhunderts sowie neue, „intelligente“ Stoffe. Während die Maschinen, die in der Ausstellung verteilt stehen, mehr dekorativen Charakter haben, arbeiten in einem eigenständigen Teil des Museums, in einem durch Glasscheiben abgeteilten Raum, auch funktionstüchtige Maschinen, die von Mitgliedern eines Fördervereins aus Schrottmaschinen wie neu zusammengesetzt wurden. Dabei entschied sich das Museum, keine Maschinen nachzubauen, die in der AKS standen, sondern sich auf die Darstellung der Webstühle und Strickmaschinen von 1880 bis ca. 1960 zu verlegen, deren Produkte gleich im Museumsshop verkauft werden können. Der verglaste Raum ist zu bestimmten Zeiten im Rahmen einer Vorführung durch ehrenamtliche Mitarbeiter zugänglich, ohne dass der weitere Museumsbetrieb durch den Lärm der Arbeit beeinträchtigt wird. Für Kinder ist ein eigener „Museumspfad“ innerhalb der Ausstellung angelegt, der mit Mitmachstationen dazu anregt, bestimmte Schritte der Textilherstellung und Veredlung auszuprobieren. Die Funktionsweise der einzelnen Geräte ist allerdings nicht selbsterklärend und braucht zumindest eine Erklärung durch Erwachsene. Das Herzstück des Museums ist die künstlerische Präsentation der Stoffmustersammlung: In einem mit roten Stoffen ausgekleideten Raum schweben vier Meter große, weiße Schneiderpuppen mit Rock, von denen eine von den Besuchern per Touch auf das virtuelle Musterbuch „angezogen“ werden kann. Rechts und links davon sind Musterbücher der Wand entlang aufgereiht. Die zwei Präsentationseinheiten zu „Muster“ und „Mode“ nehmen gut zwei Drittel der Fläche der Ausstellung ein. Beim Thema Mensch liegt der Schwerpunkt auf dem Unternehmer Schüle und den Krisen des 20. Jahrhunderts, zu der einige ehemalige Arbeiter an einer Hörstation zu Wort kommen. Die Veränderungen des Lebens durch die Industrialisierung und die Soziale Frage werden nicht oder nur abstrakt mit Fürsorgescheinen, einer Belobigungsurkunde und dem Lied „Brüder, zur Sonne zur Freiheit“ gestreift. Es gibt kaum Wandtexte, vielmehr setzt das tim vor allem auf Infoterminals, an denen der Besucher die gerade relevanten Themen vertiefen kann, und auf das Wissen der Vorführer. Das tim führt die Trennung der Geschichte des Gebäudes, das es nutzt, als Fabrik und als Museum konsequent durch. Nur noch die Außenhülle weist auf die ursprüngliche Funktion der Hallen hin, jede Spur ihrer Nutzung im Innern ist, bis auf die Sheddachkonstruktion, verschwunden. Folgerichtig stellte der Augsburger Oberbürgermeister bei der Eröffnung fest: „Die Textilindustrie ist tot, es lebe das Textilmuseum!“32 Die dargestellten Beispiele zeigen einige allgemeine Tendenzen von Ausstellungsformen in Textilindustriemuseen. Alle vorgestellten Museen setzen unter32 Vgl. Hanskarl von Neubeck: Ein Glücksfall: das neue Bayerische Textil- und Industriemuseum Augsburg: http://www.tagblatt.de/Home/nachrichten/kultur/ueberre gionale-kultur_artikel.html (25.1.2010).
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schiedliche Schwerpunkte und zeigen große Unterschiede in ihrem Ausstellungsaufbau. Mit Ausnahme des Museums in Bocholt befinden sich alle vorgestellten Museen in ehemaligen Fabrikgebäuden. Aber die Nutzung der historischen Gebäude durch die Museen variiert beträchtlich. Während sie in einigen Fällen nur Ausstellungsraum sind, werden sie andernorts zum optischen Ausstellungsstück oder zum Exempel für „die“ Fabrik. In einigen Fällen werden die historischen Gebäude selbst zum „Objekt“, das „zum Sprechen“ gebracht wird. Meist sind die Textilindustriemuseen in den großen und oft repräsentativen Gebäuden der Spinnereien oder in einem Teil der Websäle, mit obligatorischem Sheddach, untergebracht. Auch das Maschinenhaus ist oft integriert. Die Gesamtheit eines gewachsenen Fabrikgeländes, das auch Lagerhäuser, Transportwege und alle möglichen Zweckbauten enthalten hat, ist selten als Bestandteil eines Museums zu sehen. Allen Museen ist gemeinsam, dass sie ihre Gebäude so „schön“ wie möglich erscheinen lassen. Dabei werden sie mit der Anmutung versehen, die sie zum Zeitpunkt ihrer Erbauung oder ihrer Blütezeit gehabt haben könnten. Die Spuren des Verfalls33 oder von praktischen, unschönen Nutzbauten34 werden beseitigt. Gründe dafür können konservatorischer Natur sein, da es schwieriger ist, Gebäude mit „Schäden“ als ohne zu sichern. Zum andern dürfte aber auch der Wunsch, eine bestimmte Zeit zu bearbeiten bzw. darzustellen, eine wichtige Rolle spielen. Dabei bietet sich an, das Gebäude zur Zeit seiner Hochform zu präsentieren. Dem entspricht die westliche Gewohnheit, Verfall mit ungepflegt, unschön und wertlos gleich zu setzen. Denn mit dem Verfall ist eine – von den Museen selbst durchaus häufig geforderte – Identifikationsmöglichkeit mit der „eigenen“ Vergangenheit nur schwer möglich bzw. nicht gewollt. Die Auswirkungen der Fabrik auf ihre Umgebung, etwa in Form von Arbeitersiedlungen, werden vor allem in Cromford, Ratingen und Engelskirchen vorgestellt. Die einzigen Museen, die weder mit anheimelnder „Mühlenromantik“ noch mit beeindruckender „Industriearchitektur“ locken, sind Nordhorn und Engelskirchen. Die wesentlichen Objekte aller Museen sind die Maschinen, die in der Textilverarbeitung eingesetzt wurden. Obwohl die meisten Fabriken kurz nach ihrer Schließung zum Museum umfunktioniert wurden, ist gewöhnlich jedoch alles, was noch zu Geld zu machen war, verkauft worden. So waren mehrere Museen gezwungen, sich „ihre“ Maschinen zu suchen. Mehrfach dienen Maschinen mehr zur Demonstration eines technischen Vorgangs, und auf einen Zusammenhang zwischen Gebäude und 33 Auch die Tuchfabrik Müller, in der die Spuren, welche die Arbeit hinterließ, wie z. B. Schrammen in den Wänden, sorgfältig dokumentiert und erhalten werden, wurde äußerlich gepflegt auf den angenommenen Zustand 1961 hergerichtet. Ohne Bewuchs, ohne Risse im Verputz und neu gedeckt erscheint sie unberührt von der Zeit. 34 So sind etwa die Wellblech-Eternit-Baumwollschuppen und die Gleise der Hohen Fabrik in Ratingen spurlos verschwunden. Uwe Kaminsky: Zur Werksgeschichte Cromfords seit der Gründung der Genossenschaft 1931/32 bis 1949. In: Cromford 1949, eine Fotodokumentation kommentiert von Zeitzeugen. Köln 1993, S. 29.
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Maschine wird wenig Wert gelegt. Die Maschinen sind aus ihrem fabrikinternen Zusammenhang herausgenommen. Einzige Ausnahmen sind die Queen Street Mill und die Tuchfabrik Müller. Beide nutzen dies und stellen die Fabrik und den Arbeitsraum selbst aus. In beiden Museen wird der „Arbeitsplatz“ zum Ausstellungsobjekt. Entsprechend werden die Maschinen in den einzelnen Museen unterschiedlich eingesetzt. Dabei lassen sich zwei Grundausrichtungen unterscheiden: Entweder steht „die“ Fabrik im Mittelpunkt der Ausstellung oder der Verarbeitungsprozess des Rohstoffes bis zum Kleiderstoff. Die beteiligten Menschen werden meist außerhalb der Ausstellungseinheit „Fabrik“ behandelt. Dazu können nachgebaute Arbeiterhäuser oder das Kontor wie in Bocholt oder Auszüge aus Fabrikordnungen, zeitgenössische Kommentare, Baupläne etc. wie in Ratingen als Informationsgrundlage dienen. Nur in Euskirchen kommen sie in der Fabrik selbst zu Wort. Vermittelt wird die Funktionsweise von Maschinen immer in Form einer Vorführung. Nur in der Quarry Bank Mill und, nicht ganz so theatralisch, in Euskirchen, werden das Leben der Arbeiter und die Fabrikarbeit in der Führung mit angesprochen. Diese Bereiche müssen sich die Besucher in unterschiedlich spannender Form selbst erschließen. Ein Textilindustriemuseum kann sich im Überblick hauptsächlich als Ort der Arbeit, wie besonders die Tuchfabrik Müller und die Queen Street Mill, als Ort der Innovationen und der Technik der Textilherstellung, wie in Ratingen und Nordhorn, als Arbeitsort, der die Arbeitsverhältnisse thematisiert, wie in Euskirchen und Ratingen, und als Ort zum Bestaunen, besonders mit Maschinenpark und Dampfmaschine wie in der Queen Street Mill und Masson Mill, präsentieren. Entsprechend unterschiedlich sind die Ausstellungen aufgebaut. Museen, die sich überwiegend als Ort von Arbeit darstellen, richten sich in ihrer Ausstellung nach dem Aufbau der Fabrik, die sie behandeln. Museen, die mehr Wert auf die Vermittlung des Produktionsprozesses oder seine technischen Entwicklungen durch die Zeit legen, stellen die Objekte zur Demonstration des zu verstehenden Ablaufes auf, die „historische“ Gliederung einer Fabrik wird weniger berücksichtigt. Die Ausstellung von einem „Arbeitsort Fabrik“ fordert, mehr die Arbeiter statt die Maschinen in den Mittelpunkt zu stellen. Entsprechend brechen Museen mit diesem Thema meist bewusst den Anschein der begehbaren, „authentischen“ Fabrik auf und lassen Arbeiter in Form von unterschiedlichsten Quellen zu Wort kommen. Einrichtungen, denen die Faszination durch die Mechanik am Herzen liegt, verzichten weitgehend auf weiterführende Erklärungen. Bei der Entwicklung der Zielsetzung der Museen sind sowohl der Bestand, wie besonders in Euskirchen und Engelskirchen, politische Erwartungen und Entscheidungen, wie in Bocholt und Augsburg, als auch die Vorstellung der Museumsgründer oder, zumeist, eine Mischung daraus ausschlaggebend. Bei den behandelten Museen zeichnet sich die Tendenz ab, dass ihr Gegenstandsbereich immer mehr ausgedehnt wird, häufig in Richtung Kleidung und Mode. Die wesentliche Aufgabe von Industriemuseen, die dinglichen Zeugnisse aus allen Bereichen der „Industrie“, unter Einbezug des „historischen“ Ortes der Produktion
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und des Wissens über die Lebenserfahrungen der dort arbeitenden Menschen, zu erhalten, zu erforschen, zu vermitteln und auszustellen, kann so zu einem Thema unter vielen werden und neigt dazu, in einer Informations- oder Reizflut unterzugehen.
Carlo Scarpas Projekte für Dauerausstellungen. Der Umga ng mit Ba us ubstanz und Kunstpräse ntation in historischen Muse umsgebäude n ELENI TSITSIRIKOU Der in Venedig geborene Architekt Carlo Scarpa (1906-1978) gilt als eine richtungsgebende Figur in der Museumsarchitektur und Ausstellungsgestaltung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit einem langfristigen und grundlegenden Einfluss, der bis in die heutige Zeit reicht. Die Wichtigkeit seiner Projekte wird in der Fachliteratur vielfach geschildert. Seine architektonische Sprache und die Umsetzung in seinen Museumsprojekten werden in Ausstellungen1, nicht nur in Italien, immer öfter thematisiert. Neben einer 30jährigen Tätigkeit als Ausstellungsgestalter für die Biennale in Venedig konzipierte und gestaltete Scarpa zahlreiche Sonder- und Dauerausstellungen in Museen Italiens und in anderen Ländern. Insbesondere die in den 1950er und 1960er Jahren ausgeführten Projekte zu Museumsumbauten und Gestaltungen von Dauerausstellungen sind bezeichnend für die Methodik des Architekten, sich mit dem Museumsbau und dem Exponat auseinander zu setzen. Schon mit seinem ersten großen Projekt – dem Umbau und der Einrichtung der Galleria Nazionale im Palazzo Abatellis (1953-1954) in Palermo2 – brachte Scarpa neuen Wind in den Bereich der Restaurierung von historischen Gebäuden.
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Vgl. die Ausstellungen Carlo Scarpa architecte: composer avec l’ histoire, Centre Canadien d’Architecture, Montréal, Kanada, 26.5.-31.10.1999, begleitet von einem ausführlichen Katalog zu Scarpas wichtigsten Projekten, Carlo Scarpa. Mostre e Musei 1944-1976. Case e Paesaggi 1972-1978, Museo di Castelvecchio, Verona 2000 und Museo Palladio-Palazzo Barbaran da Porto,Vicenza, Carlo Scarpa. Das Handwerk der Architektur, Museum für Angewandte Kunst, Wien, 9.4.-23.11.2003, Andrea Palladio e Carlo Scarpa. I modelli esposti al Parlamento Europeo di Bruxelles, Museo Palladio-Palazzo Barbaran da Porto, Vicenza, 30.5.-29.8.2004. Sergio Polano: Carlo Scarpa: Palazzo Abatellis. La Galleria della Sicilia. Palermo 1953-54. Mailand 1989.
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Er wählte nicht den Weg der ergänzenden Restaurierung,3 die zumeist in seiner Zeit von den Denkmalpflegern angewendet wurde. Er rekonstruierte nicht schonend, um die historische Bausubstanz in ihren ursprünglichen Zustand zu bringen und dadurch die Wunden der Zeit zu verbergen4. Als einer der ersten Vertreter der kritischen Rekonstruktion5 betrachtete er den Bau als Organismus, der weiterhin lebt und sich entwickelt, und nicht als eine Substanz, die für immer den historischen Zeitpunkt ihrer Entstehung dokumentiert und so unverändert zu bleiben versucht. Scarpa ging mit der historischen Bausubstanz interpretierend um und reaktivierte die historischen Bauten, indem er sie an seinem inszenatorischen Spiel teilhaben ließ und ihnen eine aktive Rolle verlieh. Dieses Spiel ist Scarpas Kommentar auf das Vorgefundene. Er verwendete eine visuelle Sprache, um seine Kommentare zu „äußern“, in der die architektonischen Formen als Vokabeln fungieren6. Nicht nur das Gebäude, sondern auch das Kunstwerk wird durch seine Art der Präsentation kommentiert, interpretiert und zu einem Teil der Gesamtkomposition gemacht7, weil Scarpa Museum und Kunstwerk in einen Diskurs bringen wollte8. Als repräsentativste Projekte des Architekten gelten das Civico Museo d’Arte di Castelvecchio (1957-1964)9 in Verona und die Gypsotheca Canoviana (19551957) in Possagno (Veneto). Hinsichtlich Scarpas Methode, Dauerausstellungen in schon existierenden (Museums)gebäuden durch Umbauten zu gestalten, gilt Castelvecchio als das komplexeste und umfassendste Projekt. Hier wurde der Architekt beauftragt, die Renovierung und Umgestaltung des ganzen Museums10, das in einer historisierend restaurierten mittelalterlichen Burg beheimatet war,
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Christine Hoh-Slodczyk: Carlo Scarpa und das Museum. Berlin 1987, S. 9. Vittorio Magnago Lampugnani: „Diskrete Fragmente und Geschichtsloser Raum“. In: ders. (Hg.): Carlo Scarpa. Architektur. Stuttgart 1986, S. 6-27, hier S. 14. 5 Es genügt, nur an seinen Umbau von Ca’Foscari in Venedig zum Istituto Universitario di Economia e Commercio (1935-1937) zu erinnern, um zu realisieren, dass Scarpa schon seit den 1930er Jahren durch seine Architektur (deren Merkmale er in den 1950er Jahren in seinen Museumsumbau übertrug) als einer der ersten Vertreter der kritischen Rekonstruktion, geäußert in der Form der kontrastierenden Konfrontation zwischen alter und neuer Bausubstanz, gilt. 6 Francesco Dal Co: Carlo Scarpa. In: Toshio Nakamura (Hg.): Carlo Scarpa. a + u Extra Edition. Tokio 1985, S. 13-44, hier S. 18. 7 Ebd., S. 24 und S. 26. 8 Sergio Los: Carlo Scarpa, Köln 1994, S. 28. 9 Die Eröffnung des Museums am 19.12.1964 markierte nicht das Ende der Restaurierungs- und Neugestaltungsphase. Das Projekt wurde 1973 mit dem Entwurf des letzten Raumes im Museumsrundgang vollendet. Allerdings konnte dieser Saal wegen fehlender Finanzmittel erst im Jahr 1976 gebaut werden. Vgl. Richard Murphy: Carlo Scarpa and the Castelvecchio. London u. a. 1990, S. 3. Darin auch eine chronologische Auflistung der Restaurierungswerke im Castelvecchio wie auch eine umfangreiche Bibliographie zu den Restaurierungsarbeiten von 1958 bis 1988. 10 Richard Murphy: Historic Additions. Carlo Scarpa and the Castelvecchio. In: The Architects Journal. Bd. 20 (1988), S. 24-29, hier S. 26.
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nach den neuesten musealen Prinzipien11 zu konzipieren. In dem Fall der Gypsotheca handelt es sich um das einzige Projekt des Architekten, das ihm die Möglichkeit bot, ein eigenes Gebäude als Erweiterungsbau neben das alte zu setzen und darin eine Kunstausstellung einzurichten. Laut Auftrag sollte Scarpa anlässlich des 200. Geburtstages von Antonio Canova einen kleinen Erweiterungsbau im Anschluss an das basilikaförmige Gebäude der Gipsothek mit Werken von Canova entwerfen und die bis dato sehr zusammengedrängt ausgestellten Sammlungen neu aufstellen.12 Schon mit einer Betrachtung dieser beiden Projekte einschließlich ihres rezeptionsgeschichtlichen Kontextes lassen sich Scarpas theoretische Prinzipien aufspüren. Dabei sind folgende Fragen von besonderer Bedeutung: Wie geht Scarpa mit der historischen Bausubstanz um? Warum reagiert er auf das Alte, Vorgefundene in dieser Weise? Was beabsichtigt er also durch seine Wahl? Wodurch wirken seine Dauerausstellungen so eigenartig im Sinne von unverwechselbar? Dabei sind die Ausstellungseinrichtungen selbst, aber auch das Verhältnis Scarpas zum Exponat und zum umgebenden Raum zu beachten. Die Antwort auf eine weitere Frage, nämlich die zentrale Problemstellung, was Scarpa unter Kunst versteht, trägt zur weiteren Interpretation seiner Methode bei. Diese Methode hat zweifellos eine tiefgehende strukturelle Wirkung auf das Museums- und Ausstellungsdesign der letzten Jahrzehnte gehabt. Scarpa war freilich nicht der erste, der seine Dauerausstellungen nach einer Berücksichtigung aller Komponenten konzipierte, die das Museumserlebnis beeinflussen. Architekten bzw. Ausstellungskuratoren vor, während und nach seiner Schaffensperiode setzten sich mit Themen wie der Organisation eines variationsreichen Rundganges oder der Anordnung der Ausstellungseinrichtungen in einer Weise auseinander, dass sie im Einklang mit dem umgebenden Raum stehen und zur Kommunikation zwischen Werk und Besucher beitragen sollten. Solche Prinzipien sind bis heute grundlegend. Die interaktive Beziehung zwischen Exponat und Raum sowie die aktive Einbeziehung des Besuchers in das Kunsterlebnis13 sind ebenfalls Aspekte, die alle diese Projekte charakterisieren. Trotzdem bleibt die bedeutende Rolle Scarpas für die weitere Entwicklung der Museumsarchitektur und der Ausstellungsgestaltung unbestritten. In Bezug auf den Einfluss, den Scarpa auf weitere Architekten und Kuratoren ausgeübt hat, ergeben sich vielfältige Aspekte, wenn man von seiner grundlegenden Methodik ausgeht. Nicht wenige Museen und Ausstellungen lassen sich baulich oder thematisch nach Scarpaschen Prinzipien geradezu kategorisieren, einschließlich der Gemeinsamkeiten und Unterschiede. So vorbildhaft Scarpas Ar-
11 Licisco Magagnato: Scarpas Museum. The Museographic Route of Castelvecchio. In: Lotus international; rivista di architettura. Bd. 35 (1982), S. 75-85, hier S. 79. 12 Los (wie Anm. 8), S. 58. 13 Victoria Newhouse: Wege zu einem neuen Museum. Museumsarchitektur im 20. Jahrhundert. Ostfildern-Ruit 1998, S. 260.
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beitsweise gewirkt hat, so nah liegen aber auch einzelne Kritikpunkte, etwa in Richtung Flexibilität und der Frage, wo es nicht eine Art produktives Spannungsverhältnis, sondern geradezu eine Konkurrenz zwischen dem Museumsbau, dem Exponat und der Ausstellungseinrichtung gibt. Dies führt letztlich – erneut – zur generellen Frage des Kunstverständnisses bei Scarpa. Eine Betrachtung von Scarpas theoretischen Prinzipien beinhaltet ganz wesentlich seinen Umgang mit der Geschichte sowie die Art seiner Ausstellungsgestaltung. Bei den von Carlo Scarpa projektierten Dauerausstellungen ist es der ganzheitliche Charakter des Eingriffes, der sie zu einem besonderen Fall in der Museumsarchitektur und im Ausstellungsdesign macht. Oft wurden Museumsgebäude umgebaut bzw. erweitert, ohne dabei besonders auf ihren Inhalt – die Sammlungen – zu achten. Außerdem wurde auf eine besondere, keinesfalls einsinnig denkmalpflegerisch orientierte Weise auf das historische Gebäude eingegangen und auf seine architektonische Formensprache zuweilen auch widersprüchlich geantwortet. Scarpa wählte als Antwort die bewusste Konfrontation von alten und neuen Formen, die aber nicht unreflektiert, sondern in der Form eines Dialoges nebeneinander gesetzt wurden. Visuell wird dieser Dialog wahrgenommen durch die Nebeneinanderstellung von alten und neuen Materialien. Den Dialog zwischen dem Alten und dem Neuen kann man in seiner harmonischsten Form in der Gypsoteca Canoviana betrachten. Seinem Prinzip des Nebeneinanderstellens folgend, platzierte Scarpa seinen Erweiterungsbau in direktem Anschluss an die Basilika des 19. Jahrhunderts und verband das Alte mit dem Neuen, indem er einen Teil der Außenwand der Basilika zur Innenwand seiner Halle machte.14 Der Dialog setzt sich fort in Form weiterer architektonischer Elemente. Durch die Gestaltung seines Erweiterungsbaus setzte Scarpa insgesamt Vergangenheit und Gegenwart in einer Art ruhiger Konfrontation zueinander. Damit wurde die Geschichte des Museumsgebäudes in die Inszenierung der Exponate integriert. Die sichtbaren Eingriffe vermitteln dem Besucher visuell eine Interpretation der Geschichte des historischen Gebäudes. Durch diese Eingriffe thematisierte Scarpa nicht nur Brüche und Veränderungen in der historischen Bausubstanz, sondern er machte auch die Kontinuität in der Baugeschichte anschaulich, wobei er neue Aspekte durch die Freilegung älterer Schichten ans Licht brachte, ohne dabei die historische Bausubstanz unberührt zu lassen. Deren Veränderung ist aber kein Zeichen von Verachtung des historischen Materials. Viele andere Beispiele zeigen, dass Scarpa respektvoll mit der historischen Bausubstanz umgegangen ist. Seine Vorgehensweise zeugt eher von der Fähigkeit, die entscheidenden Strukturen eines historischen Bauwerkes zu unterscheiden und sie in einem stimmigen Konzept zusammen zu führen.
14 Judith Carmel-Arthur und Stefan Buzas: Canova and Scarpa in Possagno. In: Axel Menges (Hg.): Carlo Scarpa. Museo Canoviano, Possagno. Stuttgart/London 2002, S. 6-15, hier S. 13, Hoh-Slodczyck (wie Anm. 3), S. 18.
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Wie dem Archäologen ist auch dem Architekten immer bewusst, dass bei der Freilegung von historischen Bauteilen oft jüngere Schichten beeinträchtigt oder gar zerstört werden müssen. Scarpa hat häufig gleichsam in die Geschichte des jeweiligen historischen Baukörpers hinein gegraben und auf diese Weise verborgene Elemente der Baugeschichte wieder zum Vorschein gebracht, die seiner Meinung nach zusammen mit den Exponaten ausgestellt werden sollten. Im Castelvecchio wird die Konfrontation der Materialien an den Bruchstellen, an denen Scarpa einen Teil der historischen Mauer abreißen ließ, besonders deutlich. Dort thematisierte er den Bruch durch den Einsatz von neuen Materialien wie Stahl, Beton, Holz und Blech und durch ihre Zusammenfügung mit den alten Strukturen des Gebäudes, womit geschichtliche Phasen erkennbar werden. Dabei ist jede Konfrontation von Alt und Neu bei Scarpa symbolisch beladen. Die Elemente müssen deswegen in Beziehung zueinander, in ihrer Interaktion betrachtet und interpretiert werden und nicht nur als bloße Trennung15 der jeweiligen Geschichtsepochen. Auch wenn neue Materialebenen zur Raumbildung oder zur Markierung von Übergängen verwendet worden sind, weist ihre Nutzung auf den positiven Umgang des Architekten mit dem schon Vorhandenen hin. In allen Fällen bleibt das Alte palimpsestartig bestehen und kann in Relation und in Kommunikation mit den Elementen des Neuen treten.16 Scarpa nutzte die Räume als integrale Elemente in seinen Konzeptionen, Raum und Exponat wurden also in Beziehung zueinander gebracht. Er rhythmisierte17 die Besucherbewegung, indem er auf Abwechslung zwischen großen und kleinen Sälen zielte, Pausen18 im Rundgang einplante,19 die Übergänge20 durch die detaillierte Ausarbeitung der dort verwendeten Materialien besonders markierte und den Rundgang nach dem Prinzip des Wiedersehens21 organisierte. Wenn man dieses Prinzip hinsichtlich der Organisation der Führungslinie betrachtet, kommt man zu dem Schluss, dass Scarpa schon existierende räumliche 15 Vgl. Jochen Boskamp: Über das Lesen von Architektur. Was alles zwischen den Zeilen steht. In: Baumeister. Bd. 84 (1987), H. 1, S. 56-61. Boskamp und andere betonen die Notwendigkeit, Scarpas Arbeit nicht als Architektur der Zerlegung zu interpretieren, sondern als Dualität von Trennung und Vereinigung. Vgl. Franco Fonatti: Elemente des Bauens bei Carlo Scarpa. Wien 1993, S. 64. 16 Anne-Catrin Schultz: Der Schichtungsprozess im Werk von Carlo Scarpa. Eine Untersuchung der Hintergründe von Entwurfsmethodik und Kompositionsstrategie Carlo Scarpas. Diss. Stuttgart 1999, S. 20. 17 Bianca Albertini und Sandro Bagnoli: Scarpa. Museen und Ausstellungen. Tübingen/Berlin 1992, S. 11. 18 Schultz (wie Anm. 16), S. 21ff. 19 Im Castelvecchio dienen beispielsweise besonders der große, aber auch der kleine Innenhof der Burg als Pausen. Der Besucher kann sich nach der Besichtigung der Skulpturengalerie kurz im Freien ausruhen, um dann in die nächste Einheit der Ausstellung, die zugleich die nächste Gebäudeeinheit ist, einzutreten. 20 Als Übergänge werden in Scarpas Projekten die Brücken, Verengungen, Treppen und Niveaudifferenzen gesehen. 21 Albertini/Bagnoli (wie Anm. 17), S. 17f.
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Verbindungen genutzt hat oder diese selber schuf, um dem Besucher einen Vorgeschmack von Kunstwerken, denen er später im Rundgang (wieder) begegnen sollte, zu geben. Er bereitete ihn darauf vor, was als nächstes kommt, erweckte dadurch zugleich seine Neugier und eine positive Spannung. Damit sollte der Besucher animiert werden, sich ausführlicher mit der ausgestellten Kunst zu befassen und an dem inszenatorischen Spiel teilzunehmen. Scarpa ordnete die Werke so an, dass mehrere mögliche Annäherungspunkte entstanden. Dabei waren die Blickwinkel und die hierfür erbauten Standpunkte vom Architekten genau berechnet. Die wiederholte Begegnung mit dem Kunstwerk aus unterschiedlichen Perspektiven öffnen mehrere Wege zu seiner Interpretation. Nach Scarpas Meinung trägt dieses Wiedersehen dazu bei, verborgene Qualitäten des Kunstwerkes, die durch eine einmalige Betrachtung und aus der Anschauung nur einer Perspektive nicht gleich zu erkennen sind, zu entdecken. Die Möglichkeit einer differenzierten Wahrnehmung der Kunstwerke durch die Betrachtung aus mehreren Annäherungspunkten und sogar durch die wiederholte Begegnung mit ihnen deutet einen Bruch mit den Ausstellungsprinzipien des 19. Jahrhunderts an.22 In den Museen war bis dahin das einmalige Passieren durch die in Raumfluchten organisierten Durchgänge die Regel. Die Kunstwerke waren nach einem festen Muster, das sich in jedem Saal wiederholte, ausgestellt. Besonders für die Gemälde war die Wandhängung die einzige Lösung. Die Skulpturen wurden zwar auf Podeste in den Räumen gestellt, deren Form blieb aber eher gleich. Scarpa verlieh nun der Museumsbesichtigung einen schwingenden Rhythmus und schlug eine neue Weise der Betrachtung und Wahrnehmung von Kunst vor. Nicht nur die Behandlung der räumlichen Bedingungen, sondern auch die Ausstellungseinrichtungen der Projekte trugen zu einer Bereicherung des Ausstellungsdesigns bei. Denn Scarpa stellte die Werke auf unterschiedlichen, speziell für sie entworfenen Ausstellungseinrichtungen in den Raum, die dem Besucher beim Betreten des Ausstellungssaals ein neues Raumbild vermitteln und zugleich einen neuen Weg der Betrachtung anbieten konnten. Die Ausstellungseinrichtungen schufen neue Bezüge zwischen den Exponaten und brachten sie zugleich in Kommunikation mit dem sie umgebenden Raum. Dabei tragen die Lichtführung und die Einbeziehung der Farbe in die Ausstellungsgestaltung maßgeblich zur Verwirklichung von Scarpas Zielen bei. Darüber hinaus verwendete er seine Vorrichtungen zur Präsentation der Kunstwerke zur Isolierung dieser Werke, die so ausgestellt ihre auratische Kraft völlig entfalten können. Dieser Punkt ist wesentlich, denn diese Methode, Kunst zu präsentieren, richtet sich generell nach dem Kunstverständnis des Architekten. Scarpa wollte durch seine erdachten Raumkompositionen den Kunstwerken ihre eigene Seinsqualität geben. Er ging davon aus, dass jedes Werk auf diese Weise optimal zur Geltung gebracht werden konnte. Er meinte, es bedürfe keiner weiteren Er22 Ebd., S. 19.
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klärung. Deswegen verzichtete er auf jegliche Erklärungen und pädagogische Mittel23 und ließ die Kunstwerke und ihre Inszenierung für sich sprechen.24 Das so organisierte Kunsterlebnis25 geht von der ontologischen Kunsttheorie aus, die Kunst ohne historischen Kontext denkt. In diesem Sinne ist Carlo Scarpa ein Kind der 1950er und 1960er Jahre. Diese Haltung gegenüber dem Kunstwerk und jedem Exponat wurde von der Einstellung hauptsächlich der 1970er und in gewissem Grad der 1980er Jahre, wonach auch die Kunst durch didaktisch aufbereitete Ausstellungen verstanden werden kann, abgelöst. Auch in den 1990er Jahren und bis in die heutige Zeit lautet die vorherrschende Lehrmeinung, dass der Museumsbesucher einer entsprechenden Vorbereitung bedarf, um mit den Objekten aus Gegenwart und Vergangenheit umgehen zu können. Für Scarpa galt: Je länger der Besucher sich mit dem Kunstwerk befasst und seine ästhetischen Werte reflektiert, desto intimer wird die Kommunikation, die Wechselbeziehung mit dem Werk und folglich mit der Kunst, jenseits von Bildungsbemühungen. In Scarpas Dauerausstellungen ist es also der Architekt, der die ästhetischen Werte der Kunstwerke interpretiert. Er ist derjenige, der die Sphären ihres „Einflusses“ und ihrer Ausstrahlung bestimmt. Der Besucher wird zu jeder Zeit angeregt, die Kunstwerke mit den Augen Scarpas zu interpretieren. Er muss die Interpretation Scarpas verfolgen, denn nur so, meint der Architekt, wird er die ausgestellte Kunst in ihrer Schönheit verstehen können: „Seine Museen sind niemals neutrale Räume, die offen wären für die Aufstellung beliebiger Kunstwerke, sie sind vielmehr kritische Eingriffe, die ausgehend von den Kunstwerken vollendete Komplementierungen darstellen, die wesentlich für deren Verständnis sind. Auch in das schon Gebaute fügt der Entwurf jene kritischen Komplemente ein, durch die das ursprüngliche Kunstwerk zum Bewusstsein seiner selbst gelangt. Er bringt das schon vorhandene Gebäude wieder zum Sprechen, indem er seinen Kontext umgestaltet.“26 In den 1970er und 80er Jahren stellte eine beachtenswerte Zahl von Architekten beim Umbau von Museen in historischen Gebäuden bzw. bei der Erweiterung schon existierender Museen eine moderne Interpretation dem alten Bau gegenüber, ohne dabei unbedingt von Scarpa direkt beeinflusst zu sein. James Stirlings Erweiterung der Staatsgalerie in Stuttgart (1977-1984) und die Erweiterung der 23 Die konzeptionellen Unterschiede zwischen Scarpas Prinzip der Kunstpräsentation und einer nach didaktischen Regeln konzipierten Ausstellung sind in den weiteren Museumsgebäuden der Gypsotheca – ein Saal für Sonderausstellungen und Canovas Geburtshaus mit Pinakothek – festzustellen. In den hinteren Räumen des Geburtshauses wird seit 1992 eine didaktische Ausstellung gezeigt, die anhand von Texttafeln und ausgewählten Bildern bzw. Zeichnungen Arbeitstechniken und Werkzeuge zur Restaurierung der Gipswerke vorstellt. Vgl. Giancarlo Cunial: La Gipsoteca Canoviana di Possagno. Asolo 1992, S. 13. 24 Maria Antonietta Crippa: Carlo Scarpa: Theory, Design, Projects. Cambridge Massachussets 1986, S. 80. 25 Newhouse (wie Anm. 13), S. 260. 26 Los (wie Anm. 8), S. 35.
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Tate Gallery in London (1980-85), Richard Meiers Museum für Kunsthandwerk in Frankfurt am Main (1979-85) und Josef P. Kleihues Museum für Vor- und Frühgeschichte ebenfalls in Frankfurt (1985-1989) sind charakteristische Beispiele dieser Haltung. Auch Gae Aulentis und Italo Rotas Umbau des Gare d’Orsay in Paris (1980-86) sowie Robert Venturis und John Rauchs Allen Memorial Art Museum in Oberlin Ohio (1973-77) und das Sainsbury Wing der Londoner National Gallery (1985-1991) ebenfalls von Venturi mit seiner Frau Denise Scott Brown and Associates sind Projekte, bei denen die Architekten ihre moderne Formensprache den historischen Gebäuden bewusst entgegensetzten. Auch in den Innenräumen von Museen verfolgten manche Architekten diese Strategie und hoben moderne Elemente, die den Raum strukturieren, von den historischen Räumen ab. Charakteristische Beispiele dieser Haltung sind J. P. Kleihues Überdachung der Karmeliterkirche durch eine Konstruktion aus Holz und Stahl im Museum für Vor- und Frühgeschichte in Frankfurt am Main, wie auch die Emporen, die Treppengänge und weitere strukturale Elemente der Räume aus Sichtbeton und schwarz gefärbtem Stahl bzw. Eisen in Schattners Museumsumbauprojekten in Eichstätt. Die gleichen Elemente setzen sich von den historischen Räumen durch ihre Ausführung in Stahl bzw. Eisen ebenso in italienischen Museen ab. Die Erscheinung der Innenräume des Museo di Sant’Agostino in Genua, der Galleria Nazionale im Palazzo della Pilotta in Parma (Guido Canali) und der Musei Civici: Museo Archeologico (beispielsweise die Sala Romana) und Museo d’Arte Medioevale e Moderna (Sala Romanino) in Padua zeugt von der Vorgehensweise, die modernen Elemente in historische Gebäude zu integrieren. Auf diese Weise wird auch auf die Neunutzung verwiesen. Altes mit Neuem durch den bewussten Kontrast in der Materialität, der Farbe und der Form in Konfrontation zu bringen und zugleich so einen Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart herzustellen, ein Prinzip, das Scarpa stets verfolgte, wird noch bis heute beim Umbau und bei der Erweiterung von Museen praktiziert. Als exemplarischer Beweis dafür darf das 2003 vollendete Projekt der Kunsthalle St. Annen in Lübeck27 gelten (Konermann – Pawlik – Siegmund). In der Tat gibt es nur relativ wenige Projekte, die verdeutlichen, dass sie von den Prinzipien Carlo Scarpas direkt inspiriert worden sind. Hierzu gehören etwa Karljosef Schattners Diözesanmuseum (1979-82) und Juramuseum (1973-76) in Eichstätt und in gewissem Grad bestimmte Museen in Norditalien, das Museo di Sant’Agostino (1965-1992) in Genua, die Musei Civici (Museo Archeologico und Museo d’Arte Medioevale e Moderna) (1969-86) an der Piazza Eremitani in Padua (Franco Albini – Franca Helg – Antonio Piva – Marco Albini), das Museo
27 Zum Projekt vgl. Thorsten Rodiek: Kunsthalle St. Annen in Lübeck. Hamburg 2003, S. 6-18 und Jens Rönnau: Aus Alt mach Neu. Über den kreativen Umgang mit historischer Architektur in Lübeck. In: Das Museumsmagazin. 2. März 2004, S. 22-23.
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Marino Marini (1974-1985) in Mailand (Albini – Helg – Piva) und Arrigo Rudis Museo Lapidario Maffeiano (1976-1982) in Verona.28 Insbesondere der Architekt Schattner hat freimütig betont, Scarpa als Vorbild gehabt zu haben. Folglich ist der Rückgriff auf dessen Prinzipien in dem Ergebnis der bereits erwähnten Projekte Schattners auch deutlich feststellbar.29 In Arrigo Rudis Restaurierungs- und Ausstellungsprojekt ist eine Ähnlichkeit in der Form der raumbildenden Elemente des Museums mit denen Scarpas zu erkennen. Auch die Präsentationsvorrichtungen sind von der Aufstellung groß- und kleinformatiger Exponate aus Stein im Castelvecchio inspiriert. Die Verwandtschaft im Stil überrascht nicht, wenn man bedenkt, dass Rudi Scarpas Mitarbeiter im Castelvecchio war. Im Fall der vom Architektenteam F. Albini – Helg – Piva – M. Albini konzipierten Projekte muss man Franco Albinis Teilnahme besonders berücksichtigen. Der Vater Albini restaurierte italienische Museen in historischen Gebäuden und gestaltete Dauerausstellungen in ihnen schon seit den 1950er Jahren. Seine Vorgehensweise hinsichtlich der Art der Präsentation der Exponate und des Umgangs mit der historischen Bausubstanz ist in vielen Aspekten der Methode Scarpas benachbart, beispielsweise im Museo di Palazzo Bianco (195051) und Palazzo Rosso in Genua (1953-61).30 Die Gemeinsamkeiten in der Konzeption und Ausführung der Projekte schließen eine gegenseitige Beeinflussung nicht aus. Man kann jedoch in Scarpas Dauerausstellungen eine intensivere Aufarbeitung der verfolgten theoretischen Prinzipien spüren. Ein noch tiefer reichender Einfluss der Scarpaschen Prinzipien lässt sich im Bereich der Ausstellungsgestaltung zeigen. Auf die Berücksichtigung von Komponenten wie Raumgestaltung, Lichtverhältnisse, Raumfolgen, die zu einem abwechslungsreichen und interessanten Museumserlebnis führen, wurde und wird fast stets zurück gegriffen, wie auch auf den Versuch, interaktive Beziehungen zwischen Besucher, Museumsbau, Exponat und Ausstellungsraum zu schaffen. Dabei stehen durchgängig Kunstmuseen im Vordergrund. Hier muss der zugrunde liegende Kunstbegriff allerdings relativ weit gefasst werden: Als Kunstobjekte gelten an dieser Stelle auch archäologische Funde, Objekte aus der vorund frühgeschichtlichen Epochen bis hin zur klassischen Zeit und zum Mittelalter, ebenso kirchliche Skulpturen, Altäre und liturgische Geräte. Folglich sind archäologische und Diözesanmuseen, wie auch Gemäldegalerien, die häufigsten Orte, an denen auf die von Scarpa entwickelten Prinzipien des Ausstellens zu28 Die Standorte der italienischen Museen überraschen nicht, wenn man bedenkt, dass auch Scarpas Dauerausstellungsprojekte in Norditalien ausgeführt wurden. 29 Vgl. Manfred Sack: Neubauten und Eingriffe in historische Bausubstanz. Umbau und Adaption für neue Nutzungen. Acht Beispiele. Umbau des Kipfenberger Speichers zum Diözesanmuseum. Gespräch mit Karljosef Schattner. In: Ulrich Conrads und Manfred Sack mit Günther Kühne (Hg.): Karljosef Schattner. Eichstätt. Braunschweig/Wiesbaden 2003, S. 32-43, hier S. 42. Zu Schattners Projekten vgl. auch Wolfgang Pehnt: Karljosef Schattner. Ein Architekt aus Eichstätt. Stuttgart 1988. 30 Michael Brawne: Neue Museen. Planung und Einrichtung. Stuttgart 1965, S. 63f.
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rückgegriffen worden ist. Interessanterweise gilt besonders für Italien, dass meistens in der Präsentation städtischer Sammlungen, in historischen Gebäuden mit Symbolcharakter für die Städte, solche Ausstellungskonzeptionen gewählt werden, die an Scarpas Lösungen erinnern.31 Ein Vergleich der historischen Bedeutung solcher Museumsgebäude zeigt, dass auch Scarpa gern in repräsentativen Gebäuden der jeweiligen Stadt gearbeitet hat (Castelvecchio, Gallerie del’ Accademia, Museo Correr, Ca’d’Oro, Gypsotheca, Palazzo Abatellis). Obwohl in den Jahrzehnten nach Scarpas Schaffen vielfach auf seine theoretischen Prinzipien zurück gegriffen wurde, betraf dies nicht alle Facetten gleichermaßen. Auch diejenigen Momente, die in späteren Beispielen überlebt haben, wurden zudem nach der vorherrschenden Ästhetik, den jeweiligen Bedürfnissen des Projektes, nach dem Kunstverständnis des Architekten oder Gestalters und nach den museographischen Tendenzen der jeweiligen Epoche modifiziert. Trotzdem bestätigen auch diese Arbeiten, dass Scarpas Projekte auf die weitere Museumsarchitektur und Ausstellungsgestaltung bis heute eingewirkt haben. Carlo Scarpa war einer der wenigen Architekten, die beim Umbau bzw. bei der Erweiterung schon existierender Museen in historischen Gebäuden nicht nur die baulichen Maßnahmen zur Realisierung des Projektes bestimmen durften, sondern auch während des Auswahlprozesses der zur Präsentation geeigneten Exponate aktiv mit entscheiden konnten. Ferner bestimmte er ihre Aufstellung im Raum selbst und interpretierte dann die Exponate allein durch seine Inszenierungen. Im Regelfall dürften die Museumsleiter und Ausstellungskuratoren mit Berechtigung häufig reserviert gegenüber Architekten sein, die einen Auftrag im Museum erhalten,32 vor allen Dingen dann, wenn die Kooperation sich auf die Gestaltung der Dauerausstellung erstreckt. Ein Grund für diese kritische Haltung ist die wohl im Beruf des Architekten angelegte Tendenz, mit Berufung auf seine künstlerische Identität das ihm vorgegebene Wirkungsfeld zu übertreten und die Aufstellung der Exponate sowie die Art ihrer Präsentation zu bestimmen. Diese Aufgaben liegen selbstverständlich normalerweise im Tätigkeitsbereich der Kuratoren. Freilich gibt es auch Museumswissenschaftler, die diese Verpflichtungen gern dem Architekten überlassen und ihm die Freiheit des eigenständigen Agierens in jeder Phase der Gestaltung ohne Bedenken einräumen. Scarpas Freiheit im Bereich der gesamten Ausstellungsgestaltung hing von der explizit geäußerten Kooperationsbereitschaft des jeweiligen Museumsleiters ab. In allen diesen Fällen basierte die Auftragsvergabe nicht auf der Teilnahme an einem öffentlich ausgeschriebenen Architekturwettbewerb, sondern auf persönlichen freundschaftlichen Beziehungen oder Übereinstimmungen hinsichtlich 31 Josep Maria Montaner: Neue Museen. Räume für Kunst und Kultur. Stuttgart 1990, S. 137. 32 Reinholf Baumstark: Schale und Kern. Der moderne Museumsbau im Spannungsfeld der Ansprüche von Architekt und Nutzer. In: Museumskunde. Bd. 68 (2003), H. 2, S. 22-27.
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der Museumsgestaltung. Dieser Vorgang erlaubte jeweils eine stufenweise Entwicklung des Projektes, die dem Architekten die Zeit gab, sich mit der Baugeschichte des Museums intensiver auseinander zu setzen und auch die zur Präsentation ausgewählten Kunstwerke kennen zu lernen und tiefer zu verstehen. Dagegen werden heute meistens unter Zeitdruck und nach festen Vorgaben hinsichtlich der Kosten und oft auch der Gestaltung die Aufträge vergeben. Das Ergebnis ist eine von der Entwurfsphase bis zur Ausführung durchrationalisierte Lösung,33 die besonders in der Form der Präsentationsvorrichtungen deutlich zum Ausdruck kommt. Diese gehorchen in den meisten Dauerausstellungen in der Regel dem Rasterprinzip. In solchen Fällen werden für die jeweilige Kategorie von Exponaten gleichförmige Träger entworfen. Daraus bilden sich modulare Systeme. Gleiches Material und gleiche Farbtöne bestimmen weitgehend das Aussehen der Träger. Erklärtes Ziel ist eine größtmögliche Flexibilität in der Verwendung der Träger für die Präsentation von anderen Exponatgruppen und in der Form anderer als der ursprünglichen Zusammenstellungen. Scarpas individuelle Lösungen dagegen bestimmten aufgrund seiner intensiven Auseinandersetzung mit dem Objekt und den äußeren Komponenten – Eigenschaften des Raumes, des einfallenden Lichtes, der Farbgestaltung der Wände – die Wahrnehmung von Besonderheiten der Exponate. Probestellungen im Raum, um die Wirkung des Lichtes auf das jeweilige Exponat möglichst ideal zu regeln, und Fotomontagen, um das künftige Aussehen der Räume vor dem jeweiligen geplanten Eingriff zu testen, sind Methoden, deren sich Scarpa in jedem seiner Dauerausstellungsprojekte bediente. Sichtachsen-Studien zur Erlangung der angestrebten Kommunikation zwischen dem Besucher, dem Exponat und seiner Umgebung, d. h. dem Ausstellungsraum und der umgebenden Landschaft, gehörten auch zu den von Scarpa genutzten Instrumenten. Unzählige Zeichnungen, die den Entwurfsvorgang bis zur fertigen Lösung dokumentieren, zeugen von der Zeit, die Scarpa sich nahm, um nicht nur die Prunkstücke der jeweiligen Sammlung, sondern auch die Kunstwerke von minderer Qualität möglichst ideal zu präsentieren. Seine profunden Kenntnisse der Geschichte und Kunstgeschichte wie auch seine Fähigkeit, die formalen und farblichen Qualitäten der Kunstwerke nach ihrer Erarbeitung mit Hilfe von kombinierten architektonischen und gestalterischen Mitteln zu visualisieren, trugen ebenfalls dazu bei, durchdachte Konzepte zu entwickeln und mit Erfolg umzusetzen. Die Tatsache, dass ihm ein erweitertes Wirkungsfeld, quasi als Kurator bei seinen Dauerausstellungsprojekten zu agieren, geboten wurde, erlaubte Scarpa, auf allen Ebenen der Gestaltung eines Museums oder einer Ausstellung zu intervenieren und durch seine Eingriffe enge, allerdings mehr oder minder subjektiv bestimmte Beziehungen zwischen den Komponenten, die das Museumserlebnis 33 Detlef Hoffmann: Weg vom Raster, für Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit. In: Mitteilungsblatt Museumsverband Niedersachsen Bremen. Bd. 58 (1999), S. 41-46, hier S. 43f.
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bestimmen, herzustellen. Er schuf Museumsbauten und Dauerausstellungen, die vor- und leitbildhaften Charakter jeweils in dem Bereich der Museumsarchitektur, im historischen Kontext und der Ausstellungsgestaltung besitzen. Trotz dieses vorbildhaften Charakters weisen Scarpas Projekte in beiden bereits erwähnten Bereichen Kritik herausfordernde Punkte auf. Als wichtigster Kritikpunkt gilt die Tatsache, dass Scarpa durch seine Eingriffe sowohl das Museum als Bau als auch die Ausstellung im Hinblick auf ihr Design und ihren Bestand an Exponaten zementiert, in ihren Möglichkeiten festschreibt und damit einengt. Weil er das Museumsgebäude in engem Zusammenhang mit den Exponaten sieht und beide Elemente zu einer harmonischen Einheit zu bringen versucht, haben seine Eingriffe ganzheitlichen Charakter. Die Innenraumstrukturen werden im Dienst der Inszenierung der Werke eingesetzt und entsprechend umgestaltet. Dadurch stellt Scarpa den Bau und seine Geschichte zusammen mit den Werken, die er beherbergt, nahezu gleichwertig aus. Das Problem wird virulent, wenn nach Ablauf einer bestimmten Zeit Änderungswünsche seitens des Museums bestehen oder Adaptionen gemacht werden sollen. Diese der Institution Museum innewohnende Eigenschaft sollte eigentlich stets im Hinterkopf des jeweiligen Architekten oder Gestalters während der Entwurfsphase vorhanden sein. Die Einrichtungen sollten bis zu einem gewissen Grad flexibel genug für künftige Veränderungen sein, und die Eingriffe, die in Form von Inszenierungen durch architektonische Mittel eingesetzt werden, sollten reversibel sein. Scarpas Eingriffen fehlt genau diese Eigenschaft, denn sie haben einen endgültigen, einen permanenten Charakter. Die kostbaren Materialien, die er dafür verwendet hat, strahlen kein Gefühl der Vergänglichkeit aus, sondern wurden generell so gestaltet, dass sie ein integrales Element des jeweiligen gebauten Raumes werden. Seine Präsentationsvorrichtungen sind häufig so einzigartig in ihrem Design, dass der Gesamteindruck, würden sie durch neue ersetzt werden, empfindlich gestört wäre. Ferner ist eine Nutzung der Exponatträger Scarpas zur Präsentation von Werken, die von der ursprünglichen Konzeption abweichen, in den meisten Fällen nicht möglich, weil der Architekt diese Träger individuell für jedes einzelne Werk entwarf. In den Museen, in denen Scarpa seinen gestalterischen Einfluss geltend machte, fällt es den Ausstellungskuratoren seitdem sehr schwer, weiter reichende Veränderungen für neue Projekte und Ausstellungen vorzunehmen. Wenn heute der Wunsch besteht, eine der beiden Komponenten – Raum oder Exponat – zu ändern, wird das gesamte Konzept zerstört. Ein weiterer Kritikpunkt im Hinblick auf das Ausstellungsprinzip Scarpas ist die generelle Konzeption der Beziehung zwischen dem Exponat und seinem Träger. Die Einrichtungen, die Scarpa zur Präsentation von Kunstwerken entwarf, besitzen einen starken Eigenwert dadurch, dass sie vom Architekten mit großer Sorgfalt hinsichtlich ihres Materials und ihrer Anfertigung entworfen worden sind. In vielen Fällen fungieren die Sockel, Vitrinen, Rahmen, wie auch die Halterungen und die Unterzüge in Scarpas Ausstellungen selbst als Exponate. Sie
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sind Designobjekte von besonderem künstlerischen und ästhetischen Wert, die oft den Blick des Besuchers, statt auf das präsentierte Werk, auf sich selbst lenken.34 In dieser Hinsicht könnte man wohl von einer Konkurrenz zwischen dem Exponat und der Ausstellungseinrichtung zu seiner Präsentation sprechen. Es muss jedoch zugleich betont werden, dass, obwohl Scarpas Kreationen den individuellen Stil ihres Schöpfers zum Ausdruck bringen, sie zugleich eng auf formaler und materieller Ebene mit dem Kunstwerk kommunizieren, eine Eigenschaft, die in anderen Dauerausstellungen selten vorkommt. Der dritte Kritikpunkt betrifft Scarpas Mittel der Kunstinterpretation in seinen Dauerausstellungen, die Inszenierung und ihre Funktion als Instrument der Ausstellungsdidaktik. Die Inszenierung wird seit Jahrzehnten in der Ausstellungspraxis verwendet. Seit den 1970er Jahren nimmt die verbale Interpretation35 als Vermittlungsstrategie eine wichtige Rolle in der Ausstellungsgestaltung ein. Diese Art und Weise des Ausstellens führte jedoch oft zu extremen Situationen, bei denen das Exponat sich „in der Rolle einer Illustration inmitten von Texten seiner interpretatorischen Aufbereitung“36 befand. Scarpa dagegen verzichtete stets auf jegliche Erklärung und didaktische Mittel in seinen Dauerausstellungen. In seinem Versuch, die ästhetische Qualität des Objektes durch die individuell zu seiner Präsentation entworfenen Exponatträger hervorzuheben, interpretierte er jedes Kunstwerk. Durch die genau berechnete Blickrichtung lenkte er die Konzentration des Besuchers auf diejenigen Elemente, die er für wichtig hielt. Er forderte den Besucher auf, mit seinen Augen zu sehen und nicht nur die ausgestellte Kunst, sondern auch seine Kunstgriffe zu verstehen. Da Scarpa in seinen Ausstellungsinszenierungen auch die Geschichte des jeweiligen Gebäudes einbezog, muss auch der Eingriff in die historische Bausubstanz als Interpretation in diesem Zusammenhang berücksichtigt werden. Wie es aber einem Laien bei einer Kunstausstellung nicht leicht fällt, sich dem ausgestellten Objekt „anzunähern“ und es zu verstehen, so ist es für einen Besucher ohne Vorkenntnisse der Baugeschichte des jeweiligen Museumsbaus ebenso schwierig, Scarpas Interpretation der Geschichte zu entschlüsseln. Hier muss man rückblickend eher sagen, dass in vielen Fällen der Eingriff des Architekten weder als solcher noch als Interpretation wahrgenommen wird. Die Methode, dem Besucher als Möglichkeit der Erschließung der Kunstwerke ausschließlich und ständig ein einziges Interpretationsmittel – bei Scarpa ist das die Inszenierung – anzubieten, muss heute als historische Lösung betrachtet werden, unabhängig davon, welche renaissanceartigen Tendenzen in der Gegenwart zu beobachten sind. Eine Inszenierung, die nicht von Ausstellungstexten 34 Vgl. Montaner (wie Anm. 31), S. 24. 35 Johannes Cladders: Inszenierung von Kunst durch Ausstellungsarchitektur. Gedanken zur Kunstinterpretation. In: Achim Preiß, Karl Stamm und Frank Günter Zehnder (Hg.): Das Museum. Die Entwicklung in den 80er Jahren. Festschrift für Hugo Borger zum 65. Geburtstag. München 1990, S. 387-392. 36 Ebd., S. 388f.
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begleitet wird, erleichtert nicht die Betrachtung der ausgestellten Werke und vermittelt dem Besucher nur eine einzige, ganz besondere Sehweise. Andererseits kann jede Verwendung von Begleittexten oder gar flankierenden Medien einengend oder ablenkend wirken. Eine Inszenierung, die ausführlich erklärt wird, lässt dem Besucher keine Möglichkeit, durch eigene Reflexion das Exponat zu interpretieren und seine Aussage in dem Kontext der Ausstellung aufzuspüren. Scarpa gestaltete seine Dauerausstellungen immer mit Hilfe einer einzigen Inszenierungsart. Trotz dieser Einseitigkeit bleibt die Reise in seine Welt ein besonderes Museumserlebnis. Wenn man Scarpas theoretische Prinzipien im Hinblick auf ihre Langzeitwirkung auf das Museums- und Ausstellungsdesign betrachtet, stellt man fest, dass sie unterschiedlich kombiniert und je nach Projekt entsprechend modifiziert vielerorts realisiert und erhalten worden sind. Scarpas Instrumentarium zur Präsentation der Exponate wird zwar in vielen Variationen, die von dominanten bis zu raffinierten Lösungen reichen, verwendet, aber die Einzelteile tauchen in den meisten Projekten als Komponente eines modularen Systems auf, das überwiegend aus industriell vorgefertigten Materialien gebaut wird und nicht mehr den von Scarpa geschätzten handwerklichen Charakter aufweist. Mit seinen Umbauten von Museen hat Carlo Scarpa aufgezeigt, dass es durchaus möglich ist, historische Gebäude auf neue und andere Weise als Museumsräume zu nutzen, so dass sie nicht nur als Hülle fungieren, sondern in einem inszenatorischen Spiel eine beachtliche Rolle spielen. Aus Scarpas Schaffen darf sicherlich gelernt werden, dass jedes Museum in einem historischen Gebäude dessen Geschichte und materiellen und räumlichen Kontext mit zu berücksichtigen hat. Unabhängig davon, ob neue Konzeptionen sich der alten Bausubstanz anpassen, unterordnen, sie zitieren, rekonstruieren oder bewusst kontrastieren: Sie sollten im Anschluss an Scarpa jedenfalls immer als eine Antwort auf den Charakter des Gebäudes entworfen werden.37 Mit seinen Dauerausstellungsprojekten hat Scarpa grundsätzlich zwei Botschaften vermittelt: Es lohnt sich erstens, das Objekt ernst zu nehmen und sich mit ihm und der Art seiner Präsentation intensiver auseinander zu setzen, auch wenn das Objekt nicht von großem ästhetischem oder materiellem Wert ist. Als zweite Botschaft Scarpas darf gelten, dass jede durchdachte Dauerausstellung einen eigenen Charakter besitzen kann, der auf mehreren Ebenen sichtbar wird und verschiedene Elemente, Anregungen, Entdeckungsaspekte und Rezeptionsmöglichkeiten enthält. In welcher Weise auch immer werden Scarpas Botschaften sicher auch weiterhin im Museumswesen nachwirken.
37 Otto Meitinger: Bauen und Bauten in historischer Umgebung. In: architektur + wettbewerbe. Bd. 108 (1981), S. 3-6.
Arc hä ologisc he Musee n zw isc he n Tra dition und Innova tion KAREN AYDIN Deutsche Museen und Ausstellungen wurden in den letzten Jahrzehnten von immer wieder neuen Innovationswellen erfasst. Es scheint so, als habe sich die Museumslandschaft dem allgemeinen, kurzlebigen Trend, der für die Freizeitindustrie festgestellt wird, angepasst. Die Museumsleiter und Ausstellungsgestalter reagieren damit auf das veränderte Rezeptionsverhalten der Besucher und darauf, dass der Gang ins Museum heute keine Selbstverständlichkeit mehr darstellt, sondern dass das Museum sich auf dem Freizeitmarkt in Konkurrenz zu anderen Anbietern kultureller und nicht-kultureller Produkte und Dienstleistungen positionieren muss. Der schnelle Wechsel neuer Zielsetzungen und Ausstellungsarten, vom Museum als Lernort über die Inszenierungswelle und neue Formen wie z. B. szenographische, mediengestützte bzw. medienüberflutete oder eventorientierte Ansätze bis zu dem rückläufigen Trend, sich wieder auf die Objekte selbst zu besinnen, bringt die Museen in Zugzwang und in eine Zwickmühle. Neukonzeptionen von Museen sind teuer und schnell auch wieder veraltet. In der museologischen Fachliteratur werden die Vor- und Nachteile diverser Ausstellungsformen und Präsentationsarten breit diskutiert. Im Vergleich zu historischen, technischen oder kunsthistorischen Museen ist es aber auffällig, wie wenig die Forschung sich bislang den spezifischen Problematiken archäologischer Ausstellungen widmet. Dies ist vor allem aus dem Grund erstaunlich, da der Gebrauch archäologischer Topoi in den Medien und der Unterhaltungsindustrie eine zunehmende Tendenz aufweist und auf eine breite Resonanz bei den Konsumenten stößt.1
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Gemeint sind damit Kinofilme wie Indiana Jones, Die Mumie, Tomb Raider, Fernsehserien wie Relic Hunter und Bücher und deren Hollywood-Verfilmung wie jüngst Michael Crichtons Timeline. Die meisten Dokumentationen (Features) unterscheiden sich hiervon allenfalls graduell. Reißerisch und effekthaschend gestaltet, widmen auch sie sich vorrangig vergangenen Hochkulturen, Schätzen, Mumien und mysteriösen Grabkammern, vgl. Markus Vosteen: Museale Vermittlung ur- und
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Differenziert werden muss zwischen den einzelnen Ausprägungen des Faches Archäologie und ihrer musealen Repräsentation. Die klassische Archäologie orientiert sich in der Tendenz eher an den traditionellen Ausstellungsformen des Kunstmuseums und übersteigert sie sogar teilweise noch in ihrer Fokussierung auf die Aura und die Authentizität des Originals.2 Es sind die großen archäologischen Sonderausstellungen mit ihren kostspieligen und aufwendigen Inszenierungen mit Hilfe von Licht, Farben und unterschiedlichen Materialien, die das öffentliche Bild von der Archäologie im allgemeinen maßgeblich prägen. Sie erregen oft überregionale oder sogar internationale Aufmerksamkeit und präsentieren Exponate von hohem materiellen und künstlerischen Wert. Die Titel werden bewusst mit bestimmten Schlüssel- oder Reizwörtern versehen, die das medial vermittelte Bild der Disziplin Archäologie als einer abenteuerlichen Schatzsuche aufnehmen (Gold, Schatz, Rätsel, Geheimnis, Luxus) und auf diese Weise hohe Besucherzahlen erzielen. Ihre Finanzierung wird häufig durch Sponsoren aus der Industrie sichergestellt.3 Die prähistorische Ausprägung des Faches bietet dem Besucher hingegen ein anderes Bild. Die meisten vor- und frühgeschichtlichen Museen bzw. Abteilungen scheinen sich dem allgemeinen Innovationstrend bislang entzogen zu haben. Hier dominieren die kleinen, durch ihre in vielen Fällen gewählte typo-chronologische Präsentationsform einheitlich wirkenden Abteilungen der stadtgeschichtlichen und Heimatmuseen. Ihr Ziel besteht oftmals in einer lückenlosen Darstellung aller Epochen der Regionalgeschichte. Diese letztere Ausstellungsart betrachten viele Museologen als kennzeichnend für die deutsche archäologische Museumslandschaft. „Alltäglich ist der Entwurf der objektverhafteten Exponatschau, orientiert an der urgeschichtlichen Chronologie wie an der formentypischen Entwicklung der überlieferten Handwerksgeräte, der Keramik, des Schmuckwerkes und der Waffen.“4 Ihr Ansatz bleibt häufig positivistisch und materialbezogen, die Prä-
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frühgeschichtlicher Inhalte. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht Jg. 54, Heft 4 (2003), S. 227-234. „Nowadays museums are not created by archaeologists, but by interior decorators and that is precisely the impression they give“, Martin Schmidt: Archaeology and the German Public. In: Heinrich Härke (Hg.): Archaeology, Ideology and Society. The German Experience. Frankfurt/M. 2000, S. 240-270, hier S. 258. Schmidt (a. a. O., S. 241) stellt daher fest: „The image of the archaeologist in the eyes of the public varies between an adventurer, as it were a combination of Schliemann, Carter and Indiana Jones, and a nerd with a little brush poking around at old bits and pieces”. Die Ursachen für das beharrliche Festhalten an der traditionellen Präsentationsweise sind vielfältig und können an dieser Stelle nicht weiter diskutiert werden. Maßgeblich sind neben finanziellen, personaltechnischen und logistischen Gründen auch politische Erwägungen. So führt Martin Schmidt den positivistischen, materialbezogenen Ansatz vor- und frühgeschichtlicher Museen ursächlich auf den von ihm als solchen bezeichneten „deutschen Missbrauchsmythos“ zurück, der durch die Instrumentalisierung der Vorgeschichte durch die Nationalsozialisten bedingt ist (vgl. ebd.).
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sentationsform reserviert und intentional wertneutral. Das reicht dem Besucher heute nicht mehr aus, denn gerade der Umgang mit der Vorgeschichte im Museum beinhaltet spezifische Problematiken, die eine vermehrte Auseinandersetzung mit der Frage nach einer angemessenen Präsentation erfordern.5 Bei dem Großteil der Besucher ist kein Basiswissen vorauszusetzen, auf dem aufgebaut werden kann. Im Gegensatz zur Geschichte, der Kunstgeschichte und den Naturwissenschaften ist die Archäologie kein Pflichtfach in der Schule, in dem Grundkenntnisse erworben werden könnten. Zudem sind prähistorische Funde oft kleinteilig und wirken auf den ersten Blick auf den Laien, der sie nicht deuten kann, relativ unspektakulär im Gegensatz zu den Exponaten der klassischen Archäologie (gemeint sind hier z. B. Skulpturen, Reliefs, Wandmalereien und Vasen), die durch ihre optische Reizwirkung oft ein höheres Interesse wecken, wenngleich der Erkenntnisgewinn sich im Ergebnis kaum unterscheidet. Im weiteren Vergleich zu historischen oder volkskundlichen Exponaten bedürfen sie durch den größeren zeitlichen Abstand mehr Erläuterungen. „Die langjährig gepflogene Präsentation von Steinbeilen und urzeitlichen Töpfen bestehender Vitrineninhalte vermag dem durchschnittlichen Museumsbesucher schwerlich viel mehr an Informationen zu bieten, als dass eben der steinzeitliche Mensch das Steinbeil besaß und eine gewisse Art von Töpfen formte“.6 Durchbrochen und für den Museumsbesucher dadurch attraktiver gestaltet, wird der Museumsbesuch nach Schema F allenfalls durch die Vorführungen und Mitmachaktionen, die in einigen Museen marketingtechnisch sehr hoch gehängt werden, so dass teilweise jedes Steinbeilbauen und Brotbacken zur experimentellen Archäologie euphemisiert wird. Das genau andere Extrem scheint für viele in der so genannten „Disneyisierung“ archäologischer Museen zu bestehen, ein Trend, der vor allem die Freilichtmuseen erfasst zu haben scheint. Dieser düstere Entwurf einer archäologischen Museumslandschaft zwischen Traditionsverharrung und Disneyland beherrscht die museologische Diskussion um Standort und Stellenwert archäologischer Ausstellungen. In den letzten Jahren ist eine ganze Reihe von archäologischen Ausstellungen neu gestaltet worden. Anhand einiger Beispiele lässt sich zeigen, dass die Alternativen: außerschulischer Lernort oder Disneyland nicht die einzigen Lösungen aus dem Dilemma archäologischer Ausstellungen sind. Archäologische Museen können einen Weg der Loslösung von der traditionellen typo-chronologischen Präsentationsweise finden, der nicht zu einem neuen Einheitsbild führen muss. Die Beispiele seien hier aber nur ganz kurz benannt. 5
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Vosteen (wie Anm. 1), S. 231: „Reichte es vor dreißig Jahren noch aus, die Vitrinen mit einer Anordnung repräsentativer Exponate zu schmücken, das Ganze mit einer Verbreitungskarte zu garnieren und einen kurzen historischen Abriss darzustellen, so erwartet der Kunde heute mehr“. Pertlwieser, Manfred: Frühhallstattzeitliche Wagenbestattungen in Mitterkirchen. In: Prunkwagen und Hügelgrab: Kultur der frühen Eisenzeit von Hallstatt bis Mitterkirchen. Linz o. J., S. 67.
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Das Historische Museum Verden – Domherrenhaus verfügt über eine heterogene stadtgeschichtliche Sammlung, die sich zeitlich von der Vor- und Frühgeschichte bis in die Gegenwart erstreckt. Mitte der 1990er Jahre wurde eine Umgestaltung der prähistorischen Abteilung mit bestimmten inhaltlichen Schwerpunkten, etwa der Präsentation der „Lehringer Funde“, beschlossen und 1998 abgeschlossen.7 Die Konzeption arbeitet mit rekonstruierenden Elementen, aber auch mit Brüchen, die den Besucher irritieren und immer wieder in die museale Realität zurück holen. Das Neanderthalmuseum in Mettmann wurde 1996 eröffnet. Es ist ohne Sammlung entstanden8 und widmet sich dem Thema der Humanevolution. Ausgangspunkt ist der spektakuläre Fund mit Skelettresten eines Neandertalers aus dem Jahr 1856, der mit seiner Rezeptions- und Forschungsgeschichte präsentiert und aufbereitet wird.9 Genutzt werden drei medial unterschiedliche Informationsebenen, bei denen die Exponate (Originale oder Repliken) nicht unbedingt im Mittelpunkt stehen: Installation oder Inszenierung mit höchst wirkungsvollen, wenngleich fachwissenschaftlich durchweg problematischen Rekonstruktionen, Audio-System und PC-Infostand. Nicht systematische Ausgrabungen, sondern die zufällige Entdeckung eines Denarhortes und dreier römischer Schleuderbleie im Jahr 1987 legten den Grundstein für die seit 1989 stattfindenden Grabungen in der KalkrieserNiewedder-Senke und damit für ein europaweit einmaliges Projekt: die Ausgrabung eines antiken Schlachtfeldes. Nachdem die Indizien, es könne sich tatsächlich um den lange gesuchten Ort der Varusschlacht handeln, sich zunehmend verdichtet hatten, erregte das Projekt vermehrt öffentliche Aufmerksamkeit und mündete in das heutige Museum und Park Kalkriese, das im Frühjahr 2002 eröffnet wurde. Das Grundthema ist die Entdeckung Kalkrieses als Ort der Varusschlacht mit der Auswertung des Befundes, durch die Ausstellung führt ein fiktiver Ermittler, wodurch Parallelen zwischen den Disziplinen Archäologie und Kriminologie aufgezeigt werden. Der Besucher erhält einen Einblick in archäologische und naturwissenschaftliche Methoden sowie in die Rezeptionsgeschichte der Hermannsschlacht. Rekonstruierende Elemente sind stark verfremdet und äußerst sparsam eingesetzt. Der Einblick in die Erkenntnisprozesse entmythologisiert sowohl die Ereignisse selbst als auch das vorherrschende Bild der Archäologie als Disziplin. 7
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Björn Emigholz: Einmal Steinzeit und zurück. Neueröffnung der Vorgeschichtsabteilung im Domherrenhaus – Historisches Museum Verden. In: Mitteilungsblatt des Museumsverbandes Niedersachsen und Bremen 57 (1999), S. 53-56, hier S. 54. Eine Besonderheit des Museums ist die Tatsache, dass die Originalfunde auch nicht ausgestellt sind. Sie werden im Rheinischen Landesmuseum in Bonn verwahrt und wurden 2002 erstmalig für kurze Zeit am Originalfundort präsentiert. Vgl. zur Geschichte des Museums und seiner Vorläufer sowie zu den Funden und ihrer Rezeptionsgeschichte Hermann Schwabedissen: Der Neandertalfund und der Plan eines menschheitsgeschichtlichen Museums im Neandertal. In: Archäologische Informationen. Mitteilungen zur Ur- und Frühgeschichte 4 (1978), S. 132-144.
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Das Museum Nienburg verfügt über eine heterogene Sammlung, die von vorund frühgeschichtlichen Exponaten bis zu Objekten aus der Gegenwart reicht. 1999 wurde die archäologische Abteilung umgestaltet und gänzlich dem Thema „Altsachsen“ gewidmet. Die Ausstellung verzichtet auf den Einsatz von Inszenierungen und elektronischen Medien sowie haptischer Elemente. Die Inhalte werden im wesentlichen auf textlicher Ebene unter Zuhilfenahme zweidimensionalen, bildlichen Materials vermittelt. Der Einsatz rekonstruierender Elemente erfolgt sparsam und gezielt. Er dient vor allem der Erläuterung von Fertigungsprozessen (Schmuck, Waffen, Kleidung). Die Beispiele zeigen, dass es in den letzten Jahren in der archäologischen Museumslandschaft Bestrebungen gegeben hat, mit der traditionellen Ausstellungsform, der typo-chronologischen Präsentation, auf unterschiedliche Art und Weise zu brechen. Im Folgenden werden die Ergebnisse der vergleichenden Untersuchung in Thesenform festgehalten. Sie demonstrieren, welche Veränderungen in der Tendenz feststellbar waren. 1. Es findet eine zunehmende Profilierung statt: Die beiden Museen in Mettmann und in Kalkriese stellen eine neue Form archäologischer Museen dar. Sie verfügen nicht über Sammlungen im herkömmlichen Sinne und konzentrieren sich in ihrer Präsentation auf ein Thema. Die Themen sind dazu geeignet, auch überregional Besucher anzuziehen: Mettmann stellt mit dem Thema Humanevolution einen direkten Bezug zum Menschen her, und Kalkriese greift mit und in seiner Präsentation der Grabungsergebnisse den Mythos „Varusschlacht“ auf. Es sind vor allem die Inhalte, welche die Museen interessant erscheinen lassen, nicht der Verweis auf bedeutende oder materiell und ideell wertvolle Exponate. Aber auch in Regionalmuseen findet mittlerweile eine Besinnung und eine Konzentration auf das Besondere statt, welches sie von anderen, ähnlichen Museen unterscheidet. Über lange Zeit hinweg wurde vor allem beklagt, dass die archäologischen Abteilungen kein Profil aufweisen und deshalb ein einheitliches Bild abgeben würden. Es ist nicht „verständlich, wenn Regionalmuseen versuchen, kleine Landesmuseen mit einem ‘Vollprogramm’ zu sein, mit dem immer gleichartigen Ausstellungskanon von der Altsteinzeit bis zum Mittelalter [...]. Die Museumslandschaft wird dadurch ärmer und langweilig. Museen sollten sich mehr auf ihre eigenen Stärken, auf die Vermittlung der originären Schätze aus ihren Sammlungen, besinnen“.10 Die historischen Museen in Verden und Nienburg sind in der Umgestaltung ihrer archäologischen Abteilung durch die Niedersächsische Sparkassenstiftung gefördert worden. „Die Stiftung bietet im Rahmen ihrer allgemeinen Museumsförderung Hilfen für Regionalmuseen mit bedeutenden archäologischen Samm10 Heinz Schirnig: Einmal Steinzeit und zurück. Das Beispiel einer archäologischen Ausstellung in einem Regionalmuseum. In: Museum aktuell 39 (1998), S. 13921393, hier S. 1392.
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lungen an. Es ist ein Förderprogramm zur Differenzierung archäologischer Ausstellungen in Niedersachsen. Ziel der Neugestaltung in den einzelnen Häusern ist es, aus den eigenen Sammlungen abgeleitete Ausstellungsschwerpunkte zu bilden [...]. Individualität und Vielfalt sollen ermöglicht werden“.11 Zwar haben beide Museen nicht auf eine allgemeine archäologische Abteilung verzichtet, doch wurden Schwerpunkte bei den Funden gesetzt, durch die sich ihre Sammlung von der anderer Museen unterscheidet. 2. Die Ausstellungen vermitteln mehr als rein materialbezogene Informationen: Paproth stellte Mitte der achtziger Jahre in seiner Untersuchung archäologischer Museen fest, dass die Vermittlung materialbezogener Informationen im Vordergrund steht. Angaben zum Fundort, der genauen Datierung und der wissenschaftlichen Bezeichnung werden in wenigen Fällen durch Zusatzinformationen unter Zuhilfenahme von Kartenmaterial, Zeichnungen und Graphiken ergänzt. Im wesentlichen besteht der Adressatenkreis aus erwachsenen Besuchern, die aufgrund ihrer Bildung die durch die Objektbeschriftung angebotene Systematik annehmen können.12 Die ausgewählten Beispiele zeigen eine deutliche Veränderung. Die Ausstellungen präsentieren nicht nur Funde, sondern einen Befund, d. h. sie beziehen alle fassbaren Veränderungen, die der Mensch im Boden hinterlassen hat, ein und widmen sich vorrangig den über das Einzelobjekt hinausweisenden Ergebnissen dieser Untersuchung, wozu auch die naturwissenschaftlichen Auswertungen gezählt werden. So werden auch die Vegetation und die Tierwelt, also die naturräumlichen Gegebenheiten, in denen der Mensch lebte und die Art und Weise, wie er mit ihnen umging, einbezogen. Mit diesem Ansatz wird eine umfassende Darstellung des historischen Hintergrundes angestrebt. Mit dem direkten Bezug zum Menschen wird über ein Identifikationsangebot historisches Verständnis ermöglicht und eine breitere Masse von Besuchern angesprochen. 3. Das Einzelobjekt nimmt einen veränderten Stellenwert ein: Aus der veränderten inhaltlichen Zielsetzung resultiert die Tatsache, dass auch die Exponate einen neuen Stellenwert einnehmen. Nicht das Objekt mit seinen materialbezogenen Eigenschaften steht im Mittelpunkt der Betrachtung, sondern der Mensch, der dieses Objekt benutzt hat. Dies bedeutet nicht gezwungenermaßen, dass den Exponaten ein geringerer Stellenwert zukommt oder sie zu reinen Beweisstücken degradiert werden. Die Objekte sind vor allem Mittel zur Erkenntnis. Das heißt, dass auch Exponate, die „nicht schön“ sind und keinen hohen materiellen Wert besitzen, ausgestellt werden, da an ihnen Spuren abgelesen werden können, die der Mensch auf ihnen hinterlassen hat. Auch ortsfeste Denkmäler werden in die Präsentation ein-
11 Schirnig (a. a. O.), S. 1393. 12 Erich Paproth: Museale Vermittlung ur- und frühgeschichtlicher Forschungsergebnisse. Frankfurt/M. 1986, S. 61f.
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bezogen. Der Lackfilm eines Leichenschattens wird beispielsweise in zwei Museen als Exponat ausgestellt und kommentiert. Es wird zudem der Tatsache Rechnung getragen, dass die Objekte sich nicht aus sich selbst heraus erklären. Die Betrachtung des Exponates ist verbunden mit einem komplexen System von Konnotationen und Symboldeutungen. Exponate sind Zeichenträger und ihnen fällt eine bestimmte Bedeutung zu, wenn der Besucher die Zeichen deuten und einordnen kann. Diese unmittelbare Erkenntnis kann aber nur in dem Fall funktionieren, dass der Besucher mit dem Zeichensystem vertraut ist. Auch heute noch begegnet man vielerorts der Auffassung, dass Objekte für sich selbst sprechen können. Der Besucher, der das Museum betritt, betrachtet die ausgestellten Exponate und legt der Interpretation seine eigenen Kenntnisse und seine Erfahrungen zugrunde. Es muss eine gewisse Wissensbasis vorhanden sein, an die er anknüpfen kann. Fehlt diese und gibt die Präsentationsform keine Anhaltspunkte für eine Deutung, so wird diese beliebig.13 Dies gilt insbesondere für archäologische Objekte mit ihrer vergleichsweise großen zeitlichen und kulturellen Distanz zum Betrachter. Diese Erkenntnis wird bei den untersuchten Ausstellungen berücksichtigt, indem man versucht, die Exponate durch ihre Anordnung, durch zusätzliche Erklärungen und durch verschiedene Hilfsmittel den Besuchern verständlich zu machen, ohne sich auf rein materialbezogene Informationen zu beschränken. 4. Archäologische Methoden werden in die Präsentation einbezogen: Mit der zunehmenden Einbeziehung archäologischer Methoden werden die Erkenntnisprozesse für den Besucher sichtbar gemacht. Dies ist vor allem im Hinblick auf die Forderung nach Verdeutlichung der auf Fakten beruhenden und der fiktiven Elemente in der Ausstellung von Bedeutung. Zudem finden auf diese Weise auf der einen Seite eine Entmythisierung des Faches Archäologie und eine Entzauberung der Exponate statt. Auf der anderen Seite erkennt der Besucher, dass Archäologie mehr ist als eine Disziplin, die sich mit der Typisierung und Inventarisierung der Funde beschäftigt. Die Vielseitigkeit des Faches und seiner Objekte wird betont. 5. Es werden vermehrt neue Präsentationsformen eingesetzt: Die reine typochronologische Anordnung der Exponate wird immer stärker durch eine thematische Gliederung der Ausstellung ersetzt, die innerhalb bestimmter Abschnitte oder als Hauptgliederungsprinzip trotzdem noch der Chronologie folgen kann. In Mettmann werden z. B. innerhalb der einzelnen thematischen Abschnitte historische Entwicklungen, Konstanten, Brüche und Unterschiede aufgezeigt, Kalkriese
13 Vgl. dazu Gaynor Kavanagh (Hg.): Making Histories in Museums. London 1996, besonders S. 2 sowie Simon James: Imag(in)ing the Past. The Politics and Practicalities of Reconstructions in the Museum Gallery. In: Nick Merriman (Hg.): Making Early Histories in Museums. London 1999, S. 117-135.
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folgt dem zeitlichen Ablauf der Erarbeitung eines historischen Hintergrundes, der hinter einem Befund steht, und Verden setzt innerhalb einer chronologischen Grobgliederung (Steinzeit, Metallzeiten) thematische Schwerpunkte (z. B. die „neolithische Revolution“, Handwerk oder die „Auswertung von Gräbern“). Die Einzelobjekte werden vermehrt in Zusammenhänge eingebunden. Dies kann über eine Inszenierung geschehen, z. B. durch die Zusammenstellung mehrerer Exponate, mit Rekonstruktionen, Installationen oder mit Hilfe von Medien. Die Inszenierung soll dabei in einigen Fällen weniger Inhalte vermitteln als vielmehr ein Problembewusstsein fördern und es dem Betrachter ermöglichen, zu eigenen Interpretationen zu gelangen und eigene Fragen zu stellen.14 Die Art der Präsentation der Objekte in den einzelnen Museen wird durch das formulierte Ausstellungsziel bedingt. Insgesamt werden immer häufiger Erkenntnisziele statt einer reinen Wissensvermittlung angestrebt. Die verschiedenen Inszenierungen dienen entweder dazu, den Besuchern einen Zusammenhang zu verdeutlichen, oder dazu, sie emotional anzusprechen und dadurch Verständnis für einen bestimmten Sachverhalt hervorzurufen. Auch der gezielte Einsatz von Medien ist ein Element, welches in vielen neuen archäologischen Ausstellungen begegnet. Die Integration audiovisueller und elektronischer Medien in Ausstellungen, die vor etwa 15 Jahren erstmals in Deutschland erfolgte, wurde anfangs unkritisch übernommen, hochgejubelt und setzte schnell Standards. Dieser im Rückblick manchmal eher als spielerisch denn als die Erkenntnis fördernd anzusehende Medieneinsatz wurde schnell zum Selbstzweck. Die Museen wetteiferten in punkto elektronischer Aufrüstung. Heute ist dagegen eher ein rückläufiger Trend zu beobachten, bzw. ein reflektierter Einsatz von Medien auf verschiedenen kognitiven und emotionalen Ebenen. Die Ausstellungen werden durch den Einsatz neuer Präsentationsformen nicht nur kurzweiliger, sie bieten auch neue Sichten auf die Exponate und gestatten es, komplexere Inhalte zu vermitteln und abstrakte Themen zu behandeln. 6. Es findet ein bewusster Umgang mit dem Thema (Re-)Konstruktion statt: Nachdem die archäologischen Museen aus dem Missbrauch der Ausstellungen zu ideologischen Zwecken während des Nationalsozialismus jahrzehntelang die Konsequenz gezogen hatten, auf rekonstruierende Elemente zu verzichten, erfolgt heute in vielen Fällen ein bewusster und reflektierter Umgang mit der Tatsache, dass die dargestellten Inhalte immer auch zumindest bis zu einem gewissen Grad vorläufigen Charakter haben. Dies kann auf ganz unterschiedliche Art erfolgen, entweder mit einem weitgehenden Verzicht auf rekonstruierende Elemente und einer Beschränkung auf die wissenschaftlichen Methoden des Erkenntnisgewinns (Kalkriese), mit dem bewussten Einsatz von Rekonstruktionen, der dem Zweck dient, bestimmte Inhalte zu vermitteln (Mettmann), durch eine Auf14 Ulrich Paatsch: Konzept Inszenierung: inszenierte Ausstellungen – ein neuer Zugang für Bildung im Museum? Ein Leitfaden. Heidelberg 1990, S. 78f.
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klärung des Besuchers über die Vorläufigkeit der Aussagen über historische Ereignisse und Gegebenheiten (Verden; Nienburg) oder über ein Angebot verschiedener Versionen eines Sachverhaltes in der Vergangenheit, der nicht mehr mit Sicherheit rekonstruiert werden kann (Verden). 7. Die Museen beziehen vermehrt Freizeitwerte in ihr Konzept ein: Die über 6.000 Museen und Ausstellungshallen können jährlich ca. 100 Millionen Besucher verzeichnen. Diese auf den ersten Blick beeindruckende Zahl kann aber nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass zwei Drittel der Bevölkerung nicht ins Museum gehen.15 Diese Ablehnung steht in Zusammenhang mit einem überholten Museumsbild, welches vom klassischen deutschen Kunstmuseum geprägt wird. Diese Ausstellungsform spricht hauptsächlich eine Bevölkerungsschicht mit überdurchschnittlichem Bildungsabschluss und Einkommen an. Diese typischen „Museumsmenschen“ unterscheiden sich von den „Alltagsmenschen“, die in ihrer Freizeit anspruchsvolle Unterhaltung suchen. Um neue Besuchergruppen zu erschließen und das Museum für mehr Menschen attraktiv zu machen, beziehen die Museen vermehrt Freizeitwerte in ihr Konzept ein, angefangen bei einer kleinen Cafésituation im Vorraum über ein vielfältiges Angebot im Museumsshop bis zur Integration von Restaurants in das Museumsgebäude, die Ausrichtung spektakulärer Events und Sonderveranstaltungen. Zusammen mit einer Umgestaltung der Ausstellungen werden die Museen zunehmend attraktiver für Personen, die in ihrer Freizeit neben Bildung auch Unterhaltung, Entspannung und Erholung suchen, und treten dadurch in Konkurrenz zu anderen kulturellen Freizeiteinrichtungen. Die Museen entwickeln eigene Marketingstrategien und warten nicht mehr darauf, dass die Besucher Kenntnis von ihnen haben, sondern sie werben aktiv um die Besucher und machen auf ihre Veranstaltungen aufmerksam. Diese Entwicklung muss nicht zwangsläufig in der Entscheidung „Musentempel“ oder „Disneyland“ enden. Die verschiedenen betrachteten Museen gehen unterschiedlich mit dieser Notwendigkeit um. Während die historischen Museen in Verden und Nienburg sich auf die Einrichtung eines kleinen, im wesentlichen auf Literatur begrenzten Museumsshops und auf ein unter pädagogischen Gesichtspunkten entwickeltes Begleitprogramm zur Ausstellung beschränken, wird das rekreative Moment in Kalkriese16 und Mettmann groß geschrieben. Beide 15 Dorothee Dennert: Ethik – Professionalität – Teamarbeit. Museen und ihr Bildungsauftrag. In: Museumskunde 67 (2002), Heft 2, S. 61-67, hier S. 62f. 16 Dieses Verhalten ruft zahlreiche Kritiker auf den Plan. In der letzten Zeit werden aber angesichts der allgemeinen Tendenz auch alteingesessener Museen Stimmen laut, die auf die Vorteile einer gezielten Vermarktung und einer Orientierung an den Besucherinteressen hinweisen. In einem Artikel aus „Die Welt“ (Feuilleton) vom 22.04.2002 heißt es: „In der archäologischen Zunft, die schon über die ReiterExperimente eines Marcus Junkelmann die Nase rümpft, wird man ‚Varus-World‘ sicherlich als Untergang des Abendlandes bezeichnen. Dabei hat jene mit ihrer Öffentlichkeitsscheu selber daran mitgewirkt, die Antike im Elfenbeinturm einzumauern. In einer Zeit, in der die ‚Germania’ nicht mehr zur Pflichtlektüre gehört,
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Museen verfügen neben dem Ausstellungsgebäude über ein Parkgelände, welches von den Besuchern ebenfalls als Naherholungsziel genutzt wird, über ein Café und über einen gut sortierten Museumsshop, in dem neben der Fachliteratur auch zahlreiche Souvenirs erworben werden können. Das Begleitprogramm ist umfangreich und vielfältig, und es werden neben den regelmäßigen Veranstaltungen auch Events umgesetzt. 8. Ein Ausblick auf die Museumslandschaft der Zukunft verspricht mehr Pluralismus und Individualität: Trotz der Gemeinsamkeiten, die in den ausgewählten Beispielen in der Tendenz feststellbar waren, gibt es große Unterschiede. Wenn die Museen beginnen, sich auf ihre individuellen Stärken und Möglichkeiten zu besinnen, Schwerpunkte zu setzen und ihre Präsentationsformen nach ihren eigenen, ausformulierten Zielen ausrichten, wird kein neues, einheitliches und modernes Erscheinungsbild geschaffen, sondern die Museumslandschaft wird vielfältiger.
bietet Kalkriese die Chance, diesen einzureißen. Schließlich finanziert der Park auch die Arbeit der Archäologen und Restauratoren. Dem ‚Kurzen Germanen‘ [ein Kräuterschnaps aus der Varus-Produktlinie] sei Dank“.
Zw isc he n Wunde rka mmer und Pictoria l Turn. Zum Umga ng mit Naturk unde im Muse um a m Beis piel Olde nburg ANETTE DITTEL Ein Krokodil hängt von der Decke – ein Reh springt durch die Wand. Das Krokodil ist Bestandteil der 1698 gegründeten und heute rekonstruiert zugänglichen Wunderkammer der Franckeschen Stiftungen in Halle. Das von Speeren durchbohrte Reh ist Teil einer Installation zum Thema Tierjagd in der 1999 eröffneten Moor-Ausstellung des Landesmuseums für Natur und Mensch in Oldenburg. Die Präsentationsform der beiden Tierpräparate steht sinnbildlich für die aktuelle museumswissenschaftliche Diskussion um das Phänomen Wunderkammer. Auf der einen Seite findet sich die Auseinandersetzung mit dem Ursprung des Museums, den fürstlichen und bürgerlichen Sammlungen der Spätrenaissance und des Barock. Die Kombination und Präsentation von Artefakten und Naturalia aus aller Welt in eigens dafür geschaffenen Wunderkammern fasziniert noch heute und löste zahlreiche Untersuchungen der Intention und Wirkung dieser Präsentationsform aus. Auf der anderen Seite werden Merkmale der Wunderkammer – wie etwa die fächerübergreifende Objektauswahl und ihre ästhetische Darstellungsweise – als zeitgemäß befunden und fließen in die Rekonstruktion alter Sammlungsbestände und in die Neukonzeption von temporären oder Dauerausstellungen ein. Die historische Wunderkammer ist intensiv erforscht worden. Ihre Bedeutung als „modernes“ zeitgenössisches Ausstellungsprinzip bleibt dagegen noch schemenhaft, ist dennoch mit hohen Erwartungen verbunden. So sieht beispielsweise der Architekt und Ausstellungsgestalter HG Merz im Prinzip der Wunderkammer ein Modell gegen „die skandalöse Unterforderung der Ausstellungs- und Museumsbesucher“ und eine Möglichkeit, „Schaulust zu erzeugen und den Blick bereichern“.1 1
HG Merz: Wunderkammer versus Wunderland. In: Hans Dieter Huber, Hubert Locher und Karin Schulte (Hg.): Kunst des Ausstellens. Beiträge, Statements, Diskussionen. Ostfildern-Ruit 2002, S. 281-296, hier S. 293.
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Als das Landesmuseum für Natur und Mensch in Oldenburg den ersten Teil seiner Dauerausstellung Weder See noch Land: Moor – eine verlorene Landschaft neu ausgerichtet hatte, wurde das Ergebnis als „Wunderkammer für jeden, ein demokratisches Kuriositätenkabinett“2 bezeichnet. Damit liegt eine konkrete permanente Ausstellung vor, die als Untersuchungsgegenstand für die Frage dienen kann, ob und wie sich die historische Wunderkammer-Idee auf eine zeitgenössische Ausstellung übertragen lässt und welche Perspektiven sich aus diesem Ansatz ergeben können. Da die entscheidende Gemeinsamkeit in der visuellen Wahrnehmung von Bildern und der Akzeptanz ihrer einzigartigen Wirkung liegt, soll die Theorie des Pictorial Turn von J. W. Mitchell helfen, das Potential einer „modernen Wunderkammer“ zu beurteilen. Dabei wird auf die beiden ersten Bereiche der neu konzeptionierten Dauerausstellung in dem niedersächsischen Landesmuseum in Oldenburg Bezug genommen, auf Moor und Geest als prägende Kulturlandschaften. Auch der dritte Bereich Küste und Marsch ist in der Zwischenzeit fertig gestellt worden, jedoch nicht Teil dieser Untersuchung. Die Neuausrichtung der Dauerausstellung ist interdisziplinär und thematisiert die Integration von Natur- und Kulturgeschichte sowie darin das Werden und Wirken von Mensch und Tier. Als Grundprinzip dient dabei – mit vielfältigen Abwandlungen – eine Szenographie aus Museumsobjekten, Texten, Präsentationsmitteln und –medien sowie Präsentationsobjekten, die im Einzelfall an die Stelle von Museumsobjekten treten können. Der Szenographie liegt ein künstlerisches Gesamtkonzept der Künstlergruppe Parameter zugrunde, das auf eine eindringliche, erkenntnisbezogene visuelle Wirkung der Ausstellung zielt. Durch kombinatorische Anordnungen sollen, dem Prinzip der Wunderkammer mit ihren Reihungen folgend, visuelle Vergleiche ermöglicht und damit Gemeinsamkeiten und Unterschiede, zuweilen mit Überraschungseffekt, verdeutlicht werden, getreu dem überlieferten Motto: die Welt im Kleinen trotz ihrer Vielfalt als Einheit abzubilden, dabei allerdings den Anspruch enzyklopädischer Vollständigkeit nicht unbedingt beizubehalten. In der neueren museologischen Diskussion gelten besonders die Erkenntnisse und das Vergnügen, die sich aus der rein visuellen Wahrnehmung ergeben, als viel versprechender Ansatz für zukünftige Ausstellungen. „Zahlreiche Schauunternehmungen der letzten Jahre haben sich diesem Prinzip mit Erfolg verpflichtet, und auch die neuere kulturwissenschaftliche Methodenlehre hat das Staunen als Perspektivenerweiterung des hermeneutischen Verstehens und Interpretierens neu entdeckt. Gemeint ist ein Staunen, das nicht der Verzauberung dient, sondern
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Detlef Hoffmann: Moor – eine moderne Wunderkammer. In: Mamoun Fansa: Ausstellung: Weder See noch Land. Moor – eine verlorene Landschaft. 2. Aufl. Oldenburg 1999, S. 18.
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das Neugierde evoziert, Fragen in Gang setzt und Aufmerksamkeiten neu ausrichtet.“3 Bereits die Überwindung der konventionellen Erwartungen an ein Naturkunde-Museum im Sinne eines klassischen Spartenmuseums kann seit etwa 15 Jahren im Oldenburger Museum für Natur und Mensch als Schritt gesehen werden, ein solches Staunen in Gang zu setzen. Von Beginn an waren künstlerische Elemente einer gezielt anregenden, vernetzenden und auch verfremdenden Ästhetisierung mit im Spiel. In der Dauerausstellung fokussieren sich solche Bemühungen im Ziel einer „Wahrnehmung von Zusammenhängen“, die zu Denkanstößen und Erkenntnisgewinn führen soll. Zum Verständnis der Inszenierungs-Methodik sei ein Teil der Moor-Ausstellung hier knapp beschrieben. Der Raum, in dem sie beginnt, ist ein Durchgangsraum und hat mit einem Fenster und drei Übergängen zu anderen Räumen für eine Objektpräsentation ungünstige architektonische Voraussetzungen: Die freie Wandfläche ist gering, aber mit Gemälden, Grafiken, Fotografien und Literaturfragmenten über die gesamte Raumhöhe dicht und eine „Petersburger Hängung“ noch übertreffend bestückt. Zu sehen sind verschiedene Ansichten von Moorlandschaften und Menschen, die darin – teils unter Zwang wie in den Emslandlagern – gearbeitet und gelebt haben. Bei der um ein Vielfaches vergrößerten Abbildung einer Gedichtstrophe („Der Knabe im Moor“ von Annette von Droste-Hülshoff) wurden nicht nur die Handschrift der Dichterin, sondern auch die Farbspritzer des Originals direkt auf die Wand aufgebracht. Die knapp gehaltenen Bildbeschriftungen (ohne Größen- und Materialangaben) befinden sich nicht in direkter Nähe zu den Objekten, sondern sind zentral auf einer Plexiglastafel gebündelt; die Zuordnung erfolgt über eine schematische Darstellung. Auf dieser Tafel lässt sich das komplette Gedicht nachlesen. Im nächsten Raum stößt der Besucher auf die Rauminstallation eines Moorblocks, die zwischen vier gusseisernen Säulen platziert ist und fast bis unter die Decke reicht. Laut nebenstehendem Terminal handelt es sich dabei um das größte jemals gefertigte Moorpräparat, für das einzelne, großflächige Torfplatten auf ein Stahlgerüst montiert wurden. Der Moorblock mit seinen verschiedenen eingelassenen Objekten (unter anderem den berühmten Moorleichen) und Informationen erfordert vom Besucher eine aktive körperliche Auseinandersetzung (Umrunden, Bücken, Strecken). Eine benachbarte Collage, die aus schwarzweißen Fotos und dem Textelement „Pst“ montiert ist, fordert ohne nähere Spezifizierung den Besucher dazu auf, das Motiv eigenständig aufgrund vergleichbarer bekannter Bilder zu dechiffrieren: Gezeigt werden Baracken des Konzentrationsla-
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Gottfried Korff: Das Popularisierungs-Dilemma. In: Deutscher Museumsbund (Hg.): Szenographie – zur Zukunft der gestalteten Ausstellung. Museumskunde Bd. 66. Dresden 2001, S. 13-20, hier S. 18. Vgl. zum Gesamtkomplex des Themas auch Horst Bredekamp: Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte. Berlin 1993.
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gers Esterwegen im Moor („Moorsoldaten“), das von 1933 bis 1936 nach Dachau das zweitgrößte Konzentrationslager in Deutschland war. Es folgen eine Collage mit Hintergrundwissen zum Moorblock, ein unvollständiges Moor-Alphabet mit Einzelobjekten sowie ein Panorama mit einer idyllischen Landschaftsansicht, die sich beim näheren Hinsehen nicht als fotografische Abbildung, sondern als künstlerischer Entwurf einer idealisierten und sowohl unter historischen Gesichtspunkten als auch unter Berücksichtigung der Umwelteinflüsse unrealistischen „Landschaft“ entpuppt. Vermittelt wird ein deutlicher Unterschied zu historischen Panoramen, deren Attraktivität aus der täuschend echten Nachahmung bestand und durch Mittel wie die perspektivische Raumkrümmung jegliche Beeinträchtigung der fiktiven Situationswahrnehmung vermeiden sollte. Das Thema Bohlenwege über das Moor wird mit schematischen Zeichnungen abgehandelt, bevor mit digitalen medialen Mitteln auf Bildschirmen wissenschaftliche Methoden der Rekonstruktion von Moorobjekten (und – subjekten) erläutert werden. Es schließt sich ein großer Raum zum Thema Flora und Fauna an, der in die kultur- und sozialgeschichtliche sowie fotografische Darstellung der Kultivierung des Moores einmündet. Eine künstlerische Allegorie auf die Vergänglichkeit bildet den Abschluss des Themenbereichs Moor. Charakteristisch für das Gesamtkonzept sind im Überblick die Vielfalt und das Zusammenspiel der gewählten Mittel, Methoden und Medien, mit einem Schwerpunkt auf Collage-Techniken. Die Räumlichkeiten sind nach dem Prinzip eines Tageslichtmuseums offen gehalten. Flure, Treppenhäuser, Übergangs- und Verkehrsräume, aber auch der Baukörper selbst sind in das Konzept einbezogen, was Illusionsempfindungen von vornherein erschwert, aber doch Nähe und teilnehmende Beobachtung ermöglicht. Häufig wird „über Eck“ gearbeitet, so dass ein abwechslungsreicher Eindruck entsteht. Die gezeigten Objekte sind grundsätzlich spartenübergreifend nach einem kombinatorischen System angeordnet: Exponate aus Naturkunde und Archäologie, Geschichte, Wissenschaft und Kunst sind unter Ergänzung textlicher, grafischer und dreidimensionaler Zusatzinformationen kombiniert. Die Objektgruppen wirken in sich geschlossen, stehen gleichwertig nebeneinander und scheinen durch keine lineare Narration mit einander verbunden zu sein, allerdings gibt es vielerorts Sichtbezüge. Dennoch bleiben innerhalb der gewählten Präsentation auch fragmentarische Reste, die als reflexive Elemente bewusst machen sollen, dass auch wissenschaftliche Erforschung und museale Darstellung bis zu einem gewissen Grad immer bruchstückhaft sind und bleiben. An solchen Stellen wird gewollt nur der Charakter einer Annäherung angestrebt, etwa wenn das Moor-Alphabet in seiner Unvollständigkeit ins Auge springt. Die seit längerem praktizierte alphabetische Sortierung in Ausstellungen steht in der Tradition des Anspruchs, Wissen enzyklopädisch zu bündeln4, durchaus im Sinne der Wunderkammer, und dient immer 4
Vgl. Barbara Segelken: Sammlungsgeschichte zwischen Leibniz und Humboldt. Die königlichen Sammlungen im Kontext der akademischen Institutionen. In: Horst
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wieder als Ordnungssystem (Daniel Spoerris Idee des Musée Sentimental; „Baden-Württemberg Alphabet“ im Haus der Geschichte in Stuttgart). Doch verweisen an dieser Stelle der unabgeschlossene Zyklus und die willkürlich gewählt erscheinenden Ordnungsbegriffe auf etwas Anderes: Sie thematisieren das Ordnungssystem als solches und dechiffrieren es somit als künstlich geschaffen. Hinsichtlich der Präsentationsmittel sind deutliche Abstufungen vorgenommen worden, von begleitenden Ergänzungen bis zu markanten, zentralen Installationen in der Mitte der Ausstellungsräume, die den Gesamteindruck dominieren und die Aufmerksamkeit der Besucher besonders stark anziehen. Die gesamte Ausstellung ist eine Komposition aus individuell erstellten Lösungen. Dazu gehört der Umgang mit Kunstwerken wie Gemälden oder Grafiken, der gängigen Konventionen (Augenhöhe, Abstände, etc.) widerspricht und visuelle Überlagerungen und Transformationen möglich macht. So wird etwa die Geschichte der Moorkultivierung im Grunde aus der Tradition der Historienmalerei heraus beschrieben und bildet dabei ein eigenes Kunstobjekt, das die Ausstellungs- und Erkenntnisebenen maßgeblich erweitert. Und dazu gehört auch das Prinzip, mit Standort- und Perspektivwechseln eine durchgängige Erweiterung der Sehgewohnheiten zu schaffen oder zumindest anzuregen, einschließlich der Infragestellung von wissenschaftlichen Ergebnissen. Über das spontane optische Erlebnis hinweg gelingt es zumindest in mehreren Fällen, einen hohen Abstraktionsgrad und zuweilen mehrdeutige Versinnbildlichungen zu erreichen. Dem gegenüber – und gleichzeitig dazu passend – tritt die textliche Information in dieser Ausstellung generell in den Hintergrund. Das bedeutet aber nicht, dass von der Prämisse der Selbsterklärungsfähigkeit der Inszenierung und Objekte ausgegangen wird; Erläuterungstexte sind dort vorhanden, wo Verstehensprobleme auftreten könnten und sich im Regelfall Informationsbedürfnis einstellt. Die neue Dauerausstellung ist, so darf als Fazit formuliert werden, durchaus als eine moderne Wunderkammer unter neuen Vorzeichen anzusprechen. Ihr gestalterischer Umgang mit Räumen, Objekten und Texten sowie mit zwei- und dreidimensionalen Präsentationsmitteln wirkt überraschend und entspricht nicht den Konventionen einer naturkundlichen oder archäologischen, „systematisch“ aufgebauten Dauerausstellung. Die Museumsobjekte stehen an keiner Stelle für sich allein: Sie beziehen sich aufeinander und sind in den Gesamtkontext der Darstellung der Facetten einer Natur- und Kulturlandschaft eingebettet. Die Rekontextualisierung erfolgt nur bis zu einem gewissen Grad über textliche Informationen. In weit höherem Maße und mit größerer ästhetischer Präsenz werden dazu dreidimensionale Medien eingesetzt. Kein Element – ob Raum oder technische Einbauten, Vitrine oder Text – bleibt von der Gestaltung ausgenommen. Alle zusammen tragen ihren Teil Bredekamp, Jochen Weber und Cornelia Weber (Hg.): Theater der Natur und Kunst. Theatrum naturae et artis. Essays. Wunderkammern des Wissens. Bd. 1. Berlin 2000, S. 44-51, hier S. 49.
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zur Gesamtaussage bei. Obwohl sich die Präsentationsfläche über zwei Stockwerke erstreckt, kommt es zu keinen deutlich sichtbaren Wiederholungen: Jede Objektgruppe wird individuell in eigens dafür entwickelten Lösungen präsentiert. Lediglich der grundlegende gestalterische Ansatz findet sich in unterschiedlichen Formen wieder und wird dadurch betont. Trotz der starken Bildersprache ist kein Bestreben zu erkennen, eine Imitation eines außerhalb des Museums liegenden Bezugsortes zu erreichen. Das Museum verankert sich stets selbst, indem es sich als Ort und seine Methoden offen legt, thematisiert und hinterfragt. Dieser Effekt wird erreicht durch die offene Architektur und die Bezüge zur Außenwelt, die Thematisierung der Ordnungskriterien, die fragmentarischen, einander ergänzenden Montagen, den Einblick in wissenschaftliches Arbeiten, die deutlich subjektiv geprägte Absenderkennung der Gestalter und die Aufforderung an den Besucher, auch seine Rolle als Besucher zu verlassen und eine andere Perspektive einzunehmen. In dieser Selbstreflexion liegt letzten Endes der entscheidende Unterschied zu den sonst so zahlreichen Übereinstimmungen mit dem Ausstellungsprinzip der Wunderkammer. Mit der interdisziplinären Objektanordnung und der raumgreifenden Gestaltung entspricht die Ausstellung mit grundlegenden Elementen denen der historischen Wunderkammer. Allerdings sind diese Elemente mit anderen Intentionen verbunden: Denn der historischen Wunderkammer lag die Überzeugung zu Grunde, die ganze Welt in einem Raum abbilden zu können. In der neuen Dauerausstellung im Museum Natur und Mensch in Oldenburg dagegen wird keine feste Ordnung mehr dargestellt. Die die kombinatorische und fragmentarische Objektgruppierung sowie die individuellen Gestaltungslösungen spiegeln eine offene und bewegliche statt einer festen Weltordnung wider. Über die visuelle Wahrnehmung können von bewusst gestalteten Raumbildern Denkprozesse angestoßen werden. Diese neue „Wunderkammer“ greift Elemente des historischen Vorbilds auf, entwickelt sie aber im Zusammenhang mit aktuellen Diskussionen um die menschliche Wahrnehmung und die Bedeutung von Bildern weiter. Dies leitet über zu einem abschließenden Blick auf den Pictorial Turn in seiner Bedeutung für das Museum. Mitchell5 konstatierte 1997 eine Bildwende und forderte vor dem Hintergrund der zunehmenden Bilderflut, Bilder ernster zu nehmen und ihre Wirkung kritisch zu hinterfragen.6 Sein Ansatz löste eine breite Diskussion aus, in welchem Maße sich durch neue bildgebende und -verbreitende Techniken bereits ein Wandel von der Wissens- zur Bildgesellschaft vollzogen hat, und welche Mittel adäquat wären, um ihre Funktion und Wirkung zu analysieren, damit sie keine unkontrollierbare Macht darstellten.
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Vgl. W. J. Mitchell (in deutscher Übersetzung): Der Pictorial Turn. In: Christian Kravagna (Hg.): Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur. Berlin 1997, S. 15-40. Vgl. auch Martin Schulz: Ordnungen der Bilder. Eine Einführung in die Bildwissenschaft. München 2005, S. 92.
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Ein Ziel besteht darin, die den Bildern innewohnende Bedeutung dem Erkenntnisgewinn über sprachliche Mittel gleichzustellen: „Der pictorial wie der iconic turn sind insbesondere als Kritik an der Vorherrschaft der sprachanalytischen Philosophie und des Linguismus zu verstehen, für die sich jede Form der Erkenntnis als ein logisches Problem der Sprache darstellt und die daher, in ihren strukturalistischen Erweiterungen, alle kulturellen Phänomene als Texte auffassen und entsprechend interpretieren können. Stattdessen wird, jenseits des TextParadigmas, eine stärkere Sensibilität und ein genaueres Verständnis des Eigensinns der Bilder und ihrer nicht-sprachlichen Leistung gefordert.“ Es sollen „nicht mehr ausschließlich ‚Kultur als Text‘, sondern Kultur stärker in ihren bildlichen Manifestationen verstanden und neben die alte Metapher der ‚Lesbarkeit der Welt’ die der Sichtbarkeit und, genauer, die der ‚Bildlichkeit der Welt’ gestellt werden.“7 Das Landesmuseum für Natur und Mensch in Oldenburg präsentiert in seiner aktuellen Dauerausstellung nicht nur Objekte und Bilder, sondern es gestaltet aktiv und bewusst neue Raumbilder. Auf diese Weise hat es sich von einem objektund bildbewahrenden Medium zu einem bildgenerierenden Medium entwickelt. Damit gewinnt die Diskussion um den Pictorial Turn für das Museum auch an dieser Stelle an Relevanz – und umgekehrt das Museum für den Pictorial Turn. Die im Museum generierten Bilder sind jedoch betont künstlich, lückenhaft und offensichtlich subjektiv geprägt. Die Wahrnehmung eines Bildraums erfolgt an keiner Stelle ohne Rückkopplung zur ausstellenden Institution Museum. Auf diese Weise werden die Bilder im gleichen Moment, wie sie geschaffen werden, bereits reflektiert und hinterfragt. Man kann von Vexierbildern sprechen, die Träger zweier sich abwechselnder Informationen sind: Stehen auf der einen Seite die Präsenz der Museumsobjekte und der Genuss ihrer ästhetischen Einbettung, so werden im nächsten Moment die Form der Präsentation im Museum und die Begrenztheit einer eindeutig zu treffenden historischen und wissenschaftlichen Aussage thematisiert. Durch diese Diskursfähigkeit wird das Museum zu einem zukunftsfähigen Ort, da in ihm die Fähigkeiten zur „Bildkodierung und -dekodierung“8 erlernt werden können. Das breite Angebot an Raumbildern und die Doppeldeutigkeit der Gestaltung bergen summa summarum ein großes Erkenntnispotential in sich, doch wird der Zugang für den Besucher dadurch nur bedingt erleichtert. Zwar werden Objekte und Themen durch Raumbilder anschaulich und wirken anregend. Andererseits fordert dieser Ansatz aber die Bereitschaft des Besuchers, sich abseits der kulturell vertrauten Objektbetrachtung und textlich basierten Zusatzinformationen einem neuen Thema über nie gesehene Bildwelten zu nähern, Zeichnungen auch an der Decke wahrzunehmen oder zuweilen schwer zu entziffernde Texte zu lesen. Ab einem gewissen Punkt – der spätestens mit dem Erreichen der Gegenwart und 7 8
Ebd., S. 11. Korff (wie Anm. 3), S. 16.
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dem Verzicht auf Museumsobjekte erreicht ist – stößt das Landesmuseum aber auch bei der Vermittlung von Inhalten über Bilder an eine Grenze. Die Chance, durch die Abkehr von Konventionen Fragen und Anteilnahme zu evozieren, mag aber die Anstrengungen und Anforderungen an die Besucher aufwiegen. Denn ohne die intellektuelle Herausforderung würde keine neue Diskussion angestoßen werden: „Es geht nicht mehr um das Prinzip der ‚Öffentlichkeit und Verständlichkeit für Jedermann’, das die Popularisierungsbemühungen der Aufklärung angestrebt hatten, sondern um die Konstruktion gemeinsamer und kommunikationsfähiger Bilder, Imagines und Imaginationen, mit denen Orientierungen, Bewertungen, Synthesen und intellektuelle Austauschprozesse möglich sind.“9 Mit den Ausstellungen „Weder See noch Land. Moor – eine verlorene Landschaft“ und „Vom Eise befreit. Geest – reiche Geschichte auf kargem Land“ schafft es das Landesmuseum für Natur und Mensch in Oldenburg, über solche „kommunikationsfähigen Bilder“ Anstöße für eine neue Wahrnehmung der Zusammenhänge zwischen Natur und Mensch in der Region zu geben – nicht mehr, aber auch nicht weniger.
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Ebd.
„Was Ihr w ollt!“ Partizipatorisches Ausstellen aus der Pe rs pektive de r Kunst ve rmittlung ANTJE NEUMANN Partizipatorische Kunstprojekte, wie sie bereits in der russischen Avantgardekunst, in den künstlerischen Artikulationen der Bürgerrechtsbewegungen seit den 1960er Jahren, vor allem aber auch seit den 1990er Jahren diskutiert wurden, werden in Deutschland nur sehr allmählich im Arbeitsfeld der Kunstvermittlung und Museumspädagogik rezipiert. Dies ist verwunderlich, da die in diesen Projekten entwickelten Strategien stark mit den Paradigmen einer kritischen Pädagogik korrespondieren, wie sie auch einer zeitgenössischen Museumspädagogik zugrunde liegen. Die Kunsthalle Wilhelmshaven führte 2004 ein Ausstellungsprojekt unter dem Titel „Was Ihr wollt!“ durch, das den Anspruch hatte, partizipativ zu sein. Der vorliegende Text stellt Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitforschung zu diesem Projekt vor. Im Zentrum steht die Frage, wieweit „Was Ihr wollt!“ den innerhalb der gegenwärtigen Diskussion um Kunstvermittlung und partizipatorische Strategien in der Kunst entstandenen Kriterien ent- bzw. widersprach. Die gewonnenen Erkenntnisse setzen sich aus Teilnehmender Beobachtung, Interviews und einer theoriegeleiteten Reflexion zusammen. Im Sommer 2004 rief Daniel Spanke, der damalige Leiter der Kunsthalle Wilhelmshaven, die Bevölkerung der Stadt zur aktiven Beteiligung an einer Ausstellung auf. Unter dem Motto „Was Ihr wollt! – Mein Lieblingsbild in der Kunsthalle“ forderte er die EinwohnerInnen auf, ihren privaten Wandschmuck für eine achtwöchige Präsentation zur Verfügung zu stellen. Jede/r BewohnerIn von Wilhelmshaven durfte ein selbstgewähltes Exponat in der Halle ausstellen und erhielt einen Leih- und Versicherungsvertrag. Zudem wurden alle Teilnehmenden verpflichtet, ihre Leihgabe nach Abschluss der Ausstellung wieder abzuholen. Für die Ausstellungsanordnung der Exponate wurden auf den leeren Wänden der Kunsthalle 16 Felder in einer Höhe von 2,30 m und einer Breite von 1,80 m
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markiert, in die alle Exponate mosaikartig eingefügt werden sollten. Damit bezog sich Spanke auf die Anbringung von Gemälden in Kunstgalerien des 18. und 19. Jahrhunderts, bei der die Wände lückenlos von der Decke bis zum Boden mit Kunstwerken behängt wurden. Die Präsentation sollte außerdem die Anfänge des Ausstellungswesens in Europa reflektieren, die in den Kunst- und Wunderkammern der Renaissance liegen. So wünschte sich Spanke eine Vielfalt unter den Leihgaben, wie sie für die damaligen Sammlungen typisch war. Die Vernissage war für den 18. Juli 2004 vorgesehen. Für den gesamten Ausstellungszeitraum erhielten die WilhelmshavenerInnen an drei Tagen pro Woche die Gelegenheit, ihr liebstes Werk abzugeben, so lange, bis die vorgesehene Ausstellungsfläche gefüllt wäre. Die Leihgaben sollten dabei anonym gezeigt werden, da „Was Ihr wollt!“ nicht als Präsentationsforum für die künstlerischen Arbeiten der EinwohnerInnen gedacht war. Das Spektrum der Exponate sollte stattdessen ein „demokratisches, imaginäres Portrait von Wilhelmshaven im Spiegel des Wandschmucks seiner Bewohner“ entstehen lassen, wie es in einer Pressemitteilung hieß. Demokratisch stand für die Tatsache, dass jede/r EinwohnerIn der Stadt an diesem Projekt teilnehmen konnte, das imaginäre Portrait sollte durch die Vielfalt entstehen. Spanke wollte seine Institution durch die Ausstellung einem breiten Publikum öffnen und gleichzeitig neue Wege in der Kunstvermittlung gehen. „Was Ihr wollt!“ bezeichnete er als ein „partizipatorisches Projekt“. Erste Erfahrungen mit dieser Kunst- und Vermittlungsform machten er und Mitglieder des Kunstvereins Wilhelmshaven im Spätsommer 2003 durch ihre Teilnahme am „Friesischen Teppich“. Dahinter verbirgt sich ein von der Arbeitsgemeinschaft deutscher Kunstvereine e. V. (AdKV) initiiertes Projekt zwischen BewohnerInnen Frieslands und drei KünstlerInnen, das „Personen aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen, die bisher wenig Berührungspunkte zur Kunst hatten, zusammenbrachte“1. Hieraus entstand Spankes Idee, ein eigenes partizipatorisches Projekt durchzuführen. Dafür kontaktierte er Carmen Mörsch vom Kulturwissenschaftlichen Institut der Universität Oldenburg. Als Vertreterinnen des Vereins Ressource: Kunst e. V.2 hatten sie und Nanna Lüth für den „Friesischen Teppich“ eine vernetzende Begleitung der beteiligten Vereine geleistet. Auf Spankes Anfrage hin veranstaltete Mörsch im Sommersemester 2004 in der Universität Oldenburg das Seminar „,Was Ihr wollt!’ – Erarbeitung von Vermittlungsangeboten für die Schule und verschiedene Öffentlichkeiten anlässlich einer Ausstellung“. 1
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AdKV (Hg.): Der Friesische Teppich: ein Gewebe aus Kunst, Kirche und Kommunikation. Dokumentation des Projektes Der Friesische Teppich im Sommer 2003 an den Standorten Cuxhaven, Hooksiel/Wittmund und Wilhelmshaven. Berlin 2004. Ressource: Kunst e. V. ist ein Verein, dessen Mitglieder aus verschiedenen Disziplinen kommen. Er veranstaltet Projekte mit dem Ziel, Kunst als Ressource für Bildungsprozesse zu erforschen und nutzbar zu machen, vgl. Carmen Mörsch: Arbeit in den Löchern des Gewebes: Ressource: Kunst e. V. im Projekt Der Friesische Teppich. In: ebd., S. 65-67, hier S. 65.
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Am Kurs beteiligten sich Studierende aus den Bereichen Museum und Ausstellung, Kunst-Textil-Medien und Erziehungswissenschaft. Es entstanden Konzepte für die LeihgeberInnenakquise und für Vermittlungsangebote für diverse Öffentlichkeiten mit der Option, diese während der Ausstellungszeit zu realisieren. Folgende Angebote wurden für realisierbar gehalten: • Für eine stetige Werbung sollten ein Flyer und die Gestaltung eines Schaufensters mit Abbildungen bereits abgegebener Exponate sorgen. • Verschiedene Vereine der Stadt sollten in die Kunsthalle eingeladen werden: Sie bekämen die Möglichkeit, innerhalb der Ausstellung Café-Nachmittage zu veranstalten und gleichzeitig als Leihgeber ein Bild aus ihrem Vereinsleben zur Verfügung zu stellen. • An mehr als 50 Schulen der Stadt sollten drei kostenfreie Workshops für unterschiedliche Klassenstufen ausgeschrieben werden. • Jede/r LeihgeberIn erhielte die Möglichkeit, seine/ihre ganz persönliche Geschichte zum Leihobjekt aufzuschreiben. • Aus diesen Geschichten sollte ein Katalog entstehen, den alle Beteiligten zum Abschluss der Ausstellung erhalten würden. • Weiterhin wollten die Studierenden eine Lese- und Ruheecke für die BesucherInnen in der Kunsthalle einrichten und zu einem öffentlichen Gespräch über das Ausstellungsprojekt einladen. Bereits zur Vernissage war der Ansturm so groß, dass die 16 Felder fast vollständig ausgefüllt waren. Insgesamt kamen 220 Leihgaben zusammen. Dieser Umstand beeinflusste den weiteren Verlauf des Projektes maßgeblich: Eine Akquisition von neuen LeihgeberInnen war nicht mehr nötig, und es entstand die Frage, wie man nun aktiv weiterarbeiten könnte. Die neuen Bedingungen evozierten Ereignisse, an denen die unterschiedlichen Vorstellungen über Kunstvermittlung und Beteiligung, auch zwischen dem Kurator und den Studierenden, deutlich wurden. Aufgrund der Auffassung, dass sich Vermittlungsangebote angesichts der gefüllten Wände erübrigten, kam es zur Streichung von Bergfest und Einladungen örtlicher Vereine. Die Kunstvermittlung – als eine konzeptionelle Basis des Projektes – rückte aufgrund des erfüllten kuratorischen Anspruchs damit aus dem Fokus. Das Ausstellungsprojekt „Was Ihr wollt!“ wirft Fragen zum Thema „Vermittlung“ auf, die mit der derzeitigen Diskussion zu neuen Arbeitsformen in der deutschen Kunst- und Kulturvermittlung in Museen und Kunstinstitutionen korrespondieren. Ist es die Hauptaufgabe von Kunstvermittlung, für steigende Besucherzahlen zu sorgen und ein breites Publikum zu akquirieren, oder geht sie darüber hinaus? Die Aktualität dieser Debatte zeigt eine Reihe von Tagungen und
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Konferenzen3 zur Thematik sowie die Einrichtung eines kunst- und kulturvermittelnden Studienganges an der Universität Bremen Ende 2004. Inhaltlich wird unter anderem den Fragen nach neuen und erfolgversprechenden Formen der Vermittlungsarbeit nachgegangen, wobei sich das Augenmerk auf eine breite Publikumsbeteiligung richtet. Der Blick wird dabei immer wieder nach England gelenkt, da die dortige, breit angelegte und praktizierte Kunstvermittlung – womit sowohl die Angebote als auch die Besucherschichten gemeint sind – eine Vorreiterfunktion einnimmt. Hierzulande bieten beispielsweise die museumspädagogischen Abteilungen von Kunstmuseen ihren BesucherInnen die Möglichkeit, sich mit Kunstvermittlung auseinander zu setzen. Sie etablierten sich wie die heutigen Kinder- und Jugendkunstschulen in den 1970er Jahren, als die Forderung nach einer „Kultur für alle“4 laut wurde. Zudem begannen KünstlerInnen ihre eigene Position in der Gesellschaft kritisch in den Blick zu nehmen. Sie organisierten Ausstellungen im ganzen Land, in denen sie der Frage nach ihren möglichen gesellschaftlichen Funktionen nachgingen.5 Im Zuge der künstlerischen Projekt- und Kontextarbeit von KünstlerInnen kam in den 1990er Jahren erneut die Frage auf, ob nicht die Vermittlung von Kunst selbst etwas mit Kunst zu tun haben könnte. Nach Christian Kravagna handelt es sich bei den jüngeren Positionen nicht um gänzlich neue, sondern um solche aus den 1970er Jahren, die damals jedoch „von einer elitären und objektfixierten Kunstwelt marginalisiert worden“ seien. Die Positionen der 1990er Jahre bezeichnen ihm zufolge einen Paradigmenwechsel, der durch die Verschönerung von öffentlichen Orten mittels autonomer Kunstwerke eingeleitet wurde. In der Folge kam es zu ortsspezifischen künstlerischen Eingriffen, die auf den vorgefundenen architektonischen Raum Bezug nahmen. Der Fokus richtete sich in einem weiteren Schritt auf das Soziale. Nach dem Werk und dem Ort stehen seit den 1990er Jahren eine „lokale Bevölkerung(sgruppe), Minderheit oder ‚Community‘ im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit künstlerischer Praxis“.6 3
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Der AdKV tagte 2002 in Kassel unter der Überschrift „Kunstvermittlung zwischen partizipatorischen Kunstprojekten und interaktiven Kunstaktionen“. 2005 veranstaltete die Universität Hildesheim das Symposion „Kulturvermittlung zwischen kultureller Bildung und Kulturmarketing. Eine Profession mit Zukunft?“ Und die Universität Bremen hielt ebenfalls 2005 eine internationale Konferenz zur „Kunst- und Kulturvermittlung“ ab. Das Thema der vorletzten Jahrestagung des Bundesverbandes für Museumspädagogik im Herbst 2008 lautete „Bildung – was sonst?! Aneignungsprozesse und Vermittlungsformen in Museen“. Den Slogan „Kultur für alle“ prägte 1979 Hilmar Hoffmann in seinem gleichnamigen Buch. Zu diesen Ausstellungen zählten beispielsweise: 1971 „Funktionen der bildenden Kunst in unserer Gesellschaft“ in der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst in Berlin und 1979 „Eremit? Forscher? Sozialarbeiter?“ im Kunstverein Hamburg. Christian Kravagna: Modelle partizipatorischer Praxis. In: Marius Babias und Achim Könneke (Hg.): Die Kunst des Öffentlichen. Amsterdam/Dresden 1998, S. 28-47, hier S. 33.
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Partizipatorische Projekte werden in der Regel von KünstlerInnen durchgeführt: Inhaltlich konzentrieren sie sich auf gesellschaftlich-soziale Aspekte, sie verfolgen einen emanzipatorischen Ansatz bei der Arbeit mit den sogenannten Zielgruppen und stellen nicht das Ergebnis, sondern den Prozess in den Mittelpunkt.7 Auch wenn diese Projekte nicht mehr aus der Praxis zahlreicher zeitgenössischer KünstlerInnen wegzudenken sind, bleiben sie doch umstritten. Die „Zweifel“ scheinen sich größtenteils aus ihrer „Unfassbarkeit“ bezüglich ihrer vielfältigen Ansätze und ihrem Zweck zu ergeben. So verfolgen die KünstlerInnen mittels der Projekte häufig unterschiedliche Ziele, deren Sinn und Nutzen für die Teilnehmenden und für die Gesellschaft nicht immer offensichtlich ist. Gleichzeitig führt die Grenzüberschreitung der Projekte in soziale und wissenschaftsorientierte Felder zu der alten Diskussion zurück, ob es sich überhaupt um Kunst handelt. Dass partizipatorische Projekte von Museen und insbesondere von Kunstmuseen aus initiiert werden, ist in der deutschen Museumslandschaft (noch) eine Seltenheit. Die Ansätze dieser Projekte können aber auch in Museen fruchtbar gemacht werden: Ein gleichwertiger Austausch zwischen allen Teilnehmenden ließe ein besseres Kennenlernen des Gegenübers und seiner Bedürfnisse zu. Ebenfalls können Beteiligungsprojekte das soziale Lernen und den Erwerb von Schlüsselkompetenzen fördern – ein bedeutender Faktor für das Lernen in der Schule. Hierin läge die Chance, dass Museen als außerschulische Lernorte stärker von den Schulen in ihre Lehrpläne einbezogen würden. Zudem birgt eine partizipative Kunstvermittlung das hohe Potential, an einer Neustrukturierung des Publikums mitzuwirken, da sie durch ihren sozial inklusiven Ansatz einer breiten Bevölkerungsschicht den Zugang zum Museum ermöglichen möchte. Vor diesem Hintergrund ist es interessant, die Vermittlungsangebote des Wilhelmshavener Ausstellungsprojektes zu betrachten und heraus zu arbeiten, wieweit sie tatsächlich einer partizipativen Kunstvermittlung entsprachen.
Führungen Die Vermittlung von Ausstellungsinhalten erfolgt in Kunstmuseen in erster Linie durch Führungen. Hier gewinnt die Sprache als Instrument eine besondere Bedeutung. Dabei stellen sich die Fragen „Wer spricht?“ und „Worüber wird gesprochen?“ Kunstmuseen können dementsprechend auch als „Sprachräume“ (Eva Sturm) aufgefasst werden. Der darin stattfindende Diskurs wird von denen produziert, die die Institution repräsentieren. So lautet eine These, die hier als Ausgangspunkt für die konkreten Betrachtungen dient: „Vertreten solche Diskurspartner/innen tatsächlich offiziell eine Institution, wie z. B. ein Kunstmuseum, so 7
Walter Stach und Martin Sturm: Vorwort. In: Stella Rollig und Eva Sturm (Hg.): Dürfen die das? Kunst als sozialer Raum: Art, Education, Cultural Work, Communities. Wien 2002, S. 7-9, hier S. 7.
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schlüpfen sie in ein bestimmtes Amt, welches ihnen Medium ist zwischen sich und denen, an die sie sich wenden. Mittels dieses Amtes realisieren sie einen Machtanspruch, den ,Anspruch, die soziale Welt mit Worten, das heißt magisch zu beeinflussen’.“8 Die „Macht“, zu sprechen, erhalten sie dabei von außen, vom Publikum. Aus ihm sprechen nur diejenigen, die sich im „Sprachraum“ auskennen oder glauben, dies zu tun. Jede Führung, so kann man schlussfolgern, produziert eine neue Lesart der Ausstellung. Innerhalb der Ausstellung gab es sechs Führungen. Fünf davon veranstaltete die Kunsthalle für die allgemeine Öffentlichkeit und geladene Gäste. Die sechste Führung erfolgte durch die Seminargruppe und ging auf deren Überlegungen zur Vermittlungsarbeit zurück. Eine erste Führung wurde von der damaligen Vorsitzenden des Wilhelmshavener Kunstvereins, selbst Malerin und Graphikerin, angeboten. Schwerpunktmäßig erläuterte sie Fakten zu Kunstepochen, Techniken und KünstlerInnen. Der Rundgang begann in der Graphothek – hier zeigte die Kunsthalle parallel zum Wandschmuck der WilhelmshavenerInnen Kunstwerke aus der graphischen Sammlung der Stadt, die dem Publikum einzeln vorgestellt wurden. In ähnlicher Weise setzte sich die Führung zum Wandschmuck der WilhelmshavenerInnen fort. Bilder, deren Motiv die Kopie oder Nachahmung eines bekannten Gemäldes oder einer Stilrichtung darstellte, wurden genutzt, um Informationen zu den nicht vorhandenen Originalen zu geben. So erfuhren die BesucherInnen beispielsweise, wer Georges Seurat war und welche Kunstrichtung er vertrat, da sich unter den Leihgaben eine Imitation seines Gemäldes „La grande Jatte“ befand. So wurden einzelne Exponate in einen kunsthistorischen Kontext eingebettet. Einzelne Exponate wurden in einen kunsthistorischen Kontext eingebettet, ohne auf die individuellen Geschichten der Bilder oder auf das Publikum einzugehen. Die Kunstvermittlerin passte die Leihgaben damit nicht nur ihren kunsthistorischen Kenntnissen an; an ihrem Umgang mit dem Wandschmuck der Bevölkerung wird die „Macht der DiskurspartnerInnen“ deutlich. Die Ausrichtung der Führung zeigte, dass die Vermittlerin den im Kunstmuseum dominierenden Diskurs anerkannte, mit- und weitertrug. In einer Führung des Kunsthallenleiters Daniel Spanke wurde der Schwerpunkt auf die Geschichte des Ausstellungswesens gelegt. Das Publikum erfuhr über die Entstehung, den Inhalt und die Präsentationsformen der damaligen Sammlungen. Die Form dieser Führung lässt eine Parallele zu der Aussage des Kunsttheoretikers Pierangelo Masets ziehen, dass in der herkömmlichen Kunstdidaktik die Kunst „zu einem Instrument für bestimmte Zwecke zugerichtet und zum ,Gegenstand’ verkürzt“ wird, an dem dann Fakten erlernbar werden.9 So
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Eva Sturm: Im Engpass der Worte. Sprechen über moderne und zeitgenössische Kunst. Berlin 1996, S. 41. Pierangelo Maset: Praxis, Kunst, Pädagogik. Ästhetische Operationen in der Kunstvermittlung. 2. Aufl. Lüneburg 2002, S. 15.
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ging Spanke fast ausschließlich auf solche Werke ein, die für ihn ein Vergleichsexemplar zu den Sammlungsstücken der Kunst- und Wunderkammern darstellten. Die Leihgaben und ihre Geschichten thematisierte auch er nicht. Die sechste Führung fand unter dem Titel „Geschichtenführung“ statt. Das Ziel dieser Vermittlungsveranstaltung bestand darin, eine Beziehung zwischen dem Publikum und den Leihgaben herzustellen. Methodische Anregungen hierfür bot das „Palmenbuch“ – ein besucherorientiertes Werkzeug für die Annäherung an Ausstellungs- und Museumsobjekte: „Froh oder melancholisch, müd oder munter suchen Sie z. B. ein Kunstmuseum auf. Finden Sie ein recht nervösmachendes Bild? Eines, das Sie wahrlich gern bei sich zu Hause hängen hätten? Ein Bild für Ihren Chef oder eines für Ihre Feindin? Ein Bild, in das Sie sich zurückziehen möchten? Solche – oder andere Kriterien helfen, sich in einem Museum zu orientieren, es zu durchpflügen, es überhaupt erträglich werden zu lassen in seiner Vielzahl von Objekten. Denn ein Museum an sich ist ein unerträglicher Ort.“10 Mit ähnlichen Fragen begingen die TeilnehmerInnen die Ausstellung und markierten mit einem Zettel, auf dem zum Beispiel „Ein Bild für mich“, „Ein Bild für meine/n PartnerIn“ etc. zu lesen war, von ihnen ausgewählte Leihgaben. In einer anschließenden Auswertungsrunde legten sie ihre persönlichen Sehweisen und Auswahlkriterien offen und erfuhren sodann die mit der ausgesuchten Leihgabe in Verbindung stehende Geschichte. Vermittlung ereignete sich über die individuellen Zugänge der Teilnehmenden. Jede Form der hier beschriebenen Führungen stellt ein Vermittlungsangebot an das Publikum dar, was immer positiv zu werten ist, da es zeigt, dass das Museum mit seinem Publikum in Kontakt treten will. So war auch das Feedback der Teilnehmenden durchweg positiv, auch wenn die Führungen nicht immer den eigenen Vorstellungen entsprachen. Besonders deutlich wurde dies in der Aussage eines jungen Mannes, der an der ersten Führung teilgenommen hatte. Er war Leihgeber und hatte gehofft, dass sein Bild in der Ausstellung benannt würde. Er selbst ergriff während des Rundgangs nicht die Gelegenheit, dies mitzuteilen und über sein Exponat zu berichten. Der monologische Führungsstil der Vermittlerin ließ kaum Interventionen zu. In einem späteren Interview berichtete er dagegen erfreut über sein Exponat, denn „das Bild ist wie ein Text: Er bekommt seine Bedeutung erst durch die LeserInnen, die sich mit ihm auseinandersetzen. Aber die Befürchtung, sich zu blamieren oder abschätzig behandelt zu werden, verursacht Blockaden. Menschen verstummen im Museum, weil ihnen das Gefühl gegeben wird, nicht mitreden zu können“.11
10 Heiderose Hildebrand u. a.: Das Palmenbuch. Wien 1991, S. 14. 11 Gabriele Stöger: Die BesucherInnen und ihre Bilder. In: T.E.A.m: „Eros“, „Lügen“, „after six“. Partizipatorische Kultur- und Kunstvermittlung in Museen. Wien 2003, S. 17-19, hier S. 18.
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Der junge Mann blieb während der Führung „stumm“. Seine persönliche Bildgeschichte stand den kunsthistorischen Informationen der Führungskraft gegenüber. Letztere wurden durch die Autorität der Sprecherin zum Maßstab erhoben und schlossen somit die individuellen Geschichten der LeihgeberInnen aus. Eine Kunstvermittlung, wie sie gegenwärtig diskutiert wird, könnte hier ansetzen. Sie kann die vorhandenen Strukturen und die Logik der Kunstinstitution durchbrechen, da sie autorisiertes Sprechen ablehnt. Aufgrund ihrer Methode, Wissen durch Austausch zu transferieren, wird die SprecherInnenposition aufgelöst. Vermittlung ist somit vielmehr als ein soziales Ereignis zu verstehen. Wenn in einem Projekt der Anspruch der Partizipation erhoben wird, sollte auch dementsprechend von Seiten der InitiatorInnen gehandelt werden. Vor allem eine Ausstellung, die die Bevölkerung auf einer so persönlichen Ebene wie „Was Ihr wollt!“ einbezieht, sollte Gesprächsmöglichkeiten bieten. Es sollte dabei um ein Miteinander gehen, um einen Austausch, von dem nicht nur die Teilnehmenden, sondern auch die Einrichtungen profitieren können, da sie erfahren, welche Bedürfnisse ihr Publikum hat. Dies birgt natürlich mehr Angriffsfläche, Diskussionsmaterial und Momente des Scheiterns in sich. Ebenso ist nicht immer klar, ob die Partizipierenden zum Austausch bereit sind. Letzteres zeigte sich in der „Geschichtenführung“, in der sich ein Mann von der Aufforderung, über seine Leihgabe zu berichten, überrumpelt fühlte und deshalb die Führung frühzeitig verließ. Trotz solcher Erschwernisse und einem generellen Mehraufwand kann es nicht ausreichend sein, Angebote zu erstellen, die vor einer Vermittlung in Form von Kommunikationsprozessen halt machen. Ziel von Vermittlungsangeboten sollte es sein, Raum und Zeit für neuartige Begegnungen zu schaffen und eine „Beziehungsarbeit“ zwischen verschiedenen Kulturbereichen und Lebensformen in unserer Gesellschaft herzustellen, die nicht von sich aus in einen intensiven Kontakt treten.12 Die Voraussetzungen für eine solche Vermittlungsarbeit waren bei „Was Ihr wollt!“ gegeben, zum Einen durch die konkrete Beteiligung der WilhelmshavenerInnen mit einer Leihgabe, wodurch sie gleichzeitig zu ExpertInnen für die Ausstellung wurden. Zum Anderen war die Vermittlungsarbeit auf Kommunikationsprozesse ausgerichtet. Die von der Kunsthalle angebotenen Führungen ließen diese Voraussetzungen jedoch unbeachtet.
Das Leihgebergespräch Ein weiteres zentrales Vermittlungsangebot stellte das Leihgebergespräch dar, das dem Konzept zufolge auf einen Austausch über das Projekt zwischen den Teilnehmenden, weiteren BesucherInnen und der Kunsthalle abzielte. Für die Veranstaltung war im Ausstellungsraum ein Stuhlkreis aufgebaut. Während des 12 Gabriele Stöger: Wer schon Platz genommen hat, muss nicht zum Hinsetzen aufgefordert werden. In: Rollig/Sturm (wie Anm. 7), S. 184-197, hier S. 190.
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Gespräches fiel auf, dass allein die Anwesenden einen Redebeitrag leisteten, die sich im Kunstsystem auskannten und über Fachwissen verfügten. Obwohl die LeihgeberInnen eingangs nach ihren Erfahrungen mit und in der Ausstellung gefragt wurden, lenkte die aufkommende Diskussion zu unterschiedlichen Kunstrichtungen und KünstlerInnen vom Ausstellungsprojekt und seinen Beteiligten ab. Damit blieb jenen die Teilnahme am Gespräch verwehrt bzw. unzugänglich, die nicht über ein spezielles Wissen zur Kunst verfügten. Auf der Grundlage von Pierre Bourdieus Distinktionstheorie13 teilt Eva Sturm die Menschen in „befugte“ und „unbefugte“ SprecherInnen ein: „Was sich dabei als Effekt produziert, sind zwei Sprachgemeinschaften: Jene mit den ,entwerteten’ und jene mit den ,legitimen’ Sprachen. Bourdieu setzt sie gleich mit den ,Beherrschten’, denen keine legitime Sprache zugestanden wird, die sich nicht angemessen artikulieren können und deshalb häufig zum Schweigen verurteilt sind, und den ,Herrschenden’, die eine Sprache haben und diese auch kontrollieren.“14 Wie Sturm aufzeigt, lassen sich innerhalb des „Sprachraums Kunst“ Gewöhnungs- und Popularisierungsprozesse im Hinblick auf Teile der klassischen Moderne erkennen. Das heißt, dass sich die Formensprache gesellschaftlich so durchgesetzt hat, dass sie für manche BesucherInnen einen subjektiven Sinn ergibt und somit positiv bewertet wird, obwohl ihnen das kulturelle Kapital – in der Verwendung von Bourdieu – fehlt. Insofern unterteilt Sturm die Gruppe der „Befugten“ nochmals in die „gebildeten Laien“, in die „Kunst-Diskurs-Kenner“ und in die „befugt-autorisierten Sprecher/innen“. Ihnen gegenüber steht eine zahlenmäßig weitaus größere Gruppe, die „unbefugten Sprecher/innen“, welche nur selten in Kunstmuseen anzutreffen sind. Dass das Leihgebergespräch – in der hier geschilderten Form – zwangsläufig Leute ausschloss, bestätigte ein Interview mit einem Leihgeberpaar eines selbstgemalten Bildes. Das Paar beteiligte sich nicht aktiv an der Diskussion und verließ die Veranstaltung noch vor ihrem Ende. Die Erwartungen des Ehepaares gingen dahin, mehr über die Exponate der anderen LeihgeberInnen zu erfahren.
13 Pierre Bourdieu wies bereits 1979 in seiner Untersuchung „Die feinen Unterschiede“ nach, dass die kulturellen Bedürfnisse (der Vorzug bestimmter Literatur, Musik etc.) sowie die kulturelle Praxis (der Besuch von Museen, Ausstellungen, Konzerten etc.) an erster Stelle mit dem Ausbildungsgrad und erst an zweiter mit der sozialen Herkunft von Personen zusammenhängen. Kunst ist damit nur für jene von Interesse, die über ein Instrumentarium zu ihrer Aneignung verfügen. Dem Erfassen – im Sinne von Verstehen oder Begreifen eines Kunstwerkes – setzt Bourdieu eine „Dechiffrierung“ oder „Decodierung“ desselben voraus, die nur erfolgt, wenn der/die BetrachterIn einen bestimmten „Code“ beherrscht. Der Code fungiert als „eine Art kulturelles Kapital [...], das, da ungleich verteilt, automatisch Distinktionsgewinne abwirft.“ Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/M. 1982, S. 19f. 14 Sturm (wie Anm. 8), S. 39.
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Die Bemerkung, das Leihgebergespräch hätte ihnen nicht viel gebracht, weist darauf hin, dass das Paar zur Gruppe der Sprachunbefugten zählte. Eine weitere Leihgeberin, die ebenfalls in der Rolle der Zuhörerin blieb, benannte die Situation folgendermaßen: „Ich war nur eine Stunde, glaube ich, da und ich hab doch sehr gut zugehört, wenn ich auch nicht viel dazu beitragen konnte, aber es hat mir gut gefallen. [...] Ich bin eine Laienmalerin [...] und ich kann dazu nicht viel sagen, weil ich nicht studiert habe und so weiter, waren ja einige Damen und Herren, die auch einiges dazu beitragen konnten. [...] Ich dachte, man würde noch näher auf die einzelnen Gegenstände oder Bilder eingehen [...].“ Konträr dazu steht die Aussage einer am Gespräch beteiligten Leihgeberin. Sie gab an, ihr hätte das Gespräch sehr gut gefallen, weil „alle zu Wort kamen“ und „wegen der Ausführungen des Kunsthallenleiters“. Setzt man diese Aussagen in Beziehung zu Sturms Ausführungen, gehört das Ehepaar zu den „unbefugten Sprecher/innen“. Die beiden anderen Teilnehmerinnen können zu den „gebildeten Laien“ gezählt werden. Da sich am Gespräch lediglich sieben von insgesamt 22 Personen beteiligten, ist anzunehmen, dass die meisten zur Gruppe der Sprachunbefugten gehörten. Möglicherweise hätte die direkte Ansprache der anwesenden LeihgeberInnen zu einem Austausch über das Projekt geführt. So fand das Gespräch zwischen dem Kunsthallenleiter und weiteren „Sprachbefugten“ statt. Die Stillen gerieten dabei alsbald aus dem Blickfeld. Eine ausgewogen strukturierte Kommunikation zeigt sich dagegen darin, „dass die daran Beteiligten gleichermaßen zu Wort kommen und das Verhältnis zwischen ihnen umkehrbar ist“15. Das Leihgebergespräch entwickelte sich dagegen zu einem reinen Fachgespräch.
Schulworkshops und Theaterwerkstatt Einen weiteren Teil an Vermittlungsangeboten stellten die Schulworkshops zum „Kreativen Schreiben“ und die „Theaterwerkstatt“ dar.16 Bereits in der Vorbereitungsphase zur Ausstellung, die parallel zum Schuljahresende fiel, waren 50 Schulen angeschrieben worden. Die Reaktionen fielen allerdings sehr spärlich aus: Lediglich zwei LehrerInnen machten von den Angeboten Gebrauch. Eine Erklärung könnte in der Terminvorgabe liegen, möglicherweise haben viele Lehrende aber auch den Brief vor den Ferien nicht mehr wahrgenommen. Vor allem aber zeigt sich an dieser Reaktion, dass Schulen es (noch) nicht gewohnt sind, von Orten der Gegenwartskunst Einladungen zu erhalten. In den Veranstaltungen sollte an die Erfahrungen, individuellen Erlebnisse und subjektiven Assoziationen der SchülerInnen angeknüpft werden. Als wichtig wurde erachtet, keine Hemmschwelle im Umgang mit Kunst und Ausstellungs-
15 Stöger (wie Anm. 11), S. 17. 16 Dieser Veranstaltungsteil wurde von der Seminarteilnehmerin Tomke Oltmanns durchgeführt.
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räumen entstehen zu lassen, sondern die SchülerInnen zu einer Reflexion der eigenen Position im Kulturbetrieb anzuregen. Die Theaterwerkstatt beinhaltete szenisch dargestellte Diskussionen mit dem Ziel, Fragen wie: Was ist Kunst? Wer bestimmt, was Kunst ist? anzukurbeln. An diesem Workshop nahmen eine dritte und eine neunte Klasse teil. In beiden Gruppen kamen subjektive Theorien über Kunst und Ausstellungsräume zum Vorschein, die vor allem bei den älteren SchülerInnen auch das Funktionieren von Kunstinstitutionen reflektierten. Im Workshop „Kreatives Schreiben“, der von einer neunten Klasse belegt wurde, erfand jede/r SchülerIn eine Bildgeschichte. Die Geschichten wurden anschließend in Bildern visualisiert. Eine spätere Sichtung zeigte oft sehr persönliche Gedanken und Gefühle zu den Exponaten. Den autorisierten Erzählungen der Kunsthalle wurden diese hinzugefügt. Für eine Nachhaltigkeit der Projekte mit Fortsetzung im Unterricht sorgte die Vermittlerin, indem sie den Schulklassen die in den Workshops entstandenen Materialien zur Verfügung stellte. Die Methoden, die in den Schulworkshops angewandt wurden, sind gut etabliert. Sie finden sich beispielsweise in der Arbeit der österreichischen Gruppe T.E.A.m. wieder, die partizipatorische kunst- und kulturvermittelnde Projekte in Museen in Wien durchführt.17 Im Zentrum ihrer Arbeit steht dabei nicht das Museum, das Objekt oder die Kunst, sondern immer die Kommunikation, die im Sinne von „gemeinsam machen, mitteilen, teilen, teilnehmen lassen und Anteil haben“ gebraucht wird. Die Gruppe wendet sich gegen eine „traditionelle Vermittlung von Kunst“, womit die Erläuterung und Interpretation von Kunstwerken durch VermittlerInnen an ein Publikum gemeint ist. Eine Annäherung an das Museum und seine Inhalte erfolgt über die assoziativen Zugänge jeder/s Einzelnen zu oft selbstgewählten Exponaten. Wichtig für ihre Vermittlung ist, dass sie über Kommunikationsprozesse läuft, die mit dem Publikum geschaffen werden. T.E.A.m. sieht den Anspruch der Vermittlungsarbeit in der „Demokratisierung der Kultur“, indem die Gruppe der Ausschließung von Besucherkreisen entgegenwirken und Partizipation fördern will.
„Cafeterias“ als Vermittlungsmedium Eine weitere konzeptionelle Idee richtete sich auf die Durchführung von „Cafeterias“. Die ursprüngliche Idee, innerhalb der Ausstellung örtliche Vereine Cafénachmittage veranstalten zu lassen, um Platz und Raum für Kommunikation zu bieten, sollte während der Laufzeit mehrere Male verwirklicht werden, verbunden mit der Aufforderung, ein Exponat aus dem Vereinsleben für die Ausstellung zu entleihen. Dieses Vorhaben wurde letztendlich nur im Fall einer singulären „Studentencafeteria“ umgesetzt. Maßgeblich hierfür waren unterschiedliche Auffassungen über die konkreteren Zielvorstellungen: Angesichts der gefüllten Präsentations17 Vgl. Stöger (wie Anm. 11).
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flächen erwies sich die Akquisition von neuen LeihgeberInnen als überflüssig, weshalb aus kuratorischer Sicht auch die Veranstaltungen der Vereine ihren Zweck verloren. Dadurch entging jedoch nicht nur den potentiellen BetreiberInnen die Möglichkeit, sich einem neuen Publikum zu präsentieren, viel mehr noch war das Hauptanliegen, nämlich durch die Cafeterias die Kunsthalle für ein breiteres Publikum nutzbar zu machen, nicht mehr realisierbar. Gegen Ende der Ausstellung wurde allein das „Unicafé“ für einen Nachmittag von fünf Studierenden veranstaltet. Im Mittelpunkt stand die Anregung, sich mit den Werken und ihren Geschichten auseinander zu setzen. Dies sollte durch eine Geschichtenführung und ein Bilder-Geschichten-Rätsel gewährleistet werden. Die Veranstaltung nahmen ca. 40 Personen als Anlass für die Besichtigung der Ausstellung, meistens handelte es sich dabei um einen wiederholten Besuch. Fast alle Anwesenden beteiligten sich am Bilderrätsel, dagegen wurde die Geschichtenführung von einigen TeilnehmerInnen noch vor Ende verlassen. Gründe dafür können in der einstündigen Dauer liegen oder in der Aufforderung, selbst aktiv zu werden. Hierin liegt eines der „vertracktesten Dilemmata aktueller Kunst“. Denn auch wenn die Bedürfnisse des Publikums zu einem zentralen Anspruch dieser Projekte erhoben werden, werden sie von Seiten der InitiatorInnen her definiert. So steht die Frage im Raum, „was zu tun sei, wenn dieses Publikum sich weder kritische Erkenntnis, noch Aufforderung zu politischer Initiative oder sonstigen Aktionen wünscht, sondern ästhetischen Genuß und im übrigen in Ruhe gelassen werden will“.18
„Stille“ Angebote Die Basis für eine individuelle Auseinandersetzung mit dem Projekt und seinen Inhalten schufen „stille“ Angebote: eine Ruhe- und Leseecke mit Informationsmaterial zu Themen der Ausstellung, eine Wandzeitung mit Fotos und Zeitungsartikeln über „Was Ihr wollt!“ und die Aushängung der eingereichten Geschichten mit einem Foto der dazu gehörigen Leihgabe. In einem sich ständig erweiternden Katalog wurden die Leihgaben und ihre Geschichten zusammen geführt. Er war in mehreren Exemplaren in der Kunsthalle vorhanden, damit die BesucherInnen ihn für ihren Rundgang nutzen konnten. Insbesondere den Katalog sowie die „Geschichten-Bilder-Wand“ nahmen die BesucherInnen positiv und interessiert an. Die LeihgeberInnen waren sowohl KonsumentInnen des Katalogs als auch aktiv daran beteiligt, da sie die Geschichten bereit stellten. Die Kunsthalle erhielt zu den 220 Leihgaben 135 Geschichten. Die geplante Dokumentationswand reduzierte sich letztendlich auf ein ausliegendes Gästebuch. Zweifellos boten die stillen Angebote eine sehr gute Mög-
18 Stella Rollig: Projektorientierte Kunst in den neunziger Jahren. In: Marius Babias und Achim Könneke (Hg.): Die Kunst des Öffentlichen. Amsterdam/Dresden 1998, S. 13-27, hier S. 19.
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lichkeit für eine individuelle Auseinandersetzung mit den Exponaten und der Ausstellung. Die Bildgeschichten stellten dabei eine sehr persönliche Beziehung zwischen BetrachterIn und Objekt her. Da es sich bei den Exponaten um den privaten Wandschmuck der Wilhelmshavener Bevölkerung handelte, begegneten dem Publikum in der Ausstellung alltägliche Dinge. Die jeweilige Geschichte dazu gab den Objekten eine besondere Bedeutung. Nach Gabriele Stöger gehen viele Menschen nicht ins Museum, „weil sie denken, dass Museen und ihre Inhalte keine Bedeutung für ihr Leben haben. Wenn sie das Museum doch besuchen, kommen sie mit ihren persönlichen Vorstellungen, und im Glücksfall finden sie etwas, das mit ihrem eigenen Leben und mit ihren Anliegen in Beziehung steht“.19 Die Verbindung zwischen der Ausstellung und dem Leben der WilhelmshavenerInnen stellte bei „Was Ihr wollt!“ ein entscheidendes Kriterium für die zahlreichen BesucherInnen dar. Beispielsweise ergab sich für einen Mann ein Zusammenhang zu seinem eigenen Leben, weil er seine Nachbarin in der zur Ausstellung erschienenen Zeitungsserie gesehen hatte und nun neugierig geworden war. Eine ältere Dame erzählte: „Ja das spricht mich richtig an. Ich bin ja nun älter und das sind ja viele, das ist ja eine lange Spanne, also das ist sehr interessant, also vieles kenne ich.“ Und ein Ehepaar sprach in Bezug auf die Leihgaben vom „besonderen Persönlichen“. Das Ausstellungsprojekt „Was Ihr wollt!“ konnte für den Großteil des Publikums die Forderung Christoph Vitalis erfüllen, dass Kunst und das Museum, in dem sie aufbewahrt wird, Teil des Alltags der Menschen sein sollten, „ein selbstverständlicher Aufenthaltsort wie das Kino oder die Kneipe“.20 Das spiegelte sich ebenfalls in den BesucherInnenzahlen wider. Über 2700 mal wurde „Was Ihr wollt!“ besucht, ca. 800 mal mehr21 als die im gleichen Jahr zuvor gezeigte Ausstellung „Strenges Holz“. Allerdings konnten die Angebote nicht immer dem Anspruch einer partizipatorischen Kunstvermittlung gerecht werden, denn: Kunstvermittlung „ist nicht die Aufforderung zur Partizipation an einem Kulturgeschehen, das nur diejenigen aufnimmt, die sich richtig/angemessen verhalten und schon mitreden können. Vielmehr geht es um die Herstellung von dynamischen Beziehungen zwischen Kunsteinrichtungen, Kulturschaffenden, KulturvermittlerInnen und verschiedenen Bevölkerungsschichten. Darin stecken auch ein Veränderungspotential und die Chance, herrschende Umgangsformen aufzubrechen, vorausgesetzt, alle Beteiligten besitzen die nötige Flexibilität und Entwicklungsbereitschaft. Es ist eine 19 Stöger (wie Anm. 11), S. 17. 20 Christoph Vitali: Kunst als Event. In: Museumskunde. Bd. 63 (1998). H. 2, S. 2124, hier S. 23. 21 Ich spreche an dieser Stelle von Ausstellungsbesuchen und nicht von BesucherInnen, da bei der Gegenüberstellung der Zahlen im Blick behalten werden muss, dass viele der „Was Ihr wollt!“-BesucherInnen mehrmals in die Ausstellung kamen, vor allem, wenn sie selbst ein Exponat abgegeben hatten.
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Aufgabe gerade der Kunstvermittlung, dafür Sorge zu tragen, dass es in der Kommunikation zu einem möglichst gleichwertigen Austausch von Erfahrungen kommen kann, das bedeutet auch, sich der vorhandenen Hierarchien bewusst zu sein, um sie überwinden zu können.“22 Daran angelehnt lässt sich bei „Was Ihr wollt!“ erkennen, dass die Vermittlungsangebote von unterschiedlichen Standpunkten aus durchgeführt wurden: vom Standpunkt eines Kurators einerseits und dem von KunstvermittlerInnen andererseits. So wurde im Fall der Führungen eine Vermittlung als Kommunikationsprozess zwischen Führungskraft und Publikum nicht initiiert, sondern kam nur zustande, wenn TeilnehmerInnen Rückfragen stellten. Das Leihgebergespräch richtete sich im Endeffekt, trotz gegenteiliger Intention, ausschließlich an ein Publikum, das über ein Fachwissen im Bereich Kunst verfügte. Es verstärkte damit die Hierarchien, anstatt sie aufzubrechen. Weitere Kommunikationsprozesse entstanden nicht. Demgegenüber waren die Schulworkshops, die Studentencafeteria und die Geschichtenführung bereits konzeptionell auf Kommunikationsprozesse hin ausgerichtet, weshalb sie diesem Anspruch gerecht werden konnten. Dennoch wurde die Ausstellung vorwiegend von einem kuratorischen Standpunkt aus betrachtet, wobei die Vermittlung nicht Basis der Präsentation war, sondern ihr vielmehr hinzugesellt wurde: „Würden Kunstinstitutionen nicht erwarten, dass ihr Publikum sich ihrem Angebot anpasst“, so wie es im Wilhelmshavener Projekt der Fall war, „müssten sie sich die Frage stellen, aus welchen Gründen ihnen der Zugang zu bestimmten Bevölkerungsschichten verschlossen ist. Sie könnten erkennen, dass sie es selbst sind, die einen Rückstand aufzuholen haben und sich weiterentwickeln müssen.“23 Dennoch bleibt festzuhalten, dass die Kunsthalle Wilhelmshaven mit ihrem Ausstellungsprojekt „Was Ihr wollt!“ neue Wege in ihrer Vermittlungsarbeit ging. In Anlehnung an partizipative Projekte aus dem Kunstfeld involvierte sie die Wilhelmshavener EinwohnerInnen durch deren inhaltliche Gestaltung einer Ausstellung. „Was Ihr wollt!“ stellte damit eine Besonderheit für die BürgerInnen sowie auch für die Kunsthalle dar. Zugleich kommt dem Projekt bei aller Widersprüchlichkeit durchaus der Charakter des Einzigartigen innerhalb der Vermittlungsarbeit deutscher Kunstmuseen zu. „Was Ihr wollt!“ konnte – wie im Konzept intendiert – ein breites Publikum einbeziehen: Die Ausstellung brachte Menschen in die Kunsthalle, die diese vorher nicht kannten. Andere BesucherInnen kamen nach Jahren wieder, da sie sich oft vom sonstigen Ausstellungsprogramm nicht angesprochen fühlten oder weil sie keinen Bezug zu ihrem eigenen Leben herstellen konnten. Letzteres Argument zeigte sich in den zahlreichen positiven Reaktionen der Beteiligten als Stär-
22 Ich habe in dem Zitat den Begriff Kulturvermittlung durch den Begriff Kunstvermittlung ersetzt, da sich Stögers Ausführungen ebenso auf die Kunstvermittlung beziehen. Vgl. Stöger (wie Anm. 12), S. 192. 23 Ebd., S. 189.
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ke des Projekts, denn „Was Ihr wollt!“ schloss in seiner Konzeption niemanden aus. Damit wurde ein Bezug zur Alltagswelt der Bevölkerung hergestellt und Menschen wurden motiviert, sich mit ihrem eigenen Wandschmuck auseinander zu setzen sowie auch ihre Position im Kunstsystem zu hinterfragen. So hat das Projekt während seiner Laufzeit Fragen zum persönlichen Verständnis von Kunst und Ausstellungsräumen aufgeworfen: bei den Beteiligten und dem Publikum in Wilhelmshaven, in den Medien wie auch in der Fachwelt. Kritisch wurde geäußert, ob mit dem Projekt nicht der Anspruch, Kunstwerke von ästhetischer Relevanz zu präsentieren, aufgegeben würde. Auch wurde befürchtet, dass Wiederholungen von solchen Projekten suggerieren könnten, die Exponate seien Kunst, wodurch der Blick auf die wirklichen Kunstwerke verschleiert würde. Oder man sprach der partizipatorischen Kunstvermittlung kritisch zu, dass die Kunst so nur noch von einem sozialen Aspekt aus betrachtet würde. Das Projekt spiegelte damit den in der Fachwelt geführten Diskurs zur Partizipation im Kunstfeld wider. Trotz dieser Einwände steht die Frage im Raum, wie weit die Struktur eines solchen Projektes richtungweisend für eine Ausrichtung der Arbeit von Kunstmuseen und für die Kunsthalle Wilhelmshaven sein könnte, da der intendierte Einbezug eines neuen Publikums tatsächlich gewährleistet wurde. Dabei kann es nicht darum gehen, zukünftig marktkonforme Kunst und dementsprechende KonsumentInnen hervor zu bringen. Wünschenswert wäre, günstigere Bedingungen für die Kunstrezeption und -produktion zu schaffen, indem Vermittlung ein Angebot für Erfahrungsmöglichkeiten zur Verfügung stellt und sich als Raum für Entdeckungen im Kunstfeld versteht, nicht als ein Unterweisen oder Erklären. Ein partizipatorisches Projekt bietet hierfür einzigartige Voraussetzungen, da in seinem Zentrum die gemeinsame Arbeit und Entwicklung der Aktionen oder Ausstellungen steht. Damit eine solche Arbeit gelingen kann, ist es aber wichtig, dass alle Beteiligten das Konzept kennen bzw. zusammen (weiter-)verhandeln. Das bedeutet nicht automatisch, dass es darum geht, die „Differenz zwischen den Handelnden aufzuheben“, es heißt vielmehr, mit ihr umzugehen24 und Ausstellungs- und Vermittlungskonzepte ständig kritisch zu hinterfragen. Wenn Museen ihre BesucherInnen involvieren wollen, müssen sie ihnen Zeit und Raum zur Verfügung stellen und Kommunikationsprozesse initiieren. Ansätze dafür, die auch verwirklicht wurden, finden sich bei „Was Ihr wollt!“ wieder. Es gilt sie zu vertiefen und für die weitere Arbeit nutzbar zu machen.
24 Leonie Baumann: ... und das soll Kunst sein ... Kunstaktionen und Öffentlichkeit – ein Einblick in 40 Jahre Praxis. In: Der Friesische Teppich (wie Anm. 1), S. 7-14 u. S. 68-74, hier S. 14.
Sammlungsarchäologie. An nä he rung an eine Ruine de r Muse ums ges c hic hte ULFERT TSCHIRNER In seiner „Re-Imagination“ europäischer Museen entwirft der amerikanische Kulturhistoriker William M. Johnston die Vorstellung eines Museums als Ruine: „Die Museen des 19. Jahrhunderts waren bestrebt gewesen, dem Vergänglichen einen Hauch von Zeitlosigkeit zu verleihen. [...] Die unerfreuliche Überraschung, die diese Sorte von Museen erwartet, ist, daß auch sie über kurz oder lang dem Verfall geweiht sind. Auch ihre Zeit ist begrenzt. [...] Wir wissen nicht, wann und wie dies geschehen wird, aber die Vorstellung eines einst großen Museums, das mit seinen Ausstellungen, Inventaren und Vitrinen dem äußeren und inneren Verfall anheimfällt, und von Gras überwachsen wird, ist nicht bloß ein Hirngespinst.“1 Johnstons Denkbild erinnert an die Ruinengemälde des französischen Malers Hubert Robert, der dem modernen Museum schon in dessen Geburtsstunde um 1800 die Vision seines zukünftigen Verfallenseins an die Seite stellte („Vue imaginaire de la Grande Galerie du Louvre en ruines“, 1796). In einem verwirrenden Zusammenfall von Zeitebenen zeigt Robert das zeitgenössische Museumsprojekt der öffentlich ausgestellten Sammlung, Ordnung und Erhaltung historischer Zeugnisse im Moment der zukünftigen Wiederentdeckung dieses Ortes als Relikt und Ruine. In solchen Ruinenbildern des Museums wird die Dialektik von Konservierung und Verfall, Ordnung und Auflösung, die dem historischen Museum eignet, auf dieses zurück gespiegelt: Auch museale Ordnungen, die doch anscheinend den Anspruch erheben, der Auflösung historischer Ordnungen etwas entgegenzusetzen, widerstehen der Tendenz zur Auflösung ihrer eigenen Ordnung immer 1
William M. Johnston: Europas Museen re-imaginiert: Variationen über ein Thema André Malraux‘. In: Peter Noever (Hg.): Tradition und Experiment. Das Österreichische Museum für angewandte Kunst, Wien. Wien 1988, S. 255–265, hier S. 260f.
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nur zeitweilig, bevor sie ihrerseits ein Fall für Historiker und Archäologen werden.
Rückstände der Museen Museen sammeln und erhalten materielle Zeugnisse und Relikte der Vergangenheit als potentielle Quellen der wissenschaftlichen Erforschung und Präsentation. Im Verbund mit Bibliotheken und Archiven ermöglichen sie eine fortdauernde Auseinandersetzung mit Geschichte. Die Überführung eines Gegenstands ins Museum löst diesen aus seinem bisherigen Kontext und verwandelt ihn in ein Objekt der Betrachtung und Reflektion. Die Art und Weise, in der sich ein Museum einen Gegenstand aneignet, formatiert dabei die zukünftigen Fragen, die an ihn gerichtet werden können. Die rein materielle Aneignung ist deshalb nur ein Teil der Musealisierung – ebenso wichtig ist dessen museale Kontextualisierung, die z. B. durch Klassifikation und Datierung erfolgt. Über lange Zeit standen dabei formalästhetische und typologische Gesichtspunkte im Vordergrund, die ein Objekt scheinbar eindeutig in der Systematik der Sammlung verorteten. Die materielle Eingliederung in die Ordnung fungierte gleichzeitig als mediale Erschließung des Objekts. Eine umfassende schriftliche Dokumentation der Zugänge wurde nur selten als notwendig angesehen. Eine jüngere Entwicklung der Museumspraxis ist es, differenzierte Informationen über die Vorbesitzer eines Gegenstands, die Gebrauchsweisen, in die er jeweils eingebunden war und die Bedeutungen, die dabei mit ihm verknüpft wurden, möglichst ausführlich zu dokumentieren. Dies soll den Museen heute und zukünftig vielfältigere Formen der Kontextualisierung ermöglichen, die über den Status des Objekts als Zeugnis einer bestimmten Zeit oder Element einer Typologie hinaus gehen. In vielen Museen tauchen aber immer wieder Objekte auf, die sich zwar im Besitz des Museums befinden, für die aber keine Informationen dokumentiert sind und deren früherer Kontext (vor dem Übergang ins Museum) sich nicht mehr ermitteln lässt. Sie werden informell bisweilen als „UFO“, „Mystery Objects“ oder „Irrläufer“ bezeichnet, offiziell als „Alter Bestand“ oder „Rückstände“ (engl. backlogs) angeschrieben. Seit unbestimmter Zeit in der Sammlung aufbewahrt, müssen sie die für jedes Museumsobjekt vorgesehenen Prozeduren der Registrierung, Inventarisierung und Katalogisierung erst durchlaufen, um als Forschungs- und Ausstellungsobjekt regulär genutzt werden zu können. Wenngleich die Rede von 'Rückständen' anscheinend die Verpflichtung impliziert, ihren Zustand zu verändern und sie als Bestand zu erschließen, wird eine retrospektive Dokumentation meist nur bei besonderen Einzelstücken durchgeführt. Fundstücke werden im Licht neuer Fragestellungen plötzlich als interessante Objekte wiederentdeckt und aus dem verborgenen Magazinbereich in ein anderes Depot, eine Restaurierungswerkstatt oder den Ausstellungsraum überführt; der Rest bleibt als Sammlung zweiter Klasse im Magazin zurück.
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Museen werden in ihrem Umgang mit solchen verborgenen Rückständen meist von der vagen Hoffnung auf den überraschenden Fund angetrieben, der in der Vergangenheit übersehen oder in seiner Bedeutung nicht wahrgenommen wurde. In Anlehnung an Walter Benjamins Verständnis der Archäologie ist hier aber eine Blickverschiebung auf das „dunkle Erdreich“ anzuregen, das die verborgenen Kostbarkeiten birgt: „Und der betrügt sich selber um das Beste, der nur das Inventar der Funde macht und nicht im heutigen Boden Ort und Stelle bezeichnen kann, an denen er das Alte aufbewahrt.“2 Eine solche sammlungsarchäologische Annäherung dokumentiert nicht nur die Vorgeschichte, die Gebrauchs- und Interpretationsweisen eines Gegenstands außerhalb des Museums, sondern nimmt auch die Geschichte der Objekte innerhalb des Museums als Kontext ernst und erforscht damit die Spuren der eigenen Sammlungsgeschichte, bevor sie durch Schatzgräbermentalität unwiederbringlich verwischt werden. Gerade die Rückstände der Museen verweisen als Relikte und Ruinen der Museumsgeschichte auf vergangene Konzepte und Bedeutungskonstruktionen und können dadurch als Zeugnisse der Sammlungs-, Museums- und Wissensgeschichte an Wert gewinnen.
Das Bilderrepertorium des Germanischen Nationalmuseums Das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg verwahrt im Depot der Graphischen Sammlung mit dem sogenannten Bilderrepertorium einen großen Sammlungskomplex nicht inventarisierter Rückstände. Den Besuchern und Benutzern der Graphischen Sammlung bleibt das Vorhandensein dieser Rückstände verborgen. Die Karteikästen, Kataloge, Mikrofiche-Lesegeräte und Computer des Studiensaals, die zur Anforderung von graphischen Blättern oder Konvoluten durchsucht werden, enthalten keinerlei Verweise auf das Bilderrepertorium. Es ist deshalb von der Benutzer-Oberfläche der Graphischen Sammlung abgeschnitten – ein der Benutzbarkeit weitgehend entzogenes Lagergut, das musealen Stauraum füllt: Aus sammlungsarchäologischer Sicht lohnt es sich jedoch, sich dieser Ruine der Museumsgeschichte anzunähern. Tritt man ein durch die Sicherheitsschleuse, in die kunstlichterleuchtete Klimakammer des sogenannten zweiten (auch: unteren) Depots, scheinen die gleichmäßig aufgestellten Regale zunächst den geordneten Eindruck zu bestätigen, den die Graphische Sammlung an der Schnittstelle zum Besucher erweckt. Auch der Bereich, in dem sich die mehr als 200 Schlagkassetten des Bilderrepertoriums über zwei Regalwände verteilen, gibt sich zunächst komprimiert und überschaubar. Sobald man jedoch näher herantritt und einzelne dieser Kassetten (im internen Sprachgebrauch: „Kapseln“) öffnet, erweist sich das Bilderrepertorium als unübersichtliches Konglomerat von Photographien, Handzeichnungen, 2
Walter Benjamin: Ausgraben und Erinnern. In: ders.: Denkbilder. Frankfurt/M. 1974, S. 100f.
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Aquarellen, Holzschnitten, Kupferstichen, Zeitungs-, Magazin- und Katalogausschnitten aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert. Die Kapseln stammen offenkundig aus unterschiedlichen Phasen der Museumsgeschichte. In Größe, Bauart und Gestaltung variieren sie mitunter erheblich. Auf der Unterseite und dem Kapselrücken finden sich Numerierungen und Beschriftungen (oft über- und nebeneinander) – diese stehen aber häufig in keinem erkennbaren Zusammenhang mit der gegenwärtigen Ordnung des Bilderrepertoriums. Teils verweisen sie auf frühere und inzwischen aufgegebene Ordnungen, teils auf die Wiederverwendung von Kapseln, die offenbar andernorts aussortiert und durch neuere ersetzt worden sind. Immerhin lässt die gegenwärtige Aufstellung eine grobe Gliederung in die Bereiche Architektur, Skulptur, Malerei, Graphik und Kunstgewerbe erkennen, ohne dabei die feineren Differenzierungen vorzunehmen, die offenbar früher einmal vorgesehen waren und sich in einigen älteren Ordnungsbegriffen andeuten. Innerhalb der einzelnen Kapseln lassen sich Auflösungserscheinungen beobachten, die noch die einstige Organisation erahnen lassen. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts waren die meisten Abbildungen sorgfältig auf normierte Untersatzkartons montiert worden, die den Kapselgrößen angepaßt waren und damit die Ordnung innerhalb der Kapseln erleichterten. Mappen und Trennkartons, die den Inhalt einer Kapsel früher in Segmente unterteilten, sind in einigen Fällen entleert und bedeutungslos zurückgeblieben, in anderen Fällen überschrieben und umgewidmet worden. Heute irren bisweilen angerissene und verknickte Papiere durch die Kapseln, finden sich lose Graphiken in unterschiedlichsten Größen und vereinzelt leere Untersatzkartons, deren Klebespuren auf ein abwesendes Bild verweisen, das sich von seiner schriftlichen Zuordnung freigemacht hat. Immer wieder stößt man auf Photographien unterschiedlicher historischer Machart (Salzpapiere, Albuminabzüge, Silbergelatinepositive): je älter, desto sorgfältiger montiert und aufkaschiert; je jünger, desto sorgloser in die Kapsel geworfen. Offensichtlich überlagern sich in diesem Sammlungskomplex mehrere museumshistorische Zeitschichten. Über einen langen Zeitraum blieb das Bilderrepertorium offen für verändernde Zu- und Eingriffe. Obwohl es anscheinend seit längerer Zeit nicht mehr aktiv ergänzt wurde, wurde es auch danach noch wiederholt durchstöbert, teilweise umgeschichtet und als Steinbruch anderer Sammlungsabteilungen benutzt. Die verschiedenen Versuche zur Aneignung des Bilderrepertoriums von der jeweiligen Gegenwart aus haben ihre Spuren innerhalb der Ordnungsstruktur hinterlassen. Sie spiegeln veränderliche Wahrnehmungen der Abbildungssammlung, der darin versammelten Bildmedien und ihrer Bedeutung für das kulturhistorische Museum. Die früheren Anordnungen wurden durch die späteren Revisionen aufgelöst, reorganisiert und teilweise überschrieben, sind aber ihrerseits vielfach als Spuren erhalten geblieben. Der sammlungsarchäologische Ansatz verlagert den Akzent vom bedeutenden Fund auf die Bedeutung des Befundes. Verstärkt kommen dabei die materialen Aspekte musealer Lagerungen (das „Gestell“ der Kapseln, Mappen und Kar-
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tons) in den Blick. Durch die Eingliederung in ein Ordnungssystem aus Begriffen, Zahlen, Mappen, Kapseln und Regalen, durch die Stempel und Beschriftungen, durch die Art der Montage auf Kartons und Passepartouts haben sich Spuren musealer Praktiken auf den Objekten des Bilderrepertoriums abgelagert – als Rückstände der Museumsgeschichte. Die Historiographie des Germanischen Nationalmuseums trägt zum Verständnis des Bilderrepertoriums wenig bei. Es gibt keine Veröffentlichung, die sich explizit mit Struktur und Geschichte dieses Sammlungskomplexes befasst. Man kann sich ihm deshalb heute nur in der Art eines Archäologen nähern, indem man nach historischen Schichten und unterscheidbaren Formationen innerhalb des Bestandes sucht und diese schließlich miteinander und zu den weiteren verfügbaren Kontextinformationen in Beziehung setzt.
Schichten einer Sammlungsgeschichte Eine zeitliche Schichtung des Bilderrepertoriums ergibt sich z. B. aus einer Analyse der vorfindbaren Beschriftungspraktiken. Die wiederkehrenden Routinen der museumspraktischen Arbeit bedingen charakteristische Muster auf Kapseln, Mappen und Kartons: Für die Beschriftungen waren in der Regel über längere Zeiträume hinweg nur ein oder zwei Mitarbeiter beschäftigt; sie benutzten dabei in der Regel bestimmte Materialien (Etiketten, Tinte oder Tusche) und Ordnungsbegriffe, brachten diese Aufschriften meist an einer bestimmten Stelle an und hinterließen mehr oder weniger eindeutig identifizierbare Handschriften. Durch die Möglichkeit, einzelne Objekte zu datieren und die Handschrift dem jeweiligen Mitarbeiter zuzuordnen, ergibt sich ein zeitliches Raster musealer Bearbeitungsspuren. Durch deren Vergleich lassen sich einzelne Schichten und Phasen des musealen Umgangs mit Photographie unterscheiden.
Phase 1 (1852-1866): System Das Germanische Nationalmuseum wurde 1852 auf Initiative des Freiherrn Hans von und zu Aufseß gegründet. Sein Museumskonzept setzte nicht so sehr auf die materielle Aneignung historischer Originale, sondern auf die systematische Dokumentation möglichst aller erhaltenen Zeugnisse der deutschen Vergangenheit. Als Hauptzweck des Museums definierte Aufseß demnach nicht die Sammlungen, sondern die Katalogisierungsarbeiten im sogenannten Generalrepertorium, das schriftliche, bildliche und gegenständliche Quellen nach einer differenzierten kulturhistorischen Systematik miteinander in Beziehung setzen sollte. Nach diesem „System der deutschen Geschichts- und Alterthumskunde“ sollten auch die Sammlungen des Museums katalogisiert und angeordnet werden. Programmatisch wurde – etwa im ersten Bestandskatalog von 1855/56 – darauf verzichtet, Originale, Kopien und Abbildungen getrennt voneinander zu behandeln, um die kulturhistorischen Einheiten möglichst materialreich präsentieren zu können. Ein
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Vergleich mit den zeitgenössischen Ausgaben eines „Wegweiser durch die Sammlungen“ zeigt jedoch, das die Abbildungen, aller Systematik zum Trotz, eben nicht gemeinsam mit den systematisch zugehörigen Originalen und Nachbildungen ausgestellt wurden, sondern gesondert, in Mappen nach dem System geordnet, in einem speziellen Raum zur Einsichtnahme bereit lagen. Diese Mappen finden sich als älteste Ordnungsschicht des Bilderrepertoriums noch in zahlreichen Kapseln. Die darauf verwendeten Ordnungsbegriffe (z. B. „Staatsschutz./ Gerichtsgebräuche, Notariatszeichen“) entsprechen dem differenzierten „System der deutschen Geschichts- und Alterthumskunde“.3 Die Handschrift ist August von Eye zuzuordnen, der von 1853 bis 1875 als Vorstand der Kunst- und Altertumssammlungen am Museum tätig war. Eye beschriftete auch zahlreiche der sorgfältig auf normierten Untersatzbögen aufmontierten Photographien. Der links unten mit Bleistift ausgeführte Beschriftungsblock klassifiziert das abgebildete Objekt durch die Ordnungsbegriffe des Systems, benennt, datiert und lokalisiert es in jeweils drei Zeilen. Diese normierte Aufnahme von Grundinformationen steht sicher in Zusammenhang mit dem Ziel, diese Daten in das projektierte Generalrepertorium zu übertragen. Die Abbildung ist damit museales Objekt und gleichzeitig Hilfsmittel der musealen Dokumentationspraxis. Die dokumentierten Grundinformationen beziehen sich dabei stets auf das abgebildete Objekt, nicht auf die Abbildung selbst (sei es Handzeichnung, Druckgraphik oder eben Photographie), die auf der Ebene der zu verzeichnenden Informationen in ihrem Eigenwert ausgeblendet wird.
Phase 2 (1870-1890): Abkapselung Die älteste Anordnung der Abbildungen in Mappen, die von Eye nach den Vorgaben des Systems von Aufseß angelegt worden war, wurde anscheinend ab ca. 1870 durch eine Neuordnung des Materials in Kapseln überformt. Von den dabei verwendeten Kapseln sind einige noch heute in Gebrauch. Ihre Beschriftungsspuren zeigen eine Lösung von der früheren Systematik und eine Erweiterung der Gegenstandsbereiche über die von Aufseß gesetzten Grenzen der deutschen Kulturnation und der Zeit bis 1650. Eine Kapsel aus dieser Phase ist beschriftet: „Bürgerliche Baukunst. / Frankreich. England. / Spanien. Italien“; eine andere: „Moderne Architektur“. Die Handschrift ist wahrscheinlich August von Essenwein zuzuordnen, der 1866 als Direktor an das Germanische Nationalmuseum berufen worden war und bis 1870 – gegen den erbitterten Widerstand des Museumsgründers Aufseß – eine Neuausrichtung des Museums durchsetzte. Das nicht über Anfangsgründe hinaus gekommene Projekt des Generalrepertoriums
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Hans von und zu Aufseß: System der deutschen Geschichts- und Alterthumskunde. Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1853. Mit einer Einleitung von Bernward Deneke. In: Bernward Deneke und Rainer Kahsnitz (Hg.): Das Germanische Nationalmuseum Nürnberg 1852-1977. Beiträge zu seiner Geschichte. Berlin 1978, S. 974-992.
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wurde zurück gestellt und die begrenzten Kräfte und Mittel des Museums auf die Sammlung der „greifbaren Geschichtsdenkmäler“ konzentriert.4 Abbildungen wurden damit allerdings für das Germanische Nationalmuseum keineswegs bedeutungslos. Als Architekt hatte Essenwein die Photographie als wichtiges Hilfs- und Arbeitsmittel schätzen gelernt und eine eigene Abbildungssammlung angelegt. Dem alten Zugangsregister des Germanischen Nationalmuseums ist zu entnehmen, daß Essenwein seine Sammlung, bestehend aus „1061 architekton. Darstellungen in Zeichnung, Photographie u. Druck“ bereits 1866 als Leihgabe im Museum deponierte. Dieses Depot ist im Museum nicht als zusammengehöriges Konvolut behandelt, sondern in der Sammlung verteilt worden. Erkennbar sind die einzelnen Objekte aus der Sammlung Essenweins an dem Stempel mit den Buchstaben „CE“ (vielleicht für: Collection Essenwein?) auf der Rückseite der Kartons sowie (in einigen Fällen) an einer zusätzlichen Signatur mit dem Ordnungsbuchstaben E. Mit dem Essenwein’schen Konvolut wurde dem Museum auch das Konzept einer eigenständigen Abbildungssammlung einverleibt. Die Abbildungen wurden schärfer als bisher von den „greifbaren“ Museumsobjekten geschieden (Originale und Nachbildungen) und bekamen damit eine Sonderstellung innerhalb der Sammlungen. In einem Bericht aus dem Jahr 1870 stellte Essenwein klar, dass Abbildungen infolge ihrer massenhaften Aneignung durch das Museum nicht mehr mit dem gleichen Aufwand katalogisiert werden konnten wie die übrigen Sammlungsobjekte (Originale und Nachbildungen).5 Während Originale, Nachbildungen und Abbildungen zuvor gemeinsam katalogisiert waren, legte Essenwein eine separate Abbildungssammlung an, die – im Gegensatz zur Hauptsammlung – nicht durch einen Katalog erschlossen wird, sondern selbst nach der Art eines Katalogs funktionieren soll: „Die Einrichtung mußte daher so getroffen werden, daß die Blätter durch ihre systematische Ordnung einen Katalog vollständig überflüssig machten, und daß daraus nach und nach das jetzt fast alle Abtheilungen der Sammlungen begleitende Bilderrepertorium entstand, welches, wenn auch noch nicht vollständig, wie bei Besprechung der einzelnen Sammlungen bereits gesagt wurde, doch schon einen sehr zweckmäßigen Cursus der gesammten Alterthumswissenschaft, soweit sie sich durch darstellbare Monumente verfolgen läßt, repräsentiert.“6 Die Abbildungen spiegeln demnach nicht mehr ein umfassendes System wider, sondern sind ein Doppelgänger der musealen Sammlungen – ein imaginäres Museum der Abbilder innerhalb des Germanischen Nationalmuseums.
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August Essenwein: Das germanische Nationalmuseum zu Nürnberg. Bericht über den gegenwärtigen Stand der Sammlungen und Arbeiten, sowie die nächsten daraus erwachsenden Aufgaben. Manuskript Nürnberg 1870. Mit Anmerkungen von Rainer Kahsnitz. In: Deneke/Kahsnitz (wie Anm. 3), S. 993-1026, hier S. 996. Ebd., S. 1021. Ebd.
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Vergleicht man zwei photographische Abbildungen eines Taufbeckens, auf die später noch näher eingegangen werden soll, miteinander, erscheinen die Veränderungen zunächst marginal. Während der frühere Zugang aus dem Jahr 1862 am linken oberen Rand mit der Ordnungsnummer 71 beschriftet und damit innerhalb des Katalogs der Sammlungen zu Altären, Sacrarien usw. verortet wurde, ist die wenig später eingegliederte Photographie von 1869 zwar demselben Sammlungsgebiet zugeordnet, aber mit keiner Nummer mehr versehen worden. Dass es sich dabei nicht um ein Versehen (im Sinne eines unbeabsichtigten Fehlens) handelte, sondern um eine bewusste Veränderung der Verzeichnungspraktiken des Museums, wird zunächst im Kontext jener weiteren Zugänge deutlich, die in diesem Zeitraum als Geschenke in das Museum gelangten. Diejenigen Objekte des Bilderrepertoriums, die sich zeitlich über das Zugangsregister einordnen lassen, zeigen, dass die bis Sommer 1867 eingegangenen Geschenke jeweils am linken oberen Rand nummeriert, seit Anfang 1868 aber keine Nummern mehr vergeben wurden. Diese im Wortsinn marginale Veränderung der Beschriftungspraxis um 1867/68 ist das Indiz eines grundlegend veränderten Umgangs des Germanischen Nationalmuseums mit seinem Abbildungsmaterial. Denn das Verschwinden der fortlaufenden Nummer als Kennzeichen des Sammlungsobjekts bedeutet das Fehlen einer eindeutigen Signatur, eine Abkopplung von den Verzeichnungspraktiken, auf denen die Identifizierbarkeit, Lokalisierbarkeit sowie die Adressierbarkeit im Museum basiert. Die heutige Gestalt des Bilderrepertoriums zeigt, dass die Hoffnung vergeblich war, es könne sich in seiner Ordnung selbst erhalten und das darin organisierte Material erschließen. Die beiden genannten Photographien, die in ihrer Beschriftung jeweils auf die Hildesheimer Bronzetaufe verweisen, wurden in unterschiedlichen Kapseln aufbewahrt. Denn der besonders große Karton der zweiten Photographie ließ sich nicht in die übrigen Kapseln einlegen. Hier zeigt sich, dass die Logik der inhaltlichen Anordnung (auf die vor allem Essenwein setzte) bisweilen von der Logistik der Lagerung durchbrochen wird. In einigen der älteren Kapseln findet sich auf der Innenseite des Kassettendeckels die Aufforderung: „Die Besucher werden dringend ersucht, die geordnete Reihenfolge der Blätter zu schonen und diese genau wieder in die Lage zu bringen, in welcher sie vorgefunden werden.“ Retrospektiv scheint diese Umstellung den Weg der Abbildungsobjekte in den Status musealer Rückstände vorzuzeichnen. An ihr lässt sich die Reorganisation des Bilderrepertoriums als Abbildungssammlung historiographisch fokussieren – einmal als Gründungsszene der heute noch in Resten erhaltenen Abbildungssammlung, zugleich aber als Urszene ihrer späteren Ruinengestalt.
Phase 3 (1900-1940): Auffangbecken Die Ordnung Essenweins, die sich an der kulturhistorischen Bestandsgliederung des Museums orientierte, wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch
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Heinrich Höhn, den damaligen Leiter des Kupferstichkabinetts, modifiziert. Höhn orientierte sich für viele kulturhistorische Objektgruppen an der Typologie der Kunstgewerbemuseen und differenzierte die Abbildungen nach den Materialien der abgebildeten Objekte. Gleichzeitig stieg die Zahl der Photographien von eigenen Objekten in diesem Zeitraum deutlich an; zunehmend finden sich aus dieser Zeit Mappen oder Kapseln, in denen ausschließlich Abbildungen von Objekten des Germanischen Nationalmuseums aufbewahrt sind. Unter diesen sind viele lose Photographien eingelegt wurden. Auf die Gestaltung einer Schauseite, die auf Ordnung und Benutzbarkeit des Bestands zielt, wurde verzichtet. Die Kapseln des Bilderrepertoriums wurden als Auffangbecken für kunsthistorisch nachrangige Objekte (Abbildungsmaterial) benutzt, das dadurch wenig administrativen Aufwand bereitete. Personale Verflechtungen trugen zu dieser veränderten Sammlungspraxis bei. Konrad Hofmann, der zwischen 1910 und 1935 viele Objekte des Bilderrepertoriums beschriftete, war zeitgleich als Photograph des Museums beschäftigt. Viele der von Hofmann für Publikationszwecke erstellten Abzüge landeten schließlich ebenfalls darin. Charakteristisch für die gewandelte Wahrnehmung des Bilderrepertoriums ist ein Zitat von Heinrich Höhn aus dem Jahr 1938, das den Übergang von der Photographie als Sammlungsobjekt hin zum Gebrauch von Photographie als Hilfsmittel musealer Arbeit deutlich macht: „So wird die Abteilung der Abbildungen und Photographien von Kunstwerken und kulturgeschichtlichen Gegenständen zusehends mehr überholt durch einen rasch anwachsenden Vorrat an photographischen Platten, von denen ja jederzeit nach Bedürfnis Abzüge gemacht werden können.“7 So erschien das noch bis zum Zweiten Weltkrieg genutzte Bilderrepertorium zunehmend als defizitärer Bestand – einmal gegenüber den musealen Hauptsammlungen, zum anderen gegenüber dem allmählich entstandenen Photoarchiv mit seinen potentiell reproduzierbaren Negativen.
Phase 4 (1950-1980): Steinbruch Nach dem Zweiten Weltkrieg ist das Bilderrepertorium nicht mehr ergänzt, sondern als defizitäre Vorstufe der Sammlung angesehen worden, die nachträglich aufgearbeitet werden musste. Eine systematische Bearbeitung der Rückstände ist dabei nicht erfolgt. Statt dessen wurden immer wieder Einzelobjekte – wie aus einem Steinbruch der Museumsgeschichte – entnommen, die im Rahmen aktueller Sammlungskonzeptionen als interessant erachtet wurden. Die Anmutung des Bilderrepertoriums als Ruine der Museumsgeschichte ist durch diese Praxis verstärkt worden. So wurde seit den 1950er Jahren wiederholt „aus Rückständen inventarisiert“. Vor allem die Sammlungsabteilung der „Stadtansichten und Prospekte“ (S. P.) erfuhr durch diese nachholenden Eingliederungen erheblichen Zu7
Heinrich Höhn: Die graphische Sammlung des germanischen Nationalmuseums. Wesen und Aufgabe. Nürnberg 1938, S. 24.
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wachs: Früher waren viele Abbildungen von Architektur (Einzelgebäude und Detailansichten) im Bilderrepertorium abgelegt worden, weil der Bestand S. P. anfangs auf Gesamtansichten im Stile der Vedutengraphik ausgelegt war. Nun wurden viele graphische Darstellungen nachträglich inventarisiert. Mit der materiellen Einreihung des Objektes in den inventarisierten Bestand waren mediale Praktiken verbunden: Aufschreiben einer Inventarnummer, Einschreiben in das Inventarbuch, Anlegen einer Karteikarte, Einreihung in die Kartei. Da die Eingliederung von Rückständen einen relativ großen Zeit- und Arbeitsaufwand erforderte, wurde der Inhalt des Bilderrepertoriums nach der aktuellen Wertigkeit innerhalb der Graphischen Sammlung hierarchisiert. Auffällig ist in diesem Zusammenhang die um 1980 durchgeführte Sichtung, die das besondere Interesse an den traditionellen graphischen Techniken reflektiert und gleichzeitig das Desinteresse an der Photographie dokumentiert. Aus dieser Zeit stammen Mappen aus Makulaturpapier (etwa Rückseiten von Ausstellungsplakaten), in denen – unabhängig von der inhaltlichen Binnendifferenzierung –Druckgraphiken und Zeichnungen einer Kapsel unter dem Stichwort „Originalgraphik“ zusammengefasst worden sind. Vorbereitet wurde mit diesem Zugriff eine mögliche, zukünftige Entnahme aus dem Bilderrepertorium. In eine Kapsel wurde ein ins Jahr 1980 datierbarer Zettel eingelegt: „Enthält durchwegs Originalgrafik / zum Einordnen bestimmt“. Diese Sichtung und teilweise Neusortierung nahm demnach eine Bewertung der Abbildungssammlung nach den Maßgaben der Originalität vor. Originale Graphiken sollten mittelfristig in die inventarisierten Sammlungsbereiche der Graphischen Sammlung überführt werden. Im Bilderrepertorium blieben demnach nur Photographien und photomechanische Reproduktionen zurück: eine Wahrnehmungsweise, die das Museum als Ort (und Hort) von Originalität begreift und damit auch künstlerisch anspruchsloses Abbildungsmaterial aufwertet, sofern es als Original angesehen werden kann – und im Gegenzug das mechanische Bild der Photographie als musealen Bodensatz im Verborgenen belässt.
Phase 5 (1996-2002): Aushub Bei den Streifzügen durch die Ruine des Bilderrepertoriums rückte seit der Mitte der 1990er Jahre verstärkt das Medium der Photographie in den Fokus des Interesses. Dieser Prozess der Neubewertung wurde sicherlich auch durch eine Sammlungsbewegung begünstigt: die 1996 möglich gewordene Verlegung in besser zugängliche Depoträume. Gleichzeitig machte sich aber das allgemein wachsende Interesse kunst- und kulturhistorisch ausgerichteter Museen am Medium Photographie einerseits und an Sammlungsgeschichte andererseits bemerkbar. 1998 und 1999 waren Praktikantinnen mit der „Ordnung und Erschließung des sammlungsgeschichtlich bedeutsamen ‚Bilderrepertoriums’ beschäftigt“ und
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leisteten damit „wichtige Vorarbeiten für die Begründung einer photogeschichtlichen Sammlung“.8 Im Rahmen eines musealen Perspektivwechsels wurde das Bilderrepertorium neu bewertet: Ein Sammlungskomplex, der als Abbildungssammlung kulturhistorischer Objekte konzipiert (und als solcher in Vergessenheit geraten) war, findet als Reservoir photohistorischer Objekte neue Beachtung. Der Fokus verschiebt sich vom Abgebildeten (das Objekt der Photographie) zur Abbildung (die Photographie als Objekt). Diese Neubewertung erfolgte nach kunsthistorischen Kriterien, denn diese dominierten seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert die museale Betrachtung von Photographien. Folglich wurden vor allem solche Photographien entnommen und nachträglich inventarisiert, die sich etablierten photohistorischen Genres und bekannten Namen der Photogeschichte zuordnen ließen. Deutlich wird dabei der Versuch, sich konzeptionell an bestehenden Photomuseen und -sammlungen zu orientieren. Einige Teile des alten Bilderrepertoriums erscheinen im Rahmen dieser neuen Konzeption zum Aufbau der Sammlung besonders geeignet (vor allem die Architekturaufnahmen des 19. Jahrhunderts), andere bleiben weitgehend unbeachtet (etwa die photographischen Gemäldereproduktionen). Die Wiederaneignung als Sammlung historischer Photographien repräsentiert also keinesfalls seine museumshistorische Struktur. So bezeichnet vielleicht der an anderer Stelle einmal benutzte Ausdruck des „Aushubs“9 die Strategie am treffendsten: Aus einer Ruine der Museumsgeschichte sollen die Fundamente einer photohistorischen Sammlung herausgehoben werden.
Sammlungsarchäologie im Detail Die generelle Bedeutung des Bilderrepertoriums liegt aber wohl weniger in der photohistorischen Qualität von Einzelobjekten oder in der Auswahl der Photographien (die weitgehend zufällig ist), sondern im museums- und wissenschaftsgeschichtlichen Kontext: in der Frage der Mediengeschichte des Museums, des Verhältnisses von Museum, Photographie und Reproduktion – einem Forschungsfeld, das bisher von der Photographie- und Museumsgeschichtsschreibung gleichermaßen vernachlässigt wurde. Sobald man der Spur dieses sammlungsarchäologischen Befundes folgt, lassen sich auch die Einzelobjekte (Funde) aus einer anderen Perspektive wahrnehmen, beruht ihre Bedeutung nicht mehr nur auf den photo- bzw. kunsthistorischen Qualitätskriterien, sondern auf ihrer sammlungshistorischen Funktion. Photographien, die Reproduktionen von originalen Objekten darstellen, sind vor diesem Hintergrund von besonderem Interesse. Mit diesem Fokus kommen bei der Betrachtung von Einzelobjekten spezifische Aspekte der Bildlichkeit, der 8 9
Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums 1998, S. 308. Ebd. 2001, S. 257.
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Provenienz und der konkreten Gebrauchsweisen von musealen Objekten in den Blick, die bei der ersten sammlungsarchäologischen Annäherung ausgeblendet blieben. Beispielhaft mögen deshalb nun die beiden bereits kurz genannten Photographien von Gipsabgüssen miteinander in Beziehung gesetzt werden, die beide auf ein und dasselbe historische Objekt verweisen: die Bronzetaufe im Dom zu Hildesheim. Dabei handelt es sich um ein bedeutendes Zeugnis der Kunstgeschichte des Mittelalters. Die Bronzetaufe wird heute meist auf das 13. Jahrhundert datiert. Die im 19. Jahrhundert bedeutsame Sammlung von Gipsabgüssen im Germanischen Nationalmuseum wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts zunehmend als ungeliebtes Relikt einer überkommenen Museumsgeschichte angesehen, fast analog zu der Sammlung des Bilderrepertoriums. Photographien von Abgüssen historischer Objekte sind deshalb für den sammlungsarchäologischen Blick auf das Bilderrepertorium von besonderem Interesse. In ihnen werden mediale Konstellationen sichtbar, in denen sich das historische Beziehungsgeflecht zwischen Museum, Photographie und Reproduktion spiegelt: als reproduktive Aneignung eines Originals, als photographische Aneignung dieser Reproduktion und als museale Aneignung einer solchen Photographie. Die ältere der beiden Photographien ist ein kleinformatiger Albuminabzug, der (wie im 19. Jahrhundert üblich) auf festem Karton aufkaschiert wurde. Das Objekt trägt auf der Rückseite eine Beschriftung des Geschenkgebers, des Hildesheimer Bildhauers Friedrich Küsthardt. Nach der Überführung ins Museum wurde das Objekt gestempelt und auf einen Untersatzbogen in Standardformat montiert. Auch die Grundinformationen zum abgebildeten Objekt, die August von Eye im Beschriftungsblock festhielt, entsprechen dem in dieser Phase (1850er/ 1860er Jahre) üblichen Praxis des Germanischen Nationalmuseums: Klassifikation innerhalb des Systems, Objektbezeichnung und Datierung, Standort des Originals. „Altäre, Sacrarien p.p./ Taufkessel 11. Jhdt. - / Im Dom zu Hildesheim.“ Links oben ist mit Tusche eine Ordnungsnummer verzeichnet („71.“), die wie bereits erwähnt darauf verweist, dass die Abbildungen vor der Neuordnung der Museumsarbeit durch August Essenwein wie Nachbildungen und Originale verzeichnet wurden. Die Abbildung wurde zuletzt in einer Kapsel aufbewahrt, die Heinrich Höhn (in Phase 3) mit „Kunstgewerbe. / Bronce. / Kirchliches Gerät: Kreuze, Weihrauchfässer, Becken, Taufsteine, Lesepulte, Brunnen, Glocken.“ beschriftet hatte. Die frühere kulturhistorische Ordnung, die von der Funktion der Gegenstände ausging (Altäre, Sacrarien) wurde hier überformt durch eine Gruppierung nach Material (Bronze) und eine qualitative Zuordnung (Kunstgewerbe). Tatsächlich zeigt die Photographie jedoch gar keinen Gegenstand aus Bronze. Dies deutet sich in der rückseitigen Beschriftung an. Der Geschenkgeber Friedrich Küsthardt nutzte die Rückseite des Kartons als Informationsträger für eine Nachricht an das Museum: „Der Taufkessel im Dom zu Hildesheim (Höhe 6 ''
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Umfang 10' 9'') / Abgeformt und in Gipsgüssen zu haben bei Fr. Küsthardt, Bildhauer in Hildesheim. / Preis 100 M.“ Küsthardt bewarb mit dem Geschenk der Photographie eine von ihm verfertigte plastische Nachbildung des abgebildeten Gegenstandes. Die Abbildung macht deutlich, dass es sich bei dem abgebildeten Gegenstand nicht um das einzigartige Original handelt, sondern bereits um ein Exemplar der Küsthardt’schen Abgüsse. Die stumpfe Textur des Materials ist nicht Bronze, sondern Gips. Anders als die Bronzefiguren des Originals sind die Gipskopien der Reproduktion nicht in der Lage, Becken und Deckel zu tragen, was im Bild durch das zusätzliche Metallgestell deutlich wird. Die Umgebung des abgebildeten Objekts erweckt durch die grobe Steinpflasterung, das verwendete Gestell und das abgedeckte Podest eher den Eindruck einer Werkstattsituation (vielleicht eines Innenhofs) als den eines Kirchenraums. Über das Zugangsregister ist zu ermitteln, dass eine „Photographie nach dem Taufkessel im Dome zu Hildesheim“ Ende 1862 als Geschenk des Bildhauers Friedrich Küsthardt in das Museum gelangte. Für die Einordnung der Photographie in die Sammlungen des Museums war allerdings der Verweis auf das Original entscheidend. Die von Essenwein erhoffte Ordnung des Materials unterstellte eine Eindeutigkeit der Abbildungen und eine eindeutige Eingliederung in ein System. Die Konfusion entsteht hier durch den Gipsabguss. Denn den Gipsabguss als eigenständige Objektkategorie gibt es im Bilderrepertorium nicht. Die zweite Photographie im Bestand verweist in ihrer Beschriftung auf dasselbe Objekt. Die besonders großformatige Photographie mit der Abbildung des Taufbeckens wurde, wie gesagt, in einer speziell für Überformate bestimmten Kapsel aufbewahrt. Der Inhalt solcher größerer Kapseln ist deshalb im Regelfall deutlich heterogener, so dass er begrifflich nicht mehr gefasst werden kann. Diese Kapsel ist lediglich mit „Bilderrepertorium“ beschriftet worden. Es handelt sich um ein durchaus typisches Serienbild der Berufsphotographie des 19. Jahrhunderts. Wie viele seiner Kollegen nutzte der Lübecker Photograph Johann Nöhring für seine Bildserien einen einheitlichen Karton, auf dem bereits ein Bildrahmen, ein Beschriftungsfeld, der Name des Photographen und ein urheberrechtlicher Hinweis aufgedruckt waren. In dieses serielle Raster wurden das Albuminpapier und eine gedruckte Beschriftungszeile eingefügt. Der von Johann Nöhring in dieser Weise gestaltete Karton gelangte 1869 als dessen Geschenk in die Sammlung des Germanischen Nationalmuseums. Das Bild zeigt ein reliefverziertes Taufbecken samt Deckel, das auf vier menschlichen Figuren und einem zentralen Standfuß ruht. Das abgebildete Objekt ist von einer sechseckigen Absperrung umgeben. Objekt und Absperrung sind durch Hintergrund-Retusche vor einer dunklen Bildfläche freigestellt. Die weitere Umgebung des Objekts in der konkreten Aufnahmesituation ist bewusst ausgeblendet worden, um den Blick des Betrachters auf den abgebildeten Gegenstand zu fokussieren. Der Aufdruck, der unter der Photographie aufgeklebt ist, bezeichnet
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das abgebildete Objekt als: „Alter Taufstein, im Germanischen Museum in Nürnberg“. Museale Aneignung bedeutet nicht nur eine materielle Inbesitznahme (wie sie sich durch den Stempelabdruck auf der Rückseite des Kartons ausdrückt), sondern auch eine spezifische Form der Betrachtung und inhaltlichen Erschließung. In diesem Fall weicht die im Museum vorgenommene zusätzliche Beschriftung der Schauseite auffällig von der aufgedruckten Information Nöhrings ab: Im Beschriftungsblock (Handschrift: August von Eye) wurde das Objekt zunächst in der Kategorie „Altäre, Sacrarien“ klassifiziert und damit in das in den noch bis etwa 1870 übliche System des Museums überführt. In der Objektbezeichnung wird der abgebildete Gegenstand aber nicht dem Germanischen Nationalmuseum zugerechnet, sondern als „Taufstein im Dome zu Hildesheim“ bezeichnet. Natürlich kannte August von Eye das hier abgebildete Objekt. Es handelte sich um einen Gipsabguss des Hildesheimer Taufbeckens, der mit anderen sakralen Gegenständen (Originalen und Abgüssen) in der früheren Kapelle des Kartäuserklosters im Museum ausgestellt war. Eine zeitgenössische Abbildung zeigt das Objekt hinter genau der Balustrade, die Nöhring ablichtete.10 Tatsächlich war Küsthardts Werbeinitiative von 1862 Erfolg beschieden gewesen. Im Juni 1863 hatte der König von Hannover dem Germanischen Nationalmuseum eine Reihe der Gipsabgüsse des Bildhauers Küsthardt bewilligt, zu denen auch der Taufkessel aus Hildesheim gehörte. An diesem Beispiel zeigen sich die Verflechtungen zwischen dem Germanischen Nationalmuseum, den Reproduktionstechniken des 19. Jahrhunderts und dem Medium Photographie. Der Bildhauer Küsthardt schenkte dem Germanischen Nationalmuseum die photographische Abbildung einer von ihm hergestellten Reproduktion der Hildesheimer Bronzetaufe in Gips. Mit dieser Gabe an das Museum warb er zugleich für den Ankauf eines solchen Abgusses. Diese erfolgte später tatsächlich (durch die Einschaltung eines Mäzens). Der nun in Nürnberg aufgestellte Abguss wurde später von Johann Nöhring photographiert und die Photographie dem Museum geschenkt. In der Differenz zwischen der Beschriftung durch den Photographen Nöhring und durch das Museum zeigt sich möglicherweise eine jeweils spezifische Betrachtungsweise von Photographien und Reproduktionen. Die vom Photographen gewählte Bezeichnung als „Alter Taufstein, im Germanischen Museum in Nürnberg“ erscheint widersprüchlich: Was sich ihm und seiner Kamera im Museum gezeigt hatte, war ein Gipsabguss nach einem alten Taufstein oder schlicht ein Taufstein, nicht jedoch ein alter Taufstein. Die Ungenauigkeit des Photographen reflektiert somit ein eher geringes Interesse an den materiellen Differenzen zwischen Formen, deren Unterschiede der photographische Aufnahmeapparat bei der 10 Ludwig Braun: Ansichten aus dem Germanischen Nationalmuseum, um 1868. Germanisches Nationalmuseum. Graphische Sammlung Hz 1034 Kapsel 1442a.
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Übersetzung ins Bild weitgehend nivelliert. Festzuhalten blieb für Nöhring somit nur die Form bzw. der photographisch dokumentierte Augenschein eines Objektes („alter Taufstein“) sowie der Ort seiner Aufnahme („im Germanischen Museum in Nürnberg“). In dieser Akzentuierung durch den Photographen treten die Parameter der photographischen Abbildung in den Vordergrund (z. B. Perspektive, Beleuchtung, Detailschärfe, Format), während die Informationen über das abgebildete Objekt unscharf bleiben. Demgegenüber privilegierte das Germanische Nationalmuseum bei der Beschriftung von Photographien grundsätzlich die abgebildeten Objekte; Photographien zeichneten sich als visuelle Stellvertreter nicht materiell vorhandener Gegenstände aus und wurden entsprechend verzeichnet. In diesem Fall zeigt die Photographie jedoch einen Gipsabguss – und diese Richtigstellung wird auf dem Karton direkt hinter der aufgedruckten Beschriftungszeile Nöhrings notiert. Gipsabgüsse aber erhielten ihre Bedeutung als Sammlungsobjekte im Germanischen Nationalmuseum ihrerseits durch ihre Funktion als Stellvertreter. Der museale Beschriftungsblock links unten verweist deshalb nicht auf das Museum als Standort der photographierten Reproduktion, sondern auf den Ort, an dem der diesen verketteten Übertragungsprozessen zugrundeliegende Gegenstand im Original aufbewahrt wird: den Dom zu Hildesheim mit dem kunsthistorisch bedeutenden Taufbecken aus Bronze. In der abgeänderten Bezeichnung artikulieren sich somit ein museales Bewusstsein und ein Wissen um die medialen, materiellen und temporalen Differenzen zwischen Vorbildern, Nach- und Abbildungen; gleichzeitig dokumentiert die Beschriftungspraxis aber auch den Willen, beim Gebrauch von Photographien und Reproduktionen im Museum von diesen Differenzen abzusehen. Es gibt auf der Schauseite der Photographie unterhalb des alten Beschriftungsblocks einen jüngeren Bleistifteintrag, der wahrscheinlich im Zuge einer Revision des Bilderrepertoriums im 20. Jahrhundert entstanden ist. Bei der Nachbetrachtung mag die Differenz zwischen der museumsinternen und der externen Beschriftung aufgefallen sein. Unterhalb der musealen Bezeichnung wurde mit der Datierung „Ende 19. Jh.“ ganz bewusst auf den Abguss und nicht auf das dabei reproduzierte Vorbild des Hildesheimer Taufsteins Bezug genommen. Die musealen Gebrauchsweisen von Photographien und Reproduktionen waren auseinander getreten: Nöhrings Photographie erlaubte zwar noch immer eine Durchsicht auf den photographierten Gipsabguss, an diesem jedoch blieb der museale Blick nunmehr hängen.
Museum und Photographie Dieses Beispiel mag schlicht oder in seiner Konkretheit unwichtig erscheinen. Da es aber kein Einzelfall ist, darf es durchaus für den Funktionswandel und die Veränderungen stehen, die im Verhältnis von Museum und Photographie im Kontext der Kultur- und Wissenschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts
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entstanden sind. Unter einem solchen Blickwinkel erweist sich das Bilderrepertorium als Seismograph im kulturhistorischen Spannungsfeld von Kunst, Wissenschaft und Technik vor dem Hintergrund der aufeinander folgenden Konzeptionen des Germanischen Nationalmuseums. Zunächst hält das Medium Photographie als eines von mehreren Reproduktionsverfahren (Zeichnungen, Galvanoplastik, Gipsabguss) Einzug in das Museum, in welchem Objekte und Reproduktionen nahezu gleichwertig betrachtet und gleichermaßen primär als Informationsträger behandelt werden. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts werden Photographien als Sammelobjekte immer zahlreicher, was spezielle Umgangsweisen mit dem massenmedialen Objekt erforderte. Da Material und Form der Museumsobjekte an Bedeutung gewinnen, wird die Photographie zum materiell und ästhetisch nachrangigen Schauobjekt, zugleich behält es jedoch als fachwissenschaftliches Studienobjekt seine Bedeutung, bzw. steigert diese sogar. Im Gegensatz zur Universität ist jedoch bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts eine Abkehr des Museums von photographischen Abbildungen als Sammlungsobjekten unverkennbar. Gleichzeitig verlagert sich das Interesse von der zeitgenössischen zur (zeit-)historischen Photographie und zur Photographie als eigenständiger Kunst- und Ausdrucksform. Der Tendenz zur Musealisierung der Photographie als Kunst ist das Germanische Nationalmuseum lange Zeit nicht gefolgt. Erst seit einigen Jahren wendet es sich nach dem Vorbild der Kunstmuseen der künstlerischen Photographie zu und beginnt, die eigenen Altbestände aus photohistorischer Perspektive wieder zu entdecken. Es tut gut daran, neben der Präsentation von Funden, die sich aus neuen Sichtweisen auf das Medium Photographie ergeben, auch den sammlungsarchäologischen Befund zu bewahren. Denn dieser ist ein Schlüssel zum Verständnis der Historizität von Sammlungskriterien.
„ De r Sa mmle r und die Seinige n“ . Die Ge mäldesa mmlung des Ae lterma nn Lürma n in Bremen ANDREA WENIGER Vor mittlerweile über hundert Jahren ist Gustav Pauli, der erste Direktor der Kunsthalle Bremen, im Rahmen seiner kurzen Auseinandersetzung mit der zu dieser Zeit letzten großen Privatsammlung aus der Gründerzeit des Kunstvereins in Bremen – der Sammlung Lürman – zu folgender Einschätzung gelangt: „Für den Uneingeweihten wird es eine Überraschung sein, von einer bisher ungenannten Privatgalerie zu hören, unter deren etwa zweihundert alten Gemälden Ruisdael, Ter Borch, Jan Steen, die beiden Netscher, Pieter Lastman, Hondecoeter und manche andere Träger klangvoller Namen mit guten Werken vertreten sind. Diese Sammlung stammt aus einer Zeit, da der Kunstverein als Gemäldelieferant noch kaum in Betracht kam und die Bremer ihren Bedarf an Bildern aus der unermesslichen Hinterlassenschaft der Niederländer des 17. Jahrhunderts zu decken pflegten […]. Am eifrigsten scheint der Ältermann Theodor [Gerhard] Lürman gesammelt zu haben […]; und wenn wir auch [einige Namen] aus seinem Kataloge streichen müssen, so bleibt doch genug übrig, um einen weit ausführlicheren Bericht als diesen zu rechtfertigen.“1 Dieser kurze, überblickshafte Beitrag hat sich auf der Grundlage eines größeren Untersuchungsvorhabens über die Gemäldesammlung des Aeltermann Theodor Gerhard Lürman zum Ziel gesetzt, der Aufforderung von Gustav Pauli erstmals nachzukommen. Dabei wird die Sammlung Lürman allerdings nicht isoliert betrachtet, sondern bewusst vor dem Hintergrund der Lebensgeschichte ihres Besitzers und im Kontext des kulturellen Geschehens der Hansestadt Bremen im 19. Jahrhundert beleuchtet. Dies erscheint insbesondere nach einem Blick auf die Forschungslage als unumgänglich. Denn bis dato fehlt eine zusammenhängende Untersuchung zum 1
Gustav Pauli: Die Gemäldesammlung der Familie Lürman. In: Zeitschrift für Bildende Kunst, hg. von E. A. Seemann. Bd. 15. Leipzig 1904, S. 166f.
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kulturellen Leben in Bremen im 19. Jahrhundert und zu seinen Protagonisten. Die lokalen Kunstsammler haben dabei eine besonders bedeutsame Rolle gespielt. Denn sie waren es, die sich 1823 zum Kunstverein Bremen formierten und mit ihren Sammlungen und Stiftungen das Sammlungs- und Ausstellungswesen in einer Stadt begründeten, in der es noch keine staatliche oder kommunale Kunstförderung gab. Um so erstaunlicher ist es, dass Bremer Kunstsammler und ihre Sammlungen bisher noch nicht umfassend erforscht wurden. Denn erstens zählt Sammlungsgeschichte seit mehreren Jahrzehnten zu einem wichtigen Forschungsbereich der Geschichtswissenschaften2 beziehungsweise zu einem zentralen Aufgabenbereich von Museen und Sammlungen3. Und zweitens liegen für vergleichbare Städte wie Frankfurt am Main oder Hamburg bereits diverse Forschungsbeiträge vor. Das Schließen dieser Forschungslücke stellt daher für Bremen eine Notwendigkeit dar. Theodor Gerhard Lürman (1789-1865) war Kaufmann und Aeltermann und hatte mit dem Unternehmen seines Vaters spätestens nach der französischen Besatzung Bremens einen geradezu sagenhaften sozialen Aufstieg erlebt. Im Zuge dieses Aufstiegs begann er, Gemälde zu sammeln. Seine Gemäldesammlung entstand innerhalb eines Zeitraums von fünfzig Jahren und umfasste schließlich 256 Nummern. Einen zentralen Sammlungsschwerpunkt stellten Werke niederländischer Maler des 17. Jahrhunderts dar. Als die Gemäldesammlung etwa 40 Jahre nach dem Tod des Aeltermanns, im Jahre 1904 wegen des Bankrotts der Firma Stephan Lürman & Sohn und durch 2
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Hier seien vor allem folgende Beiträge genannt: Gudrun Calov: Museen und Sammler des 19. Jahrhunderts in Deutschland. In: Museumskunde 38 (1969); Hannelore Sachs: Sammler und Mäzene. Zur Entwicklung des Kunstsammelns von der Antike bis zur Gegenwart. Leipzig 1971; Ekkehard Mai und Peter Paret: Sammler, Stifter und Museen. Kunstförderung in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. Köln 1993; Klaus Minges: Das Sammlungswesen der frühen Neuzeit. Kriterien der Ordnung und Spezialisierung. Münster 1998; Thomas Schmitz: Die deutschen Kunstvereine im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Kultur-, Konsum- und Sozialgeschichte der bildenden Kunst im bürgerlichen Zeitalter. Neuried 2001. Darüber hinaus wurden diverse Forschungsprojekte zur Aufarbeitung der Geschichte des Sammelns ins Leben gerufen. Vgl. http://www.getty.edu/research/conduc ting_researc/provenance_index/publicweb.htm. Im Juni 2008 fand in Groningen eine internationale Konferenz zum Thema Kunstsammeln „The art collector. Between philanthropy and self-glorification“ statt, vgl. http://www.rug.nl/let/onderzoek/on derzoekcentra/biografieinstituut/artcollector/index. Sie bezeugt die Aktualität dieses Forschungsbereiches. Im Hinblick auf Bremen vgl. vor allem Dorothee Hansen: „...unsre jährlichen fünf Thaler haben es erbaut.“ Die Geschichte des Kunstvereins und der Kunsthalle Bremen. In: Die Kunsthalle Bremen zu Gast in Bonn. Meisterwerke aus sechs Jahrhunderten. Köln 1997, S. 8-31; Ursula Heiderich: „Aus den Wirren der Tagesbegebenheiten in die Arme der Kunst zu flüchten“. Zu den Anfängen der Skulpturensammlung in der Kunsthalle Bremen. In: Martina Rudloff (Hg.): Klassizismus in Bremen. Formen bürgerlicher Kultur. Bremen 1994, S. 132-154.
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Erbgang komplett auseinander zu brechen drohte, gelang es Gustav Pauli, einige Gemälde der Sammlung für den Kunstverein in Bremen zu gewinnen. Daher befinden sich heute zusammen mit drei Gemälden, die Theodor Gerhard Lürman dem Kunstverein noch zu Lebzeiten (1861 und 1863) vermacht hatte, insgesamt 17 Gemälde aus seinem Besitz in der Sammlung der Kunsthalle beziehungsweise des Kunstvereins in Bremen. Dazu gehören unter anderem Meisterwerke wie die Schlacht zwischen Konstantin und Maxentius von Pieter Lastman, eine Kopie nach Frans Snyders Küchenstilleben, ein Hühnerhof von Melchior de Hondecoeter, eine Marine von Simon Jacobsz de Vlieger, die Schlafende Bacchantin von Gérard de Lairesse und Diana im Bade von Adriaen de Backer. Alle diese Gemälde wurden bis zum Umbau der Kunsthalle Bremen im Herbst 2008 dauerhaft im Saal 3 (Holländische und Flämische Malerei des 17. Jahrhunderts) im Galeriegeschoss präsentiert. Theodor Gerhard Lürman gehörte nachweislich zu den ersten Mitgliedern des 1823 gegründeten Kunstvereins in Bremen. Vermutlich war er sogar eines seiner Gründungsmitglieder. Aus diesem Grund und weil mittlerweile eine beachtliche Zahl von Gemälden aus seinem Besitz zur Sammlung der Kunsthalle in Bremen gehört, sind seine Sammlerpersönlichkeit und seine Gemäldesammlung von besonderem Interesse, nicht zuletzt auch für die Geschichte des Kunstvereins in Bremen. Im Zentrum dieses Interesses steht die Frage, wer der Sammler Lürman war und unter welchen Umständen er seine Sammlung aufbaute. So ist der Lebensund Familiengeschichte von Theodor Gerhard Lürman viel Aufmerksamkeit zu widmen, wie auch dem Entstehungskontext seiner Gemäldesammlung. Denn nur auf diese Weise lassen sich der Aufbau, der Umfang und die Zusammensetzung der Sammlung Lürman beschreiben und erklären. Dafür ist der Nachlass der Familie Lürman im Staatsarchiv Bremen und in Privatbesitz einer erneuten beziehungsweise erstmaligen Durchsicht unterzogen worden.4 Außerdem wurden im Archiv der Handelskammer, im Landesamt für Denkmalpflege und im FockeMuseum in Bremen weitere Dokumenten gesichtet, die Aufschluss über die Biographie des Sammlers geben können. Um das kulturelle Leben der Hansestadt Bremen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts skizzieren zu können, müssen weiterhin Informationen aus den verschiedensten Beiträgen über das Bremer Bürgertum5, über das lokale Vereinswesen und über Kunst und Künstler in Bremen hinzu geführt werden, einschließlich 4
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Die Geschichte des Bremer Zweigs der Familie Lürman wurde bis dato lediglich im Rahmen einer Seminararbeit an der Universität Bremen bearbeitet, vgl. Sabine Wenhold: Die Familie Lürman. Hausarbeit für das Seminar „Das Bremer Bürgertum – Aufstieg und Blüte (1850-1914)“ im Studiengang Geschichte, Universität Bremen, WS 1996/97 (unveröffentlicht, Staatsarchiv Bremen). Hier ist vor allem zu nennen: Andreas Schulz: Vormundschaft und Protektion. Eliten und Bürger in Bremen 1750-1880. (Habil.-Schrift Frankfurt/M.). München 2002.
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einer umfangreichen, gezielten Quellenforschung, etwa im Archiv der Kunsthalle Bremen, in der Gesellschaft für Familienforschung e. V. „Die Maus“, im FockeMuseum, in der Staats- und Universitätsbibliothek und im Staatsarchiv in Bremen. Die Recherche betrifft einzelne Vereine, insbesondere aber natürlich den Kunstverein sowie die überlieferten Kunstliebhaber, -sammler und -händler. Für die Analyse der Gemäldesammlung bildet schließlich der handschriftlich von Lürman selbst verfasste und erhalten gebliebene Gemäldekatalog die Hauptquelle. Der Katalog konnte komplett überarbeitet und auf einen „modernen“ Stand hin aktualisiert und ergänzt werden. Als arrivierter Kaufmann, als Altstadtbürger mit Handlungsfreiheit, als Mitglied im exklusivsten Verein der Stadt, der „Erholung“, und später sogar als Vertreter in einem der drei Staatsorgane, dem Collegium Seniorum der Aelterleute, stellte Lürman einen typischen Repräsentanten der Bremer Oberschicht dar und damit gleichsam einen klassischen Vertreter der Gründergeneration des Kunstvereins. Dieser hatte sich anfangs nämlich hauptsächlich aus kunstbegeisterten Mitgliedern der Bremer Elite zusammengesetzt. Da es in Bremen zu dieser Zeit noch keine Kulturförderung gab, waren es die Vertreter der Bremer Oberschicht, welche die Trägerschaft aller kulturellen Initiativen bildeten. Für die Gründung des Kunstvereins war allerdings nicht nur das gemeinsame Interesse von gesellschaftlich einflussreichen Kunstliebhabern ausschlaggebend, sondern überdies der – wie sich zeigen sollte – für Bremer Kunstsammler so charakteristische Bewahrungsgedanke: Als eine Sammlung von Handzeichnungen aus dem Besitz des verstorbenen Senators Duntze 1822, also ein Jahr vor der Gründung des Kunstvereins, zum Verkauf stand, ging zunächst ein Gesuch an den bis dato einzigen Verein mit einer eigenen Sammlung, das „Museum“. Erst nachdem dieses Gesuch abgelehnt worden war, kam es auf Initiative des Senators Hieronymus Klugkist (1778-1851) zur Gründung des Kunstvereins in Bremen. Dieser Zusammenhang zwischen der Gesellschaft „Museum“ und dem Kunstverein war bislang unbekannt. Theodor Gerhard Lürman gehörte zu den ersten Mitgliedern des Kunstvereins in Bremen. Wie sich heraus gestellt hat, sammelten die überlieferten Bremer Sammler ab 1780 hauptsächlich Gemälde Alter Meister, vornehmlich niederländischer Maler des 17. Jahrhunderts, und so wurden die beiden ersten Ausstellungen des Kunstvereins dieser Vorliebe entsprechend ausgerichtet. Auch Lürman vertrat mit seiner Sammlung diesen traditionellen Sammlergeschmack. Das zeigt sich besonders deutlich anhand von Übereinstimmungen zwischen Exponaten bei den Ausstellungen des Kunstvereins in Bremen 1829 und 1833 und Gemälden aus dem Sammlungskatalog von Lürman. Doch interessanter Weise spiegelt sich in Lürmans Gemäldekatalog zugleich der Wechsel in der Ausstellungspolitik des Kunstvereins wider, der sich ab etwa 1843 vollzog. Bei den Verkaufsausstellungen des Vereins wurden fortan hauptsächlich Werke zeitgenössischer deutscher und lokaler Künstler präsentiert, verkauft und verlost. Dahinter stand sowohl der auch national geprägte Gedanke, lebende deutsche Künstler zu fördern, als auch
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das Bestreben, Kunstwerke in bürgerlichen Haushalten zu verbreiten und damit gleichsam geschmacksbildend auf das Publikum einwirken zu können. Entsprechend sind in der Sammlung Lürman neben einer Vielzahl von Gemälden niederländischer Maler des 17. Jahrhunderts auch etliche Werke von zeitgenössischen Künstlern aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vertreten. Nachdem die Mitgliederbeschränkungen des Kunstvereins 1843 aufgehoben worden waren, avancierte der Verein, in dem mittlerweile nicht nur Kunstliebhaber und -sammler, sondern auch Künstler, Kunsthändler und Laien vertreten waren, zum kulturellen Zentrum der Stadt. Deshalb können Kunstvereinsvorstand und -mitgliedschaft ab diesem Zeitpunkt nicht mehr als homogene Interessengemeinschaft bezeichnet werden. Umso bemerkenswerter erscheint in diesem Zusammenhang, dass Theodor Gerhard Lürman, der teilweise eben auch im Vorstand des Vereins gewesen war, die neue Ausrichtung des Kunstvereins in Bremen nicht nur mit verantwortete, sondern auch auf seine eigene Sammlung übertrug. Diese Entwicklung ist bei keinem anderen Bremer Sammler auszumachen, dessen Sammlertätigkeit in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts fiel und von dem ein Sammlungs- oder Auktionskatalog überliefert ist. Ein weiteres besonderes Indiz für die Beeinflussung des Sammlers Lürman durch die Aktivitäten des Kunstvereins ist der Umstand, dass Lürman sich nur vier Jahre nach der Einweihung der Kunsthalle ein eigenes Galeriegebäude von demselben Architekten in Sichtweite des Ausstellungshauses hat errichten lassen. Dabei zeigte sich jedoch, dass Lürman auch ein individuelles Selbstverständnis als Sammler und Eigentümer entwickelt hatte. Im Gegensatz zur Kunsthalle war sein Galeriegebäude nämlich nicht Ausdruck eines bürgerlichen Gemeinschaftssinns und auch nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Diese Haltung wurde zudem dadurch offenkundig, dass er seine Sammlung nicht wie seine Zeitgenossen Hieronymus Klugkist und Johann Heinrich Albers (1744-1855) dem Kunstverein vermachte, sondern seinen Söhnen vererbte. Leider sollte damit auch das Schicksal der Sammlung besiegelt werden. Denn im Gegensatz zu den Sammlungen von Albers und Klugkist, die dem Kunstverein in Bremen mit Ausnahme von kriegsbedingten Verlusten bis heute erhalten geblieben sind, konnte die Sammlung Lürman in Bremen nicht als Ganzes bewahrt werden. Im Vergleich mit anderen bürgerlichen Sammlungen zeigt sich, dass die Gemäldesammlung von Theodor Gerhard Lürman bis auf die Werke zeitgenössischer Künstler eine eher durchschnittliche Bremer Sammlung dargestellt hat. Auch wenn in Bremen vereinzelt italienische oder französische ältere Meister und zeitgenössische lokale Maler wie vor allem Johann Heinrich Menken (17661839) gesammelt wurden, so galt die Vorliebe der Bremer Sammler doch klar der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts. Entsprechende Werke sind in nahezu allen Katalogen am häufigsten vertreten. Bemerkenswert ist, dass vorwiegend Gemälde gesammelt wurden, während Druckgraphiken meist einen sowohl quantitativ als auch qualitativ geringeren Anteil ausmachten.
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Bei der Zusammenstellung seiner Sammlung war Lürman mehr seiner persönlichen Neigung als einem bestimmten kunsthistorischen Prinzip gefolgt. Das lässt sich daran ablesen, dass innerhalb seines zentralen Sammlungsschwerpunktes weder eine reine Auslese großer Namen noch eine bewusst getroffene Auswahl von Vertretern bestimmter Schulen, Gilden oder Spezialgebieten auszumachen war. Genauso wenig stellte die Sammlung Lürman eine repräsentative Überblicksdarstellung zur Kunstproduktion dieser Zeit dar. Allerdings erklärt sich dieser Umstand aus der offensichtlichen Gebundenheit des Sammlers an den lokalen Kunstmarkt. Dieser war erst im Laufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts professionalisiert und vermutlich erst im Zusammenhang mit den Aktivitäten des Kunstvereins spezialisiert worden. Genau darin liegt der bedeutende Unterschied Bremens zur Nachbarstadt Hamburg. Der Umstand, dass Hamburg seit dem 18. Jahrhundert ein Kunsthandelszentrum war, wirkte sich de facto deutlich auf die Sammlertätigkeit der dort ansässigen Kunstliebhaber aus. Im Gegensatz zu Bremen hatten Sammler in Hamburg schon seit dem 18. Jahrhundert verstärkt zeitgenössische Künstler in ihre Sammlungen aufgenommen. Dies war eine Entwicklung, die in Bremen erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Zuge der Aktivitäten des Kunstvereins aufkam und wohl auch nur anhand der Sammlung Lürman eindeutig nachweisbar ist. Zudem waren die Sammlungsobjekte der Hamburger Kunstliebhaber im Vergleich zu denjenigen der Bremer Sammler sehr viel unkonventioneller. Während Lürman Gemälde sammelte und seine Zeitgenossen Klugkist und Albers mit ihren Druckgraphiksammlungen Ausnahmeerscheinungen als Sammler darstellten, sammelten Hamburger Kunstfreunde beispielsweise Handzeichnungen, begleiteten ihre Sammlungen wissenschaftlich und bewiesen damit nicht nur Professionalität, sondern auch Fortschrittlichkeit. Doch vielleicht liegt die Bedeutung des Sammlers Theodor Gerhard Lürman eben gerade in seiner Durchschnittlichkeit. Man könnte sogar soweit gehen und ihn als den idealen Repräsentanten der Gründergeneration des Kunstvereins bezeichnen, weil sich anhand seiner Sammlerpersönlichkeit und seiner Sammlung der Einfluss des Kunstvereins in Bremen wie an keiner Stelle sonst aufzeigen lässt. So könnte die eingangs zitierte Aussage von Gustav Pauli aus dem Jahr 1904 heute korrigiert werden: Nicht am eifrigsten, sondern am bezeichnendsten scheint der Aeltermann Theodor Gerhard Lürman gesammelt zu haben.
Die Sa mmlungs- und Aus s tellungstätigk eit de r Kunsthalle Bremen unter Emil Waldmann 1914–1932 VERENA BORGMANN Am 1. Juli 1914 übernahm Emil Waldmann als Nachfolger von Gustav Pauli, der einem Ruf als Direktor an die Hamburger Kunsthalle gefolgt war, die Leitung der Kunsthalle Bremen. Dieses Amt sollte er bis 1945, also 31 Jahre lang, innehaben. Während für Waldmann bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten vor allem finanzielle Probleme im Vordergrund standen, wobei er die Verstaatlichung der Kunsthalle verhindern konnte, war er ab diesem Zeitpunkt massiven Angriffen gegen seine Museumspolitik ausgesetzt. Nachdem er auch diese abwehren konnte, folgten die Reichsaktion gegen die „entartete Kunst“ und schließlich die Fernauslagerungen, bedingt durch den Zweiten Weltkrieg. Waldmanns bewegte Vita fand 1945 ein düsteres Ende – kurz vor dem Ende des Krieges nahm er sich, gemeinsam mit seiner Frau, in Würzburg das Leben. Trotz der unglücklichen historischen Umstände gelang es Waldmann mit seiner Museumspolitik, die Kunsthalle Bremen zu einer „Mustergalerie“, einer Vorbildersammlung von Meisterwerken der europäischen Kunst mit dem Schwerpunkt auf neuzeitlicher deutscher und französischer Kunst auszubauen. Ungeachtet der permanent schlechten wirtschaftlichen Lage gelang ihm der Ankauf von zahlreichen bedeutenden Werken. Die Betrachtung von Waldmanns Museumspolitik wurde im wesentlichen auf den Zeitraum zwischen 1914 und 1932 eingegrenzt. Für die Thematik der Kunsthalle in der Zeit des Nationalsozialismus sei auf eine 1990 an der FU Berlin entstandene Magisterarbeit von Kai Artinger hingewiesen: Die Bremer Kunsthalle 1933-1945.
Die Kunsthalle Bremen bis zum Dienstantritt Emil Waldmanns Die Kunsthalle Bremen ist bis heute eine Institution, die vorwiegend von einem Verein – dem Kunstverein – getragen wird. Dieser hat seinen Ursprung im Jahre 1823, als sich ein kleiner Kreis von Kunstfreunden unter der Initiative von Sena-
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tor Hieronymus Klugkist zusammenschloss mit dem Ziel, „den Sinn für das Schöne zu verbreiten und auszubilden. Er beschränkt sich dabei auf die bildende Kunst.“1 Bis zu diesem Zeitpunkt gab es keine Einrichtung in der Stadt, die sich der Pflege der bildenden Kunst widmete, denn es gab keine öffentliche Sammlung, da in der Kaufmannsstadt fürstliches Mäzenatentum – wie es in Berlin, München, Kassel oder Karlsruhe vorhanden war – fehlte.2 Die Initiative des Kunstvereins war ein Versuch, die bereits in Bremen vorhandenen Privatsammlungen am Ort zusammen zu halten und so deren Abwanderung durch Verkauf zu verhindern. Im Laufe der Jahre entwickelte sich der Kunstverein von einer privaten zu einer öffentlichen Institution mit großen Ausstellungen aktueller Kunst und auch mit dem Verkauf von Bildern im Kunsthandel. Nachdem die Sammlung des Kunstvereins zunächst nur langsam gewachsen war, wurde im Mai 1849, als der Verein sein erstes eigenes Gebäude beziehen konnte, der Aufbau der vereinseigenen Sammlung zur vorrangigen Aufgabe erklärt. Die Kunsthalle Bremen war das erste Gebäude in Deutschland, das ein Kunstverein für seine bürgerliche Sammlung errichtet hat – alle bisherigen Museen beherbergten fürstliche Sammlungen3. Privatleute spendeten hohe Summen für den Bau, und der Senat stellte das Grundstück zur Verfügung. Die Besonderheit ist, dass mit dem Bauvorhaben die Leitung des Projektes nicht in die Hände der Stadt überging, wie beispielsweise bei der Hamburger Kunsthalle in den 1850er Jahren. Der Kunstverein blieb – bis heute – Träger der Sammlung und des Hauses. Nach und nach entwickelte sich das Haus von einer Ausstellungshalle zu einem Kunstmuseum mit umfangreicher eigener Sammlung. Als Gustav Pauli Ende 1899 die erste wissenschaftliche Leitung der Kunsthalle übernahm, besaß sie durch Schenkungen und Nachlässe zwar schon gewisse eigene Bestände, aber die Ausstellungen der vergangenen Jahre standen in enger Verbindung zum Kunsthandel. Die Bilder wurden ausgestellt, um verkauft zu werden, so dass die vereinseigene Sammlung stark vernachlässigt wurde.4 Hinzu kommt, dass die bestehende Sammlung durch Vermächtnisse reicher Privatsammler relativ zufällig gewachsen war. Pauli wollte aus den Eigenbeständen eine repräsentative Sammlung machen. Er begann, die Kunsthalle zu reformieren. Damit wurde er zu dem „neuen Typus des modernen Galerieleiters“5, mit dem „eine neue Weltanschauung in die Museen“6 einzog. Dafür galt es zunächst das 1 2
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Gesetze des Kunstvereins in Bremen. Bremen 1827, Paragraphen 1 und 2. Vgl. Dorothee Hansen: Die Geschichte des Kunstvereins und der Kunsthalle Bremen. In: Die Kunsthalle Bremen zu Gast in Bonn. Meisterwerke aus sechs Jahrhunderten. Bonn 1998, S. 8–32. Schinkels Museum in Berlin, das Museum Fridericianum in Kassel von Landgraf Friedrich II., Klenzes Glyptothek und seine Pinakothek in München sowie die Museen in Stuttgart und Karlsruhe. Vgl. Hansen (wie Anm. 2), S. 15. Karl Scheffler: Die Bremer Kunsthalle. In: Kunst und Künstler 11. Berlin 1913, S. 85. Ebd., S. 86.
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Profil der Sammlung zu schärfen. Pauli konzentrierte sich auf Erwerbungen zeitgenössischer Kunst, um seine Mittel nicht zu verwirtschaften. Allerdings war ihm die Erweiterung des 19. Jahrhunderts sehr wichtig, weil in diesem Bereich noch viele wesentliche Künstler wie Moritz von Schwind, Anselm Feuerbach oder Ludwig Richter nicht vertreten waren.7 Alte Meister sollten nur noch in den Besitz der Kunsthalle gelangen, wenn sie aus Bremer Privatbesitz veräußert wurden, damit sie der Stadt erhalten blieben.8 Als einer der ersten setzte Pauli sich durch einen Bildankauf und die erste Einzelausstellung der Künstlerin 1908 für die damals noch völlig verkannte Paula Modersohn-Becker ein. Außerdem trug er eine noch heute bedeutende Auswahl an französischen impressionistischen Bildern zusammen, darunter die Camille von Claude Monet, der Zacharie Astruc von Édouard Manet sowie Gemälde von Gustave Courbet, Camille Corot, Camille Pissarro, Auguste Renoir und von deutschen Impressionisten wie Lovis Corinth, Max Liebermann, Wilhelm Leibl und Wilhelm Trübner. So gelang es Pauli, aus der Kunsthalle Bremen eine Galerie moderner Kunst zu machen: „Es bedarf nur eines Ganges durch die Bremer Kunsthalle[,] um zu begreifen, dass diesem Museum neuerer Kunst weit über Bremen hinaus die Bedeutung eines werdenden Musterinstituts zukommt.“9 Doch nicht alle Menschen waren dieser Meinung. Die Kunsthalle und ihr Leiter wurden immer wieder öffentlich angegriffen und gerieten mit dem Künstlerstreit 1911, ausgelöst durch den Ankauf des Mohnfeldes von van Gogh, in eine hitzige Kunstdebatte, die einen gesamtdeutschen Künstlerprotest entfachte. Im Mittelpunkt stand die angebliche Bevorzugung der Franzosen, vor allem der Impressionisten. Trotz der heftigen Anfeindungen ging Pauli als Sieger aus diesen Kämpfen hervor und gewann viele engagierte Förderer für die Kunsthalle. Im Jahre 1899 gründete er die Vereinigung von Freunden der Kunsthalle. Um die Möglichkeiten von Neuerwerbungen zu erweitern, gründete der Generaldirektor des Norddeutschen Lloyd und Vorstandsmitglied im Kunstverein, Dr. Heinrich Wiegand, 1904 zudem den Galerieverein. Im selben Jahr bewilligte der bremische Senat dem Kunstverein erstmals einen Zuschuss von jährlich 10.000 Mark sowie den Erlass der Steuern. Von nun an war die Kunsthalle ein öffentliches Museum, getragen von einem privaten Verein.
Emil Waldmanns Museumspolitik Emil Albert Waldmann wurde am 15.12.1880 in Bremen geboren. Er stammte, wie sein Vorgänger Pauli, aus einer Bremer Kaufmannsfamilie. Nach dem Promotionsstudium der Kunstgeschichte, der Altertumswissenschaft und der Geschichte übernahm Waldmann 1906 die ihm von Gustav Pauli angebotene Stelle 7 8 9
Vgl. Jahresbericht [JB] der Kunsthalle Bremen 1901/02, S. 7f. Vgl. Scheffler (wie Anm. 5), S. 90. Ebd., S. 88.
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eines Direktorial-Assistenten an der Kunsthalle Bremen. Im April 1910 gab Waldmann seine Anstellung in der Kunsthalle auf, um sich weiterer Ausbildung im Ausland zu widmen. 1913 folgte er einem Ruf nach Dresden und wurde Direktor der Kunstsammlungen der königlichen Sekundogenitur – des Kupferstichkabinetts und der Bibliothek auf der Brühlschen Terrasse, wo auch Pauli vor seinem Dienstantritt in Bremen Direktor gewesen war. Ein Jahr später trat er die Nachfolge von Gustav Pauli an. Im Jahre 1930 ernannte der Senat ihn zum Professor. Während des Zweiten Weltkriegs arbeitete Waldmann mehrere Jahre als Dozent für Kunstgeschichte an der Nordischen Kunsthochschule10. Bis zu seinem Selbstmord am 17. März 1945 blieb er Direktor der Kunsthalle Bremen. Im Jahre 1906 war außer dem Direktor und seinem Assistenten nur noch ein Sekretär, Carl Schumacher11, in der Verwaltung beschäftigt. Waldmann und Pauli standen also schon früh in einem engen Arbeitsverhältnis zueinander, welches beide voneinander profitieren ließ. Waldmann erhielt unter Pauli trotz seines Status als Assistent die Möglichkeit, seine Fähigkeiten und Neigungen individuell zu entwickeln. Gelobt wurde die Autonomie Waldmanns, da er „bei aller grundsätzlicher Übereinstimmung mit Pauli, eine ebenso selbständige Persönlichkeit ist, ein Mann, der das Echte und allgemein Gültige ebenfalls individuell wertend findet“. Beide Direktoren haben wohl demselben „Typus des modernen Galerieleiters“ angehört und hatten „beide zudem den Vorzug, Bremer zu sein“12. Denn das bedeutete, dass sie mit der Bremer Bevölkerung und Gesellschaftsstruktur vertraut waren, den ‚hanseatischen Charakter’ der Bremer Bürger kannten und damit umzugehen wussten. Dass Waldmann sogar umgekehrt auch Einfluss auf Pauli ausgeübt haben könnte, zeigt ein Ausschnitt aus einem Brief, den Mathilde Becker an ihre Tochter Paula Modersohn-Becker schrieb. Sie bezog sich auf eine positive Ausstellungsrezension für die Künstlerin, die Pauli am 11. November 1906 in den Bremer Nachrichten veröffentlicht hatte. „[...] Niemand anders als unser Museumsdirektor stößt für Dich ins Horn, Dr. Gustav Pauli ist Dein Lohengrin. Ich denke mir, der kleine Dr. Waldmann, den Deine Sachen mächtig interessieren, hat ihm die Laterne aufgesteckt. Ich kann ja den Kopf nicht ausstehen, aber für Dich freuts mich doch riesig, daß dies geschrieben ist. [...]“13 Pauli hatte damit begonnen, die Sammlung zu ordnen und ihr Profil zu schärfen. An diesem Punkt setzte Emil Waldmann ab 1914 an. Er setzte nicht nur die Profilschärfung der GemäldeSammlung fort, sondern kümmerte sich mit gleichem Eifer wie sein Vorgänger um den Ausbau des Kupferstichkabinetts. Waldmann und Pauli besaßen beide 10 Heute: Hochschule für Künste Bremen. 11 Ab 1920 war Carl Schumacher als Konservator angestellt. Nach dessen Tod Ende 1926 übernahm Friedrich Hilken diese Position. 12 Karl Scheffler: Die Bremer Kunsthalle unter Emil Waldmanns Leitung. In: Kunst und Künstler 21. Bremen 1923, S. 255ff. 13 Günter Busch und Liselotte von Reinken (Hg.): Paula Modersohn-Becker in Briefen und Tagebüchern. Frankfurt a. M. 1979, S. 462.
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eine große Leidenschaft für Graphik und Handzeichnungen und beschäftigten sich daher als Forscher und Schriftsteller mit Albrecht Dürer. Von ihrem Weg ließen sie sich auch nicht von konservativen Kritikern abbringen. Pauli unterstützte zunächst Paula Modersohn-Becker und schließlich die Impressionisten und stellte sich damit gegen den konservativen Kunstgeschmack – Waldmann führte die Kunsthalle mit Ankäufen nachimpressionistischer Kunst und deutscher Expressionisten weiter in die Moderne. Pauli zählte in einem Vortrag im März 1912 nicht nur die Ordnung und Präsentation der Sammlung zu den Aufgaben, die dieser neue Typus des modernen Kunstmuseums an seine Leiter stellte, sondern auch die Prüfung und Verbesserung aller technischen Einrichtungen, so auch Fragen der Beleuchtung und der sachgemäßen Konservierung des Sammlungsobjekte unter Mitwirkung erfahrener Techniker. Außerdem betonte er die Wichtigkeit, möglichst viele Besucher aus allen Bevölkerungsschichten ins Museum zu holen.14 Dem neuen Typus des Galerieleiters ging es also auch darum, im Kontrast zum Gelehrtenmuseum, Laienpublikum in das Museum zu ziehen. Aus diesem Grund forderte Pauli für ein modernes Museum einen Hörsaal mit den dazugehörigen technischen Einrichtungen zum Abhalten von Diavorträgen. Ausstellungen sollten regelmäßig stattfinden, um entweder einen Überblick über das gegenwärtige Kunstschaffen zu geben oder bestimmte Richtungen dieses Kunstschaffens zu beleuchten. Diese Anforderungen an ein modernes Museum knüpfen an die Ideen Alfred Lichtwarks (1852-1914) an, der schon in seiner Antrittsrede 1886 als erster Direktor der Hamburger Kunsthalle sagte: „Wir wollen nicht ein Museum, das dasteht und wartet, sondern ein Institut, das thätig in die künstlerische Erziehung unserer Bevölkerung eingreift.“15 Lichtwark strebte eine künstlerische Bildung breiter Volksschichten an. Kunst gehörte für ihn nicht intellektuellen oder ständischen Eliten, sondern war Teil des kollektiven Besitzes einer Nation – das Museum war für ihn ein Ort der Volksbildung. Heute gilt Lichtwark als Vorkämpfer der deutschen Kunst- bzw. Museumspädagogik. Er ließ die Museumsbesucher aktiv mitwirken und entwickelte Übungen zur Betrachtung von Kunstwerken16. Vor allem bemühte er sich darum, Schulklassen ins Museum zu holen. Diesem Vorbild folgend hatte Pauli im Laufe seiner Amtszeit eine Vortragstätigkeit in der Kunsthalle Bremen etabliert und veranstaltete außerdem regelmäßige Besichtigungs- und Übungskurse im Kupferstichkabinett. Die Vermittlungsangebote waren teilweise für Mitglieder des Kunstvereins oder auch speziell für Arbeiter konzipiert. Die unentgeltliche Öffnung des Kupferstichkabinetts in den Winterhalbjahren an zwei Abenden wöchentlich sollte ab 1912 den Besuch auch 14 Gustav Pauli: Die Aufgaben des modernen Kunstmuseums. Öffentlicher Vortrag, gehalten am 29.3.1912 im Casino zu Bremen. Bremen 1912, S. 14ff. 15 Archiv der Hamburger Kunsthalle, 2a: Alfred Lichtwarks Antrittsrede vom 1.10. 1886. 16 Vgl. Alfred Lichtwark: Übungen in der Betrachtung von Kunstwerken. Dresden 1898.
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für den weniger zahlungskräftigen Bevölkerungsteil attraktiv machen, der Eintritt in die Galerie war ohnehin kostenlos.17 In den ersten Jahren nach seinem Dienstantritt hielt Waldmann nur einige Vorträge für Mitglieder des Kunstvereins und musste das Vermittlungsangebot aufgrund der Kriegsfolgen stark einschränken. Im Jahre 1919 erweiterte er die Vortragstätigkeit – auch um einen Ersatz für die wenigen Ausstellungen zu bieten.18 Auch fanden Übungskurse im Kupferstichkabinett statt. Waldmann war allerdings nicht um eine Öffnung für Schulklassen oder die Arbeiterschaft bemüht, denn er stellte sich unter dem Motto Schulklassen gehören nicht in Museen! eindeutig als Gegner dieser „höchst primitiven Form der Kunsterziehung“19 dar und begründete dies ausführlich.20 Er stimmte zwar mit Lichtwark bezüglich des Kunstwerks als Ausgangspunkt aller Betrachtungen überein und auch darüber, dass das Auge die wichtigste Verbindung zwischen Kunstwerk und Betrachter ist. Allerdings scheint Waldmann die positiven Argumente Lichtwarks für eine solche Museumspädagogik überhaupt nicht zur Kenntnis genommen zu haben.
Die Sammlungstätigkeit 1914-1920 Die 1914 einsetzende Inflation ließ Waldmann seinen Posten unter äußerst schlechten Voraussetzungen antreten – und doch fand er in der Hansestadt Gleichgesinnte, die ihn bei seiner Arbeit unterstützten. Sein großes Verdienst liegt darin, dass er – während seiner gesamten Amtszeit – zahlreiche Werke aus bremischem Privatbesitz für die Kunsthalle sicherte und so vor einer Abwanderung in den Kunsthandel bewahrte. Für die Kunsthalle war dies außerdem die einzige Möglichkeit, in den Besitz Alter Meister zu gelangen. Waldmann beschrieb die Bremer Privatsammler als „Ergänzer“ der Galerie, die Hand in Hand mit der Kunsthalle arbeiteten. Die privaten Sammler sammelten das, was die Galerie als vorbildlich hingestellt hatte. Einige wenige sahen darin neben ihren Privatbedürfnissen sogar eine Art von „Kulturmission“. Infolgedessen konnte Waldmann gute Ausstellungen moderner Malerei zusammenstellen. Modern hieß allerdings die „klassisch gewordenen Meister des 19. Jahrhunderts“, denn die Malerei des 20. Jahrhunderts war in Bremer Privatsammlungen noch kaum bis gar nicht vertreten. In diesem Punkt stand allerdings ein Wandel bevor, da sich im Jahre 1918 eine Gesellschaft von Kunstfreunden zu-
17 Vgl. JB 1900–14. 18 Vgl. JB 1919/20, S. 5. 19 Schulklassen gehören nicht in Museen. Ein Mahnruf Emil Waldmanns. In: WeserZeitung, 1.5.1928. 20 Emil Waldmann: Schule, Kunstausstellung und Museum. In: Der Cicerone. Jg. 20 (1928), S. 264.
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sammentat, deren ausschließliches Ziel es war, Werke jüngerer Künstler – zu dieser Zeit die Expressionisten – anzukaufen.21 Der Vorteil, der sich für die Kunsthalle aus dieser Regelung ergab, liegt auf der Hand. Zum einen wurde sie finanziell entlastet. Zum anderen war sie vor dem Erwerb „wertloser“ Ware geschützt und konnte die Entwicklung ruhig abwarten, ohne Risiken eingehen zu müssen. Die bemerkenswerte Sammeltätigkeit Waldmanns zeichnete sich durch den Anspruch aus, mit ausgewählten, exemplarischen Werken von hoher künstlerischer Qualität einen Querschnitt durch die europäische Malerei zu ziehen. Mit Ankäufen wie Munchs Tote Mutter, Cézannes Südfranzösische Landschaft und Bildern der Brücke-Mitglieder und anderer deutscher Expressionisten begann er jedoch schnell, die Galerie weiter in die Moderne zu führen. Im Falle von Munch galt das nicht nur für die Kunsthalle, sondern für die gesamte Museumslandschaft Deutschlands, denn auf breiter Ebene hielt das Werk Munchs erst nach 1920 Einzug in die Museen. Mit großem finanziellen Geschick schaffte es Waldmann trotz der wirtschaftlich ungünstigen Zeiten, einige qualitativ hochwertige Bilder, auch bereits des Expressionismus, ins Haus zu holen. Dies gelang ihm mittels umsichtig angelegter Rücklagen für wichtige Ankäufe und vor allem auch mit Hilfe der Galerievereine22. Außerdem veräußerte er ausgemusterte Bilder aus dem Depot.
Das Ausstellungswesen 1914-1920 Bereits im August 1914 wurde die Gemäldegalerie der Kunsthalle aus Angst vor Fliegerangriffen komplett ausgeräumt. Bei der Rückkehr im November entschied sich Waldmann für eine Neuordnung der Ausstellungsräume. Diese wurde auch dadurch forciert, dass in zwei Räumen im Erdgeschoss gleich zu Kriegsbeginn ein Lazarett eingerichtet worden war und das Kupferstichkabinett und die Bibliothek der Verwaltung des Roten Kreuzes zur Verfügung gestellt werden mussten. Aus diesem Grund blieben das Kupferstichkabinett und das Lesezimmer für die gesamte Kriegsdauer geschlossen.23 Waldmann nutzte diesen Umstand und nahm im gesamten Obergeschoss Umhängungen vor, um eine chronologische Folge mit besonders dichter Hängung herzustellen. Der Rundgang war, anders als heute, rückwärts chronologisch ausgerichtet. Waldmann machte im Prinzip eine Hängung nach ‚Schulen’, brach diese Ordnung aber wiederholt, des Vergleichs wegen oder aufgrund von Raummangel, auf. So hing im Saal der Nordwestdeut-
21 Vgl. Emil Waldmann: Bremer Privatsammlungen. In: Kunst und Künstler 17 (1919), S. 168ff. 22 Die lebenslangen Mitglieder zahlten einmalig einen Beitrag von 400,- Mark, die ordentlichen 20,- Mark pro Jahr und die persönlichen 10,- Mark pro Jahr. Im 1918 gegründeten Galerieverein zahlten die Mitglieder einen jährlichen Beitrag von 200,Mark. 23 Vgl. JB 1914/15, S. 8.
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schen ein Delacroix, ein Lievens im Dürer-Zimmer, und Courbet hing nicht nur im Impressionisten-Saal, sondern auch im Leibl-Zimmer. Gustav Pauli hatte das Ausstellungswesen in der Kunsthalle Bremen so organisiert, dass alle zwei Jahre eine große Ausstellung stattfand, alternierend eine deutsche und eine internationale und zwischendurch kleinere Ausstellungen aus dem eigenen oder aus privatem Bestand. Waldmann konnte diesen Rhythmus nicht reibungslos fortsetzen, da die Jahre des Ersten Weltkriegs lähmend auf die Ausstellungspraxis wirkten. Es gelang ihm aber, jedes Jahr im Dezember eine Ausstellung mit Werken von Bremer Künstlern auf die Beine zu stellen und im Laufe jedes Jahres verschiedene Wechselausstellungen zu organisieren. Die großen Ausstellungen moderner Kunst hatten stark unter den Frachtsperren zu leiden und blieben deshalb – wenn sie überhaupt stattfanden – lückenhaft. Ab 1918 engagierte sich Waldmann verstärkt um die Maler der Brücke und bemühte sich, sie durch Ausstellungen in der Hansestadt bekannt zu machen. Die Ausstellungen und die Ankäufe durch den Verein von Freunden der Kunsthalle riefen eine hohe Presseresonanz hervor. Die Stimmen variierten von völligem Unverständnis für die neue Kunst über Skepsis bis hin zu ersten positiven Interpretationen.24 Im November 1919 beschwor eine Gemälde-Ausstellung durch ihren ausgesprochen modernen Charakter eine Diskussion in der regionalen Presse herauf, in der es, nach dem Künstlerstreit 1911, erneut um zeitgenössische Kunst ging – diesmal um die expressionistische. Auslöser der Debatte waren die Vertreter der Brücke – Kirchner, Heckel, Bleyl, Schmidt-Rottluff, Pechstein, Nolde, Mueller. Obwohl die Künstlergruppe ab 1906 mit Gruppenausstellungen an die Öffentlichkeit getreten war, hatte sie ihren Platz in der Kunstgeschichte noch nicht festigen können. Die Meinung eines breiten Kunstpublikums vertretend, äußerte sich der Worpsweder Maler Fritz Overbeck in den Bremer Nachrichten empört über die neuen Formen in der Malerei. Waldmann verfasste einen Gegenartikel in Form eines offenen Briefes an Overbeck, in dem er sich hinter die Expressionisten stellte. Er machte darauf aufmerksam, dass die Kunst der Expressionisten gar nicht so neu war.25 Der Streit setzte sich in den nächsten Tagen in der Presse fort. Die Expressionisten-Ausstellung von 1919 war bis dahin diejenige, die am meisten öffentliche Reaktionen hervorgerufen hatte. Eine große Gemälde-Ausstellung mit dem Ziel, einen Überblick über das Beste der deutschen Malerei des 20. Jahrhunderts zu bieten, wurde im Juni 1920 durchgeführt. Gezeigt wurden „auch die extremsten Vertreter“.26 Damit waren, neben den deutschen Expressionisten,
24 Vgl. Siegfried Salzmann: Schmidt-Rottluff und Bremen. In: Schmidt-Rottluff. Retrospektive. Bremen/München 1989, S. 73. 25 Vgl. Emil Waldmann: Zur Ausstellung moderner Malerei in der Kunsthalle. Antwort auf den Aufsatz des Herrn F. Overbeck vom vorigen Sonntag, in Form eines offenen Briefes an den Verfasser. In: Bremer Nachrichten, 14.12.1919. 26 JB 1920/21, S. 5.
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wohl Marc Chagall und Lyonel Feininger gemeint. Mit dieser Ausstellung wurde noch einmal das Feuer des Bremer Kunststreits angefacht. Der Schwerpunkt des Ausstellungswesens in den Kriegsjahren lag allerdings auf graphischen Ausstellungen, da die Sammlung des Kupferstichkabinetts für eigene Ausstellungen einen guten Fundus bot. Außerdem waren Graphiken von den schwierigen Frachtverhältnissen nur in geringem Maße betroffen. Neben den Ausstellungen im eigenen Hause war Waldmann eine Repräsentation der Kunsthalle über die Grenzen Bremens hinaus wichtig. Bereits im Jahre 1914 arbeitete er an einer Ausstellung in der Galerie Ernst Arnold in Dresden mit dem Titel Ausstellung Französischer Malerei des 19. Jahrhunderts mit, für die er etliche Bilder aus bremischem Privatbesitz vermittelte.27 Eine andere Ausstellung, die deutsche Malerei des 19. und 20. Jahrhunderts zeigte, organisierte er 1917 im Züricher Kunsthaus gemeinsam mit Harry Graf Kessler. Hier waren ebenfalls zahlreiche Bilder aus Bremen vertreten.28 1925 war es Waldmann zu verdanken, dass erstmals nach dem Ersten Weltkrieg wieder deutsche Kunst bei einer internationalen Kunstausstellung in London in der Royal Academy of Arts im Burlington House29 vertreten war. Im September 1920 wagte Waldmann das Experiment, Gemälde und Graphiken aus dem 15. bis zum 20. Jahrhundert gezielt miteinander zu konfrontieren. Durch das Nebeneinanderhängen von Bildern aus ganz verschiedenen Epochen wollte er zeigen, dass es falsch sei, zu strikte Grenzen zwischen den einzelnen Abschnitten der Kunstgeschichte zu ziehen, denn seiner Meinung nach seien sie „bloße Hilfskonstruktionen für den Historiker“30, und es käme nicht darauf an, alte und neue bzw. moderne und nicht-moderne Malerei zu unterscheiden, sondern nur noch gute und schlechte Bilder. Er sah darin auch eine neue Form der Vermittlung.31 Die Leute sollten mehr an die großen Maßstäbe denken und die Bilder so ansehen, „als wären sie heute gemalt“. Waldmann brach also die seit dem späten 18. Jahrhundert etablierte Form der Hängung für Museen auf und konfrontierte ganz bewusst Alte und Neue Meister mit dem Hintergedanken, den eingefahrenen „Historizismus“ zu durchbrechen. Diese Idee hatte ihren Ursprung in den Gedanken von Friedrich Nietzsche32 und bekannten zeitgenössischen 27 Vgl. Ausstellung Französischer Malerei des XIX. Jahrhunderts Dresden. Galerie Ernst Arnold Dresden. Dresden 1914. 28 Vgl. Ausstellung Deutscher Malerei XIX. und XX. Jahrhundert. Kunsthaus Zürich. Zürich 1917. 29 Vgl. Catalogue of the 29th London exhibition. London 1925. 30 Emil Waldmann: Alte und neue Kunst. Betrachtungen anläßlich der Bremer Museumsausstellung. In: Hannoverscher Anzeiger, 19.8.1920. 31 Vgl. Emil Waldmann, Ausstellungstätigkeit und Museumsaufgabe. In: Kölnische Zeitung, 31.8.1920. 32 Nietzsche beschäftigte sich in seiner 1873 erschienenen Schrift Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (Leipzig 1874, Reprint Stuttgart 2003) kritisch mit dem Historismus des 19. Jahrhunderts. Er vertrat die Ansicht, dass der Historismus als oberstes Prinzip letztlich das Leben bzw. das Lebendige selbst töte.
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Kunsthistorikern wie Heinrich Wölfflin33. Weit über die Grenzen Bremens hinaus erregte die Ausstellung großes Aufsehen. Die Resonanz in der Presse, die relativ hohen Besuchszahlen34 und die nicht unerhebliche Anzahl an Verkäufen, die auch in den Kriegsjahren getätigt werden konnten, sprechen für ein anhaltendes Kunstinteresse in Bremen. Auf die Kunsthalle bezogen war dieses vermutlich auch deshalb so groß, weil es in Bremen keine andere Institution gab, die diese Aufgabe hätte übernehmen können.35 Es lag natürlich auch in Waldmanns Interesse, die Sammler ‚bei Laune zu halten’ und ihre Verbundenheit mit der Galerie zu festigen. Das zahlte sich im Hinblick auf Schenkungen und Nachlässe für die Kunsthalle aus. Die Ausstellung von 1920 steht für eine offene und experimentierfreudige Museumspolitik des Direktors. Dagegen war die Debatte um Schulklassen in Museen von einem konservativen, elitären Denken geprägt. Waldmann pauschal als ‚Modernisierer’ zu bezeichnen, entspräche somit nicht den Tatsachen – eher nahm er eine Mittlerrolle zwischen moderner und konservativer Museumspolitik ein.
Neue Ziele, neue Wege – Sammlungs- und Ausstellungstätigkeit 1921-1932 Eine zweite Phase in Emil Waldmanns Amtszeit, etwa zwischen 1921 und 1932, war stark von der großen Wirtschaftskrise geprägt. Im Zuge der Inflation waren die Kulenkamp- und die Klugkist-Stiftung fast vollständig verloren und die beiden Galerievereine konnten nur noch wenig ausrichten, zumal die Zahl der Mitglieder zurückgegangen war. Da die Mitgliedsbeiträge eine wichtige Einnahmequelle für die Kunsthalle waren, hatte die Museumsarbeit sehr darunter zu leiden. Im Jahr 1919 bat der Verein um Erhöhung des staatlichen Zuschusses (70.000 Mark wurden bewilligt), bereits im Jahr darauf musste erneut eine Erhöhung beantragt werden (150.000 Mark). Die Bürgerschaft antwortete auf diese Anfrage mit einem Gegenantrag auf Verstaatlichung der Kunsthalle. Sie war verärgert, dass der Staat jährlich eine solche Summe „diesem Verein der Millionäre“ zur Verfügung stellte, ohne Einfluss auf die Verwaltung der Kunsthalle zu haben.36
33 Heinrich Wölfflins kunsthistorischer Ansatz wird als Formalismus bezeichnet, da er Kunstwerke vor allem nach ihrer äußeren Form, nach ihrem Stil betrachtete. Wölfflin selbst bezeichnete seinen Ansatz als „Kunstgeschichte ohne Namen“, da weniger der einzelne Künstler im Zentrum seiner Betrachtung stand als vielmehr die Entwicklung einer Stilgeschichte, in welcher er Gemeinsamkeiten der Kunst bestimmter Epochen oder Länder aufdecken und benennen wollte. 34 Nach einem Besuchertief im Rechnungsjahr 1914/15 von 15.885 fanden im Rechnungsjahr 1920/21 bereits wieder 61.636 Menschen den Weg in die Kunsthalle. 35 Vgl. Karl Scheffler (wie Anm. 12), S. 257f. 36 Vgl. Die Verstaatlichung der Bremer Kunsthalle möglich und notwendig. In: Arbeiter Zeitung Bremen, 23.10.1920.
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Schließlich besiegelte 1921 ein Staatsvertrag, dass der Staat sich zu einem jährlich neu zu berechnenden Zuschuss zu den Personal- und Bewirtschaftungskosten verpflichtete, während der Kunstverein im Gegenzug die Kunstgegenstände aus dem Besitz des Staates zu bewahren und zu pflegen hatte. Außerdem sollten von den künftig 20 Vorstandsmitgliedern, neben den wie bisher vom Verein Gewählten, ab sofort fünf Abgeordnete von Staatsseite ernannt werden. Die schlechte wirtschaftliche Lage und der Wunsch der „Finanzdeputation“ veranlassten Waldmann ab 1921, von Nichtmitgliedern des Kunstvereins Eintrittsgeld für Ausstellungsbesuche zu erheben, und auch in der Woche war der Besuch seitdem an zwei Tagen entgeltpflichtig.37 Das vom Staat bereitgestellte Geld reichte bei weitem nicht für die Fortführung des Kupferstichkabinetts und der Bibliothek, für Ausstellungen, Vorträge, Aufsicht etc. Die Mitgliedsbeiträge wurden deshalb erhöht und die Mitgliederwerbung wurde verstärkt.38 Da keine laufenden Mittel für die Vermehrung der Sammlung zur Verfügung standen, musste der Kunstverein zum wiederholten Male Bilder aus dem Depot veräußern, um überhaupt Ankäufe machen zu können, die u. a. genutzt wurden, um die Gruppe der Deutschrömer zu erweitern.39 In dieser zweiten Phase von Waldmanns Direktion wurden außerdem einige Bilder von Nazarenern bzw. von Malern des romantischen Stils erworben. Mit annähernd 40 Bildern bildeten regionale Künstler aus Bremen oder Worpswede aus dem 19. und 20. Jahrhundert, wie z. B. Carl Vinnen, Otto Modersohn, Hans am Ende und Rudolf Tewes, eine sehr große Gruppe unter den Neuerwerbungen. Darunter befanden sich einige Bilder, die der Bremer Staat zur Unterstützung bremischer Künstler ankaufte und der Kunsthalle als Leihgabe überließ, die aber im Besitz des Staates blieben.40 Wie in der ersten Phase seiner Amtszeit stärkte Waldmann weiterhin die impressionistische Abteilung – nun aber vor allem die rund 20 Jahre jüngere deutsche Seite. Auch der deutsche und französische Nachimpressionismus fand bei Waldmann Beachtung. Auffällig ist aber, dass nur noch drei expressionistische Bilder angekauft wurden, wovon eines lediglich ein Tausch war. Es gelang Waldmann, auch den Bestand an Alten Meistern um 52 Gemälde aufzustocken. Dies konnte einerseits mit Hilfe der vom Staat für Ankäufe bewilligten Mittel geschehen, wodurch einige Bilder aus bremischem Privatbesitz, die von der Gefahr der Abwanderung bedroht waren, erworben werden konnten. Andererseits war dies unabhängig von der schlechten wirtschaftlichen Lage möglich, da die Mehrzahl der Bilder Geschenke oder Vermächtnisse waren. Der Schwerpunkt lag hier eindeutig auf Gemälden niederländischer Meister des 17. Jahrhunderts – gemäß der Sammelleidenschaft der Bremer Bürger: Werke der alten deutschen und niederländischen Meister erfuhren in der norddeutschen bürgerlichen Kunstpflege
37 38 39 40
Vgl. JB 1920/21, S. 8. Vgl. JB 1921/22, S. 3f. Vgl. JB 1921/22, S. 7f. Vgl. JB 1926/27, S. 10.
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schon immer eine besondere Wertschätzung, die alten Italiener hingegen fanden kaum Beachtung.41 Da Waldmann sich bezüglich Ankäufen und Ausstellungen moderner Kunst stark zurückgenommen hatte, gab es in der Presse wesentlich weniger kritische Stimmen als in der ersten Phase. Die Expressionisten waren etabliert und allem, was danach kam, stand Waldmann zunächst kritisch gegenüber. Allerdings sah er sich kurz vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten einem massiven Angriff seitens des Bremer Malers Karl Windels ausgesetzt. In einem Zeitungsartikel mit der Überschrift Liebermann oder wir beklagte dieser die Not der einheimischen Künstler und polemisierte gegen Max Liebermann und Waldmann, die eine enge Freundschaft pflegten. Die Übernahme der Presse durch die Juden sei einer der Gründe, warum Liebermann nach dem Tod Leibls als der größte deutsche Künstler ausgerufen worden war. Windels fühlte sich zurückgestoßen und vermisste ein Bild aus seiner Hand in der Kunsthalle.42 Knapp eine Woche nach dem Erscheinen dieses Artikels wurde eine Entgegnung von Wilken von Alten veröffentlicht, die der Mitarbeiter der Kunsthalle stellvertretend für den im Ausland erkrankten Waldmann geschrieben hatte: Liebermann und wir. Er stellte einige schlichtweg falsche Behauptungen richtig. Unter Waldmann waren nur zwei Werke Liebermanns in die Kunsthalle gekommen bei eher bescheidenen Ankaufssummen. Die materielle Notlage der einheimischen Künstler bedauerte er, wies aber unmissverständlich darauf hin, „daß die Kunsthalle grundsätzlich kein Wohlfahrtsinstitut sein will“43. Auch die Ausstellungstätigkeit war in dieser Zeit deutlich eingeschränkt. Zum Teil war in Ausstellungen weniger als die Hälfte der geplanten Bilder vertreten, so dass von einem schlüssigen Ausstellungskonzept kaum noch die Rede sein konnte. So kam das Ausstellungswesen bis auf einige wenige Ausstellungen aus Privatbesitz immer mehr zum Erliegen, wodurch Bremen als Standort für „mustergültige Ausstellungen“ in den Hintergrund geriet. Die weniger gewordenen mussten zudem als kleinere Ausstellungen organisiert werden. Da andererseits die Sammlung stets unter Platzmangel zu leiden hatte, schlug Waldmann 1927 und 1928 sozusagen zwei Fliegen mit einer Klappe und funktionierte die Räume im Galeriegeschoss, die bis dato Wechselausstellungen zur Verfügung standen, zu Sälen für die eigene Sammlung um. So hatte die Gemäldesammlung mehr Entfaltungsmöglichkeiten und die ohnehin kleineren Ausstellungen wurden in zwei Räume des Erdgeschosses verlegt. Man hoffte, wenigstens diese auf einem ansprechenden künstlerischen Niveau halten und finanzieren zu können. Der Ausstellungsschwerpunkt lag, neben den Graphik-Ausstellungen, auf Präsentationen bremischer bzw. nordwestdeutscher Künstler. Wenige Highlights,
41 Vgl. Emil Waldmann: Die Bremer Kunsthalle. Ein Führer zur Vorbereitung und Erinnerung. Berlin 1919, S. 88f. 42 Vgl. Karl Windels: Liebermann oder wir. In: Bremer Nationale Zeitung, 11.8.1932. 43 Wilken von Alten: Liebermann und wir. In: Bremer Nationale Zeitung, 17.8.1932.
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wie die Ausstellung moderner deutscher und französischer Künstler 1921, eine ähnliche moderne Ausstellung 1925, eine Gemälde-Ausstellung 1926, die auch expressionistische Künstler zeigte, sowie die Ausstellung niederländischer Gemälde im Jahre 1930 aus Privatbesitz, die über mehrere Monate gezeigt werden konnte, boten eine Abwechslung in dem tristen Ausstellungsalltag. Bremen schien stärker unter den schlechten wirtschaftlichen Verhältnissen gelitten zu haben als andere deutsche Städte. Der Jahresbericht von 1926/27 führt Vergleiche an, die zeigen, dass nicht nur die großen Städte wie Dresden und Hamburg interessante, bedeutende Kunstausstellungen veranstalteten, sondern dass auch der Kunstverein in Hannover, eine Stadt nur unwesentlich größer als Bremen, eine sehr gute Ausstellung gegenwärtiger deutscher Malerei auf die Beine stellte. Die mittlerweile immens hohen Kosten für eine gute Ausstellung konnten im Gegensatz zu früher nicht mehr durch Provisionen von Bilderverkäufen gedeckt werden. Um aus der Misere herauszukommen, setzte sich der Kunstverein die Neugewinnung von Mitgliedern als Ziel, das sich jedoch als Illusion herausstellte. Auch in den letzten Jahren dieser Phase vor 1933 verbesserte sich die Situation des Kunstvereins nicht. Die Zahl der Mitglieder konnte trotz wiederholter Werbung nicht erhöht werden, sondern sank weiter. Im Jahr 1931 wurde die Tätigkeit der Kunsthalle schließlich als „äußerst gefährdet“ eingestuft. Aufgrund der stark eingeschränkten finanziellen Mittel konnte Waldmann seine Ziele nicht konsequent verfolgen. Es lässt sich nicht sagen, ob manches anders verlaufen wäre, wenn er aus einem größeren Fundus hätte schöpfen können. Waldmann bewies sich jedoch als Improvisationskünstler, dem es gelang, aus wenigen Möglichkeiten das Beste herauszuholen. Er wirtschaftete umsichtig mit den geringen Mitteln, und zusammen mit seinen wenigen Mitarbeitern hielt er den Betrieb der Kunsthalle stets aufrecht.
Ausblick: die NS-Zeit Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten sah sich Waldmann vermehrt Angriffen gegen seine Museumspolitik ausgesetzt. Es war eine Art „dritter Kunstkrieg“ in der Geschichte der Kunsthalle: der Künstlerstreit 1911, bei dem die französischen Impressionisten am Pranger standen, dann der Streit um die Kunst der Expressionisten 1918/19 und schließlich der gefährlichste von allen – denn nun war Politik im Spiel: die Verteidigung gegen die Vorwürfe seitens regimefreundlicher Antagonisten. Bereits im April 1933 war ein Antrag auf Beurlaubung des Direktors gestellt worden, der allerdings abgelehnt wurde. Der Kunsthalle wurde unterstellt, die französische Kunst einseitig zu bevorzugen und „nichtarische“ Kunsthandlungen zu favorisieren. Außerdem sei die Tätigkeit Waldmanns von einer „undeutschen“ Gesinnung geprägt und die heimatliche, bremisch-nordwestdeutsche Kunst würde ungenügend berücksichtigt. Waldmann konnte die Angriffe abwehren und sein Amt verteidigen. Doch der
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Kampf war noch nicht ausgefochten.44 Die 1937 folgende Aktion „Entartete Kunst“ war, wie für viele andere Sammlungen auch, verlustreich für die Kunsthalle – mehrere Bilder und Zeichnungen mussten abgegeben werden. Trotzdem hatte die Kunsthalle noch Glück im Unglück, da der Schwerpunkt von Waldmanns Sammeltätigkeit nicht auf der modernsten Kunst gelegen hatte. Danach folgten zunächst ruhigere Jahre. Der damalige Bürgermeister Heinrich Böhmcker war der Kunsthalle gut gesonnen und brachte ihr einige Vorteile. Allerdings war es auch Böhmcker, der im Mai 1944 den Befehl zur Auslagerung großer Teile der Sammlung gab, obwohl Waldmann zu Beginn des Krieges, als die Frage eines Abtransportes diskutiert wurde, gesagt hatte: „Mir kommt kein Bild aus dem Hause!“ Böhmcker hatte den Befehl gut gemeint, dennoch sollte diese Entscheidung eine der verhängnisvollsten sein, die je für die Kunsthalle getroffen wurden. Hätte man auf Waldmann gehört und die Bilder in den Keller der Kunsthalle gebracht, so wären sie wohl alle der Sammlung erhalten geblieben. Zum Zeitpunkt der Entscheidung war Waldmann allerdings bereits nach Süddeutschland übergesiedelt, und so bestimmten andere das Schicksal der Sammlung. Die Bilder wurden auf drei verschiedene Orte, die abseits von Hauptverkehrslinien und wichtiger Industrie lagen, verteilt: Ein Teil wurde auf das Schloss Karnzow des Grafen Königsmarck bei Kyritz in der Prignitz gebracht, ein anderer Teil auf das Schloss Neumühlen des Grafen Schulenberg und die Plastiken auf die Bückeburger Fürstengruft. Aus Neumühlen und Bückeburg kehrten alle Kunstwerke unbeschadet zurück. Die Rückführung aus Karnzow verlief wesentlich umständlicher und verlustreicher. Viele Kunstwerke waren verwahrlost oder geraubt worden. Nach Kriegsende gelangten nur vereinzelte Stücke auf Umwegen zurück in die Kunsthalle. Was die Sammlungstätigkeit betrifft, kümmerte sich Waldmann in der NSZeit neben dem Ausbau der bereits gewissenhaft berücksichtigten Sammlungsgebiete um die Ergänzung bislang wenig geförderter und auch um die Erschließung neuer Gebiete. Um Unannehmlichkeiten aus dem Weg zu gehen, verzichtete er während der Herrschaft der Nationalsozialisten auf Ausstellungen von Gegenwartskunst. So entging er der Mitgliedschaft in der NS-Reichskulturkammer. Immer wieder spielte er auch den Vorteil der Kunsthalle aus, eine private Institution zu sein. – Die Tätigkeit von Emil Waldmann darf insgesamt institutionengeschichtlich als wesentliches und aussagekräftiges Beispiel für die Entwicklung des Kunstmuseums in Deutschland bezeichnet werden.
44 Archiv der Kunsthalle Bremen, Akte 122: Schriftwechsel betr. Angriffe gegen Prof. Dr. E. Waldmann.
Zur Wisse ns ve rmittlung in Muse um und Sc hule CHRISTINA PÖSSEL Museum und Schule sind – nicht nur auf den ersten Blick – zwei ziemlich unterschiedlich strukturierte Institutionen. Beim näheren Hinschauen verfügen sie jedoch über mehrere Gemeinsamkeiten, die sich um ihre jeweilige Bildungsorientierung ranken. Dabei spielt das, was als „Überlieferung“ bezeichnet zu werden pflegt, eine entscheidende Rolle. Denn ein wenig hochtrabend formuliert tragen beide Institutionen dazu bei, menschliche Kultur zu erhalten und fortzuentwickeln. Beide haben damit eine kulturbewahrende Funktion. Kultur wird durch die Überlieferung überindividuell, zum gemeinsamen Besitz und auch zum Erbe. Da sowohl in der Schule als auch im Museum das Wissen um diese Kultur vermittelt wird, ermöglichen beide Einrichtungen, so lässt sich durchaus sagen, die Teilhabe des Einzelnen an der Kultur eines Volkes. Am Beispiel schulgeschichtlicher Sammlungen soll aufgezeigt werden, auf welche Weise im Museum Wissen vermittelt werden kann und wie sich eine solche Vermittlung von jener in der Schule unterscheidet. Dabei bildet die Diskussion zu den Ordnungsmöglichkeiten und –kriterien von Sammlungen einen generellen Hintergrund – von der Lehrmittelsammlung im (historischen) Schulunterricht mit ihrer pädagogisch festgeschriebenen Ordnung nach Schulfächern über die schulgeschichtliche Sammlung, bei welcher Faktoren wie Stofflichkeit, Materialität und erweiterte Funktionalität eine Rolle spielen können, bis zu museologischen Überlegungen einer konzeptionell-didaktischen Verknüpfung beider Bereiche. Ein Fernziel soll die Schärfung des Blicks auf die mögliche Entstehung neuer Wissensordnungen und die Öffnung von Deutungszusammenhängen sein. Die Anschaulichkeit eines Lehrmittels in der Schule oder eines musealen Objekts resultiert zuerst einmal schlicht aus seinem Vorhandensein, genauer: aus seiner Sichtbarkeit. Sichtbar sind Materialität, Proportion, Farbe, Gestalt und Behandlung. Anschaulichkeit ist mehrdimensional. Das dingliche Objekt bietet besser als eine zweidimensionale Reproduktion anschauliche Auskunft über sich selbst. Allerdings darf die Sichtbarkeit der Objekte nicht mit Anschaulichkeit gleichgesetzt oder verwechselt werden. Anschaulichkeit impliziert die unmittel-
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bare Möglichkeit eines Erkenntnisvorgangs. Dieser besteht in der objektivierenden Einordnung in eigene Kenntnisse und Vorerfahrungen.1 Wenn im Schulunterricht Objekte in Form von Lehrmitteln zum Einsatz kommen, so bereitet der voran gehende Unterricht dies vor, so dass in jedem Fall Vorerfahrungen vorhanden sind. Aufgrund der Historizität von musealen Objekten ist das bei jenen nicht unbedingt der Fall. Daher sind hier Erklärungen oder Inszenierungen notwendig, um die Objekte zu veranschaulichen. Unmittelbare Anschaulichkeit von Dingen ist weder im Museum noch in der Schule denkbar: Neben der Inszenierung beeinflussen auch das Vorwissen und ganz entscheidend die eigenen Erfahrungen die Anschauung. Anschaulichkeit funktioniert immer vermittelt.2 Es ist daher wichtig, die Vermittlungsbedingungen einschätzen zu können. In der Schule wird die Anschaulichkeit durch die Art und den Inhalt des Unterrichts, im Museum durch die vermittelnde Ausstellungspräsentation und -didaktik beeinflusst. Dies wird dann problematisch, wenn die inszenierte Präsentation keine anderen Deutungen zulässt oder Informationen verfälscht. Die Bedeutung der Anschaulichkeit liegt darin, dass ursprüngliches Lernen nicht im Abstrakten, nicht im Umgang mit Begriffen stattfindet. So hat bereits Comenius in seinem Orbis sensualium pictus (1658) festgestellt, dass sich die Welt unseren geistigen Blicken nicht in der Sprache, sondern in den Dingen erschließt. Die Welt muss sich sachlich bereits dem Geist erschlossen haben, damit sie verbal bezeichnet werden kann.3 Pestalozzi stellte im Jahr 1801 fest, dass der oberste Grundsatz „des Unterrichts in der Anerkennung der Anschauung, als dem absoluten Fundament aller Erkenntnis“4 liegt. Lernen findet daher im Konkreten statt, im Umgang mit sinnlichen Wahrnehmungen und dinglichen Objekten. Dies ist heute im Umfeld symbolischer Lernformen schulischer Curricula in der Regel nicht mehr der Fall. Eine Ausbildung der Sinnestätigkeit auf der Basis einer funktionierenden Motorik erfordert jedoch den heute in der Schule fehlenden häufigen Umgang mit Gegenständen.5 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es diesen Umgang noch, da die Schulen gut ausgestattete Lehrmittelsammlungen besaßen und im Unterricht einsetzten.6 Im Überblick lässt sich formulieren, dass die Anschaulichkeit in der Schule heute häufig in den Hintergrund getreten ist, während das Prinzip der Anschau1 2 3 4
5 6
Vgl. Klaus Weschenfelder und Wolfgang Zacharias: Handbuch Museumspädagogik. Orientierungen und Methoden für die Praxis. Düsseldorf 1981, S. 74. Ebd. Vgl. Herbert Hornstein: Die Dinge sehen, wie sie aus sich selber sind. Überlegungen zum Orbis pictus des Comenius. Hohengehren 1997, S. 15. Johann Heinrich Pestalozzi: Wie Gertrud ihre Kinder lehrt, ein Versuch Müttern Anleitung zu geben, ihre Kinder selbst zu unterrichten. In Briefen. Bern und Zürich 1801, hier: Brief IX. Vgl. Weschenfelder/Zacharias (wie Anm. 1), S. 75. Vgl. zur Ausstattung einer Schule mit Lehrmitteln: Amtliches Lehrmittelverzeichnis für die Volksschulen in der Stadt Bremen. Genehmigt von der Senatskommission für das Unterrichtswesen am 30. Dezember 1895. Bremen 1896, Neudruck 1902.
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ung dem Museum inhärent bleibt. Das liegt daran, dass Museen nicht nur Orte der Sammlung und Bewahrung anschaubarer Objektwelten darstellen, sondern auch deren Ausstellung und Präsentation verpflichtet sind. Dies unterscheidet die Museen von den (Sach-)Archiven bzw. den reinen Depots, deren konservatorischen Tätigkeiten nur eine kulturbewahrende Funktion zugrunde liegt. Hier wird jedoch auf das Zeigen der Objekte verzichtet, so dass diese frei von museumsdidaktischen Überlegungen sind. Der Anspruch des Museums, über seine Sammlungsstücke Wissen und ästhetische Maßstäbe zu vermitteln, gehörte von Beginn an zum bürgerlichen Museum. Der International Council of Museums (ICOM) hat den Bildungsgedanken in seine Museumsdefinition aufgenommen und definiert in Artikel 3 seiner Statuten das Museum als Institution, die ihre Tätigkeit zum Zwecke von „education, study and enjoyment“ ausübt.7 Der Rahmen dessen, was im Museum zu erfahren und zu lernen ist, wird vorgegeben durch den materiellen Bestand eines Museums: die Objekte und deren Klassifizierungen. Nicht zuletzt darum waren Museen über einen langen Zeitraum objektzentriert. Es herrschte die Auffassung, dass Objekte vollständig für sich selbst sprechen. Das Museum war ein Medium, durch welches der Besucher in Kontakt mit einem Objekt trat, das seine Botschaft dem Besucher mitteilte. Die vorherrschende Wissensform war dabei kontextfrei, die Vorkenntnisse und Interessen der Besucher spielten keine Rolle. Dagegen kam etwa Detlef Hoffmann 1976 zu dem Schluss, dass es „unmöglich ist, ein Objekt isoliert von seiner Geschichte und isoliert von der heutigen Umwelt auszustellen“.8 Inzwischen ist allgemein klar geworden, wie wichtig es ist, die Vorkenntnisse der Besucher in eine Ausstellung einzubeziehen. Auch sollten nicht länger abgeschlossene und unantastbare Ergebnisse wissenschaftlichen Forschens präsentiert, sondern eher „science in the making“ vorgeführt werden im Sinne von Reflexivität.9 Dabei sollten die Besucher erkennen, dass ihnen nicht die einzige, sondern eine bestimmte Präsentation von Sachverhalten, eine bestimmte Wissensordnung, vorgeführt wird. Darüber hinaus zielen Ausstellungen, die sich am Vorwissen und am Interesse der Besucher orientieren, weniger auf Belehrung, sondern auf Interaktion. Die Anknüpfung an persönliche und subjektive Erfahrungen der Besucher gehört nicht zur herkömmlichen Ausstellungspraxis. Die Forderungen, die Besucher ernst zu nehmen und die Besucher dort abzuholen, wo sie sind, bleiben meist leider nur Floskeln. Eine Möglichkeit, diese Forderungen zu verwirklichen, ist das 7
8
9
ICOM statues, art. 3 para 1: http://www.icom.museum/definition.html. In der deutschen Definition ist dementsprechend von „Studien-, Bildungs- und Unterhaltungszwecken“ der Einrichtung Museum die Rede. http://www.icom-deutschland. de/ueber-uns-statuten.php. (26.2.2009). Detlef Hoffmann: „Laßt Objekte sprechen!“ Bemerkungen zu einem verhängnisvollen Irrtum. In: Ellen Spiekernagel und Brigitte Walbe (Hg.): Lernort contra Musentempel. 2. Auflage. Gießen 1976, S. 101-120, hier S. 114. Vgl. Annette Lepenies: Wissen vermitteln im Museum. Köln u. a. 2003, S. 31.
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Prinzip des „Enlightainment“ nach Annette Lepenies.10 Im Vordergrund einer Ausstellung soll eine unterhaltsame Geschichte stehen, die alltagsbezogen, plausibel und abgeschlossen ist. Durch den Alltagsbezug vermag sie an die persönlichen Erfahrungen der Besucher anzuknüpfen. In dieser Geschichte werden unbewusst Themen aus Wissenschaft, Technik oder – je nach Museum – der Geschichte berührt und angesprochen. Es schließt sich die Vermittlung von Anwendungen an. Dadurch kann eine Nachfrage nach Grundlagen, also nach dem Verstehen von Prinzipien und Techniken, entstehen. Bei dieser Art der Ausstellung steht nicht die Vermittlung von Grundlagen an erster Stelle, sondern der Bezug zum Alltag und die Kopplung mit vielfältigster Unterhaltung. Dadurch sollen die Besucher motiviert werden, sich näher mit einem Thema zu befassen. Eine zeitgenössische Museologie sollte also nicht länger objektzentriert sein. Objekte erfüllen immer erst durch bestimmte Ideen kommunikative Funktionen und werden nur so für den Besucher verständlich. Ähnliches gilt für Informationen: Im Museum werden keine neutralen Informationen bereitgestellt. Bestimmte Präferenzen liegen der Entscheidung zugrunde, welche Informationen und wie sie vermittelt werden. Hinzu kommt, dass Informationen, die das Museum früher exklusiv liefern konnte, heute von anderen Medien schneller und effizienter bereitgestellt werden. Wohl jede neue Museologie muss daher besucherorientiert sein. Im Zentrum stehen nicht länger Gegenstände, sondern Ideen, Standpunkte oder Einsichten. Wenn die Kommunikationen ebenso wichtig werden wie die Kollektionen, dann werden aus Objektspeichern aktive Lernumwelten. Lepenies entwirft ein Modell des „konstruktivistischen“ Museums.11 Dieser Idealtypus soll die Leitlinie für Museumsarbeit im Sinne von Wissensvermittlung darstellen. Diese erfolgt durch die Präsentation eines ausgewählten Wissenskorpus auf der Grundlage eines durchdachten Konzepts. Die Reflexivität eines Museums bildet das wichtigste Kennzeichen, weil sie den Wissenskorpus in einen bestimmten Kontext stellt. Zu diesem Kontext gehören auch die Besucher. Um deutlich zu machen, worum es beim konstruktivistischen Museum geht, unterscheidet Lepenies zwei Wissenstypen: Als Realismus bezeichnet sie das Wissen, das unabhängig vom Lernenden existiert und von diesem lediglich aus der Umwelt abgerufen werden muss bzw. dem Lernenden von der Außenwelt vorgegeben wird, als Konstruktivismus das Wissen, das in seinen Voraussetzungen und Auswirkungen vom spezifischen Kontext abhängt und im Kopf des Lernenden, wenn auch mit Anleitung, erst zusammengesetzt wird. Bedeutung wird für eine kontextbestimmte Auffassung von Lernen dadurch produziert, dass Neues und Unbekanntes zu Bekanntem in Beziehung gesetzt wird. Dabei spielen der Vergleich, der Kontrast, die Analogie und die Analyse eine Rolle. Museen müssen nun beiden Wissenstypen ihre Aufmerksamkeit widmen, was bisher nicht immer üblich war. Das Schwergewicht der Museumsarbeit liegt 10 Vgl. ebd., S. 25. 11 Vgl. ebd., bes. S. 55-68.
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auf den vom Besucher unabhängig existierenden Objekten, deren Auswahl, Präsentation und Interpretation. Daneben muss jedoch berücksichtigt werden, dass Wissen relativ und kontextabhängig ist und je nach Umständen und Zwecken einer Erklärung und Interpretation bedarf. Im konstruktivistischen Museum wird die Vermittlung eines existierenden Wissenskorpus erweitert, indem der Besucher mit in den Blick genommen wird. Er fügt neu gewonnene Informationen nicht einfach einem bereits bestehenden Wissenskorpus hinzu. Vielmehr reorganisiert er seinen Wissensbestand aufgrund frischer Erfahrungen und konstruiert auf diese Weise sein Wissen immer wieder neu. Daher versucht das konstruktivistische Museum bewusst, an das Vorwissen seiner Besucher anzuknüpfen. Diese Anknüpfung kann am Raumerlebnis des Museums oder an der Konzeptualisierung einer Ausstellung ansetzen. Die Bedeutungsproduktion nimmt dabei in der Regel ihren Ausgang von drei spezifischen Erfahrungsbereichen des einzelnen Besuchers: seinem individuellen Wissen, seinen Erwartungen sowie seinen persönlichen Erfahrungen. Die Anknüpfung an die persönlichen und subjektiven Erfahrungen der Besucher gehört nicht zur herkömmlichen Ausstellungspraxis. Nach Lepenies muss der Ausstellungsmacher einkalkulieren, dass sein Konzept auf Widerstand beim Besucher trifft. Dieser ist nämlich in der Regel nicht bereit, aufgrund der in der Ausstellung gemachten Vorgaben sein eigenes Vorwissen zu korrigieren. Während das Ausstellungsteam versucht, sich nach präzisen wissenschaftlichen Erkenntnissen zu richten, orientiert sich der Besucher an persönlichen und subjektiven Kriterien. Entscheidend ist, dass das konstruktivistische Museum von der zentralen und verbindenden Annahme ausgeht, dass Ausstellungen nicht „die Wahrheit“ präsentieren, sondern immer nur eine bestimmte Interpretation. Dem Besucher soll deutlich werden, dass es oftmals mehrere Interpretationsansätze gibt. Ebenso soll er die Prozesse und Diskussionen, die zur Konzeption und Realisierung einer bestimmten Ausstellung geführt haben, nachvollziehen können. Im Museum geht es um eine besondere Form des Lernens, die sich von jener in der Schule unterscheidet: Obwohl sich jedermann aufgefordert fühlen kann, im Museum etwas zu lernen, findet kein Lernen als „subjektive und methodische Aneignung von Wissen“ statt.12 Der Vorteil der Institution Museum besteht darin, dass dort Freiräume bestehen, die sich in der Schule nur schwer finden lassen, zumindest wenn es sich um traditionellen Unterricht handelt. Es gibt aber neue Unterrichtsmodelle und -methoden, welche dem Schüler Freiräume, aktive Lernsituationen und eigenverantwortliches Handeln bieten. Sie sind jedoch an den heutigen Schulen noch nicht die Regel. Ein weiterer Vorteil des Museums besteht darin, dass sein Besuch in der Regel freiwillig statt findet. Der unfreiwillige Besuch mit der Schulklasse ist ein 12 Vgl. Ulla M. Nitsch: Schule wandert ins Museum. Eine kritische Rekonstruktion der Musealisierung von Schul- und Pädagogikgeschichte 1977-1997. Berlin 2001, S. 118.
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Sonderfall, weil hier quasi die Schule ins Museum verlagert wird. Es findet dann ein der Situation angepasster Unterricht statt, der sich von einem „normalen“ Museumsbesuch unterscheidet. Die meisten Besucher kommen nicht ins Museum, um zu lernen. Hauptziel ist die Unterhaltung oder das Vergnügen, so dass das Lernen eher indirekt geschieht. Der Besucher hat keine Lernziele zu erreichen, da es kein vorgeschriebenes Curriculum gibt. Sein Wissenszuwachs wird nicht überprüft. Im Unterschied zur Schule muss niemand in Konkurrenz zu anderen treten und um bessere Beurteilungen buhlen. Darüber hinaus gibt es keinen fremdbestimmten Zeitrhythmus und keinen starren Stundenplan. Die Aktivitäten werden lediglich durch die eigene Konzentrationsfähigkeit begrenzt. Es gibt keine „notorische Rechthaberei einer Kommunikationszentrale, die Organisator, Experte, Diktator, Friedensstifter und Heckenschütze zugleich ist“13 – also keinen Lehrer. Vielmehr ist die museale Bildungstätigkeit grundsätzlich kaum imstande, Lehreraufgaben zu erfüllen.14 Anders als die Schule gegenüber den Schülern verfügt das Museum gegenüber den Besuchern nämlich über keine oder eine sehr eingeschränkte Macht. Die Lern- und Aneignungsformen im Museum sind anders geartet als in der Schule: Diese gilt als Ort, an dem effizient gelernt wird; das Museum gilt als Ort, an dem Sinnlichkeit und Anschaulichkeit dominieren.15 Museen können nicht im transitiven Sinn bilden oder erziehen. Trotzdem kann ein Museum eine Bildungsstätte sein, da es durch seine interpretierende Aufbereitung der Objekte Medien zur Bildung bereitstellt. Als spezifische Bildungsaufgabe eines Museums kann definiert werden, Erlebnisse zu ermöglichen. Dazu arrangiert es mit authentischen Objekten einzigartige Inhalte und erzählt damit eine Geschichte. Dieser nähert sich der Besucher in seinem eigenen Rhythmus und eignet sie sich gemäß seiner eigenen Motivation an.16 Dadurch, dass der Besucher sich im Museum in der Fülle der Objekte seinen eigenen Weg bahnt, entsteht eine aktive Lernsituation. Der Gewinn der Anschauung im Raum durch die eigene Bewegung ist für das Museum typisch. Das Museum kann den Verlauf der Begegnungen mit den Museumsobjekten nur bedingt bestimmen und sollte das auch nicht wollen. Diese physische Aktivität ist anders als in der Schule ein Teil des Lernprozesses. Museumslernen ist daher ein Spezialfall des Entdeckungshandelns oder des Neugierverhaltens. Das Lernen im Museum unterscheidet sich darin von dem im Unterrichtsgeschehen beliebig wiederholbaren Pendeln zwischen Anschauungsgewinn und Begriffsarbeit, das auf Wissensaneignung und veränderte Kompetenzen abzielt.17
13 Vgl. Diethard Herles: Das Museum und die Dinge. Wissenschaft – Präsentation – Pädagogik. Frankfurt/New York 1996, S. 194. 14 Vgl. Nitsch (wie Anm. 12), S. 118. 15 Vgl. Herles (wie Anm. 13), S. 194. 16 Vgl. Nitsch (wie Anm. 12), S. 120. 17 Ebd.
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Was bedeutet es aber für das Lernen, wenn der Besucher mehr von der Neugier und dem Wunsch nach Zerstreuung als von Interesse und Bildungswillen ins Museum geführt wird? Zunächst heißt es, dass Museumsbesucher kaum spezifische Ziele haben. Die wahrgenommenen Informationen werden eher assoziativ als diskursiv verarbeitet.18 Dazu ist lerntheoretisch festzustellen, dass Sinneswahrnehmungen im Museum ins Kurzzeitgedächtnis überführt werden. Erinnerungen werden nur möglich, wenn diese Sinneseindrücke mit den Inhalten des Langzeitgedächtnisses rückgekoppelt werden.19 Das heißt, nur wer über das entsprechende Hintergrundwissen verfügt, kann im Museum etwas lernen. Die meisten Objekte vergisst der Besucher sofort wieder; er behält meist nur das, was er vorher bereits gekannt hat. Im Museum wird daher weniger Neues gelernt, als Bekanntes bestätigt und vertieft. Dies hat das Museum mit den Massenmedien gemeinsam: „Während der Großteil wahrgenommener Objektinhalte schlicht vergessen wird, bleibt im Gedächtnis verstärkt das bereits Vorhandene erhalten. Im Regelfall, so lautet der Rückschluss, lernt man über Massenmedien [oder das Museum] nichts Neues, sondern nimmt das Wahrgenommene als Bestätigung des Gewussten.“20 Lepenies ergänzt, dass im kulturellen Haushalt des Menschen die Aufrechterhaltung des bereits erworbenen Wissens an erster Stelle steht, nicht seine Vermehrung.21 Dies ist ein wesentlicher Unterschied zum Lernen in der Schule, wo die Vermehrung des Wissens ein wichtiges Ziel darstellt. Es wird deutlich, dass die Wirkung von Museumsbesuchen nicht zuletzt von den mitgebrachten Erwartungen der Besucher abhängt. Ebenso entscheiden individuelle Merkmale über seine Wahrnehmung und sein Lernen, aber auch über sein Vergessen und seine Gleichgültigkeit.22 Das Museum muss diese intellektuelle und emotionale Freiheit und Selbstverantwortlichkeit der Besucher respektieren. Gute Bildungsvoraussetzungen bieten daher wissenschaftlich ausgewiesene Ausstellungen mit einer offenen, fördernden und stimulierenden Atmosphäre.23 „Museen sind bequeme, zwangsfreie Orte, an denen man in seinem eigenen Tempo etwas über Kunst, Naturwissenschaft, Geschichte und Kultur erfahren kann. Im Gegensatz zu Schulen haben sie keine Klassen und keine Kontrolle von oben, und es gibt keine Gründe, ein Thema zu betrachten oder sich darum zu bemühen außer um seinetwillen.“24 Daher kann – anders als in der Schule – vom Museum auch keine garantierte Bewusstseinsveränderung des Publikums erwartet werden. Sie kann jedoch erhofft werden, weil das Gesehenhaben ein Potential 18 Vgl. Friedrich Waidacher: Museologie – knapp gefasst. Wien u. a. 2005, S. 124. 19 Vgl. Lepenies (wie Anm. 9), S. 94. 20 Heiner Treinen: Was sucht der Besucher im Museum? Massenmediale Aspekte des Museumswesens, hier zitiert nach Herles (wie Anm. 13), S. 171. 21 Vgl. Lepenies (wie Anm. 9), S. 95. 22 Vgl. Waidacher (wie Anm. 18), S. 123. 23 Vgl. Nitsch (wie Anm. 12), S. 121. 24 Waidacher (wie Anm. 18), S. 124.
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in sich trägt, das zum Nach- und Weiterdenken anregt. Wenn in geglückten Begegnungen mit Objekten Wissen und Verständnis erworben werden, kann der Besucher „Stoff für Bildung“ mitnehmen.25 Hier kann nicht zuletzt die Museumspädagogik ihren Ort haben. Die Schule ist in ihren vielfältigen Erscheinungsformen ein wesentlicher Bestandteil der menschlichen Kultur.26 Die Dinge aus der Schule sind ein Ausdruck dieser Kultur, und als Zeugnisse dieser Kultur können sie in Museen ausgestellt werden. Schule ist lange Zeit in ihrem kulturgeschichtlichen Rang nicht erkannt worden und wurde daher von den Museen fast vergessen, obgleich die Geschichte des Schulmuseums selbst inzwischen länger als 100 Jahre ist. Heute herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass Schule eine soziale Geschichte hat und in der Gesellschaftsgeschichte einen bedeutenden Platz einnimmt. Schule als Spiegel von sozialer Geschichte fordert die Umkehrung heraus: die Sozialgeschichte der Schule. Max Liedtke entwickelte für ein Schulmuseum ein Ausstellungskonzept, in dem Schule als Faktor der Konstituierung und Tradierung von Kultur erscheinen sollte. Er verband damit die Zuversicht, dass der von Schule und Lehrerschaft historisch erbrachte Kulturbeitrag im gesellschaftlichen Bewusstsein aufgewertet und die öffentliche Sensibilität für die Zukunftsaufgaben von Bildung geweckt würde.27 In der Schule, in ihren pädagogischen Vorstellungen, den politischen Positionen, den Polemiken und Projekten spiegelt sich auf bestimmte Weise wider, wie eine Gesellschaft sich ihre Zukunft vorstellt.28 Die Konfrontation mit Schulgeschichte wird zum Ausgangspunkt für bewusstes pädagogisches Handeln in der Gegenwart. Darüber hinaus kann sie Anlass für die Beschäftigung mit der gesellschaftlichen Rolle des Bildungswesens und mit den Aufgaben, die Schule in Zukunft zu erfüllen haben wird, sein. Zu diesen Zwecken werden Relikte vergangener Schularbeit und Lernerfahrung bewahrt – und nicht allein wegen „ihres brüchigen Charmes“.29 Ein Schulmuseum ist ein Ort, an dem man anschauen kann, wie Schule durch die Zeiten funktioniert hat. Schon immer war es Gegenstand von Lernen, zu lernen, wie man lernt.30 Jemandem zu veranschaulichen, welche Formen und Umstände des Lernens es gegeben hat, trägt zur Erhöhung gegenwärtiger Lernleistungen bei. Dabei ergibt sich die Problematik, dass Lernen ein Prozess ist, der sich lediglich über Objekte nur schwer darstellen lässt. Man sprach daher den Re25 Vgl. Nitsch (wie Anm. 12), S. 121. 26 Vgl. Max Liedtke: Zur Legitimation von Schulmuseen – Warum Museen Schule gemacht haben. In: Ulrich Amlung, Jürgen Helmchen und Uwe Sandfuchs (Hg.): Das Schulmuseum. Aufgaben, Konzeptionen und Perspektiven. Weinheim und München 1997, S. 11-22, hier S. 11. 27 Hier wiedergegeben nach Nitsch (wie Anm. 12), S. 54. 28 Vgl. Ulrich Amlung, Jürgen Helmchen, Uwe Sandfuchs, Vorwort. In: Amlung/ Helmchen/Sandfuchs (wie Anm. 26), S. 5-8, hier S. 6. 29 Vgl. Nitsch (wie Anm. 12), S. 94. 30 Vgl. Amlung/Helmchen/Sandfuchs (wie Anm. 26), S. 7.
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likten aus der Schule die Fähigkeit ab, über die komplex-verschichteten Vorgänge der Herausbildung des Bildungswesens, des Unterrichtens und des Lernens etwas aussagen zu können. Um dies zu erreichen, ist es notwendig, die Relikte aus der Schule zu re-kontextualisieren und mit Hilfe der musealen Präsentation zu erläutern. Dann ist es möglich, Aussagen über die Schule, den Unterricht oder das Lernen zu machen. Dabei ist unbedingt zu beachten, dass die Inszenierung von schulgeschichtlichen Entwicklungen und Zuständen immer in den Kontext der Gegenwart gestellt werden muss. Deren Perspektive wird durch das Bild bestimmt, das die Besucher sich von der Schule im heutigen Sinne machen und das als Suchbild in den heutigen Wissensbestand von vergangenen Epochen hinein projiziert wird.31 Schulmuseen befinden sich häufig in alten Schulgebäuden, die ihre ursprüngliche Funktion verloren haben. Die materiellen Relikte sind noch vorhanden, das Wissen um ihre Bedeutung aber schwindet. Es besteht die Notwendigkeit, diese zunehmend fehlende lebensweltliche Erfahrung über die Ratio oder die Sinne zu rekonstruieren.32 Es wird jedoch häufig auf die Re-Kontextualisierung verzichtet, weil die Objekte noch in ihrem Kontext zu sein scheinen. Auf diese Weise wird eine historische Wirklichkeit simuliert, ohne deutlich zu machen, dass diese rekonstruiert oder sogar konstruiert ist. In Schulmuseen wird daher häufig eine Ganzheitlichkeit simuliert, ohne die fragmentarische Qualität der kulturellen Überlieferung zu reflektieren und sie auch den Besuchern zu veranschaulichen. Die Besucher meinen dann, in die alte Welt hineinzugehen, und vergessen dabei leicht, dass sie die neue Welt – ihre Gegenwart – mit sich tragen.33 Der Begriff des Schulmuseums bezeichnet Institutionen, die inhaltlich mit Schulgeschichte verbunden sind und museale Arbeitsformen oder Zweckbestimmungen für ihre Tätigkeiten übernommen haben. Schulmuseen weisen daher die Merkmale eines kulturgeschichtlichen Spezialmuseums auf. Ihr Gegenstandsbereich ist die Schul- und Pädagogikgeschichte. Sie sammeln Dingwelten, die in verschiedenen Abschnitten der Vergangenheit die materiellen Bedingungen für das Lehren und Lernen definierten. Das Sammlungsgut dient als Quellenmaterial zur Erforschung vergangener Unterrichtspraktiken und des Schulalltags ebenso wie zur Erhellung des schulpädagogischen und pädagogikgeschichtlichen Hintergrunds, und die musealisierten Gegenstände werden in Ausstellungen zu kommunikativen Medien. Diese transportieren bestimmte Lesarten verschwundener Schulwirklichkeit zum einen aus historischem Interesse und zum anderen 31 Vgl. Lenz Kriss-Rettenbeck: Was kann einen schon dazu bewegen, ein „Bayerisches Schulmuseum“ zu machen? In: ders. und Max Liedtke (Hg.): Schulgeschichte im Zusammenhang der Kulturentwicklung. Bad Heilbrunn 1983, S. 11-29, hier S. 13. 32 Vgl. Detlef Hoffmann: Zur Re-Präsentation von Schulgeschichte im Museum. In: Zeigt her, was ihr habt! Präsentieren von Schulgeschichte im Museum. Münster 2004 (Zeitschrift für Museum und Bildung 6/2004), S. 34-42, hier S. 41. 33 Ebd.
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zur Bereicherung des Verständnisses der Gegenwartsschulzeit.34 Schulmuseen zeigen jedoch nicht etwa die Geschichte selbst, sondern können – wie kulturhistorische Museen insgesamt – nur Ansichten von Geschichte zeigen. Schulmuseale Ausstellungsarbeit muss auf differenziertem historischen Wissen beruhen, um Fehleinschätzungen und daraus folgende Fehlinformationen der Besucher zu vermeiden. Sie soll die Schule der Vergangenheit nicht zu einer rosigen Idylle verklären, sondern zur Gewinnung eines aufgeklärten Schulgeschichtsbewusstseins beitragen.35 Es ist deutlich, dass das Prinzip der Anschauung dem Museum inhärent bleibt. Das Museum stellt aus und arrangiert anschaubare Objekte im Raum. Es muss daher visuell-inszenatorische Möglichkeiten für seine Information und Interpretation nutzen. Trotzdem hat das Museum es nicht mit Visualisierung zu tun, denn seine Bauelemente sind ja bereits visuell. Das Museum bebildert also nicht, es ist ein Bild.36 Das macht das Museum zu einem Ort, an dem intellektuelle und ästhetische Vorstellungen der jeweiligen Zeit und der jeweiligen Ausstellungsmacher Bilder von Geschichte generieren.37 Bei einer Ausstellung handelt es sich daher um „konstruierte Merkwelten“ oder um „komponierte Bilderwelten“.38 Mit diesen Bildern spiegeln Museen im besten Falle, welche Fragen der Kulturwissenschaft gerade gestellt werden oder welche Fragen die Geschichte, in der wir uns befinden, gerade stellt.39 Eine Ausstellung sollte ein Kommunikationsmittel sein. Nur dann kann Geschichte im Museum im Zusammenhang dargestellt und erlebbar gemacht werden, immer mit Raum für Gegenpositionen und andere Interpretationsansätze. Gefordert ist dennoch wissenschaftliche Ehrlichkeit, die Wissen und Lernen ermöglicht. Wenn ein Museum dies berücksichtigt und die Besucher mit Vorwissen und Interessen einbezieht, findet ein unbewusstes und gleichzeitig nichtkanonisiertes Lernen statt, an dem der Besucher auch noch Freude hat.
34 Vgl. Nitsch (wie Anm. 12), S. 53. 35 Vgl. Nitsch (wie Anm. 12), S. 54. 36 Vgl. Gottfried Korff: Bildwelt Ausstellung. Die Darstellung von Geschichte im Museum. In: Ulrich Borsdorf, Heinrich Theodor Grütter (Hg.): Orte der Erinnerung. Denkmal, Gedenkstätte, Museum. Frankfurt/M., New York 1999, S. 319-335, hier S. 332, oder Gottfried Korff: Zur Eigenart der Museumsdinge. In: Martina Eberspächer, Gudrun Marlene König und Bernhard Tschofen (Hg.): Museumsdinge. deponieren – exponieren. Köln, Weimar, Wien 2002, S. 140-145, hier S. 144. 37 Vgl. Korff, Bildwelt Ausstellung (wie Anm. 36), S. 327. 38 Ebd., S. 328. 39 Vgl. Kriss-Rettenbeck (wie Anm. 31), S. 12.
Eingangssituationen in deutschen Museen. Gesc hic ht lic he , a na l yti s c he und kritische Anmerkungen MELANIE RICHTER Es ist wie im sonstigen Leben: Der erste Eindruck zählt. Bin ich willkommen? Finde ich mich zurecht? Fühle ich mich wohl? Was hatte ich erwartet? Werde ich wiederkommen? – Diese und vergleichbare Fragen werden ganz wesentlich in und durch die Eingangssituation eines Museums mit-entschieden. Wer einmal beginnt, den Eingang zu analysieren, wird von der Fülle und Vielfalt der hier versammelten Signale überrascht sein und von der Treffsicherheit des ersten Eindrucks. Weit über ihre funktionalen Aspekte hinaus ist die Eingangssituation als Visitenkarte der Institution selbst und als Prolog ihrer Sammlungs- und Ausstellungstätigkeit anzusehen. Die Anregung zur Beschäftigung mit Eingangssituationen gab der Besuch einer kleinen, jedoch bedeutenden Kunstsammlung. Vor dem Betreten der Ausstellungsräume passierte man hier einen Windfang, umfunktioniert zur Verkaufsgalerie, in der dicht gedrängt und farbenfroh die Reproduktionen der beliebtesten Gemälde zum Verkauf aushingen. Die Originale in der darauf folgenden Ausstellung waren dem gegenüber pfleglos gehängt, schlecht ausgeleuchtet und kaum oder fehlerhaft beschriftet. Der tägliche Besucherstrom hatte deutliche Spuren in den Ausstellungsräumen hinterlassen. Da Eingänge in der Regel auch Ausgänge sind, endete der unerfreuliche Rundgang erneut inmitten der käuflichen Abbilder. Bestätigt hatte sich der erste Eindruck, nach dem die bekannten Originale, statt selbst im Mittelpunkt zu stehen, fast nur noch einen verkaufsfördernden Zweck zu erfüllen schienen. Weitere Besuche in Museen und Ausstellungen bestätigten die zentrale Bedeutung und Offenbarungsqualität von Eingangssituationen. Ohne weiteres ließ sich dabei auch erkennen, wie unterschiedlich die Erwartungen und Chancen, die mit dieser Schnittstelle zwischen Institution, Besucher und Sammlung verbunden sind, von den Museen reflektiert und umgesetzt werden. Wesentlich für alle Formen und Varianten von Eingängen ist, dass sie die Schnittstelle zwischen einem Draußen und einem Drinnen markieren. Eingänge
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werden daher zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Kulturen besonders gekennzeichnet oder verborgen, beim Verlassen erinnert, bei der Suche beschrieben, sie werden bewacht und verteidigt und eignen sich als Orte ritueller und religiöser Handlungen. In seiner architekturtheoretischen Schrift „Über die Baukunst“ nennt Leon Battista Alberti (1404-1472) als sechstes Grundelement der Architektur nach der Gegend (1), dem Grund (2), der Einteilung (3), der Mauer (4) und der Decke (5) – die Öffnung (6).1 Die damit gemeinten Fenster und Türen gewähren im einen Fall Licht und Luft, im anderen Fall Dingen und Menschen Ein- und Ausgang. Bei öffentlichen Gebäuden misst Alberti den Türöffnungen mehr Bedeutung bei als den Fenstern. Anzahl und Verteilung sollten der Ausdehnung des Gebäudes entsprechen.2 Der hier verwendete Begriff der „Eingangssituation“ meint über die Öffnung hinaus auch das Umfeld davor und den jeweiligen Raum dahinter. Die wachsende Zahl museologischer Literaturtitel hat sich der Eingangssituation nur in Einzelaspekten gewidmet, allen voran dem Museumsshop.3 Auch sonst gibt es erstaunlich wenig zum Thema „Eingang“, dem bei der Raumbildung und -nutzung wie beschrieben eine wichtige Rolle zukommt. Schon leichter finden sich Publikationen zur Tür oder Treppenanlage, selten jedoch zum Eingang aus konzeptioneller Sicht.4 Dieser Beitrag hat sich deshalb das Ziel gesetzt, die Eingangssituation als zentralen Bereich des Museums zu definieren und auf der Grundlage von Fallbeispielen wesentliche Funktionen und Aufgaben der Eingangssituation herauszuarbeiten bzw. nach ausschlaggebenden Faktoren für ihr Gelingen zu suchen. Dafür wurden knapp vierzig Häuser und Sammlungen zwischen Hamburg und München, Köln und Berlin besucht (siehe Anhang). Die Auswahl konzentrierte sich 1 2 3
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Leon Battista Alberti: Zehn Bücher über die Baukunst. Nachdruck der 1. Auflage hg. von Max Theuer 1912. Darmstadt 1988, S. 21. Ebd., S. 57ff. Gottfried Fliedl: Wa(h)re Kunst: der Museumsshop als Wunderkammer; theoretische Objekte, Fakes und Souvenirs. Frankfurt/M. 1997. Roswitha Gost: Der Museumsshop: Positionen – Strategien – Sortimente; ein Praxisführer. Bielefeld 1999. Siehe dazu vor allem: Horst Ossenberg, Sibin Djordjević: Eingänge. Anlage – Form – Konstruktion. Stuttgart 1973 (ingenieurtechnische Darstellung für Eingänge zu Wohngebäuden); Ulrike Stark: Innenraumgestaltung von Eingangshallen und Foyers. Stuttgart 1988; Pablo F. Hogaldo: Der Eingang. Form und kulturelle Einflüsse. Hannover 1981 (Dissertation über Zusammenhänge zwischen Kultur und formaler Ausprägung von Eingängen); Jürgen Knirsch: Eingang. Weg + Raum. Leinfelden-Echterdingen 1998. Eingangssituationen von Museen werden an drei Stellen als Beispiele herangezogen: Der Erweiterungsbau des Städel-Museums Frankfurt/M. unter „Eingangshallen als repräsentative Orte“, die Eingangshalle des Museums zu Allerheiligen in Schaffhausen/Schweiz unter „Modernisierungskonzepte – Umgestaltung und Erweiterung“ und schließlich die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung noch nicht fertig gestellte Pinakothek der Moderne in München unter „Foyer als Inszenierung zur Inszenierung“. Ebd., S. 78, 84, 172. – Dann noch: Zugänge – Ausgänge. Mit Beiträgen von Otl Aichinger, Jürgen Becker, Wolfgang Pehnt, Timm Rautert. Köln 1990.
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auf Museen, deren Gebäude tatsächlich als Museumsbauten entstanden sind, so dass der heutigen Nutzung jeweils schon eine bauliche Konzeption des Eingangs zugrunde lag. Die hier sehr knapp zusammen gefassten Ergebnisse erheben selbstverständlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es liegt in der Sache selbst, dass viele Beobachtungen und Einschätzungen subjektiv sind. Vielleicht und hoffentlich können sie darüber hinaus jedoch zu einer intensiveren Diskussion anregen.
Das Museum als Bauaufgabe Zum besseren Verständnis sei ein kurzer Überblick zur Herausbildung und Entwicklung des Museums als Bauaufgabe mit besonderer Berücksichtigung der Eingangssituation vorangestellt: Seit den ersten Museumsbauten im 19. Jahrhundert lassen sich mit Bezug auf die Bedeutung und bauliche Anlage der Eingangssituation wenigstens drei Phasen ausmachen, die einer sich wandelnden Geschichtsauffassung geschuldet sind. Als Bauaufgabe ist das Museum erheblich jünger als das Sammeln, Bewahren und Zeigen von kuriosen oder repräsentativen Objekten und Kunstwerken, die sich zunächst in fürstlichem Besitz befinden. Das wissenschaftliche Erforschen, Ordnen und Ausstellen der zuweilen seit dem 16. Jahrhundert gewachsenen und unübersichtlich gewordenen Sammlungen bekommt erst richtig Aufschwung mit ihrer räumlichen Herauslösung aus dem fürstlichen Kontext mit der Errichtung von Museumsbauten seit dem 19. Jahrhundert. Die ersten Museumsbauten nach dem Vorbild von Karl-Friedrich Schinkel (Altes Museum, Berlin, 1824-28/1830; Zentralbau mit umlaufender Galerie) und Leo von Klenze (Alte Pinakothek, München, 1826-36; Galeriebau) zielen noch auf das Repräsentative und Monumentale durch eindrucksvolle Symmetrien, Treppenanlagen, Portiken, Zentralräume und Bildprogramme mit stilistischen Anleihen bei der Antike und der Renaissance. Bis heute werden diese Bauelemente in der Museumsarchitektur immer wieder variiert und neu gedeutet. Ausgelöst durch das Aufkommen bürgerlicher Sammlungen und Museen verliert die Repräsentation in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an Bedeutung. Den Vorrang hat nun die Ausstellungsfläche. Zentralräume, die für Ausstellungen nicht geeignet sind, ernten Kritik. Der Eingang wird zum Zugang mit den notwendigen Grundfunktionen wie Garderobe und Kasse. Außerdem wird über Sichtachsen von der Eingangssituation aus ein direkter Übergang zur Ausstellung geschaffen. Nach der Mitte der 1970er Jahre, im Zuge der Gründungswelle und Demokratisierung des Museums unter der Forderung „Bildung für alle“, erfährt die Eingangssituation eine erneute räumliche Ausweitung. Der neue Besucherstrom braucht vor allem Platz und bringt zusätzliche Anforderungen mit sich. Das Herabsetzen der viel beschworenen Schwellenängste hat Folgen für die Museumsarchitektur: Glas ist nun der vorherrschende Werkstoff, aus dem ganze Fassaden
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und die Eingänge konstruiert werden. Ihre Durchlässigkeit wird zuweilen durch Museumsobjekte im öffentlichen Raum noch verstärkt. Erinnert sei dabei an das Römisch-Germanische Museum in Köln. Das Hereinholen des Besuchers mit Hilfe der Aufgabe von Trennlinien und klaren Abgrenzungen tritt seitdem und bis heute freilich wieder stärker in den Hintergrund.
Die Eingangssituation als Visitenkarte und Zentrale Was macht nun die Eingangssituation zu einem herausragenden Ort, ja zu einer Visitenkarte des Museums: Grundlage ist die Funktion des Eingangs als Zugang und Schnittstelle der horizontalen und vertikalen Gebäudeerschließung. Der Museumseingang liegt deshalb häufig zentral im Grundriss, orientiert sich an der städtebaulichen Umgebung und ist durch Form, Material oder Farbe besonders gekennzeichnet. Aus der Perspektive der Sammlung gewährt die Eingangssituation vor allem Schutz. Der kontrollierte Zugang erhöht die Sicherheit. Der vorgeschaltete Raum unterstützt die Einhaltung konservatorisch günstiger Bedingungen mit möglichst konstantem Raumklima. Alle Besucher betreten und verlassen das Museum durch die Eingangssituation. Dabei regelt und reguliert das Museum über die Eingangssituation den Zugang zu den Ausstellungsräumen. Die Eingangssituation ist Treffpunkt und Aufenthaltsort der Besucher vor und nach dem Ausstellungsbesuch. Es ist der geeignete Ort, wesentliche Funktionen und Serviceleistungen im Zusammenhang mit dem Besucherverkehr räumlich zusammen zu fassen, darunter Garderobe, Information und Kasse, aber auch Museumsshop, Café oder Restaurant. Die Eingangssituation von Museen hat sich zu einem Ort entwickelt, an dem das Museum als Institution in Erscheinung tritt. Besucher und Museum (als Institution) treffen hier direkt aufeinander. Und so ist die Eingangssituation vor allem ein Ort der Kommunikation zwischen Museum (als Institution) und Besucher. Kommuniziert wird zum einen all das, was für den Museumsbesuch organisatorisch erforderlich ist. Das sind vor allem die Zugangsbedingungen von den Öffnungszeiten über die bezahlte Eintrittskarte (ein Vertragsabschluss!), das Einschließen von Taschen bis hin zur Orientierung durch Pfeile oder aufwändigere Besucherleitsysteme, die im Eingang beginnen und den Besucher auf seinem Parcours begleiten. Darüber hinaus verweisen Plakate, Aushänge, auch die Auslagen im Museumsshop oder an der Kasse auf die jeweils aktuelle(n) Ausstellungen und Veranstaltungen. Das erste Eintauchen in die Ausstellungsgestaltung bietet dabei Orientierung und Einstimmung. In der Eingangssituation werden aber auch grundlegende Informationen über das Museum vermittelt. Immer häufiger kann man die Geschichte einer Sammlung oder auch die Baugeschichte des Museums nachlesen, man lernt Gründer, Stifter und Sponsoren kennen, erfährt vielleicht etwas über das Leitbild und Zielsetzungen des Museums und kann durch einen Eintrag im Besucherbuch Lob oder Kritik an das Museum weitergeben. Auslagen oder Berichte von Museums-
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vereinen und Förderern belegen im Vergleich zur Dauer einer thematischen Ausstellung die langfristigen Bindungen an eine Institution. Die Kommunikation ist außerdem nicht auf textliche, bildliche und gegenständliche Mittel beschränkt: Schließlich ist die Eingangssituation auch ein Arbeitsplatz, an dem Museumspersonal im direkten Kontakt mit dem Besucher steht. Entscheidender als die Erfüllung all dessen, WAS? in der Eingangssituation kommuniziert werden kann – so eine grundsätzliche Erkenntnis aus den besuchten Museen –, ist das WIE? Eine gute Organisation und Bereitstellung von Informationen, ein freundlicher und zuvorkommender Kontakt in der Eingangssituation prägen den gesamten Aufenthalt positiv bis hinein in die Ausstellung – und umgekehrt. Je unübersichtlicher der Zugang geregelt ist, desto länger brauchen Besucher, um sich auf die gezeigten Exponate und Ausstellungstexte einzulassen. An dem WIE? offenbaren sich aber auch das Selbstverständnis und die Arbeitsweise eines Hauses. Die Eingangssituation erlaubt Rückschlüsse auf das Arbeitsklima eines Museums, manchmal sogar auf die vorhandenen Hierarchien oder Probleme, auf die finanzielle Ausstattung durch den Träger, aber auch auf den Stellenwert der Besucher und der Sammlung für das Museum.
Faktoren Verbindliche Normen für Eingangssituationen von Museen kann es nicht geben. Zu unterschiedlich sind die Voraussetzungen, Aufgaben und Ziele der einzelnen Häuser. Dennoch gibt es einige wichtige Faktoren, die für jede Eingangssituation relevant erscheinen. Aus der Perspektive der Besucher lassen sich diese Faktoren allgemein mit Begriffen wie Orientierung, Barrierefreiheit, Wohlbefinden und thematischer Einstimmung umschreiben. Aus der Sicht des Museums sind es eher Begriffe wie Organisation, Sicherheit und die Präsentation des eigenen Hauses. Aus der diesem Beitrag zugrunde liegenden systematischen Beschreibung und Analyse der besuchten Museen ergaben sich folgende Faktoren zur Beurteilung, von denen einige im Anschluss exemplarisch anhand von heraus gegriffenen Beispielen illustriert werden: Weg- und Raumstrukturen Haupteingang und Eingangstür Eingangshallen und Zentralräume Treppenanlagen Integrationshilfen Formen-, Farb- und Materialkanon Proportion und Ponderation Konstruktionsqualität und Detaildurcharbeitung Raumklima und Gerüche Schallklima und Geräusche Belichtung und Beleuchtung
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Orientierung und Erklärungsbedarf Aktualität und Eindeutigkeit der Aussage Übergang zur Ausstellung Einbauten für Funktionen und Serviceleistungen Anordnung im Raum, Platz, Besucherdichte Sitzgelegenheiten für Besucher Allgemeiner Zustand und Pflege. Wesentlich für eine gelungene Eingangssituation ist, dass Besucher das Museum finden und sich im Eingang und im Museum selbst leicht orientieren können. Der eingangs angebrachte Namenszug eines Museums bietet Orientierung und auch Wiedererkennung und verrät etwas vom Selbstverständnis einer Einrichtung. Frei stehende Museen, zumal in exponierter städtischer Lage, lassen eine Tendenz erkennen, sich statt auf einen Namenszug auf ihren unverwechselbaren Museumsbau zu verlassen. Unterschiede gibt es dennoch: Einige Museen verzichten ganz auf den öffentlichen Namenszug bzw. ist er bei den Öffnungszeiten oder auf Plakaten nur aus nächster Nähe zu lesen. Beispiele sind die Alte Pinakothek in München, die Bielefelder Kunsthalle oder die Stuttgarter Staatsgalerie. Der zweite Weg wird angeführt vom Römisch-Germanischen Museum in Köln, dessen große, rote Lettern über den Domplatz strahlen. Als Vorläufer könnte man den weithin sichtbaren Schriftzug am ersten Erweiterungsbau der Hamburger Kunsthalle bezeichnen, der jedoch an der schwierigen Eingangssituation nur wenig ändert. Bei der Mehrzahl der Museen ist ein dezent gestalteter Namenszug am Bau vorhanden. Er befindet sich meistens über oder unmittelbar neben der Eingangssituation und ist weniger auf Fernwirkung angelegt. Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang etwa die Außenanlagen des Sprengel-Museums in Hannover. Von der Stadtmitte oder dem Niedersächsischen Landesmuseum her kommend, führt das Außengelände wie ein Weg bis zum Besuchereingang und setzt sich sogar bis in die Eingangshalle fort. Einiges wird dabei schon durch die Museumsarchitektur vorgegeben, darunter die Form, Ausdehnung und Anordnung des Raumes und der Wege, die Treppenanlagen, Türen und Durchgänge, auch Sichtachsen, Lichteffekte und sonstige Hervorhebungen, die den Besucher von selbst leiten oder Neugier wecken. Die Eingangssituation der Hamburger Kunsthalle ist dagegen gewissermaßen vertrackt. Der älteste von drei Museumsbauten hat bis auf weiteres keinen eigenen Zugang. In den Windfang wurde ein Fahrstuhl eingebaut. Das repräsentativ angelegte Treppenhaus ist seiner Wirkung beraubt. Die Galerie der Gegenwart (1993/97) hat einen separaten Zugang, der von außen sehr zurück haltend ausfällt und weit abseits vom allgemeinen Publikumsverkehr liegt. Den Haupteingang bildet nach der ursprünglichen Planung von Alfred Lichtwark der kleine Portikus an der Südwestecke des betont schlichten Erweiterungsbaus. Der architektonische Rahmen führt stufenweise ins Innere und erst nach dem Abstreifen von Alltag und Garderobe in die Eingangsrotunde.
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Unterstützt wird die Orientierung von Seiten der Museen in aller Regel durch Hinweisschilder und Besucherleitsysteme. Wie in anderen öffentlichen Gebäuden gibt es auch in Museen häufig zwei Erschließungen in einem Gebäude: eines für Besucher und ein zusätzliches für Mitarbeiter. Während dabei die Eingänge in der Regel getrennt werden, tangieren, schneiden oder decken sich die horizontalen und vertikalen Erschließungslinien im Gebäudeinneren. Daraus ergeben sich Konsequenzen für den Museumsalltag, die hier allerdings nicht zur Diskussion stehen. Von Beginn an bildet die Barrierefreiheit ein wesentliches Thema des Museumsbesuchs. Die häufigste Ausprägung vertikaler Gebäudeerschließung sind Treppenanlagen. In Museumsbauten sind Treppen und Treppenanlagen von den ersten Entwürfen an fester Bestandteil des Zugangs und der inneren Gebäudeerschließung. Dabei wird ihre physische Überwindung als Heraushebung des Bewahrten gegenüber dem Alltäglichen und als Vorbereitung auf den Eintritt in die Sammlung ausgelegt. Treppenlauffiguren werden vom einfachen Raumerlebnis bis zur erhabenen Inszenierung gesteigert. Der Besucher wird zum Akteur, der die Schwelle zwischen dem Alltäglichen und dem Bewahrten überwindet. Treppenanlagen bilden aber zugleich Barrieren, mit denen nicht nur der Zugang für Einzelne erschwert, sondern auch ein Verzicht auf eben dieses Raumerlebnis oder die Inszenierung verbunden ist. Daher wird honoriert, wenn Alternativen der vertikalen Erschließung, in der Regel sind es Aufzüge, nicht gänzlich abseits liegen und durch Aufhänger wie ein Plakat, eine witzige Postkarte oder eine ganz besondere Empfehlung einen adäquaten Einstieg in die Sammlung bieten. Einen jedenfalls inadäquaten Einstieg bieten dagegen Eingangstüren in Museen, die sich automatisch nach außen (!) öffnen. Alle Bemühungen in der Eingangssituation sind umsonst, wenn die direkte, menschliche Kommunikation mit dem Museumspersonal versagt. Man darf wohl davon ausgehen, dass jeder Nachteil, den eine Eingangssituation generell oder vorübergehend mit sich bringt, sich durch die kommunikative Fähigkeit des Museumspersonals wett machen lässt. Umgekehrt bekommt jede Eingangssituation einen Kratzer, wenn das Museumspersonal gestresst, unfreundlich, desinteressiert oder auffallend mit sich selbst beschäftigt ist. Verbote des Umgangs mit dem Besucher sind ebenfalls spürbar und nachteilig. Würde man Museumsbesucher im Eingangsbereich um eine kurze Schilderung ihres Gesamteindrucks bitten, so erhielte man eine Reihe subjektiver Eindrücke und Beobachtungen, die dennoch – so wird man annehmen dürfen – in der Summe ein etwa zutreffendes Bild wiedergeben. Entsprechend sollten sich gestalterische Elemente des Raumes benennen lassen, die diese subjektiven Wahrnehmungen hervorrufen oder befördern. Bei der Analyse von Museumsarchitektur und -gestaltung stehen daher Faktoren im Mittelpunkt, welche unzweifelhaft die Atmosphäre beeinflussen und beim Eintreten oder Verweilen in der Eingangshalle auf Besucher wirken. Hier geht es um Orientierung, Übersichtlichkeit, Formen-, Farb- und Materialkanon,
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aber auch um Geräusche, Gerüche, Raumdimensionen und Lichtverhältnisse, die unmittelbar nach dem Eintreten vom Besucher neu ausgerichtet und deshalb besonders intensiv wahrgenommen werden. Das durch architektonische und gestalterische Mittel unterstützte Wohlbefinden der Besucher in einer zeitgemäßen, aus dem Alltäglichen heraus gehobenen und dennoch nicht unvertrauten Umgebung soll sich im Bestfall in der Verweildauer, Aufnahmebereitschaft und Lust an der Auseinandersetzung mit den ausgestellten Inhalten niederschlagen. Diese Hypothese dürfte kein frommer Wunsch sein, denn zwischen der Qualität der Eingangssituation und Rückschlüssen auf die Ausstellungsinhalte und -formen besteht zweifellos eine – wenngleich näher zu untersuchende – Beziehung. Noch konkreter ist diese Beziehung, wenn sogleich im Eingangsbereich mit Hilfe von Plakaten oder gar Ausstellungsstücken und Installationen der Beginn der Museumspräsentation nach vorn verlegt wird und damit eine sofortige Einstimmung stattfindet oder stattfinden soll. Zuerst hat das Römisch-Germanischen Museums in Köln seinen Ausstellungsbereich sogar über die Glasfassaden der Eingangshalle hinaus nach vorn ausgedehnt, so dass der Schritt in die Ausstellung noch vor dem Eintritt in das Museum getan ist. Niedriger kann ein Museum die Barriere nicht setzen. Die Objekte und gravierten Ausschilderungen leiden hier allerdings nach 35 Jahren unter der vertraut gewordenen Unmittelbarkeit. Ein viel jüngeres Vergleichsbeispiel gibt das Haus der Geschichte BadenWürttemberg in Stuttgart, dessen „Baden-Württemberg-ABC“ mit 26 Glasvitrinen vom Außengelände bis hinein in die Eingangshalle verteilt ist. Die Eingangshalle der Neuen Staatsgalerie Stuttgart löst durch ihre großzügige, geschwungene Fensterfront mit grell-grüner Rahmung, die beiden roten Drehtrommeltüren und den ebenfalls grell-grünen Bodenbelag eine Art von fröhlicher Spannung aus. Dieser Bodenbelag ist inzwischen auf Mousepads, Taschen und Publikationen zu finden. Die Übergänge in die Sammlungsbereiche liegen dagegen sehr bescheiden an den Stirnseiten. Hier werden im Vergleich unterschiedliche Schwerpunktsetzungen und Gewichtungen des Museumseingangs und seiner Architektur, Gestaltung und Funktion deutlich. Unterschiedliche Gestaltungsansätze können aber auch in manchen Eingangssituationen von einem Nacheinander gestiegener Anforderungen an den Eingangsbereich zeugen. Das trifft auf den Haupteingang der Hamburger Kunsthalle zu, aber auch etwa auf das Kestner-Museum in Hannover. Auf begrenztem Raum wird hier versucht, alle Funktionen und Serviceleistungen unter ein Dach zu bekommen. Dabei kann es schon passieren, dass das Museumscafé zwischen den Ausstellungsvitrinen landet und offenbar nur nach Bedarf vom Aufsichtspersonal geöffnet wird. Sicherlich gibt es verschiedenste Möglichkeiten der Museen, sich in der Eingangssituation als Institution selbst zu präsentieren. Für die Wahrnehmung durch Besucher und infolgedessen zur Präsentation des Museums gehören jedoch immer wesentliche Faktoren wie der bauliche Zustand des Museums und alles, was im weitesten Sinne mit Pflege und Sauberkeit zu tun hat. Von außen kommend,
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spielt der bauliche Zustand eine nicht zu unterschätzende Rolle. Im Gegensatz zu Museumsbauten des 19. Jahrhunderts und der Jahrhundertwende, die selbst als Monumente errichtet worden sind und denen deshalb eine Patina zuträglich sein kann, wirken Alterungsprozesse an Museumsbauten der Moderne mehr als dreißig Jahre nach Gründungswelle und Museumsbauboom selten ehrwürdig und positiv. Die Baumaterialien geben nach, Bodenplatten und Wandverkleidung zeigen unübersehbare Schäden. Bei Überdachungen der Eingangssituation aus Beton und Glas kann die Leichtigkeit des Entwurfs durch Alterung und Verschmutzung ins Gegenteil einer schweren Belastung schlagen. Wenig Gutes verheißt jedem Museumsbesucher die geringe Nachhaltigkeit des Baumaterials und die nachlassende Verarbeitungsqualität bei jüngeren Museumsbauten wie der Pinakothek der Moderne oder dem Haus der Geschichte in Berlin (Pei-Bau). So banal sie aus museologisch-theoretischer Sicht wirken mögen: Nicht zu unterschätzen sind zum guten Schluss die Pflege und Sauberkeit. So sind verschmutzte oder aufgegebene Schaukästen und Schautafeln im äußeren oder inneren Eingangsbereich dem Eindruck erwiesenermaßen ausgesprochen abträglich und durch nichts zu begründen. Gerade weil sie für Aktualität stehen und informieren sollen, erzeugen sie durch einen solchen Zustand den gegenteiligen Eindruck. Dies gilt auch für offenkundig ausgeblichene Plakate. Hier geht die analytisch-kritische Diskussion der Eingangssituation im Museum über in eine kritische Betrachtung des Museumsbetriebs in der öffentlichen Wahrnehmung.
Hinsichtlich der Eingangssituation dokumentierte Museen Berlin: Altes Museum – Martin-Gropius-Bau (ehem. Kunstgewerbemuseum) – Deutsches Historisches Museum (Erweiterungsbau am Zeughaus) Bielefeld: Kunsthalle – Historisches Museum (Verbindungsbau) Bonn: Haus der Geschichte – (Städtisches) Kunstmuseum Braunschweig: Landesmuseum (Eingang als überdachtes Forum) – Herzog Anton Ulrich Museum Emden: Kunsthalle – Ostfriesisches Landesmuseum Frankfurt/Main: Städelsches Kunstinstitut – Historisches Museum – Museum für Kommunikation – Museum für Kunsthandwerk – Museum für Moderne Kunst – Kunsthalle Schirn – Deutsches Architektur-Museum – Deutsches Filmmuseum (Eingang als Vor- bzw. Anbau) Hamburg: Kunsthalle Hannover: Sprengel-Museum – Kestner-Museum – Niedersächsisches Landesmuseum – Forum des Niedersächsischen Landesmuseums (kein Museumsneubau) Köln: Wallraf-Richartz-Museum – Römisch-Germanisches Museum – WallrafRichartz-Museum / Museum Ludwig
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Mainz: Römisch-Germanisches Zentralmuseum (kein Museumsneubau) – Mittelrheinisches Landesmuseum Mönchengladbach: (Städtisches) Museum am Abteiberg München: Alte Pinakothek – Neue Pinakothek – Pinakothek der Moderne – Haus der Kunst Oldenburg: Landesmuseum Natur und Mensch – Horst-Janssen-Museum / Stadtmuseum Stuttgart: Neue Staatsgalerie – Haus der Geschichte Baden-Württemberg
Schaudepots. Zu einer ergänzenden Form der musealen Dauerausstellung VERA BEYER Die Depots der meisten Museen sind voll. Eine lange und zumindest phasenweise auch aktive Sammeltätigkeit auf unterschiedlichsten Gebieten ließ teilweise über Jahrhunderte hinweg stattliche Sammlungen verschiedenster Objekte entstehen. Vor allem in den großen Museen mit langer Tradition sind jedoch oft lediglich fünf bis zehn Prozent der Sammlungsbestände in den ständigen Ausstellungen den Besuchern frei zugänglich. Eine der verschiedenen, sich in den letzten Jahren zunehmend in Museen zeigenden Reaktionen auf diesen Zustand ist die Einrichtung von so genannten Schaudepots. Unterschiedliche Konzepte gewähren der Öffentlichkeit auf mannigfache Weise Einblicke in die bisher unzugänglich deponierten Sammlungen – mit mehr oder weniger Erfolg bezüglich der Besucherzahlen.1 Dabei reicht die Spannweite der Konzepte von einer Ausstellung im Gemäldemagazin über Führungen durch traditionelle Magazinräume bis hin zu völlig musealisierten und teilweise inszenierten Einrichtungen von Schaudepots im Rahmen von Depotneubauten oder einer Museumsneukonzeption. Nicht wenige Museen haben die Erfahrung gemacht, dass die meist unregelmäßig angebotenen Führungen durch das Museumsdepot bei den Teilnehmern großes Staunen, viel Interesse und anregende Gespräche auslösen. Besuche und Einblicke in Museumsdepots haben für viele Menschen einen großen Reiz. Es hat etwas Geheimnisvolles, in einer dichten Anhäufung (scheinbar) ungeordneter Gegenstände nach Bekanntem oder Interessantem zu schauen und darin zumindest mit den Augen stöbern zu können. Außerdem ist es etwas Besonderes, hinter 1
Hilberry schrieb über Schaudepot-Projekte in amerikanischen Museen: „Recently, a number of museums have experimented with visible storage in an attempt to make larger percentage of their collections accessible to the public. Some of these experiments have been very successful; others have not attracted as many visitors as the institution hoped. And a view museums have abandoned visible storage alltogether, concluding that the space would be better used for other purposes.“ John D. Hilberry: Behind the Scenes. Strategies for Visible Storage. In: Museum News 7/8 (2002), S. 34-40, hier S. 36.
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die Kulissen schauen zu dürfen. Dies erklärt auch die großen Erfolge, die Depotführungen im Rahmen eines „Tags der offenen Tür“ oder einer „Museumsnacht“ erzielen. Menschen nutzen das Privileg, Zugang zu Bereichen des Museums zu erhalten, an deren Schwelle die Museumsbesucher in der Regel durch Schilder wie „Kein Zutritt“ oder „Nur für Personal“ zurück gewiesen werden. Doch inwiefern ist das Zugänglichmachen der deponierten Sammlungsbestände bzw. das Einrichten von Schaudepots wirklich ein neuer Trend? Woher kommt die Idee, ein Museumsdepot für die Besucher zu öffnen und damit die gesamte Sammlung eines Museums zu zeigen? Schaut man zurück in die Geschichte der Museen, so zeigen sich immer wieder Ähnlichkeiten zwischen den heutigen Schaudepots und älteren Präsentationsweisen von Sammlungen – beispielsweise Kunst- und Wunderkammern, Studiensammlungen und Heimatmuseen. Das eigentliche Modell des „Visible Storage“ – im Deutschen allgemein als Schaudepot oder synonym als Schaumagazin bezeichnet – entstand allerdings in den 1970er Jahren in Nordamerika und entstammt einer Bewegung zur Demokratisierung der musealen Sammlungen.2 Idealer Weise sollte die Öffentlichkeit, da sie der eigentliche Besitzer der Sammlungen ist, auch uneingeschränkten Zugang zu allen Museumsbereichen haben.3 Die Grundidee, die in Magazinen gelagerten, verschlossenen Museumsbestände – zumindest zu großen Teilen – dem allgemeinen Publikum zu öffnen, wurde von vielen Museen aufgegriffen. Das Metropolitan Museum of Art in New York stellte bereits in den 1960er Jahren im Bereich seines Amerikanischen Flügels in einer Art Schaudepot eine große Anzahl von Gemälden und dreidimensionalen Objekten dicht an dicht in großen Glasvitrinen auf, um die Sammlung zu demokratisieren.4 Doch als erstes als „Visible Storage“ bezeichnetes Beispiel in Nordamerika gilt das Schaudepot des Museums of Anthropology in Vancouver, das 1976 eröffnet wurde.5 Es nutzte die Notwendigkeit eines Museumsneubaus, um zusätzlich zur Dauerausstellung große Teile der Magazinbestände nicht nur als Forschungseinrichtung für Studenten und Wissenschaftler, sondern dauerhaft in Form eines Schaudepots auch für das allgemeine Publikum zugänglich zu machen. Ein Grund für diese Einrichtung war die Tatsache, „dass man für Forschungen ständig Objekte aus dem Depot herausholte, um sie anschließend wieder dorthin zurückzubringen“,6 da die Sammlung aktiv für Lehre und Forschung genutzt wurde. In einer direkten Verbindung zur Dauerausstellung, jedoch räumlich getrennt, befindet sich das
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Paul C. Thistle: Visible Storage for the small museum. In: Curator, quarterly publication of the American Museum of Natural History 33 (1990). H. 1, S. 49. Ebd. Vgl. Hilberry (wie Anm. 1), S. 36. Vgl. David D. Cunningham: The Philosophy of Visible Storage at the Museum of Anthropology. In: Übersee-Museum Bremen (Hg.): TenDenZen 99. Jahrbuch VIII. Bremen 1999, S. 41-54. Ebd., S. 53.
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Schaumagazin in einer fensterlosen Halle im Zentrum des Gebäudes.7 In Glasvitrinen und Schubladensystemen werden die großen Objektmengen gleichzeitig geschützt gelagert und gezeigt. Dieses große und innovative Experiment eines Museums erweckte weltweit großes Interesse und wurde als Modell von einer Vielzahl Museen in Nordamerika, etwas später auch in Europa übernommen.8 Dort trat das Phänomen Schaudepot erst in den 1990er Jahren verstärkt auf. Vorher entstanden in den Museen vereinzelt im Rahmen von Museumsneubauten eher Studiensammlungen, die für die späteren Schaudepots in mancher Hinsicht Vorbild waren. Frühe europäische Beispiele sind das Schaudepot des Jüdischen Museums in Wien (1996), aber auch das Schaumagazin des Übersee-Museums in Bremen (1999). In der Folge wurden viele große und kleine, vor allem aber ganz unterschiedliche Konzepte umgesetzt. Einige Kurzporträts europäischer Schaudepots verschiedener Museumsgattungen sollen zeigen, wie groß die Bandbreite von solchen Konzepten und unterschiedlichen Lösungen ist. Weitere knapp 30 Museen mit Schaudepots waren in die Gesamtbetrachtung einbezogen. Eine Art gedanklichen Ausgangspunkt bildete der Plan des Rheinischen Industriemuseums, am Standort Oberhausen in den ehemaligen Lagerhäusern der Gutehoffnungshütte ein den Besuchern zugängliches Zentraldepot einzurichten. Diese noch nicht abgeschlossene Situation einschließlich der Vorlaufphasen („Theater der Dinge“) war gut geeignet, um ein Problembewusstsein zu schaffen.
Jüdisches Museum Wien Im Rahmen einer Neukonzeption richtete das 1895 begründete Jüdische Museum in Wien parallel zu seiner permanenten Ausstellung im Palais Eskeles im Jahre 1996 ein Schaudepot ein. Da die Dauerausstellung fast völlig ohne Originalobjekte gestaltet ist, sondern vielmehr mit Hologrammen als visuellen Medien arbeitet, nutzte man das Schaudepot, um den Großteil der Sammlungsbestände auf begrenztem Raum zu zeigen. Die Sammlung zeigt eine Fülle von ThoraAufsätzen, -Kronen und -Zeigern, Leuchtern, in Massenherstellung produzierte Judaika, Dinge des häuslichen Gebrauchs und zerstörtes, teilweise verbranntes Zeremonialgut.9 Gelagert und gleichzeitig präsentiert wird das Sammlungsgut in einer Kompaktregalanlage, die als mächtiger Glaskubus den Raum dominiert und gleichzeitig Vitrine und Lagerraum ist.10 Die Objekte sind in der Regalanlage in großer Dichte, geordnet nach ihrer Provenienz, aufgestellt. Lichtempfindliche 7
Vgl. Isometrische Darstellung des Museumsgebäudes. In: Michael M. Ames: Visible Storage and Public Documentation. In: Curator 20/1 (1977). H. 1, S. 68. 8 New York museum opens vaults to public. 23.1.2001. In: http://archives. cnn.com/2001/STYLE/design/01/23/visible.storage.ap/index.html#2 (19.5.2008). 9 Vgl. Gabriele Kohlbauer-Fritz: Schaudepot. In: Michaela Feuerstein-Prasser (Hg.): Jüdisches Museum Wien von A bis Z. München u. a. 2006, S. 106. 10 In den inneren Regalen der Kompaktanlage sind hinter den unverpackt aufgestellten Exponaten gestapelte Archivkartons zu erkennen.
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Objekte werden verpackt im Inneren der Anlage gelagert.11 Entlang der Wände des Raumes stehen Holzschränke mit Glastüren zur Präsentation von ausgewählten Textilobjekten, beispielsweise Thoramänteln. Zusätzlich werden an einer Wand in dichter Hängung Gemälde gezeigt, die beispielhaft für die große Gemäldesammlung des Museums stehen. Die Vermittlung erfolgt über einen Raumtext mit einer Einführung zum Thema Schaudepots, über kostenlose Audioguides bzw. über ausliegende Objektlisten.
Übersee-Museum Bremen Das Übersee-Museum Bremen besitzt eine international bedeutende natur-, völker- und handelskundliche Sammlung mit Objekten aus weiten Teilen der Welt. Am 1. Mai 1999 eröffnete es sein Schaumagazin „Übermaxx“. Große Teile der wertvollen Sammlungen drohten zuvor zu verfallen, da die Umstände in den zur Verfügung stehenden Außendepots katastrophal waren. Zur Rettung der Bestände wurde ein hochmodernes Museumsdepot in Kombination mit dem Neubau eines Großkinos als Lösungsansatz erbaut. Zwei der insgesamt neun Etagen des Depotbaus nimmt das Schaudepot ein. Etwa 30.000 Objekte der naturkundlichen und völkerkundlichen Sammlung werden dort auf ca. 2.000 m² der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, dennoch lagert der Großteil der Sammlungen in den verschlossenen Depots (etwa zwei Drittel der völker- und 90 % der naturkundlichen Sammlungsbestände).12 Das Schaumagazin gliedert sich in verschiedene thematische Objektgruppen. Die Objekte werden in großen Vitrinen in dichter Aufstellung und großer Fülle präsentiert. Die speziell für das Schaudepot angefertigten Vitrinen sollten durch eine unauffällige Konstruktion wie Vitrinen aussehen, jedoch wie ein Magazinschrank einfach zu handhaben sein.13 Die geradlinige Gestaltung ohne Inszenierungen betont den sachlichen Charakter der Sammlungsbewahrung und wissenschaftlichen Ordnung. An den Vitrinen befinden sich jeweils allgemeine, übergreifende Informationen, wie Kontinent, Land, ethnische Gruppe oder Region und Objektart. Dem Besucher soll so ein Eindruck der Magazinierung einer (natur-)wissenschaftlichen Sammlung vermittelt werden.14 Weiter führende Informationen gibt es im Rahmen einer klassischen Führung, an Computerstationen
11 Vgl. Audioguide des Jüdischen Museums Wien. 12 Für diesen Zustand werden finanzielle Gründe angegeben. Hätte das ÜberseeMuseum durch ausreichende finanzielle Mittel genügend Räumlichkeiten, würde es seine gesamten Sammlungsbestände der Öffentlichkeit zugänglich machen. Vgl. Peter Junge: Übermaxx – das neue Magazin des Übersee-Museums. In: TenDenZen (wie Anm. 5), S. 14. 13 Ebd., S. 26. 14 Vgl. Peter-René Becker: Neue Konzepte für Schausammlungen? In: Museumskunde 71 (2006), S. 26-32, hier S. 28.
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oder per Videoguide. Seit 2005 ist das Schaudepot direkt durch eine Brücke mit dem Museumsgebäude verbunden und dadurch besser zugänglich.
Museum der Westlausitz Kamenz Hier handelt es sich um ein im Sommer 2000 eröffnetes Arbeits- und Depotgebäude als „Sammelsurium“ in Form eines Schaumagazins, während das Museumsgebäude grundsaniert und ein neues Konzept für die ständige Ausstellung umgesetzt wurde. Das Konzept des Schaumagazins sollte helfen, für Interessenten und Freunde des Museums die mehrjährige Schließzeit während der Baumaßnahmen im Haupthaus zu überbrücken, bis 2002 das neue „Elementarium“ eröffnet werden konnte. Parallel zur Dauerausstellung steht das „Sammelsurium“ als gläserner Magazin- und Arbeitsbereich den Besuchern weiterhin offen. Im Dachgeschoss eines Schulgebäudes reihen sich Büroräume, Werkstätten und Magazinräume entlang eines Flures. Der Bereich des Ganges wird für Ausstellungen zu den drei Sammlungs- und Forschungsschwerpunkten des Museums (Archäologie, Geologie, Zoologie) genutzt. Während das „Sammelsurium“ generell für alle Interessenten nach vorheriger Anmeldung frei zugänglich ist, können die Magazinräume der archäologischen, der geologischen sowie der zoologischen Sammlung ausschließlich in Begleitung eines Fachwissenschaftlers besichtigt werden. Diese klimatisierten Räume sind ganz nach den Bedürfnissen der Objekte eingerichtet. Im Rahmen von Führungen können die Besucher den Wissenschaftlern beim Dokumentieren, Forschen und Präparieren gleichsam über die Schulter schauen.
Focke-Museum Bremen Das neue Magazingebäude des Focke-Museums in Bremen wurde im März 2003 eröffnet und sollte einen Großteil des Bestandes der Gegenstände zur Kunst- und Kulturgeschichte Bremens und der Region aufnehmen, die zuvor unter schlechten Bedingungen in Außendepots untergebracht waren. Das Konzept sah eine Kombination aus Lagerung und Ausstellung mit Vermittlung vor. Neben geschlossenem Depot und Sonderausstellungsfläche nimmt das Schaumagazin das Unter- und Erdgeschoss des voll klimatisierten, kubusförmigen Neubaus mit direkter Verbindung zum Hauptgebäude ein.15 In einem kleinen Eingangsbereich erhalten die Besucher eine kurze Einführung zum Schaumagazin. Im Schauraum wird die Mehrzahl der Exponate in großen Spezialvitrinen aufbewahrt und ausgestellt. Die unzähligen Objekte scheinen ungeordnet zusammen gestellt und folgen dennoch einem durchdachten Ord15 Vgl. Jörn Christiansen: „Entdecke – erlebe – erinnere“. Ein neues Magazin für das Focke-Museum. In: Mitteilungsblatt Museumsverband Niedersachsen Bremen. Nr. 64 (2003), S. 59-67, hier S. 59.
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nungsprinzip. Für die Gruppierung der ausgestellten Sammlungsbestände wurde zu jedem Buchstaben des Alphabets ein Verb gewählt, das jeweils als Überbegriff für eine Objektgruppe steht. Demnach gliedert sich das Schaumagazin über zwei Etagen, die mit einer Treppe verbunden sind, in die Bereiche A wie Anfangen, B wie Bewahren, C wie Charakterisieren bis Z wie Zu Grabe tragen. Die strenge Struktur der Glasvitrinen wird durch ihre abwechslungsreiche Anordnung zu Nischen oder offenen Räumen sowie durch freistehende bzw. -hängende Großobjekte aufgelockert. Gleichfalls lösen Inszenierungen in Sondervitrinen die strenge Ordnung der Objektaufstellung im Inneren der Vitrinen auf. Über den Objekten zugeordnete Nummern sind Hintergrundinformationen per Audioguide oder über Computerterminals abrufbar.
Historisches Museum Luzern Das Historische Museum Luzern wurde am 29. November 2003 nach einer kompletten Neukonzeption als Schaudepot wiedereröffnet. Das Einzigartige daran ist die Tatsache, dass das Schaudepot in diesem Fall keinen Zusatz zur Dauerausstellung bildet, sondern die Dauerausstellung selbst ausmacht. Das ursprünglich eher traditionelle Museumskonzept von 1986 wurde durch das neue Konzept des Schaudepots völlig ersetzt, um die zu großen Teilen in Depots gelagerten Objekte nicht länger den Augen der Öffentlichkeit zu entziehen. Das Gestaltungsatelier Steiner Sarnen Schweiz besann sich bei seinem Entwurf auf den Ursprung des Gebäudes als Zeughaus, mit unzähligen gelagerten Objekten.16 Durch einen kompletten Umbau und die Neugestaltung des Inneren schufen die Gestalter eine durchgängige Lageratmosphäre, geteilt in drei Bereiche – „Schaudepot“, „Schaulager“, „Zwischenlager“. Große schlichte Metallregale, Gitterwände, große gelbe Bodenbeschriftungen und Strichcodes an den Objekten werden bei der Präsentation als typische Merkmale eines modernen Großlagers aufgegriffen. Die Objekte stehen dicht gedrängt in großen Regalen, Gemälde und gerahmte Grafiken bzw. Fotos hängen an einfachen Drahtaufhängungen, und Kartenmaterial, Münzen und andere liegend zu lagernde Objekte sind in ausziehbaren Kartenschränken untergebracht. Im Bereich des Schaudepots sind dauerhaft 11.390 Exponate17 ausgestellt und nach Themen geordnet: von Archäologie über Kleider und Feuerwehr bis zu Waffen und Rüstungen. Im Bereich der ausgestellten Textilien sorgen Bewegungsmelder für die Regulierung der Beleuchtung zum Schutz der Objekte. Im Schaudepot kann jeder Besucher die Exponate eigenständig oder auch mit Hilfe eines Minicomputers entdecken. Robuste Industriescanner aus der Lagerlogistik wurden für die Erfüllung der speziellen Anforderungen in das Museums-
16 Vgl. Zitat von Otto Jolias Steiner. In: Regula Weber: Steiners Welt. In: Luzerner Zeitung. 22.11.2003. 17 Walter Schnieper: Sensationelles Zeugs – mit Strichcode. In: Luzerner Zeitung. 29.11.2003. Dies entspricht etwa 70 % des gesamten Sammlungsbestandes.
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konzept übernommen und den Objekten Barcodes zugeordnet. Die Besucher suchen sich ihren eigenen Weg durch die verschiedenen Etagen des Schaudepots und rufen je nach Interesse punktuell per Scanner Informationen zu einzelnen Exponaten ab. Die Scanner übernehmen auf Wunsch auch eine Themenführung – zum Mittelalter, zur Kindheit o. ä. – von Objekt zu Objekt. Während der Bereich des „Schaudepots“ von Besuchern frei besichtigt werden kann, ist der Zutritt zum „Schaulager“ ausschließlich im Rahmen von Führungen möglich. Der große, wenig beleuchtete Raum ist ein scheinbar „normales Museumsdepot“ mit dicht gestellten Metallregalen, großen Kartons, Kisten, Figurinen und einigen Objekten. Am Boden vor der Tür lesen die Besucher „Lager – Zutritt nur für Personal“. Damit wird schon am Eingang vermittelt, dass jeder, der diese Schwelle übertreten darf, in dem Moment eine besondere Rolle einnimmt. Schauspieler übernehmen die Führungen und schlüpfen mal in die Rolle des Depotverwalters oder auch einer historischen Persönlichkeit. Die Gestaltung dieser Theaterführungen reicht dabei von traditionellen bis zu inszenierten bzw. theatralen Führungen. Es werden Geschichten erzählt, die sich rund um Fundstücke und Sammlungsgegenstände von der Bronzezeit bis heute spannen.
Museum Rietberg Zürich Das Museum Rietberg ist das Kunstmuseum für außereuropäische Kulturen in der Schweiz und besitzt eine international renommierte Sammlung mit Werken aus Asien, Afrika, Amerika und Ozeanien. Im Rahmen der Neukonzeption der vorhandenen Räumlichkeiten und der Errichtung eines Erweiterungsbaus in den Jahren 2006/07 richtete das Museum ein Schaudepot ein, das dem Publikum seit 2006 zugänglich ist. Dort lagert das Museum „sämtliche dreidimensionale Objekte der Museumssammlung“ und stellt sie gleichzeitig der Öffentlichkeit zur Schau.18 Lichtempfindliche Textilien und Malerei werden in geschlossenen Schränken aufbewahrt und sollen künftig als Ergänzung zum Schaudepot per Datenbank im Internet zugänglich gemacht werden. Das Schaudepot ist in einem fensterlosen Raum im ersten Untergeschoss untergebracht. Große, schlichte Glasvitrinen stehen sehr dicht in langen Reihen. Die Objekte folgen in der Aufstellung einer groben Ordnung nach Regionen. An den Vitrinenkomplexen sind zur Orientierung lediglich einfache Kurzbeschriftungen angebracht. Zukünftig soll ein weiter führendes Erschließungssystem den Besuchern zu mehr Informationen verhelfen. Da das Schaudepot jedoch ständig als vollwertiges Depot aktiv für den Ausstellungsbetrieb genutzt wird und ebenso Sammelaktivität besteht, verschieben sich die Standorte der Objekte von Zeit zu Zeit. Aus diesem Grund muss ein gut durchdachtes Ordnungs- und Beschriftungssystem entwickelt werden, das gleichzeitig die Anforderungen des Mu18 Museum Rietberg Zürich (Hg.): Eröffnung Erweiterungsbau. Jahresbericht 2006. Zürich 2007, S. 15.
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seums und der Besucher erfüllt und praktikabel ist. Derzeit wird das Schaudepot hauptsächlich von Fachleuten für wissenschaftliche Zwecke genutzt, im Sinne einer Studiensammlung.19
Kunstfonds Dresden Unter der Überschrift „Schaudepot“ lud der Kunstfonds Dresden erstmals 2007 zu einer Ausstellung in sein Depot ein. In den 2005/06 bezogenen Räumlichkeiten wurden erstmals alle zum Bestand gehörenden Objekte unter annehmbaren konservatorischen Bedingungen zusammengeführt. Es handelt sich hierbei um eine Sammlung mit rund 23.000 bedeutenden Objekten sächsischer Kunst, die jährlich mit Neuankäufen und Schenkungen ergänzt und nur selten gezeigt wird.20 Da der Kunstfonds keine eigenen Ausstellungsräume besitzt, entstand die Idee, Kunstwerke in den eigenen Depoträumen der Öffentlichkeit zu präsentieren. Das Projekt geht dabei in erster Linie von einer Ausstellung im Depot aus, nicht vom Ausstellen der Depotbestände. Im ersten Teil einer entstehenden Ausstellungsreihe standen unter dem Titel „Schaudepot #1 – Aufbaubilder“ verschiedene Kunstwerke, etwa Gemälde, Grafiken und Fotografien, aus der Aufbauzeit nach dem Zweiten Weltkrieg im Zentrum der Aufmerksamkeit.21 Im Jahre 2008 setzte der Kunstfonds Dresden die Veranstaltungsreihe mit „Schaudepot #2 – Reisebilder“ fort. In einem den derzeitigen Standards entsprechenden Gemäldedepot wurden die Bilder der Ausstellung gezeigt. Dabei wurden die Kunstwerke in dichter Hängung an den äußeren Metallgitterwänden der vorhandenen Schieberahmenanlage präsentiert. Die Ausstellung und damit auch die Depoträume des Kunstfonds waren nur im Rahmen von Führungen zu besichtigen. Die Beispiele zeigen, dass mit dem Begriff Schaudepot bzw. Schaumagazin ganz unterschiedliche Konzepte bezeichnet werden. Das „sichtbare“ oder „einsehbare Lager“ wird von zahlreichen Museen als Bezeichnung von ziemlich unterschiedlichen Formen der Präsentation von Objekten genutzt. Daher ist eine eindeutige und allgemeingültige Definition kaum möglich, aber wohl auch nicht erforderlich. Die Spannweite reicht von Sonderausstellungen im Depot (Kunstfond Dresden) bis zu begehbaren Depots (Museum der Westlausitz) und von einer museal in Vitrinen präsentierten Ergänzung zur Dauerausstellung (Focke-Museum) bis hin zu einer gänzlich in Anlehnung an ein Depot gestalteten Dauerausstellung (Historisches Museum Luzern). Gleichzeitig sind Beispiele der als Schaudepot bezeichneten Konzepte kaum von traditionellen Museumsmagazinen zu unterscheiden, die ihre Sammlungsbestände ebenfalls im Rahmen von regelmäßigen 19 Mündliche Auskunft von Axel Langer, Museum Rietberg, am 7.3.2008. 20 Johannes Sander: Kunstfonds in Dresden öffnet seine Depotpforten. In: www. kunstmarkt.com (26.3.2007). 21 Lisa Werner-Art: Zum Auftakt „Aufbaubilder“ aus Dresden. In: Dresdner Neueste Nachrichten. 21.3.2007, S. 9.
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Führungen der Öffentlichkeit präsentieren, dies jedoch nicht als „Schaudepot“ bezeichnen. Teilweise ist auch eine definitive Abgrenzung gegenüber als „Studiensammlung“ bezeichneten Einrichtungen nicht möglich. Allen Konzepten ist gemeinsam, dass als oberstes Ziel der prozentuale Anteil des Gezeigten im Museum erhöht werden soll.22 Dadurch hat das Publikum die Möglichkeit, auch diejenigen Objekte zu sehen, die aus unterschiedlichen Gründen nicht in den Dauerausstellungen präsentiert werden können.23 Das Ziel eines „Schaudepots“ ist es jeweils, eine der Öffentlichkeit unzugänglich im Depot gelagerte Sammlung visuell zugänglich zu machen – entweder eine ganze Sammlung oder einen hohen Prozentsatz davon. In allen Beispielen treten die Objekte den Besuchern in einer weitaus größeren Dichte gegenüber als in einer typischen erzählenden Ausstellung. Gleichzeitig entspricht das Mobiliar mehr oder weniger dem eines traditionellen Museumsdepots oder es wurde gestalterisch darauf Bezug genommen. Grundsätzlich gibt es in einem Schaudepot keine interpretierenden Texte zu den Objekten, sondern lediglich allgemeine Überschriften sowie Nummern oder Barcodes, die das Abrufen knapper Informationen zum einzelnen Objekt ermöglichen. Dieser Sachverhalt begründet sich einerseits durch die enormen Objektmengen, die eine ausführliche Beschriftung für jedes Einzelstück nicht zulassen, andererseits wird damit auf einen weiteren Aspekt hingewiesen, der für die Einrichtung eines Schaudepots eine wichtige Rolle spielt. Der Öffentlichkeit soll ein Bewusstsein für alle Arbeitsfelder des Museums vermittelt werden. Mit Hilfe von Schaudepots, aber auch durch Führungen durch die Depots können gezielt die Grundaufgaben des Museums, das Sammeln, Bewahren und das Forschen, in das Blickfeld gerückt werden, die sich im Normalfall im Hintergrund abspielen und dem Publikum daher oft nicht bewusst sind. Ein Schaudepot, so lässt sich vielleicht formulieren, ist das Ergebnis eines Prozesses, der den Anteil der ausgestellten Objekte im Museum erhöht, indem die in geschlossenen Museumsdepots gelagerten Sammlungsbestände vollständig oder zu großen Teilen dem öffentlichen Publikum in verschiedenen Formen zugänglich gemacht werden, durch regelmäßige Führungen, vollkommen musealisierte und teilweise inszenierte Einrichtungen oder den vollständigen Ersatz der Dauerausstellung. Im Gegensatz zu reinen Studiensammlungen steht allerdings nicht die wissenschaftliche Aufstellung und Erschließung im Vordergrund, sondern die Zugänglichkeit der Objekte für die Öffentlichkeit – die Übergänge sind teilweise jedoch fließend. Auf interpretierende Ausstellungstexte wird allgemein verzichtet, es bestehen jedoch unterschiedliche Möglichkeiten, Informationen zu den Einzelobjekten abzurufen. Die Untersuchung der Beispiele zeigt, dass es verschiedene Beweggründe für die Öffnung der Depots oder die Neu-Einrichtung eines Schaudepots gibt. Der Hauptgrund ist wohl jeweils der Wunsch, dem Missverhältnis zwischen depo22 Vgl. Becker (wie Anm. 14), S. 30. 23 Ebd.
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nierten und exponierten Objekten entgegen zu wirken. War in den 1970er Jahren die „Demokratisierung“ des Museums ein ausschlaggebender Beweggrund, so kommt heute häufig die Legitimation der Verwendung hoher Geldsummen (gegenüber Öffentlichkeit und/oder Geldgebern) für die dauerhafte Bewahrung einer großen Museumssammlung hinzu, die jedoch nur in kleinen Bruchteilen zugänglich ist. So war beispielsweise „eine öffentliche Investition von 34 Millionen [DM] ohne eine öffentliche Nutzung“ für den Neubau des Magazingebäudes für das Übersee-Museum in Bremen undenkbar.24 Doch schon zuvor gab es den Wunsch, einen größeren Teil der Sammlungsbestände in Gestalt einer öffentlichen Studiensammlung einem breiten Publikum zugänglich zu machen.25 Finanzielle Gründe waren auch für das Focke-Museum in Bremen ausschlaggebend. Da für ein neues, rein zum Bewahren genutztes Magazin keine Geldgeber gefunden wurden, warb man nun um Gelder für den Zweck des Ausstellens. So kam es, dass für den Neubau eines Magazingebäudes mit öffentlich zugänglichem Depot und einer Sonderausstellungsfläche Gelder bewilligt wurden.26 Das Historische Museum Luzern begründet die Einrichtung des gesamten Museums als Schaudepot bzw. Schaulager mit der Geschichte des Museumsgebäudes als Salz- und Kornspeicher und später als Zeughaus zur Lagerung von Waffen, Rüstzeug und Munition. Die Präsentation der musealen Sammlung sollte in Anlehnung an die frühere Funktion des Gebäudes in Form eines Lagers umgesetzt werden, um die Besucher zum Schauen einzuladen und gleichzeitig an die Lagertradition des Hauses zu erinnern. Das Museum der Westlausitz nutzte mit seinem „Sammelsurium“ das Instrument „Schaudepot“ für die Bindung seiner Besucher auch in der Schließzeit des eigentlichen Museums aufgrund von Baumaßnahmen. Während das Haupthaus komplett geschlossen und saniert werden musste, gab man den potenziellen Besuchern die Möglichkeit, alternativ zur Dauerausstellung die Magazin- und Arbeitsräume zu besuchen und einen Blick hinter die Kulissen des Museums zu werfen. Nicht zuletzt spielen auch bei der Umsetzung von Schaudepotkonzepten die Besucherzahlen eine Rolle. Der gute Zuspruch, den Museen für das Angebot von Führungen durch ihre Depoträume erhalten, soll durch die Schaumagazine dauerhaft genutzt werden. Sicher erhofft man sich durch die neue Form der Präsentation, die einen richtigen Trend darstellt, auch neue Besuchergruppen. Die Hoffnung des Übersee-Museums, die Hauptzielgruppe des Kinos, die 18- bis 35Jährigen, zu einem Besuch des Schaudepots vor oder nach der Kinovorstellung zu bewegen, hat sich jedoch nicht erfüllt. Diese im Museum eher schwach vertretene Altersgruppe sollte durch die unmittelbare Nachbarschaft zum Kino, einen gemeinsamen Eingangsbereich mit attraktiven Einblicken in die Depotbereiche 24 Junge (wie Anm. 12), S. 12. 25 Vgl. Peter Junge: Neues Magazin mit Studiensammlung für das Übersee-Museum. In: Übersee-Museum Bremen (Hg.): TenDenZen 96. Jahrbuch V. Bremen 1996, S. 161-168, hier S. 164. 26 Vgl. ebd.
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sowie besondere Öffnungszeiten zu einem Besuch des Schaudepots animiert werden. Dieses Konzept hatte viel weniger Erfolg als erhofft. Nicht als Grund, doch aber als positive und merkliche Nebenwirkung geben die Verantwortlichen der Schaudepots allgemein nicht nur ein „erhöhtes internes Bewusstsein über Zustand, Struktur und Möglichkeiten der Sammlungen“ bei den Museumsmitarbeitern an, sondern auch die gesteigerte Identifikation der einheimischen Besucher mit der Sammlung des jeweiligen Museums.27 So berichten beispielsweise sowohl das Übersee-Museum als auch das Focke-Museum in Bremen von einer steigenden Zahl von Objektangeboten und Schenkungen seit der Eröffnung der Schaudepots, da die Art der Aufbewahrung die privaten Sammler begeistere28 und ihnen offenbar auch Berührungsängste nehme. Die Gestaltung der Schaudepots ist natürlich für die jeweilige Wirkung auf die Besucher grundlegend. Es muss eine Balance gefunden werden zwischen einer Erfüllung der Standards eines Museumsmagazins und jener der Ansprüche des Publikums. Bei der Wahl der Ausstattung müssen die Bedürfnisse der Objekte immer vorrangig Berücksichtigung finden, um deren dauerhafte Erhaltung zu gewährleisten. Für welche Art von Ausstattung seines Schaudepots sich das jeweilige Museum entscheidet, hängt einerseits von den zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln ab, andererseits aber auch von dessen Intention. Bei der Ausstattung ist im Regelfall zu berücksichtigen, dass sie so variabel und praktikabel ist, dass das Schaudepot auch als aktives Magazin nutzbar bleibt. Sie darf die Arbeit der Museumsmitarbeiter nicht beeinträchtigen. Mittels flexibler Einlegeböden in Regalen und Vitrinenschränken kann auf Neuzugänge oder eine veränderte Aufstellung jederzeit reagiert werden. Das Jüdische Museum Wien zeigt die Lösung, die sehr hohe Praktikabilität und Raumausnutzung einer Kompaktregalanlage zu nutzen, zugleich aber in Kombination mit Glasvitrinen einen eleganten Gesamteindruck zu erzielen. Schubladensysteme stellen eine geeignete, lichtgeschützte Ergänzung zu Regalen und Vitrinen dar. Zur Orientierung haben sich hauptsächlich Nummern durchgesetzt, die auf Kunststoffquadern neben den einzelnen Objekten stehen oder auf Kärtchen angehängt sind. Informationsstationen in Form von Computerterminals oder Wandhalterungen mit Katalogen können zur Datenabfrage genutzt werden. Der durchdachte Einsatz von Licht kann die Wirkung der Objekte auch im Schaudepot enorm beeinflussen. Im Allgemeinen werden die meist fensterlosen Räume sehr zurückhaltend ausgeleuchtet, allerdings wird auch mit Beleuchtungsspots inszenatorisch gearbeitet, um in der Objektfülle Akzente zu setzen.
27 Jörn Christiansen: Transparenz im Museum – Beispiel Schaumagazin. In: Museumskunde 72 (2007). H. 2, S. 45-51, hier S. 49. 28 Ebd. sowie Peter-René Becker: Das scheinbar doppelte Mäxchen. Vom Schaumagazin Übermaxx im Verbund mit dem Großkino Cinemaxx. In: http://www.mu seumsbund.de/cms/index.php?id=406&L=0 (9.3.2008).
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Museumsdepots sollen die „verborgenen Schätze“ der Museen hüten und die großen Sammlungsbestände im Idealfall für alle Zeit bewahren. Werden Depots für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht, stellt sich sofort auch das Problem der Sicherheit der Objekte. Hier geht es jedoch nicht nur um die mechanische Sicherheit im Sinne von Schutz vor Berührung oder Diebstahl, sondern auch um den Schutz vor klimatischen Missständen und vor Licht bzw. UV-Strahlung. Deshalb gibt es kritische Stimmen zur Präsentation in Schaudepots,29 denen durch geeignete Maßnahmen allerdings wohl begegnet werden kann. Und obwohl gerade die Klimaproblematik gegen die Einrichtung von Schaudepots zu sprechen scheint, da hier sicherlich Kompromisse eingegangen werden müssen, ist für die untersuchten Beispiele allgemein festzuhalten, dass alle Sammlungsbestände im Rahmen der Umstrukturierung zum Schaudepot bzw. der Öffnung der Magazine für die Besucher eine Aufwertung erfuhren. In allen betrachteten Museen wurden die Lagerräume saniert oder neu gebaut und die Objekte so untergebracht, dass sie vor weiterem rasanten Verfall geschützt sind. Die Art und Weise der Vermittlung stellt sich bei den betrachteten Beispielen ebenfalls sehr unterschiedlich dar. Dabei geht es einerseits um die Vermittlung des Schaudepotkonzepts sowie der musealen Aufgabe des Bewahrens und Deponierens, andererseits um die Bereitstellung der Informationen zu den sichtbaren Objekten. Klassische Führungen werden auch in die Vermittlungskonzepte der Schaudepots einbezogen und als Überblicks- oder Themenführungen mit speziellen Schwerpunkten angeboten oder auf Besuchergruppen zugeschnitten. Für eine Führung durch das Museumsmagazin ist es nicht zwingend erforderlich, jedes Objekt bereits in der Datenbank dokumentiert zu haben. Auf unbearbeitete Stücke kann offensiv hingewiesen werden, um an konkreten Beispielen die Arbeitsweise eines Museums zu erläutern. Eine ganz spezielle Art der Vermittlung bietet das Historische Museum Luzern an. In Form von Theaterpädagogik werden durch Schauspieler während der so genannten „Lagertouren“ historische Zusammenhänge, objektbezogene Informationen, aber auch Hintergrundwissen zur Museumsarbeit vermittelt. Diese Art von Führung hat für die Besucher Erlebniswert, scheinbar nebenbei wird ihnen Wissen vermittelt. Dennoch trägt dieses Vermittlungsangebot aber wohl nur ergänzenden Charakter. Die frei zugänglichen Schaudepots fordern ihre Besucher dagegen zum selbstständigen Handeln heraus. Bei einem passiven Rundgang durch diese Art von Schaudepot wird der Besucher mit einer großen Fülle von dicht aufgestellten Objekten konfrontiert, ohne erklärende Texte oder direkte Objektbeschriftungen. Dabei muss er sein eigenes Hintergrundwissen nutzen, um sich zu orientieren und einen Zugang zu einzelnen Stücken zu finden. Da dieses relativ schnell er-
29 Vgl. hierzu etwa Alexander Wießmann: Vom Stiefkind zum Musterknaben. Konservatorische Anforderungen an das Depot. In: Landesstelle für die nichtstaatlichen Museen beim Bayrischen Landesamt für Denkmalpflege (Hg.): Nicht ausgestellt! Das Depot – der andere Teil der Sammlung. München 1998, S. 29-34, hier S. 31.
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schöpft sein kann, wird sich das anfängliche Staunen und Schauen nach gewisser Zeit durch Ermüdung in Desinteresse wandeln können. Nutzt er die Angebote dieser Schaudepots aktiv, so hat er die Möglichkeit, mit tragbaren Minicomputern, anhand von Medienstationen oder ausliegenden Katalogen einer Themenführung zu folgen oder sein Interesse auf einzelne Objekte zu fokussieren. Das System des jeweiligen Schaudepots und die vorherrschende Ordnung der Objekte werden den Besuchern üblicherweise am Eingang durch eine Überblickstafel oder einen einleitenden Text erläutert. Kleine tragbare Computer, wie sie in Luzern oder im Bremer Übersee-Museum genutzt werden können, erleichtern die Erschließung, können aber den Blick zum eigentlichen Objekt auch verstellen. Fest platzierte Informationsstationen, sei es in Form von Katalogen oder als Computerterminals, können es dem Besucher erschweren, einen Zusammenhang herzustellen, da zwischen Objekt und verfügbaren Informationen zu weite Wege liegen. Bei dieser Art von stationären Informationspunkten erscheint die Zugabe eines Objektfotos wichtig, um dem Publikum eine schnelle und einfache Zuordnung von Objekt und Daten zu ermöglichen.30 Grundlegend für jede Vermittlungsarbeit auch in einem Schaudepot ist selbstverständlich der Grad der Erforschung und Dokumentation der präsentierten Objekte. Schaudepots, die als Ergänzung, Erweiterung oder als Ersatz der Dauerausstellung eines Museums eingerichtet werden, sind generell eine gute Möglichkeit, den Museumsbesuchern einen Mehrwert zu bieten. Die zahlreichen, immer wieder neuen und variantenreichen als Schaumagazin bezeichneten Konzepte sind ein Beleg dafür, dass dieses Thema in den Museen aktuell ist. Auch wenn ein Schaudepot allgemein als sinnvolle Ergänzung zur Dauerausstellung gilt, bildet es jedoch nicht zwingend in jedem Fall ein Erfolg bringendes Konzept, sondern fordert einen klaren, individuell auf das jeweilige Museum abgestimmten Entwurf, eine deutlich geregelte Zugänglichkeit und eine klare Vermittlungsstruktur.31 Jede Museumssammlung ist eigenständig und jedes Museum hat eine eigene Philosophie und Intention. Daher wird jede Schaudepot-Konzeption jeweils individuell durchdacht und bezogen auf die spezielle Museumssammlung und die vorhandenen Gegebenheiten entwickelt werden. Innerhalb des Museums kann das Schaudepot deutlich von der Dauerausstellung abgegrenzt sein, wobei den Besuchern ausdrücklich vermittelt wird, dass es sich dabei um ein besonderes Präsentationskonzept handelt und nicht um eine klassische Ausstellung – aber auch nicht um ein Alibi, sich der Mühe einer fachwissenschaftlich-didaktisch aufbereiteten Dauerausstellung zu entziehen und dies als Erlebnisausstellung unter Zuhilfenahme moderner Kommunikationstechnik zu verschleiern. Diese Klarheit kann Missverständnisse vermeiden helfen. Ein Schaudepot mit den Merkmalen eines Magazins im Sinne einer „Hinter den Kulissen-Einrichtung“, das sich explizit von der Präsentation der Dauerausstellung 30 Vgl. auch Thistle (wie Anm. 2), S. 56. 31 Vgl. Christiansen (wie Anm. 27), S. 46.
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abhebt, kann den Reiz beim Betreten für den Besucher stark erhöhen. Dieser sogenannte „Wow-Factor“32 spielt dabei eine große Rolle für den Erfolg. Das Privileg, die „Schatzkammer“ eines Museums betreten zu dürfen, sowie die Fülle der unzähligen dort in dichter Aufstellung präsentierten Objekte faszinieren, so lauten die allgemeinen Erfahrungen, das Publikum. Ein Schaudepot erfüllt gleichzeitig zwei Funktionen, die sich nach traditionellem Museumsverständnis ausschließen – Lagern und Ausstellen. Je nach Intention des Museums werden die Schwerpunkte dabei unterschiedlich gesetzt. Verbleibt der Lagercharakter im Vordergrund, so wird das bestehende Depot als Schaudepot geöffnet und es werden Führungen angeboten. Als nächster Schritt kann eine Ausstellungsarchitektur hinzu kommen, die der Ausstattung eines Magazins entspricht oder ihr gestalterisch nachempfunden ist. Andere Schaudepotkonzepte nähern sich stärker einer klassischen Ausstellung oder einer traditionellen Studiensammlung an. Die dicht aufgestellten Objekte bilden aber wohl in jedem Fall einen Kontrast zu den Präsentationen von Einzelobjekten in den thematisch und didaktisch aufbereiteten Dauerausstellungen. Die besondere Wirkung eines einzelnen Objektes tritt gegenüber der Fülle immer in den Hintergrund, die Objektmenge ist konstitutiv für das Schaudepot. Der Gesamtumfang der musealen Sammlung tritt, häufig erstmals in einer Museumsgeschichte, in den Vordergrund. Zusätzlich zum physischen Zugang zur Sammlung wird den Besuchern nicht selten mit einem durchdachten Vermittlungssystem auch die Möglichkeit geboten, einen mentalen Zugang zu den gezeigten Objekten zu finden. Ob die Einrichtung von Schaudepots auf Dauer und weiterhin Bestand haben kann, wird die Zukunft zeigen. Das Museum of Anthropology in Vancouver hat mehr als 30 Jahre lang bewiesen, dass ein Schaudepot als Ergänzung zur eigentlichen, thematisch aufbereiteten Dauerausstellung und wechselnden Sonderausstellungen eine dauerhafte Einrichtung sein kann, ein funktionierender Beitrag zur Öffnung von Museumssammlungen. Jedes Schaudepot bedarf jedoch, wie alle übrigen Bereiche eines Museums auch, gewissenhafter Pflege und von Zeit zu Zeit einer Aktualisierung. Bedenken, dass ein die Dauerausstellung ergänzendes Schaudepot durch ständiges Zeigen all der Sammlungsbestände eines Museums in eine Sackgasse führt, haben sich nicht bestätigt. Auf die dort gelagerten Objekte kann im Regelfall jederzeit für Sonderausstellungen zurück gegriffen werden. Präsentiert in einem neuen Kontext zu einem bestimmten Thema, hervor gehoben als Einzelobjekte, werden sie den Besuchern in einem ganz neuen Licht erscheinen können. Und neu gesammelte Objekte sollten stets auch ihren Weg in ein bestehendes Schaudepot finden.
32 Hilberry (wie Anm. 1), S. 37.
Se lectie 1 : a chter de sc he rme n – An näherungen an Modemuseen KATRIN RIEF Zum Jahreswechsel 2002/03 zeigte das soeben eröffnete ModeMuseum im Modezentrum ModeNatie in Antwerpen die Ausstellung Selectie 1: achter de schermen (Die Sammlung 1: hinter den Kulissen). Eine Beschäftigung mit dieser durchaus unkonventionellen Ausstellung ist geeignet, sich der Frage anzunähern, worum es sich bei einem Modemuseum handelt, das je nach Sehweise als eigenständiger Museumstypus, als spezifische Museumssparte zwischen Kunst- und Geschichtsmuseum oder, kritischer, als endgültige kommerzielle Vereinnahmung des Textilmuseums oder auch der historisch-musealen „Kostümsammlung“ begriffen wird. Eingeschlossen ist ein kurzer Blick auf das, was seit den 1980er Jahren unter Modemuseum verstanden wird, anhand einiger europäischer Beispiele. Das Thema bewegt sich somit, pointiert formuliert, zwischen der Präsentation von Mode1 als Textilkunst, klassischer Museumsdokumentation, Stadt- und Staatsmarketing resp. Wirtschaftsförderung und innovativer Ausstellungsmethodik. Als Hintergrund kommt noch ein aktueller Museumstrend hinzu: Es werden immer häufiger Modeausstellungen konzipiert, die berühmten Designern gewidmet sind, wie beispielsweise Versace (17.10.2002-12.1.2003) oder Radical Fashion (18.10.20016.1.2002) im Victoria & Albert Museum London, bei der prominente Designer Stücke ihrer jüngsten Kollektionen inszenieren und installieren, oder Armani (8.5.-1.7.2003) in der Neuen Nationalgalerie in Berlin. Das 2002 eröffnete ModeMuseum in Antwerpen hat sich aus dem ehemaligen Povinciaal Textiel- en Kostuummuseum Vrieselhof entwickelt, dessen Sammlungsgeschichte bis in die 1930er Jahre zurück geht. Hinter der 1999 vorgenommenen Umbenennung steckte eine Neuausrichtung des Museums, das seitdem 1
Der Begriff „Mode“ kann und soll hier nicht diskutiert werden, vgl. etwa Roland Barthes: Le bleu est à la mode cette année et autres articles. Paris 2001. Gertrud Lehnert: Geschichte der Mode des 20. Jahrhunderts. Köln 2000. Erika Thiel: Geschichte des Kostüms. Die europäische Mode von den Anfängen bis zur Gegenwart. Wilhelmshaven u. a. 1985.
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auch Kreationen zeitgenössischer belgischer Designer zu seinem Sammlungsbereich zählt. Das ModeMuseum erfüllt nach seinem eigenen Selbstverständnis alle Aufgaben des klassischen Museumsbetriebes, also auch die Sammlung, Erhaltung, Dokumentation und Erforschung. Es verzichtet, wie vergleichbare Museen auch, allerdings aus konservatorischen Gründen auf eine Dauerausstellung. Dem Gastkurator und „Szenographen“ der Ausstellung Selectie 1: achter de schermen, Bob Verhelst, ging es zuallererst darum, dem Besucher einen Überblick über die komplette „Kollektion“ des Museums zu verschaffen. Thematische Ausstellungen sind dieser erstmaligen Präsentation gefolgt bis heute. Die Exposition ermöglichte einen inszenierten Blick hinter die Kulissen und bediente sich eines – seinerzeit wohl so anzusprechenden - innovativen Ausstellungsdesigns. Auf gestapelten Holzpaletten standen Kleiderpuppen, und beschriftete Museumskartons, in denen Kleider lagen, erinnerten an einen Umzug, bei dem „Unordnung“ herrscht, Altes und Neues, Schönes und Häßliches, Wichtiges und Banales nebeneinander steht, hängt und liegt.2 Die Ausstellung war mit Hilfe von farblichen Sortierungsmerkmalen in 19 verschiedene Themenbereiche untergliedert entsprechend den generellen Sammlungsschwerpunkten des Museums und als eine Art poetischer Inszenierung eines begehbaren Depots im modernen Sinn.3 In diesem „Depot“, so die Botschaft der Ausstellung, waren alle Stücke nebeneinander aufgereiht, eins neben dem anderen, ohne Rücksicht auf besonders wertvolle Stücke zu nehmen. Hier sollte objektiv reflektiert werden, sollten die Werke in Ruhe und Einfachheit betrachtet werden können und wurde der Besucher immer wieder von außergewöhnlichen Stücken überrascht: dekonstruierte zeitgenössische Mode belgischer Designer neben Kleidungsbeispielen der wohlhabenden Antwerpener Oberschicht aus den letzten vier Jahrhunderten. Den Einstieg in die Ausstellung bildete eine Fotocollage: Circa 500 Inventarisierungsfotos von Kleidung sowie von Accessoires gaben einen Einblick in die umfangreiche, damals insgesamt 15.000 Stücke umfassende Sammlung, die im Anschluss daran magazinartig in Abteilungen präsentiert und inszeniert wurde, 2 3
www.dradio.de (3.10.2002). Allgemein: www.momu.be. Zur Ausstellung und ihrer Wirkung in einer breiteren Öffentlichkeit vgl. etwa Jeremy Duns: House of style - Antwerp‘s long-awaited fashion museum opens this week. In: The Bulletin. 19. September 2002, S. 62-64. Kerenn Elkaim: MoMu: la mode intensément! In: La Semaine. September 2002. S. 30f. Janet Forman: Fashion à la MoMu – Antwerp’s new museum combines earnest intellectualism and simple whismy. In: The Globe and Mail. 30. November 2002, S. 3. Lilia Guetat: La mode mise à nu au MoMu. In: La Dernière Heure. 1. Oktober 2002, S. 25. Ferner: SvenClaude Bettinger: Kleider machen Leute – zur Eröffnung des Modemuseums in Antwerpen. www.dradio.de/cgi-bin/es/neu-fazit/902.html (3.10.2002) sowie Susi Cheshire: Antwerps new fashion museum. www.wgsn.com/public/thenews/?date= 20031002 (3.10.2002). Gazet van Antwerpen. Mode 2001 Landed-Geland - Linda Loppa kijkt trots terug op tentoonstellingen. www.gva.be/dossiers/m/mode/ balans.asp (13.10.2002). ModeMuseum Provincie Antwerpen. www.momu.be (3.10.2002).
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etwa auf Schneiderpuppen oder in auf dem Boden liegenden Kartons. Auf Vitrinen wurde verzichtet, um die physische Präsenz der Objekte zu steigern und die psychologische Distanz zum Besucher zu verringern. Mode sollte damit dem Publikum „so nah wie möglich“ gebracht werden. Es folgten mehrere verschiedene Einblicke in die Arbeit und die „Erfolge“ von belgischen Textilproduzenten und Modedesignern. Mit Repliken zum Anfassen, Anfühlen und Anprobieren wurde segmentartig mit interaktiven Anreizen ebenfalls wieder Distanz verringert. Damit wurde versucht, der Bekleidung als Hauptthema eine neue, direkte Körperlichkeit zu verleihen, womit gleichzeitig die historischen Sammlungsstücke demgegenüber klar und deutlich als „unberührbar“ verblieben. Auf die weiteren Abteilungen von Bekleidungsentwicklung und Textilherstellung einschließlich Stoffbeschaffenheit, Hand- und Hausarbeit (unter anderem Häkelarbeiten, die für Flandern von Beginn an eine große Rolle gespielt haben) soll an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Das Credo des Grundkonzeptes lautete: Dynamik, Offenheit und Transparenz. Die Besucherfrequenz der Ausstellung und damit des neuen Museums war bemerkenswert. Beispielhaft für den als innovativ empfundenen Versuch, Museum und Mode miteinander zu verbinden, war etwa eine Videopräsentation des Modeschöpfers Chalayan in der Galerie des ModeMuseums: Eine Modenschau wurde als Kunstwerk inszeniert, und zugleich gelangte eine aktuelle Modekollektion, die gerade erstmals der Öffentlichkeit auf dem Catwalk präsentiert wurde, ins Museum. Insgesamt lenkte ein recht individuelles Ausstellungsdesign die Aufmerksamkeit auf ausgesprochen ästhetische Empfindungen zuungunsten von textlicher Informationsvermittlung. Zudem wurde die Grundidee realisiert, nicht nur den visuellen, sondern auch den haptischen, der bei der Kleidung eine sehr große Rolle spielt, sowie auch den auditiven Sinn des Besuchers anzusprechen. Die Leblosigkeit von Bekleidung wurde durch den Kontrast zwischen einfachen Materialien wie Kartons oder Holz-Obstpaletten und den teilweise edlen Stoffen der Kleider ausdrucksvoll inszeniert. Die Gestaltung in der Form der Präsentation nach Farben war einfach und prägnant und trug ebenfalls innovative Elemente. Schwarze, weiße und rote Kleidung hing in unmittelbarer Nähe zusammen. Nicht der fehlende Träger, sondern die Materialien und Schnitte traten durch die farblichen Kontraste in den Vordergrund, da man gehalten war, sich mit den Exponaten, die auf den ersten Blick aufgrund der gleichen Farbe alle sehr ähnlich wirkten, bewusst und intensiv auseinander zu setzen. Das Konzept der Ausstellung könnte man etwas überspitzt als eines der „Ästhetik und Desinformation“ bezeichnen. Das konsequent durchgehaltene Design sorgte für eine funktionierende corporate identity des Hauses. Auf ein Minimum reduziert waren dagegen die Kontextinformationen, so dass sich die Frage aufdrängte, ob hier Mode im Sinne von Kunst für sich selbst sprechen sollte. Die Ausstellung jedenfalls wollte mit einer spezifischen Ästhetik und mit so et-
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was wie Sinnlichkeit Fragen provozieren und Neugier und Interesse wecken und damit letztlich auch kulturhistorische Aspekte vermitteln. Farbliche und zeitliche Gegensätze wurden bewusst eingesetzt, Altes und Neues wurde nebeneinander in thematischen oder farblichen Gruppen arrangiert. So wurden immer wieder Kontraste, Brüche, Konstanten und Parallelen in der Mode aufgezeigt, die durch diese Art der Präsentation durchaus frappierend wirkten. Deutlich sollte werden, dass zeitgenössische Kleidung die Vergangenheit in sich trägt und dass historische Objekte sogar zu zeigen in der Lage sind, was in Zukunft getragen wird. Damit befand sich diese Ausstellung inmitten einer elementaren museologischen Diskussion, die noch anhält. Neu war an dieser Stelle nicht die in Richtung museologischer Strategiedebatte weisende Methode der „Desinformation“ durch sehr weit gehenden Text- und Kontextverzicht, doch aber die Übertragung dieser Debatte auf das Thema Mode. Für den Fall, dass es tatsächlich dessen bedurft hat, war die Antwerpener Ausstellung jedenfalls in der Lage, die Mode mit all ihren Implikationen ins Museum hinein zu holen und etwaige Widersprüche – Museum und Mode als vermeintlich unversöhnliche Gegensätze – aufzulösen, indem das Vehikel des Kunstbegriffs zum Tragen kam: Modeentwicklung als Kulturgeschichte plus Modedesign als museumswürdige Gegenwartskunst. Dahinter stand und steht noch ein breit angelegtes Grundkonzept. Im Rahmen einer wohl singulären Gesamtstruktur stellt das ModeMuseum mit seiner kurz beschriebenen Eröffnungsausstellung von 2002 einen Teilbereich der ModeNatie („Modenation“) in Antwerpen4 dar. Dieses Modezentrum ist eine Institution, die sich allen mit der zeitgenössischen Mode in Beziehung stehenden Bereichen widmet und eine Art Symbiose anstrebt. Die ModeNatie vereint in sich eine Modeschule, das Modemuseum und verschiedene andere Bereiche unter belgischen nationalen Gesichtspunkten, verfolgt also expressis verbis das Ziel, Belgien als Modenation zu protegieren und mit wirtschaftlicher, kultureller und künstlerischer Stärke etwa neben Frankreich und Italien oder auch England aufzustellen und zu konsolidieren. „When I was young, I looked at Italy and France and thought, we could be as creative as they are“5, sagte Linda Loppa, die Gründungsdirektorin des ModeMuseums in der ModeNatie, die in den 1970er Jahren Mode an der Akademie der Schönen Künste in Antwerpen studiert hat. Seit 1982 stand sie der Antwerpener Modeakademie vor und machte ein paar Jahre später Antwerpen zu einer alternativen Modehauptstadt. Sie war die Lehrmeisterin der sogenannten „Antwerpener Sechs“, die den Anstoß dazu gaben, Antwerpen zu einer Modestadt zu machen. Seit 1998 war Linda Loppa Leiterin des ModeMuseums, für das sie nun vor allem auch Stücke von zeitgenössischen belgischen Modeschöpfern erwarb. Aus-
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www. modenatie.com (3.10.2002). Jeff Chu: You know how it is: walk into a boutique and you wonder where they’re hiding the clothes. In: Time Fashion. Fall Winter 2002, S. 11-13, hier S. 13.
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schlaggebend bei der Entscheidung von Ankäufen soll für Linda Loppa neben der Frage, ob ein Objekt in die Sammlung passt, auch die eigene emotionale Ansprache gewesen sein. Oft kaufte sie direkt im Anschluss an Modenschauen ein. Linda Loppa sagte unter anderem zum Konzept des ModeMuseums: „Il faut provoquer un choc chez le public. Nous voulons qu’il s’interroge sur l’histoire de chaque vêtement, sur l’inspiration et créativité qui se cachent derrière. La différenciation entre ce qui est contemporain ou historique, entre musées des beaux-arts et musées d’art contemporain est pour nous obselète […]. Je ne vois plus qu’un grand domaine culturel où tout est lié ; les arts s’inspirent mutuellement. Nous avons conçu le MoMu dans cet état d’esprit, comme un lieu interdisciplinaire.“6 Bis zum Ende der 1960er Jahre war Mode (auch) in Antwerpen noch ein Synonym für Maßgeschneidertes - eine Spezialität von Familienbetrieben, deren Schnittmuster in den großen Häusern in Paris gekauft oder auch nur kopiert wurden. Ähnliches galt für die großen Kaufhäuser. Die „echte“ Mode hingegen kam aus Paris. Zu diesem Zeitpunkt war die Antwerpener Modeschöpferin Ann Salens eine einsame Vertreterin der Mode-Popkultur in Belgien. Erst etwa 20 Jahre später trat Antwerpen als Modestadt in Erscheinung: mit den „Antwerpener Sechs“. Bei ihnen handelte es sich um sechs Absolventen der 1964 von Mary Prijot gegründeten Modeabteilung der Königlichen Akademie der Schönen Künste. Die Gruppe von sechs Modedesignern, Dirk Bikkembergs, Ann Demeulemeester, Dries van Noten, Walter van Beirendonck, Marina Yee und Dirk van Saene, mietete einen Bus, fuhr nach London und Paris und stellte mit auffällig-unauffälligen Kleidern die etablierte Modeszene auf den Kopf. Sie überflutete in kurzer Zeit große Teile der Modeszene mit ihrer attraktiven und tragbaren Haute Couture, die auf interessante Art Tradition und Modernität vereinte, indem sie mit unterschiedlichsten, provokanten Kollektionen das Publikum verblüffte und mit der prestigeträchtigen Protzerei etablierter Modemacher abrechnete. Die „Antwerpener Sechs“ profitierten davon, dass die belgische Regierung 1983 der Textilindustrie unter die Arme greifen wollte, indem sie Mittel zur Verfügung stellte und einen Fünf-Jahresplan initiierte, der vorsah, die Industrie zu unterstützen und mehr mit Designern zusammen zu arbeiten. 1986 zogen die „Antwerpener Sechs“ gemeinsam zur Londoner Modemesse, wo sie ihre avantgardistischen Entwürfe vorstellten und sofort zur Entdeckung des Jahres wurden. Berühmt als „Antwerp Six“ sollen sie geworden sein, da die Engländer ihre individuellen Namen nicht aussprechen konnten. Der Gruppe gelang es, eine eigene belgische Mode zu schaffen und diese weltweit zu etablieren. Von diesem Zeitpunkt an wurde verstärkt und mit einigem Erfolg versucht, aus Antwerpen, das zuvor keine Modetradition besaß, die 6
Daphné Betard: L’Anvers de la mode – La ville inaugure le ModeMuseum. In: Le Journal des Arts. 30. Aug.-12. Sept. 2002, S. 20.
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Modestadt schlechthin zu machen. Inzwischen ist dort die zweite und dritte Designergeneration herangewachsen und präsentiert international ihre wegweisenden Kreationen. Im Gegensatz zu Paris, Mailand, London und New York finden in Antwerpen keine Modemessen statt, aber nichtsdestotrotz findet Fashion made in Antwerp seitdem und noch immer viel Beachtung. Im Jahre 1997 führte diese Entwicklung zur Eröffnung des Flanders Fashion Institutes (FFI). Es wurde von Linda Loppa ins Leben gerufen und unter anderem zum Ausgangspunkt für die ModeNatie. Die Aufgabe des FFI besteht darin, alle nur erdenklichen Kontakte zwischen Modeschöpfern und Fachwelt zu knüpfen und das strukturierende Element zu sein, das die Antwerpener Mode national und international durch Events fördert und unterstützt. Seit der Eröffnung der ModeNatie im Jahre 2002 findet Antwerpen wohl endgültig weltweit Beachtung als Modezentrum, so wie es Linda Loppa intendiert hat. Die ModeNatie ist ein Produkt von öffentlicher, ökonomischer, wissenschaftlicher und privater Zusammenarbeit, an der die Stadt, die Landesregierung, die Antwerpener Hochschule und private Partner beteiligt sind. Sie soll Treffpunkt und Studienzentrum für all diejenigen sein, die sich im weitesten Sinne für Mode interessieren. Die ModeNatie besteht aus einem Buchladen, der auf zeitgenössische Kunst, Architektur, Mode und Fotografie spezialisiert ist, einem Café, einem Forum, das als Konferenz-, Präsentations- und Ausstellungsraum dient, und einer Galerie. Im ersten Stock befindet sich das ModeMuseum. Im zweiten Stock hat das FFI seinen Sitz. Auf derselben Etage sind auch das Archiv, die Büros der Mitarbeiter des ModeMuseums und die Bibliothek angesiedelt, im dritten und vierten Stock schließlich befindet sich die Modeabteilung der Fachhochschule. Man kann sagen, dass die ModeNatie als belgische ökonomisch-kulturelle Nationalangelegenheit sich 2002 der Erstausstellung in seinem ModeMuseum als Schaufenster und Wegweiser bedient hat. Damit sind wohl Entwicklungen sowohl der Bekleidungsindustrie und staatlichen Wirtschaftsförderung als auch der museologischen Institutionengeschichte auf wirkungsvolle Weise gebündelt worden und haben vielfältige Parallelen, Nachfolger und Fortentwicklungen gefunden. Einige parallel zustande gekommene Institutionen seien kurz aufgeführt. Die Anzahl der Modemuseen in Europa im Sinne aktueller Bezüge ist sehr begrenzt.7 Ein nicht nur für Portugal bedeutendes Museum ist das Museu Nacional do Traje in Lissabon, ein Textilmuseum, das 1977 eröffnet worden ist. Es ist im Besitz von über 30.000 Exponaten mit textilem Bezug und begann 1982 damit, Ausstellungen mit zeitgenössischen Designern zu organisieren. Seit 1985 werden dort zweimonatlich Ausstellungen dieser Art durchgeführt. Im Zuge dieser konzeptionellen Erweiterung der Ausstellungstätigkeit, aber auch der Sammlungen bezüglich zeitgenössischer Kreationen kam es zu einer Umbenennung des Museums in Museo Nacional do Traje e da Moda. 7
Vgl. Het ModeMuseum – The Fashion Museum – Backstage. Gent 2002.
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In Frankreich existieren ausweislich ihres Namens drei größere Modemuseen, deren Konzepte und Entstehungsgeschichte ziemlich gegensätzlich sind.8 Im Jahre 1907 wurde die Société de l‘Histoire du Costume durch die Initiative des Illustrators Maurice Leloir9 (1853-1940) gegründet, die sich unter anderem zum Ziel setzte, historische Bekleidung zu sammeln und ein Museum zu errichten. Doch auf dieses Museum, das zukünftige Musée du Costume de la Ville de Paris, musste man bis 1956 warten.10 Im Jahre 1920 übergab man die bereits 2.000 Objekte umfassende Sammlung dem Musée Carnavalet, das sich mit der Geschichte von Paris befasste, um dort einen eigenen Kostümbereich ins Leben zu rufen. Der große Erfolg einer Ausstellung „Costumes français du XVIIIème siècle“ im Musée Carnavalet im Jahre 1954 machte die Notwendigkeit eines eigenständigen Kostümmuseums deutlich. Deshalb wurde am 1956 im Nebengebäude des Musée Carnavalet das Musée du Costume de la Ville de Paris eröffnet. Schon bald stellte sich aber heraus, dass dort zu wenig Platz zur Verfügung stand. Deshalb entschloss man sich, zukünftige Ausstellungen im Musée d‘Art Moderne zu präsentieren. 1977 bekam die Kostümsammlung ein eigenes Domizil für Verwaltung, Depot und Ausstellungen. Das Museum nennt sich seitdem Musée de la Mode et du Costume, denn von diesem Zeitpunkt an beschränkte man sich nicht mehr auf die Kostümgeschichte, sondern bezog auch neue Bereiche, vor allem zeitgenössisch-modische Bekleidung, mit ein. Seit 1997 lautet die aktuelle Bezeichnung des Museums Musée de la Mode de la Ville de Paris – Musée Galliera. Die Sammlung umfasst 30.000 Kostüme, 40.000 Accessoires, 40.000 Holzschnitte und Fotografien aus der Zeit des 18. Jahrhunderts bis heute. „Mode im mediterranen Stil“ präsentiert der Espace Mode Méditerranée in Marseille in einem von dem Architekten Georges Eugène Haussmann (18091891) errichteten Gebäude, das von Jean-Michel Wilmotte 1991 erneuert worden ist.11 Der Espace Mode Méditerranée, ein Informationszentrum rund um die Mode, wurde im Dezember 1993 von der Präsidentin des Marseiller Mode-Instituts, Maryline Bellieud-Vigouroux, ins Leben gerufen. Es vereint nach seinem eigenen Selbstverständnis „Kultur und Wirtschaft“ an einem Ort: das Musée de la Mode mit einem Dokumentationszentrum und einem Lesesaal, das Institut Mode Méditerranée und die Textil- und Handelskammern Chambre Syndicale de l‘Habillement Marseille et Région und das Centre d‘Etudes Techniques des Industries de l‘Habillement (CETIH).
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Vgl. Catherine Join-Dieterl: L‘histoire du musée de la Mode et du Costume reflète bien le statut dans lequel on a longtemps tenu costumes et accessoires de mode. In: Musées et collections publiques de France. Juni 1997. Nr. 215, S. 8-10. 9 Vgl. Françoise Tetart-Vittu: La difficile création d‘un musée du Costume à Paris: le rôle de Maurice Leloir (1853-1940), peintre et collectionneur. In: Le Livre et l‘Art études offertes en hommage à Pierre Lelièvre. Paris 2000, S. 433-449. 10 www.paris.fr/musees/musee_galliera/Musee/musee_cadres.htm (3.10.2002). 11 www.espacemodemediterranee.com (18.10.2002).
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Die Institution Espace Mode Méditerranée soll, nicht unähnlich dem Antwerpener Konzept, für einen Ort des Austausches und der Information sorgen, an dem die verschiedensten Bereiche dieser Branche tätig werden können. Ziel war und ist es, neuen Modetalenten bei ihrem Einstieg in die Berufswelt zu helfen, indem sie die Gelegenheit haben, ihre Kreationen zu präsentieren. Eine Art Basis bilden allerdings Produktpräsentationen von Firmen aus der Modebranche. Staat, Regional- und Stadtverwaltung sind an der Trägerschaft beteiligt im Sinne öffentlichen Marketings zugunsten der heimischen Wirtschaftsstruktur. In diesem Rahmen wurde das Musée de la Mode als Bestandteil des Zentrums bereits 1988 eröffnet, also noch vor der Realisierung des Projekts Espace Mode Méditerranée. Dank verschiedener Mäzene konnte ein Teil der Kollektion von Chanel erworben werden. Dies war der erste Schritt zur Gründung dieses städtischen Museums, das damit eines der ersten Museen in Europa war, die zeitgenössische Mode gesammelt haben. Die Sammlung zählt circa 6.000 Ausstellungsstücke, die Mode von 1945 bis heute umfassen. Der Sammlungsschwerpunkt liegt auf der Bademode. Die Sonderausstellungen sind zumeist monographisch auf einen Designer ausgerichtet; z. B. auf Coco Chanel oder Yves Saint Laurent. Bei diesem Museum steht sehr offen und eindeutig der wirtschaftliche Aspekt einer Förderung der Textilbranche im Vordergrund. Man gewinnt den Eindruck, dass dieses Modemuseum nur des „Images“ wegen ins Leben gerufen wurde, um der Modeindustrie als Regionalinstitution einen kulturellen Aspekt hinzu zu fügen. Die Priorität dieses Museums liegt ganz offenbar in einer Steigerung des Absatzmarktes der regionalen Bekleidungs- und Textilindustrie. Bei dem Musée de la Mode et du Textile in Paris handelt es sich um ein Beispiel für ein Modemuseum, bei dem frühere kunstgewerbliche Interessen mit eingeflossen sind.12 Die Union Centrale des Arts Décoratifs (U.C.A.D.) und die Union Francaise des Arts du Costume (U.F.A.C.) entschlossen sich bereits um 1900, eine Art Modemuseum ins Leben zu rufen. Im Jahre 1905 gründete die U.C.A.D. das Musée des Arts Décoratifs in Paris mit dem Ziel, Nutzgegenstände der Öffentlichkeit zu präsentieren, um so deren „guten“ Geschmack zu prägen – eine Intention, die bis heute Bestand hat. Schon von Beginn an lag der Sammlungsschwerpunkt auf der Textil- und Kostümabteilung. Kostüme wurden vor allem aufbewahrt, um interessante Charakteristika des Textilen unter dem Hauptaspekt einer nationalen, bürgerlichen Kulturgeschichte im Sinne eines „französischen Kostümmuseums“ zu präsentieren. Die beiden Institutionen U.C.A.D. und U.F.A.C. vereinbarten dann 1981, das Musée des Arts de la Mode zu gründen, das die „französische“ Kleidung und die Künste, die zur Mode beitragen, aufwer-
12 Vgl. Musée de la Mode et du Textile. L‘Album du Musée de la Mode et du Textile. Paris 1997. Catherine Ormen: Musée de la Mode et du Textile. In: Musées et collections publiques de France. Juni 1997. Nr. 215, S. 12-13. www.ucad.fr/ucad/musee_mode_textile.html (3.10.2002).
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ten sollte. Das Museum wurde im Januar 1986 im Pavillon de Marsan des Palais du Louvre eröffnet und zog wenig später in den Flügel Rohan des Palais du Louvre um. Seitdem heißt es Musée de la Mode et du Textile.13 Das Museum wird von einem privaten Verein getragen, dessen Sammlung aber staatlich ist. Der französische Staat trägt nun schon fast seit einem Jahrhundert das Museum mit, indem er ihm einen Gratisplatz im Louvre überlässt und die Personalkosten übernimmt. Die Sammlung umfasst circa 16.000 Kleidungsstücke vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 35.000 Accessoires und 30.000 Textilien. Anhand dieser Objekte zeigt es die Entwicklung der Mode vom 17. Jahrhundert an bis heute auf und veranschaulicht auch die Herstellungsweisen der Kleidung. Viele Modeschöpfer und Industrielle geben heute noch regelmäßig Prototypen ihrer Herstellung an das Museum ab: Hier wird eine immer noch relativ neue Form der „Selbstthematisierung und Selbstinszenierung des Designers“14 deutlich. Für Belgien ist in diesem Zusammenhang neben dem ModeMuseum in der ModeNatie das Stedelijk Modemuseum in Hasselt zu nennen. Es präsentiert europäische Mode, Accessoires und Modefotos vom 18. Jahrhundert an bis heute und besteht seit 1988. Das Fashion and Textile Museum (FTM) in London ist ein seit Mai 2003 bestehendes und von der Designerin Zandra Rhodes ins Leben gerufenes Museum. Es verfügt über eine Sammlung von vorwiegend britischen Designerkleidern aus der Zeit der 1950er Jahre bis heute und versteht sich als Förderer britischer und internationaler Designer. Turnusmäßig werden neue Designer vorgestellt und Design-Studenten angesprochen mit dem Ziel, das Museum zu einem Treffpunkt der Forschung in Sachen Mode machen. Nicht nur hier scheint sich – wiederum – eine Parallele zum Konzept in Antwerpen aufzudrängen. (Genannt sei an dieser Stelle für Deutschland etwa das Modemuseum Feigel in Granheim in privater Trägerschaft, ohne seine Programmatik und seinen heutigen Status näher in den Blick zu nehmen.) Die Idee des Modemuseums, das sich über die Darstellung von Kostüm- oder besser Kleidungsgeschichte hinaus um die Dokumentation, Präsentation und gegebenenfalls Verbesserung zeitgenössischen Bekleidungsverhaltens im Sinne von Geschmacksbildung kümmert, dürfte um 1900 entstanden sein.15 Charles Frederick Worth (1825-1895), dem die Einführung des „Labels“ zugeschrieben wird, hatte kurz zuvor die Mode aus dem Rang des Handwerks zu einer Kunst
13 Vgl. Ursula Link-Heer: Die Mode im Museum oder Manier und Stil (mit einem Blick auf Versace). In: Gertrud Lehnert: Mode, Weiblichkeit und Modernität. Dortmund 1998. S. 140-164, hier S. 142. 14 Ebd., S. 154. 15 Adelheid Rasche: Peter Jessen, der Berliner Verein Moden-Museum und der Verband der deutschen Mode-Industrie, 1916 bis 1925. In: Waffen- und Kostümkunde Jg. 1995. Heft 1/2, S. 65-92.
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erhoben in Richtung Haute Couture.16 Die Modeproduktion erhielt damit eine neue öffentliche Präsenz. In den Jahrzehnten um 1900 präsentierten dann die Konfektionshäuser ihre Kleidung immer mehr in Schauräumen, Warenhäusern und Verkaufsausstellungen. Kunstgewerbeverbände unterstützten das textile Schaffen und wollten die Zusammenarbeit zwischen Künstlern und Industriebetrieben fördern. Bereits in dieser Zeit wurden Modeverbände gegründet, um die Mode qualitätvoller, wirtschaftlich konkurrenzfähiger und künstlerisch unabhängiger zu machen. Im heutigen Sinn – mit der gezielten Inszenierung aktueller Designermode gleichsam als Endpunkt der Museumsarbeit – in die Tat umgesetzt wurde die Idee des Modemuseums an verschiedenen Stellen in Europa aber erst seit den 1980er Jahren: wohl nicht zufällig gleichsam am Ende des Jahrhunderts der Pariser Haute Couture und am Anfang der „Mode nach der Mode“.17 An diesen Orten in Europa soll anhand der Entwicklung der Mode ein Teil der kulturellen und künstlerischen Leistung einer Gesellschaft aufgezeigt und die Mode so in den gesamtkulturellen Kontext eingegliedert werden – ob dieser in abgewandelter Form immer wieder programmatisch erhobene Anspruch im Einzelfall wirklich erfüllt wird oder oftmals nur aufgesetzt erscheint, mag offen bleiben. Richtig dürfte aber sein, dass der überlieferte „Ausstellungsraum“ der Mode, von der Modenschau über die Modefotografie bis zu den Modejournalen und der Regenbogenpresse, erweitert wird durch die teilweise Verlagerung ins Museum. In allen Fällen allerdings spielt der wirtschaftliche Aspekt eine wesentliche Rolle, unabhängig davon, ob dies in der Präsentation deutlich zu bemerken ist oder nicht. Das Modemuseum soll unzweifelhaft dazu beitragen, das Bewusstsein der Bevölkerung für den Wirtschaftsbereich der Bekleidungsindustrie zu stärken und so den Absatzmarkt zu steigern. Ein Kennzeichen der Modemuseen besteht außerdem darin, dass versucht wird, einen Bezug zwischen der Mode und anderen Künsten herzustellen. Der Begriff des Modemuseums impliziert auch, in bewusstem Gegensatz zum Kostümmuseum, immer aktuell zu sein und dem Trend und der Mode sozusagen zu folgen. Dies spiegelt sich auch in einer zumeist von Designern konzipierten, äußerst modernen Ausstellungsgestaltung wider. Aufgrund dieser Charakteristika sind Modemuseen sowohl von den kulturhistorischen und Kunstgewerbemuseen als auch von den Kostümmuseen abzugrenzen. Sie festigen damit die Forderung, dass Mode leben und in Bewegung gezeigt werden muss, obgleich dies auf ein Museum bezogen wie ein Widerspruch klingt. Aus dieser Forderung heraus fanden seinerzeit die ersten getanzten Modenschauen und Modetheater statt. Solche Shows wurden zum gesellschaftlichen Ereignis erhoben und gehörten unbedingt in das Marketingkonzept der Modehäu16 Nach Ingrid Loschek: Reclams Mode- und Kostümlexikon. Ditzingen 1999, S. 236 ist sie „die richtungweisende und gehobene Pariser Schneiderkunst, die in exklusiver Maßarbeit elegante Mode herstellt“. 17 Vgl. Barbara Vinken: Mode nach der Mode - Kleid und Geist am Ende des 20. Jahrhunderts. Frankfurt/M. 1993 sowie Link-Heer (wie Anm. 13), S. 140.
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ser, Boutiquen und Konzerne. Mit der Aufnahme in das – dieser Forderung ebenfalls genügende – Museum bekommt die Mode ihre höheren Weihen. Fortan gilt sie als kultureller Faktor von nationalem Rang und wird allgemein als Kunst anerkannt. Damit gelingt es ihr durchaus, den schmalen Grat zwischen Kunst, Kommerz und Konsum zu verbreitern. Kritisch ist seit langem beklagt worden, dass Modeausstellungen zu oberflächlich seien und nur dem schönen Schein dienten, indem man Designerläden ins Museum translozieren und dieses damit letzlich zum Promoter nationaler Industrien funktionalisieren würde. Gerade der Verzicht auf Informationsvermittlung wird hier als Argument heran gezogen. In der Tat wird die Frage bestehen bleiben (müssen), ob sich museale Modeausstellungen von den Schaufensterpräsentationen in Kaufhäusern und Boutiquen unterscheiden, ob es sich wirklich um eine „kulturelle Ausstellung“ handelt und nicht doch um eine schlichte Werbekampagne für die Haute Couture, verbrämt durch die Miterfüllung standardisierter museologischer Aufgabenfelder. Bestehen bleibt allerdings wohl in jedem der geschilderten Fälle die dokumentierte Bewahrung von konkreten materiellen Produkten der Modeentwicklung – rechtzeitig und nicht zu spät wie so häufig im kulturhistorischen Museum der Vergangenheit – dennoch bleiben die Auswahlkriterien zuweilen fraglich oder kritikwürdig. Was heute mit dem neutralen Begriff der (Be-)Kleidung benannt ist, war in historischer Zeit, bis ins 19. Jahrhundert hinein, mit den Termini Tracht und Kostüm gemeint, bevor die Tracht zur „ländlich-rückständigen Regionalkleidung“ wurde und im allgemeinen, aber auch im wissenschaftlichen Sprachgebrauch, der Mode gegenüber gestellt wurde, die gegenwärtig gemeinhin als neuzeitliches soziales, politisches und kulturelles Phänomen angesehen wird und der zunehmend postmoderne Qualitäten zugesprochen werden. Die Kostümkunde mit ihren überlieferungsbedingt starken oberschichtlichen Schwerpunkten auf „festlicher“, anlassbezogener Bekleidung etablierte sich gleichzeitig als relativ eingeschränkte kunsthistorische Teildisziplin. Aus dieser Entwicklungsgenese speist sich auch noch die Museums-Entwicklung des letzten Vierteljahrhunderts. Mit entscheidend war wohl die Tatsache, dass erst in den 1980er Jahren Modedesign und Haute Couture zu Kreativbereichen wurden, die als eigenständige Kunstform Anerkennung – und nicht zuletzt (noch) größere wirtschaftliche Bedeutung fanden. Zeitgleich fand in vielen europäischen Ländern das statt, was als Museumsboom bezeichnet wird und eine Ausdifferenzierung des Kulturbetriebs einschließlich einer starken Spezialisierung des Museumswesens mit sich brachte. Als Höhepunkt längerer Entwicklungen wurden Museumsabteilungen mit Bekleidungstextilien als Kostümmuseen aus ihren Museumskontexten heraus gelöst. Zuvor hatten in praktisch allen National-, Kunstgewerbe-, Volkskunde-, Regional- und kulturhistorischen Museen Textilien und Bekleidung einen selbstverständlichen, wenngleich üblicherweise nicht gerade hoch bewerteten Sammlungs- und oftmals auch Ausstellungsbereich gebildet. Hier mögen nur die gro-
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ßen und bedeutenden Sammlungen etwa im Victoria and Albert Museum in London18, im Wien Museum (zuvor: Historisches Museum Wien) und im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg19 mit seiner erst in jüngster Zeit überwundenen Zweiteilung in Kostüm- und Trachtensammlung genannt werden. Es scheint, dass die Modemuseen seit den 1980er Jahren zwar nicht einen neuen Typus begründet haben, aber vielleicht doch eine neue, innovative Kategorie, die auf das gesamte Museumswesen im Bereich der Textilpräsentation ausgestrahlt hat. Sie offerieren ihre Ausstellungen für einen künstlerisch ambitionierten Konsum, sowohl inhaltlich wie auch gestalterisch, und ihre Nähe zum Kommerz bedarf weiterer Betrachtung. Spricht man dem Museum so etwas wie die Definitionsmacht über die Moderne zu im Sinne einer Begutachtung kultureller Bedeutung, so wäre auch ein „Marsch der neuesten Modeavantgarde ins Museum“20 nachvollziehbar. Widersprüche bleiben hier aber existent, denn wohl niemand wird bestreiten, dass jede Mode in erster Linie ihren Wert auf dem Markt zu steigern versucht, warum nicht auch in Richtung kultureller Mehrwert mit Hilfe des Museums, wenn es denn so will?
18 Vgl. Marion Löhndorf: Das Defilee der Stardesigner - Zeitgenössische Mode im Victoria & Albert Museum. www.nzz.ch/2001/12/05/fe/page-article7SMJQ.html (7.10.2002). 19 Vgl. Leonie von Wilckens: Textilien und Kostüme. In: Das Germanische Nationalmuseum Nürnberg 1852-1977. München 1978, S. 791-813. Jutta Zander-Seidel: Kleiderwechsel. Frauen-, Männer- und Kinderkleidung des 18. bis 20. Jahrhunderts. Nürnberg 2002. 20 Link-Heer (wie Anm. 13), S. 144 nach Barbara Vinken (wie Anm. 17).
Produktpolitik als Instrument des Marketings a n Kunstmusee n a m Be is piel a us gew ählter Sonde ra uss tellunge n BETTINA KRATZ Seit den 1980er Jahren hat sich ein strategisches Nonprofit-Marketing im Museumssektor stetig weiter entwickelt. Populäre Sonderausstellungen eröffnen nicht nur, aber vor allem den Kunstmuseen viele Möglichkeiten, um ihr marketinginstrumentelles Handlungsspektrum zu erweitern. Die Produktpolitik steht dabei als Herzstück des Marketings an erster Stelle, indem sie der Bildungsvermittlung als fundamentale Grundlage dient. Sie ist die erste der vier klassischen Säulen des Museumsmarketings. Dieser Beitrag stellt eine praxisorientierte Vergleichsanalyse der Produktund Programmgestaltung am Beispiel von zwei ausgewählten Sonderausstellungen vor. Es geht dabei weniger um die Lösung einer theoretischen Problematik als um die Untersuchung „am lebendigen Objekt“. Der Blick richtet sich auf das operative Marketing in der Kunsthalle Bremen und der Kunsthalle in Emden am Beispiel der Ausstellungsprojekte „Edvard Munch – Bilder aus Norwegen“ (in Emden 2004/05) und „Monet und Camille. Frauenportraits im Impressionismus“ (in Bremen 2005/06). Im Zentrum stehen Umsetzung und Wirkung der jeweiligen produkt- und programmpolitischen Maßnahmen beider Häuser im Rahmen dieser Sonderausstellungen. Die Fallbeispiele können zeigen, welche Möglichkeiten und Perspektiven sich mit einer zielgerichteten Produktpolitik im Museumsfeld eröffnen. Generell gilt dabei die Überzeugung, dass Bildungsvermittlung und Marktorientierung sich im Kultursektor keineswegs ausschließen müssen.
Marketing an Kunstmuseen Seit den 1990er Jahren sehen sich die Museen einem steigenden Wettbewerb ausgesetzt. Dies liegt einerseits daran, dass technische und mediale Entwicklungen dem Menschen erweiterte Freizeitmöglichkeiten bieten. Gleichzeitig zieht
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sich der Staat zunehmend aus der finanziellen Unterstützung des kulturellen Sektors zurück. Anders als in der freien Wirtschaft können sich Nonprofit-Organisationen nicht über den Absatzmarkt finanzieren, sondern sind auf freiwillige Leistungen in Form von Kultursponsoring, Fundraising und öffentlichen Zuschüssen angewiesen.1 Gleichzeitig wird von verschiedenen Seiten ihre „Legitimität und Existenzsicherung“2 in Frage gestellt, wodurch sie gegenüber ihren öffentlichen und privaten Förderern zu mehr Rechtfertigung verpflichtet werden. Die beschriebenen Veränderungen im Museumsfeld verlangen neue Strategien und Konzepte sowie neue Sehweisen auf den musealen Auftrag und das Umfeld. Ein gezieltes Museumsmarketing bietet entsprechende Lösungsmöglichkeiten. Es richtet seine Ziele darauf, die Produkte und Angebote eines Museums bekannt zu machen, zu vermitteln und seine Nachfrage in Konkurrenz zu anderen Bildungs- und Freizeitanbietern zu erhöhen.3 Dementsprechend wird gefordert, dass sich Museen „nicht nur als Kulturobjektaussteller, sondern auch als Dienstleistungsanbieter für Kulturbesucher begreifen müssen, die neben der Kulturvermittlung typische Freizeitbedürfnisse befriedigen können“.4 Demzufolge bedeutet modernes Museumsmarketing, den Blick nach außen auf die Besucher und deren Erwartungen zu richten. So finden sich auch im Kulturwesen die vier klassischen Marketinginstrumente Produkt-, Preis-, Distributions- und Kommunikationspolitik wieder. Mit Hilfe dieser Instrumente verändern oder verbessern Museen ihre Angebote. Die Austauschprozesse zwischen einem Museum und seinen verschiedenen Interessengruppen (Stakeholdern) können somit auf unterschiedlichen Ebenen stattfinden. Es existieren neben den Besuchern auch Gruppen und Individuen, die im Rahmen eines Interessennetzes mit dem Museum eng verbunden sein können. Dazu gehören beispielsweise auch die Beziehungen zu ökonomischen Bezugsquellen wie Spendern, Sponsoren oder Förderinstitutionen, die das Museum mit finanziellen Ressourcen absichern und moralische oder publikumswirksame Unterstützung leisten.
Die Kunstausstellung als Kernprodukt Bei der marketinginstrumentellen Definition des Produkts im Museum oder eines Museums handelt es sich nicht um zu verkaufende Sachgüter. Vielmehr sind es 1 2
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Vgl. Anne Koch: Museumsmarketing. Ziele – Strategien – Maßnahmen. Mit einer Analyse der Hamburger Kunsthalle. Bielefeld 2002, S. 37. Annette Zimmer: Museen zwischen Markt und Staat. In: dies. (Hg.): Das Museum als Nonprofit Organisation. Management und Marketing. Frankfurt/M. 1996, S. 923, hier S. 9. Vgl. auch Neil Kotler und Philip Kotler: Museum strategy and marketing: designing missions, building audiences, generating revenue and resources. San Francisco 1998, S. 105-106. Vgl. Deutscher Museumsbund (Hg.): Standards für Museen gemeinsam mit ICOMDeutschland. Kassel/Berlin 2006. Ralf Terlutter: Lebensstilorientiertes Kulturmarketing. Besucherorientierung bei Ausstellungen und Museen. Wiesbaden 2000, S. 265.
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Dienstleistungen, die angeboten werden. Neben der ständigen Sammlung, die ein relativ festgelegtes Produkt darstellt, zählen Sonder- und Wechselausstellungen zu den Kernprodukten eines jeden Kunstmuseums.5 Ihre inhaltliche Gestaltung wird ausschließlich von kuratorischer Seite und unter wissenschaftlichen Aspekten durchgeführt. Qualität und Auswahl der präsentierten Objekte stellen im vorliegenden Kontext lediglich die produktpolitische Basis dar, mit der marketinginstrumentell im Museum gearbeitet wird. Wesentliches Kennzeichen der Produktpolitik im Museumswesen ist, im Gegensatz zur kommerziellen Produktion, dass der qualitative Kern einer Kunstausstellung nicht den Wünschen der Nachfrager angepasst wird. Denn nur wenn das nicht-kommerzielle künstlerische Produkt im Vordergrund steht, legitimieren sich öffentliche Zuwendungen.6 Seitens des Marketings kann aber auf den gesamten Produktkontext, das Zusatzleistungsspektrum einer Ausstellung, produktpolitischer Einfluss genommen werden. Auf diese Weise bleibt das Kulturprodukt per se unangetastet, während die Rahmenbedingungen der Veräußerung marketinginstrumentell gestaltet und erweitert werden können, um der Konsumentenseite zu entsprechen.7 Als Oberziel einer Kunstausstellung kann immer die Vermittlung bestimmter kunstgeschichtlicher und ästhetischer Werte an ein breites Publikum gelten. Hat ein Kunstinteressent beispielsweise das Bedürfnis, mehr über den Maler Van Gogh, über dessen Werk und Leben zu erfahren, dann könnte eine Van GoghAusstellung dieses Bedürfnis befriedigen, da sie den Nutzen der Wissensvermittlung erfüllt. Aber ein Kulturprodukt besitzt eben nicht nur eine, sondern verschiedene Nutzendimensionen. Dies bedeutet, dass der Museumsbesucher im obigen Beispiel nicht nur den Nutzen der Wissensvermittlung (Kernnutzen) in Anspruch nehmen möchte, sondern auch nach Erlebnis und Anschauung oder auch den Kontakt zu anderen Menschen (sozialer Nutzen) sucht. Würde er lediglich primär nach Wissen suchen, könnte er ebenso gut ein Buch über Van Gogh zu Hause studieren. Weiterhin sind das Image (symbolischer Nutzen) des Museums, der Ausstellungsinhalt und die Qualität der Werke wichtig für die Positionierung am Markt. Genießt das Museum bereits ein hohes Ansehen und kann der Besucher sich mit dem ausgestellten Thema, den Werken oder dem Künstler identifizieren, ist die Motivation für einen Ausstellungsbesuch wesentlich größer. Das Qualitätsver-
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Stefan Toepler: Marketing-Management für Museen. Die amerikanische Perspektive. In: Zimmer (wie Anm. 2), S.155-176, hier S. 165. Vgl. Armin Klein: Kultur-Marketing. Das Marketingkonzept für Kulturbetriebe. München 2001, S. 2f. So schreibt das Kultursekretariat Nordrhein-Westfalen: „Fördern was es schwer hat.“ Vgl. Laura Gerlach: Der Schirnerfolg. Die „Schirn Kunsthalle Frankfurt“ als Modell innovativen Kunstmarketings. Konzepte – Strategien – Wirkungen. Bielefeld 2007, S. 113.
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sprechen und der Kernnutzen haben demzufolge höchste Priorität.8 Es gibt noch einen vierten Nutzenaspekt, nämlich den auf die Ausstellung gerichteten Besucherservice (Servicenutzen). So können Kopfhörer bei einer Führung dem Geräuschpegel entgegenwirken und den Teilnehmern das Zuhören erleichtern. Das gewählte Beispiel zeigt, dass die Übergänge zwischen den vier Nutzendimensionen: Kernnutzen, Servicenutzen, sozialer Nutzen und symbolischer Nutzen, fließend sind.9 Das Kernprodukt Kunstausstellung ist als Dienstleistung zu verstehen, die mit Hilfe der Produktpolitik um viele Leistungen erweitert wird. Konkret handelt es sich dabei um ein zu gestaltendes Vermittlungs- und Serviceprogramm.10 Dabei sollte nicht nur an einen Nutzen appelliert und auf eine einzige Strategie zurück gegriffen werden. Vielmehr muss das Marketing versuchen, so weit wie möglich alle Nutzenaspekte in den Austauschprozess mit einzubringen11, um dem heterogenen Publikum und seinen vielseitigen Wünschen und Bedürfnissen zu entsprechen. Je nach Museumstyp und Zielgruppe werden dabei unterschiedliche Schwerpunkte zu setzen sein.
Die Kunsthalle in Emden Als Kunststiftung ist die Kunsthalle in Emden eine recht junge Erscheinung in der deutschen Museumslandschaft. Sie geht auf eine Initiative des Stifterehepaares Henri und Eske Nannen zurück und wurde 1986 eröffnet. Bis heute obliegt Eske Nannen die Geschäftsführung der Kunsthalle, als Assistentin steht ihr eine Marketingleiterin zur Seite.12 Die Kunsthalle verfügt als Museum mit eigenem Bestand über eine autonome, stabile und zugleich flexible Struktur. Obwohl das Haus prinzipiell vom Land bzw. vom Staat finanziell unabhängig ist, bekommt es öffentliche Zuschüsse. Außerdem erhält die Kunsthalle finanzielle Unterstützung durch den Kunstverein der „Ludolf Backhuysen-Gesellschaft“. Der Rest muss durch eigene Einnahmen, Spenden, Sponsoring und Projektzuschüsse vom Museum selbst erwirtschaftet werden. Der Einsatz eines effektiven MarketingManagements und die Konzeption von Event-Ausstellungen sind dabei Voraussetzung. Die Mission der Kunsthalle wurde von Henri Nannen in der Stiftungssatzung schriftlich niedergelegt; daneben existiert ein Leitbild. Der Kernbestand der Kunsthalle setzt sich aus unterschiedlichen Stilrichtungen und Kunstgattungen der Bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts zusammen. 8
Vgl. Armin Klein: Ist der Kunde immer König? Möglichkeiten und Grenzen des Kulturmarketings. In: kunst_publikum. Dokumentation des Symposiums im Stadtmuseum Oldenburg am 4. Mai 2007. Oldenburg 2007, S. 18-23, hier S. 21. 9 Nach Klein (wie Anm. 6), S. 25. 10 Vgl. Toepler (wie Anm. 5), S. 165f. 11 Vgl. Klein (wie Anm. 6), S. 26. 12 Für ihre Bereitschaft, in Interviews Auskünfte zu geben, sowie für die Überlassung von diversen Informations- und Auswertungsmaterialien danke ich Ilka Erdwiens und Susanne Fleischner, beide Kunsthalle in Emden, sowie Michael Szeliga, Fachhochschule Oldenburg.
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Für die hier näher betrachtete Munch-Ausstellung wurde ein zielgerichtetes Marketingkonzept (Marketing-Maßnahmenplan) im Vorhinein erstellt.13
Die Kunsthalle Bremen Das Museum wurde 1823 durch den Kunstverein in Bremen gegründet und repräsentiert ein traditionsreiches Haus mit Geschichte. Die Stadt Bremen stellte das Grundstück zur Verfügung, der Verein trug die Baukosten. Durch Spenden, Stiftungen und Mäzene vergrößerte sich der Sammlungsbestand fortwährend. Heute besitzt die Bremer Kunsthalle eine umfangreiche Sammlung und hat in den letzten Jahren eine Reihe von aufwändig inszenierten Sonderausstellungen veranstaltet. Der Kunstverein führt die Kunsthalle in privater Trägerschaft, gefördert durch regelmäßige Zuschüsse der Stadtgemeinde Bremen. Der ehrenamtlich tätige Vorstand des Kunstvereins verfügt über ein weit reichendes Netzwerk an Stiftungen und Privatinvestoren. Daneben ist das Haus auf Sponsoring und andere Fördergelder angewiesen. Hinsichtlich des Museumsmarketings14 verfügt die Kunsthalle nicht über ein schriftlich verfasstes Leitbild und auch nicht über eine allgemeine Satzung. Die Gesamtzielsetzung des Museums ist deshalb aus den musealen Kernfunktionen abzuleiten. Eine Gewichtung findet sich bei der Erfüllung des Bildungsauftrages sowie der kunsthistorischen Erforschung der bildenden Kunst aus sechs Jahrhunderten (15. bis 20. Jahrhundert). Um den Bildungsauftrag zu erfüllen, werden im Museum regelmäßig Event-Ausstellungen inszeniert, die ein breites Publikum ansprechen sollen. Dabei haben die Ausstellungsinhalte immer einen Bezug zu den Themen und Künstlern der eigenen Sammlungsbestände. Das Ausstellungsprogramm der Kunsthalle umfasst jährlich sieben bis zwölf Wechselausstellungen. Ziel ist es, die künstlerischen Schwerpunkte der eigenen Bestände mit internationalen Leihgaben zu kombinieren. Deshalb werden viele Ausstellungen konzipiert, die sich gezielt auf den traditionellen Sammlungsbestand beziehen und eine Verbindung von alter und neuer Kunst schaffen sollen. Daneben werden kleinere Wechselausstellungen mit zeitgenössischen Inhalten und Themen aufgegriffen, um verstärkt das jüngere Publikum anzusprechen. Populäre Event-Ausstellungen mit Werken der Klassischen Moderne zielen in erster Linie darauf ab, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und die Besucherzahlen zu steigern.15 Somit ist die Inszenierung von großen Sonderausstellungen für die 13 Mir wurde freundlicherweise von der Kunsthalle in Emden das schriftlich verfasste Marketing-Konzept zur Munch-Ausstellung als internes Papier zur Verfügung gestellt. 14 Im Rahmen der in der Marketingabteilung der Kunsthalle Bremen geführten Interviews danke ich für die Auskünfte Simone Böhnert, Anna Starkowski und Svenja Barbutzki, weiterhin Peter Schmidt, Institut für Region und Handel in Bremen. 15 Im Jahr 1996 kamen 130.000 Besucher zu der Max Liebermann-Ausstellung, 170.000 sahen den „Blauen Reiter“, und die Sonderausstellung „Van Gogh: Felder“
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Kunsthalle Bremen in Bezug auf Wissensvermittlung, Reputation und finanzielle Einnahmen von großem Nutzen. Vor allem aber sei hier berücksichtigt, dass diese Ausstellungsphilosophie maßgeblich die Ausrichtung der produktpolitischen Strategien bei der Monet-Ausstellung tangiert. Die Kunsthalle liegt in den Wallanlagen von Bremen in unmittelbarer Nähe zur Altstadt und genießt damit eine sehr zentrale Lage. Viele andere Museen, Galerien, Kultur- sowie Freizeiteinrichtungen befinden sich ebenfalls dort. Deshalb muss sich das Haus um die Gunst der regionalen Besucher eindeutig bemühen. In Zusammenarbeit mit dem „Bremer Institut für Region und Handel“ werden seit einigen Jahren umfangreiche Marktforschungsstudien realisiert. Bezüglich der Nachfrager handelt es sich auch in Bremen überwiegend um gebildete, einkommensstarke, kunst- und kulturinteressierte Bürger. Diese sind vor allem Frauen ab 50 Jahre bis hin zum Seniorenalter. Die Gäste kommen vorwiegend aus der Region, teilweise jedoch auch aus dem Ausland.
Edvard Munch – Bilder aus Norwegen Die Emdener Sonderausstellung zeigte über den Jahreswechsel 2004/05 insgesamt 63 Ölgemälde von Edvard Munch. Alle Werke kamen aus Norwegen auf der Grundlage einer Kooperation zwischen der Kunsthalle in Emden und dem Munch-Museum in Oslo. Damit waren am Künstler Munch, insbesondere an seinem Spätwerk, sowie am Expressionismus Interessierte als Zielgruppen definiert. Die Ausstellung wurde als Kunsterlebnis inszeniert, um den Besuchern einen Bildungs- und Unterhaltungsfaktor zu bieten. Die Wahl des Ausstellungssujets und des Künstlers sowie die Qualität der ausgewählten Werke sollten dieses Kunsterlebnis repräsentativ darstellen und psychologisch wie auch pädagogisch an den Besucher heran tragen. Darüber hinaus wollte das Museum eine offene und angenehme Atmosphäre bieten, um das Markenversprechen als junges, innovatives Museum zu bestärken. Zudem sollte überregionale Akzeptanz geschaffen und das Ansehen bei den Leihgebern gesteigert werden, um Sponsoren für dauerhafte Beziehungen zu gewinnen. Darüber hinaus sollte die MunchAusstellung das Image der ostfriesischen Region aufwerten und durch eine erlebnisorientierte Bildungsvermittlung Begeisterung bei den Besuchern auslösen, um neue Besuchergruppen zu erschließen und gleichzeitig das Stammpublikum zu binden. Im Bereich der ökonomischen Ziele richtete die Kunsthalle in Emden ihren Fokus auf die Erhöhung der Besucherzahlen. Hier wurde die Zielzahl auf ca. 60.000 Besucher in einem Zeitraum von 18 Wochen festgelegt. Durch die hohe Besucherfrequenz und den Katalogverkauf sollte der öffentliche Zuschussbedarf reduziert werden. Strategisch betrachtet setzte die Kunsthalle bei der Positionieerreichte über 322.000 Menschen. Vgl. http://www.paula-in-paris.de/kunsthalle/ rueckblick-van-gogh.php (20.1.2008).
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rung ihres Kernprodukts eindeutig auf einen Eventfaktor. Mit diesem Nutzenversprechen wollte sich das Museum von der Konkurrenz abheben und die Werte Qualität, Individualität, Bildung und Erlebnis in der Öffentlichkeit bekräftigen. Ziel war es, auch diejenigen Menschen von Edvard Munchs Spätwerk zu begeistern, welche die Bedeutung seiner Kunst bislang noch nicht erkannt hatten.
Monet und Camille. Frauenportraits im Impressionismus Die Bremer Ausstellung zeigte über den Jahreswechsel 2005/06 die Entwicklung des großformatigen Frauenbildes in der französischen Malerei des 19. Jahrhunderts. Neben dem figurativen Werk Monets wurden Vergleiche zu anderen Meisterwerken von Künstlern aus seiner Zeit hergestellt. Viele Leihgaben stammten aus international bekannten Kunstmuseen und Galerien, so dass gleichsam ein globales Netz an Austauschbeziehungen gespannt wurde.16 Mit „Monet“ schaffte die Kunsthalle aber auch ein Kulturprodukt für die Masse, um Besucherbarrieren gerade beim jüngeren Publikum abzubauen. Alle inhaltlichen Bausteine wurden belebt durch ein weitgreifendes Rahmenprogramm in der ganzen Stadt Bremen. Die Steigerung des Bekanntheitsgrades der Marke Kunsthalle Bremen, die Imageerweiterung und -festigung in der deutschen Kulturlandschaft können als oberste Marketingzielsetzung betrachtet werden. Die Kunsthalle wollte sich als „modernes, anspruchsvolles Museum mit Tradition“ positionieren. Das aufwändig gestaltete Ausstellungsprojekt sollte zu neuen Interessengemeinschaften in der eigenen Region führen und Sponsoren binden. Eine Aufwertung des Standortes Bremen und die Vernetzung mit der Tourismusszene waren dabei von Bedeutung. Hinsichtlich der Finanzziele wurden in einem Zeitraum von drei Monaten ca. 150.000 Besucher in der Sonderausstellung erwartet. Außerdem sollte ein umfangreiches Produktsortiment im Museumsshop angeboten werden, um die eigenen Einnahmen zu steigern. Auch für die Kunsthalle in Bremen war der Erlebnisfaktor bei der Positionierung der Sonderausstellung wichtig. Das weibliche Geschlecht bildete nicht nur in der Ausstellung den Mittelpunkt, sondern war gleichsam die anvisierte Zielgruppe. Zusätzlich warb die Kunsthalle mit einem umfangreichen kulturellen Rahmenprogramm. Das Produkt „Monet und Camille“ war an der Schnittstelle zwischen Bildungs-, Kunst- und Freizeitvergnügen platziert mit dem Ziel, vor allem Nicht-Kunstinteressierten mit wenigen Vorkenntnissen Schwellenängste zu nehmen und besonders das jüngere Publikum zu aktivieren.
Vergleichende Aspekte in Planung und Umsetzung Beide Museen knüpften inhaltlich an das eigene Sammlungsprofil an, einmal ausschließlich mit Leihgaben, im anderen Fall in Kombination mit dem eigenen 16 Kuratorin der Ausstellung war Dorothee Hansen.
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Sammlungsbestand. In beiden Fällen vermittelte die Ausstellungsprogrammatik eine Art einzigartiges Nutzungsversprechen, indem jeweils gezielt bestimmte Themenaspekte der Kunstgeschichte der Klassischen Moderne in den Vordergrund gestellt wurden und eine Reihe von berühmten Gemälden zu sehen war. Aufgrund eines verstärkten Interesses der Öffentlichkeit an den Künstlern und den Qualität versprechenden Ausstellungsobjekten war das Ziel der Besucherzahlenerhöhung in beiden Fällen durchaus realistisch. Dieses Marketingziel ist grundsätzlich operational, da es messbar, erreichbar, relevant sowie zeitbezogen ist. Bei den psychographischen Zielen strebten beide Museen nach einer Imagefestigung und -erweiterung, um sich auf dem umliegenden Kultur- und Freizeitmarkt zu positionieren. Weiterhin wurden von beiden Museen touristische Aktivitäten mit anderen Einrichtungen der Region anvisiert, um den Standort Bremen und die Küstenregion Ostfrieslands aufzuwerten. Sicher ist, dass in beiden Kunstmuseen offensichtlich erwerbswirtschaftlich gedacht wird, jedoch ohne dabei den kulturellen Status der eigenen Einrichtung zu vergessen. Die Erfüllung des Bildungsauftrags steht nach wie vor an oberster Stelle. Dafür bedarf es jedoch eines Publikums und finanzieller Unterstützung. Zielgruppenorientierte Produkte, Angebote und Leistungen zur Sonderausstellung sollen spezifische Anreize und neue Impulse setzen. Zu diesem Zweck ist es wichtig, sich für das potentielle wie angestrebte Publikum zu entscheiden und Zielgruppenbestimmungen vorzunehmen. Dazu gehört eine gewisse Segmentierung der Besucher in Stammklientel und weitere Gruppen. Die Haupteinzugsgebiete (Bremen, Oldenburg, Umgebung) der beiden Häuser überschneiden sich teilweise. Während in Emden verstärkt auf die regionale Bewerbung in einem Umkreis von 150 km gesetzt wird, spannt das Museum in Bremen einen fast doppelt so großen Radius von 250 km bis 300 km. Beide Museen gingen während der Präsentation von „Munch“ und „Monet und Camille“ von vielen Bildungs- und Reisegruppen, vor allem aber von Tagestouristen aus. Neben dem Bildungsmotiv war der Erlebnisfaktor ausschlaggebend für die Positionierung, also das immaterielle Produkt „Ausstellungserlebnis“. Dieses ist gekennzeichnet durch vier Qualitäten: Einzigartigkeit, Episodenhaftigkeit, Gemeinschaftlichkeit und die Beteiligung des Besuchers.17 Somit meint der Begriff Kulturprodukt, ganz im Sinne des Marketings, das Spektrum der Dienstleistung. Hinsichtlich der Umsetzung der Marketingkonzepte sollen hier nur einzelne Aspekte heraus gegriffen werden. Der „Produkt-Mix“ bestand jeweils aus drei Angebotsbereichen: den Kernleistungen, den formalen Leistungen und den Zusatzleistungen. Wichtigstes Element dieser dreigliedrigen Angebotsgestaltung war natürlich die Besucherorientierung. Das Instrument der Führung als Kernleistung in einer Sonderausstellung eröffnet viele Variationsmöglichkeiten, um fast alle Zielgruppen anzusprechen: von der klassischen Führung über das Mu17 Vgl. Klein (wie Anm. 6), S. 341.
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seumsgespräch bis hin zur Kombination mit anderen Veranstaltungen wie Praxiskurse, Vorträge, Symposien oder gesellschaftliche Anlässe. Von der fachlichen wie pädagogischen Kompetenz der Führenden ist es abhängig, wie viel Gewinn die Besuchergruppen haben, aber auch dem Museum bringen. Beispielsweise wurden Sponsoren mit Führungsangeboten, die auch außerhalb der regulären Öffnungszeiten stattfanden, von professionellen Fachkräften des Museums an beiden Standorten durch die Ausstellung geleitet. Diese pädagogischen Zusatzleistungen waren ausschließlich für Sponsoren vorgesehen und boten eine Möglichkeit der Gegenleistung für erbrachte Spenden. Neben den klassischen Führungsangeboten für viele Alters-, Ziel- und Interessengruppen existierten noch eine Reihe anderer pädagogischer Veranstaltungen, etwa Workshops, Studententage und Lehrerfortbildungen. Insbesondere die Kunsthalle Bremen bot ein vielfältiges Vermittlungsprogramm an, das gänzlich alle Altersgruppen umfasste. Diese Museumsleistungen erfassten vor allem die Wünsche und Erwartungen des Publikums, nicht nur Wissen zu vermitteln, sondern auch Spaß und Unterhaltung zu bieten. Zu den formalen Leistungen zählten das vielfältige Informations- und Kommunikationsmaterial in den Ausstellungen, mediale Informationssysteme und rezeptive Medien. Um den Bedürfnissen und Anforderungen des heterogenen Publikums entgegen zu kommen, wurden sowohl die Infotexte als auch die auditiven Begleitmedien den unterschiedlichen Ansprüchen der verschiedenen Zielgruppen angepasst. Weiterhin befanden sich interaktive Medien in der Ausstellung, etwa mobile Lernstationen in Bremen oder Aktivitätszonen in Emden. Hinzu kam ein intensives Merchandising. Geschenkpakete, die an die Sponsoren und Kooperationspartner verschickt wurden, wirkten als so genannte „Appetizer und Werbemittel“18. Im Fokus all dieser Maßnahmen standen die Erschließung von neuen Kooperationspartnern und die zielgerichtete Publikumsansprache. Durch das kostenlose Verschicken der Verkaufsprodukte verwandelten sie sich in „Give-aways“19, da sie nicht (mehr) dem Verkauf, sondern der Bewerbung des Kernprodukts dienten. Als Werbemittel unterstützten sie die Bekanntmachung des Museums und seiner Produkte in der Öffentlichkeit. Dabei sollten sie den Erlebniswert des Kernprodukts intensivieren und zu einer Wertsteigerung der Ausstellung selbst führen. In diesem Zusammenhang seien die vielfältigen weiteren, begleitenden Kulturevents wie Modenschau, Politikerbesuch oder Maskenball hier nur kurz erwähnt. In ihrer Gesamtheit ergaben die produktpolitischen Maßnahmen ein vielfältiges Rahmenprogramm mit starker Vernetzung mit dem Stadtmarketing. Die
18 Erdwiens, Marketing-Maßnahmenplan (wie Anm. 13), S. 20. 19 Werner Heinrichs und Armin Klein: Kulturmanagement von A-Z. Wegweiser für Kultur und Medienberufe. München 1996, S. 274. Give-aways sind kostenlose Produkte und tragen ebenfalls das Corporate Design der Ausstellung. Sie dienen als Werbemedium.
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Zusammensetzung der Produktpalette bildete kein „Zufallsprodukt“, sondern das Ergebnis von rationalen sowie strategischen Überlegungen. Abschließend stellt sich somit die Frage nach dem Marketingerfolg.
Die Erfolgskontrolle der Marketingmaßnahmen Nach dem Abschluss einer Sonderausstellung zieht das Instrument der Marketingkontrolle den resümierenden Schlussstrich, denn sie bewertet die Wirkung und den Erfolg der operativen Maßnahmen. Voraussetzung für diesen Vergleich ist das Vorhandensein messbarer Größen und geeigneter Indikatoren, um die Wirkung der angebotenen Produkte und Leistungen bewerten zu können.20 Die Beurteilung der Qualität von Kulturgütern bedarf jedoch der Kenntnis über Besuchermotive und -wahrnehmungen, Erwartungen und Enttäuschungen. An dieser Stelle ergibt sich ein Problem: Durch die immaterielle Struktur der meisten vermittelten Dienstleistungen ist es für Museen sehr schwierig, operationalisierbare Steuerungsgrößen für die qualitative Bewertung zu finden. Gleiches gilt auch für die Überprüfung der anvisierten Beeinflussungsziele, zum Beispiel die Imageverbesserung oder die Steigerung des Bekanntheitsgrads in der Öffentlichkeit. Eine zahlenmäßige Erfolgskontrolle im Sinne eines Soll-Ist-Vergleichs, wie er in Wirtschaftsunternehmen üblich ist, erscheint also kaum machbar, weil die Soll-Größen nicht zwangsläufig vorliegen. Infolgedessen müssen oftmals erst Kriterien für die Überprüfung entwickelt werden. Eine Ausnahme stellen die ökonomischen Marketingziele wie Besucherzahlen, Umsatz und Gewinn dar. Sofern hierfür die Soll-Werte in der Zielplanung präzise formuliert wurden, können sie unmittelbar nach Abschluss der Kulturveranstaltung mit dem Ist-Wert abgeglichen werden.21 Dennoch kann eine quantitative wie auch eine qualitative Erfolgskontrolle in Ansätzen geleistet werden. Eine qualitative Messung lässt sich beispielsweise realisieren durch Besucherbefragungen, die inhaltliche Auswertung der Medienresonanz22, Gespräche mit Experten (Journalisten, Kollegen, Fachleuten), die teilnehmende Beobachtung der Museumsmitarbeiter oder die Auswertung der Publikumsresonanz etwa in Briefen, Emails und Gästebüchern. Bei der Frage, ob die intendierten Zielgruppensegmente erreicht werden konnten, können auch quantitative Aussagen getroffen werden. Mögliche Maßzahlen ergeben sich dabei aus Besucherstatistiken mit soziodemographischer Datenabfrage, der Zahl und dem Typus der gebuchten Führungen oder Teilnehmerzahlen von pädagogischen 20 Vgl. Klein (wie Anm. 6), S. 502f. 21 Ebd., S. 506. 22 In diesem Zusammenhang kann auf die „Agenda Setting Hypothese“ verwiesen werden, die besagt, dass insbesondere die Medien bestimmen, mit welchen Themen sich das Publikum beschäftigt. Vgl. Cornelia Simm: Besucherorientiertes Museumsmarketing. Hintergründe und Finanzierung. Berlin 2006, S. 74.
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Veranstaltungen. Da schon seit einigen Jahren sowohl die Kunsthalle Emden als auch das Museum in Bremen Marktforschungsstudien durchführen, werden deren Ergebnisse hier für die Beurteilung des Marketingerfolges mit heran gezogen. Die Besucherbefragungen zu beiden Ausstellungen fanden jeweils direkt vor Ort in den Museen statt. Der Studienaufbau fußte dabei auf einem Vergleich mit anderen Vergleichsanbietern (z. B. Museen) und Vergleichsangeboten (z. B. voran gegangene Ausstellungen). Seit längerem werden in der Kunsthalle Bremen zu jeder Event-Ausstellung Erfolgskontrollen und -messungen mittels Marktforschungsstudien betrieben, um Zielgruppenorientierung, Besuchergewinnung und -bindung zu optimieren. Die Studie zu „Monet und Camille“, die während der gesamten Ausstellungsdauer stattfand, wurde durch ein Projekt in Zusammenarbeit mit Studierenden der Bremer Hochschule realisiert. Die repräsentative Besucherbefragung23 fand als Zufallsstichprobe statt und wurde durch eine Vor- bzw. Nachuntersuchung ergänzt. Neben der Identifikation des realen Monet-Publikums wurden in den Befragungen auch die Themenfelder Marketing, Sponsoring, Serviceleistungen und Besucherzufriedenheit geprüft. Hinsichtlich des Monet-Publikums lag der Fokus der Kunsthalle Bremen auf der Kernzielgruppe Frau einschließlich Frauenvereine und -verbände. Mit Hilfe der Produktvariation sollten außerdem neue Zielgruppen erschlossen werden. Jüngere Gäste bildeten das Wunschpublikum und sollten durch spezifische Programmangebote aktiviert werden. Die tatsächliche Altersstruktur der erreichten Zielgruppensegmente entsprach allerdings dem bekannten Muster. Es wurden überwiegend Personen ab einem Alter von 40 Jahren und weniger die jüngeren Altersgruppen erreicht. Der Anteil an weiblichen Gästen stieg während der Monet-Ausstellung von sonst 60 auf 70 Prozent an. Der Anteil an Besucherinnen, die als Mitglieder einen anderen Kunstverein oder Freundeskreis repräsentierten, steigerte sich von sonst ca. 60 auf über 80 Prozent. 80 Prozent der Befragten kamen aus dem überregionalen Bereich, vorwiegend als Tagestouristen. Die Zahlen belegen insgesamt, dass die Kunsthalle die angestrebten weiblichen und überregionalen Zielgruppen mit „Monet und Camille“ erreichte, die jüngere jedoch nicht, obgleich ein nennenswerter Anteil jüngerer Gäste aus dem Bremer Umland als Erstbesucher zu verzeichnen war. Was die Erfüllung der ökonomischen Marketingziele angeht, wurde die Zielsetzung der Besucherzahlerhöhung und Imagesteigerung in Bremen mit mehr als 230.000 Monet-Besuchern eindeutig erreicht. Mit der hohen Besucherfrequenz ging auch ein finanzieller Gewinn einher. So wurden die ökonomischen Ziele des Museums sogar übererfüllt.
23 Es handelte sich um Marktforschungsstudien, die in eine offizielle Auswertung (2006) mündeten. Quelle: http:// www.region-handel.hsbremen.de./Material/Monet _Zusammenfassung_3-Phasen.pdf (20.1.2008).
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Auch die Marketingziele mit psychographischem Bezug konnten mit der Sonderausstellung realisiert werden: Das professionell betriebene Merchandising sowie angebotene Werbeprodukte, die im Corporate Design der Ausstellung gestaltet waren, führten zu einem hohen Wiedererkennungswert mit Imageerweiterung. Außerdem zeigte sich das Publikum offener in seinem Konsumverhalten, was sich wiederum in den hohen Umsatzzahlen widerspiegelte. Die Zusammenarbeit mit vielen Wirtschafts-, Bildungs- und Kultureinrichtungen löste neue Synergieeffekte in Bremen und Umgebung aus. Somit profitierten auch der Handel und die Wirtschaftsunternehmen Bremens von dem Besucherzulauf während dieser Sonderausstellung, und der Standortfaktor erfuhr eine durchaus quantitativ messbare Aufwertung. Bei der Beurteilung der qualitativen Aussagen zur Ausstellung und ihrem Inhalt überwiegen positive Stellungnahmen. Die Gesamtbeurteilung der Ausstellung durch das Publikum spiegelt eine sehr hohe Besucherzufriedenheit wider. Die Gesamtheit der Antworten verdeutlicht allerdings einmal mehr, dass auch im Nonprofit-Sektor ein guter Service vom Publikum erwartet wird. Hieraus können Möglichkeiten und Vorschläge für infrastrukturelle Verbesserungsmaßnahmen gefolgert werden. Seit einigen Jahren findet auch in der Kunsthalle in Emden eine regelmäßige Marketingkontrolle in Form von Besucherbefragungen statt. Während der Munch-Ausstellung wurde ebenfalls eine stichprobenartige Kontrolle in drei Befragungsblöcken von jeweils vier bis fünf Tagen realisiert. Rund 630 Fragebögen wurden von den Ausstellungsbesuchern beantwortet. Die Ergebnisse lieferten Auskünfte über die Besucherstruktur sowie -herkunft, über Besucherverhalten und -einstellungen, Aspekte des Sponsorings, die Markenwahrnehmung und Werbewirksamkeit. Da es sich allerdings lediglich um einen internen Vergleich handelte, flossen die Befragungsergebnisse nicht in eine offizielle Auswertung ein. Die unveröffentlichten Dokumente der Munch-Befragungen bilden die Grundlage für die nachstehende kurze Zielbetrachtung. In Bezug auf das ermittelte Besucherprofil stellte sich heraus, dass mehr als 70 Prozent der Befragten den drei Altersgruppen ab 50 Jahren angehörten. Den größten Anteil mit 33 Prozent bildeten die über 60-Jährigen. Dagegen war das jüngere Publikum mit lediglich 12 Prozent auffallend gering vertreten. Jugendliche zwischen 14 und 19 Jahren verzeichneten sogar einen Nullwert. Bei der Frage nach dem Geschlecht wurde mit 67 Prozent eine eindeutige Dominanz der weiblichen Gäste ermittelt. Die „Wunschzielgruppe“ Familien mit Kindern (unter 14 Jahren) bildete einen Anteil von 19 Prozent. Dies stellte eine leichte Steigerung dar. Die Hälfte der Befragten waren Akademiker mit gesichertem Einkommen. Außerdem gaben fast 90 Prozent an, dass sie speziell wegen „Munch“ nach Emden gekommen waren. Bei der Kreuzabfrage zum Motiv für den Ausstellungsbesuch dominierte das „Bildungs- und Kunsterlebnis“ gegenüber dem „Freizeit- und Urlaubserlebnis“.
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Hieraus lässt sich schließen, dass die meisten Besucher Emdens nach dem traditionellen Bildungsmotiv und nicht nach einem „Spaßfaktor“ verlangten. In Bezug auf die Einzugsgebiete der Kunsthalle bestätigten sich die Zielannahmen: Allein 50 Prozent der Munch-Besucher kamen tatsächlich aus der umliegenden Region. Die maximale Reichweite spannte einen Bogen von 150 km. Die Annahme, dass es sich bei vielen Gästen um Tagestouristen handeln würde, wurde mit einem Anteil von 74 Prozent deutlich bestätigt. Es zeigt sich, dass es der Kunsthalle in Emden mit dieser Sonderausstellung gelang, als Kernpublikum vor allem die „treuen Wintergäste“ zu erreichen. Viele Besucher kannten das Museum bereits und entsprechen dem Profil des klassischen Museumsgängers bzw. besser der Museumsgängerin. Die ermittelten Daten belegen den regionalen sowie überregionalen Erfolg dieser Sonderausstellung. Gleichsam wurde mit der hohen Anzahl an Tagestouristen bestätigt, dass die Marketingabteilung mit ihren Ansätzen in der Zielplanung richtig lag. Trotz des in der Öffentlichkeit vermittelten Eventcharakters überwog bei den Besuchern das Bedürfnis nach Bildungszuwachs in der älteren Generation. 38 Prozent der Befragten gaben an, dass sie wegen der Munch-Ausstellung zum ersten Mal das Museum in Emden besuchten. Im Gegensatz zum Museum in Bremen ist es bei der Kunsthalle in Emden kaum möglich, quantitative Auskünfte über die Verwirklichung der Marketingziele bei der Munch-Ausstellung zu geben. Zwar wurde der Versuch unternommen, mit Hilfe eines zweiten, selbst entwickelten Fragebogens weitere Informationen über die Verwirklichung der inhaltlichen Zielsetzungen zu ermitteln. Viele Fragen konnten allerdings nicht beantwortet werden. Das ökonomische Ziel der Erhöhung der Besucherzahlen wurde von der Kunsthalle in Emden im Rahmen der Munch-Ausstellung mit mehr als 120.000 Besuchern nicht nur erreicht, sondern bei weitem übertroffen. Damit war diese Sonderausstellung das bislang erfolgreichste Projekt des Hauses. Mit den Eintrittsgeldern und 12.000 abgesetzten Exemplaren des Ausstellungskatalogs konnte auch der finanzielle Bedarf gedeckt und eine Art Polster für zukünftige Projekte geschaffen werden. Die hohe Publikumsfrequenz stellt in der Kunsthalle einen zentralen Faktor für die Bewertung des Institutionserfolges dar und wird als Bestätigung der Qualität der Ausstellung und der Besucherfreundlichkeit des Hauses angesehen. Zur Erfüllung der inhaltlichen Marketingziele zeigten sich folgende Ergebnisse: Die Tatsache, dass viele große Wirtschaftskonzerne (EWE, Commerzbank, EON Ruhrgas oder Exxon Mobil) dem verhältnismäßig kleinen Museum moralische wie finanzielle Unterstützung leisteten, bestätigt einen Erfolg. Hinsichtlich der Sponsorenbindung und -gewinnung, der Steigerung des Bekanntheitsgrades, einer Imageverbesserung und -erweiterung sowie der Besucherbindung und -erschließung konnten die inhaltlichen Zielsetzungen nach den Angaben der Mit-
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arbeiterschaft erreicht werden.24 In Bezug auf die Vermittlungsarbeit wurde auch von Seiten der Museumspädagogik eine hohe Publikumsresonanz bestätigt: „Während der Munch-Ausstellung realisierten wir 733 Erwachsenenführungen, 286 Schülerführungen, davon 142 Führungen mit praktischem Anteil und 119 Kinderführungen.“ Das große Interesse an den pädagogischen Programmangeboten – gemessen an der Teilnehmerbereitschaft – kann als Erfolg bewertet werden. Darüber hinaus herrschte während der gesamten Ausstellungsdauer eine hohe Medienresonanz. Im Hinblick auf ermittelte Daten zum Medien-Nutzen-Verhalten der Ausstellungsgäste offenbarten die Befragungen einen Misserfolg: Die Inanspruchnahme des Audio-Guides auf Niederländisch und Englisch ergab einen „Nullwert“. Diese Nicht-Inanspruchnahme konnte im Nachhinein auf die fehlende Vermittlung des Informationsmediums durch das Museumspersonal zurück geführt werden. Auch das Kooperationsangebot zwischen der Kunsthalle in Emden und der Deutschen Bahn wurde, aufgrund der bevorzugten Anreise mit dem privaten PKW, wenig genutzt. In Bezug auf die Markenwahrnehmung der Institution durch die Befragten wurde ein sehr zufrieden stellendes Ergebnis ermittelt. Knapp 90 Prozent der Erstbesucher gaben an, dass sie gern wieder kommen möchten. Festzustellen ist damit, dass es der Kunsthalle in Emden gelang, bei der Munch-Ausstellung die anvisierten Marketingziele zu verwirklichen. Die Erfolgsmessung, die Aufnahme und Bewertung der Wirksamkeit von Markenaktivitäten und die Erforschung der Besucherzufriedenheit fanden während dieser Sonderausstellung sporadisch und nicht repräsentativ statt. Die Besucherzahlen wurden in der Zielplanung als IstWert erhoben und nach Abschluss der Sonderausstellung mit dem Soll-Wert verglichen. Die erzielten „Besucherrekordzahlen“ wurden vom Marketingteam als entscheidendes Feedback zur Beurteilung des Institutionserfolges herangezogen. Beim Erfolg einer Kunstausstellung geht es aber nicht allein um „Masse“, sondern auch um Qualität. Die Beurteilung der angebotenen Programme und Dienstleistungen lässt sich nicht nur an der Besucherfrequenz festmachen. In Emden ließ der Studienaufbau der Befragungsbögen keine Bewertung der Ausstellungsinhalte, des Konzepts oder der Serviceleistungen zu. Folglich geben die hier vorgestellten Ergebnisse zur qualitativen Erfolgsbewertung weit gehend die Perspektive der Museumsmitarbeiter, nicht aber die der Ausstellungsbesucher wieder. Während der gesamten Ausstellungsdauer bestand ein starkes Interesse seitens der Medien (Presse, Rundfunk, Fernsehen). Diese hohe Medienresonanz kann als Erfolg eingestuft werden, denn Aufmerksamkeit entsteht nur, wenn Marketingmaßnahmen eingesetzt werden, die sich von denen der Konkurrenz abheben und dadurch das Interesse auf sich ziehen.
24 Vgl. http://kunsthalle.conne.net. (11.2.2008).
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Der hohe Altersdurchschnitt der erreichten Zielgruppen ist jedoch negativ zu werten: Das Ergebnis offenbart, dass es der Kunsthalle nicht gelungen ist, die jüngeren Kunstinteressierten der Region für „Munch“ zu begeistern und zu binden. Diese Tendenz fällt um so mehr ins Gewicht, da Kunstmuseen mit Sammlungen moderner und zeitgenössischer Kunst im Allgemeinen ein eher jüngeres Publikum anziehen. So entspricht der geringe Anteil an Besuchern unter 30 Jahren weder dem Leitbild noch der Gesamtzielsetzung der Kunsthalle als „innovatives Museum“. Es bleibt die Frage, ob sich der Fokus bei der Zielgruppendefinition zukünftig ganzjährig auf ein neues, jüngeres Publikum wird richten können. Aus der Erfolgsüberprüfung anhand von Sekundärquellen beider Häuser wird deutlich, dass sich die untersuchten Sonderausstellungen zu einem publikumswirksamen Ausstellungserlebnis entwickelt haben. Nicht zuletzt ist dieser Erfolg damit zu begründen, dass in beiden Kunsthallen die Aspekte Kommunikation, Bewerbung, Vermarktung, Budgetierung, Finanzierung und das Marketing als Schwerpunkte der eigenen Tätigkeiten im Museumsalltag der Mitarbeiter begriffen werden. Das bedeutet, dass eine aktive Marketingkommunikation betrieben wurde, spezifische Ziele angestrebt, Zielgruppen individuell angesprochen sowie erreicht und dass – neben den kommunalen Zuschüssen – viele Drittmittel selbst erwirtschaftet werden konnten. Im Hinblick auf die Produkt- und Programmgestaltung vergrößerte sich dadurch das marketinginstrumentelle Handlungsspektrum bei beiden Sonderausstellungen auf entscheidende Weise. Dabei konnte das Handlungskonzept für die Marketinganalyse, das diesem Beitrag zu Grunde liegt und als Orientierungsrahmen für die strukturierte Untersuchung der Produktpolitik diente, auf beide Museen übertragen werden. Die Besucherrekordzahlen, die für beide Museen die entscheidende Resonanz zur Beurteilung des Institutionserfolges darstellten, wurden argumentativ in der PR-Arbeit gegenüber bestehenden wie potentiellen Kunstförderern eingesetzt. Ferner bestätigten die Ergebnisse der Marketingkontrolle, dass auch die finanziellen Ziele in beiden Museen mehr als erfüllt wurden. Nicht zuletzt signalisiert eine Befragung an sich schon Besucherorientierung: Der Besucher erkennt, dass sich die Institution für das Publikum interessiert, an dessen Meinung und Hilfe zwecks Verbesserung des Angebotes interessiert ist, was sich wiederum auf die Imagewahrnehmung positiv auswirken kann. Wichtig ist, dass die Befragungen im Anschluss nicht nur ausgewertet, sondern auch bei der Planung zukünftiger Projekte berücksichtigt werden. Dies ist in beiden Häusern der Fall. Weiterhin bestand bei beiden Sonderausstellungen bezüglich der Positionierung ein überaus großes Interesse beim Publikum und in den Medien. Diese hohe Resonanz in der Öffentlichkeit kann zumindest teilweise auf die präsentierten Künstler der klassischen Moderne zurück geführt werden, was einem Trend des etablierten Museumspublikums zu entsprechen scheint. Bei der Positionierung des Kernprodukts wurde ganz offenbar der allgemeine Publikumsgeschmack getroffen.
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Insgesamt waren die Besucher Emdens älter als die in Bremen. Dieses Ergebnis lässt zweierlei Interpretationen zu. Einerseits hat Emden und die direkte Umgebung, was das jüngere kunstinteressierte Publikum betrifft, kein vergleichbares Potential zu einer (Groß-) Stadt wie Bremen. Zum anderen besteht in der Kunsthalle Emdens eine starke Besucherbindung. Die Stammgäste kommen schon seit der Gründung des Hauses in die Kunsthalle und sind sozusagen mit dem Museum älter geworden. So wäre es denkbar, dass man durch eine altersspezifische Angebotsstrategie jüngeres Neupublikum gewinnt. Das ist eine Herausforderung, der sich nicht nur die Kunsthalle in Emden, sondern auch das Museum in Bremen zu stellen hat.
Muse um c ontra Eve ntk ultur? Zur Doppela uss tellung „ He iliges Römisc hes Re ic h De utsc he r Nation 9 62 bis 18 06“ in Ma gde burg und Berlin TOBIAS MÜLLER Historische (Sonder-)Ausstellungen, die seit mehr als 30 Jahren Konjunktur haben, durchlebten eine eigene Genese, in der äußere Umstände, etwa politischer, kultureller oder sozialer Art, Einfluss auf sie ausübten. Dann waren sie ständigen Wandlungen unterworfen wie auch die Museen selbst. In den letzten 15 Jahren etwa erfolgten spektakuläre, mit hohem finanziellen und Werbeaufwand realisierte Neuöffnungen von Geschichtsmuseen und -ausstellungen einerseits, die das Bild des Geschichtsmuseums in der Öffentlichkeit sowie die Erwartungshaltung der Besucher prägten. Andererseits gab es Einsparungen, Besucherrückgang und Verödungserscheinungen dort, wo das finanzielle Engagement abnahm.1 Vor dem Hintergrund dieser knapp zu skizzierenden Entwicklung soll die 2006 im Kulturhistorischen Museum in Magdeburg und im Deutschen Historischen Museum in Berlin gezeigte Schau „Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962 bis 1806“ genauer betrachtet werden. Ein besonderes Augenmerk liegt auf dem Magdeburger Ausstellungsteil, der sich mit der Geschichte des Heiligen Römischen Reiches von Otto dem Großen bis zum Ende des Mittelalters beschäftigte. Dabei geht es vor allem um die Frage, wie gegenwärtig mit einem historischen Thema im Museum umgegangen wird, inwiefern die Nutzung von Eventstrukturen dabei einer Ausstellung zum Erfolg verhelfen kann und wie Erfolg an dieser Stelle überhaupt definierbar ist. Bei der Betrachtung des zum Schlagwort entwickelten Komplexes Event entstehen schnell grundsätzliche Fragen wie: Was haben eigentlich Events mit dem Museum zu tun? Geht es hier allein um Vermarktung? Bilden große Museen dabei Ausnahmen in Deutschland, weil sie nach anderen Prinzipien arbeiten als 1
Vgl. Andreas Urban: Von der Gesinnungsbildung zur Erlebnisorientierung: Geschichtsvermittlung in einem kommunalen historischen Museum im 20. Jahrhundert. Schwalbach/Ts. 1999, S. 216.
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kleinere? Rasch wird jedoch klar, dass die Thematik des Events nicht auf die großen Häuser beschränkt ist. Museen und Ausstellungen insgesamt bedienen sich dieses Wortes und der damit zusammenhängenden Assoziationen ebenso wie viele weitere Branchen, insbesondere natürlich der Marketing- und Veranstaltungssektor. Das Event als besonderes Erlebnis hat inzwischen in allen Bereichen Fuß gefasst, damit aber auch eine gewisse Beliebigkeit erlangt. Zugleich ist der Trend im gesamten Museumsbereich hin zur Sonderausstellung im Rahmen der sogenannten Erlebnisgesellschaft Teil der Betrachtung. Seit Gerhard Schulze sie 1992 als besonderen Forschungsgegenstand in die Diskussion eingeführt hat,2 spielt die Erlebnisgesellschaft eine große Rolle in der Museumspraxis, wird aber immer sporadischer diskutiert. Seit etwa 20 Jahren wird allgemein ein erlebnishafter Museumsbesuch als erstrebenswertes Ziel der Museumspolitik angesehen, gleichzeitig werden die breite Streuung der Publikumsstrukturen und deren spezifische Zugangsbarrieren attestiert.3 Viele museale Einrichtungen sind angesichts der von erlebniskulturellen und massenmedialen Angeboten geprägten Rezeptionsbedürfnisse der Besucher noch stärker als zuvor in die Defensive geraten, weil sie diesen Bedürfnissen wegen fehlender Mittel oder anders ausgerichteter Konzepte nicht entsprechen können oder wollen. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts sind Sonderausstellungen mit zunehmender Bedeutung neben die ständige Ausstellung getreten.4 Seit den 1970er Jahren ergab sich zudem der Trend hin zur historischen Großausstellung.5 In der BRD tauchte der Begriff der Landesausstellung in Bezug auf historische Großausstellungen erstmals im Geleitwort zur Weserraum-Ausstellung im Kloster Corvey 1966 auf.6 Schon relativ kurz nach dem 2. Weltkrieg kann man allerdings Beispiele für große kulturhistorische Schauen in Deutschland finden – eine der bekannteren und bereits vom Europarat geförderten war die 1965 in Aachen gezeigte Ausstellung „Karl der Große“. Europaratsausstellungen, durch die „das Wissen
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Gerhard Schulze: Die Erlebnis-Gesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. 5. Aufl. Frankfurt/ M. 1995. Hans-Joachim Klein: Museumsbesuch und Erlebnisinteresse – Besucherforschung zwischen Kultursoziologie und Marketing. In: Museumskunde 50 (1985). H. 3, S. 143-156. Daran hatte auch der große Publikumserfolg, den diese Ausstellungen teilweise verbuchen konnten, einen Anteil, siehe G. Ulrich Grossmann: Nationalmuseum in Europa? Eventveranstalter oder Forschungseinrichtung? Eine Standortbestimmung. In: Museumskunde 66 (2001). H. 2, Museen: Portale zur Welt, S. 66-72, hier S. 67. Gottfried Korff: Zielpunkt: Neue Prächtigkeit? Notizen zur Geschichte kulturhistorischer Ausstellungen in der „alten“ Bundesrepublik. In: Alfons W. Biermann: Vom Elfenbeinturm zur Fußgängerzone: Drei Jahrzehnte deutsche Museumsentwicklung. Versuch einer Bilanz und Standortbestimmung. Opladen 1996, S. 53-83, hier S. 81. Die Bezeichnung Landesausstellung wurde zuvor auch für die Kunst- und Gewerbeausstellungen des späten 19. Jahrhunderts benutzt. Zur Zeit haben nur wenige Bundesländer in Deutschland eine eigene Institution Landesausstellung. Ebd., S. 59.
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und die Wertschätzung für europäische Kunst und Kultur europaweit gefördert werden“ sollten, fanden seit der Mitte der 1950er Jahre statt.7 Mit der Europaratsausstellung zu Karl dem Großen 1965 war eine klare politische Zielsetzung verbunden, die Demonstration der aktuellen Zusammengehörigkeit der BRD mit den neuen Verbündeten nach dem Ende des 2. Weltkriegs.8 Die Staufer-Ausstellung in Stuttgart 1977 sollte, so die kulturpolitische Begründung, Defiziten im Geschichtswissen der Deutschen und damit der Gefahr einer geschichtslosen Zeit entgegenwirken.9 Das als Anlass gefundene Jubiläum hatte nichts mit dem eigentlichen Thema zu tun, sondern war das 25jährige Bestehen des Landes Baden-Württemberg. „Wie wenig die Dynastie der Staufer selbst die Kultur ihrer Epoche geprägt hat, bewies die Ausstellung [...] deutlich [...]. Da aber das 25jährige Bestehen von Baden-Württemberg zu feiern war, mußte ein Vorwand für eine bedeutende kulturelle Manifestation gesucht werden.“10 Trotzdem wird von dieser Schau die durch Politiker gestützte Ausstellungsbewegung der folgenden Jahre abgeleitet: „Wahrscheinlich war es nicht zuletzt die gewollte oder augenscheinliche Legitimierung des heutigen Bundeslandes BadenWürttemberg durch den opulenten Blick auf die stauferzeitliche Vergangenheit Südwestdeutschlands, die das ,Medium‘ Ausstellung in den Augen der erwähnten Politiker so attraktiv macht.“11 Weitere große kulturhistorische Ausstellungen folgten 1981 in Berlin mit „Preußen – Versuch einer Bilanz“, 1985 in Braunschweig mit „Stadt im Wandel“ und 1992 mit der Salier-Ausstellung in Speyer. In all diesen Schauen wurden historische Ereignisse, Persönlichkeiten und Entwicklungen mit einer klaren Intention in eine bestimmte Richtung gedeutet.12 Die Vorgänger-Exposition der Ausstellung „Heiliges Römisches Reich“, die Schau „Otto der Große, Magdeburg und Europa“ 2001, hatte ganz explizit eine kulturpolitische Dimension: Sie sollte Sachsen-Anhalt helfen, einen angemessenen Platz zwischen den 16 Bundeslän7
Matthias Puhle: Historische Großausstellungen und ihre kulturpolitische Bedeutung. In: Otto der Große, Magdeburg und Europa. Auf den Spuren Ottos des Großen. Die 27. Ausstellung des Europarates und Landesausstellung Sachsen-Anhalts im Kulturhistorischen Museum Magdeburg und die Tourismusprojekte des Landes Sachsen-Anhalts [sic!] im Jahr 2001. Magdeburg 2002, S. 7-13, hier S. 7. 8 Ebd., S. 8. 9 Ebd. 10 Peter Kurmann: Die Zeit der Staufer. Bemerkungen zur Ausstellung im Württembergischen Landesmuseum Stuttgart. In: Kunstchronik 30 (1977). H. 12, S. 505517, hier S. 505. 11 Hartmut Boockmann: Geschichte im Museum? Zu den Problemen und Aufgaben eines Deutschen Historischen Museums. München 1987, S. 28. 12 Detlef Hoffmann: Die Fackel der Wahrheit. Zur Geschichte einer Geschichtsausstellung. In: Journal für Geschichte 3 (1981). H. 4, S. 28-35, hier S. 31; ders.: Happy Preussen. Durchaus persönliche Anmerkungen zu einer Superausstellung. In: Journal für Geschichte 3 (1981). H. 6, S. 38-40, hier S. 40; Puhle (wie Anm. 7), S. 9; Gottfried Korff: Bildung durch Bilder? Zu einigen neueren historischen Ausstellungen. In: Historische Zeitschrift 244 (1987). S. 93-113, hier S. 109.
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dern zu finden. Dazu diente eben ein Rückblick auf die mittelalterlichen Wurzeln und die damals herausragende Bedeutung der Region. Ziel der hier im Mittelpunkt stehenden Folge-Ausstellung 2006 war es, die fehlende Identifikation der Bewohner mit ihrem Land Sachsen-Anhalt, die hohe Arbeitslosigkeit und den Status, eines der ärmsten Bundesländer zu sein, hin zum Positiven zu beeinflussen.13 Die großen kulturhistorischen Ausstellungen waren und sind, so wird rasch deutlich, seit den 1970er Jahren ein selbstständiger kulturpolitischer Faktor. Die Staufer-Ausstellung von 1977 war die bisher erfolgreichste Landesausstellung und die erste massive Manifestation des Mittelalterinteresses, andererseits fiel sie in eine Zeit, die im Museumsbereich von der Diskussion um den Bildungsauftrag der eigenen Institution geprägt war. In ihrer Gestaltung war die Staufer-Ausstellung noch stark dem Vorbild des Kunstmuseums verhaftet. So zeigte man eine „rein additive Aufreihung der Objekte und deren Schematisierung nach abstrakten Gesichtspunkten“14. So wurden „lange Serien von äußerlich gleichförmigen Objekten“15 wie beispielsweise Siegeln oder Abendmahlskelchen präsentiert, deren Attraktivität für den nicht speziell interessierten Besucher auch damals schon angezweifelt wurde. Zwei Zitate zur Staufer-Ausstellung könnten ähnlich auch über die Magdeburger Ausstellung geschrieben worden sein. Das erste nimmt sich der gesamten Schau an: „In der Rückschau erscheint das Ganze paradox: eine ausgesprochen fachspezifisch orientierte Ausstellung wurde zum Massenerfolg.“16 Das zweite urteilt über einen Teil der gestalterischen Umsetzung: „In der Abteilung Buchmalerei erschwerte die Anordnung der Handschriften in zwei Reihen übereinander das Betrachten der unteren Reihe.“17 Bei der Schau „Die Parler und der Schöne Stil 1350 – 1400. Europäische Kunst unter den Luxemburgern“, die 1978/79 in Köln gezeigt wurde, sowie bei der kurz zuvor in Nürnberg angebotenen historischen Ausstellung über „Kaiser Karl IV.“ waren ein Teil der bei beiden Schauen gezeigten Ausstellungsstücke18 und teils sogar die Personalien identisch. Auch hier war es möglich, nie zuvor zusammen gesehene Stücke zu vergleichen, doch ohne lange Reihungen gleichartiger Stücke.19 „Sie war eine großartige Leistung und wir werden wohl nicht so bald wieder so viele und so bedeutende Kunstwerke dieser Epoche in einer schö-
13 So Matthias Puhle in einem vom Autor mit ihm am 31.1.2007 geführten Interview. 14 Helga Georgen: Geschichte als Kontinuität der Sieger. Zur Ausstellung „Die Zeit der Staufer“. In: Kritische Berichte 5 (1977). H. 4/5, S. 73-83, hier S. 76. 15 Hartmut Boockmann: Die Stuttgarter Staufer-Ausstellung. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 29 (1978). H. 1, S. 31-38, hier S. 34. 16 Kurmann (wie Anm. 10), S. 506. 17 Ebd., S. 508. 18 „Dieselben Objekte wurden in Nürnberg in einen historischen Zusammenhang eingeordnet, in Köln dagegen als Kunstwerke präsentiert.“ Hartmut Boockmann: Karl IV., die Parler und der schöne Stil ausgestellter Geschichte. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 31 (1980). H. 4, S. 230-243, hier S. 230. 19 Ebd., S. 234.
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nen, angenehmen Darbietung vereint finden.“20 Hier klingt Dank für die zusammengetragenen Objekte an, eine angemessene Aufbereitung in der Ausstellung scheint jedoch eher zweitrangig. Die 1981 in Berlin durchgeführte Preußen-Ausstellung arbeitete explizit mit Inszenierungen – mit der Gestaltung wurde ein Bühnenbildner beauftragt. Dadurch wurde die Tatsache, dass jeder Umgang mit Geschichte Interpretation ist, aktiv in das Ausstellungskonzept eingebunden. Man wollte kein abgeschlossenes Geschichtsbild präsentieren, sondern durch die Gegenüberstellung von gegeneinander stehenden Meinungen und Thesen ein Nachdenken in Gang setzen.21 Auch bei dieser Ausstellung wurde die Einmaligkeit der Zusammenschau gelobt. Diese Eigenart scheint für jene Art von Schauen symptomatisch: Wenn man schon eine Großausstellung organisiert, dann muss offenbar auch immer die Fülle der Exponate erschlagend groß sein, unabhängig vom damit erreichten Aussagewert der Zusammenstellung. Die zunehmende Erlebnisorientierung der Gesellschaft wird, unabhängig von ihrem Schlagwortcharakter, allgemein als eine gravierende Herausforderung an das Museumswesen angesehen.22 „Die Notwendigkeit, der Museumsarbeit durch den Stimulus des Neuartigen [...] einen zusätzlichen Reiz zu verleihen, zwingt die Verantwortlichen dazu, sich den Herausforderungen der Erlebnisgesellschaft zu stellen.“23 Dabei verkompliziert die übermäßige begriffliche Verwendung des Events in Medien, Werbung oder Marketing die Sachlage zusätzlich. Man kann das Erlebnis als ein Ereignis definieren, das zu gefühlsbetonter, spontan empfundener Beeindruckung führt, die zeitlich nachwirkt und Einstellungs- oder Verhaltensänderungen auslösen kann. Das Event kann dann als eine Art Steigerung des Erlebnisses, hin zum Außergewöhnlichen, bezeichnet werden. Im Marketing versteht man generell inszenierte Ereignisse sowie deren Planung und Organisation als Events. Sie sind öffentliche, nicht permanente, verschiedenste Medien verbindende, meist an einen besonderen Ort gebundene, einzigar-
20 Hermann Fillitz: Die Ausstellung „Die Parler und der Schöne Stil 1350-1400. Europäische Kunst unter den Luxemburgern“. In: Kunstchronik 32 (1979). H. 10, S. 362-366, hier S. 366. 21 Manfred Schlenke: Von der Schwierigkeit, Preußen auszustellen. Rückschau auf die Preußen-Ausstellung Berlin 1981. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 33 (1982). H. 9, S. 550-567, hier S. 556. 22 Jana Haaße: Möglichkeiten zur Erhöhung der Attraktivität von Museen vor dem Hintergrund zunehmender Erlebnisorientierung in der Freizeit- und Urlaubsgestaltung. Diplomarbeit FH Braunschweig/Wolfenbüttel 2005, S. 1. Vgl. auch Carsten Lenk: Museum, Kaufhaus, Freizeitpark – Die gesellschaftliche Konstruktion von Erlebnisräumen. In: Bärbel Kleindorfer-Marx und Klara Löffler (Hg.): Museum und Kaufhaus: Warenwelten im Vergleich. Regensburg 2000, S. 49-66, hier S. 49f. 23 Urban (wie Anm. 1), S. 218.
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tige, ein bestimmtes Thema betreffende und auf ein großes Publikum ausgerichtete Veranstaltungen.24 Insofern kann eine Arbeitsdefinition für den Bereich Event im Museum lauten: Ein Event ist eine (Sonder-)Ausstellung, die ein bestimmtes Thema aufgreift und aufbereitet, um es in einer meist über wenige Wochen bis Monate dauernden Präsentation zu zeigen. In dieser Form der Sonderschau werden Besucherzahlen von 100.000 bis hin zu einem Millionenpublikum eingeplant. Dafür wird im Vorfeld intensiv Werbung betrieben, vielfache Marketingaktionen unterstützen diese. Die Räumlichkeiten des Museums bzw. der Ausstellungsort werden speziell für die Schau gestaltet, man entwickelt ein Corporate Design, um über Flyer und Poster, aber auch wissenschaftliche Begleitbände nach außen ein geschlossenes Wahrnehmungsbild und somit einen Wiedererkennungseffekt zu erzeugen. Die gesamte Ausstellung wird erlebnisorientiert aufbereitet, meist nach außen als Einmaligkeit, als absolut besonders und außergewöhnlich dargestellt. Für sich genommen sind solche Merkmale nicht unbedingt neu. Sie finden sich bereits bei den Weltausstellungen vor 150 Jahren, bei den großen Kunstschauen wie der documenta, ebenso in den historischen Großausstellungen der 1970er und 1980er Jahre. Dennoch ist das Event als Zeichen eines soziokulturellen Wandels und zugleich als Neuerung zu betrachten, die sogenannte Eventisierung in der (Populär-)Kultur als innovative Erscheinung.25 Mit der für Schulzes Erlebnisgesellschaft angenommenen Herausbildung eines Erlebnismarktes, auf dem Erlebnisproduzenten und -konsumenten interagieren, wird die aktuelle Situation deutlicher. Die Individuen verlangen verstärkt nach Erlebnissen, die sie aus ihrem Alltag befreien,26 und die Erlebniskomponente tritt in allen Bereichen in den Vordergrund.27 In diesem Zusammenhang spielen die Medien in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen eine große Rolle. Mit der Präsentation eines Ereignisses verbinden sich Konzentrations- und Selektionsprozesse, die sich massiv auf die Wahrnehmung auswirken.28 Von den Medien hängt also die Rezeption des Mediennutzers sehr weit gehend ab. Die Eventisierung hat, dies ist zweifelsfrei zu konstatieren, auch die Museumslandschaft 24 Nach Heike Triebel: Neue Rechtsform – neues Museum? Ein internationaler Vergleich am Beispiel Hamburger Kunsthalle und Groninger Museum. Magisterarbeit Oldenburg 2002, S. 21f. 25 Andreas Hepp und Waldemar Vogelsang: Ansätze einer Theorie populärer Events. In: dies. (Hg.): Populäre Events: Medienevents, Spielevents, Spaßevents. Opladen 2003, S. 11-36, hier S. 12. 26 1990 bezeichneten sich 43 % der deutschen Bevölkerung als zugehörig zur Gruppe der Erlebniskonsumenten, 2000 bereits 49 %. Horst W. Opaschowski: Wir werden es erleben. Zehn Zukunftstrends für unser Leben von morgen. Darmstadt 2002, S. 236. 27 Schulze (wie Anm. 2), S. 422. 28 Nina Burkhardt, Stefanie Hoth, Martin Steinseifer und Marion Tendam: Wie machen die Medien ein Ereignis? Ein Leitfaden durch die Ausstellung. In: Unvergessliche Augenblicke: Die Inszenierung von Medienereignissen. Ausst.-Kat. Frankfurt/M. 2006, S. 16-21, hier S. 16.
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erfasst. In Hinblick auf deren typische Kennzeichen findet man auf den ersten Blick kaum Unterschiede zu früheren Ausstellungen. Jedoch spielen gerade Medien aktuell eine ungleich größere Rolle, die Inszenierung durch und über sie ist für den Erfolg einer Exposition immens wichtig.
Die Doppelausstellung „Heiliges Römisches Reich“ 2006 in Magdeburg und Berlin Merkmale der Eventisierung lassen sich leicht auch auf die Magdeburger Ausstellung übertragen. Öffentlichkeit, auf eine bestimmte Zeitspanne begrenzte Präsentation an einem festgesetzten Ort, ein fest umgrenztes Thema verarbeitend, Ausrichtung auf großes Publikum, kommerzielle Nutzung – all diese Eigenschaften konnte man auch dort finden. Bei der Verbreitung von Informationen in der Vorbereitung der Ausstellung konnte das Kulturhistorische Museum Magdeburg auf eine gewisse Erfahrung verweisen, da es bereits mehrfach Ausstellungen mit historischer Themenstellung präsentiert und sich einen Ruf als Standort für Mittelalterausstellungen erarbeitet hatte. Presseberichte waren und sind dabei ein häufig genutzter Weg, über eine lange Zeit Aufmerksamkeit zu erzeugen und auf die Ausstellungseröffnung hin zu steigern. Im untersuchten Fall lässt sich zeigen, wie eine Spannung langsam aufgebaut und die Öffentlichkeit über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr immer wieder über die Ausstellung informiert wurde. Die intensivere Berichterstattung zur Doppelausstellung begann ab etwa einem Jahr vor dem eigentlichen Ausstellungsbeginn.29 Die meisten Artikel schrieben wenig zur Ausstellung an sich, sondern eher über über historische Zusammenhänge und über die erwarteten bedeutenden Exponate. Dieser Fokus nicht auf die Sinnhaftigkeit der Konzepte oder ihren Zweck bzw. auf den Nutzen für die Besucher, sondern auf die Einmaligkeit der Objekte und ihre Zusammenführung diente einem bestimmten Ziel: „Sonderausstellungen mit möglichst spektakulärem Anstrich, [...] die Präsentation außergewöhnlicher Objekte etc. haben nicht zuletzt die Funktion, den Erlebnisanbieter Museum auf dem kulturellen Freizeitmarkt im Gespräch zu halten.“30 Dies lässt sich insbesondere auf den als einzigartig herausgestellten Codex Manesse beziehen: Er war von Beginn an „so wichtig für die Schau, weil er so weltweit berühmt ist“31. Von seiner Relevanz für das Heilige Römische Reich wurde nichts berichtet.
29 Schon zuvor jedoch waren vereinzelt Berichte zur geplanten Doppelausstellung zu finden, beispielsweise zu den Kosten der geplanten Ausstellung von geschätzten 8 Mio. € am 4.7.2002 oder über das wissenschaftliche Kolloquium zum Magdeburger Teil der Ausstellung vom 19. bis 22.5.2004, vgl. http://www.ahf-muenchen.de /Tagungsberichte/Berichte/pdf/2004/036-04.pdf (9.5.2007). 30 Urban (wie Anm. 1), S. 219. 31 In der Magdeburger Volksstimme, 4.8.2006.
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Die Werbung sollte ganz explizit auch Schichten einbeziehen, die keine historische Vorbildung besitzen, und einen Besucherkreis „neben dem klassischen Bildungsbürgertum und den Schulklassen“32 ansprechen. Dabei stand durchgängig im Vordergrund, herausragende Stücke in einer Ausstellung zu vereinen. Codex Manesse, Cappenberger Kopf oder Nürnberger Heiltumsschrein und Hofämterspiel waren nur einige der herausragenden Exponate. Damit näherte man sich bewusst den kunsthistorisch ausgerichteten Ausstellungen der 1970er und 1980er Jahre, die häufig dafür gelobt worden waren, erstmals die Gesamtschau von weit verstreuten und kaum zugänglichen Objekten ermöglicht zu haben. Zusätzlich zu den Printmedien wurde versucht, auf anderen Wegen einen großen Besucherkreis zu erschließen, auch durch außergewöhnliche Maßnahmen, etwa eine Postkartenverteilung im Rahmen des 20. katholischen Weltjugendtages in Köln, spezielle Aktionen in Magdeburg, um die Bevölkerung im Stadtbild auf die Schau aufmerksam zu machen (wie etwa die Beklebung einer Straßenbahn im Ausstellungsdesign) oder die Erstellung eines Sonder-Poststempels für alle Briefe, die das Magdeburger Briefzentrum verließen. Genauso benutzte man die Euphorie im Zusammenhang mit der Fußball-WM in Deutschland und verteilte Flyer, die mit einem diesbezüglichen Motiv die Ausstellung bewarben. Eine ungewöhnliche Marketingaktion erfolgte durch die Kooperation mit dem Spielzeughersteller Playmobil, der eine auf 20.000 Stück limitierte Figur des Magdeburger Reiters33 herstellte. Diese Sonderserie wurde erst ab der Eröffnung der Ausstellung und nur direkt im Magdeburger Museum angeboten, wodurch speziell Sammler und Kinder als potentielle Besuchergruppen erschlossen werden sollten. Eine weitere Werbeaktion war die Herstellung eines Sonderglases in limitierter Auflage in Kooperation mit der Brauerei Hasseröder. Infrastrukturelle Gegebenheiten führten dazu, dass diese Bemühungen in Magdeburg viel mehr auffielen, als dies vergleichbare Aktivitäten in Berlin vermocht hätten. Jedoch ging man in Magdeburg auch offensiver und kreativer an die Aufgabe heran, die Ausstellung publik zu machen, hielt die Ausstellung permanent im Fokus der Öffentlichkeit und trug damit nicht unerheblich zum Erfolg der Schau und zu der großen Besucherresonanz bei. Die immer wiederkehrende Erwähnung und die Verknüpfung der Ausstellung mit vielen verschiedenen medialen Bereichen sollte eine Atmosphäre schaffen, in der das Gefühl bei einer möglichst großen Zahl potentieller Besucher entstünde, „dabei gewesen sein zu müssen“, unabhängig von der Struktur und dem Inhalt der Ausstellung selbst. Und eben dieser Vorgang wird im Zusammenhang mit Event-Ausstellungen auch und gerade am Beispiel Museum beschrieben.34 32 So Matthias Puhle im Interview. 33 Das Reiterstandbild gilt als erste lebensgroße, freistehende Reiterstatue nördlich der Alpen. 34 Frederick van Koetsveld: Mega-Ausstellungen: Segen oder Qual. In: Mitteilungsblatt Museumsverband für Niedersachsen und Bremen 56 (1998), S. 31-40, hier S. 32f.
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Das Thema Event erhielt somit eine zentrale Bedeutung: Der Magdeburger Ausstellungsleiter Matthias Puhle zeigte allerdings eine eher ablehnende Haltung zu dieser Bezeichnung: „Es wird [...] sicher nicht wundern, wenn ich dem Begriff Event eher skeptisch gegenüber stehe“35. Er stellte aber schnell klar, dass die Ausstellung sowohl im Magdeburger Kulturhistorischen Museum als auch in der Stadt und dem Bundesland als besonderes Ereignis gesehen wurde. „Aber dass es ein Ereignis war [...], das würde ich unterstreichen. “36 Die Kategorie Event wurde also zwar angewendet, aber als Begrifflichkeit bewusst vermieden im Gefühl des Mitschwingens negativer Konnotationen. Dagegen wurde die Bezeichnung Ereignis gleichzeitig als Anerkennung betrachtet. Denn: „Es ist eine Auszeichnung, wenn man sagt, diese Ausstellung ist zum Ereignis geworden.“ Aus den Richtlinien des Europarates zu den von ihm mit seinem Namen versehenen Ausstellungen wird deutlich, dass es sich dabei um Kunstausstellungen handeln soll.37 Diese müssen „anhand von Kunstwerken die kulturelle Bedeutung einer Epoche oder eines Stiles, eines Künstlers oder einer Schule aufzeigen. Unterstrichen wird damit das Wechselspiel zwischen Kunst und Gesellschaft früher und heute.“38 Damit war von vornherein auch bei der Doppelausstellung in Magdeburg und Berlin der Blick auf kunsthistorische Weise vorgeprägt. Auch ‚ideologischer Hintergrund’ und historischer Rahmen der Doppelschau wurden durch den Europarat abgesteckt: „Das Heilige Römische Reich deutscher Nation war dezentral organisiert, mehrkonfessionell und vielsprachig. Es umfasste und prägte weite Teile des heutigen Europas und ist genau deswegen für die europäische Einigung von Bedeutung.“39 Deutlich wird das Ziel, die gemeinsame Geschichte des Kontinents in den Vordergrund zu rücken, Verbindendes und Einigendes zu betonen. Dazu wurden Brüche und dunkle Kapitel der Geschichte ausgeblendet, weggelassen oder an den Rand gedrängt. Wurde bei der Ausstellung Otto der Große 2001 von Kritikern das Ausklammern der Rezeptionsgeschichte bemängelt,40 so versuchte man diesen Kritikpunkt diesmal zu umgehen. Bereits im Vorfeld wurde betont, dass „die Verzerrungen durch nationalpatriotische und […] nationalsozialistische Sichtweisen auf diese Zeit“41 revidiert werden sollten. Der dazu vorgesehene Raum wurde jedoch gestalterisch und örtlich von der restli35 Zitat aus dem Interview mit Matthias Puhle. 36 Ebd. 37 http://www.coe.int/t/e/cultural_co%2Doperation/culture/action/exhibitions/3.activity. asp#TopOfPage (18.7.2007). Die Ausstellungen werden explizit als „art exhibitions“ bezeichnet! 38 http://www.coe.int/t/e/cultural_co%2Doperation/culture/action/exhibitions/Factsheet _DE.pdf (18.7.2007). 39 http//www.coe.int/t/e/cultural_co%2Doperation/culture/action/exhibitions/Factsheet _DE.pdf (18.7.2007). 40 Unter anderem in der ZEIT, http://www.zeit.de/2001/36/200136_ottonen.xml (30.1. 2007). 41 So Gabriele Köster, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kulturhistorischen Museum Magdeburg, in einem Interview im Museumsjournal 1 (2006), S. 12.
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chen Schau abgegrenzt, anfangs sogar durch eine geschlossene Tür, an der nur ein kleines Schild auf die dahinter befindliche ‚Problemzone’ hinwies. Stattdessen wurde durch Fokussierung auf kunstvolle, kostbare Objekte eine große Vergangenheit beschworen. Die Magdeburger Ausstellung, die den mittelalterlichen Teil beleuchtete, zeigte 420 Originalobjekte auf einer Fläche von etwa 2.000 Quadratmetern. Die mit dem neuzeitlichen Reich arbeitende Berliner Schau präsentierte 650 Objekte auf circa 1.500 Quadratmetern. In Magdeburg wurden die Besucher auf einen streng chronologischen Rundgang eingeladen, der in sieben Bereichen von den Vorbildern für das mittelalterliche Kaisertum über die verschiedenen Herrschergeschlechter hin zu den Träumen vom Reich am Ausgang des Mittelalters führte. Der Berliner Rundgang kombinierte chronologische und thematische Bereiche mit der Abfolge der Kaiser als Art Klammer, gliederte das Thema in acht Abteilungen und behandelte einzelne Themenkreise separat. Die Unterschiede der Konzepte setzten sich auch in der Ausstellungsgestaltung fort. In Berlin zeigte man insgesamt eine breitere Objektpalette. In Magdeburg lag, vielleicht auch in Ermangelung anderer Objekte, in Teilen der Schau ein Schwerpunkt auf Handschriften. Ein Hinweis darauf, wie abhängig die Überlieferung der Zeugen vergangener Zeiten von den Umständen war, fehlte. Auch die sonstige Gestaltung unterschied sich für eine als Doppelausstellung angelegte Schau recht stark. Hatte man etwa für Werbebroschüren, Homepage und Publikationen ein Corporate Design verwendet, so fand sich ein solches in den Ausstellungen kaum. Die Magdeburger Ausstellung griff auf Stellwandsysteme und Objekthalter aus der Vorgänger-Ausstellung zurück. Daraus ergab sich das Problem, dass Vitrinen den Objekten nicht angepasst waren. Teils waren überdies die Objektbeschriftungen an so ungeeigneten Stellen angebracht worden, dass sie später durch neben den Vitrinen stehende Stelen ergänzt werden mussten. Auch die Hinterleuchtung der Raumtexte war partiell ungünstig mit schlechter Lesbarkeit. Die in einem hellen Blau gehaltenen, klobigen Objektträger brachten zwar eine gewisse Farbigkeit in die Ausstellung, lenkten aber auch von den Objekten selbst ab. In Berlin konnten die Ausstellungsmacher freier mit den Räumen und Farben arbeiten. Ein flexibles Schienensystem an den Decken sowie verschiebbare Wände ermöglichten eine räumlich zwanglosere Gestaltung der Ausstellungsfläche. Auch die einzelnen Themenbereiche wurden mit verschiedenfarbigen Wänden deutlicher voneinander abgehoben. Die Vitrinen waren mit mattweißen Objektträgern ausgestattet, die sehr zurückgenommen waren und die Objekte, die zudem nur auf einer Ebene platziert waren, für sich wirken ließen. Die Raumtexte waren ebenfalls einfarbig und von vorn beleuchtet, damit problemlos lesbar. In beiden Teilschauen verwundert die geringe Verwendung moderner Medientechnik. Zwar gab es, abgesehen von den Hörführungen, in Berlin Beamer, Medienstationen und Hörbereiche, auch in Magdeburg wurde eine Hör- und Medienstation angeboten und ein Film gezeigt, jedoch zur Erklärung einzelner Objekte selbst – ausgenommen der Codex Manesse – keine Technik verwendet.
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Dies spricht für die Grundüberzeugung der Ausstellungsmacher, die ausgestellten Objekte für selbsterklärend zu halten oder doch ein hohes Maß an Sachkenntnis beim Besucher vorauszusetzen, und erweist eine Herangehensweise mit ‚kunsthistorischem‘ Blick. Mit Verweis auf Gottfried Korff könnte man der Ausstellung damit vorwerfen, dass die Objekte darin keine Re-Kontextualisierung oder Re-Dimensionierung erfahren haben. Eine solche – die massenmediale Kommunikation kontrastierende – Geschichtspräsentation mit der Tendenz zur Ästhetisierung bei gleichzeitigem Verzicht auf Erläuterung der Zusammenhänge kann auch als Hilflosigkeit der Museumswissenschaft angesichts des überwältigenden Einflusses der Massenmedien auf Erfahrungs- und Erkenntnisweisen der Menschen gesehen werden.42 Um die Besucherzusammensetzung abzuschätzen, wurde am 6./7. Dezember 2006 eine Besucherbefragung bei 118 Personen durchgeführt. Daraus sollte ein Rückschluss auf die Alters- und Sozialstrukturen sowie Vorkenntnisse und Beurteilung der Schau gezogen werden. Die Fragen bildeten eine Mischung aus statistischer Erhebung und dem Versuch, einzelne Stimmen und Meinungen zu erfassen. Die Befragung sollte vorwiegend Aussagen über eine Gruppe, weniger über Individuen ermöglichen, aber trotzdem in gewissem Maße Meinungen berücksichtigen. Der Fragenkatalog bestand neben den Angaben zu Alter und Geschlecht der Befragten aus neun weitergehenden Fragen. So ging es um Besucherzusammensetzung, Besuchshäufigkeit von Museen, darüber hinaus den Zeitraum der jeweiligen Beschäftigung mit dem Thema Mittelalter. Anhand der Frage nach dem jeweiligen Herkunftsort und dessen Entfernung von Magdeburg sollte weiterhin die überregionale Anziehungskraft der Ausstellung geprüft werden. Die Frage, wie die Besucher auf die Ausstellung aufmerksam geworden waren, sollte die Wirkung der breiten Artikelstreuung und der Marketingaktionen überprüfen helfen. Über Erfüllung oder Nicht-Erfüllung von Erwartungen und Gefallen oder Nicht-Gefallen sollten allgemeine Erkenntnisse zu den Besuchern ermöglicht werden.43 Da die beiden Ausstellungsteile in Berlin und Magdeburg gezeigt wurden, zielte eine Frage darauf ab, wie weit diese Teilung funktionieren und durch den Besuch beider Orte angenommen würde, die abschließende Frage nach der Schulbildung sollte der Einordnung der Besucher in ein bestimmtes Bildungsprofil dienen. Von vornherein war klar, dass die Ergebnisse der Besucherbefragung aufgrund methodisch-statistischer Probleme, der
42 Vgl. Urban (wie Anm. 1), S. 270. 43 Siehe etwa Patricia Munro: Besucherorientierung als Katalysator für sinnvolle Veränderung. Die Rolle des Beraters im Bereich der Besucherorientierung. In: Handbuch Museumsberatung: Akteure – Kompetenzen – Leistungen. Bielefeld 2000, S. 137-147 und Heiner Treinen: Evaluation von Museumsausstellungen. Konturen eines Beratungsprogramms. In: ebd., S. 149-161.
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geringen Menge der Befragten, des Zeitpunktes sowie der Befragungsart unterschiedliche Reichweite und Aussagekraft besitzen würden.44 Die Resultate der Erhebung zeichnen zwar ein durchaus gemischtes Bild. Einige Wertungen lassen sie jedoch zu: Mit etwa 46 Jahren lag das Durchschnittsalter der Befragten ein wenig höher als der Altersdurchschnitt der bundesdeutschen Bevölkerung von 42 Jahren. Eine Schwerpunktbildung gab es in den Altersgruppen unter 30 und über 60 Jahren. Ein Vergleich mit entsprechenden Zahlen der Ausstellung Otto der Große zeigt, dass die Verteilung auch dort ähnlich gewesen war – die Besucherstruktur hat sich in Bezug auf das Alter demzufolge kaum geändert. Weiterhin lässt sich belegen, dass der Anteil Höhergebildeter signifikant größer war als der – bezogen auf Schule und Hochschule – weniger gut ausgebildeter Besucher: 71 % der Besucher besaßen Abitur oder Hochschulausbildung. Die Ausstellung zog also trotz anderweitiger Bemühungen einen bestimmten Personenkreis an, größere Teile der Bevölkerung aber nicht. Weiterhin zeigte sich, dass beinahe die Hälfte der an der Befragung beteiligten Personen direkt aus Magdeburg oder aus Sachsen-Anhalt kam. Das beweist die gute Annahme und positive Einstellung der Einwohner zum Kulturhistorischen Museum Magdeburg und zu seinen Ausstellungen. Die überregionale Anziehung scheint jedoch – so zumindest die vorliegenden Zahlen – angesichts der hochkarätigen Objekte nicht ungewöhnlich hoch gewesen zu sein. Ein Großteil der Befragten hatte über die massive Präsenz vor allem in den Printmedien, aber auch im Fernsehen von der Schau erfahren. Recht häufig diente auch Museumswerbung als Informationsquelle, die wohl vor allem die Magdeburger selbst aktivieren konnte. Das fast gänzliche ‚Versagen‘ des Internets für die Erstbeschaffung von Informationen war ziemlich unerwartet. Stattdessen erwiesen sich persönliche Kontakte, auch Stadtführer oder Volkshochschulkurse, als oft genutzte Informationswege und -quellen. Die Verknüpfung mit dem Berliner Teil der Ausstellung zog laut Auswertung nur in sehr geringem Maß Besucher nach Magdeburg. Offensichtlich wurde die Konzeption als Doppelausstellung nicht besonders gut angenommen. Zwei Drittel der Befragten wollten den Berliner Teil der Ausstellung jedenfalls nicht sehen.45 Inwieweit die Entfernung der beiden Orte dabei eine Rolle spielte, muss offen bleiben. Die Frage nach der Häufigkeit von Museumsbesuchen zeigte, dass mehr als zwei Drittel der Befragten seltene Museumsgäste waren. Dass sie gera-
44 Cornelia Foerster: Der Besucher – das unbekannte Wesen: Wunsch und Wirklichkeit von Besucherbefragungen. In: Mensch und Museum. Möglichkeiten und Grenzen gegenwärtiger Museumsarbeit. Erfurt 1997, S. 141-149, hier S. 148. 45 Etwas günstiger zeigen sich die Zahlen der Ausstellungsverantwortlichen, die von etwa 200.000 der insgesamt mehr als 440.000 Besucher der Doppelausstellung sprechen, die beide Teile gesehen haben. Das würde eine Annahme des Doppelcharakters durch 40 % der Besucher bedeuten. Die Zahlen stammen aus Artikeln in DIE WELT, 11.12.2006 und DAMALS online, 18.12.2006, http://www.damals.de/ sixcms/detail.php? id=175878 (23.5.2007).
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de Magdeburg besuchten, könnte wiederum den hohen Rang der gezeigten Objekte beweisen. Sicher ist die Aktivierung dieser Gruppe aber ebenso ein Erfolg der Werbemaßnahmen, Pressemeldungen sowie der öffentlichen Diskussion. Nicht zuletzt resultierte das Interesse der Besucher an der Ausstellung aus einer vom Mittelalter und seinen Überresten ausgehenden Faszination, aber auch einer der Großausstellung innewohnenden Anziehungskraft des Events und seines Marketings. Solange sich das Museum nicht nur als Sammel- und Ausstellungsort, sondern auch als Bildungsstätte versteht, wird seine Identität immer wieder Veränderungen unterworfen sein.46 Zudem dürfte auch zukünftig kaum zu negieren sein, dass mit der intendierten Außenwirkung auch die Besucher massiven Einfluss auf die Ausrichtung der Museumsarbeit behalten werden. Das Event wird deshalb mit seinen Möglichkeiten, aber auch mit seinen Risiken, bezogen auf herkömmliche Ziele allgemeiner Museumsarbeit, eine Chance, aber auch ein Wagnis für Museen bleiben. Die Ausstellung zum Heiligen Römischen Reich in Magdeburg ist hinter den Möglichkeiten, die für eine zeitgemäße Vermittlung historischer Themen im Prinzip vorhanden sind, zurückgeblieben. Zwar nutzte man im Vorfeld die Mittel, die mit Werbung und Marketing, Medien und Technik aktuell zur Verfügung stehen. Jedoch war in der Ausstellung selbst kaum ein moderner Ansatz, eine Umsetzung neuer Ideen zu sehen. Auch die technischen Möglichkeiten wurden nicht genutzt. Dies ist umso verwunderlicher, als die Werbemaßnahmen im Vorfeld in Magdeburg ganz besonders Besuchergruppen ohne Vorbildung zu erreichen versuchten. In der Ausstellung jedoch wurde auf deren spezielle Ansprüche dann nicht eingegangen, sondern das herkömmliche, (vor-)gebildete Museumspublikum bedient. Die Exposition blieb dicht am Vorbild der Großausstellungen der 1970er und 1980er Jahre und deren kunsthistorischer Präsentationsweise. Die Fokussierung auf Herrschergeschichte blendete ganze Forschungsbereiche wie die Sozialgeschichte aus. Diese Diskrepanz zwischen einem hohen Werbeaufwand, mit den aktuell zur Verfügung stehenden Mitteln betrieben und eine Eventisierung im Vorfeld erzeugend, sowie einer überkommenen Präsentationsweise zeigt das Dilemma der gegenwärtigen Museumsszene. Es geht bei Unternehmungen wie der vorliegenden offenbar nicht um Wissenschaft, Bildung oder Selbstverwirklichung, sondern um Erfolg. Dazu gehört auch, sich einen Namen in der Museumslandschaft zu machen, die eigene Bekanntheit zu steigern, selbst eine Art Marke zu werden. Von Nachhaltigkeit in der Museumsarbeit und von der Wirkung der Präsentation selbst ist kaum mehr die Rede.
46 Volker Kirchberg: Die McDonaldisierung deutscher Museen. Zur Diskussion einer Kultur- und Freizeitwelt in der Postmoderne. In: Tourismus Journal 4 (2000). H. 1, S. 117-144, hier S. 118.
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Zukünftig wird sich die Frage stellen, wie weit bei einer solchen verstärkten Markt- und Zielorientierung sowie auch der zu beobachtenden „Rationalisierung“ eine heterogene Museumslandschaft erhalten werden kann, wie weit Sammeln und Forschen als Hauptaufgaben überhaupt noch mitspielen. Die Magdeburger Ausstellung war eine Art Zwischenschritt. Man bemühte sich im Vorfeld um eine öffentliche Wahrnehmung als Event. Die Ausstellung selbst jedoch blieb eine klassische, an kunsthistorischen Vorbildern orientierte Schau. Insofern ist die Frage, ob diese Erscheinungen in ihrer Kombination für das Museumswesen eine Reaktion auf die Erlebnis- und Mediengesellschaft und die damit zusammenhängenden Veränderungen sind, durchaus zu bejahen. Für die Zukunft der Museen könnte die Berücksichtigung einer breiteren Schichtung der Besucher besonders wichtig werden. Eine Gratwanderung zwischen dem vordergründigen, Neugier weckenden Event und der dahinter stehenden Geschichte und Kultur wird wohl nötig bleiben, um angemessene Besucherzahlen, aber auch eine Berücksichtigung von Besucherbedürfnissen zu erreichen. Dabei müssen unterschiedliche Erwartungshaltungen der nach Interessen, Vorkenntnissen und Fähigkeiten differenzierten tatsächlichen und potentiellen Nutzer berücksichtigt werden. Geschichtliche sowie kunst- und kulturhistorische Ausstellungen sind wohl ohne hohe Attraktivität, verbunden mit einem entsprechenden großen Aufwand, nicht durchführbar. Die Frage bleibt aber, worauf sich dieser Aufwand schwerpunktmäßig beziehen sollte. In Magdeburg ist für die Ausstellung bereits im Vorfeld und dann während ihrer Laufzeit ein nicht geringer Teil des Budgets für die professionelle BeWerbung eingesetzt worden. Daraus entstand ein überaus reichhaltiges Spektrum von vorbereitenden und flankierenden PR-Maßnahmen einschließlich eines extensiven Sponsorings. Hier drängt sich aus kulturtheoretischen Debatten die Frage auf, wie das Event und die Großausstellung den Blick auf die Geschichte prägt und verändert. Der Zwiespalt zwischen hergebrachter Museumskultur und den Erscheinungen zeitgenössischer „Event“-Kultur tritt hier offen zu Tage. Und es finden sich die Widersprüche markiert, die Identitätskrise und das Dilemma, in denen sich das Museumswesen der Gegenwart angesichts eines kaum noch zu kanalisierenden Medien- und Wahrnehmungswirrwarrs befindet. Der Blick auf die Magdeburger Ausstellung fällt vor diesem Hintergrund relativ kritisch aus. Ihr Informationsgehalt hinsichtlich der zu vermittelnden historischen Inhalte wie der Bandbreite der aktuellen historischen Forschung muss als eher gering veranschlagt, sie selbst könnte in überspitzter Formulierung fast als Stiefkind des Gesamtprojektes betrachtet werden, als zweitrangige, von konventionellen kunsthistorischen Konzepten geleitete Auratisierung kulturhistorischer Spitzenstücke. Denn durch die Omnipräsenz der Ausstellung in allen denkbaren Medien entstand der Eindruck von Erfolg, noch bevor er überhaupt eintrat.
Muse um und nationa le Ide ntitä t. Überlegungen zur Geschichte und Gegenw art von Na tionalmuse e n AIKATERINI DORI Das erste Nationalmuseum der Welt wurde 1753 auf europäischem Boden gegründet. Es handelt sich um das British Museum London, das sechs Jahre später, 1759, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Es folgten die Eremitage in St. Petersburg (1764) und der Louvre in Paris (1793). Die Genese der Nationalmuseen setzte sich mit einem ersten Museumsboom im 19. Jahrhundert fort.1 Was macht ein Museum zum Nationalmuseum? Krzysztof Pomian unterscheidet generell zwei Kategorien von Nationalmuseen, einerseits die sogenannten „Universellen“ und andererseits jene, die „das Außergewöhnliche der Nation und ihres Weges“ demonstrieren.2 Die „Universellen“, zu denen nach Pomian sowohl das Britische Nationalmuseum als auch der Louvre gehören, stellen den ältesten Typus dar und haben ihre Anfänge im 18. Jahrhundert. Dass das erste Nationalmuseum der Welt in London gegründet wurde, ist sicherlich kein Zufall, da der Begriff der Nation in seiner neuzeitlichen politischen Bedeutung zuerst in England erschien. So schrieb der britische Sammler John Tradescent jr. schon 1656 in der Einleitung des Katalogs seiner Sammlung: „the enumeration of these Rarities would be a honour for our nation“.3 Demselben Grundgedanken, nämlich dem des Sammelns zur Ehre der eigenen Nation, begegnet man in Frankreich im 18. Jahrhundert in Diderots und d’Alemberts Encyclopedie im Artikel über Museen wieder.4 Nach der Revolution von 1789, als
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Vgl. Marie-Louise von Plessen: Die Nation und ihre Museen. In: dies. (Hg.): Die Nation und ihre Museen. Frankfurt/M. 1992, S. 9-11. Vgl. Krzysztof Pomian: Museum, Nation, Nationalmuseum. In: ebd., S. 19-32, hier S. 25. Vgl. Martin Prösler: Museen: Akteure im Globalisierungsprozess. In: Rosmarie Beier-de Haan (Hg.): Geschichtskultur in der zweiten Moderne. Frankfurt/M. 2000, S. 325-343, hier S. 332. Ebd., S. 333.
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der Louvre unter dem Namen Musée Francais seine Tore für das Publikum öffnete, wurde auch in Frankreich das Sammeln zur nationalen Angelegenheit.5 In diesem Zusammenhang kann man auch von unterschiedlichen Modellen von Museumsgründungen sprechen.6 Als historisch frühestes Modell gilt das sogenannte Schenkungsmodell. Ein typisches Beispiel dafür ist das Ashmolean Museum der Universität Oxford. Es folgt das kaufmännische Modell, bei dem der Staat als Erwerber einer Privatsammlung fungierte und diese zum Eigentum der Nation machte. Das bekannteste Beispiel hierfür ist das Britische Museum in London. Das sogenannte revolutionäre Modell hingegen ist eine Erfindung der Französischen Revolution. Dabei wurden, wie im Fall des Louvre, die Sammlungen der königlichen Familie, des Adels und der Kirche beschlagnahmt und zum Eigentum des Staates gemacht. Schließlich ist das Vereinsmodell zu nennen, das vor allem in Deutschland sehr beliebt war und ist. Hierbei entscheidet sich ein Verein – in der Vergangenheit handelte es sich meistens um einen Geschichtsoder Heimatverein – für den Aufbau einer Sammlung und die Gründung eines Museums. Zwei Beispiele können an dieser Stelle genannt werden: das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg7, das 1852 auf Beschluss der Gesamtversammlung der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine gegründet wurde, und das National-Historische Museum in Athen8, das 1882 auf Initiative der Historischen und Ethnologischen Gesellschaft Griechenlands eröffnet wurde.
Die „universellen“ Nationalmuseen des 18. Jahrhunderts Charakteristisch für die sogenannten „universellen“ Nationalmuseen, unabhängig von ihrer jeweiligen konkreten Entstehungsgeschichte, ist die unterschiedliche geographische und auch kulturelle Herkunft der gesammelten, bewahrten und ausgestellten Objekte. Als ihr Ideal darf gelten, „ein Museum aller Kulturen der Welt zu allen Zeiten zu sein“.9 In der Tat finden sich in den Sammlungen des Britischen Nationalmuseums Schätze etwa aus den Ländern des Mittelmeerraumes, Zentraleuropas, Asiens und des Pazifiks, die auf die eine oder andere Weise
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Vgl. Michel Laclotte: Der Louvre - von den königlichen Sammlungen zum nationalen Museum. In: von Plessen (wie Anm. 1), S. 33-44. Vgl. Bernd Schönemann: Museum als Institution der Geschichtskultur. In: Olaf Hartung (Hg.): Museum und Geschichtskultur. Ästhetik – Politik – Wissenschaft. Bielefeld 2006, S. 21-31, hier S. 29. Vgl. Gerhard Bott: Das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg – ein nationales Museum? In: von Plessen (wie Anm. 1), S. 169-181; Walter Hochreiter: Vom Musentempel zum Lernort. Zur Sozialgeschichte deutscher Museen 1800-1914. Darmstadt 1994, S. 58-77. Vgl. Maria Avgouli: The first Greek Museums and National Identity. In: Flora E. S. Kaplan (Hg.): Museums and the Making of “Ourselves”. The Role of Objects in National Identity. London/New York 1994, S. 246-265, hier S. 258f. Vgl. David M. Wilson: Das British Museum - ein Universalmuseum. In: von Plessen (wie Anm. 1), S. 108-116, hier S. 108.
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nach Entdeckungsreisen, wissenschaftlichen Expeditionen, kriegerischen Eroberungen, (umstrittenen) Käufen und Schenkungen den Weg nach London fanden. Der ehemalige Museumsleiter David M. Wilson spricht sogar, mit nicht zu überhörendem Zynismus, von den – allen anderen verwehrt gebliebenen – „Möglichkeiten“, welche die Briten als große Kolonialmacht der Vergangenheit beim Sammeln gehabt haben.10 Das universelle Nationalmuseum spiegelte von Beginn an ein großes Spektrum nationaler Identifikationen und, mehr noch, nationaler Ambitionen wider. „Selbst Gegenstände, die aus anderen Gesellschaften oder der Natur stammen, machen die Nation berühmt, die sie zusammengetragen hat, denn sie war es, die über ihre Künstler, Wissenschaftler, Entdecker, ja sogar ihre Generäle, den Wert dieser Gegenstände zu erkennen vermochte und möglicherweise Opfer bringen musste, um sie zu erwerben“.11 So konnte in der Tat „ein Nationalmuseum – wie der Louvre oder das British Museum – eine universelle Sammlung bedeutender Werke aus allen Epochen und Bereichen des Kunstschaffens sein und damit den Anspruch der Nation demonstrieren, sich an die Spitze des menschlichen Fortschritts zu stellen und ihre Macht über Raum und Zeit vor Augen zu führen“.12 Bei dem universellen Charakter dieses Museumstyps ging es also vor allem um die Selbstdarstellung und Machtdemonstration der Nation: Je größer und bedeutender die Sammlung war, desto größer war das Ansehen der sammelnden Nation. Dies wurde im Fall des Louvre in der Zeit seiner Umbenennung in Musee Napoleon deutlich, denn dort wurden die Kunstschätze als Trophäen deponiert, die Napoleon während seiner Feldzüge beschlagnahmte. Der französische Bürger hatte damit wie schon der Bürger Großbritanniens das Privileg, die künstlerischen Erzeugnisse verschiedener Kulturen zu bewundern, die Kunst in ihrer Gesamtheit zu studieren und davon zu profitieren.13 Denn der Staat sah in diesen Sammlungen analog zu den Gemäldegalerien die Möglichkeit, die Nation durch das „Anschauen des Schönen“ ästhetisch zu erziehen und Bildung in mehreren Gesellschaftsklassen zu verbreiten. Diese „Versittlichung“14 sollte den kulturellen Status und das Prestige der Nation steigern. Die universellen Nationalmuseen waren in erster Linie national und dann universell. Die Sammlungen waren nationales Eigentum unter staatlicher Verwaltung. Sie präsentierten die Nation als Pflegerin und Trägerin der gesamten menschlichen Zivilisation, demonstrierten 10 Ebd., S. 114. 11 Krzysztof Pomian: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. 4. Aufl. Berlin 1998, S. 70. 12 Francois de Capitani: Nation, Geschichte und Museum im 19. Jahrhundert. In: Der Traum vom Glück. Die Kunst des Historismus in Europa. Bd.1. Wien 1996, S. 3237, hier S. 33. 13 Vgl. Carol Duncan: From the Princely Gallery to the Public Art Museum: The Louvre Museum and the National Gallery in London. In: David Boswell und Jessica Evans (Hg.): Representing the Nation: A Reader: Histories, Heritage and Museums. London/New York 1999, S. 304-331, hier S. 309-315. 14 Hochreiter (wie Anm. 7), S. 14.
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die überragende Stellung der sammelnden Nation in Europa und der Welt und hoben ihre Größe und Macht hervor. Zumindest das Britische Museum hat sich von diesem veralteten Denkmuster noch immer nicht gelöst. In seinem Plädoyer gegen die Forderungen verschiedener Länder auf Rückgabe von Kulturgütern, die zu den Sammlungen des Britischen Museums gehören, schreibt David M. Wilson: „Dieses Museum dadurch zu zerstören, dass seine Schätze verteilt würden, wäre ein noch größerer Vandalismus, als die Zerstörung der großen Bibliothek von Alexandria und ein noch schlimmerer Verlust […] Wir sind Treuhänder von Sammlungen für die ganze Welt. Wir sind, wenn Sie wollen, das Museum der Welt. Hier werden der gesamten Menschheit für alle Zeiten die in Hand- und Kopfarbeit gefertigten Werke erhalten. Wir müssen verhindern, dass unsere Sammlungen in der ganzen Welt verteilt werden. Die Nation, die uns gegründet und uns seit 1753 finanziert hat, hat die Schuldigkeit, eine große internationale Institution zu unterstützen, und zwar so, dass ihre Bürger die Schirmherrschaft übernehmen. Für immer.“15 Der Vergleich mit der Bibliothek von Alexandria unterstreicht die Stellung, die das Britische Museum in der westlichen Welt und unter allen anderen Museen für sich selbst beansprucht, nämlich die Funktion als „Leuchtturm des Wissens“, als Schatzkammer für Kunst und Kultur für die gesamte Menschheit. Eine mögliche Rückgabe von Sammlungsbeständen in die Länder ihrer Herkunft wird als unerträglicher Verlust dargestellt und mit einer kulturellen Katastrophe gleichgesetzt. Dabei bleibt unberücksichtigt, dass die zurück gegebenen Bestände für das Publikum und die internationale Forschung weiter zugänglich bleiben und einen genau so guten – wenn nicht besseren – Aufbewahrungsort als das Britische Museum finden würden. Hier ist auf den Skandal im Zusammenhang mit der Reinigung der Skulpturen von Parthenon zu verweisen, die sich in London befinden. Die Säuberung der Marmorskulpturen dauerte fünfzehn Monate, von 1938 bis 1939. In dieser Zeit schrubbten Arbeiter des Britischen Museums mit dem Einverständnis des Kunsthändlers und damaligen Restaurierungsleiters Lord Durven die Skulpturen mit harten, völlig ungeeigneten Schleifmitteln gänzlich weiß. Durch die Prozedur wurden die Skulpturen unwiederbringlich beschädigt. Nicht nur die ursprüngliche Patina wurde zerstört, sondern auch Bemalungsspuren und Details gingen für immer verloren. Von dieser Beeinträchtigung verschont geblieben sind nur diejenigen Skulpturen in Athen, die seit Juni 2009 im neuen Akropolismuseum ausgestellt werden. Aus nichtbritischer Sicht darf deshalb der vom Britischen Museum vor kolonialem Hintergrund konstruierte und jahrzehntelang erhalten gebliebene Mythos der Briten als „Treuhänder“ und Retter der Parthenonskulpturen mit Fug und Recht als problematisch und überheblich kritisiert werden.16
15 Wilson (wie Anm. 9), S. 116. 16 Vgl. William St. Clair: Lord Elgin and the Marbles: the controvercial history of the Parthenon sculptures. 3. Aufl. Oxford 1998, S. 280-313.
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Die Nationalmuseen des 19. Jahrhunderts Das 19. Jahrhundert war das der Nationalmuseen des zweiten Typs nach Pomian, der Kategorie der Nationaldarstellung. Es wird „das goldene Zeitalter der Museen“ genannt und gilt als Epoche, „in der das europäische Museum für jedermann im Stadtbild sichtbar wurde“.17 Im 19. Jahrhundert wurden Geschichtsvereine und historische Sammlungen gegründet und die Völker Europas entdeckten ihre eigene nationale Identität. Der vom Bürgertum getragene nationale Gedanke wurde zur beherrschenden politischen Ideologie und es entstanden vielerlei Medien und Institutionen, die für die jeweilige nationale Idee warben und kämpften. Die Nation wurde als eine größere Gemeinschaft von Menschen mit gleicher Abstammung, Geschichte, Sprache und Kultur verstanden und gleichzeitig als Ort der Identifikation und der Orientierung und als größtes Ideal empfunden. Unabhängigkeitskriege wurden geführt und eine Reihe von europäischen Nationalstaaten wie Griechenland, Italien und Deutschland wurden auf der Basis der Nation gegründet. Die Kultur wurde – anders als zuvor – als nationales Eigentum gesehen und es kam zu kulturellen Abgrenzungen anderen Staaten gegenüber. So wurde das 19. Jahrhundert auch zur Geburtsstunde der Nationalmuseen des zweiten Typs.18 „Waren Sammlungen und Museen bis ins 19. Jahrhundert hinein eher kosmopolitisch ausgerichtet, so änderte sich das grundlegend durch die oben beschriebenen geistesgeschichtlichen Vorgänge [...]. Der Bezug zur vaterländischen Geschichte ergab sich schon bei Sammlern, die lokalhistorische Grundsätze ihren Sammlungen zugrundelegten. Dadurch wandelte sich die Art der gesammelten Gegenstände: es wurden nicht mehr ausschließlich Gemälde und Skulpturen für würdig gehalten, sondern auch Kunsthandwerk und alltägliche Gegenstände, die in Bezug zur vaterländischen Geschichte standen. Diese Erzeugnisse menschlicher Fertigkeit erlangten neben den schriftlichen Quellen Ansehen als historische Zeugnisse. Die Entwicklung bewegte sich hin zum kulturhistorischen Museum“.19 Insbesondere in den Nationen, bei denen die Formierung einer nationalen Identität aus verschiedenen Gründen vielschichtig, wenn nicht schwierig war, übernahmen die Nationalmuseen des zweiten Typs eine wichtige Rolle.20 In ihren Depots befanden sich nunmehr unterschiedliche Sammlungen zur Kunst, Ge-
17 Jörgen Jensen: Das goldene Zeitalter der Museen. In: Wunderkammer des Abendlandes: Museum und Sammlung im Spiegel der Zeit. Bonn 1994, S. 160-169, hier S. 160. 18 Vgl. Martin Prösler (wie Anm. 3). Zur Entwicklung im deutschsprachigen Raum vgl. Nicole Cordier: Deutsche Landesmuseen: Entwicklungsgeschichtliche Betrachtung eines Museumstypus. Bonn 2003, S. 8-17. 19 Cordier, a. a. O., S. 16. 20 Vgl. Peter Burian: Die Idee der Nationalanstalt. In: Bernward Deneke und Rainer Kahsnitz (Hg.): Das Kunst- und kulturgeschichtliche Museum im 19. Jahrhundert. München 1977, S. 11-18.
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schichte, Volks- und Naturkunde, die eine geistige Verbindung zur neuen Nation herstellen sollten. Das Museum übernahm damit eine durchaus wichtige Funktion bei der Bildung der Nationalstaaten. Es sammelte das geschichtliche und kulturelle „Erbe“ der Nation und bestimmte durch diese Sammlung überhaupt erst, was als solches zu gelten hatte – mit dem klaren Ziel, Einigkeit und Zusammengehörigkeit zu demonstrieren. Aus diesem Grund wurde 1878, kurz nach der Gründung des italienischen Nationalstaates, in Turin, in der ersten Hauptstadt Italiens, ein Nationalmuseum gegründet.21 Aber nicht nur die frisch gegründeten Nationalstaaten bekamen ihre Nationalmuseen. Von Bedeutung sind an dieser Stelle auch die Museumsgründungen der „unvollendeten“ Nationen, die kein politisches Territorium, keinen Nationalstaat, vorweisen konnten. Zwei gute Beispiele sind hier das ungarische und das böhmische (nach 1848 dann tschechische) Nationalmuseum. Ihr Ziel war die Verbreitung der Idee der politischen Einheit auf der Basis der Nation.22 Das kollektiv definierte geschichtliche und kulturelle Erbe kann zweifellos den Menschen Identität verleihen.23 Die Museen bekamen deshalb eine identitätsstiftende Rolle, aber auch (kultur-)politischen Charakter. Diese Nationalmuseen müssen von diesem Standpunkt aus als Institutionen gesehen werden, deren Hauptaufgabe darin bestand oder noch besteht, die jeweilige Nation als Einheit auf der Basis einer gemeinsamen sprachlichen und kulturellen Vergangenheit zusammen zu schweißen. Was nicht zu diesem ideellen Nationsbild passte, wurde aus den Nationalmuseen des 19. Jahrhunderts verbannt. Bewahrt wurden die materiellen Zeugnisse der national dominanten Kulturformen, und alternative Erinnerungsobjekte wurden durch Selektion zum Schweigen gebracht.24 So fanden die materiellen Hinterlassenschaften der Frauen, der Arbeiterklasse, der Jugend und der untergeordneten religiösen und ethnischen Gruppen in den Nationalmuseen des 19. Jahrhunderts keinen Platz. Man suchte ja nach Gemeinsamkeiten und nicht nach Unterschieden zwischen den Bürgern, die das oft zerbrechliche Konstrukt des jungen Nationalstaates ins Wanken hätten bringen können. Wo die erwünschten Gemeinsamkeiten nicht vorhanden waren, konnten sie 21 Vgl. Christina Vernizzi: Das Museo Nazionale del Risorgimento Italiano in Turin zwischen Geschichte und Museologie. In: von Plessen (wie Anm. 1), S. 225-235. 22 Vgl. Christoph Stölzl: Statt eines Vorwortes: Museumsgedanken. In: von Plessen (wie Anm. 1), S. 12-18. Zu den Nationalmuseen Ungarns und Tschechiens s. auch Marlies Raffler: Das Nationalmuseum als Wille und Vorstellung. In: Berichte und Beiträge des Geisteswissenschaftlichen Zentrums Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas. Leipzig 1999, S. 254-281. 23 Vgl. John Urry: Wie erinnern sich Gesellschaften ihrer Vergangenheit? In: Beier-de Haan (wie Anm. 3), S. 29-52, hier S. 46. 24 Urry, a. a. O., S. 34. Vgl. auch Heidemarie Uhl: Gedächtnis – Konstruktion kollektiver Vergangenheit im sozialen Raum. In: Christina Lutter, Margit Szöllösi-Janze und Heidemarie Uhl (Hg.): Kulturgeschichte. Fragestellungen, Konzepte, Annäherungen. Innsbruck 2004, S. 139-158.
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auch neu erfunden werden – das „Wesen“25 einer Nation wurde auf diese Weise durchaus im Museum mit bestimmt. Das Nationalmuseum war an diesem Punkt nicht nur ein Ort des Sammelns und Bewahrens, sondern auch der Konstruktion nationaler Kultur und Geschichte mit homogenisierender Funktion und Wirkung. Speziell für die National-Historischen Museen des 19. Jahrhunderts galt, dass sie sich ausschließlich der politisch-militärischen Geschichte und Genese des Nationalstaates widmeten, wobei die Taten und das Wirken der „großen“ Männer der Nation, die wiederum als Identifikationsfiguren für das Volk dienten, im Mittelpunkt standen.
Neue Herausforderungen Wenn die Nationalmuseen des 19. Jahrhunderts bereits wesentliche Einrichtungen waren, die mitbestimmten, wie die Bürger sich selbst, ihre Nation und die Welt wahr nahmen, so ist zu fragen, in welcher Weise sie danach und auch in Zukunft als Spiegel der jeweiligen Gesellschaft zu verstehen sind. „A museum is a process as well as a structure, it is a creative agency as well as a „contested terrain“. It is because museums have a formative as well a reflective role in social relations that they are potentially of such influence“.26 Gesellschaftliche und politische Veränderungen sowie neue wissenschaftliche Theorien haben unbestreitbar Auswirkungen auch auf die Museen, auf die Festlegung ihrer Ziele und auf ihre Ausstellungskonzeption.27 In den beteiligten Wissenschaften besteht „kein Konsens darüber, ob die Nation als Phänomen der Moderne verstanden werden soll (deren Ursprünge in den revolutionären Umwälzungen im Frankreich des späten 18. Jahrhunderts liegen) oder ob man sie bereits im Mittelalter und der frühen Neuzeit verorten kann“.28 Die Antwort auf diese Frage beschäftigt Historiker, Ethnologen, Politik- und Sozialwissenschaftler.29 Wie gehen nun die Nationalmuseen von heute mit der Frage der nationalen Identität um? Wie beantworten sie die Frage, was eine Nation ist? Was vermitteln sie ihren Besuchern über die eigene Nation? 25 Vgl. Prösler (wie Anm. 3), S. 335. 26 Sharon Macdonald: Theorizing museums: An introduction. In: ders. und Gordon Fyfe (Hg.): Theorizing Museums. Representing identity and diversity in a changing world. Oxford/Cambridge 1996, S. 1-16, hier S. 4; siehe auch Donald Preziosi und Claire Farago: General Introduction: What are Museums For? In: dies.: (Hg.): Grasping the World. The Idea of the Museum. Aldershot 2004, S. 1-9. 27 Vgl. Rosmarie Beier-de Haan: Re-staging Histories and Identities. In: Sharon Macdonald (Hg.), A Companion to Museum Studies. Oxford 2006, S. 186-197. 28 Berit Pleitner: Die „vernünftige“ Nation. Zur Funktion von Stereotypen über Polen und Franzosen im deutschen nationalen Diskurs 1850 bis 1871. Frankfurt/M. 2001, S. 19. 29 Zu den aktuellen Nationstheorien siehe Bernd Estel: Grundaspekte der Nation. In: ders. und Tilman Mayer (Hg.): Das Prinzip Nation in modernen Gesellschaften. Opladen 1994, S. 13-81 sowie Pleitner, a. a. O., S. 19-62.
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Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind die Nationalmuseen in ihrer Gesamtheit in Konzeption und Umsetzung sehr unterschiedliche Einrichtungen, die unter einander nur schwer zu vergleichen sind.30 Trotzdem sind gewisse Entwicklungen oder Trends zu erkennen. Diese sind durchaus als Reaktion auf die immer lauter gewordene Museumskritik zu sehen, auf die neu heraus gebildete politischökonomische Weltordnung sowie auf ein in den demokratischen, pluralistischen westlichen Gesellschaften neues und offeneres Verständnis von Nation. Die Institution Museum ist, zuerst bei englischsprachigen Museumswissenschaftlern, in den letzten zwanzig bis dreißig Jahren in den Mittelpunkt der Kritik gerückt. Im Museum sah man eine mächtige Einrichtung mit einer zutiefst politischen Funktion und nicht selten ein Werkzeug in den Händen der Nationalisten, Imperialisten und Kolonialisten.31 Die Frage, wer im Museum und durch das Museum spricht32, mit welchem Recht und zu welchem Zweck wurde zum Mittelpunkt der wissenschaftlichen Auseinandersetzung, und die Museen wurden aufgefordert, ihre Ziele und ihre Politik neu zu definieren.33 Das zukünftige Museum – auch das Nationalmuseum – solle, so jüngere Forderungen, all denen eine Stimme geben, die bis heute im Museum keine besaßen, und die Geschichten derer erzählen, die vom Museum jahrzehntelang ignoriert wurden.34 Darunter fallen religiöse und ethnische Minderheiten, Menschen aus anderen Kulturkreisen, die Frauen und die Jugend. Darüber hinaus wird das Museum in der sogenannten Postmoderne nicht mehr als strikter Produzent von kulturellem Wissen betrachtet, es soll keine „Wahrheiten“ offenbaren. Es wird für wichtiger gehalten, Fragen zu stellen, statt fertige Antworten zu geben. Vom Museum wird erwartet, die Menschen neugierig zu machen und sie zu motivieren, eigene Urteile zu bilden.35 Die Welt, in der das Nationalmuseum von heute agiert, unterscheidet sich deutlich von der des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die gegenwärtigen Gesellschaften sind durch eine ständig steigende Mobilität von Men30 Vgl. Beier-de Haan (wie Anm. 27), S. 195 und dies.: Erinnerte Geschichte – Inszenierte Geschichte. Frankfurt/M. 2005, S. 102-110. Zur Situation in Europa siehe G. Ulrich Großmann: Nationalmuseum in Europa? Eventveranstalter oder Forschungseinrichtung? Eine Standortbestimmung. In: Museumskunde 66 (2001), S. 67-72. 31 Vgl. Macdonald (wie Anm. 26). 32 Vgl. Ivan Karp: Introduction: Museums and Communities: The Politics of Public Culture. In: ders., Christine M. Kreamer und Steven D. Lavine (Hg.): Museums and Communities: The Politics of Public Culture. Washington/London 1992, S. 1-18. 33 Vgl. Ivan Karp and Steven D. Lavine (Hg.): Exhibiting Cultures: the poetics and politics of museum display: Washington DC/London 1991; Sharon Macdonald. Exhibitions of Power and Power of Exhibitions: an introduction to the politics of display: In: dies. (Hg.): The Politics of Display: Museums, Science, Culture. 2. Aufl. London 1999. S.1-24. 34 Vgl. Michael M. Ames: Museums in the Age of Deconstruction. In: Gail Anderson (Hg.): Reinventing the Museum: historical and contemporary perspectives on the paradigm shift. Oxford 2004, S. 80-98. 35 Vgl. Eilean Hooper-Greenhill: Museums and the Shaping of Knowledge. 5. Aufl. London/New York 1999, S. 197-215.
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schen, Bildern, Informationen, Ideen und Waren gekennzeichnet. Das Stichwort lautet Globalisierung, allerdings existiert hier auch die Meinung, dass „oft auf Globalisierung mit Renationalisierung geantwortet wird“.36 Das Miteinander von Menschen unterschiedlicher Kulturen bringt gleichzeitig große Spannungen bis hin zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit sich. In der internationalen Museumswissenschaft herrscht weitestgehend Einigkeit darüber, dass die Museen auf all diese gesellschaftlichen Entwicklungen reagieren sollten, und in der Tat machen einige Museen erste Schritte in diese Richtung, indem sie sich bemühen, Orte der Begegnung, der Kommunikation und des kulturellen Dialogs zu werden.37 Das gilt insbesondere für (nationale und regionale) Museen jener Länder, die schon im Konstitutionsprozess (beispielsweise USA, Kanada, Australien und Neuseeland) und/oder im späteren Entwicklungsprozess (etwa Großbritannien und Deutschland) große Einwanderungsströme aufgenommen haben. Nach Roger G. Kennedy38 muss sich zum Beispiel ein amerikanisches Nationalmuseum von entsprechenden Museen in ethnisch homogeneren Ländern unterscheiden. Es sollte klar definiert werden, welche Nationen (der Begriff der Nation wird hier offenbar dem der Ethnie gleichgesetzt) gemeint sind, wenn man über eine Nationalgalerie oder ein Nationales Museum für amerikanische Geschichte spricht. Ein amerikanisches Nationalmuseum kann danach Vorbildfunktion haben, denn seine Aufgabe ist es, der Welt deutlich zu machen, dass das friedliche Miteinander von Menschen unterschiedlicher Kulturen und Religionen durchaus machbar ist, dass die ethnische und kulturelle Vielfalt eine Chance und kein Hindernis für das jeweilige Land darstellt. Es drängt sich hier natürlich sofort die Frage auf, wieweit Kennedys Gedanken sich in den amerikanischen Museen widerspiegeln. Die Tatsache, dass kulturelle und ethnische Gruppen in immer größerer Zahl ihre eigenen Museen, die sogenannten Culturally Specific Museums, in den USA gründen, ist eher ein Hinweis darauf, dass diese Gruppen in den Mainstream-Museen nach wie vor keine Anerkennung finden.39
36 Ulrich Beck: Was ist Globalisierung? Frankfurt/M. 1998, S. 16. Vgl. Sharon J. Macdonald: Nationale, postnationale, transkulturelle Identitäten und das Museum. In: Beier-de Haan (wie Anm. 3), S. 123-148; Flora E. S. Kaplan: Making and Remaking National Identities. In: Macdonald (wie Anm. 27), S. 152-169. 37 Vgl. Gail Dexter Lord und Anja Dauschek: Museen – Portale zur Welt? In: Museumskunde 66 (2001), S. 62-66. 38 Vgl. Roger G. Kennedy: Some Thoughts about National Museums at the End of the Century. In: Bettina Messias Carbonell (Hg.): Museum Studies. An Anthology of Contexts. Oxford 2004, S. 302-306. 39 Vgl. Edmund Barry Gaither: “Hey! That’s Mine”: Thoughts on Pluralism and American Museums. In: Karp u. a. (wie Anm. 32), S. 56-64; Lord/Dauschek (wie Anm. 37), S. 64-65.
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Das Canadian Museum of Civilization40 verabschiedete sich von der Weltsicht der dominanten anglo-französischen Kultur und strebt mittlerweile danach, einen Dialog über Themen der kanadischen Identität mit seinen Besuchern ins Leben zu rufen. Nach ähnlichem Prinzip41 wurden die neuen Dauerausstellungen in den Nationalmuseen von Australien in Canberra und von Neuseeland in Wellington konzipiert, in denen der – neue, aber weiterhin durchaus „nationale“ – Grundgedanke Einigkeit durch Vielfalt dominiert. Beide Museen verstehen sich als Foren, in denen der Dialog und das Verständnis zwischen Menschen unterschiedlicher Abstammung gefördert werden. In beiden steht die Würdigung der Urbevölkerung im Mittelpunkt der Ausstellungskonzeption, gleichzeitig wird aber gezeigt, dass sowohl Australien als auch Neuseeland aus den Kulturen der indigenen und der eingewanderten Bevölkerung entstanden sind. In ähnlicher Weise scheinen auch die europäischen Museen mobilisiert worden zu sein. Allerdings gewinnen hier vor allem Sonderausstellungen und innovative Vermittlungsprojekte in kunst- und kulturhistorischen Museen, aber auch in Nationalmuseen an Bedeutung.42 In Deutschland scheint sich die Meinung durchzusetzen, dass die Museen eine Aufgabe in Integrationsfragen übernehmen müssen. Integration wird hier nicht (mehr) mit der Assimilierung an die vorhandene deutsche Kultur gleich gesetzt. Vielmehr wird sie als gesamtgesellschaftlicher Prozess verstanden, der Verständigung und Kompromissbereitschaft von allen Seiten verlangt.43 Das zeigte etwa die Jahrestagung des Deutschen Museumsbundes im Mai 2006 in Leipzig unter dem Titel „Museen gestalten Zukunft: Perspektiven im 21. Jahrhundert“.44 Ausstellungen und Vermittlungsprojekte in Museen sollen zu gegenseitiger Verständigung, Akzeptanz und Toleranz beitragen. Auf diese Weise können Museen als Begegnungsstätten agieren, die gezielt daran arbeiten, eine kulturell gebildete, tolerante Gesellschaft zu formen, in der alle Seiten (Einheimische und Einwanderer) sich einig darüber sein müssen, dass die Beibehaltung von kulturellen Merkmalen kein Hemmnis darstellen darf. Die 40 Vgl. George F. MacDonald: Canadian Museum of Civilization – Ein Nationalmuseum in einer postmodernen Welt. In: von Plessen (wie Anm. 1), S. 281-291. 41 Vgl. David Dean und Peter Rider: Museums, nations and the political history in the Australia National Museum and the Canadian Museum of Civilization. In: Museum and Society. March 2005. vol.3. no. 1, S. 35-47; Darryl McIntyre: The National Museum of Australia and Public Discourse: the role of public policies in the nation’s cultural debates. In: Museum International 232. December 2006, S. 13-20; Beier-de Haan (wie Anm. 30), S. 61-71. 42 Vgl. Macdonald (wie Anm. 27), S. 135-140. In Deutschland können als Beispiele drei Sonderausstellungen genannt werden: „Polenbegeisterung“ im Museum Europäischer Kulturen in Berlin, „Saladin und die Kreuzfahrer“ im Landesmuseum Natur und Mensch in Oldenburg und „Was ist deutsch?“ im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg. 43 Cornelia Ewigleben: Das Museum von morgen. Gedanken zur Zukunft der kulturhistorischen Museen. In: Museumskunde 71 (2006), S. 63-68, hier S. 66. 44 Siehe die Artikel von Cornelia Ewigleben, Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff, Reiner Klingholz und Hermann Schäfer ebd.
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Museen könnten in diesem Zusammenhang vielleicht sogar eine Schlüsselrolle spielen. Das wäre ein wichtiges Argument dafür, die Nationalmuseen innerhalb des bestehenden Nationalstaatensystems funktions- und lebensfähig zu erhalten, aber mit dem neuen Ziel, Verständnis und Gemeinsamkeit zu verstärken sowie Spannungen und Konflikte abzubauen.
Europa und die „Schwächung“ der Nationalstaaten Für die Nationalstaaten Europas brachte die Gründung der Europäischen Union die Öffnung ihrer territorialen Grenzen, den Verlust ihrer Geldsouveranität und die Harmonisierung ihrer Nationalgesetze mit dem Gemeinschaftsrecht mit sich. Diese politischen Entwicklungen haben Auswirkungen auf die Nationalmuseen einiger europäischer Länder gehabt, wie die thematische Konzeption des Deutschen Historischen Museums in Berlin (DHM), das 1987 gegründet wurde, bezeugt.45 Obwohl das Haus auch nach der deutschen Wiedervereinigung die Bezeichnung „Nationalmuseum“ nicht trägt, handelt es sich um ein Museum, das sich mit der Geschichte der deutschen Nation auseinander setzt, also der Sache und dem Inhalt nach um ein Nationalmuseum.46 Es will allerdings die deutsche Geschichte im europäischen Kontext zeigen in der Überzeugung, dass deutsche Geschichte schon immer europäische Geschichte war. Aus diesem Grund zeigt das Museum u. a. Sonderausstellungen, die eine länderübergreifende Thematik haben und in Kooperation mit anderen europäischen Museen entstehen. Ähnlich ist die Situation im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg mit einer verstärkten Ausrichtung besonders der Sonderausstellungen auf ein europäisches und internationales Publikum.47 Einen Schritt weiter geht die Begründung des „Museums Europäischer Kulturen“ in Berlin, das aus einem Zusammenschluss der beiden ehemaligen Berliner Volkskunde-Museen mit der Europasammlung des Völkerkundemuseums hervor gegangen ist und sich auch in der Ständigen Ausstellung die europäische Alltagskultur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart als Schwerpunkt setzen will. Vergleichbar ist hier auch die Eröffnung des Musée de l’Europe im September 2007 in Brüssel. Die Stärkung, Konstruktion oder Re-Konstruierung48 eines Europabewusstseins steht zudem im Mittelpunkt der Ausstellungskonzeption
45 Vgl. Beier-de Haan (wie Anm. 30), S. 78-85; Uwe Danker: Aufklärung, Identifikation oder Repräsentation? Politische Motive zur Errichtung von Museen zur deutschen Landes- und Nationalgeschichte und wie weit man ihnen folgen darf. In: Hartung (wie Anm. 6), S. 211-231, hier S. 223-227. 46 „Mit der Schaffung der beiden neuen Museen in Berlin und Bonn reagierte die bundesdeutsche Politik auf das neu erwachte Bedürfnis der Deutschen, sich mit der Geschichte der eigenen Nation verstärkt auseinandersetzen zu wollen“, vgl. Beier-de Haan (wie Anm. 30), S. 79. 47 Vgl. Großmann (wie Anm. 30), S. 69-70. 48 Vgl. Anthony D. Smith: National Identity, Reno/Las Vegas/London 1991, S. 174.
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des Musée des civilisations de l’Europe et de la Méditerranée, das in Marseille eröffnet wurde und die Mittelmeerregion zu seinem Gegenstand macht. In allen Fällen ist nicht zuletzt die politische Dimension der jeweiligen Museumsarbeit, signifikant unter dem Stichwort „Stärkung des Europabewusstseins“, sichtbar.49
Nation: ein neues Verständnis In gewisser Weise sind und bleiben nationale Identitäten als Konstruktionen wohl immer einem Reservoir emotional mobilisierender Kollektiverinnerungen oder kultureller Überreste entnommen.50 Die Entstehung der modernen Nation ist sicherlich ohne das Erbe der Abstammungsmythen, Erinnerungen, Traditionen, Symbole (auch religiöser Natur), Rituale und Werte einer ethnischen Gemeinschaft (verbunden nicht zwangsläufig durch Blutsverwandtschaft, sondern eher durch ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und Kontinuität) nicht denkbar.51 Dazu gehören zweifellos auch weiterhin Elemente wie ein historisches Territorium, gemeinsame Mythen und kollektive Erinnerungen, eine verbindende Massenkultur, allgemeine gesetzliche Rechte und Pflichten und auch eine Ökonomie mit territorialer Freizügigkeit. Die Nation wird damit zu einem modernen Phänomen mit tiefen Wurzeln. Zunehmend tritt aber die Vorstellung hinzu, die Nationen, zumindest im Westen, als „Räume des Miteinanders, der Koexistenz und der Multivalenz“52 zu verstehen, mit Nationalgefühlen, die nicht mehr aggressiv, militaristisch und von Antagonismen geprägt, sondern offen und neugierig sind. In der neuen Ära der Europäischen Union, der Multikulturalität, der Frauenbewegungen, der Lesbenund Schwulenbewegung, der Umweltbewegungen etc. überwiegt immer mehr die Meinung, dass die Identitäten fließender geworden sind. Sie werden, so lauten
49 Vgl. Bodo-Michael Baumunk: Europäische Kultur – Fiktion und Beschränkung? In: Zeitschrift für Volkskunde 96 (2000), S. 56-58, hier S. 58. 50 Vgl Friedrich Lenger: Geschichte und Erinnerung im Zeichen der Nation. Einige Beobachtungen zur jüngsten Entwicklung. In: Günter Oesterle (Hg.): Erinnerung, Gedächtnis, Wissen: Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung. Göttingen 2005, S. 521-535, hier S. 522. 51 „The task, therefore, of those who set out to forge modern nations is more one of reconstructing the traditions, customs and institutions of the ethnic communities which form the basis of the nation, than of inventing new traditions. Of course, if by „invention“ we simply mean a novel recombination of existing elements, then the process of forming modern nations will certainly involve some ‘invention’. What is much more debatable, and less frequent, is the fabrication and single-handed initiation of national traditions and national history as crucial components of nationhood.”, Anthony D. Smith: The Nation: Invented, Imagined, Reconstructed? In: Marjorie Ringrose and Adam J. Lerner (Hg.): Reimagining the Nation. Buckingham/Philadelphia 1993, S. 9-28, hier S. 16. 52 Beier-de Haan (wie Anm. 30), S. 58.
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pointierte Sehweisen, ständig rekonstruiert und neu verhandelt.53 Diese Positionen, die in der westlichen Welt an Gewicht gewonnen haben, beginnen sich auch in den Konzeptionen vieler Nationalmuseen widerzuspiegeln. Aufwändige, neu konzipierte Dauerausstellungen, wie im Canadian Museum of Civilisation54 oder im Te Papa Tongarewa Museum in Neuseeland55, oder auch Sonderausstellungen wie „Was ist deutsch?“56 im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg 2006 wären hier zu nennen. Die Gründung neuer Nationalmuseen, wie das Deutsches Historische Museum in Berlin, das Schottische Nationalmuseum in Edinburgh und das Nationalmuseum von Australien, bezeugen, dass die Institution Nationalmuseum vor dem Hintergrund der Veränderungen der letzten Jahrzehnte nicht nur überlebt hat, sondern sogar immer größere Aufmerksamkeit findet, allerdings in unterschiedlicher Ausrichtung. Die Nationalmuseen am Beginn des 21. Jahrhunderts nehmen die Phänomene der Zeit wahr und sind bereit, sich mit unterschiedlichen Konzepten an diese anzupassen.57 Anders als früher erkennen sie die Pluralität in den heutigen Gesellschaften und stellen die Differenz innerhalb der Nation offen dar. Sie lassen häufig Raum für Fragen und Diskussionen, scheuen nicht davor zurück, alternative, nicht geradlinige, sogar widersprüchliche Geschichten über die eigene Nation zu erzählen und einen Dialog mit den Besuchern – unabhängig von ihrer ethnischen und kulturellen Herkunft und ihrem sozialen Hintergrund – über Identitätsfragen zu öffnen. Die Rolle vieler Nationalmuseen ist durchaus noch identitäts- und sinnstiftend, indem die Darstellung der Vergangenheit nach wie vor eine wesentliche Funktion bei der Formierung einer nationalen Identität innehat, aber es wird im Regelfall keine einsinnige und ausschließliche Identität mehr vom Museum verordnet. Vielmehr wird im Idealfall der Besucher motiviert, seine eigene(n) Identität(en) – nationale, regionale, religiöse – zu suchen und auch die individuelle Geschichte hinter den Dingen und den im Museum erzählten Geschichten zu entdecken. Dabei wäre es allerdings einfältig zu glauben, dass einmal ein Nationalmuseum die Idee der Nation ganz aufgeben könnte: Diese ist ihm eingeschrieben, und dies zu verändern in einer Welt, die nach wie vor aus Nationalstaaten besteht, erscheint utopisch, zumal die Unterhaltung solcher Museen nicht anders als durch den Staat möglich und das Argument des nationalen kulturellen Erbes so 53 Vgl. Macdonald (wie Anm. 37), S. 123-148; Fiona McLean: Museums and National Identity. In: Museum and Society (March 2005). vol. 3. no. 1, S. 1-4. 54 Vgl. MacDonald (wie Anm. 41). 55 Vgl. Beier-de Haan (wie Anm. 27), S. 188f. 56 G. Ulrich Großmann (Hg.): Was ist deutsch? Fragen zum Selbstverständnis einer grübelnden Nation. Katalog zur Ausstellung. Nürnberg 2006. 57 James Bradburne: The Poverty of Nations. Should Museums Create Identity? In: J. M. Fladmark (Hg.): Heritage and Museums. Shaping National Identity. Oxford 2000, S. 379-393; Kennedy (wie Anm. 39).
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wirkmächtig ist. So hat die Kritik an der Dauerausstellung des Nationalmuseums von Australien von konservativen Kreisen und von einem Teil der Presse das Museum dazu gebracht, sein neues Ausstellungskonzept zu überprüfen und Änderungen durchzuführen. Der Grundgedanke der nationalen Einförmigkeit kann jedoch durchaus durch denjenigen der Einheit durch Vielfalt zumindest teilersetzt werden, und das nationale Pathos der Vergangenheit erscheint tatsächlich verzichtbar. Verstehbar wird dann nicht zuletzt auch die Beobachtung, dass bezogen auf das Museumswesen nationale Fragen im Europa der Nationen auf einmal eine größere Rolle spielen als in den Nationen ohne Europa.58 Und nachvollziehbar wird dann auch die Aussage, dass das zeitgemäße Nationalmuseum ein gutes Beispiel dafür zu sein scheint, dass die Moderne (Idee der Nation) in der Zweiten Moderne (Grenzauflösung und Anerkennung der Differenz und Pluralität innerhalb der Nation) weiter lebt.59
58 Vgl. Großmann (wie Anm. 30), S. 68. 59 Vgl. Beier-de Haan (wie Anm. 30), S. 71. Zwei aktuelle Publikationen konnten in den vorliegenden Text nicht mehr einfließen und seien hier nur genannt: Camille Mazé: Von Nationalmuseen zu Museen der europäischen Kulturen. Eine soziohistorische und ethnographische Annäherung an den Prozess einer „Europäisierung“ der ethnologischen und historischen Nationalmuseen. In: Museumskunde 73 (2008). H. 1, S. 110-126 sowie Joachim Baur: Die Musealisierung der Migration. Einwanderungsmuseen und die Inszenierung der multikulturellen Nation. Bielefeld 2009.
Magazinfiktion im Objektlab yrinth. Die ak tuelle Da ue ra uss tellung des DHM SUSANNE RUTH HENNIG Als das Deutsche Historische Museum (DHM) 1987 gegründet wurde, besaß es weder eine Sammlung noch ein Ausstellungsgebäude, sondern nur ein Planungskonzept. Als Folge der Wende wurde Anfang der 1990er Jahre das im Barock errichtete ehemalige Zeughaus von Berlin zu seinem Sitz bestimmt. Hieraus sollten sich Widersprüche für die 2006 eröffnete Dauerausstellung des DHM ergeben. Die Konzeption von 1987 stammt von einer durch die Bundesregierung eingesetzten beratenden Sachverständigenkommission. Sie sieht insbesondere eine Verschränkung von inhaltlichen Gewichtungen und architektonischem Raum vor. Die Kommission musste weder Sammlungen noch ein Ausstellungsgebäude berücksichtigen, denn beides existierte noch nicht. Daher konnte sie eine eigene Idealvorstellung entwickeln und Wünsche äußern für die im Aufbau begriffene Sammlung sowie für den Architekturwettbewerb, den 1988 der italienische Architekt Aldo Rossi (1931-1997) gewann. Rossi entwarf eine postmoderne Kulissenarchitektur aus klassischem Rotundenzitat und mehrgeschossigen, an Speicher erinnernden Backsteinbauten mit typisch mitteleuropäischen Steildächern, die von einer zum Gebäude gehörenden Straße durchschnitten wurden: eine zeitenthobene Hülle und ein distanziertes Geschichtsbild bereits von außen. Mit der Wende 1989 änderte sich die Lage für das DHM radikal. Zum Tag der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 wurden Sammlungen und Gebäude des wenige Wochen zuvor aufgelösten Museums für Deutsche Geschichte, das seinen Sitz im ehemaligen Zeughaus hatte, dem DHM überschrieben. Dieses Gebäude bezog nun das DHM, denn der im Architekturwettbewerb vorgesehene Bauplatz im Spreebogen wurde mit der Entscheidung für Berlin als Regierungssitz 1991 anderweitig vergeben – dort befindet sich nun das Bundeskanzleramt. Mit dem Einzug ins Zeughaus steht das DHM – gewollt oder ungewollt – in einer bis zur Gründung als barockes Arsenal zurückreichenden Tradition repräsentativer Herrschaftsdarstellung. Das schlossähnliche Zeughaus des preußischen Absolutismus diente im Kaiserreich als militaristische Ruhmeshalle und verlor
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erst in der Weimarer Republik an militärischem Pathos. Militärs richteten im Nationalsozialismus erneut Ausstellungen mit Beutewaffen aus. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte man das Zeughaus instand und bestimmte es zu einem aufklärerischen Ort im Dienste des Sozialismus. Museologisch interessant ist die Abfolge der Ausstellungen in diesem Baudenkmal mit historisch gewachsener Symbolkraft. Die Zeughauseinrichtung und die jeweiligen Ausstellungen des Absolutismus, des Kaiserreichs, der Weimarer Republik, der Nationalsozialisten und der DDR lassen sich rekonstruieren. Von vielen Objekten, die mit der Wende in die Hände des DHM übergingen, könnte man den Ausstellungskontext zahlreicher Objekte und damit ihre Funktion im jeweiligen historischen Narrativ erschließen.
Unterschiedliche Raumkonzepte Obwohl bei den radikal veränderten Grundbedingungen klar war, dass man die Konzeption von 1987 nicht würde umsetzen können, erstellte man keine neue, sondern modifizierte in Zusammenarbeit mit der Sachverständigenkommission, die den Aufbau der Dauerausstellung im Zeughaus bis zur Eröffnung 2006 begleitete, die vorhandene Konzeption. Diese sah eine komplexe Wechselwirkung von Architektur und Inhalt vor mit einer dreifach gestaffelten, den Inhalt veranschaulichenden Raumstruktur von Epochen-, Vertiefungs- und Themenräumen, in denen sich die Besucher jeweils unterschiedlich bewegen sollten. Als Pflichtprogramm stellt sich der an erste Stelle gerückte chronologische Durchlauf in den Epochenräumen dar. Er bietet das „Erlebnis der Wanderung durch die Zeit“1. Die Vertiefungsräume schlagen einen „Halt im chronologischen Durchgang“2 vor und sollen mit zusätzlichem Material für „Perspektivenwechsel“3 sorgen mittels regionaler und lokaler Varianten oder der Sicht der Nachbarländer. Für die Vertiefungsräume wünschte sich die Kommission eine architektonisch sprechende Gestalt „als ‚Serpentine’, ‚Spirale’, ‚Wabensystem’, als System ‚Keller /Parterre / 1. Stock /Speicher’ oder ‚Turm’“. Anthropologischen Aspekten von Geschichte mit den Themen „Geburt und Tod, Mann und Frau, Arbeit und Muße, Religion und Gesellschaft, Krieg und Frieden“ sind abgetrennte, aber unter einander zusammen hängende Themenräume gewidmet, deren „architektonische Gestalt […] als andersartiges Formelement klar erkennbar“ sein soll. Obwohl bei der Planung – ohne konkrete Objekte – schon Raumeinheiten an dezidierte historische Begebenheiten verteilt werden, antizipiert das Sachverständigenkonzept zugleich zukünftige Veränderungen. Insbesondere für die Vertiefungs-, aber auch die Themenräume wird ein Wechseln der Ausstellung ein1
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Konzeption für ein Deutsches Historisches Museum – Überarbeitete Fassung. In: Christoph Stölzl (Hg.): Deutsches Historisches Museum. Ideen – Kontroversen – Perspektiven. Frankfurt/M. 1988, S. 609-636, hier S. 616. Ebd., S. 615f. Ebd., S. 616.
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kalkuliert. Bereits die Entstehung der gesamten Dauerausstellung wird als Prozess gesehen und auch die nächste Geschichtsdeutung schon vorweggenommen: „Die ständige Ausstellung mit ihren drei Raumtypen kann erst in einem langfristigen Entwicklungsprozess entstehen, in dem häufiger Wechsel der Fragestellungen, Themen und Objekte notwendig und erwünscht ist. Wie in jedem Museum wird auch die Dauerausstellung im Detail jederzeit und im Ganzen nach einer Reihe von Jahren der Veränderung und Erneuerung bedürfen.“4 Die ursprüngliche Planung galt es nun an die Bedingungen des Zeughauses im Einklang mit den Denkmalschutzbehörden anzupassen. Bei der Sanierung Ende 1998 bis 2003 schuf das Berliner Architektenbüro Wilfried Brenne den Raumeindruck des Barockarsenals unter einer klassizistischen Prägung, indem man – im Obergeschoss nahezu komplett und im Erdgeschoss weitgehend – die nicht untergliederten, durch das ganze Geschoss gehenden dreischiffigen Pfeilerhallen wiederherstellte. Für eine museale Nutzung waren diese in leerem Zustand wunderbar großzügigen Hallen schwer einzurichten, da keine klar gegliederten Räume zur Verfügung standen, sondern in einem langen schlauchartigen Ausstellungsraum kleinere Raumeinheiten geschaffen werden mussten. Darin lässt sich das Zeughaus sogar mit einem modernen Museumsbau wie Daniel Libeskinds Jüdischem Museum in Berlin vergleichen. Auch hier musste die Ausstellung in einem „Bandwurm“5 Platz finden. Bei Libeskind sind die Wände wegen ihrer Neigung nicht nutzbar, beim Zeughaus wegen der vielen schönen großen Fenster. Wie der Besucher im Jüdischen Museum durch einen abwechslungsreichen Parcours mit überraschenden, inselhaften Binnenräumen rhythmisch gelenkt wird, hätte dem DHM ein Vorbild sein können.
Die Dauerausstellung Die Ausstellungsgestaltung des DHM von Jürg Steiner (2001-02) und Christian Axt (2002-06) präsentiert mit einem Design von durchgehend eng gestellten, gerasterten Ausstellungswänden ein wirres und zugleich uniformes Erscheinungsbild ohne atmosphärische Wechsel. Dass die gedrängte Anordnung der Rasterwände weder dem Rhythmus des Pfeilersystems folgt noch einen bewussten Kontrapunkt zu diesem wesentlichen Element der Zeughausarchitektur bildet, fällt besonders im Kontrast zu den massiven Beleuchtungsrahmen auf, die wiederum in die Deckenfelder des Zeughauses eingepasst sind und diese betonen. So entsteht ein unharmonisches Geschiebe, das den Besucher unterschwellig auf dem Rundgang begleitet. Das Entwerfen der Ausstellung mit Hilfe einer dreidimensionalen Computersoftware hat nicht geholfen, die Dissonanz von Raum und Ausstellungseinrichtung zu verhindern, sondern hat möglicherweise das Gefühl 4 5
Ebd. Jürgen Kocka: Ein chronologischer Bandwurm. Die Dauerausstellung des DHM. In: Geschichte und Gesellschaft 32 (2006), S. 398-411.
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für den Raum sogar verdorben und mehr Platz für Objekte suggeriert, als die Räume aushalten können. Die Dauerausstellung des DHM im ehemaligen Berliner Zeughaus ist in einen chronologischen Rundgang gegliedert, der die Architektur des Zeughauses, eines mehrgeschossigen Vierflügelbaus um einen Innenhof, in zwei Etagen nutzt. Im Obergeschoss wird die Zeit bis zum Ersten Weltkrieg, im Erdgeschoss werden der Zeitraum von der Weimarer Republik bis zur Wiedervereinigung sowie einige Ereignisse danach ausgestellt. Außer den Ausstellungsräumen gibt es einen großen Empfangs- und Kassenbereich, in dem einige großformatige Exponate platziert sind, eine Garderobe, einen Buchladen, ein Café sowie das Zeughauskino, das tagsüber in den Rundgang integriert ist. Eine Unterführung verbindet den überdachten Innenhof mit dem Pei-Bau. Der Innenhof selbst, der für Veranstaltungen genutzt und vermietet wird, bleibt in der Regel frei. Die barocken Treppentürme in zwei seiner Ecken sind als Abkürzungen in und von der Dauerausstellung nutzbar, aber nicht entsprechend ausgeschildert, so dass sie von den Besuchern nicht genutzt werden. Das große doppelte Treppenhaus im vorderen Flügel führt den Besucher in einem grandiosen Auftakt zum Beginn der Dauerausstellung und leitet ihn nach der Durchquerung des ersten Stockwerks zurück auf die Erdgeschossebene. Im ersten Obergeschoss füllt die Ausstellung die ganze Breite der dreischiffigen Pfeilerhalle. Flexibel nutzbare Wandmodule untergliedern den Raum und bestimmen seinen ästhetischen Charakter. Die Wandmodule erreichen ca. 2/3 der Raumhöhe, sind unregelmäßig verteilt und bilden verzweigte, teils symmetrische Gänge und Binnenräume. Die Wandmodule lassen sich als Vitrinen, als Wandfläche (Bild- und Schriftträger) oder für Schubladen nutzen. Durch geschickte Kabelführung sind die Module aus sich heraus beleuchtbar und medial nutzbar. Orientierung entsteht im Obergeschoss entlang den Außenwänden durch einen breiten Umgang zur Hofseite, an dem entlang beleuchtete Stelen mit einer Zeitstrahlfunktion ins Auge fallen, sowie durch einen schmalen Gang an der Außenwand. Jeweils die erste Stele – es gehören immer mehrere zu einem Epochenabschnitt – bietet in Kurzform die wichtigsten politischen Ereignisse, während auf den anderen Stelen Informationen zum gesellschaftlichen Gefüge, kulturellen Leben oder Arbeitsbedingungen folgen. Die erste Stele enthält immer neben einem zweisprachigen Text in deutsch und englisch eine Zeitstrahlmarkierung, eine Karte, eine Liste von Herrschern, damals gültige Münzen und einen Übersichtsplan zur jeweiligen historischen Epoche. Im Erdgeschoss werden die Zeitstrahl-Stelen bei veränderter Raumaufteilung fortgeführt. Dieselben flexiblen Wandelemente bestimmen wie oben einen verwinkelten Ausstellungsraum. In einem Raum sind die Wandelemente komplett verglast und streng rechtwinklig bzw. parallel zueinander aufgestellt, wodurch sie den übrigen Ausstellungswänden zunächst unähnlich scheinen, aber Höhe und Proportion sind dieselben. Wechselnde Wandfarben gliedern die eingeteilten Herrschaftsabschnitte, wobei
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irritierender Weise Wandfarbe, der Übersichtsplan auf den Stelen und Faltpläne der Museumsinformation unterschiedlichen Farbsystemen folgen. Die Rasterwände und die Zeitstrahlstelen bilden bei der Ausstellungsgestaltung ein komplementäres System, indem klar zwischen Objektpräsentation und Text getrennt wird. Darüber hinaus bieten die beiden Elemente dem Besucher ein jeweils anderes Bewegungsmuster an. Die in Sichtweite zueinander aufgestellten Stelen fordern zu einem streng linearen Gang auf, insbesondere, da eine komplizierte Nummerierung der Texte eine kohärente Systematik sowie eine ‚vollständige’ Geschichtsdarstellung suggeriert. Dem gegenüber verschaffen die unübersichtlichen Rasterwände mit den verschachtelten Binnenräumen dem Besucher den labyrinthhaften Reiz der Desorientierung und Momente der Überraschung. Dieses komplementäre Gerüst aus Stelengang und labyrinthischen Binnenräumen resultiert aus dem Versuch, die Funktion der Räume entsprechend dem Konzept von 1987 strukturell umzusetzen. Anstelle der Epochenräume wurde der Hauptumgang entlang der Meilensteine genannten Leuchtstelen geschaffen. Dieser Umgang erfüllt die Kriterien eines chronologischen, Zusammenhänge erschließenden Durchlaufs. Der lesende Besucher, der sich von Meilenstein zu Meilenstein bewegt, streift im Vorübergehen mit dem Blick einige Objekte. Er kann jederzeit in das Ganglabyrinth eintauchen und dort verweilen, wie die Kommission es für die Vertiefungsräume gedacht hatte. Die anthropologischen Themen wurden hingegen nicht in eigenen Räumen formuliert und finden nur durch die Auswahl der Objekte ein Echo. Vier eingezogene Emporen bieten zusätzliche Ausstellungsfläche und gelten als „erhöhte Räume zur inhaltlichen Vertiefung, […] die attraktive Ausblicke auf alle angrenzenden Ausstellungsabschnitte eröffnen. […] Jede Empore ist einem übergreifenden Aspekt der Kulturgeschichte gewidmet.“6 Diese angebliche besondere Würdigung ist in der Kritik auch als unbequeme Zumutung empfunden und als Ausschluss der Kulturgeschichte aus dem Gang der Ausstellung verstanden worden.7 Die stark verkürzte Umsetzung des Raumkonzepts der Sachverständigenkommission veranschaulicht klar das Dilemma der Grundidee. Die Konzeption nimmt durch die Staffelung eine Wertung der Vermittlungsform vor. Dabei erhält der chronologische Durchlauf den ersten Rang, Vertiefungen und thematische Reflexion werden untergeordnet. Beabsichtigt ist eine jeweilige Gleichbehandlung der Darstellung, aber die Ebene der Deutung ist schon programmiert und ungewöhnliche Perspektiven können nicht stattfinden. Das Sicherheitsprogramm 6
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Hans-Jörg Czech: Das Zeughaus als Ausstellungsgebäude. Ein Ort mit Geschichte. In: Das Deutsche Historische Museum 2006. DHM Magazin 2006. Redaktion: Rudolf B. Trabold. Berlin 2006, S. 21-24, hier S. 23. Bill Niven: Colourful but Confusing – The Permanent Exhibition in the German Historical Museum. In: Zeitgeschichte-online. Jan-Holger Kirsch und Irmgard Zündorf (Hg.): Geschichtsbilder des DHM. Die Dauerausstellung in der Diskussion. Vgl. http://www.zeitgeschichte-online.de/md=dhm-geschichtsbilder, hier: /dhm_ni ven.pdf, S. 2f. (Juli 2007, Aufruf 1.5.2009).
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Chronologie mit einem anthropologischen Schleier – Vertiefungsräume waren ja eigentlich nur deshalb vorgesehen, weil man in der Chronologie nicht alles unterbringen kann – führt solide durch den Parcours, aber es kann kein Staunen, keine Bezauberung, keine Verunsicherung und keine neue Sicht auf Geschichte vermitteln. Im Gegenteil erweckt besonders die komplizierte Durchnummerierung den Charakter angestrebter Vollständigkeit und setzt den lesenden Besucher mittels Pedanterie unter Druck, keinen der Texte zu verpassen. Das Betrachten der Objekte geschieht weitgehend losgelöst von der Textlektüre. Wenn sich der Besucher von der Zeitachse löst und durch das Labyrinth geht, kann er die hierarchische Struktur des überwiegend machtpolitisch organisierten Umgangs abstreifen und viele bereichernde Einzeleindrücke gewinnen. Insofern unterläuft die Objektaufstellung die lineare Geschichtsdeutung. Jedoch werden die Objekte ihrerseits in den Rasterwänden innerhalb eines strengen Rahmens präsentiert und können nicht immer ihre volle Wirkungskraft entfalten.
Die Magazinfiktion Bei den flexibel als Wand oder Vitrine benutzbaren Rasterwänden fällt das wiederkehrende Motiv einer in regelmäßige Fächer gegliederten Wand – ähnlich einem Setzkasten für naturwissenschaftliche Sammlungen – ins Auge, womit in einem bemüht neutralen Modus ein offenes Geschichtsbild formuliert werden soll. Insbesondere der gerasterte Rahmen misst allen Objekten, die sich darin befinden, zunächst den gleichen Wert bei, als würde hier Material für eine spätere Klassifizierung erst gesammelt. Die genormten Vitrinen bieten unter der Präsentationsfläche auf Bauchhöhe noch Raum knapp über dem Fußboden. Hier platzierte Objekte wirken wie zufällig abgelegt. Es wird der Eindruck eines Museums-Magazins evoziert, eine Magazinfiktion geschaffen, deren Reiz in der scheinbaren Aufhebung der durch die Geschichtswissenschaft beigemessenen Bedeutung liegt. Es ist eine künstlich hergestellte Fiktion, denn die Objekte werden – anders als in realen Magazinen – in diesen Fächern überwiegend anständig beleuchtet, und es werden natürlich nur speziell ausgewählte Objekte mit genügend Umraum hinein gestellt. Die Ähnlichkeit der Vitrinenwände mit Aufbewahrungsschränken naturwissenschaftlicher Sammlungen suggeriert neben der Aufhebung hierarchischer Ordnungsprinzipien auf einer übergeordneten Ebene aber auch ihre Klassifizierbarkeit. Es gehört zur Methode von naturwissenschaftlichen Sammlungen, ein vorhandenes Raster mit Zuordnungen zu füllen. Noch nicht gefundene Zusammenhänge, das missing link, umreißen den Erwartungshorizont für weitere Suche und die Einordnung zukünftiger Funde. Hierauf bezieht sich das DHM mit einigen freigelassenen Fächern, indem sie das Prinzip der missing links abbilden. Die Wände bieten tatsächlich eine Möglichkeit, die Ausstellung in gewissem Rahmen zu verändern und zu erweitern. Dies geschieht auch, indem z. B. noch leere Schubladen gefüllt werden. Ob tatsächlich leere Vitrinenfächer besetzt oder
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Ausstellungsstücke ausgetauscht werden, kann hier nicht geklärt werden. Im größeren Stil scheint es jedoch vorstellbar, ohne allzu großen Aufwand den Umgang der Stelen zu belassen, die Wände anders zu arrangieren, neu zu bestücken und eine neue Gestaltung zu erreichen. Die Aussteller möchten ihr Geschichtsbild als zeitgenössisch und temporär darstellen in der Erwartung, dass andere Generationen darauf aufbauen, aber andere Schwerpunkte entwickeln werden. Somit erfüllen die beweglichen und variabel einsetzbaren Ausstellungswände eine doppelte Funktion. Es entsteht zum einen der Eindruck eines Provisoriums durch die erkennbare Absicht, Möglichkeiten von Ausbau, Veränderung und Erweiterung der Ausstellung offen zu halten, was zugleich zeichenhaft auf ein offenes Geschichtsbild verweist. Andererseits wird der Charakter einer ObjektAufbewahrung wie in einem begehbaren Magazin erzeugt, welcher die Objekte stillstellt. Dieses Prinzip wird in der ganzen Ausstellung ohne Unterbrechung durchgehalten. Das ist problematisch, denn mit der Deutung der Objekte als für sich allein stehenden Dingen geht eine Entpersonifizierung und ein Herauslösen aus der Geschichte einher. Zu Objekt- und Sammlungsgeschichte geben die begleitenden Objektbeschriftungen nur höchst selten Aufschluss. Sie sind nicht nur im Ton nüchtern und neutral gehalten, sondern es werden sogar ganz bewusst wichtige Informationen ausgeblendet. Das Ausblenden der Objektgeschichte ist auch insofern auffällig, da das DHM spätestens mit der Übernahme der Sammlungen des Museums für Deutsche Geschichte über zahlreiche Objekte mit einer langen Ausstellungsgeschichte und sogar einem eigenen Bezug zum Zeughaus verfügt, worüber der Besucher aber nicht unterrichtet wird. Kommentare in den Objektbeschriftungen beziehen sich zu wenig auf die Objekte. Für die didaktische Vermittlung bedeutet die Magazinfiktion, dass es vom Besucher allein abhängt, ob er die Objekte in einen Zusammenhang bringen kann. Auch neu hinzu gekommene Sammlungsbestände, darunter viele Schenkungen, werden von ihrer persönlichen Geschichte gleichsam gesäubert. Die Objektbeschriftungen sind neutralisiert und die Objektgeschichte wird so weit wie möglich ausgespart. So vermerkt die Objektbeschriftung in Textgleichheit mit dem offiziellen Katalogeintrag8 z. B. bei einer Latzhose in der Feminismus-Vitrine: „Latzhose / 1979 / Baumwolle; L 156 cm/ Der feministische Kleidungscode zeichnete sich durch Grenzüberschreitung aus. Mit den lila eingefärbten Malerlatzhosen befreiten sich Frauen demonstrativ aus den traditionellen weiblichen Bekleidungsmustern“. Sowohl bei der Objektbeschilderung als auch im Katalog wird verschwiegen, dass es sich um eine Schenkung von Alice Schwarzer handelt. Man erhält diese Information nur, wenn man eine offizielle DHM-Führung mitmacht.
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Hans Ottomeyer und Hans-Jörg Czech: Deutsche Geschichte in Bildern und Zeugnissen. Berlin 2007.
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Dass – um ein weiteres Beispiel zu nennen – die Transparente der Berliner Demonstration vom November 1989 von den Demonstranten selbst im Museum für Deutsche Geschichte abgegeben wurden – ganz klar im Bewusstsein, einen historischen Moment zu erleben, und im festen Glauben an ein Museum als einen Ort außerhalb der politischen Maßstäbe sogar in der DDR oder aber als Herausforderung – wird in der Beschriftung bzw. im Katalogtext zwar ausgedrückt, der Kommentar bezieht sich jedoch nicht auf die Überbringer der Transparente, sondern allgemein auf die Redner der Abschlusskundgebung Stefan Heym und Christa Wolf und damit auf etablierte Gestalten: „Verschiedene Transparente zur Demonstration auf dem Berliner Alexanderplatz am 4. November 1989 / Baumwolle, Leinen, Viskose, Pappe, Holz / niedergelegt im Museum für Deutsche Geschichte, Berlin / Rund 700.000 Menschen versammelten sich am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz zur bis dahin größten polizeilich genehmigten Massendemonstration der DDR. Die Abschlusskundgebung wurde vom Staatsfernsehen übertragen. Prominente wie Stefan Heym und Christa Wolf plädierten für eine Reform der DDR und des Sozialismus.“ Während sich das DHM in Ausstellung und Katalog betont nüchtern gibt und nur Personen der politisch maßgeblichen Geschichte beim Namen nennt (außer Alice Schwarzer) und sogar schlichte Informationen wie Schenkung oder Nennung des früheren Sammlungsbestandes ausspart, werden andererseits die hauseigenen Führungen mit den sorgsam vermiedenen Informationen aufgepeppt, und der Museumsverein verantwortet Publikationen, welche die Objektgeschichte zum Ausgangspunkt eines historischen Durchlaufs machen.9 Offensichtlich funktioniert das Prinzip der nüchternen, magazinartig gestalteten Ausstellungswände nur in einer übergeordneten Aussagestruktur in Bezug auf das Geschichtsbild, kann aber nicht den Kontext der Objekte vermitteln.
Das Verhältnis zur Zeughaustradition Bei der Gestaltung der Ausstellung hätte das DHM auf frühere Ensembles im Zeughaus zurück greifen oder sich bei der Raumaufteilung anregen lassen können. Besucherberichte, Belegungspläne und Museumskataloge seit dem Barock bieten leicht greifbares Ausgangsmaterial. Mit etwas Aufwand an Archiv- und Quellenstudium wären die historisch wechselnden Einrichtungen rekonstruierbar. Von Interesse wären dabei besonders die Objektaufbewahrung und -präsentation, die Wegeführung, der Bezug zwischen Ausstellungsgestaltung und Zeughausarchitektur sowie eine Ausstellungsgeschichte alter Sammlungsbestände. Das Zeughaus besitzt innen eine funktionale Architektur, die auf die Bedürfnisse eines Waffenarsenals zugeschnitten ist. Luftig und ohne trennende Wände, aber mit eingestellten Stellagen war der Innenraum schematisch mit langen Rei9
Gedächtnis der Nation. Geschichte und Geschichten des Deutschen Historischen Museums in Berlin. Berlin 2007.
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hen von Stellplätzen für Geschütze oder Waffenständer eingerichtet. Dazwischen wurde nur ein schmaler Gang gelassen, um die Geschütze etc. zu einer der zahlreichen Türen des Zeughauses manövrieren zu können. Die großen Fenster werden selbst bei einer sehr gedrängten Aufstellung für ausreichend Licht gesorgt haben. Außer Beschreibungen wie derjenigen von Friedrich Nicolai10 vom Ende des 18. Jahrhunderts existieren mehrere Belegungspläne und Ausstellungsgrundrisse für das Zeughaus, die bisher noch nicht gründlich ausgewertet wurden. Insbesondere für das Aufstellen von Trophäen fand man mitunter spektakuläre Lösungen. Karl Friedrich Schinkel entwarf Schränke speziell für das Zeughaus, die sich jeweils zwischen zwei Pfeilern erstreckten und weniger als die halbe Höhe einnahmen. Auf diesen Schränken wurden Waffen arrangiert. Die Schränke wurden flankiert durch säulenartige Auftürmungen aus Waffen und Fahnen, welche die ganzen Pfeilerschäfte bedecken konnten.11 Mit der zunehmenden Verstärkung der Museumsfunktion wurden klarere Wege für die Besucher geschaffen. Dabei wählte man immer eine Promenade im mittleren Schiff, rechts und links befanden sich Kompartimente, die sich in ihrer Größe und Ausrichtung ganz in das Joch-Schema der Zeughausarchitektur fügten. Das Museum für Deutsche Geschichte untergliederte den Raum durch eingezogene Ebenen und Wandfelder. Vitrinen und Stellwände hatten etwa halbe Raumhöhe, d. h. sie reichten bis zur Höhe der eingebauten Emporen. Die eingebrachten Wandfelder wiederum füllten den Raum zwischen zwei Pfeilern vom Boden bis zur Decke fast komplett aus. In der Aufteilung orientierte man sich am Rhythmus der Pfeiler. Die langen Fluchten wurden teilweise als Korridore offen gehalten und führten durch eingegliederte Räume hindurch. Durch die zweiten Ebenen gewann man Ausstellungsfläche und mit der halbierten Raumhöhe eine weniger großzügige, aber sehr konzentrierte Proportion. Für die erste, von Christoph Stölzl eingerichtete, provisorische Dauerausstellung des DHM im Zeughaus 1994-98 wurden aus konservatorischem Erfordernis „entlang der Außenwände eine innere Vorwand erstellt und damit eine ‚Blackbox’ geschaffen“ sowie die „Travertinstützen weiß neutralisiert“.12 Es bleibt unklar, ob man zu diesem Zeitpunkt die eingebauten Strukturen der Nachkriegszeit wie Emporen oder Büros und sonstige Funktionsräume noch beibehielt. Ganz eindeutig fungierte diese erste Dauerausstellung als ein Provisorium. Der veränderte Raumeindruck durch das Aussperren des Tageslichts und die geweißten Stützen machte jedenfalls den Wechsel vom Museum für Deutsche Geschichte der DDR zum DHM der BRD unmissverständlich deutlich. 10 Friedrich Nicolai: Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam, 3 Bde. Dritte völlig umgearb. Auflage. Berlin 1786. Nachdruck Berlin 1980. 11 Heinrich Müller: Das Berliner Zeughaus. Vom Arsenal zum Museum. Berlin 1994, S. 64-67. 12 Wilfried Brenne: Die Revitalisierung eines Denkmals – The Revitalisation of a Monument. In: Ulrike Kretzschmar (Hg.): Das Berliner Zeughaus – The Berlin armoury. München u. a. 2006, S. 98-105, hier S. 100.
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Das Museum für Deutsche Geschichte diente als Ansporn und Kontrastfolie bei der Planung des DHM. Indem man beobachtete, dass sich das ehemalige Museum sogar „für das Mittelalter [und] die Neuzeit […] ausnahmslos [auf die] Geschichte des heutigen Gebietes der DDR“13 konzentrierte und die eigene Staatsgeschichte festhielt, befürchtete die BRD, dass das Bewusstsein für das gesamtdeutsche Territorium und eine gemeinsame Geschichte verloren gehen könnte: Man sah die „Gefahr einer Ausdifferenzierung der Geschichte des Gebietes der heutigen DDR aus dem Bewusstsein der Bürger der Bundesrepublik Deutschland – insbesondere der Jüngeren.“14 Der Darstellung des historischen Materialismus in einem geschlossenen Geschichtsbild und der politischen Verpflichtung der Geschichtsschreibung wollte Stephan Waetzoldt unter der Betonung der Verbindungen zum übrigen Europa und den USA dezidiert eine offenere, nicht festgeschriebene Geschichtsauffassung entgegen setzen. Möglicherweise beeinflusste das Museum für Deutsche Geschichte, dessen Sammlungen das DHM übernahm, indirekt auch die Entscheidung, mit modularen Ausstellungswänden und neutralisierten Beschriftungen eine nüchterne Magazinfiktion zu schaffen, indem diese Präsentationsform auch einen politischen Zweck erfüllt. Eine Äußerung aus dem DHM verleitet zu dieser Annahme: „Aus den Schauräumen der Dauerausstellung [des Museum für Deutsche Geschichte], aus dem ‚Arsenal’ für den Klassenkampf, sind die ‚Exponate‘ zurückgekehrt in die Depot-Räume. Ein Ort, wo jeder Sammlungsgegenstand durch seine Vereinzelung zunächst einmal neutralisiert und ‚entideologisiert‘ wird. Hier wird der Gegenstand bewahrt, wird inventarisiert und erforscht für seine spätere Auferstehung und Sinngebung in einer Museumsvitrine oder an einer Museumswand.“15 Andererseits deuten sich in der Magazinfiktion und in der zitierenden Rede vom Arsenal für den Klassenkampf eine Annäherung an die ursprüngliche Funktion des Zeughauses an. Anlässlich der Wiederherstellung des ursprünglichen Raumcharakters des Zeughauses bemerkt das DHM: „Es war immer ein ‚magasin’ zur Präsentation von Sammlungen, ein ‚Schatzhaus’ für kostbare historische Zeugnisse sowie ein Ort der Betrachtung und Erkenntnis“.16 Die Begriffe des Arsenals und des Magazins werden hierbei stark strapaziert. Aber sie zeigen, wie schlüssig es gewesen wäre, wenn man die Museumsgeschichte des Zeughauses zum Anlass genommen hätte, Bezüge zu früheren Repräsentationsformen herzustellen. Dass die Ausstellungsmacher keineswegs an die Tradition des Zeughau-
13 Stephan Waetzoldt: Denkschrift über ein deutsches historisches Museum in Berlin. Berlin, Januar 1983. In: Protokoll der Anhörung zum Forum für Geschichte und Gegenwart. Der Senator für kulturelle Angelegenheiten Berlin. Berlin o. J.. Teil 1, S. 83-92, hier S. 85. 14 Ebd., S. 86. 15 Dieter Vorsteher: Die Sammlung. In: DHM Magazin 2006 (wie Anm. 6), S. 31-33, hier S. 31. 16 Ulrike Kretzschmar: Vom Arsenal zum Museum. In: DHM Magazin (wie Anm. 6), S. 8-11, hier S. 11.
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ses anknüpfen wollen, zeigt schon die Tatsache, dass weder der Innenhof noch die Treppentürme in den Rundgang der Dauerausstellung einbezogen wurden. Dabei zeigen die Sensibilität, mit der sich der Anbau von Ioeh Ming Pei, in dem das DHM seit 2003 Wechselausstellungen zeigt, in das barocke Stadtgefüge einpasst, dass man sich der Besonderheit der barocken Stadtplanung, zu der das schlossähnliche Zeughaus gehört und die noch heute die Attraktivität von BerlinMitte ausmacht, durchaus bewusst ist. Mit Bezug auf die Zeughaustradition hätte auch das Problem der historischen Narrative zur Debatte gestellt werden können. Das Zeughaus als erstrangiges geschichtliches Objekt bietet dafür den besten Rahmen. Ausgehend von Ausstellungszitaten wäre es denkbar gewesen, die Ausstellung stärker durch die Objekte selbst zu strukturieren und ihnen einen Raum zu geben, der ihrem Material und ihrem Ursprungskontext entspricht. Statt einer ‚Geschichts-Vergewisserung’, die anhand von durchnummerierten Zeitstrahltexten in einer teleologischen, auf die Gegenwart zulaufenden Weltsicht stattfindet, hätte man ein lebendigeres Geschichtserleben erfahrbar machen können, indem man das Labyrinth der Objekte von Zeit zu Zeit durch reflexive Räume zu anthropologischen Fragen unterbrochen hätte. Mutig wäre gewesen, mittels künstlerischer Interventionen inhaltliche Komplexe zu bündeln und zu einer unkonventionellen Sicht einzuladen. Unter Nichtbeachtung der Ausstellungstradition behauptet das DHM eine ‚pure’ Geschichtsdarstellung mit einem streng gegliederten chronologischen Weg und der labyrinthhaften Präsentation der Objekte in einer fingierten Magazinmanier. Die Erzählhaltung der Dauerausstellung beschrieben Kritiker mit „very little social history, and next to no grass-roots history [and] the absence of biographies“17 und einer „Dominanz der […] Herrscherperspektive“.18 Wirtschafts- und Sozialgeschichte fließen ein. Eine spezifisch weibliche wie auch eine alltagsoder mentalitätsgeschichtliche Perspektive muss man hingegen suchen. Es „herrscht das Primat der Politik- und Machtgeschichte. In dieser dominanten Struktur taucht ab und an etwas Kulturgeschichte auf, orientiert an ‚deutschen Geistesgrößen’ und technischen Errungenschaften. Sozial- und Mentalitätsgeschichte wird man vergeblich suchen. Was hier zählt, sind fast ausschließlich große Taten und große Männer“.19 Die österreichische Historikerin Heidemarie Uhl vermutet, dass dies auch am Anspruch des Museums, ein Nationalmuseum zu sein, liegen könnte: „[Die] Institution Nationalmuseum [besitzt] offenkundig eine so starke Eigenlogik, dass es schon deutlicher Gegen-Strategien bedürfte, um den Eindruck einer nationalen Meistererzählung zu vermeiden. Im DHM präsentiert sich dem Besucher, der Besucherin eine lineare Erzählung von den ‚An17 Niven (wie Anm. 7), S. 3. 18 Olaf Hartung: Dingwelten zwischen Ästhetik und Erkenntnis. Zur Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums. In: Zeitgeschichte-online (wie Anm. 7), hier /dhm_hartung.pdf, S. 5. 19 Katrin Pieper: Stolpern durch die deutsche Geschichte. Die neue ständige Ausstellung des DHM. In: Werkstatt Geschichte 44 (2006), S. 111-114, hier S. 112.
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fängen’ bis zur Gegenwart, ein teleologischer Gang durch die Geschichte […] in einem chronologischen Erzählstrang, generiert durch kontinuierlich aneinandergereihte Objekte, Texte, Bilder. All dies erzeugt den Eindruck, dass hier […] das positivistisch verstandene ‚Gedächtnis der Nation’ ausgestellt wird.“20 Zudem reflektiert die Ausstellung nur unzureichend ihre eigene Perspektive und unterlässt es, die Geschichtswissenschaft als solche zu positionieren. Die Magazinfiktion ermöglicht es den Ausstellungsplanern, ein geschlossenes Geschichtsbild zu vermeiden, indem Deutungen so verhalten wie möglich formuliert sind. Zugleich sperrt die Ausstellung aber auch emotionales Potential von Objekten und weitergehende Möglichkeiten der Inszenierung konsequent aus. Alles scheint nüchtern und sachlich arrangiert. Dramatisierungen werden vermieden, so dass die wenigen ‚Ausreißer’ besonders auffallen. Angesichts der starken konzeptionellen Vorgaben muss man dies als einzig möglichen Versuch werten, den inhaltlichen Leitfaden, der schulbuchartig über alles Bescheid verheißt, zu unterlaufen. Beim Schweifen und Flanieren im Labyrinth der Ausstellung begegnet man einprägsamen und kraftvollen Objekten. Die Chance aber, disparat zu sein, Fragen durch Paradoxe aufzuwerfen, Randständiges zu thematisieren, zu verunsichern oder ungewöhnliche Perspektiven zu entwickeln, wurde vergeben. Das ehemalige Zeughaus in Berlin war seit jeher ein der politischen Repräsentation dienender Ort. Indem das DHM ausgerechnet hier seinen Sitz bezog, kann man seine Ausstellungen als politisches Signal verstehen. In diesem Bewusstsein ist die Dauerausstellung des DHM brav und zurückhaltend geworden, wohl aus Angst, etwas Ungewöhnliches zu gestalten. Ein spontanerer, selbstbewusster und zugleich stärker reflexiver Blick auf die historischen Objekte bleibt ein Wunsch für die Zukunft.
20 Heidemarie Uhl: Learning from Berlin? Zur Darstellung des nationalsozialistischen Völkermords in der Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums. In: Zeitgeschichte-online (wie Anm. 7), hier /dhm_uhl.pdf, S. 2f.
Die Fotografie der deutsch-deutschen Grenze in de n Präse ntatione n ausgew ählter Grenzmuseen ANTJE HAVEMANN Zur Zeit ihres Bestehens trafen an der innerdeutschen Grenze nicht nur zwei militärisch hochgerüstete Blöcke mit unterschiedlichen Ideologien, sondern auch zwei Identitätsentwürfe aufeinander. Zuschreibungen des „Guten“ und „Bösen“ wurden durch die Ablehnung des jeweils anderen Staates konstruiert. Der im Foto festgehaltene und überlieferte Blick auf die Grenze und den Grenzraum richtete sich in aller Regel von West nach Ost. Im Westen standen die Fotografen unmittelbar an der Grenzlinie und konnten gegebenenfalls den für eine panoramatische Sicht eigens erhöhten Standpunkt der westlichen Aussichtsplattformen nutzen. Dagegen verlegte die fünf Kilometer breite Sperrzone den zivilen Beobachterstandpunkt im Osten mit wenigen Ausnahmen so weit von der tatsächlichen Grenzlinie und ihrer Befestigung weg, dass diese unsichtbar blieb. Hinzu kam auf Seiten der DDR das Fotografier- und Abbildungsverbot der Grenzsperranlagen. Der Blick von der westlichen auf die östliche Seite der Grenze ist tendenziell ein aufklärerischer Blick, der von Fotografen, die den Grenzalltag (Grenzpolizisten, westdeutsche Reportagefilmer und -fotografen) miterlebten oder von der Grenzziehung persönlich betroffen waren, sehr beharrlich und penibel festgehalten wurde. Dadurch, dass auch der Blick aus dem Westen durch die Grenzsperranlagen notwendigerweise eingeschränkt war, wurde die einsehbare Fläche um so intensiver und genauer beobachtet. Alle Personen, die sich in sichtbarer Nähe auf der östlichen Seite der deutschdeutschen Grenze bewegten, exponierten sich damit potentiell und real den westdeutschen Fotografen. Diese blickten in Richtung Osten und konnten dort Bewegung wahrnehmen: Dies ist der Fall bei Fluchtversuchen, bei denen die Flüchtenden auf die Kamera zu laufen. Aus westdeutscher Sicht bestätigte jede Grenzüberwindung den Sieg des eigenen Systems über das der DDR. Aus ostdeutscher Sicht war die Republikflucht seit 1957 eine strafbare Handlung und gab immer auch einen Hinweis auf die potentielle Schwäche des eigenen Systems. Den Blick aus dem Osten zurück gab es nur von Grenzpolizisten bzw. -soldaten. Die offiziellen Fotografien der DDR-Grenztruppenangehörigen unter-
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lagen einer übergeordneten Kontrolle. Zwar durfte im Schutzstreifen privat fotografiert werden, die Grenzsperranlagen waren von dieser Regelung aber ausdrücklich ausgenommen. Auch auf Fotografien, die Teil der Selbstdarstellung der DDR-Grenzorgane sind, werden nur selten Sperranlagen mit abgebildet. In den Broschüren und Zeitschriften der Grenztruppen präsentieren die Darstellungen in der Regel die Grenztruppenangehörigen bei ihrer Arbeit. Bildliche Hinweise auf den Grenzraum deuten sich höchstens im Hintergrund an. Während die Grenzlinie, die Grenzsäule und der Streifengang entlang der Grenze zu den gängigen Bestandteilen der Selbstdarstellung der DDR-Grenztruppen zählen, sind die Grenzsicherungsanlagen (mit Ausnahme der Beobachtungstürme) kaum Bestandteil dieses Selbstbildnisses – weder in der internen noch in der Außendarstellung. Die Grenzbeamten beider Seiten standen sich auf Augenhöhe gegenüber, sich und ihre Tätigkeiten gegenseitig protokollierend, dokumentierend, identifizierend. Diese „offiziellen“ Fotografien, die in den Ausstellungen vieler Grenzmuseen sehr präsent sind, kennzeichnet ein sachlich routinierter Blick, welcher der militärischen Aufklärung und der gerichtsverwertbaren Bestandsaufnahme dient. Ziel war das Festhalten der jeweils feindlichen Aktivitäten. Auf Seiten des Bundesgrenzschutzes (BGS) kamen noch die Dokumentation der Grenzsicherungsanlagen und vor allem die Aufklärung aus der Luft hinzu. Die Befestigung der innerdeutschen Grenze und der Ausbau der Sicherungsund Sperranlagen vollzogen sich in mehreren Abschnitten zwischen 1952 („Grüne Grenze“) und den 1980er Jahren.1 Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) hatte Pläne für den weiteren Ausbau und die Perfektionierung der Grenzsperranlagen mit neuester Technologie und verbesserten Materialien bis zum Jahr 2000. Nach der Öffnung der Grenzübergangsstellen am 9. November 1989 folgten die Auflösung von Schutzstreifen und Sperrzone, die Änderung der Bestimmungen zum Gebrauch der Waffe an der Grenze und die Aufhebung des sogenannten Schießbefehls. Gleichzeitig begannen die DDR-Grenztruppen mit dem Abbau der Sperranlagen. Unter Aufsicht des Bundesverteidigungsministeriums wurde von der „Gesellschaft zur Rekultivierung und Verwertung von Grundstücken“ 1993 die Verteilung und Nutzung des Grenzraums abgewickelt.
Grenzmuseen In mehr als 30 Grenzmuseen und Gedenkstätten werden Überreste der innerdeutschen Grenze aufbewahrt und meist im regionalen Kontext zur Erinnerung an die 1
Robert Lebegern: Mauer, Zaun und Stacheldraht: Sperranlagen an der innerdeutschen Grenze 1945–1990. Weiden 2002. Helmut Wagner: Die innerdeutschen Grenzen. In: Alexander Demandt (Hg.): Deutschlands Grenzen in der Geschichte. München 1990, S. 235-276. Jürgen Ritter und Peter Joachim Lapp: Die Grenze. Ein deutsches Bauwerk. Berlin 1999. Zu Wahrnehmungs- und Deutungsmustern der innerdeutschen Grenze vor 1989 und ihrer Erinnerung danach vgl. Maren Ullrich: Geteilte Ansichten. Erinnerungslandschaft deutsch-deutsche Grenze. Berlin 2006.
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deutsch-deutsche Teilung ausgestellt.2 Die Mehrheit der Grenzmuseen gründete sich auf einem Relikt- oder Immobilienbestand an ehemaligen Grenzorten oder Grenzgebäuden. Diese Bestände stammen zum Großteil aus privaten Sammlungen, die vor und direkt nach der Grenzöffnung angelegt worden sind. Zum Teil wurden noch vorhandene Gebäude im Zusammenhang der Sicherungsanlagen an der innerdeutschen Grenze genutzt, die meist aufgrund der Initiative von Arbeitsgemeinschaften und Vereinen erhalten worden sind und idealerweise gleichzeitig zu Ausstellungsräumen umfunktioniert werden konnten (z. B. Grenzlandmuseum Eichsfeld, Gedenkstätte Marienborn). Andere Museen entstanden an erhaltenen Relikten wie Mauer- und Zaunresten, Beobachtungstürmen usw., indem in ihrer direkten Umgebung Baracken oder bereits vorhandene Gebäude als Museumsräume etabliert worden sind (z. B. Grenzmuseum „Schifflersgrund“, Deutsch-Deutsches Museum Mödlareuth, Gedenkstätte Heinersdorf-Welitsch). Eine weitere Möglichkeit stellt die Integration von Ausstellungen in bereits vorhandene Sammlungen, vor allem in Heimatmuseen entlang der Grenze dar (Heimatmuseen Burg Brome, Heimatmuseum Hornburg). Da auf ostdeutscher Seite im Schutzstreifen und Grenzgebiet der Publikumsverkehr stark reglementiert war, gab es auch nur eingeschränkte kulturelle und gastronomische Angebote. Nach der Grenzöffnung boten sich daher die im Grenzgebiet vorhandenen Heimatstuben zum Ausbau in Heimat- und Grenzmuseen an (Heimatmuseum Vacha, Heimatmuseum Geisa, Grenzhuus Schlagsdorf). Auf westdeutscher Seite sind in seltenen Fällen nach der Grenzöffnung die Ausstellungen der Informationsstellen übernommen worden, die der westdeutsche Zoll während des Bestehens der innerdeutschen Grenze eingerichtet hatte. Beispielsweise wird die Ausstellung der Grenzinformationsstelle Philippsthal (Werra) mit einigen Erweiterungen heute als Grenzmuseum weitergeführt, ebenso die 1987 eingerichtete Zollinformationsstelle „Grenze zur DDR“ in Tann, die nach der Grenzöffnung zur „Info-Stelle über die ehemalige Grenze der DDR“ wurde. In einigen Grenzmuseen sind durch das Engagement von Bundesund Landesnaturschutzverbänden in Zusammenarbeit mit entsprechend interessierten Stiftungen oder Vereinen Ausstellungen zu Natur und Landschaft an der ehemaligen innerdeutschen Grenze integriert (z. B. Grenzhuus in Schlagsdorf, Grenzlandmuseum Eichsfeld, Kontrollturm Eisfeld/ Rottenbach). Bis auf diese Ausnahmen musste der weitaus überwiegende Teil der Grenzmuseen erst Objekte zur innerdeutschen Grenze beschaffen und sammeln. Stellvertretend sei hier ein Ausschnitt aus einem Sitzungsprotokoll der Grenzlandmuseums Eichsfeld zitiert: „In der zweiten Sitzung wurde ein wissenschaftlicher Mitarbeiter des Museumsverbundes [Südniedersachsen] autorisiert, beim Militär und anderen in Frage kommenden Stellen nach noch vorhandenem Material zu 2
Allein 28 Grenzmuseen, Gedenkstätten und Denkmale sind in einer Broschüre der „Arbeitsgemeinschaft der Museen, Gedenkstätten und Denkmale an der ehemaligen innerdeutschen Grenze“ zusammengefasst.
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forschen.“3 Ein großer Teil der Materialien wurde den Museen von örtlich zuständigen Behörden, vor allem dem Bundesgrenzschutz (BGS), dem Zolldienst usw. überlassen. Dieser Bestand wird ergänzt durch private Leihgaben und Schenkungen. Neben Relikten der Sperranlagen, der Grenzmarkierung und -sicherung und Utensilien der Grenzorgane beider Seiten sind vor allem Fotografien verschiedener Produzenten(-gruppen) in unterschiedlichsten materiellen Ausführungen Bestandteile der Ausstellungen. In der überwiegenden Mehrheit fungieren sie als Beweisstücke, zur Illustration und Dokumentation des historischen Kontextes und der übrigen Exponate, als Blickfänger und dekorative Anschauungsobjekte. Die folgenden Aussagen beziehen sich auf die Ausstellungen im Grenzmuseum Schifflersgrund, in der Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn und im Grenzlandmuseum Eichsfeld.
Fotografien der innerdeutschen Grenze Die Fotografien zum Thema innerdeutsche Grenze harrten zum Zeitpunkt der diesem Aufsatz zugrunde liegenden Untersuchung (Herbst 2002) in den Museen zum Großteil noch der Aufarbeitung. Ausstellung, Erfassung, Deutung und Archivierung befinden sich also in einem parallel laufenden Prozess. Da die Fotografien oft in nicht datierter oder beschrifteter Form vorliegen, sind die Museen bei der Einordnung der Materialien in hohem Maße sowohl von Kennern der jeweiligen Region als auch von Fachleuten für die zeitliche Zuordnung von Uniformen, technischem Gerät und Bauzuständen der Sicherungsanlagen abhängig. Gleichzeitig müssen sinnvolle Kategorien zur Archivierung der Fotografien erarbeitet werden. Oft ist in den Museen keine zeitliche, sondern eine Zuordnung der Motive zu Einzelheiten der Sperranlagen oder Regionen gefragt, so dass ein schneller thematischer Zugriff auf das Material möglich ist. Neben Fotografien der ambitionierten Amateur- und der Autorenfotografie bildet die „offizielle“ Fotografie (hauptsächlich des BGS) einen der Schwerpunkte des Bildbestandes der Grenzmuseen. Offizielle Fotografien von Seiten der DDR sind vorwiegend in Flugblättern, Zeitschriften, Schulungs- und Anschauungsmaterialien der NVA, der DDR-Grenztruppen sowie der Staatssicherheit ausgestellt. Ein weiterer Bestandteil in Archiven von Grenzmuseen sind Diapositive, die als Lehrmaterialien an Schulen verwendet worden sind; sie sind jedoch weder Bestandteil der Ausstellungen noch sind sie inventarisiert. Amateur- und Knipserfotografien sind in den Ausstellungen zur innerdeutschen Grenze hauptsächlich in Form der Fotografien zur Grenzöffnung am 11. und 12. November 1989 vertreten. Im Unterschied zur offiziellen Fotografie liegt der Knipser-, Amateur-, Autoren- und Kunstfotografie ein privates Interesse zu 3
Grenzlandmuseum Eichsfeld (Hg.): Grenze mitten in Deutschland. Heiligenstadt 2002, S. 10.
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Grunde. Ihr Blick hat die persönliche Beweis- und Spurensicherung, die private Selbstvergewisserung zum Ziel. Die Produzenten dieser Bilder unterscheiden sich bezüglich ihres technischen Wissensstandes und der routinierten Auswahl von Ausschnitten und Motiven voneinander. Ein Großteil des fotografischen Bestandes der Grenzmuseen rekrutiert sich aus Archiven und lokalen Presseorganen. Ergänzt wird dieser Bestand durch unterschiedlich reichhaltige private Schenkungen und Leihgaben sowie durch Reproduktionen. Bei vielen Fotografien und Reproduktionen fehlen Informationen über Produzenten und Produktionsumstände, die Beschriftungen sind lückenhaft und beschränken sich häufig auf das Motiv. Eine Ausnahme bildet hier die Gedenkstätte Deutsch-Deutsche Teilung Marienborn. Die dort auf den Ausstellungstafeln verwendeten Fotografien werden, sofern die Daten bekannt sind, mit dem Datum der Aufnahme, dem Fotografen und ggf. dem Entstehungs- oder Veröffentlichungskontext beschriftet. Der Umgang mit Fotografien in den besichtigten Museen ist mit Ausnahme der Gedenkstätte Marienborn von Sorglosigkeit geprägt und von pragmatischen Erwägungen geleitet. Das Medium Fotografie selbst bleibt dabei in physischmaterieller Hinsicht und im Hinblick auf den Produktions- und Veröffentlichungskontext weitgehend unberücksichtigt. So kommt es vor, dass Fotografien in Schaukästen im Freiraum ausgestellt werden und somit der Witterung schonungslos ausgesetzt sind, Negative oder Scans zur Sicherung sind eher selten.
Fotografie als Medium „Fotos werden als Beweise, Zeugnisse, Informationen, Kunst gezeigt, sie richten Forderungen, Belehrungen, Warnungen an die Betrachter oder bieten ästhetischen Genuss.“4 Im Falle der in Grenzmuseen ausgestellten Fotografien von Fluchten und Fluchtversuchen sind die Fotografien tatsächlich als Bestandteil der gerichtsverwertbaren Beweisaufnahme zu verstehen. Die vom BGS oder von den DDR-Grenztruppen bzw. direkt von Mitarbeiter/-innen des MfS angefertigten Aufnahmen sollten aus der Sicht des jeweils hinter den Organisationen stehenden Staates Unrechtshandlungen dokumentieren. Sie dienten somit als Beweismaterial zum Feststellen einer tatsächlich oder potentiell vor Gericht zu verantwortenden Schuld. Im Grenzmuseum Schifflersgrund und dem in seiner Nähe gelegenen Mahnmal für den bei einem Fluchtversuch erschossenen Heinz-Josef Große sind Fotografien der Flucht (1982) sowie der Rekonstruktion des Fluchtfalls im Rahmen der sogenannten „Mauerschützenprozesse“ (1996) ausgestellt. Die Produzenten der Bilder bleiben anonym und verschwinden hinter den Organisationen, in deren Auftrag sie handeln. Datum und Ort der Aufnahme dieser Fotografien werden in den Ausstellungen jedoch genannt, da sie zentraler Bestandteil des zu 4
Cornelia Brink: Bilder einer Ausstellung. Einige Fragen zu Fotografien im Museum. In: Zeitschrift für Volkskunde 93 (1997), S. 217-233, hier S. 220.
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führenden Beweises der unrechtmäßigen Handlung sind. Der Tathergang selbst ist allerdings nur durch die ebenfalls hinzu gelieferte Erzählung zu den Fotografien und nicht allein durch die Bilder zu erschließen. Dies verweist auf das Wechselverhältnis zwischen Fotografie, Information, Interpretation und entsprechender Beschriftung im Museum. Zuweilen kann die Fotografie zu ihrer Deutung nur auf sich selbst verweisen und mit Hilfe ihres Motivs und ihrer Substanz gedeutet werden, auch wenn diese dann „im Ungefähren stecken bleiben muss“5. Zur Dokumentation des von der DDR im Rahmen der Maßnahmen zur Zwangsaussiedlungen 1952 und 1961/62 (und in der Folgezeit) begangenen Unrechts bekommen Fotografien den Stellenwert letzter Zeugen. Am Gedächtnisweg in Vacha, der Gedenkstätte Billmuthhausen und im Außengelände des Deutsch-Deutschen Museums Mödlareuth (beispielsweise) zeigen Fotografien das, was es in der Landschaft nicht mehr zu sehen gibt. Direkt am betreffenden Ort, der ehemals mit Gebäuden besetzten jetzigen Leerstelle, machen die Fotografien anschaulich, was hier zerstört worden ist. In Ausstellungen stehen Fotografien als Stellvertreter, die eine Zeit oder einen bestimmten Sachverhalt anschaulich, nachvollziehbar und erlebbar machen. Dabei stellt eine Fotografie nur einen minimalen, ganz bestimmten, sehr begrenzten Ausschnitt ihrer zeitgenössischen Vergangenheit dar. Dieser Ausschnitt kann bezeichnend für die jeweilige Zeit sein oder nicht, es bleibt ein definierter Ausschnitt, an dem dennoch Informationen über die betreffende Zeit abgelesen werden können. Da der Fotografie jedoch sehr häufig noch eine objektive Darstellung einer umfassend gültigen Wirklichkeit oder Wahrheit zugeschrieben wird, ist die Gefahr groß, dass illustrierende Fotografien mit der historischen Wirklichkeit gleichgesetzt werden. Obwohl viele der ausgestellten Fotografien von sachlicher Routine bestimmt sind, lässt sich z. B. durch das Vergrößern ausgesuchter Fotografien mit bestimmter Farbgebung oder Ikonographie die Wirkung des Bildes so verändern und dramatisieren, dass den Betrachtenden eine über das Motiv hinaus gehende Bedeutung des Bildes nahe gelegt wird. Fotografien in Ausstellungen werden häufig nach dem symbolisch wirkenden Motiv oder der Aussagefähigkeit als Stellvertreter, also als „typischer Blick“ ausgesucht. Fotowände oder -tapeten funktionieren an entsprechender Stelle positioniert als Blickfang, der die Besucherinnen und Besucher vorbereitend oder unterstützend auf den Ausstellungsgegenstand einstimmen soll. Eine ähnliche Funktion übernehmen sie als Hintergrund für weitere Exponate, wobei hier noch der Effekt einer zusätzlichen Wirklichkeitserfahrung hinzu kommt. Eine zur Fotowand hochvergrößerte Fotografie des in der Landschaft verlaufenden Metallgitterzauns verleiht einem Stück originalen Metallgitterzauns in der Ausstellung eine intensivere Wirkung, indem sie seine Echtheit bezeugt und verstärkt. Zudem verortet
5
Walter Benjamin: Kleine Geschichte der Photographie. In: ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie. Frankfurt am Main 1966, S. 45-64, hier S. 64.
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die Fotografie das Objekt (beabsichtigt oder unbeabsichtigt), indem sie demonstriert: „so sah es aus, als der Zaun noch in Funktion war“. Fotografien tragen in besonderer Weise zur Konstitution von Erinnerung bei, da sie konkrete Bilder zum jeweiligen historischen Kontext anbieten. Die Darstellung der Grenze auf den ausgestellten Fotografien präsentiert und transportiert eine mehrfach selektierte Sicht auf die Wirklichkeit der Grenze. Mit der Auswahl der Fotografien, ihrer Inszenierung und Pointierung innerhalb der Ausstellung stellen die Verantwortlichen Bilder her, mit denen die Ausstellungsbesucher/-innen nach dem Besuch die deutsch-deutsche Grenze identifizieren werden. „Alle Photographien sind vieldeutig. Alle Photographien sind aus dem Zusammenhang gerissen. Wenn das Ereignis ein öffentliches Ereignis ist, so ist dieser Zusammenhang die Geschichte. Wenn es persönlich ist, so ist die Kontinuität, die hier unterbrochen wird, eine Lebens-Geschichte. Sogar eine reine Landschaftsaufnahme durchbricht einen Zusammenhang – den des Lichts und des Wetters. Diskontinuität bringt immer Vieldeutigkeit hervor. Aber manchmal ist diese Vieldeutigkeit nicht offensichtlich, denn sobald Photographien mit Worten zusammen verwendet werden, haben sie die Wirkung einer Gewissheit, ja sogar einer dogmatischen Behauptung.“6
Grenzmuseum „Schifflersgrund“ Im thüringisch-hessischen Grenzmuseum „Schifflersgrund“ steht die Begegnung von Mensch und Zaun in „schöner“ Landschaft im Vordergrund. Die Ausstellung nutzt die Kombination von Landschaft und Stacheldraht- bzw. Metallgitterzaun in verschiedensten Varianten als Folie zur Präsentation der übrigen Objekte. Die Inszenierung des Metallgitterzauns und der Landschaft beginnt bereits im Außenraum des Grenzmuseums. Die Relikte des Metallgitterzauns sind von einer Aussichtsplattform zu betrachten, die Fernwirkung des Beobachtungsturms im Zentrum des Museums wird sorgfältig als malerisches Landschaftsbild mit Baumreihen und einem geöffneten Schlagbaum im Vordergrund gestaltet. Im Innenraum bleibt die Landschaft durch Fotowände (die immer auch den Zaun zeigen) und durch Landschaftsmalereien an den Wänden präsent. Die starke Verknüpfung von Landschaft und Metallgitterzaun wird an einem weiteren Punkt augenfällig: Die Streckmetallplatten sind auf die mit Landschaften bemalten Wände montiert, so dass die Metallgitterplatten des Zauns wiederum direkt visuell mit der Landschaft verbunden werden. In Gestalt einiger der an den Streckmetallplatten aufgehängten Schwarz-weiß-Fotografien, die aus dem 1961 erschienen Bildband „Grenze durch Deutschland“ von Heinz Gräf entnommen sind, wird dieser Effekt nochmals verdoppelt. Neben anderen sich wiederholenden Motiven nutzt Gräf ebenfalls Landschaftsdarstellungen zur Vermittlung der 6
John Berger und Jean Mohr: Eine andere Art zu erzählen. Photo/Essay. Frankfurt am Main 2000, S. 90f.
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Stimmungen im geteilten Deutschland. Dabei wird die Brutalität der Grenze besonders durch das Zerschneiden der schönen Landschaft durch den Stacheldrahtzaun sichtbar. Eine der ausgestellten Fotografien zeigt eine Bäuerin beim Einbringen der Ernte auf einem Feld, das durch den Stacheldrahtzaun zertrennt wird. Die oberen zwei Drittel des Bildes nimmt ein Unheil verheißender Gewitterhimmel ein. Auf einer weiteren Fotografie auf derselben Ausstellungstafel ist eine idyllische Landschaft hinter dem den Vordergrund ausfüllenden Stacheldraht abgebildet. Die Bildunterschrift dazu lautet: „Thüringen, ‚das grüne Herz Deutschlands‘, Land hinter Stacheldraht“. Letztlich zeigt die grenzübergreifende schöne Landschaft als optisch verbindendes Element, dass die dort lebende Bevölkerung auf beiden Seiten der Grenze trotz allem untrennbar zusammengehört. Die Auswahl und Präsentation der Fotografien aus dem Bildband Heinz Gräfs in der Ausstellung ist im Sinne des Ausstellungskonzeptes noch in einer weiteren Hinsicht schlüssig. Bis in die zweite Hälfte des Jahres 1961 war die Grenze nur durch einen einfachen Stacheldrahtzaun gesichert. In dieser Zeit waren noch – wenn auch in letzter Konsequenz verhinderte – Begegnungen der Bevölkerung beider Seiten am Stacheldrahtzaun möglich. Gerade durch diese möglichen „verhinderten Begegnungen“ konnte die Trennung der Bevölkerung in Gestalt von über den Zaun winkenden oder zeigenden Menschen im festgehaltenen Bild anschaulich werden. Der Stacheldrahtzaun war zudem durchlässiger als der Metallgitterzaun, da dieser gleichzeitig als Sichtschutz fungierte. Dieses Phänomen ist auch an der Inszenierung des Zauns im Grenzlandmuseum Eichsfeld nachvollziehbar. Dort wird der Stacheldrahtzaun vor farbig-malerischer Landschaft wieder aufgebaut, die Mauer und der Metallgitterzaun werden dagegen kalt, grau und durch die in allen Museen im Kontext des Metallgitterzauns immer mit ausgestellte Splittermine SM-70 in ihrer technischen Brutalität präsentiert. Die ausgestellten Fotografien von Heinz Gräf transportieren als Teile eines Bildbandes in diesem Kontext eine bestimmte Aussage, die in der Ausstellung aber so nicht kenntlich gemacht wird. Der Bildband zeigt Eindrücke der deutschdeutschen Grenze auf ihrer gesamten Länge von Lübeck bis Hof. Diese Darstellungen enden mit einer Fotografie, die einen zerbrochenen Schlagbaum abbildet, der sich im Bildvordergrund dramatisch in die Höhe reckt; die Bruchstelle befindet sich als Höhepunkt am oberen Bildrand. Die Abbildung ist mit dem Untertitel „Symbol unserer Hoffnung – der zerbrochene Schlagbaum“ versehen. Das Bild wird im Außenraum des Museums durch den geöffneten Schlagbaum übernommen, der wiederum als zentrales Motiv vor dem Beobachtungsturm des Grenzmuseums auf dem Titelblatt der Museumsbroschüre als Fotografie existiert. In den Fotografien und dem Arrangement der Realien im Kontext der Landschaftsabbildungen kommt der Landschaft in der Ausstellung in Schifflersgrund eine Vermittlungsfunktion zu. Martin Warnke formuliert den Zusammenhang zwischen Landschaft, Denkmal und Betrachtenden wie folgt: „Die Landschaft hat ein tragendes, dienendes, aufblickendes Verhältnis zum Großdenkmal. In die-
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se unterordnende Beziehung tritt auch der Betrachter ein. Er muss sich immer zum Denkmal verhalten.“7 Die Inszenierung von Landschaft und Zaun in Schifflersgrund folgt diesem Prinzip und bemüht sich, die Betrachtenden in die Situation an der Grenze zur Zeit ihres Bestehens hinein zu ziehen. Die Objekte sollen das Publikum in die Lage versetzen, die Bedeutung der Grenzziehung und des Ausbaus der Grenze für die persönlichen Schicksale der Bewohnerinnen und Bewohner der betroffenen Regionen nachvollziehen und dadurch begreifen zu können. Während der Zaun, vor allem der Metallgitterzaun, eher ein drohendes Denkmal darstellt, ist die auf thüringischem Gebiet stehende, häufig auf den Fotografien mit abgebildete Burgruine Hanstein ein positiv assoziiertes Denkmal.
Grenzlandmuseum Eichsfeld Im Grenzlandmuseum Eichsfeld wird vom Prinzip her ähnlich wie im Grenzmuseum „Schifflersgrund“ mit der Einbindung des Publikums gearbeitet. Die im Original erhaltene und jetzt als Eingangsbereich genutzte Personenschleuse der ehemaligen Passkontrolleinheit im heutigen Hauptgebäude des Museums gibt das Leitmotiv der Ausstellung vor: Die Grenze wird in ihrer Bedrohlichkeit besonders im stark reglementierten und kontrollierten Grenzübergang erfahren. Die ehemals bedrängende Situation wird für die Besucherinnen und Besucher nachfühlbar umgesetzt. Durch die rigide Wegeführung des Rundgangs und entsprechend gestaltete Passagen müssen Besucherinnen und Besucher sich immer wieder den vorgegebenen Strukturen anpassen und können ihren eigenen Weg nicht fortsetzen. Damit inszeniert die Ausstellung symbolisch den Vorgang der Anpassung im DDR-System und zeigt zudem, wie schwierig und kompliziert der innerdeutsche Austausch sich aufgrund der Grenzziehung gestaltete. Bei dieser Strategie spielen Fotografien in Form von großformatigen Fotowänden eine wichtige Rolle: Sie bilden den realistischen Hintergrund für im Vordergrund arrangierte Objekte, die mit den Bildinhalten korrespondieren. In dieser Konstellation laden sich die Fotografien und Objekte gegenseitig mit Bedeutung auf. In einem Arrangement zum Thema Fluchten über die „Grüne Grenze“ bildet eine schwarzweiße Fotowand, die einen gerodeten und geeggten Streifen in einem Wald zeigt, den Hintergrund für einen davor aufgestellten, mit Koffern beladenen Handwagen. An der Seite steht, relativ unscheinbar, ein alter Grenzpfahl aus Holz. Getrennt besehen, sind weder die Fotografie (die auch den Beginn eines am Waldrand liegenden Feldes zeigen könnte) noch die Gepäckstücke (die symbolisch für „Flüchtlinge“ stehen) besonders aussagekräftig im Hinblick auf die Situation an der Grenze. In der Zusammenschau der Objekte, in Kombination mit dem Grenzpfahl, der so platziert ist, als gehöre er in die Foto7
Martin Warnke: Politische Landschaft. Zur Kunstgeschichte der Natur. München/Wien 1992, S. 25.
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grafie, und mit am Boden verstreutem Laub wird die Landschaft zum Grenzstreifen, über den Menschen unter Bedrohung ihres Lebens geflohen sind. Das Publikum soll durch direkte visuelle Ansprache entweder erinnert („ja, so war das“) oder überzeugt („so war das damals also“) werden. Zum Teil werden Fotografien auch zur Dopplung und damit Bestätigung der ausgestellten Objekte gebraucht. Über einem Schlagbaum hängt eine Fotografie, die zwei Schlagbäume noch in Funktion an der Grenze zeigt. Über dem nachgebauten Stacheldraht hängt eine Fotografie, die bestätigt, dass es einen Zaun gab, der wirklich so aussah. Die Fotografien füllen die Objekte mit Leben, indem sie bezeugen, dass die im Museum aufbewahrten „toten“ Objekte zu einem bestimmten Zeitpunkt zum wirklichen Alltag der innerdeutschen Grenze gehört haben. In einigen Inszenierungen widersprechen Fotografien den ausgestellten Objekten gezielt. Im kunterbunten Ausstellungsraum zu „Mangel und Versorgung“ in der DDR symbolisiert neben der Fülle der die „Versorgung“ demonstrierenden Verpackungen von DDR-Produkten eine Fotowand den „Mangel“, indem sie eine Warteschlange vor einem Geschäft zeigt. Der sehr stark emotional einbindenden und symbolisierenden Dauerausstellung stellt das Konzept des Grenzlandmuseums die Möglichkeit der nüchternen wissenschaftlichen Differenzierung in Form der Bildungsstätte an die Seite. Das Museum liefert das Angebot der Wissensvermittlung, die zum Dekonstruieren der im Museum geschaffenen Geschichtsbilder nötig ist, gleich mit. Diese Absicht wird in der Dauerausstellung an einem Punkt besonders deutlich. Das innerhalb einer Inszenierung zur Berliner Mauer präsentierte Foto, das den fliehenden Conrad Schumann zeigt, kann durch weitere Materialien, die neben dem Bild an einem beweglichen Gestell angebracht sind, zum Großteil verdeckt werden. In diesem Gestell sind hauptsächlich Zeitungsartikel der Presse aus BRD und DDR über den Bau der Mauer und den später folgenden Aus- und Aufbau der Grenzsperranlagen untergebracht. Die einzige Fotografie, die im Zusammenhang der Berliner Mauer und auch der gesamten innerdeutschen Grenze als Ikone diskutiert werden könnte, kann durch das Interesse der Besucherinnen und Besucher in dieser Ausstellung bewusst in ihrer Wirkungskraft gebrochen werden. Sobald die Betrachtenden beschließen, differenzierte Informationen beider Seiten über den Bau der Mauer und den Ausbau der Grenze bekommen zu wollen, müssen sie sich von dem bekannten Bild abwenden. Damit haben die Ausstellungsmacher/innen einen kleinen Irritationsanlass in Bezug auf Bilder, die sich inhaltlich von ihrem historischen Kontext lösen, integriert. Dem Einzelbild wird der historische Kontext in der Ausstellung wieder zugeführt. Im Grenzlandmuseum Eichsfeld wird die Ausstellung zur innerdeutschen Grenze von mehreren Räumen über den Alltag in der DDR ergänzt. Zum Konzept des Grenzlandmuseums zählte von Beginn an das Einrichten einer Bildungsstätte mitsamt einer Bibliothek (nach der DDR-üblichen Klassifikation für staatliche Allgemeinbibliotheken). Damit bietet das Museum gleichzeitig einen Ort zur gezielten Wissensvermittlung durch andere Medien an.
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Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn Die Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn ist durch maßgebliche Förderung des Bundes und die Trägerschaft des Landes Sachsen-Anhalt der Ort, an dem sich am ehesten die offiziell erwünschte bundesdeutsche Erinnerung an die innerdeutsche Grenze ablesen lässt. Die Organisation der finanziell sehr gut ausgestatteten Ausstellung unterscheidet sich nicht wesentlich von der im Grenzlandmuseum Eichsfeld und im Grenzmuseum Schifflersgrund. Auch hier geht die zunächst chronologische Ordnung des Auf- und Ausbaus der Grenzsperranlagen über in eine Untergliederung in thematische Abschnitte. Die Grenze wird als ein Ort von sich zunehmend entwickelnder und verdichtender Bedrohung dargestellt. Sowohl am Beginn als auch am Ende der Dauerausstellung steht eine detaillierte Liste mit den Opfern, die an einer der Staatsgrenzen der DDR zu Tode gekommen sind (es sind alle Grenzen aufgelistet, nicht nur die deutsch-deutsche). An dieser zentralen Stelle als erste und letzte Aussage der Ausstellung soll in erster Linie daran erinnert werden, dass die Todesopfer Opfer der SED-Diktatur waren. Im weiteren Rundgang passieren Besucherinnen und Besucher die Grenzen von 1952 und 1961. Die „Grenzübergänge“ werden im Marienborner Design nicht durch eine realistische Ästhetik inszeniert, sondern mittels dezent arrangierter Stellvertreter angedeutet, die von den Betrachtenden erst interpretiert werden müssen. Die durchlässige „Grüne Grenze“ wird durch einen Lichtstrahl, die ausgebaute Grenze mit Metallgitterzaun durch einen „Eisernen Vorhang“ aus Metallringen symbolisiert. Im Fortgang der Ausstellung konfrontiert der Ausstellungsaufbau immer wieder mit Bedrohungen und Unsicherheiten. Der Weg führt über durchbrochene Bodengitter, auf Stege; Metall- oder Milchglaswände versperren die Sicht. Der Weg in den Ausstellungsbereich „Flucht und Ausreise“ führt bezeichnenderweise in eine Sackgasse. Der einzelne Mensch wird zunehmend eingekreist und unter Druck gesetzt – wie in der DDR so in der Ausstellung. Die Inszenierung von einzelnen Fotografien spielt hierbei neben anderen Mitteln eine wichtige Rolle. Die in der Ausstellung inszenierte und wiederbelebte Bedrohlichkeit der innerdeutschen Grenze wird durch das unterkühlte Design gemildert. Relikte und Realien der Grenze sind beispielsweise sehr sparsam dosiert und grafisch wirksam eingesetzt. Die reduzierte Warenhaus- oder Kunstausstellungsästhetik bietet Besucherinnen und Besuchern als Gesamteindruck einen sicheren Anhaltspunkt in ihrer Wahrnehmung, der ein Einordnen der vermittelten Inhalte ermöglicht.
Erinnerungsbilder „Generell gilt, dass sich die Auseinandersetzung mit der jüngsten Geschichte nicht im luftleeren Raum vollzieht, sondern in Auseinandersetzung mit bisherigen Geschichtsbildern, die wir mithin in unsere Betrachtung einbeziehen müs-
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sen“.8 Im Kontext der Grenzmuseen ist vor diesem Hintergrund zu fragen, welche Interessen Erinnerung konstituieren. Die Organisation und Trägerschaft der Museen kann hierüber genauso Auskunft geben wie die Herkunft der Materialien, vor allem, wenn es sich um Leihgaben handelt. Gerade Leihgaben aus dem Umfeld des BGS, aus dem viele der Grenzmuseen eine große Anzahl ihrer Materialien rekrutieren, führen zu einer sehr von Westdeutschland geprägten Darstellung der innerdeutschen Grenze. Von ostdeutscher Seite gibt es hier in der Interessenvertretung kaum ein Gegengewicht, obwohl es in den Museen durchaus nennenswerte Leihgaben von Grenztruppen-Angehörigen und DDR-Bürgerinnen und Bürgern gibt. Nach den Erfahrungen der Museen ist eine differenzierte Darstellung der DDR-Grenztruppen nicht populär; vielmehr werden sie vorwiegend als treueste und letzte Täter und Handlanger des SED-Regimes präsentiert. Die in den Grenzmuseen zur Erinnerung an die innerdeutsche Grenze ausgewählten Bilder und vor allem Fotografien lassen sich zum Teil zu zeichenhaft verwendeten Motivgruppen zusammenfassen. Häufige Motive sind beispielsweise Fluchten oder Flüchtlinge, wobei hier noch zwischen Fluchtfällen an der Berliner Mauer und denen an der innerdeutschen Grenze unterschieden werden soll. Beide – sowohl der prominente Fluchtfall Conrad Schumanns als auch weniger bekannte regionale Fluchtfälle – sind Bestandteil der Erinnerung in den Grenzmuseen. Weitere durchgängig vorhandene Motive sind Bilder von der Grenzöffnung und von DDR-Grenzaufklärern, die mit Fotoapparaten oder Ferngläsern die Grenze und den Grenzraum beobachten. Allgemein stehen in den Ausstellungen für die Vermittlung des Eindrucks „Flüchtlinge“ für die frühe Grenze Handkarren und Gepäckstücke. Auf den Fotografien sind mit Taschen beladene Menschen von hinten zu sehen, Warteschlangen, in denen Menschen mit Handkarren und Gepäck anstehen, um über die Grenze zu gelangen. Oft können die Fotografien erst durch die Zusammenstellung mit weiteren Objekten wie Grenzpfählen oder Schlagbäumen auf die Grenze bezogen werden. Ein sich wiederholendes Hintergrundmotiv sind Fotografien, oft zu Fotowänden vergrößert, die einen geeggten Grenzstreifen in einem Waldstück oder aber einen Waldweg zeigen. Hiermit wird das heimliche, unwirtliche, unsichere und gefahrvolle Moment der Flucht symbolisiert. Zu beiden Seiten des übersehbaren Grenzstreifens liegt unsichere, unüberschaubare Wildnis. Die Fluchten über die Grenze werden mit spezifischen Gerätschaften, Fluchtgepäck, Karten des BGS oder der DDR-Grenztruppen, mit darauf verzeichneten Fluchtwegen und -stellen mit Listen mit Fluchtzahlen dargestellt. In den Fotografien stehen hauptsächlich der überwundene Grenzraum und die überwundenen Sperranlagen im Mittelpunkt. Fotografien spektakulärer Fluchten gehören (je
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Bernd Faulenbach: Die doppelte deutsche Nachkriegsgeschichte in Museen und Ausstellungen. In: Bernd Faulenbach und Franz-Josef Jelich (Hg.): Probleme der Musealisierung der doppelten deutschen Nachkriegsgeschichte. Essen 1993, S. 711, hier S. 8.
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nach Region verschieden) zu den Bildern, die in Grenzmuseen und in der Presse erinnert werden. Da Fluchtversuche nur selten zeitgleich aufgenommen werden konnten, werden oft beschreibende Fotos vor oder nach dem Fluchtversuch als Stellvertreter herangezogen. Entweder werden die Fluchtorte, -geräte oder -fahrzeuge gezeigt, die Trauer um die Opfer mit Kränzen am Ort des Todes oder die Spurensicherung durch die Grenztruppen, die wiederum von Seiten des BGS fotografiert worden ist. Eine Besonderheit stellt schon aufgrund der weltweiten Veröffentlichung die Flucht von Conrad Schumann dar. Neben dem fotografischen Motiv des in die Freiheit springenden Volkspolizisten versinnbildlichen die zahlreichen Varianten des „Sturms auf die Mauer“ vor dem Brandenburger Tor am 9. November 1989 die Grenzüberwindung. Bei beiden Motiven stehen die Fotografen im Westen und schauen Richtung Osten. Damit positionieren sie sich und die Betrachtenden ihrer Fotografien am Ort der „Zuschauer“. Ihr Blick ist derjenige der Freien auf die Befreiten und suggeriert damit Überlegenheit – sowohl 1961 als auch 1989. Die Fotografien zur Grenzöffnung in Berlin, metaphorisch umschrieben als „Fall der Mauer“, zeigen hauptsächlich eine Menschenmenge auf der Mauer vor dem Brandenburger Tor. Während hier zu viele Fotografien von zu vielen Fotografen existieren, um sie zu nennen, ist ihnen jedoch motivisch einiges gemeinsam: die Menschenmenge auf der Mauer sitzend und stehend, hinter ihr sich erhebend das Brandenburger Tor, über der begeisterten Menge die Flagge der BRD. Ähnlich den Bildern vom „Fall der Berliner Mauer“ existieren auch von der Öffnung der Grenzübergangsstellen auf der gesamten Länge der Grenze unzählige Bilder. In den ausgewählten Motiven stimmen sie ebenfalls überein: „Trabbi“Warteschlangen an den Grenzübergängen, das Passieren der Grenzlinie, der Abbau des Metallgitterzaunes, die Öffnung der Durchlasstore, erste Begegnungen der Grenzorgane beider Seiten, Besuche der Westdeutschen bei den ostdeutschen Nachbarn, gemeinsame Feiern am offenen Grenzübergang. Ein weiteres Erinnerungsmotiv im Zusammenhang der innerdeutschen Grenze sind die DDR-Grenzsoldaten, die beim Beobachten und Fotografieren gezeigt werden. Trotz ihres im Grunde eher bedrohlichen Inhaltes sind die Bilder aufgrund ihrer Prägnanz oft ästhetisch inszeniert. In den gezeigten Motiven vermitteln die Soldaten nichts direkt Bedrohliches, so dass ihnen durchaus ein dekoratives und Spannung erzeugendes Moment im Sinne von Kriminal-, Spionage- oder Detektivfilmen anhaftet. Gegenbilder, welche die DDR-Grenzaufklärer produziert haben und die BGS-Beamte zeigen, finden sich in den Grenzmuseen praktisch nicht ausgestellt; die Gründe für diese „Spurenbeseitigung“ wären noch eine weiter führende Erörterung wert.
Erinnerungspolitik Geschichte wird hauptsächlich als Erzählung vermittelt und anschaulich. Als Erzählung aber bietet sie in Gestalt des oder der Erzählenden immer eine Identifi-
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kationsfigur oder -position mit an. Es handelt sich also um eine die Besucherinnen und Besucher involvierende Art der Präsentation. Die Distanz zum Ausstellungsgegenstand wird durch unmittelbare Konfrontation abgebaut und damit die persönliche Betroffenheit gesteigert. Die oben besprochenen Ausstellungen der Grenzmuseen halten sich grundsätzlich an dieses Prinzip; sie zeigen jedoch auch Ansätze der Distanzierung. An die Stelle des emotionalen Affektes kann die Reflexion über politische Zusammenhänge, Erinnerungspolitik und einen öffentlichen Diskurs über den Ausstellungsgegenstand treten. Die Darstellung der Grenze in den Medien in Ost und West ist außer im Moment der Grenzöffnung z. B. nur sporadisch Teil der Ausstellungen. Die Bilder, mit denen die Grenze einschließlich ihres Abbaus dargestellt worden ist, haben in den Ausstellungen wiederum nur die Aufgabe, Inhalte zu illustrieren und zu beweisen; sie sind aber in ihrer Funktion selbst nicht Gegenstand der Überlegung. Die Ausstellungen in den Grenzmuseen richten sich an sehr unterschiedliche Besuchergruppen. Als lokal oder regional bedeutsame Museen wenden sie sich an die Bevölkerung, die in direkter Nähe (beiderseits) der innerdeutschen Grenze gelebt hat. Diese Klientel hat die Grenze selbst erlebt und in Erinnerung, das Museum dient der Selbstvergewisserung und der Versicherung, dass dieser besondere Aspekt ihres Alltags nicht in Vergessenheit gerät. Eine ähnliche Besuchergruppe bilden die ehemals beiderseits an der Grenze Beschäftigten: Beamte des Zolldienstes, des Bundesgrenzschutzes, Angehörige der DDR-Grenztruppen u. a. Diese Gruppe identifiziert sich unterschiedlich mit der Grenze. Die Beamten des BGS sehen sich in ihrem Verständnis von der innerdeutschen Grenze bestätigt, während die Beschäftigten auf Seiten der DDR sich für ihre Identifikation mit dem herrschenden System rechtfertigen müssen. Die Bürgerinnen und Bürger der DDR sind grundsätzlich anders vom Thema der deutsch-deutschen Grenze betroffen als die Bevölkerung der BRD vor der Grenzöffnung. In Westdeutschland war eine distanzierte Sicht auf die Grenze möglich, in Ostdeutschland betraf sie Jede und Jeden persönlich. Die den SED-Staat Bejahenden identifizierten sich positiv mit der sie offiziell „schützenden“ Grenze, für Verfolgte des SED-Staates war sie nur unter Todesgefahr zu überwinden, und diejenigen, die einfach nur angepasst im System zurechtkommen wollten, mussten die Grenze und das Eingesperrtsein zumindest immer aktiv ausblenden. Die Besucherinnen und Besucher sind also ganz unterschiedlich in den Gegenstand der Ausstellung involviert. In den Grenzmuseen wird zum überwiegenden Teil, trotz oder gerade wegen des persönlichen Beteiligtseins, mit einer emotionalisierenden Sicht auf die Grenze gearbeitet.
Fluc ht ins Muse um? Fluc ht im Muse um? Das Ostpre ußisc he La nde smuse um Lüne burg zw ischen M yt hos, Erinnerung, Geschichte und Gegenw art ULRICH MÜLLER Die vier Schlagwörter Mythos, Erinnerung, Geschichte und Gegenwart stecken das Feld geschichtsvermittelnder Museumsarbeit ab. „Flucht“ spielt zusätzlich für das Ostpreußische Landesmuseum in Lüneburg eine Rolle, als Zufluchtstätte für eine Vergangenheit und als Metapher für das Ausweichen vor Problemen. Das Museum besteht wie eine Reihe anderer Einrichtungen1 auf der Grundlage des Paragraphen 96 des Gesetzes für die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge (BVFG), demzufolge „das Kulturgut der Vertreibungsgebiete in dem Bewusstsein der Vertriebenen und Flüchtlinge, des gesamten deutschen Volkes und des Auslandes“ erhalten werden müsse. Als eine Maßnahme hierfür wird die Sicherung, Ergänzung und Auswertung von Museen genannt.2 Über die Fördermaßnahmen legt die Bundesregierung in regelmäßigen Abständen dem Bundestag Berichte vor, denen mitunter Grundsatz- oder Neukonzeptionen beigefügt wurden.3 1
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Zur Problematik der Benennung der „ostdeutschen Landesmuseen“ siehe Ulrich Müller: „Ostdeutsche Landesmuseen“ – „Vertriebenenmuseen“. Zum Problem einer Benennung. In: Zeitschrift für Siebenbürgische Landeskunde. Jg. 29 (2006), H. 2, S. 229-233. Eine prägnante Form ist bisher nicht gefunden. Im vorliegenden Text setze ich den Ausdruck „ostdeutsche Landesmuseen“ in Anführungszeichen, um so deutlich zu machen, dass Gesagtes und Gemeintes gewisse Differenzen aufweisen. Gesetz über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge (Bundesvertriebenengesetz – BVFG) vom 19. Mai 1953 in der Fassung der Bekanntmachung vom 3. September 1971, zuletzt geändert durch das Gesetz zur Aufhebung des Heimkehrergesetzes und zur Änderung anderer Vorschriften vom 20. Dezember 1991, Bonn o. J., S. 40. Vgl. Jürgen Martens: Museumspolitik für das Erbe ehemals deutscher Gebiete. In: Museumskunde. Bd. 58 (1993). H. 2/3, S. 123–130, hier S. 125. Die Berichte mit solchen Anhängen sind: Deutscher Bundestag, 8. Wahlperiode, Drucksache 8/3563, 17.1.1980, Unterrichtung durch die Bundesregierung. Bericht der Bundesregierung über die Maßnahmen zur Förderung der ostdeutschen Kultur-
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Eine zentrale Grundannahme in den Berichten ist die einer einheitlichen deutschen Kultur, die auch die deutschen Kulturlandschaften im Osten in Vergangenheit und Gegenwart umfasst.4 Das „ostdeutsche Kulturerbe“ sollte in seiner „Bedeutung für die Gesamtkultur unserer deutschen Nation“5 erhalten und weiterentwickelt werden. Die Betonung des nationalen Aspektes wurde bisweilen in einen europäischen Zusammenhang gestellt.6 Die in § 96 BVFG genannten Zielsetzungen und Aufgaben wurden auch nach 1989 als „weiterhin uneingeschränkt gültig“ angesehen. Es trat die Arbeit „vor Ort“, d. h. die Unterstützung der deutschen Minderheiten und der Erhalt von „Kulturgut in den deutschen Siedlungsgebieten“ hinzu. 1999 wurden erstmals die budgetären Probleme der öffentlichen Hand angesprochen. Im Jahr 2000 wurde die Aufgabe weniger in der Pflege der deutschen Kultur, sondern mehr im Austausch mit den östlichen Nachbarn gesehen.7 Zur Schaffung einer gebündelten Informationsmöglichkeit über die großen historisch-ostdeutschen Regionen wurde um 1980 die Idee von mehreren regionalen Museen als „Landesmuseen der großen ostdeutschen Regionen“ entwickelt. Die Förderung dieser „ostdeutschen Landesmuseen“ war in der Folgezeit einer der Schwerpunkte der Kulturarbeit nach § 96 BVFG. Um diese Einrichtungen einordnen zu können, müssten vielfältige Untersuchungen durchgeführt werden, wie z. B. zu ihrer Umsetzung, zur Situation in Österreich und in der DDR und zu diversen Musealisierungsfragen. Im Folgenden steht exemplarisch das Ostpreußische Landesmuseum in Lüneburg im Mittelpunkt. Sein Vorläufer war das „Ostpreußische Jagdmuseum“ in Lüneburg, das von dem Forstmeister Hans-Ludwig Loeffke 1958 gegründet und nach einem Brand 1964 wiedereröffnet wurde. Es war „eine ansehnliche Spezialsammlung mit dem
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arbeit gemäß § 96 BVFG in den Jahren 1976, 1977 und 1978, Anlage 2, Entwurf der Grundsatzkonzeption zur Weiterführung der ostdeutschen Kulturarbeit, S. 13– 24. Im folgenden werden die Berichte mit dem Kürzel „BT“, der jeweiligen Nummer, der Jahreszahl in Klammern und ggf. dem Namen des Konzepttextes angegeben: Grundsatzkonzeption: BT 9/1589 (1982), Aktionsprogramm: BT 11/2572 (1988), S. 18–41, Fortschreibung des Aktionsprogramms: BT 12/7877 (1994), S. 28-55 und Konzeption zur Erforschung der Kulturförderung nach § 96 BVFG (Neukonzeption): BT 14/4586 (2000), S. 1-9. BT 8/586 (1977), S. 10, 15 und 28, BT 8/3563 (1980), Entwurf der Grundsatzkonzeption, S. 14, BT 9/1589 (1982), S 2 und 13 und Grundsatzkonzeption, S. 15f., BT 11/2572 (1988), S. 11 und Aktionsprogramm, S. 1, BT 12/7877 (1994), Fortschreibung, S. 28 und BT 14/2312 (1999), S. 2. Auffällig ist, dass der aus geschichtswissenschaftlicher Sicht dominante historische Kontext des Nationalsozialismus erst 1997 Erwähnung in den Berichten fand. BT 13/8096 (1997), S. 2. BT Drucksache 9/1589 (1982), S. 2. BT 8/586 (1977) u. ö. Vgl. Matthias Buth: Regionen und Museen – kulturgeschichtliche Dokumentation der Deutschen in Osteuropa. In: Museumskunde. Bd. 57 (1992). H. 2/3, S. 137–139, hier S. 138. BT 14/2312 (1999), S. 8, BT 14/4586 (2000), S. 3f.
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Charakter einer Heimatstube.“8 Loeffke beschrieb 1965 seine Absichten folgendermaßen: „Die starken Trophäen unserer Heimat sollen handgreiflich zeigen, was die deutsche Scholle leistete und wert ist.“ Er wollte, dass „die Voraussetzungen erarbeitet und geschaffen werden, um einst die ‚grüne Arbeit‘ in Ostpreußen ohne Bruch der ‚Grünen Tradition’ wieder aufzunehmen. Diese Arbeit der vertriebenen ostpreußischen Jäger und Reiter soll ihr Beitrag sein für die Vorbereitung einer deutschen Rückkehr!“9 Auch unter der zehnjährigen Leitung des Nachfolgers, Horst Albinus, änderte sich an der Ausstellung nicht viel.10 1981 wurde das Haus um landeskundliche und auch kulturhistorische Aspekte erweitert. Das Museum hatte als erstes „ostdeutsches Landesmuseum“ Modellcharakter.11 Damals wurde eine Konzeption erarbeitet, nach der „seitdem die Dauerausstellung eingerichtet“ wird.12 Ende 1986 zog das Museum in den Neubau und wurde im Juni 1987 mit provisorischen Ausstellungen eröffnet.13 Es sah sich von Anfang an mit Kritik aus zwei Richtungen konfrontiert: Einerseits richteten sich „Gruppen v. a. des DKPUmkreises“ gegen vermutete revanchistische und verharmlosende Tendenzen. Andererseits nahm das Museum eine „Kampagne aus der Richtung des BdV [Bund der Vertriebenen]“ wahr.14 Die Auswirkungen der Veränderungen nach 1989 auf das Ostpreußische Landesmuseum wurden von der Bundesregierung in ihrem Bericht von 1994 als positiv bewertet. Es wurde hervorgehoben, dass das Museum nunmehr Kontakte nach Russland, Litauen und Polen aufnehmen konnte. In der Neukonzeption der Bundesregierung von 2000 wurde vorgesehen, die Trägerschaft des Museums neu zu regeln und es um eine baltische Abteilung zu erweitern. Außerdem sollte das Westpreußische Landesmuseum nach Lüneburg umziehen und dort ein Zentrum für Nordosteuropa entstehen.15 Erste Aktivitäten des Museums wiesen in diese Richtung. Generell ist die Realisierung solcher Pläne seitdem allerdings ungewiss. Für die Analyse einer Ausstellung ist es sinnvoll, „bewusst an der Oberfläche der Präsentation zu bleiben“. Durch das genaue Betrachten der Oberfläche wer8 9
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Jörn Barfod: Das Ostpreußische Landesmuseum – Entstehung und Entwicklung. In: Jahrbuch für ostdeutsche Volkskunde 34 (1991), S. 381-399, hier S. 385. H. L. Loeffke: Auch Jagdtrophäen können für die Heimat zeugen! In: Der redliche Ostpreuße. Ein Kalenderbuch für 1966 (17. Jg.), Leer 1966, S. 22–26, hier S. 26 (zitiert nach Barfod (wie Anm. 8), S. 385. Friedrich Jacobs: Ein Museum auf dem Weg. In: Ostpreußisches Landesmuseum Lüneburg. Zur Eröffnung. Lüneburg 1989, S. 27–29. BT 11/2572 (1988), Aktionsprogramm, S. 22. Ebd., S. 387. Ebd., S. 383f. und 387. Siehe auch Ronny Kabus: Zur Entwicklung des Ostpreußischen Landesmuseums. In: ders. (Hg.): Ostpreußen. Landschaft – Geschichte – Kultur im Ostpreußischen Landesmuseum Lüneburg. Husum 1997, S. 7–15, hier S. 9. Barfod (wie Anm. 8), S. 388. BT 14/4586 (2000), S. 5.
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den die Erzählungen sichtbar. „Diese Erzählungen sind an der Oberfläche immer schon präsent, selbst wenn sie nicht explizit das Argument der Inszenierung sind.“16 Die ständige Ausstellung des Ostpreußischen Landesmuseums besteht aus einer Einführung in Haus und Thematik, einer naturkundlichen, einer Jagd-, Bernstein-, kunsthandwerklichen, landwirtschaftlichen, wissenschaftsgeschichtlichen, kunstgeschichtlichen und zwei allgemeingeschichtlichen Abteilungen.
Mythen In der Ausstellung lässt sich ein Phänomen beobachten, das sich als „Mythos“ beschreiben lässt. Hierbei handelt es sich insbesondere um die tradierten Mythen der preußischen Geschichtsschreibung, die sich an den Kurfürsten und Königen ausrichten. Eine besonders pittoreske Darstellung erhält Königin Luise in Form eines sehr eleganten vergoldeten Sahnekännchens aus der Zeit um 1800, das als „passender Ausdruck ostpreußischer Kargheit, die dem durch Berlin verwöhnten Königspaar auch in Memel zu schaffen machte“, vorgestellt wird.17 Neben den Herrschern werden Kopernikus, Kant und Corinth als Ostpreußen oder „Spitze des durch Immigration entstandenen ‚Neustamm’ der Ostpreußen“ vereinnahmt, ohne auf die vielfältigen Aspekte in deren Biographien einzugehen. Diese Personenverehrung wird ergänzt durch Persönlichkeiten, die nichts oder wenig mit Ostpreußen zu tun haben, wie Johannes Reuchlin, Ulrich von Hutten, Johannes Tetzel, Martin Luther, Philipp Melanchton, Johann Calvin und Friedrich Nicolai. Ein wesentlicher Mythos, auch in der preußischen Geschichtsschreibung, ist die Toleranz. Ein besonders schillernder Fehlgriff des Museums ist die Beschreibung des 1565 gegründeten „Jesuitenkolleg in Braunsberg im katholischen Ermland“ als „Ausdruck der geistigen Freizügigkeit“.18 Braunsberg gehörte erst ab 1772 zu Ostpreußen, vorher mit dem Ermland zum katholischen Polen. Der Mythos der „Freien Stadt“ wird im Museum vor allem in Bezug auf Elbing angeführt und tritt fast ausschließlich zur Abgrenzung gegenüber Polen auf. Die vielen Aspekte städtischer Freiheiten und Unfreiheiten werden nicht erwähnt.
16 Roswitha Muttenthaler und Regina Wonisch: Zur Schau gestellt. Be-Deutungen musealer Inszenierungen. In: Michael Barchet, Donata Koch-Haag und Karl Sierek (Hg.): Ausstellen. Der Raum der Oberfläche. Weimar 2003, S. 59–77, hier S. 59. Dies entspricht der Auffassung, dass Museen kulturelle Texte sind, die gelesen werden können, um ihre zugrunde liegenden kulturellen oder ideologischen Voraussetzungen zu verstehen. Die Analyse von Ausstellungen kann allerdings kaum auf ein verbindliches und erprobtes Instrumentarium zurückgreifen. 17 Ronny Kabus: Die Geschichte Ostpreußens von der Frühbesiedlung bis 1914. In: Ostpreußen (wie Anm. 13), S. 113. 18 Thomas Reulecke und Ronny Kabus: Wissenschaft – Bildung – Literatur. Land universeller Geister. In: Ostpreußen (wie Anm. 13), S. 202-250, hier S. 212.
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Der Mythos des Russen, der Ostpreußen überfällt, deutet sich beim Siebenjährigen Krieg und beim Ersten Weltkrieg auf unterschiedliche Weise an.19 Er wird ergänzt durch das Bild der Siegermächte am Ende des Zweiten Weltkriegs. Sie werden verantwortlich gemacht für die Grausamkeiten in den besetzten Gebieten. Das Museum zeigt aber auch, dass es durchaus in der Lage ist, mit solchen mythenartigen Themen in aller Kürze und souverän umzugehen. Ostpreußen wird gern als „Kornkammer Deutschlands“ oder „des Reiches“ bezeichnet. Diese verbreitete Metapher wird in der landwirtschaftlichen Abteilung aufgegriffen und geklärt.20 Mythen im Museum müssen also nicht unbedingt ein Problem sein, bergen aber erhebliche Gefahren. Sie können sicherlich nicht vermieden werden und sind Teil des Darzustellenden. Die Flucht der Königin Luise in das kalte Ostpreußen gehört zweifellos zum Thema, aber als Mythos und nicht als Tatsache. Der Ansatz, tradierte Geschichten zu referieren, kann nicht aufgehen, wenn wie hier offensichtlich ist, dass er auf falschen oder unwesentlichen Aussagen beruht und einzig die Identifikation mit dem Herrscherhaus verstärkt. Dies kann durchaus als „Geschichtsklitterung“ gesehen werden, die zu „befriedeter Geschichte und mythenbildenden Stammbäumen“ führt und ein historisches Bewusstsein verhindert.21 Ein weiterer Mythos zieht sich als Kontrapunkt zu allen übrigen Erzählungen durch das Museum: der „Zug durch Schnee“. Hier sind die von den Rittern gerufenen und angeführten Siedler zu nennen, aber auch der über das Haff setzende Große Kurfürst, die Entbehrungen erleidende Königin Luise und die Flüchtlinge und Vertriebenen der beiden Weltkriege. Auch die Beschreibung der jährlichen Krähenzüge gehört hierhin. Dieser Mythos verläuft parallel zum zentralen großen Thema des Museums, dem Thema „Flucht und Vertreibung“. Er scheint sogar eine Art Stellvertreterfunktion dafür einzunehmen. Er repräsentiert es, ist teilweise identisch damit und geht teilweise darüber hinaus. In jedem Fall liefert er griffige Bilder.
Nationalismus, Flucht und Vertreibung Durch die Texte im Museum zieht sich ein latenter und kaum verborgener Nationalismus. Dabei handelt es sich vor allem um zahlreiche kleinere Momente, die zusammen ein deutliches Bild ergeben. „Deutsche“ Gebietserwerbungen etwa werden neutral oder als berechtigt, andere hingegen als Unrecht dargestellt. Die 19 Vgl. Heidi Feilke und Ronny Kabus: Die Geschichte Ostpreußens 1914-1945. Von Weltkrieg zu Weltkrieg. In: Ostpreußen (wie Anm. 13), S. 141-179, hier S. 143. 20 Waldemar Warmuth, Heidi Feilke und Christoph Hinkelmann: Ländliche Wirtschaftszweige. In: Ostpreußen (wie Anm. 13), S. 180-208, hier S. 180. 21 Helga Georgen: Auswüchse der Museumsgesellschaft. Nachläufige Bemerkungen zu den historischen Großausstellungen: In: Die Zukunft beginnt in der Vergangenheit. Museumsgeschichte und Geschichtsmuseum. Frankfurt/M. 1982, S. 12–19, hier S. 12f.
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Erste Teilung Polens wird als „Wiedergewinnung“ benannt. Die Bezeichnung Ostpreußens als deutsche Provinz verwischt den Unterschied zwischen „Deutschland“ und „Preußen“, da das Deutsche Reich anders als Preußen keine Provinzen hatte. Der Umstand, dass das Gebiet Ostpreußens bis 1867 kein Teil des deutschen Staates war, wird erst am Ende des Rundgangs gesagt. Die Bezeichnung „norddeutsche Tiefebene“ vereinnahmt auch weite Teile Polens. Städte werden Ostpreußen zugeschlagen, die entweder nie, wie Danzig, oder nicht in der fraglichen Zeit zu dieser Provinz gehörten. Tierarten werden in ihren Eigenschaften im Präsens beschrieben, ihr Vorkommen in Ostpreußen hingegen im Präteritum. Damit wird eine Veränderung suggeriert, die auf die politische Entwicklung zurückzuführen ist. Die Rede vom „‚Neustamm’ der Ostpreußen“ und von den „Gauen der Prußen“, das Verschweigen der polnischen Seite bei den Volksabstimmungen 1920, die harmlose Beschreibung der Rückgewinnung des Memellandes 1939 gegenüber der Verurteilung seines Verlustes 1920 und die undifferenzierte Auflistung der Erneuerungen des Eisernen Kreuzes gehen in die gleiche Richtung.22 Die Eroberung Danzigs durch den Orden wird zum Anlass genommen, die „starken Anteile deutscher Einwohner“ hervorzuheben.23 Napoleon wird allein mit Fremdherrschaft gleichgesetzt. Nur einmal wird auf ungerechtfertigten deutschen Nationalismus verwiesen und auf die Probleme nationalistischer Bestrebungen eingegangen. Mit diesen und anderen Momenten wird eine klare Botschaft vermittelt: Ostpreußen war eine deutsche Provinz, hier lebte eine deutsche Bevölkerung in einer deutschen Landschaft.24 Damit nimmt das Museum eine provokante Position ein. Wortlos werden alle Verbindungen in die nicht-deutschen Nachbarregionen gekappt, ebenso wie in nicht-deutsche Zeit. Das Museum beschäftigt sich nicht mit dem ganzen Ostpreußen, sondern nur mit seinem deutschen Teil. Der Begriff „deutsche Kultur“ wird dabei nicht reflektiert. Joachim Meynert spricht von dem „Mythos der kulturellen Homogenität“,25 der vielleicht als der wesentliche Mythos des Museums anzusehen ist. Nicht unerwartet sind Flucht und Vertreibung ein häufiges Motiv in der Ausstellung des Museums. Im Abschnitt zum Ersten Weltkrieg wird die Flucht vor der russischen Besetzung thematisiert. Auch das Ende des Zweiten Weltkriegs 22 „Neustamm“: Kabus (wie Anm. 17), S. 85, „Gaue“: Ebd., S. 66, Memelland: Feilke/Kabus (wie Anm. 19), S. 154 und Eiserne Kreuze: Ebd., S. 117. 23 Kabus (wie Anm. 17), S. 76. 24 Diese Feststellung entspricht auch den Äußerungen anlässlich der Eröffnung des Museums 1989. Siehe Ottfried Hennig in: Ostpreußisches Landesmuseum (wie Anm. 10), S. 22–26, hier S. 22. Siegfried von Köckritz: Ostdeutsche Kulturarbeit unter besonderer Berücksichtigung der ostdeutschen Landesmuseen. In: Museumskunde. Bd. 51 (1986). H. 2, S. 75–79, hier S. 75 und Martens (wie Anm. 2), S. 125 und 129. 25 Joachim Meynert: Sackgasse Museum? Überlegungen zur multikulturellen Verantwortung historischer und kulturhistorischer Stadt- und Regionalmuseen. In: Museumskunde, Bd. 58 (1993), H. 1, S. 131–134, hier S. 132.
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benennt Flucht und Vertreibung. Migration wird im Ostpreußischen Landesmuseum außerdem an folgenden Stellen angesprochen: bei der Siedlungspolitik des Deutschen Ordens, bei den gesellschaftlichen Strukturen der Region in der Frühen Neuzeit, beim „Zuwandererland“ Ostpreußen im Kaiserreich und bei der Einwanderung von Litauern in das nördliche Ostpreußen. Migration spiegelt sich auch in vielen Objekten und ihrer Geschichte wider. Quasi eine eigene Migrationsgeschichte haben einige der Jagdtrophäen, aber auch das Oberlicht des Gutshauses in Liewenberg.26 Geradezu ein Vertriebenenschicksal haben die ostpreußischen Glocken27 und der „Elbinger Hirsch“.28
Texte und Inszenierungen An den im Museum angebrachten Texten lassen sich einige wesentliche Beobachtungen machen, die Aufschluss über die grundsätzliche Aussage geben. Durchgängig fehlt ein Hinweis auf die Pluralitäten in der Geschichte, insbesondere die zahlreichen Kontakte zu Polen, aber auch geografische Verbindungen und Parallelen. Z. B. ist für Laien nicht zu erkennen, ob Singschwan, Lachmöwe und „ostpreußische schwarzweiße Rinder“ die gleichen Arten sind, die auch in anderen Teilen Europas leben.29 Die direkte Vorgeschichte von Flucht und Vertreibung, also die Besetzung und Verwüstung polnischer, litauischer, sowjetischer und anderer Gebiete durch Deutschland, wird nicht erwähnt. Die kleine Passage zum Nationalsozialismus geht auf diesen Zusammenhang nicht ein. Belastungen aus nationalsozialistischer Zeit, die an verschiedenen Stellen aufscheinen, werden einige Male mit einer erstaunlichen Unbedarftheit übergangen.30 Objekte werden oft nur als reine Illustration eingesetzt, die jeweilige Objektgeschichte nicht oder kaum erläutert. Auffällig ist zudem, dass im Museum zahlreiche Objekte historisch unkorrekt platziert wurden. Dieses Phänomen lässt sich bereits in der jagd- und forstgeschichtlichen Abteilung beobachten31, tritt aber besonders häufig in der Abteilung der Geschichte bis 1914 auf. (Bild-)Objekte sollen vordergründig einen Eindruck von den beschriebenen Verhältnissen vermitteln, benutzen diese aber für Auseinandersetzungen einer späteren Zeit. Die Schwierigkeit im Umgang mit Objekten liegt in dem Widerspruch, dass das in 26 27 28 29
Warmuth, Feilke, Hinkelmann (wie Anm. 20), S. 190. Reulecke/Kabus (wie Anm. 18), S. 213. Kabus (wie Anm. 17), S. 81. Ronny Kabus und Rüdiger Thürnau: Ostpreußens Landschaften. In: Ostpreußen (wie Anm. 13), S. 20–26, hier S. 26. 30 Ebd., S. 32. Siehe demgegenüber die sehr deutliche Position zur Verantwortung in Bezug auf die nationalsozialistische Vergangenheit bei Joachim Rogall: Vorwort. In: Archive und Sammlungen der Deutschen aus Polen. Erlebte Geschichte – bewahrtes Kulturgut. Bearbeitet von Peter Nasarski. Berlin/Bonn 1992, S. 7–10, hier S. 9. 31 Fünf Ölgemälde aus den 1960er bis 70er Jahren illustrieren die Vorkriegszeit, sind aber nicht als museale Installation zu erkennen.
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Ausstellungen präsentierte Wissen subjektiv ist, durch die „anschauliche Gegenwärtigkeit der Objekte“ jedoch vermeintlich Authentizität und Wahrheitsgehalt suggeriert.32 Dieser Widerspruch kann benannt und transparent gemacht werden. Das Museum lässt eine solche Transparenz aber zumeist vermissen. Die erste auffällige Inszenierung im Museum bilden die fünf Dioramen in der naturkundlichen Abteilung. In dem lang gestreckten Raum reihen sie sich wie Fenster auf und gewähren einen Ausblick auf die ostpreußischen Landschaften. Beherrschend ist das große Diorama an der Stirnseite des Raumes. In einem weiten Ausschnitt eines sumpfig-lichten Geländes sind zwei Elche zu sehen, links liegend eine Elchkuh, rechts stehend ein Elchbulle. Die großen, gutmütigen Tiere sind eindeutige Sympathieträger. Im Laufe des Museumsbesuches wird rasch und immer wieder verdeutlicht, dass der Elch für Ostpreußen eine nicht unwesentliche Rolle gespielt hat (und möglicherweise für die Region auch heute noch spielt). Dies ist sozusagen ein Lerneffekt des Museums. Das Arrangement von Elchkuh und Elchbulle ist ein offensichtlich abendländisch-familiär geprägtes: Die Kuh ruht im Gras, während der Bulle wacht. Beim Ersteigen der Treppe zum Zwischengeschoss ergibt sich ein zweiter, festlicher Eindruck, hervorgerufen durch die am Beginn der Jagdund Forstgeschichte aufgestellten Vitrinen. Geradeaus sind prächtige Jagdwaffen zu sehen, rechts empfängt den Besucher ein Königlich Preußischer Oberhofjagdmeister in Staatsuniform. Zwischen diesen Vitrinen eröffnet sich der Blick auf den Kaiser in Hofjagduniform. Hieran schließen sich Jagdtrophäen an, die durch ihre jeweiligen Geschichten und ihre Erscheinung eine beträchtliche Wirkung ausüben. Diese wird auch gestalterisch genutzt, insbesondere durch den großen Elchkopf sowie durch Hirschgeweihe, die frontal betrachtet den Eindruck eines abstrakten Waldes hervorrufen. Von der Seite jedoch, also aus der Position des Portraits Wilhelms II., stehen sie in Reih und Glied, wie zur Parade aufgestellt. In der Gemäldeabteilung ergeben sich zwei bemerkenswerte visuelle Eindrücke. Der erste ist die zweimalige Begegnung mit einem ernsten Mann: einmal mit dem „Ohm Friedrich“ des Malers Lovis Corinth33, das zweite Mal mit Eduard Bischoff in Uniform. Das Gemälde von Corinth hängt so, dass es schon von weitem zu sehen ist. Das zweite Gemälde wird noch dadurch hervorgehoben, dass es nicht aufgehängt ist, sondern auf einer Staffelei steht. Das andere visuelle Moment in der Gemäldeabteilung sind „Natureindrücke“. In einem kleinen Gang sind Tier- und Naturdarstellungen aufgehängt. Durch die offene Bauweise des Museums ergeben sich Blickbeziehungen. Das hat zur Folge, dass man immer wieder Waldtiere sieht. Das Museum zeigt eine deutliche fachliche Aufteilung. Naturkundliche Themen wurden gezielt aufgenommen. Das Museum will die „Landschaften Ost-
32 Muttenthaler/Wonisch (wie Anm. 16), S. 59. 33 Jörn Barfod: Gemälde und Graphik des 19. und 20. Jahrhunderts. In: Ostpreußen (wie Anm. 13), S. 294.
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preußens“ darstellen. Dies geschieht mit der Beschreibung von Flora und Fauna. Die Landschaft in ihrem Gewordensein, in ihrer kulturellen Gestaltung wird nicht thematisiert. Die naturkundliche Abteilung wird jedoch in den Texten eindeutig dem kulturgeschichtlichen Anspruch des Museums untergeordnet.
Selbstverständnis und Themen Das Thema „Das Museum und seine Geschichte“ wäre ein guter Ansatz, um das Haus und seine Tätigkeit zu vermitteln.34 Eine Einrichtung wie das Ostpreußische Landesmuseum ist ohne seine Geschichte nicht zu verstehen und schöpft aus ihr in hohem Maße die Begründung seiner Arbeit.35 Die Selbstdefinition dient auch dazu, den Wert der eigenen kulturellen Aktivität zu betonen und ihren Erhalt einzufordern. Ihre Darstellung setzt aber Klarheit darüber voraus. Aussagen über das Selbstverständnis des Ostpreußischen Landesmuseums finden sich in der Internetpräsentation36 und im Museumskatalog. Sie sind eher allgemein und für das Museum wenig spezifisch. Es sind die Grundsätze, die für alle „ostdeutschen Landesmuseen“ aufgestellt wurden. Neben diesen an die Museumsbesucher gerichteten Äußerungen lassen sich Beiträge über das Selbstverständnis auch der Eröffnungspublikation37 entnehmen. Dort fehlen allerdings eine Einordnung in den historischen Kontext, eine grundlegende Erörterung der musealen Möglichkeiten und eine umfassende Begründung der angestrebten Ziele. Das immer wieder zu beobachtende Bedürfnis nach Rechtfertigung und argumentativer Sicherheit konnte so nicht befriedigt werden. Nicht möglich war es dem Museum bisher auch, Anfeindungen zu überwinden und entsprechende Kritik konstruktiv für die eigene Arbeit aufzugreifen. Zur Selbstreflexion eines Hauses gehört eine Definition des Museumsthemas. In der Ausstellung ist eine solche nicht zu finden. Alle Äußerungen in dieser Hinsicht erschöpfen sich in der Beschreibung von Einzelphänomenen und führen zu der Aussage „Ostpreußen ist eine deutsche Provinz“. Es fehlt im übrigen auch eine Erklärung der räumlichen und zeitlichen Eingrenzungen. Statt der eigenen Geschichte ist aber ein anderes Thema im Museum unerwartet präsent: der Elch. Er nimmt im Museum auch über das bereits beschriebene Diorama in der naturkundlichen Abteilung hinaus einen prominenten Platz ein. Das Thema „Elch“ übernimmt quasi die Funktion eines weiteren Kontra-
34 Alexander Klein: Expositum. Zum Verhältnis von Ausstellung und Wirklichkeit. Bielefeld 2004, S. 18. 35 Vgl. ebd., S. 19 und Bernward Deneke: Realität und Konstruktion des Geschichtlichen: In: Helmut Ottenjann (Hg.): Kulturgeschichte und Sozialgeschichte im Freilichtmuseum. Historische Realität und Konstruktion des Geschichtlichen in historischen Museen. Cloppenburg 1985, S. 9–20, hier S. 11. 36 http://www.luene-info.de/preussen/start.html (29.12.2005). 37 Otto von Fircks und Hubertus Hilgendorff: Vorwort. In: Ostpreußen (wie Anm. 13), S. 9.
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punktes zu den sonst behandelten Themen. Sein wiederkehrendes Auftauchen im ganzen Museum entfaltet eine eigenwillige Wirkung, und spätestens in der Kunstabteilung fühlt man sich von ihm beobachtet. Der Elch mag im historischen Ostpreußen gegenwärtig und insofern von Bedeutung gewesen sein. Die visuelle Kraft dieses Symbols38 wird aber nicht in ihrer Historizität erläutert. Daher gerät sie in Konflikt mit der heutigen Präsenz des Tieres, die mehr mit Schweden verknüpft und spätestens seit den Elchtests für Automobile ein wenig ins Alberne abgerutscht ist. Zu der Zeit, als die „ostdeutschen Landesmuseen“ projektiert wurden, gab es eine intensiv geführte Debatte um die Rolle und die Möglichkeiten von Geschichte im Museum. Als Ergebnis solcher Diskussionen kann nicht mehr einfach die Frage gestellt werden, ob „ausreichende und richtige“ Geschichtskenntnisse vorhanden sind39, sondern ob und wie Geschichte vermittelt werden muss und kann. Vor diesem Hintergrund ist festzuhalten, dass das Ostpreußische Landesmuseum das Thema der Migration nicht angemessen anspricht. Hier spielen sicher Berührungsängste mit dem, was als „Multikulti“ und unseriös bzw. als „Vertriebenen-Ideologie“ verstanden wird, eine Rolle. Dabei gibt es, neben allen Unterschieden, sehr viele Parallelen und Gemeinsamkeiten.40 Diese Parallelen legen es nahe, dass sich die „ostdeutschen Landesmuseen“ in aktuelle Migrationsdebatten einbringen. Die Beschäftigung mit „deutschsprachigen Volkskulturen im östlichen Europa“ ist interkultureller Forschung verpflichtet, nicht zuletzt weil sie in einer nicht monokulturellen Gesellschaft stattfindet. Diesen Aspekten können sich die „ostdeutschen Landesmuseen“ umso weniger entziehen, als sie sich auf die „verstärkte Hervorhebung regional-spezifischer Aspekte im Sinne der KSZE-Konferenzen“ berufen.41 Grundlegend ist außerdem die Ansicht, dass Museen ein integraler Bestandteil der sie umgebenden Gesellschaft sein sollen. Wenn in diesem Zusammenhang gefordert wird, dass Kultur sensibel für und inspiriert durch die Geschichte und Kulturen aller Menschen sein muss, dann liegt darin auch eine nicht zu übergehende Begründung für die Kulturarbeit von und für die vertriebenen Deutschen und ihre Nachkommen.42 Auf diese Weise würde auch die Forderung erfüllt, die Ereignisse von 1945 in einen europäischen und weltweiten Kontext zu stellen.43 38 „Der Elch gilt als ein Symbol für die ganze Provinz.“ Barfod (wie Anm. 8), S. 393. 39 BT 12/7877 (1994), Fortschreibung, S. 32. 40 Siehe dazu Albrecht Lehmann: Erinnern und Vergleichen. Flüchtlingsforschung im Kontext heutiger Migrationsbewegungen. In: Kurt Dröge (Hg.): Alltagskulturen zwischen Erinnerung und Geschichte. Beiträge zur Volkskunde der Deutschen im und aus dem östlichen Europa. München 1995, S. 15–30, hier S. 23ff. 41 Martens (wie Anm. 2), S. 128. 42 Vgl. auch Kurt Dröge: Das „ostdeutsche“ Museum und Ostmitteleuropa. In: Jahrbuch für deutsche und osteuropäische Volkskunde 43 (2000), S. 1-27, hier S. 22. 43 Karl Schlögel: Europa ist nicht nur ein Wort. Zur Debatte um ein Zentrum gegen Vertreibungen. In: Flucht und Vertreibung in europäischer Perspektive. Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Bd. 51 (2003). H. 1, S. 5–12, hier S. 9.
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Die Bundesregierung bezog in ihren Berichten und Projektierungen die Vertriebenen und Flüchtlinge an besonderer Stelle ein. Für ein Museum, das gerade durch eine bestimmte Gruppe motiviert ist, ist es sinnvoll, den in dieser vorhandenen Sachverstand zu nutzen.44 Auch im Falle der „ostdeutschen Landesmuseen“ ist die Beziehung zwischen Akteuren und Museumsarbeit sehr eng. Wichtig ist aber auch hier, diesen Umstand deutlich zu machen. Das Ostpreußische Landesmuseum sieht sich seit seiner Eröffnung in Gegnerschaft zu zwei Personengruppen, die es mit recht deutlichen Worten beschreibt. Es tut sich sicher keinen Gefallen, hier nur Gegner zu erkennen. Ein Museum sollte sich heute nicht einer endgültigen Haltung verschreiben, sondern offen sein für Auseinandersetzungen, Meinungsbildungsprozesse und Transformationen. Die Betrachtung der zentralen Bezugsgruppe des Museums führt zum Begriff der „Heimat“. Die museale Kulturarbeit nach § 96 BVFG nahm ihren Anfang mit der Einrichtung von Heimatecken und Heimatstuben, in die Erinnerungsstücke aufgenommen wurden. Die Diskussion um das Heimatmuseum ist bis heute nicht beendet. Einerseits wird die Tätigkeit der „ostdeutschen“ Museen als „rückwärtsgewandte Heimatkunde und -geschichte“ beschrieben. Andererseits gelten Heimatmuseen auch als historisch ausgerichtete Museen par excellence und als Ort „der aktiven Auseinandersetzung mit Geschichte“. Es eröffnet sich hier allerdings eine Reihe von Fragen, die zu berücksichtigen sind. Was ist Heimat? Wie wird mit ihren Konnotationen umgegangen? An welchem Punkt setzt die Nationalisierung von „Heimat“ ein? Die Aufarbeitung solcher Hintergründe könnte das Ostpreußische Landesmuseum leisten. Denn dieses Thema ist ein Teil dessen, was seine Arbeit missverständlich und schwierig macht.45 Die „ostdeutschen Landesmuseen“ sind gesellschaftliche Phänomene der Bundesrepublik und haben dadurch historische Bedeutung. Eine Institution der Erinnerung ist nicht zuletzt eine Repräsentation ihrer selbst.46 Das GoetheDenkmal steht meist weniger für den Dichter als mehr für die Bedeutung, die nachfolgende Generationen sich und ihrem Leben geben wollten. Die Erinnerung an die Vertreibung, also auch die Einrichtung von Museen, war ein Versuch zur Bewältigung eines persönlichen Schicksals. Dies ist ein wichtiger Aspekt der bundesdeutschen Geschichte. Es ging nicht nur um die Vertreibung an sich, sondern auch „um die Selbstverortung in einer neuen Umgebung“.47 Die „ostdeutschen Landesmuseen“ sind somit ein Relikt aus der vierzigjährigen Geschichte 44 Jan Sas: Der Besucher als Berater. In: Bernd Günter und Hartmut John (Hg.): Besucher zu Stammgästen machen. Neue und kreative Wege zur Besucherbindung. Bielefeld 2000, S.49–65, hier S. 59. 45 Vgl. Manuela Schütze: „Elchkopf und Kurenwimpel“. Zur musealen Aneignung verlorener Heimat in ostdeutschen Heimatstuben nach dem Zweiten Weltkrieg in Schleswig-Holstein. Neumünster 1998. 46 Schlögel (wie Anm. 43), S. 12. 47 Philipp Ther: Erinnern oder aufklären. Zur Konzeption eines Zentrums gegen Vertreibungen. In: Flucht und Vertreibung (wie Anm. 43), S. 40.
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der alten Bundesrepublik. Mit dem Fall der Mauer entstand eine neue Gesamtsituation des Erinnerns. Aber alte Konflikte bestehen weiterhin. Es wäre also zu kurz gegriffen, Formen des Umgangs mit Fragen und Problemen, die sich in den ersten vier Jahrzehnten nach dem Krieg im Westen Deutschlands herausbildeten, durch neue, moderne zu ersetzen. Vielmehr stellen sie einen Teil der Grundlagen für heutige Haltungen dar, an den es ebenfalls zu erinnern gilt. Die Auswertung der Jahresberichte an den Bundestag zeigt, dass sich die Politik auf höchster Ebene der musealen Repräsentierung der betreffenden Gebiete annahm und Ansprüche und Bedingungen dieser Tätigkeit formulierte. Die Untersuchung der Ausstellung erbringt Beobachtungen im Detail, die als Einzelphänomene bedeutungslos erscheinen, in ihrer Gesamtheit jedoch eine deutliche, aber unartikulierte Ausrichtung darstellen. Der Museumsausstellung liegt ein programmatischer Nationalismus zu Grunde, der die Museumsarbeit stark beeinträchtigt. Fragen, die in diesem Zusammenhang auftreten, sind Gegenstand von Debatten, die seit langem geführt werden, ohne dass dieses Museum darauf Bezug nimmt. Auffällig ist, dass weder die Planungen noch die spätere Museumsarbeit die Anregungen aufgegriffen haben, die sich aus den Geschichtsdebatten im Museum oder aus der Beschäftigung der UNESCO oder von ICOM mit dem Thema der kulturellen Vielfalt ergeben. Das Ostpreußische Landesmuseum Lüneburg hat ein national und international sehr bedeutendes Thema sowie ein großes Potenzial. Es ist der Gefahr erlegen, „Inszenierungen einer folklorisierten Memorialkultur der infolge des Zweiten Weltkriegs vertriebenen Gruppen“48 zu betreiben. Gerade das Bemühen, ein umfassendes Bild Ostpreußens zu liefern, hat dazu geführt, dass zwar ein weiter Katalog von Aspekten angesprochen wird, diese Aspekte aber in keiner Weise ausreichend diskutiert werden. Es ist mehr oder weniger eine Aneinanderreihung überkommener Stereotype entstanden, die auch unhaltbare historische Polemiken fortsetzt. Es ist aber auch festzuhalten, dass die Elemente, die diese Grundlinie formieren, vor allem in den textlichen Erläuterungen zu finden sind, während die Exponate, ihre Inszenierungen und die dadurch erzielbaren visuellen Eindrücke, also gerade museumsspezifische Ebenen, viele Möglichkeiten liefern und mitunter auch nutzen, um mit den aus dem Museumsthema erwachsenden Schwierigkeiten angemessen umzugehen.
48 Gottfried Korff: Plädoyer für eine Grundidee. Zur Einrichtung eines Donauschwäbischen Zentralmuseums. In: ders.: Museumsdinge. Köln u. a. 2002. S. 360-364, hier S. 363.
„ Ma ikäfe r flieg...“ Kindheitserfahrunge n, Erinne rungs obje kte und Dinggeschic hte n KARINA PROBST Über den Jahreswechsel 2001/02 fand im Ruhrlandmuseum Essen unter dem Titel „Maikäfer flieg...“ eine Ausstellung über Kindheitserfahrungen von 1940 bis 1960 statt. Gezeigt wurden Objekte, die mehr als 50 Jahre lang in Privatbesitz aufbewahrt worden waren, mit dem Ziel, die „Geschichten“ aufzuhellen, die sich hinter ihnen verbargen. Die Ausstellung transponierte Erinnerungsstücke, häufig geradezu „Herzensobjekte“ der Leihgeber aus Kindheitstagen während der Kriegs- und Nachkriegszeit, zu Museumsgegenständen und gab ihnen damit eine neue Bedeutung. Als Grundlage für die museale Darstellung dienten nicht historische Fakten, sondern subjektive und individuelle Erinnerungen.1 Zusammen getragen wurde die Ausstellung mit Hilfe eines Aufrufes in Hörfunk und Presse des Ruhrgebiets, mit dem Alltagsgegenstände, Fotografien und Dokumente aller Art gesucht wurden. Auf den Aufruf meldeten sich etwa 250 Menschen, mehrheitlich Kriegskinder ab Jahrgang 1933 sowie in der überwiegenden Mehrzahl Frauen. Die zur Verfügung gestellten Objekte und zugehörigen „Geschichten“ führten zu einer Gliederung der Ausstellung in vier Themenkomplexe: zu den gravierendsten Kriegserfahrungen im ersten Komplex gehörten insbesondere der Bombenkrieg sowie die Evakuierung, Flucht und Vertreibung: Aus dem Ruhrgebiet wurden die Kinder gegen Ende des Krieges zumeist evakuiert. Da die Evakuierungsgebiete häufig im Osten Deutschlands lagen, teilten die evakuierten Kinder wenig später nicht selten das Flüchtlingsschicksal der übrigen Bevölkerung. Ein zweiter Komplex galt der Wahrnehmung der NS-Zeit, insbesondere der Thematik, wie die Kinder als Zeitzeugen den Umgang mit Juden und Zwangsarbeitern wahrgenommen hatten. In einem dritten Ausstellungs-Abschnitt standen die Materiellen Bedingungen nach 1945 im Vordergrund. Die Erinnerungen 1
Vgl. Mathilde Jamin: Maikäfer flieg... Kindheitserfahrungen 1940-1960. Essen 2001, hier vor allem S. 8f.
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reichten von Hunger, Mangel und Wohnungsnot bis zum beginnenden Wohlstand. Sie waren oft in positiven Geschichten verwoben. Einfallsreichtum, die „kleinen Freuden des Alltags“ und menschliche Wärme fanden oft Erwähnung. Die meisten Befragten haben ihre Kindheit trotz des Mangels nicht als schlecht empfunden. Wichtige selbsterlebte Strategien gegen den Mangel waren das Teilen, Tauschen und Selbermachen. So erlangten und vermittelten letztlich zahlreiche der ausgestellten Gegenstände eine längere Vorgeschichte, zum Beispiel eine Strickjacke, die erst in Handarbeit hergestellt werden konnte, nachdem Brombeeren gesammelt, gegen Butter getauscht und diese wiederum für Wolle eingetauscht worden war. Das wenige Spielzeug wurde geradezu als Heiligtum angesehen, manche kleine ehemalige Fluchtbegleiter wurden wie Schätze behandelt. Im vierten Komplex Erziehung und kulturelle Normen nach 1945 dominierten dagegen eher negative Erinnerungen, etwa bei den Themen Schule, Kirche, Kinderkuren und –heime. In allen Ausstellungsabteilungen wurde der Blick auf die historische Kriegs- und Nachkriegszeit gelenkt. Sowohl die historischen Inhalte als auch die persönlichen Bedeutungen erschlossen sich gleichermaßen häufig erst durch kommentierende und in die Tiefe gehende Erinnerungstexte. Auf einer bildlichen Ebene ließen die Objekte allerdings ebenso eine nostalgische und individuelle Rezeption zu. Die Ausstellung darf in ihrer Gesamtheit als Quellenbestand zur biographischen Selbstdeutung der Generation der etwa 50- bis 70jährigen Menschen in Westdeutschland gesehen werden. Konzeptionell wurden die entliehenen Objekte den jeweils subjektiven, aber auch als historisch relevant bezeichneten Erinnerungen ihrer Besitzer gegenüber gestellt. Dabei wurden nicht zusammen hängende Lebensgeschichten erzählt und interpretiert, sondern Themenblöcke konstituiert. Diese Methode unterschied sich von Konzepten voraus gegangener Ausstellungen, deren inhaltliche Ausrichtung im Prinzip vergleichbar gewesen war und konkret auch anregend gewirkt hatte. Dazu zählen insbesondere drei Sonderausstellungen. Die Ausstellung Walter. Leben und Lebensbedingungen eines Frankfurter Jungen im III. Reich im Historischen Museum Frankfurt/M. 1986 hatte einen geschlossenen, komplexen Nachlass zum Anlass und zur Grundlage, der die Darstellung der Lebensgeschichte des Jungen Walter ermöglichte, der zur Generation der Flakhelfer gehört hatte.2 Hier wurde über eine einzige Lebensgeschichte der Zugang zu einem historischen Thema eröffnet. Einen wiederum etwas anderen Ansatz hatte 1991 das Heimatmuseum Neukölln verfolgt, indem es Erinnerungsstücke, die in den zehn Jahren zuvor zusammen gekommen waren, in ihrer zufällig wirkenden, aber aussagekräftigen Zusammenstellung präsentierte.3 Zwischen den Spendern dieser Stücke, den Objekten selbst und der Methodik der Museumsarbeit, systematisch mit ihnen umzugehen, wurden Transparenz und
2 3
Vgl. Jürgen Steen: Walter. Leben und Lebensbedingungen eines Frankfurter Jungen im III. Reich. 2. Aufl. Frankfurt/M. 1986. Vgl. Udo Gößwald (Hg.): Erinnerungsstücke. Berlin 1991.
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Austauschmöglichkeiten hergestellt. Das Verhältnis des Menschen zum Gegenstand besaß im Selbstverständnis der Ausstellungsmacher dabei einen höheren Stellenwert als der einzelne Gegenstand selbst. Als dritte hier einzubeziehende Schau hatte bereits 1981 die Ausstellung Le Musée sentimental de Prusse im Berlin-Museum von sich reden gemacht.4 Daniel Spoerri und Marie-Luise Plessen hatten die Geschichte Preußens aus künstlerischer Perspektive betrachtet und in einem „Assoziationsgewitter“ mit Emotionen als Schlüssel zum Einstieg in ein historisches Thema einen Kontrapunkt gesetzt zur voraus gegangenen großen historischen Schau Preußen – Versuch einer Bilanz. Dabei hatten sie anhand von 178 Stichwörtern von „Adler“ bis „Zwangschloss“ emotionale Bedeutungsträger unterschiedlichster Struktur, Anmutung und Wertigkeit in alphabetischer Reihenfolge ausgestellt. Viele Gegenstände aus profanen Lebensbereichen sollten in die Lage versetzt werden, eine Geschichte zu erzählen. Den drei genannten und der Essener Ausstellung war gemeinsam, dass sie eine Verquickung von persönlicher Biographie, Sachzeugnis und Geschichte herzustellen versuchten.5 Damit befand sich auch die Ausstellung „Maikäfer flieg...“ bewusst innerhalb der Diskussion zum „kulturellen Gedächtnis“6 und verstand die Vergangenheit als kulturelle Konstruktion oder als Rekonstruktion aus Erinnerungen, da das Gestern nur durch Erinnerungen festgehalten werden kann. Die Dinge fungieren danach als kulturelle Speichereinheiten und entwickeln ein eigenes Gedächtnis, das aus Erinnerungen und deren Interpretation gespeist ist. Dabei müssen sie als Zeugnisse der Vergangenheit oder als historisches Material – als Quellen, Überreste oder Denkmäler nach Droysen7 – nicht nur existieren, sondern sich auch vom Heute unterscheiden, damit die Menschen – hier: die Museumsbesucher – sie als Differenz wahrnehmen können, welche einer Bewusstmachung von Zeithorizonten dient. Ohne hier noch einen Rückgriff auf das „kollektive Gedächtnis“ nach Maurice Halbwachs8 zu unternehmen, so kann doch auch der Essener Ausstellung der Schritt von der individuellen Erinnerung über die museale Anschauung hin zur gesellschaftlichen Auswirkung und Relevanz testiert werden. Oder konkret: Ehe die letzten Zeitzeugen der NS-Zeit, des Holocaust, des Krieges und seiner Folgen 4 5 6
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Vgl. Marie-Luise von Plessen und Daniel Spoerri: Le Musèe sentimental de Prusse. Ausstellungskatalog. 2. Aufl. Berlin 1981. Vgl. Detlef Hoffmann: Spur, Vorstellung, Ausstellung. In: Rosemarie Beier (Hg.): Geschichtskultur in der Zweiten Moderne. Frankfurt/M. 2000, S. 171-173. Vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift. Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. 3. Aufl. München 2000, sowie auch Detlef Hoffmann: Das Gedächtnis der Dinge. KZ-Relikte und KZ-Denkmäler 1945-1995. Frankfurt/M. 1998. Johann Gustav Droysen: Historik. Vorlesung über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte. Hg. von Rudolf Hübner. 6. Aufl. München 1971, § 20 und 21. Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Frankfurt/M. 1985.
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versterben, müssen die noch verbleibenden Gelegenheiten zum Sammeln von Erinnerungen und „Objektgeschichten“ gesammelt werden, um gleichsam ein kollektives kulturelles Gedächtnis zu bewahren. Von der Margarinefigur bis zum Holzlöffel waren die in Essen ausgestellten Objekte in der Lage, über das rezipierende Lesen „ihrer“ dokumentierten und mitgelieferten Geschichten Zeitbezüge zur Kriegs- und Nachkriegszeit herzustellen. Sie konnten aber, das erwies die Ausstellungsevaluation, häufig die Betrachter zu ihren eigenen Erinnerungen führen, Spuren entdecken und Emotionen wecken lassen. Ohne materiellen Wert (wenn man vom heutigen Sammlermarkt für Margarinefiguren einmal absieht) und doch jahrzehntelang aufbewahrt: Die „eigenen“ Dinge kamen bei vielen Besuchern wieder neu in Erinnerung, so dass mit Recht von einer „Erinnerungsveranlassungsleistung“9 gesprochen werden kann. Nur unter solchen Voraussetzungen entstand auch so etwas wie eine neue Aura, und selbst der Holzlöffel oder die Margarinefigur wurden zu Zeichenträgern, deren unscheinbare und uninteressante sichtbare Merkmale als Verweis auf etwas Unsichtbares vermittelt und verstanden werden konnten. Damit und mit dem Berührungsverbot und der illuminierten Zurschaustellung in Vitrinen einher ging eine Erhöhung. Dieser Prozess der Erhöhung, den alle Gegenstände durchlaufen, die in ein Museum oder in eine Museumsausstellung gelangen, findet wohl zwangsläufig statt. Im vorliegenden Fall widerfuhr dieser Prozess auch jenen Erinnerungsstücken aus Privatbesitz, die nur für eine begrenzte Zeit ins Museum gelangt waren. Diese nahmen und nehmen in ihrem privaten Umfeld unterschiedliche Funktionen ein. Ein Teil von ihnen war zumindest bis zur Ausstellung in seiner ursprünglichen oder in einer abgewandelten Form in Gebrauch. Ein anderer Teil befand sich an entlegener Stelle abgelegt. Aber es gab auch Gegenstände, die bereits im privaten Milieu eine exponierte Stellung im Sinne einer Präsentation im Wohnumfeld eingenommen hatten und in dieser Funktion nunmehr nur den Standort – hin zu einer (noch größeren) Öffentlichkeit – wechselten. Es wäre sicher interessant zu erfahren, welche Funktionsveränderungen die Ausstellungsobjekte nach ihrer Rückkehr und musealen Erhöhung im Einzelnen und auch generell erfahren haben, und ob eine Art dauerhafter und nicht nur temporärer Wesenswandel stattgefunden hat. Eine solche Frage wäre etwa für den Koffer zu stellen, der als heraus gegriffenes Beispiel für außerordentlich vielschichtige und damit aussagekräftige Dinggeschichten bis zur – relativ zentralen – Präsentation in der Ausstellung hier kurz vorgestellt werden soll. Es handelte sich um einen kleinen und schlichten, üblichen Handkoffer, wie er auf zahlreichen Fluchtfotos zu sehen ist. Sein abhanden gekommener Griff wurde durch eine Bindfadenverbindung ersetzt. Er sah durchaus etwas verschlissen aus und die Verschnürungen, die ihn aufgrund des
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Gottfried Korff: Notizen zur Materialität der Erinnerung. In: Utz Jeggle und Freddy Raphael (Hg.): D’une rive à l’autre. Paris 1997, S. 178.
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defekten Schlosses umgaben, ließen vermuten, dass er längere Zeit nicht geöffnet worden war. In der Tat handelte es sich bei diesem verschnürten Koffer um eine weg geschlossene, verschnürte und verdrängte Familiengeschichte. Während des Krieges hatte er als „Bunkerkoffer“ gedient. Das bedeutete für den Kofferinhalt, dass es äußerst wichtige und persönliche Dokumente waren, die darin aufbewahrt und bei jedem Fliegeralarm mit in den Bunker getragen wurden. Die Leihgeberin erinnerte sich an einen solchen Vorfall. Sie, ihre Geschwister und ihre Mutter waren auf dem Weg zum Bunker, kamen jedoch nicht mehr rechtzeitig dort an, so dass sie nur bis zu einem Haus mit einem Luftschutzbunker gelangten. In der Eile fiel die Mutter die Kellertreppe hinab, ohne jedoch den Koffer los zu lassen: Er war zu wichtig. Gegen Kriegsende, als die Amerikaner kamen, wurde der Koffer samt seinem Inhalt in der Rumpelkammer unter der Schmutzwäsche versteckt. Sein Inhalt bestand und besteht wohl noch immer aus Dokumenten und Fotos von Vater und Bruder in Uniform, Briefen und Habseligkeiten der gefallenen Soldaten. Nach dem Tod der Mutter betrachtete es die ältere Schwester der Leihgeberin, Jahrgang 1925, als ihre Aufgabe, den Koffer zu bewahren. Sie war auch diejenige, die bewusst mit der Mutter die Gefallenenmeldungen miterlebt hatte. Noch heute will sie ihre jüngeren Geschwister vor diesen schrecklichen Erinnerungen bewahren, so dass diese (geboren 1935 und 1938) erst nach ihrem Tod den Koffer erhalten sollen. Bis zur Essener Ausstellung wurde der Koffer von ihr ungeöffnet verwahrt, und nach dem Ablauf der Ausstellung ging er zurück an sie, um seinen Inhalt auch weiterhin unter Verschluss zu halten. Die Leihgeberin war jedoch die jüngste, 1938 geborene Schwester. Sie erinnerte sich an den Koffer als einen Gegenstand, der schon immer zur Familie gehört hat. Sie war es, die sich auf den Aufruf des Ruhrlandmuseums meldete und die Geschichte dieses Koffers erzählte. Für die Ausstellung wurde schließlich der Koffer leer, also ohne seinen Inhalt, von ihrer älteren Schwester zur Verfügung gestellt. Diese bekam ihn nach der Ausstellung wieder zurück und hat die Dokumente wieder hinein getan. Der Koffer berichtet von einer verdrängten, traumatischen und weg geschlossenen Erinnerung. Er verwahrt bis heute ein gehütetes Familiengeheimnis, welches nun seit mehr als 55 Jahren virulent ist. Die Besitzerin des Koffers will oder kann sich ihren Erinnerungen nicht stellen. Dies hat zur Folge, dass den Geschwistern ein Teil der eigenen Familiengeschichte vorenthalten wird. Um so bemerkenswerter ist die Tatsache, dass die Geschichte des Koffers einer großen Öffentlichkeit bekannt gemacht worden ist, so dass sich die verschiedensten Überlieferungs- und Bewusstseinsebenen überlagern konnten. Vielleicht hat hier durchaus eine gewisse Historisierung von traumatischen Erlebnissen im Sinne von Jörn Rüsen statt gefunden.10 10 Vgl. Jörn Rüsen: Zerbrechende Zeit. Über den Sinn der Geschichte. Köln u. a. 2000.
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So wie dieser Koffer ermöglichten die meisten Objekte der Ausstellung einen sehr emotional-subjektiven Zugang zu Familiengeschichten, zum Krieg und zur allgemeinen Geschichte. Die Gegenstände waren mehr Erinnerungsträger als Informationsträger, sie evozierten Phantasie und eigene Vorstellungen beim Betrachter, woraus ein Spannungsverhältnis erwuchs. Die Frage der Glaubwürdigkeit, ansonsten gern und oft in historischen Museen an Sachzeugen gestellt, trat hier in den Hintergrund, Diskrepanzen zwischen historischer und erlebter Zeit waren zugelassen, ja gewollt. Um an dieser Stelle keine tendenziösen Wirkungen oder Verfälschungen zu erzielen, wurde in der Ausstellung durchgängig eine schlichte und sachliche Gestaltung gewählt. Auf inszenierende Elemente wurde vollständig verzichtet. Damit sollten die Gegenstände „an sich“ in den Vordergrund rücken, und bis zu einem gewissen Grad war auch intendiert, Emotionalität bewusstseinsfördernd zu brechen, für den emotional berührten Besucher aber auch Rückzugsmöglichkeiten zu bieten. Grundsätzlich hatte jeder Besucher die Möglichkeit, sich über die Objekte den Texten zu nähern, aber auch umgekehrt. Intensität beim Ausstellungsbesuch war in jedem Fall gefordert. Dies betraf nicht zuletzt zwei Leerstellen im Regal- und Vitrinensystem der Ausstellung: Weder von jüdischen Menschen noch von ehemaligen Zwangsarbeitern konnten Gegenstände oder Schilderungen entliehen werden. Um diese Lücken zu verdeutlichen, wurden in exponierter Position teilweise abgedunkelte Leerflächen eingerichtet.
Topk a pi. Zur Gesc hic hte der Orie nt-Rez e ption im Muse um SIBYLLE TURA Bereits 1978 stellte der amerikanische Literaturwissenschaftler Edward Said in seiner Studie „Orientalismus“ die These auf, der Westen habe den Orient mit Hilfe seiner wissenschaftlichen, künstlerischen und theologischen „Orientalisten“ vereinnahmt und gleichsam erfunden, um vor dieser Folie die eigenen Erfolge, die eigene Rationalität, den Anspruch auf weltweite kulturelle und politische Dominanz hervorzuheben.1 Said sah in den wissenschaftlichen Bemühungen der Orientalisten nicht die Intention, den Orient zu verstehen, um von ihm zu lernen, sondern den Willen zur Macht:2 Die Auseinandersetzung der Wissenschaftler mit dem Orient und das Verstehenwollen wurde so zum bewussten oder vielleicht zum Teil auch unbewussten Ausdruck eines Ethnozentrismus, der verhinderte, den Orient so wahrzunehmen, wie er ist oder war. Die Bedrohung der Türkenheere verstellte in der Frühen Neuzeit lange den Blick der Europäer auf die kulturellen Anregungen, die sie vom Orient empfingen. In der Zeit zwischen den Eroberungszügen Mehmeds II. und dem allmählichen Untergang des Osmanischen Reiches im 19. Jahrhundert durchlief die europäische Türkenrezeption verschiedene, zum Teil widersprüchliche Phasen. Während man im Westen einerseits Angst vor den Türken hatte (immerhin wurde Wien 1529 und 1683 belagert), ging andererseits bald von den Fremden aus dem Morgenland auch eine exotische Faszination aus. Der Orient wurde auch als eine Welt der Erotik verstanden: gewalttätige, über eine Vielzahl von Frauen befehlende Despoten, Polygamie, die geheimnisvollen Harems mit nackten oder halb bekleideten, sanftmütigen, jederzeit verfügbaren, überwiegend hellhäutigen Sklavinnen – all dies reizte die Phantasie der Europäer, deren Moralverhalten von der christlichen Ethik geprägt wurde, und schlug sich in Literatur und Kunst sowie auf der Opernbühne nieder. Die kulturelle, politische und wirtschaftliche Blüte des Osmanischen Reiches unter Sultan Süleyman I. (1520-1566), genannt 1 2
Vgl. Edward Said: Orientalismus. Berlin 1981, S. 50ff. Ebd., S. 3.
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„der Prächtige“, war von besonderer Bedeutung für das Entstehen einer europäischen Türkenmode3. Die Pracht seines Hofes sowie seine militärische Stärke nötigten den Herrschern Europas in gleicher Weise Respekt ab. Angesichts der geänderten politischen und militärischen Situation wandelte sich jedoch das anfängliche, vor allem durch die kriegerischen Auseinandersetzungen mit dem Osmanischen Reich geprägte, negative Bild vom grausamen, gefühllosen und primitiven Exoten hin zu einer Verharmlosung des mächtigen osmanischen Gegners. Zum Bild des komischen Türken gesellte sich nach und nach das von den Ideen der Aufklärung geprägte Bild des guten, weisen und edlen Exoten. Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts hielt dieses Bild in die Literatur4 Einzug und bevölkerte auch die Opernbühne. Die eigentliche literarische Entdeckung des Orients wurde in Europa 1704 wesentlich durch die erste französische Veröffentlichung der Geschichten von Tausendundeine Nacht (arab. alf laila walaila) gefördert. Von dem französischen Orientalisten Antoine Galland (16461715) herausgegeben, übersetzt und 1710 ins Deutsche übertragen, wurde das Buch zu einem gesamteuropäischen Riesenerfolg. Obwohl seit der Antike die Beziehungen zwischen Europa und dem Morgenland nie unterbrochen waren, verfügten die meisten Europäer noch im 18. Jahrhundert allenfalls über eher vage Kenntnisse der Länder des Nahen und Mittleren Ostens, ihrer Geschichte und Kultur. Als Quellen standen auch im Zeitalter der Aufklärung kaum mehr als einzelne, zufällige und situationsbedingte Berichte von Reisenden, Händlern und Militärs zur Verfügung. Die Türkenmode im Sinne von Trend als Allgemeinbegriff, nicht nur auf Kleidung gemünzt, erreichte im 18. Jahrhundert in den europäischen Hauptstädten ihre absolute Blüte. Ob nun im höfischen Fest, bei Turnieren und Spielen: Das Türkenmotiv war unverzichtbar. Im 19. Jahrhundert ging die Türkenmode in einer allgemeinen Orientmode auf. Da die Türken nach der zweiten erfolglosen Belagerung Wiens 1683 nicht mehr als Bedrohung empfunden wurden und die Gefahr gebannt schien, begann die Verklärung des Orients zu einer romantischen Traumwelt. So propagierten die Arbeiten vieler Künstler ein exotisches Türken- und Orientbild, und zahlreiche Literaten waren als Reisende in der Türkei, im Nahen Osten und dem Maghreb unterwegs, um Abbildungen und später Fotografien für eine verklärende Orientrezeption zu liefern. Der Orient wurde zu einem bevorzugten Sujet der Genremalerei, und die Maler beugten sich dem Wunsch der bourgeoisen Kundschaft nach Exotik und Erotik. Die als träge, aufreizend, eitel, wollüstig und affektiert dargestellten „orientalischen“ Frauen entsprachen ausschließlich den Projektionen der Europäer.5 Die Orientmalerei, die sich als ein eigenes Genre etablieren konnte, „orientalisierte“ den Orient durch stereotypisierte Themen wie 3 4
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Siehe dazu den Ausstellungskatalog Im Lichte des Halbmonds. Frankfurt/M. 1995. Siehe auch Karl Ulrich Syndram: Der erfundene Orient in der europäischen Literatur vom 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Europa und der Orient. Ausstellungskatalog. Gütersloh 1989, S. 324-341. Siehe auch: Orientalismus. Das Bild des Morgenlandes in der Malerei. Köln 2001.
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das türkische Bad, den Sklavenmarkt und die Haremsdarstellungen. Allen diesen Sujets ist der kontemplative, passive und lasziv sich den Blicken (des Europäers) anbietende Frauenkörper gemeinsam. Eine Fortsetzung fand diese Entwicklung in der Darstellung des Orients im Film. Auch hier handelte es sich um den Blick des Okzidents auf den Orient, der als minderwertig abgestempelt wurde. Im Orient agierten die Filmhelden nicht wie Einheimische, sondern wie Fremde. „Der Orient war fast eine europäische Erfindung und ist seit dem Altertum ein Ort voller Romantik, exotischer Gestalten, sowie eindringlicher und immer wiederkehrender Erinnerungen, herausragender Landschaften und Erfahrungen.“6 Seit ihrer Gründung war die amerikanische Filmindustrie in der Mystik des Orients gefangen. Der Schauplatz Orient war Garant für ein exotisches Kostümspektakel. Ein voyeuristischer Blick dominierte und verzerrte das Bild. Handlungen, die im eigentlichen Leben des Okzidents nicht passieren durften, wurden in den Orient verlegt und auf diese Weise möglich gemacht. In der Filmgeschichte wurde die arabische Welt über lange Zeit als vertraute Kulisse für Romanze und Abenteuer gesehen. So garantierten ab den 1940er Jahren die Film-Bearbeitungen von „Tausend und eine Nacht“ (Ali Baba, Sindbad) millionenhaften Erfolg. Nach dem Zweiten Weltkrieg produzierte Hollywood weiterhin Komödien und Musicals mit orientalischem Hintergrund. Dabei repräsentierte die gesamte westliche Orientperspektive einen männlichen Blick und dürfte wohl, verknüpft mit entsprechenden Phantasien (Harem, Serail, nackte Frauen, die Orientalistenmaler), überwiegend sexuell geprägt gewesen sein. Ein weiblicher Blick auf den Orient fand in der öffentlichen Wahrnehmung sowie auch in der Wissenschaft nicht statt und ist bis heute, sieht man von der Konstatierung einseitiger Herrschaftsverhältnisse ab, nicht thematisiert worden. Dennoch hat sich die Orientalismusforschung im Anschluss an Edward Said weiter entwickelt. Während dieser 1978 den „Orient“ als einseitige Projektion und Erfindung des „Okzidents“ in einem statischen Modell konzipiert hatte, haben Forschungen in verschiedenen Disziplinen inzwischen eine Vielzahl von „Orientalismen“ heraus gearbeitet, deren Dynamiken das Feld der Interkulturalität vielfach durchkreuzen und die Handlungsspielräume und Stimmen der „Anderen“ erkennbar machen. Damit ist eine gewisse Offenheit entstanden. Spätestens in der gegenwärtigen weltpolitischen Situation bildet die Frage der Wahrnehmung des Orients und der Welt des Islam aus europäischer oder „westlicher“ Perspektive ein zentrales Thema. Dabei wird zunehmend die Geschichte dieser Wahrnehmung ins Gedächtnis gerufen, um Phänomene des Kontaktes und Konfliktes besser verstehen zu können. Die kurze Schilderung der Präsentations- und damit auch Bedeutungsgeschichte des berühmt-berüchtigten Topkapi-Dolches soll hier beispielhaft stehen für vielschichtige interkulturelle Entwicklungen und Prozesse.
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Said (wie Anm. 1), S. 3.
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Der so genannte Topkapi-Dolch wurde 1988 im Rahmen von „Berlin - Kulturhauptstadt Europas“ in der großen Orangerie von Schloß Charlottenburg in einer nur sechs Wochen dauernden Ausstellung „Schätze aus dem Topkapi Serail Das Zeitalter Süleyman des Prächtigen“ erstmalig in Europa gezeigt. Seine „Aura“, die durch mediale Überhöhungsstrategien inzwischen wohl weltweit alltagskulturelles Gemeingut geworden ist, hat er jedoch auch schon zuvor entfalten können. Der Topkapi-Dolch ist ungemein wirkungsvoll in der Lage, Phantasie und Erinnerungsvermögen seiner Betrachter anzuregen, seien es Museumsbesucher, Filmrezipienten oder literarisch Interessierte. Dabei liegen die Umstände seiner Ausstellung am Ursprungsort nach wie vor im Dunkeln – was die allgemeine Faszination vielleicht noch verstärkt hat. Mit dem Bau des Topkapi-Palastes oder -Serails (Topkapi-Sarayi) wurde kurz nach der Eroberung Konstantinopels (1453), des heutigen Istanbul, etwa 1465 begonnen. Nach seiner Fertigstellung war die außerordentlich große Palastanlage jahrhundertelang das Zentrum und Herz des Osmanischen Reiches und Sitz der Sultane. Bereits früh wurde eine „Schatzkammer“ hinzu gebaut. Darin befinden sich glanzvolle Sammlungen von verschiedenartigsten Kostbarkeiten aus dem Besitz der Sultane. 1924 wurde der Palast in ein Museum umgewandelt, seitdem sind die Sammlungen öffentlich zugänglich. Insgesamt wird ihnen zumindest der gleiche Rang eingeräumt wie den beiden großen europäischen Sammlungen aus ehemals kaiserlichem Besitz, der Schatzkammer der Habsburger in Wien und der Rüstkammer der Zaren im Moskauer Kreml. Der Topkapi-Dolch zählt zu den sogenannten Krummdolchen. Er sollte 1747 von Sultan Mahmud I. mit einer Gesandtschaft an den persischen Herrscher Nadir Schah geschickt werden, die Übergabe kam allerdings nicht zustande. Die älteste Beschreibung des Prunkdolches lautet: „Ein goldener Dolch, dessen Knopf eine Uhr, in smaragdener Fassung, auf dem Griffe 3 große Smaragden, dann 12 große, 124 kleine Diamanten, an der Spitze ein durchlöcherter Smaragd, die Fassung der Steine in Gold genetzt, der Grund gravirt und mit Schmelz ausgelegt, der Griff nach der Art der Dolche S. Selim’s, einem Beutel von Goldstoff, mit goldener Kette, mit Diamanten, Rubinen und Perlen besetzt; im Werthe 20 000 Piaster.“7 Die Gesandtschaft war mit den wohl wertvollsten Geschenken ausgestattet, die das Osmanische Reich unter Sultan Mahmud I. jemals einem fremden Herrscher zukommen lassen wollte. In einer Liste sind insgesamt 69 solcher Geschenke aufgeführt. Der außerordentlich kostbare Krummdolch, der anders als geplant im Besitz des Sultans verblieb, bekam erst später den Namen TopkapiDolch. Für seine Rezeptionsgeschichte wichtig ist der 1962 produzierte Abenteuerfilm Lawrence von Arabien, dessen Titelheld8 legendär wurde. Fotografien der
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C. Köseoğlu: Topkapi Sarayi-Museum. Kleinodien. Hg. J. M. Rogers. Dt. Ausgabe Herrsching am Ammersee 1987, S. 36. Jeremy Wilson: Lawrence von Arabien. Eine Biographie. München 1999.
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historischen Figur von Sir Lawrence zeigen ihn stets in arabischer Kleidung mit einem Krummdolch in der Leibschärpe, so auch im Film. Die große symbolische Bedeutung des Krummdolches für orientalische Männer wird damit verdeutlicht – sie verfestigte sich zu einem visuellen Stereotyp auch und gerade in der europäischen und amerikanischen Wahrnehmung. Maßgeblich für die konkrete Entwicklung des Topkapi-Dolches war jedoch der Film Topkapi, zugleich Spionagestreifen und Gaunerkomödie. Er beruhte auf der preisgekrönten Novelle „The Light of Day“ von Eric Ambler, der auch das Drehbuch schrieb.9 Ging es in der Novelle zwar um den Einbruch ins TopkapiMuseum, jedoch nur um Juwelenraub und nicht um den Raub des Dolches, so rückte im Film der Topkapi-Dolch als zentrales Objekt der Begierde in der absolut einbruchsicheren, mit modernsten Alarmanlagen ausgestatteten Schatzkammer des Palastmuseums Topkapi in Istanbul in den Mittelpunkt. Der Schritt zur legendären Bedeutung des Dolches war mit dieser außerordentlich aufsehenerregenden und erfolgreichen medialen Bearbeitung endgültig vollzogen. Mit dem weltweit gezeigten Film kam auch der Istanbuler Topkapi-Palast, der Ort des Geschehens, mit dem Smaragddolch in der Schatzkammer in den Fokus der Öffentlichkeit.10 Ausländische Besucher wollten nun unbedingt den Dolch im Topkapi sehen. Postkarten mit Abbildungen des Dolches sowie Imitationen aus wertlosen Steinen bildeten die beliebtesten Touristensouvenirs. Führende Tourismus- und Reiseagenturen ließen Poster mit der Abbildung des Dolches drucken, und als Smaragddolch wurde er das berühmteste Exponat in der unschätzbaren Sammlung, in der viele andere Dolche von gleichem Wert und gleicher Schönheit neben dem Smaragddolch in der Schatzkammer ausgestellt werden. Obgleich jedes dieser Exponate auf seine Art einzigartig und ein Meisterstück höchster türkischer Juwelierkunst ist, wurde keiner so bekannt und war in aller Munde wie der Smaragddolch, der zu internationalem Kinoruhm gelangte. In diesem Zusammenhang ist kurz im übrigen auch noch auf Agatha Christie und ihre „Orient-Kriminalistik“ zu verweisen. Bevor der Topkapi-Dolch erstmals in Europa ausgestellt werden konnte, ist er in Istanbul durchaus bereits als primus inter pares zu sehen gewesen, und zwar etwa 1970 mit anderen prachtvollen Dolchen in ein und derselben Vitrine11, zuvor auch in anderen Zusammenhängen. Nachdem er zum Star des international bekannten Filmes geworden war, avancierte er auch in Istanbul nach und nach zum wohl spektakulärsten Stück der Sammlung.12 Heute befindet sich der Topkapi-Dolch dort in einer eigenen Vitrine hinter Panzerglas ausgestellt, gebettet auf schwarzem Samt, wo „die mächtigen Smaragde und die 136 Diamanten ma-
9 Eric Ambler: Topkapi. Zürich 1996. 10 Vgl. Ilhan Akşit: Topkapi. Istanbul 1986. 11 Fanny Davis: The Palace of Topkapi in Istanbul. New York 1970. Vgl. auch Resad Ekrem Koçu: A Guide to the Topkapi Palace Museum. Istanbul 1966. 12 K. Çığ: Topkapi Museum. o.J.
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gisch vor dunklem Samt aufglühen“.13 Auf einem mit einem Laufwerk versehenen Ständer stehend bewegt sich der Dolch mit Hilfe des eingebauten Uhrwerks pendelförmig hin und her und zeigt so durch die permanente Bewegung das Feuer seiner Edelsteine. Bei der Berliner Ausstellung von 1988 handelte es sich um eine Wanderausstellung, die 1987 in der National Gallery in Washington, dann im Oriental Institute in Chicago und anschließend im Metropolitan Museum of Art in New York gezeigt worden war. Die nächste Station, bevor sie nach Berlin kam, war das British Museum in London, und abschließend reiste sie in das National Museum in Tokyo. Veranstalter in Berlin waren der Senat und die Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz. Beteiligte Berliner Institutionen waren die Orientabteilung der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, die Kunstbibliothek und das Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen sowie das Museum für Islamische Kunst, das die Ausstellung konzeptionell vorbereitete. Ausführender Architekt und Ausstellungsgestalter war das Berliner Architekturbüro Prof. Jürg Steiner. Die Ausstellung wurde erst durch eine 1984 durchgeführte Gesetzesänderung möglich, die es der türkischen Republik erstmals gestattete, türkische Kunst im Ausland vorzustellen. Ziel sollte sein, Mißverständnisse über die Türkei auszuräumen und sowohl Türken als auch Deutschen eine bessere Vorstellung von türkischer Geschichte und Kultur zu ermöglichen. Hinzu kam, dass die Ausstellung in jener Stadt gezeigt wurde, in welcher die größte türkische Gemeinde außerhalb des Mutterlandes lebt. Die Präsentation zeigte die für Europa andere, „fremde“, türkische Seite der Kunst des 16. Jahrhunderts unter einem der größten Sultane. Gleichberechtigt mit Karl V. von Habsburg, Heinrich VIII. von England, Franz I. von Frankreich und Iwan IV. von Rußland stellte die Türkei damals eine Weltmacht dar.14 Insgesamt wurden 173 Kunstwerke ausgestellt, 132 davon aus vier Museen in Istanbul.15 Die meisten kamen aus dem Topkapi Serail. Gegliedert war die Ausstellung in acht thematisch zusammen gefasste Abteilungen mit verschiedenen historischen, kulturkundlichen und sachkulturellen Schwerpunkten. Mit 120.000 Besuchern war die Schau ein großer Publikumserfolg. Beispielhaft für die umfangreichen Sicherheitsvorkehrungen war die Vorschrift, „dass die vorhandene Vitrine für den Dolch mittels eines kapazitiven Feldes gesichert ist und die Möglichkeit besteht, sie direkt an das Polizei-Notrufsystem anzuschließen. Die Vitrine mit dem Dolch sollte nur von drei Seiten zu besichtigen sein. Die vierte Seite, die auch frei sein muss, sollte von dem Beamten eingesehen werden können.“16 Am 20. Juni 1988 wurde eine Panzervitrine von einer internationalen Kunstspedition in die Orangerie gebracht. Am 21. Juni traf dann der Dolch aus Istanbul 13 Artikel „Süleymans friedlichster Feldzug führte nach Berlin“. In: Der Tagesspiegel 25. Juni 1988. 14 Josef Matuz: Das Osmanische Reich. 5. Aufl. Darmstadt 2008, S. 123ff. 15 Vgl. Schätze aus dem Topkapi Serail. Katalog zur Ausstellung Berlin 1988. 16 Zitiert aus den Unterlagen einer Sicherheitsbesprechung für die Ausstellung.
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am Flughafen Berlin-Tegel ein, begleitet vom Direktor des Topkapi Sarayi Museum Istanbul mit drei Kustoden sowie dem Direktor für Islamische Kunst Berlin und einem Kustos. Nach Zolleingangsabfertigung und Zollkontrolle durch einen Kunstinspektor wurde der Dolch dann sogleich in einer Sonderfahrt unter Polizeischutz zum Ausstellungsort verbracht. Berührt werden konnte der Dolch allerdings nicht, da er sich in einem verplompten und versiegelten Plexiglaskästchen befand. Scherzhaft nannten ihn die Berliner Veranstaltungsleiter daher „Dolch in Aspik“. Der Topkapi-Dolch wurde im Zusammenhang mit der Weltkarte von Piri Reis (?-1554), dem berühmten osmanischen Seefahrer, Geographen und Kartographen, ausgestellt. Die Stahlkonstruktion der Sondervitrine bestand „aus 4 Quadern aus Quadratrohr 40/40/3, teilweise belegt mit Stahlplatten. Drei der Quader werden zum Zusammenbau der Vitrinen zusammengeschraubt. Der letzte Quader wird mit 4 Schlössern angeflanscht. Die Glasscheiben stehen auf einem Bock aus Quadratrohren 40/40/3 und 25/25/3, der von den 4 oben beschriebenen Teilen eingeschlossen wird.“17 Über der Ausstellungsebene und im Keller wurden Bewegungsmelder installiert und insgesamt dienten alle Vorkehrungen der höchstmöglichen Sicherung dieses besonderen Ausstellungsexponates. Die Resonanz in der Besucherschaft sowie in der Medienöffentlichkeit entsprach diesem Aufwand voll und ganz. Als Beleuchtung, die von den Medien und vom Publikum ebenfalls ausgesprochen positiv und einfallsreich bewertet wurde, fanden sich in der Ausstellung 250 eigens in einer Glashütte im Bayerischen Wald gefertigte, große blaue Glaskugeln. Sie hingen wie Moscheeampeln an feinen Kabeln zwischen den Stuckprofilen der Decke. Ausgeklügelte Nebenlichteffekte erleuchteten die Glaskugeln, wurden dadurch gefiltert und färbten den ganzen Raum blau. Die Orangerie in ihrem „Schlauchformat“ firmierte als idealer Raum für diese Inszenierung, die sich in der Längsdurchsicht in einem unendlichen Blau zu verlieren schien. Diese blaue Beleuchtung stellte eine – wohl als sehr gelungen zu bezeichnende – Reminiszenz an die sogenannte „Blaue Moschee“ in Istanbul mit ihrer schier grenzenlosen Prachtentfaltung dar. „Attraktiv ist schon der Aufbau der TopkapiSchau in den langgestreckten Räumen. Mit herabgezogenen, blau strahlenden Punktlampen wird der Eindruck erweckt, wie man ihn in den Moscheen in Istanbul erhält.“18 Der ausstellungsbegleitenden Presse fiel es dem entsprechend leicht, unter dem Motto „Entführung ins Serail“ Wege in den märchenhaften Orient, in die orientalische Schatzkammer und in eine verzauberte Welt zu weisen und zu konstruieren. Laut der Darstellung des Ausstellungsgestalters waren solche „exotischen“, eine unwirkliche Situation schaffenden Eindrücke durchaus erwünscht 17 Zitiert aus der „Ausschreibung für die Stahlkonstruktion einer Sondervitrine“. Berlin 1988. 18 Berliner Morgenpost 25. Juni 1988.
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und sollten die vorbeschriebene Wirkung erzielen – in bewusster Beziehung zu der türkischen Tradition, in welcher die Farbe blau vornehmlich von einem metaphysischen Standpunkt aus betrachtet wird, denn blau ist die Farbe des Himmels, des Lichtes und des Lebens. „Besonders dankbar sollten die Besucher der Ausstellung dafür sein, daß sich die kompetenten türkischen Kulturbehörden von dem Dolch getrennt haben. Der Dolch ist mit zahlreichen Diamanten und anderen Edelsteinen besetzt, auch mit Email auf Goldgrund verziert, vor allem aber durch vier große Smaragde bekannt, von denen der oberste eine Londoner Uhr enthält. Er ist so bekannt, daß jedes Jahr hunderttausende Besucher in den Topkapi Serail kommen, vor allem um diesen Dolch zu sehen. So spielen die Dinge in dieser Ausstellung fast noch mehr die Hauptrolle als der Herrscher, und wenn hier zum ersten Mal außerhalb der Türkei jener berühmte, diamanten- und smaragdbesetzte Dolch gezeigt wird, so ist dies ein Symbol für dieses Sich-Spiegeln-Lassen eines Weltreiches im Interieur der Schatzkammer.“19 Die heraus gehobene Bedeutung und Öffentlichkeitswirkung der Berliner Ausstellung entstand somit – neben weiteren Faktoren – zweifellos aus der Fokussierung auf den Topkapi-Dolch, denn: „Berlin kann sich freuen. Der Dolch ist da! Die Hauptattraktion des Topkapi-Museums hoch überm Bosporus wurde als Leihgabe nur unserer Stadt anvertraut, Verbeugung vor der ‚Kulturstadt Europas 1988’“20, während auf den anderen Stationen der Ausstellungstournee in Amerika und England und später in Japan die durch den Film berühmt gewordene Wunderwaffe, die „einst ‚Hauptdarsteller’ der unvergessenen Rififi-Komödie ‚Topkapi’ war“, fehlte. Dass der Dolch im übrigen 200 Jahre später entstanden ist als alle anderen Ausstellungsstücke, wurde von der Öffentlichkeit kaum vermerkt. Statt dessen betont dies noch stärker seine offenkundig gewollte und instrumentalisierte Funktion als „Leitfossilie“. Angesichts der Zimelie Topkapi-Dolch sollten die Besucher der Ausstellung gleichsam ihr „episodisches Wissen“ aus den voran gegangenen Phasen ihrer persönlichen Orient-Rezeption abrufen mit dem Höhepunkt des FilmErlebnisses, das wohl bei den allermeisten Kinobesuchern mit Spannung, Erregung und Faszination verbunden gewesen ist und so auch in der Erinnerung abgespeichert war. Diese Museums-Strategie, mit Hilfe der Medien den symbolischen Wert des Dolches gezielt noch weiter zu steigern, ging ganz offenbar hervorragend auf. Der Dolch wurde als einmalig angesehen, seine Aura löste sich allmählich von den historischen Gegebenheiten, aber auf dem Weg über die reale, einzigartige Präsenz in der Ausstellung auch von der Fiktionalität des Films. Nur in dieser Ausstellung war der berühmte Dolch als reales, originales Objekt zu bewundern, wodurch die Erwartungsvorstellungen des Publikums ungemein gesteigert werden konnten. Damit übte der Dolch auch als Kunstobjekt eine gro19 Pressemitteilung der Ausstellungsveranstalter vom 8. Juni 1988. 20 Wie Anm. 18.
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ße emotionale Wirkung auf die Menschen aus, unterstützt von der maximale Effekte erzielenden Inszenierung, die ihm die Anmutung einer visuellen Autorität verlieh. Dieser Eindruck schloss unmittelbar an die allgemeinen Konnotationen des Dolches als Waffe an, der immer den Ausdruck von Stärke und Macht eines Stärkeren über einen Schwächeren repräsentiert, und zwar gerade in diesem Fall auf eindringliche, affektgeladene Weise. Der Schritt zum mystifizierten Kultobjekt ist an einer solchen Stelle nicht weit. Der konkrete Dolch hat unzweifelhaft einen außerordentlich hohen materiellen und immateriellen Wert. Seine Wertvorstellung wurde durch eine umfassende PR-Strategie sowie durch das Tag und Nacht andauernde Abstellen von Polizeibeamten und Wachschutz samt abgerichteten Hunden rund um die Vitrine noch deutlich gesteigert und wirkte auf viele Menschen offenbar geradezu erregend. Es darf konstatiert werden, dass sich große Massen von Menschen in der Berliner Ausstellung täglich in einen Zustand versetzen ließen, der Züge einer alten religiösen Verzückung, der Bezauberung, der Auflösung des realen Alltags-Ichs aufwies. In der Ausstellung „Schätze aus dem Topkapi Serail” wurde der Besucher nicht nur mit dem imaginären, als fern und fremd sowie märchenhaft verklärt wahrgenommenen, sondern in gewisser Weise auch mit dem realen Orient konfrontiert. Die historische Wirklichkeit der Kulturen des Orients wurde dennoch durch die europäische Wahrnehmung überlagert und auch weiterhin verklärt. Das Beispiel des berühmten Topkapi-Dolches zeigt auf, wie ein Exponat anlässlich seiner „erstmaligen europäischen Präsentation“ (auf der Basis seiner Vorgeschichte) als einzigartiges Symbol für die Spiegelung eines Weltreiches im Interieur seiner Schatzkammer aufgeladen und überhöht werden konnte und die Hauptrolle in einer „eigentlich“ kulturhistorischen Ausstellung übernahm, in deren Zeitrahmen und Kontext es streng genommen überhaupt nicht hinein passte. Sicherlich ist im Hinblick auf den Topkapi-Dolch eine Faszination des Fremden – und gleichzeitig aus der Vorgeschichte doch bereits vermeintlich Vertrauten – als positiver Interessens- und Vermittlungsfaktor vorhanden gewesen, der als Element einer Thematisierung und Problematisierung der Ambivalenz interkultureller Beziehungen durchaus tauglich erscheint. Aber der Schritt von einer Fütterung mit attraktiven Reizen über einen Museumsbesuch hin zu einer wandelbaren Orientrezeption konnte auch und gerade von diesem Dolch nicht geleistet werden. Letztlich dürften wiederum und einmal mehr regressive Bedürfnisse befriedigt worden sein, nach dem überlieferten Motto: Wenn es diesen Dolch gibt, dann gibt es auch den sagenhaften Reichtum in den alten orientalischen Geschichten sowie die Märchen von 1001 Nacht, historisch betrachtet: ohne Erkenntnisgewinn, Wahrnehmungsänderung und Bewusstseinswandel. Im Jahre 1989 fand im Martin-Gropius-Bau in Berlin die Ausstellung „Europa und der Orient 800-1900“ im Rahmen des 4. Festivals der Weltkulturen Horizonte ’89 unter der Leitung der Berliner Festspiele statt. Mehrere, ähnlich ausgerichtete Ausstellungen, etwa im Landesmuseum Natur und Mensch in Oldenburg,
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sind inzwischen gefolgt. Kontinuerlich sollten auch sie darauf hin befragt werden, ob sie ein Bild des in Europa imaginierten wie auch des realen Orient skizzieren, um dem Besucher die Möglichkeit der Überprüfung zu bieten, inwiefern auch die heutige Sicht der Kultur des mediterranen Orients noch durch überbrachte Klischeevorstellungen oder verklärte Bilder geprägt ist.
„Damit jeder Fürst w as sonders habe“. Überle gunge n z um Pommersc he n Kuns tsc hra nk und zu seiner musealen Präsentation KATJA SCHOENE „Mnemosyne, die Mutter der Musen, das, denke ich, ist das Thema […]. Nur sie kennt nämlich den Eingang, nur sie hat den Schlüssel, nur sie weiß den richtigen Weg durchs Labyrinth.“ (Wolfgang Hilbig: Eine Übertragung, 1989)
Schicksal und museale Laufbahn machen den Pommerschen Kunstschrank – einen Kabinettschrank, der eine erlesene Kollektion kunsthandwerklicher Gegenstände barg – zum Musterfall eines Museumsobjektes.1 Selbst eine Wunderkammer im Kleinformat, wurde das Sammlungsmöbel als Herzstück der nie vollendeten Kunstkammer seines Auftraggebers, Herzog Philipp II. von PommernStettin (1573-1618), geschaffen. Die künstlerische Leitung, Koordination und Organisation dieser herausragenden Leistung frühneuzeitlichen Kunsthandwerks oblag dem Augsburger Humanisten, Staatsmann und Kunsthändler Philipp Hainhofer (1578-1647).2 1
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Julius Lessing und Adolf Brüning (Hg.): Der Pommersche Kunstschrank. Berlin 1905. – Tjark Hausmann: Der Pommersche Kunstschrank. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 22 (1959), S. 337-352. Georg Himmelheber: Augsburger Kabinettschränke. In: Welt im Umbruch. Augsburg zwischen Renaissance und Barock. Augsburg 1980, S. 58-62, hier S. 58. Dieter Alfter: Die Geschichte des Augsburger Kabinettschranks. In: Schwäbische Geschichtsquellen und Forschungen 15 (1986), S. 42-46. Christa Pieske: Pommerscher Kunstschrank, pommersches Schicksal. In: Pommersches Heimatbuch 1988, S. 52-57. Tjark Hausmann: Der Pommersche Kunstschrank. In: Schatzkästchen und Kabinettschrank. Berlin 1989, S. 107-109. Barbara Mundt: Der Pommersche Kunstschrank. In: Georg Laue (Hg.): Möbel für die Kunstkammern Europas. Kabinettschränke und Prunkkassetten. München 2008, S. 32-40. Dies.: Der Pommersche Kunstschrank des Augsburger Unternehmers Philipp Hainhofer für den gelehrten Herzog Philipp II. von Pommern. München 2009. Zu weiteren von Hainhofer konzipierten Kabinettschränken vgl. Detlef Heikamp: Zur Geschichte der Uffizien-Tribuna und der Kunstschränke in Florenz und Deutschland. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 26 (1963), S. 193-268, hier S.
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Philipp II. folgte dem Vorbild der europäischen Fürsten seiner Zeit: Ihre Sammlungen verbanden Prachtentfaltung mit der Zurschaustellung universeller Bildung, die zur Herrschaft befähigte. Nur ein Jahr lang konnte der Prunkschrank der representatio Philipps II. dienen, indem er dessen Berufung zur Machtausübung symbolisch vorführte.3 Der „Kunstmäcen unter den pommerschen Herrschern“4 starb 1618. Eine Odyssee führte das Möbel zu wechselnden Besitzern und Aufbewahrungsorten, sein Originalzustand veränderte sich. 1945 verbrannte es bis auf die Silberbeschläge. Der Großteil des mehr als 200 Objekte umfassenden Inventars – wissenschaftlich-mathematische Instrumente, Handwerksgeräte, Toilettenaccessoires, Bücher, Spiele, Schreibzeug, Geschirr oder eine Apotheken- und Baderstubeneinrichtung, untergebracht in über 100 Fächern – blieb erhalten.5 Überliefert ist auch ein handschriftliches Octavbüchlein von Hainhofer – ein illustrierter Wegweiser durch das raffiniert ausgeführte Mechaniklabyrinth des Schranks. Minutiös erläutert es die Funktion von Hebeln, Kurbeln und Winden oder macht auf doppelte Böden und Geheimfächer aufmerksam. Erhalten hat sich zudem das von Anton Mozart 1615/16 geschaffene Gemälde der Übergabe des Pommerschen Kunstschranks an den Herzog und seine Gemahlin. Die Rolle dieses im Schrank verborgenen Bildes als nähere Erläuterung von Dekor und Inventar wurde bislang übersehen. Die Bezüge zwischen geistigem Gehalt und dinghaftem Inhalt verweisen auf die Mnemotechnik, die Kunst des Erinnerns. Die Diskrepanz zwischen fragmentarischem Erhaltungszustand und Bedeutungsreichtum macht die Problematik und den Reiz einer musealen Präsentation des Pommerschen Kunstschranks aus. Ihr Anspruch muss darin bestehen, das nicht beziehungsweise nicht mehr Sichtbare sichtbar zu machen.
„Vom Kistler fertig und gar schön“ (Philipp Hainhofer) – der Pommersche Kunstschrank Von der Entstehung des Pommerschen Kunstschranks zeichnen Hainhofers Tagebuchnotizen, Reiseberichte und Korrespondenz ein genaues Bild.6 Am 24. Au-
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230f. Hans-Olof Boström: Philipp Hainhofer and Gustavus Adolphus’s Kunstschrank in Uppsala. In: Oliver Impey und Arthur MacGregor (Hg.): The Origins of Museums. New York 1985, S. 90-101, hier S. 94. Gerlinde Bach: Philipp Hainhofer und ein Kabinettschrank des Kunsthistorischen Museums in Wien. In: Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien 91 (1995), S. 111-151. Thomas DaCosta Kaufmann: Remarks on the Collections of Rudolf II: the Kunstkammer as a Form of Representatio. In: The Art Journal 38 (1978). Nr. 1, S. 22-28. Hugo Lemcke: Das königliche Schloß in Stettin. Stettin 1909, S. 30. Klaus Pechstein: Goldschmiedewerke der Renaissance. Berlin 1971, Nr. 110-148. Die Brandenburgisch-Preußische Kunstkammer. Berlin 1981. Nr. 1-8, S. 65-76. Rosewith Braig: Die Gegenstände aus dem Pommerschen Kunstschrank. Führungsblatt 1475 des Kunstgewerbemuseums. Berlin 1985. F. L. B. von Medem: Philipp Hainhofers Tagebuch. In: Baltische Studien 1834, H. 2. Christian Häutle (Hg.): Die Reisen des Augsburgers Philipp Hainhofer nach Eichstädt, München und Regensburg in den Jahren 1611, 1612 und 1613. In: Zeit-
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gust 1617 traf der sieben Jahre zuvor bestellte Schrank am Hof Herzog Philipps II. in Stettin ein. Unter seinem spiritus rector Hainhofer war das Möbel von einem großen Künstlerkreis aus Tischlern, Goldschmieden, Steinschneidern, Uhrmachern, Buchbindern, Zirkel- und Futteralmachern sowie Drechslern und Malern geschaffen worden. Der 1,15 m breite und 1,36 m hohe, zweigeschossige Kunstschrank war aus Ebenholzfurnier auf einem Möbelkörper aus Ahorn gefertigt. Säulen und Schubkästen bestanden aus Palisander und Rosenholz. Vier in Silber gegossene, vergoldete Greifen, die Wappentiere Pommerns, das pommersche und das holsteinische Wappen in ihren Vorderkrallen, übernahmen die inhaltlich-ikonographische Stützfunktion: Der Bezeichnung Pommerns als Haus der Greifen entspricht der Kunstschrank im Wortsinne. Eine adäquatere Umsetzung für Herzog Philipps geistigen Machttraum hätte sich wohl kaum finden lassen. Die Friese schmückten Sternzeichen, Musikinstrumente und die damals zu den Planeten gerechneten Himmelskörper Sonne, Mond, Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn, in deren Mitte das Bild der Heiligen Dreifaltigkeit erschien. An den vorderen und hinteren Schranktüren sowie den Schmalseiten dominierten ihn die Personifikationen von sechs freien Künsten in Silbertreibarbeit: Dialektik, Grammatik, Geometrie, Arithmetik, Architektur, Astronomie. Kardinaltugenden, Embleme und Personifikationen von Europa, Asien, Amerika und Afrika fassten sie als bemalte Intarsien ein. Vollplastisch gegossene, in ihrer Lebensechtheit dem Stil Rustique ähnliche Pflanzen und Tiere, darunter Schlangen und Insekten, leiteten zum oberen Schrankaufsatz über. Hier übernahmen Hermenpilaster die architektonische Gliederung. Farbige Emails an den Außenwänden des Obergeschosses zeigten Embleme und Devisen des Herzogs. Als siebte freie Kunst konnte die Musik unter Einbeziehung der freiplastisch gearbeiteten Musen gedanklich ergänzt werden: An Stelle ihrer üblichen Attribute hielten sie Musikinstrumente. Auf den Gesimsen und als Teil des Aufsatzes schienen sie die Architektur des Schranks zu umkreisen. Vier der neun Musen – Terpsichore, Polyhymnia, Erato, Urania – besetzten die vorkragenden Enden des unteren Gesimses, weitere vier – Thalia, Euterpe, Clio, Melpomene – jeweils die Gesimsmitte des oberen Kastens.7 Die
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schrift des Historischen Vereins für Schwaben und Neuburg 8 (1881), S. 55-148. Oscar Doering (Hg.): Des Augsburger Patriciers Philipp Hainhofer Beziehungen zum Herzog Philipp II. von Pommern-Stettin. Correspondenzen aus den Jahren 1610-1619. Wien 1894. Ders. (Hg.): Des Augsburger Patriciers Philipp Hainhofer Reisen nach Innsbruck und Dresden. Wien 1901. Ronald Gobiet (Hg.): Der Briefwechsel zwischen Philipp Hainhofer und Herzog August d. J. von BraunschweigLüneburg München/Berlin 1984. Hellmut Hannes: Der Pommersche Kunstschrank. Entstehung, Umfeld, Schicksal. In: Baltische Studien N.F. 76 (1990), S. 81-115. Helmut Seling: Die Kunst der Augsburger Goldschmiede 1529-1868. Bd. 1. München 1980, S. 59f. Silber und Gold. Augsburger Goldschmiedekunst für die Höfe Europas. München 1994, S. 220, 602f . Michael Bischoff: Rottenhammers Entwürfe
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Ecken zierten kleine, ebenfalls musizierende Kinderfiguren. Die Urmuse Kalliope saß am Fuß des abschließenden Bergmassivs. Alle Figuren waren in Silberguss mit Vergoldungen gefertigt. An den Innenseiten der Schranktüren erschienen vier Landschaftsgemälde auf Kupfer. Laut Hainhofer standen sie für die Elemente Erde, Feuer, Wasser und Luft. Ein zweites Mal wurde das Thema der Vier Elemente an den Schubladen hinter den Vorderflügeltüren gezeigt. Hinter den rückwärtigen Türen waren die in eine Reliefwand aus Buchsbaum geschnitzten zwölf Taten des Herkules zu sehen. Das gesamte Programm gipfelte im Helikon, dem Berg der Musen beziehungsweise der Weisheit. Aus ihm hatte Pegasus die Quelle Hippokrene entspringen lassen und damit den antiken Schutzgöttinnen der Künste und der Wissenschaften eine Badegelegenheit geschaffen. Der durch diese Tat zum Dichterross avancierte Pegasus bildet zusammen mit Kalliope (der Schönstimmigen) und Minerva (der Verkörperung der Weisheit) das perfekte Trio zur visuellen Demonstration des Zusammenklangs künstlerischer, wissenschaftlicher und handwerklicher Fertigkeiten. Vor allem in der Gestalt der vielseitigen Minerva, die zugleich als Förderin technischen Fortschritts, Herrin des Handwerks, Schutzherrin der Musik, der Bildhauer und der Heilkunst verehrt wurde, bündelt die Helikongruppe alle mit Hilfe der Freien Künste vorgestellten Bildungsgebiete. Den konkreten Bezug zu Herzog Philipp – „damit ieder Furst was sonders habe“ – erläutert Hainhofer, der das Helikonmassiv mit dem ebenfalls als Musenberg bekannten Parnass gleichsetzt, wie folgt: „weil Parnassus vnd Pegasus mit P. anfangen, mag manß auch deuten auf Phillipum Principem oder Philippum Pomeranum“.8
„Das ganze Ding ausgekramt“ (Alfred Lichtwark) – Inventar Die innere Ordnung des Kunstschranks ist Hainhofers Inventarbüchlein zu entnehmen. Von unten nach oben folgten auf die „Geometrischen“ Gerätschaften (mathematisch-naturwissenschaftliche Instrumente), „die Tafel“ (Prunkgeschirr), „Spiel und Kurzweil“ (Karten- und Brettspiele), „die Schreib“ (Schreibplatte), „die Apoteck und Balbir sachen“ (Utensilien für Chirurgie und Körperpflege). Die Aufbewahrung der geometrischen Instrumente in Sockel und Zarge des Schranks erscheint schlüssig: Diejenigen Hilfsmittel, der sich einerseits Gott als Weltenbaumeister bedient haben soll und die andererseits Voraussetzung zur Erschaffung der im Schrank aufbewahrten Objekte sind, bilden das Fundament. In seinem inneren Aufbau scheint der Pommersche Kunstschrank dem Aufbruch in
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für Goldschmiedearbeiten. In: Hans Rottenhammer. München 2008, S. 63-69, hier S. 63f. Zit. nach Lessing/Brüning (wie Anm. 1), S. 6 und 39.
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Richtung einer durch wissenschaftliche Fortschritte erneuerten Betrachtungsweise der Welt Rechnung zu tragen. Mit seinem Inventar versammelte der Schrank eine repräsentative Auswahl handwerklich-technischen Materials und damit zugleich das Wissen der Zeit: Die kleinformatigen, oftmals aufwändig verzierten Gerätschaften, deren Benutzung Kunstsinn, wissenschaftliche Neugier, Zeit und Aufmerksamkeit forderte, sind Ausdruck des Bemühens um eine Zusammenschau menschlicher Kunstfertigkeit und technischer Leistung am Beginn der Neuzeit. Neben Nürnberg war Augsburg im 16. Jahrhundert zu einer der wichtigsten Produktionsstätten von Instrumenten avanciert und behielt diesen Rang bis zum 30-jährigen Krieg. Im Jahr 1615 waren in der Stadt 185 Goldschmiede gegenüber 137 Bäckern tätig.9 Die Gegenstände, die dem wissenschaftlichen, alltäglichen und höfischen Leben ebenso entstammen wie der Sphäre des Verstandes und des Glaubens, spiegelten sämtliche Wissensbereiche der Zeit. Mit Tafelgeschirr, Feilen, Klavier (verloren), Fernrohr, Zungenschaber, immerwährendem Kalender, Geschützaufsatz (verloren), Mörser, Eierkocher, Münzprägewerk (verloren), verschiedenen Zirkeln, Kompass, Spielbrettern, Aderlassbinde und Astrolab sind Kunst und Technik, Mathematik, Physik, Botanik, Geometrie und Astronomie exemplarisch vertreten. In vielen Variationen konnten einzelne Apparaturen vorführen, inwiefern der Mensch in der Lage ist, sich mechanischer Hilfsmittel zu bedienen, um in die Natur einzugreifen. Die im Kunstschrank enthaltenen Werkzeuge und technischen Hilfsmittel implizierten, dass Herzog Philipp sich in ihrer Bedienung auskenne und auch er in gottähnlicher Vielseitigkeit über die technische und praktische Begabung verfüge, wie sie die Gelehrten, Handwerker und Künstler der verschiedensten Fachgebiete besaßen. Schrank und Inhalt stellen ein gesamtkünstlerisches Fertigprodukt dar. Der Großteil des Inventars wurde eigens für den Schrank gefertigt. In seiner zu einem bestimmten Zeitpunkt fixierten Zusammenstellung ist der Inhalt im Gegensatz zu den leer gelieferten, selbst zu befüllenden Kabinettschränken starrer, zugleich aber hinsichtlich der privaten Ausrichtung auf das Interesse des Auftraggebers anpassungsfähig und lässt gerade deshalb ein schlüssiges Programm erwarten. Die Fixierung auf den einen gültigen Zustand bedingt dabei eine Gratwanderung zwischen Modernität und Tradition: Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Erkenntnissen musste ebenso dokumentiert werden wie Allgemeingültigkeit über einen möglichst langen Zeitraum hinweg. Die im Schrank enthaltenen Bücher zeugen von der goldenen Mitte: Quadrantis astronomici et geometrici utilitates – ein astronomischer Traktat zum Auffinden der Planeten von 1611 –, Leonhard Zublers Neuwe Geometrische Büchsenmeisterey von 1608, ein Notizbuch, ein „in braun samet gebunden bürgamentin geographisch buch“ und ein 1613 gedrucktes Gebetbuch. Die Auswahl 9
Hannelore Müller: Augsburger Goldschmiedekunst 1620-1710. In: Augsburger Barock. Augsburg 1968, S. 279-281, hier S. 279.
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umreißt die Bereiche Kriegskunst, Astronomie, Geographie und Frömmigkeit. Sprechen die mit Schmuckeinbänden und „schönen kunstreychen Kupfferstucken geziert[en]“ Bücher10 selbst für einen Hang zur Bibliophilie, zeichnen ihre Inhalte das Bild eines kenntnisreichen und gottesfürchtigen Fürsten, der Herrschaftsbestrebungen und musische Qualitäten zu vereinen weiß. Dem Notizbuch mit Griffel zum Festhalten persönlicher Gedanken kommt dabei die Rolle zu, die Fähigkeit eigenständiger Beobachtungsgabe und Meinungsbildung nachzuweisen.
„Philippum Principem“ – Herzog Philipp II. von Pommern Das Motto seines Lebens formulierte Philipp als 18-jähriger: Er unternehme das Sammeln von Büchern, Bildern und Münzen, um edler zu werden und der Gesellschaft besser dienen zu können.11 Ein humanistischer Grundsatz, mit dem Philipp sich einen Platz unter den Mächtigen seiner Zeit erarbeitete. In Barth, wo sein Vater Bogislav XIII. 1582 die Fürstliche Hofdruckerei gegründet hatte, verlebte Philipp seine Jugendjahre. Mit zwölf Jahren begann er Bücher und Gemälde zu sammeln, mit 17 unternahm er seinen ersten eigenen schriftstellerischen Versuch. 1594 schloss er seine Rostocker Universitätsstudien bei Gervazius und Martin Marstaller ab. Reisen durch Sachsen, Thüringen, Schlesien, Franken, das Elsass, Lothringen und 1595 nach Frankreich, Besuche der Zentren fürstlichen Mäzenatentums Kopenhagen und Prag, 1596-98 eine Grand Tour nach Italien förderten seine Bildung, die ein überdurchschnittliches Maß erreichte. Neben seinem Kunstagenten Hainhofer12 gehörte der bibliophile Statthalter des dänischen Teiles von Schleswig-Holstein Heinrich Graf Rantzau, „die Zierde und das Wunder des niedersächsischen Adels“,13 zu seinen wichtigsten Korrespondenzpartnern. 1603 wurde Philipp Statthalter von Pommern und übersiedelte nach Stettin. 1606 übernahm er nach dem Tod des Vaters das Herzogtum Pommern-Stettin als alleiniger und selbstständiger Herrscher. Philipp zelebrierte sich als kosmopolitisch gesinnter Kunstmäzen mit enzyklopädisch ausgerichtetem Wissenshorizont. Die geistige Orientierung nach Prag, dem Zentrum der zeitgenössischen Kultur, galt ihm als Richtschnur seiner Anstrengungen. Die durch seine Förderung entstandenen Kunstwerke zeugen von dem ausgedehnten Netzwerk, das Philipp zu Künstlern und Kunsthandwerkern, Gelehrten, gleichgesinnten Monarchen und Kirchenmännern weit über Pommern hinaus aufgebaut hatte. Das bedeutendste Porträt Philipps II. und seiner Gemahlin schuf Jan de Vos 1614 10 Zit. nach Lessing/Brüning (wie Anm. 1), S. 39. 11 Hellmuth Bethe: Die Kunst am Hofe der pommerschen Herzöge. Berlin 1937, S. 70. 12 Klaus Pechstein: Aus fürstlichen Kunstkammern. Unbekannte Visierungen für Philipp Hainhofers pommersche Kunstaufträge. In: Kunst und Antiquitäten (1983), H. 12, S. 44-53. 13 Petrus Lindeberg zit. nach Dieter Lohmeier: Heinrich Graf Rantzau und die Adelskultur der frühen Neuzeit. In: ders. (Hg.): Arte et Marte. Neumünster 1978, S. 6784, hier S. 70.
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als Silberrelief nach einem von Lucas Kilian in Kupfer gestochenen Gemälde des Sebastian Hepp.
Anton Mozart: die Übergabe des Pommerschen Kunstschranks 1615 oder 1616 schuf Anton Mozart das 39,5 cm x 45,4 cm große Gemälde.14 Dem wichtigen Moment, in dem der Pommersche Kunstschrank am Stettiner Hof präsentiert wird, greift Mozarts Bild um ein oder zwei Jahre vor; tatsächlich fand das Ereignis am 30. August 1617 statt. Der Maler lässt uns in einen großen gefliesten Saal blicken. Hohe, durch drei Halbsäulen voneinander getrennte Rundbogenfenster in der rückwärtigen Wand geben den Blick auf die Reichsstadt Augsburg frei. Im Panorama erscheinen die Kirche St. Ulrich und Afra, der Perlachturm und der Dom. In der rechten Saalhälfte, auf einem mit rotem Tuch bedeckten Tisch, ist der Prunkschrank aufgestellt. Bedeutungssteigernd ragt hinter ihm eine Halbsäule auf. Sie lenkt den Blick in die Höhe auf die Bekrönung des Schranks, den Musensitz Helikon mit dem Flügelpferd Pegasus. Hinter dem Schrank führt eine Treppe von einer erhöhten Tür hinunter in den Saal. Die Supraporte zeigt die Stadt Stettin aus der Vogelschau. Sinnfällig verweist die in ihrer Richtung aufsteigende Treppe auf den von Augsburg weit entfernten Zielort. Das Team der Augsburger Maler, Bildhauer und Kunsthandwerker, die an der Fertigung des Schranks beteiligt waren, betritt durch die Tür den Saal, um sich im Vordergrund zu einem Gruppenporträt zu versammeln. Kleine Zahlen helfen, die Personen zu identifizieren. Die ihnen zugeordneten Namen sind in eine rückwärtig im Gemälde eingelassene Kupfertafel graviert. Der Tischler Ulrich Baumgartner blickt von der Treppe aus dem Bild. Vor ihm steht Anton Mozart, von dem sämtliche Malereien am Schrank stammen dürften. Am unteren Treppenende ist der bedeutende Goldschmied Matthias Walbaum zu sehen: Der gesamte Silberbeschlag des Schranks wurde in seiner Werkstatt geschaffen.15 Im Gemälde sind die beiden vorderen Schranktüren geöffnet, so dass die gemalten Innenbilder sichtbar sind. Ein Schubkasten ist entnommen. Ihn bietet Hainhofer dem in der anderen Saalhälfte sitzenden Herzogspaar dar, so dass das silberne, herzförmige Geschirr darin bewundert werden kann. Hainhofer, der sich von der mittleren Halbsäule aus auf den Herzog zubewegt, nimmt – gemäß seiner Rolle bei der Herstellung des Schranks – die Mittlerposition ein zwischen links dem herzoglichen Wunsch und rechts den ausführenden Handwerkern, die ihr Endprodukt vorführen. 14 Marion Rudelius-Kamolz: Der Augsburger Maler Anton Mozart (1572/73-1625). Köln/München 1995, S. 80-82. Rosewith Braig: Die Übergabe des Pommerschen Kunstschrankes an Herzog Philipp II. von Pommern-Stettin im Jahre 1617. Führungsblatt 1474 des Kunstgewerbemuseums. Berlin 1985. 15 Regina Löwe: Die Augsburger Goldschmiedewerkstatt des Matthias Walbaum. München/Berlin 1975, S. 78-80.
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Anton Mozart nimmt nicht nur die Übergabezeremonie am Stettiner Hof vorweg. Zugleich verpflanzt er das ferne Augsburg – den Herstellungsort – vor die Fenster eines fiktiven Palastinterieurs. Ebenso lässt er die ausführenden Handwerker am Geschehen teilhaben, deren Anwesenheit bei der Übergabe nicht eingeplant war. Der Maler hat offenbar gar nicht versucht, eine möglichst getreue Abbildung des Ereignisses zu gestalten: Ein goldener Schlüssel, den der Maler auf dem roten Tischtuch nahezu exakt in der Bildmitte vor dem Schrank platziert und auf den er die Spitze einer Stofffalte weisen lässt, kann als wörtlicher Wink auf die Schlüsselrolle des Bildes verstanden werden. Indem es sich nicht allein in der Darstellung von Anfertigungs- und Bestimmungsort, Initiator, Mitarbeitern und Empfänger erschöpft, geht das Bild über seine Bedeutung als Würdigung des Augsburger Kunsthandwerks weit hinaus. In der Art einer Legende formuliert es den Gedankengehalt des Schranks. Als sprechendes Beiwerk sind dabei vor allem diejenigen Motive bedeutsam, die mit der Übergabezeremonie selbst in keinerlei Zusammenhang zu stehen scheinen: zwei Affen, ein auf einem Hund reitendes Kind, Kartuschenbilder mit Augsburger Denkmälern und eine Lavabogarnitur. Sie sind als Fingerzeige zu verstehen, mit denen auf übergreifende Themenkomplexe wie Natur und Kunst, Nacheifern des göttlichen Schöpfungsakts, Wertschätzung des Spielerischen oder die VierElemente-Lehre verwiesen wird.
Kunstkammer im Kleinformat Mit dem Pommerschen Kunstschrank gelingt durch die Vier Elemente der assoziative Brückenschlag zu der ihm fehlenden Kategorie der naturalia, der Sammelstücke natürlichen Ursprungs: Die sowohl mit den Elementenbildern als auch den Tier- und Pflanzenskulpturen am Möbeldekor gegenwärtige Natur rückt ihn in die Nähe universaler Kunstkammern, die beide Kategorien enthalten. Und über die bloße Präsenz von artificialia und naturalia hinaus verstand sich auch der Kunstschrank im Sinne der Kunstkammer und ihrer Vorläufer, der privaten studioli, als verkleinertes Abbild der Welt, das den Zugriff auf eine umfassende, systematisierte Darstellung des Wissens ermöglichte.16 Der protestantische Theologe Johann Valentin Andreae, der mit Hainhofer in engem Kontakt stand, entwirft in Christianopolis eine ideale Stadt. Ausführungen zu einem an der unmittelbaren Anschauung orientierten Bildungsideal, vor allem aber die Wertschätzung des Handwerks als einer gelehrten Kunst, mit deren Hilfe die Erforschung der Natur begonnen werden kann, nehmen im Roman breiten Raum ein. Sie erlauben den Vergleich zum Kunstschrank: Mozarts Ge-
16 Marielene Putscher: Ordnung der Welt und Ordnung der Sammlung. Joachim Camerarius und die Kunst- und Wunderkammern des 16. und frühen 17. Jahrhunderts. In: Gerrit Arie Lindeboom (Hg.): Circa Tiliam. Studia Historiae Medicinae. Leiden 1974, S. 256-277, hier S. 270-273.
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mälde feiert die Handwerkskunst. Die Bildlegende unterscheidet die Berufsgruppen der Gold- und Silberschmiede, Maler, Uhrmacher, Orgel- und Zirkelmacher, Tiermacher, Steinschneider, Drechsler, Schlosser, Windenmacher, Kupferstecher, Futteralmacher, Tischler („Küstler“), Automatenmacher („Muggerman“) und Buchbinder. Mit den überschriftengleich plazierten Kartuschenbildern lässt Mozart den Blick vom Kunsthandwerk zur städtebaulichen Kunst schweifen: Die Bilder zeigen die von Hans Reichle als Bekrönung des Augsburger Zeughausportals gearbeitete Bronzegruppe des Erzengels Michael mit Luzifer (1607), flankiert vom Herkulesbrunnen von Adriaen de Vries (1596/1602) und dem Augustusbrunnen von Hubert Gerhard (1589-94). De Vries und Gerhard stammen aus den Niederlanden. Vermutlich hat Gerhard ebenso wie sein Schüler Hans Reichle bei Giambologna gelernt, für den De Vries zeitweilig tätig war. Eigentliches Kernstück von Andreaes Christenstadt ist eine allumfassende, Kunst und Natur vereinigende Kunstkammer, zu der – gemäß ihrer Einheit von Sammeln und Forschen – Laboratorium und Bibliothek gehören. Auch hier findet sich der Bezug zum Schrank, dessen Gegenstände ebenfalls zum Experimentieren einluden und dessen Buchsammlung einen Querschnitt durch die damals wichtigsten Wissensgebiete bot. Roman und Kunstschrank stellen Versuche in unterschiedlichen Medien dar, disparate Beispiele technischen, naturwissenschaftlichen und humanistischen Wissens sowie Aspekte wie Kunst und Handwerk, Frömmigkeit und Forschung innerhalb eines räumlich geschlossenen Systems geordnet zusammenzufassen. Beide sind Ausdruck des utopischen Strebens nach einer architektonischen Einheit, in der die enzyklopädische Synopse verwirklicht werden kann.
Die Kunst des Erinnerns Hainhofers spezielles Interesse galt der Mnemotechnik. Lambert Schenkel, eine führende Autorität innerhalb dieser Disziplin, unterrichtete ihn.17 Einen hervorragenden Platz innerhalb des gesamten Dekorationssystems des Pommerschen Kunstschranks nahmen die Musen ein, „ars liberalis, alß musica, sizt auf dem ganzen schreibtisch herumb“.18 Die Mutter der Musen und Göttin des Gedächtnisses, Mnemosyne (griech. Erinnerung), stand dem Wort Mnemotechnik Pate. Die Mnemotechnik, unterschiedliche Methoden, die Erinnerung anzuleiten und zu schulen, eröffnete eine Möglichkeit, mittelalterliche Ordnungsmodelle in ein flexibles, den frühneuzeitlichen Bedingungen angemesseneres System zu überführen. Ausgehend von der Vorstellung des Gedächtnisses als großes Haus, in dem Abbilder plaziert werden, können eingeprägte Wörter und Sachverhalte mit Hilfe der Technik des inneren Visualisierens verfügbar gemacht werden. 17 Arne Losman: Minnets teater. In: En värld i miniatyr. Kring en samling från Gustav II Adolfs tidevarv. Stockholm 1982, S. 5-12. 18 Zit. nach Lessing/Brüning (wie Anm. 1), S. 37.
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1550 erschien Giulio Camillos mnemotechnisches Theater in Buchform. Der Bologneser Gelehrte hatte zuvor ein Gedächtnistheater auf Grundlage der ars memoriae, der Gedächtniskunst, entworfen. Die Tatsache, dass sich unter den Theaterbildern in Camillos Modell Fächer, Truhen und Kästchen befanden, die Papiere mit zu den Bildinhalten passenden Reden enthielten, unterstreicht die Nähe zum Kunstschrank. Immerhin war die kleine Welt der Technik und des Kunsthandwerks mit Hilfe des plastischen und malerischen Dekorationssystems am Schrank selbst in ein übergreifendes System damals gültiger Vorstellungen von Mythologie und Kosmologie eingebunden. Sinnbilder, Planetenzeichen, christliche Themen und antike Sagengestalten konnten das Sichzurechtfinden im weitgefächerten Wissens- und Spielangebot des Inventars anleiten und unterstützen. Dabei ging es nicht allein um das pure Auffinden der Gegenstände. Zugleich sollte eine tiefere Einsicht über ihren Platz innerhalb des Weltganzen gewonnen werden. Den äußeren Orientierungsrahmen bildete wie bei Camillo ein architektonisch gegliedertes Gerüst, das Haus der Greifen, das eine unterschiedliche Bedeutung seiner Orte – etwa Fundament- oder Kopfbereich, Schau- und Rückseite – vorgab und viel Raum für Bilder bot. Fast plakativ wiesen die am oberen Aufsatz kriechenden Schlangen auf die Apotheke hin. Sie riefen den antiken Gott der Heilkunst Asklepios in Erinnerung, um dessen Knotenstock sich eine Schlange wand. Subtiler erscheinen die Sinnbilder der Medizin sowie die Parallelen, die sich zwischen Möbeldekor, Aufbewahrungsort und Verzierung eines Handspiegels ziehen lassen. In einen rechteckigen Ebenholzrahmen gefasst, schmückten ihn eingelegte, bemalte Steine und „ain hüpsch vergult puntzionirt blech“.19 Mitten unter den Toilettenartikeln befand er sich an zentraler Stelle im oberen Bereich des unteren Kastens. Während der Benutzer sein Gesicht im Spiegel betrachtete, mahnten ihn von den bemalten Steinen aus Narziss und Juno mit dem Pfau, sich nicht zu sehr in Eitelkeiten zu ergehen. Drehte der Betrachter den Spiegel um, wurde ihm in Punktiertechnik auf einem vergoldeten Silbertäfelchen die Geschichte von Phaëton, dem Sohn des Sonnengottes Helios, vor Augen geführt. Für die mit Hilfe der Phaëtongeschichte transportierte Doppelaussage der Berufung des Menschen zu großen Taten einerseits und seiner Gefährdung durch Selbstüberschätzung andererseits ist die Spiegelrückseite – das heißt seine Kehrseite – ein ausgezeichneter Ort. Darüber hinaus fügt sich die Aussage in den Zusammenhang des Dekors: Von außen nach innen bereiten die Freien Künste – die äußere Schrankverzierung – und die Vier Elemente auf den Türinnenseiten schrittweise auf das mit dem Spiegel näher ausgeführte Thema des kreativen, in der Welt agierenden Menschen vor. Das Elementenbild Feuer, dessen implizierte Mahnung sich mit Phaëtons Schicksal trifft, war ebenfalls rückwärtig angebracht. Selbst die Län19 Zit. nach Lessing/Brüning (wie Anm. 1), S. 44.
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derpersonifikationen als Hinweis auf Entdeckungslust, Abenteuer, Ruhm und Gefahr passen in das skizzierte Gefüge einer von Gleichnissen durchzogenen Bildwelt. Die Plazierung der Einzelbilder ist offenkundig mnemotechnisch inspiriert. Sie diente der vom allgemeinen zum speziellen fortschreitenden Erkenntnis. Dem Betrachter offenbarte sich die volle Bedeutungstiefe des Phaëtonbildes erst, nachdem er alle Sehangebote erfasst und ihre unterschiedlichen Kombinationen durchgespielt hatte.
Museale Biographie des Pommerschen Kunstschranks Nach seiner Überführung von Augsburg steht der Pommersche Kunstschrank ein Jahr lang am Stettiner Hof Herzog Philipps. Dessen jüngste Schwester und Erbin, Anna von Pommern, lässt ihn am 6. April 1638 an ihren Wohnsitz, Schloss Stolp, überführen. Auf der Grundlage des Erbvertrages von Grimnitz bleibt er trotz des Aussterbens der männlichen Linie des pommerschen Fürstenhauses mit Bogislaw XIV. in ihrem Besitz und gelangt erst 21 Jahre später nach Brandenburg: Der kinderlos verstorbene Sohn Herzogin Annas und Neffe Philipps II., Ernst Bogislaw von Croy, vermacht das Prunkmöbel 1681 Kurfürstin Dorothea von Brandenburg. Anlässlich ihrer Erbschaft wird der Schrank 1684 auf der kurfürstlichen Yacht von Danzig – wo er zwischenzeitlich im Haus des Ratsherrn Michael Böhmen Erben steht – nach Kolberg und weiter auf dem Landweg nach Berlin transportiert. 1694 erscheint er erstmalig im Verzeichnis der 1689 vom Großen Kurfürsten eingerichteten Kunstkammer.20 Hier wird der originale, schadhafte Tisch des Kunstschranks durch einen anderen, ebenfalls in Augsburg gearbeiteten ersetzt. Mit Elisabeth-Tisch bezeichnet, erinnerte der Stellvertreter daran, dass er früher Herzogin Elisabeth, der Gemahlin des letzten pommerschen Herzogs und Schwester Herzogin Sophies, gehört hatte.21 In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird auch das Orgelwerk repariert. „Beschädigungen und Beraubungen […] – jedoch nicht blos von den Fremden“ erleidet der Schrank während der Zeit der napoleonischen Besetzung.22 1858 wird er in das zwei Jahre zuvor eröffnete Neue Museum (heute Alte Nationalgalerie) überführt. „In einem engen Glaskasten [ist die Aufstellung] der Art, daß die Besichtigung des Inhalts so gut wie unmöglich [ist]“.23 Ganz anders wird der Kunstschrank 1873 im Zeughaus Unter den Linden präsentiert: Innerhalb der Ausstellung „älterer kunstgewerblicher Gegenstände im Königlichen Zeughause“ ist der Pommersche Kunstschrank eine der Hauptattraktionen. Erstmalig wird auch sein Inhalt gezeigt und in einer übersichtlichen Anordnung „der
20 Der Große Kurfürst. Sammler, Bauherr, Mäzen. Potsdam 1988, S. 62-64, 68. 21 Franz Kugler: Beschreibung der in der Königlichen Kunstkammer zu Berlin vorhandenen Kunst-Sammlung. Berlin 1838, S. 198f. 22 Lessing/ Brüning (wie Anm. 1), S. 15. 23 Ebd.
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allgemeinen Kenntnisnahme erschlossen“.24 Die knappe Bemerkung, Mozarts Übergabegemälde, das „über die Anfertigung [des Schranks][…] die ausführlichsten Nachrichten“ vermittele, sei zu sehen gewesen,25 verrät, dass das Bild in seiner Erläuterungsfunktion erkannt und entsprechend ausgestellt wurde. Im Zuge der Aufteilung der Kurfürstlichen Kunstkammer auf verschiedene Sammlungen nimmt 1876 das Deutsche Gewerbe-Museum – 1879 umbenannt in Kunstgewerbemuseum – den Schrank in seine Bestände auf. Im heute so genannten GropiusBau an der Prinz-Albrecht-Straße erfährt er unter Julius Lessing „eine würdige Aufstellung mit möglichster Entfaltung seines künstlerischen Inhalts“.26 In einem Brief vom Oktober 1881 an seine Mutter berichtet der Kunsthistoriker Alfred Lichtwark von der „Haupt- und Staatsaktion“, die das Auspacken des Pommerschen Kunstschranks darstellte: „Das Auspacken war ein Genuß, zu dem wir alle versammelt waren. Von den Lebenden hatte nur Lessing einmal das ganze Ding ausgekramt“. Lichtwark bemerkt auch, dass der Schrank „noch die gesamten Schätze [enthalte], was zu den größten Seltenheiten gehört“.27 Drei Jahre später erfolgt eine gründliche Restaurierung; der originale Tisch wird anhand einer Zeichnung rekonstruiert. Unter Direktor Otto von Falke nimmt der Schrank am Umzug in das am 1. September 1921 als Schlossmuseum eröffnete Berliner Stadtschloss teil, dessen Räume seit der Abdankung Wilhelms II. unbewohnt waren. Die Kunstgewerbesammlung wird mit der verbliebenen Einrichtung des Schlosses vereint. Die weiteren Umzüge des Kunstgewerbemuseums (im Westteil der Stadt 1963 in den Knobelsdorff-Flügel des Charlottenburger Schlosses mit seinen Depots in der Jebensstr. 2 und 1985 in den Neubau von Rolf Gutbrod am Tiergarten, im Ostteil zunächst ins Bodemuseum und 1963 nach Schloss Köpenick) erlebt der Kunstschrank nicht mehr: Im Tieftresor der Neuen Münze (auch Reichsmünze, seit 1949 DDR-Ministerium für Kultur) verbrennt er am 11. März 1945. Allein sein während des Zweiten Weltkrieges nach Wiesbaden ausgelagerter Inhalt wird heute im Berliner Kunstgewerbemuseum in der Abteilung IV Renaissance bis Barock gezeigt.
Der Pommersche Kunstschrank re-inszeniert Die Ideenskizze einer musealen Präsentation des Pommerschen Kunstschranks erschließt die Bedeutung des Bilds als Subtext, der den Haupttext, das Sammlungsmöbel einschließlich Inhalt, lesbar macht: „Die größte Aufgabe der Museen ist nicht, die dem Zeitgeschmack am meisten zusagende und daher sich rasch ändernde Präsentation der Werke zu liefern, sondern den Sinn des Publikums für 24 Ebd. 25 Julius Lessing: Führer durch die Ausstellung älterer kunstgewerblicher Gegenstände im Königlichen Zeughause. Berlin 1872, S. 22. 26 Lessing/Brüning (wie Anm. 1), S. 15. 27 Angelika Thiekötter und Eckhard Siepmann (Hg.): Packeis und Pressglas. Von der Kunstgewerbebewegung zum Deutschen Werkbund. Gießen 1987, S. 205.
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die in den Kunstwerken liegenden geistigen Substanzen zu entwickeln.“28 Einem sprachwissenschaftlichen Ansatz verpflichtet, folgen die Ausstellungseinheiten der aus der Dramenanalyse, der Sonatenform oder der mündlichen Rede bekannten Abfolge: Einleitung, Hauptthema, Schluss. Sie ermöglicht eine logische Raumstrukturierung, die der Zeitlichkeit des Begehens, Schauens und Verstehens Rechnung trägt. Über die syntaktische Strukturierung hinaus tragen gezielt eingesetzte Wahrnehmungshilfen wie Licht, Farbe, Material, Mobiliar und Architekturelemente auf semantischer Ebene die Rhetorik der Inszenierung. Mozarts Übergabegemälde bildet das Leitmotiv der Ausstellung. Der Lücke in der Überlieferung kann es mit seiner Darstellung des Kunstwerks ebenso einen optischen Ersatz bieten, wie die in ihm enthaltenen Fingerzeige als roter Faden durch das Labyrinth der Sujets leiten. Als Einleitung bietet sich der um 1613-15 – wie die Silberbeschläge des Pommerschen Kunstschranks – in der Augsburger Werkstatt des Matthias Walbaum gefertigte Kabinettschrank im Kunstgewerbemuseum Berlin an. Dem verlorenen Stück in Material und Dekor ähnlich, vermittelt er einen Eindruck der kunsthandwerklichen Leistung des verlorenen Objekts. Den in seinen Maßen kleineren Stellvertreter hebt eine Ehrenwand hervor. Auf seinem Weg ins Zentrum der Ausstellung, das sich hinter dem Stellvertreterexponat eröffnet, dringt der Besucher schrittweise in die Ausstellungsthematik ein und sieht sich einer setzkastenähnlichen Glasvitrine gegenüber. Sie enthält als Hauptthema das erhaltene Inventar des Kunstschranks. Ihre mittige Aufstellung entspricht Hainhofers Idee des Pommerschen Schranks als Zentrum der Kunstkammer des Stettiner Schlosses. Der erste Blick fällt auf das in der Stirnseite untergebrachte Gemälde Die Übergabe des Pommerschen Kunstschranks von Anton Mozart. Der prominente Platz entspricht der Schlüsselfunktion des Bildes. Die Anordnung der Objekte in der Vitrine folgt in der groben Gliederung derjenigen im ehemaligen Kunstschrank. Die Vitrine schafft einen einheitlichen Wahrnehmungsrahmen, der die Exponate als zusammenhängendes Ganzes begreifbar macht und mit der Gefacheinteilung doch jedem Objekt einen individuellen Platz zuweist. Indem der Besucher um die Vitrine herumgehen und seinen Blick zwischen tiefen und hohen Fächern wandern lassen muss, um alle Exponate zu erfassen, erlebt auch er das Erkundungsspiel am Möbel, für das sich Herzog Philipps Zeit begeisterte. Die erhaltenen Beschlägereste Grammatica, Dialectica, Astronomia und die Ornamente werden an der zur Saalmitte weisenden Seite der Stellwand präsentiert, dem Korpus des Stellvertreters als auch dem durch sein Inventar anwesenden Kunstschrank räumlich zugeordnet. Eine vereinfachte Umrisszeichnung der Vorderansicht des Möbels in seiner Originalgröße bildet den Hintergrund für die Beschläge.
28 Helmut Börsch-Supan: Das Herz in die Mitte. Zum Berliner Museumsstreit. In: Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz 29 (1993), S. 65-68, hier S. 67.
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In Anlehnung an die Idee des Studierzimmers humanistischer Gelehrter bieten zwei studioli den Schluss der Ausstellung. Mit Hilfe neuer Medien, die als Wissensstationen dienen (Computerterminal, ausgewählte Sequenzen des den Kunstschrank vorstellenden Lehrfilms Eine Welt im Schrank von Hans Cürlis, 1930), und eines von den Besuchern selbst zu öffnenden Materialschranks wird ein tieferer Einblick in das Gesamtkunstwerk Pommerscher Kunstschrank gegeben: Das Möbel reflektierte ein Weltbild, das soziale Umwälzungen im Vorfeld des 30-jährigen Krieges und neuzeitliche naturwissenschaftlich-mathematische Erkenntnisse aus den festgefügten Bahnen mittelalterlicher Ordnungsvorstellungen warfen. Dekor und Inhalt verstanden sich als intellektuelle Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen geistesgeschichtlichen Themen Natur, humanistische Bildung und Technik, welche die vielfältigen Kombinationen der VierEinheit von Wasser, Feuer, Erde und Luft zu einem feinen Bedeutungsgespinst verflochten.
He imatmale rei, Le be ns reform und Muse um. Hugo Duphorn als w iders prüc hlic he r Künstler um 1 900 und um 2 000 ULRIKE STEFFEN Im Herbst 2009 fand in Rastede bei Oldenburg die zweite Einzelausstellung des aus Oldenburg stammenden Malers Hugo Duphorn (1876-1909) statt. Ihr voraus gegangen war 100 Jahre zuvor, unmittelbar nach dem Unfalltod des Künstlers, eine erste retrospektive Ausstellung mit 95 seiner Bilder sowie mehreren Studien und Skizzen im Augusteum in Oldenburg.1 Zwischen diesen beiden Ausstellungen wurde der Maler kaum beachtet, blieb allerdings in Oldenburger Museen mit einzelnen ausgestellten Bildern über weite Strecken präsent. Seine Rezeptionsgeschichte im musealen und gesellschaftlichen Umgang signalisiert Spannungsverhältnisse, die um 1900 wie auch heute zwischen Heimatmalerei, weiter gehenden künstlerischen Ambitionen, individueller wie kollektiver Sinnsuche sowie dem Kunstmarkt zu beobachten sind. Für das Oldenburger Bürgertum und die örtliche Kunstszene ist der Künstler Duphorn immer ein Heimatmaler geblieben – ungeachtet der Tatsache, dass er Oldenburg schon früh den Rücken zuwandte und in München, Berlin und zuletzt in Schweden, wohin er auswanderte, seine künstlerische Entwicklung fortsetzte. Im Oldenburger Land fanden seine Bilder zu Lebzeiten und unmittelbar danach regelmäßig Käufer – dies hat seine Bilderproduktion, bis hin zu Auftragsarbeiten, maßgeblich beeinflusst. Dennoch bleibt es angesichts der Vielschichtigkeit seines Werkes, das von Suchen, Ausprobieren und mehreren Entwicklungsschritten geprägt ist, schwierig, ihn weiterhin als Oldenburger Heimatmaler zu vereinnahmen, wie dies gemeinhin geschieht. In vielerlei Hinsicht steht Duphorn stellvertretend für das Kunstleben um 1900, das sich mit Heimatbewegung und Reformbestrebungen auseinander zu setzen hatte, sowie auch für die kunsthistorische Verortung 100 Jahre später zwischen Epochengeschichte und Regionalinteresse. 1
Vgl. Hugo Duphorn (1876-1909). „Ich suche mein Zukunftsland“. Ausstellungskatalog Rastede 2009 mit Beiträgen von Ulrike Steffen, Ewald Gäßler und Claudia Thoben.
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„Ich suche ja eine Heimat. Das Meer war meine Heimat, und nun treibt mich mein Geschick hierhin, dorthin. Ich suche mein Zukunftsland. Neue Kunst suche ich.“2 Die Spannung zwischen diesem bereits früh formulierten Lebensmotto und dem Verhaftetsein in den kulturellen Strukturen seiner Heimatstadt hat Duphorn nicht mehr auflösen können, denn als er im Alter von 32 Jahren starb, befand er sich nach einer Phase der Begeisterung für lebensreformerische Ideen erst am Anfang seiner künstlerischen Weiterentwicklung. Auf der Suche nach Sinnfragen und offen für neue Ideen bis hin zu Ideologien war er zuvor auf die Schriften von Julius Hart gestoßen, dem geistigen Kopf der Bewegung „Neue Gemeinschaft“, einer aus dem Friedrichshagener Dichterkreis erwachsenen Gruppierung. Nachdem er diese rasch verlassen hatte, erlebte er eine erste, sehr produktive Schaffensphase in der Nähe von Oldenburg und wanderte mit seiner Familie 1907 nach Schweden aus, wo er gemeinsam mit seiner Frau, einer innovativ arbeitenden dänischen Fotografin, eine kleine Künstlerkolonie gründen wollte, jedoch bereits zwei Jahre später tödlich verunglückte. Duphorn kehrte zwar Oldenburg den Rücken, hatte jedoch immer die Kunstvereinsvorstands- und Publikumsvorlieben im Hinterkopf: Regionale Motive standen und stehen in der allgemeinen Aufmerksamkeit bis heute hoch im Ansehen. Die Ausstellungen, an denen er sich beteiligte, bestimmten mitunter geradezu seinen Arbeitsrhythmus. Ihm blieb – wohl hauptsächlich, aber nicht ausschließlich aus wirtschaftlichen Gründen – wichtig, für Oldenburg attraktiv zu bleiben, und er wählte bewusst heimatlich-ländliche Motive, die er zum Verkauf in seine Heimatstadt schickte – obgleich er ganz anders malen konnte und zukünftig wohl auch wollte. Über die Oldenburger Ausstellungen hinaus tauchten einzelne Bilder Duphorns auch auf Ausstellungen jenseits der Region Nordwest auf. 1901 war er auf einer Ausstellung in Leipzig vertreten, 1906 in Weimar, wo er zu dieser Zeit lebte und studierte, 1905 auf der „Großen Berliner Kunstausstellung“ und ein Jahr zuvor auf der „Internationale Kunstausstellung“ in Amsterdam. Außerdem veranstaltete Duphorn mindestens zwei Atelierausstellungen, 1903 in Neuenburg und 1906 in Rastede. Die Gästeliste dieser Ausstellung zeugt von regem und interessantem Besuch vom Oldenburger Großherzog über den Oberbürgermeister bis hin zu nahezu allen Künstlerkollegen der Region – unter ihnen Gerhard Bakenhus, Bernhard Winter und Paul Peterich.3 Der Überblick zur Biographie und zu dem Werk von Duphorn zeigt einen Künstler zwischen Heimatbewegung, Einflüssen der Moderne und dem Kunstgeschmack der Zeit. Wo stand Duphorn innerhalb der Heimatkunstbewegung? Nahm er etwas von den internationalen Strömungen auf? Vertrat er in seinerzeit
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Brief von Hugo Duphorn an seine zukünftige Frau Herdis, Frühjahr 1902. Eine Reproduktion der Besucherliste findet sich bei Irla Duphorn-Kaiser: Hugo Duphorn. Erinnerungen eines Oldenburger Malers. Oldenburg 1980, S. 112-115.
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aktuellen Fragen zur modernen Kunst eine Position und passte sich den Erwartungen in Oldenburg dennoch an? Im Zuge der Heimatkunstbewegung entwickelte Duphorn weder ein Interesse an „Volkstrachten“ wie Bernhard Winter noch an einer Volkskunst, wie sie Oskar Schwindrazheim 1889 definierte („Eine Kunst, die allem Volke diene, der aber auch alles Volk huldige.“4). Er war auch nicht, wie viele andere Kollegen (Hans am Ende, Otto Modersohn, Heinrich Vogeler), im „Verein für niedersächsisches Volkstum“ aktiv. Während sein Lehrer – und anfangs sicherlich Vorbild – Gerhard Bakenhus in seinen Schriften einen besonderen Blick auf die Heimat hatte und dieses Thema immer von Bedeutung blieb, ist etwas Vergleichbares bei Duphorn nicht zu finden. Allerdings bezog er auch nie eindeutig Position für die Moderne, jedenfalls nicht in schriftlich überlieferten Aussagen. Daher muss versucht werden, aus Werk und Biographie seinen Standpunkt herauszuarbeiten. Duphorns Suche nach seinem Stil und seiner individuellen Bildform spricht aus zum Teil sehr unterschiedlichen Werken. Betrachtet man einzelne Gemälde und Studien, die zeitlich oft nicht eindeutig einzuordnen sind, so sind diese auch von einer impressionistischen Naturauffassung geprägt. Er stellte Stimmungen dar, die von bestimmten Lichtverhältnissen hervorgerufen werden. Die Tatsache, dass er längere Zeit in Berlin lebte, zum Teil im Kommunenprojekt der Neuen Gemeinschaft, legt nahe, dass ihm die Ausstellungen der Berliner Sezession und ihre Tätigkeiten sehr wohl bekannt waren. Reaktionen auf Bilder der französischen Impressionisten oder auf bei Paul Cassirer ausgestellte, noch umstrittenere Werke von Vincent van Gogh, Edvard Munch oder Henri Matisse sind zwar nicht überliefert, jedoch deutet der Umstand, dass auch Duphorn den Kunstsalon Cassirer kannte und besuchte5, auf eine Beschäftigung mit der aktuellen Kunst hin. Ein Einfluss van Goghs kann durchaus bei einzelnen Werken Duphorns vermutet werden. Auffallend sind formale Ähnlichkeiten zu Walter Leistikow und zu Frits Thaulow, einem Schwager Paul Gaugins und Betreiber einer Sommerakademie, in der seit 1884 auch Munch arbeitete. Ebenso sind Parallelen zu Heinrich Vogeler, Arnold Böcklin und Max Klinger zu sehen. Eine Beschäftigung Duphorns mit den um 1900 die Kunstdiskussion bestimmenden Richtungen des Jugendstil und des Symbolismus erscheint ebenfalls als gesichert.6 Duphorns Werke verraten einen künstlerisch sehr weiten Horizont sowie eine eher zweckmäßige Beziehung zu seiner Heimat und zeigen, dass er nicht den Kriterien eines Heimatmalers entspricht. Die in der Heimatbewegung viel zitierte „Stammeseigenart“ der Niedersachsen ist bei Duphorn kaum zu finden. Er malte 4
5
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Bernd Küster, Bernd: Zwischen den Zeiten – zwischen den Stilen. In: 1905. Einhundert Jahre „Nordwestdeutsche Kunstausstellung“. Oldenburg 2005, S. 9-150, hier S. 18. Tagebucheintrag Duphorns vom 9. Februar 1902: „Vorher bei Cassirer: Uhde und Leistikow – Wetzel, der erste Bekannte aus dem Heim, hat dort eine Stellung gefunden. Er macht mich auf van Gogh aufmerksam.“ Vgl. den Beitrag von Ewald Gäßler (wie Anm. 1).
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zwar seine Heimat, jedoch mit gleichem Einsatz auch jede andere Region. Die reale Situation der Motive war für ihn nicht von Bedeutung, vielmehr die vorherrschende Stimmung. In seiner Entwicklung näherte er sich der impressionistischen Auffassung an, jedoch auch dem Jugendstil und später dem Symbolismus. Die Vereinnahmung, die vor allem nach Duphorns Tod stattfand, ist ein Zeichen dafür, dass man ihn ungeachtet seines Wegzugs nach Schweden als einen der Heimat eng verbundenen Künstler sah, sehen wollte und teilweise noch heute sehen will. Das Bildungsbürgertum spielte hierbei eine ganz entscheidende Rolle, die von ihm bevorzugten Bilder und Sujets bestimmten in Duphorns Schaffenszeit die Absatzzahlen der regionalen Künstler. Was hier exemplarisch für Oldenburg herausgestellt werden kann, ist auch andernorts für die Geschmacksentwicklung von großer Bedeutung gewesen. Hugo Duphorn wurde als „Sohn der Stadt“ angesehen, und seine Retrospektive 1909 war deshalb – mit diesem Attribut als „verlorener Sohn“, der ein in Kunst und Leben freies und unbeobachtetes Dasein führte – auch sehr attraktiv für die Oldenburger gewesen. Erst die zweite Retrospektive 100 Jahre später hat mit ihrer sachlich-nüchternen Dokumentation von Leben und Werk Duphorns Möglichkeiten geschaffen, den Künstler aus verschiedenen Perspektiven wahr- und eine neue Einordnung vorzunehmen. Wo wäre Duphorn mit seiner Kunst angelangt? Wie hätte er sich weiterentwickelt? Hier können nur Mutmaßungen angestellt werden. Insgesamt gilt als Fazit, dass Duphorn im Vergleich zu anderen Künstlern tatsächlich in Vergessenheit geraten ist. In den Dauerausstellungen der Museen in Oldenburg ist er heute zwar vertreten, sein Werk oder seine Person werden jedoch nicht näher thematisiert. Er wird der Gesamtheit der Oldenburger Landschafts- und Heimatmaler zugerechnet. In der Öffentlichkeit wurde er bis zur jüngsten Ausstellung in Rastede kaum wahrgenommen, und es bleibt abzuwarten, ob sich am Gesamtbild etwas ändert. Ewald Gäßler bewertet Duphorn für eine bisher noch nicht realisierte museale Darstellung der künstlerischen Entwicklungen in Oldenburg als einen wichtigen Künstler, der die These stütze, in Oldenburg habe sich eine außerordentliche künstlerische Entwicklung und Vielfalt der künstlerischen Positionen vollzogen, die bisher allzu schnell unter den Schlagworten Heimatmalerei und Provinz vereinnahmt worden seien.7 Duphorns Beispiel dokumentiert eine komplexe Künstlerexistenz um 1900, er vereint zahlreiche Phänomene der Zeit in einer Person: Einerseits ist er Provinzmaler, andererseits in kulturellen Zentren wie Berlin angesiedelt und immer auf der Suche nach Neuem, macht sämtliche Bewegungen der Zeit – wie die Lebensreform- und die Künstlerkoloniebewegung – mit und steht in manchem geradezu idealtypisch für den Künstler der Jahrhundertwende. Die Quellenlage zu seinem Leben und Werk ist gut, um an seinem Beispiel eines eigenständigen, wenngleich unvollendeten Künstlers ein Stück Gesellschafts-, Kultur- und Kunstgeschichte nachzuzeichnen. 7
Wie Anm. 1.
Zur strukturelle n Entw icklung von Künstlerhä usern in Nordde uts c hla nd ANKE OTTO Die Ursprünge der Entwicklung von Künstlerhäusern liegen im 15. Jahrhundert in Italien und werden danach in Frankreich aufgegriffen. Die Idee, sich als Literat oder Künstler an einen Ort zurück ziehen zu können, der abgeschieden vom herkömmlichen Leben in der Gemeinschaft auf dem Lande zu finden sei, existiert bereits in der Vorstellung antiker Dichter. In der Zeit des Humanismus wird dieser Grundgedanke wieder aufgenommen und begünstigt ab dem Anfang des 15. Jahrhunderts die Entwicklung und Entfaltung der freien Künste. Dem bildenden Künstler wird im zunehmenden Maße eine Anerkennung zuteil, die sich durch ein wachsendes Mäzenatentum von Seiten der Fürstenhöfe und Päpste ausdrückt. Äquivalent zu Stellung und Reputation ist es dem Künstler durch zusätzliche finanzielle Zuwendungen erlaubt, mit dem Bau eines eigenen Refugiums sein individuelles Selbstverständnis zum Ausdruck zu bringen. Das eigene Haus, konzipiert sowohl zum Rückzug, zu Abgeschiedenheit und Konzentration als auch zu repräsentativen Zwecken für standesgemäße Empfänge und die Betreuung Durchreisender, unterstreicht die hervor gehobene Stellung. Seither lassen sich namhafte Künstler nicht selten in entlegenen Gegenden und Landstrichen in weiter Entfernung vom gesellschaftlichen Leben und in zumeist landschaftlich reizvollen Gebieten nieder. So ist eine Vielzahl von Künstlerhäusern im europäischen In- und Ausland bekannt, die in ihrer Gestaltung deutliche Parallelen aufweisen. Analogien im architektonischen Aufbau oder der Innenraumgestaltung sind auffällig, was auf eine Standardisierung in Bezug auf wirtschaftliche, ästhetische und praktische Hintergründe hinweist. Ausreichend Fensterfläche und Raumhöhe sowie ein vom Atelierraum getrennter Präsentations- oder Verkaufsraum bilden die Basis für das Künstlerhaus. Der künstlerischen Gestaltung des Hauses bzw. des unmittelbaren Lebensraums im Sinne eines Gesamtkunstwerkes sind keine Grenzen oder Regeln gesetzt. Hier kann der Künstler seinen Ewigkeitsgedanken, nämlich die Schaffung eines personifizierten Denkmals, welches über den Tod des Künstlers hinaus der Nachwelt erhalten bleibt, ausleben. Gleichzeitig ist damit, also letzt-
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lich mit einer Verschmelzung von Wohnhaus, Grabstätte und Atelierhaus zu einem Museum, auch eine Art Definition des Künstlerhauses gegeben. Eine ausführliche Mitbetrachtung der Künstlerkolonie, die unter dem Einfluss der künstlerischen Akademie-Ausbildung und des modernen Reiseverhaltens als künstlerische Gemeinschaft im 19. Jahrhundert entsteht, ist an dieser Stelle nicht möglich. Dennoch fließen Worpswede, Schwaan und Ahrenshoop in Deutschland oder Oosterbeek in den Niederlanden, im östlichen Europa Nida/Nidden, Kazimierz/Kasimir und Szkarska Poreba/Schreiberhau, noch weitere Künstlerkolonien und Künstlerorte wie Taos und Santa Fe in den USA in die zugrunde liegende Untersuchung mit ein. Den Lebensraum eines bekannten bildenden Künstlers als einen authentischen und lebendigen Ort besichtigen und persönlich wahrnehmen zu können, übt bereits seit Jahrhunderten eine starke Faszination auf die Öffentlichkeit, insbesondere den kunstinteressierten Besucher, aus. Die öffentliche Zugänglichkeit eines von einem Künstler bewohnten und schöpferisch genutzten Wohnhauses verursacht beim Besucher in gewisser Weise eine Identifikation mit dem Künstler. Die dem Besucher sonst verschlossene Lebenswelt öffnet sich durch die Synthese von künstlerischem Werk und Alltagskultur. Zudem scheint für die Öffentlichkeit die Attraktivität eines Künstlerhauses in besonderem Maße nach dem Ableben des Künstlers zu steigen. Der Wohn- und Arbeitsbereich gilt fortan als Ort des Gedenkens und wird somit Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses. Für das Selbstverständnis eines solchen Gedenkortes und seiner öffentlichen Darstellung ist es wichtig, dass und wie Inhalt und Aussage aller in direktem Zusammenhang mit dem Künstler stehenden materiellen und immateriellen Gegenstände unter wissenschaftlichen Aspekten aufbereitet werden. Dabei sind sowohl das Maß der höchstmöglichen Erhaltung von Authentizität als auch die didaktische Präsentation für ein zukünftiges Publikum entscheidend. Ein dezidierter Maßnahmenkatalog, der von der allgemeinen Bestandsaufnahme über die Auswahl aller den Künstler und sein Umfeld betreffenden überlieferten Informationen bis hin zur Archivierung und Konservierung führt, ist Voraussetzung für die erfolgreiche Musealisierung. Das Künstlerhaus in Gänze wird, museologisch betrachtet, bei diesem Prozess selbst zum Ausstellungs- bzw. Präsentationsgegenstand. Bekannte Beispiele aus dem benachbarten Ausland, wie „Het RembrandtHuis“ in Amsterdam, Niederlande, das „Red House“ in Bexlyheath, Großbritannien, oder die „Fondation Aristide Maillol“ in Banyuls sur mer, Frankreich, zeigen signifikante Parallelen in ihrer Entwicklung zu musealen, öffentlichen Einrichtungen. Zum Teil setzen die Institutionalisierungsbestrebungen bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein, wie das Beispiel des von William Morris erbauten und bewohnten Künstlerhauses „Red House“ in Bexleyheath zeigt. Es ist natürlich auch festzustellen, dass sich entsprechend dem Gründungszeitpunkt und der finanziellen Förderung unterschiedliche Entwicklungsstände im Prozess der Musealisierung ergeben (haben).
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Im norddeutschen Raum unterwirft sich seit den 1950er Jahren eine steigende Anzahl von Künstlerhäusern den Prozessen der Institutionalisierung und Musealisierung. Drei Beispiele von aktuell öffentlich zugänglichen Künstlerhäusern können Aufschluss darüber geben, wie Musealisierungsprozesse vollzogen werden oder bereits abgeschlossen sind. Weitere norddeutsche Künstlerhäuser wurden in der zugrunde liegenden Untersuchung mit betrachtet, bleiben an dieser Stelle jedoch beiseite: das Franz Radziwill Haus in Dangast, das Emil Nolde Museum in Seebüll, die Barkenhoff Stiftung (Heinrich Vogeler) sowie das Otto Modersohn Haus in Worpswede, die Ernst Barlach Stiftung in Güstrow, das Albert König Museum in Unterlüß sowie das Otto Pankok Museum in Hünxe. Die Künstlerhäuser „Kunststätte Bossard“ in Lüllau/Jesteburg, „Karl Junker Haus“ in Lemgo sowie das „Atelier Otto Niemeyer-Holstein“ in Lüttenort/Usedom präsentieren sich heute als öffentliche museale Einrichtungen, die das künstlerische Werk des jeweiligen Künstlers pflegen sowie dessen Bekanntheitsgrad fördern wollen. Alle Einrichtungen sind bestrebt, die bereits initiierten Entwicklungsprozesse der Musealisierung zu konsolidieren und ihre wissenschaftliche Arbeit auszubauen.
Die Kunststätte Bossard Johann Michael Bossard (1874 bis 1950), in Zug in der Schweiz geboren, beginnt seine künstlerische Laufbahn bereits während seiner Töpferlehre. Seine überdurchschnittlichen Fähigkeiten im Malen, Zeichnen und Modellieren verschaffen ihm ein Stipendium zur Teilnahme an der Bildhauerklasse der Königlichen Kunstgewerbeschule in München. Als freischaffender Bildhauer und Grafiker erhält er nach 1905 eine Professur der Bildhauerklasse an der Staatlichen Kunstgewerbeschule Hamburg. Mit dem Kauf eines 30.000 qm großen Grundstückes in der Lüneburger Heide bei Lüllau verwirklicht sich Johann Bossard einen Lebenstraum: die Schaffung eines ganzheitlichen Kunstwerkes, das nach dem Prinzip der gestalterischen Synthese von Gebäuden, Außengelände und Innenausstattung konzipiert ist. Zunächst arbeitet Johann Bossard mit seiner Frau Jutta Bossard (geborene Krull) nur an den Wochenenden in Lüllau. Ab 1944, nach der Pensionierung, lebt das Ehepaar gemeinsam noch weitere sechs Jahre bis zum Tode Bossards dauerhaft in Lüllau. Sowohl seine Architekturkonzepte – durch eine charakteristische Formensprache als Backsteinexpressionismus bekannt – als auch das grafische Werk sind stark dem Expressionismus zugewandt. Gebäude und Grundstück werden 1950 nach dem Ableben Johann Bossards entsprechend seiner testamentarischen Verfügung in ihrer Ursprünglichkeit erhalten. Die 29 Jahre jüngere Ehefrau Jutta Bossard sowie ihre Schwester pflegen fast vierzig Jahre das Erbe des Bildhauers, das gleichzeitig auch das Produkt der lang andauernden Lebensgemeinschaft darstellt. Im Jahre 1988 erhält der Landkreis Harburg per Erbvertrag Teile des Gesamtkomplexes zugesprochen.
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Schon allein aus Gründen der Wirtschaftlichkeit müssen verschiedene Aspekte der Erhaltung bedacht werden. Da Johann Bossard in der Konzeption von Gebäuden und Gartenanlage die Idee der Erschaffung eines Gesamtkunstwerks verfolgt hat, sind neben gezielten Rückführungsmaßnahmen nur behutsame Ergänzungen durchzuführen. Das gesamte Areal erfordert zunächst eine kurzfristige und voraus schauende Substanzerhaltung der Gebäude und Kunstwerke sowie der Pflege der Außenanlagen. So werden vielfältige konservatorische und restauratorische Maßnahmen durchgeführt, die nach einer intensiven wissenschaftlichen Erforschung auch im Hinblick auf eine öffentliche Präsentation und Nutzung Berücksichtigung finden. Weiterhin wird eine sukzessive Inventarisierung aller mobilen und immobilen Gegenstände vorgenommen. Entscheidend für den fortschreitenden Musealisierungsprozess sind die Einrichtung eines museumspädagogischen Dienstes sowie der Ausbau des ursprünglich als letztes Atelier genutzten Nebengebäudes in der Funktion eines Foyers und Sonderausstellungsbereiches. Nur mit Hilfe des 2003 gegründeten Fördervereins und der Unterstützung des Freilichtmuseums am Kiekeberg (Landkreis Harburg) kann der behutsame Prozess der Öffnung auf alle Gebäude und das Außengelände übertragen und durchgeführt werden. Die Kunststätte Jutta und Johann Bossard bietet ein vielfältiges Veranstaltungsprogramm mit Besucherführungen, Sonderausstellungen, Workshops, Gastronomie und Konzerten an. Durch ein strategisches Management und eine umfassende Öffentlichkeitsarbeit ist dieses Künstlerhaus weit über die Grenzen Norddeutschlands bekannt.
Das Atelier Otto Niemeyer-Holstein in Lüttenort auf Usedom Der gebürtig aus Kiel stammende Maler und Grafiker Theodor Otto Niemeyer (1896 bis 1984) durchläuft eine künstlerische Ausbildung mit Unterbrechungen und überwiegend autodidaktisch. Er versucht, sich wiederholt an Gruppen- und Einzelausstellungen zu beteiligen. Durch seine stilistische Nähe zum Expressionismus unterliegen seine Werke ab den 1930er Jahren zunehmend einer Zensur durch die NS-Reichskammer der Bildenden Künste. Der persönliche Rückzug auf eine kleine Brache auf Usedom findet ab Mitte der 1930er Jahre letzten Endes auch vor dem Hintergrund einer „Unerreichbarkeit“ statt. Zunächst dient ein ausrangierter Berliner S-Bahn-Wagen auf einem kleinen Grundstück am so genannten Achterwasser auf Usedom als Unterkunft. Dieser Wagen bildet bis heute die Urzelle des gegen Ende der 1930er Jahre angefügten Wohnhauses und eines 1961 erbauten Nebengebäudes, welches als Atelier mehr Platz und Ruhe für die künstlerische Arbeit bietet. Der Ort, von Niemeyer selbst „Lüttenort“ genannt, ist für den Maler und seine Familie von existentieller Bedeutung. Entsprechend unscheinbar, durch hohes Schilf und verwinkelte Buchten schlecht einzusehen, können sich seine zweite Frau und deren Mutter, die jüdischer Abstammung sind, während der nationalsozialistischen Diktatur unentdeckt im Hintergrund halten.
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In den 1970er Jahren, während der Überwachung durch die Staatssicherheit der DDR, verhelfen ihm die unübersichtlichen räumlichen Gegebenheiten sowie die Abgeschiedenheit des Grundstückes wiederholt zum zeitweiligen Rückzug aus der Öffentlichkeit. In Lüttenort wohnt und arbeitet Otto Niemeyer, der sich seit 1918 nach dem heimatlichen Landstrich Holstein diesen Beinamen zulegt, bis zu seinem Tod 1984 als freischaffender Maler. Er erhält 1964 eine Professur an der Akademie der Bildenden Künste der DDR. Mit dem Vermächtnis, sein Wohnhaus, das Atelier und den Garten als „Ort der Begegnung“ zu öffnen und alles so zu belassen, wie er es verlassen hatte, verstirbt der Maler am 20. Februar 1984. Im Jahr darauf werden in Absprache mit den Hinterbliebenen erste Bereiche des Anwesens der Öffentlichkeit als museale Einrichtung geöffnet und Pläne für einen Erweiterungsbau als Ausstellungsfläche entwickelt. Die Urzelle, der S-Bahnwagen, sowie die Anbauten und Atelierräume sind nach der Abwicklung der erbrechtlichen Angelegenheiten nicht verändert worden. Es findet zu Gunsten der Wahrung der höchstmöglichen Authentizität keine Rückführung in einen definierten historisch belegten Zustand statt. Mit der Wiedervereinigung 1990, das Gelände ist bereits fünf Jahre in Betrieb, droht aus finanziellen Gründen die Auflösung. Dem Engagement der Familie und eines Beratergremiums, das Niemeyer-Holstein noch zu Lebzeiten benannt hat, ist es zu verdanken, dass dem testamentarischen Wunsch weiter entsprochen werden kann. Die Betreuung und Fürsorgepflicht des Museums obliegt daraufhin der Kulturverwaltung des Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern. 1994 gründet sich der Freundeskreis Otto Niemeyer-Holstein, Lüttenort e.V. zur Unterstützung der inhaltlichen Arbeit als Gedenkatelier, als Ort der Kunst und der Begegnung im Geiste des Stifters. Der Ausstellungsneubau „Neue Galerie“, dessen Konzeption 16 Jahre auf eine Umsetzung warten musste, ermöglicht mit adäquaten Museumsstandards eine professionelle Präsentation der Werke des Künstlers. Der Neubau bietet gleichzeitig Raum für Ausstellungs-, Veranstaltungs- und Verwaltungsfläche wie auch für Besucherempfang. Die ursprüngliche Eingangssituation zum Besuch des Geländes ist aus sicherheits- und verkehrstechnischen Gründen entlang der Hauptzufahrtsstraße geschlossen worden. Der Eingang befindet sich nun am „Achterwasser“ auf der gegenüberliegenden Grundstücksseite. Neben Besucherführungen durch den Wohnbereich, Garten und die Atelierräume veranstaltet der Verein Konzerte und Sonderausstellungen zu Themen zeitgenössischer Kunst. Andere Vermittlungsprogramme (museumspädagogische Bereiche) finden nicht statt.
Das Karl Junker Haus in Lemgo Im künstlerischen Werdegang des gelernten Tischlers Karl Junker aus Lemgo (1850 bis 1912) gibt es zahlreiche Unklarheiten. Die ab 1869, nach Abschluss seiner Tischlerlehre, begonnene Wanderschaft nach Berlin, Hamburg und München oder der nach dem deutsch-französischen Krieg absolvierte Militärdienst
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sind nicht ausreichend belegt. Gesichert hingegen ist die Auszeichnung mit dem Rom-Preis, der Junker 1877 einen einjährigen Italienaufenthalt ermöglicht. Begünstigt durch die finanzielle Absicherung eines erheblichen Familienerbes kehrt Karl Junker 1883 in seine Heimatstadt Lemgo in Lippe zurück. 1889 beginnt er mit dem Bau seines ikonografisch und stilistisch ungewöhnlichen Wohnhauses. Die Architektur des zweigeschossigen Gebäudes ist dem orts- und landestypischen Baustil der Zeit angepasst. Die Fassade zeigt in der ornamentalen und farbigen Gestaltung deutliche Verbindungen zum Historismus und zum Jugendstil. In Hunderten von Skizzen und Gemälden widmet sich Karl Junker biblischen und mythologischen Themen, die stilistisch bereits auffällig expressiv sind und doch auch unter neoimpressionistischen Einflüssen stehen. Aufgrund der Durchgestaltung der Außenfassade, der Innenräume sowie des gesamten Mobiliars scheint auch Karl Junker das Ziel der Schaffung eines Gesamtkunstwerkes zu verfolgen. Die jeden Winkel des Hauses förmlich überwachsende Ornamentik erweckt den Anschein, dass der Künstler sich Stück für Stück den leeren Raum zu Eigen machen wollte. Bis zu seinem Tod, also noch weitere 23 Jahre, verbringt Junker damit, sein Haus und sein Leben mit Ornamentik zu füllen. Ursachen für diese manisch anmutende Tätigkeit sind wohl auch in einer prekären familiären Lebenssituation zu finden, durch die Junker sich zu einem menschenscheuen Zeitgenossen entwickelt. Widersprüchlich erscheint in diesem Zusammenhang die Bereitwilligkeit Karl Junkers, interessierten Fremden eine entgeltliche Führung durch sein Haus anzubieten, um seine Kunstwerke und Raumdekorationen zu erläutern. 1912 verstirbt Karl Junker an den Folgen einer Lungenentzündung und hinterlässt ein zu damaliger Zeit stattliches Erbe von mehreren Tausend Reichsmark sowie Grund und Besitz an eine verwitwete Verwandte. Obwohl Karl Junker nicht nur unentwegt an seinem Haus, sondern ebenso intensiv an Gemälden gearbeitet haben soll, widerfährt ihm als Künstler erst nach seinem Tod Aufmerksamkeit. In den 1920er und 1930er Jahren wird die künstlerische Arbeit Junkers von verschiedenen Autoren, unter ihnen interessierte Psychiater und Kunstwissenschaftler, als „krankhaft verirrt“ bezeichnet. Mit einer 1922 erscheinenden Publikation „Bildnerei der Geisteskranken“ von Hans Prinzhorn rückt Junker zunächst in die Sparte des manischen, planlosen sowie irren Künstlers und wird ab den 1940er Jahren in Kunstrichtungen der „Art brǔt“ und später der „Outsiders Art“ klassifiziert. Heute widerfährt dem Werk Karl Junkers und insbesondere dem Gesamtkunstwerk seines Arbeits- und Wohnhauses in Lemgo weltweite Beachtung. Der eigentliche Musealisierungsprozess beginnt bereits durch die von Karl Junker persönlich durchgeführten Hausführungen. Leider unterliegt das Wohnund Arbeitshaus Karl Junkers, nachdem die Erben den persönlichen mobilen Besitz untereinander aufgeteilt haben, einer außerordentlich wechselvollen Geschichte. Sein künstlerischer Nachlass und die Inneneinrichtung bleiben zunächst, auch aus allgemeinem Desinteresse, erhalten. Da die Nachbarn auf Anfrage Interessierter den zeitweiligen öffentlichen Zugang weiterhin ermöglichen,
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werden die dabei erhobenen Eintrittsgelder für die notwendige, aber nur ansatzweise ausreichende Bauunterhaltung eingesetzt. Über vierzig Jahre nach dem Tod Junkers kauft die Stadt Lemgo 1958 das Haus mit dem dazugehörigen Grundstück. Erst in den 1970er Jahren konkretisieren sich Bestrebungen, das stark ramponierte und von zahlreichen Verlusten gekennzeichnete Anwesen vor dem endgültigen Verfall zu bewahren und als „Junkermuseum“ zu institutionalisieren. Der Verein „Alt Lemgo“ beginnt mit der Auslagerung des künstlerischen Nachlasses, welcher in den letzten Jahrzehnten einem auffälligen Schwund unterlegen ist, sowie einer Inventarisierung des noch verbleibenden Bestandes. 1978 interessiert sich unter denkmalpflegerischen Aspekten erstmalig das Westfälische Amt für Denkmalpflege für den Baukörper. Ohne große Rücksichtnahme auf die Befundlage findet 1982 eine umfangreiche Restaurierung und Rekonstruktion der Außenfassade und ihrer polychromen Farbigkeit statt. Nach weiteren 19 Jahren kann eine detailliertere Bestandsaufnahme der Bausubstanz erfolgen. Eine Grundsanierung und Restaurierung der Inneneinrichtung sowie die Unterbringung des künstlerischen Nachlasses in einer adäquaten Präsentationsform werden mit Unterstützung zusätzlicher finanzieller Fördermittel realisiert. So findet 2004 die Eröffnung eines Museumsneubaus statt, der mit einer Ausstellungsfläche von 200 qm den künstlerischen Nachlass Karl Junkers gebührend präsentiert. Das optische Gesamterscheinungsbild des denkmalgeschützten Junkerhauses wird durch den Neubau auf dem Hintergrundstück nicht negativ beeinträchtigt. Der im Eingangsbereich verglaste Neubau mit kubischer Grundform ist, ohne eine konstruktive Verbindung mit dem historischen Gebäude einzugehen, durch einen „klimadurchlässigen“ Glasgang mit dem Altbau verbunden. Die verbleibenden Bereiche des Grundstückes sind mit wenigen Reminiszenzen teilrekonstruiert und durch eine zurückhaltende Bepflanzung gestaltet. Bezüglich der Abhängigkeiten und Erfolgsaussichten der Musealisierung lassen sich einige Aspekte heraus stellen: Die drei vorgestellten Künstlerhäuser werden zunächst nur auf Grund der Initiative ihrer Erbauer und Bewohner in ihrem ursprünglichen Charakter erhalten. Ein Vermächtnis oder die testamentarische Verfügung bilden die Grundlage für alle Bestrebungen einer öffentlichen Zugänglichkeit. Erst durch eine wissenschaftliche Erfassung aller mobilen und immobilen Gegenstände, ob künstlerisch gestaltet oder Teil der Alltagskultur, wird es möglich, ein tieferes Verständnis für das jeweilige Werk zu entwickeln. Zudem scheint es für einen fortschreitenden Musealisierungsprozess notwendig, die kunstwissenschaftliche Rezeption des einzelnen Künstlers und deren Auswirkung auf die öffentliche Anerkennung objektiv einzuschätzen. Das daraus resultierende Selbstverständnis der Betreiber trägt entscheidend zur Publikumsorientierung bei. Bei allen untersuchten Künstlerhäusern bestätigt sich, dass die Reputation des Künstlers, die stilistische Zuordnung seines Oevres und auch die Kenntnis einer außergewöhnlichen Künstlerbiografie positive Auswirkung auf eine Institutionalisierung haben. Sofern die Lebensläufe Belege von politischer Verfolgung und Ausgrenzung aufweisen (NS-Zeit, Staatssicherheit in der DDR),
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steigt auch das öffentliche Interesse. Diese Tendenz spiegelt sich gleichermaßen in der steigenden Nachfrage und somit auch in der wirtschaftlichen Wertigkeit der Kunst. Als förderlich für eine erfolgreiche und besucherorientierte Arbeit ist die Kooperation mit anderen öffentlichen Einrichtungen (Tourismusmanagement, Universitäten, Fachhochschulen) zu bewerten. Bei weiteren bekannten Künstlerpersönlichkeiten, beispielsweise aus der Weser-Ems-Region (Jan Oeltjen, Bernhard Winter, Willy Hink), sind vergleichbare Bestrebungen aus verschiedenen Gründen fehlgeschlagen. Fehlendes Engagement der Hinterbliebenen, eine vergangenheitsbelastete Rezeptionsgeschichte des Werks eines Künstlers oder politische Interessen verhindern im Einzelnen den Musealisierungsprozess. Die Künstlerhäuser in Norddeutschland lassen sich in Bezug auf die gestalterische Ursprungsidee ihrer Erbauer in drei Typen untergliedern, nämlich in Repräsentationsbauten, in Gesamtkunstwerke wie im Falle von Johann Bossard und Karl Junker und in zum persönlichen Rückzug geschaffene Refugien mit teilweisen Ausprägungen von Repräsentationsansprüchen wie bei Otto NiemeyerHolstein. Derlei Ausprägungen entstehen aus dem geschichtlichen Kontext, der die Kenntnis von Vorläufern wie Giorgio Vasari oder William Morris voraus setzt. Das in die Öffentlichkeit getragene Selbstverständnis eines musealisierten Wohn- und Arbeitshauses nimmt dabei in aller Regel einen gleichwertigen Rang zur allgemeinen Rezeptionsgeschichte der Werke eines Künstlers ein. Die drei Beispiele gehören zweifellos zu den gelungensten Umsetzungen von musealisierten Künstlerhäusern, da sie neben den authentischen Wohn- und Arbeitssituationen separate Ausstellungsgebäude zur Präsentation der Werke oder von Vermittlungsprojekten realisiert haben. Ihre Publikumswirksamkeit ist erkennbar hoch, trotz oder zuweilen auch wegen ihrer unverkennbaren Abhängigkeit vom regionalen Kulturtourismus.
Literaturauswahl Enke, Bernd: Biographische Anmerkungen zur Künstlerpersönlichkeit: Karl Junker (1850-1912). In: Regina Fritsch und Jürgen Scheffler (Hg.): Karl Junker und das Junkerhaus. Bielefeld 2000. Fok, Oliver: Johann Michael Bossard. Einführung in Leben und Werk. 3. erweiterte Auflage. Hamburg 2004. Fritsch, Regina: Junkerhaus Lemgo. Detmold 2004. Keil, Franka: Otto Niemeyer-Holstein. Lüttenort 2001. Warnke, Martin: Hofkünstler. Zur Vorgeschichte des modernen Künstlers. Köln 1985.
Zur Aus stellungs insze nierung der doc ume nta 12 (2 007) im Muse um Fride ric ianum LINDA REINER Dieser Beitrag versucht die Frage zu beleuchten, wie das Ausstellungskonzept der documenta 12 in Kassel (2007) visuell umgesetzt worden ist. Anhand einer ausgewählten Ausstellungssituation – das Kunstwerk von Iole de Freitas im Museum Fridericianum – liegt der Fokus entsprechend der Grundgedanken dieser documenta auf den Wechselbeziehungen zwischen Kunstwerk, BesucherInnen und Ausstellungsraum bzw. Architektur. Das Ausstellungskonzept beinhaltete 2007 einen bewussten Umgang mit Geschichte und Architektur und zugleich den Anspruch, den „White Cube“ als Kunstausstellungsmaxime, die ort- und zeitlos inszeniert, zu „eliminieren“. Die Diskussion um den White Cube, der auch andernorts, etwa im Lenbachhaus in München1 oder im Kunstmuseum Groningen2, in vielfältiger Weise überwunden wurde und wird, soll allerdings an dieser Stelle nur am Rande gestreift werden. Zu verweisen wäre hier insbesondere auf die Essays von Brian O’Doherty 1976/1982, die eine breite Debatte zur Rezeptionsästhetik ausgelöst haben.3 Ebenfalls mit Seitenblicken wird hier die anzuschließende Problematik des bei der documenta 12 intendierten „voraussetzungslosen Schauens“ erfasst, bei dem zugunsten der direkten Erfahrung vor dem Kunstwerk auf Erläuterungen 1 2 3
Vgl. Helmut Friedel und Uwe M. Schneede: Dürfen die Bilder auf farbige Wände? Pro/Contra. In: art Nr. 6 (1992), S. 82ff. Vgl.http://www.groningermuseum.nl/uploads/brochuretekst%20du%2015juni05.pdf (Broschürentext Museum Groningen, 27.6.2008). Die Titel der einzelnen Essays: „Die weiße Zelle und ihre Vorgänger“, „Das Auge und der Betrachter“, „Der Kontext als Text“, „Die Galerie als Gestus“. Die ersten drei Essays erschienen 1976 in der Zeitschrift Artforum. 1986 wurde die amerikanische Buchausgabe, ergänzt durch einen vierten Aufsatz, herausgegeben. Eine Teilübersetzung ins Deutsche publizierte 1982 Wolfgang Kemp. Seit 1996 liegt die Essay-Reihe vollständig vor. Wolfgang Kemp (Hg.): Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik. Köln 1985, S. 279ff. Vgl. auch Wolfgang Kemp (Hg.): Brian O’Doherty: In der weißen Zelle. Inside the White Cube. Berlin 1996.
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und Beschriftungen in den Ausstellungsräumen weitestgehend verzichtet wurde. Ob die inszenatorischen Absichten dennoch auch bei den BesucherInnen, die nicht das umfassende Vermittlungsangebot in Anspruch genommen haben, angekommen sind, soll anhand des genannten Beispiels erörtert werden. „Die große Ausstellung hat keine Form“4, haben Roger M. Buergel, künstlerischer Leiter der documenta 12, und Ruth Noack, Kuratorin der Ausstellung, in ihrem Vorwort des Katalogs geschrieben. Für Roger Buergel und Ruth Noack ist die documenta ihrem Wesen nach eine Ausstellung ohne Form, da sie im Gegensatz zu vielen anderen Ausstellungen kein Thema, keine Epoche, keine KünstlerInnenpersönlichkeiten oder ähnliche Inszenierungsmethoden vorgibt.5 Jeder documenta muss für die Dauer von 100 Tagen eine Form gegeben werden. Das entsprechende Ausstellungskonzept soll danach als gelungen betrachtet werden, wenn die Ausstellung den BesucherInnen durch eine entsprechende Inszenierung die Inhalte und zentralen Punkte des Konzepts vermitteln kann. Im Zentrum der Ausstellungsinszenierung, also der Umsetzung des Konzepts, stand bei der documenta 12 die Wechselbeziehung zwischen Kunstwerk, BesucherInnen und Ausstellungsraum: Die BesucherInnen sollten Teil der Ausstellungsinszenierung werden und es wurde bewusst mit der vorhandenen Architektur gearbeitet, womit entgegen dem wohl immer noch gängigen Inszenierungsideal des White Cube in der Tat hier sicher keine ort- und zeitlose Ausstellung entstand. Unter Ausstellungsinszenierung soll an dieser Stelle das bewusste Arrangieren von Exponaten im Ausstellungsraum verstanden werden, um den BesucherInnen Inhalte auf schwerpunktmäßig visuelle Weise zu vermitteln. Dies umfasst die Gebäudearchitektur sowie sämtliche die Rezeption der ausgestellten Objekte mitbestimmende Faktoren – von der architektonischen Gestaltung der Ausstellungsräume über deren Ausstattung bis zur räumlichen Anordnung der Exponate mitsamt vermittelnder Text-, Bild- oder Filmmedien. Die documenta in Kassel gilt weltweit als eine der bedeutendsten Ausstellungen für zeitgenössische Kunst und wird ursprünglich alle vier, heute alle fünf Jahre für die Dauer von 100 Tagen ausgerichtet. Die erste documenta fand 1955 als Begleitausstellung zur zweiten Bundesgartenschau statt und wurde durch den Kasseler Akademieprofessor, Maler und Ausstellungsgestalter Arnold Bode (1900-1977) initiiert. Mit wechselnden künstlerischen Leitungen und Ausstellungsorten in Kassel erfindet sich das „Museum der 100 Tage“6 stets aufs Neue. Diese Fähigkeit zur immer wiederkehrenden Erneuerung dient u. a. als Erklärung für den als beispiellos geltenden Erfolg der documenta. Mit ihr wird der Anspruch verfolgt, in regelmäßigem Abstand eine verbindliche Bestandsaufnahme zeitgenössischer Kunst zu präsentieren, und zwar im
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Ausstellungskatalog documenta 12. Köln 2007, S. 11. Vgl. ebd. Diesen Wortlaut verwendete Arnold Bode im Vorwort zum Katalog der documenta 3, 1964.
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Spannungsfeld zwischen Rück- und Ausblick. 1955, zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, war mit der documenta das Anliegen verbunden, die durch die Nationalsozialisten als „entartet“ verfemten KünstlerInnen der Moderne zu rehabilitieren. Schon bald prägte die Kasseler Ausstellungsreihe das allgemeine Bewusstsein, was als zeitgenössische Kunst zu gelten hat, entscheidend, und sie wurde „eine der mächtigsten Institutionen der Kunstszene und ein wichtiger Umschlagplatz des Kunstmarkts“7. Inzwischen ist die documenta zu einem „[...] weltweit verbindlichen Seismographen der zeitgenössischen Kunst avanciert: Bei der documenta zeigt sich, ob es der Kunst gelingt, die Welt in Bilder zu fassen und ob diese Bilder für ihr Publikum Gültigkeit haben.“8 Die documenta entwickelte sich rasch von der Idee zur festen Institution. Die erste documenta unter der Leitung von Arnold Bode wurde mit rund 130.000 BesucherInnen 1955 zu einem überraschenden Erfolg und konnte bereits 1959 zum zweiten Mal ausgerichtet werden. Die Trägerschaft ging nun von einem privaten Verein in die „documenta GmbH“ über, deren Mehrheitsgesellschafterin zunächst die Stadt Kassel war. Später traten auch das Land Hessen und die Bundesrepublik Deutschland (vertreten durch die Kulturstiftung des Bundes) bei. Damit wurde die documenta zur öffentlichen Institution erhoben, was ihr den Weg zur festen, dauerhaften Einrichtung ebnete. Seit 1987 nennt sich der Träger „documenta und Museum Fridericianum Veranstaltungs-GmbH“. Fanden die documenta-Ausstellungen 1 bis 4 noch unter der Leitung von Arnold Bode statt, so gibt es seit der documenta 5 im Jahr 1972 jedes Mal eine neue künstlerische Leitung. Diese wird von einer Findungskommission ausgewählt und durch den Aufsichtsrat des Trägers ernannt. Sie hat nicht nur ein überzeugendes Ausstellungskonzept zu entwickeln und ein Ausstellungsteam zusammenzustellen, sondern ihr allein obliegt es auch, die KünstlerInnen auszuwählen und zur Teilnahme an der Ausstellung einzuladen. Dies bedeutet einerseits eine hohe Verantwortung der Institution und der Öffentlichkeit gegenüber, andererseits aber auch eine große Freiheit, „[...] die es sonst kaum irgendwo gibt. Es hängt vom Geschick des Leiters oder der Leiterin ab, wie diese Freiheit genutzt wird.“9 Die KünstlerInnen zeigen entweder ältere Werke oder entwickeln speziell für die documenta-Ausstellung neue Arbeiten. Diese Entscheidung wird in Absprache mit der künstlerischen Leitung getroffen. Für die KünstlerInnen kann eine documenta-Teilnahme einen enormen Aufstieg in ihrer künstlerischen Karriere bedeuten. Ein wesentlicher Aspekt der Institution documenta ist zudem ihre Funktion als Wirtschaftsfaktor für die nordhessische Stadt Kassel. Die documenta trug von Anfang an zur Fremdenverkehrsförderung und zur kommunalen Imagepflege bei.
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Annette Tietenberg: Eine imaginäre documenta. In: Michael Glasmeier und Karin Stengel (Hg.): archive in motion. documenta-Handbuch. Göttingen 2005, S. 44. http://www.documenta12.de/geschichte0.html?&L=0 (27.6.2008). Ruth Noack im Interview mit Dirk Schwarze: „Das hat etwas Beglückendes“. In: Hessische/Niedersächsische Allgemeine, 20.9.2007.
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Inzwischen bezeichnet sich Kassel auch offiziell auf den Ortsschildern als „documenta-Stadt“. Da die documenta nach wie vor zur Hälfte aus dem Verkauf von Eintrittskarten finanziert wird, forcieren die OrganisatorInnen durch Werbekampagnen stetig steigende BesucherInnenzahlen. Der Effekt ist, dass sich die documenta zu einem regelmäßig wiederkehrenden Massenereignis entwickelt hat. Dies beinhaltet u. a. einen immensen Druck für die jeweilige künstlerische Leitung, die sich „zwischen Qualitätssuche und Zwang zu Besuchererfolg“10 orientieren muss. Die Ausstellung muss dem zu erwartenden BesucherInnenstrom entsprechend inszeniert werden. Im Vordergrund der Institution documenta steht jedoch der Kunstvermittlungsaspekt durch die Ausstellung. Schon für den documenta-Begründer Arnold Bode war die Vermittlung von Kunst an ein Publikum durch eine inszenierte Ausstellung das wichtigste Anliegen. So kann die documenta als „Kunstvermittlungsinstitution“11 bezeichnet werden. Immer wieder herrscht Verwunderung darüber, warum die documenta in Kassel, fernab der bekannten Kunstzentren, stattfindet. Zu erklären ist dies durch „eine besondere Konstellation von Idee, Zeit, Ort, Personen“12, die so nur in Kassel auftrat und damit zur Entstehung des documenta-Gedankens sowie dessen letztendlicher Fortführung bis heute führte. Wesentlicher Impulsgeber war der überaus engagierte und ideenreiche Arnold Bode. Aber auch die spezifische Situation der kriegszerstörten Stadt Kassel nach 1945 kann das Zustandekommen der ersten documenta erklären. Auf Grund seiner zentralen Lage entwickelte sich Kassel ab 1937 zu einem Zentrum für die Rüstungsindustrie und zum Sitz zahlreicher Militärverwaltungen. Dadurch war der Ort während des Zweiten Weltkriegs immer wieder bevorzugtes Ziel alliierter Bombenangriffe und wurde im Oktober 1943 schließlich zu rund 80 % zerstört. Nach dem Kriegsende fiel die Stadt durch die veränderten politischen Geographien in das so genannte Zonenrandgebiet: Die Grenze zur späteren DDR verlief nur rund 30 km östlich von Kassel. Dadurch wurde nicht nur die ehemals einheitliche Wirtschaftsregion Hessen-Thüringen entzweit, sondern es wanderten auch wichtige Verwaltungen in den südhessischen Raum ab. Der städtische Wiederaufbau verzögerte sich bis in die 1960er Jahre hinein, so dass ein architektonisches Provisorium lange das Stadtbild dominierte. Somit war die Stadt Kassel an dem so genannten Wirtschaftswunder nicht in dem Maße wie andere westdeutsche Städte beteiligt. Um dies zu kompensieren, entwickelten die Kasseler Bevölkerung und die Stadtverwaltung ehrgeizige Aktivitäten und Maßnahmen, die letztlich auch die documenta hervorbrachten. Nachdem eine Bewerbung zur Bundeshauptstadt gescheitert war, konnte der Zuschlag für die zweite Bundesgartenschau 1955 gewonnen werden.
10 Schwarze, Dirk: Gefangen in Widersprüchen. In: Hessische/Niedersächsische Allgemeine, 3.4.2007. 11 Vgl. Harald Kimpel: documenta. Mythos und Wirklichkeit. Köln 1997, S. 80. 12 Manfred Schneckenburger: documenta. Idee und Institution. München 1983, S. 20.
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Mit der landschaftsarchitektonischen Gestaltung der Bundesgartenschau wurde Hermann Mattern, Professor für Grünplanung an der Staatlichen Werkakademie der Stadt Kassel, beauftragt. Er regte an, die Bundesgartenschau mit einer Kunstausstellung zu koppeln. Insbesondere bei seinem Akademiekollegen Arnold Bode stieß dieses Vorhaben auf größte Zustimmung. Für Bode war seine Heimatstadt Kassel ohne Zweifel ein Ort für Ausstellungen aktueller Kunst, die auch über die Stadt hinaus Bedeutung hatten. Bereits in den 1920er Jahren wurden in der Orangerie in der Karlsaue insgesamt vier Kunstausstellungen veranstaltet, die den Anspruch verfolgten, neben der regionalen Kunst auch aktuelle Kunst aus ganz Deutschland zu zeigen. Bode war nicht nur in allen vier Ausstellungen als Künstler vertreten, sondern wirkte auch bei der Organisation entscheidend mit. Es ist anzunehmen, dass Bode nach dem Krieg eine Möglichkeit suchte, an diese Ausstellungsreihe in einem größeren Rahmen anzuknüpfen. Die Bundesgartenschau bot die Chance, von dem zu erwartenden Publikumserfolg auch für die geplante Kunstausstellung zu profitieren. Herrmann Mattern schwebten zunächst temporäre Zeltbauten vor, in denen die Kunstwerke gezeigt werden sollten. Arnold Bode setzte sich jedoch mit Erfolg für das im Zweiten Weltkrieg stark zerstörte Museum Fridericianum ein, wobei ihn an diesem Gebäude weniger die ursprüngliche Verwendung als Museum interessierte, sondern in erster Linie dessen Kapazität als Ausstellungsort für zeitgenössische Kunst. Die erste documenta fand vom 15. Juli bis zum 18. September 1955 in den Räumlichkeiten des Museum Fridericianum statt. Da zu diesem Zeitpunkt noch nicht abzusehen war, dass sich aus dieser Ausstellung eine äußerst erfolgreiche Veranstaltungsreihe entwickeln sollte, wurde sie erst rückwirkend als documenta 1 bezeichnet. Vom 16. Juni bis 23. September 2007 fand in Kassel zum zwölften Mal die documenta statt. Gemeinsam mit der Art Basel, der Skulptur Projekte Münster und der Biennale von Venedig prägte sie den so genannten Kunstsommer 2007. Allein nach Kassel zog es 754 301 BesucherInnen, womit ein neuer Rekord in der Geschichte der documenta aufgestellt werden konnte. Gut dreieinhalb Jahre wurde an der documenta 12 gearbeitet. Mit einem Budget von 19 Millionen Euro und zusätzlichen Sponsorengeldern konnte das Ausstellungskonzept von Roger M. Buergel und Ruth Noack realisiert werden. Wie für eine documenta üblich, sorgte auch die zwölfte Auflage mit einer Reihe von Geschehnissen vor und während der Ausstellung für Gesprächsstoff. In der ersten Ausstellungswoche stürzte beispielsweise während eines Unwetters die Außenarbeit „Template“ (2007), eine zwölf Meter hohe Konstruktion aus Holztüren und -fenstern des Künstlers Ai Weiwei, in sich zusammen. Bis zum Ausstellungsende wurde das Werk in der Form auf der Wiese vor der Orangerie belassen, die es nach dem Umsturz angenommen hatte. Verteilt auf fünf Hauptausstellungsorte und einige Nebenschauplätze präsentierte die documenta 12 rund 500 Kunstwerke von 109 KünstlerInnen aus 43 Ländern. Die Zeitspanne reichte von einem Werk aus dem 14. Jahrhundert bis hin zu Arbeiten aus dem Jahr 2007, die speziell für die documenta 12 angefertigt worden waren.
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Drei Leitmotive, die bereits 2005 von der künstlerischen Leitung formuliert wurden, boten Anlass, auf der documenta 12 über die Moderne, das „bloße Leben“ und das Thema Bildung nachzudenken. Durch einen documenta-Beirat wurde erstmals die Kasseler Bevölkerung aktiv und in mitbestimmender Weise in die Ausstellungsplanung und -gestaltung einbezogen. Dem Bild, welches sich in den Köpfen vieler KasselerInnen in bezug auf die documenta festgesetzt hatte, konnte so etwas Neues entgegengesetzt werden. Dieses Bild ist das eines Ufos, das alle fünf Jahre in Kassel landet, 100 Tage bleibt und schließlich, nachdem es für viel Aufregung gesorgt hat, wieder abhebt. Die documenta 12 dagegen hinterließ Spuren in der Stadt. So sollen z. B. einige Projekte, die der Beirat initiiert hat, auch nach dem Ausstellungsende weitergeführt werden.13 Der Autor und Ausstellungsmacher Roger Martin Buergel (Jahrgang 1964) wurde Ende 2003 vom Aufsichtsrat der „documenta und Museum Fridericianum Veranstaltungs-GmbH“ zum künstlerischen Leiter der documenta 12 gewählt. In Wien hatte er zunächst Malerei an der Akademie der bildenden Künste studiert, bevor er sein Kunststudium mit den Fächern Philosophie und Ökonomie an der Universität ergänzte. Zwischen 1985 und 1987 arbeitete er als Privatsekretär des Wiener Künstlers Hermann Nitsch. In den vergangenen Jahren konnte er durch eine Reihe von Ausstellungen die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. 2003 erhielt er den „Walter Hopps Award for Curatorial Achievment“, einen Preis für junge AusstellungsmacherInnen der Menil Collection aus Houston/USA. Neben dem künstlerischen Leiter Roger Buergel war die Kunsthistorikerin Ruth Noack (Jahrgang 1964) als Kuratorin die zweite Person an der Spitze der documenta 12. Sie studierte neben Kunstgeschichte auch audiovisuelle Medien und feministische Theorien in den USA, England, Deutschland und Österreich. Ab 1996 kuratierte sie feministische Veranstaltungen zu Kunst und Film und nahm ab 2000 ihre Lehrtätigkeit an Universitäten in Deutschland und Österreich auf. Roger Buergel und Ruth Noack arbeiten seit rund 20 Jahren zusammen und haben bereits mehrere Ausstellungen gemeinsam kuratiert. So war es für beide selbstverständlich, auch die documenta 12 in Zusammenarbeit zu gestalten. Gemeinsam wählten sie KünstlerInnen aus, und auch das Konzept und die Inszenierung der Ausstellung entstanden in einem gemeinsamen Diskussionsprozess. In der Öffentlichkeit wurde oftmals Buergel allein die Leitung der documenta 12 zugeschrieben, nicht ausschließlich weil die documenta-Statuten offiziell nur eine Person als künstlerische Leitung vorsehen, sondern auch weil es im „Starsystem“ nur einen Leiter gebe, wie Noack sich in einem Interview äußerte.14 13 Ayse Gulec, Sprecherin des documenta 12-Beirats, im Interview mit Silke Kachtik: „Diese Erfahrung war bedeutend. Damit sollte jetzt aber nicht alles aufhören, was wir im Rahmen der documenta 12 lokal angestoßen haben. Wir werden aus dem Bisherigen viel lernen und weiterentwickeln.“ http://www.documenta.de/1388.html?&L=0 (28.4.2008). 14 Ruth Noack im Interview mit Elke Buhr: „Das ist ein Starsystem“. In: Frankfurter Rundschau, 15.5.2007.
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Wie auch schon bei vorangegangenen Ausstellungen war es Buergel und Noack bei der Werkauswahl zur documenta 12 wichtig, dass die künstlerischen Arbeiten „explizit auf einen Gesellschaftsbezug drängen“15. Sie legten Wert auf die Erkennbarkeit eines konkreten Bezuges zu gesellschaftsrelevanten Fragen. Die documenta 12 erstreckte sich in Kassel über fünf Hauptausstellungsorte auf einer Achse zwischen den beiden Parklandschaften Kassels, der Karlsaue und dem Bergpark. Hinzu kamen mehrere Nebenschauplätze, die sich über das Kasseler Stadtgebiet verteilten. Das Schloß Wilhelmshöhe im Westen der Stadt und das Kulturzentrum Schlachthof in der Nordstadt bildeten dabei eine geographische Klammer. Dazwischen konzentrierten sich die übrigen Ausstellungsorte im Stadtzentrum: das Museum Fridericianum, die Neue Galerie, die documentaHalle und der temporäre Aue-Pavillon. Diese waren zu Fuß erreichbar. Zwischen den übrigen Ausstellungsorten in Kassel verkehrten Straßenbahnlinien, welche die BesucherInnen mit ihrer Eintrittskarte nutzen konnten. Eine Straßenbahn der Linie 4 wurde selbst zum Ausstellungsort, da in ihr die Soundinstallation „Tram 4 Inner Voice Radio“ (2007) von Kirill Preobrazhenskiy präsentiert wurde. Hinzu kam das Gloria Kino, in dem das documenta 12-Filmprogramm „Zweimal Leben“, kuratiert von Alexander Horvath, Direktor des Österreichischen Filmmuseums in Wien, gezeigt wurde. Der Ort des Films auf der documenta 12 war das Kino als eine Antwort auf die Debatten der letzten Jahre, wie Laufbilder im Kunstkontext wohl am besten darstellbar wären.16 Darüber hinaus waren zahlreiche Kunstwerke im öffentlichen Raum erlebbar, wobei diese Arbeiten jeweils auf spezifische Weise die Frage nach der Bildung und Gestaltung von Öffentlichkeit reflektierten.17 Zu den Orten der documenta 12 zählte außerdem das Restaurant „el Bulli“ in Roses/Spanien. Dort bewirtete der Koch Ferran Adria als teilnehmender Künstler der documenta 12 täglich zwei AusstellungsbesucherInnen aus Kassel. Diese wurden willkürlich von Roger Buergel und Ruth Noack ausgewählt und zu einem Abendessen im „el Bulli“ und zu einer kurzen Reise nach Roses eingeladen. Zwischen den genannten Orten spannte sich laut Buergel und Noack ein Kraftfeld, welches nicht nur Kunst zum Vorschein bringen, sondern seinem Publikum erlauben sollte, darin einzutauchen.18 Hier soll neben den Hauptausstellungsorten Schloß Wilhelmshöhe, Neue Galerie, documenta-Halle und Aue-Pavillon vor allem das Museum Fridericianum im Fokus stehen. Die AusstellungsmacherInnen der documenta 12 begriffen die Ausstellung ausdrücklich als ein Medium: „Damit bewegen wir uns weg von der Repräsentation der ‚besten KünstlerInnen der Welt‘ hin zur Produktion eines Erfahrungs15 Roger M. Buergel und Ruth Noack (Hg.): Dinge, die wir nicht verstehen. Ausstellungskatalog Generali Foundation Wien. Wien 1999, S. 15. 16 Vgl. http//www.documenta12.de/fileadmin/pdf/PM/13.8_Pressemappe_de_gesamt. pdf (1.7.2008). 17 Vgl. http://www.documenta12.de/ausstellung.html?&L=0 (1.7.2008). 18 Faltflyer documenta 12.
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raums, in dem es möglich wird, die Begriffe ‚Kunstwerk‘ und ‚Publikum‘ aneinander zu schärfen.“19 Diese Idee von Ausstellung bildete die Grundlage für das Ausstellungskonzept, mit dem der documenta 12 ihre Form gegeben wurde. Buergel und Noack wollten den herkömmlichen Schauzusammenhang von Objekten räumlich und zeitlich aufbrechen und einen erweiterten Ausstellungsraum schaffen. Roger Buergel formulierte dies folgendermaßen: „Für mich ist wichtig, dass das, was wir im Moment als Ausstellung zu denken gewohnt sind – ein Raum, in dem irgendwelche Dinge herumstehen oder herumhängen –, erweitert wird. Die Ausstellung soll sich in den Gesellschaftskörper, in die soziale Textur hinein verlängern.“20 Diesem Anspruch gemäß konzipierten Buergel und Noack die documenta 12 so, dass sich durch das Medium Ausstellung eine Öffentlichkeit herausbilden konnte. Dadurch sollten die Fragen und Inhalte der documenta 12, welche durch die Kunst aufgeworfen wurden, aus dem Ausstellungsraum hinaus getragen werden, wofür u. a. mit der so genannten Trias aus Magazinen, Beirat und Kunstvermittlung die erforderlichen Strukturen geschaffen werden sollten. Auch die Ausstellungsinszenierung wurde darauf ausgerichtet. Seit ihren Anfängen ist die documenta eine „unbehauste Ausstellung“21. Sieht man einmal vom Museum Fridericianum als Stammhaus und der 1992 erbauten documenta-Halle ab, ist sie stetig auf der Suche nach Gebäuden, welche temporär Kunst beherbergen. Mit dem Temporären, einem wesentlichen Merkmal der documenta, geht auch der Aspekt des Provisorischen einher. Die Gebäude müssen für die Dauer von 100 Tagen dem jeweiligen Ausstellungskonzept entsprechend und auch im Rahmen des zur Verfügung stehenden Budgets gestaltet werden. Die jeweilige künstlerische Leitung muss angemessene Ausstellungsorte ausfindig machen und ihr wird Improvisationsgeschick abverlangt. Buergel und Noack konnten mehrere Gebäude bespielen, die aus unterschiedlichen Jahrhunderten stammen: das Schloss Wilhelmshöhe und das Museum Fridericianum aus dem 18. Jahrhundert, die Neue Galerie aus dem 19. Jahrhundert, die documenta-Halle aus dem 20. Jahrhundert und der Aue-Pavillon aus dem 21. Jahrhundert. Diese Bauten wurden für die documenta 12 nicht mit einem „architektonischen Raster“22 überzogen, sondern ihre jeweils spezifischen Architekturen wurden bewusst wahrgenommen und in die Ausstellungsinszenierung sichtbar einbezogen. Es wurden singuläre Lösungen für die Ausstellungsinszenierung entwickelt. Der Aue-Pavillon stellte dabei eine singuläre Lösung in sich dar. Er entsprach dem Wunsch der künstlerischen Leitung nach einem temporären, großzügigen Ausstellungsraum in der Karlsaue.
19 Pressemappe documenta 12, S. 3. 20 Roger M. Buergel im Interview mit Ralf Pasch: Das verflüssigte Museum. In: Frankfurter Rundschau, 11.1.2006. 21 Harald Kimpel: Die unbehauste Ausstellung. In: Glasmeier/Stengel (wie Anm. 7), S. 68. 22 Pressemappe documenta 12, S. 5.
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Die Ausstellungsinszenierung entwickelte sich aus der Beschäftigung mit den einzelnen Architekturen heraus. Dabei arbeiteten Buergel und Noack mit renommierten ArchitektInnen zusammen. Der Aue-Pavillon wurde von Anne Lacaton und Jean-Phillippe Vassal aus Frankreich entworfen. Die Gesamtleitung der Ausstellungsarchitektur lag bei Tim Hupe, einem Architekten aus Hamburg. Im Wesentlichen waren es drei Punkte, welche die Ausstellungsarchitektur der documenta 12 und ihre Räume für die Kunst auszeichneten. Zum einen wurde das Temporäre und Provisorische nicht kaschiert, sondern in die Ausstellungsarchitektur waren bewusst Elemente eingefügt, die diese beiden Aspekte unterstrichen: „Anstriche, Teppiche und Vorhänge sind die einfachsten Mittel, um räumliche Inszenierungen zu schaffen, die von begrenzter Dauer sind.“23 Dabei handelte es sich um „eine sichtbar provisorische Fassung“24. Die BesucherInnen sollten dadurch spüren können, dass es sich bei der documenta 12 um eine einmalige und zeitlich begrenzte Situation handelte. Zum anderen vertraten Buergel und Noack die Auffassung, dass die einzelnen Gebäude durch ihre architektonischen Strukturen vorgeben, welche Kunst in ihnen präsentiert werden kann.25 So wurden z. B. in der stellenweise zwölf Meter hohen documenta-Halle überwiegend großformatige Werke gezeigt, wohingegen in den engen Kabinetten der Neuen Galerie kleine, serielle Arbeiten zu sehen waren. Ausserdem trägt laut Buergel und Noack jedes Gebäude ein spezifisches Verständnis von Kunstbetrachtung und eine eigene Vorstellung von Öffentlichkeit in sich.26 So wollten sie „die den verschiedenen Museumsbauten innewohnenden Implikationen von Öffentlichkeit“27 freilegen. Dies geschah, indem sie strukturelle Veränderungen in den über die Jahre hinweg stark veränderten Gebäuden vornahmen. Die Gebäude, welche während der documenta 12 als Ausstellungsorte dienten, stellten nicht nur ihre Räume für die Kunst zur Verfügung, sondern waren darüber hinaus Orte, an denen Buergel und Noack ihre Vorstellung von Öffentlichkeit kommunizieren und praktizieren konnten. Das Museum Fridericianum bietet sich für nähere Betrachtungen der Ausstellungsinszenierung besonders an, da Buergel und Noack das Gebäude als „Herzstück“ einer jeden documenta-Ausstellung auffassten.28 Um die architektonischen Eingriffe, welche Buergel und Noack zur documenta 12 im Museum Fridericianum vorgenommen haben, nachvollziehen zu können, ist ein kurzer Blick auf die
23 Tim Hupe, http://www.cyberday.de/documenta/documenta_12_raeume_kunst.html (2.7.2008). 24 Ebd. 25 Roger M. Buergel und Ruth Noack während eines Pressegesprächs zur Ausstellungsarchitektur der documenta 12. 26 Vgl. ebd. 27 Roger M. Buergel im Interview mit Heinz Norbert Jocks: Die Lehre des Engels. In: Kunstforum International. Bd. 187 (2007), S. 129. 28 Vgl. Audioführer der documenta 12, http://www.sparkasse.de/services/documenta 12/s-guide.html (1.7.2008).
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Entstehungsgeschichte des Gebäudes sinnvoll. Es gilt als erster öffentlich zugänglicher Museumsbau auf dem europäischen Kontinent. Zwischen 1769 und 1779 ließ Friedrich II, Landgraf von Hessen-Kassel, das Gebäude am Friedrichsplatz errichten, um seine Kunstsammlungen und seine Bibliothek der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Für den Architekten Simon Louis du Ry, der mit dem Museumsentwurf und der Bauleitung betraut wurde, stellte die Errichtung eines öffentlich zugänglichen Museumsbaus eine völlig neue Bauaufgabe dar, da es zu diesem Zeitpunkt kein Gebäude gab, das ihm als Vorbild hätte dienen können. Also griff er auf vorhandene Bauformen zurück und entwarf eine herrschaftliche Dreiflügelanlage, welche er dem Palast- und Schlossbau entlehnte. Den Zwehrenturm, einen mittelalterlichen Wachturm der ehemaligen Stadtbefestigungsanlage, integrierte er in seinen Entwurf. Den Mittelbau legte er zweigeschossig an mit zwei weitläufigen Galeriesälen im Erdgeschoss und einem großen Bibliothekssaal im ersten Stockwerk, der die gesamte Länge der Fassade einnahm. Die dreigeschossigen Seitenflügel unterteilte er in Kabinette, wobei das zusätzliche Geschoss unter dem Dach sein Licht durch kleine Mezzaninfenster erhielt. Die großen Galeriesäle im Erdgeschoss und die restlichen Stockwerke der Seitenflügel wurden beidseitig durch zahlreiche Fenster beleuchtet. Im Jahr 1779 konnte das Museum Fridericianum eröffnet werden. Seit den schweren Kriegszerstörungen am Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Wiederaufbau in den 1950er Jahren erfuhr das Museum Fridericianum im Inneren zahlreiche bauliche Veränderungen. Seit 1955 wurden im Vier- bzw. Fünf-Jahresrhythmus die Räumlichkeiten den Kunstwerken und Ausstellungskonzepten der jeweiligen documenta-Ausstellung angepasst, indem z. B. zusätzliche Wände eingezogen wurden. Am Anfang der 1980er Jahre erfolgte eine umfassende Sanierung des Gebäudes mit einigen Umbaumaßnahmen, durch die das Museum Fridericianum einen großen Teil seiner früheren Atmosphäre verlor. Der acht Meter hohe ehemalige Bibliothekssaal wurde zerteilt und damit auch im Mittelbau ein drittes Geschoss eingezogen. Den größten Verlust bedeutete der komplette Abriss des zentralen Treppenhauses, das im Erdgeschoss in der Rotunde spiralförmig ansetzte. Von nun an gelangten die Museums- und AusstellungsbesucherInnen nur noch mit Fahrstühlen oder über enge Treppenaufgänge in die oberen Stockwerke. Für Roger Buergel und Ruth Noack vermittelte das Gebäude durch die zahlreichen innenarchitektonischen Änderungen kein schlüssiges Raumgefühl mehr. Vielmehr verursachte es ihrer Meinung nach Orientierungslosigkeit bei den BesucherInnen.29 So versuchten sie, dem Museum Fridericianum seinen ursprünglichen Charakter, d. h. in erster Linie die Klarheit und Symmetrie der Raumstruktur mit den großzügigen Sälen, ein Stück weit zurück zu geben. Für die documenta 12 entfernten sie sämtliche „falschen“ Wände, mit denen seit Jahrzehnten 29 Wie Anm. 25.
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das Gebäudeinnere, insbesondere die Fensterreihen verstellt worden waren, um Hängefläche zu gewinnen. So wurde z. B. die Weitläufigkeit der einstigen Galeriesäle im Erdgeschoss wieder wahrnehmbar, und durch die Freilegung der Fenster konnte das Tageslicht verstärkt in die Räumlichkeiten dringen. Die Fenster wurden überwiegend mit halbtransparenten Vorhängen versehen, um das natürliche Licht zu filtern, wie es schon Arnold Bode bei der documenta 1 getan hatte. Um die einzelnen Stockwerke des Museum Fridericianum klarer zu definieren, erhielt, wie auch in der Neuen Galerie, jedes Stockwerk einen anderen Farbanstrich. In Anlehnung an die ehemals existierende Zentraltreppe haben Buergel und Noack in der Rotunde wieder eine Treppe mit Modellcharakter geschaffen, über welche die BesucherInnen vom Eingangsbereich aus direkt in den ersten Stock gelangten. Die vier großen Haupträume im Museum Fridericianum waren thematisch oder auch formal gegliedert und versammelten Werke verschiedener KünstlerInnen. Hier setzten Buergel und Noack die Kunstwerke ästhetisch zueinander in Beziehung und ermöglichten dadurch die Wahrnehmung von Korrespondenzen. Die Seitenflügel dagegen waren bestimmten einzelnen KünstlerInnen vorbehalten, welche die AusstellungsmacherInnen besonders herausstellen wollten. Der beengt wirkende Zwehrenturm wurde zugunsten der Übersichtlichkeit bewusst außen vorgelassen und war den BesucherInnen der documenta 12 nicht zugänglich. Blickten die BesucherInnen vom Friedrichsplatz aus auf das Museum Friedericianum, so zog auf der linken Fassadenseite des Gebäudes in Höhe des ersten Stockwerks ein sich weit durch die Luft schwingendes Gebilde aus Stahlrohren und halbtransparenten Kunststoffplatten ihre Aufmerksamkeit auf sich: die skulpturale Arbeit „Ohne Titel“ (2007) der Künstlerin Iole de Freitas, die sich im Inneren des Museumsbaus fortsetzte. Sie verdeutlichte nicht zuletzt die räumliche Erweiterung des herkömmlichen Schauzusammenhangs von Kunst auf der documenta 12: durchaus im Sinne einer „Sprengung des Raumes“. Die große Bögen formenden Stahlrohre trugen leicht geschwungene Platten, die vor dem Gebäude zu schweben schienen. Die Konstruktion rankte sich an der Fassade entlang um die Ecke des Gebäudes herum. Die Rohre schienen sich einerseits ihren Weg durch das Gemäuer des Museumsbaus zu fressen und im Inneren zu verschwinden. Andererseits wirkte es, als ob die Skulptur den Innenraum sprengte und aus dem Gebäudeinneren herauswucherte. Eine eindeutige Bewegungsrichtung schien nicht festgelegt. Die Grenzen zwischen Innen und Außen wurden aufgehoben und das Gemäuer des Museum Fridericianum ein Stück weit transparent gemacht, was zudem die Verwendung von halbtransparentem Material unterstrich. Damit war ein Bezug zu einem der fragenden Leitmotive „Ist die Moderne unsere Antike?“ gegeben, denn die Transparenz wurde im wörtlichen wie auch im übertragenen Sinn als ein zentrales Motiv der Moderne aufgefasst: „Sie impliziert eine objektive Sichtweise, die sich vor allem im aufklärerischen Ideal der reinen Vernunft manifestiert. Dies lässt sich auch in der modernen Architektur weiterverfolgen,
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wo Glas eingesetzt wird, um Offenheit und Fortschritt zu signalisieren.“30 Damit ließ sich Iole de Freitas’ Skulptur insbesondere durch ihre industriell gefertigten Materialien, Stahl und Plexiglas, auf den Aue-Pavillon beziehen. Dieser wurde nach dem Vorbild der modernen Weltausstellungsarchitekturen errichtet. Die Skulptur war außerdem an der Gebäudeecke zur Karlsaue hin angebracht und wies damit den Weg zum Aue-Pavillon. Darüber hinaus stellte Iole de Freitas eine Verbindung zur Geschichte des Museum Friedericianum her. Landgraf Friedrich II hatte sich mit dem Museum Friedericianum ein eigenes Gebäude errichten lassen, um seine Kunstschätze der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Der Bau war Teil seiner angestrebten Kulturpolitik im Sinne der Aufklärung auf dem Weg zu „modernen“ Idealen.31 Darüber hinaus förderte er wissenschaftliche Vorhaben, gründete eine „Société des Antiquités“ (Gesellschaft der Altertümer) und baute Bibliotheken, Spitäler und andere öffentliche Einrichtungen. Damit verband Friedrich II seinen Wunsch nach Selbstdarstellung mit einem Engagement für öffentliche Kultur und soziale Fortschritte. So trägt der Repräsentationsbau auch den Namen des Bauherrn in goldenen Lettern an der Fassade, und sein Standbild blickt vom Friedrichsplatz aus auf das Gebäude. Zunächst wirkte Iole de Freitas’ Skulptur wie ein Fremdkörper am Gebäude. Die organisch geschwungenen Formen schienen nicht zu der klaren klassizistischen Architektur des Museum Fridericianum zu passen. Es gab also einen augenscheinlichen Gegensatz zwischen der Architektur und dem Kunstwerk. Genau dieser Gegensatz konnte, so haben evaluierende Befragungen ergeben, in der Tat die Aufmerksamkeit der BesucherInnen auf die Architektur des Gebäudes lenken und zur näheren Betrachtung der klassizistischen Fassade führen. Im Idealfall lud dieser Gegensatz dann zur weiteren Auseinandersetzung mit der Geschichte des Museumsbaus ein. Folglich bestand ein klarer Bezug zur Architektur des Museum Fridericianum, der für die BesucherInnen nicht nur außen, sondern auch innen sichtbar wurde. Im Inneren des Gebäudes setzte sich die Skulptur fort und dominierte dort einen der großen Säle im ersten Stockwerk. Dort bot sich den BesucherInnen im Gegensatz zur Außenansicht ein anderes Bild: ein choreographierter Raum, in dem „Bänder und Bögen räumliche Situationen formen, die sich den BesucherInnen als Orte des Durchschreitens und Verweilens anbieten.“32 Die BesucherInnen mussten sich ihren Weg durch eine komplexe Struktur aus Plastik und Stahl bahnen. Das Kunstwerk breitete sich im Raum aus und sprengte diesen letztendlich. Es passte sich der rechteckigen Form des Raumes nicht an, ließ dessen Begrenzungen außer acht und drang durch die Wände nach außen. Iole de Freitas, ausgebildete Tänzerin mit Performanceerfahrung, zeichnete mit ihrer Skulptur Be-
30 Audioführer documenta 12. 31 Vgl. ebd. 32 http://www.documenta12.de/uebersichtsdetails.html?L=0&gk=A&level=&knr=10 (2.7.2008).
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wegungslinien im Raum nach. Mit Hilfe von Stahl und Kunststoff visualisierte sie den im Raum befindlichen Bewegungsfluss entsprechend ihrer Auffassung, dass jeder Raum mit Energie gefüllt sei.33 Ihre Linienführung animierte die BesucherInnen dazu, den Formen aus Kunststoff und Stahl zu folgen und sich dadurch mit dem Kunstwerk zu bewegen. So wurden die BesucherInnen aufgefordert, aktiv zu werden und ihren Standpunkt als BetrachterInnen zu wechseln. Ließen sie sich darauf ein, eröffneten sich ihnen durch die Struktur hindurch immer wieder neue Blickachsen und ihre Raumwahrnehmung wurde verändert. Die Ausstrahlung von Dynamik und Leichtigkeit, welche die Skulptur trotz Starre und Verwendung von schwerem Stahl besaß, wurde durch einen hellgrünen Wandanstrich hervorgehoben. Dieser Farbton, der sich durch die gesamten Räume im ersten Stockwerk zog, wirkte leicht, frisch und unbeschwert. Dies entsprach den tänzerischen, verspielten Bewegungen, welche im Raum nachgezeichnet wurden. Auf die Raumdimensionen bezogen wirkte sich das Grün weitend aus und betonte so die Ausdehnung des Kunstwerks über den Ausstellungsraum hinaus in den Außenraum. Da die Fensterfronten freigelegt wurden und nicht mit Vorhängen versehen waren, konnte das Tageslicht direkt einfallen. Durch die halbtransparenten Kunststoffplatten entstanden Spiegelungen und Reflexionen am Boden und an den Wänden sowie auf dem Kunstwerk selbst, die je nach Tageszeit und Witterungsverhältnis wechselten. Hinzu kamen Schatten und Spiegelungen, welche die sich im Raum bewegenden BesucherInnen hervorbrachten. So konnten diese sich durch das Kunstwerk als Teil der Ausstellungskomposition erfahren, es fanden sozusagen soziale Ereignisse statt mit dialogischen Strukturen zwischen Künstlerin, Ort und Publikum. Das in den Raum einfallende Tageslicht und die Bewegungen der BesucherInnen stellten bei Iole de Freitas’ Skulptur Elemente dar, die nicht zu kalkulieren waren und durch die sich die Arbeit im stetigen Wandel befand. Damit gelang es ihr, die Starre zu überwinden und den Raum zu dynamisieren. Erst durch das Zusammenspiel mit den BetrachterInnen, dem Raum und der Architektur entfaltete das Kunstwerk seine Wirkung. Die mit der Ausstellungsinszenierung angestrebte Wechselwirkung zwischen Kunstwerk, BetrachterInnen und Raum wurde hier deutlich und ist zugleich typisch für Iole de Freitas’ Arbeiten: „Das künstlerische Programm der Bildhauerin de Freitas ist der Erforschung von Form, Material und Raum, deren Interdependenzen sowie der Wahrnehmung durch die BetrachterInnen gewidmet.“34 Durch die Berücksichtigung der Rezeptionsbedingungen wurde deutlich, dass die BesucherInnen in dieser Ausstellungssituation nicht außen vor gelassen, sondern ausdrücklich einbezogen wurden.
33 Iole de Freitas während eines Vortrags in der Kunsthochschule Kassel am 13.4. 2007, Audiomitschnitt, http://www.documenta12blog.de/?p=163 (2.7.2008). 34 http://www.documenta12.de/uebersichtsdetails.html?L=0&gk=A&level=&knr=10 (2.7.2008).
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Dies stand letztlich auch im Gegensatz zum auf Neutralität setzenden Inszenierungsideal des White Cube, in dem die BesucherInnen als Störfaktor gelten, wie O’Doherty deutlich gemacht hat. Auch widersprechen der starke Bezug zur Architektur und die Erweiterung des Ausstellungsraumes dem White-CubeAnliegen, die Kunst von allen äußeren Einflüssen zu isolieren. In einer „weißen Zelle“ hätte Iole de Freitas’ Arbeit nicht ihre Wirkung entfalten können. Sie bedurfte für die Freisetzung ihrer Autonomie dieser spezifischen Architektur und Raumsituation sowie der aktiven Teilnahme aller BetrachterInnen. Die documenta 12 ist maßgeblich geprägt worden von der Grundannahme, dass Buergel und Noack die Ausstellung als ein Medium begriffen. Für die Ausstellungsinszenierung bedeutete dies im Besonderen, dass die BesucherInnen durch gezielte inszenatorische Eingriffe in die Ausstellung involviert wurden. Zumindest die hier gemeinten und besprochenen Räume für die Kunst wurden für die BesucherInnen zu Erfahrungsräumen, in denen sie nicht unbeteiligte BetrachterInnen blieben, sondern durch die Kunst und die Raumsituationen zum Handeln aktiviert wurden. So konnte, so mag hier ein positives Fazit lauten, auf der documenta 12 tatsächlich der herkömmliche Schauzusammenhang von Kunstobjekten aufgebrochen werden. Es ist damit über weite Strecken gelungen, die Grundsätze des Ausstellungskonzepts für die BesucherInnen sichtbar in der Ausstellung umzusetzen. Dabei wurde stellenweise auf vormoderne Inszenierungspraktiken zurück gegriffen, wie beispielsweise in der Neuen Galerie, deren farbintensive Wandanstriche an Inszenierungsmethoden des 19. Jahrhundert erinnerten. Dazu passte durchaus der generelle Bezug der Ausstellungsinszenierung zu den jeweiligen Architekturen der Ausstellungsorte – auch mit deren Präsentationsgeschichte, durchaus im Sinne einer Zitation. Die AusstellungsmacherInnen haben die documenta 12 als ein temporäres und eng mit der Stadt Kassel verknüpftes Ereignis mit dem Angebot neuer Erfahrungs- und Handlungsräume angesehen und sie nicht als eine ort- und zeitlose Ausstellung inszeniert. Allerdings sollten offenkundige Schwächen wie der zu weit gehende Informationsverzicht „vor Ort“ und die teilweise mangelhafte Plausibilität der drei „Leitmotive“ nicht vergessen werden. Die Ausstellungsinszenierung der documenta 12 zeigte in durchaus spezifischer, aber nicht unbedingt in jeder Hinsicht innovativer Form eine Abkehr von dem internationalen Inszenierungsstandard des White Cube, eliminierte diesen aber nicht. Die grundsätzliche Formlosigkeit der documenta lässt abwarten, wie kommende künstlerische Leitungen „die große Ausstellung“ inszenieren werden – im Bewusstsein einer wohl unzweifelhaften Kontextabhängigkeit von Kunstwerk und Ausstellungsräumlichkeit.
Über das Kuratiere n im OFF-Bereic h MAGDALENA ZIOMEK-BEIMS Bei den Kunstschauen der Pariser Akademie im Louvre (1699 und 1704) wurden Ausstellungen bereits einheitlich und konsequent aufgebaut. Ein Mitglied der Akademie sorgte für die Anordnung der Bilder. Georg F. Koch schrieb über die Funktion des décorateur, der bereits einige Züge des späteren Kurators besitzt: „Dieser Wille zur einheitlichen künstlerischen Dekorationsgestalt der Ausstellungen findet auch organisatorisch seinen Niederschlag in der Wahl eines tüchtigen Akademikers [...] dem die Dekoration und Anordnung der Ausstellung obliegt.“1 Die Rolle des décorateur war jedoch stark von logistischen Tätigkeiten geprägt: Die Bilder mussten nach der Regel der Teppich-Hängung, bei der ganze Wände vom Boden bis zur Decke dicht mit Gemälden bedeckt wurden, platziert werden. Jeder Maler wollte seine Arbeiten günstig platziert haben, die Hängung in der Decken-Zone war aufgrund der geminderten Sichtbarkeit sehr unbeliebt. Schon damals stand der tüchtige Akademiker an der damals oft unbequemen Schnittstelle zwischen Künstlern, Institution und Publikum – ein Vorläufer des modernen Kurators. Besonders in den letzten 50 Jahren kam es zu starken Veränderungen im Verständnis der Profession des Kurators/der Kuratorin im Kunstkontext. Vor allem Harald Szeemann gehörte in den 1970er Jahren zu den ersten freien Ausstellungsmachern, die dem Begriff Kurator eine neue Dimension und zeitgenössische Profilierung gaben. Seine erste Ausstellung „Dichtende Maler – malende Dichter“ konzipierte er 1957 im Kunstmuseum in St. Gallen. Drei Jahre später wurde er in der Berner Kunsthalle der jüngste Museumsdirektor der Welt. Hier fand unter seiner Leitung im Jahr 1969 die berühmte Ausstellung Live in Your Head: When Attitudes Become a Form mit dem Untertitel Works, concepts, processes, situations, information statt, die als erste europäische Präsentation der Konzeptkunst in die Kunstgeschichte einging.
1
Friedrich Georg Koch: Die Kunstausstellung. Ihre Geschichte von den Anfängen bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. Berlin 1967, S. 134.
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Insgesamt 69 Künstler aus aller Welt kamen nach Bern, um die Kunsthalle in ein großes Gruppen-Atelier zu verwandeln. Als „eine Art Arena, die auch nach dem Abzug der Matadore nicht wirklich abgeglüht schien und in den liegen gelassenen Dingen von unverbrauchter Energie zeugte“2, beschreibt Hans-Joachim Müller, was das überraschte Publikum zu sehen bekam. Die Fettecken von Joseph Beuys, der Iglu von Mario Merz oder Richard Serras Splash Pieces - mit heißem Blei bespritzte Wände. Die ausstellenden und anwesenden Künstler/Innen sprengten den musealen Raum – die Ausstellung wurde zu einem großen Skandal. Doch aus heutiger Sicht ist When Attitudes Become a Form vielleicht diejenige Ausstellung, die den Geist der revolutionären 68er Jahre eingefangen hat: mit dem Einsatz von Anti-Form, der Einbeziehung der künstlerischen Geste, die im Sinne von Duchamps ready made eine Intention, eine Idee oder Aktion des Künstlers zum Kunstwerk erklärt, und mit der Verwandlung der Ausstellung in einen Arbeitsprozess. 1969 begann Harald Szeemann mit der Agentur für geistige Arbeit im Dienste der Vision eines Museums der Obsession als freier Kurator zu arbeiten. Das Motto der Ausstellungen, die Szeemann kuratierte, war „Obsession“ – Staunen, Intensivieren, Inszenieren waren die übergeordneten Ziele seiner Präsentationen. Er war ein Befürworter des Inszenierens „als nichtverbales Zeugnis der kuratorischen Einfühlungen in ein Kunstwerk.“3 Nach Szeemann raubt eine Inszenierung dem Kunstwerk nicht seine Freiheit, sie bietet eher den Rezipienten einen neuen Zugang zu verschiedenen Bedeutungs- und Interpretationsschichten. Zum Ausdruck kommt hier die Freude des Ausstellungsmachers am Umgang mit Kunst. Erst die Zusammenstellung, die Nähe und Gegenüberstellung der Erzeugnisse des menschlichen Geistes führen zu einer geistigen Öffnung. Die von ihm kuratierten Ausstellungen, wie beispielsweise die documenta 5 (Kassel 1972), Junggesellenmaschinen (1975 konzipiert für das Kunsthaus Zürich, aber in zahlreichen anderen Kunstinstitutionen, u. a. während der Biennale Venedig, gezeigt) oder Der Hang zum Gesamtkunstwerk (1983, Kunsthaus Zürich) sind als bahnbrechende Ereignisse in die Geschichte des Ausstellungsmachens eingegangen. Die charismatische Person des Kurators und die übergeordnete Rolle der kuratorischen Arbeit über dem Kunstwerk weckten mit der Zeit bei vielen Künstler/Innen Skepsis. Harald Szeemann schrieb dazu 1975: „Einige Künstler [...] warfen mir vor, ihre Werke nur als Farbtupfen in meinem Werke, der Ausstellung, zu verwenden. Ich muss diese Deutungen anderen überlassen, weil sich dieser Anspruch erst aus der Kontinuität meiner Arbeit ergeben hat und nicht selbstgesetztes Vorzeichen ist.“4
2 3 4
Hans Joachim Müller: Harald Szeemann. Ausstellungsmacher. Ostfildern-Ruit 2006, S. 17. Harald Szeemann: Zeitlos auf Zeit. Das Museum der Obsessionen. Regensburg 1994, S. 37. Harald Szeemann: von/über/zu/mit Harald Szeemann. Berlin 1981, S. 120.
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Die 90er Jahre brachten einen neuen Kurator-Typ hervor, die Jet-Kuratoren: Sie reisen um die Welt, besitzen profunde Kenntnisse der internationalen Kunstszene, sind aufmerksame Beobachter gesellschaftlicher Phänomene, die sie in ihren Ausstellungen aufgreifen. Sie arbeiten international, schlagen Künstler und Ausstellungsorte für verschiedene Kunstevents vor. Ihre Suche nach Inspirationen liegt in der Peripherie, weit weg vom Zentrum. Der Prototyp des Jet-Kurators ist Hans-Ulrich Obrist. Der Schweizer hat seit 1991 zahlreiche Ausstellungen in der ganzen Welt kuratiert, unter anderem Qui Quoi Où im Musèe d’Art Moderne de la Ville de Paris 1992, Der Zerbrochene Spiegel in der Kunsthalle Wien und in den Deichtorhallen in Hamburg 1993, The Armoire Show im Hotel Carlton Palast in Paris 1993 und Uccelli / Birds in Paliano 1996. Er sucht ungewöhnliche Orte für Ausstellungen, wie in der Cloaca Maxima (Museum für Stadtentwässerung in Zürich, 1994), erobert mit der Ausstellungsreihe Migrateurs aufs neue den für Kunst vorgesehenen Raum (Ausstellungen junger Künstler in den Räumen des renommierten Musèe d’Art Moderne de la Ville de Paris, 1993), oder bringt Künstler und Wissenschaftler zusammen, um, dem Geist der Renaissance folgend, neue Werte und Kräfte aus der Fusion der beiden Bereiche zu schöpfen. In der Projektwoche Art und Brain wurden 1994 Künstler und Wissenschaftler ins Forschungszentrum KFA nach Jülich eingeladen, um miteinander Dialoge zu führen. Das Verständnis von Obrist als Kurator basiert auf der Metapher des Katalysators und setzt sich von der Definition des Ausstellungsmachers nach Szeemann bewusst ab: „Der Kurator als Katalysator – das ist ein Plädoyer für nichtinszenierte Ausstellungen, für offene Situationen, wo Künstler expositionelle Realität schaffen können. Der Kurator ist dabei im besten Fall ein Diener an der Kunst [...] eine Passerelle zwischen der Kunst und der Welt.“5 Im zeitgenössischen Diskurs zu den Aufgabenfeldern des freien Kurators gibt es viele skeptische Töne. Das breite Spektrum der Debatte stellt der Sammelband Man in Black - Handbuch der kuratorischen Praxis vor, in dem Aussagen von über 100 aktiven Kurator/Innen zum Verständnis ihrer Profession gesammelt sind. Die Frage nach der Kraft der kreativen Geste der Kurator/Innen, nach möglicher Unterordnung der künstlerischen Arbeiten unter die Konzeption der Ausstellung, bleibt hoch aktuell. Christian Tannert stellte in seinem Vortrag an der Universität Hildesheim fest, dass heutzutage in der kuratorischen Praxis stark personalisierte Kuratoren-Konzepte dominieren: „Fortan war das Schräge, Unausgewogene, Subjektive Programm und bildete zugleich die Grenzen jeder kritischen Befragung. Dazu wurden viele Ausstellungen selbst zu Kunstwerken stilisiert. [...] Statt der vorab für den Kunstbetrieb beschworenen Dialoge, der Andacht, Einkehr, Kontemplation, triumphierte alsbald die Zerstreuung. Game-
5
Hans-Ulrich Obrist: Delta X. Der Kurator als Katalysator. Regensburg 1996, S. 51.
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show, Abenteuerspielplatz, Erlebnispark hießen die neuen Leitbilder der Kuratoren.“6 Die Krise der Definition des Begriffs Kurator führt dazu, dass derzeit versucht wird, ein unvorbelastetes Pendant zu finden: Concept Engineer/in, Initiator/in, Veranstalter/in, Projektdesigner/in oder Organisator/in. Justin Hoffmann bietet dafür den Begriff des Kulturproduzenten an, den er wie folgt definiert: „Sie verfassen die Texte, arbeiten nachts als DJ, engagieren sich in politischen Gruppen und haben einen Job in den Medien. Der Begriff des Kulturproduzent/in ermöglicht es, alle diese verschiedenen Tätigkeitsbereiche zusammenzufassen.“7 Auch die tonangebenden Ausbildungsstätten wie De Appel betonen, dass die heutigen Positionen von Kurator/Innen weit entfernt sind von dem Wunsch, mit der Ausstellung ein Meta-Kunstwerk herzustellen. In der Beschreibung für die kuratorische Weiterbildung heißt es: „Unser Interesse gilt weniger dem GenieKonzept des Autors von Ausstellungen, wie dies seit den neunziger Jahren kontrovers diskutiert wird, sondern kooperativen interdisziplinären Arbeitsweisen, wie sie beispielsweise bei Filmproduktionen oder NGOs angewendet werden.“8 Am Anfang des 21. Jahrhunderts verstehen sich Kurator/Innen eher als diejenigen, die mit den vielschichtigen Dimensionen des Zeigens hadern, sich um die Stimmigkeit des Kunstwerkes im Ausstellungskontext sorgen und an der Schnittstelle zwischen dem Kunstwerk, der Ausstellung und dem Rezipienten vermitteln. Die globalisierte Welt der Künste ist heute auch für Kunstinteressierte immer schwieriger zugänglich. Daher sind die vermittelnden Aufgaben der Kurator/Innen von zunehmender Bedeutung für das Publikum. Die Kurator/Innen werden in ihrer Denkweise von neuen Theorien beeinflusst: Gender Studies, Post-Kolonialismus oder Medientheorien. Sie flüchten aus den Galerien und Museen, entdecken private und öffentliche Räume wieder, nisten sich in Zwischenräumen ein, verschieben die Aufmerksamkeit der Medien in Richtung Peripherie, arbeiten mit staatlichen Geldern wie auch mit Sponsoring aus der Wirtschaft. Oder sie arbeiten ohne Förderung und finanzielle Mittel zusammen mit Künstler/Innen, um die Ideen und Konzepte gemeinsam zu entwickeln, zu erproben und umzusetzen. Sie wenden sich dem OFF-Bereich zu, dem Feld abseits der anerkannten Kunstinstitution. Was aber ist dieses OFF? Ist es ein kreativer und produktiver Schatten des ON, der Institution, des Museums, des Renommierten, und ein Warteraum für diejenigen, die es bis dahin nicht geschafft haben? OFF bietet einen Raum zum Probieren, zum Experimentieren, verlangt nicht nach Ewigkeit, aber verspricht auch nicht viel Geld. Manche halten sich dort be6
7 8
Christoph Tannert: Der Kurator am Scheideweg – Kuratorisches Selbstverständnis, Raumerfahrung und Raumumwertung, ein Vortrag gehalten an der Universität Hildesheim am 18.11.2008 (Zusammenfassung), S. 12f. Justin Hoffmann: God is a Curator. In: Christoph Tannert und Ute Tischler (Hg.): Man in Black. Handbuch der kuratorischen Praxis. Frankfurt/M. 2004, S. 116. http://www.dranbleiben.ch/angebot.php (18.5.2009).
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wusst auf, andere, wie der Hamburger Jonathan Meese, sind stolz auf ihre Herkunft aus dem OFF, obgleich sie schon längst kommerzielle Erfolge erzielen. Es bleibt allerdings trotz aller Definitionsversuche schwierig, allgemeinverbindliche Grenzen für das OFF abzustecken. Wie klein muss ein Budget sein, um einen Raum als OFF zu sehen? Gehören nur die Museen, Kunsthallen, Galerien und Kunstmessen zum ON? Ist OFF in und ON out? Wie schnell annektieren Institutionen die Strategien und Ansätze aus ihrem Schatten? Wie schnell kann man OFF vermarkten, domestizieren, wiederholen, popularisieren, verkaufen? Will OFF immer ON werden? Einigen reicht die Größe des Budgets als Anhaltspunkt, andere betonen ideelle Hintergründe und Ziele einer Veranstaltung, Vermarktung und erwirtschafteten Mehrwert oder das Image von Sponsoren, um den OFFBereich abzugrenzen. Vielleicht ist die am meisten zutreffende Definition der Grenzen des OFF dessen immanenter Wille zur Verschiebung eben jener Grenzen, zum Infragestellen des Bestehenden, gestern noch Gültigen. Der OFF-Bereich eröffnet eine Vielzahl von neuen Räumen und Möglichkeiten der Präsentation und der Vermittlung. Seine Stärke liegt darin, neue Wege und experimentelle Formen zu erproben, das Publikum und die Kunst zusammen zu führen und temporär die Grenzen zwischen Künstler/Innen und Rezipient/Innen durch partizipative Modelle, wie die Einbindung in Prozesse der Kunstproduktion, aushebeln zu können. Durch die Verortung in der Peripherie können im OFF sowohl intuitive, impulsive und unmittelbare wie auch konzeptionell durchdachte und intendierte Prozesse an gesellschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Schnittstellen entstehen, auf die der etablierte und institutionalisierte Kunstbetrieb kaum Zugriff hat. Zwischenräume und Zwischennutzungen privater und öffentlicher Räume, von Mitgliedern politischer Bewegungen besetzte Orte, Jugend- und Subkulturen, die Strasse, das Internet, all dies öffnet sich für Künstler/Innen und Rezipient/Innen, und ist ein interessantes Revier und eine Herausforderung für den/die Kurator/In. Den Stadtraum neu zu ertasten, energiegeladene Orte zu finden, zu erforschen, zu verstehen, und mit Menschen vor Ort ein dynamisches ZusammenTreffen zu koordinieren, ist die Aufgabe im OFF-Bereich. Ebenso gehört es dazu, eine finanzielle, organisatorische und kommunikative Ebene zu schaffen, die zwischen den Bedingungen, Bedürfnissen und Interessen der Künstler, des Raumes und weiterer Beteiligter (wie einem Verein oder an der Durchführung und Organisation interessierter und beteiligter Personen) vermittelt. Zu schaffen ist eine räumliche, verbale, finanzielle und organisatorische Gastfreundschaft für künstlerische Arbeiten und Ideen.9 Kurator/Innen im OFF-Bereich bauen keine Sammlung auf, sie sehnen sich nicht nach Vollständigkeit. Das Augenmerk liegt auf der Realisierung von Kontexten und Räumen zur Publikation und Diskussion künstlerischer Werke. Interesse und leitendes Ziel ist die Verzahnung künstleri9
Definition nach Bettina Pelz: Interview zu „Kuratieren zwischen ON und OFF“. Hochschule für Künste Bremen, 6.5.2009.
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scher Praxis mit der Sphäre des Öffentlichen. Sie arbeiten interdisziplinär auf Ebenen der Organisation, Vermittlung, Kommunikation und Dokumentation. Sie prüfen die Realisierbarkeit des Projekts und bringen alle Akteure und Ressourcen zusammen.10
10 Hinzuweisen ist auf aktuelle Literatur, die hier noch keine Berücksichtigung finden konnte: Hans Ulrich Obrist: A Brief History of Curating. Zürich 2009 und Maren Ziese: Kuratoren und Besucher. Modelle kuratorischer Praxis in Kunstausstellungen. Bielefeld 2010 (im Druck).
Die Musea lis ie rung de r La ndsc haft in den Abruzzen. Stillstand oder Chance für die Zukunft? ANNIKA HOSSAIN Im Sommer 2005 fuhr ich das erste Mal in die Abruzzen, um dort ein dreimonatiges Praktikum am Museo Archeologico Nazionale d’Abruzzo in Chieti zu absolvieren. In dieser Zeit lernte ich dank Giuliano di Menna und Angela Natale einige Kulturprojekte in der Region kennen. Im Mai des folgenden Jahres begab ich mich ein zweites Mal dorthin, um diese Projekte detailliert zu recherchieren, Material zu sammeln und Interviews mit den beteiligten Personen zu führen. Die Ergebnisse dieser Recherche lege ich hier dar. „Vollständige Arbeiterviertel, intakte Metallindustriegebiete, eine ganze Kultur, Männer, Frauen, Kinder, sowie Gesten, Sprache, Gebrauch werden als lebende Fossile wie im Film durch Museifizierung an Ort und Stelle als ‚historische’ Zeugen ihrer Zeit eingeschlossen. Das Museum lässt sich nicht mehr auf einen geometrischen Raum begrenzen, es existiert von nun an als eine Dimension des Lebens.“1
In der süditalienischen Region Abruzzen werden seit den 1990er Jahren Projekte von Personen aus unterschiedlichen Tätigkeitsbereichen ins Leben gerufen, die den Schutz des kulturellen Erbes der Region gewährleisten sollen. Der kulturelle und naturalistische Reichtum der Abruzzen wurde über lange Zeit vor allem durch die Isolierung der Region vor der Industrialisierung bewahrt. Das Kulturerbe manifestiert sich in zahlreichen ursprünglichen Siedlungsformen, kulturellen Überresten und seltenen Naturvorkommen, die die Landschaft der Abruzzen prä-
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Jean Baudrillard: Agonie des Realen. Berlin 1978, S. 19. Baudrillard spricht zwar von der „Museifizierung“, womit er aber das gleiche Phänomen mit den gleichen Merkmalen beschreibt, was in der übrigen Fachliteratur mit „Musealisierung“ bezeichnet wird. Die Endung -fizierung verweist durch die Anleihe des Begriffs Infizierung, also die Übertragung einer Krankheit, vielmehr auf Baudrillards pessimistische Bewertung des Phänomens. Im weiteren Verlauf werden die Begriffe deshalb gleichwertig verwendet, auch wenn Museifizierung nur in Zusammenhang mit Baudrillard gebraucht wird.
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gen. Dabei muss die Landschaft als dynamische Einheit begriffen werden, deren Entwicklung durch biologische und menschliche Triebkräfte gelenkt wird. Dieser Beitrag stellt fünf der angesprochenen Projekte vor und diskutiert sie. Alle Projekte beschäftigen sich mit der Gestaltung von Landschaft, die jeweils in Form einer Siedlungsstruktur, einer Kultur- oder einer Naturlandschaft vorliegt. Durch den gestalterischen Eingriff und die damit einher gehende Musealisierung des Kulturerbes soll dieses erschlossen und bewahrt werden. Deshalb sollen zunächst die zentralen Begriffe „Landschaft“ und „Musealisierung“ in einem Definitionsversuch erläutert werden. Im weiteren Verlauf werden sie für die Analyse der vorgestellten Projekte angewandt, um die Zielsetzungen und Ergebnisse der unterschiedlichen Initiativen vergleichen zu können. Die Idee der Landschaft hat sich im Lauf der Geschichte anhand unterschiedlicher Zeit- und Raumwahrnehmungen und daraus folgender instinktiver Kompositionen von Linie und Fläche entwickelt. Der Begriff Landschaft umfasst in seiner Bedeutung generell etwas Weitreichendes, Gewachsenes und etwas vom Menschen Beeinflusstes. So scheint jede Epoche und jedes Volk eine eigene Kulturlandschaft hervorgebracht zu haben. Im antiken Griechenland waren Mensch und Natur in der Landschaft auf einer mythischen Ebene verbunden.2 Im Mittelalter wurde diese Verbindung durch die christliche Transzendenz ersetzt. Erst im Modernen Zeitalter aber hat die Trennung von Mensch und Natur, angetrieben durch die wissenschaftliche und künstlerische Entdeckung der Landschaft, schließlich das hervorgebracht, was wir heute „Landschaft“ nennen.3 In der Wissenschaft muss auf den Landkartenboom im 17. Jahrhundert verwiesen werden, der in den Werken der niederländischen Genremaler, besonders bei Jan Vermeer, Belege findet. Jacob Burckhardt stellt die ästhetische Entdeckung der Landschaft allerdings bereits in der italienischen Renaissance fest.4 Obwohl der menschliche Blick in Folge dieser Entwicklungen von einem außen liegenden Standpunkt auf die Landschaft schaut, darf der kulturelle, also der durch den Menschen hervorgebrachte Bestandteil der Landschaft, nicht außer Acht gelassen werden. Die Sprache und die Kultur bilden die Physiognomie der Landschaft, insofern sie den Ort, seine materiellen Daten, seine Erinnerungen und seine Gefühle implizieren.5 Mit der Stimmung der Landschaft beschreibt Georg Simmel die Vereinigung der Sinnes- und der Gefühlsempfindung beim Betrachten einer Landschaft in einer ästhetischen Erfahrung.6 Die Landschaft wird vom Menschen in die Interpre2 3 4 5 6
Vgl. Raffaele Milani: L’Arte del Paesaggio. Bologna 2001, S. 46/47. Vgl. ebd., S. 37. Vgl. Jacob Burckhardt, Jacob: Die Kultur der Renaissance in Italien. Stuttgart 1985, S. 201-209. Vgl. Milani (wie Anm. 2), S. 38. Vgl. Georg Simmel: Philosophie der Landschaft. In: Die Güldenkammer. Norddeutsche Monatshefte 3. Bremen 1912-1913, S. 635-644.
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tation und die Wahrnehmung seines Bildes von der Erde eingeschlossen. Dabei ist die Formung der Landschaft ein Werk des Menschen und seiner Geschichte. So ruft jede Landschaft eine mythologische, historische, kulturelle Erinnerung hervor, weil sie an den Menschen und sein Handeln gebunden ist. Das bedeutet, dass die Vergangenheit, also die Geschichte des Menschen, über die Landschaft abrufbar ist. Die Mannigfaltigkeit der Landschaften wird gleichzeitig von der großen Anzahl geografisch verschiedener Typologien und der Perspektive des Betrachters bestimmt. Unterschiedliche künstlerische Betrachtungsweisen der Landschaft sind beispielsweise die romantische, die symbolistische oder die metaphysische. Parallel zur Entwicklung der Landschaftsmalerei stehen die Rolle und die Funktion des Gartens, der als Beispiel von konzentrierter Ästhetik im Gegensatz zur verstreuten Naturschönheit in der Landschaft verstanden werden kann.7 Er repräsentiert ein Stück ideale Landschaft, das seinen Urtypus im Garten Eden findet, wodurch seine symbolische Bedeutung hervortritt. Aber auch die Stadt ist eine Landschaft. Jede Architektur ist landschaftlich und bezeugt eine dialektische Beziehung zwischen Umwelt und menschlichem Leben. Die ästhetische Erfahrung der Naturlandschaft und der Stadtlandschaft sind eng miteinander verbunden. So wie der Mensch das Land bewohnt, bewohnt er auch die Stadt.8 Von Beginn an ist die Stadt das Sinnbild der Organisation und der Repräsentation von Raum. Sie befolgt soziale und ideale Kriterien. In einen Gegensatz zur Vielfältigkeit der Landschaften tritt heute ihre Uniformität. In den letzten Jahren setzen sich Land und Stadt in hybriden Mischformen zusammen. Das bedeutet oft den Verlust der Identität von Orten.9 In den letzten Jahren setzen sich Land und Stadt in hybriden Mischformen zusammen und „es dominiert die Tendenz, Natur- und Industrielandschaft2n zu harmonisieren“. Initiativen gegen die irrationale Ausbeutung der natürlichen Ressourcen sind dadurch motiviert, der Landschaft mittels Konservierungs- und Restaurierungsarbeiten so etwas wie ihre Würdigkeit als Kunstwerk zurückzugeben.10 Schließlich darf die Bedeutung der Interrelation zwischen Mensch und Natur für die Entstehung von Landschaft nicht außer acht gelassen werden. Landschaften haben eine „geschichtliche Dimension des Werdens und Vergehens“11. Damit unterliegen sie einer ständigen Dynamik, durch welche alte Formen verdrängt und von neuen abgelöst werden. Deswegen muss jeder Zustand der Landschaft als ephemer betrachtet werden. 7 8 9
Vgl. Rosario Assunto: Ontologia e teologia del giardino. Mailand 1988. Vgl. Milani (wie Anm. 2), S. 57. Vgl. Marc Auge: Orte und Nicht-Orte: Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Frankfurt/M. 1994. 10 Vgl. Milani (wie Anm. 2), S. 53. 11 Thomas Neiss: Natur hat Geschichte – Geschichte wird Natur: Die Industrielandschaft als Kulturlandschaft, In: Jörg Dettmar und Karl Ganser (Hg.): IndustrieNatur – Ökologie und Gartenkunst im Emscher Park. Stuttgart 1999, S. 32.
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Das Wort Musealisierung ist so neu, dass es „noch nicht einmal in den Wortbestand der Lexika aufgenommen wurde“12. Zum ersten Mal wird der Begriff vermutlich in Joachim Ritters These der „Musealisierung als Kompensation“ von 1963 in zentraler Position verwendet.13 Hermann Lübbe schließt mit seinem Text „Der Fortschritt und das Museum. Über den Grund unseres Vergnügens an historischen Gegenständen“ von 1982 an Ritters Überlegungen an.14 Bei der Musealisierung handelt es sich demzufolge ursprünglich um einen geschichtsphilosophischen Fachbegriff. Darauf folgen zahlreiche kritische Auseinandersetzungen mit dem Musealisierungsbegriff, unter anderem von Heiner Treinen (1973) und Gottfried Fliedl (1987).15 In der jüngeren Vergangenheit wurde der Begriff etwa von Wolfgang Zacharias, Eva Sturm und Gottfried Korff aufgegriffen.16 Die Musealisierung wird häufig zwangsläufig aufgrund ihrer Beschäftigung mit der Vergangenheit als kompensatorisches und retardierendes Moment verstanden. Deutet Hermann Lübbe die progressive Musealisierung als Kompensation der „belastenden Erfahrungen eines änderungstempobedingten kulturellen Vertrautheitsschwundes“17, so interpretiert Niklas Luhmann die zunehmende Zuwendung zur Vergangenheit mittels der Musealisierung und der Restaurierung als Absage an die Gegenwart.18 Des Weiteren bringt Jean Baudrillard die Museifizierung semantisch mit einfrieren, kyrogenisieren, sterilisieren, etwas vor dem Tod schützen in Verbindung.19 Museale Präsentationen, bei denen Interieurs einer vergangenen Lebenswelt, wie beispielsweise eine Arbeiterküche oder eine Schuhmacherwerkstatt, hinter Glas wieder aufgebaut werden, fördern die Einschätzung des musealen Einfrierens der Vergangenheit. Die Verbindung des Begriffs Musealisierung zur Kulturinstitution Museum ist eindeutig. Jedoch verleiht die neue Endung dem Begriff einen aktiven Charak-
12 Eva Sturm: Museifizierung und Realitätsverlust. In: Wolfgang Zacharias (Hg.): Zeitphänomen Musealisierung. Das Verschwinden der Gegenwart und die Konstruktion der Erinnerung. Essen 1990, S. 99. Auch aktuell ist das Wort Musealisierung nicht in den gängigen Lexika zu finden. 13 Vgl. Joachim Ritter: Die Aufgabe der Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft (1963). In: ders.: Subjektivität. Frankfurt/M. 1974. 14 Vgl. Hermann Lübbe: Der Fortschritt und das Museum. Über den Grund unseres Vergnügens an historischen Gegenständen. London 1982. 15 Vgl. Heiner Treinen: Ansätze zu einer Soziologie des Museumswesens. In: Albrecht, Daheim, Sack (Hg.): Soziologie – René König zum 65. Geburtstag. Opladen 1973, und Gottfried Fliedl: Ausstellungen als populistisches Massenmedium. In: Ästhetik und Kommunikation. Jg. 18 (1987). H. 67/68, S. 47ff. 16 Vgl. Eva Sturm: Phänomen „Musealisierung“. Motive, Formen, Wirkungen. Diplomarbeit, Hochschule für angewandte Kunst. Wien 1989, Gottfried Korff: Aporien der Musealisierung. Notizen zu einem Trend, der die Institution, nach der er benannt ist, hinter sich gelassen hat. In: Zacharias (wie Anm. 12), S. 57-71. 17 Lübbe (wie Anm. 14), S. 18. 18 Vgl. Niklas Luhmann: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst. In: Delfin III/1984, S. 51-69. 19 Vgl. Baudrillard (wie Anm. 1), S. 18.
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ter oder dynamisiert „den statischen Begriff Museum […] in etwas Prozesshaftes“20. Musealisierungsprozesse können innerhalb und außerhalb des Museumsgebäudes vollzogen werden, denn die Musealisierung ist nicht mehr an die Institution gebunden, sondern hat sich auf alle Lebensbereiche ausgeweitet.21 Dabei wird Kulturgut musealisiert, sobald „die Phase seiner originalen, nicht-imitativen Reproduktion beendet ist, wenn es aus eben diesem Grund unersetzbar und daher konservierungsbedürftig wird“22. Die dadurch eintretende „Defunktionalisierung des Kulturguts“ ist generell die Folge kultureller Evolution. Von den für die Musealisierung charakteristischen Bewahrungsmaßnahmen sind neben den Relikten der Hochkultur auch diese der Alltagskultur und die Natur betroffen. Die Musealisierung wirkt dabei auf die „Umgangsform von Subjekten mit Objekten“23. Eva Sturm fasst die Folgen der Musealisierung in drei Punkten zusammen:
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eine Kontextveränderung/Ent-Kontextualisierung, meist durch Entfunktionalisierung und/oder einen Deklarationsakt, die Einfügung eines Objektes in einen neuen Kontext, Entzeitlichung, eventuell auch Enträumlichung, und ein neues Verhältnis des Subjekts zum Objekt: Man nimmt gegenüber dem Objekt von nun an die „Gebärde der Besichtigung“24 ein.
Weiterhin wirkt die Musealisierung in einer Dichotomie aus Realitätsbildung und Realitätsverlust. Durch die authentische Zeugenschaft der Museumsobjekte bietet die Musealisierung einerseits die Möglichkeit einer „(kulturellen) RealitätsAneignung und -sicherung“25 und wirkt andererseits aufgrund der Isolation der musealen Objekte aus ihrem ursprünglichen Kontext „entrealisierend und realitätsverändernd“26. Stransky konstatiert, dass es ein uraltes menschliches Bedürfnis ist, Werte, die kulturelle Identität repräsentieren oder Spuren solcher Identität tragen, zu bewahren. Daraus folge, dass die Musealisierung der kulturellen Realitätsbildung dient.27 Baudrillard bewertet die Museifizierung als der „Agonie des Realen“ entgegenwirkend28 und betont dadurch die bedeutende Rolle des Phänomens Musealisierung für die Produktion von Wirklichkeit. Die Musealisierung ist also zwischen Identitätsstiftung und Realitätsproduktion zu verorten. 20 Wolfgang Zacharias (Hg.): Musealisierung. Gespräche zum „Phänomen Musealisierung“. München 1986, S. 54. 21 Vgl. Lübbe (wie Anm. 14), S. 3-6. 22 Ebd., S. 13/14. 23 Sturm (wie Anm. 12), S. 99. 24 Rumpf, Horst: Die Gebärde der Besichtigung. In: Die Brücke. Kärntner Kulturzeitschrift. Sonderbeilage. 14. Jg., Klagenfurt 4/1988. 25 Sturm (wie Anm. 12), S. 100. 26 Ebd. 27 Vgl. Stransky: Toespraak. Museality as a key-concept in museology. Vlugschrift bijlage. Dez 86. Hochschule für Museologie. Leiden 1986 (unveröff. Manuskript). 28 Vgl. Baudrillard (wie Anm. 1).
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Schließlich können die bei Baudrillard heraus gearbeiteten Künstlichkeitsstufen auch als unterschiedliche Musealisierungsmechanismen verstanden werden. Bei Baudrillard werden die Subjekte im Verhältnis zu den musealisierten Objekten durch Wissenschaft bzw. Zivilisation verkörpert. Eva Sturm hat die fünf Stufen der „Spirale der Künstlichkeit“29 wie folgt herausgestellt.30
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Stufe 1: das bloße Stilllegen und ‚Belassen‘ eines Ortes: Die Wissenschaft legt einen „Keuschheitsgürtel“ um ihr Objekt. Stufe 2: die Verdoppelung des Originals: Die Wissenschaft kreiert ihr Objekt in der Verdoppelung ein zweites Mal. Stufe 3: die Exhumation: Die Wissenschaft beschließt die „jungfräuliche Wiederauferstehung“ ihres Objektes, indem sie es ausgräbt und durch Konservierung/Restaurierung ‚neu’ macht. Stufe 4: die Repatriierung: Die Wissenschaft veranlasst die Rückeinführung ihres musealisierten Objektes in seinen Ursprungskontext, d. h. sie macht den Musealisierungsakt rückgängig. Stufe 5: Hyperrealität: Die Wissenschaft bzw. die Zivilisation schafft sich ihre Objekte neu – nach dem Vorbild Realität.
Im vorliegenden Zusammenhang sollen vor allem die Machtstrukturen, die für die Initiativen von Bedeutung sind, aufgedeckt werden: Wer stellt also mittels der Projekte in den Abruzzen was über wen oder was dar? Schließlich muss berücksichtigt werden, dass die Musealisierung „eine menschliche und interessengeleitete Aktivität“31 ist, durch welche die Geschichte „dinglich inszeniert wird“32. Baudrillards Kategorien der Künstlichkeit werden als Indikatoren für bestimmte Musealisierungsprozesse bei der Analyse der Projekte herangezogen.
Oltre i musei in difesa dell’arte, Bolognano Der ca. 300 Einwohner zählende Ort Bolognano in der Provinz Pescara hat seine Ursprünge im Mittelalter – die älteste Erwähnung stammt aus dem Jahr 872.33 Die landschaftlichen Charakteristika werden durch die Lage am Fuße des Majellagebirges und oberhalb des Valle dell’Orta bestimmt. Das Ortatal, eine Fels-
29 Ebd., S. 30. 30 Vgl. Sturm (wie Anm. 12), S. 103. 31 Wolfgang Zacharias: Zur Einführung. Zeitphänomen Musealisierung. In: Zacharias (wie Anm. 12), S. 24. 32 Ebd., S. 16. 33 Nach Angabe der Baronessa Lucrezia De Domizio Durini. Im Internet wird die Zahl 1266 für die gesamte Kommune angegeben, zu der auch die Fraktionen Musellaro, Piano d’Orta, Fara und Santa Maria del Monte gehören. Quellen: www.abruzzenonline.de/gemeinden/Bolognano-110.html; www.abruzzocitta.it/comuni/bolognano. html.
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schlucht, durch welche der gleichnamige Fluss fließt, ist seit 1989 ein Naturreservat, welches an den Majella Nationalpark angegliedert ist. Seit 2001 werden in Bolognano auf Initiative der Baronessa Lucrezia De Domizio Durini im historischen Zentrum des Dorfes dauerhaft zeitgenössische Kunstwerke präsentiert.34 Einige Arbeiten befinden sich in Vitrinen, die in die alten Häuser eingefügt sind und nachts automatisch mit der Aktivierung der Straßenbeleuchtung illuminiert werden. Andere Arbeiten sind an die Außenwände von Häusern montiert oder betreffen sogar ein ganzes Haus, wie im Fall des Casacielo. Beschriftungstafeln geben Auskunft über den Namen des Künstlers, den Titel sowie das Entstehungsjahr der Arbeit und verweisen außerdem auf die Baronessa. Auch der Piazza Beuys, der 1999 hinter dem Palazzo Durini angelegt wurde, und die Strada Harald Szeemann, die nach dem Tod des Ausstellungsmachers im Jahr 2005 nach diesem benannt wurde, sowie das Casa di Lucrezia machen einen Teil des Projekts aus. Das Casa di Lucrezia beherbergt auf einer Fläche von ca. 1200 qm auf fünf Ebenen eine Sammlung von Kunstwerken, die in den meisten Fällen in Verbindung zum Schaffen von Joseph Beuys stehen. Mit der Präsentation von Kunstwerken im historischen Stadtkern von Bolognano wird der Ort gleichsam zu einem Kunstmuseum unter freiem Himmel verwandelt. Die Präsentation ist aufgrund der Besonderheit des Ortes unkonventionell und lässt sich irgendwo zwischen Kunst im öffentlichen Raum und Landart ansiedeln. Des Weiteren initiierte die Baronessa ab 2005 das Projekt Il Luogo della Natura. Servizi e Magazzini della Piantagione Paradise. Auf dem Gelände, das Joseph Beuys vom Baron, dem verstorbenen Ehemann der Baronessa, als Werkstatt zur Verfügung gestellt worden war, ließ sie 2005 eine Stahlbetonarchitektur errichten. Diese ist in den Abhang des Geländes eingelassen und somit in die umgebende Landschaft integriert. An dem Ort, an welchem Joseph Beuys die letzten 15 Jahre seines Lebens verbrachte und sein Projekt La Difesa della Natura35 realisierte, werden heute unterschiedliche kulturelle Veranstaltungen theoretischer und praktischer Art durchgeführt. Alle Initiativen der Baronessa stehen in Zusammenhang mit der Figur von Beuys, dessen Philosophie sie zu rekonstruieren und damit zu vergegenwärtigen beabsichtigt. Mit jedem abgehaltenen Forum werden neue Kunstwerke in das Stadtzentrum eingefügt.36 So findet eine ständige
34 Für weitere, detailliertere Informationen zu den Künstlern und ihren Werken siehe www.enel.it/ext/dharmaofenel/main.html und vgl. Risk. arte oggi. Periodico di Intercomunicazione culturale. Jahrgang 15. Dez. 2005, S. 90f. 35 La Difesa della Natura involvierte, dem Begriff der sozialen Plastik folgend, die Bewohner des Dorfes Bolognano in ein Bepflanzungsprojekt. Zwei Jahre nach dem Beginn mit 7000 Eichen im Rahmen der documenta VII in Kassel pflanzte Beuys in Bolognano eine Eiche, die zum Ausgangspunkt des Projekts wurde. In die Piantagione Paradise pflanzten im Folgenden freiwillige Helfer 7000 verschiedene, von Beuys bestimmte Baum- und Straucharten. 36 Siehe http://www.enel.it/ext/dharmaofenel/main.html.
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Erweiterung der Sammlung und folglich auch eine strukturelle Wandlung des Dorfes Bolognano statt. Das Projekt Oltre i Musei in Difesa dell’Arte wird ausschließlich mit privaten Mitteln durchgeführt. Die künstlerisch umgestalteten Häuser sind Privatbesitz der Baronessa Durini. Alle Kunstwerke des Projektes sind kostenlos und ohne zeitliche Einschränkung zugänglich. Für einige Besichtigungen ist eine Anmeldung erforderlich.
Albergo diffuso, Santo Stefano di Sessanio Santo Stefano di Sessanio ist ein Dorf, das sich auf einer mittelalterlichen Befestigung gründete, die auf einer voraus gegangenen italisch-romanischen Siedlung angelegt worden war. Es befindet sich im südlichen Zentralapennin auf einer Höhe von über 1250 m, innerhalb des Nationalparks Gran Sasso-Monti della Laga. Die aktuelle urbane Struktur des Dorfes geht auf das Hochmittelalter zurück. Innerhalb des Dorfes sind spätmittelalterliche und typische Renaissancearchitekturelemente zu erkennen, die sich überlagern. Auch der umliegenden Landschaft ist eine jahrhundertealte Geschichte eingeschrieben, welche unter anderem in der Form von offenen Feldern, Wegverläufen und Weideflächen sichtbar wird. Die abgeschiedene Lage des Dorfes im Gebirge und der Verlust seiner wirtschaftlichen Bedeutung für die Textilproduktion (Wolle) unter der Industrialisierung führten in Santo Stefano di Sessanio zu einer weit gehenden Entvölkerung des Dorfes. Zur Zeit leben nur noch etwa 100 Menschen im Bergdorf. Die Isolation des Territoriums bewirkte gleichzeitig die Erhaltung einer traditionellen Lebensform, die an eine altertümliche materielle und kulinarische Kultur geknüpft ist und im landschaftlichen, historischen und architektonischen Erbe zum Ausdruck kommt. Das Projekt Albergo Diffuso37 hat sich Eingriffe in die urbane Struktur Santo Stefano di Sessanios zur Aufgabe gemacht, die dessen Erhaltung garantieren sollen. Die eigens für das Projekt gegründete Gesellschaft Sextantio s.r.l. hat Gebäude mit einer Gesamtfläche von 3500 qm im historischen Zentrum des Dorfes angekauft. Das Ziel ist die Realisierung eines über den Dorfkern verstreuten Hotels (ital. albergo diffuso), das über Unterkünfte hinaus auch ein Restaurant mit regionalen Spezialitäten, traditionelle Handwerkstätten und Verkaufsläden für kulinarische Spezialitäten umfasst. Außerdem bietet das Projekt über die touristischen Serviceleistungen hinaus einen Konferenzsaal und mehrere Versammlungsräume an. Die konzeptuelle Grundlage für die Albergo diffuso liefert die gleichnamige Idee von Prof. Giancarlo Dall’Ara, die er in den 1980er Jahren des vergangenen Jahrhunderts für einen tragfähigen Tourismus in Unterzentren ent37 Vgl. Sextantio (Hg.): Santo Stefano di Sessanio e l’Albergo diffuso. Sambuceto 2005. Die Broschüre ist in italienischer und englischer Sprache erhältlich und kann im Internet als pdf-Datei bezogen werden. Siehe www.sextantio.it.
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wickelte, und die bereits in zahlreichen kleinen Zentren, geprägt von den Relikten einer vergangenen Alltagskultur, Anwendung gefunden hat.38 Die Wiederherstellung von historischen Dorfstrukturen wird mit größtmöglicher Sorgfalt mit Hilfe von Archäologen, Historikern und Architekten durchgeführt. Um eine architektonische Einheit zu schaffen, werden die unterschiedlichen historischen Schichten einer Struktur nivelliert. Folglich entsteht die Rekonstruktion eines bestimmten historischen Zustands des Gebäudes, die dessen evolutive Geschichte verbirgt. In dieses rekonstruierte Ambiente werden technische Elemente des modernen Lebens integriert, deren Präsenz aber verborgen bleibt. Die Räume der Albergo Diffuso sind mit einer Fußbodenheizung und elektrischem Licht sowie mit multimedialen Funktionen wie Intranet, Internet und Satellitenfernseher ausgestattet, welche sich allesamt über eine Fernbedienung steuern lassen. Auch die Ausstattung des Hygienebereichs mit Modellen des Designers Phillippe Starck ist auf die Ansprüche der internationalen Gäste abgestimmt. Die ursprüngliche Raumaufteilung, bei der die Nassbereiche nur durch eine Stellwand vom restlichen Wohnbereich abgetrennt sind und Gemeinschaftsräume mit Kamin das traditionelle Zentrum des Hauses bilden, wurde beibehalten. Im Ort wird darüber hinaus ein Programm mit Veranstaltungen in den Bereichen zeitgenössische Kunst und Kultur durchgeführt. Die kulturellen Events sind kostenlos zugänglich, wobei gelegentlich zu Spenden für Non-profit-Organisationen aufgerufen wird. Das Projekt geht auf eine Privatperson zurück, Daniele Kihlgren, über die es finanziell abgesichert ist. Für die Umsetzung konsultierte Kihlgren ein Team von Experten, wie den Architekten Lelio Oranio di Zio und auch die in Pescara ansässige Universität D’Annunzio und das Museo delle Genti d’Abruzzo. Die Verwaltung der Albergo diffuso geschieht über die Sextantio s.r.l. Um bei der Durchführung des Projekts eine tragbare Entwicklung des Ortes Santo Stefano di Sessanio zu berücksichtigen, wurde von der Sextantio s.r.l., der Kommune und dem Nationalpark gemeinsam eine „Carta dei Valori“ unterzeichnet. Durch diese werden einige Regeln für die Eingriffe in die Strukturen des historischen Stadtkerns festgelegt und vor allem wird die Errichtung jeglicher Neubauten im umliegenden Gebiet verhindert.
Museo sulla Storia e Trasformazione del Paesaggio Das Museo del Paesaggio wird im abruzzesischen Gebiet des Sangro-Aventino verwirklicht, in welchem es auf die kulturellen Spuren der Vergangenheit hinweist. Die 16 beteiligten Kommunen sind an die Comunità Montana Medio
38 Siehe www.albergodiffuso.com zur ausführlichen Beschreibung des Konzepts von Prof. Dell’Aras.
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Sangro di Quadri angegliedert.39 Das Projekt versteht sich selbst als so genanntes „Museumslaboratorium“ (ital. museo-laboratorio). Der Begriff umfasst die musealen Aufgaben des Sammelns, Bewahrens und Vermittelns der kulturellen Überreste, welche in unterschiedlicher Form, von baulichen Fragmenten über landwirtschaftliche Kultivierungsformen bis hin zu biologischen Aspekten in das Territorium integriert sind. Die Kulturrelikte gehen dabei auf ehemalige Hochkulturen wie die Italiker, die Römer und die Benediktinermönche sowie auf die Alltagskultur der Bauern und Hirten zurück. Die Landschaft wurde in einer voraus gehenden Recherche auf die zahlreichen Aspekte der lokalen Kultur hin untersucht, wodurch schließlich „kulturelle Produkte“ erarbeitet wurden, die für eine touristische Zielgruppe bereit gestellt werden sollen. Die Gründer des Museo del Paesaggio sind Aurelio Manzi und sein Bruder Giuseppe, ein Architekt und Kenner der Lokalgeschichte. Die Idee zum Projekt entstand während der Durchführung der Initiative Miniguides, bei der Schüler der 5. bis 10. Klasse in den regionalen Museen und Kulturstätten Führungen für Erwachsene abhielten. Das Museo del Paesaggio soll nun auf die Spuren der Geschichte in der Landschaft aufmerksam machen. Durch ihr Projekt wollen die Gebrüder Manzi sowohl die lokale Bevölkerung als auch Touristen für die im Territorium vorhandenen Kulturgüter sensibilisieren. Das Prinzip der Museumsidee basiert auf drei Hauptkomponenten: einer Ausstellung, den Lehrpfaden und dem Katalog. Die Ausstellung wird auf der Erdgeschossebene des als museale Ergänzung zum Archäologischen Park Juvanum vorgesehenen Museumsgebäudes präsentiert. Sie basiert auf Texttafeln, Fotos und Grafiken, welche die unterschiedlichen Themenbereiche der kulturellen Überreste vorstellen, und Objekten, die in Zusammenhang mit der Lokalgeschichte stehen. Die Hauptaufgabe des Ausstellungszentrums ist allerdings die eines Informations- und Koordinationsbüros für Besucher. Von der Beschäftigung mit den Themen der Ausstellung ausgehend, sollen die Besucher dazu angeregt werden, ihr Studium mit Hilfe von Lehrpfaden zu intensivieren. Diese führen durch das Gebiet des Sangro-Aventino und sind mit Wegweisern und Schrifttafeln ausgestattet. Jeder Lehrpfad ist einem speziellen Thema gewidmet, soll aber gleichzeitig drei Interessensbereiche abdecken: die Erläuterung der materiellen Überreste, die Physiognomie der Landschaft und die biologischen Aspekte. Außerdem werden die Pfade teilweise durch Ausstellungen thematisch ergänzt, wie im Fall des Gipsmuseums in Gessopalena, das einen Teil des Lehrpfads 13 darstellt. Das Museum ist der lokalen Gipsgewinnung, dem der kleine
39 Roio del Sangro, Rosello, Borello, Civitaluparella, Fallo, Quadri, Gamberale, Pizzoferrato, Montenerodomo, Pennadomo, Lettopalena, Taranta Peligna, Toricella Peligna, Gessopalena, Casoli, Altino. Vgl. Aurelio und Giuseppe Manzi: Un territorio che diventa museo – Storia della trasformazione del paesaggio nell’area tra la Maiella ed il Sangro. Lanciano 2002, S. 3.
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Ort seinen Namen verdankt, gewidmet. Der Katalog stellt das Projekt schließlich vor und fasst die behandelten Themenbereiche zusammen. Außerdem werden im Katalog die Lehrpfade beschrieben und mit Karten in der Landschaft verortet. Die Verwaltung des Museo del Paesaggio wird von der Gesellschaft Samnium srl. mit Sitz in Casoli geleitet.40 Die Pflege der Pfade – elf der geplanten 32 wurden bereits realisiert – wird privaten Unternehmern, wie beispielsweise Besitzern der lokalen Agriturismi anvertraut, die auf das vom Laboratorium erarbeitete Material zurück greifen sollen.41 Die Finanzierung erfolgt über die jeweiligen Kommunen. Außerdem wird das Projekt durch die Programme der Europäischen Union, Programma d’iniziativa Comunitaria Leader II und Patto Territoriale Sangro Aventino, finanziell unterstützt.
Das Naturschutzgebiet Weißtannenwald Rosello Der Weißtannenwald Rosello ist einer der wenigen verbliebenen antiken Wälder in den Abruzzen, die zum größten Teil aus wirtschaftlichen Gründen ausgebeutet und zerstört wurden. 1992 ist das Waldgebiet zu einer WWF-Oase erklärt worden.42 Der WWF Italia kümmert sich um die technisch-wissenschaftliche Verwaltung des unter Schutz gestellten Gebietes. 1997 ist Rosello mit dem Legge Regionale n° 109/97 (Regionalgesetz) außerdem zu einem Regionalen Naturschutzgebiet geworden. Für die Verwaltung des Naturschutzgebietes ist die Kommune Rosello verantwortlich, welche die Verwaltungsaufgaben des Weiteren an die Gesellschaft SILVA übertragen hat. Der Wald ist ca. 170 Hektar groß und im mittleren Sangro-Tal an der Grenze zur Region Molise auf einer mittleren Höhe von etwa 1000 m gelegen. Das Waldgebiet wird vom Turcano, einem Zufluss des Sangro, durchzogen. Die Besonderheit des Waldes ist das Vorkommen der Weißtanne, die nur in wenigen Gebieten des Zentralapennins vorzufinden ist. Zusätzlich zur Weißtanne kommen auch Buchenarten vor. Das gesamte Gebiet weist eine hohe Biodiversität mit zahlreichen unterschiedlichen Arten in Flora und Fauna auf. Der Wald ist mit einem Wanderpfad ausgestattet, der zu Fuß, zu Pferd und im Winter auf Skiern erkundet werden kann. Auf einer etwa drei Hektar großen Fläche werden Tiere aus dem Waldgebiet gehalten. Durch die Haltung von Rehen soll deren kleine Population bewahrt werden. Darüber hinaus dient dieser Bereich des Naturschutzgebietes nicht nur der Erhaltung von Tierarten, sondern auch didaktischen Zwecken. Im pädagogischen Zentrum sollen die Besucher über die im Naturschutzgebiet vorkommenden Tierarten informiert werden. Au-
40 Vgl. www.samnium.it. Auf dieser Internetseite wird auch das Museo del Paesaggio vorgestellt. 41 Vgl. Manzi (wie Anm. 39), S. 7. 42 World Wide Fund For Nature ist eine der weltweit größten internationalen Naturschutzorganisationen. Vgl. www.wwf.de.
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ßerdem sind im Wald zwei Picknickbereiche vorhanden, die ihn für Ausflüge attraktiv machen. Das Naturschutzgebiet verfügt ferner über ein Besucherzentrum und eine Waldherberge. Das Besucherzentrum befindet sich im Dorf Rosello und ist jeden Tag geöffnet. Es umfasst das Sekretariat, das Aufsichtsbüro und das Direktionsbüro. Von hier aus werden Informationen über das Gebiet erteilt und Besuche organisiert. Außerdem sind zahlreiche Informationsmaterialien über das Naturschutzgebiet erhältlich. Im Besucherzentrum sind ein Projektionssaal, ein kleines naturhistorisches Museum, eine Bibliothek und das Forschungszentrum CISDAM43 untergebracht. Im Forschungszentrum werden interdisziplinäre Studien und Recherchen in Bezug auf die unterschiedlichen Tannenarten im Mittelmeerraum durchgeführt. Das Naturschutzgebiet und seine Einrichtungen sind das ganze Jahr über geöffnet.
Das Naturschutzgebiet Lago di Serranella Der Lago di Serranella ist ein künstlich angelegter Stausee, der 1981 von der Genossenschaft Bonifica Frentana am Fluss Sangro, in der Nähe seines Zusammenflusses mit dem Aventino, geschaffen wurde. Der See wurde als Bewässerungsvorrat für die Landwirtschaft und die Industrie genutzt. Schon Ende der 1970er Jahre erkannten einige junge Ornithologen, die gleichzeitig Aktivisten des WWF waren, den Reichtum an unterschiedlichen Lebensformen in der Region um den heutigen Serranella-See. Trotz seines künstlichen Ursprungs entwickelte sich nach 1981 schnell ein Feuchtgebiet, das sich nun durch seinen Artenreichtum auszeichnet und außerdem zur Ruhestätte für Zugvögel auf der Route entlang der Adriaküste geworden ist. Aufgrund der Bedeutung dieser in der Region einzigartigen Naturlandschaft wurde das Gebiet 1987 in Zusammenarbeit mit der Provinz Chieti und mit Unterstützung der Gesellschaft Bonifica zur WWF-Oase erklärt. Wegen der Notwendigkeit weiterer gesetzlicher Bindungen zum Schutz des Gebietes wurde es 1990 mit dem Legge Regionale n° 68 zu einer Riserva Naturale Regionale gemacht. Dadurch unterliegt das Gebiet nun zusätzlichen Kontrollen von Seiten der Region Abruzzen. Durch diese Entwicklung ist es in den letzten Jahren gelungen, die technisch-wissenschaftliche Koordination sowie die Überwachung des Naturreservats zu verbessern, die umwelterzieherischen Programme zu vermehren und weitere konservatorische und wissenschaftliche Aktivitäten zu initiieren. Die Kommune hat die Verwaltung des Naturschutzgebietes an die eigens zu diesem Zwecke gegründete Gesellschaft Sagrus delegiert. Heute hat das Territorium ein Ausmaß von etwa 300 ha plus einen umliegenden Streifen an Landschaftsschutzgebieten von etwa 200 ha. Das Naturschutzgebiet ist mit Natur- und Exkursionspfaden, Unter- und Hochständen zur Beobachtung von 43 Centro Italiano di Studi e Documentazione sugli Abeti Mediterranei.
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Tieren, Picknick-Bereichen, einem Besucherzentrum, verschiedenen Tierzuchtstationen und einem Umwelterziehungslaboratorium ausgestattet. Ein botanischer Garten und ein naturkundliches Museum befinden sich noch in der Phase des Aufbaus. Die Natur- und Exkursionspfade sind mit zahlreichen Beschilderungen versehen, die Informationen über die unterschiedlichen Naturvorkommen geben. Die Tierzuchtstationen, die konservatorischen und didaktischen Zwecken dienen, beherbergen Land- und Wasserschildkröten sowie mediterrane Entenarten. Im Besucherzentrum, das täglich geöffnet ist, befinden sich unter anderem ein Sekretariat, welches Auskunft über das Gebiet erteilt und die Besuche organisiert, sowie das Direktionsbüro. Das Reservat ist vom 1. September bis zum 15. Juni geöffnet und für Besucher frei zugänglich. Gruppenbesuche müssen angemeldet und von einer Führungskraft begleitet werden. Trotz der starken Differenzen in Bezug auf die Initiatoren, deren Intention und die Art des Eingriffs liegt allen Projekten die Absicht zugrunde, das kulturelle Erbe der Region zu erschließen und zu bewahren. Der als kulturelles Erbe identifizierte Gegenstand variiert dabei. So reicht er vom Schaffen eines Künstlers mit lokalem Bezug über ein verlassenes Bergdorf bis hin zu historischen Relikten der konstruierten und der gewachsenen Gestalt der Landschaft. Die Spuren der historischen Entwicklung der Region haben sich in die Landschaft gleich einem Speicher eingeschrieben. Das Kulturvorkommen der Abruzzen geht dabei auf vergangene Hochkulturen sowie auf die Alltagskultur der Bauern und Hirten zurück. Die Entwicklung eines Bewusstseins für den Natur- und Umweltschutz sowie das verstärkte Verlangen nach Identifikation in einer globalisierten Welt haben zur Sensibilisierung für die alltägliche Kultur geführt, besonders in industriell unterentwickelten Regionen wie den Abruzzen. Das Bestreben, diese Spuren zu ermitteln und zu bewahren, bewirkt die Beschäftigung mit der Landschaft in all ihren Facetten, von der konstruierten (Siedlung) über die genutzte (Kulturlandschaft) bis hin zur gewachsenen (Naturlandschaft) Landschaft. Diese unterschiedlichen Landschaftsformen überlagern und vermischen sich. Bei allen Projekten werden Teile der Landschaft oder sogar ganze Landschaftsgebiete ihrer ursprünglichen Funktion enthoben und einer neuen zugeordnet. Deshalb ist es möglich, von der Musealisierung der Landschaft zu sprechen, die gleichzeitig neue Subjekt-Objekt-Beziehungen generiert. Vom Zeitpunkt der Erschließung an wird vor dem als kulturelles Gut identifizierten Gegenstand die „Gebärde der Besichtigung“ eingenommen. Betrachtet man die Kulturprojekte unter Berücksichtigung von Baudrillards Künstlichkeitsstufen, können bei den vorgestellten Projekten folgende Musealisierungsphänomene festgestellt werden: Die Baronessa vollzieht eine Doppelung oder präziser eine Weiterführung der Philosophie von Joseph Beuys, bei der sie nach dem Prinzip der sozialen Plastik als Multiplikator seines Gedankenguts auftritt. Das zu bewahrende Kulturgut liegt in diesem Fall also in immaterieller Form vor. Das Bergdorf Santo Stefano di Sessanio wird nach dem Prinzip „Vorwärts-Zurück“ an eine vergan-
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gene Lebenswelt angeglichen. In diesem Fall liegt eine Mischform der Phänomene Exhumation und Repatriierung vor. Wird einerseits ein historischer Zustand rekonstruiert, so werden in diesen Kontext andererseits mit der Hilfe von Museen bereits musealisierte Objekte in ihren Ursprungskontext rückgeführt. Im Gebiet des Sangro-Aventino wird in einem Akt der Exhumation durch das Museo del Paesaggio ein neues Bewusstsein für die vorliegenden kulturellen Relikte geschaffen. Abgesehen von Objekten mit musealem Charakter werden auch zuvor nicht als schützenswert anerkannte Vorkommen mit kulturellem Wert aufgeladen. Wie im Fall der Naturschutzgebiete bezweckt das Umlegen eines „Keuschheitsgürtels“ um zu bewahrende Naturvorkommen eine kontrollierte Entwicklung der biologischen Sukzession. Die gezielten Eingriffe in die Landschaft der Abruzzen regulieren demzufolge in allen Fällen ihre dynamische Entwicklung. Die Musealisierung der Landschaft in den Abruzzen stellt eine innovative Form der historischen Aufarbeitung dar und bietet demzufolge neue Chancen für die Bildung und Ausbildung von Kindern und Erwachsenen. Die Wissensvermittlung findet außerhalb von Schule und Museum in der Landschaft statt, die das Produkt der Geschichte und der Kultur ist, die sie bezeugt. Dadurch ist ein anschauliches und handlungsorientiertes Lernen möglich, bei welchem das Entdecken und Erkunden, und damit also das selbsttätige Lernen im Vordergrund stehen. Wenige Texte unterstützen dabei den eigenen Zugang zum Wissen und stellen sich nicht zwischen den Lernenden und das Objekt, wie es im traditionellen Museum oft der Fall ist. Die Landschaft regt hingegen förmlich zu Fragen nach deren Geschichte an, die durch die museale Aufbereitung behandelt werden. Gerade bei der Wissensvermittlung muss die bewusste dingliche Inszenierung der Geschichte berücksichtigt werden, deren Reflektion integraler Bestandteil dieser Form des Lernens sein sollte. Der durch die Musealisierung eingeleitete Strukturwandel der süditalienischen Abruzzen schafft das Bild einer Region, die sich durch eine Kombination aus kulturellen und naturalistischen Faktoren auszeichnet. Mit dieser Verknüpfung wird für die zuvor touristisch und wirtschaftlich unbedeutende Region ein Alleinstellungsmerkmal erarbeitet, das die Abruzzen sowohl für Touristen als auch für private Investoren sowie für die eigene Bevölkerung aufwerten soll. Die damit eintretende wirtschaftliche Entwicklung steigert die Lebensqualität in den Abruzzen, sowohl für seine Bewohner als auch für seine Besucher. Die Musealisierung der Landschaft demonstriert erneut das Wirken des Menschen in ihr und muss vor allem als aktuelle Auseinandersetzung mit ihr verstanden werden. Schließlich reagieren die Initiativen in den Abruzzen auf Ansprüche, die eine Landschaftsentwicklung unter Berücksichtigung von sozialen, ökologischen und ökonomischen Faktoren fordern. Dadurch soll eine nachhaltige und tragfähige Entwicklung der Region erreicht werden, die auch in Zukunft das Nebeneinander von zahlreichen, unterschiedlichen kulturellen und biologischen Faktoren gewährleistet und dementsprechend einen idealen Lebensraum für den Menschen bieten kann.
Die Fre ilic htbühne „ Ste dingse hre“ Book holz berg im Kontext vergleichbarer NS-Kultstätten. Ein Konze pt für ein zukünftiges Dokumentationszentrum HEIKE HUMMERICH Die Tatsache, dass die Zahl der lebenden Zeitzeugen der Machtergreifung der Nationalsozialisten sowie des Zweiten Weltkriegs immer geringer wird, führt neben weiteren Faktoren zu einem Umdenken im Umgang mit den noch vorhandenen Spuren einer Zeit, die ohne die Erzählungen und Erfahrungen solcher Zeitzeugen weitaus schwieriger nachvollziehbar für die nachgeborenen Generationen wird. Das „autobiografische Wissen“ der Kriegsgeneration wird dadurch zunehmend „durch erlerntes Wissen und retrospektive Erinnerung“ verdrängt.1 Immer stärker beeinflusst dabei die mediale Aufbereitung der Vergangenheit in TVDokumentationen oder Spielfilmen die gesellschaftliche Erinnerung an die Zeit des Dritten Reichs. Die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und die öffentliche Erinnerung an die Schreckensherrschaft und ihre unerklärlichen Verbrechen haben im geteilten Deutschland in den letzten 60 Jahren einen steten Wandel durchlaufen. Dieser Wandel hat natürlich auch die Formen sowie die Institutionen des öffentlichen Gedenkens beeinflusst. Die Vereinnahmung und Umdeutung historischer Inhalte und Stoffe im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie ist im Dritten Reich ein gängiges Vorgehen zur Beeinflussung und Mobilisierung der Bevölkerung gewesen. Vielerorts entstanden regional oder auch überregional bedeutsame Kultstätten, die vorgeblich dem Gedenken und der Heroisierung „tapferer deutscher Helden“ gewidmet waren. Dahinter standen jedoch stets programmatische Absichten. Das völkischnationale Geschichtsbild mit seiner eigenen Deutung des Mittelalters schuf dazu geschichtliche Bezüge oder Bezugspersonen wie den Sachsenherzog Widukind oder die Stedinger Bauern. Verbunden mit jenem Andenken und der Würdigung 1
Aleida Assmann: Gedächtnis der Orte – Authentizität und Gedenken. In: dies. (Hg.): Firma Topf & Söhne – Hersteller der Öfen für Auschwitz. Ein Fabrikgelände als Erinnerungsort. Frankfurt/M. 2002, S. 197-212, hier S. 210.
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der Stedinger und ihres Freiheitskampfes in der Schlacht von Altenesch (1234) entstand ab 1934 eine NS-Kultstätte im Oldenburger Raum: Stedingsehre. Heute liegt die eigens errichtete Freilichtbühne verborgen auf dem Gelände des Berufsförderungswerks Weser-Ems (BFW) im Ortsteil Bookholzberg der Gemeinde Ganderkesee. Die vordergründige Beschaulichkeit der kleinen Theatersiedlung mit reetgedeckten Fachwerkhäusern wirkt auch gegenwärtig auf den Besucher des Ortes, ohne unmittelbar zu offenbaren, was in der Zeit der NSHerrschaft hinter diesem Ort, den Gründen und Plänen zum Bau dieser Anlage stand. Was heute keiner erwarten mag: Hier fanden in den Jahren 1935 und 1937 auf der Spielbühne mit dem Kulissendorf aus festen Bauten nationalsozialistische Theateraufführungen vor insgesamt mehr als 250.000 Besuchern statt. Gezeigt wurde das Volksschauspiel De Stedinge des Oldenburger Heimatautors August Hinrichs. Mit der gezielten Stilisierung der Stedinger Bauern zu patriotischen Freiheitskämpfern mit Vorbildfunktion für das deutsche Volk vereinnahmten die Nationalsozialisten ein über Jahrhunderte überliefertes historisches Ereignis für ihre ideologisch-propagandistischen Zwecke. Das Stück entstand in Vorbereitung der großen 700-Jahr–Feier im Jahr 1934 zum Gedenken an die Schlacht von Altenesch im Stedinger Land. Im Jahr 1234 hatten die Stedinger Bauern sich gegen den Bremer Erzbischof aufgelehnt, aber im Freiheitskampf bei Altenesch gegen dessen Kreuzfahrerheer eine Niederlage erlitten. In der völkisch-nationalen Mittelalterdeutung stilisierte man die aufständischen Stedinger Bauern trotz ihrer Niederlage zum Symbol „für tapferes Kämpfertum, Freiheit und die Bereitschaft für seine Überzeugung und sein Volk zu sterben.“2 Der Mythos und Kult um die Stedinger war „ein tragendes Moment der regionalen nationalsozialistischen Propaganda und Kulturpolitik.“3 Die Tradition des Gedenkens an die Stedinger bestand jedoch lange vor der NS-Zeit. Die Nationalsozialisten griffen diesen Stoff lediglich auf, um ihn für ihre Zwecke und Propaganda zu instrumentalisieren. Diese „Ausnutzung lokaler Traditionen“4 gipfelte im Bau der den Stedingern gewidmeten NS-Kult- oder Gedächtnisstätte. In Nordwestdeutschland gab es im NS-Staat eine Reihe vergleichbarer Kultstätten mit regionaler und lokaler Bedeutung, dazu zählen unter anderem der 2
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Anabel Niermann: Niedersächsische Kultfiguren in der NS-Zeit: Widukind, die Stedinger, Till Eulenspiegel und Hermann Löns. In: Joachim Kuropka (Hg.): Woher kommt und was haben wir an Niedersachsen. Cloppenburg 1996, S. 121-161, hier S. 139. Joachim Tautz: „In der Gemeinschaft wollen wir in der schlichten, wahren, arteigenen Weise unserer Vorfahren leben…“. Zur Kulturpolitik der Stadt Oldenburg unter der nationalsozialistischen Herrschaft. In: Uwe Meiners (Hg.): Suche nach Geborgenheit. Heimatbewegung in Stadt und Land Oldenburg. Oldenburg 2002, S. 62-89, hier S. 79. Michael Brandt: Vorwort zu: Gerhard Kaldewei und Heinrich Kunst: „‚Stedingsehre‘ soll für ganz Deutschland ein Wallfahrtsort werden“. Dokumentation und Geschichte einer NS-Kultstätte auf dem Bookholzberg 1934-2005. Berlin 2006, S. 7.
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Sachsenhain bei Verden, der Landtagsplatz bei Hösseringen in der Lüneburger Heide oder das Grabmal Heinrichs des Löwen im Braunschweiger Dom. Der Göttinger Kunsthistoriker Karl Arndt gruppierte diese Stätten zu „Denkmälern, deren Entstehung auf geschichtsideologisch-propagandistische Initiativen“ zurückzuführen ist und bei denen es um den Versuch ging, ein angeblich originär nationalsozialistisches, tatsächlich in älteren historischen Akzentuierungen verwurzeltes Vergangenheitsbild in Kundgebungen, vor allem aber in Kundgebungsstätten wirksam in die Öffentlichkeit zu tragen.5 So lässt sich allgemein beobachten, dass „die weltanschauliche Verankerung des Nationalsozialismus im bäuerlich-ländlichen Milieu Niedersachsens besonders intensiv gelungen war“ und hier die „exponierten Schauplätze für die Blut-und-Boden-Inszenierungen des nationalsozialistischen Bauerndiskurses angesiedelt wurden“: die Reichsbauernstadt Goslar, die Erntedankfeste auf dem Bückeberg bei Hameln, und im Gau Weser-Ems die NS-Freilichtbühne Stedingsehre sowie eine dort geplante Gauschulungsburg.6 Die Nationalsozialisten prägten einen religionsartigen Kult, bei dem in öffentlich sanktionierten Festen und Feiern mit bekannten Liturgien und festgelegten Ritualen die Emotionen der Bevölkerung angesprochen wurden.7 Zwischen 1934 und 1937 spielten dabei die Zusammenkünfte bei feierlichen Kultur- oder Parteiveranstaltungen oder bei Thingspielen auf den zahlreichen Thingstätten im Reich eine besondere Rolle. Denn diese boten den Raum und die Voraussetzungen für Massenversammlungen auch im städtischen und regionalen Alltagsleben. Das Gemeinschaftsgefühl der gesamten deutschen Bevölkerung sollte geweckt werden und sich daraus die Volksgemeinschaft konstituieren. Seit einigen Jahren bestehen Überlegungen zu einem Dokumentationszentrum, das über die Geschichte und Bedeutung dieser NS-Kultstätte Stedingsehre aufklärt und den Blick gleichzeitig auf den Nationalsozialismus im Oldenburger Raum richtet. Das historische Vermächtnis, welches durch den Erhalt der Bühnenanlage besteht, schafft die Möglichkeit, ja die Notwendigkeit, hier über Stedingsehre, aber auch über weitere Themen der NS-Zeit zu informieren, mit besseren Voraussetzungen als andernorts. Die NS-Freilichtbühne Stedingsehre steht heute stellvertretend für einen Ort der Selbstinszenierung der Nationalsozialisten,
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Karl Arndt: Die Bautätigkeit während des Nationalsozialismus in Niedersachsen. In: Werner Durth und Werner Nerdinger (Hg.): Architektur und Städtebau der 30er und 40er Jahre. Bühl 1994, S. 90-97, hier S. 92. Detlef Schmiechen-Ackermann: Das Potential der Komparatistik für die NSRegionalforschung - Vorüberlegungen zu einer Typologie von NS-Gauen und ihren Gauleitern anhand von Fallbeispielen Süd-Hannover-Braunschweig, Osthannover und Weser-Ems. In: Jürgen John, Horst Möller und Thomas Schaarschmidt (Hg.): Die NS-Gaue. Regionale Mittelinstanzen im zentralistischen „Führerstaat“. München 2007, S. 234-253, hier S. 248f. Vgl. Klaus Vondung: Magie und Manipulation. Ideologischer Kult und politische Religion des Nationalsozialismus. Göttingen 1971, S. 8.
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an dem gezielte Massenbeeinflussung innerhalb der regionalen NS-Kulturpolitik stattgefunden hat. Was wir heute als „heimelige“ oder „idyllische“ kleine Fachwerksiedlung erleben, erfüllte im Dritten Reich programmatische Absichten. Die Verführungsgewalt, die von der Selbstinszenierung ausging, ist heute schwer nachvollziehbar und nur begrenzt in einer Dokumentation darstellbar. Aber wo lassen sich diese Phänomene für spätere Generationen überhaupt erklären, wenn nicht an denjenigen Orten, die davon eigens betroffen waren und im Dienst der politischen Ideologie standen wie eben Stedingsehre, die Ordensburg Vogelsang in der Eifel oder auch der Bückeberg bei Hameln? Generell ist und war diese Massenmobilisierung der Bevölkerung, stärker noch die dahinter verborgene Faszination und breite Zustimmung der Bevölkerung für das NS-Regime, für die Nachkriegsgenerationen nur bedingt begreifbar. Auch aus diesem Unbehagen und Unverständnis resultiert die gegenläufige Frage, ob man einer ehemaligen NS-Kultstätte heute ein Dokumentationszentrum sozusagen widmen sollte. Kritische Stimmen befürchten, dass die Faszination dieser Stätten und der Geschehnisse dort fortwirken könnte und so heute die Aufmerksamkeit von Rechtsextremen und Neonazis hervorrufen würde. Oder es steht die Frage im Raum, ob es angesicht der vielen Opfer, welche die NS-Verbrechen gefordert haben, nicht wichtiger sei, weitere Gedenkorte für die vielen Vertriebenen und Toten zu schaffen. Und es gibt tatsächlich die grundsätzliche Frage, ob an die NS-Vergangenheit überhaupt erinnert und über diese Zeit informiert werden muss. Dies sind Fragestellungen, die bereits bei der Einrichtung des inzwischen etablierten Dokumentationszentrums Reichsparteitagsgelände aufkamen und noch kontroverser für die Dokumentation Obersalzberg diskutiert wurden. Peter Steinbach sieht als Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin Chancen in einer Auseinandersetzung mit nationalsozialistischen Stätten, deren Vergangenheit für die Vereinnahmung und Mobilisierung der Deutschen steht: „Zeithistorische Ausstellungen können verdeutlichen, wie wenig dazugehört, Mitmenschen zu Gegenmenschen werden zu lassen. Insofern spiegeln sie die Geschichten von Opfern und Tätern. Diese Ambivalenz ist vielfach an die Geschichte von Orten gebunden.“8 Dabei kann wichtig sein, dass die geschichtlichen Orte durch Gebäude oder Objekte erhalten sind und das Geschehen dadurch greifbar wird. Diese seltene Voraussetzung erfüllt die einstige NS-Freilichtbühne auf dem Bookholzberg und ist somit besonders gut geeignet, die hier stattgefundene Vergangenheit in einer dauerhaften Dokumentation gegenwärtig zu halten. Diese muss nicht nur als Ausstellungsort verstanden werden, sondern sinnvollerweise ebenso als außerschulische Bildungseinrichtung, die Geschichte vermittelt und gleichzeitig aufklärt. An bereits etablierten Erinnerungsorten wie 8
Peter Steinbach: Gedenkstätten zu Denkstätten - Thesen zu zeitgeschichtlichen Ausstellungen. In: Bernd Ogan (Hg.): Faszination und Gewalt. Zur politischen Ästhetik des Nationalsozialismus. Nürnberg 1992, S. 295-297, hier S. 297.
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dem Nürnberger Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände oder dem Haus der Wannseekonferenz gibt es positive Erfahrungen zum erfolgreichen Lernen an Orten, an denen die Verführungsgewalt des NS-Regimes zum Thema gemacht wird. „Wer erkennen und verstehen will, dass und warum der deutsche Faschismus ein widersprüchliches Doppelgesicht hatte, der kann nicht an seiner Massenfaszination vorbeigehen.“9 Und die gebaute Propaganda der „Bösen Orte“ des Dritten Reiches sollte, so kann man sagen, in eine Art negatives Gedächtnis integriert werden: „KZ-Gedenkstätten können zwar den Schrecken, nicht aber die Verführungskraft der Nazi-Ideologie erkennbar machen. Auch Autobahnen, Ferienheime, Ehrenmale, Seminarzentren und Sportstätten gehörten zum Gesamtsystem aus Konsum, Hightech und Terror.“10 Dahinter steht eine politische Verführung, die durchaus aktuell ist, etwa von heutigen Rechtsextremen mit vergleichbaren Mitteln betrieben wird und gerade von „der Reaktivierung ideologischer Fiktionen und politischer Parolen des Nationalsozialismus“ bestimmt ist.11 Von daher sind Befürchtungen, etwa vonseiten der Bürger oder der lokalen Politik, man würde mit der Öffnung der Gesamtanlage Rechtsradikale oder Neonazis anlocken, bis zu einem gewissen Grad verständlich. Die Erfahrungen an anderen „Täterorten“ wie dem Obersalzberg haben aber gezeigt, dass die gelenkte und bewusste Auseinandersetzung mit diesen NSOrten in Dokumentationen, Ausstellungen und Begleitveranstaltungen die Aufmerksamkeit der heutigen rechten Szene verdrängt hat. Die reine Möglichkeit einer neonazistischen Zweckentfremdung darf deshalb sicherlich nicht als Alibi dafür benutzt werden, die Geschichte der Anlage „totzuschweigen“. Der Bookholzberg bei Ganderkesee liegt nicht in einer Großstadt, und auch ein Informationsort an dieser Stelle wäre nicht gleichzusetzen mit den erwähnten Beispielen oder etwa dem geplanten NS-Dokumentationszentrum in München. Doch das Interesse an der jeweiligen lokalen NS-Geschichte ist in vielen Städten und Gemeinden inzwischen vorhanden. Dies bezeugen nicht nur zahlreiche regionalhistorische Publikationen. Im Laufe der vergangenen Jahrzehnte hat sich eine vielschichtige Geschichts- und Erinnerungskultur entwickelt, welche sich dafür einsetzt, dass das Geschehen des Dritten Reiches im öffentlichen Geschichtsbewusstsein gegenwärtig bleibt.12 Durch das Engagement und die Initiative von Bürgern, die sich auf lokale Spurensuche machten und dabei Orte, Personen und Geschehnisse aus der Zeit zwischen 1933 und 1945 aufspürten, entwickelte „die Erinnerungskultur eine neue zivile Dimension und enorme Differen9
Peter Reichel: Der schöne Schein des Dritten Reiches. Faszination und Gewalt des Faschismus. Wien 1992, S. 7. 10 Stephan Porombka und Hilmar Schmundt: Böse Orte. Stätten nationalsozialistischer Selbstdarstellung - heute. Berlin 2005, S. 14. 11 Volker Dahm (Hg.): Die tödliche Utopie. Bilder. Texte. Dokumente. Daten zum Dritten Reich. München 2008, S. 21. 12 Vgl. Peter Reichel: Politik mit der Erinnerung. Gedächtnisorte im Streit um die nationalsozialistische Vergangenheit. Frankfurt/M. 1999, S. 14.
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zierung.“13 Ein Beispiel dafür ist der Arbeitskreis Stedingsehre der regio-VHS Ganderkesee, der eine durchaus neue Erinnerungskultur pflegt und ein Beispiel dafür ist, dass die „Vergangenheitsbewältigung nach mühsamen Kämpfen von Geschichtswerkstätten, Gedenkstätteninitiativen und Interessengruppen gegen den Widerstand der lokalen Gedächtnisgemeinschaft in der Provinz angekommen“ ist und sich immer mehr Kommunen der eigenen Geschichte im NS-Staat stellen.14 An diese Entwicklung kann und sollte ein Dokumentationszentrum zu Stedingsehre anknüpfen. Es würde den notwendigen Raum schaffen, die bisherigen Erkenntnisse über die NS-Freilichtbühne zu bündeln, sie mit noch vorhandenen Exponaten, Fotografien und Bauten in dem Spieldorf in Verbindung zu setzen. Bislang gibt es keine vergleichbare Dokumentationsstätte unter lokalen und regionalen Aspekten im Oldenburger Raum. Eine Dokumentation auf dem Bookholzberg, deren Profil sich von demjenigen anderer Gedächtnisorte unterscheiden könnte und sollte, würde nicht an die Opfer des Nationalsozialismus erinnern, sondern könnte, ohne anzuklagen, der Aufklärung und Ausbildung eines historisch-demokratischen Erkenntnisgewinns dienen. Denn Dokumentationen an Täterorten tragen dazu bei, „den Menschen ein vollständiges und durch seine Vollständigkeit überzeugendes Geschichtsbild zu vermitteln.“15 In den vergangenen Jahren ist in wissenschaftlichen Publikationen und durch privates Engagement begonnen worden, die Geschichte der Freilichtbühne Stedingsehre aufzuarbeiten.16 Der bisherige Forschungsstand sollte einem breiteren Publikum zugänglich sein und zur weiteren Auseinandersetzung mit der ehemaligen NS-Kultstätte anregen. Die in Vergessenheit geratene Anlage würde damit stärker ins Blickfeld der Öffentlichkeit rücken und die Chance zur Aufarbeitung bekommen. Ein angestrebter Informationsort im ehemaligen Bühnendorf wird allerdings der Abstimmung und Zusammenarbeit mit dem jetzigen Nutzer des Geländes, dem BFW, bedürfen. Da diese die Kulissenhäuser auf der Bühne im Rahmen ei13 Günter Schlusche: Tendenzen in Kunst und Architektur der Erinnerung an Verbrechen des Nationalsozialismus. In: ders. (Hg.): Architektur der Erinnerung. NSVerbrechen in der europäischen Gedenkkultur. Berlin 2006, S. 118-124, hier S. 121f. 14 Habbo Knoch: Das mediale Gedächtnis der Heimat. Krieg und Verbrechen in den Erinnerungsräumen der Bundesrepublik. In: ders. (Hg.): Das Erbe der Provinz. Heimatkultur und Geschichtspolitik nach 1945. Göttingen 2001, S. 275-300, hier S. 275. 15 Dahm (wie Anm. 11), S. 26. 16 Vgl. Kaldewei/Kunst (wie Anm. 4); Cathrin Finsterhölzl: Die Einweihung der „Niederdeutschen Gedenkstätte“ ‚Stedingsehre’. Ein Beispiel nationalsozialistischer Selbstinszenierung im Gau Weser-Ems. In: Oldenburger Jahrbuch 99 (2004), S. 177-205; Jens Schmeyers: Die Stedinger Bauernkriege. Wahre Begebenheiten und geschichtliche Betrachtungen. Lemwerder 2004. Vgl. Arbeitskreis Stedingsehre (Hg.): Stedingsehre auf dem Bookholzberg. Texte, Dokumente, Zeitzeugnisse. 2008.
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ner Art „kommentarlosen Umfunktionierung“ weiterhin als Ausbildungsräume nutzt und eine gemeinsame oder gleichzeitige Nutzung des Geländes nur bedingt vorstellbar ist, erscheint eine derartige Lösung momentan nur schwerlich möglich. Bislang ist das Freigelände um die Kulissenhäuser mit der Tribünenanlage als Betriebsgelände des BFW gekennzeichnet und für Unbefugte daher nicht zu betreten, worauf Schilder an den Zugängen hinweisen. Neben der Bewahrung der erhaltenen Gebäude muss aber die Öffnung des Geländes für die Öffentlichkeit ein erstes Ziel sein. Dann stellt sich parallel zum Grundkonzept die Frage, wie der gesamte Bühnenkomplex zukünftig genutzt werden soll. Eine Fortnutzung als Bühne für Musik- und Theaterveranstaltungen ist zwar nie vollkommen aus den Überlegungen geraten, zumal die Beschaulichkeit der Anlage und erfolgreiche Freilichtspiele auf anderen Freilichtbühnen wie Bad Segeberg für eine neue, dauerhafte Bespielung der Bühne sprechen können. Dabei darf jedoch die bemerkenswerte Größe der gesamten Tribünenanlage nicht außer Acht gelassen werden. Deren regelmäßige „Bespielung“ dürfte sich, ungeachtet weiter gehender Probleme und Interessenkollisionen, als ausgesprochen schwierig, wenn nicht unmöglich erweisen. Mit dem NS-Dokumentationszentrum, das nur in den ehemaligen Bühnenhäusern des Spieldorfes sinnvoll, zukunftsträchtig und langfristig realisierbar erscheint, kann ein „Raum“ geschaffen werden, der die Ambivalenz des historischen Ortes trägt und zur Sprache bringt und zudem den ständigen Diskurs über die einstige Funktion als Kultstätte und Freilichtbühne in der nationalsozialistischen Kulturpolitik aufrecht erhält. Dafür ist die unmittelbare räumliche Nähe zu den Bauten unerlässlich. Um über die Bühnenanlage und die damit in engem Zusammenhang stehenden Pläne für die NS-Gauschulungsburg aufzuklären, können vorrangig die Gebäude des Spieldorfes als architektonische Zeugen dienen. Sie sind Teil der ästhetischen, landschaftlichen und ideologischen Inszenierung der gesamten Anlage. In einem der durch die anhaltende Fremdnutzung gut erhaltenen Spielhäuser sind zudem noch Bestandteile der originalen Ausstattung vorhanden.17 Die Einzigartigkeit der erhaltenen Gebäude des Bühnendorfes, der Aufbau der Zuschauerränge und die einstmalige Funktion der Gesamtanlage für die Großregion Weser-Ems stellen dabei einen spezifischen Charakter dar. Die Massenbeeinflussung und die ideologisch-politische Vereinnahmung eines historischen Stoffes können durch das idealtypische Ensemble der Fachwerkbauten auf dem Bookholzberg in besonderer Weise als Zeichen „des schönen Scheins“18 des Nationalsozialismus nachvollzogen werden. Das Dokumentationszentrum sollte sich aus einer regionalen Perspektive heraus mit den historischen Ereignissen im Gau Weser-Ems als Teil der Gesamtzusammenhänge der NS-Zeit beschäftigen. Im Hintergrund sollte stets die über17 Vgl. Kaldewei/Kunst (wie Anm. 4), S. 165. 18 Reichel (wie Anm. 9).
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geordnete Makrogeschichte stehen, um komplexe Zusammenhänge vermittelbar und begreifbar zu machen. Wenngleich nur besondere, differenzierte Aspekte des Nationalsozialismus wie etwa die Beeinflussung durch propagandistische Inszenierungen, die ästhetisierende Seite von Massenveranstaltungen oder die Instrumentalisierung der Heimatliebe für das NS-Gedankengut als relevant für die Geschichte von Stedingsehre erscheinen, so sind die lokalen Eigenheiten doch so zu kontextualisieren, dass kein falsches Geschichtsbild entsteht und Effekte der Verharmlosung oder gar Faszinierung vermieden werden.19 Das Konzept eines Informationsortes sollte aus einer anderen Perspektive geschehen als bei Gedenkstätten mit direktem Opferbezug. Dieser Unterschied muss in der Kommunikation und Vermittlung klar heraus gestellt werden. Eine wichtige Voraussetzung, auch für die öffentliche Anerkennung, ist die Zusammenarbeit mit vielfältigen Institutionen wie Universitäten, Verbänden und Schulen, politischen Vereinen und Stiftungen, Erinnerungs- oder Gedächtnisstätten sowie kulturgeschichtlichen Museen. Eine Annäherung sollte an die bereits vorhandenen zeithistorischen Bildungseinrichtungen an Gedenkorten im nordwestlichen Raum stattfinden, den Gedenkkreis Wehnen (ehemalige Landes-Heilund Pflegeanstalt Oldenburg), an das DIZ Emslandlager, den Bunker Valentin und die Baracke Wilhelmine, im Sinne einer gemeinsamen NS-Regionalforschung und im Anschluss an die Vorarbeit des Arbeitskreises Stedingsehre mit seiner Kenntnis der lokalen Geschichte und seinen Kontakten zu noch lebenden Zeitzeugen. Jede mögliche dokumentarische oder museale Nutzung der Anlage muss zwangsläufig denkmalgerecht und der historischen Bedeutung des Ortes angemessen sein, aber auch finanzierbar bleiben. Um in der bundesdeutschen Gedenkstättenlandschaft als anerkannter Erinnerungsort zu gelten, müssen bestimmte Kriterien hinsichtlich der Trägerschaft erfüllt werden, wodurch die gegenwärtigen Realisierungschancen als schwierig einzuschätzen sind. Unabhängig davon soll nachfolgend ein mögliches Konzept für ein NS-Dokumentationszentrum zu Stedingsehre kurz skizziert werden, das sich – vielleicht als Idealfall anzusehen – auf die gesamten Gebäude des ehemaligen Spieldorfes bezieht.
Mögliche Nutzung der vorhandenen Gebäude des ehemaligen Spieldorfes Information/ Kasse/ Shop Verwaltung/ Büroräume Ausstellungsgebäude für die dauerhafte Dokumentation Café 19 Vgl. Volker Dahm: Projekt eines NS-Dokumentationszentrums in München. Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte. München/Berlin 2002. http://www.stmuk. bayern.de/blz/gutachten.pdf. (4.2.2009), S. 24.
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Spezialbibliothek Ausstellungsgebäude für die dauerhafte Dokumentation Medienraum (Filme, Dia- o. PC-Präsentationen) Räume für die Vermittlungsarbeit /Seminare/ Vorträge / Begegnung Sonder- und Wechselausstellungen Archiv- und Magazinräume Toilette Behindertengerechte Toilette Tribünenanlage/ Zuschauerränge Regietürme (dauerhafte Dokumentation) Ein endgültiges und angepasstes Raumkonzept kann erst bei genau festgelegten Rahmenbedingungen erstellt werden. Für ein NS-Dokumentationszentrum, das sich den Ansprüchen heutiger Gedenk- und Erinnerungsorte und deren Verantwortung als schulischer und außerschulischer Lernorte stellt, müssen spezifische Voraussetzungen hinsichtlich der Zahl und Bandbreite der Funktionsräume geschaffen werden, die allgemein bekannt sind und hier nur stichwortartig genannt werden sollen. Gerade die Betreuung von Besuchergruppen erfordert ausreichende Räumlichkeiten für die Vor- und Nachbereitung des Besuches in einem Gruppenraum (Gebäude H). Flächen für wechselnde Sonderausstellungen (Gebäude I) sollten zur Verfügung stehen. Hier könnte Gelegenheit geboten werden, ergänzend Wanderausstellungen anderer NS-Gedenkstätten zu zeigen. Vorstellbar wären auch kleinere Ergebnispräsentationen aus pädagogischen Schüler- oder Gruppenprojekten. Die Tribünenanlage der Freilichtbühne stellt das Projekt vor eine schwierige Aufgabe, da die finanziellen Aufwendungen für eine anhaltende Instandsetzung und Wegesicherheit für diesen – wie alles Übrige auch – denkmalgeschützten Bereich des Geländes sehr hoch sind. Bereits frühere Versuche einer Fortnutzung sind aus finanziellen Gründen gescheitert. Eine zukünftige Nutzung als bespielbare Freilichtbühne wäre hier sicher keine adäquate Problemlösung. Das Areal der Freilichtbühne muss dennoch in die Dokumentation mit eingebunden werden. Um den Blick auf das Spieldorf und die Wahrnehmung der Gesamtanlage vom oberen Tribünenrand aus zu ermöglichen, wäre es erstrebenswert, den Zugang auf die Tribüne von der Seite des Aufmarschplatzes (heutiger Sportplatz) zu öffnen. Die erhaltenen Zuschauerränge müssten dabei aber nicht freigegeben werden. Denkbar ist dort vielmehr eine bewusste Brechung, etwa in Form einer künstlerischen Auseinandersetzung mit Stedingsehre. Hier könnten, wo derzeit Schafe zu weiden pflegen, Installationen oder Skulpturen in die Anlage eingebracht werden. Die beiden ehemaligen Regietürme N bieten eine gute Möglichkeit, über die bühnentechnische Seite der Freilichtanlage zu informieren und etwa mit historischen Fotografien einen Eindruck von den einst mit Zuschauern voll besetzten Rängen oder den freien Blick in die Landschaft zu vermitteln.
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Generell sollten Informationstafeln und -stelen auf den Freiflächen das gesamte Gelände erschließen einschließlich der monumentalen räumlichen Dimensionen, die der Gauleiter Carl Röver und die Architekten Walter Reimann und Ernst Behrens bei den Entwürfen und späteren Ausbauplänen der Anlage mitgedacht haben. Der nicht umgesetzte Ausbau des Ensembles zu einer NSGauschulungsburg wird heute schließlich nur über ein Besucher-InformationsLeitsystem im Gelände dargestellt werden können. In Ergänzung zu anderen NS-Dokumentationen wird es unerlässlich sein, thematische Schwerpunkte zu bilden, die einen konkreten örtlichen Bezug besitzen. Nur dadurch definieren sich die erforderlichen Alleinstellungsmerkmale. Dabei dürften etwa auch interaktive Medienstationen sinnvoll sein. Aus den Erfahrungen, die der Einsatz von Medien in der Dokumentation Obersalzberg und beim Nürnberger Dokumentationszentrum erbracht haben, erklärt Volker Dahm: „Der Begriff Dokumentation umfasst allerdings in der heutigen Zeit nicht nur statistische Dokumentationsmedien wie Fotografien, Plakate und Schriftdokumente, sondern alle gebräuchlichen audiovisuellen Medien einschließlich digitaler Präsentationen.“20 Für den Besucher abrufbare audiovisuelle Medien bilden also etwa eine gute Möglichkeit, Erinnerungsberichte von Zeitzeugen oder Filmaufnahmen in die Ausstellung einzubinden. Die Medieneinheiten erleichtern auch den persönlichen Zugang zu den verschiedenen Themen einer Dauerausstellung.21 Ein Filmprogramm kann zudem jedem Individualbesucher die Gelegenheit zur Ergänzung der Ausstellung zu geben.22 Medienstationen und audiovisuelle Medien unterstützen generell auf spezifische Weise die pädagogische Arbeit mit Jugendlichen, da diese in Übereinstimmung mit ihrer medialen Alltagswelt den Zugang zu historischen und politischen Themen eben über die vertrauten Medien leichter finden. Bezüglich der Gesamtgestaltung ist ein durchgängiges Präsentationskonzept unerlässlich, das alle Außen- und Innenbereiche einbezieht und miteinander in Beziehung setzt. Mögliche Zielgruppen für die Bildungsarbeit im NS-Dokumentationszentrum auf dem Bookholzberg wären: Schulklassen im Rahmen des Geschichts- oder Politikunterrichts, außerschulische politische Bildungsprogramme, Geschichtswerkstätten, Geschichts- und Politikvereine, spezifische gesellschaftliche, politische oder berufliche Gruppen (z. B. Politiker, Lehrer, Erzieher, Pädagogen, Polizisten, Soldaten), interkulturelle Gruppen, nationale oder 20 Ebd., S. 34. 21 Kirsten John-Stucke: Neukonzeption der Zeitgeschichtlichen Ausstellung – Entwicklung und Perspektiven [Wewelsburg]. In: Juliane Kerzel (Hg.): Gedenkstättenarbeit und Erinnerungskultur in Ostwestfalen-Lippe. Büren 2002, S. 195-207, hier S. 206. 22 In der jetzigen Dokumentation der Wewelsburg können Besucher in einem Medienraum in direkter Nähe zur zeitgeschichtlichen Ausstellung Filme ansehen. Aushänge und das Aufsichtspersonal informieren über den zeitlichen Ablauf der Filmvorführungen.
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internationale Austauschprojekte, Studierende, Angehörige von Forschungseinrichtungen, politische, wirtschaftliche und soziale Verbände sowie natürlich historisch und politisch interessierte Privatleute. Eine Spezialbibliothek zur NSKultstätte Stedingsehre ist als Bestandteil des Zentrums anzuraten, ebenso ein einschlägiges Bild- und Dokumentarchiv.23 Durch den Besuch der NS-Dokumentation kann verdeutlicht werden, dass „beispielsweise die Verführbarkeit der Masse und die Neigung zu unreflektierter Anerkennung von Symbolen nichts ist, was es in der Vergangenheit einmal gab, sondern dass der Mensch in seiner Unvollkommenheit jederzeit wieder verführbar ist“.24 Damit kann das Dokumentationszentrum auch ein Ort der Auseinandersetzung mit dem heutigen Antisemitismus und Rassismus werden. Die Vereinnahmung und Mobilisierung Jugendlicher für den modernen Rechtsextremismus etwa durch Musik und ein geflissentlich propagiertes Gemeinschaftsgefühl ist ein aktuelles gesellschaftliches Phänomen. Beziehungen zwischen den Bookholzberger Theateraufführungen im Dritten Reich und solchen gegenwärtigen „Verführungen“ lassen sich direkt herleiten. Der regelmäßige Besuch von Schulklassen kann zu einem wichtigen Grundstock der Besucher werden. Sie gewährleisten gewissermaßen eine dauerhafte Ausnutzung der gegebenen Angebote. Arbeitsblätter und -material können für das Lehrpersonal bereitgestellt werden. Die gute Bahnanbindung der kleinen Ortschaft Bookholzberg, gelegen auf der Strecke zwischen Bremen und Oldenburg, spricht dafür, dass auch Schulklassen und Gruppen aus umliegenden größeren Städten wie Bremen, Oldenburg oder Delmenhorst das Dokumentationszentrum Stedingsehre besuchen und als Lernort wahrnehmen können.25 Weiterhin sollten selbstverständlich Angebote für EinzelbesucherInnen zum Vermittlungskonzept gehören. In den vergangenen Jahren sind vermehrt kleinere „Orte des Erinnerns“ in den Fokus der Erinnerungsdidaktik gerückt, deren Bedeutung auf regionalhistorische Ebene verbleibt. In zahlreichen Projekten oder Geschichtswerkstätten beschäftigten sich SchülerInnen mit den Spuren des Nationalsozialismus in der jeweiligen Heimatstadt. Durch den Verlust der Zeitzeugengeneration und den immer seltener werdenden persönlichen Bezug zu den historischen Plätzen wird, laut Dirk Lange, der räumliche Zusammenhang zur NS-Geschichte immer bedeutungsvoller: „Für eine historisch-politische Bildungspraxis, die durch authentische Bezüge zur Vergangenheit Lernanlässe schaffen will, wird somit der Stel-
23 In meinen Gesprächen mit Prof. Dr. Gerhard Kaldewei sowie mit Lisa Dirks, Gästeführerin aus Ganderkesee und Mitglied des Arbeitskreises Stedingsehre, und mit Prof. Lutz Walk wurde deutlich, dass diese „Bündelung“ ein vorrangiges Ziel des Arbeitskreises ist. 24 Hans Koschnick: Warum Erinnerung notwendig ist. In: Christine Kröger (Hg.): Sie marschieren wieder. Bremen 2005, S. 104. 25 Vgl. http//:www.lernen-aus-der-geschichte.de (21.2.2009).
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lenwert der Erinnerungsorte steigen. Der räumliche Bezug wird den persönlichen immer stärker ersetzen.“26 An diese Entwicklung kann das NS-Dokumentationszentrum Stedingsehre, vielleicht schrittweise im Rahmen eines Gesamtplans, anknüpfen. Die thematischen Zugänge zur Geschichte der Freilichtbühne können und müssen aus dem Blick auf die Gegenwart heraus geschehen. Es würde der historischen Bedeutsamkeit der NS-Freilichtbühne auf dem Bookholzberg Rechnung getragen und die bisherige „Unkommentierung“ durch einen aktiven Prozess der Aufarbeitung ersetzt. Anfänge dafür sind gemacht, und für die Trägerschaft sind verschiedene Modelle denkbar. Das vorgestellte Konzept mag angesichts der ungeklärten Voraussetzungen und Perspektiven unrealistisch erscheinen. Aber es ist grundsätzlich unangemessen, die Geschichte der Freilichtbühne auf dem Bookholzberg in einer kleinen Information mit geringem Aufwand „nebenbei“ zu präsentieren. Es geht um komplexe Zusammenhänge, deren Offenlegung und Vermittlungskontinuität immer wichtiger werden dürften. Die Auseinandersetzung ist ein Versuch, die alltäglichen Strukturen und gesellschaftlichen Bedingungen im NS-Regime zu ergründen, um Schlüsse für die Gegenwart daraus zu ziehen. Die Erkenntnis, wie stark der NS-Kult und sein Gedankengut in den Alltag der Menschen wirkten, löst bei heutigen Generationen Verwunderung und Unverständnis aus. Ein NS-Dokumentationszentrum Stedingsehre kann dazu beitragen, sich dem Alltag des Dritten Reichs über eine andere Betrachtungsebene zu nähern. Es ergänzt bereits bestehende Gedenk- und Informationsstätten, indem es sich einem anderen Schwerpunktthema widmet im Sinne eines spezifischen „Täterortes“ in seiner regionalen – beispielhaften – Bedeutsamkeit.
26 Vgl. Dirk Lange und Eva-Maria Buckstegge: Politische Bildung an historischen Orten. Materialien zur Didaktik des Erinnerns. Baltmannsweiler 2006.
Re gionale Muse ums beratung in De utsc hland. Institutionalisierte Betreuung von Museen STEPHANIE BUCHHOLZ Der vorliegende Beitrag beruht auf einer Erhebung bei den gegenwärtigen regionalen Museumsberatungsstellen in Deutschland, deren Genese mit betrachtet wird. Den Rahmen bildet die Frage, was unter Museumsberatung mit ihren öffentlich-institutionalisierten Formen verstanden wird und werden kann. Dabei bleiben privatwirtschaftliche Angebote und Initiativen noch unberücksichtigt. Obwohl dies nicht in ihrer Verfassung als Staatsprinzip festgehalten ist, begreift sich die Bundesrepublik Deutschland als Kulturstaat. Ein solches Verständnis äußert sich auch in der Kulturförderung, welche aufgrund des föderalistischen Staatsaufbaus Sache der Länder ist. Diese sowie Kreise und Gemeinden greifen als Finanziers von Museen auf öffentliche Gelder zurück, was sie dazu zwingt, ihre Ausgaben vor der Öffentlichkeit zu legitimieren. Missstände im Bereich des Museumswesens können daher dazu führen, dass sich die öffentlichen Träger bzw. Förderer dieser Museen rechtfertigen müssen. Nicht zuletzt deshalb versuchen sie, ihrer kulturellen Verantwortung nachzukommen, indem sie museumsbetreuende Maßnahmen zur Verfügung stellen. Hierfür sind von einigen Bundesländern eigene Stellen in Form von Museumsämtern oder Landesstellen eingerichtet worden, zugleich wird, ebenfalls in Form von Förderung, aber auch auf den Sachverstand von Museumsverbänden zurück gegriffen. Museen liegen per definitionem im öffentlichen Interesse, sollen einen gesellschaftlichen Nutzen hervorbringen, mit ihren originalen Objekten das kulturelle Erbe verwalten, einen Ort der Identifikation bilden und damit ihrem kulturellen Auftrag nachkommen. Als außerschulischer Lernort dienen sie dem Bildungsauftrag. Als Erlebnis- und Freizeiteinrichtung leisten sie zudem einen Beitrag zur Unterhaltung.1 Indem sie ihre vielfältigen Aufträge erfüllen, legitimieren sie sich und ihre Förderung durch die Allgemeinheit. Sie stehen unter einem 1
Vgl. Michael Eissenhauer: Strukturkrise als Chance zur kritischen Revision. Ein Grundsatzreferat zur Zukunft der Museen. In: Museumskunde. Bd. 70 (2005). Heft 1, S. 21-25.
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Rechtfertigungsdruck unterschiedlicher Teilöffentlichkeiten. Da sich die Gesellschaft wandelt, unterliegen auch ihre Ansprüche einem stetigen Wandlungsprozess. Entsprechend sieht sich das Museum mit Veränderungen konfrontiert. Diese zeigen sich in der historischen Entwicklung des Museums, in der Ausbildung seiner Kernaufgaben, in der Ausdifferenzierung von Museumstypen und Trägerschaftsformen. Aber auch erweiterte oder veränderte Aufgaben stehen als Indiz für einen ständigen Anpassungsprozess dieser Institution. Den gesellschaftlichen Erwartungen an das Museum steht in jüngster Zeit zusätzlich zu den vielfältigen Konkurrenzeinrichtungen das Problem knapper werdender Ressourcen gegenüber. Diese Faktoren führen zu einer Erweiterung der Kernaufgaben des Museums um so genannte Hilfsaufgaben, die etwa im Bereich des Managements liegen, sowie alternative Trägerschafts- und Finanzierungsmodelle, die Besucherorientierung, die Vernetzung von Kulturorganisationen und den Einbezug externer Kräfte betreffen. Die veränderten Umstände erfordern zusätzliche Qualifikationen beim Museumspersonal. Nicht zuletzt in Folge dieses Prozesses entsteht ein – zusätzlicher – Bedarf seitens der Museen und des Personals nach kompetenter fachlicher Beratung.2 Um die Bedürfnisse der Öffentlichkeit befriedigen zu können, nehmen viele Museen die offerierten Leistungen der regionalen Museumsberatung an und entwickeln darüber hinaus eigene Formen der Selbsthilfe, die sich durch Zusammenschlüsse in Museumsverbünden ausdrücken kann.
Regionale Formen der Museumsberatung Aufgrund der Kulturhoheit der Länder hat sich die – durchweg regionale – Museumsberatung bereits seit dem Kaiserreich und besonders nach dem Zweiten Weltkrieg nicht einheitlich, sondern in mehrere Richtungen entwickelt Sie gibt heute in Deutschland ein relativ heterogenes Bild ab. Die regionale Museumsberatung kann nicht generell auf die Betreuung durch Museumsämter und Museumsverbände begrenzt werden. Der Pluralismus beratender Institutionen äußert sich in weiteren Organisationsformen wie Museumsvereinigungen und Verbünden, Landschaften, Landschaftsverbänden oder Landesmuseen bzw. kann durch Organe der Kommunen, Gebietskörperschaften und Ministerien vertreten sein. Zudem gibt es eine große Bandbreite regionaler Museumsberatungsformen, die auf einer informellen Ebene operieren, wie etwa Arbeitsgemeinschaften. Im Feld der öffentlichen Museumsberatung bewegen sich neben den regionalen Initiativen zudem supranationale und nationale Organe, welche häufig untereinander kooperieren. Auf der internationalen Ebene tritt das International Council of Museums (ICOM) als nichtstaatlicher Dachverband und Interessenvertretung der Museen und des Museumspersonals im Bereich des Museumswe2
Vgl. Thomas Schuler: Das Chemnitzer Modell. In: Hartmut John und Jürgen Steen (Hg.): Museumsreform – kooperativ! Perspektiven & Kontroversen & Positionen. Essen 2001, S. 31-94.
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sens in Erscheinung. Zu den bundesweiten Einrichtungen der Museumsberatung zählen u. a. der Deutsche Museumsbund (DMB), das Institut für Museumsforschung (IfM) und ICOM-Deutschland. Eine konkrete Beratung in Einzelfällen kann von ihnen jedoch nicht wahrgenommen werden. Diese Aufgabe obliegt den regionalen Museumsorganisationen.
Das Entstehen der regionalen Museumsberatung Erste Bestrebungen zur Einrichtung von Museumsberatungsstellen sind bereits im Kaiserreich um 1900 auszumachen, als eine erste Museumsgründungswelle über das Deutsche Reich schwappt. Hiervon profitieren insbesondere kleine, ehrenamtlich geführte Heimatmuseen, die auf Initiative von Museumsvereinen entstanden sind. Schnell geraten diese Museen in Bedrängnis, da ihr laufender Betrieb durch unzureichende finanzielle Mittel, aber auch durch fehlendes fachwissenschaftliches Personal gefährdet ist. Es bilden sich erste freiwillige Zusammenschlüsse der Museumsleiter in Museumsverbänden mit dem Ziel der Verbesserung von Schausammlung und allgemeiner Tätigkeit durch Museumsberatung. Aufgrund ihrer Quantität und ihrer begrenzten Ressourcen stellen Heimatmuseen von Beginn an die primäre Gruppe der Ratsuchenden dar. Während die ersten Museumszusammenschlüsse vornehmlich auf Initiative der privat bzw. durch Vereine geführten Museen zurückgehen und deren Arbeit autonom vom Staat erfolgt, nimmt in der weiteren Entwicklung der Staat zunehmend Anteil an der Arbeit von Museumsverbänden. Seine gesteigerte Verantwortung auf dem Gebiet der Museumsbetreuung kann mit der ab etwa 1920 zunehmenden Übernahme von Museen in öffentliche Trägerschaft in einen Zusammenhang gebracht werden. Nach Aufforderung durch die privaten Museumsvereine, die eine Versorgung ihrer Museen nicht mehr gewährleisten können, schlüpft der Staat dabei immer mehr in die Rolle eines Finanziers. Um den Museen eine Betreuungsleistung anbieten und gleichzeitig seine Kulturpolitik durchsetzen zu können, beteiligt er sich an den privaten Museumsvereinigungen, treibt deren Gründung voran, finanziert diese mit bzw. gliedert sie an seine Verwaltung an mit der Konsequenz einer fortschreitenden Institutionalisierung. Seine kulturpolitischen Ziele liegen dabei im Kern in der Kontrolle bzw. Lenkung von Museumsgründungen sowie der inhaltlichen Unterstützung bestehender Einrichtungen durch Fachberatung und Fortbildung. Der Staat nimmt aber nicht alle Aufgaben der Museumsberatung selbst wahr, vielmehr tritt er Aufgaben zu seiner fachlichen und finanziellen Entlastung ab, wie etwa an die preußischen Provinzialverbände, die er zu der Erfüllung dieser Aufgaben finanziell fördert. In der Weimarer Republik binden sich daher diese kommunalen Selbstverwaltungsorgane immer mehr in die freien Museumsvereinigungen ein und gliedern einige an ihre Verwaltung an. So nutzen diese Organe ihrerseits die Ressourcen der Museumszusammenschlüsse, die von der fachlichen Beratung, der Fortbildung und den Exkursionen über die Erstellung von Gutachten zur finan-
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ziellen Förderung bis hin zur Konzeption von Wanderausstellungen reichen,3 ein Phänomen, das heute mit Blick auf die Museumsverbände und deren Übernahme von staatlichen Aufgaben wieder von erstaunlicher Aktualität zeugt. Dabei lässt sich auch bezüglich der Aufgaben der Museumsberatung feststellen, dass die Hauptelemente (Beratung, Fortbildung und Förderung) bereits in den Anfängen der Museumsberatung vorzufinden sind und sich in ihren Grundzügen über die letzten Jahrzehnte erhalten haben. Lediglich die Inhalte der Serviceleistungen passen sich den veränderten Anforderungen an. Im Zuge des Nationalsozialismus wird das Amt des staatlichen Museumspflegers geschaffen. Dieser übernimmt die führende Rolle im Feld der Museumsberatung, welche sich weiterhin auf die Zielgruppe der Heimatmuseen beschränkt. Rat und Kontrolle sind auch hier die bestimmenden Elemente. Zwar können sich einige Museumsverbände halten, dabei ist ihre inhaltliche, politischideologische Anpassung an das Staatsregime jedoch unverkennbar.4 Aufgrund der Neukonstituierung nach dem Zweiten Weltkrieg nehmen Zentralismus und Föderalismus auf unterschiedliche Weise Einfluss auf die Institutionalisierung der Museumsberatung. Während die DDR ein eigenes, zentralistisches Museumswesen und eine daran orientierte zentrale staatliche Museumsberatung aufbaut, entwickeln sich in der BRD pluralistische Formen der Museumsberatung. Somit kommt es in der BRD aufgrund ihrer demokratischen Verfasstheit zu einer Wiederbelebung bzw. Neugründung von Museumsverbänden. Kennzeichnend für die Museumsberatung in der BRD ist aber die verstärkte Beratungs- und Betreuungsleistung des Staates, welche in den 1970er Jahren in der Einrichtung staatlicher Museumsbetreuungsstellen gipfelt. Dabei äußert sich die fortschreitende Institutionalisierung der staatlichen Museumsberatung durch den Aufbau behördlicher Einrichtungen, so genannter Museumsämter. Parallel hierzu entwickeln sich in einigen Bundesländern Museumsverbände. Länder ohne eigene Museumsämter nutzen diesen Trend und unterstützen die Verbände finanziell.5 Als Auslöser für die Gründung staatlicher wie privater regionaler Initiativen in den 1970er und 1980er Jahren ist – wie schon in den Ursprüngen der regionalen Museumsberatung – ein Museumsboom auszumachen. Und auch die Intentionen der öffentlichen Museumsberatung bestehen fort, nämlich Kontrolle und 3 4 5
Vgl. Martin Griepentrog: Kulturhistorische Museen in Westfalen (1900-1950): Geschichtsbilder, Kulturströmungen, Bildungskonzepte. Paderborn 1998. Ebd. Vgl. Wolf Karge: Museumspolitik und Organisationskonzepte von Staat und Verbänden in Ostdeutschland vor und nach 1989. In: Museumskunde. Bd. 72 (2007). Heft 1, S. 30-41. Vgl. auch York Langenstein: Strukturen und Funktionen der öffentlichen Museumsberatung in Deutschland – ein Überblick. In: Mitteilungen und Berichte aus dem Institut für Museumskunde. Museumsberatung als Beruf? Heft 16. Berlin 2000, S. 47-65; Annette Zimmer und Monika Hagedorn-Saupe: Das Museumswesen der Bundesrepublik – eine deskriptiv-analytische Bestandsaufnahme. In: dies. (Hg.): Das Museum als Non-Profit-Organisation. Management und Marketing. Frankfurt/Main 1996, S. 69-108.
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fachlicher Rat. Ebenso scheint sich der Klientenkreis der Museumsämter und -verbände, zumindest formell, nicht geändert zu haben, denn die Heimatmuseen werden zu dieser Zeit immer noch ausdrücklich in den Verordnungen und Satzungen der Museumsorganisationen als wichtigste oder gar ausschließliche Partner genannt und können somit als originäre Zielgruppe der öffentlichen Museumsberatung umschrieben werden. In der Praxis erweitert sich die Klientel der Museumsbetreuungsstellen hingegen längst auf weitere Museumsgattungen, die offizielle Öffnung erfolgt jedoch erst seit den 1980er Jahren. Dennoch bilden die Heimatmuseen aufgrund ihrer hohen Anzahl und ihrer unzureichenden Ressourcen auch noch heute die primäre Zielgruppe. Mit der Wiedervereinigung etabliert sich in den Anfängen der 1990er Jahre das Modell der Museumsberatung durch Museumsverbände sehr schnell auch in den neuen Bundesländern. Durch das Hinzukommen der so genannten Nachwende-Organisationen der neuen Bundesländer ist die regionale Museumsberatung in Deutschland im Bereich der Museumsverbände durch hauptsächlich junge Organisationen geprägt.6 Hingegen bleiben die Museumsämter, bis auf den Einzelfall der Sächsischen Landesstelle für Museumswesen, eine Erscheinung der BRD. Ihre Wurzeln gehen häufig auf die Anfänge des 20. Jahrhunderts zurück. Die Struktur der westdeutschen Museumsbetreuungsstellen durch Verbände und Ämter hat sich folglich nach der Wiedervereinigung nicht grundlegend verändert. Ab den 1990er Jahren weisen somit die Museumsverbände die höchste zahlenmäßige Präsenz in der öffentlichen Museumsberatung auf. Eine flächendeckende Versorgung aller Bundesländer durch regionale Museumsverbände und/oder Ämter liegt seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts vor. In Deutschland dominieren demnach heute zwei öffentliche Museumsbetreuungsmodelle, zum einen die staatliche Museumsberatung durch behördliche Einrichtungen wie die Museumsämter, zum anderen eine Betreuung durch Landesmuseumsverbände, die in der Rechtsform eines privatrechtlichen Vereins stehen. Der Staat kooperiert häufig mit diesen Verbänden. Die Situation in den einzelnen Bundesländern gestaltet sich dabei uneinheitlich. So ist eine ausschließliche Beratung durch ein Museumsamt, das Museumsberatung als rein staatliche Aufgabe begreift, möglich. Zudem existiert als Gegenstück eine regionale Museumsberatung nur durch einen Museumsverband, der in der Regel durch das Land institutionell gefördert wird. Weiterhin ist eine Kombination von Museumsamt und Museumsverband innerhalb eines Bundeslandes gängig, bei der beide Einrichtungen organisatorisch unabhängig voneinander arbeiten. Daneben existieren in mehreren Bundesländern Mischformen.
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Vgl. Annette Zimmer und Eckhard Priller: Gemeinnützige Organisationen im gesellschaftlichen Wandel. Ergebnisse der Dritte-Sektor-Forschung. 2. Aufl. Wiesbaden 2007.
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Derzeit unterhalten fünf Bundesländer regionale Museumsämter. Dabei handelt es sich um Baden-Württemberg, Bayern, Nordrhein-Westfalen7, RheinlandPfalz und Sachsen. Neben diesen behördlichen Einrichtungen bestehen regionale Landesmuseumsverbände, über die nahezu jedes Bundesland verfügt. Lediglich Niedersachsen und Bremen teilen sich einen Museumsverband, in NRW erfüllen zwei Verbände museumsbetreuende Aufgaben. Während in den übrigen Bundesländern kein organisatorischer Zusammenhang zwischen Verband und Amt besteht, nimmt die Museumsberatung in Hessen eine Sonderstellung ein, die als ‚halbstaatlich’ umschrieben werden kann. Hierbei arbeitet der Verband mit zwei staatlichen Museumsberatern des Landes zusammen.8
Die institutionalisierte regionale Museumsberatung der Gegenwart Während sich die Landesmuseumsverbände als Interessenvertretung der Museen verstehen, können die Museumsämter als staatliche Einrichtungen der Interessenverfolgung der Öffentlichkeit zugeordnet werden. Dabei entspricht der Wirkungsradius auf staatlicher, wie auch mehrheitlich auf verbandlicher Ebene der föderalen Gliederung der Bundesländer. Die Rechtsform aller Museumsverbände ist der eingetragene, gemeinnützige Verein. Dies bedeutet, dass sie nicht gewinnorientiert handeln und ihre Einnahmen ausschließlich in die Organisation selbst fließen. Sie sind dem „dritten“, also frei-gemeinnützigen, Sektor zuzuordnen und somit zwischen dem öffentlich-rechtlichen und dem privat-kommerziellen Sektor, dem Markt, anzusiedeln. Dabei lehnen sie sich aber aufgrund der institutionellen Förderung durch den Staat häufig an diesen an. Die Landesmuseumsverbände in Deutschland sind rechtlich und organisatorisch eigenständig, ihre Mitgliedschaft beruht auf freiwilliger Basis.9 Etwa die Hälfte betreibt eine hauptamtlich geführte Geschäftsstelle, die den ehrenamtlich tätigen Vorstand in seiner Arbeit entlastet. Ist dies nicht der Fall, so übernimmt häufig ein Vorstandsmitglied die Verbandsgeschäfte mit administrativen Aufgaben auf ehrenamtlicher Basis. Museumsverbände fungieren als Interessenvertreter und Lobbyisten, gleichzeitig treten sie aber auch als Produzenten von Dienst7 8
9
In NRW existieren zwei Museumsämter für Westfalen-Lippe und für das Rheinland. Vgl. Langenstein (wie Anm. 5) und Walter Stolle: Zur Museumslandschaft und Museumsberatung in Hessen. In: Andreas Bimmer und Ingeborg Weber-Kellermann (Hg.): Europäische Ethnologie in der beruflichen Praxis. Bonn 1983, S. 42-49. Vgl. Rupert Graf Strachwitz: Neue Organisations- und Verwaltungsformen bei Museen. Strukturformen im gemeinnützigen Sektor. In: Hans-Albert Treff (Hg.): Museen unter Rentabilitätsdruck. Engpässe – Sackgassen – Auswege. München 1998, S. 151-158; Günter Triesch und Wolfgang Ockenfels: Interessenverbände in Deutschland. Ihr Einfluss in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. München 1995; Annette Zimmer: Verbände als Dienstleister und Träger öffentlicher Aufgaben. In: Thomas von Winter und Ulrich Willems (Hg.): Interessenverbände in Deutschland. Wiesbaden 2007, S. 393-412.
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leistungen, wie etwa Mitgliederzeitschriften und Fortbildungen, in Erscheinung. Dabei übernehmen sie häufig öffentliche Aufgaben, die durch den Staat an sie herangetragen werden, wie die Erstellung von Fachgutachten.10 Die Museumsämter sind staatliche Einrichtungen. Dabei untersteht diese Form der Museumsbetreuung einem Landesministerium und ist dort einer bestimmten Kulturbehörde zugewiesen, wie etwa in Bayern der Denkmalpflege oder in Baden-Württemberg dem Landesmuseum. In NRW obliegt die Museumsberatung den Landschaftsverbänden, die als ‚Höhere Kommunalverbände’ Teil der regionalen Selbstverwaltung sind. Durch die Errichtung von Museumsämtern und die Bereitstellung hauptamtlichen Fachpersonals tritt somit auf staatlicher Ebene eine Institutionalisierung der Museumsberatung im Sinne der kulturellen Landespolitik und somit im Landesinteresse ein. Gleichzeitig versuchen sich die Museumsämter auch in der Rolle der Interessenvertreter der Museen zu sehen, indem sie vor Trägern, Vereinsvorständen oder der Kulturbürokratie für die Museen eintreten können. Die Zahl der öffentlichen Aufgaben des Staates ist im Laufe seiner historischen Entwicklung stark angewachsen. Damit er selbst handlungsfähig bleiben kann, beauftragt er gesellschaftliche Akteure mit der Erfüllung von Teilaufgaben und gliedert Aufgaben aus. Dabei gibt er im Rahmen einer „kooperativen Kulturpolitik“ sein Monopol auf, indem er – auch im Sinne des Subsidiaritätsgedankens – eine höhere Eigenverantwortung von den Verbänden verlangt und somit in ein partnerschaftliches Verhältnis zu ihnen tritt. Die Verbände stellen dabei Ressourcen bereit, die eigentlich der Staat aufbringen müsste. Dieser profitiert durch die bereits vorhandene gemeinschaftliche Interessenposition der Verbände, die er nicht mehr selbst ausmachen muss. Seine Rolle definiert er als intermediäre Instanz, er forciert Kooperation und verzichtet auf Macht.11 Es kommt somit zu einer Austauschbeziehung, die auf einen gegenseitigen Nutzen hinausläuft oder zumindest hinauslaufen sollte, denn zur Durchführung der an den Verband übertragenen Aufgaben bietet der Staat Anreize in Form finanzieller Mittel und höherer Verantwortung. Die Interessen von Landespolitik und Verbandsmitgliedern auszubalancieren, bildet die Herausforderung in der Zusammenarbeit. In den letzten zehn Jahren kommt es zu Einsparungen seitens des Staates. Die finanziellen Engpässe der öffentlichen Haushalte stellen die Kulturpolitik und damit auch die Museen vor die Herausforderung, neue Ansätze zu finden. Dies kommt den hauptsächlich auf ehrenamtlicher Basis arbeitenden Museumsver10 Vgl. Zimmer (wie Anm. 9). 11 Vgl. Josef Lange: Situation und Perspektiven im Lande und in der Landespolitik. In: Ernst Pappermann und Michael Mombaur (Hg.): Kulturarbeit in der kommunalen Praxis. 2. Aufl. Köln 1991, S. 87-100; Martin Sebaldt und Alexander Straßner: Verbände in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung. Wiesbaden 2004; Hans-Jörg Siewert: Wer kommuniziert wie über die kommunale Kulturförderung? In: Karl Ermert und Thomas Lang (Hg.): Die Förderung von Kunst und Kultur in den Kommunen. Wolfenbüttel 2000, S. 29-34.
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bänden zugute, während die Museumsämter in Existenznöte geraten. Die Verbände scheinen auch von Verwaltungsreformen zu profitieren, da ihnen immer mehr öffentliche Aufgaben überlassen und ihre institutionelle Förderung ausgebaut wird. Die Einrichtung von Geschäftsstellen und die Einstellung hauptamtlichen Personals werden hierdurch begünstigt. Aufgrund der ihnen übertragenen Verantwortung erhöht sich ihr Spielraum und ihre Existenz wird legitimiert, was zu einer fortschreitenden Professionalisierung und Institutionalisierung der Verbände führt. Ob die zur Verfügung gestellten Ressourcen zu ihrer Aufgabenbewältigung ausreichen, ist hingegen zu hinterfragen, da die Hauptarbeit der Verbände immer noch auf ehrenamtlicher Basis beruht. Während die Verbände ihre Position in den letzten Jahren stärken können, verlieren die Ämter an Terrain.
Regionale Museumsberatung konkret: Ziele, Aufgaben, Ressourcen, Klientel In einer im Oktober 2007 auf postalischem Wege durchgeführten Fragebogenuntersuchung bildeten im Rahmen eine Vollerhebung alle 21 Museumsverbände und -ämter Deutschlands die Grundgesamtheit. Angeschrieben wurden sechs Ämter und 15 Museumsverbände. Die Rücklaufquote betrug 71 %. Dabei beteiligten sich drei Ämter12 und zwölf Verbände13 an der Untersuchung – bei letzteren war der Rücklauf also deutlich höher. Die Erhebung setzte sieben inhaltliche Schwerpunkte: Auftrag, Personal, Eigenfinanzierung, Serviceleistungen, Klientel, Partner/Kooperation und Ausblick. Einige ausgewählte Ergebnisse werden hier vorgestellt. Die öffentliche Museumspflege wird von kulturpolitischen Motiven geleitet. Ihr gegenwärtiger Auftrag besteht, so die allgemeine Formulierung, darin, die „Museumslandschaft“ zu erhalten, zu pflegen und zu fördern. In Bezug auf die Entwicklung der regionalen Museumslandschaften durch die staatliche Museumsbetreuung hat sich in den letzten drei Jahrzehnten eine Zielverschiebung ergeben. In den 1970er Jahren wirkt die staatliche Museumsberatung hauptsächlich auf einen quantitativen Ausbau hin, indem Museumsneugründungen forciert und gezielt in die Museumslandschaft integriert werden. Mit dem Abklingen des Museumsbooms (seit den 1990er Jahren) verlagert sich der Auftrag der Museumsberatung hin zum Erhalt der Museumsvielfalt und zum qualitativen Ausbau. Insbesondere wird die Schwerpunktsetzung und Standardsicherung der vor12 Landesstelle für die nichtstaatlichen Museen in Bayern, Staatliche Museumsberatung für Nord- und Südhessen, Westfälisches Museumsamt. 13 Hessischer Museumsverband e.V., Museumsverband Baden-Württemberg e.V., Museumsverband des Landes Brandenburg e.V., Museumsverband für Niedersachsen und Bremen e.V., Museumsverband Hamburg e.V., Museumsverband SachsenAnhalt e.V., Museumsverband Schleswig-Holstein e.V., Museumsverband Thüringen e.V., Saarländischer Museumsverband e.V., Sächsischer Museumsbund e.V., Verband Rheinischer Museen e.V., Vereinigung Westfälischer Museen e.V.
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handenen Museen unterstützt. Dabei verfolgen nicht allein die staatlichen Museumsbetreuungsstellen die Intention der „strukturellen Verbesserung“ der Museumslandschaft, sondern auch die Museumsverbände. Dies schließt die Umsetzung museumspolitischer Vorstellungen ein.14 Die Beratungsstellen sehen sich in ihrer Aufgabenerfüllung in der Rolle eines Dienstleisters und Servicepartners. Obwohl sie staatliche Einrichtungen sind bzw. staatliche Aufgaben übernehmen, beanspruchen sie formaljuristisch keine reglementierende oder überwachende Position, da sie den rechtlich selbstständigen Museen gegenüber weder aufsichts- noch weisungsbefugt sind. Dies liegt auch daran, dass sie sich auf keine gesetzliche Grundlage berufen können.15 Daher bieten sie ihrer Klientel Dienstleistungen, deren Inanspruchnahme auf Freiwilligkeit beruht. Diese Dienstleistungen werden kostenlos erbracht. Der Gedanke einer Gewinnorientierung stellt sich nicht, da die Museumsberatungsstellen als Vertreter der Öffentlichkeit agieren. Die Aktivierung des Klienten entspricht dem Grundgedanken der öffentlichen Museumsberatung, die eine ‚Hilfe zur Selbsthilfe’ leisten will. Die Museen erhalten durch keine der drei Hauptaufgaben (Beratung, Fortbildung und finanzielle Förderung) ein vollendetes Lösungskonzept, sondern vielmehr das Handwerkszeug, um sich selbst zu helfen. Die fachliche Einzelberatung der Museen ist das Kernstück der Museumsbetreuung. Dabei nimmt die öffentliche Museumsberatung nach ihrem Selbstverständnis die Rolle eines Begleiters ein, analysiert die derzeitige Situation, gibt Impulse und vermittelt bei Bedarf externes Fachpersonal zur Durchführung von Maßnahmen. Die Dienstleistung seitens der Museumsberatung ist immer zeitlich begrenzt und an eine bestimmte Aufgaben- oder Problemstellung gebunden. Beratungsschwerpunkte liegen etwa in folgenden Bereichen: Museumsmanagement und -verwaltung (Finanzen, Personal, Trägerschaften, Rechts- und Organisationsformen), Besucherservice und -marketing (Besucherorientierung, Veranstaltungsmanagement, Tourismus), Ausstellen und Vermitteln (Gestaltung, Themen, Wanderausstellungen, Museumspädagogik, Neue Medien), Sammeln (Inventarisierung und Dokumentation, Sammlungskonzepte) und Bewahren (Konservierung und Restaurierung).16 Neben der beschriebenen Beratungstätigkeit kann die Museumsbetreuung weitere Querschnittsaufgaben erfüllen wie das Unterhalten eigener Restaurierungswerkstätten, die Ausstellungskooperation, der Leihservice, 14 Vgl. Kilian Kreilinger: Landesstelle 1976-2006. 30 Jahre für die bayerischen Freilichtmuseen. Erinnerungen eines Referenten. In: Landesstelle für die nichtstaatlichen Museen beim Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege: Museum heute. Fakten – Tendenzen – Hilfen. München 2000, S. 12-31; Hans-Walter Keweloh: Der Museumsverband für Niedersachsen und Bremen. Aufgaben und Arbeit. In: Mamoun Fansa und Christian Lamschus (Hg.): Museen im Wandel. Entwicklungen und Perspektiven der Niedersächsischen Museumslandschaft. Festschrift für HansGünter Peters. Lüneburg 1996, S. 128-132. 15 Vgl. Langenstein (wie Anm. 5). 16 Vgl. http://www.museumsverband-hessen.de (19.4.2008), http://www.m-server.de /mvh (25.4.2008).
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die Vernetzung der Museen, das Herausgeben von Zeitschriften als Informa tionsmedien, die Öffentlichkeitsarbeit und die Vermittlung externer Fachkräfte. Während die Aufgaben der finanziellen Förderung und der Fortbildung nicht von allen öffentlichen Museumsbetreuungseinrichtungen angeboten werden, ist die Fachberatung überall vorzufinden und somit als elementarer Bestandteil einzustufen. Hierdurch rechtfertigt sich die Verwendung des Begriffes Museumsberatung, um das Tätigkeitsfeld der Museumsorganisationen zu umschreiben: Museumsberatung ist denn auch die am häufigsten gewählte Benennung im Rahmen der Untersuchung, es folgen die Bezeichnungen Museumsdienstleistung und Museumsbetreuung, weiterhin Museumsförderung und Museumsservice. Museumspflege wird – nur noch – auffallend selten als Bezeichnung des Arbeitsgebietes gewählt. Die Museumsberatung dürfte damit die in der öffentlichen Museumsbetreuung am stärksten etablierte Begrifflichkeit sein. Hinsichtlich der Priorität der Aufgaben ergibt sich bei den Museumsämtern ein homogenes Bild, denn alle führen an, sowohl die Beratung als auch die Fortbildung und finanzielle Förderung eigenständig durchzuführen. Das weitaus differenziertere Ergebnis auf Seiten der Museumsverbände legt letztlich deren heterogene Kompetenzen offen. Die weitaus meisten Verbände geben an, eigenständig Beratungen durchzuführen, und alle Verbände nennen die Fortbildung als eigenständige Dienstleistung. Während die Ämter aber alle drei Aufgaben ausführen, benennen lediglich zwei Verbände die finanzielle Förderung als eigenständiges Aufgabengebiet. Interessant ist, dass die Museumsorganisationen, die finanzielle Förderung anbieten, diese gleichzeitig auch als häufig genutzte Dienstleistung nennen. Die fachliche Einzelberatung macht generell einen Leistungsschwerpunkt aus, aber auch die kollektive Beratung in der Form der Fortbildung nimmt eine nicht zu unterschätzende Bedeutung in der Praxis ein. Die Fortbildung wird von ihren Anbietern als Weg zur Professionalisierung des Museumspersonals umschrieben. Da es im Bereich des Museumswesens nur wenig Fortbildungsangebote gibt, wird diese Aufgabe fast schon regelhaft durch die Museumsämter und -verbände wahrgenommen. Dabei verfolgt sie zumeist den Zweck einer Zusatzqualifikation des wissenschaftlichen Personals für Anforderungen, die sich aus der musealen Praxis ergeben.17 Eine im Bereich der öffentlichen Museumsbetreuung institutionalisierte Fortbildungseinrichtung ist das Fortbildungszentrum Abtei Brauweiler des Rheinischen Archiv- und Museumsamtes. Aktuell finden Überlegungen zu einer Umstrukturierung des Zentrums statt (ab 2009 als LVR-Fortbildungszentrum geführt).18 In der Regel verfügen die Museumsbetreuungsstellen aber nicht über eine professionalisierte Fortbildungs17 Vgl. Thilo Martini: „Also lautet der Beschluß: Daß der Mensch was lernen muß.“ Fort- und Weiterbildungsangebote für Beschäftigte in Museen. In: Matthias Dreyer und Rolf Wiese (Hg.): Museum und Personal. Rosengarten-Ehestorf 2006, S. 57-70. 18 https://dom.lvr.de/lvis/lvr_recherchewww_12wp.nsf/2E5AB1B29BE3D371C12573 91002CBA0B/$file/Begr%C3%BCndung12-2752.rtf (15.1.2008), S. 1-2, vgl. auch Martini (wie Anm. 17).
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einrichtung. Vielmehr greifen sie auf Kooperationen zurück oder beauftragen private Museumsdienstleister mit der Durchführung einzelner Tagungen. In Niedersachsen bietet die Bundesakademie Wolfenbüttel einen Kursbereich an, der Museumsbeschäftigten offensteht. Hierfür wird sie durch das Land institutionell gefördert.19 Die finanzielle Förderung als weitere Aufgabe beabsichtigt die strukturelle Verbesserung der musealen Einrichtungen. Die regionalen Museumsberatungsorgane stellen dabei das verbindende Element zwischen staatlicher Förderpolitik und Museum dar. Ihre Befugnisse bei der Verteilung von Landesmitteln sind von unterschiedlicher Intensität. Sie reichen von der Beratung der Museen und der Begutachtung ihrer Förderanträge über die Erstellung von Empfehlungen an das zuständige Ministerium bis hin zur eigenverantwortlichen Verteilung der Landesmittel. Fördergegenstand sind zeitlich begrenzte Projektvorhaben, die im Rahmen einer Teilfinanzierung in der Regel mit der Übernahme eines Eigenanteils seitens der Museen bezuschusst werden. Es handelt sich ausschließlich um Zuschüsse und nicht um laufende Zuwendungen. Es findet keine finanzielle Unterstützung des Museumsbetriebs oder die Bezuschussung eines Museumsbaus statt. Förderschwerpunkte liegen zumeist in der Sammlungspflege und deren Erhalt (Konservierung, Restaurierung, Inventarisierung und Dokumentation), zudem in der Anschaffung von Museumsinventar oder Ausstellungsmitteln oder im Feld der Museumspädagogik.20 Beim Bestehen eines Museumsamtes erfolgt die Projektfördermittelvergabe ausschließlich durch dieses. Die Fördergelder werden dabei von unterschiedlichen Institutionen zur Verfügung gestellt. Bei Nichtvorhandensein eines Museumsamtes kann die Aufgabe der finanziellen Förderung stellvertretend auch einem Museumsverband obliegen. Da die Fördergelder Mittel des Landes sind, haben im Grundsatz alle Museen (auch Nicht-Verbandsmitglieder) einen Anspruch darauf, allerdings können Qualitätsmaßstäbe, zum Beispiel auf der Basis einer „Museumsregistrierung“ wie in Niedersachsen/Bremen, als Grundvoraussetzung benannt werden. Eine Zwischenlösung ist die gutachterliche Tätigkeit durch einen Museumsverband, der die Förderanträge entgegen nimmt. In einigen Bundesländern ohne Museumsamt verfügen die Museumsverbände lediglich über eine geringfügige Beteiligung am Antragsverfahren. Dieses wird dann maßgeblich durch die zuständigen Ministerien abgewickelt, die Gutachten der Verbände werden häufig nicht als bindend angesehen. Während alle Museumsämter finanzielle Förderung bei Vorhandensein von Eigenkapital der zu fördernden Einrichtung gewähren, ergibt sich für die Mu-
19 http://www.bundesakademie.de/ueberuns.html (19.4.2008). 20 Vgl. Günter Bernhardt und Helmut Knirim: Museumsberatung in Deutschland. Entwicklungslinien und Perspektiven. In: Handbuch Museumsberatung. Akteure – Kompetenzen – Leistungen. Bielefeld 2000, S. 33-42 und Langenstein (wie Anm. 5).
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seumsverbände ein differenzierteres Bild. Die Mehrheit der Museumsverbände gibt an, keine finanzielle Förderung abzuwickeln. Zwei Verbände vergeben finanzielle Förderung bei vorhandenem Eigenkapital der Klientel. Die Höhe der maximalen Fördersumme variiert dabei stark zwischen 2.000 und 100.000 Euro. Ohne Eigenkapital der Museen erfolgt keine Projektförderung. Etwa zwei Drittel der Museumsverbände sind generell nicht in das Förderverfahren der Länder eingebunden. Die Dienstleistung der finanziellen Förderung erschöpft sich nicht in der Begutachtung, Bewilligung und Kontrolle von Projektgeldern. In der Regel werden die Antragsteller bereits vorab beraten und während des Vorhabens begleitet. Eine Steuerung der Museen ist – wenn auch nur in einem begrenzten Rahmen – über die Vergabe monetärer Anreize möglich. Projektvorhaben, die nicht im Sinne der jeweils aktuellen Museumspolitik liegen, können zwar nicht auf direktem Wege verhindert werden, den öffentlichen Museumsbetreuungen ist es aber möglich, finanzielle Förderung zu versagen und somit eine gewisse Steuerung herbeizuführen. Erwünschte und als sinnvoll erachtete Vorhaben können darüber hinaus durch eine Anteilsfinanzierung bestärkt und forciert werden. Aufgrund verknappter finanzieller Mittel, die den Museumsbetreuungsstellen zur Verfügung stehen, wird dies jedoch zunehmend schwieriger.21 Entsprechend sollte die Lenkungsfähigkeit durch den Staat, zumindest gegenwärtig und in näherer Zukunft, nicht überschätzt werden. Daraus ergibt sich die allgemeinere Frage nach Steuerungsinstrumenten, mit deren Hilfe es den Museumsorganisationen möglich ist, lenkend auf ihre Klientel einzuwirken. Alle Museumsämter geben im Rahmen der Untersuchung sowohl die finanzielle Förderung als auch die Beratung als Möglichkeit an, lenkend einzuwirken, bei den Verbänden steht hier die Beratung an erster Stelle. Das Instrument der Beratung bildet also das wichtigste Element der Einflussnahme, gegebenenfalls in Kombination mit der Gewährung von Fördermitteln. Für die Erfüllung ihrer Kernaufgaben benötigt die öffentliche Museumsberatung Ressourcen in Form von Personal und Finanzmitteln. Da keine staatlich sanktionierte Prüfung den Zugang zum Berufsfeld der Museumsberatung regelt, rekrutieren sich die Museumsberater bzw. Referenten aus unterschiedlichen Fachdisziplinen. Die Klientel der Museumsberatung ist mit ihren vielfältigen Gattungen äußerst heterogen, daher setzt sich das Personal der Museumsberatung aus entsprechenden Fachwissenschaftlern der im Museumsbereich vorherrschenden Disziplinen zusammen. Daneben sind Zusatzqualifikationen im Bereich der Betriebswirtschaft und des Managements gefordert. Auch Berufserfahrung im Museum und die Kenntnis der im Zuständigkeitsgebiet des Verbandes bzw. Amtes liegenden Museumslandschaft erweisen sich als vorteilhaft. Da die Museen einem zunehmenden Veränderungsdruck unterliegen, darf der Bedarf an fachli-
21 Vgl. Keweloh (wie Anm. 14).
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chem Beistand als steigend bezeichnet werden. Demzufolge unterliegt auch der Beruf des Museumsberaters dem Anspruch einer ständigen Professionalisierung. Dies bezieht sich auf das hauptamtliche Personal. Im Bereich der Museumsverbände kommen die Vorstandsmitglieder meistens aus der musealen Praxis, in der sie hauptamtlich tätig sind. Sie sind in die museale Wirklichkeit eingebunden und können die Interessen der Museen artikulieren und nachvollziehen. Neben solchen Gründen, die für das Ehrenamt sprechen, treten aber auch Probleme in der Verbandsarbeit auf, besonders wenn die Verbände gezwungen sind, generell auf der Basis ehrenamtlicher Tätigkeit zu arbeiten. So ist es einem ausschließlich aus ehrenamtlichen Mitgliedern bestehenden Vorstand oftmals nicht möglich, den Aufgaben des Verbandes in vollem Maße nachzukommen. Die Personalstruktur der Verbände und Ämter ist äußerst inhomogen. Eine genaue Aufschlüsselung des hauptamtlichen Personals zweier Museumsämter, des Westfälischen Museumsamtes sowie der Landesstelle für die nichtstaatlichen Museen in Bayern, ergibt folgendes Bild: In Bayern sind insgesamt 16 Stellen besetzt, darunter fallen 2 Innenarchitekten, 1 Historiker, 5 Kunsthistoriker, 1 Volkskundler, 2 Restauratoren, 1 Vor- und Frühgeschichtler, 3 Sekretärinnen (z. T. halbtags) und 1 Verwalter. In Westfalen werden 9 Personen beschäftigt, darunter 2 Kunsthistoriker, 1 Volontär, 1 Volkskundler, 1 Vor- und Frühgeschichtler, 2 Restauratoren, 1 Museumspädagoge sowie ein Stelleninhaber in dem Bereich Inventarisierung/Dokumentation. Hinsichtlich der Fachdisziplinen des haupt- wie nebenamtlich tätigen Personals wurden von Seiten der Museumsverbände folgende Berufsgruppen genannt: Historiker, Kulturwissenschaftler, Kunsthistoriker, Volkskundler, Naturkundler, Museologen, Vor- und Frühgeschichtler, Psychologen, Sozialwirte, Verwalter, Ingenieure, Bibliothekare, Germanisten, Juristen und Betriebswirtschaftler. Insgesamt dominieren die Kunstgeschichte, Volkskunde, Geschichte sowie Vorund Frühgeschichte. Auffallend ist, dass lediglich die beiden Ämter Restauratoren als Teil des Personalstammes nennen. Die Beantwortung der Frage nach der Stellenentwicklung innerhalb der letzten 5 Jahre durch die Museumsämter stimmt nachdenklich. Es ist eine deutliche Tendenz zum Stellenabbau erkennbar, insbesondere im Westfälischen Museumsamt, wo u. a. eine zentrale Restaurierungswerkstatt geschlossen wurde. Bei den Verbänden überwiegt nach wie vor die ehrenamtliche Tätigkeit. Lediglich der Museumsverband Thüringen verzeichnet ein Stellenwachstum auf fünf Mitarbeiter (Geschäftsführung, Sachbearbeiter und Museumsberater). Angesichts der Fülle inhaltlicher Schwerpunkte der Fachberatung ist zu hinterfragen, inwiefern es sich bei den öffentlichen Museumsberatern um Spezialisten oder Generalisten handelt. Es fällt auf, dass alle Museumsämter eine Einteilung ihrer Mitarbeiter nach landschaftlichen Regionen vornehmen, was nach sich zieht, dass die betreffenden Referenten jeweils alle inhaltlichen Arbeitsbereiche abzudecken haben. Eine spezialisierte Beratung wird laut dem Westfälischen Museumsamt von den Restauratoren, dem Museumspädagogen und dem Doku-
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mentar durchgeführt. Diese sind für den gesamten Wirkungsbereich des Museumsamtes zuständig. Als Vorteil der regionalen Zuständigkeit benennt das Amt „sehr konkrete fachliche und administrative Kenntnisse der jeweiligen Region; Aufbau einer Vertrauensbasis zu Wissenschaftlern, Verwaltung und Politik vor Ort; fachliche und formale Abwicklung der Förderanträge mit geringstmöglichem Verwaltungsaufwand“. Die Landesstelle in Bayern hebt in Bezug auf die Vorteile der Einteilung nach regionaler Zuständigkeit die Möglichkeit der „Bündelung von Terminen vor Ort […], dadurch Zeit- und Kostenersparnis, Kenntnis von Ansprechpartnern (Landrat etc.)“ hervor. Darüber hinaus gibt die Landesstelle eine Spezialisierung auf Museumstypen seitens ihrer Mitarbeiter an. Eine Einteilung des Personals nach Regionen scheint in der Verbandsarbeit hingegen kaum eine Rolle zu spielen. Lediglich der Sächsische Museumsbund und der Hessische Museumsverband geben eine solche Arbeitsorganisation an. Bei dem Hessischen Museumsverband ist allerdings zu berücksichtigen, dass dieser organisatorisch mit den staatlichen Museumsberatern verbunden ist, welche die Fachberatung übernehmen. Bei den Verbänden dominiert klar die Einteilung der Mitarbeiter entsprechend ihrer Spezialkenntnisse. Neben den eher geringfügigen Beiträgen ihrer Mitglieder sind die Museumsverbände auf weitere Gelder angewiesen, um die Kosten für Räume, Personal und Serviceleistungen decken zu können. Ihre Finanzierung erfolgt über eine Art Finanzierungsmix, der sich u. a. aus den laufenden Zuschüssen öffentlicher Haushalte, den Einnahmen aus Mitgliedsbeiträgen und aus Spenden sowie Sponsoringgeldern zusammensetzt. Die Gelder der öffentlichen Hand sind dabei substanziell. Die staatlichen Museumsämter werden über Landesmittel finanziert, in NRW nach einem Sondermodell der Landschaftsverbände.22 Da die Kulturförderung bekanntermaßen eine freiwillige Aufgabe ist, unterliegt sie in Zeiten knapper Kassen offenbar automatisch finanziellen Kürzungen. Bezogen auf die Höhe der Fördermittel für Museen beklagt die Landesstelle für die nichtstaatlichen Museen in Bayern eine Absenkung der zur Verfügung stehenden Fördergelder binnen 2 Jahren von 2,5 auf unter eine Million Euro. Der Museumsverband für Niedersachsen und Bremen spricht von einer Deckelung der Zuwendungen der Länder seit mehr als fünf Jahren. Bei vier Museumsverbänden ist es zu keiner finanziellen Einschränkung gekommen. Obwohl die Verbände ihre Budgets durch private Mittel wie Spenden oder Mitgliedschaftsbeiträge ausbauen, bleibt die öffentliche Hand ihr Hauptfinanzier. Als entscheidenden Nachteil gegenüber den Museumsämtern beurteilen die Verbände durchgängig ihre ungenügenden finanziellen wie personellen Kapazitäten. Museen stellen eine inhomogene Gruppe dar, hinzu kommt, dass der Museumsbegriff nicht geschützt ist. Da es keine allgemeingültige deutsche Definition des Museums gibt, entscheiden die Verbände und Ämter ausgehend von 22 Vgl. Gert Schönfeld: Kulturpflege durch regionale Kommunalverbände. In: Pappermann/Mombaur (wie Anm. 11), S. 288-296.
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gängigen Definitionen (ICOM) darüber, welche Einrichtungen zu den Museen zu zählen sind.23 Einige Museumsverbände und -ämter nehmen ausdrücklich Sammlungen in ihre Klientel auf. Eine Einschränkung auf bestimmte Museumsgattungen gibt es seitens der Museumsbetreuungsstellen heute nicht mehr.24 Während die Museumsämter ihren Zuständigkeitsbereich auf nichtstaatliche Museen begrenzen, ist eine klare Aussage über Museumsverbände aufgrund der Heterogenität ihrer Zuständigkeitsgebiete nur schwer zu treffen. Lediglich die Museumsverbände der neuen Länder geben bezüglich ihrer Klientel ein annähernd einheitliches Bild ab. So verpflichten diese sich seit ihrer Gründung in der Mehrheit sowohl Museen in staatlicher wie auch nichtstaatlicher Trägerschaft.25 Aber auch in den alten Bundesländern berücksichtigen heute inzwischen die meisten Museumsverbände staatliche Museen, wodurch die Zielgruppe der Museumsbetreuung deutlich anwächst. Die regionale Begrenzung der institutionellen Museumsberatung ist durch politische Entscheidungen entstanden und berücksichtigt zum Teil historische Zusammenhänge, beides wird in der Regel nicht problematisiert.26 Die Grenzen der Bundesländer werden, mit Ausnahme von Hamburg, dessen Museumsverband seinen Zuständigkeitsbereich über seine Stadtgrenzen hinaus definiert, strikt eingehalten. In der Theorie berühren alle Museumsarten gleichermaßen das Wirkungsfeld der öffentlichen Museumsberatung. Die Realität der Betreuungspraxis offenbart hingegen ein differenzierteres Bild und zeigt auf, dass der Beratungsbedarf bestimmter Museen, wie etwa der klassischen Heimatmuseen, stärker ausgeprägt ist als der von anderen.27 Die Gründe für die Überpräsenz von kleinen und mittleren Museen in der Betreuungspraxis – dabei vornehmlich Heimatmuseen - liegen in den finanziellen Engpässen und dem Mangel an hauptamtlichem Fachpersonal, auch in der großen Gesamtzahl.28 Größere Häuser verfügen zumindest theoretisch über ausreichend qualifizierte Mitarbeiter und finanzielle Mittel und haben weniger Beratungsbedarf. Dies gilt insbesondere für Kunstmuseen.
23 Vgl. Eckart Köhne: Museumsstruktur und Beratung in Rheinland-Pfalz. Ergebnisse des „Projekts Museumsberatung“ 2001-2003. In: Museumsmitteilungen RheinlandPfalz. 2002/2003. S. 68-87. 24 http://www.museumsverband-rheinland.de/museum/verband-aufgaben.html (19.4.2008). 25 Vgl. Karge (wie Anm. 6). 26 Vgl. Armin Klein: Kultur-Marketing. Das Marketingkonzept für Kulturbetriebe. 2. Aufl. München 2005. 27 Vgl. Bernhardt/Knirim (wie Anm. 20). 28 Vgl. Langenstein (wie Anm. 5); Institut für Museumsforschung: Statistische Gesamterhebung an den Museen der Bundesrepublik Deutschland für das Jahr 2006. Berlin 2007.
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Das Feld der Museumsberatung in Deutschland gibt, trotz überschaubarer Strukturen, ein vielschichtiges Bild ab. Neben privaten Anbietern, die hier noch nicht ins Blickfeld rücken konnten, existieren zwei Hauptformen der öffentlichen Museumsberatung in einheitlich regionalem Kontext der Bundesländer. Sie geschieht generell auf Wunsch des Klienten und somit auf freiwilliger Basis ohne gesetzliche Einwirkungskraft. Sie wird als zeitlich begrenzte, projektbezogene Dienstleistung verstanden, die eine „Hilfe zur Selbsthilfe“ leisten soll. Während sich die privaten Museumsberater häufig auf einen Bereich spezialisieren, umfasst die öffentliche, institutionelle Museumsberatung bis heute ein breites Aufgabenfeld mit den drei großen Gebieten Beratung, Fortbildung und finanzielle Förderung. Der Kreis der Klientel der öffentlichen Museumsberatung ist regional, aber auch institutionell begrenzt. Die Museumsämter fokussieren sich ausschließlich auf nichtstaatliche Häuser ihres Zuständigkeitsgebietes. Im Bereich der Verbände findet hinsichtlich bestimmter Leistungen zudem eine Beschränkung auf Vereinsmitglieder statt. Die Museumsämter agieren im Sinne der Kulturpolitik ihres Sitzlandes. Da die Museumsverbände häufig Aufgaben des Staates übernehmen, verfahren sie im Einvernehmen mit der Landespolitik. Gleichzeitig verpflichten sie sich der Interessenvertretung ihrer Verbandsmitglieder. Erklärtes Ziel beider Museumsorganisationen ist die nicht-kommerzielle, qualitative Verbesserung der Museumslandschaft. Zur Umsetzung dieses Auftrages ist ein Gesamtüberblick über die Museen ihres Wirkungskreises unabdingbar.29 Nach dem Selbstverständnis der Museumsberatung wird der Auftrag verfolgt, auf eine museologisch wie auch kulturpolitisch „ausgewogene“ und qualitativ hochwertige Museumslandschaft hinzuwirken – wobei die Begriffe der Ausgewogenheit und der Museumslandschaft eine problematisierende Diskussion verdient hätten. Gerade in Zeiten von Verwaltungsreformen und Einsparungen muss die öffentliche Museumsberatung ihren Nutzen hinterfragen lassen. Ihre Bestandteile, also die Interessenvertretung der Museen und der Kulturpolitik, die nicht auf Gewinn ausgerichtete Arbeit, der Überblick zur Museumslandschaft, die finanzielle Förderung, die Kooperation mit Verbänden und die museumsfachliche Diskussion sind sicher nicht mittels privater Museumsdienstleistungen allein zu gewährleisten. Es zeichnet sich ab, dass die Museumsverbände gegenüber den Museumsämtern das überlebensfähigere Modell zu sein scheinen. Die Erledigung der Hauptarbeit der Verbände über das Ehrenamt wird dabei als Kompensation für öffentlich nicht mehr finanzierbare Leistungen genutzt. Diese Tendenz wird sich in den nächsten Jahren wohl noch deutlicher herauskristallisieren.
29 Vgl. Langenstein (wie Anm. 5).
He imatmuseen mit Leitbild und Entw icklungsk onze pt? Das Beispiel Leer SWANTJE HEUTEN Knapp die Hälfte der mehr als 6.000 Museen in Deutschland sind kleine Einrichtungen mit regionalgeschichtlichen, volks- oder heimatkundlichen Sammlungsschwerpunkten. Üblicherweise werden sie unter der Rubrik „Heimatmuseum“ verortet, wenngleich nur ein Teil von ihnen diesen Titel noch trägt. Sie stellen einen bedeutenden Anteil der Museumslandschaft Deutschlands dar und sind feste Institutionen des gesamtkulturellen Angebots unserer Gesellschaft. Nach zahlreichen Gründungen von Geschichts- und Altertumsvereinen mit eigenen Sachgut-Sammlungen um 1900 kam es nach dem 1. Weltkrieg zu einer erneuten Gründungswelle von Heimatmuseen. Die meisten blieben über den 2. Weltkrieg hinweg erhalten. Die Zahl lokaler und regionaler Museen stieg weiter stetig an und erreichte in den 1970er Jahren einen Höhepunkt. Durch emanzipatorische Prozesse im Bildungs- und Kultursektor öffneten sich die Museen breiteren Bevölkerungsschichten, nicht zuletzt da öffentliche Fördermittel in einem zuvor nicht gekannten Ausmaß flossen. Daraus resultierten Überarbeitungen der Ausstellungskonzeption sowie der Museumspädagogik. Diese „Modernisierungswelle“ reichte bis weit in die 1980er Jahre hinein. Die allgemeine Tendenz wurde bereits am Ende der 1980er Jahre als Museumsboom bezeichnet. Die neue Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte vor Ort bewirkte ein steigendes Interesse an der Geschichts- und Museumsarbeit und am Heimatmuseum1 selbst. Definitorisch sind die Heimatmuseen zu verstehen als „Museen von örtlicher oder regionaler Ausstrahlungskraft, in denen ganz allgemein geschichtliche, vor
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Vgl. Carsten Sternberg: Überlegungen zum deutschen Heimatmuseum, dargestellt am Kempener Kramer-Museum. In: Hanswilhelm Haefs (Hg.): Die deutschen Heimatmuseen. Frankfurt/M. 1984, S. 97-101. Martin Roth: Heimatmuseum. Zur Geschichte einer deutschen Institution. Berlin 1990. Joachim Meynert und Volker Rodekamp (Hg.): Heimatmuseum 2000. Ausgangspunkte und Perspektiven. Bielefeld 1993.
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allem aber kultur- und kunstgeschichtliche Zeugnisse verwahrt und ausgestellt werden.“2 Gegenüber den Heimathäusern und Heimatstuben ist zudem eine Abgrenzung erforderlich. Heute ist der Terminus „Heimatmuseum“ mit ambivalenten Assoziationen besetzt. Ein Grund für negative Betrachtungsweisen mag die enge Verbindung zum Missbrauch des Heimatbegriffs3 im Nationalsozialismus sein. Das schlechte Image der Bezeichnung Heimatmuseum führte vielerorts zur Umbenennung und Umstrukturierung der Einrichtungen in Stadt- oder Lokalmuseen. Auf die positiven Aspekte der Geschichte des Heimatmuseums aufbauend besteht, so die nicht mehr seltene Meinung, allerdings die Möglichkeit, den Terminus bewusst beizubehalten. Auf diese Weise kann die Entwicklung dieser Institution verdeutlicht und ein offener Umgang mit dem Heimatbegriff gezeigt werden, wobei die Selbstvergewisserung von Heimat fernab ideologischer Funktionalisierung betrieben werden sollte.4 Die sich häufig einstellende Assoziation, ein Heimatmuseum sei ein historisches Gebäude, voll gestopft mit Objekten unterschiedlichster Art, verweist auf ein sehr prägnantes Merkmal, die materielle Vielfalt.5 Die Wurzel der meist „planlosen“ Anlegung und Erweiterung der Sammlung mit ihrem breiten Spektrum verweist vielfach auf ihre Gründung und frühe Entwicklung. Die Exponate stammen mit teilweise unterschiedlicher Gewichtung aus der Vor- und Frühgeschichte, Volkskunde, Kunstgeschichte, Naturgeschichte, Wirtschafts- und Industriegeschichte, vorwiegend aus einem begrenzten, überschaubaren geographischen Raum. Die Kernaufgaben der Einrichtung werden vielfach von ortsansässigen Ehrenamtlichen übernommen. Dieses „Museumspersonal“ bringt Kenntnisse unterschiedlichster Fachrichtungen mit, ist aber kaum im Bereich wissenschaftlicher Museologie qualifiziert. Nicht selten ist eine solche Einrichtung stark auf die persönlichen Interessen der (ehrenamtlichen) Leitung6 ausgerichtet. Ein Problem für Heimatmuseen angesichts mangelnder Ressourcen liegt in der Erfüllung der Kernaufgaben eines Museums. Ein strukturelles Merkmal bezieht sich auf die Gründung der Heimatmuseen. Vielfach waren Lehrer Gründer, aktive Mitarbeiter oder Leiter von Hei2 3 4
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York Langenstein: Qualitätsstandards und Qualitätssicherung in einer heterogenen Museumslandschaft. In: Museumskunde 69 (2004), S. 14-21, hier S. 15. Vgl. Andrea Bastian: Der Heimat-Begriff: eine begriffsgeschichtliche Untersuchung in verschiedenen Funktionsbereichen der deutschen Sprache. Tübingen 1995. Vgl. etwa Dorothea Kolland: Neukölln und sein Museum. In: Oliver Bätz und Udo Gößwald (Hg.): Experiment Heimatmuseum. Zur Theorie und Praxis regionaler Museumsarbeit. Marburg 1988, S. 20-29. Vgl. Heinz Reif: Schwierigkeiten mit Tradition. Zur kulturellen Praxis städtischer Heimatmuseen. In: Gottfried Korff und Martin Roth (Hg.): Das historische Museum. Labor, Schaubühne, Identitätsfabrik. Frankfurt/M. 1990, S. 231-247, hier S. 234. Vgl. Markus Walz: Handbuch zur ehrenamtlichen Museumsarbeit. Leitfaden für die Praxis. Münster 2001.
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matmuseen. Ein zusätzlicher Schnittpunkt zum Schulwesen war seit dem frühen 20. Jahrhundert der Heimatkundeunterricht, der seit der Grundschulreform von 1969 in den Sachunterricht überging. Lehrer brachten museale Objekte zur Anschauung mit in die Schule, oder die Schüler gingen ins örtliche Museum. Heute noch stellen Schulklassen die stärkste Besuchergruppe von Heimatmuseen. Sinkende Fördergelder, aber auch Besucherzahlen sind für viele Museen existenzbedrohend. Besonders kleine Einrichtungen spüren die Gefahr, den Museumsbetrieb nicht mehr aufrecht erhalten zu können. Selbst wenn man nicht den eher idealistischen Standpunkt einnimmt, dass jedes Museum, jede Sammlung und jedes Objekt, das verloren geht, den Verlust eines Stücks der eigenen Identität bedeutet7, so dürfte diese Aussage doch auf zahlreiche gewachsene Sammlungen zutreffen, die in ihrem Heimatort fest verankert sind. Ihre Besucherzahlen sind dabei im Hinblick auf die Identitätsfunktion häufig zweitrangig. Um den Erhalt solcher Museen zu gewährleisten und nicht nur ihre Sachgut-Bestände, sondern auch ihren kulturellen Stellenwert als „offene“ Einrichtungen dauerhaft zu sichern, bedarf es neuer Strategien. Obwohl bei der Betrachtung der „Institution Heimatmuseum“ die angedeuteten strukturellen Merkmale und charakteristische Ausprägungen zu berücksichtigen sind, sollten allgemeingültige Standards für die Museumsarbeit auch auf Heimatmuseen übertragbar sein.8 Die Einführung von Registrierungs- oder Reglementierungsverfahren kann einerseits auch diesen Museen als Maßstab für die Qualität der eigenen Arbeit dienen. Andererseits können solche Maßnahmen vor allem der staatlich-öffentlichen Museumsförderung eine Absicherung geben, um bei der Verteilung von finanziellen Ressourcen Nachhaltigkeit zu erreichen. Ziel derartiger Strategien ist es, durch festgelegte Kriterien einen allgemeingültigen Standard zu erreichen – unabhängig von der bestehen bleibenden Variationsvielfalt.9 Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll, ein methodisch beispielhaftes Vorgehen für kleinere Museen zu konzipieren, das ihnen als Richtlinie dienen kann, sich den kommenden Standards zu nähern, letztlich um ihre Existenz nachhaltig zu sichern. Dazu wurde ein Gerüst für die Erstellung eines Museumskonzeptes entwickelt, in dem zukünftige Anforderungen wie ein Leitbild und Entwicklungskonzept integriert sind. Bei diesem Versuch bleibt allerdings die generelle Frage an die zukünftige Realität bestehen, ob sich Leitbild und Entwicklungskonzept als Professionalisierungsstrategie überhaupt mit dem Grundgedanken des „freien“, unprofessionell geführten Heimatmuseums vertragen. Diese Voraussetzungen und Fragestellungen werden nachfolgend in skizzenhafter Form anhand des Heimatmuseums der ostfriesischen Stadt Leer überprüft. 7 8 9
Vgl. Michael Eissenhauer: Strukturkrise als Chance zur kritischen Revision. Ein Grundsatzreferat zur Zukunft der Museen. In: Museumskunde 70 (2005), S. 21-25. Vgl. Kornelius Götz: Mindeststandards für Museen: Bewahren. In: Museumskunde 70 (2005), S. 54-56. Vgl. Kurt Dröge: Probleme der „zentralen Betreuung“ von Heimatmuseen. In: Martin Scharfe (Hg.): Museen in der Provinz. Tübingen 1982, S. 61-71.
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Ostfriesland als periphere Region in Nordwest-Deutschland beherbergt im Vergleich zur überregionalen Statistik mit 75 % überdurchschnittlich viele Heimatmuseen. Der Konkurrenz- und Legitimationsdruck ist dementsprechend hoch und die Einführung von Standards für die Museumsarbeit scheint gerade hier besonders erforderlich zu sein. Nicht zuletzt aus diesem Grund wurde Ostfriesland als Pilotregion für neue Strategien zur Reformierung von Museumsarbeit und regionaler Museumspflege bereits des öfteren ausgewählt, um die Anwendbarkeit von zuvor theoretisch geführten Debatten zu überprüfen.10 Das Heimatmuseum Leer, das als ältestes Heimatmuseum Ostfrieslands auf eine 100-jährige Geschichte in der Trägerschaft des Heimatvereins Leer zurück blickt, ist ein aussagekräftiges Beispiel für die Möglichkeiten, aber auch Schwierigkeiten, wie sich Lokalmuseen in der gegenwärtigen kulturpolitischen Situation mit objektivierbaren strukturellen Maßnahmen um ihre Weiterexistenz bemühen können. Das Museum entstammt der Sammlung des „Vereins zur Errichtung einer Altertümer-Sammlung“, der 1889 gegründet wurde und sich mit dem Heimatverein 1912 zusammen schloss. Der „Verein für Heimatschutz und Heimatgeschichte Leer/Ostfriesland e. V.“ unterhält eine rechtlich klar definierte Abteilung zur Unterhaltung des Heimatmuseums. Vom Anspruch her war das Heimatmuseum Leer von vornherein kein Lokal-, sondern ein ostfriesisches Regionalmuseum. Im Gegensatz zum benachbarten Ostfriesischen Landesmuseum in Emden, das seit langem hauptamtlichprofessionell geführt wird und in den letzten Jahren unter großem finanziellen Aufwand eine Neukonzeption erfahren hat, gilt für das Heimatmuseum Leer jedoch nach wie vor die Entscheidung, mit dem Betrieb durch den örtlichen Heimatverein die „bürgerschaftliche“ Verantwortung beizubehalten. Dabei übernimmt die Stadt Leer als freiwillige Leistung einen Teil der Grundausstattung des laufenden Betriebs, der in autarker Form nicht denkbar wäre. Durch die Museumsentwicklung in der Gesamtregion Ostfriesland ist das Heimatmuseum Leer gegenüber dem Landesmuseum Emden de facto immer ein örtliches Heimatmuseum mit qualitativ teilweise höchst wichtigen Beständen geblieben. Immer hat das in ihm tätige Museumspersonal, bei dem sich stetig auch neue Arbeitsgruppen entwickelt haben, eine intensive Identifikation mit dem Museum gezeigt. Dies hat sich durchweg positiv auf den Betrieb ausgewirkt, zeigt allerdings auch Nachteile, wenn die Identifikation so weit geht, dass sie in potentielle Subjektivierung und Privatisierung münden kann, die über ein gesundes Misstrauen gegenüber der Einflussnahme und den Kontrollmechanismen von 10 Dem frühen museumspädagogischen Projekt MoBiLe folgte ein Inventarisierungsprojekt, vgl. Dirk Heisig: M.O.I.N. – Zwei Jahre erfolgreiche Netzwerkarbeit. Ein Projekt der Ostfriesland Stiftung der Ostfriesischen Landschaft. In: Mitteilungsblatt des Museumsverbandes Niedersachsen und Bremen. Bd. 64. Hannover 2003, S. 3541. Ausgesprochen innovativ war das bisher letzte ostfriesische Verbund-Projekt, vgl. Dirk Heisig (Hg.): Ent-Sammeln. Neue Wege in der Sammlungspolitik von Museen. Aurich 2007.
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Standardisierungsinstanzen noch hinaus geht. Hier dürfte wohl eine Grundproblematik jedes ehrenamtlich betriebenen Heimatmuseums liegen. Positiv formuliert liegen hier aber auch große Chancen für die Erstellung eines Leitbildes vor, das eine vorhandene Identifikation aufnehmen kann. Damit kann das alte Selbstverständnis des Heimatmuseums, einerseits „Tradition zu bewahren“ in Gestalt der Sammlung von Altertümern, und andererseits „Menschen zu verbinden“ als Akt kommunaler Gemeinschaftspflege, in Form einer doppelten Aufgabenstellung auch in ein Leitbild nach modernem Muster eingehen. Ein Entwurf für das Heimatmuseum Leer könnte dann folgendermaßen aussehen:11 Wir sammeln und bewahren die materielle Kultur der Wohn- und Arbeitswelt der Stadt Leer und Ostfrieslands. Damit sind wir ein Teil des kulturellen Gedächtnisses der Region und tragen zur kulturellen Identität der Stadt Leer und Ostfrieslands bei. Wir präsentieren Teile unserer Sammlung von etwa 10.000 Objekten in einer regelmäßig geöffneten Dauerausstellung. Sonderausstellungen bilden für uns eine ergänzende Möglichkeit, zur Bildung und Unterhaltung unserer Besucher beizutragen. Wir ermutigen das Erforschen von heimatkundlichen Themen in unserem Archiv und in unserer Bibliothek. Wir arbeiten für unsere jetzigen Besucher und zukünftigen Generationen. Unser Publikum setzt sich aus interessierten einheimischen Erwachsenen und Schulklassen, Touristen aus den Niederlanden, Gruppen etwa aus Partnerstädten sowie Urlaubern der Nordseeküste zusammen. Diesem vielfältigen Publikum bieten wir in unserer Dauerausstellung einen Einblick in die ostfriesische Wohnkultur, die typische Leeraner Heringsfischerei und Werke des ostfriesischen Malers Ernst Petrich. Wir veranstalten mehrere Sonderausstellungen im Jahr. Das Heimatmuseum Leer wird derzeit von einem Arbeitskreis geleitet. Bei unserer Arbeit im Museum legen wir Wert auf das Miteinander. Mit persönlichem Engagement unserer rund 30 ehrenamtlichen Kräfte bearbeiten wir die uns übertragenen musealen Aufgaben. Unsere Arbeitsgrundlage sind die Ethischen Richtlinien für Museen von ICOM. Wir versuchen, museale Standards zu realisieren. Wir wollen in Zukunft verstärkt den direkten Kontakt zur Öffentlichkeit pflegen, um das Verständnis und Interesse für die lokale Geschichte zu fördern. Unsere Vision ist es, ein zukunftsorientiertes Museum zu sein, das die Standards für die Museumsarbeit in Deutschland erfüllt und den Besuchern einen verantwortungsbewussten, qualitätvollen Umgang mit den musealen Objekten gewährleistet, transparent und kooperativ arbeitet sowie eine Grundausstattung an Serviceleitungen bietet. 11 Der Entwurf lehnt sich teilweise an vorhandene Leitbilder großer Museen an: Badisches Landesmuseum Karlsruhe, Staatliche Museen Kassel, Mission Statement des People’s History Museum Manchester.
370 | SWANTJE HEUTEN
Wir sind uns der Aufgabe, ein Museum zu betreiben, bewusst und werden auch in Zukunft sachgemäß, respektvoll und mit Engagement unsere Aufgaben erfüllen, um das Fortbestehen und die Qualität des Heimatmuseums Leer zu sichern. Kennzeichnend für diesen Entwurf ist der Versuch, örtliche Besonderheiten und allgemeine Standards wie auch museologische Grundbedingungen so miteinander zu verbinden, dass eine Realisierung ohne Motivationsverlust möglich ist. Ein nächster Schritt wäre dann die Erstellung eines Entwicklungskonzeptes, das einen schwierigen Mittelweg zu gehen hätte, indem es dauerhaft eine Rückentwicklung des Museums zu einer Heimatstube vermeiden müsste, andererseits aber auch zukünftig vermutlich auf eine langfristig angelegte hauptamtliche Leitung verzichten muss. Für diesen Weg können mehrere Szenarien angenommen werden, deren Realisierung von weiteren Diskussionen der Beteiligten in Leer und in der ostfriesischen sowie auch niedersächsischen Museumsbetreuung abhängig wäre. Dazu gehören verschiedene Modelle einer zukünftigen Trägerschaft unter Mitbeteiligung eines Fördervereins oder öffentlicher Institutionen. An dieser Stelle schließt sich ein Kreis, der das „Problem Heimatmuseum“ von Anfang an bezeichnet, diese Institution aber auch ständig beschränkt hat. Das Heimatmuseum Leer ist, seit es vor gut 100 Jahren entstanden ist, ohne das Engagement Einzelner aus dem Heimatverein heraus nicht lebensfähig, ja kaum denkbar. Es ist damit aber auch abhängig von diesem örtlich-individuellen Engagement, was bedeutet, dass es bei dessen Reduzierung in seiner Existenz bedroht ist. An dieser Stelle kommt die kulturbewahrende Aufgabe der Öffentlichkeit und des Staates ins Spiel. Denn wo vielleicht noch auf einen möglicherweise ohnehin sehr reduzierten Museumsbetrieb vollständig verzichtet werden könnte, da gibt es doch immer Bestände von Kulturgut, die bewahrenswert bleiben und dem musealen Kreis nicht mehr entzogen werden dürften. Da diese Bewahrung, unabhängig von der Präsentationsform, auch immer im Sinne des jeweiligen Heimatvereins sein dürfte und müsste, kann sie wohl als konzeptionelle Grundlage dienen für Modelle, die den Bestand eines Heimatmuseums sichern und seinen Betrieb dem vereinsmäßigen Engagement überlassen. Dazu gehört die Kooperationsbereitschaft des beteiligten Heimatvereins, aber auch die Fähigkeit der regionalen Museumsbetreuung, die „Freiheit“ der Museumsarbeit vor Ort nicht allzu stark einzuschränken – nur beim konservatorischen Umgang mit den Objekten sollten einheitliche Kriterien anerkannt sein. Wohin der Weg des Heimatmuseums Leer führt und welche Entscheidungen an Weggabelungen getroffen werden, bleibt Gegenstand weiterer Beobachtung wie auch Förderung und Beratung.
Ve rzeic hnis de r Masterarbeite n. Studie nga ng „Muse um und Au s s tellung“, Carl von Os s ietzk y Uni ve rs itä t Olde nburg (2 002 bis 2009)
Aydin (Ermete), Karen: Konstruktion und Rekonstruktion im archäologischen Museum. Eine vergleichende Betrachtung fundstellenbezogener Themenausstellungen (Betreuer: Peter Kneissl und Mamoun Fansa, 2003) Beyer, Vera: Schaudepots. Untersuchung einer ergänzenden Form der Dauerausstellung (Betreuer: Detlef Hoffmann und Kurt Dröge, 2008) Borgmann, Verena: Die Sammlungs- und Ausstellungspolitik der Kunsthalle Bremen unter Emil Waldmann. 1914-1932 (Betreuer: Detlef Hoffmann und Dorothee Hansen, 2006) Buchholz, Stephanie: Regionale Museumsberatung in Deutschland – institutionalisierte Betreuung von Museen durch Museumsämter und Museumsverbände (Betreuer: Kurt Dröge und Ewald Gäßler, 2008) Deterding, Tobias: Ausstellungen und Museen der Elektrizitätswirtschaft zwischen Museumsanspruch und Corporate Communication (Betreuer: Kurt Dröge und Detlef Hoffmann, 2008) Dittel, Anette: Zwischen Wunderkammer und Pictorial Turn: die neue Dauerausstellung des Landesmuseums für Natur und Mensch in Oldenburg (Betreuer: Detlef Hoffmann und Kurt Dröge, 2006) Dori, Aikaterini: Museum und nationale Identität am Beispiel der kulturhistorischen Ausstellung „Was ist deutsch?“ im Germanischen Nationalmuseum, Nürnberg 2. Juni – 3. Oktober 2006 (Betreuer: Berit Pleitner und Dietmar von Reeken, 2007) Havemann, Antje: Die Fotografie der deutsch-deutschen Grenze in den Präsentationen ausgewählter Grenzmuseen (Betreuer: Detlef Hoffmann und Silke Wenk, 2003)
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Hennig, Susanne Ruth: Inszenierung des Unbewegten: die Magazin-Fiktion. Eine kritische Betrachtung der ständigen Ausstellung des DHM im ehemaligen Zeughaus von Berlin (Betreuer: Detlef Hoffmann und Kurt Dröge, 2009) Henning (Heuten), Swantje: Heimatmuseum - eine zukunftsfähige Institution? Ein Leitbild und Entwicklungskonzept am Beispiel Leer (Betreuer: Kurt Dröge und Dirk Heisig, 2005) Hossain, Annika: Die Musealisierung der Landschaft in den Abruzzen: Stillstand oder Chance für die Zukunft? (Betreuer: Carmen Mörsch und Detlef Hoffmann, 2007) Hummerich, Heike: Die Freilichtbühne „Stedingsehre“ Bookholzberg im Kontext vergleichbarer NS-Kultstätten. Ein Konzept für ein zukünftiges Dokumentationszentrum (Betreuer: Gerhard Kaldewei und Kurt Dröge, 2009) Kratz, Bettina: Produktpolitik als Instrument des Marketings an Kunstmuseen am Beispiel ausgewählter Sonderausstellungen (Betreuer: Rudolf Holbach und Beate Bollmann, 2008) Müller, Tobias: Museum contra Eventkultur? Eine Untersuchung anhand der Doppelausstellung „Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962 bis 1806“ in Magdeburg und Berlin (Betreuer: Detlef Hoffmann und Kurt Dröge, 2007) Müller, Ulrich: Flucht ins Museum? Flucht im Museum?: das ostpreußische Landesmuseum Lüneburg zwischen Mythos, Erinnerung, Geschichte und Gegenwart (Betreuer: Detlef Hoffmann und Kurt Dröge, 2006) Neumann, Antje: „Was Ihr wollt!“: Begleitung und Auswertung eines partizipatorischen Ausstellungsprojekts in der Kunsthalle in Wilhelmshaven aus der Perspektive der Kunstvermittlung (Betreuer: Carmen Mörsch und Detlef Hoffmann, 2005) Otten, Anja: Die Ausstellungsmethoden von Textilindustriemuseen (Betreuer: Detlef Hoffmann und Richard Stinshoff, 2005) Otto, Anke: Strukturelle Entwicklung norddeutscher Künstlerhäuser des 20. Jahrhunderts (Betreuer: Ewald Gäßler und Kurt Dröge, 2005) Pössel, Christina: Eine Ordnung des Wissens: die Lehrmittelsammlung der Schulgeschichtlichen Sammlung in Bremen (Betreuer: Detlef Hoffmann und Kurt Dröge, 2005) Probst, Karina: „Maikäfer flieg ...“: eine Ausstellung zu Kindheitserfahrungen 1940 - 1960 im Ruhrlandmuseum Essen (Betreuer: Detlef Hoffmann und Antje Sander, 2002) Reiner, Linda: Die Ausstellungsinszenierung der documenta 12 im Museum Fridericianum (Betreuer: Kurt Dröge und Detlef Hoffmann, 2008) Richter, Melanie: Eingangssituationen in deutschen Museen: Geschichte, Analyse, Kritik (Betreuer: Detlef Hoffmann und Antje Sander, 2003) Rief, Katrin: Selectie 1: achter de schermen: die erste Ausstellung im ModeMuseum des Antwerpener Modezentrums ModeNatie: ein Anlass zur näheren
VERZEICHNIS DER MASTERARBEITEN | 373
Betrachtung des Museumstypus Modemuseum (Betreuer: Detlef Hoffmann und Kurt Dröge, 2006) Schoene, Katja: Überlegungen zum Pommerschen Kunstschrank und zu seiner musealen Präsentation (Betreuer: Detlef Hoffmann und Antje Sander, 2006) Steffen, Ulrike: Abgrenzung und Aneignung: zum gesellschaftlichen und musealen Umgang mit einem Oldenburger „Heimatmaler“: Hugo Duphorn (Betreuer: Kurt Dröge und Ewald Gäßler, 2005) Tschirner, Ulfert: Zur Musealisierung von Photographien im 19. Jahrhundert: historische Analyse einer Sammlung des Germanischen Nationalmuseums (Betreuer: Detlef Hoffmann und Rudolf Holbach, 2003) Tsitsirikou, Eleni: Carlo Scarpas Projekte für Dauerausstellungen (Betreuer: Detlef Hoffmann und Kurt Dröge, 2004) Tura, Sibylle: Die Präsentation des Topkapi-Dolches in der Ausstellung „Schätze aus dem Topkapi Serail“ in Berlin 1988 (Betreuer: Detlef Hoffmann und Rudolf Holbach, 2002) Weniger, Andrea: Der Sammler und die Seinigen: Die Gemäldesammlung des Aeltermann Theodor Gerhard Lürman (1789-1865) im Kontext ihrer Entstehungszeit in Bremen (Betreuer: Dorothee Hansen und Detlef Hoffmann, 2008) Ziomek-Beims, Magdalena: Kuratieren im OFF-Bereich. Kuratorische Praxis am Beispiel des deutsch-polnischen Kulturaustausches (Betreuer: Detlef Hoffmann und Kurt Dröge, 2009)
Au torinne n und Autore n
Aydin, Karen, Studium Geschichte, Evangelische Theologie und „Museum und Ausstellung“, Promotion in Alter Geschichte in Oldenburg, seit 2003 wiss. Mitarbeiterin am Landesmuseum für Natur und Mensch in Oldenburg. Beyer, Vera, Studium Kunstgeschichte, Klassische Archäologie, Niederlandistik in Münster und Leipzig, „Museum und Ausstellung“ in Oldenburg, 2006-08 Volontariat am LVR-Industriemuseum, Schauplatz Engelskirchen, seit 2009 Museologin bei den Technischen Sammlungen der Museen der Stadt Dresden. Borgmann, Verena, Studium Kunstgeschichte in Karlsruhe, 2002/03 Mitarbeit im Badischen Landesmuseum Karlsruhe, Studium „Museum und Ausstellung“ in Oldenburg, 2006/07 Mitarbeit in der Kunsthalle Bremen, seit 2007 wiss. Mitarbeiterin in den Kunstsammlungen Böttcherstraße, Bremen. Buchholz, Stephanie, Studium Pädagogik und Angewandte Kulturwissenschaft/ Kulturarbeit in Karlsruhe und „Museum und Ausstellung“ in Oldenburg, seit 2009 wiss. Volontärin beim LVR-Industriemuseum, Schauplatz Oberhausen. Deterding, Tobias, Studium Geschichte und Germanistik in Hannover, Museumspraktika und Mitarbeit an regionalgeschichtlichen Ausstellungsprojekten, Studium „Museum und Ausstellung“ in Oldenburg, Dissertationsprojekt. Dittel, Anette, Design-Studium in Köln (FH) und „Museum und Ausstellung“ in Oldenburg, seit 2005 freiberuflich tätig für Ausstellungsagenturen. Dori, Aikaterini, Studium Klassische Archäologie, Alte Geschichte sowie Vorund Frühgeschichte in Marburg und „Museum und Ausstellung“ in Oldenburg, Praktikum im DHM Berlin, Kunstvermittlerin auf der documenta 12 in Kassel, seit 2008 Promotion in Archäologie in Marburg.
376 | MUSEUM REVISITED
Dröge, Kurt, Museums- und Lehrtätigkeit mit Schwerpunkt historische Sachkulturforschung. Havemann, Antje, freie Mitarbeit in Planungsbüros und Forschung, Studium Landschafts- und Freiraumplanung in Hannover und „Museum und Ausstellung“ in Oldenburg, 2007 Mitarbeit im EuRegionale 2008-Projekt „Pferdelandpark“, seit 2008 Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Planungstheorie und Stadtentwicklung in Aachen. Hennig, Susanne Ruth, Studium Kunstgeschichte und Germanistik in Freiburg, Berlin und Pisa, „Museum und Ausstellung“ in Oldenburg. Heuten (Henning), Swantje, Studium Geographie, Geschichte und Kunst sowie „Museum und Ausstellung" in Oldenburg, seit 2007 dort wiss. Mitarbeiterin im kulturtouristischen Institut „Routes to the Roots“. Hoffmann, Detlef, nach verschiedenen Museumstätigkeiten Professur für Kunstgeschichte in Oldenburg bis 2006, seitdem als Kunsthistoriker und Ausstellungskurator tätig. Hossain, Annika, Studium Kunstgeschichte, Anglistik und Amerikanistik in Bochum und Bologna sowie „Museum und Ausstellung“ Oldenburg, Kunstvermittlerin bei der documenta 12 in Kassel, bis 2009 Galerieassistentin in Karlsruhe, derzeit Promotionsprojekt am SIK, Zürich. Hummerich, Heike, Studium Kunstgeschichte, Deutsche Philologie und Erziehungswissenschaften in Münster und „Museum und Ausstellung“ in Oldenburg, derzeit wiss. Mitarbeiterin im Projekt „Netzwerk Museumspädagogik (Museumsverbund Wesermarsch). Kratz, Bettina, Studium Medien- und Kulturwissenschaften, anschließend „Museum und Ausstellung“ in Oldenburg, Praktika in Kunst- und Kulturinstitutionen mit Schwerpunkt Marketing & Kommunikation, seit 2009 tätig im Bereich PRAgentur und -Beratung. Müller, Tobias, Studium Mittelalterliche Geschichte, Sächsische Landesgeschichte und Evangelische Theologie in Dresden sowie „Museum und Ausstellung“ in Oldenburg, Mitarbeit bei der Jubiläumsausstellung der Universität Leipzig, seit 2010 wiss. Leitung des Vogtländischen Freilichtmuseums Landwüst. Müller, Ulrich, Studium Slawistik und Geschichte in Berlin und Wien sowie „Museum und Ausstellung“ in Oldenburg, freier Mitarbeiter Städtische Museen Dresden.
AUTORINNEN UND AUTOREN | 377
Neumann, Antje, Studium Kunstpädagogik, Erziehungswissenschaft und Psychologie in Greifswald, „Museum und Ausstellung“ in Oldenburg, Kunstvermittlerin auf der documenta 12 in Kassel, 2008 wiss. Volontärin am LWL-Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte in Münster, seit Herbst 2008 Mitarbeiterin in der Museumspädagogik am Neuen Museum in Nürnberg. Otten, Anja, Studium Geschichte Südasiens, Mittlere und Neuere Geschichte sowie Religionswissenschaft in Heidelberg, „Museum und Ausstellung“ in Oldenburg, freie Mitarbeit in Kulturforschung und -lehre. Otto, Anke, Studium Restaurierung in Hildesheim sowie „Museum und Ausstellung“ in Oldenburg, Mitarbeiterin des Focke-Museums Bremen sowie freiberuflich tätig. Pössel, Christina, Studium Neue Geschichte, Mittelalterliche Geschichte und Soziologie in Essen sowie „Museum und Ausstellung“ in Oldenburg, heute als Helen Doron Early English Teacher tätig. Probst, Karina, Studium Geschichte und Kunst in Flensburg sowie „Museum und Ausstellung“ in Oldenburg, derzeit tätig als Realschul-Lehrerin. Reiner, Linda, Studium Visuelle Kommunikation in Weimar und „Museum und Ausstellung“ in Oldenburg, Kunstvermittlerin auf der documenta 12 in Kassel, seit 2008 Volontariat mit Schwerpunkt Grafik und Ausstellungsgestaltung am Staatlichen Museum für Naturkunde Karlsruhe. Richter, Melanie, Studium Germanistik und Kunstgeschichte in Dresden und Washington DC sowie „Museum und Ausstellung“ in Oldenburg, Volontärin Staatliche Museen Kassel, heute Assistentin der Geschäftsleitung bei der Arcontor GbR (Archäologische Ausgrabungen, Umweltgutachten) Berlin und LehreWendhausen. Rief, Katrin, Studium Kunstgeschichte in München und Nancy (F) sowie „Museum und Ausstellung“ in Oldenburg, wiss. Volontärin im Paula ModersohnBecker Museum in Bremen, Verlagsmitarbeiterin und Stadtführerin in Köln. Schoene, Katja, Studium Kunstgeschichte, Klass. Archäologie und Anglistik in Braunschweig und Berlin sowie „Museum und Ausstellung“ in Oldenburg, langjährige museumspädagogische Mitarbeit und wiss. Volontariat in der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg, derzeit freie Kunsthistorikerin und Lektorin
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Steffen, Ulrike, Studium Kunstgeschichte, Journalismus, Technik der elektronischen Medien in Karlsruhe sowie „Museum und Ausstellung“ in Oldenburg, anschließend Volontariat und wiss. Mitarbeit im Badischen Landesmuseum Karlsruhe. Tschirner, Ulfert, Studium Geschichte und Kommunikationswissenschaft in Münster sowie „Museum und Ausstellung“ in Oldenburg, Graduiertenkolleg „Mediale Historiographien“ in Weimar, Promotion in Jena, tätig als freier Museumsberater. Tsitsirikou, Eleni, Studium Archäologie und Kunstgeschichte in Thessaloniki und „Museum und Ausstellung“ in Oldenburg, Mitarbeiterin der Teloglion Kunststiftung in Thessaloniki, seit 2009 Mitarbeit an Kulturprojekten in Helsinki, Finnland. Tura, Sibylle, Studium Musik, Musiktherapie und Turkologie in Berlin sowie „Museum und Ausstellung“ in Oldenburg, wiss. Mitarbeit Museum für Islamische Kunst im Pergamonmuseum Berlin, Lektorin für Türkisch-Studien in Istanbul und Berlin, seit 2008 tätig bei der Europäischen Kommission in Brüssel. Weniger, Andrea, Studium Europäische Kulturgeschichte, Kunstgeschichte, Romanistik und Pädagogik in Augsburg und Lyon sowie „Museum und Ausstellung“ in Oldenburg, seit 2009 Dissertation in Kunstgeschichte in München. Ziomek-Beims, Magdalena, Studium Kunstgeschichte sowie „Museum und Ausstellung“ in Oldenburg, Mitbegründerin des Vereins agitPolska, PolnischDeutsche Initiative für Kulturkooperation e.V., Auslandskorrespondentin (Fernsehen) sowie freie Kuratorin und Übersetzerin.
Schriften zum Kulturund Museumsmanagement Patrick S. Föhl, Patrick Glogner Kulturmanagement als Wissenschaft Überblick – Methoden – Arbeitsweisen. Einführung für Studium und Praxis Juli 2011, ca. 150 Seiten, kart., ca. 13,80 €, ISBN 978-3-8376-1164-9
Patrick S. Föhl, Iken Neisener (Hg.) Regionale Kooperationen im Kulturbereich Theoretische Grundlagen und Praxisbeispiele 2009, 398 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1050-5
Peter Leimgruber, Hartmut John (Hg.) Museumsshop-Management Einnahmen, Marketing und kulturelle Vermittlung wirkungsvoll steuern. Ein Praxis-Guide Juni 2010, ca. 196 Seiten, kart., inkl. Begleit-CD-ROM, ca. 23,80 €, ISBN 978-3-8376-1296-7
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Schriften zum Kulturund Museumsmanagement Carl Christian Müller, Michael Truckenbrodt Handbuch Urheberrecht im Museum Praxiswissen für Museen, Ausstellungen, Sammlungen und Archive Juni 2010, ca. 200 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1291-2
Andrea Rohrberg, Alexander Schug Die Ideenmacher Lustvolles Gründen in der Kultur- und Kreativwirtschaft. Ein Praxis-Guide Juli 2010, ca. 230 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1390-2
Hans Scheurer, Ralf Spiller (Hg.) Kultur 2.0 Neue Web-Strategien für das Kulturmanagement im Zeitalter von Social Media Mai 2010, ca. 260 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1352-0
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Schriften zum Kulturund Museumsmanagement Joachim Baur Die Musealisierung der Migration Einwanderungsmuseen und die Inszenierung der multikulturellen Nation 2009, 408 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1264-6
Joachim Baur (Hg.) Museumsanalyse Methoden und Konturen eines neuen Forschungsfeldes Januar 2010, 292 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-814-8
Herbert Grüner, Helene Kleine, Dieter Puchta, Klaus-P. Schulze (Hg.) Kreative gründen anders! Existenzgründungen in der Kulturwirtschaft. Ein Handbuch 2009, 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., 23,80 €, ISBN 978-3-89942-981-7
Hartmut John, Anja Dauschek (Hg.) Museen neu denken Perspektiven der Kulturvermittlung und Zielgruppenarbeit 2008, 282 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-802-5
Hartmut John, Bernd Günter (Hg.) Das Museum als Marke Branding als strategisches Managementinstrument für Museen 2008, 192 Seiten, gebunden, durchgängig farbig mit zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-89942-568-0
Hartmut John, Hans-Helmut Schild, Katrin Hieke (Hg.) Museen und Tourismus Wie man Tourismusmarketing wirkungsvoll in die Museumsarbeit integriert. Ein Handbuch Februar 2010, 238 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1126-7
Hannelore Kunz-Ott, Susanne Kudorfer, Traudel Weber (Hg.) Kulturelle Bildung im Museum Aneignungsprozesse – Vermittlungsformen – Praxisbeispiele 2009, 206 Seiten, kart., zahlr. Abb., 23,80 €, ISBN 978-3-8376-1084-0
Birgit Mandel PR für Kunst und Kultur Handbuch für Theorie und Praxis (2., komplett überarbeitete Auflage) 2009, 240 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1086-4
Martina Padberg, Martin Schmidt (Hg.) Die Magie der Geschichte Geschichtskultur und Museum (Schriften des Bundesverbands freiberuflicher Kulturwissenschaftler, Band 3) Mai 2010, ca. 206 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1101-4
Eva M. Reussner Publikumsforschung für Museen Internationale Erfolgsbeispiele Januar 2010, 432 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1347-6
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