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German Pages 336 Year 2019
Freiwilligenarbeit und gemeinnützige Organisationen im Wandel
Historische Zeitschrift // Beihefte (Neue Folge)
beiheft 76 herausgegeben von andreas fahrmeir und hartmut leppin
Nicole Kramer, Christine G. Krüger
Freiwilligenarbeit und gemeinnützige Organisationen im Wandel Neue Perspektiven auf das 19. und 20. Jahrhundert
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliot hek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Library of Congress Control Number: 2019938402
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Gestaltung: Katja v. Ruville, Frankfurt a. M. Satz: Roland Schmid, mediaventa, München Druck und Bindung: Franz X. Stückle Druck und Verlag e.K., Ettenheim isbn 978-3-11-060842-7 e-isbn (pdf) 978-3-11-062744-2 e-isbn (epub) 978-3-11-060878-6
Inhalt
Vorwort
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Einleitung
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I. Konzepte und Thesen der Voluntary Action History Eine Neubewertung der „Gift Relationship“ in der britischen Geschichte zum Freiwilligensektor // George Campbell Gosling Voluntary action und Freiwilligenarbeit. Einige historische Betrachtungen // Melanie Oppenheimer Humanitäre Hilfe. Eine Braudel’sche Perspektive // Norbert Götz, Georgina Brewis, Steffen Werther II. Die Bedeutung der Freiwilligkeit im Wandel Der Wert der Freiwilligkeit // Christine G. Krüger
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Die neuen Freiwilligen. Gemeinnützigkeit in der Schweiz 1970– 1990 // Matthias Ruoss
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III. Die Veränderung von Staatlichkeit und der dritte Sektor Entsprang den privaten Zwecken ein gemeiner Nutzen? Gesellschaftliche Effekte freiwilliger Vereinigungen in Großbritannien und Deutschland // Klaus Nathaus, Patrick Merziger
_____ 183
Anwälte für die Armen. Ehrenamtliche Rechtsberatung in England vor der Zeit des Wohlfahrtsstaates ca. 1890–1950 // Kate Bradley
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Traditionen der Freiwilligkeit im Transformationsregime. Das Beispiel der Freiwilligen Feuerwehr // Ana Kladnik, Thomas Lindenberger
_____ 249
IV. Voluntary action im transnationalen Raum Von Mensch zu Mensch. Transnationale Kinderpatenschaften und ehrenamtliches Engagement seit den 1950er Jahren am Beispiel der Kindernothilfe // Freda Wagner
_____ 277
Ethischer Konsum und zivilgesellschaftliches Engagement. Moralisierungsstrategien des privaten Konsums seit den 1960er Jahren // Benjamin Möckel Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
_____ 303 _____ 333
Vorwort
„Die Geschichtswissenschaft zeigt, wie die soziale und politische Gegenwart geworden und wie wandlungsfähig und veränderbar sie ist. Wer diesen Anschauungsunterricht nimmt, der wird die massiven Sachzwänge unserer Umwelt nicht mehr als scheinbare Notwendigkeit hinnehmen, sondern sie vor dem Hintergrund genutzter und versäumter, vergangener und vielleicht noch bestehender Möglichkeiten begreifen.“ So umschrieb Jürgen Kocka in einem Artikel für die ZEIT 1972 eine der gesellschaftlichen Funktionen der Geschichtswissenschaft. Im Vorwort eines Sammelbandes über die Geschichte der Freiwilligenarbeit und gemeinnütziger Organisationen mag man sich darauf gerne berufen. Denn im Unterschied zu anderen Disziplinen können Historikerinnen und Historiker selten mit Ergebnissen dienen, die sich unmittelbar auf die Bedingungen und Erscheinungsformen freiwilligen Engagements auswirken. Doch ihre Einsichten sind nichtsdestotrotz ebenso wichtig, vor allem dann, wenn es sich um einen von politischen Akteuren normativ so aufgeladenen Bereich handelt. In Zeiten, in denen Freiwilligenarbeit und Gemeinnützigkeit automatisch wünschenswerte, weil demokratisierende Wirkung zugeschrieben wird und die Förderung des dritten Sektors ebenso als Sachzwang erscheint wie die Beschränkung staatlicher Tätigkeit, setzen die Beiträgerinnen und Beiträger dieses Bandes an und fragen kritisch nach den der Geschichtswissenschaft so vertrauten Ambivalenzen und Gegenevidenzen. Dank gebührt zunächst den Autorinnen und Autoren, die hier die Ergebnisse ihrer Forschungen präsentieren. Die meisten von ihnen haben bereits am Workshop „The Changing Nature of Participation and Solidarity: Voluntary Action, Volunteering, and NGOs in Contemporary History“ teilgenommen, der im September 2015 an der Goethe-Universität Frankfurt am Main stattfand. Gedankt sei der Thyssen-Stiftung für ihre großzügige Unterstützung, die es erlaubte, Referentinnen und Referenten aus dem In- und Ausland zu versammeln und die englischen Beiträge für die Publikation ins Deutsche übersetzen zu lassen.
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Zu Dank verpflichtet sind wir auch den Herausgebern der Historischen Zeitschrift, Andreas Fahrmeir und Hartmut Leppin, die unser Manuskript in die Beihefte der HZ aufgenommen, sowie den Gutachtern, die dies befürwortet haben. Danken möchten wir auch der Redaktion, namentlich Jürgen Müller, für die konstruktive und freundliche Zusammenarbeit bei der Drucklegung. Viele andere haben zum Gelingen des Unternehmens beigetragen: Die Übersetzungen hat Max Haber erstellt. Svenja Haneberg und Maximilian Schmidt halfen bei der Organisation des Workshops, der ohne die kluge Diskussionsleitung durch die Moderatorinnen und Moderatoren nicht so ergiebig gewesen wäre.Julian Feider las einige Beiträge Korrektur, Dr. Birte Meinschien schrieb mit Freda Wagner den Tagungsbericht für HSOZKULT. Auch ihnen sei an dieser Stelle gedankt. Nun freuen wir uns, die Ergebnisse der hohen Engagementbereitschaft aller Beteiligten in den Händen zu halten. Nicole Kramer und Christine G. Krüger Frankfurt am Main und Göttingen im März 2019
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Einleitung von Nicole Kramer und Christine G. Krüger
Voluntary Action History hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten in Großbritannien und anderen englischsprachigen Ländern zu einem etablierten Forschungsfeld entwickelt. 1 Doch nicht nur dort basierten und basieren Wohlfahrtsproduktion und Daseinsvorsorge zu einem wesentlichen Teil auf freiwilliger Sozialarbeit und der Tätigkeit gemeinnütziger Organisationen. Und tatsächlich hat das Themenfeld in den letzten Jahren auch in anderen Ländern zunehmend die Aufmerksamkeit von Historikerinnen und Historikern auf sich gezogen. Ob im Falle Frankreichs, Italiens, der Schweiz, der osteuropäischen Länder oder aber Deutschlands – überall richtet sich ein verstärktes Interesse auf die Strukturen und die Funktion gemeinnütziger Organisationen und die Erfahrungen der Individuen, die sich hier engagierten. 2 Dieser Band verfolgt das Ziel, eine Brücke zwischen der Voluntary Action History einerseits und den neueren Forschungen zur Freiwilligenarbeit und zum gemeinnützigen Sektor in Deutschland und anderen europäischen Ländern andererseits zu schlagen. Für Letztere fehlt bislang eine systematische Debatte, wie sie in der englischsprachigen Zunft geführt wird, und sie sind oftmals in sehr unterschiedliche Forschungskontexte integriert, ohne miteinander in Austausch zu treten. Einblicke in die Entwicklung gemeinnütziger Organisationen und freiwilliger Sozialarbeit lie-
1 Die britische Forschung zu Voluntary Action History hat sich auch institutionalisiert: Seit 1995 gibt es eine „Voluntary Action History Society“, seit 2005 eine umfassende Datenbank zu den Archiven von Freiwilligenorganisationen und seit kurzem auch ein spezielles Archiv zum Voluntary Sector, Voluntary Action History Society, http://www.vahs.org.uk/; DANGO (Database of Archives of Non-Governmental Organisations), http://www.dango.bham.ac.uk; Voluntary Action History Society, Archives, http:// www.vahs.org.uk/archive, Zugriff auf alle Seiten: 7.3.2016. 2 Vgl. das Themenheft „Philanthropie und Sozialstaat“ der Österreichischen Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 26, 2015, Heft 3; Laura Lee Downes, ‚Nous plantions les trois couleurs‘: Action sociale féminine et recomposition des politiques de la droite française. Le mouvement Croix-de-feu et le Parti social français, 1934–1947, in: Revue d’histoire moderne et contemporaine 58, 2011, 118–163; Sandrine Kott, Sozialstaat und Gesellschaft. Das deutsche Kaiserreich in Europa. Göttingen 2014, 23–46; Davide Gobbo, Voluntary Action. Spunti di riflessione su volontariato e terzo settore in Italia da un libro di lord William Beveridge, in: Storia e Futuro 33, 2013, http://storiaefuturo.eu/voluntary-action-spunti-di-riflessione-suvolontariato-e-terzo-settore-in-italia-da-un-libro-di-lord-william-beveridge/.
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fern etwa Forscherinnen und Forscher, die zur Geschichte der Jugend, zur Freizeit, zum Vereinswesen, zum alternativen Konsum, zur internationalen Entwicklungshilfe oder zum Sozialstaat und zur Wohlfahrtsproduktion arbeiten. In diesem Band sollen diese in unterschiedliche Themenzusammenhänge eingebetteten Forschungen zusammengeführt werden. Dabei geht es nicht nur darum, Impulse der englischsprachigen Debatte aufzugreifen und auf ihre Passfähigkeit für die deutsche und die Geschichte anderer europäischer Staaten zu prüfen. Vielmehr soll darüber hinaus diskutiert werden, inwiefern mit der geographischen Erweiterung eine Verschiebung konzeptioneller Schwerpunkte einhergeht und neue Perspektiven erschlossen werden können. So rücken erstens mit der deutschen, aber auch mit der osteuropäischen Geschichte, mehr als für den britischen Fall politische Brüche in den Blick, die bis hin zu Regimewechseln reichen. Damit wird es möglich zu untersuchen, wie sich Freiwilligenarbeit und gemeinnützige Organisationen in diktatorische und autoritäre Herrschaftssysteme einfügten und welche Funktion ihnen hier zugedacht war. Einige der der hier versammelten Beiträge, insbesondere diejenigen Ana Kladniks und Thomas Lindenbergers zu freiwilligen Feuerwehren in Mittel- und Osteuropa oder Christine Krügers zum Bedeutungswandel der Freiwilligkeit im 20. Jahrhundert, nehmen diese Fragen in den Blick. Kladnik und Lindenberger untersuchen überdies, wie sich Phasen der demokratischen Transformation bzw. das Ende des Kalten Krieges und die Überwindung der Blockkonfrontation auf den gemeinnützigen Sektor auswirkten. Zweitens gilt es die Vorstellung zu relativieren, dass die wichtige Stellung der freiwilligen Sozialarbeit für die Wohlfahrtsproduktion vor allem ein genuines Kennzeichen des angelsächsischen, liberalen Wohlfahrtsmodells sei. 3 Denn im sozialversicherungszentrierten Bismarck’schen Modell waren der Wohlfahrtsmix und die Tätigkeit freier gemeinnütziger Träger insbesondere im Bereich der Fürsor-
3 Francis G. Castles, The English-Speaking Countries, in: ders./Stephan Leibfried/Jane Lewis et al. (Eds.), The Oxford Handbook of the Welfare State. Oxford 2010, 630–642; Marcus Gräser, Wohlfahrtsgesellschaft und Wohlfahrtsstaat. Bürgerliche Sozialreform und Welfare State Building in den USA und in Deutschland 1880–1940. Göttingen 2009. Die Annahme, die Stärke des Freiwilligensektors sei ein Kennzeichen des britischen Wohlfahrtsmodells, führt die britische Forschung für die Zeit des Ersten Weltkriegs teilweise sogar so weit anzunehmen, dass diese maßgeblich zum Sieg über Deutschland beigetragen habe; vgl. Peter Grant, Voluntarism and the Impact of the First World War, in: Matthew Hilton/James McKay (Eds.), The Ages of Voluntarism. How We Got to the Big Society. Oxford 2011, 27–46.
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ge zweifelsohne ebenfalls fest verankert. Auch in der Schweiz, wo ein Ausbau staatlicher Sozialversicherungssysteme im Vergleich zu Deutschland erst später erfolgte, basierte die Sozialfürsorge wesentlich auf den Leistungen philanthropischer Organisationen und gegenseitiger Hilfskassen. 4 Mit der Erweiterung des Fokus der Voluntary Action History auf andere Wohlfahrtsmodelle neben dem angelsächsischen ergeben sich Vergleichsperspektiven beispielsweise für die Phase der 1970er und 1980er Jahre als Zeit des Rückbaus staatlicher sozialer Sicherungssysteme und der damit verbundenen Stärkung gemeinnütziger Organisationen. Denn weder die sozialliberale Koalition unter Helmut Schmidt noch die Regierung Helmut Kohls öffneten sich neoliberalen Forderungen, die eine Rücknahme der staatlichen Intervention vorsahen, in dem Maße wie die Regierung Thatcher. 5 Zu einem gezielten Ausbau der freiwilligen gemeinnützigen Organisationen und zur Förderung der Freiwilligenarbeit kam es aber nichtsdestotrotz auch in der Bundesrepublik. Drittens bringt der Blick auf eine größere Anzahl europäischer Länder eine Beschäftigung mit verschiedenen Historiographien mit sich, wodurch deren jeweilige Prämissen neu reflektiert werden können. 6 Historikerinnen und Historiker etwa, die über die Voluntary Action History in Großbritannien schreiben, arbeiten sich – so scheint es aus der Perspektive von außen – auffällig stark am Deutungsmuster des „decline“ ab, das die britische Nachkriegsgeschichte als Verfallsgeschichte beschreibt. Gleichzeitig regt die britische Debatte über die katalysatorische Wirkung des Zweiten Weltkrieges auf den Freiwilligensektor dazu an, auch die Geschichte anderer Länder auf die damit verbundenen Mechanismen hin zu befragen. Die deutsche Forschung hingegen hat sich vielfach auf die Untersuchung des Zusammenhanges von Demokratie und Zivilgesellschaft oder auf die Diskussion eines Wertewandels in der Nachkriegszeit konzentriert und vermag einerseits mit dieser in anderen nationalen Zusammenhängen wenig beachteten Fragestellung sicherlich
4 Sonja Matter, Strategien der Existenzsicherung. Die Philanthropie in einer mixed economy of welfare im frühen 20.Jahrhundert, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 26/3, 2015, 102–126. 5 Cornelius Torp, Gerechtigkeit im Wohlfahrtsstaat. Alter und Alterssicherung in Deutschland und Großbritannien von 1945 bis heute. Göttingen 2015, 285–295; Monica Prasad, The Politics of Free Markets. The Rise of Neoliberal Economic Policies in Britain, France, Germany, and the United States. Chicago 2006. 6 Vgl. dazu Sonja Levsen/Cornelius Torp, Die Bundesrepublik und der Vergleich, in: dies. (Hrsg.), Wo liegt die Bundesrepublik? Vergleichende Perspektiven auf die westdeutsche Geschichte. Göttingen 2016, 9–28, hier 23f.
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Impulse zu liefern, kann sich vor allem aber andererseits durch andere Schwerpunktsetzungen fruchtbare neue Perspektiven eröffnen. Im Folgenden wird zunächst die Heterogenität des Untersuchungsgegenstandes der freiwilligen Sozialarbeit und des gemeinnützigen Sektors problematisiert, die sich in der Verwendung unterschiedlicher Begrifflichkeiten niederschlägt. In einem zweiten Schritt werden die historiographischen Debatten in Deutschland und in Großbritannien, den beiden Ländern, die im Mittelpunkt der Mehrzahl der Beiträge dieses Bandes stehen, nachgezeichnet, bevor abschließend noch einmal gebündelt die Inhalte der Beiträge und damit die Struktur des Bandes vorgestellt werden.
I. Begriffe und Konzepte der Forschung Was ist Voluntary Action History und was wird mit diesem Ansatz erforscht? Der bereits in der Mitte des 20.Jahrhunderts maßgeblich von William Beveridge verbreitete Begriff „Voluntary Action“ fasst die Aktivitäten sowohl philanthropisch ausgerichteter Organisationen als auch von Selbsthilfeorganisationen und der Genossenschaftsbewegung zusammen. 7 Dabei bemüht sich die Voluntary Action History, die scharfe Grenzziehung zwischen diesen, dem Staat und der Wirtschaft zu vermeiden. Stattdessen fragt sie vielmehr nach wechselnden Mischungsverhältnissen der „mixed economy of welfare“, das heißt nach den meist komplizierten Konstellationen des jeweiligen Gegen- und Miteinanders staatlicher und privater bzw. marktorientierter und gemeinnützig ausgerichteter Instanzen. Die bisherige Forschung verwendet gern die auch in einigen Beiträgen dieses Bandes aufgegriffene Denkfigur der „moving frontier“, um zu erforschen, wie sich „relationship and interplay between the frontier of voluntarism and the frontier of the state“ gestalteten. 8 Das freiwillige soziale Engagement Einzelner und die Tätigkeit gemeinnütziger Organisationen sind vielgestaltig und daher schwer auf einen Begriff zu bringen. Die im 19. und in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts im Deutschen üblichen Bezeich7 William Beveridge, Voluntary Action. A Report on Methods of Social Advance. London 1948; vgl. zu der Studie von Beveridge auch Melanie Oppenheimer/Nicholas Deakin (Eds.), Beveridge and Voluntary Action in Britain and the Wider British World. Manchester 2011. 8 Geoffrey Finlayson, A Moving Frontier. Voluntarism and the State in British Social Welfare, 1911–1949, in: Twentieth Century British History 1, 1990, 183–206, hier 184; Melanie Oppenheimer, Volunteering. Why We Can’t Survive without It. Sydney 2008, 5–12.
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nungen „Wohltätigkeit“, „Ehrenamt“ oder „Dienst“ wurden in den 1960er Jahren allmählich durch „Freiwilligenarbeit“ und „Engagement“ ersetzt, letzterer Begriff wurde im ausgehenden 20.Jahrhundert noch zu „bürgerschaftlichem“ oder „zivilgesellschaftlichem Engagement“ präzisiert. Im Englischen sprach man nun lieber von „volunteering“ als von „charity“ oder „service“. Der neue Wortgebrauch ging aus dem bewussten Bemühen hervor, der Freiwilligenarbeit einen besseren Ruf zu verleihen und sie von einer paternalistischen Sozialfürsorge abzugrenzen. Gleichzeitig kamen in den Sozialwissenschaften, aber auch in Politik und Medien die Begriffe „Zivilgesellschaft“, „Freiwilligensektor“ oder „dritter Sektor“ auf bzw. deren englischsprachige Äquivalente „Civil Society“, „Voluntary Sector“ oder „Third Sector“. 9 Alle drei beziehen sich nicht allein auf freiwillige Arbeit, sondern sind darauf angelegt, eine Sphäre zwischen Staat, Markt und Familie zu erfassen. Sie verweisen auch darauf, dass die Grenzen zum Mäzenatentum und zum Vereinswesen fließend sind. In den verschiedenen Begrifflichkeiten spiegeln sich je spezifische Aufmerksamkeitskonjunkturen. Jeder Terminus vermag es, bestimmte Aspekte des Phänomens zu betonen, während er andere vernachlässigt oder gar ausblendet. Generell weisen viele der für das Themenfeld verwendeten Begrifflichkeiten Unschärfen auf. Dies gilt für den Begriff der Zivilgesellschaft ebenso wie für denjenigen des dritten Sektors oder der Freiwilligenarbeit: Nicht ohne Berechtigung ist der Ausdruck „Voluntary Sector“ als „loose and baggy monster“ bezeichnet worden. 10 Gewiss sind die Definitionen als idealtypische Konstrukte zu betrachten. Dennoch erscheint allgemein die Sphärenbestimmung problematisch und wird zunehmend beanstandet. Anstatt eine „Bereichslogik“ vorauszusetzen, so etwa die Forderung Jürgen Kockas, solle man lieber nach der „Handlungslogik“ zivilgesellschaftlichen Engagements und nach dessen Wechselverhältnis zu Staat und Markt fragen. 11 Als Philanthropie gelten allgemein Hilfsleistungen jenseits des Staates und über 9 Vgl. zu den Begriffen Matthew Hilton/Nick Crowson/Jean-François Mouhot et al., A Historical Guide to NGOs in Britain. Charities, Civil Society and the Voluntary Sector since 1945. Basingstoke 2012. 10 Jeremy Kendall/Martin Knapp, A Loose and Baggy Monster. Boundaries, Definitions and Typologies, in: Justin Davis Smith (Ed.), An Introduction to the Voluntary Sector. London 1995, 66–95. 11 Jürgen Kocka, Nachwort: Zivilgesellschaft. Begriff und Ergebnisse der historischen Forschung, in: Arnd Bauerkämper (Hrsg.), Die Praxis der Zivilgesellschaft. Akteure, Handeln und Strukturen im internationalen Vergleich. Frankfurt am Main 2003, 429–439, hier 434f.; Dieter Gosewinkel, Zivilgesellschaft – Bürgerlichkeit – Zivilität? Konzeptionelle Überlegungen zur Deutung deutscher Geschichte im 20.Jahrhundert, in: Gunilla Budde/Eckart Conze/Cornelia Rauh (Hrsg.), Bürgertum nach dem bürgerlichen Zeitalter. Leitbilder und Praxis seit 1945. Göttingen 2010, 29–52, besonders 31f.; vgl. auch die einleitenden Überlegungen
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den familiären Raum hinaus. Diese können die Förderung von Bildung und Kultur ebenso wie die soziale Fürsorge umfassen. 12 Der Begriff ist häufig mit der Vorstellung einer asymmetrischen Beziehung zwischen den gesellschaftlichen Eliten, zum Beispiel dem Bürgertum einerseits und bedürftigen Gruppen anderseits, verbunden: Erstere setzen ihr Vermögen ein, knüpfen an ihren Einsatz jedoch auch politische Interessen. Um die Freiwilligenarbeit nicht nur in dieser Konstellation zu erfassen, wird in der neueren englischsprachigen Forschung zur Voluntary Action History gern der Ausdruck „volunteering“ verwendet. Damit geht teilweise auch der Appell einher, die Handlungen von und Beziehungen zwischen Individuen nicht aus dem Blick zu verlieren – eine Zielsetzung, die in den Beiträgen Kate Bradleys zur freiwilligen Rechtsberatung, Benjamin Möckels zu Dritte-Welt-Läden oder Freda Wagners zu humanitären Patenschaften auch in diesem Band Aufnahme findet. Tatsächlich betont der von den Politik, Sozial- und Verwaltungswissenschaften definierte Begriff des dritten Sektors vor allem die Bedeutung von Organisationen und Systemen. 13 Erste Ansätze der sogenannten Dritte-Sektor-Forschung lassen sich in den USA bereits in den 1970er Jahren finden. Auch in Deutschland und in anderen europäischen Ländern griffen Forscherinnen und Forscher im Zuge der Debatte um die Krise des Wohlfahrtsstaates die Denkfigur des „dritten Weges“ auf. Mehr als andere Konzepte rückt diese auch die Beziehungen zum marktwirtschaftlichen Bereich ins Blickfeld, wobei deren Unterscheidung anhand des Kriteriums der Gemeinnützigkeit vorgenommen wird. 14 Der Gefahr mit dem Sektor-Begriff die Abgrenzung zu Staat und Markt übermäßig zu betonen, wirken neuere Studien entgegen, die für Wechselwirkungen sensibilisieren, so wie in diesem Band die Beiträge von George Gosling, Benjamin Möckel, Matthias Ruoss oder Christine Krüger.
bei Kathleen D. McCarthy, American Creed. Philanthropy and the Rise of Civil Society, 1700–1865. Chicago 2003. 12 Thomas Adam/Simone Lässig/Gabriele Lingelbach, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Stifter, Spender und Mäzene. USA und Deutschland im historischen Vergleich. Stuttgart 2009, 7–14, hier 8. 13
Annette Zimmer/Eckhard Priller, Gemeinnützige Organisationen und gesellschaftlicher Wandel. Er-
gebnisse der Dritte-Sektor-Forschung. 2.Aufl. Wiesbaden 2007, 15; dies., Der deutsche Nonprofit Sektor im gesellschaftlichen Wandel. Zu ausgewählten Ergebnissen der deutschen Teilstudie des international vergleichenden Johns Hopkins Projektes, in: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaft 42, 2001, 11–41, hier 14–17; Helmut K. Anheier/Wolfgang Seibel (Eds.), The Third Sector. Comparative Studies of Nonprofit Organizations. Berlin 1990. 14
Dies wird in jüngeren Forschungen zunehmend betont; vgl. Thomas Davis/Nicolas Guilhot/Malik Maz-
bouri, Einleitung. Philanthropie und Macht, 19. und 20.Jahrhundert, in: Traverse 13, 2006, 7–17.
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Mit den Umwälzungen in Osteuropa setzte sich in den 1990er Jahren schließlich das in Medien und Politik weit verbreitete, aber auch in der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft gerne verwendete Konzept der „Zivilgesellschaft“ durch. Doch auch damit sind Probleme verbunden. So wird Zivilgesellschaft oft unter stark normativen Vorannahmen definiert, denn als typische Charakteristika der Zivilgesellschaft wurden zunächst vielfach Gewaltlosigkeit, Freiwilligkeit, Selbstverwaltung und demokratische Strukturen angeführt. 15 Eine solch normative Definition blendet die ambivalenten Aspekte, die freiwilliges Engagement nicht selten prägen, aus und hat deshalb Kritik erweckt. 16 Jüngst findet auch der Begriff der „Non-Governmental Organisation“ (NGO) in der Zeitgeschichtsschreibung vermehrt Verwendung. 17 Die im Umfeld der Vereinten Nationen entstandene Bezeichnung wird damit aus ihrer transnationalen Verankerung gelöst und auch auf rein national und lokal agierende Organisationen angewendet. 18 Problematisch ist, dass sie ebenfalls der Bereichslogik folgt und eine Trennung von Staat und öffentlichem Sektor suggeriert, die kaum je existierte. 19 Mehr als die Bezeichnung „Voluntary Sector“ betont sie dabei allerdings die zunehmende Professionalität der Organisationen. Die Schwierigkeit einer eindeutigen Definition verweist auf die Vielseitigkeit des Phänomens, um das es hier geht, sowie auf die Pluralität der Forschungsfragen, die bisher formuliert wurden. Im vorliegenden Band finden abhängig vom jeweiligen Zugriff – institutionell-organisatorisch oder individuell-erfahrungsgeschichtlich – bevorzugt die Begrifflichkeiten Voluntary Action beziehungsweise Freiwilligenarbeit Verwendung oder es ist von gemeinnützigen Organisationen die Rede, wobei Möglichkeiten und Grenzen der gewählten Konzepte reflektiert werden.
15 Ralph Jessen/Sven Reichardt, Einleitung, in: dies./Ansgar Klein (Hrsg.), Zivilgesellschaft als Geschichte. Studien zum 19. und 20.Jahrhundert. Wiesbaden 2004, 7–27, hier 8f. 16 Vgl. etwa kürzlich Edgar Grande, Zivilgesellschaft, politischer Konflikt und soziale Bewegungen, in: Forschungsjournal Soziale Bewegungen 31, 2018, Nr.1/2, 52–60. 17 Matthew Hilton, Politics is Ordinary. Non-Governmental Organizations and Political Participation in Contemporary Britain, in: Twentieth Century British History 22, 2011, 230–268, hier 246. 18 Vgl. zur Begriffsgeschichte Christian Franz/Kerstin Martens, Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Lehrbuch. Wiesbaden 2006, 20–24. Kritiker bemängeln, dass es sich um einen catch-all-Begriff handele, der zudem eine Negativdefinition darstelle. 19 Hilton/Crowson/Mouhot, Historical Guide (wie Anm.9), 1–10.
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II. Ansätze der britischen und deutschen Historiographie Wenn der Ansatz der Voluntary Action History in die deutsche Forschung bislang keinen Eingang gefunden hat, ist damit freilich nicht gesagt, dass diese nicht unter einem anderen Label zum Teil die gleichen oder zumindest ähnliche Fragestellungen behandelt hat. Eine kurze Skizze der historiographischen Trends in Deutschland und Großbritannien mag hier Gemeinsamkeiten und Unterschiede verdeutlichen. Für beide Länder sind die 1990er Jahre als Anfangspunkt einer intensiveren Auseinandersetzung mit dem Thema auszumachen: Zum einen lenkten, wie kurz angedeutet, die politischen Umwälzungen in den ehemaligen Ostblockstaaten in diesen Jahren die Aufmerksamkeit auf die „Zivilgesellschaft“, deren wichtige Rolle beim friedlichen Umbruch in Osteuropa immer wieder hervorgehoben wurde. 20 Zum anderen erschien „bürgerschaftliches Engagement“, wie es nun gern bezeichnet wurde, angesichts der anhaltenden Krisenstimmung, welche die Funktionsfähigkeit des Sozialstaates in Frage stellte, als förderungswürdig und erfreute sich dementsprechend massiver politischer und medialer Lobreden. 21 Freiwilliges Engagement zog in der deutschen wie in der englischsprachigen Geschichtsschreibung in den 1990er Jahren zunächst für das 19. und beginnende 20. Jahrhundert die Aufmerksamkeit auf sich. 22 Die britische Historiographie untersuchte die Wohltätigkeit mit dem Blick auf die Klassengesellschaft, während ganz ähnlich die ersten deutschen Studien zum Thema im Rahmen der Bürgertumsforschung entstanden. Wohltätigkeit wurde hier als ein wichtiger Bestandteil der bürgerlichen Kultur bzw. der „Bürgerlichkeit“ identifiziert. 23 Zwei Funktionen erschienen dabei zentral: Erstens diente das philanthropische oder mäzenatische Engagement als Mittel zur sozialen Distinktion. 24 Zweitens wurden Disziplinierungs- und
20
Ansgar Klein, Der Diskurs der Zivilgesellschaft. Politische Kontexte und demokratietheoretische Be-
züge der neueren Begriffsverwendung. Opladen 2001. 21
Vgl. zum Beispiel die sieben von der Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engage-
ments“ herausgegebenen Bände (Opladen 2002ff.). 22
Jessen/Reichardt/Klein (Hrsg.), Zivilgesellschaft als Geschichte (wie Anm.15).
23
Zum Beispiel Andreas Schulz, Mäzenatentum und Wohltätigkeit. Ausdrucksformen bürgerlichen
Gemeinsinns in der Neuzeit, in: Jürgen Kocka/Manuel Frey (Hrsg.), Bürgerkultur und Mäzenatentum im 19.Jahrhundert. Berlin 1998, 240–262. 24
Zum Beispiel Stephen Pielhoff, Paternalismus und Stadtarmut. Armutswahrnehmung und Privatwohl-
tätigkeit im Hamburger Bürgertum 1830–1914. Hamburg 1999; Thomas Adam, Buying Respectability. Philanthropy and Urban Society in Transnational Perspective, 1840s to 1930s. Bloomington 2009.
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Kontrollziele paternalistischer Wohltätigkeit herausgearbeitet. 25 Wenn die Bürgertumsforschung bzw. die Forschung zur Klassengesellschaft allgemein zunächst eher diejenigen Funktionen der Wohltätigkeit hervorhob, die soziale Ungleichheiten zwar vielleicht abmilderten, aber im Prinzip doch aufrechterhielten, bestätigte sie also zunächst die seit dem 19.Jahrhundert traditionell von sozialdemokratischer Seite vorgebrachten Vorbehalte gegenüber der privaten Wohltätigkeit. In Verbindung mit der Bürgertumsforschung oder zumindest in enger Anknüpfung an sie wurde das Thema jedoch auch noch von drei anderen Richtungen her aufgegriffen: Zum einen zog die Wohltätigkeit, wie Melanie Oppenheimer in ihrem Beitrag für die englischsprachige Forschung detaillierter nachzeichnet, die Aufmerksamkeit der Frauen- und Geschlechtergeschichte auf sich. Zum anderen wurde sie in der seit den 1990er Jahren boomenden Historiographie zur jüdischen Geschichte zu einem beliebten Untersuchungsgegenstand. Indem diese beiden Forschungszweige die Emanzipationswünsche herausarbeiteten, die das gesellschaftliche Engagement motivieren konnten, eröffneten sie neue Perspektiven auf Philanthropie und Freiwilligenarbeit: Bürgerliche Frauen fanden in der Wohltätigkeit ein Betätigungsfeld, das ihnen den Eintritt in die sonst eher Männern vorbehaltene Sphäre der Öffentlichkeit erlaubte. 26 Juden hingegen blickten auf eine ausgeprägte Tradition innerjüdischer Wohltätigkeit zurück, die für die diskriminierte Minderheit über Jahrhunderte hinweg vielfach lebenswichtig gewesen war. Seit dem 19. Jahrhundert engagierten sie sich darüber hinaus in hohem Maße auch für gesamtgesellschaftliche Belange und verbanden damit oft die Hoffnung, Anerkennung von nichtjüdischer Seite zu finden und die Zweifel an ihrer nationalen Zuge-
25 Mordechai Rozin, The Rich and the Poor. Jewish Philanthropy and Social Control in Nineteenth-Century London. Brighton 1999. 26 Christoph Sachße, Mütterlichkeit als Beruf. Sozialarbeit, Sozialreform und Frauenbewegung 1871– 1929. 3.Aufl. Weinheim 2003; Jean H. Quataert, Staging Philanthropy. Patriotic Women and the National Imagination in Dynastic Germany, 1813–1916. Ann Arbor 2001; Karen Hagemann/Sonya Michel/Gunilla Budde (Eds.), Civil Society and Gender Justice. Historical and Comparative Perspectives. New York 2004; Mainolf Nitsch, Private Wohltätigkeitsvereine im Kaiserreich. Die praktische Umsetzung der bürgerlichen Sozialreform in Berlin. Berlin 1999, 469–511; Dorice Williams Elliott, The Angel out of the House. Philanthropy and Gender in Nineteenth-Century England. Charlottesville 2002; Kathleen McCarthy (Ed.), Woman Philanthropy and Civil Society. Bloomington 2001; Simon Morgan, A Victorian Woman’s Place. Public Culture in the Nineteenth Century. London 2007; schon früh Frank Prochaska, Women and Philanthropy in Nineteenth-Century England. Oxford 1980.
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hörigkeit zu überwinden. 27 Schließlich entstand vor allem in der Bundesrepublik im engen Zusammenhang mit der Bürgertumsforschung auch ein vertieftes Interesse an Vereinen und Verbänden, das nicht zuletzt durch die Sonderwegsdebatte befördert wurde. Ein besonderes Augenmerk lag daher auch auf ihrer Funktion als Vergesellschaftungsagenturen und Wegbereiter demokratischer Einstellungen. 28 Aber auch die Nationalismusforschung nahm sich des Themas an. 29 Auch wenn das Vereinswesen vor allem in der Bundesrepublik auf der Tagesordnung stand, lässt sich doch verallgemeinernd festhalten, dass die britische und die deutsche Historiographie für das 19. und frühe 20.Jahrhundert ähnliche Pfade einschlugen. Anders indes verhielt es sich mit der Zeitgeschichte: Deutsche Historiker und Historikerinnen bearbeiteten das Thema vor allem für die Zeit der NS-Diktatur. Privat organisierte Fürsorge, Philanthropie und gemeinnütziger Sektor wurden nicht nur in ihrer Bedeutung für die Wohlfahrtsproduktion untersucht, sondern ebenso als Arenen, in denen gesellschaftliche Ordnungen verhandelt sowie In- und Exklusion geregelt wurden. 30 Für die Zeit nach 1945 hat sich die deutsche Geschichtswissenschaft diesem Themenfeld hingegen bisher weniger gewidmet. Die 27
Rainer Liedtke, Jewish Welfare in Hamburg and Manchester, c. 1850–1914. Oxford 1998.
28
Thomas Nipperdey, Verein als soziale Struktur im späten 18. und frühen 19.Jahrhundert, in: Hartmut
Boockmann (Hrsg.), Geschichtswissenschaft und Vereinswesen im 19.Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte historischer Forschung in Deutschland. Göttingen 1972, 1–44; Klaus Tenfelde, Vereinskultur im Ruhrgebiet. Aspekte klassenspezifischer Sozialisation, in: Ludger Heid (Hrsg.), Arbeit und Alltag im Revier. Arbeiterbewegung und Arbeiterkultur im westlichen Ruhrgebiet im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Duisburg 1985, 22–33; Wolfgang Hardtwig, Strukturmerkmale und Entwicklungstendenzen des Vereinswesens in Deutschland 1789–1848, in: Otto Dann (Hrsg.), Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland. (HZ, Beihefte, NF.9.) München 1984, 11–50. Zur Situation der Vereine in Deutschland: Ralf Daum, Materialien für eine europäische Studie über das Vereinswesen am Beispiel der freien Wohlfahrtspflege. Baden-Baden 1998; Klaus Nathaus, Organisierte Geselligkeit. Deutsche und britische Vereine im 19. und 20.Jahrhundert. Göttingen 2009. 29
Zum Beispiel Dieter Langewiesche, „Für Volk und Vaterland kräftig zu wirken…“ Zur politischen und ge-
sellschaftlichen Rolle der Turner zwischen 1811 und 1871, in: ders., Nation, Nationalismus und Nationalstaat in Deutschland und Europa. München 2000, 103–131; ders., Die schwäbische Sängerbewegung in der Gesellschaft des 19.Jahrhunderts – ein Beitrag zur kulturellen Nationsbildung, in: ebd.132–171. 30
Zum Nationalsozialismus vgl. Peter Hammerschmidt, Die Wohlfahrtsverbände im NS-Staat: die NSV
und die konfessionellen Verbände Caritas und Innere Mission im Gefüge der Wohlfahrtspflege des Nationalsozialismus. Opladen 1999; Wolf Gruner, Öffentliche Wohlfahrt und Judenverfolgung. Wechselwirkungen lokaler und zentraler Politik im NS-Staat 1933–1942. München 2002. Für die Weimarer Zeit beschreibt Young-Sun Hong, Welfare, Modernity, and the Weimar State, 1919–1933. Princeton 1998, 181–200, die Krise des Wohlfahrtskorporatismus der Weimarer Zeit als entscheidenden Motor für die Fragmentierung der Weimarer Gesellschaft und unterstreicht damit die ambivalenten Folgen sozialfürsorgerischer Moderni-
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Erforschung gemeinnütziger Organisationen, der Freiwilligenarbeit und des Wohlfahrtspluralismus wird weitgehend Politologen, Soziologen und Pädagogen überlassen. Erste Vorstöße, sich des Themas anzunehmen, kamen für die Zeitgeschichte vor allem aus der Zivilgesellschaftsforschung. Für die Entstehung der Neuen Sozialen Bewegungen, für die sich diese Forschungsrichtung hauptsächlich interessierte, spielten Selbsthilfegruppen und Organisationen der freiwilligen Sozialarbeit eine bedeutende Rolle. 31 In eine ähnliche Richtung führten zweitens auch solche Beiträge, die sich mit der Erforschung des Wertewandels auseinandersetzten. 32 Die Wertewandelsforschung, welche die 1960er und 1970er Jahre als Phase eines einschneidenden Wertewandels beschreibt, bei dem „Pflicht- und Akzeptanzwerte“ von „Selbstentfaltungswerten“ abgelöst worden seien, richtete ihr Augenmerk ebenfalls in erster Linie auf politisches Engagement, während sie andere Arten freiwilligen und gemeinnützigen Engagements weitgehend außer Acht ließ. 33 Weitere Vorstöße, Letztere näher zu betrachten, gibt es vor allem seitens der kirchlichen Zeitgeschichte, die sich mit dem Wandel von Caritas und Diakonie befasst. Arbeiten zu diesem Feld zeichnen die zunehmende Professionalisierung dieser Verbände nach, die unter anderem durch die mit dem Ausbau des Sozialstaats verbesserte Finanzierungslage bedingt war. Damit ging aber zugleich auch eine – so die These einiger Forscher – „Selbstsäkularisierung“ einher, die den religiösen Charakter der angebotenen sozialen Dienste abschwächte. 34 Andere argumentieren, dass
sierung. Vgl. auch Georg Steinmetz, Regulating the Social. The Welfare State and Local Politics in Imperial Germany. Princeton 1993. 31 Dieter Rucht, Protest in der Bundesrepublik. Strukturen und Entwicklungen. Frankfurt am Main 2001; ders./Barbara Blattert/Dieter Rink (Hrsg.), Soziale Bewegungen auf dem Weg zur Institutionalisierung. Zum Strukturwandel „alternativer“ Gruppen in beiden Teilen Deutschlands. Frankfurt am Main 1997; Habbo Knoch (Hrsg.), Bürgersinn mit Weltgefühl. Politische Moral und solidarischer Protest in den sechziger und siebziger Jahren. Göttingen 2007; Roland Roth/Dieter Rucht (Hrsg.), Neue soziale Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch. Frankfurt am Main/New York 2008. 32 Für einen Überblick über die Wertewandelsforschung und die Kritik an der Wertewandelsthese vgl. Isabel Heinemann, Wertewandel, http://docupedia.de/zg/Wertewandel, Zugriff: 7.3.2016. 33 Detlef Siegfried, Time is on my side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre. Göttingen 2006, bes. 56f. 34 Vgl. dazu Traugott Jähnichen/Andreas Henkelmann/Uwe Kaminsky u.a., Caritas und Diakonie im „goldenen Zeitalter“ des Sozialstaates. Auf- und Umbrüche in den konfessionellen Wohlfahrtsverbänden in den 1960er Jahren, in: dies. (Hrsg.), Caritas und Diakonie im „goldenen Zeitalter“ des bundesdeutschen Sozialstaates. Transformation der konfessionellen Wohlfahrtsverbände in den 1960er Jahren. Stuttgart 2010, 11–20, hier 12.
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die kirchlichen Wohlfahrtsverbände zunehmend gezwungen waren, „den Wegfall religiös motivierten Nachwuchses auszugleichen“ und dazu nicht nur auf die Professionalisierung setzten, sondern auch neue Modelle für die freiwillige Mitarbeit einführten. 35 Außerdem, so zeigt in diesem Band der Beitrag Freda Wagners zu humanitären Patenschaften, entstanden aus den kirchlichen Wohlfahrtsverbänden heraus oder im kirchlichen Umfeld mit der humanitären Hilfe auf globaler Ebene neue Felder der Freiwilligenarbeit, die gerade auch aus dem Gefühl heraus motiviert sein konnten, dass die eigene wohlfahrtsstaatliche Absicherung es möglich mache, karitatives Engagement nun verstärkt auch den Armen und Hungernden außerhalb des eigenen Landes zugute kommen zu lassen. 36 Mit der Erschließung von Forschungsfeldern wie der Geschichte des Humanitarismus, der Menschenrechte oder transnationaler Sozialpolitik geriet in allerjüngster Zeit allgemein die Tätigkeit von transnational agierenden Non-Profit-Organisationen in den Blick – ein Trend, den in diesem Band der Beitrag von Georgina Brewis, Norbert Götz und Steffen Werther widerspiegelt und dessen Auswirkungen auf die Voluntary Action History George Gosling kritisch in den Blick nimmt. Erste Arbeiten zu diesem Forschungszweig richteten ihre Aufmerksamkeit vor allem auf die institutionalisierte Zusammenarbeit der Vereinten Nationen mit Nichtregierungsorganisationen, die sich in Bereichen wie der Entwicklungs- und Asylpolitik niederschlug. Dies mündete in die Analyse der Rolle von Organisationen und ihrer Experten für die Zirkulation sozialpolitischer Reformideen. 37 Die Fragen, welche die Studien zur zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts behandeln, sind zum Teil identisch mit denen der Historiographie zum 19. und frühen 20. Jahrhundert: So wird auch hier analysiert, in welchem Maße freiwilliges Engagement auf der einen Seite Abhängigkeiten schaffen kann – wie es etwa der genannte Beitrag von Freda Wagner diskutiert –, auf der anderen Seite aber emanzipatorisch
35
Dieter Grunow, Soziale Infrastruktur und soziale Dienste, in: Michael Ruck/Marcel Boldorf (Hrsg.), Ge-
schichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Baden-Baden 2007, 725–756, hier 753. 36
Vgl. ähnlich für den Spendenmarkt Gabriele Lingelbach, Spenden und Sammeln. Der westdeutsche
Spendenmarkt bis in die 1980er Jahre. Göttingen 2009, 298–307. 37
Hubertus Büschel, Hilfe zur Selbsthilfe – Deutsche Entwicklungsarbeit in Afrika 1960–1975. (Globalge-
schichte, Bd. 16.) Frankfurt am Main 2014; Sandrine Kott/Joëlle Droux (Eds.), Globalizing Social Rights. The International Labour Organization and Beyond. Basingstoke 2012; Esther Möller, Humanitarismus ohne Grenzen? Die Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung im Israel-Palästina-Konflikt 1948/1949, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 66, 2015, 61–77.
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zu wirken vermag. Darüber hinaus fallen allerdings eher die Unterschiede ins Auge. So sind etwa überraschenderweise geschlechtergeschichtliche Arbeiten zu diesem Themenfeld für die Zeit nach 1945 in der deutschen Geschichtsschreibung rar. Auch sonst besteht hier eine auffällige Kluft zwischen der Forschung zum 19. und dem beginnenden 20.Jahrhundert und derjenigen zur Nachkriegszeit. Symptomatisch hierfür ist, dass es kaum Langzeituntersuchungen gibt, die beide Zeitspannen umfassen. 38 Der Ausbau des sozialen Sicherheitssystems und das Ende des Klassenantagonismus lassen diese für das Thema offenbar als völlig gegensätzliche Epochen erscheinen. Ganz anders verhält es sich mit der britischen bzw. englischsprachigen Historiographie: Hier hat die Forschung zur Voluntary Action History auch für die zweite Hälfte des 20.Jahrhunderts zahlreiche Untersuchungen hervorgebracht. 39 Außerdem gibt es etliche Längsschnittstudien, die einen langen Bogen schlagen und sich nicht entweder auf die Zeit vor oder nach der Einführung des Welfare State beschränken, sondern die Zäsur des Zweiten Weltkriegs überwinden. 40 Das in Großbritannien allgemein stärkere Interesse an freiwilligem Engagement lässt sich aus der zentralen Rolle erklären, die die Vorstellung vom „voluntary spirit“ traditionell für das britische Selbstverständnis spielte: Mit Blick auf die Wehrverfassung sowie auf die soziale Wohltätigkeit definierten Briten die Bereitschaft zur Freiwilligkeit gern als Nationaltugend. 41 Als nationale Selbstverständnisdebatte ist es daher auch zu verstehen, wenn ältere britische Arbeiten die fünfziger und sechziger Jahre des 20.Jahr-
38 Vgl. für eine erste Überblicksdarstellung die jüngst erschienene Arbeit von Thomas Adam, Philanthropy, Civil Society and the State in German History, 1815–1989. New York 2016. 39 Vgl. zum Beispiel Colin Rochester/George Campbell Gosling/Alison Penn et al. (Eds.), Understanding the Roots of Voluntary Action. Historical Perspectives on Current Social Policy. London 2011; Matthew Hilton/ James McKay/Nicholas Crowson et al., The Politics of Expertise. How NGOs Shaped Modern Britain. Oxford 2013. 40 Geoffrey Finlayson, Citizen, State, and Social Welfare in Britain, 1830–1990. Oxford 1994; Georgina Brewis, A Social History of Student Volunteering. Britain and Beyond, 1880–1980. Basingstoke/New York 2014; Kate Bradley, Poverty, Philanthropy and the State. Charities and the Working Classes in London. Manchester 2009; vgl. auch Matthias Reiss, Blind Workers against Charity. The National League of the Blind of Great Britain and Ireland, 1893–1970. New York 2015. 41 Vgl. hierzu u.a. Christine G. Krüger, Dienstethos – Abenteuerlust – Bürgerpflicht. Jugendfreiwilligendienste in Deutschland und Großbritannien im 20.Jahrhundert. Göttingen 2016; Keir Waddington, „Not for ourselves, but for others“. Die Rhetorik der Wohltätigkeit und der sozialen Zurschaustellung, in: Rainer Liedtke/Klaus Weber (Hrsg.), Religion und Philanthropie in den europäischen Zivilgesellschaften. Entwicklungen im 19. und 20.Jahrhundert. Paderborn 2009, 55–71.
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hunderts oft in einer Niedergangsperspektive beschrieben haben, der zufolge „volunteering“ an Ansehen und Bedeutung verlor. 42 Jüngere Studien ziehen diese Sicht jedoch in Zweifel und warnen davor, der verzerrten Sicht eines „declinism“ zu verfallen. 43 Sie rücken von Auf- und Abstiegsnarrativen sowie rein quantitativen Betrachtungen bewusst ab und machen die qualitativen Veränderungen des freiwilligen Bürgerengagements und den Gestaltwandel des Voluntary Sector zum Gegenstand ihrer Untersuchungen. Und sie betonen die Fortführung privat organisierter Wohltätigkeit, die nach 1945 nicht obsolet geworden war. Bereits der Gründervater William Beveridge unterstrich in seinem Buch „Voluntary Action“ ihre fortbestehende Bedeutung im Welfare State und pries die Vorzüge eines Zusammenwirkens von Staat, Voluntary Sector, Familie und Markt. 44 Freilich ist hier der appellative Charakter seiner Schrift zu berücksichtigen. Dennoch lässt sich tatsächlich beobachten, dass Organisationen des Voluntary Sector die Dienste, die verstärkt von staatlichen Trägern bereitgestellt wurden, aus ihrem Leistungsspektrum ausgliederten. Dies führte aber nicht zwangsläufig dazu, dass sie ihre Tätigkeiten insgesamt einschränkten, vielmehr reagierten sie auf der Suche nach weiteren Aufgabenfeldern umso sensibler auf neue Bedürfnislagen. Vor allem dort, wo die sozialpolitische Absicherung Lücken aufwies, setzten gemeinnützige Initiativen an – im Rahmen der Hilfe bei der Wiedereingliederung straffällig gewordener Jugendlicher, bei der Unterstützung alleinerziehender Mütter, pflegender Angehöriger oder von Drogenabhängigen. 45 Sie trugen damit schließlich zum weiteren Ausbau sozialer Sicherung bei. Das Verhältnis von Staat und Voluntary Sector lässt sich also nicht als Nullsummenspiel beschreiben.
42
Frank Prochaska, The Voluntary Impulse. Philanthropy in Modern Britain. London 1988.
43
Matthew Hilton/James McKay, The Ages of Voluntarism. An Introduction, in: dies. (Eds.), The Ages of
Voluntarism. How We Got to the Big Society. Oxford 2011, 1–26; Georgina Brewis, Towards a New Understanding of Volunteering in England before 1960?, in: Institute for Volunteering Research. ,Back to Basics‘ Working Paper 2, 2013. 44
Beveridge, Voluntary Action (wie Anm.7). Zur Interpretation vgl. Josie Harris, Voluntarism, the State,
and Public-Private Partnerships in Beveridge’s Social Thought, in: Oppenheimer/Deakin (Eds.), Beveridge and Voluntary Action (wie Anm.7), 9–20. 45
Bradley, Poverty, Philanthropy and the State (wie Anm.40); Alex Mold/Virginia Berridge, Voluntary Ac-
tion and Illegal Drugs. Health and Society in Britain since the 1960s. London 2010; Nicole Kramer, Die Entwicklung des voluntary sector in Großbritannien und Perspektiven für die Erforschung gesellschaftlichen Wandels in den 1970er und 1980er Jahren, in: Geschichte und Gesellschaft 42, 2016, 326–353.
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III. Fragestellungen und Konzept des Bandes Zu den Beiträgen der englischsprachigen Länder, welche die Schlüsselkonzepte und Leitthesen der Voluntary Action History vorstellen, gesellen sich in diesem Band Untersuchungen zur Freiwilligenarbeit und zu gemeinnützigen Organisationen in Deutschland, der Schweiz und den Ländern Mittel- und Südosteuropas. Sie analysieren Freiwilligendienste ebenso wie Wohlfahrtsverbände, Spendenorganisationen und Selbsthilfegruppen und integrieren auch Untersuchungen zum Vereinswesen, denn viele Zusammenschlüsse der freiwilligen Sozialarbeit und der Daseinsvorsorge wählten diese Rechtsform. Hier besteht darüber hinaus ein fruchtbarer Anknüpfungspunkt an sozialhistorische Fragen, wie zum Beispiel an diejenige nach der Rolle von gesellschaftlicher Selbstorganisation für die Aushandlung sozialer Ungleichheiten, welche die Forschung zum Assoziationswesen beschäftigt. Um der Heterogenität des gemeinnützigen Sektors und der Freiwilligenarbeit gerecht zu werden, versteht sich der Band auch als Plädoyer für eine Offenheit des Blicks, der eine Zusammenschau oftmals getrennt voneinander untersuchter Bereiche erlaubt. Erkenntnisse über die Geschichte freiwilliger gemeinnütziger Organisationen und Tätigkeiten, die im Rahmen unterschiedlicher Forschungsansätze – etwa zur Zivilgesellschaft, zum Humanitarismus, zur sozialen Sicherung oder zur Philanthropie – hervorgebracht wurden, sollen zusammengeführt werden. Zeitlich verknüpft der Band das 19. und 20.Jahrhundert, was für den Untersuchungsgegenstand der privaten Wohltätigkeit und Freiwilligenarbeit geboten erscheint. Für Großbritannien und Deutschland ist die Gründungskonjunktur von Vereinen und Organisationen der Selbsthilfe und Armenfürsorge im viktorianischen Zeitalter bzw. im Kaiserreich mehrfach beschrieben worden. 46 Eine Rückschau auf das 19.Jahrhundert ist auch insofern wichtig, als damit die Bedeutung von Langzeitentwicklungen wie der Genese des Wohlfahrtsstaats und der „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ diskutiert werden können, wie dies zum Beispiel der Bei-
46 Klaus Tenfelde, Die Entfaltung des Vereinswesens während der industriellen Revolution in Deutschland, in: Dann (Hrsg.), Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft (wie Anm.28), 55–114; Kott, Sozialstaat und Gesellschaft (wie Anm.2), 23–46; Justin Davis Smith, The Voluntary Tradition. Philanthropy and SelfHelp in Britain, 1500–1945, in: ders./Colin Rochester/Rodney Hedley (Eds.), An Introduction to the Voluntary Sector. London/New York 1995, 9–38, 14–19.
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trag Kate Bradley zeigt. 47 Ebenso wichtig ist jedoch die Ausweitung der Perspektive über die Zäsur von 1945 hinaus, da gerade hier vor allem in der deutschen Historiographie zur Geschichte der privaten Wohltätigkeit und der Freiwilligenarbeit Lücken bestehen. In Teilen der Forschung stehen die Deutung der Nachkriegszeit, die sich insbesondere auf den Weg aus dem Krieg (und für den deutschen Fall aus dem Nationalsozialismus) konzentrierte, und diejenige der Zeit seit den 1970er Jahren, die in erster Linie die wirtschaftliche Krise zum Ausgangspunkt nimmt, recht unverbunden nebeneinander. 48 Der Blick auf die Tätigkeit von Freiwilligen und von gemeinnützigen Organisationen schließt eine solche Zweiteilung aus. Er kommt nicht umhin, die Folgen des Zweiten Weltkriegs zu analysieren und deren Langzeitwirkung bis in die jüngste Zeitgeschichte zu ermessen. Die Auseinandersetzung mit dem dritten Sektor und Freiwilligenarbeit lädt zu einer Neubetrachtung der unmittelbaren Nachkriegszeit ein, erlaubt es, die Tiefe der Umbrüche der 1970er in die 1980er zu eruieren und liefert Einblicke in die Geschichte der Gegenwart, der sich Historikerinnen und Historiker erst anzunähern beginnen. 49 Neben Themen wie der Transformation von Staatlichkeit, Globalisierungsprozessen und wirtschaftlichen bzw. finanzpolitischen Paradigmenwechseln wird auch die Dynamik des soziokulturellen Wandels (soziale Beziehungen, Werte und Lebensstile) erörtert. Der Band gliedert sich in vier Abschnitte: Im ersten dieser Abschnitte kommen Forscherinnen und Forscher zu Wort, die sich seit Jahren mit dem Ansatz der Voluntary Action History beschäftigen und wichtige Forschungsbeiträge dazu vorgelegt haben. George Gosling beleuchtet die Anfänge des Forschungszweigs und betont, dass
47
Lutz Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Heraus-
forderung für eine Sozialgeschichte des 20.Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22, 1996, 165– 193. Raphael appelliert mit seinem in der Forschung immer wieder schlagworthaft zitierten Artikel ebenfalls dazu, den langen Bogen vom 19. bis ins ausgehende 20.Jahrhundert zu schlagen. 48
Ralph Jessen, Bewältigte Vergangenheit – blockierte Zukunft? Ein prospektiver Blick auf die bundesre-
publikanische Gesellschaft am Ende der Nachkriegszeit, in: Konrad H. Jarausch (Hrsg.), Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte. Göttingen 2008, 177–195. 49
Siehe zum Beispiel Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom, Perspektiven auf die
Zeitgeschichte seit 1970. 3. erg.Aufl. Göttingen 2012; Thomas Raithel/Andreas Rödder/Andreas Wirsching (Hrsg.), Auf dem Weg in eine neue Moderne? Die Bundesrepublik Deutschland in den siebziger und achtziger Jahren. München 2009; Jarausch (Hrsg.), Das Ende der Zuversicht? (wie Anm.48); Hartmut Kaelble, The 1970s in Europe. A Period of Disillusionment or Promise? London 2010. Für eine globale Perspektive siehe etwa den Sammelband von Neill Ferguson (Ed.), The Shock of the Global. The 1970s in Perspective. Cambridge 2011.
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sich dieser mindestens aus vier unterschiedlichen Ansätzen herausgebildet hat: erstens der Sozialgeschichte, die Armutsstrukturen und Wohltätigkeit betrachtet; zweitens der Erforschung der Freiwilligenarbeit, die sich aus der Selbsthistorisierung der ehrenamtlich Engagierten heraus entwickelt hat; drittens der Politikgeschichte, genauer gesagt der Wohlfahrtsstaatsforschung und schließlich viertens der Geschichte des transnationalen Humanitarismus. Gerade aber der sozialhistorische Ansatz werde zunehmend zugunsten politikhistorischer Ansätze vernachlässigt, was Gosling auf den Entstehungskontext der Voluntary Action History zurückführt. Die Anfänge des Netzwerkes der für das Forschungsfeld einflussreichen Voluntary Action History Society liegen noch in den Jahren, in denen gemeinnützige Organisationen und Freiwilligenarbeit in der Folge der Reformen der Thatcher-Regierung einem beschleunigten Wandel unterlagen. Der Blick in die Vergangenheit diente in dieser Situation der Selbstverortung. Gosling plädiert ferner für eine Neubelebung einer Sozialgeschichte der Wohltätigkeit, die sich auf die beteiligten Akteure als Geber und Nehmer sowie ihre Interaktion konzentriert. Dabei wird er auf der Suche nach Inspiration nicht etwa bei der Kulturgeschichte, sondern der Wirtschaftssoziologie fündig, deren Konzepte ihm zufolge einen synthetisierenden Zugriff auf den Gegenstand erlauben, um den politikhistorischen Narrativen alternative Erklärungsansätze entgegenzustellen. Vielversprechend klingt diese Perspektive vor allem auch deswegen, weil sie die aktuell von vielen Historikern diagnostizierte Ökonomisierung des Sozialen – in diesem Fall des dritten Sektors – umdeutet, indem der Austausch von Geld als soziale Interaktion begriffen wird. Auch Melanie Oppenheimers Beitrag bietet eine kritische Reflexion der Voluntary Action History. Sie skizziert den Stand der Forschung zu Großbritannien und den Ländern, in denen britische Siedlergesellschaften die Tradition ehrenamtlicher Arbeit verankert hatten, namentlich Australien. Dabei unterstreicht sie, wie wichtig die Errichtung und Öffnung von Organisationsarchiven war, um das lange Zeit vernachlässigte Thema auf die Forschungsagenda der englischsprachigen Historiographie zu setzen. Auch sie beobachtet die Dominanz der politischen Geschichte, die sich darin niederschlug, dass sich Forschende intensiv mit der Verflechtung des Voluntary Sector und des Wohlfahrtsstaats beschäftigten. Dahingegen blieb die Geschlechtergeschichte unterbelichtet: Obwohl Freiwilligenarbeit fast durchweg stark durch geschlechtsspezifische Vorstellungen geprägt wurde, fanden Genderaspekte bei ihrer Untersuchung lange Zeit wenig Aufmerksamkeit. Eine Ursache hierfür macht Oppenheimer in der Bewertung der Freiwilligenarbeit durch die
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zweite Frauenbewegung aus: Bereits im Großbritannien des 19.Jahrhunderts stießen viele Aktivitäten im Voluntary Sector auf Vorbehalte, was etwa in der Figur der „Lady Bountiful“ zum Ausdruck kam. Diese negative Sicht setzte sich im Narrativ linker sowie auch feministischer Kreise fort. Die Kritik richtete sich auf die entmündigende sowie gesellschaftliche Asymmetrien aufrechterhaltende Funktion der traditionellen Wohltätigkeit. Und auch aufgrund ihrer Konzentration auf die Erwerbsarbeit ignorierte die zweite Frauenbewegung Oppenheimer zufolge die Freiwilligenarbeit bei der Formulierung eigener Ordnungsentwürfe. Aus der politischen Geringschätzung durch Feministinnen folgte das anfängliche Desinteresse der Geschlechtergeschichte an Freiwilligenarbeit und gemeinnützigen Organisationen. Ausgehend vom Forschungsfeld der humanitären Hilfe präsentieren Georgina Brewis, Norbert Götz und Steffen Werther einen Periodisierungsvorschlag, der die einschneidende Wirkung geopolitischer Zäsuren in Zweifel zieht. Sie argumentieren gegen eine Verengung des Blickes auf Großereignisse wie den Ersten und Zweiten Weltkrieg oder aber das Ende des Kalten Krieges. Stattdessen betonen sie die strukturellen Veränderungen der Organisation humanitärer Hilfe und legen dar, wie sehr deren Handlungspraxis von kulturellen und ökonomischen Faktoren bestimmt war. Demgegenüber identifiziert der Beitrag drei aufeinanderfolgende Zeitabschnitte: Die Phase des ad hoc-Engagements kleiner, untereinander unverbundener Initiativen, die sich zur Bekämpfung der Hungersnöte in Irland und in Kontinentaleuropa gebildet hatten, umfasst das 19.Jahrhundert. Schon in den 1890er Jahren etablierten sich professionalisiertere und institutionalisiertere Formen humanitärer Hilfe, was unter anderem auch auf das Engagement wissenschaftlicher Experten zurückzuführen war. Private Initiativen verbanden sich mit staatlichen Akteuren, und einzelne Organisationen schlossen sich zu auch länderübergreifenden Dachorganisationen zusammen. Die Phase des „expressiven Humanismus“ wurde in den 1960er Jahren eingeläutet, in denen die Medien zu einem wichtigen Akteur der gesellschaftlichen Selbstverständigung avancierten. Die Organisationen humanitärer Hilfe verstanden es zunehmend, ihre Aktionen medienwirksam zu gestalten. Emotionsgeladene Benefizkonzerte und die Beteiligung von Prominenten bei der Spendeneinwerbung prägten den Zeitabschnitt. Der Fokus auf kulturelle und ökonomische Wandlungsprozesse sowie die organisationszentrierte Perspektive machen den Periodisierungsentwurf der Autoren gerade auch für die Geschichte der Freiwilligenarbeit und des dritten Sektors im nationalen Rahmen zum brauchbaren heuristischen Instrument.
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Der zweite Abschnitt rückt den Wandel der Bedeutung von Freiwilligkeit in den Mittelpunkt, wobei sowohl die Vorstellungen und Motive der Organisationen, die Bürgerinnen und Bürger für gemeinnützige Arbeit rekrutierten, als auch die der Freiweilligen selbst betrachtet werden. Christine Krüger und Matthias Ruoss argumentieren insoweit in eine ähnliche Richtung, als sie die Gründe dafür, warum sich das Verständnis von Freiwilligenarbeit veränderte, nicht allein in ihrer Abgrenzung gegenüber dem Staat suchen, sondern die Entwicklung von privaten Lebensarrangements, Identitäten und der Welt der Wirtschaft als wichtigen Faktor annehmen. Der Blick auf die Jugendfreiwilligendienste im Deutschland des 20.Jahrhunderts offenbart, wie sehr die Zielsetzung der Programme auf das Individuum und den pädagogischen Nutzen der Dienste gerichtet war. Krügers Beitrag belegt zudem die starke Abhängigkeit von ökonomischen Faktoren, vor allem den Einfluss von Konjunkturschwankungen und Erwerbsstrukturen auf die Bereitschaft der Jugendlichen, sich zu engagieren, ebenso wie auf staatliche und zivilgesellschaftliche Initiativen, die Freiwilligenarbeit zu fördern. In der Schweiz, dies legt Matthias Ruoss dar, finden sich parallele Erscheinungen. Während er die Wurzeln des politischen Rufs nach „neuen Freiwilligen“ zunächst – erwartbar – in der Krisenzeit des Sozialstaats verortet, rüttelt er sodann unser Bild von dieser erheblich durcheinander. In Sachen sozialer Sicherung eher ein Nachzügler, etablierten die Eidgenossen wesentliche Leistungszweige spät, wie etwa die Arbeitslosenversicherung, die 1983 ins Leben gerufen wurde. Zwar forcierten gemeinnützige Organisationen auf der Suche nach Lösungen für die knapper werdenden finanziellen Ressourcen ihre Werbung um Freiwillige, andererseits führten sie monetäre Anreize ein, die die Kosten jedoch steigerten. Sie unterwarfen die Freiwilligenarbeit damit Marktlogiken. Eine solche Ökonomisierung, dies ist eines der Hauptargumente von Matthias Ruoss, ging wesentlich auf die frauenrechtliche Forderung zurück, ehrenamtliche meist weibliche Sozialfürsorge als berufliche Qualifizierung und Arbeitsleistung anzuerkennen. Diese Umdeutung wird in Medien und Politik begrüßt und nicht etwa als Verfall des Altruismus gewertet. Schließlich führe es dazu, die Sozialfürsorge als reziprokes Verhältnis zwischen Gebern und Nehmern umzudeuten. Die Beiträge des dritten Abschnitts belegen, dass auch der klassischen Frage, die Forschende an die Geschichte des Voluntary Sector bzw. die gemeinnützigen Organisationen herantragen, nämlich derjenigen nach dem Verhältnis zum Staat, neue Erkenntnisse abzugewinnen sind. Klaus Nathaus und Patrick Merziger diskutieren,
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welche Erkenntnisse eine Untersuchung der Funktion gemeinnütziger Organisationen liefern kann, wenn man sich – wie das die große Mehrheit der Forschenden mittlerweile tut – von einer idealisierten Deutung als zivilgesellschaftliche Motoren verabschiedet. Eine der Antworten darauf findet sich im England des 17. bis 19.Jahrhunderts, wo die Attraktivität des Assoziationswesens hauptsächlich darin begründet lag, dass die gemeinnützigen Organisationen privilegierte Stellungen ihrer Mitglieder in einer sich veränderten Welt sicherten. Vereine und Clubs – so die Autoren – perpetuierten soziale Ungleichheiten und Machthierarchien, was eine Demokratisierung eher verhinderte als beförderte. Kate Bradley widmet sich den Anfängen der pro-bono-Arbeit von Juristen in England, die im ausgehenden 19.Jahrhundert liegen. Organisationen wie die Heilsarmee und Einrichtungen wie die Settlement-Häuser richteten Rechtsberatungsstellen ein, die sich an diejenigen richteten, die sich keinen Anwalt leisten konnten. Genutzt wurde dieses Angebot für Mietrechts- und Ehestreitigkeiten, aber auch für Entschädigungsforderungen bei Arbeitsunfällen bzw. für die Wahrnehmung von Ansprüchen auf Militärpensionen. Der ehrenamtliche Dienst des poor man’s lawyer erlaubte die volle Entfaltung wohlfahrtsstaatlicher Regelungen, die sonst für viele Arbeiter und Arme nur Gesetzesnormen geblieben wären, ohne Auswirkungen auf ihren realen Alltag. Vielen fehlten das Wissen, die persönlichen Kontakte sowie die materiellen Ressourcen, um die ihnen auf dem Papier zustehenden Rechte in Anspruch nehmen zu können. Anders als bei zahlreichen anderen Angeboten des Voluntary Sector kam es bei der pro-bono-Arbeit von Juristen nicht zu einer Verstaatlichung, die mit der Errichtung eines Nationalen Rechtsberatungsdienstes – als Äquivalent zum Nationalen Gesundheitsdienst – durchaus angedacht war. Wie staatliche Regulierung die Bedingungen von gemeinnützigen Organisationen und Freiwilligenarbeit beeinflusste, verdeutlichen auch Ana Kladnik und Thomas Lindenberger, die sich mit ihrem Beitrag in die (ehemalige) jugoslawische Teilrepublik Slowenien begeben und die spätsozialistische Zeit sowie die anschließende Phase der Transformation betrachten. Mit dem Untersuchungsgegenstand der Feuerwehrvereine, Assoziationen mit einer langen Geschichte, liefern sie in dreifacher Hinsicht innovative Einblicke in die Geschichte von Freiwilligenarbeit und gemeinnützigen Organisationen: Im Gegensatz zu vielen anderen Studien haben sie es mit Vereinen zu tun, die die ländliche Bevölkerung erfassen. Zudem handelt es sich um Zusammenschlüsse, in denen oftmals Arbeiter, Bauern und Handwerker dominierten und nicht etwa Angehörige der bürgerlichen Bildungsschichten. Schließlich
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richten sie ihren Blick auf die vielfach vernachlässigte Frage der Finanzierung und nutzen diese als Sonde, um den Wandel zu ermessen, dem die Feuerwehrvereine in Zeiten der Transformationen ausgesetzt waren. Der demokratische Aufbruch beendete ein „Goldenes Zeitalter“ vor allem durch den Zugriff des zentralistischen Steuerstaats und durch bürokratische Auflagen. Quellen wie Zeitzeugeninterviews und Beiträge in Internetdiskussionsforen zeugen davon, wie die auf mehr als ein Jahrhundert und verschiedene politische Umbrüche zurückblickenden Feuerwehrvereine sich anzupassen verstanden. Der Radius von Freiwilligenarbeit und gemeinnützigen Organisationen beschränkte sich nicht nur auf den lokalen und nationalen Raum, sondern überschritt schon im 19.Jahrhundert Ländergrenzen. Im letzten Abschnitt weitet sich der Fokus des Bandes und richtet sich auf dieses transnationale Engagement. Freda Wagner und Benjamin Möckel konzentrieren sich insbesondere auf die Ebene der einzelnen Akteure, die materielle und zeitliche Ressourcen aufwandten, um Menschen in anderen Weltteilen zu helfen. In beiden Fällen, bei dem 1959 gegründeten Patenschaftsvermittler der Kindernothilfe ebenso wie bei der Entstehung des fairen Handels, hat man es mit Freiwilligenarbeit sehr unterschiedlicher Intensität zu tun. Zum einen gab es den inneren Kreis der Aktivisten, die die Spendenprogramme bzw. das Vertriebssystem für den ethischen Konsum aufbauten und auch in der Folge organisatorische Kärrnerarbeit leisteten. Zum anderen brauchten sowohl Kindernothilfe als auch Fair Trade die diffuse Masse von Spendern und Konsumenten, die sich mit ihrem meist auf finanzielle Ressourcen beschränkten Einsatz kaum als Freiwillige zu qualifizieren schienen. Doch so einfach ist es nicht. Freda Wagner betont, dass die kirchlichen Initiatoren der Kindernothilfe den Akt des Spendens als religiös motivierten Verzicht und innere Einkehr der Gebenden deuteten – beides erachteten sie insbesondere in Wirtschaftswunderzeiten für notwendig. Das später von anderen Organisationen vehement kritisierte Patenschaftssystem forderte von den Spendenden, dass sie mehr von sich preisgaben als nur einen Geldbeitrag. Nicht zuletzt als Reaktion auf diese Kritik an der Art ihrer Arbeit begann die Kindernothilfe damit, die Paten untereinander zu vernetzen und mehr als zuvor in die praktische Arbeit, zum Beispiel im Rahmen der Mitgliederwerbung, zu involvieren, was sich schließlich als Stabilisierungsfaktor für die Organisation herausstellen sollte. Benjamin Möckel geht mit seiner Interpretation des politisierenden ethischen Konsums noch einen Schritt weiter, indem er einen Perspektivwechsel vorschlägt.
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Die Tatsache, dass kommerzielle Unternehmen immer bereitwilliger Fair Trade-Produkte in ihr Sortiment aufnahmen, lässt sich nämlich nicht einfach als Kommodifizierung und damit „Verflachung“ politischen Protests deuten. Vielmehr spricht einiges dafür, dass es sich hierbei ebenso um einen Prozess handelte, der Praktiken des alternativen Milieus in die breitere Bevölkerung diffundierte. Der akteurszentrierte Ansatz der Voluntary Action History erlaubt hier neue Einblicke in die Debatte um Prozesse wie die Ökonomisierung des Sozialen und die „Moralisierung“ von Märkten, die bislang oftmals sehr menschenleer gedacht wurden. Alle Beiträge – dies lässt sich abschließend festhalten – interessieren sich nicht nur dafür, die Geschichte von Freiwilligenarbeit und des dritten Sektors zu erweitern. Sie demonstrieren vielmehr, dass sich mit dieser Forschungsperspektive eine Vielzahl für die Geschichte des 19. und 20.Jahrhunderts ganz zentraler Themen – genannt seien hier etwa soziale Konflikte, Geschlechterbeziehungen und die Wohlfahrtsorganisation – in ihrer historischen Vielschichtigkeit wie unter einem Brennglas untersuchen lassen. Und sie zeigen, dass die Organisationen, die einzelnen Freiwilligen und deren Handeln den Stoff für die Erzählungen einer Wissenschaft liefern, die wie die Historie durch konkretes Denken gekennzeichnet ist. In den Archiven und Überlieferungen von Vereinen, Wohlfahrtsverbänden und Hilfsinitiativen findet sich Material, das die staatliche Dokumentation erweitert und abstrakte Prozesse wie Demokratisierung, Globalisierung, Ökonomisierung oder Wertewandel zu konkretisieren und historisieren hilft.
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I. Konzepte und Thesen der Voluntary Action History
Eine Neubewertung der „Gift Relationship“ in der britischen Geschichte zum Freiwilligensektor von George Campbell Gosling
Es gibt nicht die eine Geschichtsschreibung, die karitative Arbeit, Kampagnen, gemeinnützige Organisationen, Freiwilligenverbände, Zivilgesellschaft, den dritten Sektor und Nichtregierungsorganisationen behandelt. Stattdessen lassen sich vier zentrale Forschungszweige ausmachen, die diesen Bereich neuerer britischer Geschichte abdecken. Sie sind nicht klar voneinander zu trennen, und Historiker wechseln von einem Schwerpunkt zum anderen, aber sie gehen dabei unterschiedlichen Zielsetzungen und Fragestellungen nach. Dazu zählt erstens eine Sozialgeschichte, die sich in erster Linie mit wohltätiger Arbeit und Armutsbekämpfung befasst und diese in den größeren Kontext der Beziehungen zwischen Arm und Reich einordnet. Zweitens ist eine Geschichte der Freiwilligenarbeit zu nennen, die aus dem Wunsch der ehrenamtlich Engagierten heraus entstanden ist, ihre Arbeit historisch zu verorten und aus der eigenen kollektiven Geschichte zu lernen. Drittens gibt es eine politische Geschichte, die sich mit der Beziehung zwischen dem freiwilligen Sektor und dem Staat befasst. Dazu gehören auch Arbeiten, deren besonderes Interesse den Nichtregierungsorganisationen nach 1945 gilt, die sich also einer speziellen Kategorie freiwilliger Organisationen widmen, welche Lobbyarbeit und Interessensvertretung betreiben. Und schließlich haben wir eine Geschichte des Humanitarismus, welche die Begegnungspunkte zwischen Großbritannien und der weiteren Welt untersucht, die von imperialistischen und internationalistischen Impulsen ausgegangen sind, sei es durch Fundraising oder durch die Entsendung freiwilliger Helfer nach Übersee. Ziel dieses Aufsatzes ist es nicht, einen Überblick über diese nebeneinanderherlaufenden Forschungszweige zu liefern. Vielmehr soll hier das Ungleichgewicht zwischen ihnen thematisiert werden. Dieses Ungleichgewicht ist eine Konsequenz der fruchtbaren Dynamik, die sich vor allem auf dem Feld der politischen Geschichte und der Geschichte des Humanitarismus entwickelt hat, die jedoch die Sozialge-
HTTPS :// DOI . ORG / 10.1515/9783110627442-003
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schichte zu einem gewissen Grad in ihren Schatten stellt. Um das zu verstehen, werden wir zuerst die Anfänge dieses die Forschung zum freiwilligen Sektor prägenden Trends hin zur politischen Geschichte nachzeichnen, wobei dieser als Reaktion auf den Thatcherismus zu sehen ist. Anschließend wenden wir uns im Kontrast dazu der früheren Forschungsliteratur zur Sozialgeschichte und ihren theoretischen Schwerpunkten zu, um sodann zu analysieren, wie sich die politische Wende auf sie auswirkte. Insbesondere durch die Einbindung der Geschichte der Wohltätigkeit in die allgemeine Geschichte der Sozialfürsorge verschob sich der Schwerpunkt vom Konsum zum Angebot karitativer Wohlfahrt. Neuere kulturgeschichtliche Studien sprechen die älteren Fragen, die einst im Mittelpunkt der sozialgeschichtlichen Projektes lagen, dagegen meist nicht mehr an. Schließlich soll ein Ansatz vorgestellt werden, um dieses Projekt neu zu denken und zu beleben. Hierfür sollen Erkenntnisse aus der inzwischen gut etablierten „Neuen Wirtschaftssoziologie“ hinzugezogen werden, die unserem Verständnis der Beziehung zwischen wirtschaftlichem und gesellschaftlichem Verhalten einen neuen Rahmen verliehen hat. Dieser Ansatz, wirtschaftliche Interaktion nicht nur im sozialen Kontext, sondern als eine Form sozialer Interaktion zu erforschen, eignet sich hervorragend für die Untersuchung von Wohltätigkeit – etwa indem das Verhältnis zwischen Spender und Empfänger in den Blick genommen wird. Ob auf diesem oder anderem Wege: Es ist wichtig, einem neu konzipierten Programm für die Sozialgeschichte die Aufmerksamkeit zu schenken, die ihm gebührt. Dies nicht zu tun, hieße, einen fundamentalen Aspekt der Geschichte der Freiwilligenarbeit zu ignorieren: das Verhältnis zwischen Gebenden und Nehmenden, das im Englischen mit dem Begriff „gift relationship“ bezeichnet wird. Und es hieße, ebenfalls eine Schlüsselfigur in dieser Geschichte auszublenden: den Empfänger. Einige herausragende Einzelstudien beleuchten inzwischen diesen Aspekt mithilfe neuer theoretischer Herangehensweisen, die, wie im Bereich der Sozialgeschichte allgemein, interdisziplinär ausgerichtet sind. Es fällt schwer, sich eine neue, dynamische Sozialgeschichte vorzustellen, die nicht passender als soziokulturelle Geschichte verstanden werden könnte. Diese innovativen Studien sind eher eine diffuse Sammlung als ein zusammenhängendes Gesamtprojekt. Dieser Aufsatz geht der Frage nach, wie man dies ändern kann und wie eine Neukonzeption des Wirtschaftsverhaltens als Sozialverhalten bei diesem Versuch nützlich sein könnte.
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I. Es gibt kaum Bereiche der britischen Zeitgeschichte, auf die Margaret Thatcher nicht ihren langen Schatten wirft. Ihre Amtszeit, die von 1979 bis 1990 dauerte, bezeichnet einen sichtbaren, wenn auch nicht immer sauberen Bruch mit der vorangegangenen Ära eines vermeintlichen Konsenses im Bereich der Wohlfahrtspolitik. Ihre Zeit als Premierministerin war für den freiwilligen Sektor in Großbritannien bedeutsam, wenn auch auf eine Weise, die nicht vollständig beabsichtigt war, und die wiederum tiefgreifende Auswirkungen darauf hat, wie wir die Geschichte der Wohltätigkeit verstehen und warum wir sie erforschen. 1 Es darf behauptet werden, dass sie auf eine politische Wende in der Geschichte der Wohltätigkeit in Großbritannien hinauslief. Regierungen vor und nach Thatcher haben versucht, ehrenamtliche Tätigkeit zu fördern und ein engeres Arbeitsverhältnis zwischen Staat und ehrenamtlichem Sektor zu schmieden. Die Einrichtung der „Voluntary Services Unit“ innerhalb des Innenministeriums (Home Office) unter der konservativen Regierung Edward Heaths sowie der „Partnership“-Ansatz der Labour-Regierungen Tony Blairs sind Beispiele hierfür. 2 Während der 1970er und 1980er setzten Thatcher und die Neue Rechte allgemein den Schwerpunkt auf nichtstaatliche Arten der Sozialfürsorge, und der Freiwillige Sektor ließ sich hier gut einspannen. 3 Gegen Ende der 1980er wurden freiwillige Träger bei verschiedenen Regierungsprogrammen in den Bereichen des Wohnungs- und Arbeitsmarktes so behandelt, als seien sie mit kommerziellen Anbietern vollkommen austauschbar. Der Unterschied zwischen beiden war viel weniger wichtig als diejenige Trennlinie, die zwischen ihnen und dem Staat gezogen wurde. Es ließe sich annehmen, dass in Thatchers hoher Wertschätzung „viktoria-
1 Einen guten Überblick über die Beziehung zwischen der Thatcher-Regierung und dem Freiwilligensektor liefern Nicholas Deakin, The Perils of Partnership. The Voluntary Sector and the State, 1945–1992, in: Justin Davis Smith/Colin Rochester/Rodney Hedley (Eds.), An Introduction to the Voluntary Sector. London 1995, 55–62; sowie Jeremy Kendall/Martin Knapp, The Voluntary Sector in the UK. Manchester 1996, 133– 164. Eine Darstellung, die sich auf den Einfluss des Denkens der Neuen Rechten konzentriert, liefert Geoffrey Finlayson, Citizen, State, and Social Welfare in Britain, 1830–1990. Oxford 1994, 357–400. 2 Zur „Voluntary Services Unit“ vgl. Matthew Hilton/Nick Crowson/Jean-François Mouhot/James McKay, A Historical Guide to NGOs in Britain. Charities, Civil Society and the Voluntary Sector since 1945. Basingstoke 2012, 303–307. Zur Regierung Blair vgl. Jane Lewis, New Labour’s Approach to the Voluntary Sector. Independence and the Meaning of Partnership, in: Social Policy and Society 4, 2005, 121–131. 3 Finlayson, Citizen (wie Anm.1), 358.
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nischer Werte“ der Glaube an die sozialen Vorzüge der Philanthropie auf einer Ebene mit ihrer antistaatlichen Einstellung zu sehen sei. Dies war jedoch nicht der Fall. 1977 sagte Thatcher in einer Rede, dass die „viktorianische Ära – die Glanzzeit der freien Marktwirtschaft in Großbritannien – ebenfalls die Epoche der Selbstlosigkeit und Wohltätigkeit darstellte“. 4 Es war allerdings immer eindeutig, dass für sie das freie Unternehmertum an erster Stelle stand. Im Jahr 1988 sprach Thatcher vor der General Assembly der Church of Scotland, wo sie die theologischen Grundsätze ihrer Weltanschauung schilderte. Der Begriff „Wohltätigkeit“ fiel dabei nicht. Am nächsten kam sie noch mit folgender Wendung: „Wie könnten wir auf die vielen Hilferufe reagieren, oder in die Zukunft investieren, oder die begabten Künstler und Handwerker unterstützen, deren Arbeit ebenso Gott preist, wenn wir nicht zuerst schwer gearbeitet und unsere Talente genutzt hätten, um den für diese Hilfe nötigen Wohlstand zu schaffen?“ 5
Der inzwischen am häufigsten zitierte Satz aus dieser Rede lautet: „Im Christentum geht es um die spirituelle Erlösung, nicht um soziale Reformen.“ Thatchers Politik konzentrierte sich auf die Spannungen zwischen dem Staat und dem Bürger, aber ohne die sozialen Institutionen und Organisationen ernsthaft in Betracht zu ziehen, die zwischen beiden vermitteln. Wenn soziale Dienste für sie wichtig waren, dann als Bollwerk gegen einen übermächtigen Staat. Vor dem „Women’s Royal Volunteer Service“ sagte sie 1981, dass „die Bereitschaft von Männern und Frauen, ehrenamtliche Arbeit zu leisten, eine der größten Freiheitsgarantien ist. Sie stellt sicher, dass die Fürsorge von politischem Einfluss freibleibt.“ 6 Freiwillige Organisationen waren nur insofern von Bedeutung, als sie für eine wirtschaftliche oder politische Zielsetzung eine Aufgabe erfüllten. Sie mussten nicht aktiv unterstützt werden, um die bürgerliche Gesellschaft als positiven Kontrast zu staatlicher Intervention und Sozialfürsorge zu entwerfen. Der zukünftige Premierminister Gordon Brown beobachtete 1988, noch als junger Oppositioneller, der im Schattenkabinett für das Finanzministerium vorgesehen war:
4 Margaret Thatcher, Rede vor der Zürcher Volkswirtschaftlichen Gesellschaft („The New Renaissance“), 14.März 1977, https://www.margaretthatcher.org/document/103336. 5 Margaret Thatcher, Rede vor der General Assembly of the Church of Scotland, 21.März 1988, https:// www.margaretthatcher.org/document/107246. 6 Margaret Thatcher, Rede bei der Women’s Royal Voluntary Service National Conference („Facing the New Challenge“), 19.Januar 1981, https://www.margaretthatcher.org/document/104551.
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„[…] wir haben gesehen, wie die Wohltätigkeit aus der Rumpelkammer der Sozialgeschichte herausgezogen und abgestaubt wurde und wie sie, zur Beschämung und Wut der Freiwilligenorganisationen Großbritanniens, einer skeptischen oder gleichgültigen Öffentlichkeit als unverzichtbarer Bestandteil eines durch und durch modernen Thatcherismus präsentiert wurde.“ 7
Trotz Thatchers ambivalenter Haltung der Wohltätigkeit gegenüber vollzog sich während ihrer Amtszeit doch in dreierlei Hinsicht eine Veränderung in der Rolle, die dem freiwilligen Sektor zukam. Die erste war die Zunahme der Freiwilligentätigkeit, und zwar insbesondere derjenigen, die mit dem Staat einherging und durch ihn gefördert wurde. 8 Der Wolfenden-Bericht von 1978 forderte noch vor Thatchers Amtsantritt und im Einklang mit Entwicklungen, die schon in den siebziger Jahren eingesetzt hatten, eine größere Bedeutung für private und ehrenamtliche Sozialfürsorge. Außerdem nahmen die finanziellen Mittel, welche die Regierung für den freiwilligen Sektor bereitstellte, zu. Solche staatlichen Fördergelder wuchsen von 93 Millionen Pfund in den Jahren 1979/80 auf 293 Millionen Pfund im Jahr 1987/88. 9 In den 1980er Jahren änderte sich jedoch die Erwartungshaltung gegenüber karitativen Organisationen. Wie der Historiker Frank Prochaska feststellte, zentralisierten die Thatcher-Regierungen in ihrem Drang, den Staat einzudämmen, das, was von diesem übrigblieb, und vergrößerten so die Abhängigkeit des Freiwilligensektors von ihm. Bis heute wirft diese Entwicklung ernsthafte Fragen zur Unabhängigkeit des ehrenamtlichen Bereichs auf. Eliza Filby etwa hat über die Zusammenarbeit von Kirchen und „Manpower Services Commissions“ auf lokaler Ebene in den 1980er Jahren geschrieben, eine Kooperation, die den Arbeitslosen zwar einerseits praktische Hilfe leistete, aber andererseits die Kirchen in die Rolle paternalistischer Agenten des Staates drängte. Dies warf Probleme auf, als Änderungen der politischen Tagesordnung und die Streichung von Fördergeldern deutlich machten, dass freiwillige Organisationen für die Regierung nur eine geringe Priorität hatten. Ihr Ruf litt dabei auch dadurch, dass sie mit einem unbeliebten politischen Plan assoziiert wurden. Vor allem anderen ist es daher als Thatchers nachhaltigstes Erbe in die-
7 Gordon Brown, Back to Begging, in: The Times, 3.Mai 1988. 8 Die wirtschaftlichen Reformen der Thatcher-Regierungen lösten auch freiwillige Hilfsaktionen in der Form gegenseitiger Unterstützungsnetzwerke für streikende Gemeinden aus. Ob dies jedoch zu einer besseren Koordinierung von Gemeindetätigkeiten führte und ob diese zunehmende Bereitschaft sich als dauerhafte Einstellung niederschlug, ist schwer zu sagen. 9 Finlayson, Citizen (wie Anm.1), 374f.
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sem Bereich anzusehen, dass sie eine zunehmende Politisierung wohltätiger Arbeit provozierte, die zweite der genannten Veränderungen. Die dritte Veränderung vollzog sich innerhalb der ehrenamtlichen Organisationen selbst, indem sie sich professionalisierten. Wenngleich sich die Entwicklung professioneller Fähigkeiten und Standards in britischen Wohltätigkeitsorganisationen bis ins frühe 20.Jahrhundert zurückverfolgen lässt, wird dieses Phänomen eher mit dem späten 20.Jahrhundert und sogar noch mehr mit der Wende zum 21. in Verbindung gebracht. 10 „Allein die starke Zunahme in Größe und Ausmaß freiwilliger Einrichtungen bedeutete, dass viele, wenn nicht gar die meisten Organisationen, entschieden professioneller werden mussten. Dies führte sie anscheinend weit von ihren früheren aktiven Mitgliedern weg“, stellten Matthew Hilton und andere fest, und sie führten aus, wie mit der Einführung von „Geschäftsführern, Vertriebsdirektoren, Kampagnenleitern, Werbestrategien und wiedererkennbaren Markennamen“ im ehrenamtlichen Sektor die Möglichkeit einer „NGO-Karriere“ geschaffen wurde. 11 Wenn diese zunehmende Professionalisierung auch eher weitere Tendenzen wiedergab als die zielgerichtete Umsetzung eines politischen Programms, bereitete sie den Freiwilligensektor doch auf eine neue Ära vor, in welcher, wie der verstorbene Historiker Geoffrey Finlayson festhielt, der kommerzielle, der karitative und der informelle Sektor eher als „potenzielle Alternativen zum Wohlfahrtsstaat statt als Ergänzung oder Impuls dafür“ betrachtet werden. 12 Dadurch erhielt ehrenamtliche Tätigkeit eine neue politische Aktualität. Die Verschiebung der alten Wohlfahrtsbürokratien hin zu einer Vertragskultur, in der ehrenamtliche Agenturen im Wettbewerb mit öffentlichen und privaten Dienstleistern mitbieten konnten, begann zumindest in der Theorie schon vor 1979 und wurde bis 1990 weitergeführt sowie ausgeweitet. 13 Während der Thatcher-Zeit war sie jedoch aktive Regierungspolitik. Nick Deakin hat darauf hingewiesen, dass die Ziele der Regierung in
10
Ebd.234f.; Nicholas Deakin/Justin Davis Smith, Labour, Charity and Voluntary Action. The Myth of Hos-
tility, in: Matthew Hilton/James McKay (Eds.), The Ages of Voluntarism. How We Got to the Big Society. Oxford 2011, 77, 80. 11
Matthew Hilton/James McKay, The Ages of Voluntarism. An Introduction, in: dies. (Eds.), The Ages of
Voluntarism (wie Anm.10), 22; Matthew Hilton/James McKay/Nicholas Crowson/Jean-François Mouhot (Eds.), The Politics of Expertise. How NGOs Shaped Modern Britain. Oxford 2013, 54–79. 12
Finlayson, Citizen (wie Anm.1), 304.
13
Zu den Auswirkungen auf den freiwilligen Sektor vgl. Colin Rochester, Rediscovering Voluntary Ac-
tion. The Beat of a Different Drum. Basingstoke 2013, 85–98.
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diesem Bereich in den 1980er Jahren darauf hinausliefen, die Philanthropie als Alternative zum Staat wiederzubeleben und eine neue Motivation zur Übernahme von Verantwortung zu schaffen, die das Vertrauen auf den Staat ablösen sollte. Die „Voluntary Services Unit“ sollte den Freiwilligensektor durch die Verbreitung der Konzepte des „New Managerialism“ auf seine neuen Aufgaben vorbereiten. 14 Unter den Praktikern und Forschern dieses erweiterten, professionalisierten und politisierten Freiwilligensektors erwuchs der Wunsch, sich mit dessen Geschichte zu befassen, was 1991 zur Gründung der „Voluntary Action History Society“ (VAHS) führte. Gründungsmitglieder waren Justin Davis Smith, Rodney Hedley und Colin Rochester, und auch Nick Deakin war früh involviert. Schon im Namen kam der bewusste Versuch zum Ausdruck, das Feld, wie es sich in der Gegenwart darbot, in der eigenen Geschichte zu verorten. Der Begriff „voluntary action“ war eine Referenz an den wenig bekannten Bericht William Beveridges aus dem Jahr 1948. Beveridges viel prominenterer Bericht zur Sozialversicherung von 1942 lieferte den Entwurf für den britischen Wohlfahrtsstaat. Während der erste Bericht von der Kriegsregierung angefordert worden war, wurde der zweite Bericht vom „National Council for Social Service“ in Auftrag gegeben, zu einem Zeitpunkt, als die Labour-Regierung schon dabei war, die Empfehlungen Beveridges von 1942 weitgehend in die Tat umzusetzen. Während diese Empfehlungen zu einer umfassenden Erweiterung staatlicher Kompetenzen aufriefen, um die fünf größten Übel, die „five giants“ (Not, Krankheit, Unwissen, Schmutz und Untätigkeit) in den Griff zu bekommen, erinnerte der zweite Bericht daran, dass in seiner Vision einer gerechteren Gesellschaft durchaus Raum für die Zivilgesellschaft blieb. Hierzu gehörte sowohl die Philanthropie, welche er als „den Impuls von oben“ bezeichnete, als auch die gegenseitige Hilfe, „der Impuls von unten“. 15 Vier Jahrzehnte später und in einem stark veränderten Kontext wurde die VAHS ins Leben gerufen, da der Freiwilligensektor den Rückgriff auf die Geschichte nutzen wollte, um Halt zu finden und neuen Anforderungen entgegenzutreten, die in der Zeit nach Thatcher von den Regierungen an den Freiwilligensektor gestellt wurden. Diese politisierte Geschichtsschreibung war die Priorität der Forscher und Praktiker im Freiwilligensektor, die ein Interesse an ihrer gemeinsamen Geschichte hatten. Sie scheint auch in den verschiedenen Aktivitäten desjenigen Historikers 14 Deakin, The Perils of Partnership (wie Anm.1), 59–61. 15 William Beveridge, Voluntary Action. A Report on the Methods of Social Advance. London 1948.
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durch, der an den frühen Aktivitäten der VAHS am stärksten beteiligt war: Frank Prochaskas Arbeit besteht aus zwei Strängen, nämlich seiner eigenen empirischen Forschung zur Sozialgeschichte, die sich oftmals auf eine goldene Ära viktorianischer Philanthropie beruft, und der Arbeit für Think Tanks, welche die Unterschiede zwischen dieser Geschichte und der Gegenwart hervorhebt. 16 So sehr Prochaskas Engagement in der zeitgenössischen Politik auch in seiner sozialgeschichtlichen Forschung wurzelte, die sich meist mit der Rolle der Frauen, der Religion und des Altruismus befasste, so wenig lässt sich diese Forschung als apolitisch bezeichnen. Tatsächlich bezeichnete Prochaska es in seinem Buch über Christentum und Sozialdienst im modernen Großbritannien als „ein Hauptanliegen“, den Einfluss des Wohlfahrtsstaates auf die Gesellschaft zu ermessen. 17 In den letzten Jahren haben mit einem Forschungsverbund an der Universität Birmingham verbundene Historiker eine spürbare Dynamik in die Geschichte der Freiwilligenorganisationen gebracht, allen voran Matthew Hilton und Nick Crowson. Ihre eigene Forschung und die gemeinsame Arbeit für verschiedene Veranstaltungen und Publikationen stellen eine beträchtliche Herausforderung für Prochaskas Verfallsnarrativ dar. Hilton und Crowson betonen die Anpassungsfähigkeit ehrenamtlicher Organisationen. Ihr Fokus liegt jedoch nicht auf der breiteren Geschichte des Freiwilligensektors oder der Zivilgesellschaft, sondern spezifischer darauf, was sie als NGOs bezeichnen. Damit widmen sie sich einer ausdrücklich politischen Unterkategorie des ehrenamtlichen Sektors, die sich mit der Kampagnenund Lobbyarbeit befasst. Unvermeidlich führt ein solcher Schwerpunkt zu einem wissenschaftlichen Projekt, dass letztlich Fragen zur Politikgeschichte und nicht mehr so sehr zur Sozialgeschichte beantworten will.
16
Seine wichtigsten Werke in diesem Bereich sind: Frank Prochaska, Women and Philanthropy in Nine-
teenth-Century England. Oxford 1980; ders., The Voluntary Impulse. Philanthropy in Modern Britain. London 1988; ders., Christianity and Social Service in Modern Britain. The Disinherited Spirit. Oxford 2006. Seine am stärksten in die Tiefe gehende Arbeit für einen Think-Tank ist ders., Schools of Citizenship. Charity and Civic Virtue. London 2002. 17
40
Prochaska, Christianity and Social Service (wie Anm.16), viii.
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II. Vor dieser politischen Wende hatte Wohltätigkeit seinen vorhersehbaren Platz als ein Thema innerhalb einer weiteren Sozialgeschichte, die sich häufig auf Aspekte der Armut und auf das Verhältnis zwischen Arm und Reich konzentrierte. Obwohl in den klassischen Werken, die sich um eine möglichst vollständige Geschichte britischer Philanthropie bemühten, das wohltätig sein meist das Wohltätigkeit empfangen ausschloss, boten sie doch eine Plattform für Sozialhistoriker, sich eingehender mit diesem Verhältnis zu befassen. 18 In seinem wegweisenden Buch „Outcast London“ lenkte Gareth Stedman Jones unsere Aufmerksamkeit auf die „Deformation des Geschenks“: Die physische Trennung der gesellschaftlichen Klassen durch Suburbanisierung bedeute, dass die Beziehungen zwischen ihnen – und damit auch wohltätige Begegnungen – anonymisiert und abstrahiert würden. 19 Diese Ausrichtung der investigativen Sozialgeschichte zeigt traditionell eine hohe Bereitschaft, anthropologische Ansätze zu Schenkungs- und Tauschverhältnissen aufzunehmen. Das Konzept, dass Wohltätigkeit den mittleren und oberen Gesellschaftsschichten die „soziale Kontrolle“ über ihre Nachbarn aus der Arbeiterklasse – und besonders über die Armen – ermöglichte, war in dieser frühen Phase der Sozialgeschichte der Wohltätigkeit möglicherweise am einflussreichsten. Freilich gab es keine einzige, allgemein akzeptierte Auffassung dessen, was soziale Kontrolle denn sei. Einige Historiker sehen diese als „bewusstes Handeln“ seitens der britischen „herrschenden Schicht“, das darauf gezielt habe, „die bestehende soziale Einseitigkeit gesellschaftlicher Beziehungen“ aufrechtzuerhalten. 20 In anderen Fällen erwies es sich als produktiver, sie als stillschweigend und als eng verbunden mit den Austauschbeziehungen von Rechten und Verantwortlichkeiten eines jeden Wohlfahrtssystems zu begreifen, dem „ein Code autoritärer Regeln“ zugrunde liegt. 21 Dieser Ansatz trifft
18 Wilbur Kitchener Jordan, The Charities of London. The Aspirations and Achievements of Urban Society. London 2014 (Erstveröffentlichung 1960); David Owen, English Philanthropy 1660–1960. Cambridge, MA 1964. 19 Gareth Steadman Jones, Outcast London. A Study in the Relationship Between Classes in Victorian Society. London 2013 (Erstveröffentlichung Oxford 1971), 241–261. 20 Roy Hay, Employers’ Attitudes to Social Policy and the Concept of Social Control, 1900–1920, in: Pat Thane (Ed.), The Origins of British Social Policy. London 1978, 107–125, hier 108f. 21 John Brown, Social Control and the Modernisation of Social Policy 1890–1929, in: Thane (Ed.), Origins (wie Anm.20), 126–147, hier 126.
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auch auf kritische Stimmen. Ende der 1970er Jahre schrieb Karel Williams, dass „englische Sozialhistoriker sich bemüht haben, eine Beziehung zwischen Sozialgeschichte und Soziologie aufzubauen, in der Art wie neue Wirtschaftshistoriker es für Wirtschaftsgeschichte und Volkswirtschaftslehre getan haben“. 22 Dennoch, so Williams weiter, bleibe dabei nicht nur die Unklarheit bestehen, welches Modell „sozialer Kontrolle“ von der Soziologie hinzugezogen werden sollte, sondern es werde damit auch ein „Taschenspielertrick“ verwendet, indem das, was der Theorie nach notwendig sei, die tatsächlichen Gegebenheiten ersetze. 23 2015 fragte Barry Doyle, ob es im Feld der Voluntary Action History noch jemanden gebe, der von „sozialer Kontrolle“ spreche. 24 Tatsächlich wurde dieses Modell vielfach beiseite gelegt, da seine Problematik letztlich seinen Wert überstieg. Ein alternatives Deutungsmuster, das inzwischen aber ebenfalls in Ungnade gefallen ist, wird durch die Begriffe Handlungsfähigkeit („agency“) und Macht („power“) repräsentiert. 25 Macht wird hier im diskursiven Sinn verstanden, wobei eine Art Skript für die wohltätige Begegnung existiere – mit dem sich die Handlungsfähigkeit entweder im Einklang oder im Widerspruch befinde. Wenn diese Terminologie auch nicht allgemein verwendet wird, sind diese Konzepte doch in historischen Narrativen zur Armut deutlich präsent, worauf noch zurückzukommen sein wird. Während die Idee der Wohltätigkeit als Ritual in älteren Arbeiten zur frühneuzeitlichen Geschichte der Sozialfürsorge als typisch gelten kann, passt sie auch in Studien neueren Datums, die sich eher auf Rhetorik und Strategie karitativer Appelle konzentrieren. 26 Was sich bei Historikern allgemein wie auch bei Historikern der Wohltätigkeit nach wie vor dauerhafter Beliebtheit erfreut, ist die anthropologisch inspirierte Forschung zur „Gabe“, zum „Gabentausch“ und zur „gift relationship“. Es ist angebracht, zunächst einen kurzen Blick auf die verschiedenen Forschungsansätze zu diesen Konzepten zu werfen. 22
Karel Williams, From Pauperism to Poverty. London 1979, 136.
23
Ebd.136–139.
24
Barry Doyle, Voluntary Action History Society 5th International Research Conference, University of
Huddersfield, 10.Juli 2013. 25
Wenn die Sprache der Macht („power“) in der neueren Wohlfahrtsgeschichte verwendet wird, bezieht
sich dies meistens auf die Lobbyarbeit wohltätiger Organisationen bei politischen Entscheidungsträgern. Vgl. Hilton/McKay/Crowson/Mouhot, The Politics of Expertise (wie Anm.11). 26
Zu den älteren Arbeiten vgl. Roy Porter, The Gift Relation. Philanthropy and Provincial Hospitals in
Eighteenth-Century England, in: Lindsay Granshaw/Roy Porter (Eds.), The Hospital in History. London 1989, 149–178; Mary Fissell, Patients, Power and the Poor in Eighteenth-Century Bristol. Cambridge 1991.
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Die in der britischen Sozialwissenschaft wahrscheinlich bekannteste Deutung der „gift relationship“ stammt von Richard Titmuss. Er wählte diesen Ausdruck 1970 als Titel für seine einflussreiche Studie zu unterschiedlichen Blutspendesystemen weltweit. Besonders positiv bewertete er das britische System, in dem die demonetarisierte Spende an einen anonymen Rezipienten gerichtet war. Hierdurch wurde eine Situation geschaffen, in welcher das Geschenk durch einen gewissen Altruismus charakterisiert wurde und die gesellschaftliche Solidarität förderte. 27 Interessanterweise garantierte aus Titmuss’ Sicht die Trennung von Spender und Rezipienten den Altruismus, wohingegen genau der gleiche Aspekt in der viktorianischen und edwardischen Philanthropie für Gareth Stedman Jones die „Deformation des Geschenks“ verursachte. 28 Die positivere Einschätzung entstammte der kollektivistischen Auffassung, dass die Gesellschaft aus gegenseitigen Wechselverhältnissen bestehe. Diese wird oftmals mit den Arbeiten von Marcel Mauss zum nichtmonetarischen „Gabentausch“ in archaischen Gesellschaften in Verbindung gebracht, ebenso wie mit denjenigen von Claude Lévi-Strauss zum Gegenseitigkeitsverhältnis in verwandtschaftlichen Beziehungen. 29 Dies steht aber im Kontrast zu dem Ansatz, das Thema aus einer individualistischen Perspektive anzugehen, der im utilitaristischen Denken wurzelt und davon ausgeht, dass soziale Verhältnisse in erster Linie durch Eigeninteresse motiviert sind. Der vielleicht überzeugteste Vertreter dieser Ansicht in der Geschichte der Wohlfahrt ist Alan Kidd, der auf die Bedeutung von „Gegenseitigkeit“ nicht für die Herstellung einer zusammenhängenden Gemeinschaft, sondern für die Entstehung gesellschaftlicher Unterschiede hinweist: „Die Abhängigkeit des Empfängers von der Gabe und seine Unfähigkeit in der Folge, sie zu vergelten (beziehungsweise eine Möglichkeit dafür vorauszusehen) kann kaum gesellschaftliche Solidarität schaffen. Vielmehr festigt sie soziale Unterschiede und schürt sogar Verbitterung. Der Empfänger wird materiell und moralisch zum Schuldner des Gebers […] Wir wissen, dass Wohltätigkeit selbst die Macht hat, zu verletzen.“ 30
27 Richard Titmuss, The Gift Relationship. From Human Blood to Social Policy. London 1970. 28 Steadman Jones, Outcast London (wie Anm.19), 241–261. 29 Marcel Mauss, Essai sur le don. Forme et raison de l’échange dans les sociétés archaïques, in: L’Année Sociologique, seconde série 1, 1923/24, 30–186; Claude Lévi-Strauss, Les structures élémentaires de la parenté. Paris 1949. 30 Alan Kidd, Philanthropy and the ,Social History Paradigm‘, in: Social History 2, 1996, 180–192, hier 186f.
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Das Fundament dieses Machtverhältnisses liegt darin, dass Philanthropie vom Spender beziehungsweise vom Freiwilligen definiert wird, der über Zeitpunkt, Ausmaß, Methode und Ziel der Wohltätigkeit entscheidet. Im Gegensatz hierzu hat der passive Rezipient wenig Spielraum für eigenes Handeln. Fernand Braudel hat dies in einem einleuchtenden Satz zusammengefasst: „Wer gibt, dominiert.“ 31 Wenngleich Braudels Interesse vorrangig der Dominanz einer Kultur über die andere galt, beobachtete er nebenbei, dass dasselbe auch auf Individuen zutreffe. Obwohl dies eher als Binsenweisheit präsentiert wurde, war es doch ein deutlicher Ausdruck eines individualistischen Verständnisses der „gift relationship“. Ein solcher Rahmen, um das Verhältnis zwischen Spendern und Rezipienten zu analysieren, wurde durch den Einfluss der politischen Wende auf die Sozialgeschichte verdrängt. Stattdessen verschob sich der Interessensschwerpunkt der Sozialhistoriker zu den Beziehungen zwischen ehrenamtlichen und öffentlichen Anbietern sozialer Dienste, während die Vorstellung der „mixed economy of welfare“ aus der Sozialpolitik übernommen wurde. 32 Die Erkenntnis, dass es eine Epoche nach dem „klassischen Wohlfahrtsstaat“ geben könne, in welcher der öffentliche Sektor eine kleinere Rolle spielen würde, führte Historiker zur Bestätigung der Tatsache, dass „Sozialfürsorge immer gemischt“ gewesen sei. 33 Seither wurde der konzeptuelle Rahmen der „mixed economy of welfare“ auf die historische Analyse des gesamten Bereichs der sozialen Dienstleistungen angewandt. So haben Anne Digby und David Wright diesen Ansatz bei der Geschichte der Dienste für Erwachsene mit Lernschwierigkeiten verwendet. 34 Später haben Graham Chester und Pamela Dale die naheliegende Parallele zur gegenwärtigen Politik weitergeführt, indem sie innerhalb der Geschichte der „mixed economy“ in Bezug auf Dienstleistungen für Er-
31
Fernand Braudel, The Mediterranean and the Mediterranean World in the Age of Philip II. Vol.2. Ber-
keley 1996 (französische Erstveröffentlichung 1949), 826. 32
Zur Entwicklung dieses sozialpolitischen Ansatzes vgl. Neil Gilbert/Barbara Gilbert, The Enabling
State. Modern Welfare Capitalism in America. New York 1989. 33
Anne Digby, British Welfare Policy. Workhouse to Workfare. London 1989, 85. Eine klare und präg-
nante Einführung zur Wohlfahrtsgeschichte in diesem Sinne findet sich bei John Stewart, The Mixed Economy of Welfare in Historical Context, in: Martin Powell (Ed.), Understanding the Mixed Economy of Welfare. Bristol 2007, 23–40. 34
Vgl. David Wright/Anne Digby (Eds.), From Idiocy to Mental Deficiency. Historical Perspectives on
People with Learning Difficulties. London 1996; Peter Bartlett/David Wright (Eds.), Outside the Walls of the Asylum. The History of Care in the Community, 1750–2000. London 1999.
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wachsene mit Lernschwierigkeiten zwischen „Käufern“ und „Anbietern“ unterscheiden. 35 Das Verständnis von Vielfalt in der Dienstleistungsbranche aus der Sicht der „mixed economy“ ist mittlerweile allgemein Standard geworden, selbst dort, wo der Begriff nicht explizit benutzt wird. Oft werden für ähnliche Forschungsansätze zum Thema alternative Konzepte wie etwa „governance“, Wohlfahrtspluralismus oder Beveridges „moving frontier“ zwischen ehrenamtlicher Arbeit und Staat herangezogen. Richard Trainor und Robert Morris argumentieren, dass das politikwissenschaftliche „Governance“-Konzept nicht nur die städtische Sphäre miteinbeziehe, die von so vielen früheren Studien bereits behandelt wurde, sondern es ebenso erlaube, andere Dienstleister, etwa „die nicht-städtischen Kooperationspartner lokaler Verwaltungsapparate, freiwillige Institutionen“ oder „die Organisationen des professionellen und wirtschaftlichen Sektors“ zu berücksichtigen. 36 Welche Terminologie auch immer verwendet wird: Die Konsequenz ist, dass neue und überarbeitete Überblicksdarstellungen zur Geschichte der Sozialfürsorge in Großbritannien nun in der Regel eine Diskussion ehrenamtlicher Armen- und Krankenversorgung mit einschließen. 37 Dies verschafft der Geschichte der Wohltätigkeit zwar einen sicheren, aber noch immer untergeordneten Platz in der weiteren Geschichte der Wohlfahrt. Ob sie in erster Linie als soziale oder politische Geschichte betrachtet werden soll, richtet sich größtenteils danach, welche größeren Forschungsfragen gestellt werden. Im Fall einiger hervorragender Arbeiten zu wichtigen sozialen Themen wie etwa Pat Thanes und Tanya Evans’ Studie zu unverheirateten Müttern, die sie zum hundertjährigen Jubiläum einer ehrenamtlichen Einrichtung verfasst haben, ist die Wohltätigkeitsgeschichte Teil einer größeren politischen Geschichte. 38
35 Graham Chester/Pamela Dale, Institutional Care for the Mental Defective, 1914–1948. Diversity as a Response to Individual Needs and an Indication of Lack of Policy Coherence, in: Medical History 51, 2007, 59–78. 36 Richard Trainor/Robert Morris, Preface, in: dies. (Eds.), Urban Governance. Britain and Beyond since 1750. Aldershot 2000, xi. 37 Vgl. z.B. Finlayson, Citizen (wie Anm.1); Derek Fraser, The Evolution of the British Welfare State. A History of Social Policy since the Industrial Revolution. 3rd Ed. Basingstoke 2003; Bernard Harris, The Origins of the British Welfare State. Society, State and Social Welfare in England and Wales, 1800–1945. London 2004; Kathleen Jones, The Making of Social Policy in Britain. From the Poor Law to New Labour. 3rd Ed. London 2000. 38 Pat Thane/Tanya Evans, Sinners? Scroungers? Saints? Unmarried Motherhood in Twentieth-Century England. Oxford 2012.
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Wie oben erwähnt, lässt sich die andere Konsequenz der politischen Wende als wissenschaftliche Vernachlässigung der gesellschaftlichen Bindungen zwischen Arm und Reich beschreiben, die durch karitatives Handeln entstehen können, wohingegen eine Reihe neuer Themen erschlossen wurde: etwa die sozialen Bindungen und Netzwerke, die sich innerhalb bestimmter Schichten und auch zwischen den Mitgliedern freiwilliger Organisationen herausbildeten. Im Gegensatz zum Narrativ des Rückgangs bürgerlichen Engagements, das unter dem Einfluss von Robert Putnams Argumenten zur USA an Stärke gewann, wollen Historiker in jüngster Zeit eher die Bedeutung des Vereinslebens in der britischen Vergangenheit wieder zum Vorschein bringen, etwa auch als Teil der Freizeit-, Bildungs-, Jugendkultur- und Politikgeschichte. 39 Dies war eine neue Dimension, welche die VAHS ausloten wollte, als sie in den 2000er Jahren eine neue Seminarreihe am „University of London’s Institute of Historical Research“ veranstaltete. Gleichzeitig übernahmen Historiker leitende Positionen in der VAHS, nämlich Pat Starkey als Vorsitzender und Georgina Brewis als Schriftführerin. Das bedeutete jedoch nicht, dass alle anderen Themen ausgeschlossen wurden. Starkeys eigene Forschung zur Bedeutung freiwilliger Organisationen im Bereich der Sozialarbeit ist weniger in der politischen Geschichte freiwilligen Engagements als in der politisierten Sozialgeschichte der Wohlfahrt zu verorten. 40 Ebenso haben die Arbeiten anderer wichtiger Köpfe in der VAHS viel mit der politischen Geschichte von NGOs gemein, wobei auch sie wichtige neue Forschungsstränge in die Sozialgeschichte freiwilliger Organisationen eingebracht haben. Brewis’ Arbeit zur Freiwilligenarbeit von Studierenden sowie diejenigen von Caitriona Beaumont zu Frauenorganisationen brachten beide die Erkenntnis voran, dass die Erfahrungen von Freiwilligen und Mitgliedern freiwilliger Assoziationen unbedingt mit berücksichtigt werden müssen. Außerdem haben beide Wissenschaftlerinnen herausgearbeitet, über welche Wege diese mit ihrer Freiwilligentätigkeit dazu beigetragen haben, neue politische Gemeinschaften in ihren jeweiligen Wirkungsbereichen zu schaffen. 41
39
Robert Putnam, Bowling Alone. The Collapse and Revival of American Community. New York 2000.
Beispiele für den neuen Fokus auf das Vereinswesen finden sich bei Peter Ackers/Alastair J. Reid (Eds.), Alternatives to State-Socialism in Britain. Other Worlds of Labour in the Twentieth Century. Basingstoke 2016. 40
Vgl. z.B. Pat Starkey, Families and Social Workers. The Work of Family Service Units, 1940–1985.
Liverpool 2000. 41
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Georgina Brewis, A Social History of Student Volunteering. Britain and Beyond, 1880–1980. Basingstoke
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Im Rahmen eines vielseitigen Forschungsprogramms gibt es mehr Raum für die Geschichte gemeinnütziger Organisationen. Die Bedeutung der Vereinskultur und Zivilgesellschaft für die Entstehung einer bürgerlichen Identität ist schon lange bekannt. 42 Ein deutlicher Unterschied dieser neuen Vereinsgeschichte war die Hinwendung von den bürgerlichen und karitativen Assoziationen zu neuen Bereichen wie Sport und Freizeit als Formen freiwilliger Tätigkeit. 43 Eine solche Geschichtsschreibung ermöglichte wertvolle neue Einblicke auch in die Geschichte von Wohltätigkeitsinstitutionen als einer Form der sozialen Organisation, etwa mit Blick auf ihre Fähigkeit, soziales Kapital für ihre Mitglieder und Netzwerke für das Gemeinwesen zu schaffen. Dabei rückte sie allerdings von einer Geschichte der Wohltätigkeitsinstitutionen als einer Form sozialer Interaktion ab. Letzteres Feld ist seit der politischen Wende in der Historiographie zur Wohltätigkeit in der Regel nur noch von verschiedenen kulturgeschichtlichen Blickwinkeln aus untersucht worden. Seth Kovens innovative Arbeit untersucht visuelle Repräsentationen armer Kinder und kriegsversehrter Veteranen in dem sozialen und sexuellen Kontext, in dem sie bei Spendenkampagnen dargestellt wurden. 44 Andere Arbeiten haben die materielle Seite karitativer Dienste analysiert, indem sie die Bemühungen, Arme und Bedürftige mit Kleidung zu versorgen, in den Blick genommen haben, oder sie haben die universitären „Settlements“ als Orte des Aufeinandertreffens verschiedener Klassen untersucht. 45 Diese verschiedenen Studien haben neues Licht auf die Ge-
2014; Caitriona Beaumont, Housewives and Citizens. Domesticity and the Women’s Movement in England, 1928–1964. Manchester 2013. 42 Vgl. z.B. Robert John Morris, Class, Sect and Party. The Making of the British Middle Class. Leeds, 1820– 1850. Manchester 1990. 43 Vgl. z.B. Bob Snape, Voluntary Action and Leisure. An Historical Perspective, 1830–1939, in: Voluntary Sector Review 6, 2015, 153–172; Laura Balderstone, Semi-Detached Leicester. Social and Cultural Connections in Suburban Leicester, in: Richard Rodger/Rebecca Madgin (Eds.), Leicester. A Modern History. Lancaster 2016. 44 Seth Koven, Remembering and Dismemberment. Crippled Children, Wounded Soldiers, and the Great War in Great Britain, in: American Historical Review 99, 1994, 1167–1202; ders., Slumming. Sexual and Social Politics in Victorian London. Princeton 2004. Eine wohlwollendere Sicht dieser Form der visuellen Kultur findet sich bei Eloise Moss/Charlotte Wildman/Ruth Lamont/Luke Kelly, Rethinking Child Welfare and Emigration Institutions, 1870–1914, in: Cultural and Social History 14, 2017, 647–668. 45 Vivienne Richardson, Clothing the Poor in Nineteenth-Century England. Cambridge 2013; Lucinda Matthews-Jones, Lessons in Seeing. Art, Religion and Class in the East End of London, 1881–1898, in: Journal of Victorian Culture 16, 2011, 385–403.
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schichte karitativer Begegnungen geworfen und folgten somit auf gewisse Weise Alan Kidds Aufruf: „Das Kräftefeld, in dem die Philanthropie angesiedelt ist, entspricht einem System materieller und kultureller Beziehungen, deren Analyse ebenso Handlungsfähigkeit wie auch Struktur angemessen berücksichtigen sollte; Aufmerksamkeit gebührt auch der Form ebenso wie dem Inhalt bei der Untersuchung kultureller Artefakte vom Jahresbericht bis zum Wohltätigkeitsbasar. Die schriftliche und symbolische Sprache der Philanthropie wartet darauf, von uns erschlossen zu werden.“ 46
Diese beiden Sprachen haben jedoch noch nicht wirklich miteinander kommuniziert und somit auch nicht kollektiv zu einer erneuerten, neu ausgerichteten soziokulturellen Geschichte der Wohlfahrt beigetragen, welche die ältere Sozialgeschichte ersetzen könnte. Kovens Arbeit dazu, wie Wohltätigkeitsempfänger wahrgenommen wurden, ist vielleicht am originellsten, aber auch sie fängt nicht die Stimmen der Rezipienten selbst ein. In der Tat ist eine Geschichte der Sozialfürsorge „von unten“, so wertvoll sie auch erscheint, besonders schwierig zu rekonstruieren. Wie Pat Starkey anmerkt, sind die in den 1970ern und 1980ern unternommenen Versuche, den Fürsorgeempfängern eine Stimme zu verleihen, deshalb fehlgeschlagen, weil sie die Dynamik der Machtverhältnisse nicht erfassten, mit der sie es zu tun hatten. 47 Denn für eine solche Erfahrungsgeschichte müssen wir berücksichtigen, dass das Ungleichgewicht der „gift relationship“ nicht nur die Gabe selbst betrifft, sondern auch die historische Überlieferung zu dieser Gabe. Das historische Quellenmaterial verleiht unvermeidlich der Perspektive derjenigen ein größeres Gewicht, die eine Machtposition innehalten. Ähnliche und vergleichbare Probleme haben in der Medizin- und in der Wohlfahrtsgeschichte Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Die Schwierigkeiten dabei sind oft hervorgehoben worden, so auch von John Pemble: „Viktorianische Armut ist stumm, entweder weil die von ihr Betroffenen [in den Worten des liberalen Politikers Charles Masterman aus dem Jahr 1902] ‚großenteils die Ausdrucksfähigkeit fehlte‘ oder weil sie sich zu sehr schämten, um darüber zu sprechen. Die Zeitgenossen, die über sie schrieben, waren
46
Kidd, Philanthropy and the ,Social History Paradigm‘ (wie Anm.30), 191f.
47
Pat Starkey, Retelling the Stories of Clients of Voluntary Social Work Agencies in Britain after 1945,
in: Anne Borsay/Peter Shapely (Eds.), Medicine, Charity and Mutual Aid. The Consumption of Health and Welfare in Britain, c. 1550–1950. Abingdon 2007, 245–262.
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Fremde in ihrer Mitte: Missionare aus dem Bürgertum, Philanthropen und Soziologen […], die sich als verwegene Entdecker, Wissenschaftler oder als in den Slums recherchierende Journalisten darstellten. Sie versuchten, eine Erfahrung zu teilen, zu der sie nie vorzudringen in der Lage waren, weil sie wussten, dass sie daraus jederzeit entfliehen konnten. Viktorianische Armut wurde belagert von Außenstehenden, die von außen hineinsahen. Deswegen wurde auch etwas dagegen getan, und deswegen hat sie eine Geschichte. Aber es ist eine Geschichte der Erforschung, Quantifizierung, Beratung, Gesetzgebung und Vorstellungskraft. Als menschliche Erfahrungsgeschichte existiert sie nicht.“ 48
Eine Geschichte der karitativen Begegnung zu schreiben bedeutet in der Regel, Quellen gegen den Strich zu lesen, die von denjenigen geschaffen wurden, die Almosen gaben und nicht von denjenigen, die sie empfingen. Helen Rogers hat in ihrer Studie zur christlichen Gefängnisbesucherin Sarah Martin die überlieferten Teile des „Liberated Prisoners Book“ untersucht, in dem diese den Kontakt, den sie mit befreiten Gefangenen und deren Familien unterhielt, festhielt. Während etliche Details ihrer Lebenswege auch mittels anderer Quellen belegt werden können, bietet dieses Buch einen einzigartigen Einblick in die Erfahrungen der Gefangenen mit einer karitativen Helferin. So wird eine differenziertere Erzählung der „intimen Beziehungen“ möglich, auf denen die Disziplin und Fürsorge der Reformerin beruhte. Dadurch wird nicht nur Widerstand als eine wichtige Form der „agency“ in den Vordergrund gestellt, sondern auch Handlungen, die auf gemeinsamen Werten wie Freundlichkeit oder Verwandtschaft basieren. 49 Solche Quellen müssen ebenso in ihrem Kontext gelesen werden, wie diejenigen, die direkt von Almosenempfängern verfasst wurden. Virginia Crossmanns kürzlich erschienene Untersuchung der Rhetorik schriftlicher Gesuche um wohltätige Unterstützung in Irland nach der Großen Hungersnot zeigt, dass diese neben Strategien der Respektsbezeugung ein Verlangen nach finanzieller Unabhängigkeit und emotionale Hilferufe aufweisen – wie sie auch in anderen Arten von Unterstützungsgesuchen armer Menschen üblich waren. 50 Die Tatsache, dass solche Quellen nicht von der Machtdynamik der „gift rela-
48 John Pemble, So Very Silent, in: London Review of Books 34, 25.Oktober 2012, Nr.20, 10–12. 49 Helen Rogers, Kindness and Reciprocity. Liberated Prisoners and Christian Charity in Early Nineteenth-Century England, in: Journal of Social History 47, 2014, 721–745. 50 Virginia Crossman, Writing for Relief in Late Nineteenth-Century Dublin. Personal Applications to the Mansion House Fund in 1880, in: Cultural and Social History 14, 2017, 583–598. Zu den Armengesuchen
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tionship“, in deren Rahmen sie entstanden sind, getrennt werden können, heißt nicht, dass sie kein Licht darauf werfen können.
III. Neue Schwerpunkte und bislang wenig beachtete Quellen können historische Einblicke in die Erfahrungen von Almosenempfängern verschaffen. Es gibt jedoch auch einen anderen Ansatz, der auf der Einsicht aufbaut, dass Wohltätigkeit – als ein (meist vermittelter) Transfer von Geld, unbezahlter Arbeit oder anderer Ressourcen – letztlich eine wirtschaftliche Aktivität darstellt. Der typische Fokus auf die sozialen Aspekte karitativen Handelns, unter Vernachlässigung der wirtschaftlichen Aspekte, spiegelt eine breitere Tendenz in der Sozialgeschichte wider, diese beiden Dimensionen als grundsätzlich voneinander verschieden zu betrachten: als lägen ihnen jeweils andere Funktionslogiken zugrunde mit unterschiedlichen Grundprinzipien, die daher auch eine andere Analyse verlangten und schließlich auch unterschiedliche Geschichtsschreibungen, von verschiedenerlei Historikern verfasst. Dies wird zwar nicht bewusst in die Methodologie der Sozialgeschichte eingeflochten, ist aber doch der allgemein angenommene Ausgangspunkt. Diese Annahme ist allerdings nicht gesichert, wie ein Blick auf die Wirtschaftssoziologie zeigt. Hier stellt sie eine von drei verschiedenen Grundhaltungen dar, die das Verständnis modernen wirtschaftlichen Verhaltens prägen. Da uns alle drei auch zu unterschiedlichen Ansätzen zur Geschichte der Wohltätigkeit führen können, lohnt es sich, einen Blick auf sie werfen. Historiker ebenso wie Anthropologen, Soziologen und Vertreter anderer Disziplinen haben den Akt des Schenkens lange und genau studiert. Dadurch haben sie die unzähligen Bedeutungen und Implikationen des Anbietens, Annehmens und Ablehnens eines Geschenks angemessen erschlossen. Dennoch liegt bis heute keine gleichwertige Geschichte des weitaus häufigeren gesellschaftlichen Akts der Bezahlung vor. Es gibt allerdings eine soziologische Literatur zur gesellschaftlichen Bedeutung des Geldes, die in den 1990er Jahren neu belebt wurde, um einige ihrer Fra-
als Quelle vgl. z.B. Thomas Sokoll, Source Criticism: Credibility, in: ders. (Ed.), Essex Pauper Letters 1731– 1837. Oxford 2001, 67–70; Peter Jones/Steven King (Eds.), Obligation, Entitlement and Dispute under the English Poor Laws, 1600–1900. Newcastle 2015.
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gen im Kontext des Anstiegs amerikanischer Konsumentenkultur anzusprechen. Damit sollte ein älteres, utilitaristisches Gedankengebäude zu Geld und seiner Bedeutung ersetzt werden. Die Grundannahme des neuen Ansatzes war, dass die komplexen sozialen Beziehungen der vorindustriellen Ära abgeflacht und durch einen einfachen „cash nexus“ ersetzt worden sind. Die Terminologie stammte wohl von Thomas Carlyle, der in den frühen Jahren der Regentschaft Königin Viktorias bemängelte, in der neuen Wirklichkeit sei „cash-payment the only nexus of man to man!“ 51 Die hier zum Ausdruck kommende Auffassung, dass Geld zum einzigen Vermittler zwischen Arm und Reich geworden sei, findet sich auch in Friedrich Engels’ Werk „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“, und Karl Marx beschreibt sie im „Kommunistischen Manifest“ als Triumph, den das bürgerliche „nackte Interesse“ über die feudalen Beziehungen der Vergangenheit errang. 52 Ungeachtet der einflussreichen Arbeit Emile Durkheims, die den Wandel als den Ersatz alter Solidaritätsverhältnisse durch neue interpretierte, lebt die Sorge über aufgelöste soziale Bindungen über die Generationen hinweg fort. 53 Im Einklang mit den aus der Industrie vernehmbaren Klageliedern hat Anthony Giddens kürzlich dem Geld eine bedeutende Rolle für die Herausbildung der Moderne zugeteilt. Er beschreibt es als eines der „symbolischen Zeichen“, die als „entbettender Mechanismus“ fungieren und soziale Verhältnisse aus ihren regionalen Zusammenhängen „herausheben“. 54 Historiker setzen sich nur selten mit diesem speziellen Argument auseinander. Aber die vielfältige Forschung zur gesellschaftlichen Bedeutung des Geldes in der Frühen Neuzeit findet im modernen Zeitalter der Abstraktion keine Entsprechung. 55 Schulden und Kredit beispielsweise werden nur im Ausnahmefall als sozial behandelt. 56 Implizit, indes fast nie explizit, wird damit vorausgesetzt, dass modernes Wirtschaftsverhalten in der Regel nicht gesellschaftlich bedingt, sondern in einem rein wirtschaftlichen Zusammenhang funktionsfähig und erklärbar ist. Die Voraussetzung dafür, dass solche geldbezogenen Konzepte, wie sie hinter der Trennung zwischen der Sozialgeschichte und der Wirtschaftsgeschichte des Alltags ste-
51 Thomas Carlyle, Past and Present. London 1843, Kapitel 6; vgl. ders., Chartism. London 1840. 52 Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei. London 1848, 5. Zu Marx’ sehr viel komplexerer und nuancierterer Geldphilosophie Suzanne de Brunhoff, Marx on Money. New York 1976. 53 Vgl. Emile Durkheim, De la division du travail social. Paris 1893. 54 Anthony Giddens, The Consequences of Modernity. Stanford 1990, 21–25. 55 Wegweisend hier Deborah Valenze, The Social Life of Money in the English Past. Cambridge 2006. 56 Sean O’Connell, Credit and Community. Working-Class Debt in the UK since 1880. Oxford 2009, 3.
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hen, als „entbettend“ betrachtet werden, ist die Annahme, Geld selbst sei wertneutral. Dieses Denken hat eine lange Tradition. Seinen ersten Ausdruck fand es um 1900 in Georg Simmels „Die Philosophie des Geldes“, in der dieser Geld als „das Gelten der Dinge ohne die Dinge selbst“ definierte beziehungsweise als „dasjenige konkrete Mittel, das sich mit dem abstrakten Begriffe desselben ohne Abzug deckt“. So verstanden war Geld gleichermaßen Nivellierer und Befreier. Beides könne es sein, gerade weil es „das Mittel schlechthin“ sei. 57 Auch Max Webers soziologische Auslegung des Bezahlens als eine wirtschaftliche Transaktion fasste diese nicht als Kennzeichen der Industrialisierung auf, sondern als universelle Form sozialer Interaktion. Geld war für geschichtliche Entwicklungen und Veränderungen unentbehrlich, aber entstand nicht aus ihnen. Es konnte also ein Mittel sein, das genutzt wurde, um dem kalvinistischen „Ruf“ entsprechend zu handeln, um den Feudalismus durch Individualismus zu ersetzen oder aber um die moderne Maschinerie der Bürokratie herbeiführen. 58 Eine ähnliche wertneutrale Sicht des Geldes findet sich in der Soziologie der 1950er Jahre bei Talcott Parsons, für den Geld ein Symbol war, ein neutrales Medium der Interaktion, das maßgeblich nichts dazu tat, um die Realwirtschaft oder auch die sozialen Beziehungen zu verändern, in deren Rahmen es eingesetzt wurde. In Parsons’ Arbeiten war Geld eine Sprache, die zwar Wert übermitteln konnte, aber zu Werten schwieg. 59 Diese utilitaristische Sicht des Geldes floss unbewusst in die theoretischen Ansätze zur Geschichte der Wohlfahrt ein, die dem Deutungsansatz der „Sozialkontrolle“ folgen und somit ungeachtet des jeweiligen moralischen, kulturellen oder sozialen Kontextes stets ökonomische Macht am Werke sehen. Andere Perspektiven vermeiden die Theorie grundsätzlich. Studien von Brian Harrison und Frank Prochaska zum Beispiel weisen auf Formen der Wohltätigkeit hin, die, wie etwa die gegenseitige Unterstützung der Arbeiter, innerhalb einer Klasse geleistet wird. 60 Wie Colin Jones in den 1990er Jahren schrieb, „verkompliziert dies auf furchtbare Weise die
57
Georg Simmel, Philosophie des Geldes. Berlin 1900, 88, 206.
58
Zu Webers Denken vgl. Bruce Mazlish, A New Science. The Breakdown of Connections and the Birth
of Sociology. Oxford 1989, 217–240. 59
Zu Parsons Denken vgl. Geoffrey Ingham, The Nature of Money. Cambridge 2004, besonders Kapitel 3:
Money in Sociological Theory. 60
Brian Harrison, Peaceable Kingdom. Stability and Change in Modern Britain. Oxford 1983, 217–259;
Prochaska, The Voluntary Impulse (wie Anm.16).
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Zweierbeziehung von Geber und Empfänger, auf der ein Großteil der Forschung zur Geschichte der Wohltätigkeit basiert“. 61 Solch verkomplizierte Sichtweisen wurden typischerweise auf empirischem Wege präsentiert und boten – wenn überhaupt – nur ansatzweise einen alternativen theoretischen Rahmen, um von diesen Beispielen aus ein weiterreichendes Argument zu entwickeln und die Beteiligung des Arbeiterstandes an freiwilliger Tätigkeit als Illustration eines gemeinsamen Anliegens jenseits aller Klassenunterschiede zu deuten. Demgegenüber ist im Bereich der „Neuen Wirtschaftssoziologie“ ein theoretischer Rahmen entwickelt worden, an dem wir unsere Analyse ausrichten können. Die Neue Wirtschaftssoziologie ist ein vielseitiges Gebiet, und einige Forschungsbereiche sind hier von größerem Nutzen als andere. Es gibt etwa ein sogenanntes „Erweiterungs-“Projekt, das untersuchen soll, inwiefern wirtschaftliche Logiken in Bereichen funktionieren, die nicht traditionell als wirtschaftlich angesehen werden. Hiermit wird ein Pfad eingeschlagen, der mit demjenigen einhergeht, den wir gerade verlassen wollen. 62 Es wird hier von einer eng gefassten Logik eines wohlkalkulierten Eigeninteresses als Triebkraft im wirtschaftlichen Verhalten ausgegangen, mit der sich aber das Phänomen der Wohltätigkeit kaum erklären lässt. Eine Lösung wäre hier, sich auf die greifbaren Resultate philanthropischer Tätigkeit zu konzentrieren, zum Beispiel eine „bestimmte Art des persönlichen Status“, die durch karitative Tätigkeit gewährt wird, etwa indem Parlamentskandidaten die von ihnen erwarteten lokalen Führungsqualitäten zugesprochen werden. 63 Dies führt uns jedoch schon in einen weiteren sozialen Kontext, zum Kennzeichen eines separaten Projekts in der Neuen Wirtschaftssoziologie. Es handelt sich um eines von zwei parallelen Projekten, die beide ihren Ausgangspunkt in der Ablehnung des alten, problematischen Verständnisses davon sehen, wie Geld sich als soziale Technologie auf Wirtschaftsverhalten auswirkt – aber jeweils auf andere Weise. Das eine will ökonomisches Verhalten kontextualisieren, das andere will es neu definieren. Versuche, ökonomische Tätigkeit zu kontextualisieren, werden mit der For61 Colin Jones, Some Recent Trends in the History of Charity, in: Martin Daunton (Ed.), Charity, Self-Interest and Welfare in the English Past. London 1996, 51–63, hier 43. 62 Viviana A. Zelizer, Economic Lives. How Culture Shapes the Economy. Princeton 2011, 383. 63 Peter Shapely, Charity, Status and Parliamentary Candidates in Manchester. A Consideration of Electoral and Charity Fields and the Social Basis of Power, 1832–1910, in: International Review of Social History 44, 1999, 1–21, hier 1; ders., Charity and Power in Nineteenth-Century Manchester. Manchester 2000.
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schung Mark Granovetters assoziiert, dessen 1985 erschienener Artikel zum „Problem der Eingebundenheit“ als Gründungstext der Neuen Wirtschaftssoziologie betrachtet werden kann. Granovetter lehnte das, was er als „die Sichtweise der Mehrheit der Soziologen, Anthropologen, Politologen und Historiker“ bezeichnete, rundweg ab, dass nämlich die Modernisierung das ökonomische Verhalten von sozialen Beziehungen löste. Er wies jedoch ebenso die utilitaristische, (neo)klassische ökonomische Perspektive zurück, die sich auf universell unabhängiges (wie auch rationales und eigennutzorientiertes) Wirtschaftsverhalten stützte. Beide Ansätze wurden von Granovetter kritisiert, weil sie Menschen als atomisierte Akteure ansahen, selbst wenn diese nach internalisierten Verhaltensregeln handelten. Stattdessen forderte er, in weitaus größerem Maße als bisher den unmittelbaren sozialen Kontext hinzuzuziehen. 64 Während Karl Polanyi davon ausging, dass dem „Marktmuster“ der kapitalistischen Wirtschaft gemäß „soziale Verhältnisse in das Wirtschaftssystem eingebettet sind“, vertrat Granovetter das Gegenteil. 65 Im Laufe der vergangenen drei Jahrzehnte entwarf er einen theoretischen Rahmen, um Wirtschaftsverhalten zu analysieren. Dabei ging er davon aus, dass ökonomisches Handeln von anderen menschlichen Verhaltensweisen nicht zu trennen ist und dass es durch dieselben sozialen, emotionalen, kulturellen, legalen, religiösen und anderen Motive und Einschränkungen bestimmt wird. 66 Viviana Zelizer entwickelte eine andere Herangehensweise. Sie lehnt utilitaristische Betrachtungsweisen des Geldes ebenso ab, ihre Alternative ist jedoch radikaler als die Granovetters. Während er darauf besteht, dass das Ökonomische nicht ohne seinen gesellschaftlichen Kontext verstanden werden kann, kann ihr Ansatz im Wesentlichen als die These beschrieben werden, dass das Ökonomische selbst gesellschaftlich ist. Daraus folgt, dass ihre Arbeit nicht die Abweichungen eines vorhersehbaren Wirtschaftsverhaltens zu erklären sucht, sondern dieses auf einer Ebene mit jedem anderen Sozialverhalten auch behandelt. Sie richtet ihre Aufmerksamkeit auf die Bedeutung interpersoneller Beziehungen für das ökonomische Verhalten in Bereichen, die sonst nicht als ökonomisch betrachtet werden. So untersucht sie, wie Lebensversicherungen gesellschaftliche Anerkennung gewannen oder wie
64
Mark Granovetter, Economic Action and Social Structure. The Problem of Embeddedness, in: American
Journal of Sociology 91, 1985, 481–510, hier 482.
54
65
Karl Polanyi, The Great Transformation. Boston, MA 1957 (Erstausgabe 1944), 57.
66
Mark Granovetter, Society and Economy. Framework and Principles. Harvard 2017.
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wir das Leben eines Kindes nach finanziellem Wert bemessen. 67 Des Weiteren argumentiert sie, dass die Rituale, die sich zum Geldgebrauch entwickelt haben, in keinerlei Weise einen entmenschlichten Fluchtweg aus der gesellschaftlichen Konvention darstellen, sondern vielmehr soziale und kulturelle Werte und Sinnstiftungen vermitteln können: „Von den austauschbaren, unpersönlichen Eigenschaften des Geldes beeindruckt, haben die klassischen Theoretiker stets seine instrumentale Rationalität und seine scheinbar unbegrenzte Fähigkeit betont, Produkte, Beziehungen und manchmal sogar Emotionen in ein abstraktes, objektives Zahlenverhältnis zu verwandeln. Aber Geld ist weder kulturell neutral noch sozial anonym. Es kann sehr wohl Werte ,korrumpieren‘ und soziale Bindungen in Zahlen verwandeln, aber Werte und Beziehungen verwandeln Geld im Gegenzug ihrerseits, indem sie ihm Bedeutung und soziale Strukturen verleihen.“ 68
Dies sind jedoch keine Theorien und Studien, mit denen viele Sozialhistoriker vertraut sind, selbst wenn sie das eine oder andere Prinzip daraus als gesunden Menschenverstand wiedergeben. Um zu illustrieren, mit welchem Gewinn sich historische Studien innerhalb dieses theoretischen Terrains verorten können, wenden wir uns den Patientenzahlungen in den „voluntary hospitals“ im Großbritannien des frühen 20.Jahrhunderts zu. Dies waren karitative Einrichtungen, die oftmals bis ins frühe 18.Jahrhundert zurückreichten. Gegründet wurden sie durch wohltätige Assoziationen und durch das Engagement der mittleren und oberen Gesellschaftsschichten, um kranken Bedürftigen medizinische Pflege zukommen zu lassen, die im Laufe der nächsten zweihundert Jahre zunehmend auf die Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse gestellt wurde. 69 Diese Krankenhäuser entwickelten sich allmählich zu Spitzeninstitutionen klinischer Medizin, die bewusst mit den führenden Krankenhäusern in Deutschland und den USA konkurrierten. Bald assoziierte man sie mit der prestigereichen
67 Viviana A. Zelizer, Morals and Markets. The Development of Life Insurance in the United States. New York 1979; dies., Pricing the Priceless Child. Princeton 1985. 68 Dies., The Social Meaning of Money. Pin Money, Paychecks, Poor Relief, and Other Currencies. New York 1994, 18. 69 Zur Gründung der frühen „voluntary hospitals“ im 18.Jahrhundert vgl. Porter, The Gift Relation (wie Anm.26). Eine Einführung ins System der „voluntary hospitals“ in Großbritannien gibt John Woodward, To Do the Sick No Harm. A Study of the British Voluntary Hospital System to 1875. London 1974.
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Behandlung akuter Fälle, während die Dienstleistungen öffentlicher Krankenhäuser, die dem Armengesetz unterstanden und in erster Linie Infektionskrankheiten behandelten, expandierten, um den Bedürfnissen der Mehrzahl der Patienten gerecht zu werden. 70 Nur drei Jahrzehnte lang war es in diesem System die Regel, dass Patienten dem Krankenhaus, in dem sie behandelt wurden, etwas zahlen mussten: zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und 1948, als alle Krankenhäuser in Großbritannien in den staatlichem Gesundheitsdienst integriert wurden. Vor dieser Zeit wurden Krankenhausleistungen für diejenigen, die es sich nicht leisten konnten, einen Arzt zu bezahlen, entweder von einer wohltätigen Organisation oder vom Staat übernommen. Schon im frühen 20.Jahrhundert begannen die Auswahlkriterien hierfür aufzuweichen, nicht zuletzt weil medizintechnische Entwicklungen für die modernsten Behandlungen zunehmend Krankenhausaufenthalte voraussetzten. Zu dieser Zeit wuchs der Bedarf nach Krankenhausbehandlungen, und zwar vor dem Hintergrund eines immer schwierigeren Wirtschaftsklimas, zu dem sich finanzielle Probleme gesellten, weil die staatliche Erstattung des Beitrags der „voluntary hospitals“ zu den Kriegsanstrengungen geringer ausfiel als erwartet. All diese Faktoren führten zu einer Situation, in der die Krankenhäuser zwar immer mehr tun konnten, sich aber immer weniger zu leisten vermochten. Deshalb bemühten sie sich aktiv um neue Einnahmequellen, wozu auch die Patienten selbst gehörten. 71 Wenngleich die karitativen Krankenhäuser allesamt unabhängig waren, führten sie im Laufe der 1920er Jahre rasch ein verblüffend einheitliches System ein, in dem es drei verschiedene Zahlungsmöglichkeiten gab. Das häufigste Bild zum Wort „Bezahlung“ ist das einer kommerziellen Gebühr, die mittelständische Patienten für ein privates (meist Einbett-) Zimmer entrichten, wodurch sowohl das Krankenhaus als auch der behandelnde Arzt oder Chirurg mit dem Patienten Profit machen konnten.
70
Zur Entwicklung britischer „voluntary hospitals“ als Zentren medizinischer Behandlung und Bildung
in internationaler Perspektive vgl. Daniel Fox, Health Policies, Health Politics. The British and American Experience, 1911–1945. Princeton 1986; Thomas Neville Bonner, Becoming a Physician. Medical Education in Britain, France, Germany, and the United States, 1750–1945. Oxford 1995. Zu „voluntary hospitals“ innerhalb dieser „mixed economy“ im Gesundheitswesen siehe John Pickstone, Medicine and Industrial Society. A History of Hospital Development in Manchester and Its Region. Manchester 1985; Barry Doyle, The Politics of Hospital Provision in Early Twentieth-Century Britain. London 2014. 71
Eine eingehende Diskussion zum Wesen und zu den Gründen dieser Veränderungen findet sich bei
George Campbell Gosling, Payment and Philanthropy in British Healthcare, 1918–48. Manchester 2017.
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Hierauf bezog sich auch der Historiker John Pickstone, als er „die Invasion kommerzieller Medizin in den Bereich des Krankenhauses“ beschrieb. 72 Für die USA, wo die Mehrzahl der Krankenhauszimmer schon zur Zeit des Zweiten Weltkriegs von Privatpatienten belegt wurde, wäre diese Charakterisierung zutreffend gewesen. In Großbritannien sah es jedoch anders aus. 73 Dort belegten Privatpatienten in den „voluntary hospitals“ nie mehr als 9 Prozent der Betten, beziehungsweise, nimmt man die „voluntary hospitals“ und öffentlichen Krankenhäuser zusammen, nur zwischen 3 und 4 Prozent. 74 Dies bedeutete zwar, dass Privatzimmer im 20.Jahrhundert ein Merkmal des Krankenhauses geworden waren. Aber es gilt zu bedenken, dass es Einkommensgrenzen gab, die sicherstellten, dass diese Regelung nur für die 10 bis 15 Prozent der Bevölkerung gültig war, deren Einkommen zu hoch lag. Auf den gewöhnlichen Krankenstationen, die keine Privatpatienten aufnahmen, gab es zwei andere Zahlungsmodalitäten. Die größte historiographische Aufmerksamkeit ist dem beitragsgebundenen Krankenhaussystem zuteil geworden. Dieses geht zum einen auf Spendensammlungen zurück, zum anderen auf gegenseitige Hilfeleistungen. Mitglieder, die sich an einem solchen beitragsgebundenen System beteiligten, zahlten jede Woche einen geringen Teil ihres Gehalts ein, im Gegenzug erfolgte im Falle einer Einweisung eine Zahlung an das Krankenhaus. Zu den Auswirkungen dieses beitragsgebundenen Systems auf wohltätiges Handeln in Krankenhäusern sind einige kühne Behauptungen aufgestellt worden. So folgerte Steven Cherry, dass dieses „versicherungsähnliche“ System einen radikalen Bruch mit den respektvoll-unterwürfigen philanthropischen Traditionen darstellte. 75 Martin Gorsky und John Mohan hingegen haben behauptet, dass beitragsgebundene Systeme „von ihren Einzahlern vom Charakter her wie eine Versicherung“ wahrgenommen wurden und dass sie durch ihre Zahlungen im Krankheitsfall ein „moralisches Recht“ auf eine Krankenhausbehandlung erworben hätten. 76 Beide Deutungen gehen im Grunde von einer Neuaus-
72 Pickstone, Medicine and Industrial Society (wie Anm.70), 259. 73 Paul Starr, The Social Transformation of American Medicine. New York 1982, 159. 74 Eine Erläuterung und Aufschlüsselung dieser Zahlen findet sich bei Gosling, Payment and Philantropy (wie Anm.71), Kapitel 4: Middle-Class Medicine. 75 Steven Cherry, Beyond National Health Insurance. The Voluntary Hospitals and Hospital Contributory Schemes. A Regional Study, in: Social History of Medicine 5, 1992, 455–482. 76 Martin Gorsky/John Mohan/Tim Willis, Mutualism and Health Care. Hospital Contributory Schemes in Twentieth-Century Britain. Manchester 2007, 65, 108.
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richtung aus, sei es von medizinischer Fürsorge hin zu medizinischem Konsumverhalten, sei es von der Philanthropie des viktorianischen Liberalismus hin zur freiwilligen Gesundheitsfürsorge eines anbrechenden sozialdemokratischen Zeitalters. Um indes das Verhältnis von Wandel und Kontinuität zu begreifen, sollte man das beitragsgebundene System mit einer weiteren Zahlungsmöglichkeit vergleichen – nicht zuletzt, weil Ersteres allenfalls etwa ein Viertel der Bevölkerung abdeckte. Dies ist beeindruckend, aber die Mehrheit der ins Krankenhaus eingewiesenen Patienten konnte nicht auf diese finanzielle Absicherung zugreifen, sondern musste stattdessen einer „Lady Almoner“ Rede und Antwort stehen. Diese Fürsorgerinnen tauchten erstmals in den 1890er Jahren in Londoner Krankenhäusern auf, wurden während der 1920er und 1930er im ganzen Land zur Regel, während sich gleichzeitig allmählich die Bezeichnung „medical social worker“ durchsetzte. Die Fürsorgerin übte im Krankenhaus das aus, was wir heute als Sozialarbeit oder arbeitsmedizinische Beratung bezeichnen. Sie wurde explizit dafür eingestellt, für Patienten das Zahlungsverfahren zu regeln. Nachdem die Entscheidung getroffen worden war, den Patienten einzuweisen, wurde ein Gespräch geführt, um die Bedingungen des Krankenhausaufenthalts festzulegen. Das konnte heißen, dass von einem Patienten ein Beitrag in Höhe eines Schillings pro Woche verlangt wurde. Dies war keine geringe Summe, belief sich aber nur auf ungefähr ein Drittel der Kosten, die dem Krankenhaus pro Patient entstanden. 77 Üblicher war es, dass Patienten eine niedrigere Gebühr entrichteten, während der kleinste, aber immer noch bedeutende Anteil der Fälle sogar unentgeltlich behandelt wurde: Dies betraf nicht selten immerhin ein Drittel oder gelegentlich sogar die Hälfte der Patienten. 78 Wenn alle drei Zahlungsmöglichkeiten in Betracht gezogen werden, wirkt die Veränderung, welche das beitragsgebundene System mit sich brachte, weniger dramatisch. Gewiss spielte in gewissem Maße ein wirtschaftliches Eigeninteresse eine Rolle, wenn die Patienten die Kontrolle über die Bezahlung selbst übernahmen und die Kosten, die sonst möglicherweise als große Gesamtsumme zu zahlen wären, auf Raten verteilen konnten. Dies ist jedoch nicht mit dem Kauf einer Krankenhausbehandlung gleichzusetzen. Zahlungsunfähigkeit war kein Hindernis für die Einweisung eines Patienten, und das Personal bot seine medizinischen Dienste nach wie
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Bristol Royal Infirmary, Report for 1921, 20.
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Mehr Details zur Funktion des Bezahlungssystems für Krankenhausfürsorger bei Gosling, Payment
and Philantropy (wie Anm.71), Kapitel 3: Payment and the Sick Poor.
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vor auf Honorarbasis an. Berücksichtigt man dies, werden Kontinuitätslinien sehr viel deutlicher als in früheren Studien. Und dieses Ergebnis wird nicht nur bestätigt, indem Zahlungsweisen im größeren Zusammenhang betrachtet werden, sondern auch indem ein anderer Blickwinkel auf das Bezahlen als Wirtschaftsverhalten gewählt wird. Üblicherweise wurde dieses eindeutig als wirtschaftliche Tätigkeit angesehen, die in einem sozialen Zusammenhang stattfindet. 79 Daher werden Patientenzahlungen unter einem ökonomischen Vorzeichen gedeutet. Selbst wenn die gesellschaftlichen Folgen in Betracht gezogen werden, basiert dies nach wie vor auf utilitaristischen Erwartungen wirtschaftlichen Verhaltens. Alternativ können wir Bezahlung aber auch als einen Mechanismus sozialer Interaktion begreifen, die sich nur als wirtschaftliche maskiert. So müsste man Patientenzahlungen unter sozialem Vorzeichen betrachten, während rein finanzielle Überlegungen nur als ein Faktor unter anderen zu verstehen wären, die das ökonomische Verhalten lenken. Solche finanziellen Überlegungen mögen für den Systementwurf von Bedeutung gewesen sein, können aber in der Praxis leicht durch Klasseninteressen oder zivilgesellschaftliche Ziele außer Kraft gesetzt werden. In der Konsequenz dieser anderen theoretischen Herangehensweise wird die Funktion des Geldes nicht notwendigerweise als eindeutig wirtschaftlich gedeutet. Tatsächlich gibt es in britischen „voluntary hospitals“ eine Vielzahl sozialer Funktionen des Bezahlens, die mit den Traditionen medizinischer Wohltätigkeit nicht unvereinbar sind. Es ist unerlässlich, diese zu verstehen, nicht nur, um die Ziele derjenigen nachzuvollziehen, die für das System verantwortlich waren, sondern auch, um die soziale Landschaft medizinischer Wohlfahrt auszuloten, in der Patienten als Empfänger ihre eigenen Entscheidungen treffen dürfen. Zwei dieser Funktionen sind besonders relevant, da sie die klassengebundene Natur und das soziomoralische Programm der Krankenhäuser als karitative Einrichtungen widerspiegeln. Die erste soziale Funktion der Bezahlung geht dahin, dass die Verwaltung dieser Zahlungssysteme als Mechanismus dafür diente, Patienten aus der Arbeiterschicht und aus dem Mittelstand zu trennen. Beide erhielten Zugang zu medizinischen Leistungen, aber zu jeweils unterschiedlichen Bedingungen und an unterschiedlichen Orten. Die halbherzige Expansion kommerzieller Dienste für bürgerliche Patienten und die umfangreichen Ausnahmen und Rabatte für Patienten aus der Arbeiter79 Zum Beispiel bei Steven Cherry, Accountability, Entitlement, and Control Issues and Voluntary Hospital Funding c. 1860–1939, in: Social History of Medicine 9, 1996, 215–233.
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schicht scheinen nicht darauf hinzudeuten, dass es das Ziel der Bezahlung war, dem Profitstreben des Krankenhauses Genüge zu leisten. Vielmehr wurde die Funktion als Einnahmequelle mit der Absicht verbunden, beim Aufbau eines universellen Krankenhaussystems, das allen offenstand, zu besänftigen und zu vermitteln. Anstatt dass Geld dafür verwendet wurde, sich aus sozialen Konventionen herauszukaufen, diente es dazu, die universelle Gesundheitsversorgung den fest verwurzelten Klassenunterschieden und -hierarchien der Zeit anzupassen. Die Bezahlung bestätigte die traditionellen Werte der Klassengesellschaft. Im Fall der Entbindungskliniken wurden durch die Unterscheidung zwischen verheirateten und unverheirateten Frauen in gleichem Maße wie die Klassenschranken auch moralische Werte aufrechterhalten. 80 Wirtschaftsverhalten wurde mitnichten aus dem sozialen Kontext herausgehoben. Stattdessen war die Vergütung ein Mittel, um soziale Hierarchien in die „voluntary hospitals“ hineinzubringen. 81 Die zweite soziale Funktion lag darin, ein neues Ritual für die Einhaltung eines neuen Verhaltenskodex zu bieten. Seit ihrer Gründung im 18.Jahrhundert hatten „voluntary hospitals“ von ihren Patienten den umfassenden Verhaltensregeln der Institute entsprechend Gehorsam und Unterordnung erwartet. Hierzu gehörten Nüchternheit, das Verrichten von Hausarbeit und die Bereitschaft, sich nicht nur der medizinischen Behandlung, sondern auch der religiösen Einkehr zu unterziehen. Solche Regeln können als soziomoralischer Kodex beschrieben werden. Er wurde durch ein neues Verhaltensmodell ersetzt, mit dem Empfänger der von den Krankenhäusern angebotenen medizinischen Wohltätigkeit ihre Würdigkeit unter Beweis stellten: Dieses bestand in der Zahlung des angemessenen finanziellen Beitrags. Außerdem war es wichtig, das Urteil darüber, was als angemessen galt, zu akzeptieren. Somit war die Bereitschaft, für die Behandlung zu bezahlen, wichtiger als das Bezahlen selbst. Auch hier zeigt sich, dass die Vergütung nicht nur zum Einkommen des Krankenhauses beitrug, sondern dass sie auch dazu diente, einen guten, bürgerlichen Charakter unter Beweis zu stellen, der von der Fürsorgerin als angesehener Repräsentantin der Mittelschicht kontrolliert wurde. Obwohl dieser Mechanismus,
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George Campbell Gosling, The Birth of the Pregnant Patient-Consumer? Payment, Paternalism and Ma-
ternity Hospitals in Early Twentieth-Century England, in: Jennifer Evans/Ciara Meehan (Eds.), Perceptions of Pregnancy from the Seventeenth to Twentieth Century. London 2017, 189–212. 81
Mehr Details liefert die Diskussion der ‚Klassendifferenzierung‘ bei Gosling, Payment and Philantropy
(wie Anm.71).
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sich Zugang zu medizinischer Pflege zu verschaffen, zunächst neu und konsumgeprägt erscheinen mag, ist er dem alten System, das den Krankenhäusern bei ihrer Gründung zugrunde lag, doch sehr ähnlich. So gab es ein Empfehlungssystem für Subskribenten, in dem wohltätige Subskribenten eine gewisse Anzahl Zulassungsscheine für das Krankenhaus erhielten. Diese konnten sie an Personen verteilen, die sie für würdige Empfänger hielten. 82 Der bürgerliche Torwächter der medizinischen Wohltätigkeit mag sich im Laufe der Zeit professionalisiert haben und zum Teil des Krankenhauses selbst geworden sein, doch das Ritual blieb im Wesentlichen dasselbe. 83 Dies illustriert, dass das Bezahlen eine Vielzahl sozialer Bedeutungen haben kann und dass soziale Funktionen selbst bei scheinbar eindeutig wirtschaftlichen Transaktionen eine wichtige Rolle spielen können. Für unser Verständnis der Geschichte der Wohlfahrt heißt das, dass wir nicht lediglich eine wirtschaftliche Aktivität betrachten, die in einem von ihr loszulösenden gesellschaftlichen Kontext und zu einem von ihr unabhängigen Zweck zur Anwendung kommt. Für Sozialhistoriker mag es selbstverständlich erscheinen, sich mit den tieferen Zusammenhängen auseinanderzusetzen, in die wirtschaftliche – und auch karitative – Verhaltensweisen eingebettet sind. Wir müssen jedoch ebenso die sozialen und kulturellen Bedeutungen und Funktionen, die diese in sich tragen, berücksichtigen. Dies geht über das hinaus, was Alan Kidd beobachtete: „Utilitaristische Konzepte des ‚eigennutzorientierten Individuums‘ haben nur begrenzten Wert für das Verständnis von sozialem (und tatsächlich auch von wirtschaftlichem) Verhalten. Entscheidungen werden in einem sozialen, politischen, kulturellen und ethischen Kontext getroffen. Selbst dem individualistischen Kalkül der Austauschtheorie folgend kann freiwilliges kooperatives Verhalten, wie es Wohltätigkeit ist, nicht als ein Mechanismus des Eigeninteresses rationalisiert werden, in den keinerlei internalisierte soziale Ethik, die zu freiwilligem Handeln antreibt, hineinspielt.“ 84
Wohltätigkeit ist demnach weder eine wirtschaftliche Verhaltensform, die in ihrer sozialen Kontextualisierung erläutert werden muss, noch ist sie eine Form des Sozialverhaltens, das eine ihr fremde wirtschaftliche Logik übernimmt. Vielmehr 82 Siehe Fissell, Patients, Power, and the Poor (wie Anm.26), 7, 12, 74. 83 Mehr Details liefert die Diskussion ‚wirtschaftlicher Gegenseitigkeit‘ bei Gosling, Payment and Philantropy (wie Anm.71). 84 Kidd, Philanthropy and the ,Social History Paradigm‘ (wie Anm.30), 184.
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sind die beiden weder getrennt noch unterschiedlich. Dieser theoretische Ausgangspunkt führt uns zu einem ganz anderen Fragenbündel, das die soziale Funktion und Bedeutung ökonomischen Verhaltens in den Blick nimmt und nicht dessen gesellschaftliche Erklärung. Dies kann bei der Frage, wie Wohltätigkeit als vermittelte Begegnung von Spender und Empfänger historisch funktioniert hat, zu einer Neuausrichtung des Fokus führen.
IV. Die Geschichte ehrenamtlichen Engagements hat sich von ihrem ehemaligen Schwerpunkt, der Philanthropie, wegbewegt. Ihr Fokus richtet sich nun vielmehr auf die Frage, was es bedeutete, arm zu sein. Sämtliche neuen Entwicklungen waren willkommen, um unser Verständnis der historischen Rolle und Position freiwilligen Engagements im modernen Großbritannien zu bereichern. Aber sie haben die Gewichte verschoben, indem sie die Stellung des Rezipienten innerhalb der Wohltätigkeitsgeschichte schwächten. Die neuen Schwerpunktbereiche sind gewiss aufregend. Dennoch gibt es daneben auch produktive neue Herangehensweisen, mittels derer wir versuchen können, einige der alten „sozialgeschichtlichen“ Fragen anzusprechen. Hier kann die karitative Begegnung Einblicke in die moderne Klassengesellschaft bieten. Die Arbeiten verschiedener Forscher haben gezeigt, dass im Rahmen der neuen politischen und Organisationsgeschichten Spielraum vorhanden ist, um den Fokus zu verschieben, etwa indem die Erfahrungen von Freiwilligen ins Narrativ mit einbezogen werden. Eine Geschichte der Wohlfahrt jedoch, die den Empfängern keinen Platz lässt, weist an sich schon einen fundamentalen Fehler auf. Eine erneuerte Sozialgeschichte der Wohltätigkeit sollte keine bloße Erweiterung der alten Sozialgeschichten der Philanthropie darstellen. Vielmehr sollte sie neue Ansätze und Konzepte mit an Bord nehmen, und zwar auch aus anderen Disziplinen. Wo politische und Kulturgeschichten das Forschungsfeld belebt haben, war die Folge oft, dass sich ihre Einsichten zerstreuten, anstatt bewusst zu einer zusammenhängenden Geschichte der Wohlfahrt beizutragen. Beim Schreiben einer solchen erneuerten Sozialgeschichte können wir das Thema der Gegenseitigkeit und der „gift relationship“ aufnehmen – nicht nur aus der Perspektive der Anthropologie heraus, sondern auch aus derjenigen der Neuen Wirtschaftssoziologie. Beide Perspektiven erinnern uns daran, dass wir es in erster Linie mit einer Geschichte des Ge-
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bens und Empfangens zu tun haben, beziehungsweise des Verhältnisses zwischen denjenigen, die geben, und denjenigen, die empfangen. Die Neue Wirtschaftssoziologie bietet uns eine Vorlage, einen Werkzeugkasten und die Begrifflichkeiten, mit denen wir beginnen können, einige unserer Einsichten zu einer Erfahrungsgeschichte der karitativen Begegnung zusammenzufügen. Damit können wir anregende neue Dimensionen der Geschichte des ehrenamtlichen Engagements innerhalb und außerhalb Großbritanniens eröffnen.
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Voluntary action und Freiwilligenarbeit Einige historische Betrachtungen von Melanie Oppenheimer
Einleitung Die Tradition von Freiwilligenarbeit im wohltätigen, philanthropischen und ehrenamtlichen Bereich (diese Begriffe werden oft gleichgesetzt, folgen aber einer geschichtlichen Konsequenz) kann auf eine lange Geschichte zurückblicken. Wenngleich sich dieser Aufsatz hauptsächlich auf Großbritannien und die erweiterte britische Kulturwelt konzentriert, lässt sich sagen, dass die in ihm behandelten Themen auch in vielen anderen Kulturen und Kontexten durch Zeit und Raum hindurch präsent sind. Die Begriffe „charity“ (Wohltätigkeit) und Philanthropie bedeuteten ursprünglich „Liebe zur Menschheit“. Charity stammt von dem lateinischen Ausdruck caritas (Liebe) ab. Philanthropie setzt sich aus den griechischen Wörtern philo (Liebe) und anthropos (Menschheit) zusammen. Im historischen Kontext hat charity meist eine religiöse Konnotation, wohingegen Philanthropie auf breiteren humanistischen Prinzipien beruht. 1 So haben etwa Anthropologen festgestellt, dass ein Charakteristikum früher vormarktwirtschaftlicher Stammesgesellschaften, nämlich das gegenseitige Überreichen von Geschenken, der karitativen Arbeit religiöser Orden in der Feudalzeit vergleichbar ist. 2 Seit der Tudorzeit (1485–1603), als Regierungen zum ersten Mal Interesse daran bekundeten, arme Untertanen zu unterstützen, zeigten Staatsbildungsprozesse ihre Wirkung. Die Herausbildung moderner Philanthropie und Freiwilligenarbeit, wie wir sie heute kennen, äußerte sich in der Entstehung karitativer Stiftungen, die meist aus ererbtem Vermögen hervor-
1 Olive Checkland, Philanthropy in Victorian Scotland. Social Welfare and the Voluntary Principle. Edinburgh 1980, 1–9. Checkland argumentiert, dass Philanthropie keine moralische Komponente besitze oder keine besitzen solle. Wohltätigkeit dagegen werde mit Tugend, besonders im religiösen Sinn, in Verbindung gebracht. 2 Marcel Mauss, The Gift. London 1974, erstmals: Essai sur le don. Forme et raison de l’échange dans les sociétés archaïques, in: L’Année Sociologique, seconde série, 1923/24, 30–186, und Alan J. Kidd, Philanthropy and „Social History Paradigm“, in: Social History 21, 1996, 181–188.
HTTPS :// DOI . ORG / 10.1515/9783110627442-004
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gingen und sich zu einer Hauptform privater Wohltätigkeit entwickelten. 3 Fundamentale Veränderungen der rechtlichen Voraussetzungen hierfür in der Regierungszeit Elisabeths I. (1558–1603) sowie im Laufe des darauffolgenden Jahrhunderts der Aufschwung des Vereinsleben, der auch gegenseitige Unterstützung und Selbsthilfe betraf, führten schließlich zu einem Höhepunkt philanthropischer und freiwilliger Tätigkeit im 19.Jahrhundert. Die Arbeit wurde meist geschlechterspezifisch aufgeteilt. In diesem Aufsatz stütze ich mich auf William Beveridges Definition von voluntary action, die Philanthropie, gegenseitige Unterstützung und Selbsthilfe mit einschließt. Der liberale Politiker, Beamte und Gründervater des britischen welfare state verstand unter voluntary action „alles, was Staatsbürger zusätzlich zu ihren Verpflichtungen dem Staat gegenüber tun“. 4 Justin Davis Smith und andere haben beklagt, dass der Bereich ehrenamtlicher Tätigkeit ungeachtet seiner gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Bedeutung „von Historikern schmählich vernachlässigt“ worden sei. In Großbritannien hätten Forscher voluntary action bis in die 1970er Jahre hinein lediglich als „Vorspiel zur Entwicklung des welfare state“ betrachtet. 5 Dabei hat die Geschichtswissenschaft der Philanthropie im Vergleich zu gegenseitiger Unterstützung und Selbsthilfe, den anderen von Beveridge angeführten Elementen, mehr Aufmerksamkeit gezollt. Trotz der wegweisenden Arbeit einzelner Forscher und Forscherinnen wie unter anderem Frank Prochaska, Jane Lewis, Kathleen McCarthy, Geoffrey Finlayson, Colin Rochester und Nicholas Crowson weist das historische Verständnis von unbezahlter Arbeit, Freiwilligenarbeit und ehrenamtlichen Organisationen weiterhin Lücken auf. Außerhalb Großbritanniens ergibt sich ein ähnliches Bild. Der amerikanische Historiker Lawrence J. Friedman etwa bemerkte, dass auch in seinem Land bis in die 1970er Jahre hinein „Philanthro-
3 Justin Davis Smith, The Voluntary Tradition, in: ders./Colin Rochester/Rodney Hedley (Eds.), An Introduction to the Voluntary Sector. London 1995, 11. Siehe auch William B. Cohen, Epilogue: the European Comparison, in: Lawrence J. Friedman/Mark D. McGarvie (Eds.), Charity, Philanthropy and Civility in American History. Cambridge 2003, 385–401. 4 William Beveridge, Third De Carle Lecture: Voluntary Action for Social Advance, Beveridge Papers, M2618, Box 429, Mitchell Library, Sydney, 19. April 1948, University of Otago Dunedin, New Zealand; William Beveridge, Voluntary Action. A Report on Methods of Social Advance. London 1948. Siehe auch Melanie Oppenheimer, Beveridge in the Antipodes: the 1948 Tour, in: dies./Nicholas Deakin (Eds.), Beveridge and Voluntary Action in Britain and the Wider British World. Manchester 2011, 66–79; Jose Harris, William Beveridge. A Biography. 2nd Ed. Oxford 1997. 5 Davis Smith, The Voluntary Tradition (wie Anm.3).
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pie nicht als ein Feld für systematische wissenschaftliche Forschung angesehen wurde“. 6 Wie Christine Krüger und Nicole Kramer festgestellt haben, setzen verschiedene nationale Geschichtsschreibungen den Schwerpunkt bei der Erforschung von Freiwilligenarbeit unterschiedlich, und erst in jüngster Zeit werden auch gemeinsame transnationale Entwicklungen stärker in den Blick genommen. Anzusetzen wäre hier etwa bei William B. Cohen, der betont, dass die starke europäische Tradition der Philanthropie und Freiwilligenarbeit, die sich über die Jahrhunderte durch die Arbeit einflussreicher religiöser und staatlicher Institutionen herausbildete, „niemals die Notwendigkeit eines starken Staates in Frage gestellt hat“, welche mit einem florierenden freiwilligen Sektor einhergehe. 7 Darüber hinaus entwickelten sich nicht wenige der bereits seit langem und bis heute bestehenden führenden globalen Freiwilligenorganisationen von Europa aus – so etwa das Internationale Rote Kreuz (und damit nachfolgend auch der Rote Halbmond), das in den 1860er Jahren in der Schweiz entstand. Vielleicht ist die langjährige historiographische Vernachlässigung auch auf den Mangel an Quellen zu den Freiwilligenorganisationen zurückzuführen. In den 1990er Jahren führte die Öffnung der Archive des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes, der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften sowie vieler nationaler Organisationen zu einem Aufschwung in der historischen Forschung zur Rot-Kreuz-Bewegung und ihres Umfelds. 8 Die Rolle und Bedeutung von Organisationen wie der „Voluntary Action History Society“ (VAHS), die 1991 von Colin Rochester, Justin Davis Smith und anderen gegründet wurde, ist für die weitere Entwicklung der britischen Geschichtsschreibung zu den Feldern Wohltätigkeit, Philanthropie, Freiwilligen- und ehrenamtliche Arbeit sowie zur Rolle des Nichtregierungssektors und der Nichtregierungsorganisationen (NGOs) nicht zu unterschätzen. Der von den genannten Gründungsmitgliedern herausgegebene Sammelband, „An Introduction to the Voluntary Sector“ stellt möglicherweise den ersten Versuch überhaupt dar, die Geschichte der Freiwilligen-
6 Friedman/McGarvie (Eds.), Charity, Philanthropy and Civility (wie Anm.3), 1. 7 Cohen, Epilogue (wie Anm.3), 411. 8 Die bekanntesten Studien sind John F. Hutchinson, Champions of Charity. War and the Rise of the Red Cross. Boulder 1996; Caroline Moorehead, Dunant’s Dream: War, Switzerland and the History of the Red Cross. London 1998.
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arbeit in Großbritannien bis 1945 in ihren Umrissen zu skizzieren. 9 Den Tagungen der VAHS, von denen die erste, „400 Years of Charity“, 2001 an der Universität Liverpool stattfand, kommt in Großbritannien, aber auch in Australien, Neuseeland und Kanada, nach wie vor eine tragende Rolle in diesem jungen Forschungszweig zu. Nachwuchswissenschaftler wie George Gosling, von dem ein Aufsatz in diesem Band zu finden ist, konnten in den vergangenen Jahren von dem wissenschaftlichen Austausch im Rahmen der VAHS profitieren. Zu nennen ist hier etwa die Veröffentlichung von Sammelbänden wie „Understanding the Roots of Voluntary Action. Historical Perspectives on Current Social Policy“ (2011), für die sich etablierte und jüngere Historiker zusammenfanden, um politischen Entscheidungsträgern, Führungspersonen im ehrenamtlichen Sektor und Analysten Informationen über die Geschichte freiwilliger Arbeit bereitzustellen. 10 Des Weiteren schärft derzeit in Großbritannien eine größere Initiative das Bewusstsein für die Bedeutung, die den Archiven des Freiwilligensektors für die Geschichtsforschung zukommt. In diesem Rahmen wurde unter der Leitung von VAHS-Mitgliedern wie Georgina Brewis und Brenda Weeden 2011 auch ein Projekt zur Digitalisierung verschiedener Archive in Angriff genommen. 11 Nicht nur in Großbritannien hat das Interesse an der Geschichte freiwilliger Tätigkeit zugenommen. In den letzten fünfzehn Jahren haben Historiker und Historikerinnen aus Australien, Neuseeland und Kanada auf Ideen und Forschungen aus Großbritannien und speziell der VAHS zurückgegriffen. Jedes dieser aus britischen Siedlergesellschaften hervorgegangenen Länder verfügt über eine ausgeprägte Tradition freiwilliger und ehrenamtlicher Arbeit. Diese Tradition war fester Bestandteil des kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Erbes, das im Laufe des 19. und frühen 20.Jahrhunderts von Generationen britischer Einwanderer dorthin gebracht wurde. 12 Im Jahr 2005 wurde das auf dem VAHS-Modell aufbauende australasische Netzwerk für die Geschichte der Sozialfürsorge ins Leben gerufen, das in Australien von Historikerinnen wie Shurlee Swain und Anne O’Brien und in Neuseeland von
9 Davis Smith/Rochester/Hedley (Eds.), An Introduction to the Voluntary Sector (wie Anm.3); ferner: Jeremy Kendall/Martin Knapp (Eds.), The Voluntary Sector in the UK. Manchester 1996. Diese Untersuchung wurde von der transnationalen Studie des gemeinnützigen Sektors von John Hopkins inspiriert. 10
Colin Rochester/George Campbell Gosling/Alison Penn/Meta Zimmeck (Eds.), Understanding the Roots of
Voluntary Action. Historical Perspectives on Current Social Policy. Brighton 2011.
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Siehe vahs.org.uk (Zugriff: 10.August 2017).
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Oppenheimer/Deakin (Eds.), Beveridge and Voluntary Action (wie Anm.4).
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Margaret Tennant und Bronwyn Dally betreut wurde und das in beiden Ländern im Zwei-Jahres-Rhythmus Tagungen durchführt. In den letzten Jahren hat sich der Forschungsschwerpunkt in diesem jungen Bereich der australasischen Historiographie verschoben. Die Forschung konzentriert sich nun nicht mehr so sehr auf die Rolle des Staates, sondern stärker auf den Freiwilligensektor selbst und seine wichtige, „den Staat ergänzende und manchmal herausfordernde“ Rolle in der „mixed economy of welfare“. 13 Um das sechzigste Jubiläum der Veröffentlichung des Voluntary Action-Berichts von William Beveridge zu feiern, veranstaltete das Netzwerk im November 2008 in Zusammenarbeit mit dem VAHS in London eine Tagung. Deren Beiträge wurden 2011 unter dem Titel „Beveridge and Voluntary Action in Britain and the Wider British World“ publiziert. Die Herausgeber bilanzierten, dass seit 1991 die „Unterstützung von Freiwilligenarbeit ein sehr beliebtes Konzept geworden ist […] und ehrenamtliche Organisationen nunmehr quer durch das gesamte politische Spektrum hindurch und in vielen verschiedenen Ländern wichtige Faktoren in Staat und Gesellschaft darstellen“. 14 Das Buch behandelt eine Vielzahl an Themen, mit wichtigen Aufsätzen zu Australien, Neuseeland und Kanada. Im Folgenden wird zunächst ein Blick auf die Herausbildung des Forschungsfeldes voluntary action geworfen. Die These der „moving frontier“, die von Beveridge aufgestellt und vom britischen Historiker Geoffrey Finlayson weiterentwickelt wurde, bildet die theoretische Grundlage dieses Beitrags. Voluntary action umfasst im Sinne Beveridges gegenseitige Unterstützung, Selbsthilfe und Philanthropie. Ehrenamtliche Tätigkeit wird gesellschaftlich und kulturell bestimmt, wobei Auffassungen von „formeller Freiwilligenarbeit“ und „organisierter Freiwilligenarbeit“ sich laufend verändern und manchmal angefochten werden. Als Freiwilliger wird hier eine Person definiert, die von sich aus im Rahmen einer Organisation oder einer Gruppe unbezahlte Hilfe leistete, sei es in Form einer aufgewendeten Zeit, eines geleisteten Dienstes oder der Bereitstellung spezieller Fähigkeiten. 15 Die gewaltige Anzahl an Freiwilligenorganisationen siedelt sich im (von den britischen Forschern Kendall und Knapp als „schlaffes, ausgebeultes Mostrum“ bezeichneten) Freiwilli-
13 Margaret Tennant/Shurlee Swain, Editorial, in: Australian Historical Studies 39, 2008, 147–149, hier 147. 14 Oppenheimer/Deakin (Eds.), Beveridge and Voluntary Action (wie Anm.4), 1. 15 Melanie Oppenheimer/Jeni Warburton, Introduction, in: dies. (Eds.), Volunteering in Australia. Sydney 2014, 6.
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gen-, Dritten, Non-Profit- oder Nichtregierungs-Sektor bzw., wie es seit neuestem heißt, in der Zivilgesellschaft an. 16 Dieser Aufsatz richtet ein besonderes Augenmerk auf geschlechtergeschichtliche Aspekte freiwilliger Arbeit. Argumentiert wird, dass das Stereotyp des Freiwilligen „gegendert“ ist und sich nicht von karikierenden Darstellungen trennen lässt, die während der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts entstanden sind – einer Zeit, in der Freiwilligenarbeit besonders weit verbreitet war und zumeist von Frauen ausgeübt wurde. In der britischen Tradition entstand das Bild der „Lady Bountiful“ als herabwertendes Stereotyp für ältere Frauen mittlerer und höherer Gesellschaftsschichten, deren philanthropischen und karitativen „Wohltaten“ im öffentlichen Bereich oft fragwürdige Motive zugrunde lagen. Eine weitere fiktive Frauengestalt, die das Stereotyp weiblicher Philanthropie des 19.Jahrhunderts verkörpert, ist Mrs. Jellyby aus Charles Dickens’ Roman „Bleak House“. Der Einfluss der sogenannten zweiten Frauenbewegung der 1970er und 1980er Jahre, die der Analyse weiblicher Freiwilligenarbeit gemeinhin Desinteresse entgegenbrachte, trug dazu bei, diese negativen Stereotype zu perpetuieren. Dass Freiwilligenarbeit in der Historiographie nicht zusammen mit Frauenerwerbsarbeit und hauswirtschaftlichen Tätigkeiten untersucht wurde, verfestigte die negative Wahrnehmung freiwilliger Tätigkeit im Laufe der Zeit weiter. 17
I. Die Tradition freiwilligen Handelns In Großbritannien hat voluntary action eine lange Tradition, die sich bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. In Nordamerika reicht sie bis in die Zeit vor dem Bürgerkrieg zurück (in dem freiwillige Hilfe besonders als Pflege verwundeter und kranker Soldaten verstanden wurde); und in Kanada, Australien und Neuseeland bis zu den frühesten englischsprachigen Siedlungen. Bis ins 19.Jahrhundert hinein nahmen die traditionellen Zweige von voluntary action in England die Gestalt von 16
Jeremy Kendall/Martin Knapp, A Loose and Baggy Monster: Boundaries, Definitions and Typologies, in:
Davis Smith/Rochester/Hedley (Eds.), An Introduction to the Voluntary Sector (wie Anm.3), 66–95. Siehe auch Nicholas Deakin, In Search of Civil Society. Basingstoke 2001. 17
Für eine Analyse dieses Diskurses siehe Melanie Oppenheimer, Voluntary Work and Labour History, in:
Labour History 74, 1998, 1–9, und dies., We All Did Voluntary Work of Some Kind: Voluntary Work and Labour History, in: Labour History 81, 2001, 1–12.
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Versorgungsheimen, dotierten Stiftungen und der Unterstützungsleistungen für Arbeitslose an. Das erste Gesetz, mit dem der Staat darauf zielte, vermeintliche Wohltätigkeit in betrügerischer Absicht zu verhindern, trug den Namen „Charitable Uses Act“ (1597). Das Armengesetz oder „Poor Law“ (1601) übertrug die Armenfürsorge der örtlichen Pfarrgemeinde. Sie wurde aus den Gemeindesteuern finanziert und umfasste Alten- und Krankenpflege, Beschäftigungsmaßnahmen für Arbeitslose sowie Ausbildungsmöglichkeiten für bedürftige Kinder. Im Jahr 1834 legte der „Poor Law Amendment Act“ fest, dass diese Art von Pflege und Unterstützung nur mehr innerhalb spezieller Anstalten erbracht werden durfte. So wurden die Armen nur dann versorgt, wenn sie von sich aus ins Armenhaus gingen. Von allen, die das Unglück hatten, auf Unterstützung angewiesen zu sein, wurde dieses System verabscheut. 18 Im 19.Jahrhundert entstand in der Arbeiterklasse eine Vielzahl an Organisationen für gegenseitige Unterstützung und Selbsthilfe. Auf Strukturen und Aufgaben mittelalterlicher Gilden basierend, die in Großbritannien und im restlichen Europa weite Verbreitung gefunden hatten, waren diese friendly societies – die manchmal als „Impuls von unten“ charakterisiert worden sind – auf Beruf und Handel ausgerichtet. Ihre Mitgliedschaft war in der Regel Männern vorbehalten, und sie boten neben geselligen Aktivitäten und Unterstützungsleistungen im Krankheitsfall auch das Wichtigste: eine anständige Bestattung. Einer der führenden britischen Historiker der friendly societies, Dan Weinbren, argumentiert, dass sich diese „als Kanäle für den Gedanken des freiwilligen Dienstes präsentierten“. 19 Friendly societies sind als die wichtigste Bewegung in der Arbeiterschicht des viktorianischen Zeitalters bezeichnet worden, denen sogar eine größere Bedeutung zukomme als der weit bekannteren Gewerkschaftsbewegung. 20 Es wird geschätzt, dass die mehreren Tausend dieser friendly societies in den frühen 1870er 18 Siehe zum Beispiel Karel Williams, From Pauperism to Poverty. Routledge 2016; ferner: John Duncan Marshall, The Old Poor Law, 1795–1834. 2nd Ed. London 1985; Anthony Brundage, The Making of the New Poor Law. New Brunswick 1978; Lynn Hollen Lees, The Solidarities of Strangers. The English Poor Laws and the People, 1700–1948. Cambridge 1998. 19 Daniel Weinbren, „Organisations for brotherly aid in misfortune“. Beveridge and the Friendly Societies, in: Oppenheimer/Deakin (Eds.), Beveridge and Voluntary Action (wie Anm.4), 51–65, hier 55. Für eine vergleichende Perspektive siehe Daniel Weinbren/Bob James, Getting a Grip – the Roles of Friendly Societies in Australia and the UK Reappraised, in: Labour History 88, 2005, 87–103. Siehe auch den Klassiker: Peter H. Gosden, Self Help. Voluntary Associations in Nineteenth Century Britain. London 1974. 20 Davis Smith, The Voluntary Tradition (wie Anm.3), 29f.
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Jahren über insgesamt vier bis sechs Millionen Mitglieder verfügten und dass diese Zahl bis 1910 auf 6,3 bis 9,5 Millionen anwuchs. 21 Die zunehmende staatliche Betätigung auf dem Gebiet der Sozialfürsorge mit dem „Old Age Pensions Act“ von 1908 und dem „National Insurance Act“ von 1911 führte schließlich im Laufe des 20.Jahrhunderts zu einem Einfluss- und Bedeutungsverlust dieser Selbsthilfegruppen. Im späteren 19.Jahrhundert wuchs die Zahl der karitativen und philanthropischen Organisationen in Großbritannien und in der britischen Welt in beachtlichem Maße. Viele dieser freiwilligen Initiativen entstanden in Reaktion auf die tiefgreifenden sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen, die mit Industrialisierung und Urbanisierung einhergingen. Einige Organisationen waren breit angelegt und wiesen religiöse Grundzüge auf, wie die 1866 von William Booth gegründete Heilsarmee. Andere, wie die drei Jahre später ins Leben gerufenen Heime Dr. Bernados, richteten sich speziell an bedürftige Kinder. Institutionen wie die „Young Men’s Christian Association“ (YMCA) oder auch die vielen Abstinenzvereine der späten viktorianischen Epoche waren protestantisch geprägt. Ein anders geartetes Experiment stellte Toynbee Hall dar. Diese im Jahr 1884 von Universitätsangestellten und Geistlichen als sogenanntes „Settlement“ in Ost-London ins Leben gerufene Institution setzte sich die Aufgabe, Universitätsabgänger zu einem längeren Aufenthalt im Armenviertel einzuladen, damit sie nicht als Prediger und Eiferer, sondern als Freunde und Nachbarn Sozialarbeit leisten konnten. Viele prominente Persönlichkeiten folgten diesem Aufruf, wie etwa William Beveridge, der von 1903 bis 1905 als „SubWarden“ in Toynbee Hall arbeitete. 22 Als weitere einschneidende Entwicklung während des 19.Jahrhunderts ist die Entwicklung einer wissenschaftlich fundierten Wohltätigkeit und Philanthropie zu nennen. Diese fand in der 1869 gegründeten „Charity Organisation Society“ (COS) Ausdruck, deren Ziel es war, die Vielzahl wohltätiger Initiativen zu koordinieren. Dieses „überaus ehrgeizige wohltätige Netzwerk“ stand unter der Leitung von C. S. Loch, welcher der Organisation lange Jahre als Geschäftsführer (1875–1913) diente, sowie der Sozialreformerin Octavia Hill. 23 Loch kritisierte, dass Wohltätigkeit will-
21
Weinbren, Beveridge (wie Anm.19), 51, besonders 61f. Anm.4.
22
Harris, Beveridge (wie Anm.4), 44, siehe auch ebd.Kapitel 3: Toynbee Hall, 44–63; Asa Briggs/Anne
MacCartney, Toynbee Hall. The First Hundred Years. London 1984. 23
Cohen, Epilogue (wie Anm.3), 403. Die COS änderte ihren Namen nach dem Zweiten Weltkrieg in
„Family Welfare Association“; siehe Madeleine Rooff, A Hundred Years of Family Welfare. London 1972; Jane
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kürlich und verschwenderisch verteilt werde, schlecht organisiert sei und allzu leicht gewiefte Bittsteller doppelt versorge, während andere leer ausgingen. Was fehle, sei ein strenges Vorgehen bei jeglicher Privatwohltätigkeit, das durch ein wissenschaftliches Konzept geleitet werden solle. Aus ideologischen Gründen übernahm die COS die Unterscheidung von „würdigen“ und „unwürdigen Armen“, die sich seit dem 16.Jahrhundert durchgesetzt hatte. Michael Roberts weist darauf hin, dass die COS aus der 1818 in London gegründeten Gesellschaft zur Unterdrückung des Bettelwesens („Society for the Suppression of Mendicity“) hervorgegangen ist. Diese Gesellschaft versuchte seit der post-napoleonischen Ära, die Kriterien der „karitativen ‚Würdigkeit‘“ weiter einzuschränken. 24 Außerdem entwarf die Organisation das Prinzip separater Aufgabenbereiche für Staat und Freiwilligensektor, wobei der Erstere sich der „unwürdigen“ Armen – Almosenempfängern – annehmen sollte, wohingegen private Wohltätigkeitsorganisationen für die „würdigen“ Armen, die nur vorübergehend schwere Zeiten durchzustehen hatten, sorgen sollten. Der Ansatz der COS baute darauf, dass das „Poor Law“ rigoros durchgesetzt wurde. Die Organisation entschied von Fall zu Fall über die Unterstützungswürdigkeit ihrer Klienten, wobei ihre Sozialarbeiter auf der Grundlage moralischer und gesellschaftlicher Kriterien deren jeweilige Lebensverhältnisse durchleuchteten. 25 Es wäre jedoch irreführend, die Ideologie der COS als repräsentativ für die Philanthropie im 19.Jahrhundert anzusehen. Viele philanthropische Organisationen in Großbritannien distanzierten sich von ihrer Politik. Philanthropen wie die Sozialisten Beatrice und Sidney Webb („Fabian Society“), Samuel Barnett (Toynbee Hall) und William Booth (Heilsarmee) glaubten, dass staatliche Hilfsleistungen und voluntary action ineinandergreifen könnten. So befand der Minderheitsbericht zur „Royal Commission on the Poor Laws and Relief of Distress“ (1905–1909), den die Webbs aufgrund ihres von den anderen Kommissionsmitgliedern abweichenden Standpunkts verfassten, dass der Staat für alle Staatsbürger Basisleistungen anbieten solle, wohingegen es die vorrangige Aufgabe privater karitativer Verbände sein sol-
Lewis, The Voluntary Sector, the State and Social Work in Britain. The Charity Organisation Society/Family Welfare Association since 1869. Aldershot 1995. 24 Michael Roberts, Reshaping the Gift Relationship. The London Mendicity Society and the Suppression of Begging in England, 1818–1869, in: International Review of Social History 36, 1991, 201–231. 25 Siehe Pat Thane, The Foundations of the Welfare State. Social Policy in Modern Britain. London 1982, besonders Kapitel 2 mit einem kurzen Abriss der COS und anderer Freiwilligenorganisationen im Großbritannien des ausgehenden 19.Jahrhunderts.
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le, die Lücken in dieser staatlichen Versorgung zu schließen. Nach 1945 sollte dies zu einem Grundgedanken des britischen welfare state werden. 26 Obwohl etliche Aspekte der philanthropischen Tradition ebenso wie ihre wichtigsten Protagonisten für das 19.Jahrhundert bereits gut erforscht sind, reicht die Geschichtsschreibung zur Wohltätigkeit in der Regel nicht über die Zeit des Ersten Weltkriegs hinaus. Frank Prochaska, der wohl beste Kenner der britischen Philanthropiegeschichte, hält die verbreitete Niedergangserzählung für das 20.Jahrhundert für übertrieben. 27 In der Zwischenkriegszeit erlebte der von den Webbs formulierte Gedanke, dass Wohltätigkeit und Philanthropie die Arbeit des Staates unterstützen und ergänzen sollten, eine Blütezeit. Vereinsgründungen, die Einrichtung des „National Council for Social Service“ 1919 und neuer Stiftungen wie der „Wellcome Foundation“ 1924 sowie auch die zunehmende staatliche Unterstützung für verschiedene wohltätige Organisationen weisen darauf hin, so Finlayson und Oppenheimer, dass sich die Beziehungen zwischen Staat und freiwilligem Sektor bis in die Epoche nach 1945 – als der britische welfare state entstand – weiter intensivierten. 28 Dies ist aus einer Anzahl heute zum Großteil in Vergessenheit geratener zeitgenössischer Studien ersichtlich, die voluntary action als zentrale, den neuen Wohlfahrtsstaat ergänzende Komponente ansahen. Hierzu zählen Elizabeth Macadams 1934 erschienenes Buch, in dem voluntary action in Zusammenarbeit mit dem Staat als „neue Philanthropie“ bezeichnet wird; Constance Braithwaites „The Voluntary Citizen“ (1938); sowie Bourdillons Arbeit aus dem Jahre 1945, in der Ergebnisse des „Nuffield College Social Reconstruction Survey“ veröffentlicht wurden, eines Berichts, der in drei Fallstudien Freiwilligenorganisationen eines ländlichen, eines Arbeiter- und eines Industriegebiets untersucht. Bourdillon beschäftigte sich mit der Zukunft ehrenamtlicher Organisationen im welfare state. 29 Mary Morris’ Arbeit „Voluntary Work in the Wel-
26
Davis Smith, The Voluntary Tradition (wie Anm.3), 24.
27
Frank Prochaska, The Voluntary Impulse. Philanthropy in Modern Britain. London 1988, 1.
28
Davis Smith, The Voluntary Tradition (wie Anm.3), 24. Siehe auch Melanie Oppenheimer, Volunteering.
Why We Can’t Survive without It. Sydney 2007. Der britische Wohlfahrtsstaat ist bereits gründlich erforscht, siehe zum Beispiel: Rodney Lowe, The Welfare State in Britain since 1945. London 1993; Bernard Harris, The Origins of the British Welfare State. Society, State and Welfare in England and Wales, 1800– 1945. Basingstoke 2004. Eine neue transnationale Perspektive der Epoche bis 1980 findet sich bei Erik Eklund/Melanie Oppenheimer/Joanne Scott (Eds.), The State of Welfare. Comparative Studies of the Welfare State at the End of the Long Boom, 1965–1980. Bern 2017. 29
Elizabeth Macadam, The New Philanthropy. A Study of the Relations between the Statutory and Vol-
untary Social Services. London 1934; Constance Braithwaite, The Voluntary Citizen. An Enquiry into the
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fare State“ (1969) greift Madeleine Rooffs historische Studie von 1957 auf, in der diese betonte, dass der Wohlfahrtsstaat freiwillige Tätigkeit nicht überflüssig gemacht habe, sondern voluntary action vielmehr neben dem Staat „bei der Ursachenanalyse und der Entdeckung vorbeugender Maßnahmen vorangegangen ist“. 30 Prochaska stimmt dem zu und weist darauf hin, dass sich die „etablierten Traditionen“ von Philanthropie und Freiwilligenarbeit als widerstandsfähig erwiesen haben, „obwohl der Wohlfahrtsstaat den ehrenamtlichen Bereich seit dem Krieg in seinen Schatten gestellt habe“. 31 Die Sozialpolitik der australischen Labour-Regierung unter dem Premierminister Edward Whitlam (1972–1975) und besonders Programme wie der „Australian Assistance Plan“ bieten uns ein lohnendes Fallbeispiel für die Dynamik, mit der sich Gestalt und Konfiguration der Beziehung zwischen Wohlfahrtsstaat, Freiwilligenorganisationen und voluntary action veränderten. Der Australian Assistance Plan „verkörperte zwei Schlüsselkonzepte der Sozialpolitik der Whitlam-Regierung – Regionalismus und Bürgerbeteiligung“. 32 Mehr als 30 Prozent der heute in Australien existierenden Freiwilligenorganisationen entstanden in den 1970er Jahren. Dieser Aufschwung ehrenamtlicher Tätigkeit weist auf die enge Verbindung zwischen Anerkennung und Unterstützung (vor allem finanzieller Art) durch die Regierung einerseits und zunehmende Bürgerbeteiligung andererseits hin. 33 Die Innovation des Australian Assistance Plan lag nicht nur in seiner Struktur, die mit den „Regional Councils for Social Development“ ein „Kooperationsforum für Vertreter des Staates, des Freiwilligensektors und gesellschaftlicher Gruppen“ schuf, sondern auch in seinem Finanzierungsmodell. 34 Bis in die 1970er Jahre hinein waren Sozialfürsorgeprogramme in Australien vorwiegend eine föderale Angelegenheit der jeweiligen Landesregierungen gewesen. Der Australian Assistance Plan involvierte die nationale Regierung, indem diese nun im Rahmen der Regional Councils for Social DePlace of Philanthropy in the Community. London 1938; Anne F. Bourdillon (Ed.), Voluntary Social Services. Their Place in the Modern State. London 1945. 30 Madeleine Rooff, Voluntary Societies and Social Policy. London 1957, 274; siehe auch Mary Morris, Voluntary Work in the Welfare State. London 1969. 31 Prochaska, The Voluntary Impulse (wie Anm.27), 86. 32 Melanie Oppenheimer, Voluntary Action, Social Welfare and the Australian Assistance Plan in the 1970s, in: Australian Historical Studies 39, 1990, 167–182, hier 178. 33 Oppenheimer, Volunteering (wie Anm.28), 123. 34 Introduction, 2nd Discussion Paper, AAP, 8, Document no. 414, A3390/1, National Archives of Australia, Canberra.
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velopment an den Landesverwaltungen vorbei direkt lokale Gemeindeprojekte finanzieren konnte. Auf diese Weise wurden Freiwilligenorganisationen zu einer Schlüsselkomponente der Sozialpolitik unter der Zielsetzung, „dem Prinzip der Freiwilligkeit größere Anerkennung zu verschaffen und so eine höhere Bürgerbeteiligung sicherzustellen“. 35 Beeinflusst durch internationale Trends, die von Großbritannien und Nordamerika ausgingen, wurden Gemeindeentwicklungsbeauftragte („Community Development Officers“) eingestellt, die örtliche Gruppen bei der Gemeindearbeit und karitativen Projekten unterstützen sollten, etwa Wohltätigkeitsclubs, kirchliche Einrichtungen und Selbsthilfeorganisationen (zum Beispiel Eltern- oder Flüchtlingsinitiativen). So wurde ein effektives System innovativer, gemeindebasierter Sozialfürsorgeprogramme geschaffen. 36 Dem Ganzen lag etwas zugrunde, das wir heute als faktenbasierten sozialpolitischen Ansatz bezeichnen würden. Obwohl die Labour-Regierung unter Whitlam nur drei Jahre lang im Amt war, gelang es ihr, mit innovativen Programmen wie dem Australian Assistance Plan das Feld der Sozialfürsorge und voluntary action in Australien neu zu gestalten.
II. Der Einfluss von Beveridge und Finlayson Zwei Texte üben einen besonders nachhaltigen Einfluss auf unsere Einstellung zur Freiwilligenarbeit im 21.Jahrhundert aus. Der erste ist der von einer führenden britischen friendly society in Auftrag gegebene und von William Beveridge verfasste Bericht „Voluntary Action“ (1948). Dieser Bericht ist eine prophetische Ermahnung, voluntary action im sich gerade erst entwickelnden welfare state, der in der chaotischen Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden war, nicht untergehen zu lassen. Beveridge wurde als ein „unermüdlicher Erforscher der Gewohnheiten der britischen Gesellschaft“ geschildert, der „jede Illusion, dass ein wohlwollender Staat die einzige Quelle menschlichen Glückes sein könne“, zu korrigieren bemüht war. 37 Hierin liegt eine gewisse Ironie, zumal frühere Schriften von Beveridge die Grundlage für den späteren britischen welfare state bildeten. Sein Bericht „Social Insurance
35
Australian Assistance Plan A463 1973/1522, National Archives of Australia, Canberra.
36
Siehe zum Beispiel Alfred J. Kahn, Theory and Practice of Social Planning. New York 1969.
37
T. S. Monks, Book of the Week, The State and Voluntary Action, in: Sydney Morning Herald, 20.No-
vember 1948, 8.
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and Allied Services“ (1942) sowie seine Untersuchung zur Arbeitslosigkeit machten ihn berühmt. Ein 2017 begonnenes Forschungsprojekt zum Thema „Discourses of Voluntary Action“ deckt den historischen Einfluss von Beveridges erstem Bericht auf. 38 In „Voluntary Action“ jedoch, seinem dritten und am wenigsten bekannten Bericht, scheint Beveridge von einigen seiner früheren Argumente Abstand zu nehmen. Vor allem glaubte er, dass voluntary action einen notwendigen Schutzpuffer gegen Regierungen und Marktkräfte bilde, gegen das „Laissez-faire der freien Märkte und den Totalitarismus“. 39 Die vierzig Jahre nach Beveridges Bericht verfasste wegweisende Studie des britischen Historikers Geoffrey Finlayson zu Freiwilligensektor und Staat in Großbritannien, „Citizen, State and Social Welfare in Britain, 1830–1990“, nimmt Frank Prochaskas Ansatz auf, das Verständnis von voluntary action und das Prinzip der Freiwilligkeit zu historisieren. 40 Die Studie wurde nach seinem Tod 1994 veröffentlicht. 41 Finlayson griff Beveridges Konzept der „moving frontier“ auf, um die Beziehung zwischen Freiwilligensektor und Staat zu beschreiben und zu analysieren, wie sich diese im Laufe des 20.Jahrhunderts entwickelt und verändert hat. Obwohl das Prinzip der Freiwilligkeit als „Juniorpartner“ fungiere, bleibe es ein integraler Bestandteil des aktiven Staates. Dies wurde seinerzeit von Premierminister Clement Attlee erkannt (der wie Beveridge in seiner Jugend in Toynbee Hall gearbeitet hatte). Im Jahr 1947 erklärte er, dass es „neben der großen Anzahl öffentlicher Dienste“ immer auch die Freiwilligendienste geben werde, „die das Leben der Nation humanisieren und darin den Einzelnen aus dem Allgemeinen hervortreten lassen“. 42 Was Finlayson für Großbritannien schilderte, lässt sich auch auf transnationaler Ebene beobachten. In vielen Ländern haben die beiden Weltkriege und lange Jahre der Not einen mächtigen Impuls für anhaltende philanthropische Anstrengungen
38 Siehe das Projekt „Discourses of Voluntary Action at Two ,Transformational Moments‘ of the Welfare State, the 1940s and 2010s“, geleitet von Professor Irene Hardill, Northumbria University, 2017–2019, gefördert vom Economic and Social Research Council (ESRC), https://discoursesofvoluntaryaction.wordpress.com/2017/12/01/reflecting-on-the-beveridge-report-75-years-on/ (Zugriff: 17.Dezember 2017). 39 William Beveridge/Janet Beveridge, On and Off the Platform: Under the Southern Cross. Sydney/Melbourne 1949, 78. 40 Prochaska, The Voluntary Impulse (wie Anm.27). 41 Geoffrey Finlayson, Citizen, State and Social Welfare in Britain, 1830–1990. Oxford 1994. 42 Geoffrey Finlayson, A Moving Frontier. Voluntarism and the State in British Social Welfare, 1911–1949, in: Twentieth Century British History 1, 1990, 183–206, hier 205.
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gegeben. 43 Meine eigene Forschung zu Australien wurde maßgeblich von diesen britischen Historikern beeinflusst, und ich bin zu ähnlichen Schlussfolgerungen gelangt. In meiner 1997 vollendeten und 2002 unter dem Titel „All Work, no Pay. Australian Civilian Volunteers in War“ publizierten Doktorarbeit verwende ich die These der „moving frontier“ als theoretischen Rahmen, um für die Zeit des Zweiten Weltkrieges das Ausmaß, den Charakter und die Wirksamkeit der Freiwilligenarbeit an der australischen Heimatfront zu ermitteln. 44 Ich argumentiere, dass die Herausforderungen des Krieges frühere Beziehungen zwischen Staat und Freiwilligensektor, zwischen bezahlter und ehrenamtlicher Arbeit verändert haben. Dafür habe ich fünf philanthropische Organisationen in den Blick genommen, die während des Krieges offiziell mit der australischen Regierung und dem Militär zusammenarbeiten durften. Zu diesen zählten die Heilsarmee, der „Australian Comforts Fund“, die YMCA und die YWCA sowie das Australische Rote Kreuz.
In dem Buch „Volunteering. Why We Can’t Survive without It“, das zehn Jahre später erschienen ist, versuche ich, einige derjenigen Fragen zu beantworten, die auch von Nicole Kramer und Christine Krüger in dem vorliegenden Band aufgeworfen werden. 45 Das Buch nimmt die in der konventionellen Historiographie größtenteils ausgeblendete Freiwilligenarbeit beziehungsweise voluntary action in den Blick und fragt, welche Bedeutung dieser im Laufe der Geschichte für die Ausgestaltung der wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Rahmenbedingungen der australischen Gesellschaft zukam. Vom Zweiten Weltkrieg als dem Höhepunkt freiwilliger Betätigung ausgehend habe ich abermals das Konzept der „moving frontier“ verwendet, um zu untersuchen, wie sich voluntary action und Wohlfahrtsstaat in der Zeit nach 1945 miteinander verflochten – eine Konstellation, die oft als „mixed economy of welfare“ bezeichnet wird. Wie sich herausstellte, verwischte die Grenze zwischen staatlichen Stellen und Freiwilligenorganisationen im Laufe der Jahrzehnte zunehmend. Meine These war, dass zwar staatliche Bürokratien und die Erweiterung des Staatsapparates nach 1945 den Freiwilligensektor überschatteten,
43
Ein Begriff, den David Owen in seiner klassischen Studie verwendet: David Owen, English Philanthro-
py, 1660–1960. London 1964, 527. Siehe auch Finlayson, A Moving Frontier (wie Anm.42), 201. 44
Melanie Oppenheimer, All Work, no Pay. Australian Civilian Volunteers in War. Walcha 2002; dies.,
Volunteers in Action. Voluntary Work in Australia, 1939–1945. PhD Thesis Macquarie University 1997. 45
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Oppenheimer, Volunteering (wie Anm.28).
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dass aber dennoch eine enge Beziehung zwischen dem Staat und diesem fortbestand – ja, sogar gedieh. Mit den neuen sozialen Bewegungen erlebte voluntary action in den 1970er Jahren eine Weiterentwicklung und einen zweiten Höhepunkt. Die „moving frontier“ dehnte sich aus, und die kooperative Beziehung, die sich zwischen Freiwilligen und Regierung entwickelte, festigte sich weiter. 46 Auch in den 1980er Jahren blieb die Grenze beweglich. Das Verhältnis zwischen Regierungen und dem Freiwilligensektor hat sich seit diesem Jahrzehnt unter der Ägide des „neuen Konservatismus“ – mit wirtschaftlichem Rationalismus und Neoliberalismus an beiden Enden des politischen Spektrums – bedeutend verändert. Wir haben über diese Zeit eine beachtliche Menge an Literatur, die sich der Entstehung interdisziplinärer Forschungsnetzwerke zur Untersuchung des dritten Sektors verdankt. Historiker nehmen sich dieses neuen Feldes, das von Soziologen und Ökonomen dominiert wird, nur zögerlich an.
III. Voluntary action, Freiwilligenarbeit und Gender In den 1970er Jahren waren Einstellungen zur Freiwilligenarbeit ambivalent. Während die neuen sozialen Bewegungen dem Staat äußerst skeptisch gegenüberstanden und stattdessen Graswurzelaktivismus sowie Selbsthilfeinitiativen förderten, begegneten sie traditioneller Wohltätigkeit und Philanthropie mit scharfer Kritik. Viel zitiert wird das Beispiel des britischen Labour-Abgeordneten Richard Crossman, der, während er 1973 eine Rede vor Studenten an der Universität Oxford vorbereitete, davor gewarnt wurde, das Wort „Freiwilliger“ zu benutzen, denn es sei „altmodisch, spießig, durch und durch peinlich […]. Das Wort, so erinnerte man mich, klang nach Baden-Powell; es schwinge allerlei spießbürgerlich-belehrendes Gutmenschentum [im engl. Original: „do-gooding“] mit. In den Sozialdienstleistungen – so zumindest sieht es diese Universität heute – ist Gutmenschentum ein ebenso schmutziges Wort wie Philanthropie. Beides sind Babys, die mit dem viktorianischen, edwardischen und georgischen Badewasser ausgeschüttet worden sind. [Die
46 Ebd.21,123. Siehe auch Melanie Oppenheimer/Erik Eklund/Joanne Scott, Reach of the Imagination. The Bold Experiment of the Australian Assistance Plan, in: Jenny Hocking (Ed.), Making Modern Australia. Melbourne 2017, 88–117.
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Studierenden] würden Protestgruppen beitreten; sie würden Arbeitskreise bilden. Niemals würden sie sich freiwillig melden, um ‚Gutes‘ zu tun.“ 47 Crossman lehnte den „Gutmenschen-Freiwilligen“ eindeutig ab, sei er nun männlich oder weiblich. Seine Ansichten entsprachen denjenigen der politischen Linken, welche die Philanthropie als einen „hassenswerten Ausdruck einer sozialen Oligarchie und einer verstaubt-kirchlichen, bürgerlichen Einstellung“ betrachtete. „Wir haben die Pfadfinder verachtet“, so brachte er diese Haltung auf den Punkt. 48 Die ambivalente Sicht der Freiwilligenarbeit wurde noch durch einen weiteren Faktor bestärkt. Und damit ist eine der großen Herausforderungen des hier behandelten Themenbereichs angesprochen: die Frage danach, wie voluntary action, Freiwilligenarbeit und Geschlecht zusammenhängen. Genderaspekte sind ein unerlässlicher Bestandteil der Geschichtsschreibung über voluntary action, was den Gegenstand, die chronologische und geographische Verortung sowie die Herangehensweise betrifft. Wie oben bereits angeschnitten, gibt es inzwischen vor allem für das 19. Jahrhundert eine detaillierte Geschichtsschreibung zur Geschichte der Philanthropie, der Wohltätigkeit und der ‚weiblichen Sphäre‘. Sie nimmt die Entwicklung einer „femininen Öffentlichkeit“ in den Blick und interessiert sich besonders – aber nicht ausschließlich – für Frauen aus den wachsenden Mittelschichten sowie für den beachtlichen Beitrag zum öffentlichen Leben, den diese durch ihre Fähigkeit zur Zusammenarbeit leisteten, wenn es galt, Wohltätigkeitsformen zu reformieren. 49 Ein unumgängliches Schlüsselproblem ist die Stereotypisierung der Freiwilligen. Ich habe andernorts festgestellt, dass der typische „Freiwillige“ einer Karikatur des 19.Jahrhunderts entspricht. 50 Die Bezeichnung „Lady Bountiful“ entwickelte sich – wie angedeutet – als herabwertendes Stereotyp älterer Damen aus den mittleren und oberen Gesellschaftsschichten, die sich der Philanthropie und karitativen „gute Taten“ oft aus Statusgründen und zu ihrem eigenen Vorteil widmeten. Die
47
Richard Crossman, The Role of Volunteer in Modern Social Service. Oxford 1974, 3.
48
Finlayson, A Moving Frontier (wie Anm.42), 188.
49
Siehe zum Beispiel Frank Prochaska, Women and Philanthropy in Nineteenth Century England. Ox-
ford 1980; Kathleen McCarthy (Ed.), Lady Bountiful Revisited: Women, Power and Philanthropy. New Brunswick 1990; dies. (Ed.), Women, Philanthropy and Civil Society. Bloomington 2001; Megan Smitley, The Feminine Public Sphere. Middle-Class Women and Civic Life in Scotland, c. 1870–1914. Manchester 2009. 50
Einige der folgenden Darlegungen wurden bereits veröffentlicht in: Melanie Oppenheimer, Voluntary
Work, in: The Encyclopedia of Women & Leadership in Twentieth-Century Australia, http://www.womenaustralia (Zugriff: 10.August 2017).
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Bezeichnung stammt von einer Nebenfigur im Drama „The Beaux Stratagem“ (1707) des englischen Bühnenautors George Farquhar. Darin wird der Charakter der Lady Bountiful als „eine alte, anständige Dame vom Lande“ beschrieben, „die ihre Nachbarn von allen üblen Launen heilt“. Während des Stückes wird Lady Bountiful außerdem „der Ruf der Wohltätigkeit, Güte, des Wohlwollens, der Geschicklichkeit und Begabung“ einer adligen Lady zugeschrieben. 51 Die Bezeichnung „Lady Bountiful“ wurde besonders auf dem Lande verwendet und beschrieb eine Philosophie des „noblesse oblige“, nach der die Frauen und Töchter des örtlichen Gutsbesitzers den Bewohnern ihrer Ländereien einen Besuch abstatteten, „um Fragen zu stellen, Almosen zu spenden oder Befehle zu erteilen“. 52 Solche Verhältnisse waren persönlicher Natur und basierten auf althergebrachten Traditionen sowie auf einem gesellschaftlichen Beziehungsgeflecht, das durch Schicht und Stellung bestimmt wurde. In der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts, während der langen viktorianischen Ära, begannen diese Beziehungen besonders in den Städten zu schwinden. Wie die australische Historikerin Judith Godden nachzeichnet, wurde „mit der zunehmenden Industrialisierung und Urbanisierung der Begriff ‚Lady Bountiful‘ letztlich eine Verunglimpfung“. 53 Indem junge Reformerinnen wie Florence Nightingale und Josephine Butler vernichtende Urteile über die dem Stereotyp entsprechenden (älteren) Damen und ihre sogenannte Privatwohltätigkeit fällten, lieferten sie ein Beispiel für „die oft wiederholte Missbilligung sich überall einmischender Individuen, welche die Gemeinde mit ihrer altmodischen, bevormundenden Lady-BountifulArt, Almosen zu verteilen, in die Verarmung treiben“. 54 In der Blütezeit der Philanthropie bezog sich die Bezeichnung „Lady Bountiful“ auf Frauen, die in erster Linie um des eigenen Prestiges Willen in ihrer Gemeinde gute Taten vollbrachten. Wie Linda Mahood in ihrer Studie zu Eglantyne Jebb und „Save the Children“ feststellt, wurden solche Frauen als „alte Jungfern und Blaustrümpfe, Sozialarbeiter-Typen und Wichtigtuerinnen“ wahrgenommen, die in der Öffentlichkeit eine Vielzahl un-
51 Anthology of Twelve Famous Plays of the Restoration and Eighteenth Century. New York [circa 1952], 502, 540. 52 Leonore Davidoff, The Best Circles. London 1973, 46. 53 Judith Godden, Philanthropy and the Women’s Sphere, Sydney, 1870–circa 1900. Unveröffentlichte Dissertation, Macquarie University Sydney 1983, x. 54 Josephine Butler (Ed.), Women’s Work and Women’s Culture. London 1869, xxvi.
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bezahlter Arbeiten übernahmen. 55 Die amerikanische Philanthropie-Historikerin Kathleen McCarthy fand heraus, dass sich dies im amerikanischen Diskurs ganz ähnlich verhielt. Die langlebige Karikatur von Lady Bountiful war auch hier gemeinhin negativ konnotiert und setzte die Freiwilligenarbeit von Frauen herab. 56 Hier ließe sich für weitere komparative Untersuchungen fragen, ob es im Diskurs über Freiwilligenarbeit, Philanthropie und Wohltätigkeit im Deutschen oder in anderen Sprachräumen eine Entsprechung zu Lady Bountiful gibt, sei es in einem fiktionalen oder historischen Kontext. Eine weitere bekannte literarische Karikatur zur weiblichen Philanthropie des 19.Jahrhunderts stellt die ebenfalls schon kurz erwähnte Mrs. Jellyby aus Charles Dickens’ „Bleak House“ dar. Dieses Werk wurde erstmals 1852/53 in verschiedenen Zeitungen als Fortsetzungsroman abgedruckt. Dickens nahm für seine literarische Figur die Abenteuer der australischen Kolonialreformerin Caroline Chisholm zur Vorlage. In der Historiographie der letzten Jahre hat Chisholm, die zu ihren Lebzeiten als die „Freundin der Immigranten“ gefeiert wurde, kaum Beachtung gefunden. Auch in der Öffentlichkeit gerät sie mehr und mehr in Vergessenheit: 1992 wurde sie zugunsten von Königin Elizabeth II. von der australischen Fünf-Dollar-Banknote entfernt. 57 Zwischen „vierzig und fünfzig“ Jahren alt, übt Mrs. Jellyby das aus, was Dickens als „teleskopische Philanthropie“ charakterisiert, das heißt die Beteiligung an vielen wohltätigen Organisationen und philanthropischen Werken in Afrika oder anderswo in Übersee – in ihrem Fall am „Borrioboola-Gha-Plan“, für den sie ihre eigene Familie, ihre Kinder, ihr Erscheinungsbild und ihre häuslichen Pflichten vernachlässigt. 58 Wenngleich die Philanthropie im Verlauf des 20.Jahrhunderts zunehmend egalitärer wurde – wobei insbesondere die beiden Weltkriege „die ideologische Grenze karitativer Arbeit“ verschoben, so dass während des Zweiten Weltkriegs „gewöhnliche Leute“ wie die Rote Bete-Verkäuferin „Mrs. B.“ im Erholungszentrum von Isling-
55
Linda Mahood, Feminism and Voluntary Action. Eglantyne Jebb and Save the Children, 1876–1928.
Basingstoke 2009, 7. 56
Siehe zum Beispiel McCarthy (Ed.), Lady Bountiful Revisited (wie Anm.49), 1.
57
Siehe Margaret L. Kiddle, Caroline Chisholm. Melbourne 1957; Judith Iltis, Chisholm, Caroline (1808–
1877), in: Australian Dictionary of Biography (1996), http://adb.anu.edu.au/biography/chisholm-caroline1894/text2231 (Zugriff: 10.August 2017). 58
Angela Woollacott, Settler Society in the Australian Colonies. Self-Government and Imperial Culture.
Oxford 2015, 134f.
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ton zu „natürlichen Führungspersönlichkeiten“ werden konnten –, bestand das Stereotyp fort. 59 In den 1990ern bestätigte die australische Soziologin Cora Baldock die Existenz dieser negativen Wahrnehmung weiblicher Freiwilliger, indem sie deren öffentliches Bild als „alte Damen mit silberblau getöntem Haar“ beschrieb, „welche die Armen gönnerhaft mit Almosen in Form von Wertmarken bemuttern“. 60 Die negativen Stereotype von Lady Bountiful und – in geringerem Maße – Mrs. Jellyby leben fort und verfolgen Freiwillige wie auch die Freiwilligenarbeit allgemein bis zum heutigen Tage. Die sowohl aus historischer als auch aus zeitgenössischer Perspektive verzerrte Wahrnehmung, die sich in ihnen widerspiegelt, wirkt sich auf Freiwilligenarbeit ebenso wie auf die Sicht ihrer Geschichte negativ aus – und das hängt vielfach auch mit Genderfragen zusammen. Wie Jos Sheard Mitte der 1990er Jahre pointiert formulierte, ist das „Freiwilligen-Stereotyp eine aus der Mittelschicht stammende weiße Frau mittleren Alters; allerdings bestätigt die Forschung dieses Stereotyp nicht“. 61 Es gibt geschlechtsspezifische Bereiche von Freiwilligenarbeit, die sich in der Vergangenheit herausgebildet haben und bis heute fortbestehen. Die Sozialfürsorge beispielsweise als Feld, das traditionell von Frauen dominiert wird, findet in der Historiographie oft Berücksichtigung, weniger jedoch die freiwillige Katastrophenhilfe, Brandbekämpfung, Notfalldienste und Sportvereinsarbeit, die vorwiegend von Männern geleistet wurden und werden. Durch den starken Fokus auf die Sozialfürsorge wird die Aufmerksamkeit der historischen Forschung von diesen Formen der Freiwilligenarbeit abgelenkt. 62 Der dem Stereotyp folgende Fokus hat überdies die Bedeutung von Philanthropen – beiderlei Geschlechts, wenn auch überwiegend von Frauen – aus den mittleren und höheren Gesellschaftsschichten hervorgehoben, während er gegenseitige Unterstützung und Selbsthilfe, das heißt die weniger bekannten, aber unverzichtbaren Komponenten von voluntary action, wie sie Beveridge und andere definierten, außer Acht
59 Zitiert in Finlayson, A Moving Frontier (wie Anm.42), 201. 60 Cora V. Baldock, Volunteers in Welfare. Sydney 1990, 4. 61 Jos Sheard, From Lady Bountiful to Active Citizen. Volunteering and the Voluntary Sector, in: Davis Smith/Rochester/Hedley (Eds.), An Introduction to the Voluntary Sector (wie Anm.3), 113–126, hier 120. Zur Bedeutung freiwilliger Arbeit im Kontext bezahlter und unbezahlter Arbeit siehe Oppenheimer, We All Did Voluntary Work (wie Anm.17), 1–9. 62 Colin Rochester, Revisiting the Roots of Voluntary Action, Vortrag vom 13.Januar 2014 auf dem Seminar der Voluntary Action History Society im Institute for Social Research in London, PDF online unter: www.vahs.org.uk/wp-content/uploads/2010/08/2014–01–13-Rochester-Revisits.pdf .
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ließ oder an den Rand drängte. Wir haben uns also durch diese Privilegierung der Philanthropiegeschichtsschreibung auf die mittleren und höheren Gesellschaftsschichten beschränkt – und haben hier speziell nach der Bedeutung von Frauen gefragt, die sich einen Weg in die Öffentlichkeit gebahnt haben. Aber diese Perspektive verdeckt die wichtige Rolle von Freiwilligen anderer gesellschaftlicher Herkunft, obwohl Freiwilligenarbeit durchaus auch von der Arbeiterschaft geleistet wurde: in informellen wie auch formellen Rahmen und Netzwerken, etwa in Gewerkschaften, Kooperativen und Selbsthilfegruppen, in Kirchengruppen oder in wohltätigen Organisationen. In Bezug auf weibliche Freiwillige hat der australische Experte für Arbeitergeschichte Bobbie Oliver festgehalten, dass die „organisierte Arbeiterbewegung in Westaustralien durch die Bemühungen von Freiwilligen überlebt [hat] und aufgeblüht ist“. 63 Frauen wie Mary Swanton von der „Coastal Tailoresses’ Society“ und Jean Beadle, die Gründerin der ersten Arbeiterinnenorganisation in Westaustralien, waren Anführerinnen, Aktivistinnen und freiwillige Helferinnen. Ihr Leben wurde von einer unermüdlichen freiwilligen Einsatzbereitschaft für Frauen aus der Arbeiterschicht bestimmt. Es gab „Karriere“-Freiwillige oder, wie es Arlene Daniels formulierte, „Gemeinschaftsdienstexpertinnen mit unsichtbaren Karrieren“. 64 Schließlich klingt in der zeitgenössischen Historiographie auch das marxistische Paradigma zu Arbeit und Arbeitern, das den historischen Diskurs so lange beherrschte, noch immer nach. Es hat viele Arten von voluntary action „unsichtbar“ gemacht und besonders die Freiwilligenarbeit von Frauen herabgesetzt. Dies trug dazu bei, dass Freiwilligenarbeit in der zweiten Frauenbewegung zu einem Konfliktthema wurde. Dieses Spannungsfeld beeinflusst bis heute, wie Geschlecht und Freiwilligenarbeit wahrgenommen werden. Die Rolle, die Historikerinnen der neuen Frauenbewegung in den frühen 1970er Jahren eingenommen haben, indem sie weibliche Freiwilligenarbeit größtenteils ignorierten, war besonders problematisch, denn gerade in diesem Jahrzehnt war die von Frauen geleistete Freiwilligenarbeit sehr bemerkenswert. Zum Konflikt kam es, als die US-amerikanische „National Organisation for Women“ (NOW) 1973 einen Beschluss fasste, in dem behauptet wurde, dass Freiwilligenarbeit nichts weiter sei als ein Zusatz zu unbezahlter Hausarbeit, der das Minderwertigkeitsgefühl der Frau verfestige. Ferner sei „Freiwilligenarbeit die Lö-
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Bobbie Oliver, ,In the Thick of Every Battle for the Cause of Labor‘. The Voluntary Work of the Labor
Women’s Organisations in Western Australia, 1900–70, in: Labour History 81, 2001, 93–108, hier 93. 64
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Arlene Daniels, Invisible Careers. Women Civic Leaders from the Volunteer World. Chicago 1988, xxvi.
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sung der Gesellschaft für diejenigen […] Frauen gewesen, für die es kaum wirkliche Möglichkeiten zur Berufswahl gab“. 65 Allein freiwillige Tätigkeit in „veränderungsorientierten“ Bereichen akzeptierte die NOW, das heißt in Bereichen, in denen Freiwilligenarbeit als Aktivismus die gesellschaftliche Stellung der Frau verbessern und dadurch einen positiven Beitrag zum Status der Frauen allgemein leisten könne. Feministische Historikerinnen der neuen Frauenbewegung waren nicht daran interessiert, Freiwilligenarbeit von Frauen zu analysieren – dies galt insbesondere für das 20.Jahrhundert. Ganz im Gegenteil: Sie haben diese absichtlich ignoriert. An anderer Stelle habe ich argumentiert, dass feministische Historikerinnen die Erforschung von voluntary action und weiblicher Freiwilliger unter anderem auch wegen deren fortbestehender Stereotypisierung unterlassen haben. 66 Ebenso wenig waren feministische Sozialtheoretikerinnen, Ökonominnen und Soziologinnen geneigt, Freiwilligenarbeit in ihre Analysen unbezahlter häuslicher Arbeit von Frauen mit aufzunehmen. Eine nennenswerte Ausnahme in der australischen Forschung sind die Arbeiten der Soziologin Cora Baldock. In der umfangreichen Historiographie zur Frauenarbeit lag der Schwerpunkt immer auf bezahlter Arbeit, auf dem Niederreißen gesellschaftlicher Schranken durch Frauen – dem Durchbrechen der „gläsernen Decke“, auf häuslicher Arbeit und Arbeitsteilung. 67 In den seltenen Fällen, in denen frühe feministische Historikerinnen wie etwa Carmel Shute im Jahr 1980 das Thema freiwilliger Helferinnen aufgriffen, bestätigte ihr Ansatz auf wenig schmeichelhafte Weise das Klischee der Lady Bountiful. Shute beteuerte energisch, dass die ehrenamtliche Arbeit bürgerlicher Frauen den Status von Frauen in der Erwerbswelt generell untergrub und es der Regierung ermöglichte, niedrigere Löhne für Arbeiterinnen in der Kriegsindustrie durchzusetzen. 68 Diese abwertende Auffassung wurde von Historikerinnen des Zweiten Weltkriegs beibehalten, etwa von Kate DarianSmith. Diese konzentrierte sich auf Akteursgruppen, die sie als die „müßigen Oberund Mittelschichten“ bezeichnete, die „das Geld besaßen, um das Drum und Dran
65 NOW Task Force on Volunteerism, November 1973, in: Ms Magazine III, February 1975, 73. 66 Siehe zum Beispiel Oppenheimer, Voluntary Work (wie Anm.17), 1–9. 67 Es gibt viele Beispiele wie etwa Janeen Baxter, Work at Home. The Domestic Division of Labour. St. Lucia 1993. 68 Carmel Shute, From Balaclavas to Bayonets. Women’s Voluntary War Work, 1939–41, in: Hecate 6, 1980, 5–26.
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wie Uniformen und Abzeichen zu kaufen“. 69 Dieses einseitige und unsympathische Porträt bekräftigte das Stereotyp und die negative Sicht der weiblichen Freiwilligenarbeit. Es gibt jedoch Ausnahmen. Neben der erwähnten Cora Baldock ist hier die Amerikanerin Herta Loeser zu nennen. In ihrer 1974 erschienenen Studie „Women, Work and Volunteering“ befürwortete Loeser das Konzept der Freiwilligenarbeit und betrachtete sie als positiven Faktor im Leben vieler Frauen. Sie bestätigte zwar, dass ehrenamtliches Handeln oft stereotype Genderrollen zementiert und manche der fähigsten und dynamischsten Frauen dadurch der Erwerbsarbeit entzogen habe. 70 Sie stellte jedoch auch fest, dass die feministische Bewegung des späten 19. und frühen 20.Jahrhunderts von Frauen dominiert wurde, die selbst als Freiwillige tätig waren. Seit den Tagen von Mary Wollstonecraft stammten die Akteurinnen, die sich für die Sache der Frauen interessierten, aus den mittleren und höheren Gesellschaftsschichten. Sie waren gebildet, eloquent und um die Stellung der Frauen in ihrer jeweiligen Gesellschaft besorgt. Sie standen der Kirche nahe und sprachen sich für die Tugenden der Weiblichkeit, Religiosität, Reinheit und der Fürsorglichkeit für ihre Mitmenschen aus. Sie waren die Vorläuferinnen der zweiten Frauenbewegung. Die manchmal recht hitzig geführten Forschungsdiskussionen gingen in Amerika etwa mit Doris B. Golds „Opposition to Volunteerism. An Annotated Bibliography“ (1979) und Wendy Kaminers die Freiwilligenarbeit positiv würdigenden Text „Women Volunteering“ (1984) weiter. 71 Die Ansicht jedoch, dass ehrenamtliche Tätigkeit nur ein weiteres Beispiel der Unterordnung von und Herrschaft über Frauen in einer patriarchalischen Gesellschaft darstelle, blieb dominant. Freiwilligenarbeit habe Frauen davon abgehalten, einer bezahlten Beschäftigung nachzugehen. Dass das Klischee der Lady Bountiful hier ebenfalls als gültige Charakterisierung akzeptiert wurde, ist bezeichnend für die fest verwurzelte und starre Einstellung zur weiblichen Freiwilligenarbeit. Wie Baldock zeigt, haben Feministinnen bedeutende Beiträge zur „Dekonstruktion der künstlichen Trennlinie zwischen öffentlicher und privater Sphäre“ geleis-
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Kate Darian-Smith, On the Home Front. Melbourne in Wartime, 1939–1945. South Melbourne 1990,
55, 62. 70
Herta Loeser, Women, Work and Volunteering. Boston 1974, 27.
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Doris B. Gold, Opposition to Volunteerism. An Annotated Bibliography. Chicago 1979; Wendy Kaminer,
Women Volunteering. New York 1984.
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tet, indem sie ihren Fokus auf das Verhältnis von unbezahlter häuslicher Frauenarbeit und Öffentlichkeit richteten. 72 Ihre Analyse schloss jedoch die ehrenamtliche Tätigkeit nicht mit ein. Diese Art von Beschäftigung, die „in einem einzigartigen Bereich, am Schnittpunkt von öffentlichem und privatem Leben“ stattfand, wurde zum Großteil ignoriert. 73 Baldock behauptet, dass Frauen, die einer freiwilligen Tätigkeit nachgehen, diese als der öffentlichen Sphäre zugehörig betrachten und als Mittel, um sich von der Häuslichkeit und von ihren „natürlichen Verpflichtungen“ zu befreien. Durch Freiwilligenarbeit leisten sie nach eigener Anschauung einen Beitrag zur Gesellschaft als Ganzes. 74 Der Widerwille der Feministinnen und Arbeitshistoriker/innen, „ehrenamtliche Tätigkeit in ihren Analysen als echte Arbeit anzuerkennen“, ist Joanne Scott zufolge auf politische Bedenken der Wohltätigkeit und Philanthropie gegenüber zurückzuführen. 75
Schluss Dass Freiwilligenarbeit historiographisch wenig Beachtung fand, bedeutet nicht, dass sie in der Vergangenheit nicht existierte. 76 Ehrenamtliche Tätigkeit wurde immer als „Leichtgewicht“ wahrgenommen, als etwas Randständiges, das nicht in die echte Welt bezahlter Arbeit hineingehöre. Einen Einfluss darauf, wie diese Art von Beschäftigung in unserer Gesellschaft im Laufe der Zeit ganz allgemein wahrgenommen wurde, haben nicht zuletzt unsere geschlechtsspezifischen Stereotype von Freiwilligenarbeit ausgeübt. Als Historikerinnen und Historiker können wir einen wichtigen Beitrag dazu leisten, nicht nur neue Forschungsbereiche zu erschließen, sondern auch ein alternatives Narrativ zu entwerfen – eines, das Freiwilligenarbeit zum zentralen Thema geschichtswissenschaftlicher Forschung macht, um frische und unerwartete Fragen aufzuwerfen und dadurch neue und innovative Methoden zur Untersuchung der Vergangenheit zu entdecken.
72 Cora V. Baldock, Feminist Discourses of Unwaged Work. The Case of Volunteerism, in: Australian Feminist Studies 13, 1998, 19–34, hier 23. 73 Ebd.23. 74 Baldock, Volunteers (wie Anm.60), 127. 75 Joanne Scott, Voluntary Work as Work? Some Implications for Labour History, in: Labour History 74, 1998, 10–20, hier 11. 76 Oppenheimer, Volunteering (wie Anm.28), 25.
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Der freiwillige oder dritte Sektor ist für das erfolgreiche Funktionieren einer Gesellschaft ebenso unerlässlich wie die Zusammenarbeit von Regierung, privaten Unternehmen, Wirtschaft und bezahlter Arbeit. Dies ist ein Schlüsselelement dessen, was Anthony Giddens als „dreibeinigen Stuhl“ bezeichnete, bei dem Regierung, Wirtschaft und bürgerliche Gesellschaft sich im Gleichgewicht zueinander verhalten müssten. Dominiert eine Komponente, „sind unersprießliche Konsequenzen die Folge“. 77 Es ist erstaunlich, dass wir in der Vergangenheit weite Bereiche der Geschichte unbeachtet gelassen lassen. Besonders in der Zeit nach 1945 werden wir mit einem transnationalen Ansatz, der danach fragt, wie verschiedene Kulturen, Gesellschaften und Länder ehrenamtliche Tätigkeit, voluntary action und NGOs historisch aufgearbeitet haben, viele Ähnlichkeiten, aber auch Unterschiede entdecken: nicht nur im Hinblick darauf, wie diese Aspekte unsere Geschichte beeinflusst haben, sondern auch darauf, wie sich die Hauptakteure – die Freiwilligenorganisationen und die Freiwilligen selbst – im Laufe der Zeit verändert haben. Schließlich werden wir sehen, wie komplex und vielseitig diese Akteure sind. Die Analyse von voluntary action bereichert unser Wissen über die Vergangenheit allgemein.
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Anthony Giddens, Runaway World. How Globalisation Is Reshaping Our Lives. London 2002, 78.
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Humanitäre Hilfe Eine Braudel’sche Perspektive von Norbert Götz, Georgina Brewis und Steffen Werther
Die Geschichte des Humanitarismus hat sich in jüngerer Zeit zu einem lebhaft diskutierten Forschungsgebiet entwickelt, mit zunehmend detaillierten Studien zu zentralen Organisationen und bedeutenden Einsätzen. Noch ist das Feld im Entstehen begriffen, weshalb bislang kaum übergreifende Synthesen zur Verfügung stehen und lediglich eine Handvoll Versuche unternommen wurden, unterschiedliche Muster humanitärer Hilfe zeitlich voneinander abzugrenzen. Bezeichnend sind die zahlreichen Verweise auf Merle Curtis Studie von 1963, „American Philanthropy Abroad“, die bis heute als Standardwerk zur USA gilt. 1 Erst seit 2011 liegt mit Michael Barnetts „Empire of Humanity“ eine weitere große Gesamtschau vor, welche den Humanitarismus in eine breitere westliche Perspektive stellt. 2 Darüber hinaus liefern nur noch einige kürzere Überblicksdarstellungen weitere Ansätze, charakteristische Perioden oder Zäsuren für die humanitäre Hilfe zu bestimmen. 3 Der vorliegende Beitrag knüpft an diese Diskussionen an, indem er stärker als die bisherige Forschung gesellschaftliche Faktoren (unter anderem Aspekte der Kultur, Medien und Ökonomie) betont. Er propagiert im Sinne Braudels eine neue Periodisierung des Humanitarismus, die in strukturellen Entwicklungen der transatlantischen Geschichte begründet ist und nicht in der Ereignisgeschichte, die sich zeitgenössischer Wahrnehmung aufdrängt. 4 Vor diesem Hintergrund empfehlen wir eine
1 Merle Curti, American Philanthropy Abroad. A History. New Brunswick 1963; jüngst Heike Wieters, The NGO CARE and Food Aid from America 1945–80. „Showered with Kindness“? Manchester 2017, 11 Anm.27.
2 Michael Barnett, Empire of Humanity. A History of Humanitarianism. Ithaca 2011. Siehe auch Monographien in anderen Sprachen, u.a. Silvia Salvatici, Nel nome degli atri. Storia dell’umanitarismo Internazionale. Bologna 2015; Philippe Ryfman, Une histoire de l’humanitaire. 2ième éd. Paris 2016. Vgl. auch angrenzende Werke wie Tom Davies, NGOs. A New History of Transnational Civil Society. London 2013. 3 Eleanor Davey/John Borton/Matthew Foley, A History of the Humanitarian System. Western Origins and Foundations. London 2013; Johannes Paulmann, Conjunctures in the History of International Humanitarian Aid during the Twentieth Century, in: Humanity 4, 2013, 215–238; Kevin O’Sullivan/Matthew Hilton/Juliano Fiori, Humanitarianism in Context, in: European Review of History 23, 2016, 1–15. 4 Fernand Braudel, Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II. 3 Bde. Frankfurt
HTTPS :// DOI . ORG / 10.1515/9783110627442-005
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Reformulierung der Fragestellung vom „Was“ zum „Wie“ und eine auf die inneren Bedingungen von Hilfsaktionen statt auf äußere Impulse verweisende Neubestimmung der Geschichte des Humanitarismus. Damit ist zugleich eine Einordnung der Geschichte humanitärer Hilfe in die zivilgesellschaftlichen Engagements im Ganzen verbunden. Da jede Periodisierung problematisch wird, wenn sie zur Zwangsjacke gerät, ist unser Ziel lediglich die Bereitstellung eines heuristischen Instruments, das zum besseren Verständnis humanitärer Aktivitäten in ihrem zeitlichen Kontext beiträgt. Wir illustrieren unsere Zeiteinteilung mit drei Episoden transnationaler Hungerhilfe, namentlich der Großen Hungersnot in Irland in den 1840er Jahren, der Hungersnot in Sowjetrussland 1921 bis 1923 sowie der Hungersnot in Äthiopien Mitte der 1980er Jahre. Zu den Anfängen humanitärer Hilfe liegen kaum Quellen und Forschungen vor. So klafft eine auffällige zeitliche Lücke zwischen der vielfach zitierten Anti-Sklavereibewegung des späten achtzehnten Jahrhunderts und materiellen Hilfsaktionen, die sich scheinbar nicht vor der Entstehung des Roten Kreuzes in den 1860er Jahren – und auf breiterer Grundlage erst ab den 1910er und 1940er Jahren – ausbreiteten. Jedoch verknüpften sich bereits im heimischen Aktivismus vieler Sklavereigegner soziopolitische Reformbestrebungen und das Engagement für wohltätige Zwecke. 5 Tatsächlich war in Großbritannien an der Wende zum neunzehnten Jahrhundert Auslandshilfe eng verflochtener Bestandteil eines breiten religiös motivierten Aktivismus. 6 Ähnlich war die Situation andernorts. Die 1835 in Paris gebildete „Société Internationale des Naufragés“ (Internationale Gesellschaft für Schiffbrüchige) war vermutlich die erste genuin transnationale Organisation, zerfiel aber nach wenigen Jahren. 7 Die zwei Jahre zuvor am gleichen Ort gegründete „Société de Saint-Vincentde-Paul“ (SSVP) entwickelte sich Mitte der 1840er Jahre gleichfalls zu einer transnationalen humanitären Organisation und wurde zum Modell für die Einbettung lokaler Wohltätigkeit in einen expandierenden globalen Rahmen. 8 am Main 1990 (1949); Martin Sabrow, Zäsuren in der Zeitgeschichte, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, http://dx.doi.org/10.14765/zzf.dok.2.246.v1 (Zugriff: 22.Dezember 2017). 5 Stephen Tomkins, The Clapham Sect. How Wilberforce’s Circle Transformed Britain. Oxford 2010, 12; Ford K. Brown, Fathers of the Victorians. The Age of Wilberforce. Cambridge 1961, 374f. 6 Norbert Götz, Rationales of Humanitarianism. The Case of British Relief to Germany 1805–1815, in: Journal of Modern European History 12, 2014, 186–199. 7 Thomas Davies, Rethinking the Origins of Transnational Humanitarian Organizations. The Curious Case of the International Shipwreck Society, in: Global Networks 18, 2018, 461–478. 8 Albert Foucault, La Société de Saint-Vincent de Paul. Histoire de cent ans. Paris 1933; Georges Patrick
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Der Erfolg des Abolitionismus basierte auf einem dem kapitalistischen Marktdenken und seinen rechtlichen Rahmenbedingungen verwandten kognitiven Stil sowie auf neuen Formen der Identifikation und Wahrnehmung moralischer Verantwortung für „distant strangers“. 9 Als reflexives Korrektiv, das die moralische Ordnung gewährleisten sollte, war das Aufkommen humanitärer Praktiken neben der Entwicklung materieller und logistischer Kapazitäten, verbesserter Kommunikation und einem erweiterten Erfahrungsraum integraler Bestandteil der Transformation und Expansion des Westens. Die Geschichte des Humanitarismus lässt sich aus der Abfolge der diese Welt formenden politisch-ökonomischen Regime begreifen.
I. Eine revisionistische Periodisierung In Barnetts Darstellung bilden die Jahre 1945 und 1989 Wendepunkte humanitärer Hilfe. Barnett macht sich damit zum Fürsprecher geopolitischer Deutungsmuster und erliegt einer Gegenwartsfixierung, die akademische Sichtweisen auf ähnliche Weise verzerrt wie den Diskurs der Hilfsorganisationen selbst. 10 Die von ihm verwendete Zeiteinteilung ist dabei sachlich problematisch und terminologisch irreführend. Aus unserer ökonomischen und kulturellen Perspektive stellt sich der von Barnett proklamierte Epochenbegriff „imperial humanitarianism“ als unzureichende Charakterisierung der Zeit vom Ende des achtzehnten Jahrhunderts bis 1945 dar, „neo-humanitarianism“ ist lediglich ein tautologisches Derivat des Begriffs NeoKolonialismus, und die Bezeichnung „liberal humanitarianism“ vermittelt ein trügerisches Bild der Situation seit 1989. 11 Vergleichbar mit der problematischen Ge-
Speeckaert, The 1978 International Organisations Founded since the Congress of Vienna. Chronological List. Brüssel 1957, xiv, 1. 9 Thomas L. Haskell, Capitalism and the Origins of the Humanitarian Sensibility. Part 1–2, in: The American Historical Review 90, 1985, 339–361, 547–566, hier 342, 550, 556, 563. 10 Zu unterschiedlichen Aspekten dieses Präsentismus siehe Peter Stamatov, The Origins of Global Humanitarianism. Religion, Empires, and Advocacy. New York 2013, 8; John Borton, Improving the Use of History in the International Humanitarian Sector, in: European Review of History 23, 2016, 193–209. 11 Barnett, Empire of Humanity (wie Anm.2).
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genüberstellung von Mittelalter und Neuzeit 12, suggeriert Barnetts Etikettierung eine progressive Entwicklung humanitärer Hilfe, und das obwohl gegenwärtig zahlreiche Praktiker und Beobachter die zunehmende Manipulation humanitärer Intervention durch Regierungen und quasi-imperiale Koalitionen beklagen. Die Bezeichnung „imperialer Humanitarismus“ scheint zudem für aktuelle Formen von Nichtregierungsorganisationen wie „force multiplier“ treffender als für die zivilgesellschaftlichen Organisationen der Blütezeit des Imperialismus, in der humanitäre Aktionen ihrerseits fest in der liberalen Ordnung ihrer Zeit verankert waren. Insgesamt postuliert die historiographische Überblicksliteratur zum Humanitarismus fünf Zäsuren (siehe Tabelle 1). Wo Autoren Perioden nicht selbst benannt haben, haben wir aus ihren Beschreibungen eine Bezeichnung destilliert (derartige Benennungen werden in Klammern aufgeführt). Die entscheidenden zeitlichen Einschnitte fallen dabei in zwei Kategorien: a) geopolitische Zäsuren wie der Erste und Zweite Weltkrieg oder das Ende des Kalten Krieges und b) die kulturell und sozioökonomisch folgenreichen Jahre um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert und um 1968. Während sich zwei der Periodisierungsangebote ausschließlich auf geopolitische Faktoren stützen, vermengen die übrigen geopolitische und gesellschaftliche Gesichtspunkte. Alle aktuellen Studien betrachten das Jahr 1989 als Wendepunkt der Geschichte humanitären Engagements. Unser ausschließlich kulturell und sozioökonomisch argumentierender Ansatz bietet mithin eine gesellschaftsorientierte Alternative gegenüber dem sich aus offiziellen, interventionistischen und bellizistischen Perspektiven speisenden geopolitischen Paradigma, das sich in der Humanitarismusforschung durchgesetzt hat. Tabelle 1 kontrastiert die bestehenden Vorschläge der Identifizierung unterschiedlicher Phasen humanitärer Hilfe mit dem alternativen Ansatz, der unserer Arbeit zugrunde liegt. Wir unterscheiden drei Phasen humanitärer Hilfstätigkeit mit spezifischen gesellschaftlichen und internationalen Rahmenbedingungen: a) das Ad Hoc-Engagement des neunzehnten Jahrhunderts, b) organisierte, auf Planung und Wirtschaftlichkeit angelegte Hilfsoperationen, wie sie weite Teile des zwanzigsten Jahrhunderts prägten, und c) den expressiven Humanitarismus, in seiner für das halbe Jahrhundert seit 1968 charakteristischen Form. Diese Zeiteinteilung deckt sich mit den politökonomischen Regimen elitären Laissez-faire-Liberalismus, massengesell12
Kathleen Davis, Periodization and Sovereignty. How Ideas of Feudalism and Secularization Govern the
Politics of Time. Philadelphia 2008.
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Tabelle 1: Perioden und Wendepunkte des Humanitarismus unterschiedlicher Autoren
schaftlichen Taylorismus sowie der Gemengelage individualisierter postmaterialistischer Lebensstile, flexibler Produktions- und Kommunikationsformen und neoliberaler Steuerungsmodelle, die die Gegenwart prägen. Sie sind zugleich verbunden mit drei distinkten industriellen Revolutionen (um 1800, 1900 und 1970). In unserem Vorschlag schwingt insofern Skepsis gegenüber der Vorstellung eines „kurzen“ zwanzigsten Jahrhunderts von 1914 bis 1989 mit. Stattdessen sind wird der alternativen Lesart eines „langen“ Jahrhunderts verpflichtet, das sich von den 1890er Jahren bis zur Gegenwart erstreckt, jedoch mit den 1970er Jahren als einem markanten inneren Wendepunkt. 13 Nicht selten betrachtet die relevante Literatur die 1930er Jahre mit ihren Krisen und dem Durchbruch des Keynesianismus als einen weiteren formativen Moment. Doch verstärkte sich zu dieser Zeit der positivistische Glaube an standardisierte gesellschaftliche Steuerung, der seinen Durchbruch mit dem Social Engineering-Paradigma der 1890er erlebt hatte, eher als dass er sich grundlegend verändert hätte. 14 Bei näherer Betrachtung stellen sich die Ära der Weltkriege und die neue Weltordnung nach dem Ende des Kalten Krieges überdies weniger als autonome wirkungsmächtige Zäsuren dar, denn als Folge vorangegangener Entwicklungen. Entscheidende Voraussetzungen werden in der Allianzpolitik der 1890er Jahre beziehungsweise der Entspannungspolitik und dem Aufstieg der muslimischen Welt und Chinas seit den 1970er Jahren gesehen. 15 Die Jahrhundertwende und die 1970er Jahre sind zudem als die beiden Phasen des zwanzigsten Jahrhunderts herausgearbeitet worden, in denen Internationalisierungstendenzen vorherrschten 16, was eine rasche Verbreitung neuer Modelle und Praktiken begünstigte. Die Bezeichnung unserer ersten beiden Perioden als „Ad Hoc-Humanitarismus“ und „Organisierter Humanitarismus“ leitet sich von Curtis Arbeiten ab (der seine Ären selbst nicht benannte). 17 Der Begriff „Organisierter Humanitarismus“ spiegelt auch die Ausbreitung von „Organisation“ als Leitbild des frühen zwanzigsten Jahr13
Henrik Meinander, Det långa 1900-talet, in: Henrik Meinander/Petri Karonen/Kjell Östberg (Eds.), De-
mokratins drivkrafter. Kontext och särdrag i Finlands och Sveriges demokratier 1890–2020. Helsinki 2018, 25–64; Mary Nolan, The Transatlantic Century. Europe and America, 1890–2010. Cambridge 2012; Lennart Schön, Tankar om cykler. Perspektiv på ekonomin, historien och framtiden. Stockholm 2006; siehe auch Thomas Piketty, Das Kapital im 21.Jahrhundert. München 2014. 14
Carl Marklund, Bridging Politics and Science. The Concept of Social Engineering in Sweden and the
USA, circa 1890–1950. Diss. phil. European University Institute 2008.
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Meinander, Det långa 1900-talet (wie Anm.13).
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Glenda Sluga, Internationalism in the Age of Nationalism. Philadelphia 2013.
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Curti, American Philanthropy Abroad (wie Anm.1), 619–623.
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hunderts, wie sie in Rudolf Hilferdings Theorem des „Organisierten Kapitalismus“ oder den Aspirationen der internationalistischen Bewegung dieser Zeit deutlich wird. 18 Insofern teilen wir Curtis Auffassung, dass der Erste Weltkrieg, wiewohl er humanitäre Hilfsmaßnahmen in neuem Umfang beförderte, nur der Endpunkt einer Transformation philanthropischer Perspektiven und Methoden war, die bereits zwei Jahrzehnte andauerte. 19 Der Erste Weltkrieg und die anschließende Zeit politischer und wirtschaftlicher Unruhe, mit kollabierenden Imperien, Bürger- und Grenzkriegen, Vertreibung und Flüchtlingswellen, ließ einen unerschöpflichen humanitären Markt entstehen. Aus diesem Grunde und durch seine breitgefächerten Modernisierungsanreize wurde der Krieg zur Drehscheibe des Organisierten Humanitarismus, welcher den amateurhaften Ad Hoc-Humanitarismus endgültig verdrängte. 20 Der Aufstieg internationaler und humanitärer Organisationen setzte jedoch nur einen Trend fort, der vom Ersten Weltkrieg unterbrochen worden war. 21 Bereits Ende des neunzehnten Jahrhunderts hatten Außenhandel und wachsende Mobilität von Kapital und Arbeit neue transnationale Verbindungen und Abhängigkeiten geschaffen. Die ökonomische Globalisierung dieser Zeit, mit der ihr zugrundeliegenden liberalen Ideologie und zunehmendem Wohlstand, insbesondere in den USA, stärkte die globale Zivilgesellschaft, einschließlich ihrer philanthropischen Zweige. 22 Neue Kommunikations- und Transportmittel verstärkten diese Entwicklung um die Jahrhundertwende und begünstigten die Bildung transnationaler Organisationen und eines „globalen Bewusstseins“. 23 Die russische Hungersnot 1890/91, während derer sich eine zögerliche US-Regierung dazu bewegen ließ, Hilfsmaßnahmen logistisch zu unterstützen, war vermut-
18 Heinrich August Winkler (Hrsg.), Organisierter Kapitalismus. Voraussetzungen und Anfänge. Göttingen 1974; Guido Grünewald (Hrsg.), „Organisiert die Welt!“ Der Friedensnobelpreisträger Alfred Hermann Fried (1864–1921) – Leben, Werk und bleibende Impulse. Bremen 2016. 19 Curti, American Philanthropy Abroad (wie Anm.1), 621f. 20 Branden Little, An Explosion of New Endeavours. Global Humanitarian Responses to Industrialized Warfare in the First World War Era, in: First World War Studies 5, 2014, 1–16, 1; Barnett, Empire of Humanity (wie Anm.2), 86; Paulmann, Conjunctures (wie Anm.3), 225f. 21 Akira Iriye, Global Community. The Role of International Organizations in the Making of the Contemporary World. Berkeley 2002, 20. 22 Andrew Arsan/Su Lin Lewis/Anne-Isabelle Richard, Editorial. The Roots of Global Civil Society and the Interwar Moment, in: Journal of Global History 7, 2012, 157–165, hier 158. 23 Iriye, Global Community (wie Anm.21), 11.
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lich das erste Ereignis, bei dem ein an der Schnittstelle protestantischer Mission und liberalen Zivilisierungsdenkens entstehendes weitreichendes humanitäres Engagement wirksam wurde. In den USA wird die letzte Dekade des neunzehnten Jahrhunderts auch als Übergang von einer „non-interventionist tradition“ hin zu einem „missionary humanitarianism“ interpretiert. 24 Die 1890er Jahre wurden generell zu einer fruchtbaren Dekade für die Fortentwicklung humanitärer Praktiken 25 und leiteten einen jahrzehntelangen Wandlungsprozess ein, in dessen Verlauf Experten – Ärzte, Sozialarbeiter und Ingenieure, später auch Public Relations-Spezialisten und Buchhalter – eine zunehmend aktive Rolle übernahmen und wissenschaftliche und technologische Innovationen sowie neue Medien und Geschäftsmodelle durchsetzten. Curti hat in seiner Periodisierung auf die Verflechtung von freiwilligem und staatlichem Handeln ebenso hingewiesen wie auf die Institutionalisierung von Hilfsmaßnahmen im Vorfeld des Spanisch-Amerikanischen Krieges von 1898. Seiner Analyse zufolge marginalisierte der rationale und bürokratische, halboffizielle Ansatz des Roten Kreuzes in den USA (ARC) amateurhafte Hilfsaktionen älteren Zuschnitts. Beide Formen hätten nebeneinander fortbestanden, doch sei das Vordringen von organisatorischen Strukturen, Massenapellen und staatlicher Einmischung mit grundlegenden Veränderungen im humanitären Engagement einhergegangen. 26 Ähnlich betont Ian Tyrell die vernetzte Kultur des Humanitarismus, die sich als Antwort auf ferne Not in den 1890ern „through the historical experience of organized giving“ entwickelt habe. Er verweist zudem auf die allmähliche Ablösung spezifischer Einzelinteressen durch die systematischere Arbeit von Stiftungen im folgenden Jahrzehnt. 27 Georgina Brewis’ Studie zur Hungerhilfe in Indien Ende des neunzehnten Jahrhunderts arbeitet den Übergang von religiöser Philanthropie hin zu organisierter Fürsorge heraus. 28 Der Vorkriegsimperialismus hatte einer anderen Studie zufolge 24
Jeff Bloodworth, A Complicated Kindness. The Iowa Famine Relief Movement and the Myth of Mid-
western (and American) Isolationism, in: The Historian 73, 2011, 480–502, hier 482–485. 25
Luke Kelly, British Humanitarianism and the Russian Famine, 1891–92, in: Historical Research 89,
2016, 824–845, hier 824. 26
Curti, American Philanthropy Abroad (wie Anm.1), 199–223, 258, 621f.; für ähnliche gleichzeitige Be-
obachtungen in Großbritannien siehe Rebecca Gill, Calculating Compassion. Humanity and Relief in War. Britain 1870–1914. Manchester 2013, 179. 27
Ian Tyrrell, Reforming the World. The Creation of America’s Moral Empire. Princeton 2010, 98, 118.
28
Georgina Brewis, „Fill Full the Mouth of Famine“. Voluntary Action in Famine Relief in India, 1896–
1901, in: Modern Asian Studies 44, 2010, 887–918.
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tiefgreifenden Einfluss auf den britischen Humanitarismus nach dem Ersten Weltkrieg. 29 Dies betraf den humanitären Sektor als Ganzes, von der Fürsorgeethik über Hilfspraktiken bis zum biographischen Hintergrund der Praktiker. Experten und Helfer, die in kolonialen Einrichtungen oder religiösen Organisationen und Gruppierungen wie Missionsvereinen oder bei den Quäkern Erfahrungen gesammelt hatten, blieben in der Zwischenkriegszeit integraler Bestandteil einer humanitären Mischwirtschaft aus freiwilliger und staatlicher Hilfe. Folglich bedienten sich neugegründete Organisationen wie der „Save the Children Fund“ (SCF) oder die „American Relief Administration“ (ARA) des Expertenwissens und der Techniken der Hungerhilfe, die der liberale Imperialismus Ende des neunzehnten Jahrhunderts hervorgebracht hatte. 30 Diese Entwicklungen fielen mit den Anfängen der systematischen Verwendung fotografischen Anschauungsmaterials zusammen, etwa in den Spendenaktionen für Indien 1896/97 und während des Zweiten Burenkriegs. Damit eröffneten sich neue Möglichkeiten, die Authentizität von Hilfsanlässen zu dokumentieren – in unheiliger Allianz „with the sensationalistic mass culture that intensified after the turn of the century“. 31 Zudem nahm die Beschäftigung mit dem Leid von Kindern immer größeren Raum ein 32, einer Gruppe Hilfsbedürftiger, die die verbesserte Organisation humanitärer Dienstleistung notwendig machte, da der Selbsthilfegrundsatz auf sie nicht ohne weiteres anwendbar war. Das von der schwedischen Schriftstellerin Ellen Key im Jahre 1900 ausgerufene „Jahrhundert des Kindes“ fiel daher mit einer Phase zunehmender Organisationsbestrebungen zusammen. 33 Im Gegensatz zu Curti und zahlreichen anderen teilen wir Johannes Paulmanns Auffassung, dass der Zweite Weltkrieg nicht zum Wendepunkt humanitärer Bestrebungen wurde, als der er häufig gesehen wird. Die Ideen und Maßnahmen dieser Zeit blieben vielmehr in den vorhergehenden Traditionen verhaftet. 34 Paulmann zufol29 Tehila Sasson, From Empire to Humanity. The Russian Famine and the Imperial Origins of International Humanitarianism, in: Journal of British Studies 53, 2016, 519–537. 30 Ebd.521f. 31 Heather Curtis, Depicting Distant Suffering. Evangelicals and the Politics of Pictorial Humanitarianism in the Age of American Empire, in: Material Religion 8, 2012, 153–182, Zitat 155; Valérie Gorin, L’enfance comme figure compassionnelle. Étude transversale de l’iconographie de la famine aux dix-neuvième et vingtième siècles, in: European Review of History 22, 2015, 940–962, hier 944. 32 Gill, Calculating Compassion (wie Anm.26), 201, 210. 33 Ellen Key, Das Jahrhundert des Kindes. Studien. Berlin 1902. 34 Paulmann, Conjunctures (wie Anm.3), 226f.
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ge haben stattdessen die späten 1960er und frühen 1970er Jahre Zäsurcharakter, womit er mit Eleanor Davey, Kevin O’Sullivan, Matthew Hilton und Juliano Fiori übereinstimmt. 35 Unser Konzept des „Expressiven Humanitarismus“ reflektiert demgemäß postmaterialistische Werte der Selbstinszenierung und die Verschmelzung von Hilfsaktionen mit Interessenvertretung und Menschenrechtslobbyismus, Medienaffinität und spektakulären Aktionen, Markenpflege, Populismus, De-Institutionalisierung und „Projektifizierung“, sowie eine zunehmend bedenkenlose Durchführung humanitärer Interventionen. Diese Tendenzen lassen sich auf den Einschnitt um 1970 zurückführen, in dem Zeitgeschichte und Politische Ökonomie den Ursprung zahlreicher für die heutige Gesellschaft prägender Entwicklungen sehen. 36 So wie die von uns für die vorhergehenden Perioden gewählten Bezeichnungen nicht nur humanitäre Logistik betreffen, sondern auch spontane und systematische Weisen Mitgefühl zu erzeugen, bezieht sich der Begriff Expressiver Humanitarismus umgekehrt nicht nur auf das zunehmende Gewicht dramaturgischer Elemente in humanitären Narrativen, sondern auch auf spektakuläre Formen humanitärer Feldarbeit. Der Gemeinplatz einer neuen Weltlage nach dem Ende des Kalten Krieges hat Beobachter weithin zu der Annahme verleitet, 1989 hätte ein neuer Abschnitt des Humanitarismus begonnen. Kaum eine Darstellung versucht die neue Weltordnung als Folge vorangegangener Entwicklungen in westlichen Gesellschaften zu verstehen, denen der Ostblock nicht gewachsen war. Es spricht jedoch wenig dafür, dass mit dem geopolitischen Umbruch auch ein Gestaltwandel des Humanitarismus einhergegangen wäre. 37 Paulmann lässt die Frage, ob wir Zeuge eines Neuanfangs geworden sind oder lediglich eine Verschiebung humanitärer Operationen hin zu Orten prekärer Staatsgewalt erleben, letztlich offen. Zugleich stützen sich seine Ausführungen zur neuen globalen Qualität moderner Medien auf Fälle von Live35
Eleanor Davey, Idealism beyond Borders. The French Revolutionary Left and the Rise of Humanitar-
ianism, 1954–1988. Cambridge 2015, 3, 21; O’Sullivan et al., Humanitarianism in Context (wie Anm.3). 36
Luc Boltanski/Eve Chiapello, The New Spirit of Capitalism. London 2005; Anselm Doering-Manteuffel/
Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970. Göttingen 2010; Thomas Borstelmann, The 1970s. A New Global History from Civil Rights to Economic Inequality. Princeton 2012. Die Bedeutung der 1970er als Wendepunkt wird auch von anderen Beobachtern hervorgehoben, unter anderem von Ulrich Beck, Daniel Bell, Manuel Castells, Anthony Giddens, Agnes Heller, Ronald Inglehart, Naomi Klein, Christopher Lasch, Alain Lipietz, Jean-François Lyotard und Samuel Moyn. 37
Dem Trend, 1989 als Wendepunkt zu markieren, entzieht sich Thomas Davies, NGOs: A New History
of Transnational Civil Society. London 2013.
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Satellitenübertragungen und auf die BBC-Reportage zur Hungersnot in Äthiopien, die 1985 zum Live Aid-Event führte. 38 Lilie Chouliaraki, die Beispiele aus den 1970er und 1980er Jahren solchen aus jüngerer Zeit gegenüberstellt, charakterisiert die letzten fünfzig Jahre insgesamt als ein „age of global spectacle“, das sie an drei Entwicklungen festmacht: a) der marktkonformen Instrumentalisierung von Hilfsmaßnahmen, b) dem Niedergang der großen politischen Erzählung der Solidarität und c) der technologisch induzierten Zunahme selbstdarstellerischen Zuschauens. All dies bedeute eine epistemische Verschiebung hin zu einem emotionalen und subjektiven Humanitarismus, der mit einem „neoliberal lifestyle of ‚feel good‘ altruism“ und narzistischer Moral einhergehe. 39 Die Bezeichnung „Expressiver Humanitarismus“ bringt diese verschiedenen Aspekte auf den Begriff. Bei der Auswahl der Episoden, die die Perioden des Ad Hoc-Humanitarismus, Organisierten Humanitarismus und Expressiven Humanitarismus illustrieren, greifen wir auf Fälle zurück, in denen das Neue bereits etabliert war, und nicht auf die Wendepunkte selbst. Unsere Beispiele sind daher die transnationale Hilfe während der Hungersnot in Irland in den 1840er Jahren, der russischen Hungersnot 1921–1923 und der äthiopischen Hungersnot 1984/85 und nicht Vorläufer zukünftiger Entwicklungen wie das „Committee for Relieving the Distresses in Germany“ während der Napoleonischen Kriege, das vielfältige humanitäre Engagement um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert, die „Commission for Relief in Belgium“ (CRB) während des Ersten Weltkriegs oder die Biafra-Hilfe Ende der 1960er Jahre. 40
38 Paulmann, Conjunctures (wie Anm.3), 229 (Zitat), 221, 230. 39 Lilie Chouliaraki, The Ironic Spectator. Solidarity in the Age of Post-Humanitarianism. Cambridge 2013, 52, 4 (Zitate), 1–21. 40 Für Fallstudien zu den Wendepunkten siehe Götz, Rationales of Humanitarianism (wie Anm.6); Norbert Götz/Frank Palmowski, Humanitäre Hilfe im Zeitalter Napoleons. Bürgerliche Gesellschaft und transnationale Ressourcen am Beispiel Erfurts, in: Historische Zeitschrift 305, 2017, 362–392; Kevin O’Sullivan, Humanitarian Encounters. Biafra, NGOs and Imagining the Third World in Britain and Ireland, 1967–70, in: Journal of Genocide Research 16, 2014, 299–315; Florian Hannig, The Biafra Crisis and the Establishment of Humanitarian Aid in West Germany as a New Philanthropic Field, in: Gregory R. Witkowski/Arnd Bauerkämper (Eds.), German Philanthropy in Transatlantic Perspective. Perceptions, Exchanges and Transfers since the Early Twentieth Century. Cham 2016, 205–225; Lasse Heerten, The Biafran War and Postcolonial Humanitarianism. Spectacles of Suffering. Cambridge 2017. Der Humanitarismus um die Wende zum 20. Jahrhundert ist weiterhin wenig erforscht, siehe aber Anm.18–31
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II. Ad Hoc-Humanitarismus und die Große Hungersnot in Irland Kennzeichnend für Curtis Beschreibung des Ad Hoc-Humanitarismus des neunzehnten Jahrhunderts sind a) der Mangel an förmlichen und institutionellen Verbindungen zwischen den unterschiedlichen Hilfsmaßnahmen, b) das Dominieren freiwilliger Initiativen und c) ein Repertoire der Spendenwerbung, das sich bis zur philhellenischen Bewegung zurückverfolgen lässt und die Bildung von Komitees für das Einsammeln von Geldern und den Transport von Nahrungsmitteln ebenso umfasste wie öffentliche Versammlungen, kirchliche Kollekten, Wohltätigkeitsveranstaltungen und Basare sowie Zeitungsannoncen. 41 Mit Wurzeln in der imperialen Philanthropie des achtzehnten Jahrhunderts entstand der transnationale Ad Hoc-Humanitarismus in Großbritannien noch früher, um die Zeit der Napoleonischen Kriege. Trotz des bellizistischen Kontextes war er ein ausschließlich ziviles Unterfangen, mit Verbindungen zur „British and Foreign Bible Society“, der evangelikalen und Anti-Sklavereibewegung und einheimischer Philanthropie. 42 Es gab – so ließen sich Curtis Punkte ergänzen – bereits Muster für die Verfahrensweisen von Komitees sowie für die Dokumentation von eingegangenen Spenden und Auslagen. Was fehlte, waren Stellen, die sich kontinuierlich mit Nahrungsmittelknappheit oder anderen Katastrophen beschäftigt hätten, und eine permanente Infrastruktur zur Spendenwerbung oder für die Verteilung von Hilfsgütern. Obwohl Irland immer wieder von Hungersnöten heimgesucht wurde, kam die erste nennenswerte britische Hilfsaktion nicht vor 1822 zustande. Während der darauffolgenden Hungersnot von 1831 beteiligte sich bereits eine katholische Tageszeitung in Paris an der Spendensammlung. 43 Trotz solcher Mitleidsbekundungen aus der Ferne stellten die „Hungrigen Vierziger“ eine schwierige Zeit für transnationale Hilfsmaßnahmen dar. In ganz Europa waren diese Jahre von Missernten, wirtschaftlicher Rezession und politischer Unruhe geprägt. 44 Dies schlug sich nicht nur
41
Curti, American Philanthropy Abroad (wie Anm.1), 619–621.
42
Götz, Rationales of Humanitarianism (wie Anm.6).
43
Zu 1822 siehe Cormac Ó Gráda, Famine. A Short History. Princeton 2009, 218; zu 1831 siehe Donal A.
Kerr, A Nation of Beggars? Priests, People, and Politics in Famine Ireland, 1846–1852. Oxford 1994, 54. 44
Eric Vanhaute/Richard Paping/Cormac Ó Gráda, The European Subsistence Crisis of 1845–1850. A
Comparative Perspective, in: Cormac Ó Gráda/Richard Paping/Eric Vanhaute (Eds.), When the Potato Failed. Causes and Effects of the „Last“ European Subsistence Crisis, 1845–1850. Turnhout 2007, 15–40.
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in einer geringen Spendenbereitschaft nieder, sondern auch in einer Diskrepanz zwischen individuellem und kollektivem Handeln. So ließen sich Papst Pius IX. und Sultan Abdulmejid I. für ihre Spenden für Irland rühmen, untersagten aber die Ausfuhr von Getreide aus den vatikanischen Gebieten beziehungsweise dem Osmanischen Reich. 45 Erst als die beginnende Erntezeit in Frankreich Nahrungsmittelengpässe entspannte, kamen dort breitere Spendensammlungen für Irland zustande. Zudem verringerte die Unzufriedenheit mit dem System Metternich, die in die Revolutionen von 1848 mündete, das Interesse europäischer Eliten an der irischen Katastrophe. Der erste transnationale Hilfseinsatz ging Ende 1845 von irischen Gemeinden in Boston und Umgebung aus. Anfang des folgenden Jahres initiierten die britischen Truppen in Bengalen, denen zahlreiche Iren angehörten, eine weitere Hilfsaktion. Als sich die Hungersnot im Herbst 1846 zu verschärfen begann, sammelten einzelne katholische Gemeinden und protestantische Missionsgesellschaften in England, irische Organisationen in den USA und transnationale Quäkernetzwerke Spenden. 46 Die SSVP empfahl größeren irischen Städten ihr Modell lokaler katholischer Fürsorge. 47 Bevor am Neujahrstag 1847 die „British Association for the Relief of Extreme Distress in the Remote Parishes of Ireland and Scotland“ gegründet wurde, verharrten transnationale Aktivitäten auf niedrigem Niveau. Die Initiative zu dieser Organisation lag in den Händen der Londoner Finanzelite, doch wurde sie von denselben Weichenstellern in der öffentlichen Verwaltung angeregt und kontrolliert, die auch über die Austeritätspolitik der Regierung wachten. Ein Sechstel der Spendenmittel wurde für Schottland reserviert, wo einige Distrikte gleichfalls unter einer schlechten Ernte litten. Das Gesamtergebnis – £ 390000 für Irland, inklusive Donationen aus anderen Teilen des Empire und der Welt – wurde als Erfolg verbucht, obwohl diese Summe nicht wesentlich über den Ertrag von Sammlungen während der vergleichsweise milden Hungersnot von 1822 hinausging. 48
45 „Intelligence of the Week“, in: Roman Advertiser, 9.Januar 1847; Semih Çelik, Between History of Humanitarianism and Humanitarianization of History. A Discussion on Ottoman Help for the Victims of the Great Irish Famine, 1845–1852, in: Werkstatt Geschichte 68, 2015, 13–27, hier 25. 46 Christine Kinealy, Charity and the Great Hunger in Ireland. The Kindness of Strangers. London 2013. 47 First Annual Report of the Society of Saint Vincent de Paul Cork. Cork 1846. 48 Transactions of the Central Relief Committee of the Society of Friends during the Famine in Ireland in 1846 and 1847. Dublin 1852, 27.
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Ungeachtet ihres letztlich bescheidenen Ergebnisses stimulierte die zentrale britische Kampagne die Ausweitung der zu dieser Zeit einsetzenden Hilfsaktionen irischer Gemeinden in den USA und von Katholiken in England und anderswo. Sie trug entscheidend dazu bei, dass 1847 aus zivilgesellschaftlicher Initiative heraus, wenn auch nur kurzzeitig, internationale Hungerhilfe in einem Umfang geleistet wurde, der das irische Leid zeitweilig abmilderte. 49 Die katholischen Bezirke von England und Wales organisierten eigene Sammlungen, und das katholische Wochenblatt „The Tablet“ wurde zum Sprachrohr irischer Not in der britischen Öffentlichkeit. Die Zeitung förderte die Hungerhilfe auch dann noch, als dieses Anliegen längst außer Mode gekommen war. Sie verdeutlicht damit die nachhaltige Wirkung von Institutionen, selbst wenn diese im vorliegenden Falle einen journalistischen und keinen humanitären Hintergrund hatte. Der neugeweihte Papst Pius IX. ordnete in seiner zweiten Enzyklika in der gesamten katholischen Welt Kollekten für Irland an. Prälaten aus Italien und anderen Gegenden sandten daraufhin Opferstöcke an die Kongregation für die Verbreitung des Glaubens, die die eingegangenen Gelder unter zwei Dutzend irischen Bischöfen und Erzbischöfen aufteilte. In Frankreich wurden Spenden gleichfalls diözesenweise gesammelt, aber vom formal unabhängigen „Comité de secours pour l’Irlande“ koordiniert, das die Erlöse an den irischen Klerus weiterleitete. Die erste Handlung dieses Komitees war, den Papst – zu einem Zeitpunkt als sich dessen Aktivitäten noch auf Rom beschränkten – zur weltweiten Aktion aufzufordern. 50 Die treibende Kraft hinter dieser Initiative war Jules Gossin, der Präsident der SSVP. 51 Mit einem Rundbrief an die SSVP-Gemeinschaft im Februar 1847 konnte Gossin Spenden eintreiben, die es ermöglichten, in einer Reihe irischer Städte Niederlassungen zu gründen. 52 Auch wenn die so gesammelten Gelder über die Summe von £ 6106 nicht hinausgingen und sich ihr Zweck auf lokale Fürsorge beschränkte, wiesen diese transnationalen Strukturen bereits über den Ad Hoc-Humanitarismus des neunzehnten Jahrhunderts hinaus. Die SSVP führte ihre Arbeit während der Hungersnot fort, expandierte,
49
Kinealy, Charity and the Great Hunger (wie Anm.46).
50
Comité de secours pour l’Irlande. Paris 1847.
51
Bruno Belhoste, Augustin-Louis Cauchy. A Biography. New York 1991, 189.
52
Rapport général pour l’année 1847, in: Bulletin de la Société de Saint-Vincent de Paul 1/2, 1848, 45–60,
hier 47.
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als andere Quellen versiegten, und wurde zu einem festen Teil der irischen Gesellschaft. Anders als in Europa herrschten in den USA im Jahre 1847 gute Voraussetzungen für die Hungerhilfe. Zu dieser Zeit lebten dort bereits zahlreiche irische Einwanderer, die häufig eine enge Verbindung zum Mutterland unterhielten. Irisch-amerikanische Organisationen konnten so zum Ausgangspunkt einer landesweiten Kampagne und breiteren zivilgesellschaftlichen Engagements werden. Zugleich führte eine reiche Ernte zu außergewöhnlichen Profiten auf den unterversorgten europäischen Märkten. Diese Situation förderte eine gewisse Freigiebigkeit bis hin zur Idee einer moralischen Verpflichtung denjenigen gegenüber, die mehr als andere unter den anormalen Handelsbedingungen litten. Humanitäres Engagement für Irland diente darüber hinaus als Fanal für den Frieden und half denjenigen US-Bürgern, die die zu dieser Zeit eingeleitete Aggression ihres Landes gegen Mexiko verurteilten, ihre moralische Selbstachtung aufrechtzuerhalten. 53 Die verstreuten Hilfsinitiativen in den USA wurden auf einem nationalen Fundraising-Kongress in Washington D. C. im Februar 1847 gebündelt und auf eine breitere Grundlage gestellt. Zentrale Spendenkomittees wurden in Boston, New York, Philadelphia, Charleston und New Orleans sowie einigen anderen Städten eingerichtet. Diese Komitees, wie auch eine Reihe kleinerer Pendants, charterten Schiffe, beluden sie mit Hilfsgütern und sandten sie nach Irland. Dort wurden die Waren von lokalen Akteuren – in erster Linie den Hilfskomitees der Quäker – unter den Hungernden verteilt. 54 Insgesamt belief sich der Wert der Spenden aus den USA auf knapp £ 200000. Während der irischen Hungersnot gab es somit 1847 eine beträchtliche Anzahl miteinander vernetzter Gebergremien und ein Zusammenspiel von Organisationen, die Spenden einwarben, Hilfsgüter bereitstellen und diese vor Ort verteilten. Die Hilfsmaßnahmen stützten sich auf etablierte Muster der Bildung von Komitees und religiöser Wohltätigkeit, doch machten sie diese in größerem Maßstab geltend. Was fehlte, war eine Struktur für nachhaltige Arbeit über einen längeren Zeitraum hinweg. Fast alle Hilfskomitees in den USA und anderswo lösten sich bis zum Sommer auf oder bereiteten ihre Abwicklung vor, kirchliche Einrichtungen wandten sich an-
53 H. A. Crosby Forbes/Henry Lee, Massachusetts Help to Ireland during the Great Famine. Milton 1967, 22–25. 54 Curti, American Philanthropy Abroad (wie Anm.1), 41–64.
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deren Angelegenheiten zu, und die Freiwilligen, die die Hilfsleistungen verteilt hatten, waren nicht selten am Ende ihrer Kräfte. Die Hungersnot grassierte weiter über die folgenden drei Jahre (in manchen Teilen Irlands waren es fünf Jahre), ohne von nennenswerten zivilgesellschaftlichen oder offiziellen Hilfsmaßnahmen abgemildert zu werden. Die Zahl der Opfer betrug insgesamt rund eine Million Menschen, eine weitere Million wanderte aus, wodurch sich die Bevölkerung Irlands um ein Viertel verringerte. Nur wenige Zeitgenossen im Ausland konnten sich vorstellen, dass eine mächtige Regierung wie die des Vereinigten Königreichs einer Katastrophe im eigenen Land derart freien Lauf lassen würde. Als offizielle Stellen im Herbst 1847 den Eindruck verbreiteten, die Situation sei unter Kontrolle, wurde dies kaum in Frage gestellt. Insofern war der Ad Hoc-Humanitarismus nur zu schwacher und unzuverlässiger Hilfe imstande. Dies wird auch beim Vergleich mit Geldsendungen von Auslandsiren in ihre Heimat deutlich, die die Spendensammlungen selbst auf deren Höhepunkt übertrafen und über die folgenden Jahre weiter anwuchsen. Dennoch hatte sich bei allem Vertrauen in die britische Regierung Mitte des neunzehnten Jahrhunderts eine europäische, transatlantische und imperiale Bereitschaft zu weitreichendem humanitären Engagement entwickelt, das die bilateralen Unternehmungen der napoleonischen Zeit und den multilateralen, wenn auch begrenzten und vorwiegend militärischen philhellenischen Aktivismus der 1820er Jahre qualitativ in den Schatten stellte. Die „globale“ Zivilgesellschaft des zwanzigsten Jahrhunderts vorwegnehmend, verdeutlicht die SSVP das Potenzial philanthropischer Strukturen, die dauerhafter waren als diejenigen der temporären Komitees des neunzehnten Jahrhunderts oder der Kirchen mit ihrer Gemengelage unterschiedlicher Anliegen. Während andere Hilfsinitiativen verebbten, breitete die SSVP Ende der 1840er Jahre ihr lokales Netzwerk über Irland aus und schuf einen
Rahmen, in dem sich die örtliche Mittelklasse für die Linderung der Not ihrer Landsleute engagieren konnte.
III. Organisierter Humanitarismus und die russische Hungersnot 1921–1923 Die von Historikern und Zeitgenossen gleichermaßen als ein Schlüsselereignis der Geschichte des Humanitarismus zitierten Hilfsaktionen während der russi-
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schen Hungersnot der Jahre 1921 bis 1923 verkörpern paradigmatisch, was wir als Organisierten Humanitarismus bezeichnen. 55 Diese Ära kennzeichnet a) die Institutionalisierung und Professionalisierung humanitärer Praktiken, einschließlich Spendeneinwerbung, Einkauf und Buchhaltung, b) die aktive Rolle von Experten und der Einfluss der Wissenschaft, c) eine „Mischwirtschaft“ aus freiwilligen und staatlichen Beiträgen und d) der systematische Einsatz von Bildern bis hin zur Einführung des Mediums Film in Spendenkampagnen. Mit der Gründung der CRB durch Herbert Hoover im ersten Jahr des Krieges erfuhr der organisierte Humanitarismus seinen endgültigen Durchbruch. Von 1914 bis 1919 verwaltete die CRB eine Hilfsoperation ungekannten Ausmaßes und ernährte große Teile der unter deutscher Besatzung und alliierter Blockadepolitik leidenden belgischen Bevölkerung. Hoovers Erfolg beruhte auf geschickter Diplomatie und dem systematischen Einsatz seiner Erfahrungen im Geschäftsleben. Nach dem Krieg fungierte die CRB als Blaupause für weitere US-Hilfsaktionen und Hoover setzte seine Arbeit mit der ARA zunächst in Mitteleuropa und dann während der Hungersnot in Sowjetrussland fort. Hauptsächlich aus Steuermitteln finanziert, aber mit der Unterstützung von zehntausenden privaten Spendern, wurde in den Jahren zwischen dem Waffenstillstand und 1924 ein Gesamtbudget von 5 Milliarden Dollar umgesetzt. 56 Neben ihrem humanitären Anliegen dienten die ARA und angeschlossene Organisationen wie das ARC dabei auch dem Zweck, den
Kommunismus einzudämmen und den Nations- und Institutionenbildungsprozess in Europa im US-Sinne zu beeinflussen. 57 Die Ankurbelung der einheimischen Wirtschaft und das Erschließen neuer Märkte konnten dabei mit dem Abbau eines immensen landwirtschaftlichen Überschusses verbunden werden.
55 League of Nations, Report on Economic Conditions in Russia. With Special Reference to the Famine of 1921–1922 and the State of Agriculture. Genf 1923, 1; Marguerite E. Bienz (Hrsg.), Für unsere kleinen russischen Brüder! Gaben westeuropäischer Schriftsteller und Künstler für die notleidenden Kinder in den Hungersnotdistrikten Russlands. Genf 1922, 9; C. E. Bechhofer, Through Starving Russia. Being a Record of a Journey to Moscow and the Volga Provinces in August and September 1921. London 1921, XII; Sasson, From Empire to Humanity (wie Anm.29), 520; Daniel Maul, Appell an das Gewissen. Fridtjof Nansen und die Russische Hungerhilfe 1921–23, in: Themenportal Europäische Geschichte, Berlin: Humboldt Universität 2011, www.europa.clio-online.de/essay/id/artikel-3604 (Zugriff: 22.Dezember 2017). 56 Charles E. Noyes, American Relief of Famine in Europe, in: Editorial Research Reports 2, Washington, D. C. 1940, http://library.cqpress.com/cqresearcher/cqresrre1940080600 (Zugriff: 22.Dezember 2017). 57 Friederike Kind-Kovács, The Great War, the Child’s Body and the American Red Cross, in: European Review of History 23, 2016, 33–62, hier 41.
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Während die CRB und ARA den Trend des zwanzigsten Jahrhunderts zu öffentlich finanzierten und staatlich beeinflussten Hilfsaktionen verkörpern, repräsentiert der britische SCF die gleichzeitige Tendenz hin zu einer professionell organisierten Freiwilligentätigkeit, welche die Grenzen zwischen humanitärer Aktion und politischer Anwaltschaft verwischt und offensiv als Korrektiv zur Regierungspolitik auftritt. Eglantyne Jebb, Mitbegründerin des SCF 1919, verstand ihre Organisation als Gegengewicht zu nationalistischer Politik und wählte bewusst „enemy children“ – zunächst deutsche, später russische – als hauptsächliche Hilfsempfänger. 58 Die transnationalen Ambitionen wurden 1920 durch die Gründung der „International Save the Children Union“ (ISCU) in Genf unterstrichen. Amerikanische und britische Quäker spielten während der russischen Hungersnot ebenfalls eine bedeutende Rolle. Sie hatten bereits vor 1914 humanitäre Missionen in Russland organisiert und betrieben in der Stadt Buzuluk, dem späteren Zentrum ihrer Hungerhilfe, ein gemeinsame „Quaker Embassy“. 59 Sowohl die ARA als auch das Internationale Rote Kreuz bedienten sich der als unparteilich und neutral geachteten Quäker, um Hilfsgüter zu verteilen. 60 Während des Krieges wurde die transnationale Hilfstätigkeit 1915 durch die Gründung des „British Friends Emergency and War Victims Relief Committee“ (FEWVRC) und zwei Jahre darauf durch das „American Friends Service Committee“ (AFSC) professionalisiert. Die beiden nationalen Organisationen arbeiteten in der Folge eng zusammen. 61 Der Hungersnot in Sowjetrussland gingen eine Missernte, ein harter Winter, gefolgt von einer Dürre, insbesondere im Wolgatal, voraus. Das nachrevolutionäre Land war zu diesem Zeitpunkt von sieben Jahren Ausnahmezustand gezeichnet und vom Krieg zerrüttet. Reste der weißen Armeen waren noch immer aktiv, und die ländlichen Gemeinden waren vom Kriegskommunismus und seinem Instrumentarium, einschließlich Konfiszierungen und Kollektivierung, geschwächt. Mangel-
58
Linda Mahood/Vic Satzewich, The Save the Children Fund and the Russian Famine of 1921–23. Claims
and Counter-Claims about Feeding „Bolshevik“ Children, in: Journal of Historical Sociology 22, 2009, 55– 83; Rodney Breen, Saving Enemy Children. Save the Children’s Russian Relief Operation 1921–1923, in: Disasters 18, 1994, 221–238. 59
David Mcfadden/Claire Gorfinkel, Constructive Spirit. Quakers in Revolutionary Russia. Pasadena 2014,
27. 60
Ebd.9.
61
James E. Miles/Meaburn Tatham, The Ambulance Unit, 1914–1919. A Record. London 1919; siehe auch
Daniel Maul, American Quakers, the Emergence of International Humanitarianism, and the Foundation of
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hafte Katastrophenvorsorge und Misswirtschaft verschlimmerten die Situation, so dass zwanzig Millionen Menschen vom Hungertod bedroht waren, von denen schätzungsweise zwei Millionen starben. 62 Trotz der katastrophalen Lage gestand die bolschewistische Regierung die Hungersnot lange Zeit nicht ein und bemühte sich erst Mitte 1921 um ausländische Hilfe. Dazu wurde der Schriftsteller Maxim Gorki vorgeschickt, dem es mit dramatischen Worten gelang, eine internationale Hilfskampagne für das hungernde Russland in Gang zu setzen. 63 Zwischen Ende 1921 und Anfang 1923 wurden fast eine Million Tonnen Hilfsgüter in die Hungergebiete geschafft. Auf dem Höhepunkt der Operation, im August 1922, versorgten ausländische Organisationen mehr als elf Millionen Menschen mit Nahrungsmitteln. 64 Der Umfang der Hilfeleistung ist umso bemerkenswerter, als die sowjetische Regierung zu diesem Zeitpunkt von keiner westlichen Macht anerkannt wurde und selbst ein an Paranoia grenzendes Misstrauen gegenüber ausländischer Einmischung an den Tag legte. Während konservative Politiker und Exilrussen warnten, dass die Hungerhilfe ein angeschlagenes Regime am Leben halten würde, fürchteten sowjetische Funktionäre eine Konterrevolution im humanitären Gewand. Die Hilfe wurde im Wesentlichen von zwei Dachorganisationen geleitet, die beide Verträge mit der bolschewistischen Regierung unterzeichnet hatten: Hoovers ARA und das „International Committee for Russian Relief“ (ICRR) unter der Leitung
des norwegischen Entdeckers Fridtjof Nansen. 65 Die ARA machte sich die Erfahrung mit ihren umfangreichen Hilfsmaßnahmen im Nachkriegseuropa zunutze und zeichnete für mehr als vier Fünftel aller ausländischen Hilfsleistungen verantwort-
the American Friends Service Committee, 1890–1920, in: Johannes Paulmann (Ed.), Dilemmas of Humanitarian Aid in the Twentieth Century. Oxford 2016, 63–87. 62 Bruno Cabanes, The Great War and the Origins of Humanitarianism, 1918–1924. New York 2014, 239 f.; Bertrand M. Patenaude, Big Show in Bololand. The American Relief Expedition to Soviet Russia in the Famine of 1921. Stanford 2002, 197. 63 Für eine englische Übersetzung siehe: American Relief Administration, Bulletin, Second Series 16, 1. September 1921, 2. 64 Siehe: Russian Feeding Progress. Number of Persons Fed on the First of Each Month, undatiert (nach April 1923), Hoover Archive, ARA Russian Operational Records, reel 568, und: Feeding of the Starving Russian Population on August 1st 1922. Organisations Working under the Nansen Agreement, International Committee for Russian Relief – Information 30, 30.August 1922, 20. 65 Patenaude, Big Show (wie Anm.62), und Carl Emil Vogt, Nansens kamp mot hungersnøden i Russland 1921–23. Oslo 2007.
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lich, während das ICRR eine Schöpfung des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes in Zusammenarbeit mit dem Sekretariat des Völkerbundes war. Die meisten US-Hilfsorganisationen, einschließlich des ARC, arbeiteten unter der Leitung der ARA, während Nansen eine Vielzahl von Organisationen aus zwei Dutzend überwiegend europäischen Ländern repräsentierte. Die meisten dieser Organisationen waren reine Fundraiser, doch baute der SCF sein eigenes Verteilsystem in der Saratov-Provinz auf. Auch amerikanische und britische Quäker arbeiteten vor Ort, nun aber in national getrennten Einsätzen. Die britische FEWVRC wurde Teil der Nansenhilfe, während sich die AFSC für die ARA entschied und damit dem einheimischen Kontext und dem Zugang zu öffentlichen Mitteln den Vorzug vor internationaler Zusammenarbeit gab. 66 Nansens Problem war, dass nur wenige Regierungen das ICRR unterstützten und die teilnehmenden humanitären Organisationen weder willens noch in der Lage waren, sich finanziell zu binden. Lediglich der SCF sagte vorab die Speisung von zehntausend Kindern zu. Während Hoover sich auf die gutgeölte Maschinerie des ARA und üppige finanzielle Mittel stützen konnte, als er mit den misstrauischen rus-
sischen Behörden in Riga verhandelte, war Nansens Position schwach, als er kurz darauf für das ICRR an den Verhandlungstisch trat. Bei Nansens Ankunft hatte Hoovers Repräsentant gerade erfolgreich eine weitreichende US-Kontrolle über die Verteilung durchgesetzt und die russische Regierung dazu verpflichtet, Teile der Hilfsmaßnahmen mit ihren Goldreserven abzugelten. 67 Nansens Übereinkunft fiel weniger günstig aus, insbesondere was die Kontrolle über die Verteilung von Hilfsgütern betraf. Nansens Hauptproblem war jedoch die Finanzierung, da die europäischen Mächte weder Zuschüsse noch Darlehen gaben. 68 Letztlich war das ICRR gezwungen, als private Wohltätigkeitsorganisation zu arbeiten, die nur von einzelnen Regierungen wie denjenigen Norwegens, Schwedens oder der baltischen Staaten mit geringen Summen unterstützt wurde. Auch deshalb blieben die bedeutendsten der beteiligten Organisationen, wie der SCF, die britischen Quäker oder das Schwedische Rote
66
Daniel Maul, American Quakers and Famine Relief in the Soviet Union 1921–1923, Vortrag beim
Workshop „Brokers of Aid. Humanitarian Organizations between Donors and Recipients“, Södertörn Universität Stockholm, 12.Juni 2014.
108
67
Die komplette Übereinkunft als Anhang in: Patenaude, Big Show (wie Anm.62), 745–748.
68
Vogt, Nansens kamp (wie Anm.65), 145ff.
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Kreuz, weitgehend unabhängig in ihrer Spendeneinwerbung und Hilfsarbeit, wurden aber umgekehrt in vielen Fällen zu Verteilern von weiteren ICRR-Hilfsgütern. Die Entwicklung des Humanitarismus nach 1900 kulminierte in verschiedener Hinsicht in den Hilfsmaßnahmen während der russischen Hungersnot. Der SCF erklärte plakativ „whatever is not organised is dead“ 69 und machte deutlich, dass für den „amateur philanthropist“ in der neuen humanitären Welt kein Platz mehr sei. 70 In den USA priesen zur selben Zeit ARA-Vertreter die Konzentration humanitärer Arbeit unter einem nationalen Dach und zeigten wenig Verständnis für den Wunsch von Mitgliederorganisationen, eigenständige Hilfsmaßnahmen oder -kulturen beizubehalten. Ihr Effizienzdenken ließ sie glauben, dass „all these organizations would be greatly benefitted if their funds were donated outright to the ARA“. 71 Professionalisierung bedeutete zudem, dass Experten nicht nur für die Logistik der Hilfsaktionen, die Nahrungsmittelakquise und die Buchführung zuständig waren, sondern auch Bereiche wie Öffentlichkeitsarbeit und Werbung umgestalteten, ein Prozess, der nicht reibungslos verlief. 72 Wurden bereits in der Vorkriegszeit Bilder und Fotografien bei der Spendensammlung eingesetzt, produzierten während der russischen Hungersnot gleich mehrere Organisationen teils aufwendige „famine films“. 73 Der SCF prägte in diesem Zusammenhang den Slogan „seeing is believing“ und unterstrich die unumstößliche Beweiskraft der Filme. 74 Eine symbiotische Mischwirtschaft aus privaten Hilfsorganisationen und staatlichen Stellen war zu diesem Zeitpunkt bereits mehr Notwendigkeit denn freie Entscheidung, zumindest wenn es um umfassende Hilfe für Millionen vom Hungertod Bedrohter ging. Der Erfolg der ARA, der dies par excellence illustriert, geht gerade darauf zurück, dass sich die Ziele Hoovers und der Regierung – welcher er ja selbst angehörte – weitgehend deckten. 75 Nansen und der SCF verwendeten viel Energie
69 The New Charity, in: Record 2/8, 1.Januar 1922. 70 Of Giving Way to Others. A Word to Workers and Friends, Record 2/4, 1.November 1921. 71 Haskell an London, 20.März 1922, Hoover Archive, Russian Operational Records, reel 115. 72 Breen, Saving Enemy Children (wie Anm.58). 73 Vom SCF, der ARA, der Nansen Mission und der kommunistischen Hilfsorganisation „Friends of Soviet Russia“ (FSR) liegen solche Produktionen vor. Siehe auch Sasson, From Empire to Humanity (wie Anm. 29), 531; Christina Twomey, Framing Atrocity. Photography and Humanitarianism, in: History of Photography 36, August 2012, 255–264; Heide Fehrenbach/Davide Rodogno (Eds.), Humanitarian Photography. A History. New York 2015. 74 Seeing is Believing, in: Record 2/10, 1.Februar 1922. 75 Hoover leitete die ARA als Privatperson, war aber Handelsminister im Kabinett Harding.
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darauf, die europäischen Regierungen, insbesondere die britische, zu einer Beteiligung an der Hungerhilfe zu bewegen. Bis auf einzelne symbolische Erfolge missglückte dies, da es weder gelang einen ausreichenden öffentlichen Druck aufzubauen noch ein überzeugendes Eigeninteresse der Regierungen aufzuzeigen. Im Hinblick auf das Selbstbild des SCF, als Korrektiv staatlicher Politik zu wirken, sind dessen Versuche, öffentliche Mittel einzuwerben, bezeichnend für die Unvermeidlichkeit und Unumkehrbarkeit dieser Entwicklung. Selbst die Quäker mit ihrer scheinbar unkorrumpierbaren Hilfsphilosophie sahen sich während der russischen Hungersnot gezwungen, neue Wege zu gehen, und die AFSC ließ sich nicht zuletzt aufgrund von Hoovers Zugriff auf öffentliche Mittel widerwillig auf eine pragmatische Beziehung mit der ARA ein.
IV. Expressiver Humanitarismus und die äthiopische Hungersnot 1984/85 Ähnlich wie die russische Hungersnot sechzig Jahre zuvor galt die äthiopische Hungersnot schon zeitgenössischen Helfern als Meilenstein humanitären Engagements und wird weiterhin so gesehen. 76 Exemplarisch schien ein „expressiver Humanitarismus“ in der Band Aid- und Live Aid-Bewegung auf, umfasste aber vielfältige weitere Aspekte globalen Engagements. In der äthiopischen Katastrophe kam ein Bündel von Trends zum Tragen, die ihren Ursprung Ende der 1960er Jahre hatten und erstmals in den Reaktionen auf die Krise in Biafra sichtbar wurden: a) ein medien- und vor allem fernsehgeprägtes Verständnis von Katastrophen und Hilfsaktionen, b) die zunehmende Bedeutung von Prominenz, Spektakel, Lebensstil und massenkultureller Teilhabe, c) die Veränderung westlicher Zivilgesellschaften durch unkonventionelle und wirtschaftlich erfolgreiche Newcomer und d) eine öffentlichkeitsorientierte Spielart des Humanitarismus, die sich durch das Bezeugen von Not und das Anprangern von Missständen auszeichnet. 77 76
Davey et al., History (wie Anm.3); Barnett, Empire of Humanity (wie Anm.2), 133; Alexander Poster, The
Gentle War. Famine Relief, Politics and Privatization in Ethiopia, 1938–86, in: Diplomatic History 26, 2012, 399–425; Matthew Hilton/James McKay/Nicholas Crowson/Jean-Francois Mouhot, The Politics of Expertise. How NGOs Shaped Modern Britain. Oxford 2013; Kurt Jansson, The Emergency Relief Operation. The Inside View, in: Michael Harris/Angela Penrose (Eds.), The Ethiopian Famine. London 1987, 1–77. 77
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Susanne Franks, Reporting Disasters. Famine, Aid, Politics and the Media. London 2013; Kevin O’Sulli-
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„Médecins Sans Frontières“ (MSF, Ärzte ohne Grenzen) und „Band Aid“ verkörpern diese Trends wie keine anderen Organisationen. Die Gründung von MSF geht auf die Biafra-Krise zurück, als eine Gruppe französischer Ärzte unter Führung Bernard Kouchners die Neutralität und das Stillschweigen des Roten Kreuzes verurteilte. Durch Protestmärsche und Medienaktionen machten sie auf Gräueltaten des nigerianischen Militärs an Zivilisten aufmerksam. Dieser Aktivismus, der sich durch vergleichbare Erfahrungen in Bangladesch verstärkte, führte 1971 zur Gründung der MSF. 78 Die neue Organisation verschrieb sich dem Prinzip der témoignage (Zeugenschaft) und entwickelte sich im Laufe des Jahrzehnts zu einem französischen Markenzeichen mit zunehmend antikommunistischem und gegenüber der Dritten Welt kritischem Profil. 79 Katastrophenhilfe – und nicht alltägliche Entwicklungshilfe – prägt das öffentliche Bewusstsein im Hinblick auf Hilfsorganisationen. In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts wurde zunehmend deutlich, dass „association with high profile disasters was good for business“. 80 Unterschiedliche Hilfseinsätze der 1970er Jahre brachten freiwilligen Hilfsorganisationen den Ruf besonderer Effizienz ein, zumal sie reibungslos mit lokalen Bevölkerungen zusammenzuarbeiten schienen. 81 Weltbekannte Musiker und Popstars beteiligten sich seit den 1960er Jahren in wachsendem Maße an humanitären Hilfsaktionen, eine Entwicklung, die sich an George Harrisons „Concert for Bangladesh“ 1971 und den „Concerts for the People of Kampuchea“ (Kambodscha) 1979 ablesen lässt. 82
van, Biafra’s Legacy. NGO Humanitarianism and the Nigerian Civil War, in: Learning from the Past to Shape the Future. Lessons from the History of Humanitarian Action in Africa. London 2016, 5–13; Tanja R. Müller, „The Ethiopian Famine“ Revisited. Band Aid and the Antipolitics of Celebrity Humanitarian Action, in: Disasters 37, 2013, 61–79; Ami V. Shah/Bruce Hall/Edward R. Carr, Bono, Band Aid, and Before. Celebrity Humanitarianism, Music and the Objects of Its Action, in: Gavin Andrews/Paul Kingsbury/Robin Kearns (Eds.), Soundscapes of Wellbeing in Popular Music. Farnham 2014, 269–288; Ryfman, Une histoire (wie Anm.2); Eleanor Davey, Famine, Aid, and Ideology. The Political Activism of Médicins sans Frontières in the 1980s, in: French Historical Studies 34, 2011, 531–558. 78 Davey, Idealism beyond Borders (wie Anm.35), 31–36. 79 Bertrand Taithe, Reinventing (French) Universalism. Religion, Humanitarianism and the ,French doctors‘, in: Modern & Contemporary France 12, 2004, 147–158. 80 Barnett, Empire of Humanity (wie Anm.2), 132. 81 Luther Banga, Reducing People’s Vulnerability to Famine. An Evaluation of Band Aid and Live Aid Financed Projects in Africa. Final Report. Douala 1991, 1; Alex de Waal, Famine Crimes. Politics and the Disaster Relief Industry in Africa. Oxford 1997, 78. 82 Shah et al., Bono, Band Aid, and Before (wie Anm.77), 4.
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Im Januar 1985 gründete Bob Geldof eine neue britische Hilfsorganisation, den „Band Aid Trust“, der die Erlöse der Single „Do They Know It’s Christmas?“ verteilen und zukünftige Benefizaktionen – unter denen die Live Aid-Konzerte die größte Bedeutung erlangten – organisieren sollte. Der unerwartete Erfolg der Benefizsingle regte auch die Produktion von Michael Jacksons und Lionel Richies Song „We Are The World“ an, und bis Ende 1985 folgten mindestens zwanzig weitere Wohltätigkeitssingles in verschiedenen Sprachen. 83 Die österreichische Promiaufnahme „Warum?“ sprach mit dem Refrain „wir schicken Göd [Geld] / damit’s uns besser geht“ den selbstironischen Betrachter ihrer Zeit an, während das bundesdeutsche Pendant „Nackt im Wind“ den Ernst der Lage und mangelndes politisches Bewusstsein besang. Die Ursprünge der Hungersnot lassen sich bis mindestens Dezember 1982 zurückverfolgen. Ende 1984 betraf sie bereits weite Teile des subsaharischen Afrika und bedrohte das Leben von sieben Millionen Menschen im nördlichen und südöstlichen Äthiopien – und damit etwa eines Fünftels der Gesamtbevölkerung. Das Land war ein marxistischer Staat, regiert von Offizieren, die sich 1974 an die Macht geputscht hatten. Die Gründe der Hungersnot sind umstritten, aber Bürgerkrieg mit sezessionistischen Milizen in Eritrea und Tigray, jahrelange Dürre, erzwungene Landreformen und Kollektivwirtschaft spielten eine Rolle. 84 Die hohe Sterblichkeit lag auch darin begründet, dass die Lebensmittelhilfe spät eintraf, es Probleme mit der Verteilung in Rebellengebieten gab und die Regierung ein Umsiedlungsprogramm für von der Hungersnot Betroffene aus dem Norden des Landes forcierte. Die Schätzungen schwanken, doch starben zwischen 1984 und 1986 mindestens 400000, möglicherweise bis zu einer Million Menschen. 85 Anfänglich fand die Hungersnot in internationalen Medien kaum Widerhall. Vor den Feiern zu ihrem zehnten Jahrestag im August 1984 zeigte die äthiopische Regierung kein Interesse an negativen Schlagzeilen. Die US-Regierung hatte ihre Entwicklungshilfe 1979 abgebrochen und war zunächst nicht bereit, sich an Hilfsmaßnahmen für einen Verbündeten der Sowjetunion zu beteiligen. 86 Erst am 83
Food and Trucks and Rock ‘n’ Roll. The Band Aid Story, Regie: Ian Macmillan. London 1985.
84
de Waal, Famine Crimes (wie Anm.81), 115.
85
Alex de Waal, Evil Days. Thirty Years of War and Famine in Ethiopia. New York 1991, 173–176; Peter
Gill, Famine and Foreigners. Ethiopia since Live Aid. Oxford 2012, 43. 86
Peter Gill, A Year in the Death of Africa. Politics, Bureaucracy and the Famine. London 1986, 4–6; Harold
G. Marcus, A History of Ethiopia. 3rd Ed. Berkeley 2002, 205–207; Poster, Gentle War (wie Anm.76), 404.
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23. Oktober 1984 weckte ein BBC-Bericht von Michael Buerk und Videojournalist Mohamed Amin die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit für eine „biblical famine“. 87 Ihr Film wurde in den folgenden Tagen von 425 Fernsehanstalten ausgestrahlt, erreichte ein weltweites Publikum von 470 Millionen Zuschauern und führte zu massiver internationaler Resonanz. 88 Im expressiven, medialen Humanitarismus des späten zwanzigsten Jahrhunderts scheint zuzutreffen, was Zeitgenossen 1986 auf die Formel brachten: „[A]n emergency begins and ends when the BBC says so.“ 89 Die moralische Entrüstung, die der Film entfachte, speiste sich auch aus dem Kontrast zu gleichzeitigen Meldungen über Rekordernten und die Überproduktion von Lebensmitteln in Europa. 90 Ende Oktober 1984 leiteten internationale Geber umgehend Hilfe ein, und der finnische Diplomat Kurt Jansson wurde zum stellvertretenden UN-Generalsekretär für Krisenoperationen in Äthiopien ernannt. Die für Entwicklungshilfe zuständigen Minister der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) stellten Güter im Wert von 19 Millionen Dollar in Aussicht. 91 Ähnlich wie sechzig Jahre zuvor in Sowjetrussland wurde es Ziel der britischen und US-amerikanischen Außenpolitik, nicht nur Mägen zu füllen, sondern auch die „Herzen und Köpfe“ einer hilfsbedürftigen Bevölkerung zu gewinnen. Der Direktor der US-Behörde für Entwicklungshilfe wurde von mehreren Abgeordneten nach Äthiopien begleitet, womit die Unterstützung im Kongress gesichert werden sollte. 92 Anfang November durchbrach eine Luftbrücke unter Beteiligung der USA, Großbritanniens, Frankreichs, Polens, Libyens sowie der beiden deutschen Staaten die Blockkonfrontation des Kalten Krieges und den Nord-Süd-Gegensatz. 93 Etwa 1,5 Millionen Tonnen Lebensmittelhilfe erreichten Äthiopien. Der Wert
87 Michael Buerk, BBC News, 23.Oktober 1984; zu den Hintergründen siehe Franks, Reporting Disasters (wie Anm.77), Kap. 1. 88 Angela Penrose, Before and After, in: Harris/Penrose (Eds.), The Ethiopian Famine (wie Anm.76), 154; Greg Philo, From Buerk to Band Aid. The Media and the 1984 Ethiopian Famine, in: John Eldridge (Ed.), Getting the Message. News, Truth and Power. London 1993, 73–103, hier 121. 89 International Institute for Environment and Development, Report on the African Emergency Relief Operation 1984–1986. London 1986, 39. 90 Gill, Year in the Death (wie Anm.86), 40. 91 Hansard, HC Deb., 3.Dezember 1984, Vol.69, c15W. 92 USAID, Final Disaster Report Ethiopia Drought/Famine FY 1985 1986. Washington 1987, 11, http:// pdf.usaid.gov/pdf_docs/PNABG233.pdf (Zugriff: 22.Dezember 2017). 93 Ebd.5.
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der zwischen 1984 und 1986 geleisteten Hilfe an Nahrungsmitteln und Gebrauchsgütern betrug 1,5 Milliarden Dollar, anderen Schätzungen zufolge lag er bei 2 Milliarden Dollar. 94 Anfang 1985 erhielten rund 600000 der gefährdetsten Menschen in Hilfslagern fertige Mahlzeiten und Beikost. Mit einer Bewilligung von 500 Millionen Dollar stellte die US-Regierung – unter dem Slogan „a hungry child knows no politics“ – den größten Beitrag. 95 In der EWG stand 1985 die Bundesrepublik Deutschland an der Spitze bilateraler Hilfe, gefolgt von Großbritannien. 96 Welche Bedeutung die Hungersnot für Italien als ehemalige Kolonialmacht in Eritrea und kurzzeitig in Äthiopien hatte, zeigt die Schaffung des „Fondo Aiuti Italiani“ (Italienischer Hilfsfonds). 97 Unter den Geberländern befanden sich auch Kanada, Australien, die skandinavischen Länder, Japan, China und Zimbabwe. Der maßgebliche Beitrag der UdSSR bestand in Transportmitteln für die Umsiedlungsaktion der Regierung, die als ein Schritt im Kampf gegen den Hunger dargestellt, im Westen jedoch als Schachzug im Bürgerkrieg interpretiert wurde. 98 Jansson zufolge hatten Nichtregierungsorganisationen kaum je eine so zentrale Rolle gespielt wie während der äthiopischen Krise. Einige waren seit langem vor Ort tätig, doch seit Oktober 1984 führte die mediale Aufmerksamkeit unter Hilfsorganisationen zu einem Ansturm auf das Land. 99 So verdoppelte sich die Anzahl der in Äthiopien tätigen Organisationen von 21 Anfang 1984 auf 48 Mitte 1985. 100 Mitte der 1980er Jahre galt es für humanitäre Organisationen, Präsenz im Krisengebiet zu zeigen. 101 Der Unwille ausländischer Regierungen, mit der äthiopischen „Relief and Rehabilitation Commission“ zusammenzuarbeiten, stärkte die Stellung unabhängiger Hilfsorganisationen, die beispielsweise nahezu die gesamte US-Nahrungsmittel-
94
PAID, Evaluation of Band Aid Funded Projects in Ethiopia. Country Annex to Final Report, PAID 1991,
7; USAID, Final Disaster Report (wie Anm.92), 36. 95
Poster, Gentle War (wie Anm.76), 399.
96
USAID, Final Disaster Report (wie Anm.92), 38.
97
Paola Bollina/Michael R. Reich, The Italian Fight against World Hunger. A Critical Analysis of Italian
Aid for Development in the 1980s, in: Social Science of Medicine 39, 1994, 607–620. 98
Central Intelligence Agency, Ethiopia. A Political and Security Assessment of the Drought, April 1985, 4,
https://www.cia.gov/library/readingroom/docs/CIA-RDP86T00589R000200160004–5.pdf (Zugriff: 22.Dezember 2017). 99
Jansson, Emergency Relief (wie Anm.76), 22.
100 Dawit Wolde Giorgis, Red Tears. War, Famine and Revolution in Ethiopia. Trenton 1989, 228. 101 de Waal, Famine Crimes (wie Anm.81), 80; Alex de Waal, The Humanitarian Carnival. A Celebrity Vogue, in: World Affairs 171, 2008, 43–55.
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hilfe verteilten. 102 Die EWG war eher zur Kooperation mit der Regierung bereit, doch kanalisierte auch sie ein knappes Drittel ihrer Nahrungsmittelhilfe durch den dritten Sektor. Viele kleinere Geberländer wie Australien, Japan oder Finnland leiteten ihre gesamte Hilfe durch zivilgesellschaftliche Organisationen. 103 Die Verteilung der Nahrungsmittel wurde dadurch erschwert, dass sich viele der von der Hungersnot betroffenen Regionen außerhalb der Kontrolle der äthiopischen Regierung befanden, namentlich Eritrea, Tigray und das nördliche Wollo. Hier arbeiteten quasi-autonome Hilfsorganisationen der Aufständischen mit internationalen Akteuren zusammen. 104 Sowohl die äthiopische Regierung als auch die Rebellen versuchten, westliche Hilfe eigenen Zwecken unterzuordnen. MSF verblieb die einzige Organisation, die das Regime für sein Umsiedlungsprogramm öffentlich kritisierte, was schließlich zur Ausweisung der Organisation führte. Die Weigerung von MSF, „[to] renounce our moral responsibilities or cooperate blindly in a perversion of the very meaning of international aid“ ist bezeichnend für den Expressiven Humanitarismus, der sich nach der Biafra-Krise herausbildete. 105 Zum Bild gehört jedoch auch, dass andere Hilfsorganisationen die MSF-Position ihrerseits als selbstgerecht verurteilten und dafür kritisierten, dass sie Hungernde zu den eigentlich Leidtragenden mache. 106 Die äthiopische Hungersnot wirkte wie ein Katalysator für Hilfsstrukturen des Expressiven Humanitarismus – etwa Auftritte von Prominenten, großangelegte Fernsehspektakel oder die Einbindung des breiten Publikums, insbesondere junger Menschen. Nach dem medialen Durchbruch im Oktober 1984 beteiligten sich Musiker und andere Stars weltweit an Benefizveranstaltungen. In der Geschichte der Bundesrepublik kam es erstmals zu einer gemeinsamen Kampagne der größten Hilfsorganisationen, die im Januar 1985 in der Spendengala „Tag für Afrika“ gipfelte. 107 Hilfsorganisationen nahmen durch solche Events beträchtliche Summen ein
102 Poster, Gentle War (wie Anm.76), 415; Jansson, Emergency Relief (wie Anm.76), 47. 103 USAID, Final Disaster Report (wie Anm.92), 38. 104 de Waal, Famine Crimes (wie Anm.81), 129; Max Peberdy, Tigray. Ethiopia’s Untold Story. London 1985. 105 Bertrand Desmoulins/Michael Fiszbin, An Open Letter to NGOs in Ethiopia, 13.Dezember 1985, CARE 1220, File 17, CARE Archives, New York Public Library. 106 CRDA Members Statement on Re-settlement, 19.September 1985, CA5/5/358, Christian Aid Archive, SOAS.
107 Hungerhilfe. Schokolade für Zuckerkranke?, in: Der Spiegel, 21.Januar 1985.
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und profitierten von der spontanen Spendenbereitschaft jenseits ihrer traditionellen Basis. 108 Auch während der irischen und der russischen Hungersnot hatten sich bekannte Persönlichkeiten engagiert, doch erst in der Ära des Expressiven Humanitarismus kanalisierten und prägten diese die öffentliche Wahrnehmung von Katastrophen und deren Abhilfe. Band Aid wurde zur Ikone des Kampfs gegen den Hunger und weckte den partizipatorischen Enthusiasmus der breiten Öffentlichkeit, um daraus Kapital zu schlagen. Obwohl die Äthiopienkrise den Professionalisierungsprozess humanitärer Arbeit in vielerlei Hinsicht weiterführte 109, stand der Band Aid-Trust als improvisierter Neuling im Gegensatz zur professionellen Hilfsindustrie mit ihren hohen Betriebskosten und Gehältern. Im Nachhinein sah Geldof das Erbe von Band Aid neben der geleisteten Hilfe auch darin begründet, gegenüber Experten, die die Ausweglosigkeit der Situation beteuerten, den Glauben der Öffentlichkeit begründet zu haben, dass alles möglich sei. 110
Schlussfolgerungen Im Gegensatz zu anderen Formen der „voluntary action“ ist Humanitarismus ein transnationales Phänomen, das internationalen Beziehungen und geopolitischen Zusammenhängen unmittelbar ausgesetzt ist. Diese Faktoren gelten weithin als ausschlaggebend – das zeigen bisherige Ansätze, die Wendepunkte und Perioden humanitären Handelns zu bestimmen. Den machtpolitischen Konfigurationen des internationalen Systems und den Notlagen, die sich direkt oder indirekt aus den großen Kriegen des zwanzigsten Jahrhunderts ableiteten, wird im Allgemeinen ein formativer Einfluss auf den Humanitarismus zugeschrieben. Wenn Forschung und Praktiker gleichermaßen historische Zäsuren wie den Ersten und Zweiten Weltkrieg, den Kalten Krieg, den Zusammenbruch des Ostblocks sowie die globale Unordnung nach 1989 betonen, erscheint Humanitarismus als ein Ausfluss „hoher Po-
108 Robert Dodd, Oxfam’s Response to Disasters in Ethiopia and the Sudan, Juni 1986, MS Oxfam PGR 5/ 5/1, 37, Oxfam Archive, Bodleian Library. 109 Andrew Jones, Band Aid Revisited. Humanitarianism, Consumption and Philanthropy in the 1980s, in: Contemporary British History 31, 2017, 189–209, hier 195. 110 Band Aid Trust, With Love from Band Aid. Report of 7 Years Work. London 1992, 3.
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litik“. Diese Perspektive kommt Hilfsorganisationen entgegen, die sich gerne als neutrale Problemlöser und aus einer technischen Notwendigkeit heraus entstanden darstellen und wenig Interesse haben, als Einrichtungen mit Eigenleben wahrgenommen zu werden, die nicht lediglich Notfallhilfe in weiter Ferne leisten. Der vorliegende Beitrag rückt die unterschätzte Rolle kultureller und ökonomischer Faktoren für die Ausformung humanitärer Praxis in den Vordergrund und plädiert dafür, ihnen größere Bedeutung zuzumessen als machtpolitischen und geopolitischen Verwicklungen. So ist es fraglich, ob der Westen in der großangelegten Katastrophenhilfe für Sowjetrussland in den 1920er Jahren oder für Äthiopien ein halbes Jahrhundert später ernsthaft glaubte, geopolitische Ziele erreichen zu können. Wahrscheinlicher scheint, dass kulturelle und ökonomische Dynamiken im Zusammenspiel von moralischer Rezeptivität und logistischem Vermögen ausschlaggebend für die Hilfseinsätze waren. Solche Faktoren waren in den jeweiligen historischen Kontext eingebettet und generierten spezifische moralische Ökonomien, mit denen Geber und Hilfsorganisationen ihre wirtschaftlichen Entscheidungen mit altruistischer Bedeutung versahen. 111 Von Zeitgenossen wahrgenommene Zäsuren sind aufschlussreich, ersetzen aber nicht eine historische Analyse. 112 Eine mehrheitlich nach dem Ende des Kalten Krieges geborene Gruppe von Doktoranden aus Schweden, Dänemark, Deutschland und Russland fand zu unserer Überraschung die herrschende Annahme, der zufolge 1989 einen Wendepunkt in der Geschichte des Humanitarismus darstellt, nicht unmittelbar einleuchtend. 113 Ob erlebtes Kontinuum oder analytische Taxonomie, historische Perioden sind ähnlich dem soziologischen Konzept der Generation eine heuristische Konstruktion, die charakteristische Merkmale, Kontexte und Probleme aus dem Fluss der Zeit destilliert. Objektiv nicht verifizierbar, gründen sie vielmehr in Perspektiven und Auswahl, der Korrelation mit zeitlichen Mustern in zen-
111 Norbert Götz, „Moral Economy“. Its Conceptual History and Analytical Prospects, in: Journal of Global Ethics 11, 2015, 147–162, hier 158; siehe auch Norbert Götz/Georgina Brewis/Steffen Werther, Humanitarianism in the Modern World. The Moral Economy of Famine Relief. Cambridge (im Erscheinen). 112 Sabrow, Zäsuren (wie Anm.4). 113 Seminar „Humanitarianism – some Problems of Transnational History“ im Rahmen des Kurses „Historiska problem“ des Schwedischen Graduiertenkollegs für Geschichtswissenschaften, Södertörn Universität Stockholm, 13.Dezember 2017.
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tralen gesellschaftlichen Feldern und einem plausiblen Narrativ ihres spezifischen Gegenstandes. 114 Periodisierung muss notwendigerweise vereinfachen und sieht sich als analytisches Werkzeug regelmäßig dem Vorwurf ausgesetzt, ein törichtes Unterfangen zu sein, das wichtige Prozesse oder Details ausblendet und unser Verständnis zu begrenzen droht. Ein unter dem Titel „Against Periodization“ veröffentlichter Artikel begnügt sich dennoch mit einer Auflistung unterschiedlicher Argumente gegen vorherrschende Sichtweisen, ohne die Idee zeitlicher Gliederung grundsätzlich zu verwerfen. 115 Dies deutet darauf hin, dass historische Zäsuren und Perioden wertvolle Orientierungshilfen bleiben können, sofern sie klug eingesetzt und als das verstanden werden, was sie sein sollten: Mittel der Kontextualisierung und synoptischer Perspektiven, die der Einsicht in das „große Ganze“ verpflichtet sind, eine bewusste Abstraktion vom Detailreichtum der Geschichte. Besonders wertvoll sind sie als kritische Werkzeuge, die den methodologischen „Chronozentrismus“ der Gegenwart infrage stellen und tiefere Ebenen der Geschichte offenlegen. 116 Wer das Werkzeug zeitlicher Unterteilungen dagegen zur Homogenisierung historischer Analyse benutzt, wird ihm nicht gerecht. Ein zweiter Beitrag, der sich „Against Periodization“ in die Bresche wirft, plädiert für die Annahme multipler Temporalitäten, statt von „a chronological succession of more or less well-defined units of time“ auszugehen. 117 Ein tieferes Verständnis der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen setzt aber gerade einen Begriff der historischen Abfolge verschiedener Modelle menschlichen Handelns voraus. In diesem Sinne betreffen die möglicherweise interessantesten Beobachtungen unserer Analyse Asynchronität; sei es die Koexistenz von feudalistischen und modernen zivilgesellschaftlichen Ansätzen bei katholischen Hilfsmaßnahmen während der großen irischen Hungersnot oder der Rückgriff auf Formen von Ad Hoc-Humanitarismus in der von Band Aid geübten Kritik an der Hilfsindustrie, die sich in einem jahrzehntelangen Professionalisierungsprozess und durch die Marginalisierung von Laienphilantropie herausgebildet hatte.
114 William A. Green, Periodization in European and World History, in: Journal of World History 3, 1992, 13–53, hier 14f. 115 Eric Hayot, Against Periodization; or, On Institutional Time, in: New Literary History 42, 2011, 739– 756, hier 747f. 116 Ebd.747. 117 Helge Jordheim, Against Periodization. Koselleck’s Theory of Multiple Temporalities, in: History and Theory 51, 2012, 151–171, hier 157.
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Nach der zaghaften Entstehung von humanitären Bemühungen im neunzehnten Jahrhundert scheinen der Durchbruch der klassischen Moderne mit ihrem tayloristischen Paradigma und später der Aufstieg des Postmodernismus und des Neoliberalismus, der Ideen der 68er-Generation umwandelte 118, einen größeren Einfluss auf humanitäres Handeln gehabt zu haben als die verschiedenen Krisen, auf die es reagierte. Wir hoffen, mit unseren knappen Fallstudien die Tragfähigkeit einer solchen durch Braudel inspirierten Sichtweise angedeutet zu haben. Wenn die aus diesem Gerüst abgeleiteten Perioden – der Ad Hoc-Humanitarismus des neunzehnten Jahrhunderts, der Organisierte Humanitarismus bis in die 1960er Jahre und der Expressive Humanitarismus in den darauffolgenden Jahrzehnten – der Forschung dienlich wären, Arbeitsbedingungen und Herausforderungen humanitärer Organisationen und vielleicht sogar des ehrenamtlichen Bereichs im Ganzen besser zu verstehen, hätte dieser Beitrag sein Ziel erreicht.
118 Boltanski/Chiapello, New Spirit (wie Anm.36).
N. GÖTZ
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II. Die Bedeutung der Freiwilligkeit im Wandel
Der Wert der Freiwilligkeit von Christine G. Krüger
In der englischsprachigen und vor allem in der britischen Historiographie zu voluntary action wird gern das Bild der „moving frontier“, der beweglichen Grenze verwendet, um die Beziehung zwischen Staat und Freiwilligensektor zu charakterisieren. 1 Geprägt wurde diese Formel von William Beveridge, dem Gründervater des britischen welfare state. Sie sollte den Wandel beschreiben, der mit der Schaffung des Wohlfahrtsstaates einherging, und richtete sich gezielt gegen die Vorstellung, dass staatliche Sozialleistungen den Freiwilligensektor überflüssig machen würden. 2 Stattdessen ging Beveridge davon aus, dass der Staat zwar Aufgaben übernehme, die zuvor von der freien Wohlfahrtspflege erfüllt worden seien, dass er aber den Freiwilligensektor niemals vollkommen ersetzen könne. 3 Für den Freiwilligensektor bedeutete der Ausbau des staatlichen Wohlfahrtssystems einen tiefen Einschnitt. Dass Beveridge und seine Zeitgenossen ebenso wie viele Historiker den darauf zurückzuführenden Veränderungen ihr besonderes Augenmerk schenkten, kann nicht überraschen. Allerdings reicht es nicht aus, allein die Auswirkungen der zunehmenden Wohlfahrtsstaatlichkeit in den Blick zu nehmen, um die Transformationen zu erfassen, die der Freiwilligensektor im Laufe des 20. Jahrhunderts durchmachte. Denn dieser wurde nicht nur durch sein Verhältnis zum Staat bestimmt, sondern auch durch dasjenige zur Ökonomie und zum Privaten. Das schlägt sich auch im Definitorischen nieder: Als „freiwillig“ werden gemeinhin solche Arbeiten definiert, die einem größeren Kollektiv bzw. dem „Gemeinwesen“ gewidmet sind. Neuere Definitionen von Freiwilligenarbeit verzichten dabei vielfach darauf, eine vollständig freie Willensentscheidung vorauszusetzen. Stattdessen vollziehen sie eine doppelte Abgrenzung: Als freiwillig gelten demzufolge
1 Geoffrey Finlayson, A Moving Frontier. Voluntarism and the State in British Social Welfare, 1911–1949, in: Twentieth Century British History 1, 1990, 183–206; vgl. auch den Beitrag von Melanie Oppenheimer in diesem Band. 2 Thomas Hansard (Ed.), Parliamentary Debates (House of Lords). London 1949. 5th Series, Vol.163, col. 119 (22.Juni 1949), 95. 3 William Beveridge, Voluntary Action. A Report on the Methods of Social Advance. London 1948.
HTTPS :// DOI . ORG / 10.1515/9783110627442-006
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Arbeiten, die weder aufgrund ökonomischer Notwendigkeiten noch aufgrund staatlicher Vorschriften oder politischer Zwänge verrichtet werden. 4 Diese Definition spiegelt sich auch in den Bemühungen, mit den Begriffen „Freiwilligensektor“, „Dritter Sektor“ oder „Zivilgesellschaft“ eine öffentliche Sphäre zu fassen, die als „gemeinnützig“ und „freiwillig“ (bzw. „non-profit“ und „non-governmental“) von der Sphäre des Privaten, der Wirtschaft und des Staates geschieden ist. Wenngleich viele der für diese Thematik verwendeten Begriffe Neologismen der letzten Jahrzehnte sind, lassen sich die genannten Definitionskriterien historisch weit zurückverfolgen. Das heißt freilich nicht, dass das Verständnis von Freiwilligenarbeit statisch blieb. Vor allem bei der Wertung und Gewichtung der einzelnen Kriterien lassen sich für das 20.Jahrhundert, dem sich die folgenden Ausführungen widmen, starke Schwankungen beobachten: Nicht immer wurde etwa in derart starkem Maße der politische Aspekt der Freiwilligkeit in den Vordergrund gestellt wie bei der seit etwa 1990 verbreiteten Vorstellung, eine hohe Freiwilligenmobilisation sei ein Anzeichen für eine funktionierende Demokratie. Der folgende Beitrag fragt danach, wie sich das Verhältnis von freiwilligem, staatlichem, ökonomischem und privatem Sektor veränderte, wie sich die „moving frontier“, die sie trennte, bewegte – beziehungsweise inwiefern das Bild der Grenze das Verhältnis zwischen den Sektoren, die sich vielfach überlappten und ineinandergriffen, überhaupt angemessen beschreiben kann. 5 Am Beispiel der in Deutschland seit den 1930er Jahren bestehenden Jugendfreiwilligendienste wird dazu der Wandel im Verständnis der Freiwilligenarbeit in den Blick gerückt: Zum einen wird analysiert, welche Aufgaben die Freiwilligendienste übernehmen sollten, zum anderen, welcher Wert dabei der Freiwilligkeit zugeschrieben wurde. Als Untersuchungsgegenstand dienen hier Jugendfreiwilligendienste. Darunter werden über einen längeren Zeitraum hinweg gewöhnlich als Vollzeitbeschäfti-
4 Vgl. z.B. die Definition der United Nations General Assembly, die „volunteering“ über folgende drei Kriterien bestimmt: „1. It is not undertaken primarily for financial gain. […] 2. It is undertaken of one’s own free will. The decision to volunteer may be influenced by peer pressure or personal feelings of obligation to society but, in essence, the individual must be in a position to choose whether or not to volunteer; 3. It benefits a third party or society at large. Actions that benefit only the person who volunteers or that cause harm to society do not meet this criterion.“ United Nations General Assembly (Ed.), Support for Volunteering. Report of the Secretary General, A 56/288, 14.August 2001, http://www.un.org/documents/ga/docs/56/ a56288.pdf (Zugriff: 19.April 2018). 5 Finlayson, A Moving Frontier (wie Anm.1).
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gung ausgeführte und dem Gemeinwesen gewidmete Arbeitsdienste verstanden, die von jungen Menschen unentgeltlich verrichtet werden, ohne dass diese damit einer staatlichen Verpflichtung folgen. Diese Dienste zeichnen sich durch zwei Charakteristika aus, die ihnen für die hier untersuchte Fragestellung besondere Relevanz verleihen: Erstens lässt sich ihre Geschichte bis in die Zeit der beginnenden Wohlfahrtsstaatlichkeit zurückverfolgen. Forderungen, dem Gemeinwesen gewidmete Jugenddienste einzuführen, wurden seit dem ausgehenden 19.Jahrhundert immer häufiger und lauter erhoben; in den letzten Jahren der Weimarer Republik entstand für sie schließlich mit dem Freiwilligen Arbeitsdienst erstmals ein staatlich gefördertes Programm. Zweitens war es von Beginn an eine viel debattierte und umstrittene Frage, ob solche Dienste auf freiwilliger oder verpflichtender Basis durchgeführt werden sollten. Die Diskussionen hierüber sind bis heute nicht verhallt. In ihnen schlagen sich Wert und Bedeutung, die der Freiwilligkeit beigemessen wurden, in besonders anschaulicher Weise nieder. Für die im Folgenden im Vordergrund stehende Diskursanalyse ist zu beachten, dass Freiwilligenarbeit seit dem ausgehenden 19.Jahrhundert immer umstritten war. Ihre Förderung verfolgte oftmals Ziele, die auf zwei ihrer Wesensmerkmale aufbauten und sich analog zu ihnen als ein ökonomisches und ein politisches beziehungsweise ideologisches Vorhaben beschreiben lassen: Zum einen sollten Freiwilligendienste Arbeitsressourcen erschließen, zum anderen sollten sie Loyalitätsbande stärken, denn die Bereitschaft, sich freiwillig zu engagieren, galt – ähnlich wie die freiwillige Meldung zum Militär – als Zeichen des Idealismus und der enthusiastischen Teilhabe. Da jedoch vor allem die Legitimität der ökonomischen Zielsetzung immer wieder in Frage gestellt wurde, ist zu berücksichtigen, dass es auch auf taktische Überlegungen zurückzuführen sein kann, wenn Staat oder Trägerorganisationen es bei der Rekrutierung von Freiwilligen vorzogen, den ideologischen Aspekt in den Vordergrund zu rücken und je nach historischem Kontext den Nutzen des freiwilligen Engagements für die Kirchen, die Nation oder – wie in jüngster Zeit üblich – für die Demokratie zu betonen.
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I. Die Anfänge: Freiwilligkeit als Loyalitätsbeweis und als pädagogisches Prinzip Die Forderung, zivile Arbeitsdienste für Jugendliche zu schaffen, wurde erstmals in der Zeit der Französischen Revolution formuliert. 6 Dahinter stand zunächst das Motiv, eine weibliche Komplementärinstitution zum Militärdienst der männlichen Jugend zu kreieren. Die Teilnehmerinnen sollten sich vor allem der Pflege alter oder kranker Menschen widmen. Die Idee des Arbeitsdienstes war insofern von Beginn an mit der aufkeimenden Idee staatlicher Wohlfahrt verbunden. Tatsächlich war die Epoche der Revolutionskriege und des sich formierenden Nationalismus eine Zeit, in der die Vorstellung, dass der Staat Sozialfürsorge zu leisten habe, erste stärkere Impulse erhielt. 7 Diese Anfänge des Wohlfahrtsgedankens sind nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass im Zuge der mehr und mehr unter nationalem Banner geführten Kriege auch die Kriegsversehrtenfürsorge zunehmend als nationale Aufgabe betrachtet wurde. Anknüpfend an die Arbeit patriotischer Frauenvereine in der Zeit der antinapoleonischen Kriege wurden im Laufe des 19. und frühen 20.Jahrhunderts auch im deutschsprachigen Raum wiederholt Pläne für einen weiblichen Sozialdienst ausgearbeitet. 8 Weil er als Pendant zum Wehrdienst fungieren sollte, wurde dabei in der Regel an einen Pflichtdienst gedacht. Von einer Umsetzung blieben diese Planungen allerdings weit entfernt. Es dauerte bis zur Zwischenkriegszeit, bis schließlich erstmals ein größeres, staatlich organisiertes Programm für zivile Freiwilligendienste entstand. 9 Den Auslöser dafür lieferte die Massenarbeitslosigkeit. Damit veränderten sich im Vergleich zu den älteren Plänen die Motive ebenso wie die vorrangige Zielgruppe: Der 1931 in der Weimarer Republik eingerichtete Freiwillige Arbeitsdienst sollte in gewisser Weise 6 Vgl. Christine G. Krüger, Dienstethos, Abenteuerlust, Bürgerpflicht. Jugendfreiwilligendienste in Deutschland und Großbritannien im 20.Jahrhundert. Göttingen 2016, 29–31. 7 Die Bedeutung der Französischen Revolution für die Entwicklung sozialstaatlicher Ideen betont etwa Lisa DiCaprio, The Origins of the Welfare State. Women, Work, and the French Revolution. Urbana 2007. 8 Krüger, Dienstethos (wie Anm.6), 31f. 9 Der Weimarer Arbeitsdienst ist ausgiebig erforscht. Vgl. u.a. Dagmar G. Morgan, Weiblicher Arbeitsdienst in Deutschland. Darmstadt 1978; Peter Dudek, Erziehung durch Arbeit. Arbeitslagerbewegung und freiwilliger Arbeitsdienst 1920–1935. Opladen 1988; Manfred Göbel, Katholische Jugendverbände und freiwilliger Arbeitsdienst 1931–1933. Paderborn 2005; Christian Illian, Der Evangelische Arbeitsdienst: Krisenprojekt zwischen Weimarer Demokratie und NS-Diktatur. Ein Beitrag zur Geschichte des Sozialen Protestantismus. Gütersloh 2005.
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einen Ersatz für die Erwerbsarbeit schaffen und richtete sich somit vor allem an die männliche Jugend. Seine Einführung stand ebenfalls im Zusammenhang mit staatlichen Sozialleistungen. Allerdings ging es nicht in erster Linie darum, dass die Freiwilligen mit ihrer Arbeit zu diesen beitragen sollten, sondern vielmehr war der Dienst als eine Art Gegenleistung zur Erwerbslosenunterstützung konzipiert. Nur die relativ kleine Minderheit weiblicher Freiwilliger betätigte sich im sozialen Bereich, während die männlichen Arbeitsdienstteilnehmer sich infrastrukturellen Aufgaben wie dem Straßenbau und der Ödlandkultivierung widmeten. Kritik erregte der Weimarer Arbeitsdienst in Teilen der Sozialdemokratie und in den Gewerkschaften. Diese richteten sich gegen die ökonomische Zielsetzung des Dienstes und prangerten an, dass die unentgeltliche geleistete Arbeit billige Ausnutzung sei, mit der regulär bezahlte Stellen eingespart und Löhne ausgehöhlt würden. 10 Bei seinen Befürwortern hingegen drehten sich die Diskussionen über den Arbeitsdienst vor allem um die Frage, ob eine Rekrutierung auf der Grundlage der Freiwilligkeit ausreiche oder ob eine Dienstpflicht eingeführt werden solle. In Regierungskreisen setzte sich bald die Auffassung durch, ein Pflichtdienst sei zu kostspielig und lasse sich überdies nur gegen hohen Widerstand seitens der Jugendlichen durchsetzen. Dazu war man weder bereit noch in der Lage. 11 Neben derlei wirtschaftlichen und praktischen Erwägungen führten Pflichtdienstgegner vor allem immer wieder auch pädagogische Argumente ins Feld: Es war eine verbreitete Überzeugung, dass der Arbeitsdienst nicht nur eine vorübergehende Beschäftigung für die Jugendlichen bereitstellen solle. Vielmehr wurde ihm auch die Aufgabe zugeschrieben, erzieherisch zu wirken und diejenigen Tugenden und Fähigkeiten einzuüben, die als unverzichtbar für die Erwerbsarbeit galten, das heißt vor allem Disziplin und Gehorsam. Doch auch wenn es um Unterordnung ging, erschien die Freiwilligkeit wichtig: Unter dem Einfluss der Reformpädagogik verbreitete sich zunehmend die Vorstellung, dass nur die aus eigenem Antrieb unternommene „Selbsterziehung“ Früchte tragen könne. 12 Für viele Gegner der Pflichtdienstforde-
10 Vgl. Henning Köhler, Arbeitsdienst in Deutschland. Pläne und Verwirklichungsformen bis zur Einführung der Arbeitsdienstpflicht im Jahre 1935. Berlin 1967, 163–177; Dudek, Erziehung durch Arbeit (wie Anm.9), 221–231. 11 Vgl. Köhler, Arbeitsdienst (wie Anm.10), 71–80. 12 Eugen Rosenstock-Huessy, Arbeitslager und Arbeitsdienst, in: ders./Carl Dietrich von Trotha (Hrsg.), Das Arbeitslager, Berichte von Arbeitern, Bauern, Studenten. Jena 1931, 147–160, hier 159; vgl. ähnlich Bertha Finck, Bilder aus der Arbeit, in: dies. (Hrsg.), Was können wir für unsere arbeitslose Jugend tun? Bilder aus
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rung traf dies in besonderer Weise dann zu, wenn – wie es auch als Ziel der Arbeitsdienste galt – zur „freiwilligen Hingabe“ erzogen werden sollte. 13 Der Geschäftsführer des evangelischen Kirchlich-Sozialen Bundes, Herbert Jagow, pries die Freiwilligkeit beispielsweise als Mittel, um die Teilnehmer am Arbeitsdienst an die erwünschte „arbeitsethische Haltung“ zu gewöhnen. Das bedeutete für ihn nicht zuletzt, sie von der „materiell-wirtschaftlichen Wertung der Arbeit (Arbeit-Lohn)“ abzubringen. 14 Hier stand also der ökonomische Aspekt der Freiwilligkeit im Vordergrund, denn es war die Unentgeltlichkeit der erbrachten Arbeit, der man diesen Effekt zuschrieb. Es zeigt sich allerdings bereits, wie eng verwoben die idealtypisch getrennten Sphären in der Realität waren: Staatliche Instanzen organisierten Freiwilligenarbeit, um steuernd auf die Arbeitsmarktentwicklung und somit auch auf die ökonomische Konjunktur Einfluss zu nehmen. Bei der Auseinandersetzung mit dem Arbeitsdienst gingen Pflichtdienstgegner nur selten explizit auf den politischen Aspekt der Freiwilligkeit ein. Die Freiwilligkeit wurde für diesen in der Regel nicht wie im Falle der Kriegsfreiwilligkeit als Ausdruck des Idealismus und einer gar bis zur Aufopferungsbereitschaft reichenden Gemeinwohlorientierung gedeutet – tatsächlich nahmen wohl auch viele Jugendliche deshalb an den Diensten teil, weil sie sich in einer wirtschaftlichen Notlage befanden. Partizipation zu fördern war somit auch in den Augen derjenigen, die für die Dienste das Prinzip der Freiwilligkeit propagierten, zumeist kein eigenständiges Ziel, sondern eher Mittel zum Zweck. Noch weniger wurde die Frage der Freiwilligkeit mit der Diskussion über Regierungssysteme oder demokratische Prinzipien in Zusammenhang gebracht. Das propagierte Ziel einer Erziehung zu „freiwilliger Unterordnung“ ließ sich ebenso gut – wenn nicht gar besser – auch mit anderen Formen der Gesellschaftsorganisation vereinbaren. 15 Aber auch unabhängig von dieser Frage wurde für das Gros der Arbeitsdienstprojekte Freiwilligkeit nur indirekt auf ihren
der Arbeit der evangelischen Liebestätigkeit. Berlin 1931, 22–71, hier 38; vgl. als Beispiel für den reformpädagogischen Ansatz Erich Hentze, Das Problem der Willensbildung in der modernen Pädagogik. Eine kritische Studie der Willenserziehung nach den Ergebnissen der neueren voluntaristischen Psychologie. Osterwieck 1929. 13
Erich Gräf, Das Dienen im freiwilligen Arbeitsdienst. Leipzig 1933, 4.
14
Herbert Jagow, Der arbeitsethische Sinn des freiwilligen Arbeitsdienstes, in: Reichsgeschäftsstelle des
Kirchlich-Sozialen Bundes (Hrsg.), Der freiwillige Arbeitsdienst. Berlin 1931, 17–21, hier 20. 15
Diese Formel wurde bis in die nationalsozialistische Zeit immer wieder verwendet, vgl. Illian, Der
Evangelische Arbeitsdienst (wie Anm.9), 78; Dudek, Erziehung durch Arbeit (wie Anm.9), 90.
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Nutzen für die Allgemeinheit bezogen: Wenn deren bürgerliche Befürworter sie als Mittel priesen, um zu Fügsamkeit und Genügsamkeit zu erziehen, sahen sie darin einen Schritt auf dem Wege, die Arbeiterjugend mit der Klassengesellschaft zu versöhnen. Das war in ihren Augen der wichtigste Beitrag zur Vergemeinschaftung. Allein für weibliche Arbeitsdienste galt die Stärkung eines auf die Allgemeinheit ausgerichteten Engagements als zentrales Ziel, für das aber nicht unbedingt Freiwilligkeit vorausgesetzt wurde, sondern für das vielen auch ein Pflichtdienst angemessen erschien. Allgemein behielten während der Weimarer Republik die Gegner des Pflichtdienstgedankens die Oberhand. Dessen Anhänger standen mit ihrer Forderung ganz offensichtlich unter Rechtfertigungsdruck. Dies war sogar im Nationalsozialismus noch spürbar. So betonten Propagandaschriften für den erst 1935 für die männliche und 1939 für die weibliche Jugend in einen Pflichtdienst umgewandelten Reichsarbeitsdienst, auf welch hohes Maß an freiwilliger Einsatzbereitschaft der Nationalsozialismus bauen könne. Tatsächlich nutzte gerade auch die Diktatur das Ideal der Freiwilligkeit zur Selbstrechtfertigung, wenngleich damit freilich vielfach Zwang verschleiert werden sollte. Die nationalsozialistische Propaganda appellierte immer wieder vehement an die Opferbereitschaft für die „Volksgemeinschaft“. Die „Freiwilligkeit des Dienens“ wurde hier als Zeichen des Idealismus gedeutet und als „das höchste Gesetz des Nationalsozialismus“ oder als „Blüte und Krone der Disziplin“ gepriesen. 16 Auf die Kriegsfreiwilligkeit traf dies in besonderem Maße zu, aber es galt doch nicht ausschließlich für sie. Für die NS-Organisationen wurde immer wieder der „Propagandatopos freiwilliger Mitgliedschaft“ beschworen 17: Offiziell blieb der Beitritt freiwillig oder ließ zumindest große Spielräume – für Passivität einerseits, für die freiwillige Ämterübernahme andererseits. Gleichzeitig wirkten aber zahlreiche Druckmechanismen, die diese Freiwilligkeit relativierten. Dazu zählte nicht nur die Angst, politisch aufzufallen, sondern zu nennen sind hier vor allem die Auswirkungen der (Nicht-)Mitgliedschaft auf den sozialen Status und die berufliche Karriere. 18 Das galt auch für den Arbeitsdienst: Die Teilnahme an ihm war, schon be16 Sigmund Graff, Über das Soldatische. Berlin 1943, 50; Ernst Bayer, Die SA. Geschichte, Arbeit, Zweck und Organisation der Sturmabteilungen des Führers und der Obersten SA-Führung. Bearb. im Auftrag der Obersten SA-Führung. Berlin 1938, 31. 17 Kathrin Kollmeier, Ordnung und Ausgrenzung. Göttingen 2007, 213. 18 Vgl. ebd., vor allem 45–51, sowie Armin Nolzen, The NSDAP after 1933. Members, Positions, Technologies, Interactions, in: Shelley Baranowski/Armin Nolzen/Claus-Christian W. Szejnmann (Eds.), A Com-
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vor er in einen Pflichtdienst umgewandelt wurde, Voraussetzung für einen Studienantritt beziehungsweise für bestimmte Berufslaufbahnen. 19 Dies wurde freilich nicht erwähnt, wenn die vermeintlich freiwillige Mobilisierung als Ausdruck der Regimetreue gefeiert wurde. So hieß es etwa in einer 1939 publizierten Dissertation zum weiblichen Arbeitsdienst: Die „weibliche Jugend obwohl jetzt überall gebraucht, strömt freiwillig in so großer Zahl zu den Meldestellen, daß nicht alle aufgenommen werden können“. 20 Die Nationalsozialisten betonten vor allem den politischen Aspekt der Freiwilligkeit, wobei die vermeintlich unabhängig von staatlichen Vorgaben getroffene Willensentscheidung als Loyalitätsbeweis verbucht wurde. Die freiwillige Einsatzbereitschaft sollte das System stabilisieren.
II. Das Nachkriegsjahrzehnt: Freiwilligkeit in der Abkehr von diktatorischem Zwang Der Reichsarbeitsdienst fand mit dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Herrschaft sein Ende. Es dauerte danach allerdings nur wenige Monate, bis die Forderung nach der Schaffung neuer Arbeitsdienste für Jugendliche beziehungsweise junge Erwachsene aufkam. 21 Bis in die frühen fünfziger Jahre hinein sahen viele Deutsche darin ein Mittel, der hohen Arbeitslosigkeit Herr zu werden, und dachten dabei weiterhin insbesondere an die männliche Jugend. Wenngleich sie in ihrer Argumentation zunächst in vielen Punkten an die Weimarer Zeit anknüpften, ließ sich der Nationalsozialismus in der Diskussion über Freiwilligkeit oder Pflicht nicht mehr ausblenden. Hier war es nach 1945 unmöglich, Position zu beziehen, ohne auf den Reichsarbeitsdienst Bezug zu nehmen. Auch durch die Abgrenzung gegenüber
panion to Nazi Germany. New York 2018, 95–114; Armin Nolzen, Die NSDAP vor und nach 1933, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 47, 2008, 19–25. 19
Vgl. zum nationalsozialistischen Arbeitsdienst Illian, Der Evangelische Arbeitsdienst (wie Anm.9);
Morgan, Weiblicher Arbeitsdienst (wie Anm.9); Kiran Klaus Patel, „Soldaten der Arbeit“. Arbeitsdienste in Deutschland und den USA 1933–1945. Göttingen 2003. 20
Anna Kallsperger, Nationalsozialistische Erziehung im Reichsarbeitsdienst für die weibliche Jugend.
Leipzig 1939, 22. 21
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Vgl. ausführlicher Krüger, Dienstethos (wie Anm.6), 100–117.
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dem Nationalsozialismus wurde somit weiterhin das politische Element des Wertes der Freiwilligkeit gestärkt. Darüber hinaus standen die Befürworter von Pflichtarbeitsdiensten von nun an unter noch größerem Rechtfertigungsdruck als vor 1933. Aus manchen Stellungnahmen lässt sich heraushören, welche Unsicherheit darüber herrschte, was politisch erlaubt war. In schwankender Argumentation lotete 1948 beispielsweise ein promovierter Staatsanwalt, der sich für die Wiedereinführung von Jugendarbeitsdiensten einsetzte, die Spielräume aus: „Dem Gedanken der zwangsweisen Arbeitserziehung, der heute kaum Aussicht hat, gesetzgeberisch verwirklicht zu werden, an dem wir aber mitzuarbeiten bereit sind, ziehen wir eine freiwillige Erziehungsfürsorge vor.“ 22 Pläne für die Wiedereinführung eines Pflichtdienstes fanden im ersten Nachkriegsjahrzehnt allgemein nur noch wenige dezidierte Fürsprecher, die nicht selten ehemalige Reichsarbeitsdienstführer waren. Nicht zuletzt Konstantin Hierl, der den nationalsozialistischen Reichsarbeitsdienst hauptverantwortlich aufgebaut und geleitet hatte, warb in verschiedenen Publikationen für eine Wiederbelebung eines Pflichtarbeitsdienstes. 23 Dem stand eine breite Front von Pflichtdienstgegnern gegenüber, die sich engagiert in die Diskussion einbrachten. Sie stammten zum einen vor allem aus dem Umfeld der Kirchen, insbesondere der evangelischen Kirche. Hatten Kirchenvertreter die Idee einer Arbeitsdienstpflicht schon in der Weimarer Zeit abgelehnt, so sahen sie sich jetzt in ihrer Haltung bestätigt. 24 Da sie hofften, im Wiederaufbau zur neuen moralischen Leitinstanz zu werden und eine gesellschaftliche Rechristianisierung einzuleiten, betonten sie in starkem Maße ihre Unabhängigkeit vom Staat, dessen Machtbefugnisse sie mit dem Verweis auf die nationalsozialistische Vergangenheit eingeschränkt wissen wollten. Mitunter gestand man auf evangelischer Seite sogar offen ein, dass das Prinzip der Freiwilligkeit auch als Mittel ge-
22 Staatsanwalt Dr. Becker, Neue Wege der Jugendhilfe, 1948, Archiv für Diakonie und Entwicklung, CAW 714, Jugendhilfe.
23 Konstantin Hierl, Im Dienst für Deutschland 1918–1945. Heidelberg 1954. Vgl. auch Michael Hansen, „Idealisten“ und „gescheiterte Existenzen“. Das Führerkorps des Reichsarbeitsdienstes. Diss. phil. Trier 2004. 24 Vgl. Wolfgang Benz, Vom Freiwilligen Arbeitsdienst zur Arbeitsdienstpflicht, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 16, 1968, 317–346, hier 326.
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sehen wurde, um „bessere Möglichkeiten einer vertieften religiösen Beeinflussung“ zu schaffen. 25 Nicht nur in Kirchenkreisen, sondern auch im gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Lager sahen sich viele durch die Erfahrungen der nationalsozialistischen Diktatur in der Ablehnung von Pflichtarbeitsdiensten bestärkt. Die traditionelle gewerkschaftliche Argumentation, die vor allem den ökonomischen Gesichtspunkt des Arbeitsdienstes in den Blick nahm und die Pflichtdienstpläne als Versuch geißelte, an „billige Arbeitskräfte“ heranzukommen, wurde nun noch stärker durch politische Vorbehalte ergänzt 26: Immer wieder ertönten Warnungen vor einer möglichen Manipulation oder Militarisierung der Teilnehmer. 27 In Teilen der SPD, in den Gewerkschaften und bei einigen Jugendverbänden wurde nicht nur der Gedanke einer Arbeitspflicht, sondern auch die Alternative von Freiwilligendiensten verworfen, nicht zuletzt mit dem Argument, dass diese, wie es das Weimarer Beispiel zeige, doch letztlich in einen Pflichtdienst münden würden. 28 Dass der Pflichtdienstgedanke weithin mit dem nationalsozialistischen Reichsarbeitsdienst assoziiert wurde, hatte die Position seiner Gegner gestärkt. Dies äußerte sich etwa darin, dass ein Verbot von Pflichtarbeitsdiensten ins Grundgesetz aufgenommen wurde. Aber auch freiwillige Arbeitsdienste entstanden nach 1945 nur noch in sehr geringem Umfang, obwohl laut einer Emnid-Umfrage aus dem Jahr 1951 64 Prozent der Deutschen eine Wiedereinführung befürworteten. 29 Die wenigen neuen Arbeitsdienstprojekte, die ins Leben gerufen wurden, standen zumeist unter kirchlicher Trägerschaft. 30 Als Alternative setzten sich in deutlich umfangreicherem Maße die sogenannten Jugendaufbauwerke durch, die sich von Arbeitsdiensten vor allem dadurch unterschieden, dass ihre Teilnehmer tariflich entlohnt
25
Staatsanwalt Dr. Becker, Neue Wege der Jugendhilfe, 1948, Archiv für Diakonie und Entwicklung,
CAW 714, Jugendhilfe.
26
Kurt Brumlop, Wider den Arbeitsdienst, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 1, 1950, 435; vgl. auch Har-
ri Bading, Das Nachwuchsproblem in der Landarbeit, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 3, 1952, 426–431, hier 428f. 27
Zum Beispiel Arbeitsdienst ein Ausweg?, in: Junge Stimme 2, 4.April 1953, Nr.7, 1; vgl. auch: „Heissa,
da lässt sich wieder leben!“, in: Junge Stimme 4, 26.Juni 1954, Nr.12, 5. 28
Vgl. etwa den Bericht über die Stellungnahme der Falken zu der in der Öffentlichkeit diskutierten
möglichen Wiedereinführung eines freiwilligen Arbeitsdienstes: „Falken“ gegen freiwilligen Arbeitsdienst, in: Sozialdemokratischer Pressedienst, Hannover, 6.Oktober 1948, 6.
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29
Arbeitsdienst verpönt?, in: Die Welt, 11.Januar 1952, 2.
30
Vgl. Krüger, Dienstethos (wie Anm.6), 99–116.
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wurden. 31 Auch für sie wurde gern die Freiwilligkeit der Teilnahme als ein zentrales Charakteristikum gepriesen. Daran wird ebenfalls deutlich, dass die Abgrenzung gegenüber dem nationalsozialistischen Arbeitsdienst den politischen Aspekt im Verständnis von Freiwilligkeit in den Vordergrund gerückt hatte. Denn es war allein das Fehlen eines staatlichen oder politischen Zwanges, das hier die Freiwilligkeit ausmachte, nicht jedoch die Bereitschaft auf Lohnverzicht. Doch auch wenn die politische Bedeutung der Freiwilligkeit an Gewicht gewonnen hatte, ging es in der Arbeitsdienstkontroverse der 1950er Jahre weiterhin weniger darum abzustecken, inwiefern der Einzelne durch sein freiwilliges Engagement das Gemeinwesen mitgestalten solle, als vielmehr um die Frage, welchen Erziehungs- oder Disziplinierungsauftrag Staat oder Kirche über die Schulerziehung hinaus zu leisten hätten. Zwar war die wahrgenommene „Apathie“ der Jugend in der Nachkriegszeit ein viel debattiertes Thema. Systematische Bemühungen, zivilgesellschaftliche Partizipation zu fördern, erwuchsen daraus jedoch nicht. Ein solches Ziel wurde nach wie vor so gut wie gar nicht mit den Arbeitsdiensten in Verbindung gebracht. Das Diktum „Mitarbeit heißt wirkliche Demokratie“ war in der westdeutschen Nachkriegsdebatte über die Arbeitsdienste die Ausnahme, und es ist bezeichnend, dass es sich nur als Zitat eines amerikanischen Beobachters findet, der damit seiner Anerkennung der Arbeit eines Jugendaufbauwerks Ausdruck verlieh. 32 Der Gedanke, dass freiwilliges Engagement – auch in anderen Bereichen als in der Politik – als deliberatives oder partizipatorisches Element zur Demokratie gehörte, fand noch keinen Eingang in das Repertoire der Argumente deutscher Arbeitsdienstbefürworter. Im Mittelpunkt der Diskussionen der Nachkriegszeit stand – wie bei dem männlichen Arbeitsdienst vor 1945 – weiterhin weniger der unmittelbare Nutzen eines solchen Dienstes für die Allgemeinheit als vielmehr der angenommene pädagogische Effekt der Arbeit auf die jugendlichen Teilnehmer. Dieser sollte dann freilich mittelbar in anderer Weise ebenfalls dem Gemeinwesen dienen.
31 Ebd.117–122. 32 Jugendsozialwerk Gruppe Kälberbronn/Schwarzwald, in: Landesarbeitsgemeinschaft Jugendaufbauwerk für die drei Länder in Württemberg und Baden (Hrsg.), Selbsthilfewerke und Wohnheime für die heimatvertriebene und existenzlose Jugend. Tübingen 1950, 8.
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III. Der Wert der Freiwilligkeit in der Wirtschaftswunderzeit Zwei Entwicklungen – der mit der Entspannung auf dem Arbeitsmarkt einhergehende Wirtschaftsaufschwung in den frühen fünfziger Jahren und die Wiedereinführung der Wehrpflicht 1956 – veränderten die Koordinaten, an denen sich das Verständnis von Freiwilligenarbeit ausrichtete. Zur Mitte der 1950er Jahre verstummten die Arbeitsdienstforderungen für die männliche Jugend, dennoch etablierten sich in den folgenden Jahren zwei andere Arten von längerfristigen Freiwilligendiensten für Jugendliche und junge Erwachsene: zum einen Auslandsdienste, zum anderen Sozialdienste, die in erster Linie auf junge Frauen ausgerichtet waren. Für das Selbstverständnis beider war – zumindest in ihrer Anfangszeit – der „Idealismus“ ein zentrales Element. Da der Lohnverzicht als Ausdruck dieses Idealismus galt, gewann der ökonomische Aspekt im Verständnis der Freiwilligkeit an Gewicht. Vor allem in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren resultierte die hohe Wertschätzung des Idealismus teilweise aus einem Unbehagen an der sich herausbildenden Wohlstandsund Konsumgesellschaft. Die Trägerorganisationen der Freiwilligendienste brachten immer wieder zum Ausdruck, dass gerade angesichts der guten wirtschaftlichen Lage Verzichtbereitschaft zu einer immer wichtigeren Fähigkeit werde. Auch für viele Freiwillige war eine wohlstands- und konsumkritische Haltung ein Teilnahmemotiv. Einige wollten mit ihrem Dienst einer von ihnen wahrgenommenen um sich greifenden Wohlstandsgefälligkeit entgegenwirken. 33 Und so machte für sie ebenfalls oftmals der Lohnverzicht ein wichtiges Element ihres Freiwilligenstatus aus. Beispielsweise formulierte 1961 ein Teilnehmer eines Einsatzes des Internationalen Bauordens im Rückblick auf sein Dienstjahr: „Die wahre Freiheit des Menschen liegt ja im freiwilligen Verzicht. Je mehr man gibt, desto mehr kommt ins eigene Herz zurück. Diese Feststellung habe ich während der Bauordenszeit bemerkt. Ob man den Menschen am Arbeitsplatz von diesem herrlichen Gefühl erzählt, ungläubig rümpfen sie die Nasen und pochen auf ihr Geld. ‚Was ich habe, habe ich‘ lautet die Devise.“ 34
33
Siehe zum Beispiel einen Zeitungsartikel übersetzt aus Ha Aretz vom 24.Juli 1964, Evangelisches Zen-
tralarchiv, 97/45, Selbstdarstellung 1959–64. 34
Brief des Freiwilligen W. S., Dormagen, 17.November 1960, Archiv des Internationalen Bauordens,
Worms.
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Eine besondere Bedeutung hatte der eingeforderte Idealismus für die Auslandsdienste, die in dieser Zeit ihren Aufschwung nahmen. Mitte der fünfziger Jahre wuchsen einerseits die Teilnehmerzahlen der bereits seit der Zwischenkriegszeit aktiven Workcamp-Bewegung, die kurzzeitige Freiwilligendienste anbot. Vor allem aber wurden nun verschiedene längerfristige Programme ins Leben gerufen, die Freiwillige ins Ausland entsandten: Seit 1957 schickte der katholische Internationale Bauorden jährlich eine kleine Gruppe (überwiegend männlicher) Freiwilliger zu einem einjährigen Dienst ins europäische Ausland. 35 1963 richtete das Jugendwerk der Methodistenkirche in Nordwestdeutschland gemeinsam mit britischen Methodisten ein Austauschprogramm für Freiwillige ein, die ihren Einsatz in Pflegeeinrichtungen verrichteten. 36 Und 1958 schließlich nahm die Aktion Sühnezeichen ihre Arbeit auf, die sich wie der Bauorden in ihrer Anfangszeit Bauprojekten widmete. 37 Ziel der Organisation war es, als Zeichen des deutschen Sühnewillens mit ihrer Arbeit denjenigen Ländern zu helfen, die in besonderer Weise unter dem Nationalsozialismus gelitten hatten. Auch die anderen Auslandsdienste verfolgten das Anliegen, die Völkerverständigung zu fördern. Dabei gingen die Trägerorganisationen von der Überzeugung aus, dass Jugendliche in besonderer Weise dazu befähigt seien, nationale Animositäten zu überwinden. Denn sie galten gerade aufgrund des ihnen zugeschriebenen Idealismus als besonders offen für den Völkerverständigungsgedanken. Gleichzeitig wurde eben dieser Idealismus als Garant für die Glaubwürdigkeit der Dienste angesehen. Hinzu kam, dass insbesondere die amerikanische und britische Besatzungsmacht etwa durch die für die Entnazifizierung erlassene Jugendamnestie den Eindruck vermittelten, dass Jugendliche im Ausland aufgrund ihres Alters nicht für Nationalsozialismus und Krieg zur Verantwortung gezogen würden. 38
35 Siehe hierzu die IBO-Berichte sowie den Ordner Manuskripte Bauorden 1960–61, Archiv des Internationalen Bauordens. 36 Informationen zum Internationalen Diakonischen Jugendeinsatz [ca. 1970], Archiv für Diakonie und Entwicklung, HGSt, 6120. Akten zu diesem Dienst im Archiv der britischen Methodisten in Manchester waren nicht freigegeben. Zwischen 1967 und 1970 nahmen mit steigender Tendenz auf jeder Seite jährlich 15 bis 49 Freiwillige an dem Programm teil. Für die früheren Jahrgänge konnten keine Zahlen ermittelt werden. 37 Zur Aktion Sühnezeichen vgl. Gabriele Kammerer, Aktion Sühnezeichen Friedensdienste. Aber man kann es einfach tun. Göttingen 2008. 38 Vgl. zu dieser Vorstellung etwa Richard Ivan Jobs, Backpack Ambassadors. How Youth Travel Integrated Europe. Chicago 2017, 62.
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Die Freiwilligenorganisationen waren davon überzeugt, dass Friedensinitiativen nicht auf staatliche Verordnung hin gelingen könnten. Daher betonten sie gern ihre staatliche Unabhängigkeit. Vor allem traf dies für die Aktion Sühnezeichen mit ihrer starken vergangenheitspolitischen Ausrichtung zu. Um den Sühnewillen der Freiwilligen authentisch erscheinen zu lassen, war es der Organisation wichtig, alles zu vermeiden, was sie in den Ruf bringen könnte, als Marionette der staatlichen Diplomatie zu handeln. Dieses Bestreben ging so weit, dass die Organisation es ablehnte, Unterstützungsgelder der Bundesregierung anzunehmen. 39 Wenn also für die Auslandsdienste im Verständnis von Freiwilligkeit das ökonomische Element an Bedeutung gewann, ging dies Hand in Hand mit einer gleichzeitigen Stärkung des politischen Elements.
IV. Freiwilligenarbeit versus Frauenerwerbstätigkeit Wenn die Trägerorganisationen der zunächst in ihrer Mehrzahl als Bauprojekte und für männliche Teilnehmer konzipierten Auslandsdienste den politischen Aspekt von Idealismus und Freiwilligkeit betonten, unterschied sie dies von den entstehenden Sozialdiensten: Hier trat die eindeutig geschlechtsspezifische Aufladung zutage, der sowohl der Wert des Idealismus als auch derjenige der Freiwilligkeit unterlagen. Die Sozialdienste, die seit Mitte der fünfziger Jahre von den kirchlichen Wohlfahrtsorganisationen und vom mit dem Roten Kreuz zusammenarbeitenden Internationalen Jugendsozialwerk angeboten wurden, rekrutierten in der Regel weibliche Freiwillige. Anfang der sechziger Jahre folgte dann das Bundesfamilienministerium mit Planungen für einen gleichfalls in erster Linie auf junge Frauen zugeschnittenen staatlich geförderten Sozialdienst. Daraus ging 1964 das Freiwillige Soziale Jahr hervor. Auch für diese Dienste wurde Idealismus eingefordert, der jedoch hier in der Regel anders definiert wurde als bei den Auslandsdiensten. Im Zentrum der Debatte über diese Dienste stand immer wieder die Frage des Lohnverzichts. Denn diese Diskussion wurde in engem Zusammenhang mit der zu-
39
Klaus Wilm, Die Aktion Sühnezeichen. Junge Menschen setzen einen neuen Anfang. Kurzer Rück-
blick auf die Gründung von AFS, S. 1, Evangelisches Zentralarchiv, 97/45, Selbstdarstellung 1959–64; angenommen wurden allerdings kommunale Unterstützungsgelder, vgl. Anton Legerer, Tatort: Versöhnung. Aktion Sühnezeichen in der BRD und in der DDR und Gedenkdienst in Österreich. Leipzig 2011, 99–102.
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nehmenden Frauenerwerbstätigkeit geführt, die von zahlreichen Zeitgenossen als einschneidende gesellschaftliche Transformation und von manchen als Gefahr wahrgenommen wurde. Dass Frauen die bezahlte Berufsarbeit der unbezahlten Hausarbeit vorzogen, war für viele Konservative ein Stein des Anstoßes. Hinzu kam, dass die Arbeitsmarktsituation es nicht nur immer mehr Frauen erlaubte, ins Berufsleben einzusteigen, sondern dass sie ihnen auch zunehmend größere Möglichkeiten bei der Berufswahl eröffnete. Dies machte sich im Pflegesektor bemerkbar: Durch den Ausbau des Sozialstaats wuchs hier der Personalbedarf, während die religiösen Orden, die traditionell viele Schwestern gestellt hatten, immer weniger Nachwuchs lieferten und die Pflegeberufe für freie Pflegekräfte in ihrer herkömmlichen Gestalt zunehmend an Attraktivität verloren. Denn traditionell waren sie als „Liebesdienst“ definiert worden, der durch „Gottes Lohn“ vergolten werde, während eine materielle Vergütung kein Motiv darstellen sollte. Diese Vorstellung schlug sich in den Arbeitsbedingungen nieder: Anfang der fünfziger Jahre waren für Krankenschwestern bei geringer und nicht tariflich geregelter Bezahlung noch 70 bis 80 Wochenarbeitsstunden die Norm – im Gegensatz zu 48 Stunden in anderen Feldern des öffentlichen Dienstes. 40 Hinzu kam, dass die Arbeitszeiten oftmals über den Tag verteilt lagen und von den Schwestern in der Regel noch erwartet wurde, dass sie unverheiratet waren (und blieben) und auf dem Gelände der Krankenhäuser in einer Schwesterngemeinschaft wohnten, wo sie oft nicht einmal über ein eigenes Zimmer verfügten. Und so fehlte es den Pflegeinstitutionen, als der Arbeitsmarkt jungen Frauen zunehmend Alternativen bot, bald an Personal. Die Einführung der freiwilligen sozialen Dienste für die weibliche Jugend sollte diese Entwicklungen korrigieren und damit letztlich auch dazu beitragen, die immer lauter werdenden Reformforderungen abzuwehren. Der Rektor der Diakonissenanstalt Neuendettelsau, Hermann Dietzfelbinger, der mit der Schaffung des Diakonischen Jahres 1954 einen der ersten und teilnehmerstärksten freiwilligen sozialen Jahresdienste ins Leben rief, glaubte, dass es zu viele Frauen gebe, „die keine rechte, d.h. der Frau gemäße Arbeit“ ausübten. Ihnen solle „wenigstens der Weg dahin gezeigt werden, wo diese rechte, wichtige, schöne Arbeit liegt und wartet: der
40 Zum Schwesternmangel und zu den Arbeitsbedingungen der Schwestern vgl. Susanne Kreutzer, Vom „Liebesdienst“ zum modernen Frauenberuf. Die Reform der Krankenpflege nach 1945. Frankfurt am Main 2005, passim, speziell zu den Arbeitszeiten 18, 183, 195.
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Dienst am Menschen“. 41 Hier verwischte die Grenze zwischen freiwilliger Pflegearbeit und Familienarbeit, denn viele Befürworter, die Trägerorganisationen, die Bundesregierung sowie oft auch die Freiwilligen selbst betrachteten den Jahresdienst bis weit in die zweite Hälfte der sechziger Jahre hinein zum einen als „Vorschule für die Ehe“. 42 Zum anderen sollte die im Dienst erlernte Genügsamkeit in den Augen der Organisatoren auch auf eine mögliche Aufnahme einer Pflegetätigkeit vorbereiten. Noch 1967 hielt das Protokoll zu einem Erfahrungsaustausch über das Diakonische Jahr fest: „Das Taschengeld wird im Diakonischen Jahr gezahlt, um vom Tarifdenken abzukommen. Der ‚Dienst‘ kann nicht ‚bezahlt‘ werden.“ Der „pädagogische Ansatz und Wert“ würde durch eine materielle Entlohnung „gefährdet“. 43 Da die Pflegeberufe in dieser Sicht außerhalb der regulären Erwerbswelt lagen, blieb auch die weiblich konnotierte Freiwilligenarbeit von der Erwerbsarbeit getrennt. Das Ziel, junge Frauen die Bereitschaft zum Lohnverzicht zu lehren, hielten konservative Zeitgenossen teilweise für so wichtig, dass sie die Förderung eines dementsprechenden Dienstethos zur Aufgabe des Staates erklärten. Mitunter beriefen sie sich dabei auf die Wehrpflicht, die in ihren Augen für die männliche Jugend einen ähnlichen Zweck erfüllte. Aufgrund solcher Überlegungen entbrannte die Debatte über die Einführung eines Pflichtjahres in neuer Schärfe. Es sei eine nationale „Lebensfrage“, bei den jungen Frauen einen neuen „Gemeinschaftsgeist“ zu wecken, glaubte beispielswiese der nordrheinwestfälische Ministerialrat Hermann Josef Nachtwey 1961. 44 Und der angesehene Theologe Helmut Thielicke mahnte in einer Rede, die die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ erstmals 1961 und erneut 1966 abdruckte: „Wenn der Wille zum Dienen mehr und mehr entschwindet, das Dienen aber eine Conditio sine qua non für die Funktionstüchtigkeit einer Gesellschaft ist, so bleibt gar nichts anderes übrig, als daß der Gesetzgeber interveniert und
41
Dietzfelbinger, Neuendettelsau, Oktober 1954, Archiv für Diakonie und Entwicklung, ADW, HGSt, III
252 Diakonisches Jahr, 985, Einführung Aufrufe, Berichte (671–1/8). 42
Niederfüllbach, 12.März 1955, Zentralarchiv Diakonie Neuendettelsau, D5/2–2, Diakonisches Jahr I.
43
Protokoll über den Erfahrungsaustausch in Bad Godesberg am 9./10.Februar 1967, Archiv für Diako-
nie und Entwicklung, ADW, HGSt III 252 Diakonisches Jahr, 4844 Erfahrungsaustausch. 44
Hermann Josef Nachtwey, Brief betr. Freiwilliger Sozialer Dienst, Innenministerium NRW, Bürgerli-
che Bildungsstelle an A. Stehlin, 6.September 1961, Archiv des Deutschen Verbandes der Caritas, 084 N26.
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daß der kollektive Wille der Rechtsgemeinschaft das verordnet, was die Gesinnung von sich aus nicht mehr leistet.“ 45
Betrachtete Thielicke die Dienstbereitschaft als unverzichtbare Voraussetzung für ein funktionierendes Gemeinwesen, so sah auch er in erster Linie die Frauen in die Pflicht genommen. 1961 monierte er: „Wenn ich die Scharen unserer Kommilitoninnen in den Hörsälen überblicke und gleichzeitig den verzweifelten Ruf der Krankenhäuser nach Schwestern und kinderreicher Familien nach Hausgehilfinnen vernehme, so erscheint mir das als ein alarmierendes Mißverhältnis.“
Das in konservativen Kreisen verbreitete Argument, die steigende Frauenberufstätigkeit werde zu einem Rückgang der Geburtenrate führen, wandelte Thielicke ab, wenn er davor warnte, dass der Mangel an Haushaltshilfen „verheerende Konsequenzen“ zeitigen werde. 46 Denn „gerade die begabten Leute“ würden allenfalls Kleinfamilien gründen. Sie seien nicht geneigt, „einen unverhältnismäßig großen Teil ihrer Zeit in der Küche und beim Staubsaugen“ zuzubringen und würden sich daher ohne Unterstützung im Haushalt nicht auf eine größere Kinderzahl einlassen. Welche „biologischen und kulturpolitischen Folgen“ daraus erwüchsen, müsse er nicht weiter ausführen, da sie „für jeden Nachdenklichen evident“ seien. Zwar stieß die Rede Thielickes in etlichen an die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ gerichteten Leserbriefen auf Zustimmung, noch größer war jedoch die Zahl der Leserzuschriften, die dem Theologen widersprachen und seine Forderungen zurückwiesen. Überdies griffen andere Presseorgane Thielickes Vorschlag scharf an, so etwa die auflagenstarke Frauenzeitschrift „Constanze“ oder die Wochenzeitung „Die Zeit“, die das Pflichtjahr als „groteske Zukunftsvision“ abtat. 47 In der politischen Diskussion fand der Vorschlag ebenfalls nur wenig Rückhalt. Während die Sozialdemokraten und die Gewerkschaften an ihrer traditionellen Missbilligung von Pflichtdiensten festhielten, fand der Appell Thielickes im christdemokratischen Lager zu-
45 Helmut Thielicke, Die Scharen unser Kommilitoninnen…, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.November 1961, 11; ders., Das Krankenhaus – Abbild unserer Welt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. Mai 1966, 11. 46 Zu dem traditionellen bevölkerungspolitischen Argument von Antifeministen vgl. Ute Planert, Antifeminismus im Kaiserreich. Diskurs, soziale Formation und politische Mentalität. Göttingen 1998, 196– 203. 47 Nächstenliebe auf Kommando, in: Constanze. Die Zeitschrift für die Frau und für jedermann, Juli 1962, Nr.29, 8–13; Walter Care, Wohlstand als Notstand, in: Die Zeit, 8.Dezember 1961, 38.
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nächst noch einige Befürworter. 48 Doch es dauerte nicht lange, bis sich auch in der CDU eine ablehnende Haltung durchsetzte. 49
Wie schon im ersten Nachkriegsjahrzehnt begründeten viele Pflichtdienstgegner ihre Haltung mit einem Verweis auf den Nationalsozialismus. Die diesbezügliche Argumentation hatte sich allerdings verändert: Während in den frühen fünfziger Jahren mit der Bezugnahme auf die nationalsozialistischen Pflichtdienste in erster Linie staatlicher Zwang kritisiert wurde, bestimmte in den sechziger Jahren die positive Berufung auf den Wert der „Freiheit“ als Fundament der Bundesrepublik die Diskussion. Damit ging eine Abgrenzung gegenüber dem Ostblock einher. 50 Gelegentlich wurde die Idee eines Pflichtarbeitsdienstes jetzt auch als undemokratisch verworfen. 51 Weshalb sie nicht mit der Demokratie vereinbar sei, wurde allerdings selten näher erläutert. Abgesehen von der Vermutung, dass sich ein Pflichtdienst nur in einer Diktatur organisieren und durchsetzen lasse, berief man sich lediglich auf die freie Selbstbestimmung des Individuums. Die Redakteurin der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ Helene Rahms etwa argumentierte 1961: „Unsere demokratische Verfassung würde zur Farce, wenn die Arbeitskraft einer willkürlich ausgewählten Gruppe zugunsten der Allgemeinheit verplant würde.“ 52 Und Hans Graf von Lehndorff, der Festredner auf der Hauptversammlung des Deutschen Roten Kreuzes 1966, zeigte sich überzeugt: „Eine gut funktionierende Demokratie ist für mein Verständnis eine Staatsform, in welcher der einzelne für die Allgemeinheit das freiwillig tut, wozu er gezwungen würde, wenn er unter einer Diktatur zu
48
Aktennotiz, Referat F4, Bonn, den 30.Mai 1960, Bundesarchiv Koblenz, B 189/5782, 2665; Hedwig
Schmitt-Maass, Soziales Pflichtjahr für Mädchen, in: Sozialdemokratischer Pressedienst, 16.Februar 1962, 3 f.; Kommt eine weibliche Arbeitsdienstpflicht?, in: Sozialdemokratischer Pressedienst, 10.September 1962, 5f. Vgl. auch Elisabeth Pitz-Savelsberg an Frau Maria Tritz, BM für Arbeit und Soziales, 6.Februar 1962, Bundesarchiv Koblenz, Zwischenarchiv, B 149/22271, IIa 4 2225.8 Entwurf eines Gesetzes zur Förderung eines freiwilligen sozialen Jahres, Bd. Ia. 49
Gegen ein „Pflichtjahr“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. Februar 1960, 4; Soziales Pflichtjahr
für Mädchen?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.Februar 1962, 3. 50
Zum Beispiel im Auftrag der Bundesregierung Helmut Arntz (Hrsg.), 10 Jahre Bundesrepublik Deutsch-
land. Wiesbaden 1959, 619. 51
Zum Beispiel: Die Forderungen eines sozialen Dienstjahres, ev. Frauenarbeit und Diakonie, Sitzung
am 13./14.Februar 1963 in Arnoldshain, Archiv für Diakonie und Entwicklung, HGSt, III 251, 4856 Soziales Pflichtjahr für Mädchen. 52
Helene Rahms, Zur Nächstenliebe abkommandiert. Das „pflegerische Dienstjahr für die weibliche Ju-
gend“ und seine Konsequenzen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.Dezember 1961, BuZ, 6.
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leben hätte.“ 53 Demokratie und Diktatur definierte er also über den Gegensatz von Freiwilligkeit und Zwang. Darüber, dass die Demokratie ja auch die Wehrpflicht erlaubte, wurde in der Debatte überraschenderweise nicht eingehender reflektiert. Noch weniger ging man auf den Zivildienst ein, für den in den 1960er Jahren nur eine sehr kleine Zahl junger Männer optierte und der daher ohnehin noch als unerhebliche Ausnahme betrachtet wurde. 54 Des Weiteren führten die Gegner des Pflichtdienstes vor allem wieder pädagogische Argumente ins Feld. Viele von ihnen hielten die Sorge um das nachlassende Gemeinwohlinteresse für berechtigt, wie beispielsweise ein Artikel in der „Constanze“, der einräumte: „Sicherlich täte manches Geschöpf gut daran, seine Ansprüche wieder zurückzuschrauben und sich auch schon einmal vor der Ehe für die spätere Aufgabe als Hausfrau und Mutter zu erwärmen.“ 55 Ein Pflichtdienst sei hier das falsche Gegenmittel. War schon in der Weimarer Zeit ebenso wie im ersten Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg der Nutzen eines Pflichtarbeitsdienstes als Erziehungsmaßnahme vielfach bezweifelt worden, betonten dessen Opponenten nun, da es vor allem um soziale Dienste ging, noch vehementer die Notwendigkeit einer „inneren Bereitschaft“. 56
V. Der Trend zur Professionalisierung: Freiwilligenarbeit versus hauptamtliche Arbeit Im Kontext der guten Arbeitsmarktlage und des Wirtschaftsaufschwungs hatte sich das Verständnis der Freiwilligendienste seit Mitte der 1950er Jahre verändert: Die Abgrenzung gegenüber der bezahlten Arbeit gewann an Gewicht. Doch diese
53 Hans Graf von Lehndorff, Festansprache von Dr. med. Hans Graf von Lehndorff auf der Kundgebung des Deutschen Roten Kreuzes, in: Deutsches Rotes Kreuz (Hrsg.), Freiwillige Dienste in unserer Zeit. Bonn 1966, 114. 54 Patrick Bernhard, Zivildienst zwischen Reform und Revolte. Eine bundesdeutsche Institution im gesellschaftlichen Wandel 1961–1982. München 2005. 55 Nächstenliebe auf Kommando, in: Constanze. Die Zeitschrift für die Frau und für jedermann, Juli 1962, Nr.29, 8–13, hier 10; vgl. auch: Kommt eine weibliche Arbeitsdienstpflicht?, in: Sozialdemokratischer Pressedienst, 10.September 1962, 6. 56 Lieselotte Funcke an Helmut Thielicke, 1.Juni 1966, Archiv für Diakonie und Entwicklung, ADW, HGSt, III 251, 2475 Pflichtjahr.
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Entwicklung blieb nicht so eindeutig, wie sie zunächst erschien. Schon in den sechziger Jahren geriet die Gegenüberstellung von bezahlter und unbezahlter Arbeit in die Diskussion. Denn diese Zeit war allgemein durch eine ausgeprägte Expertengläubigkeit und einen damit einhergehenden starken Professionalisierungsschub gekennzeichnet. Dieser schlug sich im Pflegesektor deutlich nieder, zumal hier großer Nachholbedarf bestand. 57 Im Gesundheits- und Pflegewesen wurden zahlreiche technische Neuerungen eingeführt, deren Verwendung erlernt werden musste. Das führte zu einer Reform der Ausbildung für die Pflegeberufe. Die bisherige Schwesternausbildung etwa, die traditionell nur anderthalb Jahre gedauert und neben praktischer Arbeit lediglich 200 Unterrichtsstunden umfasst hatte, erwies sich bald als unzulänglich. 58 Mit dem Krankenpflegegesetz von 1957 wurde die Dauer auf drei Jahre ausgedehnt, die Mindestzahl der Unterrichtsstunden auf 450 erhöht. 1965 stieg die Vorgabe für die Stundenzahl dann auf 1200. Mit dieser Professionalisierung geriet das herkömmliche Verständnis der Pflegeberufe noch weiter unter Druck. Mehr und mehr Stimmen erhoben sich, die dazu aufforderten, die Krankenpflege als normalen „Beruf“ zu betrachten. Dieser Professionalisierungsschub beeinflusste die Debatte über die Einführung eines Pflichtdienstes ebenso wie diejenige über den Einsatz von Freiwilligen. In der Pflichtdienstdebatte gesellten sich damit zu den traditionellen Argumenten noch einige neue hinzu: Gegner des Pflichtdienstes argwöhnten, mit diesem sollten die von ihnen als notwendig erachteten Reformen der Pflegeberufe verhindert oder verzögert werden. Das Pflichtjahr könne nur ein „kümmerliches Palliativmittel“ gegen den Personalmangel im Pflegesektor sein. Stattdessen gelte es, für eine bessere Bezahlung der Fachkräfte, für attraktivere Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen sowie für „Rationalisierungsmaßnahmen“ in Heimen und Krankenhäusern zu sorgen. Diese Argumentation knüpfte an die klassische gewerkschaftliche Kritik der Arbeitsdienste an. Ein anderes Argument bezog sich auf die fehlende Ausbildung und Berufserfahrung der Dienstleistenden und betraf damit Pflichtdienste und Freiwilligendienste
57
Vgl. Ralph Christian Amthor, Die Geschichte der Berufsausbildung in der Sozialen Arbeit: auf der Suche
nach Professionalisierung und Identität. Weinheim 2003, 409–538. 58
Vgl. Kreutzer, Vom „Liebesdienst“ zum modernen Frauenberuf (wie Anm.40), 230–254; vgl. für die Al-
tenpflege Nina Grabe, Die stationäre Versorgung alter Menschen in Niedersachsen 1945–1975. Stuttgart 2016, 348–364.
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gleichermaßen. 59 Helene Rahms zum Beispiel warnte in ihrer Replik auf die Pflichtdienstvorschläge, dass es eine „Degradierung der examinierten Krankenschwestern“ darstelle, wenn ihre Aufgaben unausgebildeten jungen Mädchen übertragen würden. Außerdem gab sie zu bedenken, „daß im angespannten, aufs äußerste rationalisierten Betrieb eines modernen Krankenhauses Laienkräfte, womöglich unwillige, mehr Störungen als Hilfe brächten“. 60 Auch freiwilligen Kräften wurde nun immer häufiger „mangelnde Zuverlässigkeit und Stetigkeit“ nachgesagt. 61 In einem Jahrzehnt, in dem großer Wert auf Planbarkeit gelegt wurde, wog diese Kritik schwer. 62 Derlei Einwände gegen die Freiwilligenarbeit kamen oft von Praktikern aus den Pflegeeinrichtungen selbst. Doch auch auf der Verwaltungsebene begannen die Wohlfahrtsverbände, das Verhältnis von ehrenamtlichen und hauptamtlichen Mitarbeitern zu überdenken. In einem Planungspapier für das Freiwilligenjahr kritisierte etwa Elisabeth Denis von der Caritas schon in den frühen sechziger Jahren die traditionelle „Unterbewertung der Berufsarbeit“ und deren Kontrastierung mit der unbezahlten Arbeit, die als „die ‚echte‘ Caritasarbeit“ gelte. 63 In der Regel befürworteten die Wohlfahrtsverbände allerdings nach wie vor den Einsatz von ehrenamtlichen Helfern, was gewiss auch daran lag, dass sie auf die unentgeltliche Arbeitskraft nicht verzichten wollten. Das Freiwillige Soziale Jahr wurde von der Kritik ausgenommen, weil seine wichtigste Funktion im pädagogischen Nutzen für die Jugend-
59 Die Diskussion begann schon in den fünfziger Jahren mit dem Ausbau des sozialen Sektors, vgl. zum Beispiel Ernst Weinbrenner, Die Mitwirkung ehrenamtlicher Kräfte in der öffentlichen Fürsorge. Gegenwart und Zukunft, in: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge 33, 1953, 163–170; für die sechziger Jahre vgl. die Tagungsberichte Arbeitsgruppe X; sowie die Beiträge zur Rolle der Freiwilligenarbeit in: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge 46, 1966, 167–175. 60 Rahms, Zur Nächstenliebe (wie Anm.52), 6. 61 Aktion Gemeinsinn, Bad Godesberg, August 1962, 10, Bundesarchiv Koblenz, B 189/5782, 2665 Allgemein. 62 Zum Machbarkeitsdenken der sechziger Jahre vgl. Gabriele Metzler, „Geborgenheit im gesicherten Fortschritt“. Das Jahrzehnt von Planbarkeit und Machbarkeit, in: Manfred Frese/Julia Paulus/Karl Teppe (Hrsg.), Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik. Paderborn 2005, 777–797. 63 Elisabeth Denis, Meinwerk-Institut, Paderborn, 25.Oktober 1961 an Präsident Albert Stehlin, Freiburg, betr. Sozialer Hilfsdienst für Mädchen. Die Besprechung mit Herrn Ministerialrat Dr. Nachtwey, vom Innenministerium NRW, Archiv des Deutschen Verbandes der Caritas, 921.9, Freiwilliges Soziales Jahr, freiwilliger sozialer Dienst, +232.01 Gesetz zur Förderung des freiwilligen sozialen Jahres.
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lichen gesehen wurde. Aber auch sonst hoben die Vertreter der Wohlfahrtsverbände die positiven Merkmale der Freiwilligenarbeit hervor. Als Kennzeichen der Freiwilligenarbeit sahen sie weiterhin „Spontaneität und Impulsivität“, die der „Erstarrung in täglicher Routine“ entgegenwirken könnten, überdies glaubten sie, den Freiwilligen gelinge eher die „persönliche Begegnung von Mensch zu Mensch“. 64 Vor allem bei der Diakonie hielt man auch noch an dem Standpunkt fest, dass freiwillige Mitarbeiter oft mehr Enthusiasmus und Opferbereitschaft aufwiesen als bezahlte Arbeitskräfte. Insgesamt lässt sich innerhalb der Wohlfahrtsverbände das Bemühen erkennen, keine allzu scharfen Trennlinien zwischen Hauptamtlichen und Freiwilligen zu ziehen. Dazu rückten sämtliche Trägerorganisationen des Freiwilligen Sozialen Jahres seit Mitte der sechziger Jahre zunehmend auch von der Forderung nach idealistischen Teilnahmemotiven ab. Statt Selbstlosigkeit zu fordern, kehrten sie in den Werbeschriften nun den Nutzen hervor, den die Freiwilligen aus ihrem Dienst für sich selbst ziehen könnten, und priesen das Sozialjahr als Möglichkeit zur Berufsorientierung oder zur praktischen Berufsvorbereitung. Damit brachten sie Freiwilligendienst und Erwerbsarbeit ebenfalls näher zueinander. Gleichzeitig schwächten sie das ökonomische Element im Verständnis der Freiwilligkeit ab. Dass sowohl der Professionalisierungsschub als auch die zunehmende sozialstaatliche Absicherung das herkömmliche Verständnis von Freiwilligenarbeit stark ins Wanken brachten, lässt sich auch an einem Aufsatz ablesen, den die Jugendpflegerin Christa Hasenclever, die bei Arbeiterwohlfahrt für das Freiwillige Soziale Jahr zuständig war, 1966 publizierte. 65 Angesichts der traditionellen Position der politischen Linken überrascht es kaum, dass Hasenclever sich zunächst gegen eine ideologische Überhöhung der Freiwilligenarbeit aussprach. Sie verwarf die Vorstellung, dass ehrenamtliche Arbeit „dem Menschen unmittelbarer, natürlicher und wärmer zugewandt und unbürokratischer sei, daß sie nicht so leicht in Routine und distanzierte Apparatur umschlagen könne“. Eine solche Sicht müsse das bezahlte Personal „verletzen“. Erstaunlicher ist hingegen, dass die Autorin bei der Diskussion, ob die
64
Klaus Dörrie, Stellung und Aufgabe des ehrenamtlichen Mitarbeiters in der freien Wohlfahrtspflege,
in: Soziale Arbeit 12, 1963, 469–471, hier 469; vgl. Arnold Weller, Mobilisierung und Einordnung der Mitbürger in die Sozialarbeit, in: Blätter der Wohlfahrtspflege 103, 1956, 123–127. 65
Christa Hasenclever, Die Bedeutung der Mitarbeit des Staatsbürgers und der freiwilligen Sozialarbeit in
einer modernen Gesellschaft, in: Jahrbuch der Arbeiterwohlfahrt 1965/66, 67–80.
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freiwillige Mitarbeit in den Sozial- und Pflegeberufen als „Relikt aus der Vergangenheit“ zu betrachten sei, dennoch drei Gründe anführte, die in ihren Augen dafür sprachen, dass Freiwilligenarbeit auch in der Zukunft notwendig bleiben werde. Erstens werde es nie genügend hauptamtlich Beschäftigte geben, um alle „sozialen Nöte“ zu beheben. Zweitens stelle die Arbeit im sozialen Sektor „in unserer kompliziert gewordenen, arbeitsteiligen Welt eines der wenigen Gebiete dar, auf denen aktive ehrenamtliche Mitwirkung des Bürgers heute nicht nur überhaupt noch möglich, sondern auch sinnvoll und effektiv sein kann“. Drittens erwecke das freiwillige Engagement der Bürger bei ihnen ein Verständnis auch für die bezahlte Sozialarbeit und schaffe ein wünschenswertes „soziales Klima“. Mit diesem Plädoyer für die Freiwilligenarbeit lancierte Hasenclever einen ganz neuartigen Appell zu einer aktiven staatsbürgerlichen Partizipation. Diese sollte die staatlichen Sozialleistungen ergänzen, nicht aber, wie es der politische Diskurs über Zivilgesellschaft seit den neunziger Jahren oft impliziert, ersetzen.
VI. Ein ambivalentes Verhältnis: Die Position der Neuen Linken In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre wurden die Forderungen nach „Demokratisierung“ für alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens immer lauter. Hasenclevers Überlegungen sind bereits Teil dieses Trends, sie unterschieden sich indes noch deutlich von der neuen, durch und durch ambivalenten Sicht auf Freiwilligenarbeit, die sich in der sogenannten Neuen Linken durchsetzen sollte. Einerseits griffen deren Vertreter vielfach die traditionelle gewerkschaftliche Kritik auf. Andererseits fanden sie in ihrer skeptischen Haltung sowohl dem kapitalistischem System als auch dem Staat gegenüber Anknüpfungspunkte zu einem Idealbild der Freiwilligenarbeit, die sich sowohl wirtschaftlichen als auch staatlichen Zwängen entzog. Wenn sie zu politischem Aktivismus aufriefen, implizierte dies letztlich einen Aufruf zu freiwilliger Arbeit – wenn auch unter anderem Namen: Man sprach nicht mehr wie bis dahin üblich von „Dienst“, sondern von „Aktionen“, „Projekten“ oder von „Engagement“. 66
66 Vgl. Krüger, Dienstethos (wie Anm.6), 310–352.
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Die Neue Linke kritisierte die traditionelle Forderung nach Dienstbereitschaft als einen Aufruf zur Unterordnung, der ihrem Ideal einer demokratischen Emanzipation diametral entgegenstand. Dies betraf zum einen das Prinzip unbezahlter Arbeit ganz allgemein. Eine pädagogische Diplomarbeit aus den späten siebziger Jahren beispielsweise warf den Wohlfahrtsverbänden vor, mit dem Freiwilligen Sozialen Jahr „billige und angepaßte Arbeitskräfte“ gewinnen zu wollen, um „nicht zuletzt auf diese Weise ihnen genehme Nachwuchskräfte“ heranzuzüchten. 67 Zum anderen brandmarkten Vertreter der Neuen Linken die karitative Tätigkeit selbst als Herrschaftsinstrument. Damit griffen sie eine Argumentationslinie auf, mit der Gewerkschaften und Sozialdemokratie im ausgehenden 19. und frühen 20.Jahrhundert die paternalistische bürgerliche Wohlfahrt kritisiert hatten. 68 In den 1970er Jahren wurde Freiwilligendiensten die Tendenz nachgesagt, soziale Ungerechtigkeiten fortzusetzen und gesellschaftliche Missstände eher zu verstärken als zu beseitigen. „Immer wieder kommt die Frage: Dient der gesamte Organismus wirklich dem Nächsten und auch der Beseitigung von ‚Wurzeln des Übels‘, oder wird nur an Symptomen kuriert“, konstatierte ein Meinungsforschungsinstitut, das im Auftrag von Diakonie und Caritas 1970 eine Jugendumfrage zum freiwilligen Engagement durchführte. 69 Ähnlich beobachtete ein Referent in einer Konsultation über die Jugenddienste der beiden Kirchen im Juli 1968 für das Freiwillige Soziale Jahr, „dass die Jugend zwar danach drängt, sich zu engagieren, dass sie dabei aber auch gleich die Verhältnisse ändern will. Wo sie spürt, dass ihr Engagement nur dazu dient, einen bestehenden Zustand zu verfestigen, zieht sie zurück. Im Fall der kirchlichen Jahresdienste scheint es nun, dass die freiwilligen Helfer nur dazu da sind, um Lücken zu füllen, nicht um etwas zu ändern. Ihre Arbeit leistet sogar eher der Tatsache Vorschub, dass alles beim Alten bleibt,
67
Barbara Brosch, Das FsJ. Untersuchung zu den Bedingungen einer praxisorientierten Jugendbildungs-
arbeit. Unveröffentlichte Diplomarbeit Münster 1978, 31f. 68
Zum Beispiel: Probleme der Friedensdienste. Wandel der Motivation, Evangelisches Zentralarchiv,
97/1841 Beiträge zu Friedensdienst und Kriegsdienstverweigerung. 69
Theodor Schober an die Mitglieder des Diakonischen Rates, 23.Juni 1970, 2. Anlage, Protokoll über ein
Grundsatzgespräch (März 1970), Archiv für Diakonie und Entwicklung, ADW HGSt, III 252 Diakonisches Jahr, 2474, Motivanalysen; vgl. Beiträge zu Friedensdienst und Kriegsdienstverweigerung, Wolfgang von Eichborn, Probleme der Friedensdienste. Wandel der Motivation, 1970, Evangelisches Zentralarchiv, 97/ 1841.
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insbesondere bezüglich Bezahlung, Arbeitszeit und Arbeitsmethoden der Schwestern.“ 70
Tatsächlich gingen einige Kritiker des Freiwilligen Sozialen Jahres aufgrund solcher Vorbehalte sogar so weit zu fragen, ob dieses nicht als Maßnahme zur „Verschleierung herrschender Verhältnisse total abgelehnt“ werden müsse. 71 Als die Teilnehmerzahlen für das Freiwillige Soziale Jahr 1968 erstmals zurückgingen, bemühten sich die Trägerorganisationen darum, dessen Image grundlegend zu verändern. Im Einklang mit den Zielen der Neuen Linken präsentierten sie die Freiwilligenarbeit nun als gesellschaftskritisches Engagement. Der Dienst, hieß es 1973 in einer von allen Trägerorganisationen gemeinsam herausgegebenen Broschüre, erlaube es den Jugendlichen, „den häufig hierarchischen und starren Strukturen und der oft mangelhaften Ausstattung unserer Sozialeinrichtungen kritisch gegenüberzutreten und die Frage zu stellen, wie sich der Anspruch unserer Gesellschaft human und fortschrittlich zu sein, mit der Wirklichkeit unserer Krankenhäuser, Altenheime und Erziehungsheime vereinbaren lässt“. 72
Die Freiwilligen seien hierzu in besonderer Weise befähigt, denn sie stünden „durch ihr zeitlich begrenztes Engagement dem, was sie dort anträfen, zumeist unbefangener gegenüber als die festangestellten Kräfte“. Eine besondere Unabhängigkeit attestierte den freiwilligen Helferinnen und Helfern 1972 in ähnlicher Weise auch die vier Jahre zuvor gegründete Aktionsgemeinschaft „Dienst für den Frieden“, in der sich verschiedene Workcamp-Organisationen und Entwicklungsdienste zusammengeschlossen hatten: „Die besondere Chance des Freiwilligen ist darin zu sehen, daß er noch ohne Existenz- und Karrieresorgen unbekümmert, flexibel, offen die immer neu erstarrenden Strukturen unserer Gesellschaft durchbrechen, scheinbar heilige Grenzen überschreiten, Tabus infrage stellen und so Innovationen anregen
70 Das Diakonische Werk, Hauptgeschäftsstelle, Abteilung Sozial- und Jugendhilfe, An die Träger und Leitungen der Zentralen des DJ, Konsultation über die freiwilligen sozialen Dienste der beiden Kirchen am 16.Juli 1968 in Marburg, Redebeitrag Dr. Keil, Stuttgart, 12.Mai 1969, Zentralarchiv Diakonie Neuendettelsau, D5/2–9. 71 Brosch, Das FsJ (wie Anm.67), 16f. 72 Arbeitskreis freiwilliger sozialer Dienst/freiwilliges soziales Jahr (Hrsg.), Das freiwillige soziale Jahr. Ein dokumentarischer Bericht. Bonn 1973, 30.
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kann. Dadurch hilft er entscheidend zu der notwendigen, immer neu zu vollziehenden Dynamisierung des Gesellschaftsgefüges.“ 73
Dabei hob die Schrift explizit hervor, dass der Freiwillige zu dieser gesellschaftskritischen Position vor allem durch die „Weise seiner Arbeitsleistung (flexibel, kritisch, unabhängig, nicht zuletzt lohnunabhängig)“ befähigt werde. Eine solche Sichtweise verknüpfte den ökonomischen und den politischen Aspekt im Verständnis der Freiwilligkeit aufs Engste. Wenn hier der Wert der freien Willensentscheidung bestimmt wurde, so lag dieser nicht mehr in der systemstabilisierenden Wirkung des Loyalitätsbeweises, sondern in der Schaffung einer kritischen Kontrollinstanz. Der gesellschaftskritische Veränderungswille lebte in den siebziger und frühen achtziger Jahren fort, ging aber teilweise in Ernüchterung über, zumal als in der Folge der Ölpreiskrise die ökonomische Spielräume enger wurden. Bei den Jugendfreiwilligendiensten machte sich eine Frustration breit, angesichts derer die politisch sensibilisierten, kritikfreudigen Zeitgenossen auch den Begriff der Freiwilligkeit explizit zur Debatte stellten. Die Trägerorganisationen konstatierten Mitte der siebziger Jahre mit Unbehagen, dass sich angesichts der Arbeits- und Ausbildungsmarktsituation im Grunde bei den Teilnahmemotiven oft nicht mehr von Freiwilligkeit sprechen lasse. 74 Zahlreiche Freiwillige selbst bestätigten das: Bereits 1971 hatte eine Teilnehmerin das Freiwillige Soziale Jahr in der Wochenzeitschrift „Die Zeit“ als billige Ausnutzung angeprangert und dabei auch betont, dass die Bezeichnung „freiwillig“ unangemessen sei. 75 Ebenso wie viele andere habe sie das Jahr nicht aus freiem Willen abgeleistet, sondern weil sie nach ihrem Realschulabschluss zu jung gewesen sei, um mit der Schwesternausbildung zu beginnen. 1981 richtete eine Freiwilligengruppe aus einer ähnlichen Sicht heraus einen offenen Protestbrief an den Bundesminister für Arbeit und Soziales. Darin verwarf sie den Ausdruck „Freiwilli-
73
Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden, Rahmenkonzept für die Freiwilligendienste, Eingangs-
stempel: 12.April 1972, Evangelisches Zentralarchiv, 97/1841 Beiträge zu Friedensdienst und Kriegsdienstverweigerung. 74
Protokoll der Jahrestagung Freiwilliger Sozialer Dienst vom 8.–12.November 1976 in der Freizeit- und
Bildungsstätte Bernhäuser Forst bei Stuttgart, 2, Zentralarchiv Diakonie Neuendettelsau, D5/2–13. Ganz ähnlich wurde seitens der Trägerorganisationen auch Anfang der 1980er Jahre argumentiert, vgl. Protokoll der Jahrestagung FSD vom 8.–12.November 1982 in der Freizeit- und Bildungsstätte Hannover, Zentralarchiv Diakonie Neuendettelsau, D5/2–28. 75
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Marion Wichmann, Zuwenig Geld, zuwenig Freizeit, in: Die Zeit, 13.August 1971, 42.
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ges Soziales Jahr“ als Euphemismus und forderte, es in „Soziales Jahr“ umzubenennen. 76
Fazit und Ausblick Wenn Freiwilligenarbeit in den 1990er Jahren und zu Beginn des 21.Jahrhunderts in Politik, Medien und Sozialwissenschaften eine bemerkenswerte Konjunktur erlebte und dabei immer wieder als Merkmal einer florierenden Demokratie gefeiert wurde, so trat dadurch vor allem das politische Element der Freiwilligkeit hervor. 77 Kritiker monieren, dass auf diese Weise nur der Rückbau des Sozialstaates kaschiert werden solle. Die Analyse der Jugendfreiwilligendienste legt nahe, dass die gesellschaftliche Hochschätzung ebenso wie die staatliche Förderung von Freiwilligenarbeit wohl in der Tat eher mit der Entwicklung des Wohlfahrtssystems im Zusammenhang stand als mit derjenigen einer demokratischen Gesellschaftsordnung. Doch lässt sie sich nicht auf diese reduzieren, sondern sie ist in der größeren Matrix mehrerer Bedingungsfaktoren zu interpretieren, bei der vor allem auch die Entwicklung der Wirtschaftslage und der Geschlechterverhältnisse zu berücksichtigen sind. Die staatliche Förderung der Freiwilligendienste ging von Beginn an Hand in Hand mit dem Ausbau des staatlichen Wohlfahrtssystems. In wirtschaftlich schwierigen Zeiten sollte sie helfen, sozialstaatliche Standards zu halten. Während also der Staat zunehmend Aufgaben übernahm, die zuvor von der freien Wohlfahrtspflege erfüllt worden waren, bemühten sich sowohl staatliche als auch vor allem kirchliche Instanzen gleichzeitig um eine Stärkung freiwilliger Ressourcen. Dies gilt bereits für die freiwilligen Arbeitsdienste der Weimarer Republik, noch deutlicher allerdings für die in den 1950er und 1960er Jahren eingeführten Sozialdienste. Hier verschoben sich also nicht nur die Grenzen zwischen den Sektoren, sondern sie verwischten: Indem der Staat neue Freiwilligendienste schuf oder förderte, flossen die Sektoren ineinander.
76 Offener Brief an den Bundesminister für Arbeit und Soziales Herrn Ehrenberg, FAJ Gruppe 440, Münster, 22. April 1981, Archiv des Deutschen Verbandes der Caritas, 921.9, Freiwilliges soziales Jahr/Dienst 020 Arbeitskreis der Trägerverbände auf Bundesebene 1976–1983, Fasz. 2. 77 Ausführlicher hierzu der Beitrag von Klaus Nathaus und Patrick Merziger in diesem Band.
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Dass die Jugenddienste sowohl in ihrer Entstehungszeit in den frühen dreißiger Jahren als auch in der Zeit nach 1945 ihre Teilnehmer und Teilnehmerinnen auf freiwilliger und nicht auf verpflichtender Basis rekrutierten, sollte je nach historischem Kontext verschiedenen Funktionen dienen. Mitnichten ging es dabei stets um eine starke Grenzziehung zwischen Freiwilligensektor und Staat. Der Wert der Freiwilligkeit wurde zunächst in deren angenommener pädagogischer Wirkung verortet, sie konnte aber auch als Loyalitätsbeweis gedeutet werden und somit als Mittel, um Konformität zu fördern. Allein in der Zeit von den 1960er bis in die 1980er Jahre erhob sich nennenswerte Kritik gegen die staatlich geförderten Freiwilligendienste. Die Neue Linke forderte eine scharfe Grenzziehung zwischen Staat und Freiwilligensektor, da sie den Wert freiwilligen Engagements gerade in der kritischen Distanz zum Staat erblickte. Das Verhältnis des Staatsbürgers zum Staat zu bestimmen, war aber nie das einzige und auch nur selten das zentrale Ziel der Jugendfreiwilligendienste. Denn ihre Entstehung stand überdies in engem Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Entwicklung. Die staatlich geförderten, aber auch viele der in freier Trägerschaft organisierten Jugendfreiwilligendienste waren seit ihren Anfängen als Mittel konzipiert, steuernd auf die Konjunkturschwankungen des Arbeitsmarktes einzuwirken. In Zeiten der Arbeitslosigkeit sollten sie Jugendliche vom Arbeitsmarkt abziehen und sie auf das Erwerbsleben vorbereiten, während sie diese in Zeiten des (sektoralen) Arbeitskräftemangels in bestimmte Berufsfelder zu lenken versuchten. In den fünfziger und frühen sechziger Jahren des 20.Jahrhunderts war es neben dem weiteren Ausbau des Sozialstaats und der guten ökonomischen Situation vor allem die zunehmende Frauenerwerbstätigkeit, die Verständnis und Funktion von Freiwilligenarbeit zur Diskussion stellte. Konservative Kräfte waren bemüht, mit der Schaffung der Sozialdienste die Grenzen zwischen familiärer Hausarbeit, Freiwilligenarbeit und der Berufstätigkeit im Pflegesektor fließend zu halten, alle diese Felder aber gleichzeitig scharf gegen die ökonomische Sphäre abzugrenzen – nicht wenigen von ihnen war das Prinzip des Lohnverzichts so wichtig, dass sie dafür auch einen Pflichtdienst als adäquat betrachteten. Der Personalmangel im Pflegesektor, der Trend zur Professionalisierung und die wachsende Akzeptanz der Frauenerwerbstätigkeit beförderten jedoch eine andere Entwicklung. Die Jugendfreiwilligenarbeit wurde nun in eine enge Beziehung zur Erwerbsarbeit gestellt und in hohem Maße auf diese hin ausgerichtet. Immer offensiver wurden die Jahresdienste als Berufsvorbereitung angepriesen. Dass seit Mitte
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der siebziger Jahre Erwerbslosigkeit wieder zu einem drängenden Problem wurde, verstärkte diesen Trend. Nicht nur im Pflegesektor, sondern auch in der Wirtschaft trafen Freiwilligendienste zunehmend auf Wertschätzung, da sie als Ausdruck der Bereitschaft zum Engagement und der Eigeninitiative gedeutet wurden: Hatte das Freiwilligenjahr in den sechziger Jahren noch als Karrierehindernis gegolten, so galt es spätestens seit den 1990er Jahren als Pluspunkt im Lebenslauf, wenn Bewerberinnen oder Bewerber einen Freiwilligendienst absolviert hatten. 78 Personalchefs betrachten das freiwillige Engagement als Beleg der Eigeninitiative, und Firmen fördern mitunter sogar Sabbatjahre ihrer Mitarbeiter, während derer diese einen Freiwilligendienst absolvieren. 79 Das Verhältnis zwischen Freiwilligenarbeit und Erwerbsarbeit hatte sich verändert, Freiwilligensektor und ökonomischer Sektor griffen stärker ineinander. Dies ist ein Trend, der sowohl denjenigen oftmals entgeht, die die Freiwilligenarbeit als Stütze der Demokratie loben, als auch denjenigen, die dieses Lob als Verschleierungsstrategie angesichts des Abbaus sozialstaatlicher Leistungen sehen.
78 Aufgegriffen wird dieses Phänomen etwa in der Presse, zum Beispiel von Kristin Schmidt, Mit guten Werken Karriere machen, 21.August 2012, http://www.zeit.de/karriere/beruf/2012–08/ehrenamt-vorteilkarriere (Zugriff: 22.Mai 2018), sowie in dem Roman von Theresa Bäuerlein, Das war der gute Teil des Tages. Frankfurt am Main 2008, der 2013 unter dem Titel „Hannas Reise“ auch fürs Kino verfilmt wurde. 79 Vgl. auch den Beitrag von Matthias Ruoss in diesem Band.
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Die neuen Freiwilligen Gemeinnützigkeit in der Schweiz 1970–1990 von Matthias Ruoss
Ob am griechisch-mazedonischen Grenzübergang von Idomeni, am Münchner Hauptbahnhof, in der Tessiner Kleinstadt Como oder im „Dschungel von Calais“: Überall in Europa sind zehntausende von Freiwilligen seit der im Sommer 2015 einsetzenden sogenannten Flüchtlingskrise darum bemüht, schutzbedürftigen Menschen auf der Flucht zu helfen. Gleichzeitig suchen fast alle in der Flüchtlingshilfe tätigen gemeinnützigen Organisationen über ihre Internetauftritte und mit Infoveranstaltungen aktiv nach freiwilligen Einsatzkräften und koordinieren Hilfseinsätze im Inland oder auf den Fluchtrouten vor Ort. Unterstützt werden sie von Agenturen, welche die Rekrutierung und Vermittlung von Freiwilligen zum Geschäftsmodell gemacht haben. 1 Zudem tragen die (sozialen) Medien mit persönlichen Erlebnisblogs sowie unzähligen Berichten über „freiwillige HeldInnen“ und Portraitsendungen über engagierte Einzelpersonen und ihre Projekte dazu bei, Freiwilligenarbeit als rasche, bedarfsgerechte und unbürokratische Hilfe zu popularisieren und ihre gesellschaftliche Wertschätzung zu steigern. Trotz boomender und medial gefeierter freiwilliger Hilfsbereitschaft sind auch kritische Stimmen zu hören. Von Spaß suchenden EventhelferInnen und hedonistischem „Voluntourismus“ ist die Rede, auch Behördenversagen und die sozialpolitische Verantwortungslosigkeit der europäischen Staaten werden beklagt, die das sorgende Potenzial unbezahlter Freiwilligenarbeit wenn nicht gezielt abrufen, so doch politisch ausnutzen. 2 Mit der „Flüchtlingskrise“ ist das freiwillige Sozialengagement ins Gerede gekommen. Auffällig ist dabei neben der klar positiven Resonanz, wie ahistorisch dem Phänomen Freiwilligkeit in öffentlichen Debatten begegnet wird. Allerdings ist
1 Vgl. für Deutschland die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freiwilligenagenturen (https://bagfa.de/aktuelles.html), für die Schweiz die Dachorganisation für Freiwilligenarbeit benevol (http://www.benevol.ch/ de/benevol-schweiz/dachverband.html). 2 Vgl. z.B. https://www.nzz.ch/wirtschaft/voluntourismus-in-den-ferien-noch-kurz-den-lebenslauf-polieren-ld.1308000;
http://blogs.faz.net/blogseminar/ferien-im-entwicklungsland-wem-nuetzt-voluntou-
rism/ (Zugriffe: 23.August 2017).
HTTPS :// DOI . ORG / 10.1515/9783110627442-007
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Freiwilligenarbeit – verstanden als nicht erwerbsmäßige, in einem institutionellen Setting stattfindende und zugunsten einzelner oder einer Gruppe geleisteter Hilfestellung – weder spontan noch zufällig. 3 Vielmehr ist Freiwilligkeit eine Ressource, die gesellschaftlich unterschiedlich eingesetzt werden kann und gerade deshalb immer wieder neu verhandelt wird, zwischen den Geschlechtern, zwischen Laien und Professionellen auf dem Feld der beruflichen Sozialen Arbeit, aber auch und besonders im Rahmen einer „mixed economy of welfare“. 4 Diese Eigenschaft macht die Freiwilligkeit zu einem heuristisch interessanten Forschungsgegenstand, denn wie verschiedene historische Studien zeigen, öffnet die Untersuchung der Freiwilligenarbeit einen panoptischen Blick auf sich verändernde soziale Regeln und gesellschaftliche Ordnungen. 5 Mit anderen Worten: Wird das freiwillige Sozialengagement neu verhandelt, so geschieht es meist in Phasen, in denen die Gesellschaft sich selbst in einer „Krise“ wähnt und verletzlich fühlt. Hier möchte der Beitrag ansetzen. Im Mittelpunkt stehen die „neuen Freiwilligen“, die in den 1980er Jahren in vielen westlichen Industriestaaten gezielt als helfende Ressource umworben und aktiviert wurden. 6 Die neue Aufmerksamkeit und das Interesse an Freiwilligen bemerkten auch ZeitgenossInnen, so etwa Elisabeth Fischer. Fischer war Mitarbeiterin des Ludwig Boltzmann Instituts für Altersfor-
3 Diese sozialwissenschaftliche Definition von Freiwilligenarbeit schließt informelle Haus- und Sorgearbeit, so etwa in der Familie, sowie Selbsthilfe aus. Vgl. Bundesamt für Statistik, Freiwilliges Engagement in der Schweiz 2013/2014. Neuchâtel 2015. 4 Themenheft: Freiwilligenarbeit: wie frei – wie willig?, in: Olympe. Feministische Arbeitshefte zur Politik 15, 2001; Eva Nadai/Peter Sommerfeld/Felix Bühlmann/Barbara Krattiger, Fürsorgliche Verstrickung. Soziale Arbeit zwischen Profession und Freiwilligenarbeit. Wiesbaden 2005; Themenheft: Ökonomie der Flucht und der Migration, Prokla 183. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 46/2, 2016. Vgl. Martin Powell (Ed.), Understanding the Mixed Economy of Welfare. Bristol 2007. 5 Vgl. z.B. Christoph Sachße, Freiwilligenarbeit und private Wohlfahrtskultur in historischer Perspektive, in: Annette Zimmer/Stefan Nährlich (Hrsg.), Engagierte Bürgerschaft. Traditionen und Perspektiven. Opladen 2000, 75–88; Thomas Adam/Simone Lässig/Gabriele Lingelbach (Hrsg.), Stifter, Spender und Mäzene. USA und Deutschland im historischen Vergleich. Stuttgart 2009; Christine G. Krüger, Dienstethos, Abenteu-
erlust, Bürgerpflicht. Jugendfreiwilligendienste in Deutschland und Großbritannien im 20.Jahrhundert. Göttingen 2016; Nicole Kramer, Die Entwicklung des Voluntary Sector in Großbritannien und Perspektiven für die Erforschung gesellschaftlichen Wandels in den 1970er und 1980er Jahren, in: Geschichte und Gesellschaft 42, 2016, 326–353. 6 Neue Zürcher Zeitung vom 19./20.Mai 1990. Vgl. auch Henk Kinds/Carola Schaaf-Derichs/Antonia Simon/Dieter Stemmle, Die neue Freiwilligkeit, in: Dieter Stemmle (Hrsg.), Soziale Fragen an der Schwelle zur Zukunft. Neue Strategien für sozialtätige Organisationen und ihre Mitwirkenden. Bern/Stuttgart/Wien 1995, 283–296.
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schung in Wien und nahm 1983 an der 5. Dreiländertagung des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, der Schweizerischen Landeskonferenz für Sozialwesen (LAKO) und des Österreichischen Komitees für Sozialarbeit in Graz als Referentin teil. Die Tagung beschäftigte sich mit dem Thema „Die freiwilligen Helfer der sozialen Dienste auf örtlicher Ebene: Möglichkeiten und Grenzen“, wobei sich Fischer in ihrem Vortag mit der Motivation von Freiwilligen auseinandersetzte, dabei aber auch kritisch fragte: „Wer hat im Augenblick so intensives Interesse, nach freiwilligen Helfern – die ja immer vorhanden waren – zu rufen? Wollen wir noch zusätzlich freiwillige Helfer gewinnen, ist die Problemlage so groß geworden, dass unser bis jetzt eingerichtetes Sozialsystem nicht ausreicht? Sind die Probleme grösser geworden, so dass wir noch mehr Menschen brauchen, oder sind die finanziellen Mittel kleiner geworden, so dass wir das Bisherige nicht anders erhalten können? Wir rufen nach dem freiwilligen Helfer. Weil er unbezahlt ist? Weil er unausgebildet ist? Weil er uns nichts kostet? Oder weil ein freiwilliger Helfer persönlicher helfen kann, weniger professionell, nicht an so viele Vorschriften gebunden ist? Kann man mit dem ,gesunden‘ Hausverstand besser helfen als mit einer fundierten Ausbildung?“ 7
Um all diese auch heute noch ebenso treffend-kritischen wie historiographisch relevanten Fragen zu beantworten, werden in einem ersten überblicksartigen Abschnitt die Entwicklungen des Schweizer Wohlfahrtssystems seit den 1970er Jahren skizziert. Dabei interessiert vor allem, wie die sogenannte Krise des Sozialstaats eine Neuverhandlung der sozialen Verantwortung nach sich zog. In den beiden folgenden Abschnitten wird anhand von Materialien aus dem Archiv der LAKO aufgezeigt, wie gemeinnützige Organisationen vor dem Hintergrund eines kriselnden Sozialstaats, knapper finanzieller Mittel und fehlender humaner Einsatzkräfte Freiwilligkeit als Ressource wiederentdeckten. Ein besonderes Augenmerk wird darauf gelegt, wie sie Freiwilligenarbeit mithilfe feministischer Anerkennungsansprüche und Emanzipationsforderungen uminterpretierten und damit der Gesellschaft ein zeitgemäßes Deutungsangebot zur Verfügung stellten, mit dem sich Freiwillige rekrutieren ließen und mit dem sich diese auch identifizieren konnten. Im letzten Abschnitt wird die mobilisierende Doppelfunktion der neuen Freiwilligkeit anhand
7 Elisabeth Fischer, Motivation zur „freiwilligen Hilfe“, in: Österreichisches Komitee für Sozialarbeit (Hrsg.), Die freiwilligen Helfer der sozialen Dienste auf örtlicher Ebene: Möglichkeiten und Grenzen. Bericht über die 5. Dreiländer-Tagung im November 1983 in Graz, Österreich. Wien 1985, 54f.
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eines konkreten Projekts der LAKO erläutert, das von politisch aktiven, ausgebildeten Sozialarbeiterinnen ins Leben gerufen wurde.
I. Die „Krise des Sozialstaats“ und die Neuverhandlung der sozialen Verantwortung Die 1970er Jahre markieren eine Zäsur in der Sozialstaatsentwicklung westlicher Industrienationen. 8 Auf eine Aufbauphase in der Zwischen- und Nachkriegszeit folgte eine Zeit des Um- und teilweise Abbaus staatlicher Sozialprogramme. Ausgangspunkt dieser länderspezifisch sehr unterschiedlich verlaufenden Entwicklungen waren die Debatten um die sogenannte Krise des Sozialstaats, die zeitgleich und häufig auch transnational geführt wurden. 9 Das Reden über die „Krise des Sozialstaats“, dieses seither vielfach reproduzierten Topos, funktionierte dabei als Narrativ mit doppeltem Zweck. 10 Zum einen waren die Krisendiskurse eine Art Diagnosewerkzeug, mit dem versucht wurde, individuelle Anspruchshaltungen und Beschleunigungen des sozialen Lebens einzufangen, politisch-administrative Leistungssysteme zu hinterfragen und gesellschaftliche Entwicklungen kritisch zu reflektieren. Insofern bündelte das sozialstaatliche Krisengerede der 1970er Jahre unterschiedliche zeitgenössische Phänomene und Prozesse und brachte sie in eine „suggestive Verbindung“. 11 Zum anderen wurde im Reden über die Krise aber auch sozialpolitischer Konsens über Sachzwänge und Zukunftsfiktionen hergestellt. Die Krisendiskurse waren somit auch zukunftsweisende Orientierungsdiskurse, in de-
8 Vgl. Evelyn Huber/John Stephens, Development and Crisis of the Welfare State. Parties and Policies in Global Markets. Chicago 2001; Frank Nullmeier/Franz-Xaver Kaufmann, Post-War Welfare State Development, in: Francis G. Castles/Stephan Leibfried/Jane Lewis et al. (Eds.), The Oxford Handbook of the Welfare State. Oxford/New York 2010, 81–101; Giuliano Bonoli/David Natali (Eds.), The Politics of the New Welfare State. Oxford 2012. 9 Vgl. The Welfare State in Crisis. An Account on the Conference on Social Policies in the 1980s, OECE, Paris, 20–23 October 1981. Paris 1981. 10
Martin H. Geyer, Die Gegenwart der Vergangenheit. Die Sozialstaatsdebatten der 1970er-Jahre und die
umstrittenen Entwürfe der Moderne, in: Archiv für Sozialgeschichte 47, 2007, 47–93. 11
Jürgen Habermas, Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung utopischer Energien, in: ders.,
Die Neue Unübersichtlichkeit. Kleine Politische Schriften V. Frankfurt am Main 1985, 141–166, hier 149.
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nen neue ordnungspolitische Gestaltungsentwürfe und konkrete politische Programme und Politiken verhandelt und mehrheitsfähig gemacht wurden. 12 In der Schweiz waren es zwei unterschiedliche Milieus, welche den in der Nachkriegszeit aufgebauten Sozialstaat in einer Krise wähnten. 13 Auf der einen Seite prognostizierten Arbeitgeberverbände und Unternehmen, unterstützt von der wirtschaftsliberalen Staatspartei FDP, mit demographischen Daten die Unfinanzierbarkeit des Sozialstaats und warnten davor, dass ein weiterer Ausbau die wirtschaftlichen Wettbewerbskräfte unterdrücke und die internationale Konkurrenzfähigkeit einschränke. 14 Gerade die demografische Alterung, mit der sich sozialstaatliche Finanzierungsprobleme beliebig potenzieren ließen, diente ihnen als unhinterfragte Berechnungs- und Rechtfertigungsgrundlage für sozial- und finanzpolitische Szenarien. Andererseits kritisierten auch gemeinnützig Tätige und sozial Bewegte die staatliche Sozialpolitik. 15 Besonders scharfe Kritik kam von den in den „1968er Jahren“ neugegründeten gemeinnützigen Organisationen, darunter vielen Selbsthilfegruppierungen, die Blindstellen des Sozialstaats fokussierten und vulnerable Gruppen wie Drogensüchtige, Aidskranke oder Menschen mit psychischen Problemen, aber auch Geflüchtete oder Opfer sexueller Gewalt vertraten, die durch das bestehende Netz der sozialen Sicherung fielen oder zu fallen drohten. 16 Für sie war der auf materielle Sicherheiten programmierte Sozialstaat unfähig, unbürokratische und
12 Vgl. dazu Matthias Ruoss, Selbstsorge statt gesellschaftliche Solidarität. Die Neuverhandlung der sozialen Verantwortung in der „Krise des Sozialstaats“, in: Regula Ludi/Matthias Ruoss/Leena Schmitter (Hrsg.), Zwang zur Freiheit. Krisen und Neoliberalismus in der Schweiz. Zürich 2018, 189–214. 13 Zur Geschichte des Schweizer Sozialstaats vgl. Brigitte Studer, Soziale Sicherheit für alle? Das Projekt Sozialstaat, in: dies. (Hrsg.), Etappen des Bundesstaates. Staats- und Nationsbildung der Schweiz 1848– 1998. Zürich 1998, 159–186; Bernard Degen, Entstehung und Entwicklung des schweizerischen Sozialstaates, in: Schweizerisches Bundesarchiv (Hrsg.), Geschichte der Sozialversicherungen. (Studien und Quellen, Bd. 31.) Zürich 2006, 17–48. 14 Walter Ackermann, Sozialversicherung in der Schweiz. Finanzielle Perspektiven. St. Gallen 1977; Gottfried Bombach/Henner Kleinewefers/Luc Weber, Lage und Probleme der schweizerischen Wirtschaft 1978/79. Bericht der Expertengruppe „Wirtschaftslage“, eingesetzt vom Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartement und der Schweizerischen Nationalbank. Bern 1978. 15 Jakob Tanner, Etatismus und Antietatismus in der Linken, in: Schweizerisches Jahrbuch für Politische Wissenschaft 23, 1983, 207–226. 16 Christina Späti/Damir Skenderovic, Die 1968er Jahre in der Schweiz. Aufbruch in Politik und Kultur. Baden 2012; Bernard Degen, Zwischen Staat, Wirtschaft und Privatsphäre. Organisierte Gemeinnützigkeit als Teil des Non-Profit-Sektors, in: Beatrice Schumacher (Hrsg.), Freiwillig verpflichtet. Gemeinnütziges Denken und Handeln in der Schweiz seit 1800. Zürich 2010, 123–155, hier 145.
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spontane Hilfe in Form von individueller Beratung und Betreuung zu gewähren und das gesamte Spektrum neuer sozialer und gesundheitlicher Problematiken einer zunehmend konsumorientierten Wohlstandsgesellschaft anzusprechen. 17 Für die einen war der Sozialstaat also nicht mehr finanzierbar, für die anderen nicht sorgend und einfühlsam genug. Beide Kritiken wurden zeitgleich laut und verdichteten sich mit dem durch die beiden Ölkrisen verursachten heftigen Konjunktureinbruch im Verlauf der 1970er Jahre, der häufig als Dringlichkeitsfolie diente und zusätzlichen Reformdruck erzeugte. 18 Zugleich begannen die beiden Lager mit Unterstützung der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, die sozialpolitische Verantwortung in der Gesellschaft im Rahmen von zahlreichen Tagungen und Konferenzen gemeinsam neu zu verhandeln. 19 In der Debatte um die Neuverhandlung der sozialen Verantwortung ging es primär darum, nach finanzierbaren und sorgsameren Alternativen zum Sozialstaat zu suchen. Franz-Xaver Kaufmann fasst die Ergebnisse dieser Treffen, die auch in anderen westeuropäischen Ländern stattfanden (und an denen er nicht selten selbst teilnahm), folgendermaßen zusammen: „Während Ökonomen hier eine Korrektur durch Marktmechanismen forderten, setzten die Soziologen mehr auf intermediäre Instanzen und die Förderung von Laienkompetenzen, insbesondere im Rahmen von Selbsthilfegruppen.“ 20 Durch die geforderte Vermarktlichung und Vergesellschaftung der sozialen Verantwortung, die in den beiden Neologismen „Wohlfahrtsmarkt“ und „Wohlfahrtsgesellschaft“ etwas zeitverzögert ihre utopische Entsprechung fanden, wurde der sozialpolitische Konsens einer sozialstaatlich regulierten Umverteilung von Einkommen und Vermögen brü-
17
Vgl. Judith Blocher/Peter Fässler/Ursula Kuhn/Linette Rindlisbacher/Christina Vogel-v. Passavant, Sachhil-
fe als integraler Bestandteil der Sozialarbeit. Bern 1977. 18
Zur Wirtschaftskrise vgl. Margrit Müller/Ulrich Woitek, Wohlstand, Wachstum, Konjunktur, in: Pat-
rick Halbeisen/Margrit Müller/Béatrice Veyrassat (Hrsg.), Wirtschaftsgeschichte der Schweiz im 20.Jahrhundert. Basel 2012, 157–171. 19
Vgl. z.B. Anstösse zur Nacharbeit. Private gemeinnützige Tätigkeit im modernen Sozialstaat. Ein nicht
fürs Archiv bestimmter Bericht über die Jubiläumstagung der GGG vom 3.–4.Juni 1977 in Basel. Basel 1978; Sozialpolitik am Wendepunkt? Vier Referate, gehalten am XXVII. Giessbach-Seminar des Redressement National vom 21. bis 23.September 1978. Zürich 1978; Wirtschaft, Verfassung, Sozialstaat – Zusammenhänge und Spannungen. Jahresversammlung 1983 der Schweizerischen Gesellschaft für Statistik und Volkswirtschaft, in: Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik 119, 1983, 211–397; Gottlieb Duttweiler Institut, Haben die sozialen Netze eine Zukunft? Vorträge der GDI-Tagung, 24./25.Mai 1984. Rüschlikon/Zürich 1984. 20
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Franz-Xaver Kaufmann, Sozialpolitisches Denken. Frankfurt am Main 2003, 164.
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chig. Die Betonung der Vorteile des Wettbewerbs und der Potentiale der Zivilgesellschaft ließen die sozialstaatlichen Sicherheiten, die in der Nachkriegszeit politisch breit abgestützt waren und als soziales Bürgerrecht gewürdigt und verteidigt wurden, immer häufiger als volkswirtschaftliche Zumutung und kollektivistische Bedrohung erscheinen. 21 Obwohl in allen westlichen Industrienationen eine Krise des Sozialstaats diagnostiziert wurde, wirkte sich die Debatte um die Neuverhandlung der sozialen Verantwortung unterschiedlich auf die Wohlfahrtssysteme aus. Während in den meisten Ländern, so zum Beispiel in Deutschland oder Großbritannien, seit den 1980er Jahren eine Zeit des sozialstaatlichen Um- und teilweise auch Abbaus begann, entwickelten sich die Schweiz und ihr „verspäteter Sozialstaat“ anders. 22 Insgesamt ergibt sich für die Zeit nach 1980 ein zwiespältiges Bild, das gekennzeichnet ist von einer Mischung aus sozialpolitischen Kontinuitäten und Brüchen. So wurden mit der Arbeitslosenversicherung (1983), der Krankenversicherung (1994) und der Mutterschaftsversicherung (2005) zentrale sozialstaatliche Elemente des Wohlfahrtssystems erst im ausgehenden 20.Jahrhundert eingeführt. Insofern kann von einem retardierten Ausbau gesprochen werden. Allerdings stagnierte das Leistungsniveau der anderen Sozialversicherungen (besonders der 1948 eingeführten Alters- und Hinterlassenenversicherung) inklusive der sozialen Ausgaben in Form von Subventionen seit den späten 1970er Jahren, was sich in einer bis in die 1990er Jahre gleichbleibenden Sozialausgabenquote (Anteil der Sozialausgaben am BIP) widerspiegelt. 23 Hinsichtlich dieser Prozesse, die Hans-Ulrich Jost als „Einfrieren des Sozialstaates“ zusammenfasst, reiht sich die Schweiz durchaus in die internationale Entwicklung ein. 24 Dasselbe gilt mit Blick auf die aktivierenden Maßnahmen, die in die Versicherungssysteme (vor allem die Arbeitslosenversicherung) und die kom-
21 Vgl. z.B. Walter Wittmann, Wider die organisierte Verantwortungslosigkeit. Ein Plädoyer für die soziale Marktwirtschaft. Frauenfeld/Stuttgart 1984. 22 Vgl. Brigitte Studer, Ökonomien der sozialen Sicherheit, in: Halbeisen/Müller/Veyrassat (Hrsg.), Wirtschaftsgeschichte der Schweiz im 20.Jahrhundert (wie Anm.18), 952–957. 23 Ebd.945. Erst danach stieg die Quote wieder an, vor allem aus buchhalterischen Gründen (Einschluss der neu gegründeten Sozialversicherungen); ebd.959f. 24 Hans-Ulrich Jost, Die Rechtswende, in: Claudia Honegger/Hans-Ulrich Jost/Susanne Burren/Pascal Jurt (Hrsg.), Konkurrierende Deutungen des Sozialen. Geschichts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften im Spannungsfeld von Politik und Wissenschaft. Zürich 2007, 127–152, hier 129.
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munale Sozialhilfe eingebaut wurden. 25 Schließlich ähnelten sich auch die Auswirkungen auf den freiwillig-gemeinnützigen oder dritten oder zivilgesellschaftlichen oder nicht-gouvernementalen Sektor, so dass der recht grobe Befund der beiden Politikwissenschaftler Adalbert Evers und Thomas Olk auch auf die Schweiz zutrifft: „Unterhalb der Oberfläche allfälliger Abbau-, Privatisierungs- und Deregulierungsstrategien wohlfahrtsstaatlicher Leistungen zeichnet sich in sämtlichen westlichen Ländern eine grundsätzliche Neuordnung institutioneller Arrangements wohlfahrtsstaatlicher Systeme ab, die auf eine Pluralisierung von Institutionen und Akteuren der Wohlfahrtsproduktion jenseits von Markt und Staat sowie auf eine Stärkung von Gemeinsinn, bürgerschaftlicher Mitwirkung und Selbsthilfe hinauslaufen.“ 26
Die Transformation und Neuordnung des Wohlfahrtssystems seit den 1980er Jahren war in der Schweiz ein schleichender und vielschichtiger Vorgang, der in Etappen ablief und meist an den Rändern begann. 27 Hinzu kam, dass die Entwicklung politisch höchst umstritten war und fortlaufend neue Herausforderungen mit sich brachte. Wie es im Folgenden am Beispiel der LAKO zu zeigen gilt, entstanden durch die von Evers und Olk als recht glatt beschriebene „Pluralisierung von Institutionen und Akteuren der Wohlfahrtsproduktion jenseits von Markt und Staat“ gerade für gemeinnützige Organisationen viele neue Probleme.
II. Knappheitsprobleme der organisierten Gemeinnützigkeit Die LAKO wurde 1932 von der Schweizerischen Gesellschaft für Gemeinnützigkeit (SGG) als nationaler Dachverband für gesamtschweizerisch tätige gemeinnützige Organisationen und Sozialwerke gegründet, der aber Berufsverbände und einzel-
25
Eva Nadai, Auf Bewährung. Arbeit und Aktivierung in Sozialhilfe und Arbeitslosenversicherung, in:
Sozialer Sinn. Zeitschrift für hermeneutische Sozialforschung 7, 2006, 61–77. 26
Adalbert Evers/Thomas Olk, Wohlfahrtspluralismus. Analytische und normativ-politische Dimension
eines Leitbegriffs, in: dies. (Hrsg.), Wohlfahrtspluralismus. Vom Wohlfahrtsstaat zur Wohlfahrtsgesellschaft. Opladen 1996, 10. Vgl. auch Danielle Bütschi/Sandro Cattacin, L’État incitateur. Nouvelles pratiques de la subsidiarité dans le système du bien-être suisse, in: SVPW Jahrbuch 33, 1993, 143–162. 27
Für die Altersvorsorge vgl. Matthias Ruoss, Vermarktlichung des Gemeinnützigen? Neuordnungen des
public-private mix in der Altersvorsorge Ende des 20.Jahrhunderts, in: Lucien Criblez/Thomas Ruoss/Christina Rothen (Hrsg.), Staatlichkeit in der Schweiz. Regieren und verwalten vor der neoliberalen Wende. Zürich 2016, 31–56.
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ne eidgenössische Ämter und Zusammenschlüsse kantonaler Amtsstellen angehörten. 28 Die als Verein und seit 1981 als Stiftung organisierte LAKO funktionierte als zentrale Koordinationsstelle des gemeinnützigen Sozialwesens. Als eine ihrer ersten Aktionen gründete sie 1934 zusammen mit der SGG die Zentralauskunftstelle für Wohlfahrtunternehmungen (ZEWO), die seither das Sammelwesen organisiert. Die ZEWO gab unregelmäßig sogenannte Sammlungskalender heraus, mit denen die Sammlungen im freiwillig-gemeinnützigen Sektor aufeinander abgestimmt wurden. Zudem zertifizierte sie die private gemeinnützige Tätigkeit von Organisationen mit Schutzmarken (dem sogenannten ZEWO-Siegel), die einen zweckbestimmten und wirkungsvollen Einsatz von Spendengeldern garantieren sollten. Der LAKO wiederum ging es vorab darum, über ihre jährlich stattfindenden Vollver-
sammlungen, die sich mit aktuellen Herausforderungen des freiwillig-gemeinnützigen Sektors befassten, ihre Mitglieder einander näherzubringen. Außerdem sorgte sie mit Rundschreiben, Artikeln in Zeitschriften und Zeitungen für Informationstransparenz im privaten Sozialwesen und publizierte unverbindliche Richtlinien, Wegleitungen und Empfehlungen zu sozial- und gesundheitspolitischen Frage- und Problemstellungen, die von ad hoc eingesetzten, im transnationalen Austausch stehenden Arbeitsgruppen und Studienkommissionen ausgearbeitet wurden. 29 Als Dachverband überblickte die LAKO wie keine andere Instanz die organisierte Gemeinnützigkeit in der Schweiz. Obwohl nur mit Koordinations- und Informationsaufgaben betraut und mit geringen sozialpolitischen Kompetenzen ausgestattet, fühlte sie seit ihrer Gründung den gemeinnützigen Puls der Zeit. In der Zwischenund unmittelbaren Nachkriegszeit waren es die Vollversammlungen, mit denen sie den Kontakt zur Basis herstellte. Als die organisierte Gemeinnützigkeit durch den Ausbau des Sozialstaats in den 1950er und 1960er Jahren unter Reformdruck geriet, führte die LAKO die ersten großangelegten Umfragen unter ihren Mitgliedern durch. 30 Ziel war es, neue gesellschaftliche Problemlagen sichtbar zu machen und
28 Walter Rickenbach, 35 Jahre Schweizerische Landeskonferenz für Soziale Arbeit 1932–1967. Zürich 1967. Für die Mitgliedschaften ab 1981 vgl. Sozialarchiv Zürich (SOZARCH), Ar 467.10.18. 29 Für die Themen der Vollversammlungen und die Publikationen vgl. Rickenbach, Landeskonferenz (wie Anm.28). 30 Schweizerische Landeskonferenz für Soziale Arbeit, Standortsbestimmung über methodische und organisatorische Neuerungen der schweizerischen Sozialarbeit. Bericht über die im Sommer 1965 durchgeführte Umfrage. Zürich 1966; Walter Rickenbach, Ausbau des Schweizerischen Sozialwesens, in: Schweizerische Zeitschrift für Gemeinnützigkeit 197, 1968, 207–236.
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sozialpolitische Lösungsvorschläge einzuholen, aber auch Erwartungen an die LAKO zu eruieren, um die eigenen Programme und Aktivitäten „im Sinne einer or-
ganischen Weiterentwicklung“ anzupassen. 31 In den frühen 1980er Jahren ging die LAKO schließlich noch einen Schritt weiter und intensivierte den Kontakt zu den
gemeinnützigen Organisationen. Im Winter 1984/85 führte Charlotte Jean-Richard, die Präsidentin des Stiftungsrates, elf sogenannte Gruppengespräche mit 54 der LAKO angehörigen privaten Sozialwerken durch. 32 Die Treffen, die jeweils in Zürich
stattfanden, versammelten die wichtigsten Köpfe der schweizerischen gemeinnützigen Szene, darunter den Geschäftsführer der SGG Willy Niederer, den Sekretär der Schweizerischen Vereinigung für Sozialpolitik Günther Latzel, die vier ZentralsekretärInnen von Pro Juventute, Pro Senectute, Pro Infirmis und Pro Mente Sana (Heinz Bruni, Ulrich Braun, Erika Liniger und Jost Gross) sowie zahlreiche weitere Führungspersonen großer Organisationen wie des Blauen Kreuzes, des Schweizerischen Gemeinnützigen Frauenvereins oder der Arbeitsgemeinschaft Schweizerischer Kranken- und Invalidenselbsthilfeorganisationen. Wie die Protokolle der Gruppengespräche zeigen, verlief die skizzierte, durch die „Krise des Sozialstaats“ bedingte und von Evers und Olk als „Neuordnung“ beschriebene Entwicklung im Wohlfahrtssystem alles andere als harmonisch. 33 Zum einen bekundeten gerade ältere Sozialwerke Mühe, ihre teils jahrzehntealten Gründungszwecke mit den neuen zeitgenössischen Anforderungen der konsumorientierten Wohlstands- und Freizeitgesellschaft abzustimmen. Trotz einer massiven Verwissenschaftlichung des Sozialen, mit der ExpertInnen ihnen gemeinnütziges Orientierungswissen zur Erschließung neuer Handlungsfelder bereitstellten, gebe es „heute Werke mit Identifikationsschwierigkeiten“, womit in erster Linie „die Anpassung früherer Zweckbestimmungen an heutige Bedürfnisse“ gemeint seien, so Rudolf Schlatter, der sich wohl auch auf die Schweizerische Nationalspende für unsere Sol-
31
SOZARCH, Ar 467.10.1: Schweizerische Stiftung für Sozialwesen, Bericht der Expertengruppe für den
Ausbau der Schweizerischen Landeskonferenz für Sozialwesen vom 10.März 1972, 16. 32
Zu Charlotte Jean-Richard vgl. AvenirSocial, „Wir haben die Soziale Arbeit geprägt“. Zeitzeuginnen
und Zeitzeugen erzählen von ihrem Wirken seit 1950. Bern/Stuttgart/Wien 2011, 47–58. Zu den Mitgliedern vgl. SOZARCH, Ar 467.10.6: Gruppengespräche mit den bei der LAKO vertretungsberechtigten Privatwerken. 33
Für eine Zusammenfassung der Gespräche vgl. SOZARCH, Ar 467.10.6: Rapport sur les entretiens en
groupes avec les œuvres privées, 6.12.1985.
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daten und ihre Familien bezog, der er als Zentralsekretär vorstand. 34 Neben Legitimationsproblemen berichteten viele der angehörten SozialexpertInnen und Sozialarbeitenden über finanzielle Schwierigkeiten ihrer Organisationen. Die vorgetragenen Gründe dafür waren vielseitig. Mario Studerus zum Beispiel, Präsident des Schweizerischen Verbands von Fachleuten für Alkoholgefährdeten- und Suchtkrankenhilfe, gab zu Protokoll, die „Finanzkrise seines Verbandes“ sei „sehr gross u. a. auch wegen eines massiven Rückgangs der Subventionen“. 35 Religiösen Einrichtungen wie dem Kirchlichen Sozialdienst Zürich wiederum machten die angestiegenen Kirchenaustritte zu schaffen, die sich in einem „Rückgang der Kirchensteuern“ manifestierten, womit auch sie „zunehmend mit Mittelbeschaffungs-Problemen konfrontiert“ waren. 36 Am häufigsten wurde allerdings die sinkende Spendenbereitschaft beklagt, die auf die „‚Überversorgung‘ der Bevölkerung mit sozialen Dienstleistungen“ zurückgeführt wurde. 37 Die „Spendefreudigkeit des Bürgers“ gehe zurück, „da dieser heute täglich mit Sammelprospekten überhäuft wird und dann schliesslich überhaupt nichts mehr geben mag“. 38 Die Folge davon waren ein wettbewerbsbedingter „Organisationsegoismus“ 39 und eine ausgeprägte „Schrebergartenmentalität“ 40, ja auf dem hoch kompetitiven Spendenmarkt sei „ein eigentlicher Dschungelkrieg im Gange“ 41.
34 SOZARCH, Ar 467.10.6: Rudolf Schlatter, Schweizerische Nationalspende für unsere Soldaten und ihre Familien, Zusammenfassung des 5. Gespräches, 29.Januar 1985, Zürich, 4. 35 SOZARCH, Ar 467.10.6: Mario Studerus, Präsident des Schweizerischen Verbands von Fachleuten für Alkoholgefährdeten- und Suchtkrankenhilfe, Zusammenfassung des 2. Gespräches, 28.November 1984, Zürich, 5. 36 SOZARCH, Ar 467.10.6: Herr Fluck, Stellenleiter beim Kirchlichen Sozialdienst Zürich, Zusammenfassung des 11. Gespräches, 25.März 1985, Zürich, 2. 37 SOZARCH, Ar 467.10.6: Ernst Santschi, Zentralsekretär des Schweizerischen Berufsverbands diplomierter Sozialarbeiter und Erzieher, Zusammenfassung des 11. Gespräches, 25.März 1985, Zürich, 4. 38 SOZARCH, Ar 467.10.6: K. Pfister, Sekretärin der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft der Heimerzieherschulen, Zusammenfassung des 8. Gespräches, 7.März 1985, Zürich, 6. 39 SOZARCH, Ar 467.10.6: Jost Gross, Zentralsekretär der Pro Mente Sana, Gruppengespräche mit den Sozialwerken, Zusammenfassung des ersten Gespräches, 12.November 1984, Zürich, 2. 40 SOZARCH, Ar 467.10.6: Mario Studerus, Präsident des Schweizerischen Verbands von Fachleuten für Alkoholgefährdeten- und Suchtkrankenhilfe, Gruppengespräche mit den Sozialwerken, Zusammenfassung des 2. Gespräches, 28.November 1984, Zürich, 5. 41 SOZARCH, Ar 467.10.6: R. Scherler, Zentralpräsident der Pflegekinder-Aktion Schweiz, Zusammenfassung des 3. Gespräches, 5.Dezember 1984, Zürich, 2.
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Wie in den Gruppengesprächen weiter deutlich wurde, sahen sich mehr und mehr gemeinnützige Organisationen vor dem Hintergrund knapper finanzieller Mittel zu einem radikalen Schritt gezwungen: Sie verkauften ihre sozialen Angebote und Hilfeleistungen, womit sie sich vom traditionell handlungsleitenden Fürsorgeprinzip distanzierten, das trotz paternalistischer Zwänge immer auch sozialreformerisch wirkte. 42 Gerade ältere Organisationen mit straff organisierten Zentralsekretariaten und einem zentralisierten Rechnungswesen sowie einem breiten Dienstleistungsangebot, das sich mithilfe eines professionalisierten Fundraisings bedarfsgerecht anpassen und vermarkten ließ, wählten diesen Weg. So konstatierte etwa Ulrich Braun, der dem Stiftungsrat der LAKO angehörte, dass „gewisse soziale Dienstleistungen (Sozialberatung ausgeschlossen) je länger je mehr verkommerzialisiert werden“. 43 Braun wusste, wovon er sprach. Als Zentralsekretär der Stiftung Pro Senectute stand er einem Werk vor, das den Verkauf von gemeinnützigen Weiterbildungs- und Freizeitangeboten für ältere Menschen in der Schweiz früh und erfolgreich forcierte 44: Bereits Ende der 1980er Jahre deckte Pro Senectute seine Ausgaben zu einem Drittel aus Einkünften aus verkauften Dienstleistungen. 45 Für kleinere, spezialisierte Organisationen, die generell Schwierigkeiten hatten, mehr Einnahmen zu generieren, war dies jedoch keine Option. Da die Budgets aber oft auch ausgabeseitig aufgrund steigender Lohnkosten strapaziert wurden, verzichteten einige fortan darauf, ausgebildete SozialarbeiterInnen zu engagieren, so etwa die Pflegekinder-Aktion Schweiz, die seit 1980 keine Fachkräfte mehr einstellte, sondern auf interne Schulungen von Laien setzte. 46 Markus Wieser, der Direktor der Schweizerischen Fachstelle für Alkoholprobleme, meinte in solchen Sparübungen „einen Trend zur Entprofessionalisierung“ feststellen zu können, der durch die „Gründung von immer mehr Selbsthilfegruppen“ verstärkt werde. 47
42
Zum Fürsorgeprinzip vgl. Sonja Matter/Matthias Ruoss/Brigitte Studer, Editorial: Philanthropie und So-
zialstaat, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 26, 2015, 8–10. 43
SOZARCH, Ar 467.10.6: Ulrich Braun, LAKO Stiftungsrat, Zusammenfassung des 11. Gespräches, 25.
März 1985, Zürich, 4. 44
Für eine Übersicht über die Weiterbildungsangebote der gemeinnützigen Organisationen vgl. die von
der LAKO herausgegebenen Kurskalender, SOZARCH, Ar 467.10.7. 45
Ruoss, Vermarktlichung (wie Anm.27), 31–56.
46
SOZARCH, Ar 467.10.6: R. Scherler, Zentralpräsident der Pflegekinder-Aktion Schweiz, Zusammenfas-
sung des 3. Gespräches, 5.Dezember 1984, Zürich, 5. 47
SOZARCH, Ar 467.10.6: Markus Wieser, Direktor der Schweizerischen Fachstelle für Alkoholproble-
me, Zusammenfassung des 10. Gespräches, 19.März 1985, Zürich, 4.
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Das in den Gruppengesprächen erfasste Stimmungsbild zeigt das teils schwierige Nebeneinander gemeinnütziger Organisationen Mitte der 1980er Jahre, die durch die Gemengelage von Wohlstandsentwicklung, Subventionskürzungen und Konkurrenz auf dem Spendenmarkt vielfach mit Finanzierungsproblemen zu kämpfen hatten. 48 Um die neu gegründeten sozialpädagogischen Beratungsstellen und pflegerischen Dienstleistungsangebote in einem sich stetig professionalisierenden Sozialwesen unterhalten und den administrativen Aufwand dafür bewältigen zu können, waren finanzielle und personelle Ressourcen nötig. Gelder in Form von öffentlichen Subventionen waren in Zeiten einer auch von gemeinnützigen Organisationen diagnostizierten Krise des Sozialstaats paradoxerweise nur mehr schwer zu bekommen und der Spendenmarkt, so die Klagen, weitgehend ausgetrocknet. Um die aus dem Gleichgewicht geratenen Rechnungen wieder ins Lot zu bringen, entwickelten sie teils neue Strategien der Einkommenssteigerung und Ausgabenkürzung. Während immer mehr vor allem ältere Organisationen mit gut ausgebauten bürokratischen Apparaten und größeren gemeinnützigen Angeboten in den 1980er Jahren ihre sozialen Dienstleistungen verkauften und sich als „Sozialunternehmen“ auf dem Wohlfahrtsmarkt positionierten, setzten kleinere – darunter viele Selbsthilfeorganisationen – bevorzugt auf den Einsatz von freiwilligen HelferInnen. Für sie war die in den Debatten um die Neuverhandlung der sozialen Verantwortung geforderte Wohlstandsgesellschaft nicht nur ein utopisches Zukunftsziel, sondern eine alternativlose Notwendigkeit. Ohne die Hilfe von Freiwilligen hätten sie ihre Arbeit nicht weiterführen können. Das eingefangene Stimmungsbild reflektiert eine internationale Problemkonstellation, die sich nicht nur in der Schweiz und ihrem vielfach fragmentierten und föderalistisch organisierten Wohlfahrtssystem einstellte. Die Frage, wie gemeinnützige Arbeit bei wachsenden sozialen Aufgaben und knappen Mitteln organisiert, finanziert und schließlich praktisch erbracht werden kann, stand in den frühen 1980er Jahren im Zentrum transnationaler sozialpolitischer Debatten, so zum Beispiel bei der Weltkonferenz des „International Council on Social Welfare“ von 1982 48 Auch die beiden Delegiertenversammlungen der LAKO von 1984 und 1985 beschäftigten sich mit der Konkurrenz im freiwillig-gemeinnützigen Sektor. Vgl. SOZARCH, Ar 467.10.5: Protokoll der 4. Delegiertenversammlung der Stiftung LAKO, Bern, 29.5.1984, Podiumsgespräch: „Die bei der LAKO vertretungsberechtigten Institutionen – Verbündete oder Gegner“; Protokoll der 5. Delegiertenversammlung der Stiftung LAKO, Bern, 28.5.1986, Fachlicher Teil: „Konkurrenz im Sozialwesen?“; SOZARCH, Ar 467.10.7: Konkurrenz
im Sozialwesen? LAKO-Bulletin, Nr.20, Juli 1986.
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im englischen Brighton. 49 Im gleichen Jahr beschäftigte sich die vierte Dreiländertagung des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, der LAKO und des Österreichischen Komitees für Sozialarbeit in Frankfurt am Main mit der „Leistungsfähigkeit sozialer Dienste auf örtlicher Ebene zwischen Zuwachs an Anforderungen und Einengung des finanziellen Spielraums“. 50 Auch hier wurden die „Selbstbezahlung“, das heißt die Abwälzung der Kosten auf die Bedürftigen, die nunmehr als KundInnen adressiert wurden, sowie die „Einbeziehung freiwilliger Helfer“ als zwei von mehreren Finanzierungsoptionen diskutiert 51 – wobei die Letztere ein Jahr später, wie einleitend erwähnt, eingehend auf der nächsten Dreiländertagung in Graz besprochen wurde.
III. Freiwilligenarbeit als Tauschgeschäft in einer anerkennungsökonomischen Ordnung Bereits im 19.Jahrhundert bauten die private Wohltätigkeit und öffentliche Fürsorge bei der Bekämpfung der „Sozialen Frage“ in der Schweiz stark auf die Mithilfe von Freiwilligen, bezogen sie in Entscheidungsprozesse ein und wiesen ihnen Aufgaben zu. 52 Dabei stellten ihnen Aktivistinnen der bürgerlichen Frauenbewegung, vereinzelt auch bürgerliche Sozialreformer, mit der „sozialen Mütterlichkeit“ ein wirkmächtiges Mobilisierungskonzept zur Verfügung, das die „angeborene“ Fähigkeit zur Mütterlichkeit adressierte und mit dem sich Frauen verpflichten ließen beziehungsweise die Möglichkeit erhielten, die Sphäre des Hauses zu verlassen und gesellschaftlich aktiv zu werden. 53 Freiwilligenarbeit wurde damit bereits früh als ein geradezu typisches weibliches Aktionsfeld konstruiert, auf dem sich neben Diako-
49
Action for Social Progress. The Responsibilities of Government and Voluntary Organizations. Pro-
ceedings of the 21st International Conference on Social Welfare, Brighton, UK, August 29 – September 4, 1982. Wien 1983. 50
Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge (Hrsg.), Die Leistungsfähigkeit sozialer Dienste auf
örtlicher Ebene zwischen Zuwachs an Anforderungen und Einengung des finanziellen Spielraums. Bericht über die 4. Drei-Länder-Studientagung in Frankfurt/Main. Frankfurt am Main 1983. 51
Ebd.109, 126.
52
Vgl. SOZARCH, SGG B 11 e: Bericht: Freiwillige Armenfürsorge, freiwillige allgemeine Fürsorge, frei-
willige Jugend- und Alters-Gesundheits- und Krankenfürsorge 1700–1900. 53
Christoph Sachße, Mütterlichkeit als Beruf. Sozialarbeit, Sozialreform und Frauenbewegung 1871–
1929. Frankfurt am Main 1986.
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nissinnen und Kongregationsschwestern auch bürgerliche Frauen helfend, tröstend und heilend den sozial Benachteiligten und Bedürftigen widmen sollten – eine soziale Tatsache, an der sich bis heute wenig verändert hat. 54 Trotz geschlechtsspezifischer Kontinuitäten unterlag das freiwillige Sozialengagement in der Folge fundamentalen Wandlungsprozessen. Vor allem die Sozialstaatsentwicklung und die Professionalisierung der sozialen Arbeit beeinflussten ihre bereichsspezifische Ausrichtung und soziale Reichweite. 55 Beide Prozesse waren keine linearen Vorgänge, weder der Aufbau des Sozialstaats noch die Verberuflichung der sozialen Hilfe machten die Freiwilligenarbeit obsolet. Noch heute entstehen neue Einrichtungen im Sozialbereich durch die Institutionalisierung von Angeboten, die zuerst von und mit Freiwilligen geschaffen wurden. Gleichzeitig kooperieren SozialarbeiterInnen in vielen privaten Organisationen und öffentlichen Diensten nach wie vor mit Freiwilligen. Kennzeichnend für die Geschichte der Freiwilligenarbeit ist, dass sie sich in komplexen, in Konjunkturen verlaufenden Aufmerksamkeitsschüben entwickelte, die eingebettet waren in ordnungspolitische Grundsatzdebatten um die Aufgabenteilung zwischen privater und öffentlicher sozialer Verantwortung und beruflichen Fachdiskussionen um adäquate soziale Hilfestellungen. 56 Mit der durch das sozialstaatliche Krisengerede angestoßenen Verhandlung der sozialen Verantwortung erlebten die Schweiz und viele andere westliche Industrienationen auch in den 1980er Jahren einen solchen Schub. 57 Wie es zu zeigen gilt, waren dafür vor allem gemeinnützige Organisationen verantwortlich, die vor dem Hintergrund knapper Ressourcen den „Geist des freiwilligen Dienens“ erweckten. 58 Arrangiert wurde die Wachrufung durch eine sich gegenseitig verstärkende praktische und diskursive Bewirt-
54 Vgl. Bundesamt für Statistik, Freiwilliges Engagement (wie Anm.3). 55 Sonja Matter, Der Armut auf den Leib rücken. Die Professionalisierung der Sozialen Arbeit in der Schweiz (1900–1960). 2.Aufl. Zürich 2013. 56 Sebastian Braun, Bürgerschaftliches Engagement – Konjunktur und Ambivalenz einer gesellschaftspolitischen Debatte, in: Leviathan 29, 2001, 83–109. 57 Vgl. z.B. Bernhard Badura/Peter Gross, Sozialpolitische Perspektiven. Eine Einführung in Grundlagen und Probleme sozialer Dienstleistungen. München 1976; Rolf G. Heinze (Hrsg.), Neue Subsidiarität. Leitidee für eine zukünftige Sozialpolitik? Opladen 1986; Ruth Brack/Judith Giovannelli-Blocher/Rudolf Steiner, Freiwillige Tätigkeit und Selbsthilfe aus Sicht beruflicher Sozialarbeit. Bern/Stuttgart 1986. 58 Der Geist des freiwilligen Dienens, Jahrbuch der Neuen Helvetischen Gesellschaft (NHG), 57. Jg. Aarau/Frankfurt am Main/Salzburg 1986. Vgl. auch Siegfried Müller/Thomas Rauschenbach (Hrsg.), Das soziale Ehrenamt. Nützliche Arbeit zum Nulltarif. Weinheim/München 1988.
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schaftung der Freiwilligkeit als Ressource. Maßgeblich daran beteiligt waren angehende Sozialarbeiterinnen, welche die Erweckung als Aufwertung des Ansehens der freiwilligen Tätigkeit verstanden und inszenierten. Bis in die 1970er Jahre zeichnete sich die Freiwilligenarbeit unter anderem dadurch aus, dass sie unentgeltlich und ohne Gegenleistung ausgerichtet wurde. Auch wenn der eine oder die andere ehrenamtlich Tätige einmal mit einem kleinen Geschenk verdankt wurde und Freiwillige bei Jubiläumsanlässen vereinzelt Blumensträuße bekamen, so hielt der freiwillig-gemeinnützige Sektor doch am Prinzip der Unentgeltlichkeit fest. Daran hat sich bis heute wenig geändert. Allerdings begannen gemeinnützige Organisationen in den 1980er Jahren, das Prinzip durch „marktähnliches Verhalten“ aufzuweichen, wie eine Umfrage der Caritas Schweiz von 1986 zeigt. 59 Gemäß der Umfrage entrichteten 35 von 80 befragten Organisationen monetäre Gegenleistungen für freiwillig geleistete Arbeiten, darunter sowohl große wie das Schweizerische Rote Kreuz, das Schweizerische Arbeiter-Hilfswerk oder Pro Infirmis, als auch kleinere wie Das Band, die „Association Suisse des Paralysés“ oder der Service „Entraide“ Moutier. 60 Bei den Gratifikationen handelte es sich um spezielle Barauszahlungen in Form eines Taschengeldes oder um Aufwandsentschädigungen (pauschaler jährlicher Betrag, Taggeld, Stundenlohn). Monetär vergütet wurden vor allem Freiwillige, die Lager oder Ferienkolonien mit Jugendlichen und Menschen mit Behinderungen leiteten, in Haushilfediensten für Kranke und Hochaltrige mithalfen oder eine ehrenamtliche Tätigkeit ausübten. 61 Befragt nach den Gründen, warum sie Freiwilligenarbeit trotz beklagter Ressourcenknappheit monetarisierten, antworteten die gemeinnützigen Organisationen, durch Bezahlung würden die Tätigkeiten anerkannt und honoriert, wodurch sich mehr Freiwillige gewinnen ließen. 62 Die große Mehrheit der Organisationen entschädigte Freiwillige zudem mit nicht-monetären Leistungen – von Einführungs-, Aus- und Weiterbildungskursen über Versicherungsgarantien, Veranstaltungseintritten und Geschen-
59
Beda Marthy/Andreas Fischer, Freiwilligen-Arbeit. Geist und Geld in der Hilfe von Mensch zu Mensch.
Luzern 1986, 55. 60
Ebd.35, 37–41. Vgl. auch Peter C. Meyer/Monica Budowski (Hrsg.), Bezahlte Laienarbeit und freiwillige
Nachbarschaftshilfe. Zürich 1993; Claude Bovay/Jean-Pierre Tabin/Roland J. Campiche, Bénévolat. Modes d’emploi. Lausanne 1994; Claude Bovay/Jean-Pierre Tabin (Hrsg.), (Un)freiwillig effizient. Freiwilligenarbeit, Erwerbsarbeit und gesellschaftliche Solidarität. Bern 1998.
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61
Spesen, die von insgesamt 59 Organisationen vergütet wurden, gehörten nicht dazu; ebd.29, 46.
62
Ebd.43.
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ken bis hin zu Dankesschreiben. 63 Wie die Entschädigungen wurden viele dieser Gegenleistungen, so die Studie, von den Organisationen als Win-win-Problemlösung aufgefasst: Gerade die verschiedenen Kurse und die Angebote, freiwillige Einsätze durch professionelle Begleitpersonen beaufsichtigen zu lassen, würden die Arbeit qualitativ verbessern und aus Sicht der Freiwilligen aufwerten. Wie die Caritas-Umfrage zeigt, rekrutierten gemeinnützige Organisationen bereits in den frühen 1980er Jahren Freiwillige mit „dem Mittel der Anerkennung von guter Arbeit“. 64 Indem sie die Freiwilligenarbeit in eine anerkennungsökonomische Ordnung einließen, konnte den Freiwilligen ein Tauschwert angeboten werden, der in Form der Wertschätzung daherkam, die sowohl – aber nicht primär – Entschädigungen als auch nicht-monetäre Gegenleistungen umfasste. 65 Relevant, so die Umfrage, seien die neuen, auf Reziprozität ausgelegten Anerkennungspraktiken, die den (im)materiellen Eigennutz des Helfens adressierten, für gemeinnützige Organisationen auch wegen der „Umstrukturierung unserer Arbeitswelt“ 66: Nicht nur die finanziellen Mittel waren knapp, auch die unentgeltlichen Arbeitsleistungen von Frauen, die jahrzehntelang die große Mehrheit der Freiwilligen im sozialen Bereich ausmachten und damit die „heimliche Ressource der Sozialpolitik“ waren, wurden zunehmend vom Arbeitsmarkt gebunden und – wohl noch wichtiger – waren aufgrund feministischer Interventionen auch nicht mehr fraglos verfügbar. 67 Diskursiv gestützt und ausdifferenziert wurde die entstehende anerkennungsökonomische Ordnung durch wissenschaftliche Untersuchungen, insbesondere der motivationalen Psychologie der Freiwilligenarbeit, die sich um die Frage drehten:
63 Ebd.47–51. 64 Ebd.54. 65 Vgl. auch Frank Nullmeier, Anerkennung: Auf dem Weg zu einem kulturalen Sozialstaatsverständnis? in: Stephan Lessenich (Hrsg.), Wohlfahrtsstaatliche Grundbegriffe. Historische und aktuelle Diskurse. Frankfurt am Main/New York 2003, 395–418; Stephan Lessenich, Aktivierungspolitik und Anerkennungsökonomie. Der Wandel des Sozialen im Umbau des Sozialstaats, in: Soziale Passagen. Journal für Empirie und Theorie sozialer Arbeit 1/2, 2009, 163–176; Barbara Kita Sutter, Kehrt zurück, Bürger! Zur Transformation des Sozialen durch bürgerschaftliches Engagement. Unpublizierte Dissertation Universität Basel 2013. 66 Ebd.9. 67 Elisabeth Beck-Gernsheim, Frauen – die heimliche Ressource der Sozialpolitik, in: WSI-Mitteilungen 2, 1991, 58–66. Vgl. auch Beatrice Schumacher, Phönix aus der Asche? Die Neuerfindung der Gemeinnützigkeit zwischen Sozialer Arbeit und sozialer Verantwortung, in: dies. (Hrsg.), Freiwillig verpflichtet. Gemeinnütziges Denken und Handeln in der Schweiz seit 1800. Zürich 2010, 399–402.
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„Ist freiwilliges Helfen wirklich so freiwillig?“ 68 SozialexpertInnen führten freiwilliges Sozialengagement in der Schweiz bis in die Nachkriegszeit mehrheitlich auf altruistische Motive zurück. 69 Frauen und Männer, die sich freiwillig engagierten, galten entweder als religiös motiviert oder gemeinwohlorientiert oder beides. Christliche Nächstenliebe und liberale Gemeinwohlverpflichtung waren zentrale Beweggründe, welche die bürgerliche Gesellschaft einforderte und in eine geschlechtsspezifische Ordnung einpasste, aber auch als Tugenden wertschätzte. 70 Hinzu kamen insbesondere in linken Kreisen auch sozialistische Gerechtigkeitsanliegen und humanistische Ideale einer besseren Gesellschaft. Religiöse, staatsbürgerliche und soziale Motive wurden in den ersten Diplomarbeiten noch immer als treibende Kräfte identifiziert, die seit Mitte der 1960er Jahre von Absolventinnen der Schulen für Soziale Arbeit verfasst wurden. 71 Allerdings verwiesen die Interviewstudien mit Freiwilligen und die Enqueten zur Freiwilligenarbeit, die maßgeblich von der transnationalen Diskussion um die Aufwertung unbezahlter Arbeit innerhalb der Frauenbewegung geprägt waren, daneben immer häufiger auf (weibliche) Eigeninteressen. 72 Mit anderen Worten: Zwar war die altruistische Orientierung am großen Ganzen in Form einer göttlichen Ordnung, der Nation oder einer gerechteren Gesellschaft noch immer handlungsleitend, doch tauchte daneben nun auch der individuelle Nutzen als Movens auf. Die Diplomarbeiten deuteten diese Entwicklung nicht einfach als Erosion fundamentaler religiöser Einstellungen und staatsbürgerlicher Grundüberzeugungen, sondern als eine Art säkulare Rationalisierung
68
Aldo Eigenmann, Ist freiwilliges Helfen wirklich so freiwillig?, in: Puls. Monatsheft der Gruppen IM-
PULS und Ce Be eF 26/9, 1984, 7–9.
69
Emma Steiger, Handbuch der sozialen Arbeit in der Schweiz. Bd. 1: Systematische Übersicht über die
soziale Arbeit. 4.Aufl. Zürich 1948, 1f. 70
Vgl. Albert Tanner, Arbeitsame Patrioten – Wohlanständige Damen. Bürgertum und Bürgerlichkeit in
der Schweiz 1830–1914. Zürich 1995; Rainer Liedtke/Klaus Weber (Hrsg.), Religion und Philanthropie in den europäischen Zivilgesellschaften. Entwicklungen im 19. und 20.Jahrhundert. Paderborn 2009. 71
Annelies Hanselmann, Freiwillige Mitarbeiter im Rotkreuz-Helferdienst. 25 Rotkreuzhelferinnen und
-helfer der Stadt Zürich geben Auskunft über ihre Tätigkeit. Diplomarbeit der Schule für Sozialarbeit Luzern. Luzern 1963, 14–18; Beatrice Meyer, Freiwillige Helfer in der offenen Fürsorge. Stellungnahme von 22 Sozialarbeitern der Stadt Basel. Diplomarbeit der Schule für Sozialarbeit Luzern. Luzern 1964, 33f.; Erika Honold, Freiwillige Helfer als Mitarbeiter im Jugendstrafvollzug. Umfrage bei 25 freiwilligen Helfern der Jugendanwaltschaft Zürich. Diplomarbeit der Schule für Sozialarbeit Luzern. Luzern 1965, 33f. 72
Simona Isler, Lohn für Hausarbeit? Befreiungsperspektiven der Frauenbewegung in den 1970er-Jah-
ren, in: Brigitta Bernet/Jakob Tanner (Hrsg.), Ausser Betrieb. Metamorphosen der Arbeit in der Schweiz. Zürich 2015, 216–236.
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der Solidarität, die sich bei Frauen in einem Bedürfnis nach Erwerb, Anwendung oder Weiternutzung beruflicher Qualifikationen, der Suche nach Lerngelegenheiten, sozialer Eingebundenheit, dem Streben nach Anerkennung und der Stärkung des Selbstwertgefühls sowie nicht zuletzt Abwechslung vom Familienalltag manifestiere. Spätestens seit dem Bestseller „Die hilflosen Helfer“ des deutschen Psychoanalytikers Wolfgang Schmidbauer aus dem Jahr 1977 wurde freiwilliges Helfen schließlich verstärkt und vor allem geschlechtsneutral unter dem Blickwinkel der Befriedigung selbstbezogener Wünsche und Bedürfnisse diskutiert. 73 Schmidbauer diagnostizierte bei sozial tätigen Menschen, darunter vor allem Professionellen, ein „Helfersyndrom“. Helfen, so seine populär gewordene These, diene ihnen zur Abwehr von Ängsten, als eine Suche nach Lösungen für ein Gefühl der inneren Leere und als eine Möglichkeit, der kalten Gefühls- und Beziehungslosigkeit der industrialisierten Gesellschaft zu entkommen. Die empirisch erfasste Veränderung der Motivlagen Freiwilliger wurde von den ersten breit angelegten Untersuchungen bestätigt, die in den frühen 1990er Jahren durchgeführt wurden. 74 So heißt es etwa in einer von Beatrice Hess und Eva Nadai veröffentlichten Studie aus dem Jahr 1996: „Im Zusammenhang mit Freiwilligenarbeit vom Nutzen für die Freiwilligen zu sprechen, war lange Zeit verpönt. Eigennutzen und Freiwilligenarbeit schienen nicht zusammenzugehen, denn Freiwilligenarbeit bildet sozusagen ein Reservat des Altruismus in einer dem individuellen Nutzenstreben verpflichteten Gesellschaft.“ 75
Demgegenüber bilanzierte die Studie auch, dass die Befriedigung in der Arbeit selber liege, der gemeinsamen Zusammenarbeit, dem anerkennenden Gefühl, gefragt zu sein und gebraucht zu werden. Zwar sei Freiwilligenarbeit immer „prakti-
73 Wolfgang Schmidbauer, Die hilflosen Helfer. Über die seelische Problematik der helfenden Berufe. Reinbek 1977. Vgl. z.B. Ruth Staehlin, Arbeit, die man nicht bezahlen kann. Vom freiwilligen Einsatz im sozialen Bereich. Zürich 1984, 41–46. Für einen internationalen Überblick über die Forschung zur Freiwilligkeit vgl. Christoph Badelt, Politische Ökonomie der Freiwilligenarbeit. Theoretische Grundlegung und Anwendungen in der Sozialpolitik. Frankfurt am Main/New York 1985, 59–76. 74 Vgl. Rolf Fischler/Margot M. Lande, Freiwillige im Sozialbereich, aus der Sicht der Organisationen und der freiwillig Tätigen. Neuallschwil 1990; Isidor Wallimann, Freiwillig Tätige im Sozialbereich und in anderen Bereichen. Ergebnisse aus einer nationalen Befragung einschliesslich eines Vergleichs mit Ergebnissen aus einer regionalen Erhebung. Basel 1993. Vgl. auch Robert Wuthnow, Acts of Compassion. Caring for Others and Helping Ourselves. Princeton, NJ 1991. 75 Beatrice Hess/Eva Nadai, Gratis, aber nicht umsonst. Freiwillige und ihre Arbeit. Zürich 1996, 41.
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sche Solidarität“, doch „ziehen die Freiwilligen selbst einen Nutzen aus ihrer Arbeit – unabhängig davon, ob sie diesen bewusst anstreben oder nicht“. 76 Mit ihrem dialektischen Fazit interpretierte die Studie Freiwilligenarbeit als altruistisch und eigennützig motiviert zugleich. Sie erscheint damit als „in einem Pflicht-Freude-Antagonismus vergleichbaren Muster gefangen, dessen Pole Altruismus und Eigennutzen sich nicht klar zuordnen lassen, sondern in erster Linie eine Spannungsbreite angeben“, so die Historikerin Beatrice Schumacher. 77 Aus historischer Perspektive interessant ist weniger, ob die bipolare Deutung der Freiwilligenarbeit zutrifft oder nicht, sondern was sie abbildete und ermöglichte. 78 Die Neuinterpretation reflektiert eine bereits in den Diplomarbeiten sichtbar gewordene Anspruchshaltung von Freiwilligen (dort vor allem Frauen), die von den gemeinnützigen Organisationen und ihren auf Tausch ausgelegten anerkennungspolitischen Rekrutierungspraktiken adressiert und kultiviert, aber auch entgeschlechtlicht wurde. Trotz oder gerade wegen der in die „Natur“ des freiwilligen Helfens hineininterpretierten Bipolarität fand seit den 1980er Jahren, angeleitet durch die Sozialpsychologie und später die Verhaltensforschung, auch eine Veränderung in der öffentlich verhandelten Deutung statt, die heute noch wirksam ist und die dem freiwilligen Tun eine veränderte Sinngebung und Legitimation gibt. 79 1990 brachte die „Neue Zürcher Zeitung“ diese gemeinnützig hergestellten und sozialwissenschaftlich sichtbar gemachten Realitäten folgendermaßen auf den Punkt: „Die neuen Freiwilligen sind da, sie sind motiviert, suchen in ihrem Engagement eine neue Art von Harmonie: einen Ausgleich im Geben und Empfangen. Sie finden zunehmend mehr öffentliche Unterstützung und Anerkennung. Aus dieser neuen Menschlichkeit könnte ein zukunftsweisendes Solidaritätsbewusstsein entstehen – unsentimental, pragmatisch und verantwortungsvoll.“ 80
76
Ebd.41.
77
Schumacher, Phönix (wie Anm.67), 400.
78
Zur Überwindung der Bipolarität durch die aktuelle Forschung vgl. Theo Wehner/Stefan Güntert
(Hrsg.), Psychologie der Freiwilligenarbeit. Motivation, Gestaltung und Organisation. Berlin/Heidelberg 2015. 79
„Spaß an der Tätigkeit“ ist denn auch diejenige Antwort auf die Frage nach der Motivation, die in der
ersten, 2006 durchgeführten repräsentativen Freiwilligenuntersuchung in der Schweiz am häufigsten genannt wurde; vgl. Isabelle Stadelmann-Steffen/Markus Freitag/Marc Bühlmann, Freiwilligen-Monitor Schweiz 2007. Zürich 2007, 73. 80
Neue Zürcher Zeitung vom 19./20.Mai 1990. Vgl. auch Joseph Huber, Die neuen Helfer. Das „Berliner
Modell“ und die Zukunft der Selbsthilfebewegung. München/Zürich 1987.
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IV. Helfen als soziales Lernen: Ein LAKO-Projekt zur Rekrutierung neuer Freiwilliger Indem Freiwilligenarbeit durch gemeinnützige Organisationen und wissenschaftlich angeleitete öffentliche Deutungen in eine neue anerkennungsökonomische Ordnung eingepasst wurde, ist das Engagement weniger verlässlich und damit voraussetzungsvoller geworden. Denn die auf Tausch ausgelegten Anerkennungspraktiken der gemeinnützigen Organisationen zur Rekrutierung von Freiwilligen adressierten Anspruchshaltungen, die immer wieder neu umworben werden mussten. Das „Versprechen eines Eigennutzes“ übernahm diese Rekrutierungsfunktion, nicht nur für Frauen, welche die unbezahlte Freiwilligenarbeit kritisierten und eine Gegenleistung dafür einforderten, sondern für alle. 81 Zwar haben – wie alle verfügbaren Studien trotz empirischer Unschärfen belegen – weder der Umfang noch die Bereitschaft zur Freiwilligenarbeit im ausgehenden Jahrhundert abgenommen, doch bedurfte es dafür neuer Förderstrukturen, welche die nicht mehr fraglos verfügbare Ressource Solidarität gezielt mit Blick auf bestimmte soziale Gruppen initiierten und rational bewirtschafteten. 82 Ein sehr frühes Beispiel für dieses seit den 1990er Jahren aufgebaute und in der aktuellen „Flüchtlingskrise“ sichtbar gewordene Aktivierungsdispositiv, das sich aus Ausbildungsgängen für Freiwillige, Vermittlungsagenturen, universitären Forschungsinstituten, politischen Förderungsprogrammen und einer Vielzahl von Ratgebern zusammensetzt, ist ein von der LAKO lanciertes Projekt zur Förderung des freiwilligen Sozialengagements. 83 Die LAKO beschäftigte sich bereits in den frühen 1980er Jahren in diversen Publikationen und Veranstaltungen mit dem Phänomen der Freiwilligkeit, doch erst nach den Gruppengesprächen mit VertreterInnen gemeinnütziger Organisationen
81 Eva Nadai, Gemeinsinn und Eigennutz. Freiwilliges Engagement im Sozialbereich. Bern/Stuttgart/ Wien 1996, 212. 82 Nadai/Sommerfeld/Bühlmann/Krattiger, Fürsorgliche Verstrickung (wie Anm.4), 73f. Erst die neuesten verfügbaren Daten für die Schweiz deuten auf einen leichten Rückgang hin: Markus Freitag/Anita Manatschal/Kathrin Ackermann/Maya Ackermann, Freiwilligen-Monitor Schweiz 2016. Zürich 2016, 48–75. 83 Zum Aktivierungsdispositiv vgl. Dieter Hanhart/Liona Staehelin/Susanne Dedi Rüegg u.a. (Hrsg.), Freiwilligenarbeit. Ein Handbuch. Ein Ratgeber aus der Beobachter-Praxis. Zürich 2000; Sabine Braunschweig, Die GGG im 20.Jahrhundert. Die Bedeutung der „Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige“ im kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Basel. Basel 2017, 70–75. Für Deutschland vgl. Daniela Neumann, Das Ehrenamt nutzen. Zur Entstehung einer staatlichen Engagementspolitik in Deutschland. Bielefeld 2016.
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leitete der Stiftungsrat konkrete Schritte ein und wurde praktisch tätig. 84 Als erstes wurde mit der ausgebildeten Sozialarbeiterin und Grünennationalrätin Monika Stocker eine politisch aktive Sozialexpertin damit beauftragt, eine Art Leitfaden zum gemeinnützigen Umgang mit und zur Mobilisierung von Freiwilligen auszuarbeiten, der 1988 auf der Delegiertenversammlung der LAKO diskutiert wurde. 85 In ihrem engagementpolitischen Plädoyer „Der Einsatz von Freiwilligen hat Zukunft“ regte sie an, Freiwillige gezielter und bewusster in die organisierte Gemeinnützigkeit zu integrieren. 86 Zu diesem Zweck gehe es in erster Linie darum, „Formen der Anerkennung zu finden und auszugestalten, die den Einsatz attraktiver und gesellschaftspolitisch relevant erscheinen lassen“. 87 Als praktische Vorschläge nannte sie Zeugnisse und Testathefte für Einzeleinsätze, Urkunden und Jubiläumsfeiern für langjährige Mitarbeitende, Studienreisen sowie Fort- und Weiterbildungsangebote, politisch denkbar wiederum seien Steuerabzüge oder Gutschriften der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) für freiwillig Tätige. Mit der Schaffung eines konkreten Weiterbildungsangebots nahm die LAKO einen dieser Vorschläge auf. Das Weiterbildungsprogramm entwickelte die LAKO mit Blick auf die 700-Jahrfeier der Schweiz 1991, die dem Leitmotiv „Begegnung“ verpflichtet war. 88 Federführend war Monika Stocker selbst, die in enger Zusammenarbeit mit dem LAKO-Geschäftsführer Dieter Stemmle und einer kleinen, mehrheitlich aus Frauen zusammengesetzten Gruppe von SozialexpertInnen das Ziel verfolgte, das Sozialwesen einem breiten Publikum nicht über eine Ausstellung näherzubringen (wie auf der Expo 1964 in Lausanne), sondern in Form von direkter praktischer Erfahrung als Freiwillige in einer sozialen Einrichtung oder gemeinnützigen Organisation. 89 Bei der ersten Zusammenkunft kristallisierte sich aus verschiedenen Ideen das Projekt
84
Vgl. z.B. LAKO-Bulletin, Nr.11, Mai 1982; LAKO-Bulletin, Nr.16, Juli 1984; LAKO-Bulletin, Nr.17, Sep-
tember 1984; Österreichisches Komitee für Sozialarbeit (Hrsg.), Die freiwilligen Helfer der sozialen Dienste auf örtlicher Ebene: Möglichkeiten und Grenzen. Bericht über die 5. Dreiländer-Tagung im November 1983 in Graz, Österreich. Wien 1985. 85
Monika Stocker wurde 1994 in die Exekutive der Stadt Zürich gewählt und amtierte bis 2008 als Vor-
steherin des Sozialdepartements; SOZARCH, Ar 467.10.5: Protokoll der 7. Delegiertenversammlung der Stiftung LAKO, Bern, 6.9.1988; Hat der Einsatz von Freiwilligen wirklich Zukunft?, in: LAKO-Bulletin, Nr.23, Oktober 1988. 86
174
Monika Stocker, Der Einsatz von Freiwilligen hat Zukunft. Studie und Arbeitsheft. Zürich 1988.
87
Ebd.23.
88
Jakob Tanner, Geschichte der Schweiz im 20.Jahrhundert. München 2015, 474f.
89
Neben Stocker und Stemmle gehörten zur Gruppe: Salomon Biderborst (Sozialdienst der Justizdirek-
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„Soziale Kurzpraktikas als Weitbildung für Kaderleute“ heraus. 90 Um „JungmanagerInnen“ für die „Lebensschule der freiwilligen Helfenden“ zu motivieren, so der zu Protokoll gegebene Konsens, müsse an den „Egoismus des sozialen Engagements“ appelliert und die Freiwilligenarbeit als „neue Form des sozialen Lernens“ gerahmt werden. 91 Freiwilliges Sozialengagement, so die Absicht, sollte von seinem verstaubten Motto „‚etwas Gutes‘ tun“ befreit und in den Kontext der Weiterbildung und individuellen Persönlichkeitsentwicklung gerückt werden. 92 In einem dafür ausgearbeiteten Kursprogramm heißt es vielversprechend: „Was wird gefördert? Neue Realitäten stellen alte Fähigkeiten auf die Probe und fordern die Innovations- und Gestaltungsfähigkeit heraus, Neues zu testen und dadurch Erfahrungen zu machen, die auch in der beruflichen Tätigkeit zu neuen Lösungen führen können.“ 93
Nach einer Impulstagung im September 1990, an der sieben gemeinnützige Organisationen sich „in die Rolle von Anbieterinnen“ begaben und ihre „Lernfelder“ vorgestellt hatten, konnten mit der Winterthur Versicherung, der Bank Leu, der Schweizerischen Kreditanstalt und der Stadtverwaltung Zürich vier große Dienstleistungsbetriebe gewonnen werden, die ihre Mitarbeitenden mit den Weiterbildungsangeboten vertraut machten. 94 1991 leisteten schließlich 66 Mitarbeitende in
tion der Stadt Zürich), Rösy Blöchlinger-Scherer (Schweizerischer Katholischer Frauenbund), Ursi Blosser (Infostelle Zürcher Sozialwesen), Verena de Baan (selbstständige Gruppen- und Projektberaterin), Ursula Iselin (Seminar für Freiwillige, organisiert vom Kirchenrat der evangelisch-reformierten Kirche), Karin Mercier-Zeltner (Schweizerischer Gemeinnütziger Frauenverein), Linette Rindlisbacher (Schule für Soziale Arbeit Zürich), Vera Schöchli (Kirchlicher Sozialdienst Zürich) und Mathis Wild (Kovive. Hilfswerk für sozial Benachteiligte in Europa). Vgl. SOZARCH, Ar 467.10.13: Kurzprotokoll Ideenbörse zum Projekt „Der Einsatz von Freiwilligen hat Zukunft“, 29.9.1989, Zürich, (1). 90 SOZARCH, Ar 467.10.13: Kurzprotokoll Ideenbörse zum Projekt „Der Einsatz von Freiwilligen hat Zukunft“, 29.09.1989, Zürich, (2). 91 Ebd.1f. 92 Verena de Baan, Soziales Lernen – eine Bilanz, in: Wie sonst selten im beruflichen Alltag. Freiwilligenarbeit als Lernfeld, in: Forums Magazin der LAKO/Sozialforum Schweiz, Nr.4. Zürich 1992, 41. 93 SOZARCH, Ar 467.10.13: … wie sonst selten im beruflichen Alltag. Eine ungewöhnliche Form der Weiterbildung hat Zukunft. Kursprogramm 1991, 3. 94 Monika Stocker, Editorial, in: Wie sonst selten im beruflichen Alltag. Freiwilligenarbeit als Lernfeld, in: Forums Magazin der LAKO/Sozialforum Schweiz, Nr.4. Zürich 1992, 4. Zu den sieben Organisationen gehörten: Kovive. Hilfswerk für sozial Benachteiligte in Europa, der Kirchliche Sozialdienst Zürich, Caritas Schweiz, Pro Juventute, der Schweizerische Gemeinnützige Frauenverein, der Sozialdienst der Justizdirektion Zürich und die LAKO selbst.
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Einsätzen, die zwischen einem Tag und einem Jahr dauerten, ganz unterschiedliche Freiwilligendienste: Sie berieten sozial Bedürftige bei Alltagsproblemen, unterstützten Bergbauernfamilien bei ihren landwirtschaftlichen Tätigkeiten, halfen Randständigen bei der Wohnungssuche, leiteten Jugendlager oder arbeiteten als „soziale Verwaltungsräte“ in Führungsgremien von gemeinnützigen Organisationen mit. Nach der positiv evaluierten Pilotphase wurde das Weiterbildungsprogramm 1992 von der SGG übernommen und seither unter dem programmatischen Namen „Seitenwechsel“, begleitet von großem medialen Interesse, weitergeführt. 95 Bis heute haben über 3000 Angestellte aus der Privatwirtschaft und dem öffentlichen Dienst – von der ABB über Credit Suisse, Migros Genossenschaftsbund bis hin zu Swisscom und UBS – teilgenommen und Einsätze in Alters- und Pflegeheimen, Asyl- und Durchgangszentren, Gefängnissen, Suchtkliniken, Frauenhäusern oder Gassenküchen geleistet. 96 Im Jahr 2000 wurde das Weiterbildungsprogramm zudem ins Ausland exportiert: Die Hamburger Patriotische Gesellschaft von 1765 wurde zur Lizenzpartnerin der SGG und koordiniert seither „Seitenwechsel“ in ganz Deutschland. 97 Das Weiterbildungsprogramm der LAKO/SGG ist ein Beispiel für die in den späten 1980er Jahren beginnende anerkennungsökonomische Rahmung des Freiwilligenengagements. Exemplarisch für die reziproke Logik des freiwilligen Tuns steht der Versuch, freiwillige Einsätze primär als soziales Lernen zu deklarieren und Mitarbeitenden von privatwirtschaftlichen Unternehmen und Dienstleistungsbetrieben als Weiterbildungsprogramm anzubieten. Die Idee ging auf politisch und gesellschaftlich engagierte Frauen zurück, die über einen beruflichen Hintergrund in Praxis und Theorie der Sozialen Arbeit verfügten und die in engem Austausch mit der organisierten Gemeinnützigkeit standen. Neben dem praktischen Rekrutierungsinteresse ging es ihnen immer auch um die gesellschaftliche Aufwertung der 95
Christine Goll, „…wie sonst selten im beruflichen Alltag“. Freiwilligenarbeit als Lernfeld. Projektaus-
wertung. Zürich 1992. 96
Schumacher, Phönix (wie Anm.67), 406–409. Seit 2001 gibt es zudem den umgekehrten Seitenwechsel,
bei dem Mitarbeitende des Sozial- und Gesundheitswesens in profitorientierten Unternehmen Erfahrungen sammeln können; www.seitenwechsel.ch (Zugriff: 21.8.2017). Vgl. auch Heinz Janning/Heinz Bartjes, Ehrenamt und Wirtschaft. Internationale Beispiele bürgerschaftlichen Engagements der Wirtschaft. Stuttgart 1999, 33–39. 97
Matthias Schwark, SeitenWechsel in Deutschland – eine Erfolgsgeschichte, in: Tony Ettlin/Hans-Peter
Meier-Dallach (Hrsg.), SeitenWechsel. Lernen in anderen Arbeitswelten. Zürich 2003, 52–59; www.seitenwechsel.com (Zugriff: 21.8.2017).
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unbezahlten Freiwilligenarbeit. Dieser feministische Anerkennungsanspruch war grundlegend, wie Monika Stocker rückblickend deutlich machte: „Frauen wollen nicht einfach mehr ,Helferinnen‘ sein, sondern ihr Engagement soll einem emanzipatorischen Verständnis sozialer Arbeit entsprechen: Sie wollen projektbezogene Einsätze leisten, ihre fachlichen und meist aus früherer oder aktueller Berufstätigkeit stammenden Kenntnisse, wie zum Beispiel Sprachen, Lehrtätigkeit, pflegerische Berufserfahrung, einsetzen. Frauen wollen aber auch lernen. Sie möchten ihre persönlichen Fähigkeiten erproben, ausbauen und entwickeln.“ 98
Stocker war bewusst, dass ein Weiterbildungsprogramm für Angestellte und Kaderleute dem feministischen Ideal einer geschlechtergerechten Gesellschaftsordnung wenig Genüge tat. Das Ziel war denn auch ein anderes. Durch das Projekt, so Stocker, sollte „eine Ausgangssituation für die politischen Ansprüche geschaffen werden“. 99 Zu diesen Ansprüchen, die sie bereits in ihrer LAKO-Auftragsstudie formuliert hatte, gehörten in erster Linie Steuerabzüge und AHV-Gutschriften für freiwillig Tätige – zwei Forderungen, die bis heute mehrmals sowohl von feministischen als auch von bürgerlichen PolitikerInnen in politischen Debatten auftauchten, bisher aber nicht realisiert werden konnten. 100 Dass das Projekt Fuß fassen konnte, hatte mehrere Gründe. Mitentscheidend war die Chiffre 1991, die eine „Begegnung“ in einer sich selbst als konsensorientiert inszenierenden Schweiz zu einer Art nationalen Pflicht machte. Wie Monika Stocker später berichtete, wäre es ohne den „sanften Zwang“ des anstehenden Jubiläumsjahrs „fast unmöglich gewesen, die beiden Welten zusammenzubringen“. 101 Noch stärker hing der Erfolg des Projekts aber mit einer mehrfach verschränkten Interes98 Monika Stocker, Wie sonst selten im beruflichen Alltag. Zur Entstehungsgeschichte und zum Verlauf eines Projekts, in: Wie sonst selten im beruflichen Alltag. Freiwilligenarbeit als Lernfeld, in: Forums Magazin der LAKO/Sozialforum Schweiz, Nr.4. Zürich 1992, 9. 99 Ebd.11. Zur Anerkennungspolitik der neuen Frauenbewegung vgl. auch Nancy Fraser, Feminismus, Kapitalismus und die List der Geschichte, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 54, 2009, 43– 57. 100 Vgl. Amtliches Bulletin der Bundesversammlung, Nationalrat, Postulat Hans Widmer, „AHV-Bonus für Freiwilligenarbeit im Sozialbereich“, 25.6.1998; Amtliches Bulletin der Bundesversammlung, Nationalrat, Motion Marianne Streiff-Feller, „Steuerabzug für Freiwilligenarbeit“, 10.3.2011; Amtliches Bulletin der Bundesversammlung, Nationalrat, Isabelle Moret, Motion „Ehrenamtliche Tätigkeiten durch Steuerabzüge fördern und würdigen“, 16.6.2011; https://www.parlament.ch. 101 Monika Stocker, Zeitenwende und was ist da zu feiern? in: Ettlin/Meier-Dallach (Hrsg.), SeitenWechsel (wie Anm.97), 31.
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senlage zusammen. Zum einen koalierten gemeinnützige Interessen und feministische Ansprüche. Die Rekrutierung von Freiwilligen, auf die gemeinnützige Organisationen angewiesen waren, wurde von SozialarbeiterInnen mit dem jahrzehntealten politischen Projekt zur Aufwertung unbezahlter Arbeit in Verbindung gebracht. 102 Dass die Freiwilligenarbeit anerkennungspolitisch gefördert wurde, ist wesentlich auf diese Allianz zurückzuführen. Zum anderen korrespondierte der gemeinnützige Bedarf an neuen Freiwilligen mit den Weiterbildungsansprüchen der Berufswelt, die zwischen „Ausbildung und Persönlichkeitsentwicklung“ oszillierten, so die stellvertretende Leiterin der Personalabteilung der Schweizerischen Kreditanstalt Ursula Wiget. 103 Die quasi-marktförmige Konstellation von angebotenem gemeinnützigem Arbeitsplatz und nachgefragter sozialer Lernerfahrung spiegelt sich auch in einer Umfrage von 660 SeitenwechslerInnen wider, die zwischen 1995 und 2002 im Projekt mitmachten. 104 Befragt nach dem persönlichen Nutzen, kreuzte die Mehrheit die beiden Antwortkategorien „Einblick gewinnen“ und „Umgang mit Menschen in schwierigen Situationen“ an. Für die gleichzeitig befragten 586 sozialen Institutionen hingegen lag der Mehrwert klar bei „konnte helfen“. Dementsprechend lautete das Fazit der Studie: „Die Teilnehmenden erleben den Einsatz wohl stärker als Konfrontation mit einer neuen ungewohnten Welt, als es die BetreuerInnen auf der sozialen Seite wahrnehmen. Ihrerseits bewerten diese die konkrete Hilfeleistung höher.“ 105
Während gemeinnützige Organisationen kostenlos gutausgebildete Arbeitskräfte vermittelt bekamen (die Betriebe zahlten die Löhne weiter), die vielseitig einsetzbar waren, konnten Dienstleistungsbetriebe mit der Freistellung von lernwilligen und Abwechslung suchenden Mitarbeitenden für freiwillige Einsätze im Rahmen von „Corporate Volunteering“-Aktionen zudem ihr Image aufpolieren und ihre „Corporate Social Responsibility“ unter Beweis stellen.
102 Vgl. auch Schumacher, Phönix (wie Anm.67), 403–405. 103 „Eine Idee ist gepflanzt“. Eine Gesprächsrunde mit vier Personalverantwortlichen der am Projekt beteiligten Dienstleistungsunternehmen, in: Wie sonst selten im beruflichen Alltag. Freiwilligenarbeit als Lernfeld, in: Forums Magazin der LAKO/Sozialforum Schweiz, Nr.4. Zürich 1992, 22. 104 Tony Ettlin/Hans-Peter Meier-Dallach/Therese Walter, Was bewirkt der SeitenWechsel? in: Ettlin/ Meier-Dallach (Hrsg.), SeitenWechsel (wie Anm.97), 84–103. 105 Ebd.92.
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Schlussbemerkungen und Ausblick Wie die hier erzählte Geschichte zeigt, öffnet die Untersuchung der Freiwilligenarbeit zwischen 1970 und 1990 den Blick auf unterschiedliche historische Konstellationen und Entwicklungen, die zu bestimmten Zeitpunkten zusammenwirkten: Von der „Krise des Sozialstaats“ über die Neuverhandlung der sozialpolitischen Verantwortung und die damit einhergehenden Probleme für gemeinnützige Organisationen bis hin zu den Forderungen der neuen Frauenbewegung, Gratisarbeit zu entschädigen und gesellschaftlich aufzuwerten. Das Reden über die „neuen Freiwilligen“ und die „neue Freiwilligkeit“ markiert diese historische Umbruchphase, in der Freiwilligkeit als vielseitig einsetzbare Ressource neu verhandelt wurde. Mit der anerkennungspolitischen Adressierung von Freiwilligen durch gemeinnützige Organisationen und der gleichzeitig von angehenden Sozialarbeitenden und sozialwissenschaftlichen Studien vorgebrachten bipolaren Neudeutung der Freiwilligenarbeit als altruistisch und eigennützig zugleich wurde freiwilliges Sozialengagement zu einem marktähnlichen Tauschgeschäft. Auf der einen Seite stand der steigende Bedarf an Freiwilligen als Hilfskräfte, auf der anderen das maßgeblich von Sozialarbeiterinnen und Feministinnen öffentlich gemachte und als Anerkennung kodierte Interesse, sich weiterzubilden, Erfahrungen zu sammeln, aber auch etwas zu erleben oder einfach Spaß zu haben. Auch wenn oder gerade weil Freiwilligkeit mehr und mehr zu einem Tauschgeschäft wurde, haben gemäß statistischen Untersuchungen weder der Umfang noch die Bereitschaft dazu abgenommen. Dennoch hatte (und hat) die anerkennungspolitische Rahmung die Freiwilligenarbeit verändert. Zum einen rückte sie näher an die Erwerbsarbeit heran. Durch Einsatzvereinbarungen, bürokratische Spesenregelungen, Versicherungsgarantien sowie Entschädigungen und nicht-monetäre Gegenleistungen wurde die Differenz zwischen freiwilliger und beruflicher Arbeit zunehmend verwischt. Betroffen waren besonders die Grenzen zur sozialen Arbeit, so dass von einer „Protoprofessionalisierung der Freiwilligenarbeit“ gesprochen werden kann. 106 Mit der Professionalisierung, die auch als berufliche Entgrenzung begriffen werden kann, wurde eine Art zweiter Arbeitsmarkt geschaffen, auf dem mehrheitlich weibliche Freiwillige in befristeten nicht-sozialversicherungspflichti-
106 Nadai/Sommerfeld/Bühlmann/Krattiger, Fürsorgliche Verstrickung (wie Anm.4), 82.
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gen Teilzeitarbeitsverhältnissen tätig waren und sind. 107 Der feministische Anerkennungsanspruch blieb damit auf halbem Weg stecken: Das in den 1980er Jahren viel diskutierte „Ende der Arbeitsgesellschaft“ wurde durch eine kapitalistische Landnahme auf Kosten „eine[r] weitere[n] Benachteiligung von Frauen“ hinausgeschoben. 108 Andererseits wurde Freiwilligkeit durch auf Tausch ausgelegte Einsätze weniger verlässlich. Projekte wie das Weiterbildungsprogramm „Seitenwechsel“ verlagerten das Sozialengagement nicht nur auf neue Themenkreise und Arbeitsfelder, sondern machten es auch zeitlich begrenzter und personell fluktuierender. Der vielseitige, aber befristete und unverbindliche Einsatz von Freiwilligen spiegelt sich denn auch in sinkenden Mitgliederzahlen von gemeinnützigen Vereinen. 109 Das Sozialengagement ist mehr und mehr zu einer handelbaren, knappen Ressource geworden, die Freiwillige gemeinnützigen Organisationen immer selbstbewusster gegen eine konkrete Gegenleistung anbieten. Seine aktuellste Ausprägung findet diese Entwicklung in Tauschringen („sharing economy“) oder organisierten Nachbarschaftshilfen, in denen Beteiligte wechselweise und kaum mehr unterscheidbar als Leistungserbringende und Nutznießende auftreten. Schließlich ist die seit den späten 1980er Jahren neu gerahmte Freiwilligenarbeit auch zu einem politischen Investitionsfeld geworden. Damit gemeinnützige Organisationen freiwilliges Sozialengagement zu einer handelbaren Ressource machen konnten, waren Förderstrukturen nötig, die immer häufiger mit öffentlichen Geldern alimentiert wurden. Das Gemeinwesen, insbesondere die Kantone, subventionieren heute denn auch viele der gemeinnützigen Rekrutierungsprogramme sowie die zwischenzeitlich eingerichteten Vermittlungsstellen für Freiwillige und die dazugehörigen Ausbildungsgänge. 110 Damit realisiert die Politik die seit den späten 1970er Jahren propagierte, von Freiwilligenengagement und Selbsthilfe getragene Wohlstandsgesellschaft als Alternative zum auf Umverteilung von Einkommen und Vermögen programmierten Sozialstaat.
107 Bundesamt für Statistik, Freiwilliges Engagement (wie Anm.3). 108 Franz Kolland/Martin Oberbauer, Vermarktlichung bürgerschaftlichen Engagements im Alter, in: Klaus R. Schröter/Peter Zängl (Hrsg.), Altern und bürgerschaftliches Engagement. Aspekte der Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung der Lebensphase Alter. Wiesbaden 2006, 153–174, hier 157. 109 Freitag/Manatschal/Ackermann/Ackermann, Freiwilligen-Monitor Schweiz 2016 (wie Anm.82), 39, 48–52. 110 Hanhart u.a. (Hrsg.), Freiwilligenarbeit (wie Anm.83); Braunschweig, GGG (wie Anm.83).
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III. Die Veränderung von Staatlichkeit und der dritte Sektor
Entsprang den privaten Zwecken ein gemeiner Nutzen? Gesellschaftliche Effekte freiwilliger Vereinigungen in Großbritannien und Deutschland von Klaus Nathaus und Patrick Merziger
Freiwillige Vereinigungen haben gegenwärtig und zumindest in westlichen Gesellschaften einen ausgezeichneten Leumund. Sie bekennen sich häufig zu sozialer Offenheit und bezeichnen sich unter Verweis auf ihre Verfahrensregeln gerne als „Schulen der Demokratie“. Nach ihrem Selbstverständnis kompensieren sie Lücken in der sozialstaatlichen Versorgung, schaffen faire Alternativen zu Marktangeboten, tragen durch die Erzeugung von „sozialem Kapital“ zum gesellschaftlichen Zusammenhalt bei, gestatten als offene Räume die freie Aushandlung von Werten und Normen, kommunizieren politische Forderungen von den „Graswurzeln“ zu den Parlamenten oder unterminieren Herrschaftssysteme, in denen Partizipation eingeschränkt ist. 1 Solche Einschätzungen gründen auf der Annahme, dass die innere Verfasstheit privater Vereine in der Regel und mit einer gewissen Notwendigkeit zu bestimmten gesellschaftlichen Effekten führt. Schon Max Weber, der in der Vereinsforschung ein vordringliches Thema für die Soziologie erkannte, hob die Rolle vereinsförmig organisierter Glaubensgemeinschaften bei der Entstehung eines bürgerlich-kapitalistischen Ethos hervor. 2 Nicht weniger einflussreich hat Jürgen Habermas gesellschaftliche Demokratisierung auf die unter anderem in Tischgesellschaften und Freimaurerlogen geübte deliberative Vernunft zurückgeführt, die, einmal als Prinzip des sozialen Umgangs im Verein etabliert, aus der Privatsphäre herausdrängte und politische Ansprüche stellte. 3 Viele sozial- und geschichtswissenschaftliche Ar-
1 Statt vieler Annette Zimmer, Vereine – Zivilgesellschaft konkret. 2.Aufl. Wiesbaden 2007. 2 Max Weber, The Protestant Sects and the Spirit of Capitalism, in: H. H. Gerth/C. Wright Mills (Eds.), From Max Weber: Essays in Sociology. New York 1946, 302–322. 3 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. 6.Aufl. Frankfurt am Main 1990.
HTTPS :// DOI . ORG / 10.1515/9783110627442-008
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beiten zu Zivilgesellschaft, Vereinswesen, Bürgertum, Philanthropie und „voluntary action“ gehen in ähnlicher Weise vor, indem sie freiwillige Vereinigungen als Sozialisations- bzw. Mobilisierungsagenturen betrachten, in denen aus der Verfolgung privater Zwecke ein gemeiner Nutzen entspringt. 4 Skeptische Studien haben den vermuteten Zusammenhang zwischen einem blühenden Vereinswesen und einer lebendigen Demokratie zwar in Frage gestellt. 5 Doch hat dies nicht etwa dazu geführt, die angenommene Verbindung von inneren Mechanismen und gesellschaftlichen Effekten grundsätzlich zu überprüfen, sondern oft lediglich dazu, dass Forscher die „schwarzen Schafe“ unter den Vereinen mit dem Verweis auf unangemessene Werte aus der Zivilgesellschaft verbannen. Im Anschluss an die jüngere Kritik des Konzepts Zivilgesellschaft nimmt der vorliegende Beitrag dagegen eine organisationszentrierte Sichtweise auf das Assoziationswesen als dritten Sektor zwischen Staat und Markt ein. 6 Diese Perspektive erweitert die Sicht auf in der Forschung zur Zivilgesellschaft oft ausgeblendete Vereinigungen wie Versicherungen und fragt ohne starke Erwartungen an Demokratie und Gemeinwohl nach inneren Mechanismen und äußeren Wirkungen freiwilliger Vereinigungen. Der Ansatz betrachtet das Assoziationswesen als Sektor, der den Eingriffen und Anziehungskräften der angrenzenden sozialen Teilbereiche Staat und Markt ausgesetzt ist und dadurch von außen erodiert werden kann. Des Weiteren wird hier angenommen, dass die Assoziation eine in sich höchst fragile Struktur ist, da sie abhängig ist von Ressourcen, welche von Mitgliedern in Form von Zeit, Geld und Arbeit freiwillig erbracht werden müssen. 7 Während staatliche Organisationen und Firmen Teilnahme erzwingen bzw. finanziell belohnen, basieren Vereine auf dem kontinuierlichen freiwilligen Engagement ihrer Mitglieder, aus welchen persönlichen Motiven und mit welchem Einsatz auch immer. Diese besondere Ressour-
4 Jürgen Kocka, Zivilgesellschaft und soziale Ungleichheit aus historischer Perspektive, in: Karl-Siegbert Rehberg (Hrsg.), Soziale Ungleichheit, kulturelle Unterschiede: Verhandlungen des 32. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in München. Teilbd. 1 u. 2. Frankfurt am Main 2006, 13–143; Lester M. Salamon/S. Wojciech Sokolowski, Beyond Nonprofits. Re-Conceptualizing the Third Sector, in: Voluntas 27, 2016, 1515–1545. 5 Sheri Berman, Civil Society and the Collapse of the Weimar Republic, in: World Politics 49, 1997, 401– 429. 6 Jocelyn Viterna/Emily Clough/Killian Clarke, Reclaiming the „Third Sector“ from „Civil Society“. A New Agenda for Development Studies, in: Sociology of Development 1, 2015, 173–207. 7 Heinz-Dieter Horch, Strukturbesonderheiten freiwilliger Vereinigungen. Analyse und Untersuchung einer alternativen Form menschlichen Zusammenarbeitens. Frankfurt am Main 1983.
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cenabhängigkeit bringt eine hohe Anfälligkeit für die Abwanderung unzufriedener Mitglieder mit sich, die ihrem Verein jederzeit das Engagement versagen können. Trotz dieser fundamentalen Schwäche hat sich die Organisationsform in der Moderne überaus weit verbreitet. Einzelne Vereinigungen weisen eine beeindruckend lange Lebensdauer auf, die sich mit der von Firmen und staatlichen Agenturen messen kann. Der vorliegende Aufsatz erklärt diesen Erfolg in erster Linie mit der Tatsache, dass der Verein sich durchgehend als effektives Mittel erwies, erwünschte Personen ein- und andere auszuschließen. Die Erfüllung der erklärten Vereinszwecke war demgegenüber oft nachrangig. Assoziationen, welche sich unter Preisgabe von Effizienzerwägungen im Grunde unerreichbaren Zielen wie der moralischen Erziehung der Unterschichten oder der Bekämpfung des Hungers auf der Welt verschrieben, gelang es häufig besonders gut, Mitglieder und Unterstützer zu motivieren. 8 Dagegen drifteten Vereinigungen, welche sich strenger auf die Verfolgung enger begrenzter Vereinsziele festlegten, wie beispielsweise Versicherungen und Konsumgenossenschaften, häufig aus dem freiwilligen Sektor heraus und gerieten in den Orbit von Staat und Markt, deren Operationsweisen sie sich anpassten. Freiwillige Vereinigungen bedienten zugleich die Interessen ihrer Mitglieder und verschrieben sich Zwecken in ihrer Umwelt. Dabei hing die Art und Weise, wie sie dies taten, stark ab von ihrem jeweiligen Verhältnis zu Staat und Markt. Aus diesem Grund untersucht der vorliegende Beitrag den Zusammenhang zwischen inneren Mechanismen und gesellschaftlichen Effekten von freiwilligen Vereinigungen mit Blick auf zwei sehr unterschiedliche Beispiele, von denen eines für ein vom Staat weitgehend unabhängiges Assoziationswesen steht und das andere die Auswirkungen staatlicher Indienstnahme auf freiwilliges Engagement veranschaulicht. Der erste Teil des Aufsatzes skizziert Grundzüge des britischen Assoziationswesens von der Wende zum 17. bis in das 20.Jahrhundert. Er unterstreicht die Bedeutung des Rechts für die Entwicklung des dritten Sektors und zeigt, dass die materielle Absicherung der Mitglieder die in der Frühen Neuzeit vordringliche Aufgabe freiwilliger Vereinigungen darstellte, während im „langen“ 19.Jahrhundert die Festigung gesellschaftlicher Hierarchien durch flexible soziale Schließung als Zweck in den Vordergrund trat. Gezeigt wird, dass das vom Staat vergleichsweise unabhängi-
8 Unter Verweis auf diesen Zusammenhang ist „erfolgreiches Scheitern“ sogar als ein Grundzug von Organisationen des dritten Sektors ausgemacht worden, siehe Wolfgang Seibel, Successful Failure. An Alternative View on Organizational Coping, in: American Behavioral Scientist 39, 1996, 1011–1024.
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ge, mitgliederorientierte britische Assoziationswesen weder besonders effizient war in der Erfüllung seiner erklärten Vereinszwecke noch als eine Art „Keimzelle der Demokratie“ fungierte. Seine Außenwirkung lag vielmehr darin, den sich aus funktionaler Differenzierung und der Ausweitung von Staat und Markt ergebenden Veränderungsdruck auf die Klassengesellschaft abzumildern und den Status quo über sozialen Ein- und Ausschluss behutsam an sich wandelnde Bedingungen anzupassen. Der zweite Teil des Beitrags nimmt mit der Philanthropie in (West-)Deutschland im 20.Jahrhundert den Fall eines vom Staat in den Dienst genommenen freiwilligen Engagements in den Blick. Er beschreibt zunächst die in der Weimarer Republik beginnende Verstaatlichung der Fürsorge in nationalen Wohlfahrtsverbänden, welche die Tätigkeit lokaler Vereinigungen nachhaltig erschwerte. Unter den Bedingungen einer verstaatlichten Wohlfahrt im Inland reüssierte in der Bundesrepublik ein neuer, auch in anderen Ländern anzutreffender Typ der humanitären Hilfsorganisation, der im Unterschied zu Vereinen weder Mitgliederinteressen bediente noch sich in Beziehungen zu Klienten verwickeln ließ. Eher Projekte als Assoziationen, erwiesen sich humanitäre Organisationen als überaus erfolgreich bei der Ressourceneinwerbung – sofern es ihnen gelang, mit dem Verweis auf aktuelle Krisenmeldungen Spender und Freiwillige von der Dringlichkeit der Hilfeleistung zu überzeugen. An der längerfristigen Wirkung solcher Einsätze mag man zweifeln. Es lässt sich jedoch argumentieren, dass humanitäre Projekte einem weiteren Personenkreis die Teilnahme an der Hilfe eröffneten und zugleich die Hilfeempfänger von starken Verhaltenserwartungen verschonten, welche die Philanthropie im 19.Jahrhundert gekennzeichnet hatten.
I. Eine flexibel geschlossene Gesellschaft. Dritter Sektor und Assoziationen in Großbritannien vom 17. bis ins 20.Jahrhundert Nähert man sich der Geschichte des Assoziationswesens aus normativer Perspektive, kann die Frage nach ihren Anfängen sehr weit zurückführen. Problemlos lässt sich eine Traditionslinie säkular motivierter und politisch folgenreicher Philanthropie aus dem Altertum in die Moderne ziehen. 9 Auch die Unterscheidung zwischen 9 Kevin C. Robbins, The Nonprofit Sector in Historical Perspective. Traditions of Philanthropy in the West,
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neuzeitlichen Assoziationen und mittelalterlichen Bruderschaften bzw. Gilden ist mit alleinigem Blick auf deren „Handlungslogiken“ nur schwer durchzuhalten. Neue Forschungen zu mittelalterlichen Vereinigungen charakterisieren diese als größtenteils freiwillig und weniger eng an Berufsstand und Religion gebunden als häufig angenommen. 10 Gervase Rosser zufolge hatten sich Gilden und Bruderschaften im England des 13. Jahrhunderts rasch verbreitet. 11 Er führt diesen Trend auf demographische Instabilität zurück, die durch örtliche Überbevölkerung, Pest und Missernten bedingt war. Gesellschaft geriet in Bewegung, Menschen gingen auf Wanderschaft, familiäre und nachbarschaftliche Netze zerrissen. In dieser Situation boten Gilden einen organisatorischen Rahmen, in dem Vertrauen für wechselseitige Unterstützung erzeugt wurde. Die Zugehörigkeit zu einer Gilde verschaffte Mitgliedern die für Kreditwürdigkeit notwendige Reputation und eröffnete soziale Kontakte über den Berufsstand hinaus. Da zahlreiche Gilden auch Frauen aufnahmen, wurden über solche Verbindungen neue Familienbande geknüpft. Gilden spielten ferner eine Rolle in der Armenfürsorge, indem sie Almosen verteilten. 12 Und obwohl Handwerker zwischen der Rolle des unabhängigen Meisters und des lohnabhängigen Gesellen wechselten und sich oft in derselben Gilde begegneten, wurden diese Vereinigungen mitunter dazu genutzt, Druck auf Arbeitgeber auszuüben. So manche Bruderschaft sammelte unter ihren Mitgliedern Geld, um im Konfliktfall dem Arbeitsmarkt Kräfte vorenthalten zu können, das heißt zu streiken. 13 Diese „moderne“ Beschreibung mittelalterlicher Körperschaften deckt sich in vielerlei Hinsicht mit den Zwecken, Funktionsweisen und Motiven neuzeitlicher Unterstützungskassen und geselliger Vereine. Der alleinige Blick auf den Modus Operandi von Vereinigungen enthüllt daher mehr Kontinuitäten als Brüche zwischen Mittelalter und Neuzeit. Erst aus der Sektor-Perspektive erscheint die zweite
in: Walter W. Powell/Richard Steinberg (Eds.), The Nonprofit Sector. A Research Handbook. New Haven 2010, 13–31. 10 In europäischer Perspektive zuletzt Bert De Munck, Rewinding Civil Society. Conceptual Lessons from the Early Modern Guilds, in: Social Science History 41, 2017, 83–102. 11 Gervase Rosser, The Art of Solidarity in the Middle Ages. Guilds in England, 1215–1550. Oxford 2015, 50. 12 Paul A. Fideler, Social Welfare in Pre-Industrial England. The Old Poor Law Tradition. New York 2006, 18f. 13 Rosser, Art of Solidarity (wie Anm.11), 183.
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Hälfte des 16.Jahrhunderts deutlich als Entstehungsphase eines spezifisch neuzeitlichen Assoziationswesens. Indem die Krone bestimmte Vereinigungen unterdrückte und andere rechtlich abstützte, schuf sie einen dritten Sektor als Handlungsraum zwischen Staat und Markt. Die englische Regierung beseitigte in den 1530er und 1540er Jahren kirchliche Institutionen der Fürsorge und Selbsthilfe. Nicht nur die Zurückdrängung des päpstlichen Einflusses motivierte diese Politik, sondern auch das Problem, dass religiöse Stiftungen häufiger dem philanthropischen Zweck entfremdet wurden und die Autoritäten dies nicht effektiv sanktionieren konnten. 14 Staatliche Maßnahmen sorgten zunächst einmal für eine Tabula rasa in der Fürsorge. Etwa die Hälfte der Krankenhäuser und Armenanstalten des Landes wurden geschlossen; das Eigentum mancher religiöser Bruderschaft wurde beschlagnahmt. 15 Die entstandene Lücke füllten Stadtregierungen und private Spender, darunter oft neureiche Händler, die mit Mildtätigkeit sicher auch nach sozialer Anerkennung suchten. Gegen Ende des 16.Jahrhunderts begann die Krone, die private und kommunale Fürsorge zu regulieren. Neue Gesetze richteten sich einerseits gegen unterschiedslose Almosenvergabe und machten andererseits die Erhebung lokaler Armensteuern verbindlich. 16 Die „Poor Laws“ von 1598 und 1601 schufen schließlich ein erstes nationales Rahmenwerk der Fürsorgepolitik. Zwar zog sich die Verwirklichung einer allgemeinen, steuerfinanzierten Fürsorge noch lange hin. Wichtiger für die Entstehung des dritten Sektors war jedoch, dass die neuen Gesetze den rechtlichen Status privater Stiftungen als „charitable trusts“ festlegten. Zuvor war unklar gewesen, wer im Falle des Missbrauchs einer Stiftung – etwa durch Erben, die gegen den Wunsch des Erblassers die Hinterlassenschaft für sich selbst behielten – die Macht hatte, den vom Stifter intendierten Zweck einzuklagen. Die „Poor Laws“ schufen nun die Rolle des „trustees“, der in der Lage war, die zweckgerechte Verwendung einer Stiftung gerichtlich einzufordern. „Trusts“ waren fortan effektiv geschützt, was wiederum die Entfaltung privater Wohltätigkeit begünstigte. 17 Mit der Mischökonomie privater Philanthropie und staatlicher Fürsorge definierten die elisabethanischen Armenge14
Gareth Jones, History of the Law of Charity, 1532–1827. Cambridge 1969, 10.
15
Nigel Goose, The English Almshouse and the Mixed Economy of Welfare. Medieval to Modern, in: The
Local Historian 40, 2012, 3–19, hier 5; Fideler, Social Welfare in Pre-Industrial England (wie Anm.12), 80. 16
Ebd.79–90.
17
Marjorie K. McIntosh, Negligence, Greed and the Operation of English Charities, 1350–1603, in: Conti-
nuity and Change 27, 2012, 53–81.
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setze einen Handlungsraum gemeinnütziger Freiwilligkeit und boten dieser mit dem „trust“ ein tragfähiges Organisationsmodell. Innerhalb des dritten Sektors wuchs in den darauffolgenden beiden Jahrhunderten ein vielfältiges Assoziationswesen, das sich mit unterschiedlichen Zwecken in verschiedene Trägergruppen verzweigte. Das Spektrum reicht vom „gentlemen’s club“ und der literarischen und gelehrten Gesellschaft über Nachbarschaftsverbindungen und Selbsthilfevereinigungen bis zu politischen Klubs und Zusammenschlüssen für Mildtätigkeit, Missionierung oder Moralreform. Das Assoziationswesen entfaltete sich am stärksten in den Städten und war dort vor allem von den „middling sorts“ getragen. 18 Wie schon im Mittelalter kamen von der Marktseite Impulse, die bestehende soziale Beziehungen auflösten und so den Bedarf für Zusammenschlüsse erzeugten. Mit Händlern und Angehörigen der „professions“ (Ärzte, Apotheker, Anwälte etc.) entstanden sozioökonomische Gruppen, deren Mitglieder in geselligen Vereinigungen ihren gesellschaftlichen Status zu heben trachteten. Soziales Ansehen wiederum hatte aber nicht nur für die „professionals“ eine ganz handfeste materielle Funktion. Die Teilhabe an der Marktgesellschaft, sei es als Ladenbesitzer oder Konsument, Anbieter oder Käufer von Arbeitskraft, Händler oder Produzent, brachte den Zwang zur Kreditwürdigkeit mit sich und verlangte die Pflege der eigenen guten Reputation. Die Marktgesellschaft ruhte auf informellen „ties of obligation“, sozialen Netzen aus Vertrauen durch wechselseitige Verpflichtung. Diese Verbindungen waren umso stärker beansprucht, als die soziale Hierarchie für Auf- und Abstiege durchlässig war. 19 Neben dem Bedarf an vertrauensbildender Geselligkeit und ökonomischer Absicherung sorgte der Markt mit Gasthäusern und Presse für die Infrastruktur, welche die private Vergesellschaftung in der Öffentlichkeit ermöglichte. Nach Aufhebung der Vorzensur 1695 berichteten Zeitungen häufig über Klubs und Gesellschaften, was den Assoziationen neue Mitglieder zuführte. 20 Seit dem späten 17.Jahrhundert
18 Im Überblick Peter Clark, British Clubs and Societies, 1580–1800. The Origins of an Associational World. Oxford 2000. 19 Craig Muldrew, Debt, Credit, and Poverty in Early Modern England, in: Ralph Brubaker/Robert M. Lawless/Charles J. Tabb (Eds.), A Debtor World. Interdisciplinary Perspectives on Debt. Oxford 2012, 9–35. 20 Clark, British Clubs and Societies (wie Anm.18), 172–175.
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wuchs ferner die Zahl der „alehouses“ und „inns“, die eigene Räume für geschlossene Gesellschaften einrichteten. 21 Die rechtliche Abgrenzung des dritten Sektors vom Markt war in dieser Periode noch unscharf. Einerseits wurde die Rechtsform des „trust“ genutzt, um die Projekte zur Schaffung öffentlicher Güter zu finanzieren, wie beispielsweise den Straßenbau. Andererseits firmierten auch privatwirtschaftliche Unternehmen als „trusts“, da die Rechtsform die Möglichkeit bot, Investitionen von stillen Teilhabern einzuwerben, die im Falle einer Pleite nicht mit ihrem gesamten Vermögen haften wollten. Nach dem Platzen der „South Sea Bubble“ hatte das Parlament zwar 1720 die Bildung von Anteilsgesellschaften grundsätzlich untersagt und Ausnahmen an die gesonderte Genehmigung gebunden. „Trusts“ erlaubten jedoch, das aufwendige Inkorporierungsverfahren zu vermeiden und trotzdem voll funktionsfähige Firmen zu gründen. 22 Profitorientierte Aktiengesellschaften teilten sich folglich mit Assoziationen die Rechtsform. In der Forschung wird der Bereich zwischen Staat, Markt und Privatsphäre im Übergang zur Neuzeit häufig mit dem von Jürgen Habermas geprägten Konzept der „bürgerlichen Öffentlichkeit“ betrachtet, wobei vor allem um die Periodisierung und die Trägerschichten dieser Öffentlichkeit gestritten wird. 23 Sofern das Konzept überhaupt eine empirische Entsprechung hat, beschreibt es jedoch bloß einen kleinen Teil dessen, was sich zwischen dem späten 16. und dem ausgehenden 18.Jahrhundert im dritten Sektor entfaltete. Dass die von Handwerkern, kleinen Händlern und Landarbeitern gebildeten „friendly societies“ sowie die Freimaurerlogen die am weitesten verbreiteten Assoziationstypen darstellten, deutet eher auf materielle Absicherung und die dazu nötige Vertrauensbildung als vordringliches Motiv der Vereinsbildung hin. Zu Beginn des 19.Jahrhunderts soll es in England und Wales fast 10000 „friendly societies“ gegeben haben, die schätzungsweise acht bis neun Prozent der Bevölkerung vereinten. 24 Bei den Freimaurerlogen handelt es sich bei
21
Fiona Williamson/Elizabeth Southard, Drinking Houses, Popular Politics and the Middling Sorts in Ear-
ly Seventeenth-Century Norwich, in: Cultural and Social History 12, 2015, 9–26. 22
Paul Johnson, Making the Market. Victorian Origins of Corporate Capitalism. Cambridge 2010, 115f.
23
Vgl. Craig Calhoun (Ed.), Habermas and the Public Sphere. Cambridge, MA, 1992; Peter Lake/Steven Pin-
cus, Rethinking the Public Sphere in Early Modern England, in: dies. (Eds.), The Politics of the Public Sphere in Early Modern England. Manchester 2007, 1–30. 24
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Simon Cordery, British Friendly Societies, 1750–1914. Basingstoke 2003, 24 u. 40.
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näherem Hinsehen ebenfalls oft um Unterstützungsvereine von Freunden, Nachbarn und Kollegen. 25 Die Beschreibung des Assoziationswesens als „bürgerliche Öffentlichkeit“ attestiert freiwilligen Vereinigungen ein systemveränderndes politisches Potential, das in der Verfahrensgrammatik der „kleinen Republiken“ begründet gewesen sein soll, welche ein Selbstbewusstsein entwickelten und mit ihm fast zwangsläufig das Legitimationsdefizit monarchischer Herrschaft aufdeckten. Ob dieses anspruchsvolle Modell tatsächlich verwirklicht worden ist, lässt sich sicher nur schwer nachweisen und soll hier nicht diskutiert werden. Fragt man ein wenig bescheidener nach der Wirkung von Assoziationen im Hinblick auf ihre erklärten Zwecke, fällt das Ergebnis jedenfalls ernüchternd aus. Zeitgenössische Gesellschaften für Moralreform, technische Verbesserungen in der Landwirtschaft oder Förderung von Bildung, Kultur und Wissenschaft haben in dieser Hinsicht bestenfalls geringe Erfolge vorzuweisen. „(O)ne’s impression is“, urteilt Peter Clark in seiner einschlägigen Studie, „that British clubs and societies, despite their number and vitality, had a relatively modest and diffuse impact in their primary fields of activity.“ 26 Zurückzuführen sei solche Ineffizienz vor allem auf Probleme der Organisationsform „Verein“, die sich in internen Streitigkeiten, hoher Mitgliederfluktuation und Ressourcenmangel manifestierten. Gemeinwohlorientierte Gesellschaften hatten die Schwierigkeit, genügend neue Anhänger zu rekrutieren und gleichzeitig im Sinne ihrer aktuellen Mitglieder sozial zu selektieren. Sie kämpften mit anderen Vereinigungen um knappe Mittel und verschrieben sich Zwecken, die wieder aus der Mode gerieten. Die größte Wirkung der Assoziationen sei daher, so Clark weiter, in ihrer „sekundären“ Funktion der sozialen Integration und Netzwerkbildung zu sehen. Klubs und Gesellschaften öffneten sich einerseits bei Interesse für Männer aus unterschiedlichen Berufs- und Statusgruppen und mitunter für Frauen. Sie konnten sich jedoch andererseits mit der Beschränkung von Mitgliederzahlen, über Beiträge und Eintrittsgelder und mit dem Verfahren der Ballotage leicht und sehr effektiv nach außen abschließen. Assoziationen konnten ihren Mitgliedern einerseits per Satzung das konfliktträchtige politische Debattieren verbieten, sich jedoch andererseits bei Bedarf in Wahlkampfund Lobbyorganisationen verwandeln. Unter dem Strich scheinen die Organisatio-
25 Ric Berman, The London Irish and the Antients Grand Lodge, in: Eighteenth-Century Life 39, 2015, 103–130. 26 Clark, British Clubs and Societies (wie Anm.18), 442.
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nen des dritten Sektors ihre Umwelt weniger als „Schulen der Demokratie“ oder „kleine Republiken“ aktiv und im Sinne ihrer Verfahrenslogik gestaltet als vielmehr den ökonomischen und politischen Wandel absorbiert zu haben, indem sie durch flexible soziale Öffnung und Schließung weltanschauliche Konflikte und soziale Ungleichheit unter ihren Mitgliedern abmilderten. Im 19.Jahrhundert nahm die Zahl der Assoziationen weiterhin zu. Die Organisationsform fand Verbreitung über die Städte hinaus und erschloss neue Trägergruppen, so dass an der Wende zum 20.Jahrhundert auch Frauen und Jugendliche dem Vereinswesen als Mitglieder angehörten. Abgesehen von der quantitativen Ausweitung kennzeichneten zwei weitere Trends die Entwicklung des Assoziationswesens im 19.Jahrhundert, nämlich die funktionale und rechtliche Ausdifferenzierung des dritten Sektors sowie die Separierung sozialer Klassen im Vereinswesen. 27 Unter dem Eindruck der Amerikanischen Revolution und der Vorgänge in Frankreich intensivierte die britische Regierung zeitweilig die Aufsicht über freiwillige Vereinigungen. Das bekamen vor allem Zusammenschlüsse von Lohnarbeitern zu spüren. Der „Act for the Relief and Encouragement of Friendly Societies“ (Rose’s Act, 1793) und die „Combination Acts“ (1799/1800) verboten die Gründung „konspirativer“ Arbeiterorganisationen. Zugleich bezweckten sie die Förderung von unpolitischen, nicht-gewerkschaftlichen Unterstützungsvereinen, von denen man hoffte, dass sie den Abgabenbedarf für die gemeindliche Fürsorge reduzieren würden. Tatsächlich verhinderten die Gesetze, die bis 1825 auch schon wieder aufgehoben waren, durchaus nicht die Gewerkschaftstätigkeit, sondern erschwerten bloß die Identifizierung von „trade unions“, die sich zur Tarnung als „friendly societies“ ausgaben. 28 Das Beispiel der „friendly societies“ zeigt, dass der britische Staat an der Wende zum 19.Jahrhundert nicht hinter die Vereinigungsfreiheit zurückfiel. Zu umfassend war die Teilnahme der Eliten am Assoziationswesen; zu nützlich erschienen Zusammenschlüsse, welche versprachen, die Steuerlast zu senken. Der Fall der „friendlies“ illustriert ferner die Doppelstrategie von Kontrolle und Förderung des dritten Sektors sowie die Grenzen dieser Politik. Schließlich belegt das fortgesetzte Anwachsen der Selbsthilfevereinigungen, dass materielle Absicherung bis auf weiteres ein wich-
27
Im Überblick R. J. Morris, Clubs, Societies and Associations, in: F. M. L. Thompson (Ed.), The Cambridge
Social History of Britain, 1750–1950. Vol.3: Social Agencies and Institutions. Cambridge 1990, 395–443. 28
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Cordery, British Friendly Societies (wie Anm.24), 44–46.
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tiges Motiv der Assoziationsbildung blieb. In all diesen Punkten weist die Entwicklung des Vereinswesens am Beginn des 19.Jahrhunderts starke Kontinuität zu den oben geschilderten Anfängen auf. Neu war dagegen, dass die Angehörigen einer breiten, in sich heterogenen Mittelschicht im Assoziationswesen zu einer zunehmend selbstbewussten „middle class“ zusammenfanden. Lässt sich dieser Prozess für das Vereinswesen des 17. und 18. Jahrhunderts mit guten Gründen bestreiten 29, haben Sozialhistoriker für das 19. Jahrhundert die philanthropischen Gesellschaften und geselligen Klubs, die in jeder größeren Stadt in beeindruckender Zahl anzutreffen waren, wiederholt als Instrumente der Klassenbildung beschrieben. 30 Robert Morris hat zur Bezeichnung der spendenfinanzierten Krankenhäuser, Bibliotheken, Bürgerwehren, Missionsvereine, literarischen und philosophischen Gesellschaften und Assoziationen zur Hebung der Unterschichtenmoral den Begriff der „subscriber democracies“ in die Diskussion eingebracht. 31 In diesen schlossen sich seit der Wende zum 19.Jahrhundert Angehörige einer entstehenden Mittelschicht unter der Führung der lokalen Elite zusammen. Das Organisationsmodell war die Anteilsgesellschaft, in der nach dem Prinzip „one subscription, one vote“ die Kontrolle in der Hand einer finanzkräftigen und einflussreichen Oligarchie verblieb, während weniger gut betuchte Mitglieder die Vereinsaufgaben erledigten und mit der Zugehörigkeit zu einer angesehenen Vereinigung entlohnt wurden. Die Mitgliederschaft war differenziert nach Titeln, Ämtern und Höhe der geleisteten Beiträge („subscriptions“). Die Außendarstellung der vereinsinternen Hierarchie reflektierte die Rangfolge der lokalen Gesellschaft. Der Zusammenhalt innerhalb der heterogenen Mitgliederschaft beruhte auf dem Kompromiss zwischen den einzelnen Statusgruppen, die sich einig waren in der Abgrenzung von den besserungsbedürftigen Unterschichten. Nicht immer erwies sich der Kompromiss zwischen wirtschaftlich, politisch und religiös sehr unterschiedlichen Gruppen als tragfähig. Doch auch für diesen Fall bot die Organisationsform eine Lösung. War man in der einen „subscriber democracy“ unzufrieden, gründete man einfach eine neue mit dem gleichen Zweck. Auf diese Weise vermied man den
29 Clark, British Clubs and Societies (wie Anm.18), 444–449. 30 Siehe etwa Theodore Koditschek, Class Formation and Urban-Industrial Society. Bradford, 1750–1850. Cambridge 1990; Simon Gunn, The Public Culture of the Victorian Middle Class. Ritual and Authority and the English Industrial City, 1840–1914. Manchester 2007. 31 Morris, Clubs, Societies and Associations (wie Anm.27), 412f.
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offenen Streit und mobilisierte frische Begeisterung. Zugleich jedoch fragmentierte sich dadurch das philanthropische Assoziationswesen in immer neue Missions-, Reform- und Bildungsvereine, die miteinander um begrenzte Ressourcen konkurrierten. Dem erklärten Zweck, Bibelwissen zu verbreiten oder den Alkoholkonsum einzudämmen, kam man auf diesem Wege kaum näher. 32 Als wirkmächtiger erwiesen sich Assoziationen deshalb in der Erfüllung ihres „sekundären“ Zwecks, über flexible Öffnung und Schließung soziale Netzwerke zu knüpfen und Unerwünschte draußen zu halten. Die erklärten Ziele vieler „subscriber democracies“ wurden auch deshalb selten erreicht, weil die vermeintlich erziehungsbedürftige Klientel sich meist strategisch zu den Organisationsangeboten der Mittelschicht verhielt. Ein frühes Beispiel sind die seit den 1820er Jahren entstandenen „mechanics’ institutes“, welche das Modell der „subscriber democracy“ auf abhängig beschäftigte Handwerker ausweiten und diese an die Bildungsideale der Mittelschicht heranführen sollten. Spender und Ehrenmitglieder verfügten in ihnen über mehr Einfluss als ordentliche Mitglieder, die wiederum noch einmal stärker im Vorstand repräsentiert waren als diejenigen, die bloß geringe Mitgliedsbeiträge zahlten. 33 Entgegen der erklärten Absicht fühlten sich von den „institutes“ Angehörige der unteren Mittelschicht angesprochen. Arbeiter dagegen blieben entweder ganz fern oder pickten sich aus dem Veranstaltungsangebot das für sie Interessante heraus. 34 Ähnliche Entwicklungen lassen sich für das letzte Drittel des 19.Jahrhunderts in einer Reihe von reformerisch-wohltätigen Vereinigungen beobachten, die vor der Wahl standen, entweder an ihren hehren Idealen festzuhalten und dadurch die Arbeiterklientel abzuschrecken, oder aber Zugeständnisse zu machen und dadurch den ursprünglichen Vereinszweck zu verwässern. Das spektakulärste Beispiel dafür sind die „working men’s clubs“, die auf die Initiative des unitarischen Geistlichen Henry Solly aus den frühen 1860er Jahren 32
Vgl. allerdings Henry Youmans, What Did the British Temperance Movement Accomplish? Attitudes
to Alcohol, the Law and Moral Regulation, in: Sociology 45, 2011, 38–51. Man kann die Strategie, Alkoholkonsum statt über gesetzliche Verbote durch moralische Überredung eindämmen zu wollen, aber auch als Weg zum „erfolgreichen Scheitern“ (Wolfgang Seibel) interpretieren, mit dem Temperenzler-Organisationen ihre Anhänger kontinuierlich mobilisierten und ihrer moralischen Überlegenheit versicherten. 33
Im Detail am lokalen Beispiel Toshihiko Iwama, Voluntary Societies and the Urban Local Community.
A Case Study of the Halifax Mechanics’ Institution, in: Family & Community History 11, 2008, 17–25. 34
Christiane Eisenberg, Arbeiter, Bürger und der „bürgerliche Verein“ 1820–1870. Deutschland und Eng-
land im Vergleich (1988), in: Jürgen Kocka (Hrsg.), Bürgertum im 19.Jahrhundert. Bd. 3: Verbürgerlichung, Recht und Politik. Göttingen 1995, 48–80.
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zurückgehen und anfänglich Bildungsvereine darstellten, für deren Einrichtung Solly Unterstützung aus der Mittelschicht mobilisiert hatte. Bis zur Jahrhundertwende jedoch hatten die einfachen Mitglieder die philanthropische Bevormundung abgeschüttelt. Dies erreichten sie nicht etwa auf dem Wege vereinsinhärenter Demokratie oder mit der Kraft des besseren Arguments. Entscheidend waren zwei andere Gründe. Zum einen waren unzufriedene Mitglieder in der Lage abzuwandern, womit sie Druck ausüben konnten für Zugeständnisse an ihre Bedürfnisse. Zum anderen eröffnete die finanzmarktgetriebene Expansion der Brauereien, die nach neuen Vertriebsstellen suchten und Kredite anboten, den Klubs um die Jahrhundertwende eine alternative Finanzierungsquelle. Auf diese Weise wandelte sich der „working men’s club“ zu dem, was George Orwell in den 1930ern treffend als „glorified co-operative pub“ bezeichnete. 35 Das genossenschaftliche Prinzip kennzeichnete im 19.Jahrhundert weite Teile des Arbeitervereinswesens und begründete dessen relative Unabhängigkeit von gängelnder Philanthropie. Was jedoch nach außen hin Klassensolidarität demonstrierte, blieb im Inneren anfällig für Spannungen und Abwanderungstendenzen. So verhielten sich beispielsweise einfache Mitglieder von „friendly societies“ im 19. Jahrhundert ausgesprochen instrumentell gegenüber ihren Vereinigungen. Viele der oft armen und ungebildeten Genossen nahmen gegenüber ihren „friendlies“ die Rolle des skeptischen Kunden ein, der dem Vorstand seines lokalen Vereins misstraute und grundlegende Zweifel hegte, dass ihm die Mitgliedschaft ausreichende finanzielle Absicherung bot. Solche Zweifel nährten den Zulauf zu den landesweit organisierten „affiliated orders“ ab etwa der Jahrhundertmitte, der zu Lasten lokaler „friendlies“ ging. Umgekehrt misstrauten aber auch Vorstände ihren auf materiellen Vorteil bedachten Mitgliedern. Das erklärt den Trend zur Beschäftigung von Ärzten, die sicherstellen sollten, dass krankgemeldete Genossen tatsächlich krank waren und es sich nicht einfach auf Kosten der anderen Einzahler gutgehen ließen – ein klares Indiz für die Ersetzung von persönlichem durch institutionelles Vertrauen. Vor diesem Hintergrund sahen die einfachen Mitglieder von „friendly societies“ staatliche Eingriffe in das selbstorganisierte Unterstützungswesen durchaus nicht als Verlust, wie gegenwärtige Befürworter zivilgesellschaftlicher Selbstverantwortung postulieren. „Unlike the arguments now of those who see in the friendly socie35 Zitiert nach Klaus Nathaus, Organisierte Geselligkeit. Deutsche und britische Vereine im 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen 2009, 90.
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ty movement a way of recapturing a past moral ‚big society‘“, bemerkt Marc Brodie mit Blick auf die seinerzeit von der Cameron-Regierung angestoßene Debatte um eine „große Bürgergesellschaft“, „those who most closely experienced how this system worked saw that morality […] instead might best be found in the anonymous government provision of services of welfare, which was capable and willing to give support to help ‚smooth out‘ the hills and troughs of working class economic life, uncapped and regardless of the recipient.“ 36 Modellhaft ausgedrückt driftete das Problem „Sozialversicherung“ gegen Ende des 19.Jahrhunderts heraus aus dem dritten Sektor in die Wirkungsbereiche von Staat und Markt. Auf dem Letzteren liefen ab den 1880er Jahren gewerbliche Versicherungen gemeinsam mit den landesweiten „affiliated orders“ den lokalen „friendlies“ den Rang ab und erschlossen neue Mitgliedergruppen, darunter auch Frauen. 37 Die Indizien scheinen dafür zu sprechen, dass lokale „friendlies“ allenfalls ihren Vorständen bei der Integration in die Bürgergesellschaft halfen, während einfache Mitglieder diesen Vereinen keine Träne nachweinten. Den einfachen Einzahlern brachten sowohl kommerzielle Versicherungen als auch der Sozialstaat statt anonymer Bevormundung „abstract mutuality“, das heißt kollektive Unterstützung ohne die Zumutung persönlicher Gegenseitigkeit. 38 Tendenzen zur funktionalen Differenzierung des Assoziationswesens und zur „Kolonisierung“ von Aufgabenbereichen durch staatliche und marktwirtschaftliche Organisationen zeichneten sich im 19.Jahrhundert auch in anderen Segmenten des dritten Sektors ab. Neben der Versicherung betraf dies etwa den Bereich der Unternehmensorganisation, in dem sich in der zweiten Jahrhunderthälfte mit der „limited liability company“ die moderne Firma vom „trust“ trennte. 39 Der Einfluss des Rechts auf funktionale Ausdifferenzierung zeigt sich ferner im Bereich der Kommunalverwaltung. Für Armen- und Krankenfürsorge, Schulwesen, Polizei, Feuerbe36
Marc Brodie, „You could not get any person to be trusted except the state“: Poorer Workers’ Loss of
Faith in Voluntarism in Late 19th Century Britain, in: Journal of Social History 47, 2014, 1071–1095, hier 1089. Ähnlich skeptisch Martin Gorsky, „Voluntarism“ in English Health and Welfare: Visions of History, in: Donnach Seán Lucey/Virginia Crossman (Eds.), Healthcare in Ireland and Britain from 1850. Voluntary, Regional and Comparative Perspectives. London 2014, 31–60. 37
Timothy Alborn, Senses of Belonging. The Politics of Working-Class Insurance in Britain, 1880–1914,
in: Journal of Modern History 73, 2001, 561–602, bes. 575–582. 38
Francois Ewald, Insurance and Risk, in: Graham Burchell/Colin Gordon/Peter Miller (Eds.), The Fou-
cault Effect. Studies in Governmentality. Chicago, IL 1991, 197–210, hier 203f. 39
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Johnson, Making the Market (wie Anm.22), 109f. u. 229–233.
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kämpfung, Straßenbeleuchtung, Abfall und Abwässer, Hygiene sowie Marktaufsicht und Hafenverwaltung waren bis zur so genannten „municipal revolution“ um die Jahrhundertmitte noch lokale „corporations“ zuständig, die von sich selbst rekrutierenden Oligarchien kontrolliert wurden und deren Arbeitsweise ausgesprochen amateurhaft und parochial war. Der „Municipal Corporation Act“ (1835) schuf die gesetzliche Grundlage, die Lokalverwaltung zu professionalisieren, das heißt aus dem dritten Sektor herauszulösen. Gestützt wurde dieses Anliegen nicht zuletzt von Fachleuten, die ihre Gestaltungsansprüche auf ihre fachliche Kompetenz gründeten und von den informellen, oft in Assoziationen organisierten Zirkeln der Macht ausgeschlossen waren. 40 Funktionale Ausdifferenzierungen zu Lasten des dritten Sektors sind in allen modernen Gesellschaften zu beobachten und haben sich im zeitgenössischen Nachdenken über Rationalisierung, Bürokratisierung und die Ablösung von „Gemeinschaft“ durch „Gesellschaft“ niedergeschlagen. 41 Am britischen Fall ist daher weniger die Ausdifferenzierung als umgekehrt die Beharrungskraft des Assoziationsprinzips gegen den Trend zu Vermarktlichung und Verstaatlichung bemerkenswert. Insbesondere im Vergleich zu Kontinentaleuropa zeigt sich, wie bedeutsam die Organisationsform der freiwilligen Vereinigung für die Regelung gesellschaftlicher Aufgaben in Großbritannien war und trotz aller Rationalisierungstendenzen blieb; die Liste relevanter Beispiele umfasst unter anderem das Gesundheitswesen, die Universitäten und die Börse. 42 Umgekehrt war die Organisationskultur von Staat und Wirtschaft an Assoziationen angelehnt, wenn nicht vom Prinzip des „clubs“ durchdrungen. So wurde im Vergleich zu Preußen/Deutschland und Frankreich der (im Übrigen sehr
40 Der gängige Begriff „municipal revolution“ suggeriert eine Veränderung, die in Wirklichkeit sehr viel langsamer verlief und weit weniger tiefgreifend war. Vgl. im Überblick James Moore/Richard Rodger, Who Really Ran the Cities? Municipal Knowledge and Policy Networks in British Local Government, 1832– 1914, in: Ralf Roth/Robert Beachy (Eds.), Who Ran the Cities? City Elites and Urban Power Structures in Europe and North America, 1750–1914. Aldershot 2007, 37–69. 41 Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19.Jahrhunderts. München 2009, 868–870. 42 Barry M. Doyle, Healthcare before Welfare States. Hospitals in Early Twentieth Century England and France, in: Canadian Bulletin of Medical History 33, 2016, 174–204; Marion Fourcade, Economists and Societies. Discipline and Profession in the United States, Britain, and France, 1890s to 1990s. Princeton 2009; Michael Buchner, Private Club or Public Marketplace? The Organisation of Stock Exchanges from a Property Rights Perspective. London and Berlin in Comparison, 1860 to 1914, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 62, 2017, 205–232.
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viel kleinere) britische Staat nicht von einer Kaste von Staatsdienern geführt, die in ihrer Ausbildung ein primär auf Fachwissen gegründetes Sonderbewusstsein erworben hätten, sondern von „civil servants“, die sich als Generalisten verstanden und an elitären Privatschulen und Oxbridge-Colleges zu sozialer Kompatibilität („clubbability“) herangezogen worden waren. 43 Der Bildungspolitiker Robert Lowe beschrieb 1873 vor dem „Select Committee on Civil Services Expenditure“ das Resultat dieser nach seiner Ansicht besten Erziehung als eine Art „freemasonry among men which is not very easy to describe, but which everybody feels“. 44 Der Zusammenhang zwischen der Ausbildung in den „klassischen“ Fächern an den Eliteuniversitäten und der Vergemeinschaftung im Verein („freemasonry“), die beide als flexible soziale Schließungsmechanismen funktionierten und nach innen das Zusammengehörigkeitsgefühl stärkten, ist in diesem Zitat deutlich auf den Punkt gebracht. Die Stärke des dritten Sektors in Großbritannien ist von Sozialwissenschaftlern und Historikerinnen regelmäßig als Grund für die Stabilität des britischen Parlamentarismus im 20.Jahrhundert interpretiert worden. Das Argument besagt, dass sich im britischen Assoziationswesen eine politische Kultur der Unabhängigkeit, Selbsthilfe und Skepsis gegenüber dem Staat bewahrte, die zum einen dem Eingriff der Regierung in die Gesellschaft Grenzen setzte und zum anderen für die für eine funktionierende Demokratie notwendige Bereitschaft und Fähigkeit zur politischen Partizipation sorgte. 45 Betrachtet man innere Mechanismen und gesellschaftliche Effekte des Assoziationswesens statt aus politisch-kultureller aus der SektorPerspektive, erscheint die zweite Hälfte dieser Deutung fragwürdig. Der dritte Sektor erwies sich nämlich weniger als demokratisierender Faktor denn als Puffer zur Absorption von Veränderungsdruck. Die vielen Spielarten der Klubs und „subscriber democracies“ boten den gesellschaftlichen „Insidern“ ein Mittel, um schrittweise Angehörige neuer, aufsteigender Gruppen in lokale gesellige Zusammenhänge zu integrieren und zugleich Forderungen nach grundlegendem Wandel abzuwehren. In ihrer Gesamtheit wirkten freiwillige Vereinigungen eben nicht so sehr als vorpo-
43
Patrick Joyce, The State of Freedom. A Social History of the British State since 1800. Cambridge 2013,
191. 44
Heather Ellis, Efficiency and Counter-Revolution. Connecting University and Civil Service Reform in
the 1850s, in: History of Education 42, 2013, 22–43, hier 27. 45
Siehe etwa José Harris, Society and State in Twentieth-Century Britain, in: Thompson (Ed.), The Cam-
bridge Social History of Britain, 1750–1950, Vol.3 (wie Anm.27), 63–117; klassisch Gabriel A. Almond/Sidney Verba, The Civic Culture. Political Attitudes and Democracy in Five Nations. Princeton 1963.
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litische Kommunikationskanäle für Ansprüche, die in privaten Diskussionen reiften und daraufhin universale Geltung beanspruchten, sondern als Gegenmittel gegen deren Verbreitung und konflikthafte Umsetzung. Auf diesem Wege konnten, wie Ross McKibbin für die Zwischenkriegszeit gezeigt hat, zwar einerseits scharfe Auseinandersetzungen wie der Generalstreik von 1926 abgewiegelt und die Anziehungskraft politischer Extremisten wie der „black shirts“ gemindert werden. Andererseits bedeutete diese Form der Sicherung des Status quo jedoch zugleich, dass Experten, Sozialisten und all diejenigen, die durchaus mit Argumenten auf weiterreichende Reformen drängten, sozial und politisch auf Distanz gehalten wurden. 46 Die auf inneren Zusammenhalt statt auf Außenwirkung bedachten Vereinigungen zeigten dementsprechend auch nur sehr geringe Neigung, sich überörtlich zusammenzuschließen; der Schwerpunkt des britischen Assoziationswesens war ausgesprochen lokal. Freiwillige Zusammenschlüsse, die sich – im deutlichen Unterschied zum deutschen Vereinswesen derselben Zeit 47 – nur selten und auch dann nur sehr lose in überörtlichen Verbänden organisierten, hätte auch ein noch so interventionswilliger Staat wohl nur schwer unter Kontrolle bringen können.
II. Philanthropie ohne Zivilgesellschaft. Wohltätigkeit im Deutschland des 20.Jahrhunderts Am Ausgang des 19.Jahrhunderts wiesen das Assoziationswesen und die Philanthropie, die sich in Deutschland durch ihre lokale Organisation und die Dominanz des Bürgertums auszeichneten, in Grundzügen durchaus Ähnlichkeiten zum britischen Fall auf. Sowohl Stiftungen, die auf Schenkungen zurückgingen und mit diesem Grundkapital ihrem Stiftungszweck nachgingen, als auch Assoziationen, die sich über Mitgliedsbeiträge und Spenden der Mitglieder finanzierten, erlebten im Kaiserreich bis 1914 ihren Höhepunkt. Das Deutsche Reich galt in diesem Engagement in den Staaten der „westlichen Welt“ als führend. Philanthropische Vereinigungen waren in der Zusammensetzung exklusiv, die Mitglieder aber durchweg in die Umsetzung der Vereinszwecke eingebunden. Das Bürgertum sah seine Aufgabe darin, durch eigene Mitarbeit bei den Stiftungszwecken oder die Organisation von 46 Ross McKibbin, Classes and Cultures. England, 1918–1951. Oxford 1998, 97f. 47 Dazu im Detail Nathaus, Organisierte Geselligkeit (wie Anm.35), 145–161.
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Wohltätigkeitsveranstaltungen dem allgemeinen Elend entgegenzutreten und staatliche Initiativen durch privates Engagement zu stützen und zu ergänzen. 48 Im Verlauf des 20.Jahrhunderts erfuhren diese Organisationen einen Niedergang. Ausgelöst wurde dieser zunächst von finanziellen Schwierigkeiten. Im Ersten Weltkrieg überzeugten Werber und drängte der Gesetzgeber die Stiftungen, ihr Geld in Kriegsanleihen anzulegen. Nach 1918 erlebten sowohl das Stiftungskapital als auch die Anleihen während der Inflation zuerst einen massiven Wertverlust. 1925 entschied sich die Regierung der Weimarer Republik dann, den Staat weitgehend von der Rückzahlung der Kriegsanleihen zu befreien und die Schuldentilgung über Jahrzehnte zu strecken. Viele Stiftungen verloren dadurch den größten Teil ihres Kapitals und konnten ihrer Zweckbestimmung nicht mehr nachkommen. Die Landesregierungen beschlossen, dass Stiftungen zusammenzulegen seien, und hofften so aus dem Restkapital wieder arbeitsfähige Einheiten zu bilden. Dadurch ging allerdings in den meisten Fällen die Verbindung zu den eigentlichen Stiftern verloren, schon weil der Name der Stiftung sich änderte und Stiftungszwecke sich so weit verschoben, dass sie mit den Gründungsmotiven nicht mehr übereinstimmten. Gleichzeitig verlor gesellschaftliches Engagement an Attraktivität für die bürgerlichen Stifter. Die Demokratisierung der Weimarer Kommunen versperrte örtlichen Eliten nun den traditionellen Einfluss auf die Lokalpolitik. So schien die Position des örtlichen Honoratioren, die nicht zuletzt durch philanthropisches Wirken erreicht und bestätigt wurde, weniger erstrebenswert. Der Weimarer Demokratie standen nicht mehr die Mittel zur Verfügung, Stiftungsarbeit symbolisch zum Beispiel mit Titeln und Ehrungen zu würdigen. Auch deshalb wandten sich neue Stiftungen verstärkt dem Kultur- und Wissenschaftsbereich zu, der mehr symbolisches Kapital versprach. Insgesamt können so die 1920er Jahre als Anfang vom Ende der „klassischen“ bürgerlichen Philanthropie in Deutschland gelten. 49 In den 1950er Jahren setzte sich der Niedergang freiwilliger Mildtätigkeit fort. Thomas Adams zufolge trocknete der Staat mit seiner freundlichen Haltung gegenüber Firmenstiftungen das Engagement wohlhabender Bürger weiter aus. Durch
48
Meinolf Nitsch, Private Wohltätigkeitsvereine im Kaiserreich. Die praktische Umsetzung der bürger-
lichen Sozialreform in Berlin. (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 98.) Berlin 1999. 49
Thomas Adam, Philanthropy, Civil Society, and the State in German History, 1815–1989. Rochester, NY
2016, 146–153.
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die Unterstützung solcher Stiftungen hoffte der Gesetzgeber, dass Firmengewinne der Gesellschaft zugutekommen würden, unterschätzte aber, dass er damit eine attraktive Möglichkeit eröffnete, Steuern zu sparen. Aber auch unabhängig von dieser Zweckverschiebung waren die Unternehmensstiftungen der Nachkriegszeit sehr viel weniger als zuvor Ausdruck einer persönlichen moralischen Selbstbindung eines „Wirtschaftsführers“, sondern in erster Linie ein Mittel der betrieblichen Öffentlichkeitsarbeit. „Giving became […] an extension of business calculations and turned into corporate giving.“ 50 Die klassische bürgerliche Philanthropie verlor schrittweise an Bedeutung, und gleichzeitig griff der intervenierende Wohlfahrtsstaat in die Organisation der Gemeinnützigkeit ein. Die sechs Wohlfahrtsverbände (Caritas, Innere Mission, Rotes Kreuz, Arbeiterwohlfahrt, Paritätischer Wohlfahrtsverband und Zentralwohlfahrtsstelle der Juden) hatten sich bereits in der Weimarer Republik als Ansprechpartner in Position gebracht. Sie festigten ihre Organisationsstruktur als dezentral organisierte Einheiten, indem die Spitzenorganisationen die lokalen und regionalen Verbände und Vereine unter einem Dach versammelten, ohne dass sie dann den Weisungen der Zentrale unterstanden hätten. Zuständig waren die Spitzenorganisationen aber für die strategische Planung der Wohltätigkeit und vor allem für die Vertretung der Interessen gegenüber dem Staat. 51 Angeführt von Caritas, Innerer Mission und Hilfswerk der Evangelischen Kirche konnten die sechs Verbände in der Bundesrepublik Deutschland ihre Position ausbauen, so dass sie bald die nichtstaatliche Fürsorge dominierten. Zurückzuführen ist der Einflussgewinn zuerst auf die Not der Nachkriegszeit, die die unterentwickelten staatlichen Strukturen überforderte. Im kriegszerstörten Land sammelten sich Flüchtlinge, die vor der anrückenden sowjetischen Armee geflohen oder zuvor vom nationalsozialistischen Regime vertrieben worden waren. In dieser Situation sahen die Alliierten in den christlichen Wohlfahrtsverbänden einen Verbündeten im Kampf gegen die Not. Die Caritas und zumindest das neu gegründete Hilfswerk der Evangelischen Kirche galten als relativ unbelastet. Sie verfügten über ein internatio-
50 Ebd.171. 51 Christoph Sachße/Florian Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland. Bd. 2: Fürsorge und Wohlfahrtspflege 1871–1929. Stuttgart 1988, 152–172; Wilfried Rudloff, The Welfare State and Poverty in the Weimar Republic, in: Lutz Raphael (Ed.), Poverty and Welfare in Modern German History. (New German Historical Perspectives, 7.) New York 2017, 105–136.
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nales Netzwerk und ein weit verzweigtes System an lokalen Vereinen, über das Geld- und Sachspenden gesammelt und in den Gemeinden verteilt werden konnten. Wie groß der Druck war, eine pragmatische Lösung zu finden, zeigte sich besonders an der Geschichte des Deutschen Roten Kreuzes. Die Alliierten lösten es nach dem Zweiten Weltkrieg auf, da es sich im nationalsozialistischen Deutschland zu einer militärischen Hilfsorganisation entwickelt und die verbrecherische Politik der nationalsozialistischen Regierung engagiert unterstützt hatte. Die Landesverbände aber bestanden fort oder gründeten sich neu; die Gliederungen auf lokaler Ebene arbeiteten weiter. Zwischen 1945 und 1949 fertigte das Rote Kreuz 13000 Flüchtlingstransporte ab, verteilte 8,4 Millionen Mahlzeiten, untersuchte 5 Millionen Menschen medizinisch und betreute 1793 Flüchtlingslager. Schon 1950 wurde der Dachverband wiedergegründet und zwei Jahre darauf als Liga innerhalb des Internationalen Roten Kreuzes anerkannt. 52 Im Wiederaufbau und nach den Wiedergründungen schlossen sich die Spitzenverbände 1950 in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege zusammen und engagierten sich politisch unter dem Schlagwort der Subsidiarität für die Übernahme von Aufgaben in der Fürsorge und Hilfe. Das Subsidiaritätsprinzip, nach dem der Staat in der Organisation des Gemeinwesens gegenüber Vereinen und Verbänden zurückzustehen habe, erschien vor allem in der CDU und in der konservativ geprägten Nachkriegsgesellschaft als Leitidee für eine gesellschaftliche Neuorganisation plausibel. Nach den Erfahrungen im Nationalsozialismus, als der Staat alle Bereiche der Gesellschaft durchdringen und steuern wollte, versprach eine subsidiär organisierte Wohlfahrt größere Unabhängigkeit gesellschaftlicher Akteure und damit ein größeres Widerstandspotential gegen diktatorische Lenkungsversuche. Gleichzeitig präsentierten vor allem katholische, später aber auch protestantische Christen das Subsidiaritätsprinzip und die vereinsmäßig organisierte Wohlfahrtspflege als Möglichkeit, die Deutschen für die Mitarbeit in der jungen Demokratie zu aktivieren, das soziale Miteinander zu festigen und die Solidarität untereinander aufzubauen. 53 Im restaurativen Klima der 1950er Jahre war auch die 52
Peter Hammerschmidt, Wohlfahrtsverbände in der Nachkriegszeit. Reorganisation und Finanzierung
der Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege 1945 bis 1961. Weinheim 2005, 18–75, und zum Deutschen Roten Kreuz 63–64; vgl. auch Christoph Sachße/Florian Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland. Bd. 4: Fürsorge und Wohlfahrtspflege in der Nachkriegszeit 1945–1953. Stuttgart 2012, 99– 125. 53
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Erhard Schweri, Staatsformen im katholischen Staatsdenken. Diss. jur. Zürich 1950, 129f.; Wilhelm Jo-
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Interpretation verbreitet, der Nationalsozialismus sei auf die Säkularisierung zurückzuführen und deshalb müsse die Gesellschaft rechristianisiert werden. Hier boten sich die kirchlichen Wohlfahrtsverbände an, mit ihrer Arbeit christliche Werte zu verbreiten, die – obzwar undemokratisch – doch gegen nationalsozialistische Tendenzen immunisieren sollten. 54 Den Wohlfahrtsverbänden gelang es, durch die Lobbyarbeit ihre Rolle als Träger des Wohlfahrtsstaates auszubauen und gesetzlich zu verankern, unter anderem im Jugendwohlfahrtsgesetz (1961) und dem Bundessozialhilfegesetz (1962). Christoph Sachße argumentiert, dass das Subsidiaritätsprinzip als Instrument zur Durchsetzung der Interessen der Wohlfahrtsverbände verstanden werden müsse. In der Auseinandersetzung ging es nicht um den Aufbau kleiner, unabhängiger, selbstorganisierter, demokratischer Assoziationen. Das Ziel war vielmehr eine korporative Organisation der Wohlfahrt, in der Verbandsinteressen vor dem staatlichen Anspruch, aber auch vor jeder Konkurrenz von anderen Assoziationen geschützt werden sollten. „Subsidiarität hatte sich von einem Konzept gesamtgesellschaftlicher Pluralität zu einer Legitimationsformel für die neo-korporatistische Organisation von Wohlfahrtspflege“ zurückgebildet. Im Ergebnis entwickelten sich die Wohlfahrtsverbände und die ihnen angeschlossenen Gliederungen zu Dienstleistungsunternehmen im Staatsauftrag. Ihre finanziellen Mittel bezogen sie überwiegend vom Staat. Mitgliedsbeiträge spielten nach 1949 eine untergeordnete, später eine vernachlässigbare Rolle. 55 Haupt- und nebenamtliche Mitarbeiter erfüllten die eigentlichen Aufga-
hannes Böhler, Katholische Kirche und Staat in Deutschland. Erinnerungen, Feststellungen, Grundsätzliches, in: Politische Studien 44, 1954, 123–146; Anonym, Die Subsidiarität als Ordnungsprinzip der demokratischen Wohlfahrtspflege, in: Herder Korrespondenz 11, 1957, 193–197; Konrad Elsholz, Die Sozialreform im staatspolitischen Zusammenhang, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung 220, 1955, 1853–1860; Friedrich Karrenberg, Staat in der neueren evangelischen Soziallehre, in: ders. (Hrsg.), Evangelisches Soziallexikon. Stuttgart 1956, 995–998. 54 Karl Gabriel, Die Bedeutung religiöser Traditionen für die Wohlfahrtsstaatsentwicklung in Deutschland. Die Subsidiaritätssemantik in der Weimarer Republik und in der frühen Bundesrepublik, in: Matthias Casper/Karl Gabriel/Hans-Richard Reuter (Hrsg.), Kapitalismuskritik im Christentum. Positionen und Diskurse in der Weimarer Republik und der frühen Bundesrepublik. Frankfurt am Main 2016, 173–191. 55 Christoph Sachße, Subsidiarität: Zur Karriere eines sozialpolitischen Ordnungsbegriffs, in: Zeitschrift für Sozialreform 40, 1994, 717–738, hier 731f.; vgl. Josef Schmid, Wohlfahrtsverbände in modernen Wohlfahrtsstaaten. Soziale Dienste in historisch-vergleichender Perspektive. Opladen 1996, 121–124. Bis heute sehen auch die Wohlfahrtsverbände selbst in der Verstaatlichung der Hilfe eine problematische Entwicklung und fordern, dass nun endlich eine theologische Konzeption gefunden werden müsse; vgl. Christoph Mock, Die Kirchlichkeit kirchlicher Wohlfahrtspflege. Zum theologischen Konzept kirchlicher Wohl-
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ben vor Ort und bestimmten die strategische Ausrichtung und die Organisation, auch wenn alle Gliederungen und die Spitzenverbände formal als gemeinnützige Vereine organisiert waren (und als solche besteuert wurden). 56 Beispielhaft ist der Aufbau der Spitzenvereine der beiden kirchlichen Wohlfahrtsverbände. Zwar bildeten die Mitgliederversammlungen laut Satzung selbstverständlich das höchste Gremium in den Spitzenverbänden und das organisationspolitische Zentrum. Die eigentlichen Machzentren waren aber jeweils die Versammlungen der regionalen Geschäftsführer der Verbände und der Leiter wichtiger Werke in diesen Verbänden. Im Fall der Inneren Mission der evangelischen Kirche etwa war das ausschlaggebende Gremium die in der Satzung nicht vorgesehene Geschäftsführerkonferenz. Dort trafen sich die Geschäftsführer der Landes- und Provinzialverbände, die gleichzeitig nebenamtlich in den Aufsichtsräten der Werke saßen, mit den Leitern großer Einrichtungen, die vielfach in den Leitungs- und Kontrollgremien der Verbände vertreten waren. Die Geschäftsführer formulierten Stellungnahmen und Empfehlungen, die de facto Beschlüsse für die Direktoren des Centralausschusses darstellten. Laut Satzung wurden die Direktoren von einem Vorstand kontrolliert, aber diese Kontrolle relativierte sich wegen der weitgehenden personellen Überschneidungen. 57 Faktisch widersprach die Organisation des westdeutschen Wohlfahrtsstaates dem Subsidiaritätsprinzip. Statt zur Steigerung des ehrenamtlichen Engagements kam es zu einer Professionalisierung. Statt sich selbst in Vereinen zu organisieren, trugen hauptamtliche Geschäftsführer unternehmerische Verantwortung. Statt eines dritten Sektors bildeten sich korporativ organisierte, staatlich finanzierte und damit staatlich gesteuerte Dienstleistungsunternehmen. „Die Rechristianisierung der Freien Wohlfahrtspflege wich ihrer ‚Verstaatlichung‘.“ 58
fahrtspflege unter den Bedingungen des sich modernisierenden Sozialstaates (Diakonie). Münster 2015, 69–81 und 227; zur Geschichte und zur aktuellen Situation vgl. auch Rolf G. Heinze/Joachim Lange/Werner Sesselmeier (Hrsg.), Neue Governancestrukturen in der Wohlfahrtspflege. Wohlfahrtsverbände zwischen normativen Ansprüchen und sozialwirtschaftlicher Realität. (Wirtschafts- und Sozialpolitik, 19.) BadenBaden 2018. 56 Lothar F. Neumann/Klaus Schaper, Die Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland. (Schriftenreihe der Bundeszentrale für Politische Bildung, 649.) 5.Aufl. Bonn 2008, 329–332. 57
Hammerschmidt, Wohlfahrtsverbände in der Nachkriegszeit (wie Anm.52), 44f.
58
Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland. Bd. 4: Fürsorge und Wohlfahrts-
pflege in der Nachkriegszeit (wie Anm.52), 125; bis über 1993 hinaus sieht diesen Trend anhalten: Matthias
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Neben der praktischen Mitarbeit an den Vereinszwecken stand traditionell mit der Spende eine zweite Möglichkeit zur Verfügung sich zu engagieren, die in Deutschland in der Selbstwahrnehmung besonders stark ausgeprägt war. Spezifisch an der deutschen Entwicklung ist, dass diese Spenden nicht lokalen Initiativen, sondern vor allem den großen Wohlfahrtsverbänden zugutekamen. In der Bundesrepublik galt bis 1966 das Sammlungsgesetz von 1934, das die Nationalsozialisten erlassen hatten, um die Konkurrenz für Sammlungen der NSDAP und ihrer Gliederungen auszuschalten. Dieses Gesetz hatte jegliche öffentliche Spendensammlung, abgesehen von kleinen örtlichen Sammlungen, genehmigungspflichtig gemacht. Der Reichsinnenminister hatte zu prüfen, ob für eine Sammlung ein „hinreichendes öffentliches Bedürfnis“ bestand. Nach 1945 ging diese Kompetenz an die Länder über. Schon früh waren Sozial- und Innenminister der Länder sich einig, dass man an der Genehmigungspflicht festhalten und die Wohlfahrtsverbände bevorzugen solle. Die Begründung, gegen Missbrauch, Betrug und eine dauernde Belästigung der Bevölkerung in der Öffentlichkeit vorgehen zu wollen, übernahm man von den Nationalsozialisten. 59 Von 1951 an erließen die Länder neue Durchführungsbestimmungen. Sie formalisierten den Genehmigungsprozess und erhöhten damit die Hürde für kleine Organisationen und spontane Sammlungen. Während zuvor die Genehmigungsbehörden von sich aus die Antragsteller prüfen durften, mussten nun die Antragsteller ihrerseits Auskunft geben. Die Anträge mussten nicht nur über Sammlungszweck und Vorgehen informieren, sondern auch über den Charakter, die Finanzierung und Ausrichtung ihrer Organisation. Die Wohlfahrtsverbände blieben von dieser Dokumentationspflicht weitgehend ausgenommen, und die Bestimmungen stellten ausdrücklich solchen Zwecken die Genehmigung in Aussicht, die in den Arbeitsbereich der Wohlfahrtsverbände fielen. Zwecken, welche die großen Verbände nicht abdeckten, wurde die Genehmigung versagt. Die erste Durchführungsbestimmung von 1951 legte die Motive und Absichten der Behörden noch bemerkenswert deutlich offen. Der Sozialminister von Nordrhein-Westfalen hielt darin fest, dass „ein hinreichendes öffentliches Bedürfnis […] in der Regel als gegeben anzunehmen“ sei,
Möhring-Hesse, Verbetriebswirtschaftlichung und Verstaatlichung. Die Entwicklung der Sozialen Dienste und der Freien Wohlfahrtspflege, in: Zeitschrift für Sozialreform 54, 2008, 141–160. 59 Gabriele Lingelbach, Spenden und Sammeln. Der westdeutsche Spendenmarkt bis in die 1980er Jahre. (Moderne Zeit, 18.) Göttingen 2009, 79–82.
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„wenn der Reinertrag zu allgemeinen karitativen Zwecken bestimmt ist“. Jedoch seien – so die fast paradoxe Wendung – „Sammlungen zu karitativen Zwecken […] in der Regel […] nicht zu genehmigen“, „da alle Hilfsbedürftigen, soweit nicht die öffentliche Fürsorge eintritt, von den Spitzenverbänden der freien Wohlfahrtspflege betreut werden und diese Organisationen die Genehmigung zur Durchführung einer Sammlung auf Landesebene erhalten“. 60 In dieser Regelung wird deutlich, dass die neuen Durchführungsbestimmungen zum Spendengesetz von 1934 die Wohlfahrtsverbände gegen Konkurrenten schützen sollten. Kleinere Initiativen, die auf die Verbesserung der Lebenssituation im lokalen Umfeld zielten, hatten es wegen der komplexen Antragsverfahren und der Bevorzugung der großen Verbände besonders schwer, Genehmigungen für Spendensammlungen zu erhalten. Gleichzeitig stellte die Arbeit der professionellen, quasistaatlichen Wohlfahrtverbände den Sinn des Engagements über eine Spende in Deutschland ganz grundsätzlich in Frage. Große Teile der Bevölkerung sahen die Bedürftigen in guter Hand und das Feld der Wohlfahrt gut ausgestattet, so dass ein eigener Beitrag kaum noch notwendig erschien. Der Journalist und Senator Max Kolmsperger berichtete schon 1962 im bayerischen Senat, „dass in der Öffentlichkeit nicht selten die Frage gestellt [wird], ob im modernen Wohlfahrtsstaat solche Sammlungen überhaupt noch nötig sind“. 61 Tatsächlich zeigen die Budgets der großen Wohlfahrtsverbände, dass Spenden für ihre Arbeit angesichts der stattlichen staatlichen Finanzierung unbedeutend waren. Zur Jahrtausendwende finanzierte sich beispielsweise die Caritas zu 83 Prozent aus öffentlichen Sozialmitteln, zu 14 Prozent aus dem Kirchenetat und nur zu 3 Prozent aus Spenden. Die Verbände hielten aber dennoch an der Praxis des Spendensammelns fest, weil diese der Öffentlichkeitsarbeit für ihre Anliegen und als Mittel zur Vernetzung dienten. 62 Einerseits war es also nur schwer möglich, lokale Initiativen aufzubauen und mit den Wohlfahrtsverbänden in Konkurrenz zu treten, andererseits stellte die Existenz der staatlich finanzierten und professionellen Wohlfahrtspflege überhaupt in Frage, ob ein persönliches Engagement vor Ort durch eigene Mitarbeit oder durch eine 60
Richtlinien für das Sammlungswesen. Runderlass des Sozialministers vom 22.10.1951, Ministerial-
blatt Nordrheinwestfalen, 1951, 1217–1222, hier 1218 und 1220. 61
Bayerischer Senat – 2. Sitzung, Mittwoch, den 14.Februar 1962, in: Verhandlungen des Bayerischen Se-
nats. Bd. 15, 8. Tagungsperiode, Stenographische Berichte. München 1963, 20. 62
Konstanze Evangelia Kemnitzer, Der ferne Nächste. Zum Selbstverständnis der Aktion „Brot für die
Welt“. Stuttgart 2008, 229–233.
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Spende überhaupt noch notwendig war. Sammlungen für das Ausland, wo die Notlage unabweisbar schien bzw. sehr viel einfacher als unvorhersehbare Katastrophe dargestellt werden konnte, waren einfacher zu vermitteln und sollten in den Folgejahren zum Schwerpunkt des Engagements für den fremden Nächsten werden. Bereits 1973 sah der „Stern“ die Bundesrepublik Deutschland als „Großmacht der Hilfsbereitschaft“ zurück auf der internationalen Bühne. 63 Der Drang zum Engagement über Spenden ins Ausland zeigte sich schon unmittelbar nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland. Politiker und Funktionäre fürchteten zuerst noch, dass Hilfe für das Ausland angesichts der Not in Deutschland nur schwer zu vermitteln sein würde, aber schon bei den ersten großen Katastrophen wurden sie von der Hilfsbereitschaft der Deutschen regelrecht überrollt, so dass zum Beispiel große Teile der Sachspenden für die Opfer der Überschwemmungen in Italien 1951 in Deutschland eingelagert werden mussten und ihr Ziel nie erreichten. 64 Von Mitte der fünfziger Jahre an gelangte der Hunger in der Welt als zentrales Problem für die Zukunft der Menschheit auf die politische Agenda, nicht zuletzt weil die USA mit ihrem „Food for Peace“-Programm ihre Überschüsse in der Agrarproduktion abbauen wollten. 65 Die kirchlichen Wohlfahrtsverbände reagierten und hoben, angeregt durch die erfolgreichen ad hoc-Sammlungen bei Katastrophenfällen, mit „Brot für die Welt“ (1959) und „Misereor“ (1960) ergänzend große anlasslose Sammlungen aus der Taufe, welche die Not der Menschen in der Welt lindern sollten. Sie erbrachten so hohe Einnahmen, dass Caritas und Hilfswerk der Evangelischen Kirche zu Beginn Schwierigkeiten hatten, Abnehmer zu finden. 66 Der Fokus der Hilfe verschob sich also durch eine weitgehende Verstaatlichung der Wohlfahrt im Inneren, aber auch durch gezielte Entmutigung von lokalem Engagement vom Nahbereich in die Distanz. Diese Distanz verdoppelte sich bei den
63 Heiko Gebhardt, „Hilfe!“, in: Stern, Nr. 48, 22.11.1973, 18–36, hier 36. 64 Patrick Merziger, Humanitäre Hilfsaktionen der Bundesrepublik Deutschland (1951–1991) als Medium der Außenbeziehung. Von der Beziehungspflege zur Intervention, in: Anuschka Tischer/Peter Hoeres (Hrsg.), Medien der Außenbeziehungen von der Antike bis zur Gegenwart. Köln 2017, 490–516, hier 497– 502. 65 Heide-Irene Schmidt, Pushed to the Front. The Foreign Assistance Policy of the Federal Republic of Germany, 1958–1971, in: Contemporary European History 12, 2003, 473–507, hier 503–505. 66 Annett Heinl/Gabriele Lingelbach, Spendenfinanzierte private Entwicklungshilfe in der Bundesrepublik Deutschland, in: Thomas Adam/Simone Lässig/Gabriele Lingelbach (Hrsg.), Stifter, Spender und Mäzene. USA und Deutschland im historischen Vergleich. (Transatlantische Historische Studien, 38.) Stuttgart 2009, 287–312.
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Spenden für die Not in der Welt: Das Engagement richtete sich nicht mehr auf den Nahbereich, hauptamtliche Helfer übernahmen die philanthropische Arbeit in Stellvertretung, die Wohlfahrtsverbände entsandten bei der Katastrophenhilfe angestellte Mitarbeiter und zogen sich ansonsten auf die Organisation von Hilfe über Projektträger vor Ort zurück. 67 Diese Distanzierung lief keinesfalls ohne Konflikte ab. Hilfswerk-Mitarbeiter Christian Berg, der reklamiert, „Brot für die Welt“ erfunden zu haben, klagte 1959 darüber, dass die Spender Nähe einforderten: „Stelle dir vor, die mehr als 20000 evangelischen Gemeinden bei uns würden gleichsam als Bedingung ihrer Opferbereitschaft wissen wollen, wohin jeweils ihre Gaben gehen, sie würden in persönlichen Kontakt zum Empfänger treten wollen. Wer könnte allein die Korrespondenz bewältigen! Welche Zersplitterung! Wir würden ertrinken im Meer der besonderen Wünsche!“ 68
Aber diese Konstellation veränderte sich in der Bundesrepublik Deutschland in den 1970er Jahren. Bis dahin war die Hilfe für das Ausland, Katastrophen- und Entwicklungshilfe, fest in der Hand von den Wohlfahrtsorganisationen oder von Vereinen, die direkt auf staatliche Initiativen zurückzuführen waren. 69 In den 1970er Jahren trat – im internationalen Vergleich spät – ein neuer Assoziationstyp auf das Feld der Philanthropie, der unter dem Begriff „humanitäre Hilfsorganisation“ gefasst wird und in der Bundesrepublik formal als Verein organisiert war. Drei Entwicklungen kamen hier zusammen: ein neuer Internationalismus, die Liberalisierung des Spendenmarktes und der Bedeutungsgewinn der Medien für die Spendenwerbung. Das Ergebnis war eine neue Gründungswelle von philanthropischen Vereinen, verbunden mit einer weiteren Internationalisierung des Engagements, da die Arbeit nach innen angesichts der Wohlfahrtsverbände verschlossen war und die Arbeit nach außen an Attraktivität gewann.
67
Vgl. z.B. Diakonisches Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hrsg.), Humanitäre Hilfe weltweit.
Diakonie Katastrophenhilfe. 50 Jahre. Stuttgart 2004; Diakonisches Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hrsg.), Den Armen Gerechtigkeit. 50 Jahre Brot für die Welt. Stuttgart 2008; Georg-Hinrich Hammer, Geschichte der Diakonie in Deutschland. Stuttgart 2013, 309–317. 68
Christian Berg, Brot für die Welt – Antwort auf Fragen aus der Gemeinde, September 1959, ADW,
BfdW-S1, zitiert nach Lingelbach, Spenden und Sammeln (wie Anm.59), 230. 69
Bastian Hein, Die Westdeutschen und die Dritte Welt. Entwicklungspolitik und Entwicklungsdienste
zwischen Reform und Revolte 1959–1974. (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, 65.) München 2006; Hubertus Büschel, Hilfe zur Selbsthilfe. Deutsche Entwicklungsarbeit in Afrika 1960–1975. (Globalgeschichte, 16.) Frankfurt am Main 2014, 195–201, passim.
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Die Studentenbewegung etablierte ihren Internationalismus als Thema in der Öffentlichkeit und gab über ihren engeren Kreis hinaus der Solidarität neue Ziele. 70 Die sozialliberale Koalition nahm die Anregungen auf und strebte eine Erneuerung der Außenbeziehungen mit dem „Globalen Süden“ an. Willy Brandt vertrat eine wertgeleitete Außenpolitik. Bestimmte Grundprinzipien wie zum Beispiel das Selbstbestimmungsrecht der Völker waren ein Wert an sich, der jenseits realpolitischer Interessen Unterstützung erforderte. So gerieten auch Weltregionen wie zum Beispiel Nicaragua und der Kampf der Sandinisten gegen die Somoza-Diktatur oder Chile mit dem sozialistischen Projekt Salvador Allendes in den Blick, die zwar außerhalb der eigentlichen Einfluss- und Interessensphäre lagen, aber als Teil einer „Weltinnenpolitik“ verstanden wurden. 71 Die Bestimmungen zur Spendensammlung waren schon in den 1960er Jahren vielfach missachtet worden, unter anderem von den Wohlfahrtsverbänden selbst, die eine weitgehende Autonomie für sich forderten. Bayern und Nordrhein-Westfalen hatten sich selbst bereits ein neues liberales Sammlungsgesetz gegeben, und 1966 verwarf das Bundesverfassungsgericht das Sammlungsgesetz von 1934. Der Verwaltung sei hier „eine im Ergebnis unbegrenzte Ermächtigung für die Genehmigungspraxis eingeräumt“ worden, die deutlich „dem Verwaltungsdenken des totalitären Staates“ entstamme, der den „Staatsinteressen den unbedingten Vorrang vor der individuellen Freiheit des Staatsbürgers“ gegeben habe. 72 Die Länder waren aufgefordert, neue, liberalere Gesetze zu erlassen. Sammlungen mussten nicht mehr genehmigt, sondern nur noch angemeldet werden, und medial vermittelte Sammlungsformen (Spendenaufrufe in Medien, auf Plakaten und in Briefen) wurden nun ganz freigegeben. 73 Die 1950er und frühen 1960er Jahre waren durch einen Konsensjournalismus geprägt, der es den politischen Instanzen einfach machte, Themen zu setzen. Zum Ende der 1960er verschärfte sich allerdings die Konkurrenz auf dem Medienmarkt. Jeder bundesdeutsche Haushalt hatte nun einen Fernseher, und mit dem Ausbau des Programms, aber auch mit der Etablierung von Magazinsendungen, die die „journa70 Dorothee Weitbrecht, Aufbruch in die Dritte Welt. Der Internationalismus der Studentenbewegung von 1968 in der Bundesrepublik Deutschland. Göttingen 2012. 71 Bernd Rother, Willy Brandts Außenpolitik. Grundlagen, Methoden und Formen, in: ders. (Hrsg.), Willy Brandts Außenpolitik. Wiesbaden 2014, 335–357. 72 BVerfGE Beschluss vom 5.8.1966, BVerfGE 20, 150 = NJW 1966, 1651, 4. 73 Lingelbach, Spenden und Sammeln (wie Anm.59), 269–273.
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listische Tradition des ambitionierten Pressemagazins“ ins Bild setzten 74, fühlten sich die Printverlage einem „Vernichtungswettbewerb des Fernsehens gegen die Presse“ ausgesetzt. 75 Etablierte Medien setzten stärker auf visuelle Reize, und das Fernsehen war auf der Suche nach Bildern. Der Hunger in Biafra/Nigeria (1968) und die Dürre in der Sahelzone und Äthiopien (1973/74) bewiesen das journalistische Potential von Katastrophen, gerade im Ausland. Menschliche Not wirkte durch spektakuläre Bilder, in denen sie glaubhaft, unmittelbar und zugleich unhinterfragbar schien, da Verantwortung, politische Kontexte, Motive und Interessen meist dunkel blieben und es auch bleiben konnten. 76 Diese Art der Berichterstattung erzeugte eine neue Orientierung außerhalb der Landesgrenzen. Es bildete sich ein Spendenmarkt aus, der weitgehend von staatlichen Eingriffen befreit war und auf dem humanitäre Hilfsorganisationen die Nachfrage der Spendebereiten bedienen konnten. Besonders erfolgreich und aufsehenerregend waren in diesem Markt immer wieder Spendenaktionen für humanitäre Katastrophen in aller Welt. „Wann immer Katastrophenhilfe […] erforderlich war“, so berichtete die Süddeutsche Zeitung 1973, „schossen in der Bundesrepublik wohltätige Hilfsaktionen e.V. aus dem Boden wie Pilze“. 77 Gerade das Bild der Pilze scheint die Lage gut zu charakterisieren: Der Wunsch, Solidarität zu zeigen, trat periodisch in kurzlebigen ad hoc-Vereinen zutage. Anders als in Großbritannien, wo mit Oxfam oder „Save the Children“ humanitäre Organisationen mit einer starken lokalen Verwurzelung bzw. Ausrichtung entstanden 78, konnten sie sich jedoch nicht stabilisie-
74
Knut Hickethier, Magazine im Programm – das Programm ein Magazin. Überlegungen zur Geschichte
der politischen Fernsehmagazine, in: Helmut Kreuzer/Heidemarie Schumacher (Hrsg.), Magazine audiovisuell. Politische und Kulturmagazine im Fernsehen der Bundesrepublik Deutschland. Berlin 1988, 91– 110, hier 97. 75
Florian Kain, Das Privatfernsehen, der Axel Springer Verlag und die deutsche Presse. Die medienpoli-
tische Debatte in den sechziger Jahren. (Beiträge zur Medienästhetik und Mediengeschichte, 16.) Münster 2003, 9. 76
Patrick Merziger, Mediatization of Disasters and Humanitarian Aid in the Federal Republic of Germa-
ny, in: Johannes Paulmann (Ed.), Humanitarianism & Media, 1900 to the Present. New York 2018, 240–262. 77
Hannes Burger, Vietnam. Spenden an die richtige Adresse. Die großen Hilfswerke haben Erfahrung
und Organisation/Warnung vor Amateuren und Dilettanten, in: Süddeutsche Zeitung, 3./4.Februar 1973, 4; vgl. auch Florian Hannig, The Biafra Crisis and the Establishment of Humanitarian Aid in West Germany as a New Philanthropic Field, in: Gregory R. Witkowski/Arnd Bauerkämper (Eds.), German Philanthropy in Transatlantic Perspective. Perceptions, Exchanges and Transfers since the Early Twentieth Century. Cham 2016, 205–225. 78
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B. Maggie Black, A Cause for Our Times. Oxfam, the First Fifty Years. Oxford 1992, 55–62 und 164–165;
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ren, weil im Inland die staatlich finanzierten Wohlfahrtsorganisationen das Tätigkeitsfeld besetzten. Stattdessen waren sie allein auf die ressourcenintensive Auslandsarbeit beschränkt. Da sie nicht auf eine Kultur des Engagements aufbauen konnten, waren die humanitären Initiativen noch mehr von dem hochgradig volatilen Spendenmarkt abhängig. Eine der Organisationen, die in diesem Feld zwischen medialer Aufmerksamkeit, Spendenabhängigkeit und verbandlicher Konkurrenz reüssierte, war Cap Anamur. Zwar unterscheidet sich diese Organisation angesichts ihrer langen Lebensdauer, der Historiker aufschlussreiche Quellen verdanken, vom Gros vergleichbarer Initiativen. In ihren Grundzügen jedoch kann Cap Anamur/Deutsche Not-Ärzte e.V., so der gegenwärtige Name, zumindest in ihrem ersten Jahrzehnt als typisch für humanitäre Hilfsorganisationen gelten. Cap Anamur wurde 1979 aus der Aktion heraus geboren. Zu Beginn nannte sich die Organisation – noch wenig auf Fragen der Außendarstellung und Binnenstrukturierung bedacht – Komitee Notärzte. Die Bezeichnung „Komitee“ zeigt an, dass die Organisation der Erfüllung einer bestimmten, zeitlich begrenzten Aufgabe diente und aus Spezialisten bestand, die professionelle Expertise einbrachten, anstatt Fähigkeiten erst in der Vereinsarbeit zu erwerben. Der Namenszusatz „Cap Anamur“, unter dem der Verein bis heute bekannt ist, verweist auf die Entstehung des „Komitees“ und zugleich seine spektakulärste Hilfsaktion, nämlich die Rettung der sogenannten „boat people“ in Vietnam. Nach einem Auftritt des Gründers Rupert Neudeck im Fernsehmagazin Report am 24.Juli 1979 liefen innerhalb kürzester Zeit Spenden in Millionenhöhe ein; bis zum Ende des Jahres waren 5,6 Millionen DM zusammengekommen. So konnte das umgebaute Frachtschiff „Cap Anamur“ bereits im August in Richtung südchinesisches Meer aufbrechen. Dort rettete die Besatzung über 10000 Menschen vor dem Ertrinken und konnte knapp 40000 flüchtenden Vietnamesen den Weg nach Deutschland öffnen. 79 Mit der Annahme der Organisationsform „Verein“ schon bald nach der Gründung 1979 scheint eine Formalisierung der Organisation angedeutet. Aber wie bei Linda Mahood, Feminism and Voluntary Action. Eglantyne Jebb and Save the Children, 1876–1928. Basingstoke 2009, 142–165. 79 Patrick Merziger, The „Radical Humanism“ of „Cap Anamur“ / „German Emergency Doctors“ in the 1980s. A Turning Point for the Idea, Practice and Policy of Humanitarian Aid, in: European Review of History 23, 2016, 171–192; vgl. auch Frank Bösch, Engagement für Flüchtlinge. Die Aufnahme vietnamesischer „Boat People“ in der Bundesrepublik, in: Zeithistorische Forschungen 14, 2017, 13–40.
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vielen Vereinen in diesem Feld führt die Kennzeichnung auf eine falsche Spur. Denn eine Vereinsstruktur spielte zumindest im ersten Jahrzehnt keine Rolle; Cap Anamur war Rupert Neudeck. Mit seinen Artikeln und Reportagen gelang es ihm wiederholt, neue Tätigkeitsfelder bekannt zu machen und Spenden einzuwerben. Die Arbeit wurde aus seinem Wohnzimmer in Troisdorf von seiner Frau Christel Neudeck geleitet und organisiert. Von dort aus wurden die Mitarbeiter entsandt und koordiniert, dort lief die Korrespondenz zusammen, dort wurden die Finanzen verwaltet. Bei akuten Problemen trat allenfalls ein Krisenstab zusammen. Neudeck bestimmte die Richtung des „Vereins“. So trieb er etwa die Erweiterung des Tätigkeitsfeldes auf Somalia, auf Uganda und auf den Tschad zu Beginn der 1980er Jahre und damit auch die Verstetigung der Arbeit des Vereins durch seine persönlichen Kontakte bzw. seine Reisen als Redakteur des Deutschlandfunks voran. Ein „Komitee ohne Apparat“ blieb das Ziel. 80 Diese Arbeitsweise war bewusst gewählt. Neudeck polemisierte heftig gegen die Wohlfahrtsverbände. Sie seien „gefräßige und bürokratisch-inerte Organisationen“ 81, die ihr ursprüngliches Versprechen, schneller, flexibler, unbürokratischer und damit auch menschlicher zu helfen, niemals eingelöst hätten. Mit Cap Anamur kündigte Neudeck an, eine „radikale Humanität“ verwirklichen zu wollen. 82 Er nahm damit ein verbreitetes Sentiment auf. Schon seit den 1950er Jahren fürchteten die Deutschen, dass ihr Geld in der Verwaltung versickern könnte und nicht den wirklich Bedürftigen zugutekäme. Diese Angst führte zur paradoxen Situation für die Hilfsorganisationen, die wie Cap Anamur nicht über „zahlungskräftige Vaterinstitutionen“ verfügten: An die Vereine wurde natürlich der Anspruch gestellt, dass die Hilfe ankommt. Gleichzeitig aber bewertete das Deutsche Zentralinstitut für soziale Fragen, das seit 1991 das vielbeachtete Spenden-Siegel vergibt, niedrige Verwaltungskosten als zentralen Ausweis einer guten Praxis – in den Augen vieler Hilfsorganisationen ein Widerspruch:
80
Rupert Neudeck, Ein Komitee ohne Apparat. Einige persönliche Bemerkungen, in: ders. (Hrsg.), Wie
helfen wir Asien? oder „Ein Schiff für Vietnam“. Reinbek 1980, 144f. 81
Flüchtlingshilfe. Hochgradig albern. Das Deutsche Rote Kreuz wehrt sich gegen private Hilfsorgani-
sationen, die in Kambodscha tätig sind, in: Der Spiegel, 10.3.1980, 118f.; vgl. auch Michael Vössing, Competition over Aid? The German Red Cross, the Committee Cap Anamur and the Rescue of Boat People in South East Asia, in: Johannes Paulmann (Ed.), Dilemmas of Humanitarian Aid in the Twentieth Century. Oxford 2016, 345–370. 82
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Rupert Neudeck (Hrsg.), Radikale Humanität. Notärzte für Die Dritte Welt. Reinbek 1986.
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„Wir spenden, wenn die Nahrungsration für ein hungerndes Kind höchstens ein[en] Euro täglich kostet – wobei eigentlich klar sein sollte, dass dieser Euro irgendwie von Deutschland nach Äthiopien gelangen muss […].“ 83
Hinzu kommt, dass Mitgliedsbeiträge für Cap Anamur wegen der unbedeutenden Rolle des Vereins nicht ins Gewicht fielen. Die humanitäre Hilfsorganisation finanzierte sich fast ausschließlich über Spenden. Anfangs hatte Cap Anamur noch staatliche Unterstützung angenommen, im Verlauf der 1980er Jahre entwickelte sich aber die völlige Unabhängigkeit zur Leitlinie. Das heißt, dass die eigentlichen Unterstützer von Cap Anamur außerhalb des Vereins blieben und keine Mitspracherechte besaßen. So wahrte die Leitung der Initiative Unabhängigkeit gegenüber Mitgliedern ebenso wie gegenüber dem Staat, und zwar nicht nur finanziell: Die Spender und nicht die Mitglieder stellten das soziale Kapital des Vereins her. Neudeck interpretierte und präsentierte die Spenden immer wieder als Zustimmung und als eine Art Plebiszit über den jeweiligen Fall. 84 Da die Organisation sich nicht auf eine stetige Finanzierung verlassen konnte, war Cap Anamur abhängig von der Medienberichterstattung sowohl über Katastrophen als auch über die geleistete Arbeit. Cap Anamur und andere Hilfsorganisationen mussten zur Fortsetzung ihrer Arbeit an aktuelle Krisen andocken oder selbst medienkompatible, starke Botschaften aussenden. 85 Deutlich wird die Volatilität auf dem massenmedial vermittelten Spendenmarkt an den Ausschlägen in der Spendenstatistik. Mit einer freundlichen Berichterstattung zu den „boat people“ im Rücken gelang es Cap Anamur 1980, 18 Millionen DM einzusammeln. Die Stimmung drehte sich aber mit der Ankunft der Geretteten in Deutschland, und 1982 flossen nur noch 3,2 Millionen DM. 86 Als Rupert Neudeck sich im Kosovo-Krieg 1999 engagierte, verzehnfachte sich das Spendenaufkommen von knapp unter 7 Millionen im Jahr 1998 auf knapp 69 Millionen DM im Jahr 1999, obwohl andere
83 Christian Osterhaus, Transparenz in Marketing und Kommunikation. Oder: Raus aus der Verwaltungskosten-Falle!, in: Kurt Bangert (Hrsg.), Handbuch Spendenwesen. Bessere Organisation, Transparenz, Kontrolle, Wirtschaftlichkeit und Wirksamkeit von Spendenwerken. Wiesbaden 2011, 104–114, hier 104. 84 Brief von Rupert Neudeck an Ernst Albrecht, 5.6.1981, Ordner „Komitee bis 24.11.1981 – Cap Anamur 1979–1981“, Privates Archiv von Rupert und Christel Neudeck. Rupert Neudecks Nachlass liegt inzwischen im Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland (DOMiD) in Köln. 85 Merziger, Mediatization of Disasters and Humanitarian Aid (wie Anm.76). 86 Diese und die folgenden Spendensummen nach einer Aufstellung der Geschäftsstelle Cap Anamur/ Deutsche Not-Ärzte e.V., Köln.
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Hilfsorganisationen am humanitären Charakter des Einsatzes zweifelten. 2004 nahm Cap Anamur in einer Aktion vor Lampedusa mit einem neu angeschafften Schiff Flüchtlinge auf, die bei ihrer Flucht nach Europa in Seenot geraten waren. Die deutschen Medien denunzierten die Aktion als PR-Gag und zeigten Verständnis dafür, dass die Verantwortlichen vor italienischen Gerichten als „Schlepper“ angeklagt wurden. In der Folge sank das langjährige Spendenaufkommen von 4 bis 4,5 Millionen Euro in normalen Jahren auf zwei Millionen Euro jährlich. Eine dritte Eigenschaft, die Cap Anamur von klassischen Vereinen unterscheidet, ist die Arbeit mit Freiwilligen im Ausland, die die Wohlfahrtsorganisationen immer abgelehnt hatten. Freiwillige zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht Vereinsmitglieder sind, sondern nur für einen begrenzten Zeitraum mitarbeiten, wobei sie keine Mitsprache über ihre Verwendung, ihre Arbeitsorganisation und über die Ausrichtung des Vereins haben. Diese Freiwilligen erfuhren keine „Ausbildung“ innerhalb des Vereins, sondern mussten, damit ihr zeitlich begrenzter Einsatz überhaupt einen Zweck hatte, die notwendigen Fähigkeiten schon vorher erworben haben. Cap Anamur wollte keine sozial Bewegten oder humanitär Gestimmten, sondern vor allem Ärzte und Ärztinnen, Pfleger und Krankenschwestern, die sofort in die Arbeit einsteigen konnten. In der ersten Zeit opferten diese Freiwilligen ihren Jahresurlaub, um Menschen in aller Welt zur Hilfe zu eilen. Die maximal sechs Wochen erwiesen sich allerdings als knapp bemessen, so dass die Organisation bald von ihren Freiwilligen verlangte, eine berufliche Auszeit zu nehmen, um sie für mindestens ein halbes Jahr am Stück entsenden zu können. 87 Die Mitarbeiter beschwerten sich aber weiterhin in Briefen in die Heimat darüber, unvorbereitet in eine Situation geworfen worden zu sein und in kurzer Zeit nicht wirklich sinnvoll Hilfe leisten zu können. 88 Anders als die Entwicklungshilfe, die staatlich organisiert oder zumindest dauerhaft staatlich finanziert war, erforderte die Arbeitsweise humanitärer Organisationen eine bemerkenswerte Flexibilität. Hilfe musste als Projekt angelegt werden, da die Finanzmittel endlich waren, das Engagement per se zeitlich begrenzt blieb und
87
Interview von Patrick Merziger mit Rupert und Christel Neudeck, Troisdorf/Köln, 15.November
2011. 88
„Bericht über die Arbeit im Tuberkulosekrankenhaus“, 17.Juli 1983, Ordner „Somalia 2. 20.7.1982.
1994“, Privates Archiv von Rupert und Christel Neudeck; vgl. Merziger, The ‚Radical Humanism‘ of ‚Cap Anamur‘ (wie Anm.79), 179f.
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feste Strukturen auf der Organisationsseite nicht aufgebaut werden sollten. Arbeit vor Ort konnte und sollte nicht Strukturen verändern oder durch die Ausbildung der Menschen vor Ort längerfristig die Situation verbessern. Projektförmige Hilfe reagierte auf ein begrenztes Problem, das nach einer einfachen, technischen Lösung verlangte. Mit schnellen und dokumentierbaren Erfolgen belegte man den Nutzen dieser Notfallhilfe. Wenn in einem Flüchtlingslager schlechte hygienische Verhältnisse und Unterernährung festgestellt wurden, konnte den Menschen durch Latrinenbau, Brunnenbau, Kleidungs-, Medikamenten- und Nahrungsmittelsendung innerhalb kürzester Zeit sichtbar geholfen werden. 89 Blieb man aber länger vor Ort, wie Cap Anamur in Somalia, musste die Organisation erkennen, dass die Brunnen schnell versandeten und die Hygieneprobleme sich verlagerten. Für die medizinische Versorgung hätten feste und dauerhaft finanzierte Strukturen aufgebaut werden müssen, denn das Problem lag letztlich in der politischen und sozialen Situation begründet. 90 Voraussetzung für erfolgreiche Projekte war mithin gerade ihr Projektcharakter. Mit den neuen humanitären Organisationen wurden Projekte zum Modus Operandi der Hilfsbemühungen in aller Welt. 91 Kennzeichnend für die neuen humanitären Hilfsorganisationen seit den 1980er Jahren ist schließlich deren spezifisches Objekt, nämlich der Mensch in der Ferne. „In der Ferne“ ist dabei nicht nur im geographischen Sinne zu verstehen. Ziel war nicht mehr wie noch bei den philanthropischen Vereinen die (häufig gängelnde) Verbesserung von Menschen am Ort, sondern die Rettung von Fremden, die den Helfern und Spendern fremd blieben. Geholfen wurde dem Menschen als solchem. Die Lebensbedingungen und die politischen Kontexte des Hilfsbedürftigen durften nicht interessieren, sollte bloßes Leben gerettet werden – und das Projekt als Projekt fortbestehen. 92 „Wissen wollen“ oder „Helfen können“ – zwischen diesen Alternati-
89 Brief an Rupert and Christel Neudeck, 16.September 1981, Ordner „Somalia 2. 20.7.1982. 1994“, Privates Archiv von Rupert und Christel Neudeck. 90 Bericht aus dem Hargeisa General Hospital, Februar 1988, Ordner „Somalia 2. 20.7.1982. 1994“, Privates Archiv von Rupert und Christel Neudeck. 91 Monika Krause, The Good Project. Humanitarian Relief Ngos and the Fragmentation of Reason. Chicago 2014. 92 Vgl. dazu die Kritik am internationalen Hilfseinsatz in Äthiopien 1984/85, bei dem die Ausblendung des Kontextes der Empfänger besonders deutlich zutage trat: Wolde Giorgis Dawit, Red Tears. War, Famine and Revolution in Ethiopia. Trenton, NJ 1989; Peter Gill, Famine and Foreigners. Ethiopia since Live Aid. Oxford 2010; Suzanne Franks, Reporting Disasters. Famine, Aid, Politics and the Media. London 2013. Vgl. auch die interne Evaluation von Ärzte ohne Grenzen im „La Mancha Prozess“, bei der ein zentraler Kritikpunkt
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ven galt es sich, so Rupert Neudeck, zu entscheiden. 93 Das Objekt der Hilfe durfte nicht zu nahe rücken, da sonst das Bild des absoluten Hilfsbedürftigen in sich zusammengefallen wäre. Auf diese Weise wurde die Arbeit der Hilfsorganisationen unhinterfragbar, unangreifbar und unabweisbar in ihrer Dringlichkeit. Wer wollte einem Ertrinkenden die Hilfe verwehren? „Wir müssen zunächst einmal Menschenleben retten […] und wir dürfen dabei nicht pingelig sein.“ 94 Humanitäre Hilfsorganisationen konnten so Fragen über die Empfänger vermeiden, etwa ob sie der Hilfe würdig seien oder wie sie Dankbarkeit zu zeigen hätten. Projekthilfe gab den Anspruch auf, auf die Empfänger einzuwirken und befreite sich damit von patriarchalen Ordnungsphantasien und Erziehungsvorhaben, die für die an lokalen sozialen Ein- und Ausschlüssen interessierte „klassische“ Philanthropie vorrangig gewesen waren. Diese Hilfsarbeit war absichtslos im besten Sinne, da für die Empfänger keine Verpflichtungen erwuchsen, aber gleichzeitig war sie hilflos, wenn es um den Empfänger als politischen Akteur und als soziales Wesen in der Gesellschaft ging. Cap Anamur und andere Hilfsorganisationen boten sich als Agenten an, in denen Philanthropie noch möglich war. Gerade vor der Geschichte der philanthropischen Assoziationen erscheinen diese Vereine als Lösung der Probleme, die der freiwillige Zusammenschluss mit sich brachte. Dadurch, dass hier nun vielfach Distanz gesucht wurde, zur Organisation, zu den Mitgliedern, zur Arbeit, zum Objekt, konnten diese Vereine das Versprechen aufrechterhalten, anderen Menschen beizustehen, ihnen nahe zu sein, ohne dass sie zu nahe rückten. Solche philanthropischen Assoziationen des 20.Jahrhunderts sind sicher nicht mehr im Sinn der zivilgesellschaftlichen Idee als Ort der Demokratieschulung und Kompromissfindung anzusehen. Der Aufbau von Distanz im und durch den Dienst am gemeinen Nutzen muss aber nicht unbedingt negativ verstanden werden. Er trug zu einer Demokratisierung des Engagements bei, da jeder sich auch mit begrenzten Mitteln, begrenzter Zeit und begrenzter sozialer Kompetenz an der Arbeit beteiligen konnte. Diese Vereine öffneten sich für weite Kreise der Gesellschaft. Sie waren nicht exklusiv und boten an, sich stellvertretend zu engagieren und darüber das Fehlen von Kohärenz bei den Bemühungen war: Renée C. Fox, Doctors without Borders. Humanitarian Quests, Impossible Dreams of Médecins Sans Frontières. Baltimore 2014, 101–117. 93
Rupert Neudeck, Zwischen Verzweifeln und Helfen, in: Orientierung. Katholische Blätter für weltan-
schauliche Information 49, 1985, 44–47. 94
Erhard Haubold, Fragen zum Rettungsschiff „Cap Anamur“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.Fe-
bruar 1981, 7.
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eigene Wertorientierungen auszudrücken. Die Distanz eines vermittelten Engagements wirkte tendenziell gegen jegliche patriarchalen Anwandlungen und gegen ein personalisiertes do ut des, die beide zu einem nicht unwesentlichen Teil das Engagement im 19.Jahrhundert motiviert hatten. Inzwischen bieten die ersten Hilfsorganisationen reine Geldtransfers in ärmere Länder an. Ohne persönlichen Kontakt, organisiert über einen abstrakten Dritten, wird Vermögen ohne Bedingungen und – wenn es nach den Hilfsorganisationen gehen würde – ohne Kontrolle der Ergebnisse transferiert. 95
Ausblick Der vorliegende Beitrag hat die „alte“ Frage nach dem Zusammenhang zwischen inneren Mechanismen und gesellschaftlichen Effekten freiwilliger Vereinigungen untersucht. Ihm lag die Annahme zugrunde, dass dieser Zusammenhang weniger von Werten oder der Verfahrensgrammatik des Vereins bestimmt war als von dessen besonderer Ressourcenabhängigkeit und der wechselnden Gestalt des dritten Sektors zwischen Staat und Markt. An zwei Beispielen hat der Aufsatz unterschiedliche Entwicklungstendenzen aufgezeigt, die beide ein kritisches Licht auf das angenommene Verhältnis von vereinsinterner Gleichberechtigung und prinzipieller sozialer Offenheit als Ursache und Demokratie und gemeinen Nutzen als Wirkungen werfen. Der britische Fall steht für ein vom Staat unabhängiges Assoziationswesen, das dem zivilgesellschaftlichen Ideal der Selbstorganisation zwar sehr nahe kam. Doch öffneten britische Vereine nicht so sehr die Gesellschaft für den gleichberechtigten, demokratischen Streit um das bessere Argument, wie es dieses Ideal postuliert. In erster Linie stützten Vereine bestehende Ungleichheiten ab, indem sie durch 95 Da der Ansatz auf vielfache Vorbehalte stößt, sah sich die Hilfsorganisation „GiveDirectly“ gezwungen, eine Studie zum Effekt zu beauftragen: Johannes Haushofer/Jeremy Shapiro, The Short-Term Impact of Unconditional Cash Transfers to the Poor. Experimental Evidence from Kenya, in: The Quarterly Journal of Economics 131, 2016, 1973–2042; vgl. zur Kritik: Kevin Starr/Laura Hattendorf, GiveDirectly? Not So Fast. We Are Mistaking an Important Experiment for a Proven Solution, in: Stanford Social Innovation Review, 11.März 2014, https://ssir.org/articles/entry/givedirectly_not_so_fast (Zugriff: 22.7.2018]. Die Nichtregierungsorganisation „GiveWell“, die Hilfsorganisationen anhand ihrer Kosten-Nutzen-Effektivität bewertet, hat „GiveDirectly“ mehrere Jahre hintereinander in die Kategorie „top-rated charities“ aufgenommen, vgl.: GiveDirectly, in: GiveWell, November 2017, https://www.givewell.org/charities/give-directly (Zugriff: 22.7.2018).
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flexible soziale Schließung Räume boten, in denen Etablierte und gesellschaftliche Aufsteiger Vertrauen bildeten und nützliche Kontakte knüpften. Die informelle Vergemeinschaftung in den Klubs und Gesellschaften stärkte Hierarchien und machte sie aufnahmefähig für neue Eliten, während sie zugleich das Veränderungspotential absorbierte, das in Expertenwissen, bürokratischem Interventionswillen und radikalen politischen Forderungen angelegt war. Das (west-)deutsche Beispiel veranschaulicht eine organisierte Philanthropie, die sich in staatlich kontrollierte Wohlfahrtsverbände auf der einen und am Spendenmarkt orientierte Nothilfeprojekte auf der anderen Seite aufspaltete. Dies verengte zwar den Raum für zivilgesellschaftliche Philanthropie in unabhängigen, lokalen Vereinen. Doch eröffneten gerade die eher undemokratisch und professionell geführten humanitären Projekte einem weiteren Spenderpublikum die Teilhabe an freiwilliger Hilfe, und dies unabhängig von Mitgliederinteressen und ohne Erwartungen an die Hilfsempfänger. Die Außenwirkung freiwilliger Vereine war gemessen an ihren erklärten Zwecken meist eng begrenzt; darüber hinausgehende Wirkungen sind schwierig zu belegen. Durch die Betonung der wichtigen Rolle des Rechts und des Einflusses von Marktimpulsen auf die Ausgestaltung des dritten Sektors sollte jedenfalls deutlich geworden sein, dass das gemeinnützige Potential des Assoziationswesens nicht überschätzt werden sollte. Freiwillige Vereinigungen, so scheint es im Kontrast zur Rhetorik der Zivilgesellschaft, reagierten eher auf Veränderungen in ihrer Umwelt, als dass sie ihrerseits gesellschaftliche Entwicklungen anstießen. Sie bewegten sich in einem Rahmen, der ihnen von Staat und Markt gesteckt wurde. Als weitaus effektiver erwiesen sich Assoziationen nach innen. Den wirkungsvollen Gebrauch von Vereinen als Mittel flexibler sozialer Schließung belegt die britische Entwicklung, während umgekehrt das am Beispiel von Cap Anamur beschriebene Organisationsmodell des spendenfinanzierten Projekts sich als sozial deutlich offener erwies als die relativ exklusiven Vereine. Die Wiederentdeckung der Zivilgesellschaft in den 1990er Jahren war zumindest teilweise vom politischen Interesse an einem Rückbau des Sozialstaats motiviert; selbstorganisierte Fürsorge wurde als Alternative identifiziert, die sozialen Zusammenhalt versprach und bürgerschaftliches Engagement aktivieren würde. Die hier gewählte Sichtweise macht auf einige Probleme aufmerksam, die mit einer Wiederbelebung der sogenannten Bürgergesellschaft verbunden sind. Und sie lenkt den Blick auf einen ganz anderen Ansatz, nämlich den in humanitären Hilfsprojekten angedachten Ansatz des Schuldenerlasses in Fällen, in denen keine Aussicht auf
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Rückzahlung besteht. Für diese Form des Gebens gibt es, das sei nebenbei bemerkt, Vorläufer in der Frühen Neuzeit, als sie die ostentative Wohltätigkeit im Umfang weit übertraf. 96 In der Moderne allerdings ist sie von der Dankbarkeitsforderung der Philanthropie, der staatlichen Rechenschaftspflicht und dem „cash nexus“ auf dem Markt verdrängt worden. Eine historische Langzeitperspektive mag das „Vergeben und Vergessen“ als eine Form des Umgangs mit Risiken und Ungleichheit für die gegenwärtige Diskussion um Freiwilligkeit und Gemeinnutz erschließen.
96 Muldrew, Debt, Credit, and Poverty (wie Anm.19), 28.
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Anwälte für die Armen Ehrenamtliche Rechtsberatung in England vor der Zeit des Wohlfahrtsstaates ca. 1890–1950 von Kate Bradley
Im England des 21.Jahrhunderts ist Pro-Bono-Arbeit ein gängiger Bestandteil der juristischen Ausbildung. 1 Zahlreiche Universitäten haben im Rahmen von Jura-Studiengängen Rechtshilfebüros eingerichtet, in denen ihre Studenten unentgeltlich in Rechtsangelegenheiten beraten. 2 Ebenso haben einige der größten internationalen Anwaltskanzleien Pro-Bono-Programme aufgebaut, die ihren Mitarbeitern ermöglichen, sich freiwillig in freien Rechtsberatungszentren zu engagieren. 3 In dieser ehrenamtlichen Tätigkeit schlägt sich eine Pro-Bono-Tradition nieder, die bis ins späte 19.Jahrhundert zurückreicht. Damals boten Anwälte, die den Arbeiterschichten gegenüber Mitgefühl empfanden, umsonst oder für einen sehr geringen Betrag ihren Rat, in manchen Fällen auch ihre Dienste an. Diese Tradition hat sich aufrechterhalten, obwohl in England seit 1949 die in Reaktion auf die Bemühungen wohltätiger
1 Es gibt im Vereinigten Königreich drei separate Jurisdiktionen: England/Wales, Schottland und Nordirland. In diesem Aufsatz beziehe ich mich speziell auf die Nation „England“ und auf die Gerichtsbarkeit in England und Wales. Es gibt auch drei separate Rechtssysteme im Vereinigten Königreich: England/Wales, Schottland und Nordirland. Gesetze, die in Westminster erlassen werden, treffen nicht unbedingt auf alle drei Rechtssysteme zu. Der „Legal Aid and Advice Act“ von 1949, auf den hier Bezug genommen wird, gelangte nur in England und Wales zur Geltung, zumal Schottland 1949 sein entsprechendes eigenes Gesetz erhielt. In allen drei Systemen ist der juristische Berufsstand unterschiedlich strukturiert. In England teilt sich das Anwaltswesen in zwei Teile auf. „Solicitors“ beraten Klienten in rechtlichen Fragen, erledigen technische Arbeiten (etwa die Erstellung von Testamenten oder die Abtretung von Eigentum) und dürfen vor einigen niederen Gerichten erscheinen. Mandanten können sich direkt an einen solchen Anwalt wenden und ihn beauftragen. „Barristers“ vertreten ihre Mandanten vor den höheren Gerichten und werden meist von niederen Anwälten empfohlen, die im Auftrag eines Klienten tätig sind. Niedere Anwälte unterstehen der „Law Society“ (siehe https://www.lawsociety.org.uk/), höhere Anwälte dem „Bar Council“ (http://www.barcouncil.org.uk/), beides Anwaltskammern. 2 Siehe z.B. die aktuelle Vorschrift an der Hochschule der Autorin: https://www.kent.ac.uk/kent-lawclinic (Zugriff: 3.5.2019). 3 Ein Beispiel hierfür ist Linklaters (https://www.linklaters.com/en/about-us/responsibility/pro-bonoand-community-investment), sowie Allen und Overy (http://www.allenovery.com/corporate-responsibility/probono-community/Pages/default.aspx), beide eingesehen am 3.5.2019.
HTTPS :// DOI . ORG / 10.1515/9783110627442-009
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Organisationen und bestimmter Juristenkreise eingeführte Regelung besteht, dass der Staat Anwälten die Honorare für die Rechtsberatung von Klienten mit geringem Einkommen erstattet. 4 Dies ist Ausdruck des Gedankens, dass die Rechtsberatung eine Form der Sozialfürsorge darstellt, die Menschen die Möglichkeit eröffnet, ihre Rechte wahrzunehmen. Somit ist der „Legal Aid and Advice Act“ von 1949, der diese Regelung festschrieb, ein integraler Bestandteil des neugegründeten welfare state. 5 Der finanzielle Rahmen für diese rechtlichen Hilfs- und Beratungsangebote wurde seit den 1950er Jahren von verschiedenen Regierungen jedoch immer weiter eingeschränkt, was darauf hinweist, dass Rechtsberatung im Vergleich zu anderen Arten der Sozialfürsorge eher als Luxus betrachtet wird. 6 Ziel der folgenden Ausführungen ist es, für die Zeit von den 1890er Jahren bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges diesen Bereich freiwilliger Arbeit zu untersuchen, der die Bestimmungen des Gesetzes zur Rechtshilfe und -beratung vorbereitete: die von Settlement-Häusern, „Councils of Social Service“ und anderen Fürsorgeinstitutionen angebotenen „Poor Man’s Lawyer“-Dienste. Indem wir den „Poor Man’s Lawyer“ in den Blick nehmen, können wir sehen, wie sich seit dem späten 19. Jahrhundert die Auffassung von Rechtsberatung als Form der Sozialfürsorge (anstatt als Teil der Wirtschaftswelt) entwickelte und in welchem Maße sie von nationalen Netzwerken ehrenamtlicher Sozialdienstleister übernommen wurde. Während die Rechtsansprüche der Arbeiterschicht immer ernster genommen wurden – es gab zwei wichtige gesetzgeberische Erfolge in diesem Bereich – führte die daraus hervorgehende Verabschiedung des „Legal Aid and Advice Act“ im Grunde genommen dazu, dass Juristen für ihre Arbeit zwar finanziell kompensiert wurden, jedoch keine der von den Zeitgenossen diskutierten radikaleren Alternativen zur Umsetzung gelangten. Diese folgten etwa dem aus dem Vergleich von Recht und Medizin
4 Siehe vor allem Richard I. Morgan, The Introduction of Civil Legal Aid in England and Wales, 1914– 1949, in: Twentieth-Century British History 5, 1994, 38–76. 5 Tamara Goriely, Making the Welfare State Work. Changing Conceptions of Legal Remedies within the British Welfare State, in: Francis Regan/Alan Paterson/Tamara Goriely/Don Fleming (Eds.), The Transformation of Legal Aid. Oxford 1999, 89–109, hier 89–93. 6 Siehe Law Society of England and Wales, Access Denied? LASPO Four Years on: a Law Society Review. London 2017. Hier wird die Auswirkung des „Legal Aid, Sentencing and Punishment of Offenders Act“ 2013 evaluiert, welcher die verfügbare Summe für rechtlichen Beistand reduzierte und die Ansprüche darauf einschränkte. Eine wichtige Arbeit zur Entwicklung rechtlicher Hilfe nach dem Zweiten Weltkrieg ist unter anderem Brian Abel-Smith/Robert Stevens, In Search of Justice. Society and the Legal System. London 1968; ferner Regan/Paterson/Goriely/Fleming (Eds.), The Transformation of Legal Aid (wie Anm.5).
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hervorgehenden Argument, dass die Wahrung von Rechtsansprüchen ebenso wichtig sei wie der Erhalt der Gesundheit. Daran knüpften sich in den 1920ern Vorschläge, „Rechtskliniken“ einzurichten, bzw. in den 1930ern und 1940ern Ideen für einen „nationalen Rechtsdienst“ („National Legal Service“). 7 Die Geschichtsforschung seit den 1990ern zeigt deutlich, wie sich die Wege von rechtlichem und medizinischem Bereich in Bezug auf ihre Annahme als öffentliches Gut trennten. 8 Der „National Insurance Act“ (1911) legte fest, dass Industriearbeiter eine Krankenversicherung bei einer „Approved Society“ abschließen konnten, einer privaten Versicherungsgesellschaft, die groß genug war, um ihren Kunden Stabilität sowie die nötige Absicherung zu bieten. So erhielten die Arbeiter eine gewisse Anzahl an Dienstleistungen zur Gesundheitsfürsorge, von denen einige auch ihren Familienangehörigen zugutekamen. 1946 führte der „National Health Service Act“ ein umfangreiches System ein, in dem die Kosten für medizinische Dienstleistungen von der „National Insurance“ übernommen wurden. Auch wenn die Bezeichnung „National Insurance“ auf die Terminologie von 1911 zurückgriff, waren keine privaten Versicherungsfirmen beteiligt. Die Finanzierung erfolgte durch eine Abgabe, die von allen erwachsenen Bürgern, deren Einkommen eine bestimmte Summe überschritt, an den Staat zu zahlen war und die letztlich zu einer Steuer wurde. 9 Zwischen den 1890er und späten 1930er Jahren bezeichnete der Begriff „Poor Man’s Lawyer“ einen ehrenamtlichen Dienst, bei dem unentgeltlich oder für einen sehr geringen Betrag Rechtsberatung angeboten wurde. In einigen Fällen gab es sogar die Möglichkeit, die Angelegenheit vor das zuständige Gericht zu bringen. 10 Das „In-Forma-Pauperis“-Procedere, das vom 12.Jahrhundert bis 1949 Menschen mit sehr niedrigem Einkommen erlaubt hatte, Zivilprozesse kostenfrei bis vor die beiden höchsten Gerichte in England, den Obersten Gerichtshof und das Berufungsge-
7 F. C. G. Gurney-Champion, Justice and the Poor in England. London 1926, 10, 147; Haldane Society, The Law and Reconstruction. London 1942. 8 George Campbell Gosling, Payment and Philanthropy in British Healthcare, 1918–48. Manchester 2017; ferner: Steven Cherry, Medical Services and the Hospitals in Britain, 1860–1939. Cambridge 1996; Martin Gorsky/John Mohan/Martin Powell, The Financial Health of Voluntary Hospitals in Interwar Britain, in: Economic History Review 55, 2002, 533–557. 9 Siehe Michael Heller, The National Insurance Acts 1911–1947, the Approved Societies and the Prudential Assurance Company, in: Twentieth Century British History 19, 2008, 1–28; ebenso allgemein: Pat Thane, Foundations of the Welfare State. 2nd Ed. London 1996. 10 Eine Zusammenfassung der Lage bei Kriegsausbruch findet sich in J. Mervyn Jones, Free Legal Advice in England and Wales. Oxford 1940.
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richt, zu bringen, wurde kaum genutzt, weil die Anwälte auf ihr Honorar hätten verzichten müssen. 11 Magistrate (oder „Justices of the Peace“) waren schon im 19.Jahrhundert eine unentbehrliche Komponente des Justizwesens gewesen. Ihnen kam im Rechtssystem eine wachsende Bedeutung zu, da die Verhandlung von Kriminalfällen vor einem Richter und einer aus zwölf Bürgern bestehenden Jury einen hohen Kosten- und Zeitaufwand erforderte. Die Magistrate wickelten weniger wichtige, aber zahlreichere Fälle schnell und günstig in ihren eigenen Gerichten ab. Zusätzlich zur Leitung ihrer örtlichen Magistratsgerichte konnten „Justices of the Peace“ die Klienten, die in ihr Gericht kamen, rechtlich beraten – vorausgesetzt, es handelte sich dabei nicht um Anwälte oder Personen, die in einem bestimmten Rechtsbereich formell ausgebildet waren. 12 Außerdem konnte Rechtsberatung auch ad hoc bei einzelnen Anwälten erbeten werden, in Sheffield etwa bei William Unwin, der seine Arbeit für die Bedürftigen erfolgreich über seine profitable Immobilientätigkeit für die städtische Elite finanzierte. 13 Während des 19. und bis in das 20.Jahrhundert hinein erhielten sowohl die zentrale als auch die regionale Regierung durch die Reformen der „Poor Laws“ und der Verwaltung des öffentlichen Gesundheitswesens nach und nach mehr Verantwortung und führten somit notwendigerweise auch mehr Gesetze ein, die eingehalten werden mussten. 14 In den 1880er und 1890er Jahren verlangten städtische Sozialreformer schließlich andere Zugangsformen zur rechtlichen Verteidigung. Ihre Aufmerksamkeit galt den benachteiligten Vierteln großer Städte und Gemeinden.
11
Alan Paterson, Legal Aid as a Social Service. London 1971, 11. Eine Zusammenfassung über das engli-
sche und walisische Gerichtswesen im Jahr 2017 findet sich in: Judicial Office, The Judicial System of England and Wales. A Visitors’ Guide. London 2016, https://www.judiciary.gov.uk/wp-content/uploads/2016/ 05/international-visitors-guide-10a.pdf. 12
Carolyn Steedman, At Every Bloody Level. A Magistrate, a Framework-Knitter, and the Law, in: Law and
History Review 30, 2012, 387–422, hier 393; Drew D. Gray, The People’s Courts? Summary Justice and Social Relations in the City of London, c. 1760–1800, in: Family and Community History 11, 2008, 7–15; Jennifer Davis, A Poor Man’s System of Justice. The London Police Courts in the Second Half of the Nineteenth Century, in: Historical Journal 27, 1984, 309–35; Leon Radzinowicz/Roger Hood, A History of English Criminal Law and Administration from 1750. Vol.5: The Emergence of Penal Policy in Victorian and Edwardian England. Oxford 1990; John Briggs et al., Crime and Punishment in England. An Introductory History. London 2001, 221; Martin J. Wiener, Reconstructing the Criminal. Culture, Law and Policy in England, 1830–1914. Cambridge 1994, 257–260. 13
Obituary: Mr William Unwin, in: Sheffield Daily Telegraph, 2.3.1896, 2.
14
Geoffrey Finlayson, Citizen, State and Social Welfare in Britain, 1830–1990. Oxford 1994, 2–6; John Gar-
rard, Democratisation in Britain. Elites, Civil Society and Reform since 1800. Basingstoke 2002.
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Schon vor 1880 wurde diese Welt von verschiedenen Stadtforschern dokumentiert, etwa von Friedrich Engels, Henry Mayhew und Charles Dickens, deren Darstellungen über das Leben in den Armenvierteln beim Publikum Entsetzen hervorriefen. 15 Ebenso gerieten „die Armen“ – die Angehörigen der Arbeiterklasse, deren Einkommen und Ressourcen unzureichend und wechselhaft waren – nunmehr in das Blickfeld der bürgerlichen Öffentlichkeit, nicht zuletzt in der im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts lebhaft entbrannten Diskussion, ob Armut ein moralisches Versagen oder ein strukturelles Problem sei. Die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft wurden zunehmend dem Geltungsbereich des Armengesetzes entzogen und Experten zugewiesen, etwa durch gesonderte Maßnahmen wie den „Metropolitan Poor Act“ von 1867, der darauf zielte, effektiver auf die medizinischen und psychologischen Bedürfnisse der Londoner Armen einzugehen, indem er zuerst Krankenhäuser zur Verfügung stellte und später auch Nervenheilanstalten, in denen Spezialisten sich um Fälle kümmerten, die heute als Psychiatriepatienten eingestuft würden. 16 Das Aufblühen der Freiwilligenarbeit, die von Damen des mittleren und gehobenen Bürgertums für sozial benachteiligte Familien und andere bedürftige Gesellschaftsschichten ausgeübt wurde, schuf eine „maternalistische“ öffentliche Sphäre, in welcher Frauen auch außerhalb ihres häuslichen Wirkungsfeldes tätig werden konnten und die gleichzeitig auch Raum für professionelle Sozialarbeit öffnete. Ein Beispiel hierfür ist die Gründung der „Charity Organisation Society“ (COS) im Jahre 1869, die sich das Ziel setzte, willkürliche, doppelte und dadurch möglicherweise unwirksame ehrenamtliche Arbeit und Almosen durch sorgsame „Fallarbeit“ mit einzelnen Familien zu rationalisieren und die Fürsorgetätigkeit zu koordinieren. 17
I. Die Ursprünge des „Poor Man’s Lawyer“ General William Booth, der Gründer der Heilsarmee, war der erste, der den Ausdruck „Poor Man’s Lawyer“ in Verbindung mit jeglicher Form eines organisierten 15 Siehe Friedrich Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Leipzig 1845; Henry Mayhew, London Labour and the London Poor. Oxford 2010; Charles Dickens, Oliver Twist. Harmondsworth 2003. 16 David R. Green, Pauper Capital. London and the Poor Law, 1790–1870. Farnham 2010, 237f. 17 Siehe Jane Lewis, The Voluntary Sector, the State and Social Work in Britain. The Charity Organisation Society/Family Welfare Association since 1869. London 1995; Seth Koven/Sonya Michel, Mothers of a New World. Maternalist Politics and the Origins of Welfare States. London 1993.
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Dienstes gebrauchte. Unter Booth begannen die Soldaten der Heilsarmee in die Straßen britischer Städte und Gemeinden auszuschwärmen, um bei den bedürftigsten Familien oder Einzelpersonen Sozialarbeit zu leisten. 18 Im Jahre 1890 tat sich Booth mit dem linksliberalen Journalisten und Herausgeber W. T. Stead zusammen, um die Schrift „In Darkest England and the Way Out“ herauszubringen. 19 Stead hatte bereits eine Reihe aufsehenerregender Artikel über die miserablen und verwahrlosten Zustände verfasst, in denen viele Menschen aus der Arbeiterschicht damals lebten. Auch „In Darkest England“ hatte in den sozialreformerisch orientierten mittleren und höheren Gesellschaftsschichten eine beachtliche Wirkung. 20 Wie der Titel andeutet, war die Schrift teils ein Enthüllungsbericht über die Lebensbedingungen in den englischen Elendsvierteln, teils eine Anleitung, um diese Bedingungen zu verbessern. Booth glaubte, dass viele der Schwierigkeiten, unter denen die Menschen zu leiden hatten, „nicht materieller, sondern moralischer Natur“ seien. Den Leuten fehle, was er als „spirituelle Familie“ bezeichnete, die ihnen Rat, Sympathie und Unterstützung vermitteln könne. 21 So hieß es in dem Buch: „Während die Angehörigen der wohlhabenden Schichten sich an geschickte und gebildete Freunde wenden können, die ihnen einen bestimmten Weg aufzeigen oder auf das Fachwissen und die Erfahrung des juristischen Berufsstands zurückgreifen können, hat der arme Mann niemand Qualifizierten, der ihm in solchen Angelegenheiten zur Seite stehen könnte. Ist er krank, so kann er sich an den Gemeindearzt oder das Krankenhaus wenden und erhält ein oder zwei Worte Rat. Wenn aber seine Lebensumstände an sich schon krank und kaputt sind und ihn in bitterste Not, zur Poor Law Union oder sogar ins Gefängnis bringen, so hat er niemanden, der über die Bereitschaft oder die Fähigkeiten verfügt, ihm zu helfen.“ 22
Booths Analyse weist auf die Unterschiede zwischen dem Bürgertum und der Arbeiterschaft hin, die durch ihr jeweiliges Berufsleben bedingt waren, insbesondere auf die verschiedenen Arten sozialen Kapitals, auf das sie sich stützen konnten. Der
18
F. K. Prochaska, Booth, William (1829–1912), in: Oxford Dictionary of National Biography. Oxford
2004, https://doi.org/10.1093/ref:odnb/31968. 19
William Booth, In Darkest England and the Way Out. London 1890.
20
Ann M. Woodall, What Price the Poor? William Booth, Karl Marx and the London Residuum. Aldershot
2005, 197. 21
Booth, In Darkest England (wie Anm.19), 255–258.
22
Ebd.259. Um staatliche Unterstützung zu erhalten, mussten sich Bedürftige an die „Poor Law Union“
wenden, die dann über finanzielle Leistungen bzw. über eine Einweisung ins Armenhaus entschied.
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Begriff „soziales Kapital“ wurde erst in den 1980er Jahren von dem Soziologen James Coleman geprägt, doch er beschreibt in ähnlicher Weise die Fähigkeit eines Einzelnen oder einer Gruppe, mit anderen Netzwerke des Vertrauens und gemeinsamer Werte aufzubauen und zu erhalten, die in verschiedensten Situationen das jeweils benötigte Humankapital – Fähigkeiten oder Expertise – liefern können. 23 In den späten 1880er Jahren konnte eine bürgerliche Familie auf unterschiedlichen Wegen einen Anwalt erreichen, um auf dessen Fähigkeiten zurückzugreifen: Vielleicht war ein Familienmitglied selbst Anwalt oder arbeitete mit Anwälten zusammen. Ferner gab es gewachsene Netzwerke, die durch den Besuch von Privatschulen, Universitäten, „Gentlemen’s Clubs“ und zivilgesellschaftlicher Gruppen geknüpft wurden. Eine Arbeiterfamilie hatte hingegen zur gleichen Zeit aller Wahrscheinlichkeit nach keine Verwandtschaftsbeziehungen zu Juristen und begegnete solchen auch nicht bei ihren Freizeitaktivitäten. Es war möglich, dass einige Familienmitglieder für Anwälte oder Kanzleien arbeiteten, etwa als Dienstpersonal im Privathaushalt, als Protokollant oder als Bote. Doch in einer solchen sozialen Stellung bedeutete der tägliche Kontakt mit einem Anwalt angesichts des Gefälles in der gesellschaftlichen Hierarchie und im Sozialprestige, dass es kaum möglich war, dessen professionelle Hilfe zu erbitten – hier bestand kein Netzwerk des Vertrauens und gemeinsamer Werte im Sinne Colemans. Sowohl Booth als auch Coleman haben die Bedeutung der Möglichkeit, Hilfestellungen sozialer Kontakte zu beanspruchen, die über die bloße Kenntnis betreffender Personen hinausgehen, auf ihre jeweilige Art in Worte gefasst. Dabei stand Booth dem Einfluss derer, die aus den mittleren und höheren Schichten stammten und beruflich in Arbeiterviertel reisten, um dort soziale Dienste zu verrichten, skeptisch gegenüber: Das galt für Gemeindepfarrer, den Armenpfleger oder für die verschiedenen Hausbesucher, die alle potentiell als Rechtsberater in Frage kamen. Zum einen hegte er eine starke Abneigung gegen andere soziale Einrichtungen, die er für unfähig hielt, auf die Bedürfnisse der Londoner Armen einzugehen. Vielleicht lag es aber zum anderen auch am Mangel rechtlichen Fachwissens besagter Besucher, die allerdings selbst sehr wohl davon überzeugt waren, über „nützliche“ Kenntnisse für die sogenannten Armen zu verfügen. Obwohl Booth geflissentlich darauf hinwies, wie außerordentlich sinnvoll ein Zugang zu juristi23 James Coleman, Social Capital in the Creation of Human Capital, in: American Journal of Sociology 94, 1988, 95–120 (Anhang).
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schem Fachwissen für die Londoner Arbeiterklasse wäre, hat er seine Idee in diesem Buch nicht weiter entwickelt. Er führte lediglich die Felder der rechtlichen Expertise auf, die ein solcher Dienst bieten könnte. Booth hat keine intensiveren Nachforschungen zu den rechtlichen Bedürfnissen der Londoner Armen angestellt, sondern vielmehr eine Handvoll von Fällen präsentiert, in denen die Heilsarmee oder ihre Anwälte zugunsten einzelner Bedürftiger eingeschritten waren. 24 Nichtsdestotrotz bot die Heilsarmee schon um die Wende zum 20.Jahrhundert ihren eigenen „Poor Man’s Lawyer“ an. 25 Bis in die 1920er Jahre hinein hatte sich diese Einrichtung dahingehend entwickelt, dass die Heilsarmee, anstatt auf in der Freizeit geleistete ProBono-Arbeit zurückzugreifen, eine Anwaltskanzlei bezahlte, um denjenigen eine kostenfreie Rechtsberatung zur Verfügung zu stellen, die darauf angewiesen waren. 26 In den frühen 1890er Jahren war ein junger Anwalt, Frank Tillyard, in das Settlement Mansfield House gezogen und begann abendliche Sitzungen als „Poor Man’s Lawyer“ abzuhalten. Tillyard wurde später Professor für Handelsrecht an der Universität Birmingham, wo er auch für die Ausbildung im Bereich der Sozialarbeit Pionierarbeit leistete. 27 Er war es, der die „Poor Man’s Lawyer“-Bewegung im Netzwerk der Settlement-Häuser etablierte. 28 Die ersten Settlement-Häuser, Toynbee Hall und Oxford House, waren 1884 in den Elendsvierteln von Ostlondon gebaut worden. Ihr Ziel war es, für Männer aus den mittleren und oberen Gesellschaftsschichten eine Institution zu schaffen, die es ihnen ermöglichte, nach ihren Universitätsstudien Sozialarbeit zu leisten. Oft fiel dieser Sozialdienst gerade in die frühen Jahre ihrer Laufbahn: sei es im Rechtswesen, im öffentlichen Dienst, in der Medizin, der Anglikanischen Kirche oder in der Politik. Die Settlement-Häuser boten diesen Männern eine Unterkunft, die denen der Universitäten von Oxford und Cambridge ähnelte: Sie bekamen dort ein Schlafzimmer und vielleicht noch ein kleines Wohnzimmer. Alle
24
Booth, In Darkest England (wie Anm.19), 259–262.
25
Woodall, What Price the Poor (wie Anm.20), 199.
26
Gurney-Champion, Justice and the Poor in England (wie Anm.7), 21.
27
Obituary: Sir Frank Tillyard, in: The Times, 11.7.1961, 12.
28
J. A. R. Pimlott, Toynbee Hall. Fifty Years of Social Reform. London 1935, 116f.; Diana Leat, The Rise and
Role of the Poor Man’s Lawyer, in: British Journal of Law and Society 2, 1976, 166–181; Jon Glasby, Poverty and Opportunity. One Hundred Years of the Birmingham Settlement. Studley 1999, 46; Tamara Goriely, Gratuitous Assistance to the ,Ill-Dressed‘. Debating Civil Legal Aid in England and Wales from 1914–1939, in: International Journal of the Legal Profession 13, 2006, 41–67.
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Mahlzeiten wurden gemeinsam in einem großen Speisesaal eingenommen. Hausdiener hielten die Wohnräume sauber und bereiteten das Essen zu. 29 Die Settlement-Bewegung breitete sich im Laufe der 1880er und 1890er Jahre nicht nur in ganz England aus, sondern auch in Nordamerika und Europa, und vielerorts wurde sie unmittelbar mit der Professionalisierung der Sozialarbeit und -fürsorge in Verbindung gebracht. In Großbritannien hatten sowohl der Architekt des Sozialstaates, William Beveridge, wie auch der Premierminister Clement Attlee, unter dessen Regierung der Sozialstaat eingerichtet wurde, in jungen Jahren in Toynbee Hall gelebt. Verbrachte man eine gewisse Zeit in einem Settlement, war dies oft genug das Sprungbrett für eine öffentliche Laufbahn. Indem Tillyard Pro-Bono-Rechtsarbeit in den Settlements etablierte, verknüpfte er sie mit den allerneuesten sozialen Reformen. Wir wissen nicht, ob Tillyard Booths Buch gelesen hat oder ob er sich für sein eigenes Engagement für die unentgeltliche Rechtsberatung davon inspirieren ließ. Aber es ist zumindest sehr unwahrscheinlich, dass jemand, der im Rahmen der Settlement-Bewegung im Londoner East-End arbeitete, nicht von Booth oder Stead gehört hatte. Ein Einblick in die ehrenamtliche Arbeit Tillyards kann aus den Berichten zum „Poor Man’s Lawyer“ gewonnen werden, die regionale Wochenblätter 1893 abdruckten, als das Projekt fast zwei Jahre alt war. Ein Journalist der „Leeds Times“ erwähnte, dass Tillyard und der andere Anwalt, der sich gleichfalls zur freiwilligen Rechtsberatung gemeldet hatte, jeden Dienstagabend zwischen 25 und 35 Klienten anhörten. Wie Tillyard und sein Kollege den Reporter wissen ließen, betraf der Großteil ihrer Fälle Streitigkeiten zwischen Hausbesitzern und Mietern, gefolgt von häuslicher Gewalt und gescheiterten Ehen und schließlich Arbeitsunfällen und Entschädigungsforderungen. Gerade die Arbeitsunfälle machen deutlich, inwiefern die Zunahme von Industriearbeit mit der Erweiterung des Haftpflichtrechts einherging – oder der zivilrechtlichen Verantwortung, andere nicht zu verletzen oder zu schädigen. 30 Als das 19.Jahrhundert voranschritt, boten Gewerkschaften ihren Mitgliedern in solchen Fällen Rechtsberatung an. Aber diejenigen, die nicht gewerkschaftlich organi29 Siehe Pimlott, Toynbee Hall (wie Anm.28); Asa Briggs/Anne Macartney, Toynbee Hall. The First Hundred Years. London 1984; Lucinda Matthews-Jones, Settling at Home. Gender and Class in the Room Biographies of Toynbee Hall, 1883–1914, in: Victorian Studies 60, 2018, 29–59. 30 Siehe vor allem Michael Lobban/Julia Moses, Introduction, in: dies. (Eds.), The Impact of Ideas on Legal Development. Vol.7: Comparative Studies in the Development of the Law of Torts in Europe. Cambridge 2012, 1–33.
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siert waren – und dies galt für viele Ost-Londoner –, mussten sich andernorts Rat suchen. 31 Andere Fälle betrafen etwa Personen, die glaubten, dass ihnen eine Militärpension zustehe, weil sie oder ihre Ehemänner in der Armee gedient hatten. Eine staatliche Rente wurde in Großbritannien erst 1909 eingeführt, und Militärpersonal fiel nicht unter den „Employers’ Liability Act“ (1880) oder den „Workmen’s Compensation Act“ (1897). Deshalb konnte es einen gewaltigen Unterschied für die finanzielle Lage der Betroffenen ausmachen, wenn sie mit ihren Forderungen Erfolg hatten. Bei solchen Anliegen konnte der „Poor Man’s Lawyer“ klären, ob überhaupt ein Rechtsanspruch bestand, um dann gegebenenfalls mit gezielten Schritten zu helfen, diesen zur Geltung zu bringen. 32 Ob es gelang, Sozialhilfeansprüche durchzusetzen, hing oftmals stark davon ab, welche Kontakte zu Personen existierten, die sich darauf verstanden, durch das Dickicht des juristischen Dschungels hindurchzufinden. Als Tillyard 1891 heiratete, zog er aus Mansfield House aus, bot dort jedoch weiterhin unentgeltlich Rechtsberatung an. 33 Im Jahre 1898 siedelte er mit seiner jungen Familie nach Sheffield um. 34 Dort verband er seine bezahlte juristische Tätigkeit wieder mit freiwilligem Engagement in seiner Freizeit, indem er unter der Schirmherrschaft der neugegründeten „Neighbourhood Guild“ – einer Art Gemeindeorganisation – die Arbeiterklasse von Sheffield in Sozialarbeit einzubinden versuchte. 35 Das Ziel der „Neighbourhood Guild“ war es, es den Ärmsten der Gemeinde zu ermöglichen, eigene Fähigkeiten zu entwickeln, um sich selbst zu helfen – der spätviktorianischen Doktrin der Selbsthilfe folgend. Samuel Smiles, ein schottischer Autor und Sozialreformer, veröffentlichte 1859 ein breit rezipiertes Buch mit dem Titel „SelfHelp“, in welchem er Individuen dazu aufrief, ihre Armut zu lindern, indem sie für sich selbst und ihre Familien durch (formelle wie informelle) Bildung Verantwortung übernahmen, Sparsamkeit lernten und Selbstdisziplin übten. 36 Aus Presseberichten über Tillyards bei Veranstaltungen der „Neighbourhood Guild“ gehaltene
31
Zu Gewerkschaften im Allgemeinen siehe Chris Wrigley, British Trade Unions since 1933. Cambridge
2002; Hugh Clegg, A History of British Trade Unions since 1889. Vol.1. Oxford 1964. 32
A Poor Man’s Lawyer, in: Leeds Times, 25.11.1893, 2.
33
Ancestry.co.uk, 1901 England Census [Online-Datenbank], Klasse RG13, Stück 4372, Folio 160, S. 58.
34
Obituary: Sir Frank Tillyard (wie Anm.27).
35
Ancestry.co.uk, 1901 England Census [Online-Datenbank], Klasse RG13, Stück 4372, Folio 160, S. 58; Mr
Tillyard’s Candidacy, in: Sheffield Daily Telegraph, 27.10.1903, 8; Sidney Pollard, A History of Labour in Sheffield. Liverpool 1959, 195. 36
230
Siehe Samuel Smiles, Self-Help. With Illustrations of Conduct and Perseverance. Ndr. London 1996.
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Reden geht hervor, dass auch er den Selbsthilfegedanken unterstützte. Er argumentierte, dass die Unfähigkeit, sich selbst zu helfen, die beständige Quelle der Probleme sei, denen die Gemeinde in Sheffield gegenüberstand. 37 Tillyard blieb mit seiner Familie zehn Jahre lang in der Stadt, bis er als Juradozent an die Universität Birmingham berufen wurde. Wieder brachte er seine „Poor Man’s Lawyer“-Arbeit mit sich und gründete 1908 eine Rechtsberatungsstelle. 38 Diese Tätigkeit hing mit dem Frauen-Settlement zusammen, das 1899 ins Leben gerufen wurde – ein Jahr vor der Universität selbst. Im Gegensatz zu Mansfield House und anderen Settlements arbeitete dasjenige in Birmingham eng mit der Universität zusammen. 39 Dies wird auch in Tillyards Arbeit an der Universität deutlich. Er koordinierte die im Studiengang zum Sozialwesen vorgesehenen praktischen Arbeitsphasen, wobei er intensiv mit der Vorsteherin des Settlements Cecile Matheson kooperierte, um Studierenden Möglichkeiten zur freiwilligen Arbeit in ihrer Institution zu vermitteln. 40 Der Studiengang war einer der ersten in England, mit dem sich angehende Sozialarbeiter professionell qualifizierten, und legte das Fundament für die Herausbildung der beruflichen Sozialarbeit in Großbritannien. 41 Tillyard half außerdem mit, Lehrbücher zu Rechtsfragen für Sozialarbeiter zu veröffentlichen: Dies war eine andere Art der Selbsthilfe, diesmal für die in der Entstehung begriffene professionelle Sozialfürsorge. Sein Werk „Legal Hints for Social Workers“ war ein erschwingliches Büchlein im Taschenbuchformat, das vier Auflagen erlebte. Es wurde mit der Unterstützung der „National Union of Women Workers“ (später „National Council of Women“) gedruckt, die 1895 gegründet wurde, um Frauen in freiwilliger und bezahlter Sozialarbeit zu unterstützen. 42 Tillyards juristischer Rat für Sozialarbeiter, sei es im Rahmen des Studiengangs an der Universität Birmingham oder durch seine Publikationen, war für die Angehörigen des jungen Berufszweigs zweifellos sehr nützlich.
37 Social Work in Sheffield Slums, in: Sheffield and Rotherham Independent, 2.5.1899, 3. 38 Glasby, Poverty and Opportunity (wie Anm.28), 46f. 39 Ebd.109. 40 Cadbury Research Library, University of Birmingham, UB/COU/1/8, Protokoll des Universitätsrats von Birmingham, 31.1.1912; Joyce Rimmer, Troubles Shared. The Story of a Settlement, 1899–1979. Birmingham 1980. 41 Glasby, Poverty and Opportunity (wie Anm.28), 109–111. 42 James Thayne Covert, Creighton, Louise Hume (1850–1936), in: Oxford Dictionary of National Biography. Oxford 2004, https://doi.org/10.1093/ref:odnb/38640 (Zugriff: 12.9.2018).
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Obwohl das Konzept des „Poor Man’s Lawyer“ ursprünglich von Booth stammte, entwickelte erst Tillyard ein Modell, um einen solchen Dienst effektiv durchzuführen. Dieses baute er in Sheffield und in Birmingham weiter aus. Er war überdies dabei behilflich, einen Rechtslehrgang als Teil der Ausbildung von Sozialarbeitern auszuarbeiten, einem Berufszweig, der sich für eine verbesserte Gesetzgebung einsetzte und deren Umsetzung überwachte. Tillyards Modell des „Poor Man’s Lawyer“ wurde durch seine Freunde in Mansfield House auch auf andere Settlement-Häuser übertragen. So rief etwa Cambridge House in Camberwell 1894 einen ehrenamtlichen Rechtsberatungsdienst ins Leben. Toynbee Hall folgte 1898 in Whitechapel. 43 Im Jahre 1903 gab es allein in London vierzehn abendliche „Poor Man’s Lawyer“-Termine. Elf davon wurden von Settlements und Missionen angeboten, die einen Verband für freiwillige Rechtsberatung etabliert hatten. So konnten sie zusammenarbeiten und gelangten zu einer konsistenten Methode. Ähnliche Beratungsabende gab es in Edinburgh, Glasgow, Manchester, Bristol und in Sheffield, wo Tillyard zu diesem Zeitpunkt lebte. 44 Im Jahre 1911 hatten sich schon vierundzwanzig juristische Beratungsabende für bedürftige Klienten etabliert, von denen immer noch die meisten in Settlement-Häusern und Missionen stattfanden. Neue Anlaufstellen entstanden in Birmingham und Bradford und in Manchester. 45 Auch wenn es noch andere Instanzen gab, die Bedürftigen Rechtsberatung anboten, so waren doch die Settlement-Häuser auf diesem Gebiet vorherrschend.
II. Die Verbreitung der Settlement-Bewegung und der ehrenamtlichen Rechtsberatung für Bedürftige Es ist von einiger Bedeutung, wer seine Dienste als „Poor Man’s Lawyer“ in den Settlement-Häusern anbot. Tillyard ist hier durchaus typisch für die Rechtsberater, die ihr Studium in der Regel entweder in Oxford oder Cambridge abgeschlossen hatten und sich meist im frühesten juristischen Karrierestadium befanden. Besonders
43
Mervyn Jones, Free Legal Advice (wie Anm.10), 14; Cambridge House, Our Story, http://ch1889.org/ab-
out-us/our-story/ (Zugriff: 3.5.2019). 44
Arthur Blott, Legal Dispensaries. An Account of the Poor Man’s Lawyer Movement. London 1903, 15f.
45
Arthur Blott, Legal Dispensaries. An Account of the Poor Man’s Lawyer Movement. 2nd Ed. London
1911, 14–19.
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in der Anwaltschaft war diese ehrenamtliche Arbeit üblich. Settlements boten angenehme, erschwingliche Unterkünfte, die nicht weit von den Anwaltskammern der Londoner City lagen, was wichtig war, weil das Gehalt junger am Gericht tätiger Anwälte sich oft in höchst prekärem Rahmen hielt. 46 Es spielten auch Bequemlichkeit und der Wunsch nach Statuserhalt eine Rolle bei der Entscheidung für diese ehrenamtliche Sozialarbeit: Die Freiwilligen konnten ihre Fähigkeiten einsetzen, mussten aber keine Klassenschranken überschreiten. So musste vielleicht ein Settlement-Bewohner seinen Akzent und sein Verhalten anpassen, um weniger „vornehm“ oder „snobistisch“ zu wirken und somit den Respekt der Jugendlichen und jungen Männer in einem Arbeiterclub zu gewinnen und das Geschehen dort halbwegs unter Kontrolle zu haben. 47 Diese Verbindung mit beruflichem Nutzen schlug sich freilich auch in der Geschlechtsstruktur der Settlements nieder. Obwohl in den 1880er und 1890er Jahren eine große Anzahl von Settlement-Häusern für Frauen gegründet wurde, blieben doch die Rechtsberatungsabende ein Aufgabenfeld der Settlement-Häuser mit männlicher Belegschaft oder solcher Frauen-Settlements, die mit einem Männer-Settlement verbunden waren – wie etwa das Settlement in Canning Town, das mit Mansfield House zusammenhing. Da Frauen bis zur Verabschiedung des „Sex Discrimination (Removal) Act“ 1919 von der Rechtsanwaltschaft ausgeschlossen waren, ist dies nicht überraschend. 48 Ein dramatischer Wandel trat ein, sobald sich die juristischen Berufsfelder für Frauen öffneten. Schon aus den Reihen der ersten Anwältinnen boten einige ehrenamtliche Rechtsberatung für Bedürftige an. Carrie Morrison, die erste zum „Solicitor“ ausgebildete Frau, arbeitete während der 1920er und 1930er Jahre freiwillig als „Poor Man’s Lawyer“ in Toynbee Hall, während sie darum kämpfte, sich gegen die Vorbehalte von Klienten und Kollegen durchzusetzen. 49 In Birmingham war Mary Elizabeth Pickup, eine Freundin Morrisons, neben Familie, Erwerbsarbeit und Freiwilligenarbeit für die Soroptimisten noch als „Poor Man’s Lawyer“ tätig. 50
46 Siehe die Beschreibung von Unterkünften in D. N. Pritt, From Right to Left. The Autobiography of D. N. Pritt. London 1965, 17. 47 Siehe Basil L. Q. Henriques, The Indiscretions of a Warden. London 1937, 24–27. 48 Siehe z.B. Judith Bourne, Helena Normanton and the Opening of the Bar to Women. Hook 2016. 49 Siehe Spark 21, Carrie Morrison, http://first100years.org.uk/carrie-morrison-2/ (veröffentlicht am 8.9.2015). 50 Spark 21, Mary Elizabeth Pickup, http://first100years.org.uk/mary-elizabeth-pickup/ (veröffentlicht am 3.5.2017).
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Gender- und Klassenaspekte – ebenso wie die Beobachtung, dass Settlement-Bewohner und -Personal Vorreiter auf dem Feld der Sozialreform waren – galten, wie sich hier schon andeutete, nicht nur für London, sondern gleichermaßen für die frühesten ehrenamtlichen Rechtsberatungsangebote von Settlement-Häusern in anderen Städten. Das Settlement der Universität von Manchester richtete 1898 einen „Poor Man’s Lawyer“-Service ein und hielt 1909 eine Konferenz für alle vergleichbaren Dienste in Manchester und Salford ab, um sie mit ihren eigenen Praktiken auf eine Linie zu bringen. 51 In anderen Fällen entstand eine lockerere Kooperation, etwa um 1910 im Settlement der Universität von Liverpool, als Charles T. Law-Green seine Ausbildung an der Universität und bei einer örtlichen Kanzlei dazu benutzte, abends eine Rechtsberatungsstunde für Bedürftige anzubieten. 52 Das Settlement der Universität Liverpool wurde von (männlichen) Studenten und Absolventen der Universität Cambridge dominiert: Die Juristen unter ihnen boten gemeinsam mit einigen Anwälten aus der Stadt eine abendliche Rechtsberatung an. 53 In der Zwischenkriegszeit wollte das „Liverpool Victoria-Settlement“, ein Frauen-Settlement, gleichfalls einen „Poor Man’s Lawyer“-Dienst einführen, 1919 vereinigten beide Settlements ihre Rechtsberatungen mit derjenigen der „Liverpool Personal Service Society“. Diese arbeitete auch mit anderen Gemeindevereinigungen zusammen, etwa mit dem „Norris Green Community Centre“, was dem Trend folgte, ehrenamtliche Tätigkeit zu professionalisieren und besser zu koordinieren, wie wir später sehen werden. 54 Die „Law Society“ (der Dachverband der „Solicitors“ in England) versuchte erfolglos, durch eine 1913 einberufene Tagung ein Netzwerk freiwilliger Rechtsberatungen zu etablieren. Allgemein bemühten sich die „Poor Man’s Lawyer“-Gruppen – ob sie nun von Wohnheimen oder anderen Gruppen betrieben wurden –, Regeln und Handlungsmustern zu folgen, die den lokalen Gegebenheiten entsprachen. 55 Ein 51
Mary D. Stocks/Brian Rogers, Fifty Years in Every Street. The Story of the Manchester University Sett-
lement. Manchester 1956, 27; Ross Douglas Waller (Ed.), Harold Pilkington Turner. Memories of His Work and Personality. Manchester 1953, 12f. 52
University of Liverpool Special Collections and Archives, D995, Law-Green, Mr C. T., Fondsbeschrei-
bung: http://sca-arch.liv.ac.uk/ead/search?operation=full&recid=gb141unigradsi-o-d995 (ohne Datum). 53
Austin Robinson, My Apprenticeship as an Economist, in: Michael Szenberg (Ed.), Eminent Economists.
Their Life Philosophies. Cambridge 1993, 205. 54
British Association of Residential Settlements. Report 1935–38, 15; Mervyn Jones, Free Legal Advice
(wie Anm.10), 33. 55
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Robert Egerton, Legal Aid. London 1945, 27f.
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Netzwerk ehrenamtlicher Rechtsberater wurde 1924 geschaffen, nachdem Sir Claud Schuster vom Justizministerium bei der „British Association of Residential Settlements“ (BARS) um Material für das Finlay-Komitee gebeten hatte. Dieses Komitee war in den 1920er Jahren vom Justizministerium eingerichtet worden, um eine Einschätzung vom Zustand und der Zukunft der Rechtshilfe und -beratung vorzunehmen. 56 Die BARS stellte eine Unterkommission auf, deren Aufgabe darin bestand, die Rechtsanwaltstätigkeit auszuwerten. 57 Es gab bereits ein Regierungskomitee, das rechtlichen Beistand in Kriminal- und Zivilrechtsfällen evaluierte (die von dem Richter Alfred Lawrence verfassten Lawrence-Reports von 1919 und 1925). Ein weiteres Komitee wurde 1924 von dem Richter Robert Finlay ins Leben gerufen und brachte die zwei Finlay-Berichte 1926 und 1928 hervor. 58 Das zivilrechtliche Interesse beider Ausschüsse richtete sich jedoch eher darauf, wie der Anstieg von Scheidungsanträgen aus den ärmeren Bevölkerungsschichten mithilfe der dafür vorgesehenen „Poor Persons’ Procedure“ zu bewältigen sei, als darauf, wie rechtliche Beratung als Sozialhilfe für Bedürftige fungieren könnte. 59 Der Völkerbund untersuchte ebenfalls Rechtshilfe und -beistand in verschiedenen Mitgliedsländern, um festzustellen, inwiefern juristische Angelegenheiten und Rechte ernst genommen wurden. Norwegen, Schweden und Dänemark verfügten über ausgebaute, staatlich geförderte Rechtsberatungsbüros, während es in verschiedenen US-amerikanischen Bundesstaaten ein Netzwerk von Rechtsberatungsgesellschaften gab. In England existierte trotz der Bemühungen und des Enthusiasmus der „Poor Man’s Lawyer“ nichts Vergleichbares. 60 Aus der Initiative der BARS ging ein Netzwerk hervor, in dem Informationen über die Aktivitäten seiner Mitglieder gesammelt wurden, das nachträglich als Reaktion
56 Das „Lord Chancellor’s Department“ wurde 1885 ins Leben gerufen, um die Arbeit des Lordkanzlers zu unterstützen. Der Lordkanzler ist einer der „Great Officers“ der Krone, die dafür verantwortlich sind, dass die Gerichte effizient und unabhängig funktionieren; siehe Diana Woodhouse, The Office of the Lord Chancellor. Oxford 2003. 57 Katharine Bentley Beauman, Women and the Settlement Movement. London 1996, 196. 58 House of Commons Parliamentary Papers, Committee to Enquire into the Poor Persons Rules (First Lawrence) Cmd. 430. London 1919; Poor Persons’ Rules Committee (Second Lawrence) Cmd. 2358. London 1925; Committee on Legal Aid for the Poor – First Report. (First Finlay) Cmd. 2638. London 1926; Committee on Legal Aid for the Poor – Final Report (Second Finlay) Cmd. 2016. London 1928. 59 Siehe Goriely, Gratuitous Assistance (wie Anm.28). 60 Arthur K. Kuhn, International Regulation of Legal Assistance for the Poor, in: The American Journal of International Law 19, 1924, 359–361; League of Nations, Legal Aid for the Poor. Genf 1927.
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auf das wachsende nationale und internationale Interesse an Rechtsberatung entstand. Die Initiative offenbart gleichzeitig die Selbstsicht als führende Organisation auf diesem Feld. Das Netzwerk war hingegen nicht aus den alltäglichen Verbindungen und Arbeitsweisen der Settlements heraus entstanden. Dieser fehlende Zusammenhalt spiegelte zum Teil auch den lokalen Zuschnitt der ehrenamtlichen Rechtsberatung wider – worauf ich noch zurückkommen werde. So rief das freiwillige Rechtsberatungsbüro in London 1929 das Bentham-Komitee als Clearingstelle für Rechtshilfefälle in der Hauptstadt ins Leben. Dieses bot finanzielle Unterstützung an, damit hinreichend rechtlich begründete Fälle vor ein Gericht gelangen konnten. Weil es hierfür Richtwerte gab, bildete sich in den 55 Mitgliedsorganisationen ein einheitliches Vorgehen aus. 61 Während das BARS-Netzwerk nachträglich entstand, trug es dennoch in einem Schlüsselprojekt Früchte. Der ehemalige Bewohner von Toynbee Hall und „Poor Man’s Lawyer“ R. H. Turton wurde 1929 als konservatives Parlamentsmitglied für Thirsk und Malton gewählt. Er nutzte seine neue Stellung im Parlament, um die Lage derer zu verbessern, die in Kriminalfällen rechtlichen Beistandes bedurften. Unterstützt von allen Parteien gab es in den späteren 1920er Jahren mehrere Vorstöße, die Gesetzgebung in Kriminalfällen zu überdenken, und Turton gelang es, den richtigen Moment zu finden, um sein Anliegen zum Erfolg zu bringen. In der Folge wurde das Gesetz zur Verteidigung straffälliger Personen (1930) erlassen, das es Strafgerichten erlaubte, denjenigen, denen die finanziellen Mittel dafür fehlten, Rechtsbeistand zukommen zu lassen. 62 Wenn Turton dieses Gesetz auch nicht als Teil einer zusammenhängenden Settlement-Kampagne durchsetzte, wurde sein Erfolg doch von seinen Settlement-Freunden und -Kollegen begrüßt, die es als Ergebnis ihrer gemeinsamen Anstrengungen ansahen. 63 Sicher ist, dass zumindest Ernest Shilston Watkins dadurch auch zu eigenen Bemühungen ermutigt wurde. Watkins wohnte zur gleichen Zeit wie Turton in Toynbee Hall und meldete sich wie dieser zur ehrenamtlichen Rechtsberatung. Er verließ das Settlement 1926, kehrte aber 1931 zurück. 64 Im Jahr 1922 hatte er sein Jurastudium an der Universität 61
Mervyn Jones, Free Legal Advice (wie Anm.10), 13; House of Commons Parliamentary Papers, Report
of the Committee on Legal Aid and Advice in England and Wales, Cmd. 6641. London 1945, 15. 62
Patrick Cosgrave, Obituary: Lord Tranmire, in: The Independent, 21.1.1994, http://www.indepen-
dent.co.uk/news/people/obituary-lord-tranmire-1408252.html; Pimlott, Toynbee Hall (wie Anm.28), 247.
236
63
Ebd.246; Mervyn Jones, Free Legal Advice (wie Anm.10), 4.
64
Pimlot, Toynbee Hall (wie Anm.28), 295.
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Liverpool abgeschlossen und arbeitete von 1926 bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in London als Anwalt. 65 Während seines zweiten Aufenthalts im Wohnheim fasste die BARS auf ihrer jährlichen Tagung 1932 einen Beschluss, um die Probleme des Kreditkaufs zu lösen. 66 Wohnheime mit ehrenamtlicher Rechtsberatung und ähnlichen Diensten hatten festgestellt, dass sich Streitfälle mit verschiedenen Formen von Kreditkäufen mehrten. 67 Der Historikerin Melanie Tebbutt zufolge nahm der Kreditkauf zwischen 1918 und 1938 um das Zwanzigfache zu und die Finanzierung größerer Einkäufe lief zu zwei Dritteln über ihn. 68 Kreditkauf war keine neue, aber eine immer beliebtere Methode, mit der Arbeiterfamilien ihre Anschaffungen zahlen konnten – und damit wuchs auch die Zahl an Streitfällen. 69 Während sich diese Entwicklung vollzog, untersuchten Watkins und der Direktor von Toynbee Hall, J. J. Mallon, Gutscheintauschgeschäfte. Der Bericht, den sie der Handelskammer vorlegten, konzentrierte sich auf Geschenkgutscheine und Rabattmarken. 70 Ellen Wilkinson, Abgeordnete für Jarrow, wurde durch einen örtlichen Anwalt auf die Probleme von Ratenkäufen bei ihren Wählern hingewiesen. Watkins, Mallon und Wilkinson arbeiteten in dieser Sache zusammen. Mallon und Wilkinson hatten sich schon vor dem Ersten Weltkrieg angefreundet, als sie Kampagnen gegen die Hungerlöhne der „sweated labour“ organisierten. 71 Watkins entwarf eine Gesetzesvorlage zum Kreditkauf, die er, Wilkinson und G. P. Woods zunächst bei einer Zusammenkunft der „Haldane Society of Socialist Lawyers“ am 15.November 1937 diskutieren ließen, bevor sie im Folgejahr vom Unter- und Oberhaus des Parlaments bewilligt wurde. 72 Das Gesetz zum Kreditkauf 1938 legte fest, dass Leihverträge die Bedingungen der Anleihe klar ausführen mussten und dass diese Bedingungen nicht abgeändert werden konnten, ohne den Kreditnehmer vorher in Kenntnis zu setzen; und es verbot Kreditgebern, die Häuser ihrer Klienten zu betreten, um de-
65 Austin A. Mardon/Ernest G. Mardon, Alberta Anglican Politicians, 1883–1999. Edmonton 2013, 169. 66 British Association of Residential Settlements. Report 1935–1938. London 1938, 7. 67 Barnett Research Centre at Toynbee Hall, TOY/SPE/1, Annual Report 1935–38. Alle Dokumente von Toynbee Hall sind seitdem in die London Metropolitan Archives verlagert worden. Der neue Katalog für diesen Teil des Bestandes war zum Erscheinen dieses Artikels noch nicht verfügbar. 68 Melanie Tebbutt, Making Ends Meet. Pawnbroking and Working-Class Credit. Leicester 1983, 193. 69 Paul Johnson, Saving and Spending. The Working Class Economy in Britain, 1870–1939. Oxford 1985, 157. 70 Pimlott, Toynbee Hall (wie Anm.28), 240. 71 Betty Vernon, Ellen Wilkinson. A Biography. London 1982, 149. 72 Haldane Society. Annual Report for the Year 1937–38. London 1938.
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ren Eigentum zu konfiszieren. 73 Für diejenigen, die in Settlements ehrenamtliche Rechtsberatung anboten, war dies eine bedeutende Errungenschaft, die ihnen half, sich für ihre Klienten einzusetzen. Die Settlements waren nicht die einzigen Institutionen, die sich der Rechtsberatung verschrieben. Der „London Council of Social Service“ beziehungsweise die „National Councils of Social Service“ (LCSS/NCSS) waren ebenfalls um die Rechte der arbeitenden Schichten besorgt. Beide waren als Dachorganisationen etabliert worden, um die gemeinsamen Interessen verschiedener wohltätiger und gemeinnütziger Organisationen zu repräsentieren. Dies taten sie einerseits durch die Koordination freiwilliger Arbeit auf regionaler Ebene, indem sie verschiedene wohltätige Organisationen dazu brachten, zu bestimmten Themen Kampagnen zu starten oder auf Herausforderungen einzugehen (etwa auf die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren), andererseits durch Lobbyarbeit im Parlament und bei anderen Entscheidungsträgern. 74 Es gab deutliche Überschneidungen im Personal der Settlement-Häuser und dem LCSS und den NCSS. So begann der Gründer des LCSS, Thomas Hancock Nunn, mit seiner Sozialarbeit in Toynbee Hall. Die Über-
schneidungen lagen nicht zuletzt daran, dass die Settlements selbst diesen Dachverbänden angehörten. 75 Sowohl die NCSS als auch der LCSS sammelten Daten zur ehrenamtlichen Rechtsberatung ihrer Mitgliedsorganisationen, welche sie dem Finlay-Komitee vorlegten, und zwei Repräsentanten des LCSS sowie drei der NCSS stellten sich für Interviews bereit. 76 Überdies gab es diejenigen Bemühungen, die man im weiteren Sinne als religiöse Philanthropie bezeichnen könnte. Die „Conference on Christian Politics, Economics and Citizenship“ war Ausdruck des Wunsches innerhalb der verschiedenen christlichen Kirchen, den Auswirkungen von Industrialisierung, Urbanisierung und Konsum zu begegnen. Die Konferenz fand erstmals 1924 in Birmingham statt. 77 Frede73
Siehe Kreditkaufgesetz 1938. Dieses Gesetz wurde um das Kreditkaufgesetz von 1964 erweitert, das
hier eingesehen werden kann: http://www.legislation.gov.uk/ukpga/1964/53/body/enacted. 74
Siehe Margaret Brasnett, Voluntary Social Action. A History of the National Council of Social Service,
1919–1969. London 1969. Derzeit ist eine neue Geschichte des Nationalrats für ehrenamtliche Organisationen (der Nachfolger des NCSS) von Justin Davis Smith in Arbeit. 75
Siehe Justin Davis Smith, Nunn, Thomas Hancock (1859–1937), in: Oxford Dictionary of National Bio-
graphy. Oxford 2004, https://doi.org/10.1093/ref:odnb/69001 (Zugriff: 12.9.2018). 76
Committee on Legal Aid for the Poor, Cmd. 3016. London 1928, 14–19.
77
COPEC, The Social Function of the Church: Being the Report Presented to the Conference on Christian
Politics, Economics and Citizenship at Birmingham, April 5–12, 1924. London 1924, v; siehe auch Matthew
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rick Gurney-Champion wurde damit beauftragt, den Zustand von freiwilliger Rechtsberatung und Armenhilfe als Bestandteil der Arbeit der „Conference on Christian Politics, Economics and Citizenship“ und anderer Gruppen einschließlich der Settlements und der „Councils of Social Service“ zu erforschen. Er sollte die Regierung auffordern, sich angesichts des Lawrence- sowie des Finlay-Komitees der Ärmsten anzunehmen. 78 In dem Buch, das seine Analyseergebnisse präsentierte, legte er dar, dass in den frühen 1920er Jahren „in England und Wales der Großteil der ehrenamtlichen Rechtsberatung für Arme indirekt von den Religionsgemeinschaften“ angeboten wurde. 79 Er hatte als Anwalt für das methodistische BermondseySettlement in Südostlondon gearbeitet, das 1892 vom Pastor John Scott Lidgett gegründet worden war. Gurney-Champion untermauerte seine Behauptung nicht mit konkreten Zahlen, aber er führte impressionistisch einzelne Gemeinden und Missionen an, die oftmals nur kurzzeitig ehrenamtliche Beratungsabende organisierten; er erwähnte zudem die Arbeit der Heilsarmee und eine unbenannte römisch-katholische wohltätige Rechtsorganisation. 80 Aller Wahrscheinlichkeit nach bezog er sich hierbei auf die „Society of Our Lady of Good Counsel“, die einige katholische Anwälte im April 1926 ins Leben gerufen hatten, um ihren Glaubensgenossen Unterstützung und Beratung oder auch Beistand gegenüber der Polizei- und Bezirksgerichtsbarkeit zukommen zu lassen. 81 Gurney-Champions fehlende Genauigkeit zum Ausmaß religiöser Rechtsberatung spiegelt zum Teil ein Spektrum von Rechtsberatungsprogrammen wider, die, nachdem sie aufgebaut worden waren, aber aus dem einen oder anderen Grund wieder eingestellt werden mussten. 82 Deswegen kann man weder den Umfang dieser Beratungsangebote genau umreißen, noch die Überschneidungspunkte mit anderen Organisationen – etwa den Settlements, die oft eng mit einer bestimmten Kirchengemeinschaft verbunden waren. Hier gab es viele Bereiche, in denen die verschiedenen Organisationen, ob religiös oder säkular, zusammenarbeiteten.
Grimley, Citizenship, Community, and the Church of England. Liberal Anglican Theories of the State between the Wars. Oxford 2004, 40f. 78 Legal Justice and the Poor: A Movement for Reform, in: United Methodist, 25.12.1924, 639. 79 Gurney-Champion, Justice and the Poor in England (wie Anm.7), 22. 80 Ebd.19. 81 The Society of Our Lady of Good Counsel, in: The Tablet, 25.3.1961, 20; Mervyn Jones, Free Legal Advice (wie Anm.10), 23. 82 Gurney-Champion, Justice and the Poor in England (wie Anm.7), 19.
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Die Informationen zu freiwilliger Rechtsberatung und ähnlicher Arbeit, die von den Verbänden der NCSS und des LCSS geleistet wurde, sind im Anhang zum zweiten Bericht des Finlay-Komitees aufgeführt. Das Komitee sollte den Zustand und die Zukunft von Rechtshilfe und -beratung in den späten 1920er Jahren untersuchen. Die NCSS berichteten von zehn Dienstleistern außerhalb Londons, die sich ausdrücklich als ehrenamtliche Rechtsberatungsstellen bezeichneten, nämlich in Sheffield, Birmingham, Leicester, Manchester, Halifax, Liverpool (einschließlich Birkenhead und Wallasey), Chesterfield, Bristol, Leeds und Brighton. Die Büros in Sheffield und Birmingham waren, wie oben beschrieben, ursprünglich von Frank Tillyard ins Leben gerufen worden. In Halifax und Chesterfield setzte sich die örtliche Verwaltung jeweils bei der „Poor Law Union“ und in einem Sonderkomitee der „Chesterfield Corporation“ durch. 83 Regionale Rechtsverbände führten die Arbeit in Brighton und Leicester durch, zu einem geringeren Ausmaß auch in Birmingham, Liverpool und Bristol. 84 In Sheffield und Liverpool kam der entscheidende Impuls vom LCSS. In Leeds und Bristol leiteten die Settlement-Häuser diese Aktivitäten. Die
„Poor Man’s Lawyer Association“ in Manchester und Salford war im Grunde ein breiter Zusammenschluss, der in den Städten unter der Ägide der Settlement-Häuser stand, aber auch mit dem dortigen CSS kooperierte. Außerhalb der Hauptstadt herrschte auf dem Gebiet der Rechtsberatung nicht eine spezielle Gruppe vor. Vielmehr gab es vollkommen unterschiedliche Varianten, die sich einerseits aus den jeweiligen Traditionen des freiwilligen Engagements, andererseits aus der industriellen und wirtschaftlichen Entwicklung der einzelnen Städte und Gemeinden ergaben. Ehrenamtliche Anwälte gab es in den großen Industriestädten und -gemeinden der Midlands, des Nordwestens und Yorkshires, wo einerseits beachtliche Teile der Bevölkerung auf engem Raum zusammenlebten und sich andererseits einige der größten neugegründeten Universitäten befanden, sowie außerdem im Süden Englands in Bristol und Brighton. Bristol stach dabei lediglich aufgrund seiner geographischen Lage hervor, wies sonst aber dieselben Eigenschaften auf wie Städte der anderen genannten Regionen. Brighton, das als Badeort an der Südküste zunächst überraschen mag, erlebte, als es seit dem 18.Jahrhundert zu einem modischen Kurort
83
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84
Lokale „Law Societies“ sind eine regionale Version der „National Law Society“ Englands. Meist bieten
sie Unterstützung, Ausbildung und Netzwerke für Anwälte und andere professionelle Juristen in der Gegend.
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avancierte, ein starkes Wachstum und eine wirtschaftliche Diversifizierung. 85 Darüber hinaus gab es gute Bahnverbindungen von Brighton nach London und somit auch zum Zentrum des juristischen Berufswesens. Die vom LCSS gesammelten Daten zeichnen das Bild einer sehr lebendigen ehrenamtlichen Rechtsberatungsszene in London. Es sind 38 Organisationen aufgeführt, von denen alle außer vier mit dem LCSS zusammenarbeiteten. Ferner sind acht Anbieter verzeichnet, die von der konservativen Partei unterstützt wurden, sowie sechs liberale und dreizehn Labour-Anhänger. 86 Wie ein Zeuge das Finlay-Komitee wissen ließ, wurden diese Dienste oftmals von den Kandidaten für den Gemeinderat, dem Londoner Stadtrat oder Parlamentsmitgliedern angeboten, die über die nötige juristische Fachausbildung verfügten und somit den Wählern nützlich sein konnten – und sich vielleicht ihre Stimme erhofften. Ein Beispiel hierfür war Harry Nathan, ein Anwalt vor dem niederen Gericht, der bei der Parlamentswahl 1924 als Liberaler erfolglos für Whitechapel kandidierte. Im Jahr 1929 wurde er in einem Nachbarbezirk gewählt. 87 Von den 38 ehrenamtlichen Rechtsberatungsgruppen wurden 22 von den Settlements und Missionen geleitet, fünf von „Councils of Social Welfare or Service“, zwei von Toc H (einer christlichen Bewegung für Sozialarbeit, die während des Ersten Weltkriegs entstand), vier weitere von Dienstleistern aus dem Erziehungswesen – nämlich von Schulen, einem Zentrum für Erwachsenenbildung und einer öffentlichen Bibliothek – und zwei weitere von gemeinnützigen Wohnungsbauorganisationen. Hinzu kamen Dienste der damals neugegründeten „Society of Our Lady of Good Counsel“, der Heilsarmee und der Zentrale der „British Legion“. 88 In London gab es eine Vielzahl von Anbietern, doch die Szene wurde stark von der SettlementBewegung beherrscht: Die gemeinnützigen Wohnbauorganisationen, die „Councils of Social Welfare“ und Toc H gehörten allesamt zu deren erweitertem Netzwerk. Die Londoner Settlements waren die Zusammenarbeit zu einem gewissen Grad gewohnt, nachdem sie ein paar Jahre früher ihren eigenen Settlement-Verband gegründet hatten. Durch Thomas Hancock Nunn waren sie darüber hinaus mit dem 85 Kenneth Fines, A History of Brighton and Hove. Bognor Regis 2002. 86 Committee on Legal Aid for the Poor, Cmd. 3016. London 1928, 14–19. 87 National Archives, LCO 2/987, Brief E. A. Berthen an Sir Claud Schuster, 1.7.1925; A. L. Goodhart/Mark Curthoys, Nathan, Harry Louis, first Baron Nathan (1889–1963), in: Oxford Dictionary of National Biography. Oxford 2004, https://doi.org/10.1093/ref:odnb/35188 (Zugriff: 12.9.2018). 88 Siehe Legal Help for Poor Persons: A New Society Constituted, in: The Times, 27.4.1927, 10.
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LCSS und durch Lionel Ellis den NCSS verbunden. Beide Männer hatten eine Zeit-
lang in Toynbee Hall gelebt. 89 Auch in Manchester gab es eine, wenn auch deutlich kleinere Version eines solchen Verbundes von Settlements und anderen Dienstleistern. London verfügte über das größte Reservoir an Anwälten, doch anstatt von ihrem beruflichen Netzwerk wurde die Pro-Bono-Arbeit vielmehr von der SettlementBewegung getragen. Bei den hohen Lebenskosten in der Hauptstadt mag es wenig überraschen, dass man während der juristischen Ausbildung seine günstige, aber angenehme Unterkunft mit Beratung vergalt. Und während die Anwälte in ihrer Freizeit fachkundige Hilfe anboten, lag die Verwaltung der ehrenamtlichen Beratung fest in der Hand der Wohltätigkeitsorganisationen und Kirchen.
III. Die späten 1930er Jahre Ehrenamtliche Rechtsberatung expandierte im Laufe der 1930er noch weiter. Mervyn Jones, ein Juradozent in Trinity Hall, Cambridge, veröffentlichte 1940 einen Bericht über unentgeltliche Rechtsberatung in England und Wales. Der Vorstand des Cambridge House, der damals landesweit größten Dienststelle für freiwillige Rechtsberatung, hatte ihn mit den Forschungen beauftragt. 90 Jones’ Ziel bestand darin, alle wichtigen kostenlosen Rechtsberatungsdienste auszuwerten. Dienste, die von politischen Parteien betrieben wurden, schloss er jedoch von seiner Studie ebenso aus wie rechtliche Dienste anderer „Approved Societies“ und der Gewerkschaften. Sogenannte „Unfallopferagenturen“ („Ambulance Chasing Agencies“) – ausbeuterische Rechtsfirmen, die mit dem Ziel, größtmöglichen Gewinn herauszuholen, in Krankenhäusern Unfallopfer zu überreden versuchten, Klagen wegen Unfall und Verletzung anzustrengen – nahm er zwar zur Kenntnis, berücksichtigte sie aber für seine Studie nicht weiter. Jones’ Informationen stammten vom Bentham-Komitee, den NCSS und dem LCSS, der „Charity Organisation Society“ und der „British Association of Residential Settlements“. 91 In seiner Studie stellte Jones deren Arbeit als die Arbeit eines zusammenhängenden professionellen oder wirtschaftlichen Sektors dar, nicht als das ziemlich disparate Gemisch verschiedener Dienstleister, das es
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Beauman, Women and the Settlement Movement (wie Anm.57).
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Mervyn Jones, Free Legal Advice (wie Anm.10).
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tatsächlich war. Dies zeigt abermals, wie die NCSS, BARS und andere inzwischen an Bedeutung gewonnen hatten. Zwölf Jahre nach dem zweiten Finlay-Bericht zählte Jones ca. 125 ehrenamtliche Beratungsstellen, von denen sich 55 in London befanden. Ungefähr 60 Beratungsbüros waren in diesen zwölf Jahren aufgebaut worden, die Mehrheit davon außerhalb Londons. In der Zeit zwischen diesen beiden Berichten hatte es eine Reihe wichtiger Entwicklungen gegeben, von denen die erste das Wachstum der NCSS darstellte. Obwohl diese 1919 gegründet worden waren, dauerte es fast zehn Jahre, bis ihre Arbeit ihre volle Wirkung entfaltete. Während der späten 1920er und 1930er standen die NCSS aufgrund der Weltwirtschaftskrise vor verschiedenen Herausforderungen, zu
denen auch ländliche Armut und der Umzug von Bewohnern der Innenstadt in die neuen Wohnsiedlungen der Vororte zählten. Obwohl diese neuen Siedlungen, etwa Becontree, Kleinbürgern und Arbeitern zeitgemäß ausgestattete Wohnungen boten, wurden sie ohne diejenigen Folgeeinrichtungen erbaut, die für das Wachsen einer lebendigen und offenen Gemeinde nötig waren. 92 Von den 70 ehrenamtlichen Rechtsberatungsstellen für Bedürftige außerhalb Londons wurden 47 von „Councils of Social Welfare or Service“ oder ähnlichen Organisationen geleitet – ein Anzeichen dafür, wie die Arbeit der NCSS Gemeindeorganisationen aufbaute und diese Dienstleistungen auf nationaler Ebene koordinierte. Zehn weitere wurden von Gemeindeverbänden in den neuen Siedlungen geleitet, etwa die „Watling-Association“ in Edgware und die „Norris Green Community“ in Liverpool, was wiederum auf die Rolle hindeutet, die die NCSS dabei spielten, Rechtsberatung zugänglich zu machen. Dies griff der in Erwartung des Kriegsausbruchs 1939 vorgenommenen Einrichtung von Bürgerberatungsstellen vor, für welche die NCSS ebenfalls bekannt wurden. Diese Bürgerberatungsstellen wurden von Freiwilligen betrieben und boten der Bevölkerung Rat bei allen möglichen Alltagsproblemen, etwa beim Bezug rationierter Güter oder bei Urlaubsanträgen im Militärdienst, führten jedoch keine Rechtsberatung durch. 93 Außerdem stellte das Netzwerk der Settlement-Bewegung ein Forum, in dem Rechtsfragen besprochen und Maßnahmen beschlossen werden konnten, etwa, wie oben ausgeführt, zum Kreditgeschäft.
92 Brasnett, Voluntary Social Action (wie Anm.74), 59–67. 93 Siehe Oliver Blaiklock, Advising the Citizen. Citizens Advice Bureaux, Voluntarism and the Welfare State in England, 1938–1964. Diss. Phil. Kings College London 2012; Jean Richards, Inform, Advise and Support. 50 Years of the Citizens Advice Bureau. Cambridge 1989.
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Doch so sehr sich diese Netzwerke auch anstrengten, ihre Dienstleistungen zu koordinieren und kostenfreie Rechtsberatungsmöglichkeiten auszuweiten, blieben diese doch ungleich verteilt. In Wales gab es ein etwas größeres Angebot als in Schottland und Nordirland, wo nur Glasgow und Belfast über ehrenamtliche Rechtsberatungsstellen für Bedürftige verfügten. 94 England war keineswegs vollständig abgedeckt. Viele große Städte besaßen überhaupt keine ehrenamtliche Rechtsberatungsstelle. Blackburn, Exeter, Hereford, Huddersfield, King’s Lynn, Norwich, Wigan und Wolverhampton verfügten zwar über ein sogenanntes „Poor Persons Procedures“-Komitee, das sich mit Scheidungen befasste, aber es gab keine Hilfe in anderen zivilrechtlichen Bereichen, wie sie ein „Poor Man’s Lawyer“ oder etwaige ad hoc-Regelungen des örtlichen CSS hätten anbieten können. 95 Die Versorgung hing mit der Bevölkerungsdichte zusammen, mit einer Vielzahl von Angeboten um Liverpool und Manchester im Nordwesten, wie auch in Leeds und den umliegenden Ortschaften in der Region West Riding. Bristol, Newcastle und das Tees-Gebiet waren ebenfalls verhältnismäßig gut abgedeckt. Die hohe Konzentration an Büros, die sich in den 1920ern herausgebildet hatten, dehnten sich in die benachbarten Gebiete hinein aus. Teilweise lag dies am Wachstum einer juristischen Gesellschaft, eines Settlements oder CSS-Netzwerks. Für viele Menschen in England, Wales und Schottland war dennoch eine Reise in die nächste Stadt oder sogar in die nächste Grafschaft notwendig. Von der geographischen Lage einmal abgesehen war in weiterer wichtiger Faktor die Möglichkeit des „Poor Man’s Lawyer“, seine Mandanten zu empfangen. Wie die Untersuchung von Jones zeigte, waren die meisten ehrenamtlichen Rechtsberatungsstellen an einem Abend in der Woche geöffnet, einige nur zweimal im Monat. Allein die Gilde der Sozialfürsorge in Wimbledon hatte täglich von 10 bis 12 Uhr geöffnet. 96 Entsprechend war der Andrang an potenziellen Mandanten, der zu diesen Sprechzeiten herrschte. In Toynbee Hall gab es 1938 1600 Klienten. Falls die jeweils von vier bis fünf Anwälten besetzte Sprechstunde tatsächlich das ganze Jahr über durchgehend stattfand, hieße das, dass wöchentlich 30 Klienten zu betreuen waren, sofern diese tatsächlich nur ein einziges Mal kamen. Jones’ Statistik gibt keine Auskunft darüber, wie viele Menschen im Laufe des Jahres wiederkehrten – in komple-
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Mervyn Jones, Free Legal Advice (wie Anm.10), 75–80.
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xeren Fällen war dies aber notwendig. Seit 1936 gab es in Cambridge House durchschnittlich 3000 Klienten pro Jahr, die jeweils am Donnerstagabend zwischen 18.30 und 21.00 Uhr vorsprechen konnten. Daraus ergibt sich ein Mittelwert von 57 Mandanten in zweieinhalb Stunden. 97 Wie erfolgreich diese freiwillige Rechtsberatung tatsächlich war, lässt sich schwer ermitteln. Wurden Akten angelegt, bleiben sie der Forschung aufgrund von Archivsperrfristen noch auf Jahrzehnte verschlossen. Viele ehrenamtliche Rechtsberater hielten aber auch keine schriftlichen Notizen fest und berieten eher im Gespräch als durch Korrespondenz. 98 Ob es den Freiwilligen gelang, Probleme zu lösen oder nicht – ihre Hilfe war sehr gefragt. Um die Nachfrage bewältigen zu können, unterließen einige Büros es absichtlich, für ihre Dienste zu werben. Die Stelle in Toynbee Hall zeichnete Informationen zu ihren Klienten auf und ließ Jones wissen, dass diese ohne weiteres aus dem Londoner Umland bis in das im Zentrum der Stadt gelegene Settlement reisten. 99 Dies zeigt den Mangel an unentgeltlicher Rechtsberatung außerhalb Londons. Es spielte aber auch Mundpropaganda eine Rolle, weil oft Kollegen und Familienmitglieder diese Dienste empfahlen. Die regelmäßige Anwesenheit der jeweiligen Anwälte kann ebenso wenig gemessen werden wie ihr Engagement bei der Arbeit. Gurney-Champion schilderte 1926 seinen Eindruck von einem Beratungsabend: „Zuerst kam der Anwalt jede Woche pünktlich ins Büro, sehr motiviert, und das sechs Monate lang. Dann jedoch begann er, wegen seiner geschäftlichen Verpflichtungen, zu spät zu kommen. Er kam nurmehr unregelmäßig und erschien zu einigen Terminen überhaupt nicht, weil Frau und Kind krank oder allein waren. Schließlich gab er es ganz auf und schickte stattdessen seinen Sekretär. Dieser erschien zunächst mit großem Engagement, durchlief aber allmählich dieselbe Desillusionierung wie sein Brotgeber. Wenn dieses Stadium erreicht wurde, wurde die Beratungsstunde ganz aufgegeben.“ 100
Es gab beträchtliche Nachfrage nach Anwaltsdiensten, die nach einem langen (bezahlten) Arbeitstag abgeleistet wurden, aber keine Infrastruktur, durch die sie unterstützt wurden, sei es durch einen Schichtplan, um die Arbeit gleichmäßig in-
97 Ebd.18. 98 London Metropolitan Archives, ACC/2486/230, Toynbee Hall, Legal Advice Centre, Papers relating to various cases (bis 2052 gesperrt). 99 Mervyn Jones, Free Legal Advice (wie Anm.10), 18. 100 Gurney-Champion, Justice and the Poor in England (wie Anm.7), 19.
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nerhalb einer Gruppe von Juristen aufzuteilen, sei es durch einen eigenen Sekretär für die ehrenamtliche Rechtsberatung oder eigens dafür geschaffene passende Büroräume in der jeweiligen Organisation. Gurney-Champion erwähnt den Anwalt eines Settlements, der sechsmal im Jahr sein improvisiertes Büro wechseln musste. Dadurch geriet seine Arbeit durcheinander und seine Klienten konnten ihn nicht finden. 101 All diese Umstände brachten beachtliche Herausforderungen mit sich, selbst bei höchster Motivation.
IV. Fazit In den 1890er Jahren war der „Poor Man’s Lawyer“ nicht viel mehr als eine von dem Gründer der Heilsarmee, General Booth, skizzierte Idee, die in den Settlements, wo junge Anwälte Wege suchten, um ihre Fähigkeiten in den Dienst ihrer Nachbarn zu stellen, Zugkraft zu gewinnen begann. Gegen Ende der 1930er Jahre galt Rechtsberatung zunehmend als Teil des Werkzeugarsenals der Arbeiterklasse im Netzwerk freiwilliger und bezahlter Sozialarbeit, die in der Grauzone zwischen Staat und Wohltätigkeit geleistet wurde. Jones begann seine Studie mit folgender Bemerkung: „Es kann gesagt werden, dass das moderne, staatlich geförderte Bildungssystem im Vergleich zu früher arme Leute in größerem Maße für ihre Rechte sensibilisiert beziehungsweise ihre Bereitschaft gesteigert hat, diese auch durchzusetzen […]. Solche Einrichtungen wie die Poor Persons Procedure und Poor Man’s Lawyer sind nun so sehr Teil des Sozialfürsorgewesens in diesem Land, dass sie in ihrer gegenwärtigen Form für die Gesellschaft unentbehrlich sind. Tatsächlich hat der Staat so viel von der alltäglichen Arbeit, die früher freiwillige Sozialarbeiter durchführen mussten, übernommen, dass oft gesagt wird, der Poor Man’s Lawyer stelle den wertvollsten Teil der heutigen Sozialfürsorge dar.“ 102
Wir wissen nicht, ob Jones mit seiner Annahme Recht hatte, dass Menschen mehr vom Gesetz und von ihren Rechten verstanden als dies vor den späten 1930er Jahren der Fall gewesen ist. Jedenfalls wuchs der Bedarf an zuverlässiger Rechtsberatung, je mehr Wohlfahrtsaufgaben vom Staat geleistet oder durch Gesetze geregelt
101 Ebd. 102 Mervyn Jones, Free Legal Advice (wie Anm.10), 9.
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wurden. Der „Legal Aid and Advice Act“ von 1949 wurde am Ende des Jahrzehnts, in dem Jones seinen Bericht verfasste, erlassen. Anstatt den „Poor Man’s Lawyer“ in eine Art nationalen Rechtsdienst umzuwandeln – was die „Haldane Society of Socialist Lawyers“ 1942 gefordert hatte – erstattete jenes Gesetz den Anwälten für ihre Rechtshilfe ein Honorar. 103 Wie Tamara Goriely darlegt, ist das fehlende Interesse an einem nationalen Rechtsdienst auf die Annahme zurückzuführen, ein wohltätiger Sozialstaat würde ganz selbstverständlich die Rechte des Individuums wahren und keine Probleme schaffen, sondern nur lösen. 104 Sicherlich waren die Kosten einer umfassenden Gesundheitsfürsorge enorm: vom täglichen Krankenhausbetrieb bis hin zur Erforschung neuester Technologien. Wie der „Poor Man’s Lawyer“ demonstriert, war Zeit der wichtigste Kostenfaktor bei der Rechtsberatung, welche in jedem freien Zimmer eines Settlements oder einer Kirche erfolgen konnte. Es war um ein Vielfaches leichter, die Gesundheitsfürsorge der Nation zu vermarkten, als die Öffentlichkeit von der Notwendigkeit eines Rechtsberatungsdienstes zu überzeugen. Der „Poor Man’s Lawyer“ war keine soziale Bewegung an sich. Es gab niemals einen nationalen Verband der dafür bereitstehenden Anwälte; die Zielvorgaben der verschiedenen Dienste wurden nicht koordiniert, es bestand keine landesweite Organisation, wie es für wohltätige Organisationen oder Verbände zu diesem Zeitpunkt üblich war: etwa in Form von Konferenzen, Zentral- oder Zweigstellen, Zeitschriften und Rundbriefen, Spendenkampagnen oder dergleichen. Stattdessen fanden sich regionale Verbände und Kooperationen, bei denen das Engagement der Mitglieder schwankte. Das Konzept des „Poor Man’s Lawyer“ wurde indes als eine wichtige und wertvolle Tätigkeit angesehen und von anderen sozialen Bewegungen und Institutionen aufgenommen, von den Settlements und religiösen Verbänden ebenso wie von Juristenverbänden und „Councils of Social Service“. Es nahm an ihrem Wachstum im professionellen oder wirtschaftlichen Sektor teil und an ihrer zunehmenden Fähigkeit, Lösungsvorschläge für soziale Probleme auszuarbeiten. Wie der Erfolg des Kreditkaufgesetzes von 1938 unterstreicht, verfügten diese Reformnetzwerke über ausreichend Macht, um Gesetze durch das Parlament zu bringen. Für diejenigen, die gerade eine juristische Ausbildung absolvierten oder diese schon hinter sich hatten, bot sich durch diese ehrenamtliche Tätigkeit die Möglichkeit, in 103 Siehe Haldane Society, The Law and Reconstruction. London 1942. 104 Goriely, Making the Welfare State Work (wie Anm.5), 95–97.
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einer ausgewählten Institution Sozialarbeit zu leisten. Besonders die Settlements förderten diese Art der am Abend durchgeführten freiwilligen Beratungsarbeit. Die verhältnismäßig günstige und angenehme Unterkunft, welche ein Settlement im Gegenzug für ehrenamtliche Nebentätigkeiten anbot, konnte einem jungen Mann während der Ausbildung oder in den frühen Jahren seiner Laufbahn helfen, sich über Wasser zu halten. Durch den „Sex Discrimination (Removal) Act“ wurden 1919 die Einschränkungen, die Frauen vom Universitätsstudium und von der Anwaltschaft ausschlossen, abgeschafft. Mit der freiwilligen Beratungstätigkeit konnten Frauen für ihre juristische Laufbahn einen Fuß in die Tür bekommen. 105 Des Weiteren illustrierten die „Poor Man’s Lawyer“-Aktivitäten die in den Kreisen der Sozialreformer und der Kirchen starke Überzeugung, dass das Recht die Sache der arbeitenden Schichten sein sollte und dass die Inangriffnahme rechtlicher Belange für die Lösung vieler sozialer Probleme eine zentrale Rolle spielen könnte.
105 Siehe Anne Logan, In Search of Equal Citizenship. The Campaign for Women Magistrates in England and Wales, 1910–1939, in: Women’s History Review 16, 2007, 501–518; Anne Logan, Feminism and Criminal Justice. A Historical Perspective. Basingstoke 2008.
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Traditionen der Freiwilligkeit im Transformationsregime Das Beispiel der Freiwilligen Feuerwehr von Ana Kladnik und Thomas Lindenberger
I. Einleitung: Freiwilligkeit zwischen Diktatur und Demokratie Der freiwillige unbezahlte Einsatz zum Wohl der Allgemeinheit gilt üblicherweise als ein Wesenselement offener Gesellschaften. Freiwilligkeit und Ehrenamt 1 breiteten sich zusammen mit dem Aufstieg der Nationalstaaten und ihrer Bürgergesellschaften aus. Dabei definierten und ermöglichten die vom modernen Verfassungsund Verwaltungsstaat vorgegebenen bzw. diesem abgerungenen rechtlichen Rahmungen eine große Anzahl von Handlungsräumen und sachlichen Zuständigkeiten. Seit Generationen nutzen Bürger und Bürgerinnen aller Schichten und unterschiedlicher sozialer Herkunft nach eigenem Gutdünken diese Möglichkeiten. Gemeinnütziges Vereinswesen und liberale Staatlichkeit scheinen daher untrennbar verbunden und ermöglichen gemeinsam jene Sphäre zwischen Individuen und Obrigkeit, die wir mittlerweile auch in der Alltagssprache als „Zivilgesellschaft“ zu bezeichnen uns angewöhnt haben. 2 Doch was geschah und geschieht mit Freiwilligkeit in modernen Diktaturen? Waren etwa die unbezahlten, massenhaft dem Wohl der „Volksgemeinschaft“ im NS-Staat geleisteten „Dienste“ eine Fortführung der bürgerschaftlichen Freiwillig-
keitstraditionen unter veränderten Rahmenbedingungen oder deren auf Zwangs-
1 Im Folgenden werden „Freiwilligkeit“ und „Ehrenamt“ als Synonyme für „freiwillige“ oder „ehrenamtliche“, das heißt unbezahlte gemeinwohlorientierte Aktivitäten im Sinne des englischen „volunteering“ verwandt. Siehe den internationalen Überblick in: Paul Dekker/Loek Halman (Eds.), The Values of Volunteering. Cross-Cultural Perspectives. New York 2003. 2 Siehe den Überblick bei Dieter Gosewinkel, Zivilgesellschaft, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hrsg. v. Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz 2010; http://ieg-ego.eu/de/threads/transnationalebewegungen-und-organisationen/zivilgesellschaft/dieter-gosewinkel-zivilgesellschaft (letzter Zugriff 25.7.2018).
HTTPS :// DOI . ORG / 10.1515/9783110627442-010
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mitgliedschaften und Exklusion beruhende Perversion? 3 Auch für die kommunistischen Diktaturen ließe sich fragen: Stellten die von jedem Bürger erwarteten „gesellschaftlichen Aktivitäten“ tatsächlich Freiwilligkeit dar oder waren sie nicht vielmehr aufgenötigte Kollaboration, deren konsequente Vermeidung mit erheblichen individuellen Nachteilen verbunden war? Nach offiziellem Verständnis des SED-Regimes beruhten die aufwändig inszenierten „Masseninitiativen“ von Arbei-
tern, Bauern, Jugendlichen und Frauen auf Freiwilligkeit und verkörperten die enge Verbindung der Parteiavantgarde zur Bevölkerung. Das sollte auch abseits von Feierlichkeiten für den sozialistischen Alltag gelten, der von einem dichtmaschigen Netz von Ehrenämtern und Freiwilligendiensten durchzogen war. Für die DDR konnte in einem ersten Überblick 4 und anhand vereinzelter Tiefenbohrungen 5 die große Vielfalt und Alltagsrelevanz, aber auch innere Widersprüchlichkeit dieser staatssozialistisch gerahmten Freiwilligkeit aufgezeigt werden. Einerseits verdankte sich die Existenz des staatssozialistischen „Freiwilligensektors“ fraglos einem Bündel parteiamtlich-zentralistischer Gebote und Anweisungen und nicht der in den Verfassungen verbürgten „Freiheit“, sich freiwillig zu engagieren. 6 Andererseits fand in diesem einseitig verfügten Rahmen vieles von dem statt,
3 In einschlägigen Forschungen dominiert die Feststellung eines politisch induzierten Bruchs in der Tradition des auf ehrenamtlichem Engagement gegründeten Wohlfahrtswesens durch Gleichschaltung und Organisationsverbote bei gleichzeitiger Umwandlung der Freiwilligendienste für Jugendliche und junge Erwachsene in Pflichtdienste; siehe den Überblick bei Gisela Notz, „Freiwilligendienste“ für alle. Von der ehrenamtlichen Tätigkeit zur Prekarisierung der „freiwilligen“ Arbeit. Neu-Ulm 2012, 45–47. Nicole Kramer hebt ebenso wie Notz die geschlechtsspezifische Bedeutung des Ehrenamts für die Einbeziehung von Frauen in die nationalsozialistische Mobilisierung für den totalen Krieg hervor, siehe Nicole Kramer, Haushalt, Betrieb, Ehrenamt. Zu den verschiedenen Dimensionen der Frauenarbeit im Dritten Reich, in: Marc Buggeln/Michael Wildt (Hrsg.), Arbeit im Nationalsozialismus. München/Oldenburg 2014, 33–51. – Im Brandschutzwesen verwandelte sich nach dem Ausschluss von Juden und politischen Gegnern, nach organisatorischer Zentralisierung, Militarisierung und der direkten Unterstellung unter die Polizei das Ehrenamt im Verein in eine Variante des staatlichen Pflichtdienstes; siehe Tobias Engelsing, Im Verein mit dem Feuer. Die Sozialgeschichte der Freiwilligen Feuerwehr von 1830 bis 1950. Konstanz 1999, 124–158. 4 Thomas Lindenberger, The Fragmented Society. „Societal Activism“ and Authority in GDR State Socialism, in: Zeitgeschichte 37, 2010, 3–20. 5 Jan Palmowski, Die Erfindung der sozialistischen Nation. Heimat und Politik im DDR-Alltag. Berlin 2016. 6 Siehe zeitgenössisch Dietrich Brendel, Ehrenamtliche Arbeit – wie organisieren? Berlin 1977; ferner Eckhard Priller/Gunnar Winkler, Struktur und Entwicklung des bürgerschaftlichen Engagements in Ostdeutschland, in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“: Partizipation und Engagement in Ostdeutschland. Opladen 2002, 17–144.
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was auch in offenen Gesellschaften selbstverständlich ehrenamtlich geleistet wird: von Natur- und Umweltschutz und Bewahrung des Kulturerbes über Betreuung von Hilfsbedürftigen und Solidaritätsaktionen für die „Dritte Welt“ bis hin zu Katastrophenhilfe und Brandschutz. Es gibt wenig Grund daran zu zweifeln, dass für die in diesen Bereichen unter kommunistischer Oberaufsicht Engagierten der freiwillige Einsatz unbeschadet der Erwartungen der staatssozialistischen Obrigkeit mit ähnlichen Gratifikationen verknüpft sein konnte wie in einer liberalen Gesellschaft: das Gefühl etwas Nützliches für die Mitmenschen zu tun, Selbstverwirklichung und Teilhabe an Geselligkeit. Der entscheidende Unterschied zur Demokratie bestand weniger in der fortbestehenden Unverzichtbarkeit und daher auch staatlichen Förderung ihrer herkömmlichen Tätigkeitsfelder als in der massiven Ausweitung der Freiwilligkeit in den Bereich der staatlichen Exekutiv- und Gewaltorgane hinein: In Arbeitermilizen, Helfergruppen und im berüchtigten Spitzelwesen unterstützten zum Beispiel hunderttausende DDR-Bürger Armee, Polizei und Geheimdienst bei der Aufrechterhaltung der Staatssicherheit und der Bekämpfung ihrer eingebildeten und tatsächlichen Gegner. Von der Partei gelenkt setzten sich diese Staatsorgane im Zweifelsfall über geltendes Recht bedenkenlos hinweg, verstießen gegen die von der DDR unterzeichneten internationalen Menschenrechtskonventionen und unterlagen keiner effektiven Kontrolle durch unabhängige Gerichte. Ob und in welchem Ausmaß davon auch ihre Helferstrukturen affiziert waren, richtete sich nach der politischen Brisanz der jeweiligen sachlichen Zuständigkeit. 7 In einem zweiten Schritt ist zu fragen: Wie erging es diesen im Staatssozialismus teils von unten beibehaltenen, teils von oben geforderten und geförderten Strukturen und Praktiken der Freiwilligkeit, als innerhalb weniger Jahre die Parteidiktatur erodierte, die sowjetische Hegemonie abgeschüttelt wurde und die Bürger den Aufbruch in Richtung demokratischer Gemeinwesen und kapitalistischer Privatwirtschaften nach westlichem Vorbild wagten? Welche Institutionen und Netzwerke überlebten diese umfassende Transformation, gestalteten sie gar mit, welche gingen sang- und klanglos mit den anciens régimes unter oder aber gelangten zu neuer, an vorkommunistische Zeiten anknüpfender Blüte? Wir werden uns bei einem ersten Versuch, die Wechselwirkung zwischen tradi-
7 Siehe etwa Thomas Lindenberger, Vaters kleine Helfer: Die Volkspolizei und ihre enge Verbindung zur Bevölkerung 1952–1965, in: Gerhard Fürmetz/Herbert Reinke/Klaus Weinhauer (Hrsg.), Nachkriegspolizei. Sicherheit und Ordnung in Ost- und Westdeutschland 1945–1969. Hamburg 2001, 229–253.
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tionellen Institutionen der Freiwilligkeit und Systemtransformation zu untersuchen, auf einen Aspekt konzentrieren, der in historischen Betrachtungen zur Freiwilligkeit und Ehrenamt bislang eher am Rande behandelt wird: dem Problem der Finanzierung. Die Freiwilligkeit gemeinnütziger Betätigung erwies sich im herkömmlichen Selbstverständnis nicht nur im „Ehrenamt“, also der unentgeltlich geleisteten Arbeit, sondern zugleich in der Eigenfinanzierung ihrer sachlichen Voraussetzungen. Heutzutage wird diese Tätigkeit des „Fundraising“ häufig professionellen Dienstleistern innerhalb oder außerhalb der gemeinnützigen Organisationen anvertraut, früher hingegen überwog auch hier das in ehrenamtlicher Arbeit durchgeführte Einwerben von Spenden und Erwirtschaften von Gewinnen bei Wohltätigkeitsveranstaltungen, die je nach Gegenstand des freiwilligen Engagements aus staatlichen Mitteln ergänzt wurden. Darin liegt zweifellos die Nähe zur Wohltätigkeit der solventen Kreise der Gesellschaft vor allem im 19.Jahrhundert begründet. Deren bürgerliche Exklusivität wurde jedoch bereits im frühen 20.Jahrhundert durch die steigende Kaufkraft der Unterschichten stark relativiert, so dass Bauern, Arbeiter, kleine Angestellte und Handwerker bald ebenso selbstverständlich im großen Stil Ehrenamt und Freiwilligkeit ermöglichen konnten wie Adelige und Bürger. Auf die altehrwürdige Institution der Freiwilligen Feuerwehr trifft diese Entwicklung in klassischer Weise zu. Ihre rasche Ausbreitung im 19.Jahrhundert verdankte sich dem Engagement lokaler Bürgereliten, bezog aber immer auch untere Gesellschaftskreise ein. Unter kommunistischer Herrschaft gehörten sie zu jenen Organisationen, die das Herkommen aus der modernen Bürgergesellschaft mit der unmittelbaren Einbindung in den Exekutivapparat der Staatsgewalt verbanden. Auch für diese Einrichtung galt wie für Freiwilligkeit im Staatssozialismus folgende Prämisse: Trotz der durch Gebote und Verbote eingeschränkten Betätigungsmöglichkeiten und der faktischen Wahlpflicht zur Freiwilligkeit beruhte das Mitmachen auch auf individuellen Präferenzen und sozialen Faktoren im alltäglichen Nahbereich, über die der Parteistaat nicht selbstherrlich verfügen konnte. Daher gilt für die Erforschung ihrer Strukturen und Praktiken die Ausgangsvermutung, dass Freiwilligkeit im Staatssozialismus als nicht mehr oder weniger „authentisch“ anzusehen ist als in westlichen Demokratien, und dies umso mehr, wenn es sich um eine gegenüber Systemwechseln nach außen hin gleichgültige Institution handelt wie die Freiwillige Feuerwehr.
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Zwei Eigenschaften sicherten ihr das Überleben als Institution des ehrenamtlichen Dienstes für die Allgemeinheit: Die Unverzichtbarkeit einer flächendeckenden Brandschutz- und Brandbekämpfungsinfrastruktur in einer räumlich und sektoral hochdifferenzierten Volkswirtschaft und ihre Verwurzelung in lokalen Gemeinschaften fernab der Machtzentren, also in kleinen Städten und Dörfern. Dort war und ist nur diese auf Freiwilligkeit beruhende Organisationsform in der Lage, Brandschutz und Brandbekämpfung kostengünstig zu sichern 8, und das gilt unabhängig von politischen Systemen, so unterschiedlich und gegensätzlich diese auch sein mögen. Ebenso unabhängig davon wirken die sozialen Logiken, die Freiwillige Feuerwehren seit jeher in die Lage versetzen, weit über ihren nominellen Zweck hinausgehend zum Gemeinwohl beizutragen: Sie reproduzieren soziales Kapital (im Putnam’schen Sinne) 9, das nachbarschaftlichen Solidarbeziehungen zugute kommt und zur politisch-kulturellen Gemeinschaftsbildung vor Ort beiträgt, und sie stellen dank dem ständigen regionalen und überregionalen Austausch mit anderen Feuerwehren eine Verbindung zur großen weiten Welt her. Die Entwicklung von Freiwilligen Feuerwehren in diesem Zeitraum zu verfolgen, ermöglicht einen mikrohistorischen Blick auf den Systemübergang im kleinstädtischen und ländlichen Raum, also fernab der Bezirks- und nationalen Hauptstädte, in denen die Bedingungen dieses Übergangs ausgehandelt worden waren. Dank der seit Ende des 19.Jahrhunderts in Zentraleuropa gegebenen übernationalen Verbreitung des „Kulturmusters“ Freiwillige Feuerwehr eignen sie sich darüber hinaus als Ausgangspunkt für vergleichende Untersuchungen, die auf Fallstudien im deutschsprachigen Raum (Deutschland, Österreich, Schweiz) sowie in Staaten bzw. Regionen, die zur Habsburgermonarchie gehört hatten, beruhen. Wir werden uns im Folgenden anhand der jugoslawischen Teilrepublik Slowenien auf die Probleme konzentrieren, die der Systemwechsel für die althergebrachte Praxis der Eigenfinanzierung für die zahlreichen Freiwilligen Feuerwehren mit sich brachte. Traditionsgemäß hatten sie den größeren Teil ihrer Mittel selbst erwirtschaftet und nur den kleineren aus öffentlichen Haushalten erhalten. Nur so war bei
8 Erst ab einer Größe von ca. 50000 Einwohnern lohnt sich die Aufstellung einer Berufsfeuerwehr, womit in Großstädten die lokale Monopolstellung der Freiwilligen Feuerwehren fortfällt, auch wenn sie dort ebenfalls als Ergänzung der Berufsfeuerwehren bestehen. 9 Robert D. Putnam (Hrsg.), Gesellschaft und Gemeinsinn. Sozialkapital im internationalen Vergleich. Gütersloh 2001.
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einem ausreichenden Bestand an aktiven und gut ausgebildeten Mitgliedern ihre kontinuierliche Einsatzfähigkeit gewährleistet. Der sprichwörtliche Feuerwehrball war und ist das populärste Veranstaltungsformat, um bei den Mitbürgern und Mitbürgerinnen im großen Stil Geld „lockerzumachen“. Der später zum Hollywood-Starregisseur aufgestiegene Miloš Forman hat diesem aus der mitteleuropäischen Provinz nicht wegzudenkenden Volksfestgenre 1967 mit seiner Komödie „Der Feuerwehrball“ ein filmisches Denkmal gesetzt. 10 In einer böhmischen Kleinstadt versucht der Vorstand der Freiwilligen Feuerwehr das Festprogramm des jährlichen Balls durch allerlei Attraktionen, unter anderem eine Tombola und eine Misswahl aufzuwerten. Noch während der hektischen Kandidatinnensichtung im Hinterzimmer des Festlokals beginnt im überfüllten Saal bereits der Ball: Dichtgedrängt tanzen dutzende Paare zu den Klängen einer Tanzmusikkapelle, die aktuelle Standardtänze ebenso wie domestizierte Beatles-Nummern im Programm hat. Der mit gut einhundert Preisen überladene Tombolatisch am Rand der Tanzfläche wird gleich zu Beginn der Erzählung als neuralgischer Punkt des Unternehmens eingeführt: Ein Feuerwehrmann und seine Frau, die zur Bewachung des Tisches abgestellt sind, haben große Mühe, im allgemeinen Gedränge zu verhindern, dass nach und nach Preise verschwinden. Derweil gerät die Misswahl zur Farce, da die ausgesuchten Dorfschönheiten in letzter Minute ihre Mitwirkung verweigern und auf offener Bühne davonlaufen. Mitten im daraus entstehenden Chaos wird Feueralarm gegeben: Das Häuschen eines alleinstehenden älteren Mannes brennt vor den Augen der Festgesellschaft nieder, ohne dass die Feuerwehr, deren Löschwagen im Schnee steckenbleibt, etwas dagegen ausrichten kann. Nach der Rückkehr in den Festsaal soll dem armen Opfer zum Trost wenigsten die Gesamtheit aller Tombolapreise feierlich übereignet werden – alle spenden ihre Gewinnlose. Doch die sind längst wertlos, da der Tombolatisch mittlerweile komplett leergeräumt ist. Selbst eine für den langjährigen Ehrenpräsidenten der Freiwilligen Feuerwehr als Geschenk bereitgehaltene Zieraxt ist aus dem am Ende des Balls (und des Films) feierlich überreichten Futteral gestohlen worden. Doch der Beschenkte lässt sich nichts anmerken, alle können ihr Gesicht wahren, das Leben kann weitergehen. 11
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„Der Feuerwehrball“ (Anuschka – es brennt mein Schatz; Hoří, má panenko), Tschechoslowakei/Ita-
lien 1967, Regie: Miloš Forman. 11
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Siehe auch eine Synopse auf der offiziellen Milos-Forman-Seite: https://milosforman.com/de/movies/
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Formans bissige und zugleich liebevolle Satire richtet sich ganz offensichtlich gegen die engstirnigen politischen und kulturellen Verhältnisse in der sozialistischen Gesellschaft der sechziger Jahre, gegen ihre endemische Misswirtschaft und Kultur der organisierten Verantwortungslosigkeit, lebt aber zugleich vom ethnographischen Gespür für die seit Generationen überlieferten Rituale und Handlungsmuster, die dieser im Grenzgebiet zwischen staatlicher Hoheitsfunktion und lokaler Geselligkeit angesiedelten Einrichtung eigen waren und noch immer sind. 12 Dazu gehörte ganz wesentlich die Finanzierung aus selbst erwirtschafteten Mitteln, und dies unabhängig von den herrschaftspolitischen und nationalstaatlichen Rahmenbedingungen, unter denen die örtliche Feuerwehr ihre Mitbürger zu finanziellen Zuwendungen motivieren musste. Die Eigenfinanzierung war wesensmäßiger Bestandteil und Existenzbedingung der Freiwilligen Feuerwehr. Das galt und gilt auch für die Freiwilligen Feuerwehren in Slowenien. Die besonderen Umstände ihrer Finanzierung während der sozialistischen Zeit und deren Reorganisation nach der Demokratisierung und Loslösung des Landes von Jugoslawien zeigen gleichermaßen, wie institutionalisierte Freiwilligkeit unter den Bedingungen des jugoslawischen Selbstverwaltungssozialismus zu funktionieren hatte und was die Umstellung auf eine den Erfordernissen der kapitalistischen Marktwirtschaft genügende Finanzverwaltung den freiwilligen Funktionären abverlangte. Dazu werden wir zunächst die Eigentümlichkeit des „sanften“ slowenischen Wegs vom Staatssozialismus und der Einparteienherrschaft zu Marktwirtschaft und parlamentarischer Demokratie (II.) sowie das System der jugoslawischen Selbstverwaltung in der kommunalen Verwaltung (III.), in das die Freiwilligen Feuerwehren eingebunden waren (IV.), skizzieren. Die umfassende Verwaltungsreform und die Einführung einer effizienten Steuerverwaltung während der neunziger Jahre stellten die slowenischen Feuerwehren schließlich vor völlig neue Herausforderungen (V.).
the-firemens-ball; ferner Anna Batistová (Ed.), Hoří, má panenko. Barevná komedie, v níž se tancuje, krade a hasí. Národní filmový archiv. Prag 2012. 12 Der Film stieß auf ein positives Echo bei der Kritik, lief 1968 bei den Filmfestspielen von Cannes, wurde nach dem Ende des Prager Frühlings verboten, lief dann erfolgreich im Westen und wurde 1969 für den Oscar für den besten fremdsprachigen Film nominiert; siehe https://www.imdb.com/title/tt0061781/ (letzter Zugriff 25.7.2018).
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II. Der sanfte slowenische Weg Die Geschichtsschreibung über die postsozialistische Transformation in Slowenien konzentriert sich auf die Auflösung Jugoslawiens und die Unabhängigkeit Sloweniens, den Übergang vom Einparteiensystem zur Demokratie und von der sozialistisch gelenkten Markt-Planwirtschaft zur kapitalistischen Marktwirtschaft. 13 Diese Prozesse – so die überwiegende Meinung der Autoren – sind erfolgreich absolviert worden. Dazu habe neben dem hohen Grad an ethnischer Homogenität und dem Wohlstand des Landes eine bereits in den achtziger Jahren einsetzende Politik des dezidiert behutsamen Wandels beigetragen. Früh ging der Bund der Kommunisten (bis 1952 die Kommunistische Partei) Sloweniens zu einem pluralistischen System über, praktizierte den Dialog mit der slowenischen Opposition und ebnete den Weg zu einer demokratisch legitimierten Regierung, und dies vor dem Hintergrund der seit den achtziger Jahren in Slowenien aufblühenden neuen sozialen und kulturellen Bewegungen (Pazifisten, Umweltaktivisten, Punks, Lesben- und Schwulenbewegung). Zugleich machte das Land einen pragmatischen wirtschaftlichen Wandel durch, der bis Mitte der achtziger Jahre den Abschluss der Industrialisierung Sloweniens brachte. Die Modernisierung der Wirtschaftsstruktur verwandelte die Teilrepublik in eine Export- und Einwanderungsregion, die dazu beitrug, die Arbeitslosigkeit im übrigen Jugoslawien zu begrenzen. Diese Entwicklung erlaubte die Einführung moderner Managementmethoden, getragen von einer neuen jungen Generation von Betriebsdirektoren und deren Unternehmen. Exportorientierte Großunternehmen mit einer diversifizierten Produktpalette fungierten als Katalysatoren der Einzelsektoren. Slowenien unterhielt eine finanzstarke Entwicklungsbank, beschloss ein ehrgeiziges Konzept der langfristigen Wirtschaftsentwicklung, integrierte seine Forschungskapazitäten in die Produktionssphäre, baute seine internationalen wissenschaftlichen Beziehungen aus und perfektionierte sein Bildungssystem. 14
13
Božo Repe, Jutri je nov dan: Slovenci in razpad Jugoslavije. Ljubljana 2002; Aleš Gabrič (Ed.), Slovenska
pot iz enopartijskega v demokratični sistem. Ljubljana 2010; Jure Gašparič/Mojca Šorn (Ed.), Četrt stoletja Republike Slovenije – izzivi, dileme, pričakovanja. Ljubljana 2016; Aleksander Lorenčič/Željko Oset (Eds.), Regionalni vidiki tranzicije. Ljubljana 2016. 14
Padraic Kenney, A Carnival of Revolution. Central Europe 1989. Princeton/Oxford 2002; Sabrina P. Ra-
met, The Three Yugoslavias. State-Building and Legitimation, 1918–2005. Washington, DC/Indianapolis 2006; Bogomil Ferfila/Paul Phillips, Slovenia’s Transition: From Medieval Roots to the European Union. Ply-
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Sowohl an der politischen Spitze wie insbesondere in der Wirtschaftspolitik war das Transformationsregime in Slowenien eher von einem Mit- und Nebeneinander alter und neuer Kräfte als von Konfrontation und Polarisierung geprägt. 15 Bis 2004 wechselten sich Mitte-Rechts- und Mitte-Links-Regierungen mehrmals ab 16, derweil ein Staatspräsident amtierte, der früher Vorsitzender der Kommunistischen Partei Sloweniens gewesen war. 17 Einheimische Ökonomen mit internationaler Erfahrung setzten darauf, den bereits vor dem politischen Wechsel begonnenen Übergang zur Marktwirtschaft schrittweise fortzusetzen 18, während die Regierung sich gleichzeitig von amerikanischen Vertretern der „Schocktherapie“ beraten ließ. 19 Letztlich setzte sich die vom Vizepräsidenten und Wirtschaftsprofessor an der Universität Ljubljana Jože Mencinger verfolgte Linie durch, wonach sich Slowenien aufgrund der vorhandenen Strukturen von Selbstverwaltung und sozialem Engagement einen schrittweisen Umbau erlauben konnte, der dezentrale Entscheidungsfindungen auf dem vor dem Übergang erreichten materiellen Entwicklungsniveau ermöglichte. 20
mouth 2010; Aleksander Lorenčič, Prelom s starim in začetek novega. Tranzicija slovenskega gospodarstva iz socializma v kapitalizem (1990–2004). Ljubljana 2012; Jože Prinčič, Pot do slovenske narodnogospodarske suverenosti 1945–1991. Ljubljana 2013; Božo Repe/Darja Kerec, Slovenija, moja dežela. Družbena revolucija v osemdesetih letih. Ljubljana 2017. 15 Zum Begriff des „Transformationsregimes“ siehe Melanie Tatur/Andrzej Bukowski, Transformation Regimes and Legal Frameworks for Local and Regional Development Policy in Poland and Hungary, in: Melanie Tatur (Ed.), The Making of Regions in Post-Socialist Europe. The Impact of Culture, Economic Structure, and Institutions. Case Studies from Poland, Hungary, Romania and Ukraine. Wiesbaden 2004, Vol.1, 49–77. 16 Mitte-Rechts-Regierung: Mai 1990 – Mai 1992 und Juni – November 2000; Mitte-Links-Regierung: Mai 1992 – Juni 2000 und November 2000 – Dezember 2004. 17 Die neueste Literatur zu den achtziger Jahren und systemischen Veränderungen in Jugoslawien/Slowenien: Florian Bieber/Armina Galijaš/Rory Archer (Eds.), Debating the End of Yugoslavia. Abingdon/New York 2016; Repe/Kerec, Slovenija, moja dežela (wie Anm.14); Ljubica Spaskovska, The Last Yugoslav Generation. The Rethinking of Youth Politics and Cultures in Late Socialism. Manchester 2017. 18 Johanna Bockman, Markets in the Name of Socialism. The Left-Wing Origins of Neoliberalism. Stanford 2011, 197f. 19 Lorenčič, Prelom s starim in začetek novega (wie Anm.14), 196; Prinčič, Pot do slovenske narodnogospodarske suverenosti 1945–1991 (wie Anm.14), 333–342. 20 Lorenčič, Prelom s starim in začetek novega (wie Anm.14), 24, 30; Herman W. Hoen, The Transformation of Economic Systems in Central Europe. Studies in Comparative Economic Systems. Northampton 1998.
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Bei den Freiwilligen Feuerwehren kam die postsozialistische Transformation an, als sie mit der Abschaffung der sozialistischen Selbstverwaltung das System ihrer Finanzierung ändern mussten. Als Teil der jugoslawischen Föderation hatte auch in der Teilrepublik Slowenien in den Bereichen Politik, Wirtschaft und Recht ein umfassendes System der Selbstverwaltung geherrscht, das auf Dezentralisierung und gesellschaftlichem Eigentum beruhte. 21 Die Prinzipien der zunächst in Industrieunternehmen praktizierten Arbeiterselbstverwaltung wurden seit den sechziger Jahren, aber besonders nach der Annahme der Verfassung von 1974, auf soziale und politische Bereiche wie Bildungs-, Gesundheits- und Kultureinrichtungen sowie vor allem auch auf die öffentliche Verwaltung und politische Organisationen ausgedehnt. 22 Die nach der Unabhängigkeit Sloweniens 1991 einsetzende umfassende Reorganisation der Kommunen führte hingegen zur Stärkung des Zentralstaats. Der Verwaltungsreform auf lokaler Ebene maßen die zuständigen Politiker große Bedeutung für den Aufbau der neuen unabhängigen Republik Slowenien bei. 23 Die postsozialistischen Reformen stellten das System der kommunalen Verwaltungen auf eine völlig neue Grundlage. Aus 62 Kommunen der sozialistischen Zeit wurden 1995 147 und 1998 193 neugebildete Einheiten. 24 In der Sozialistischen Republik Slowenien war die Grundfinanzierung der Freiwilligen Feuerwehren von 1977 bis 1990 durch die selbstverwalteten Einrichtungen dieser 62 Gemeinden – konkret deren Abteilungen für Brandschutz – sichergestellt worden. Das 1993 in Kraft getretene Gesetz zur Brandbekämpfung der neuen Republik Slowenien legte dann Brand-
21
„Gesellschaftliches Eigentum“ war als Eigentum gedacht, das nicht privat oder staatlich war. Vgl.
Lorenčič, Prelom s starim in začetek novega (wie Anm.14); Jože Prinčič, Socialistično gospodarstvo-več države, manj trga in podjetništva, in: Nina Vodopovec (Ed.), Med državo in trgom: cikli in prelomi v zgodovini. Ljubljana 2014, 53–81. Die amerikanische Soziologin Johanna Bockman argumentiert in ihren transnational vergleichenden Forschungen über politisch-ökonomische Systeme im Kontext der europäischen Transformation seit 1989, dass das sozialistische Jugoslawien mit einer innovativen Verbindung von Markt und Planwirtschaft experimentiert hatte; Bockman, Markets in the Name of Socialism (wie Anm.18), 76–104. 22
Božo Grafenauer, Lokalna samouprava na Slovenskem. Teritorialno-organizacijske strukture. Maribor
2000, 300–349. Grafenauer, Juraprofessor an der Universität von Maribor, gehörte zwischen 1997 und 2000 der slowenischen Regierung als für die lokale Selbstverwaltung zuständiger Minister an. 23
Ebd.353.
24
Im Jahr 1996 ratifizierte Slowenien außerdem die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwal-
tung; ebd.355–380; Stane Vlaj, Lokalna samouprava. Ljubljana 1998.
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bekämpfung als eine obligatorische lokale öffentliche Dienstleistung fest, die gemeinsam von den örtlichen Gemeinden unterhalb der kommunalen Ebene und dem Staat erbracht werden sollte. 25 Was bedeutete diese Entmachtung der Kommunen nun für die Freiwilligen Feuerwehren?
III. Freiwilligkeit und Feuerwehren in Slowenien: eine zentraleuropäische longue durée Um die Tragweite dieser Umstellung ermessen zu können, ist ein Überblick über die rein demografischen Dimensionen des weitgehend auf Freiwilligkeit beruhenden Feuerwehrwesens in Slowenien angebracht. Freiwillige Feuerwehren sind in diesem Land seit jeher und bis heute der häufigste Typus eines von Bürgern und Bürgerinnen einer Kleinstadt oder eines Dorfes getragenen eigenständigen Vereins. Sie sind Teil einer longue durée des Vereins- und Verbandswesens in zentraleuropäischen Ländern der österreich-habsburgischen Monarchie. Seit der Mitte des 19.Jahrhunderts gehörten freiwillige Assoziationen auf lokaler wie nationaler Ebene in den politisch und sozial entwickelten Gesellschaften Sloweniens und Böhmens zum Alltag, was – so wird in der Forschung gemutmaßt – ihre Entwicklung in der postkommunistischen Zeit begünstigt habe. 26 Dazu gehörten auch die Freiwilligen Feuerwehren, die die teils extremen Wechselfälle der politischen Geschichte bis in die Gegenwart unbeschadet überstanden haben. Der Vergleich zwischen Italien und Jugoslawien ist in dieser Hinsicht durchaus instruktiv: Die ehemals „Habsburger“ Freiwilligen Feuerwehren, die nach dem Ersten Weltkrieg nach Italien eingemeindet worden waren, wurden nach Mussolinis Machtantritt abgeschafft oder in ihrer Funktion eingeschränkt. Die lange Unterbrechung ihrer Existenz durch Faschismus und Zweiten Weltkrieg erschwerte ihre Wiederherstellung so sehr, dass sie sich bis heute nicht erholen konnten. Auf dem jugoslawischen Gebiet hingegen wurden die Freiwilligen Feuerwehren nur in der deutschen Besatzungszone während des Zweiten Weltkrieges für vier Jahre abgeschafft und nach dem Krieg im kommunistischen Jugoslawien wieder aufgebaut. 27 25 Zakon o varstvu pred požarom, Uradni list Republike Slovenije 71/93. 26 Philipp Ther, Europe since 1989. A History. Princeton 2016, 149; Lorenčič, Prelom s starim in začetek novega (wie Anm.14). 27 Branko Božič, Gasilstvo na Slovenskem do leta 1963. Gasilska zveza Slovenije. Ljubljana 1998, 24.
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In den habsburgischen Provinzen Krain, Süd-Steiermark, Süd-Kärnten und dem nördlichen Teil des österreichischen Küstenlands (das heißt dem Territorium des heutigen Slowenien) wurden die ersten Freiwilligen Feuerwehren in den späten 1860er Jahren gegründet. Sie spielten eine wichtige Rolle in den nationalen Kämpfen im österreichischen Kaiserreich 28 und trugen zur Verhärtung der nationalen Identitäten im Rahmen des nach dem Ersten Weltkrieg gegründeten Königreichs Jugoslawien bei. 29 Die Leitung des slowenischen Regionalverbandes der Freiwilligen Feuerwehr Krains („Slovenska deželna zveza prostovoljnih gasilskih društev na Kranjskem“) bestand in der Zwischenkriegszeit weiter und versuchte unter neuem Namen, als Jugoslawischer Feuerwehrverband Ljubljana („Jugoslovanska gasilska zveza Ljubljana“), ihr langersehntes Ziel zu erreichen und alle slowenischen Freiwilligen Feuerwehren in einem Verband zu integrieren. Nach dem Ersten Weltkrieg vereinte der Ljubljaner Verband im damaligen „Dravska banovina“, der nördlichsten slowenischsprachigen Provinz des neuen Königreiches der Serben, Kroaten und Slowenen, 306 freiwillige Feuerwehren, deren Zahl zu Beginn des Zweiten Weltkriegs auf 966 anstieg und denen rund 3 Prozent der Bevölkerung angehörten. 30 Nach Kriegsende wurde der zwischenzeitlich abgeschaffte Verband wiedereingesetzt und im Zuge der ersten Versammlung 1949 in den Slowenischen Feuerwehr-
28
Generell erfreuten sich in den zentraleuropäischen Nationalbewegungen des 19.Jahrhunderts Frei-
willige Feuerwehren als eine Form bürgerlicher Assoziation zunehmender Beliebtheit; siehe dazu unter anderem Olaf Briese, Freiwillige Feuerwehren im 19.Jahrhundert. Erfolge – Misserfolge – Behinderungen. Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Internationales Graduiertenkolleg „Formenwandel der Bürgergesellschaft – Japan und Deutschland in Vergleich“ 2015; sowie zahlreiche Beiträge in Adolf Schinnerl (Hrsg.), Feuerwehr- und Turnerbewegung. 19. Tagung der Internationalen Arbeitsgemeinschaft für Feuerwehr- und Brandschutzgeschichte vom 12.Oktober bis zum 14.Oktober 2011 im CTIF in Přibyslav, Tschechische Republik. Přibyslav 2011. Die im sächsischen Meißen 1841 gegründete Feuerwehr gilt als die erste auf dem damals neuartigen Prinzip der Freiwilligkeit beruhende Brandschutzorganisation in Deutschland. Etwa 150 Kilometer südöstlich von Meißen entstand 1850 in Reichstadt (tsch. Zàkupy) im habsburgischen Böhmen eine von deutschsprachigen Einwohnern gegründete Freiwillige Feuerwehr. In den darauffolgenden Jahren entstanden in Böhmen und in anderen Teilen des Habsburgerreichs zahlreiche weitere Freiwillige Feuerwehren, darunter gelegentlich auch zwei in einer Ortschaft: eine deutsche und eine tschechische. Siehe auch Jeremy King, Budweisers into Czechs and Germans. A Local History of Bohemian Politics, 1848– 1948. Princeton/Oxford 2005. 29
Ana Kladnik, A Smouldering Fire. The National, Political and Gender Adaptations of Volunteer Fire-
fighters in Interwar Yugoslavia, in: Fabio Giomi/Stefano Petrungaro (Eds.), Voluntary Associations in Yugoslavia, 1918–1941, in: European Review of History 26, 2019, 19–40. 30
I. Kongressbericht Gasilske zveze Slovenije (GZS) [im Folgenden: Kongressbericht GSZ]. Ljubljana
1949, 40; https://www.gasilec.net/organizacija/zgodovina (letzter Zugriff 22.4.2018).
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verband („Gasilska zveza Slovenije“, GZS) umbenannt. Seit 1949 veranstaltete der Slowenische Feuerwehrverband ungefähr alle vier Jahre einen Kongress und publizierte dazu entsprechende Bände, die sowohl Reden als auch Statistiken der vorangegangenen vier Jahre beinhalteten und als Hauptquelle der folgenden Ausführungen dienen. Aus der Tatsache, dass ehrenamtliche und freiwillige Arbeit in westlichen Gesellschaften verbreiteter ist als in den postsozialistischen Gesellschaften Ostmitteleuropas, wird im Rahmen der Transformationsforschung oftmals fälschlicherweise geschlossen, dass diese in der kommunistischen Zeit mehr oder weniger aufgehört habe zu existieren. Gerade der Fall des kommunistischen Jugoslawien deutet auf das Gegenteil hin. Zwar wird Freiwilligenarbeit in diesem Land für die Jahrzehnte des Wiederaufbaus nach dem Krieg weniger mit dem Vereins- und Verbandswesen als vor allem mit den ehrenamtlichen, sprich unentgeltlichen Arbeitseinsätzen Hunderttausender für den Aufbau der Infrastruktur, Eisenbahntrassen, Straßen, Schulen usw. assoziiert. Jüngere Forschungen haben jedoch gezeigt, dass die kommunistische Obrigkeit keineswegs die zivilgesellschaftlichen Strukturen der Freiwilligkeit im Ganzen abgeschafft hat und dass deren Kontinuität bis in die postkommunistische Zeit fortbesteht. 31 Über die Jahrzehnte hinweg war das Slowenische Rote Kreuz der Verband mit der höchsten Mitgliederzahl (1961: 450000; 1987: 740000), gefolgt von Sport- und Kulturvereinen. Der Feuerwehrverband stand bei stetigem Wachstum (1961: 63 217; 1987: 108 082) ohne signifikante Höhen und Tiefen in der sozialistischen und postsozialistischen Zeit nach Zahl der Mitglieder an fünfter, nach Zahl der ihm angehörenden lokalen Vereine hingegen an erster Stelle. 32 In mehr oder weniger jeder Ortschaft gab es im sozialistischen Slowenien eine Freiwillige Feuerwehr mit durchschnittlich sechzig Mitgliedern. Der erste GZS-Kongress der Nachkriegszeit erfasste 1949 855 Freiwillige Feuerwehren. 1958 waren es bereits
31 Für Slowenien: Zinka Kolarič/Tatjana Rakar, Function of Slovenian Civil Society Organizations. Regional and Sectoral Distribution within Civil Society. Ljubljana 2011; siehe ferner die Beiträge auf dem internationalen Workshop: Voluntary Work, Volunteering and Voluntary Associations in Southeastern Europe, 1980–2000. Research Center of the Slovenian Academy of Sciences and Arts, Ljubljana, 22.–23. March 2018, siehe Tagungsprogramm: http://www.hait.tu-dresden.de/dok/10559.pdf; bzw. Tagungsbericht von Valter Cvijič in: H-Soz-Kult 2.10.2018: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/index.asp?pn=tagungsberichte&view=pdf&id=7863. 32 Stichwort „Drušva“, in: Enciklopedija Slovenije. Vol.2: Ce – Ed. Ljubljana 1988, 348–356.
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1462. Dieses Niveau blieb bis 1988 mit 1467 konstant. Der Systemwechsel brachte mit 1454 Freiwilligen Feuerwehren nur einen leichten Rückgang. 33 Die Verbindung zwischen slowenischem nation building und den Freiwilligen Feuerwehren während der sozialistischen Ära ist noch kaum erforscht, vorläufige Befunde weisen aber auf eine starke Verflechtung zwischen nationaler Identität und dem Selbstverständnis der Freiwilligen Feuerwehren schon vor den achtziger Jahren hin. Als Beispiel sei der Dokumentarkurzfilm „Če gori, je hudič“ (Wenn es brennt, ist es der Teufel) des sozialkritischen Filmemachers Božo Šprajc angeführt, dessen Filme meist typische Szenen des ländlichen Slowenien zeigen: Die erste Einstellung zeigt Frauen, Männer und Kinder in Nationaltrachten, die vor einer Feuerwache versammelt sind, die darauffolgende zwei Männer: Der eine in Nationaltracht trägt einen Sticker mit der Aufschrift: „Ich bin stolz ein Slowene zu sein“, auf dem Sticker des zweiten in Feuerwehruniform steht: „Ich bin stolz ein Feuerwehrmann zu sein.“ 34 Im Übrigen waren die Feuerwehren in das System des nationalen Zivilschutzes eingebunden und wurden daher in den zehntägigen Unabhängigkeitskrieg im Sommer 1991 hineingezogen. 35
IV. Die Stellung der Freiwilligen Feuerwehren im jugoslawischen Selbstverwaltungssystem Die Verankerung in der örtlichen Gemeinschaft war für das Funktionieren einer lokalen Freiwilligen Feuerwehr seit jeher von entscheidender Bedeutung. Dies galt auch uneingeschränkt für die Epoche der sozialistischen Selbstverwaltung seit den fünfziger Jahren, und daher ist ein Exkurs zur Entwicklung des jugoslawischen Selbstverwaltungssystems notwendig. Das Ziel der Selbstverwaltung bestand darin, innerhalb der kommunistischen
33
Siehe: http://www.gasilec.net/organizacija/zgodovina/kongresi-gasilske-zveze-slovenije (letzter Zu-
griff 22.4.2018). 34
„Če gori, je hudič“ (Wenn es brennt, ist es der Teufel), Jugoslawien 1973, Fernsehfilm, Regie: Božo
Šprajc, Akademija za gledališče, radio, film in televizijo, 1973, 0´45´´–1´30´´. 35
Siehe Ana Kladnik, Voluntary Firefighting Associations and the Reorganisation of the System of Pro-
tection and Rescue in Slovenian Local Communities around 1990. Beitrag auf dem internationalen Workshop: Voluntary Work, Volunteering and Voluntary Associations in Southeastern Europe, 1980–2000 (wie Anm.31).
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Diktatur Mitbestimmungspraktiken der Bürgerinnen und Bürger auf der lokalen Ebene zu verankern – und zu begrenzen. Die theoretische und praktische Ausgestaltung dieses Systems veränderte sich: Lag der Fokus in den fünfziger Jahren noch auf der Selbstverwaltung in den Betrieben, so entwickelte sich diese Praxis bis Mitte der siebziger Jahre nach und nach zur flächendeckenden ganzheitlichen Selbstverwaltung in allen gesellschaftlichen Bereichen. Dabei änderten sich auch die Bezeichnungen: Hieß es im „Grundgesetz über die Verwaltung der staatlichen Wirtschaftsbetriebe und höheren Wirtschaftsverbände durch die Arbeitskollektive“ von 1950 ursprünglich „Arbeiterselbstverwaltung“, so sprach die Verfassung von 1963 von „gesellschaftlicher Selbstverwaltung“ („družbeno samoupravljanje“) und die von 1974 schließlich von „sozialistischer Selbstverwaltung“. Am Anfang, nach der Verabschiedung des sogenannten Selbstverwaltungsgesetzes im Jahr 1950 bildeten der Arbeiterrat („delavski svet“), der Vorstand und der Direktor innerhalb der Betriebe die Selbstverwaltungsorgane. 36 Von dort wurde die Selbstverwaltung schrittweise auf soziale Einrichtungen wie Schulen, Gesundheitsund Kulturinstitutionen sowie die öffentlichen Verwaltungen und politischen Organisationen ausgeweitet. Schließlich brachte 1955 das neue „kommunale System“ („komunalni sistem“) die Selbstverwaltung in die Kommunen. Das kommunale System stellte eine Art Kompromiss zwischen dem (west-)europäischen (und insbesondere in den früheren „Habsburger“ Regionen Jugoslawiens durchaus vertrauten) Konzept der kommunalen Selbstverwaltung und dem sowjetischen Konzept eines monolithischen Parteistaates dar. 37 Im neuen jugoslawischen System erhielt die Gemeinde weitreichende Befugnisse in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Dabei nahm sie ihre Aufgaben im Auftrag des Zentralstaats wahr und war für die Durchführung aller öffentlichen Angelegenheiten in ihrem Gebiet verantwortlich. Dieses Konzept führte gerade auch in ländlichen Gebieten zu großen Gemeinden mit zahlreichen Ortschaften – im Durchschnitt waren sie territorial und der Einwohnerzahl nach um ein Vielfaches größer als ihre europäischen Pendants. Die 62 Kommunen in Slowenien hatten 1980 durchschnittlich 32 250 Einwohner. 38 36 Mateja Režek, Med resničnostjo in iluzijo. Slovenska in jugoslovanska politika v desetletju po sporu z Informbirojem (1948–1958). Ljubljana 2005, 30. 37 Janez Šmidovnik, Lokalna samouprava. Ljubljana 1995, 9f.; Stane Vlaj, Lokalna samouprava – teorija in praksa. Ljubljana 2006, 13. 38 Grafenauer, Lokalna samouprava na Slovenskem (wie Anm.22), 21.
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Unterhalb der Ebene der Gemeinden waren die sogenannten „lokalen Gemeinschaften“ („krajevna skupnost“) angesiedelt. In der Mehrheit (86 Prozent) handelte es sich um Dörfer und Vorstädte mit je rund 2000 Einwohnern. Die neuen Verfassungen von 1963 und 1974 übertrugen den lokalen Gemeinschaften erweiterte Befugnisse. Die lokalen Gemeinschaften sollten als Zusammenschlüsse fungieren, in denen Einwohner sich nach den Prinzipien der Selbstverwaltung organisierten und aktiv an der Erbringung alltäglicher kommunaler und sozialer Aufgaben mitarbeiteten. 1974 gab es ungefähr 1050 lokale Gemeinschaften in der Sozialistischen Republik Slowenien. Bis 1991 stieg ihre Zahl auf 1173. 39 Diese Zahl lag nicht zufällig nahe an den bereits erwähnten Zahlen für eigenständige Freiwillige Feuerwehren, denn es galt das Prinzip, dass jeder größere Betrieb und jede lokale Gemeinschaft entweder eine professionelle oder freiwillige Feuerwehr hatte. Bei den Freiwilligen Feuerwehren der lokalen Gemeinschaften erfolgte ein Teil der Finanzierung aus dem Budget der Kommune, zu der sie gehörten. Die Verabschiedung der jugoslawischen Verfassung von 1974 brachte im Bereich der öffentlichen Verwaltung zusätzlich die Einführung von auf Ebene der Kommunen zu bildenden sogenannten „selbstverwalteten Interessengemeinschaften“ („samoupravna interesna skupnost“, SIS). 40 In ihnen schlossen sich örtliche Gemeinden zur Erledigung spezifischer öffentlicher Aufgaben zusammen, darunter seit 1977 auch die selbstverwalteten Interessengemeinschaften für Brandschutz („Samoupravna interesna skupnost za varstvo pred požari“), die für das Funktionieren der Feuerwehren in der Kommune zuständig waren. Jeden Monat behielten die örtlichen Betriebe einen Teil des Lohns ihrer Angestellten als eine Art Feuerschutzabgabe ein und überwiesen diese an die Gemeindeverwaltung, die sie wiederum an die „Interessengemeinschaft“ weiterreichte. Von dort gelangten sie zu den Feuerwehrverbänden, die davon die Ausstattung der einzelnen Feuerwehren beschafften und sich auch um deren Wartung und Versicherung kümmerten. 41 Der Umfang ihrer Finanzierung durch die Gemeinde war von Fall zu Fall sehr unterschiedlich, sollte jedoch ge-
39
Ebd.340.
40
Einige der Begriffe aus dem Selbstverwaltungsglossar sind fast unmöglich zu übersetzen, da sie erfun-
den wurden, um Institutionen zu beschreiben, die auf einzigartige Weise mit für Jugoslawien charakteristischen, neuen Formen der sozialen Organisation verbunden waren. 41
Interview von Ana Kladnik mit Martin Novak (Jahrgang 1953, Beruf: bis 1996 Arbeiter im Elektrobe-
trieb Iskra Semič, 1996–2013 Sekretär des Feuerwehrverbandes Črnomelj; seit 1970 Mitglied des Freiwilligen Feuerwehrvereins Črnomelj), Rodine, 19.Juni 2018, Interviewsammlung des Forschungsprojekts am
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mäß dieser Vereinbarungen 0,3 Prozent der kommunalen Budgets nicht unterschreiten. Die Festlegung dieses Prozentsatzes orientierte sich keineswegs an den örtlichen Brandrisiken oder der vorhandenen Ausstattung des aktiven Brandschutzes, sondern ausschließlich an der wirtschaftlichen Situation der Kommunen. 42 Nur wenige von ihnen stellten den vereinbarten Betrag tatsächlich auch zur Verfügung. Zusätzlich nahmen Feuerwehrvereine durch soziale Aktivitäten, Veranstaltungen und Sammelaktionen weitere Mittel ein, um kontinuierlich arbeiten zu können. So beschloss die Freiwillige Feuerwehr einer lokalen Gemeinschaft in der Gemeinde Velenje im Nordosten Sloweniens 1975 ihre neue, größere Feuerwache durch eigene Spenden und unbezahlte Arbeit zu errichten. 43 Dennoch brachte die Einführung der selbstverwalteten Interessengemeinschaften 1977 eine Besserung: Bis dahin mussten die Freiwilligen Feuerwehren fast 75 Prozent ihrer Finanzen aus Eigenmitteln aufbringen, danach pegelte sich dieser Anteil in den achtziger Jahren bei rund 50 Prozent ein (Tabelle 1). Tabelle 1: Anteil der Eigenfinanzierung von Freiwilligen Feuerwehren 44 Zeitraum
FFW-Selbstfinanzierung in Prozent
1972–1976
59,3 Prozent
1976–1980
63,3 Prozent
1980–1983
49,1 Prozent
1984–1987
48,1 Prozent
1988–1991
51,3 Prozent
1992–1996
63,0 Prozent
Die Ausgaben einer einzelnen Feuerwehr stiegen stark an, wenn sie sich zum Beispiel dafür entschied, eine neue Feuerwache zu errichten oder die vorhandene zu erweitern, wobei die Mitglieder mit freiwilligem Einsatz bei den Bauarbeiten mithalfen. Für alle Freiwilligen Feuerwehren fielen nach Sloweniens Unabhängigkeit zwischen 1992 und 1996 zusätzliche, nicht vom Staat oder der Kommune übernomHannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. an der TU Dresden (im Folgenden: HAIT). Die Namen der zitierten Interviewpartner wurden anonymisiert. 42 XI. Kongressbericht GZS. Ljubljana 1988, 129. 43 Naš čas, 17.Oktober 1975, 9. 44 Datenquelle: Kongressberichte GZS. Ljubljana 1972, 1976, 1980, 1984, 1988, 1993, 1998.
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mene Kosten für neue Abzeichen auf den Uniformen an, die mangels Eigenmitteln nach und nach angeschafft werden mussten. Im Rückblick auf die Zeit des postsozialistischen Übergangs berichteten von Ana Kladnik befragte Leiter und aktive Mitglieder von Freiwilligen Feuerwehren, dass im Großen und Ganzen das System der „Interessengemeinschaften“ gut funktionierte, da es einen regelmäßigen monatlichen Geldzufluss gewährleistete. Für einen unter ihnen steht es sogar für das „goldene Zeitalter“ der Freiwilligen Feuerwehren – eine bei der Feldforschung in Slowenien immer wieder angetroffene Ansicht. 45
V. Von der Selbstverwaltung zur Buchhaltung – wenn der Fiskus die Hand aufhält Schon 1988, auf dem letzten Feuerwehrkongress vor dem Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft, hatten die Teilnehmer das System der selbstverwalteten Interessengemeinschaften in Frage gestellt und über seine eventuelle Reorganisierung diskutiert. Die Finanzierung durch das System der selbstverwalteten Interessengemeinschaften sei eine Quelle zahlreicher Schwierigkeiten. Es sei zu klären, ob dieses überhaupt weiterhin notwendig sei. Der Kongressbericht enthält aber keine genaueren Angaben dazu, warum es nicht mehr richtig funktionierte. 46 Das System der selbstverwalteten Interessengemeinschaften existierte noch bis 1991, bis zur Übertragung ihrer Kompetenzen auf die staatliche Verwaltung. 47 Einer der Interviewpartner erinnert sich daran, dass nach seiner Abschaffung die den Freiwilligen Feuerwehren zur Verfügung stehenden Mittel sofort zurückgingen. 48 Schon 1990 hatte das damalige Republiksekretariat für Volksverteidigung (später das Verteidigungsministerium) die Finanzierung der Feuerwehren übernommen – was diesen die Arbeit keineswegs erleichterte, im Gegenteil. Das Motto des Feuerwehrkongresses 1993 lautete: „Wenn die anderen zu wenig geben, helfen wir uns
45
Interviews von Ana Kladnik mit Simon Praznik und Simon Praznik jr., beide Freiwillige Feuerwehr
Vižmarje-Brod, Ljubljana, 10.Juni 2018; mit Peter Gabrovec, Freiwillige Feuerwehr Primskovo, Kranj, 18. Juni 2018, mit Martin Novak, Freiwillige Feuerwehr Črnomelj, Rodine, 19.Juni 2018. 46
XI. Kongressbericht GZS. Ljubljana 1988, 142.
47
Stichwort „Samoupravne interesne skupnosti“, in: Enciklopedija Slovenije. Vol.15: Pt–Savn. Ljubljana
1996, 256. 48
266
Interview mit Martin Novak (wie Anm.41).
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selbst“. 49 Das war durchaus realistisch, denn der Anteil, den die Freiwilligen Feuerwehren nun durch eigene Aktivitäten aufbringen mussten, nahm sehr schnell zu und lag 1992 und 1993 bei 70 Prozent. Ende 1990 schaffte Slowenien mit dem Selbstverwaltungssystem der öffentlichen Finanzen auch dessen laxe Praxis der Steuerfestsetzung und -eintreibung ab und begann mit der Reform des Finanzsystems. Deren Hauptziel war die Schaffung einer einheitlichen Finanzverwaltung, die eine effiziente und flächendeckende Erhebung der Steuern ermöglichen sollte. 50 In den nächsten Jahren traten Gesetze über die Umsatzsteuer („prometni davek“) und die Gewinnsteuer („davek od dobička“) in Kraft. Für die Feuerwehren brachte das wie für alle anderen Freiwilligenvereine eine höchst problematische Neuerung: Künftig sollten sie 25 Prozent ihrer bei Finanzierungsaktionen erzielten Gewinne abgeben. 51 Das führte sofort zu heftigen Protesten des Slowenischen Feuerwehrverbandes. Bis dahin waren die von den Freiwilligen Feuerwehren bei Veranstaltungen aller Art erzielten Einnahmen von der Steuer befreit gewesen. Fortan blieb nur noch ein Feuerwehrball pro Jahr steuerfrei. Bei allen zusätzlichen Feiern hielt nun der Fiskus die Hand auf. 52 Allerdings enthalten die Kongressberichte, ähnlich wie schon im Zusammenhang mit der Reorganisierung der Interessengemeinschaften festgestellt, keine detaillierten Informationen über die Einführung des neuen Steuersystems auf der Ebene der individuellen Freiwilligen Feuerwehren. In die Organisation der Feuerwehrbälle einzugreifen war allerdings, und das dürfte den Feuerwehrvereinen wohl bekannt gewesen sein, eine undankbare Aufgabe. Solche Festlichkeiten waren nicht nur eine wichtige finanzielle Einnahmequelle für jede örtliche Feuerwehr, sie stellten zugleich ein soziales Ereignis ersten Ranges für die örtliche Gemeinschaft dar. Das stellten auch einige bekannte slowenische Filmemacher fest, darunter der bereits erwähnte Božo Šprajc. Sein 1980 gedrehter Film „Koštrun“ (Widder) kann durchaus als optimistische Kurzfassung von Formans „Feuerwehrball“ gesehen werden. 53 In den frühen achtziger Jahren untersuchten zwei junge Anthropologen, Marko Meglič und Ivan Šprajc, die Festkultur Sloweni49 XII. Kongressbericht GZS. Ljubljana 1993, 140. 50 Bojan Koren, Davčna reforma v Sloveniji. M.A. Ljubljana 2004, 22f. 51 Tanja Praprotnik, Posebnosto obračunavanja davka od dohodka pravnih oseb v društvih. Maribor 2005, 66. 52 XII. Kongressbericht GZS. Ljubljana 1993, 140. 53 „Koštrun“ (Widder), Regie: Božo Šprajc, Viba Film. Ljubljana 1980. Siehe auch eine Synopse in: Ivan
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ens nach dem Zweiten Weltkrieg. 54 Unter anderem besuchten sie zehn Volkfeste und befragten deren Besucher danach, was sie sich unter einem Volksfest vorstellten. Das Ergebnis war eindeutig: Der „Feuerwehrball“ war das Synonym für Volksfeste schlechthin. 55 Ihre herausragende Bedeutung für das Selbstbild Freiwilliger Feuerwehren lässt sich zugleich deren reichlich überlieferten Jubiläumsschriften entnehmen. Als Beispiel dafür sei eine aus Anlass des 95. Jahrestages der Gründung veröffentlichte Broschüre der Freiwilligen Feuerwehr von Vižmarje-Brod, einem Städtchen nördlich von Ljubljana, angeführt. Darin sind die wichtigsten Ereignisse ihrer Geschichte dokumentiert, darunter sämtliche zwischen 1904 und 1999 veranstalteten Festlichkeiten. 56 Der Herausgeber und langjährige Wehrleiter legte Wert darauf, für jeden Feuerwehrball Datum und Ort, den Vorsitzenden und den Finanzverantwortlichen des Festkomitees, den erzielten Nettogewinn und die wichtigsten Programmpunkte (welche Musikgruppe auftrat, ob es eine Tombola gab etc.) anzugeben. Außer während des Ersten und Zweiten Weltkriegs sowie den Jahren 1948–1951, 1959–1960, 1962–1967, 1970, 1979, 1988, 1990 und 1992–1993 organisierte die Feuerwehr mindestens einen Ball pro Jahr (manchmal auch bis zu vier). Der größte Erlös ließ sich mit dem Engagement überregional bekannter Volksmusikensembles erzielen. Geht man von den erzielten Dinars und Slowenischen Talern aus, waren die Bälle von 1986 und 1996 mit jeweils umgerechnet etwa 3000 Euro besonders ergiebig. 57 Ein Nemanič, Filmsko gradivo Slovenskega filmskega arhiva pri Arhivu Republike Slovenije. Vol.4. Ljubljana 2002, 165f. 54 Marko Meglic/Ivan Šprajc, Vrtne veselice v Ljubljani in okolici. Problemi, 9–10. Ljubljana 1982, 8–47. 55
Ebd.42.
56
Janez Škrbinc, 95 let Prostovoljnega gasilskega društva Vižmarje-Brod. PGD Vižmarje-Brod. Vižmarje
1999, 49 und 82. Die Broschüre führt auch die Namen der Stifter der Feuerwehrfahnen („gasilski prapor“) auf, die 1954 aus Anlass des 50. und 1994 anlässlich des 90. Geburtstags angeschafft wurden. 1954 handelte es sich dabei ausschließlich um Bewohner von Vižmarje und Brod, während der „Pate“ („kum“) der Fahne der Vorsitzende des örtlichen Volkskomitees war. Die Funktion dieses „Paten“ oder der „Patin“ („kumica“) stellte eine Übernahme aus vorkommunistischer Zeit dar. Ein lokaler Würdenträger oder wohlhabender Einwohner spendete einen höheren Beitrag zu einer Anschaffung der Feuerwehr und wurde daraufhin „kum“ oder „kumica“. So war beispielsweise die „kumica“ des 1969 in Vižmarje-Brod neu angeschafften Löschfahrzeugs der Freiwilligen Feuerwehr zuvor von Dolenjska in Unterkrain zugezogen und spendete ein Teil ihres Erbes, um in der neuen Umgebung besser aufgenommen zu werden; Interview mit Simon Praznik (Jahrgang: 1932, Beruf: Tischler, seit 1947 Mitglied des Freiwilligen Feuerwehrvereins VižmarjeBrod, von 1971–2004 Wehrleiter des Vereins und 1981–1986 Präsident des Feuerwehrverbands LjubljanaŠiška), Ljubljana, 10.Juni 2018, Interviewsammlung des Forschungsprojekts, HAIT. 57
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Škrbinc, 95 let (wie Anm.56), 38–42.
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früherer Wehrleiter aus dem südslowenischen Črnomelj berichtete, dass seine Feuerwehr zwischen 1980 und 1985 drei bis vier Feuerwehrbälle mit Tombola pro Jahr veranstaltete. Die Einnahmen aus diesen Jahren ermöglichten es ihnen, sich zwei neue Löschfahrzeuge zuzulegen. 58 1993 bestimmte ein neues Feuerwehrgesetz 59 die Brandbekämpfung als eine obligatorische Dienstleistung der öffentlichen Hand auf örtlicher Ebene, für deren kontinuierlichen und reibungslosen Betrieb der Staat und die neuen Kommunen zuständig waren. Der Staat gab Kriterien der von den Gemeinden für Brandbekämpfung aufzubringenden Mittel vor. Dazu gehörten die Einwohnerzahl der Gemeinde, das Brandrisiko, die Größe der Gemeinde, die Anzahl der einsatzbereiten freiwilligen und der professionellen Feuerwehrleute sowie die Anzahl der Freiwilligen Feuerwehren. Gemäß dieser Leitlinie berechnete sich die konkrete Höhe der finanziellen Mittel für die Freiwillige Feuerwehr aus dem Budget der einzelnen Gemeinde. 60 Außer von der neuen Finanzpolitik war die Finanzierung der Freiwilligen Feuerwehren auch von dem 1993 erlassenen Gesetz über die kommunale Selbstverwaltung betroffen. Hinzu kam im darauffolgenden Jahr die Neueinteilung der lokalen Verwaltungseinheiten, die die Zahl der Kommunen auf dem slowenischen Staatsgebiet, die bis dahin bei 62 lag, beträchtlich erhöhte, indem das Staatsgebiet zunächst in 147 Gemeinden aufgeteilt wurde, 1998 dann in 193 Gemeinden. Die damit verbundene neuerliche Abgrenzung von Aufgaben und Zuständigkeiten zwischen dem Staat und den vielen neuen Kommunen brachte erneute Komplikationen und führte zu vielen Fragen und Unsicherheiten. Viele der neu gegründeten kleineren Gemeinden waren wirtschaftlich sehr schlecht gestellt, weshalb sie mit ihren Mitteln für Brandschutz unter den gesetzlich vorgeschriebenen Sätzen blieben. Die Finanzierung der Freiwilligen Feuerwehren unter dem Selbstverwaltungssystem war zwar oftmals als unzureichend kritisiert worden, hatte jedoch zugleich die praktische Teilhabe bei Entscheidungsfindungen auf lokaler Ebene ermöglicht. Das neu eingeführte staatliche Steuersystem und die damit verbundenen Änderungen der Finanzierung der Freiwilligen Feuerwehren waren hingegen nicht ausgehandelt, sondern von oben diktiert worden – wenn auch legitimiert durch ein demokratisch gewähltes Parlament.
58 Interview mit Martin Novak (wie Anm.41). 59 Zakon o varstvu pred požarom, Uradni list Republike Slovenije 71/93. 60 XII. Kongressbericht GZS. Ljubljana 1993, 138.
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Die Freiwilligen Feuerwehren akzeptierten die Gewinnsteuer nur sehr widerwillig, aber die staatliche Verwaltung gab nicht auf. Laut dem neuen Vereinsgesetz von 1995 61 mussten Verbände ihre Einnahmen und Ausgaben entsprechend neuer Rechnungslegungsstandards melden. Der Slowenische Feuerwehrverband organisierte eigens für die mit der Buchhaltung in den Freiwilligen Feuerwehren betrauten Personen Fortbildungsseminare, da die neuen gesetzlichen Anforderungen Kenntnisse erforderten, über die die freiwilligen Feuerwehrleute bislang nicht verfügt hatten. Auf seiner Website unterhielt der Verband ein Forum für Feuerwehrleute, das zahlreiche Probleme der Umstellung offenlegte. Noch zehn Jahre nach der Verabschiedung des Gesetzes blieb die Steuerfrage in den Freiwilligen Feuerwehren virulent, wie Diskussionen in diesem Online-Forum zeigen. Einige wollten die Sache mit den Steuern immer noch nicht so recht ernst nehmen. Stattdessen posteten sie Anfragen wie die folgende: „Reichen Ihre Vereine beim Finanzamt ein Steuererklärungsformular ein? Unser Verein hat ein Ordnungswidrigkeitsverfahren bekommen, weil wir dieses Formular nicht eingereicht haben – haben wir nie gemacht. Der Präsident war heute beim Gericht und erhielt ebenso wie der Verein eine Geldstrafe. Verteidigung zwecklos. Wir wurden angewiesen, dieses Formular einzureichen, unabhängig davon, ob wir einen Gewinn erzielen oder nicht. Wenn man keinen Gewinn gemacht hat (wer hat das schon), gibt man einfach die Adresse ein und lässt den Rest leer. Ich weiß nicht, welche Strafe uns erwartet, aber die Richterin hat versprochen, dass sie so niedrig wie möglich ausfallen wird.“ 62
Bald nach diesem Post im Forum kam eine beruhigende Antwort: „Wir senden nun ein leeres Formular [an das Finanzamt – A. K.] und eine Erklärung wie: blah, blah, blah, wir hatten keinen Gewinn – oder etwas in der Art.Ich glaube der Satz [für die Strafe] liegt irgendwo um 200000 SIT.“ 63
Einige Freiwillige Feuerwehren haben das Steuergesetz zwar ernster genommen, sahen sich aber nicht in der Lage, das Formular selbst auszufüllen:
61
Uradni list Republike Slovenije 60/95.
62
Metod G., Freiwillige Feuerwehr Brezje na Gorenjskem, 30.September 2004, 15:35, http://www.gasil-
ci.org/forum/viewtopic.php?f=45&t=2954 (letzter Zugriff 22.2.2018). 63
Rolf, 30.September 2004, 16:04, ebd.– SIT: Slowenische Tolar, Sloweniens Währung zwischen 1991
und der Einführung des Euro 2007; 200000 SIT entsprachen etwa 825 Euro.
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„Bei uns werden unsere Finanzen von einer externen Institution verwaltet, deren Dienstleistungen uns etwas kosten, aber das schmerzt uns weniger als wenn wir etwas vergessen. Das Unternehmen stellt alle relevanten Papiere für die Jahresbilanz zusammen, einschließlich der Steuererklärung, für die wir auch ein wenig Geld ausgeben. Macht die Freiwillige Feuerwehr Gewinn? ist die Frage des Finanzamts. Die sehen den Gewinn, wir sehen nur, dass nie genug Geld da ist.“ 64
Wie einer der interviewten Feuerwehrmänner erläuterte, hing bei den Steuern alles vom Buchhalter ab. „Er oder sie muss Gewinn vorweisen können.“ 65 Dennoch verzichtete seine Feuerwehr in Črnomlje, die in den achtziger Jahren auf diesem Gebiet sehr aktiv gewesen war, in den neunziger Jahren auf die Veranstaltung von Feuerwehrbällen, nachdem ein neues Lotteriegesetz den Freiwilligen Feuerwehren die Durchführung von Tombolas unmöglich machte. 66 Um die Jahrtausendwende stabilisierte sich die Finanzierung der Freiwilligen Feuerwehren. Die gesetzlich vorgegebenen Finanzierungskriterien wurden abgeschafft. Stattdessen erließ die Verwaltung für Sicherheits- und Rettungswesen im Verteidigungsministerium eine Anweisung, wonach die Gemeinden 3 Prozent ihres Budgets für den Brandschutz auszugeben hatten. 67 Dadurch verbesserten sich, so einer unserer Interviewpartner, die finanziellen Bedingungen der Feuerwehren: „Das Interessengemeinschaften-System war gut, aber dieses neue System ist auch nicht so schlecht.“ 68 In den folgenden Jahren erfolgte die Finanzierung der Freiwilligen Feuerwehren durch Beiträge der Gemeinden, des Staates, der Versicherungen sowie durch Spenden 69 und Eigenmittel. 70
64 Janez Koncilija, Topole, 30.September 2004, 17:20, http://www.gasilci.org/forum/viewtopic.php?f= 45&t=2954 (letzter Zugriff 22.2.2018). 65 Interview mit Martin Novak (wie Anm.41). 66 Ebd. 67 Zwischen 1998 bis 2002 unterstützten einige örtliche Gemeinschaften den Brandschutz mit bis zu 5 Prozent ihres Budgets, während andere nur 1 Prozent dafür ausgaben; XIV. Kongressbericht GZS. Ljubljana 2004, 122. 68 Interview von Ana Kladnik mit Peter Gabrovec (Jahrgang: 1934, Beruf: Textiltechniker, seit 1948 Mitglied des Freiwilligen Feuerwehrvereins Kranj, später Kranj Primskovo), Kranj, 18.Juni 2018, Interviewsammlung des Forschungsprojekts, HAIT. 69 Auf der Grundlage des Einkommenssteuergesetzes ist es möglich 0,5 Prozent der Einkommenssteuer für gemeinnützige Organisationen steuermindernd zu spenden. Zu diesen Organisationen gehören auch die Freiwilligen Feuerwehren. 70 XV. Kongressbericht GZS. Ljubljana 2008, 153–158.
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Alle befragten Feuerwehrleute sind der Ansicht, dass sich der Übergang vom Sozialismus zum Kapitalismus und vom Ein- zum Mehrparteiensystem für sie selbst und ihre Arbeit in der Freiwilligen Feuerwehr kaum bemerkbar machte. Das Unerfreulichste am neuen System der Finanzierung war ihnen zufolge der gestiegene bürokratische Aufwand. Einer von ihnen kommentierte: „Was soll man machen. Es ist wie es ist.“ 71
VI. Fazit Seit jeher waren Freiwillige Feuerwehren hinsichtlich ihrer Finanzierung einerseits auf Zuwendungen von Staat und lokalen Gemeinden und andererseits auf die von ihnen selbst erwirtschafteten Mittel angewiesen. Gemäß dem marxistisch inspirierten Modell der jugoslawischen Selbstverwaltung sollte der Staat solange dezentralisiert und zurückgebaut werden, bis schließlich die selbstverwaltete Gesellschaft an seine Stelle treten würde. 72 Im Fall einer traditionell in beträchtlichem Umfang auf Eigenfinanzierung und Freiwilligkeit beruhenden Einrichtung wie den Freiwilligen Feuerwehren wurde dies im sozialistischen Slowenien unter dem Deckmantel einer ineffizienten Finanzverwaltung des Zentralstaats weitgehend Realität. Die postsozialistische Transformation bietet daher mit Blick auf diesen Typus des freiwilligen Engagements ein ungewöhnliches Bild. In den letzten fünfzehn Jahren des Sozialismus spielten die Kommunen und lokalen Gemeinschaften die Hauptrolle bei der Finanzierung von Freiwilligen Feuerwehren. Während und nach der Transformation nahm der demokratische Staat mit neuen Gesetzen, Vorschriften und Vorrechten die führende Rolle ein und entmachtete die untersten Instanzen des Staatsaufbaus. Die postsozialistische Transformation führte im slowenischen Fall zu einer Zunahme an nationalstaatlicher und – da mit dem Beitritt Sloweniens zur Europäischen Union auch deren Standards in Fragen der technischen Sicherheit zu übernehmen waren – supranationaler Kontrolle und Anleitung. Wie schon in früheren Jahrzehnten während der sozialistischen Transformation war auch bei diesem Regimewechsel die Anpassungsfähigkeit der Freiwilligen Feuerwehren gefor-
71
Interviews von Ana Kladnik mit Simon Praznik, Simon Praznik jr., Peter Gabrovec und Martin Novak
(wie Anm.45). 72
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Dejan Jović, Yugoslavia. A State that Withered Away. West Lafayette 2009.
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dert. Sie lernten rasch, sich den neuen Erfordernissen einer effizienzorientierten Finanzverwaltung anzupassen. Damit ist natürlich nur ein Aspekt dieser Anpassungsleistung thematisiert, der allerdings einen Wesenskern dieser Institution berührt: ihr trotz Einbindung in gesetzliche Normen und kommunale Auftragsverwaltung notwendiges Maß an politischer und sozialer Autonomie, die gleichermaßen auf der Freiwilligkeit der erbrachten Dienstleistung – jederzeit verfügbare Brandbekämpfung – wie auf deren durch ehrenamtlichen Einsatz ermöglichter Teilfinanzierung beruht. Das Bestreben, diese Autonomie unbedingt bewahren zu müssen und zu wollen, lässt die slowenischen Feuerwehren zunächst einmal als einen eher konservativ orientierten Akteur im Transformationsprozess erscheinen. Um die eigentlichen mit diesem Prozess verbundenen Neuerungen, ja Umwälzungen, ermessen zu können, muss der Blick auf die materielle Seite der Beschaffung und des Umgangs mit den Ressourcen erweitert werden: Was konnten die Freiwilligen Feuerwehren tatsächlich mit ihrem Geld anfangen, und zwar vor und nach dem politischen Umbruch? In den achtziger Jahren wurde in allen von uns verglichenen nationalen Feuerwehrverbänden viel über hoffnungslos veraltete Fahrzeuge und Spritzen, verschlissene Uniformen und marode Feuerwachen geklagt – wie gelang es nun, mit neuer Ausrüstung und Infrastruktur auch den neu definierten technischen Standards von Brandschutz und Brandbekämpfung zu entsprechen? Und stellt sich dieser Übergang im slowenischen Fall als ein durch die relative Prosperitätsphase der achtziger Jahre ermöglichter Prozess des allmählichen Übergangs dar, der sich von den scharfen Einschnitten des Wendejahres 1989/90 etwa im tschechoslowakischen und ostdeutschen Fall markant unterscheidet? Darauf werden weitere Fallanalysen Antworten geben.
Dieser Beitrag ist aus dem von Thomas Lindenberger und Philipp Ther geleiteten Projekt „Ehrenamtliche Arbeit in lokalen Gemeinden zwischen Staatssozialismus und liberalem Kapitalismus. Die Geschichte der Freiwilligen Feuerwehr in Deutschland und Ostmitteleuropa 1980–2000“, finanziert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und dem österreichischen Fonds zur Förderung der Wissenschaftlichen Forschung (FWF) im Rahmen des trilateralen D-A-CH-Programms, hervorgegangen.
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IV. Voluntary action im transnationalen Raum
Von Mensch zu Mensch Transnationale Kinderpatenschaften und ehrenamtliches Engagement seit den 1950er Jahren am Beispiel der Kindernothilfe von Freda Wagner
I. Einleitung Rund 500000 Bundesbürgerinnen und -bürger waren Ende der 1970er Jahre durch eine Patenschaft mit einem von Armut bedrohten Kind in der „Dritten Welt“ verbunden und unterstützten es mit einer monatlichen Spende. 1 Ein gutes Dutzend Hilfswerke konnte auf diese Weise seit den 1960er Jahren nicht nur besonders hohe Spendensummen einnehmen, sondern mit dem Konzept der transnationalen humanitären Kinderpatenschaft ein die staatliche Entwicklungshilfe ergänzendes privates Hilfsmodell aufbauen. Es versprach den Spendenden eine möglichst direkte, unmittelbare und wirkungsvolle Form der Hilfe, durch die sie die institutionelle Unterbringung, Versorgung sowie Ausbildung eines bestimmten Kindes sicherten. Im Gegenzug erhielten sie Fotos und Briefe sowie regelmäßige Berichte über die Entwicklung des Kindes. Mittels Briefkontakt sollte eine besondere Beziehung „von Mensch zu Mensch“ entstehen, die den Pateneltern einen persönlichen Zugang und die Teilhabe am Schicksal einer fernen Lebensrealität eröffnen und in ihren Nahbereich rücken sollten. Über Einzelschicksale gaben Patenschaften komplexen entwicklungspolitischen Zusammenhängen ein Gesicht. Ihr immenser Erfolg beruhte zudem auf ihrem Höchstmaß an Konkretisierung und der Nachvollziehbarkeit der Verwendung der Spendengelder sowie einer aus der besonderen Hilfsbedürftigkeit der Kinder erzeugten emotionalen Verpflichtung. Das auch in anderen westeuropäischen Ländern und Nordamerika erfolgreiche, aber in der Bundesrepublik besonders beliebte Konzept der personalisierten Spen1 So der Überschlag des damaligen Vorsitzenden der Kindernothilfe, Paul Gerhard Aring: Evangelisches Zentralarchiv Berlin (künftig: EZA), 2/10389 Kindernothilfe e.V., 1977–1979, Paul Gerhard Aring, Rundbrief an Freunde der Kindernothilfe und andere Interessierte, 9.4.1979; diese entsprechen auch den aktuellen Schätzungen nach Marina Wagener, Globale Sozialität als Lernherausforderung. Eine rekonstruktive Studie zu Orientierungen von Jugendlichen in Kinderpatenschaften. Wiesbaden 2018, 11.
HTTPS :// DOI . ORG / 10.1515/9783110627442-011
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denhilfe traf hier auf große Hilfsbereitschaft und schien vor dem Hintergrund eigener Hilfserfahrungen ein besonderes „sozialpsychologisches Bedürfnis“ zu befriedigen. 2 Am Beispiel des heute noch größten deutschen Patenschaftvermittlers „Kindernothilfe“ soll in diesem Beitrag zunächst dessen Entstehung und Entwicklung als ehrenamtliche Initiative im Zusammenspiel mit anderen Hilfsorganisationen in der Nachkriegszeit skizziert werden, um Besonderheiten und Gründe für den Erfolg des Patenschaftsprogramms herauszuarbeiten. Ziel ist es zudem, das Spannungsfeld zu verdeutlichen, in dem das Konzept Kinderpatenschaft sowie dessen Unterstützer Ende der 1970er Jahre massiv in die öffentliche Kritik gerieten. Angesichts des vielfach angezweifelten Engagements der Pateneltern soll der Beitrag in einem weiteren Teil aufzeigen, welche Betätigungsfelder der Verein seinem Unterstützerkreis über die Geldspende hinaus für ehrenamtliche Beteiligung bot, welchen Stellenwert die Freiwilligenarbeit innerhalb des Vereins einnahm und welche Funktionen sie für die Aktiven ebenso wie für die Organisation erfüllen konnte. Trotz des immensen Anstiegs an historischer Forschung zu Humanitarismus in den vergangenen Jahren sind Kinderpatenschaften als internationales und besonders erfolgreiches Phänomen der privaten Wohltätigkeit bisher wenig untersucht worden. Das Finanzierungsmodell war bisher mit Fokus auf nordamerikanische und britische Organisationen primär Gegenstand von sozialwissenschaftlichen, theologischen, ethnologischen und geographischen Studien aus dem englischsprachigem Raum, vereinzelt rückten in den letzten Jahren aber auch historische Entwicklungen und das Konzept der Patenschaft in den Mittelpunkt. 3 Zuletzt veröffentlichte zeitgenössische Studien zur Handlungsstrategie, Entwicklungspädagogik und Werbetätigkeit deutscher Patenschaftsvermittler heben die Besonderheit der Thematik hervor. 4 Mit Ausnahme eines längeren Abschnitts zur Problematik des primär an den Spendenden ausgerichteten Hilfssystems in Gabriele Lingelbachs
2 Gerhard Müller-Werthmann, Markt der offenen Herzen. Spenden – ein kritischer Ratgeber. Hamburg 1985, 94. 3 Zuletzt: Sara Fieldston, Raising the World. Child Welfare in the American Century. Cambridge, MA 2015; Brad Watson/Matthew Clarke (Eds.), Child Sponsorship. Exploring Pathways to a Brighter Future. Basingstoke 2015; Frances Rabbitts, Child Sponsorship, Ordinary Ethics and the Geographies of Charity, in: Geoforum 43, 2012, 926–936; Peter Ove, Change a Life, Change Your Own. Child Sponsorship, the Discourse of Development and the Production of Ethical Subjects. Winnipeg 2018. Zu vereinzelten Aspekten und Organisationen vgl. Michael Barnett, Empire of Humanity. A History of Humanitarianism. New York 2013. 4 Anja Appel, Strategieentwicklung bei NGOs in der Entwicklungszusammenarbeit. Wiesbaden 2008,
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Standardwerk zum deutschen Spendenmarkt 5 haben historische Forschungen zur transnationalen Wohltätigkeit in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts das Phänomen bisher jedoch weitgehend außer Acht gelassen. Dies dürfte vor allem der disparaten Quellenlage geschuldet sein, die wiederum durch den Mangel an historischen Unternehmensarchiven bedingt ist. Grundlage für diesen Beitrag bilden neben den durch Mitarbeitende der Kindernothilfe verfassten Eigendarstellungen 6 und über Bibliotheken erhältlichen Jahresberichten und Mitgliederrundschreiben die im Archiv des Diakonischen Werks und dem Evangelischen Zentralarchiv in Berlin einsehbaren umfangreichen Materialsammlungen und die Korrespondenz der Kindernothilfe, die vor allem die Auseinandersetzung mit konkurrierenden Hilfswerken umfassend dokumentieren.
II. Entstehung der Kindernothilfe in der Hilfslandschaft der deutschen Nachkriegszeit Die offizielle Vereinseintragung des heute größten deutschen Kinderhilfswerks und zahlenmäßig erfolgreichsten Patenschaftsvermittlers im Januar 1961 fiel nicht zufällig in die Zeit, als die Einschränkungen der Nachkriegsjahre für die Deutschen endeten und eine Phase der wirtschaftlichen Prosperität einsetzte. Zugrunde lagen ihr der mit zunehmendem Wohlstand aufkeimende Wunsch, Notleidenden in fernen Ländern zu helfen, kombiniert mit dem Bestreben, eine direkte und persönliche Form des Gebens zu finden. Tatsächlich spielte die Erfahrung der Nachkriegszeit, die zunächst von Nahrungsknappheit, Wohnungsnot, Flucht und Elend geprägt gewesen war, für die Gründungsgeschichte der Kindernothilfe eine entscheidende Rolle. Dass sich die wirtschaftliche Situation in der sich neu konstituierenden Bundesrepublik rasch und drastisch besserte, war nicht zuletzt auch der Hilfe von außen zu verdanken ge-
207–225; Wagener, Globale Sozialität (wie Anm.1); Anette Scheunpflug, Die öffentliche Darstellung von Kinderpatenschaften. Eine kritische Bestandsaufnahme aus entwicklungspädagogischer Sicht. Erlangen 2005. 5 Gabriele Lingelbach, Spenden und Sammeln. Der westdeutsche Spendenmarkt bis in die 1980er Jahre. Göttingen 2009, 359–366, 396. 6 Kai Funkschmidt, 40 Jahre Kindernothilfe. Eine Fallstudie der Entwicklungszusammenarbeit. Moers 2000; Veronika Kölle, Kindernothilfe. Die Entfaltung einer Idee. Moers 1986; Paul Gerhard Aring, Patenschaft. Anmerkungen zu einer aktuellen zeitlosen Form der Nächstenliebe. Moers 1986.
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wesen. Maßnahmen der US-amerikanischen Siegermacht wie das als Marshallplan bekannte „European Recovery Program“ trieben den Wiederaufbau maßgeblich voran und legten den Grundstein für die schnelle Erholung von den Kriegsschäden. 7 In der Zivilgesellschaft sorgten Hilfsleistungen wie die Nahrungsmittelpakete der Organisation „Cooperative for American Remittances to Europe“ (CARE) vielerorts für Erleichterung. 8 Nachdem die Not der unmittelbaren Nachkriegszeit den Fokus der Deutschen auf das eigene Überleben gerichtet hatte, rückten mit der „Bewältigung des neu gewonnenen Wohlstandes“ in den frühen 1950er Jahren bald zunehmend auch fremde Schicksale in das Blickfeld. Neben einem neuen Selbstwertgefühl löste der Wohlstand bei vielen Dankbarkeit für die erhaltenen Hilfsleistungen ebenso wie Mitgefühl für Bedürftige auch jenseits des eigenen Umfelds aus. Viele erkannten in den zunehmenden Berichten über andere Krisengebiete der Welt ihre eigene, vergleichbare Erfahrung und verspürten den Wunsch, etwas von der empfangenen Hilfe zurück- oder vielmehr weiterzugeben. 9 Parallel und ergänzend zu den frühen staatlichen Bemühungen des 1961 institutionalisierten Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit organisierten sich vor allem im kirchlichen Umfeld eine Reihe privater Initiativen mit dieser Zielrichtung. 10 Als entscheidender Stimulus für das schließlich in die Kindernothilfe mündende Engagement fungierte eine Radioübertragung der Abschlusskundgebung des Deutschen Evangelischen Kirchentages am 12.August 1956. 11 Im Rahmen des Kirchenfunkprogramms sendete der neugegründete Westdeutsche Rundfunk von der Groß-
7 Zur Entwicklung der deutschen Wirtschaft nach 1945 vgl. Werner Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Von 1945 bis zur Gegenwart. München 2011; Thomas Bittner, Das westeuropäische Wirtschaftswachstum nach dem Zweiten Weltkrieg. Münster 2001. 8 Jörg Echternkamp, Nach dem Krieg. Alltagsnot, Neuorientierung und die Last der Vergangenheit 1945– 1949. Zürich 2003. Zur Geschichte von CARE siehe Heike Wieters, The NGO Care and Food Aid from America 1945–80. ,Showered With Kindness‘? Manchester 2017. 9 Werner Balsen/Karl Rössel, Hoch die internationale Solidarität. Zur Geschichte der Dritte-Welt-Bewegung in der Bundesrepublik. Köln 1986, 32–45. 10
Annet Heinl/Gabriele Lingelbach, Spendenfinanzierte private Entwicklungshilfe in der Bundesrepublik
Deutschland, in: Thomas Adam/Simone Lässig/Gabriele Lingelbach (Hrsg.), Stifter, Spender und Mäzene. USA und Deutschland im historischen Vergleich. Stuttgart 2009, 287–312. Zu staatlichen Entwicklungs-
diensten und speziell zur Entwicklungsarbeit in Afrika: Bastian Hein, Die Westdeutschen und die Dritte Welt. Entwicklungspolitik und Entwicklungsdienste zwischen Reform und Revolte 1959–1974. München 2005; Hubertus Büschel, Hilfe zur Selbsthilfe. Deutsche Entwicklungsarbeit in Afrika 1960–1975. Frankfurt am Main 2014. 11
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Funkschmidt, 40 Jahre (wie Anm.6), 9; Kölle, Kindernothilfe (wie Anm.6), 12. Zu den frühen Kirchen-
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veranstaltung, die den performativen kirchlichen Raum auf die säkulare Sphäre öffentlicher Plätze und durch die Übertragung bis in die heimischen Wohnstuben ausweitete. 12 Viele Tausende Christen waren in Frankfurt am Main zum siebten Kirchentag seit der Neuordnung der (west-)deutschen Evangelischen Kirche nach dem Zweiten Weltkrieg zusammengekommen. Der seit 1947 amtierende hessen-nassauische Kirchenpräsident Martin Niemöller, der während des Nationalsozialismus zu den Begründern der Bekennenden Kirche gehört hatte und in der Nachkriegszeit immer wieder das Wort gegen Wiederbewaffnung, für Frieden und für eine deutschdeutsche Wiedervereinigung erhob 13, rief während der Schlussveranstaltung zur Hilfe für die Hungernden der Erde auf. 14 Zusätzlich zu der Rekordzahl der ca. 500000 physisch Anwesenden verfolgten zahlreiche Menschen diese Kundgebung zuhause an den Radiogeräten. 15 Unter den Hörern war auch Karl Bornmann, ein Verwaltungsmitarbeiter der Kirchengemeinde im westfälischen Hagen. Selbst durch Hungererfahrungen nach dem Zweiten Weltkrieg und erhaltene Hilfszuwendungen geprägt, fühlte er sich durch den Aufruf zur christlichen Pflicht, bei der Not der Nächsten statt wegzusehen zu handeln, angesprochen. Er begann umgehend, in seiner Gemeinde Geldspenden für hungern-
tagen vgl. Harald Schroeter, Kirchentag als vorläufige Kirche. Der Kirchentag als eine besondere Gestalt des Christseins zwischen Kirche und Welt. Stuttgart 1993. 12 Thomas Mittmann, Kirche im performativen Wandel. Die Entwicklung der Katholikentage und der Evangelischen Kirchentage in der Bundesrepublik Deutschland, in: Frank Bösch/Lucian Hölscher (Hrsg.), Jenseits der Kirche. Die Öffnung religiöser Räume seit den 1950er Jahren. Göttingen 2013, 107–148, hier 108. Zum Kirchenfunk der Nachkriegszeit vgl. Nicolai Hannig, Religion gehört. Der Kirchenfunk des NWDR und WDR in den 1950er und 60er Jahren, in: Geschichte im Westen 22, 2007, 113–137, hier 117f. 13 Wolfram Wette, Seiner Zeit voraus. Martin Niemöllers Friedensinitiativen (1945–1955), in: Detlef Bald/ Wolfram Wette (Hrsg.), Friedensinitiativen in der Frühzeit des Kalten Krieges 1945–1955. Essen 2010, 227– 241. Biografisch: Matthias Schreiber, Martin Niemöller. Reinbek 2008. 14 Gesamtdeutsches Bekenntnis des Kirchentages. Machtvolle Schlußkundgebung mit einer halben Million evangelischer Christen in Frankfurt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.8.1956, 1. Das Manuskript der Kirchentagspredigt ist nicht in den Sammelwerken Niemöllers enthalten, in anderen Reden aus dem Jahr finden sich jedoch ähnliche Elemente, vgl. Martin Niemöller, Reden. Bd. 2: 1955–1957. Darmstadt 1958, 108, 127f. 15 Gottesdienstübertragungen gehörten nach anfänglichen Kontroversen über die „unwürdige Profanisierung“ durch den vermeintlichen Nebenbeikonsum und die mit Sorge betrachtete Entbindung von der persönlichen Teilnahme am Gottesdienst in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre zu den meistgehörten Sendeformaten. Sie fungierten nicht nur als Ersatz für verhinderte Gläubige, sondern brachten auch NichtKirchgänger/innen wieder mit christlichen Inhalten in Kontakt; vgl. Nicolai Hannig, Die Religion der Öffentlichkeit. Medien, Religion und Kirche in der Bundesrepublik 1945–1980. Göttingen 2010, 56.
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de Kinder in Übersee zu sammeln und nach bereits bestehenden Hilfswerken mit etablierter Infrastruktur zu suchen, die er mit den erhaltenen Geldern unterstützen könnte. 16 Fündig wurde er schließlich 1957 bei der in Berlin ansässigen, durch den Berlin-Brandenburger Synodenpräses Lothar Kreyssig 17 und den Leiter der WestBerliner Evangelischen Akademie Erich Müller-Gangloff gegründeten „Aktionsgemeinschaft für die Hungernden in der Dritten Welt“. 18 Kreyssig, der sich schon seit einigen Jahren mit der Verantwortung sowie Handlungsmöglichkeiten der reichen Völker gegenüber den ärmeren beschäftigte, hatte im Gründungsaufruf vom Juli 1957 um eine regelmäßige Spende nach englischem Vorbild gebeten: Der für den bewussten persönlichen Verzicht von einer wöchentlichen Mahlzeit ersparte Geldbetrag sollte der Nothilfe zufließen. Um zu verhindern, dass das geforderte Opfer zu einem bloßen Almosen würde, sollten die Spendenden „die Zeit, die sie sonst für die Mahlzeit benötigen würden, im stillen, gesammelten Gedanken an die Mitmenschen, die in Leid und Entbehrung leben“, verbringen und sich so regelmäßig gedanklich mit den Hungernden verbinden. Mit dem Hinweis, dass „Völker und Erdteile […] heute miteinander in Verbindung und aufeinander angewiesen [sind], wie nie vorher“, erklärte er es für die nächsten Jahrzehnte zur „Weltaufgabe Nummer eins“, dass die Hungernden der Erde „zu einem selbständigen, menschenwürdigen Dasein kommen“. 19 16
Zur Gründungsgeschichte der Kindernothilfe vgl. Aring, Patenschaft, 36f., Funkschmidt, 40 Jahre, 9f.,
und Kölle, Kindernothilfe, 12f. (alle wie Anm.6). 17
Lothar Kreyssig (1898–1986) war 1934 der Bekennenden Kirche beigetreten und als Vormundschafts-
richter während des Nationalsozialismus gegen Hitlers Euthanasieprogramm aktiv, weswegen er 1942 vorzeitig in den Ruhestand versetzt wurde. Er verband in verschiedenen Aktivitäten seine Ideen von Ökumene, Diakonie und Solidarität und erlangte vor allem durch seine Beteiligung an der Neukonstituierung der Evangelischen Kirche in der Nachkriegszeit und durch die Gründung des Jugendfreiwilligendienstes „Aktion Sühnezeichen Friedensdienste“ im Jahr 1958 Bekanntheit. Biografisch siehe Konrad Weiß, Lothar Kreyssig – Prophet der Versöhnung. Gerlingen 1998. Zur Aktion Sühnezeichen: Christine G. Krüger, Dienstethos, Abenteuerlust, Bürgerpflicht. Jugendfreiwilligendienste in Deutschland und Großbritannien im 20. Jahrhundert. Göttingen 2016; Anton Legerer, Tatort: Versöhnung. Aktion Sühnezeichen in der BRD und in der DDR und Gedenkdienst in Österreich. Leipzig 2011; Gabriele Kammerer, Aktion Sühnezeichen Friedensdienste. Aber man kann es einfach tun. Göttingen 2008. 18
Bernhard Ohse, Einmal kein Mahl. Die internationale Aktionsgemeinschaft für die Hungernden, in:
Christian Berg (Hrsg.), Ökumenische Diakonie. Berlin 1959, 185–194; Gründungsaufruf, Juli 1957, in: INKOTA-Geburtstagsbrief. 50 Jahre Aktionsgemeinschaft für die Hungernden 2007, III.
19
Hierbei spielten auch die Hilfsempfänger nicht bloß als machtlose Objekte eine Rolle: „Die zu neuem
Selbstbewußtsein erwachten, im raschen sozialen Umbruch begriffenen Völker öffnen sich unserer Teilnahme nur, wenn sie eine wirkliche Solidarität verspüren.“ Die Gelder sollten zudem „in unmittelbarer
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Mit der Sammlung sollte Kreyssigs Idee der „Ökumenischen Diakonie“ in einer großen gemeinsamen Aktion der im Ökumenischen Rat der Kirchen zusammengeschlossenen beiden Großkirchen zu einer organisatorischen Struktur weltweiter Hilfe aufgebaut werden, die das Ziel verfolgte, „anhaltenden Überfluß und elementaren Mangel in rechter Weise zueinander zu bringen“. 20 Die Aktion wurde mit vorgedruckten Umschlägen und Sammeldosen vielerorts aufgegriffen, in einigen Kirchengemeinden – wie durch Bornmanns Engagement – als Dauerkollekte durchgeführt und konnte bis Ende 1959 Spenden in Höhe von insgesamt 300000 DM mobilisieren. 21 Als Bornmann 1958 nach Duisburg umgezogen war und sich dort um die Genehmigung seiner Sammelaktivität bemühte, stieß er bei dem für den Kirchenkreis zuständigen Superintendenten Otto Vetter auf großes Interesse für die Aktion. Vetter hatte während des Kriegs in seiner Gemeinde selbst vielfach Hilfe geleistet und vermittelt. Er erteilte Bornmann eine Sammlungsgenehmigung für den gesamten Kreis und stellte wertvolle Kontakte zu Kirchenvertretern her. Bornmann unternahm daraufhin in seiner Freizeit große Anstrengungen, um Unterstützer zu gewinnen, die er insbesondere im Umfeld des „Jugendbundes für Entschiedenes Christentum“ und der Gemeinschaftsbewegung fand. Zudem rief er zusammen mit Vetter die Duisburger Geschäftsinhaber auf, Sammelbüchsen für die Hungernden in der Welt aufzustellen. Die ungewöhnlich hohen Summen seiner Kollekten zeugten von einer hohen Spendenbereitschaft in der gesamten Bevölkerung. Die Initiative traf offenbar bei vielen Menschen einen Nerv, die noch frische und eindrückliche Erinnerungen daran hatten, selbst als Kinder Hunger sowie Hilfe erfahren zu haben, und die nun fähig und willens waren, anderen Notleidenden zu helfen. 22 Die Aufrufe von Niemöller und Kreyssig waren der frühe Ausdruck eines neuen Interesses an den ‚fer-
Verbindung mit dem Bedachten nicht anonym verteilt, sondern für ganz bestimmte produktive und karitative Notwendigkeit verwendet“ und den Spendern darüber berichtet werden. 20 Joachim Garstecki, Gesinnung erweist sich durch die Tat. 50 Jahre „Aktionsgemeinschaft für die Hungernden“ – ein folgenreicher Aufbruch aus ökumenischer Ungeduld, in: INKOTA-Geburtstagsbrief (wie Anm.18), I. 21 Ulrich Willems, Entwicklung, Interesse und Moral. Die Entwicklungspolitik der Evangelischen Kirche in Deutschland. Opladen 1998, 226f. 22 Zum Motiv der Dankbarkeit für die persönlichen Hilfserfahrungen der Spendenden vgl. Aring, Patenschaft (wie Anm.6), 37. Ausführlich bei Stefan Voges, Hilfe in der Not. Nachkriegserfahrungen in der Begründung von Entwicklungshilfe, in: Andreas Holzem/Christoph Holzapfel (Hrsg.), Zwischen Kriegs- und Diktaturerfahrung. Katholizismus und Protestantismus in der Nachkriegszeit. Stuttgart 2005, 91–108.
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nen Nächsten‘. Durch verdichtete Medienberichterstattung über außereuropäische Länder im Zuge der Dekolonisation waren die Bundesbürger immer besser über Katastrophen und Krisengebiete informiert. Damit gingen ein neues Problembewusstsein und das verbreitete Gefühl der eigenen Mitverantwortung für die Hungersnöte auf der Welt einher, denen man in der neuen Rolle als Gebende zu begegnen versuchte. 23 Bereits 1954 auf dem 76. Deutschen Katholikentag in Fulda waren ebenfalls in Sorge um die Hungernden in Übersee Forderungen nach der institutionalisierten Ausbildung und Entsendung von Entwicklungshelfenden und der Bekämpfung des Hungers laut geworden. 24 Erste Sammlungen zu diesen Zwecken veranstalteten die „Weltunion katholischer Frauenverbände“ und die Pax Christi-Friedensbewegung 25, deren deutscher Zweig unter dem Namen „Eine Mahlzeit für die Hungernden“ ähnlich wie Kreyssig zu einem regelmäßigen Fastenopfer aufrief. Ihr Vizepräsident Alfons Erb regte das Zentralkomitee der deutschen Katholiken dazu an, in der Fastenzeit 1959 um eine gebündelte Aktion gegen den Welthunger zu bitten. Verstärkt durch die Forderung des Kölner Erzbischofs Josef Kardinal Frings im Herbst 1958 auf der Fuldaer Bischofskonferenz wurde dort „Misereor“ als bundesweite Spendensammlung und Hilfswerk ins Leben gerufen, die fast 34 Millionen DM zusammentrug. 26 Um der Bereitschaft zu materiellen Gaben innerhalb der protestantischen Gemeinden ein Pendant zur katholischen Aktion anbieten zu können, beantragte der Berliner Kirchenrat Christian Berg beim Diakonischen Rat eine eigenständige Sammlung für die kommende Adventszeit. Diese sollte nicht nur als „Opfer der Dankbarkeit“ für die zum Wiederaufbau Deutschlands erhaltene Auslandshilfe durchgeführt werden, sondern vor dem Hintergrund der Kolonialgeschichte auch ausdrücklich ein Zeichen des Umdenkens und der Versöhnung sein. „Angesichts der vermuteten schuldhaften Verstrickung der westlichen Mission in die Kolonialgeschichte“ sollte sie bei den Diakonischen Werken und nicht bei den Missionsgesell-
23
Heinl/Lingelbach, Spendenfinanzierte private Entwicklungshilfe (wie Anm.10), 288.
24
Daniel Gerster, Friedensdialoge im Kalten Krieg. Eine Geschichte der Katholiken in der Bundesrepu-
blik 1957–1983. Frankfurt am Main/New York 2012, 177. 25
Jens Oboth, Pax Christi Deutschland im Kalten Krieg 1945– Gründung, Selbstverständnis und „Vergan-
genheitsbewältigung“. Paderborn 2017. 26
Norbert Trippen, Josef Kardinal Frings. Bd. 1: Sein Wirken für das Erzbistum Köln und für die Kirche in
Deutschland. Paderborn 2003.
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schaften angesiedelt werden. Die zunächst einmalig geplante Hilfsaktion, die den Schwerpunkt auf die aktuelle Hungersnot in Indien setzte, sollte „wesentlich nicht missionarischen Zwecken dienen“, sondern im Gegensatz zur Mission als Diakonie einen uneigennützigen Dienst an allen Bedürftigen leisten. 27 Zunächst sollten alle Kollekten zusammengetragen und erst später über den konkreten Einsatz der Gelder und deren Verteilung entschieden werden, so dass nicht jeder Gemeinde von der genauen Verwendung berichtet werden könne. 28 Der Name „Brot für die Welt“ sollte die universale Versorgung mit dem elementar Notwendigsten ausdrücken. 29 Die erste Aktion blieb mit Einnahmen von 24 Millionen DM zwar hinter „Misereor“ zurück, wurde aufgrund des großen Erfolgs dennoch im Folgejahr wiederholt und zu einer dauerhaften Einrichtung des Diakonischen Werks – wodurch im konfessionellen Wettstreit auch „Misereor“ fortgeführt und institutionalisiert wurde. 30 Parallel zur Entwicklung der beiden großen kirchlichen Hilfswerke sah sich Bornmann in Duisburg mit konzeptionellen Folgefragen konfrontiert. Vermehrt beobachtete er den Wunsch nach persönlicheren Hilfsmöglichkeiten und mehr Unmittelbarkeit. Statt in einen anonymen „großen Topf“ einzuzahlen und nur schwer die weitere Verwendung und Wirksamkeit ihrer Spende nachverfolgen zu können, zogen viele es vor, Hilfe „direkt von Mensch zu Mensch“ zu leisten und eine Verbindung zu den Empfängern aufzubauen, um am Effekt der eigenen Gabe teilhaben zu können. Hierin kamen einerseits die Sorge um den Verbleib des in die Ferne gespendeten Geldes und ein zunehmender Wunsch nach Transparenz zum Ausdruck, andererseits das Anliegen, wissen zu wollen, inwieweit die eigene Spende tatsächlich helfen und etwas verändern konnte. 31 27 Cornelia Füllkrug-Weitzel, Weltweite Diakonie, in: Günter Ruddat/Gerhard K. Schäfer (Hrsg.), Diakonisches Kompendium. Göttingen 2005, 597–612, hier 601. Erst 1957 waren das nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene Hilfswerk der EKD und der „Centralausschuss der Inneren Mission“ zusammengeschlossen worden, 1975 schließlich umbenannt in „Diakonisches Werk der EKD“. 28 Konstanze Evangelia Kemnitzer, Der ferne Nächste. Zum Selbstverständnis der Aktion „Brot für die Welt“ 1959–2000. Stuttgart 2008, 47f. 29 Christian Berg, „Brot für die Welt“. Bemerkungen zur Entstehung und Bedeutung einer ökumenischen Aktion der evangelischen Christenheit in Deutschland, in: ders. (Hrsg.), Brot für die Welt. Dokumente, Berichte, Rufe. Berlin/Stuttgart 1962, 19–33, hier 24f. 30 Kemnitzer, Der ferne Nächste (wie Anm.28), 42. Als Gründe hierfür werden die höhere Verzichtsbereitschaft zur Fastenzeit und der Stellenwert des Opfers im Vergleich zu der eher von Konsum geprägten Adventszeit vermutet. 31 Zum Bedürfnis nach Transparenz vgl. Gabriele Lingelbach, Die Entwicklung von Transparenzgeboten im bundesrepublikanischen Spendenwesen, in: Forschungsjournal Soziale Bewegungen 1, 2011, 47–54.
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Etwa zeitgleich zu diesen Überlegungen lernte der als Jugendpfarrer im Südwesten Indiens eingesetzte Missionar Adolf Kölle durch den befreundeten Bischof Richard Lipp dort die von der Basler Mission seit den 1830er Jahren errichteten Waisenhäuser und Schülerheime sowie das von ihr damit verknüpfte Patenschaftssystem kennen. Dieses war parallel zum Auf- und Ausbau des indischen Schulsystems durch die englischen Missionen entstanden und knüpfte an die bereits 1709 durch den ersten evangelisch-lutherischen Missionar Bartholomäus Ziegenbalg in Südostindien betriebene pietistische Praxis an, die Versorgung und christliche Ausbildung indischer Kinder durch deutsche Christen fördern zu lassen. 32 Während des Zweiten Weltkriegs waren die aus Deutschland unterhaltenen Patenschaftsbeziehungen der seit 1815 bestehenden Basler Mission aufgrund erschwerter Auslandsüberweisungen größtenteils eingestellt worden. Kölle nahm die Idee der Spendenpatenschaft als Inspiration mit zurück nach Deutschland und schlug Kreyssig eine auf die Ausbildung von Kindern fokussierte Verwendung der Spenden vor. Bei einem Treffen in Berlin im Mai 1959 kamen ihre Ideen zusammen. Schon im Oktober vermittelte Bornmann über Kölles Beziehungen in Indien die ersten fünf Kinder an deutsche Pateneltern. Auch Kölles Filmaufnahmen von der Not in Südindien überzeugten viele Interessierte von der Notwendigkeit, die indischen Kinder zu unterstützen und von der Wirksamkeit einer persönlichen Patenschaft. Mit der gezielten individuellen Verwendung der gesammelten Spenden hatte sich die Duisburger Initiative in ihrer Zielsetzung von Kreyssigs „Aktionsgemeinschaft für die Hungernden“ entfernt, so dass sie im Folgejahr die Verbindung lösten. 33 Unter Vorsitz Otto Vetters und mit dem vorläufigen Namen „Aktion Hungernde“ übernahm
32
Ziegenbalg erwähnte in Briefen an seinen Lehrer August Hermann Francke frühe Patenschaftsbezie-
hungen, bei denen junge Inder neben der materiellen Fürsorge und christlichen Erziehung auch in das Gebet der europäischen Unterstützer eingeschlossen werden sollten und diese im Gegenzug deren exotischen Namen erfahren sollten; Arno Lehmann, Es begann in Tranquebar. Die Geschichte der ersten evangelischen Kirche in Indien. 2.Aufl. Berlin 1956, 160ff.; Aring, Patenschaft (wie Anm.6), 23. Zur Basler Mission siehe Judith Becker, Conversio im Wandel. Basler Missionare zwischen Europa und Südindien und die Ausbildung einer Kontaktreligiosität 1834–1860. Göttingen 2015. Auch bei katholischen Missionen gab es ähnliche Bemühungen um Kinder in der Ferne: Katharina Stornig, Between Christian Solidarity and Human Solidarity. „Humanity“ and the Mobilisation of Aid for Distant Children in Catholic Europe in the Long 19th Century, in: Fabian Klose/Mirjam Thulin (Eds.), Humanity. A History of European Concepts in Practice. Göttingen 2016, 249–266. 33
Kölle, Kindernothilfe (wie Anm.6), 19f. Die Spendeneinnahmen der „Aktion Hungernde“ hatten bis
dahin für die Jahre 1959 und 1960 insgesamt über 90000 DM betragen.
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sie 1960 die Betreuung von 250 weiteren Kindern in 14 indischen Heimen und sah sich damit bald vor organisatorische Herausforderungen gestellt, die von Bornmann allein kaum noch zu bewältigen waren. 34 Während bei „Brot für die Welt“ mit den Spendengeldern ausdrücklich keine missionarischen Zwecke erfüllt werden sollten und die Begründer sich gegen Anfragen nach persönlichen Kontakten oder den Gemeinden individuell zugewiesenen ‚eigenen‘ Projekten positionierten, da deren Organisation einen „Mitarbeiterstab, den Kirche nicht leisten kann und darf“ erfordere 35, entschieden sich Bornmann und Kölle für ihre weitere Sammeltätigkeit mit dem Patenschaftsprinzip für genau diesen Weg. Im Laufe des Jahres 1960 fand Bornmann, der Anfang 1965 aus gesundheitlichen Gründen seine Arbeit niederlegen musste, rege Unterstützung. Hierzu gehörten vor allem Lüder Lüers und Karl Friedrich Windgassen, Helene Wiefelspütz, die als Inhaberin eines Druckhauses und Verlages das Werk primär mit der Produktion kostengünstiger Werbebroschüren und Rundbriefen unterstützte, sowie ihr Mitarbeiter Georg Dörr als Kassenverwalter. Beratungen mit anderen Hilfswerken wie der für ihren Wirkungskreis Duisburg zuständigen Rheinischen Mission, der Basler Mission sowie mit „Brot für die Welt“ über eine mögliche Zusammenarbeit oder gar organisatorische Vereinigung zur personellen Entlastung endeten ergebnislos. Auf Empfehlungen seitens der Leitung der Evangelischen Kirche im Rheinland und der Landesregierung beschloss der Vorstand im Dezember 1960 ein eigenes Werk zu gründen und als Verein zu führen, der lediglich als Geldgeber und Kooperationspartner, in Indien aber nicht als Träger der unterstützten Heime fungierte. Die Gründung des Kindernothilfe e. V. erfolgte schließlich am 7.Januar 1961. 36
34 Ebd.16. Neben den Verhandlungen in Indien, die vor allem über die bestehenden Strukturen der Basler Mission und Bischof Richard Lipp, aber auch mit der sich durch die Unabhängigkeit Indiens aus dem Heimwesen zurückziehende englische Mission erfolgte, umfasste die Patenschaftsarbeit in Deutschland primär die Verwaltung der Gelder, das Verfassen von Briefen, Berichten und Werbetexten, die Beantwortung von Anfragen sowie weitere Werbemaßnahmen. 35 Kemnitzer, Der ferne Nächste (wie Anm.28), 47 Anm.235. 36 Dem bei der konstituierenden Sitzung gewählten Beirat des Vereins gehörten zusätzlich zu den bereits genannten Personen Ilse Henn, Pfarrer Friedrich Müggenburg, Stadtmissionar Wilhelm Tuchborn sowie Gerhard Wagener an; vgl. Kölle, Kindernothilfe (wie Anm.6), 17, 19–22.
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III. Patenschaften in der Kritik in den 1970er und 1980er Jahren Wenngleich „Brot für die Welt“ bereits in der Gründungsphase wegen programmatischer Differenzen eine direkte Zusammenarbeit mit der Kindernothilfe abgelehnt hatte, schloss dies die weitere Unterstützung nicht aus. Sowohl „Brot für die Welt“ als auch der Kirchliche Entwicklungsdienst (KED) finanzierten den Bau mehrerer Heime, bis die Kindernothilfe, die mittlerweile über 14000 Kinder in über 300 Heimen unterstützte, 1972 ihren Hilfsansatz mit einem größeren Förderantrag zur Diskussion stellte. Um zu überprüfen, ob das Programm als geeignetes Hilfsmittel gemäß aktueller entwicklungspolitischer und -pädagogischer Prinzipien wirksam und förderungswürdig war, ließ „Brot für die Welt“ in den unterstützten Einrichtungen in Indien Daten erheben. Die 1973 intern vorgelegten Ergebnisse zeichneten ein düsteres Bild von den vielerorts gängigen Erziehungsmethoden und bildeten die Grundlage langwieriger Gespräche sowohl zwischen den Hilfswerken als auch mit den indischen Partnern. 37 Die Ergebnisse einer eigenen 1977 von der Kindernothilfe zur Verteidigung und Ausweitung ihrer Programme in Indien in Auftrag gegebenen Evaluierung warfen weitere Kritik an der mit der institutionalisierten Einzelfallhilfe verknüpften Heimunterbringung der Kinder auf. Sie führe nach westlichen Standards und neuen Erkenntnissen überholte Erziehungsmethoden durch schlecht ausgebildetes und überlastetes Personal fort. Pädagogen monierten zudem, dass es sich bei den meisten Kindern nicht um Waisen, sondern bei etwa 80 Prozent um Kinder aus armen, aber intakten Familien handelte, in deren traditionellem Verbund sie trotz Armut bessere Fürsorge erfahren würden. 38
37
Archiv für Diakonie und Entwicklung, Berlin (künftig: ADE), HGSt 9494, Übersicht: Zusammenarbeit
zwischen Kindernothilfe und AG-KED, 1974; ADE, HGSt 9529 H. O. Hahn an Erhard Eppler, 19.6.1979, Betr. Schreiben der KNH an Sie vom 2.5.1979. Das interne Papier wurde nach dessen Erheber „Bartelt-Studie“ genannt. Die Auswertung erfolgte durch eine Sozialpädagogin, die in einer „Arbeitsgemeinschaft Kinder in der Dritten Welt“ Standpunkte der Kontroverse publizistisch aufbereitete: Angelika Farnung (Hrsg.), Die verkauften Kinder. Patenschaften – eine Hilfe für die dritte Welt? Wuppertal 1982. 38
ADE, HGSt 9493, Alexander Thomas, Stellungnahme zur Arbeit der Kindernothilfe in Indien, Müns-
ter, 22.2.1977. Der Autor wurde wegen seiner Expertise als Professor für psychologische Grundlagen sozialer Entwicklung und aus mehrjähriger Tätigkeit als psychologischer Berater in einem SOS-Kinderdorf ausgewählt.
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Hans Otto Hahn, seit 1969 Direktor von „Brot für die Welt“ und Vizepräsident des Diakonischen Werkes, strebte zwar ausdrücklich „keinen Kollisionskurs“ mit der Konkurrenz an und erhoffte sich aus der Auseinandersetzung einen Lernprozess und damit weitere Kooperationsmöglichkeiten. Spannungen im Verhältnis zwischen den beiden Hilfswerken zeigten sich jedoch in der Ablehnung vereinzelter Förderanträge sowie missmutigen Äußerungen Hahns über die bisherige Zusammenarbeit: Während die Kindernothilfe mit werbewirksamen Patenschaften den „leichten“ Spendenweg gehe und damit schon die eigenen Bemühungen der Bewusstseinsbildung in den Gemeinden konterkariere, hätte sie ihnen „die Kärrnerarbeit des Geldsammelns für die viel unattraktivere Arbeit des Aufbaus von Heimen“ überlassen. 39 Während des nigerianischen Bürgerkriegs hatte „Brot für die Welt“ selbst zusammen mit der Caritas einmalig durch ein Patenschaftsprogramm die Rettung einiger stark unterernährter Kinder finanziert. Hier hatte sich jedoch offenbart, wie zeitund kostenintensiv die Verwaltung der von den deutschen Pateneltern erwarteten Fotos, Berichte und Briefwechsel mit ‚ihrem‘ Kind war, so dass die Ansprüche vom Personal vor Ort kaum zu erfüllen waren. Diese Erfahrung ließ beide Hilfswerke auch aus praktischen Gründen von diesem Finanzierungsweg Abstand nehmen. 40 Innerhalb der weiteren ‚Helferszene‘ waren Patenschaften in ihrer Eigenschaft als unwirksames Hilfsinstrument sowie als ertragreiches, aber auf oberflächlichen
39 ADE, HGSt 9493, Hahn an Gläser, Diakonisches Werk Österreich, Wien, 17.12.1974; ADE, HGSt 9529, Hahn an Köhler, Ausschuss für entwicklungspolitische Bildung und Publizistik (ABP), 19.12.1977, Betr. Antrag Kindernothilfe. Als Begründung für die Ablehnung wurde eine zunächst erwünschte „Konsolidierung und qualitative Verbesserung der KNH-Projekte unter Verwertung der Ergebnisse“ der Studie genannt, ADE, HGSt 9493, Dr. H. Gundert an L. Lüers, 14.3.1974, Betr. Kindertagesstätte Sao Vicente, Santos/Brasi-
lien. 40 Mithilfe einer durch das Rote Kreuz betriebenen Luftbrücke brachten sie über 2200 Kinder aus dem „Kessel“ Biafras in ein Kinderdorf in Gabun, wo sie in eigenen Krankenhäusern mit spezieller Ernährung und Medikamenten gepflegt wurden. Patenschaften aus der Bundesrepublik sollten die Kosten tragen, die aufgrund des hohen Beitrags meist gemeinschaftlich oder tageweise für acht DM vermittelt wurden; Archiv des Deutschen Caritasverbandes (ADCV), AA-Auslandsabteilung, 187 I+361.06 Ga Fasz.03, Telex Pölzl an Pater Ruhlmann in Libreville, 4.6.1969; Rundbrief Pölzl an Patenspender, 17.12.1971. Die Werbung dafür lautete: „Tausende helfen wie Sie, und so werden tausend Kinder leben. Es ist besser, ein Kind zu retten als dem großen Sterben tatenlos zuzusehen.“ ADE, HGSt 9568, Diakonisches Werk der EKD, Ihr Biafra-Patenkind, 1969. Zur Bedeutung des Biafra-Konflikts für die Solidarität der Bundesbürger vgl. Florian Hannig, Mitleid mit Biafranern in Westdeutschland. Eine Historisierung von Empathie, in: Werkstatt Geschichte 68, 2015, 65–77.
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Versprechen basiertes Spendenmodell zunehmend in Misskredit geraten. Einige Organisationen, die selbst Patenschaften vermittelt hatten, wandten sich Mitte der 1970er Jahre trotz des enormen finanziellen Erfolgs aufgrund neuer entwicklungspolitischer Überzeugungen davon ab und kritisierten das Konzept fortan vehement. 41 In einem 1978 zirkulierenden Faltblatt sprach sich auch „Brot für die Welt“ öffentlich explizit gegen Kinderpatenschaften aus. Zu diesem Zeitpunkt waren in der Bundesrepublik zwar mindestens ein Dutzend Patenschaftsorganisationen aktiv 42, die Kindernothilfe darunter mit einem Marktanteil von über 80 Prozent jedoch mit Abstand die größte und deswegen häufig synonym für die Hilfsform genannt. Entsprechend verstanden die Duisburger die Kritik als Gleichsetzung mit ihrer Arbeit, Negativwerbung und direkten Angriff, der zu weiteren Spannungen führte. 43 Ihren Höhepunkt fand die Auseinandersetzung 1979 im von den Vereinten Nationen ausgerufenen „Internationalen Jahr des Kindes“, in dem der Situation von Kindern auf der ganzen Welt sowie der Arbeit von Kinderhilfswerken besondere mediale Aufmerksamkeit zuteil wurde. Anfang April sorgte der Beitrag „Hilfe mit beschränkter Haftung“ des Dokumentarfilmers Peter Krieg in der ARD-Sendung „Monitor“ für Aufsehen. 44 Der Film zeichnete ein drastisches Bild von den Zuständen in einigen von der Kindernothilfe unterstützten indischen Heimen, der als gute Beispiele von „Brot für die Welt“ und „Misereor“ finanzierte Entwicklungshilfeprojekte gegenübergestellt wurden. Krieg erhob Vorwürfe gegen Korruption, gewalttätiges Personal, den Kindern diktierte Briefe, die Auswahl der Kinder aus überwiegend intakten Familien und deren Entfremdung, die von zwei ehemaligen Patenkindern und ihren Angehörigen bekräftigt wurden. Die Vertreter der Kindernothilfe verstimmte zusätzlich, dass sie vor der Ausstrahlung keine Stellung zu den Vorwürfen hatten nehmen können. 45 Einige gleichzeitig zirkulierende kritische Artikel über Kinderpatenschaften in
41
So etwa „Terre des Hommes“ und die aus Kreyssigs Initiative hervorgegangene „Aktionsgemeinschaft
Solidarische Welt“, die ab 1975 nur noch projektbezogene Hilfe anboten: Terre des Hommes ändert Hilfsprogramm, in: Berliner Kirchenreport, 28.1.1975; Aktionsgemeinschaft Solidarische Welt ändert Konzeption der Patenschaften, in: Berliner Kirchenreport, 27.6.1975. 42
Darunter u.a. die Deutsche Welthungerhilfe, Inter Mission, SOS Kinderdörfer und die Andheri-Hilfe.
43
ADE, HGSt 9493, Kosack an Vizepräsident Dr. Weeber vom 20.12.1978.
44
Kindernothilfe exportiert Relikt vergangener Sozialerziehung, in: epd ZA Nr.68, 5.4.1979, 2; Peter Bosse,
Umstrittene Patenschaften der Kindernothilfe in Indien, ebd.4. 45
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ADE, HGSt 9529, Stellungnahme Kindernothilfe zu Film „Hilfe mit beschränkter Haftung“, 9.4.1979.
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kirchlichen Zeitschriften zur internationalen Zusammenarbeit erweckten überdies den Eindruck einer konzertierten Kampagne der konkurrierenden Hilfswerke gegen die Kindernothilfe. 46 Vielerorts wurden nun die schon seit Jahren diskutierte Thematik der Heimerziehung aufgegriffen und Aspekte wie die langfristige Entwurzelung, Isolation und Entfremdung der Kinder hervorgehoben. Ihre Ungleichbehandlung fördere statt des erhofften sozialen Aufstiegs vielmehr Elitenbildung und Neid innerhalb von Gemeinschaften und unter Geschwistern. 47 An der Kritik wird deutlich, dass der den Patenschaften zugrunde liegende Ansatz der institutionalisierten Einzelfallhilfe nicht mehr den zeitgenössischen pädagogischen Prinzipien entsprach. Statt die Kinder zur Selbstständigkeit zu befähigen, so hieß es, werde ihnen durch das praktizierte Patenschaftssystem die Abhängigkeit von Fremden vor Augen geführt und damit ein paternalistisches koloniales Machtgefälle fortgeschrieben. 48 Anstatt an den Kindern seien die Programme an den individuellen Bedürfnissen ihrer ‚Kunden‘ ausgerichtet. Die Kinder würden zu reinen Objekten degradiert, die teilweise wie aus einem Versandkatalog ausgewählt und „verpatet“ werden könnten. 49 Durch die Intensivierung der Werbung erschienen Kinderpatenschaften immer mehr wie ein modisches Konsumprodukt, dem innerhalb der Hilfswerke schon länger der Ruf angeheftet wurde, dem Motto „jedem Deutschen seinen Neger“ zu folgen. 50
46 Arme Kinder ins Heim? Zum Entwicklungsansatz der Kindernothilfe, in: der überblick 4/78; „Kinder im Supermarkt des Helfens“, in: 3. Welt Informationen des EPD 10/1978. Zu den Vermutungen einer Kampagne vgl. ADE, HGSt 9529, Aring an Hahn 22.8. und 29.9.1979. 47 Exemplarisch: Hilfe für die Dritte Welt. Patenschaften können auch problematisch sein, in: Bonner Generalanzeiger, 1.9.1979. Viele Argumente waren bereits in älteren Diskussionen über ähnliche Hilfsformen angeführt worden; das Herausnehmen der Kinder aus ihrer gewohnten Umgebung wurde etwa bereits Ende der 1960er Jahre in Bezug auf die von Terre des Hommes vermittelten Adoptionen aus Vietnam und Biafra als „falsch und schädlich“ kritisiert: ADE, HGSt 3360, Register „Korr. Allg.“, Sekretariat an J. Fleischhauer, 4.2.1969. 48 Dies verdeutlichte bereits das der Verbindung zugrundeliegende Ungleichgewicht zwischen der freiwilligen Beziehungsaufnahme des Spenders und der durch die eigene Notlage erzwungenen Annahme der Hilfe. 49 ADE, HGSt 9493, Hahn an Gläser, Diakonisches Werk Österreich, 17.12.1974. 50 So die interne Kritik bei „Brot für die Welt“: ADE, HGSt 9566, Rainer Kruse an Traute Martens, 10.3.1970. Die aggressiven Werbemethoden des 1979 auf dem Höhepunkt der Kontroverse auf den deutschen Markt tretenden Ablegers des US-amerikanischen Patenschaftsgroßkonzerns „World Vision“ mit Steckbriefen zur Auswahl der Kinder und stark emotionalisierenden Ansprachen verstärkten dieses Bild; vgl. Lingelbach, Spenden (wie Anm.5), 362.
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Neben inhaltlich-programmatischen Mängeln der Ausführung vor Ort und den durch ihre Spenden geförderten negativen Effekten auf die Kinder wurde auch eine bestimmte „Mentalität“ der Spendenden, die dem Patenschaftskonzept zu seinem immensen Erfolg verhalf, zum Gegenstand der Debatte. Kritisiert wurde vorrangig deren mit „billigem Mitleid“ verknüpfte Sentimentalität, ihre Bequemlichkeit, sich mit dieser Form der Hilfe einen Beitrag der Notlinderung zu „erkaufen“, ohne ein tieferes Interesse an der Familie und Umwelt ,ihres‘ Kindes zu pflegen sowie egoistische Besitzansprüche und Erwartungen gegenüber dem Kind und seinen versprochenen ‚Gegenleistungen‘ in Form von Briefen und Dankbarkeit zu hegen. 51 Dazu gehörte auch das ‚Anspringen‘ auf die stark emotionalisierende und teilweise mit psychologischen Druckmitteln arbeitende Werbung, die sich nicht dem Gemeinwohl verpflichtet fühle. Die Bereitschaft, reflexhaft Kinder, nicht aber alte, kranke oder Menschen mit Behinderungen zu unterstützen, zeuge von mangelndem Interesse für die Probleme der Menschen in Entwicklungsländern. 52 Die Kritik an den Pateneltern ging in den meisten Fällen mit einer breiter gefassten Gesellschaftskritik einher, die aktuelle Tendenzen von zunehmender Individualisierung, „privatistisch anmutender Abkapselung“ und Gleichgültigkeit gegenüber dem Weltgeschehen sowie der Zusammenhänge des eigenen Wohlstands darin und einen damit einhergehenden Rückgang von Empathie beklagte. 53 Während die Kindernothilfe versuchte, dieser konstatierten „wachsende[n] Verhärtung der Gesamtbevölkerung“, in der „der Rhythmus des täglichen Lebens sich längst damit abgefunden [hat], dass zwei Drittel der Menschheit hungern“ 54, mit einer persönlichen Verbindung zu einem Einzelschicksal entgegenzuwirken, bezweifelten Kritiker deren Effekt auf Bewusstsein und Solidarität in der Mehrheit der westdeutschen Gesellschaft. Stattdessen herrsche „allenfalls ein auf dem Boden einer kolossalen Verdrängung gewachsenes schlechtes Gewissen“ vor, das mittels regelmäßiger Überweisung wie durch einen modernen Ablasshandel besänftigt werde. 55 Die Kindernothilfe zeigte sich empört über die Vorwürfe, insbesondere die Kritik
51
Gesammelte Punkte bei: Aring, Rundbrief (wie Anm.1).
52
ADE, HGSt 9493, Dr. Schober, Vorsitzender AG KED, Die Arbeit der Kindernothilfe in Zusammenarbeit
und kritischem Dialog mit anderen Hilfswerken, 21.1.1981, 6. 53
Arme Kinder ins Heim? (wie Anm.46).
54
ADE, HGSt 9529, Aring an den Ausschuss für Entwicklungsbezogene Bildung und Publizistik,
11.11.1977. 55
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Balsen/Rössel, Hoch die internationale Solidarität (wie Anm.9), 32.
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an ihren Unterstützern. Als Folge der Kontroverse hatte sie Kündigungen für rund 650 Patenschaften und zahlreiche Zuschriften von verunsicherten Spendenden mit Hinweis auf den öffentlichen Streit bekommen. Im zwanzigsten Jahr ihres Bestehens konnte sie jedoch mit insgesamt bis zu 12000 neuen Vermittlungen sogar einen Anstieg von fast 25 Prozent zum Vorjahr verbuchen. 56 Dies war nicht zuletzt auch einem in der ganzen Republik verteilten loyalen Unterstützerkreis zu verdanken, der das Anliegen des Vereins und die eigene Spendenwahl verteidigte und darüber hinaus mit vielfältigen Aktionen zeigte, sich nicht nur durch das Öffnen des Geldbeutels gegen die Not in den Entwicklungsländern engagieren zu wollen. 57
IV. „Viele kleine Leute an vielen kleinen Orten“. Unterstützende Partizipation und ehrenamtliches Engagement im Rahmen der Kindernothilfe Wie die meisten großen Hilfsorganisationen entstand auch die Kindernothilfe aus der privaten Initiative weniger Einzelpersonen heraus, die zunächst unentgeltlich die Grundpfeiler der Vereinsarbeit aufbauten. Dies war nur neben einem regulären Beschäftigungsverhältnis mit zusätzlichem Raum für weitere Aktivitäten oder anderweitiger finanzieller Absicherung, durch privaten Verzicht und durch ein großes Maß an Überzeugtheit von und Vertrauen in die Wirksamkeit der investierten Arbeit möglich. Bereits beim Auf- und Ausbau der Initiative „Aktion Hungernde“ hatte Karl Bornmann aufgrund fehlender Ressourcen den Großteil der anfallenden Arbeit nach Feierabend seiner Haupttätigkeit als Leiter des Kirchengemeindeamtes DuisburgRuhrort selbst erledigt. Bornmann bekam dabei von Anfang an massive Unterstützung seiner gesamten Familie. Sie tolerierte nicht nur, dass der Familienvater den Großteil der Verwaltungsarbeit in ihrer Privatwohnung verrichtete, sondern unterstützte die Aktion selbst „mit allen Kräften“. Zeitzeugen aus der Anfangsphase berichten, „die älteren Kinder schwirrten in ihrer Freizeit mit ihren Fahrrädern durch ganz Duisburg, um die Briefe und Nachrichten aus Indien zu verteilen. Es durfte
56 EZA, 2/10390 Kindernothilfe e.V., 1980, Auseinandersetzung schadet der Kindernothilfe nicht, in: epd Evangelischer Pressedienst, Region West, 19.5.1980. 57 Aring, Rundbrief (wie Anm.1).
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kein Pfennig von den monatlichen 30 Mark pro Patenkind für Verwaltungsarbeit abgezweigt werden!“ 58 Einer der ersten, der sich für das Engagement der späteren Kindernothilfe gewinnen ließ, war der 1927 geborene Lüder Lüers. Bei einem Besuch seines Freunds Bornmann im Juni 1960 ließ sich der Gartenbauarchitekt und gläubige Christ aufgrund seiner eigenen Armuts- und Hilfserfahrung nach der Flucht seiner Familie aus den ehemaligen Ostgebieten vom christlichen Hilfsansatz der Initiative überzeugen. Er wurde umgehend selbst Pate und half als Übersetzer, bevor er einen immer größer werdenden Teil seiner Freizeit für die Mitarbeit investierte. Bei der Vereinsgründung war Lüers das jüngste Mitglied und ließ sich im November 1962 in den Vorstand wählen, ein Ehrenamt, das er fast dreißig Jahre bekleidete und in dessen Funktion er im Folgejahr mit Adolf Kölle nach Indien reiste, um die bisherige Verwendung der Spenden zu überprüfen. Zusammen mit seiner Frau Ruth, der Tochter Bornmanns, ging er im Juli 1965 für siebeneinhalb Jahre nach Südindien, um dort die Koordination der Patenschaftsarbeit auszubauen und zu verbessern. Da das junge Werk einen solchen Auslandsaufenthalt nicht finanzieren konnte, ließ sich Lüers von der Organisation „Dienste in Übersee“ 59 als Entwicklungshelfer rekrutieren, um sich hauptberuflich Bewässerungsprojekten zu widmen. Die Arbeit für die Kindernothilfe verrichtete er zunächst wieder in seiner Freizeit und hatte dazu in seiner Wohnung ein kleines Büro für lokale Mitarbeitende eingerichtet. In den letzten anderthalb Jahren vor seiner Rückkehr nach Deutschland fungierte er schließlich hauptamtlich als Exekutiv-Sekretär der 1969 gegründeten Kindernothilfe-Partnerorganisation „Church of South India – Council for Child Care“ in Bangalore. 60 Auch nach der Vereinsgründung 1961 erfolgte die meiste Arbeit der bisherigen Mitglieder unentgeltlich, was sich bis heute in der Struktur der weiterhin ehrenamtlich agierenden Gremien widerspiegelt. Die zur Abstimmung der rasant ansteigen-
58
Erinnerung der Witwe des Mitbegründers Adolf Kölle, in: Kölle, Kindernothilfe (wie Anm.6), 16f.
59
„Dienste in Übersee, Arbeitsgemeinschaft evangelischer Kirchen in Deutschland e. V.“ 1960 in Ham-
burg als Organisation des Diakonischen Werks der EKD gegründet, unterstützt der Verein Entwicklungshilfeprojekte durch die Vermittlung von Fachkräften. Bei der Gründung stand primär die aktive Mitarbeit am Friedensdienst sowie der Entkolonialisierung im Zentrum; vgl. Jörg Ernst, Die entwicklungspolitische Öffentlichkeitsarbeit der evangelischen Kirchen in Deutschland und der Schweiz. Münster 1999, 50ff. 60
Lüers 2017 in einem Interview anlässlich seines 90. Geburtstages für das Weblog der Kindernothilfe:
Gunhild Aiyub, Die Kindernothilfe ist mir ein Herzensanliegen, in: Website Kindernothilfe.de, 8.8.2017, http://blog.kindernothilfe.org/de/archives/6570.
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den Patenschaftsarbeit notwendigen Treffen der Vorstandsmitglieder fanden meist in Privatwohnungen statt. Zwar verteilten sich die Aufgaben nun auf mehrere Personen, beanspruchten diese aber aufgrund des raschen Wachstums des Hilfswerks über Gebühr. Aus diesem Grund wurde im Februar 1962 als erste hauptamtliche Mitarbeiterin die Buchhalterin Edith Brangs eingestellt. Sie hatte das Werk bereits seit Dezember 1960 ehrenamtlich unterstützt und bekam einen Arbeitsplatz im Dachgeschoss der Wiefelspütz’schen Druckerei in Ruhrort. 61 Das mildtätige Anliegen übte offenbar eine hohe personelle Bindungskraft auf die ehren- wie hauptamtlichen Mitarbeitenden aus. Wie die meisten Gründungsmitglieder blieb Brangs dem Werk viele Jahre treu und feierte schon vor dem offiziellen 25-jährigen Bestehen der Kindernothilfe ihr 25-jähriges Dienstjubiläum. 62 Aus Mangel an Ressourcen setzte der Verein schon sehr früh auf niederschwellige Partizipationsmöglichkeiten seiner Unterstützerinnen und Unterstützer. Von Beginn an lebte das Werk von Mundpropaganda und dem schneeballartigen Prinzip „Freunde werben Freunde“. Der Großteil der Rundbriefe an die bereits bestehenden Pateneltern enthielt Aufrufe zur „Neukundenwerbung“. Auch in Einladungstexten zu Mitgliederversammlungen wurde regelmäßig darum gebeten, weitere interessierte Personen mitzubringen. Zudem kamen seit Ende der 1960er Jahre vermehrt ausfüllbare Antwortcoupons zum Einsatz, wie sie etwa auch in Versandkatalogen für die Akquise im Bekanntenkreis gebräuchlich waren. Im Herbst 1968 war im Rundbrief ein Bericht über 800 zu versorgende Kinder erschienen, denen bereits Heimplätze in Indien zugesagt worden waren, für die aber noch keine Unterstützung gefunden war. Daran knüpfte ein Aufruf an die Leserinnen und Leser an, in ihrem Umfeld die Arbeit der Kindernothilfe bekannt zu machen und damit die Versorgung dieser Kinder durch neue Pateneltern zu sichern. 63 Durch die wiederholten Aufrufe „Bitte sagen Sie es Ihren Freunden oder schicken Sie uns wieder Adressen“ 64 konnten laut Folgebericht fast 1000 neue Patinnen und Paten gewonnen werden. Für das Jahr 1970 hatte der Vorstand beschlossen, das Patenschaftsprogramm mit rund 1500 neuen Plätzen weiter auszubauen, und bat erneut darum, Unterstützer zu werben, um die dafür benötigten Ressourcen mobilisieren zu können. Der Aufruf
61 Kölle, Kindernothilfe (wie Anm.6), 23, 17f. 62 Brangs erhielt dafür im Dezember 1985 das Goldene Kronenkreuz der Diakonie, vgl. ebd.66. 63 Kindernothilfe, 30. Bericht an unsere Freunde, Oktober 1968, 5. 64 Kindernothilfe, 32. Bericht an unsere Freunde, Ostern 1969, 4.
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wurde weiter professionalisiert und durch ein mit mehreren Adressfeldern versehenes Formular zum Anfordern von Informationsmaterial ergänzt. 65 Die Kindernothilfe brachte in ihren Publikationen immer wieder das Thema Freiwilligenarbeit auf, berichtete über Beispiele von besonders engagierten im Ausland tätigen „field workers“ genauso wie über aktive Unterstützerinnen und Unterstützer in der Bundesrepublik. Sie zeigte so in ihrem Freundeskreis vielfältige Möglichkeiten des Engagements auf, mit denen Individuen dem Hilfswerk unter die Arme greifen und damit in Konsequenz sowohl den Pateneltern als auch den Kindern Dienste und zusätzliche Unterstützung zugute kommen lassen konnten, ohne dafür Spendengelder verbrauchen zu müssen. 66 Ein Betätigungsfeld bildete das Übersetzen des für die Patenschaftsbeziehung als zentral und substanziell angepriesenen Briefverkehrs mit dem weit entfernten Kind. Um die Kommunikation zu erleichtern und etwaige Sprachbarrieren abzubauen, wurden in den vierteljährlich erscheinenden Rundbriefen an die Pateneltern Namen und Adressen von Personen aus dem „Helferkreis“ genannt, die sich dazu bereit erklärt hatten, in ihrer Freizeit Briefe zu übersetzen. 67 Die kontinuierlich anwachsenden Listen setzen sich überwiegend aus Frauennamen zusammen, deren Anschriften oft auf Einrichtungen wie Krankenhäuser und Stifte und deren angegliederte Wohnheime verwiesen und bei den Freiwilligen auf dort angesiedelte Berufe wie Krankenpflegerinnen schließen lassen. Angaben über die Inanspruchnahme des Angebots fehlen, doch wie ernst es von den Ausführenden genommen wurde und wie wichtig es offenbar auch für viele Pateneltern war, zeigen etwa die Vermerke in den Adresslisten, die über Unterbrechungen aufgrund von Urlaubsreisen oder anderer Abwesenheiten informierten. 68 Was im Sommer 1965 mit drei veröffentlichten Adressen begann und mit dem Wachstum der Kindernothilfe anstieg, war in einem Überblick der Freiwilligenaktivitäten im Jahr 1994 auf über 450 ehrenamtliche Übersetzerinnen und Übersetzer angestiegen. Neben Briefen übertrugen sie
65
Kindernothilfe, 33. Bericht an unsere Freunde, Oktober 1969, 9.
66
So zeigte der Mitgliederrundbrief regelmäßig, wie Einzelne und Gruppen Geld für ihren Patenbetrag
sammelten oder einsparten. Dies reichte von Erntedankfesten über Schulbasare bis hin zu Unternehmen, die statt kostspieliger Weihnachtsgrüße an ihre Partner Geld in Kindernothilfe(n) investierten, vgl. Kindernothilfe, 61. Bericht an unsere Freunde, September 1976, Rückseite. 67
Die erste Nennung solcher Adressen in den vorliegenden Quellen erfolgte in: Kindernothilfe, 17. Be-
richt an unsere Freunde, Juli 1965, 3. 68
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Kindernothilfe, 32. Bericht an unsere Freunde, Ostern 1969, 13.
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auch die zusätzlichen Projektberichte über die Entwicklung der Kinder und bildeten damit fortdauernd ein „wichtiges Standbein“ der Vereinsarbeit. 69 Viele Spenderinnen und Spender äußerten ihre Bereitschaft und den Wunsch, noch mehr tun zu wollen, um nicht nur den Kindern in Übersee zu helfen, sondern auch persönlich und konkret die Arbeit des Vereins im Inland zu unterstützen. Um diese Kräfte zu bündeln, bemühte sich die Kindernothilfe seit 1968 darum, eine Aktion zu etablieren, die ihr gleichzeitig ermöglichen sollte, bundesweit auch auf lokaler Ebene Personal finanzieren zu können. Mit dem „Heimatdienst“ 70, über den das Rundschreiben ab Mitte des Jahres informierte, versuchte man, Freiwillige mit dem Aufruf „Wer möchte helfen, teilzuhaben an der Verantwortung für unsere Arbeit in seinem Wohnbereich?“ für eine „kleine Arbeit entsprechend Ihren Möglichkeiten“ zu gewinnen. Unter der direkten Ansprache „Sie sind gemeint“ wurde erklärt: „Überall in der Bundesrepublik, […] in Städten und Dörfern sollen Freunde eine Arbeit übernehmen, die uns von der zentralen Geschäftsstelle aus nicht möglich ist.“ Die Freiwilligen sollten selbst bestimmen, „ob Sie zu Gemeinden oder Gemeinschaften, zu Schulen oder anderen Gruppen den Kontakt anbahnen, kirchliche oder weltliche Zeitungen auf unsere Arbeit aufmerksam machen, Dia-Serien vorführen, Vorträge halten oder vermitteln können“. Sie wurden mit dem Versprechen, dass „hunderte Möglichkeiten“ der Hilfe der Versorgung der Kinder zugute kämen, fortlaufend ermutigt, diesem Dienst nachzukommen und sich den aktiv Helfenden anzuschließen. 71 Mit derartigen Aufrufen konnte die Organisation mehrere Funktionen erfüllen. Zum einen ließen sich gesellschaftliche Ressourcen transferieren 72 und unentgeltlich örtlich weitverzweigte Arbeitskraft für ihre Zwecke mobilisieren, dazu noch von Menschen, die selbst eine Patenschaft übernommen hatten und offenbar damit auch so zufrieden oder vom dahinterstehenden Konzept und seiner Umsetzung der69 Renate Vacker, Viele kleine Leute an vielen kleinen Orten – Ehrenamtliche Mitarbeit in der Kindernothilfe, in: Zeitschrift der Kindernothilfe 130/1, Februar 1994, 8. 70 Heimatdienst hatte dabei keinerlei Bezug zu oder Gemeinsamkeit mit dem Auftrag der Weimarer Informations- und Bildungsbehörde „Reichszentrale für Heimatdienst“. Der Begriff der Heimat wurde hierbei von der Kindernothilfe vor allem als Abgrenzung gegenüber der Arbeit „draußen“ in Übersee und als Bezug auf die individuelle Lokalität der in der ganzen Bundesrepublik verstreuten einzelnen Helfer genutzt und nicht weiter patriotisch aufgeladen. 71 Der erste ausführliche Aufruf in: Kindernothilfe, 30. Bericht an unsere Freunde, Oktober 1968, 10. 72 Claudia Olejniczak, Die Dritte-Welt-Bewegung in Deutschland. Konzeptionelle und organisatorische Strukturmerkmale einer neuen sozialen Bewegung. Wiesbaden 1999, 76.
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maßen überzeugt waren, dass sie es weiterempfehlen würden. Der Verein übertrug damit die Aufgaben der „Neukundengewinnung“ und Öffentlichkeitsarbeit parallel zu seinen eigenen Werbemaßnahmen auf den bestehenden Unterstützerkreis. Gewissermaßen als freiwillige Vertreter und Zwischenhändler vor Ort – ohne zu erfüllende ‚Anbahnungsquote‘, jedoch mit dem allgemeinen Ziel, möglichst viele Kinder zu ‚retten‘ – agierten sie als Missionierende in ihrem privaten Umfeld und brachten damit ihr Vertrauen in die Seriosität und Wirksamkeit der Spendennutzung zum Ausdruck. 73 Diese persönlichen und personalisierten Empfehlungen durch Bekannte dienten dem Hilfswerk als Beglaubigung, konnten sie doch idealerweise die Werbeversprechen mit eigenen Erfahrungen untermauern – und erzielten innerhalb des Bekanntenkreises oder der Gemeinde sicherlich höhere Überzeugungskraft als Berichte einer neutralen, fremden Person. Der Aktionsradius einzelner Privatpersonen hatte zwar eine wesentlich geringere Reichweite als prominente Botschafter auf großen Werbeflächen, doch schufen sie durch ihre unmittelbaren Erfahrungswerte eine besondere Qualität von Vertrauen und Glaubwürdigkeit. Die personalisierte Fürsprache für die Idee der Kinderpatenschaft und für die Dienstleistungen der Kindernothilfe durch den „Heimatdienst“ konnte nicht nur helfen, eventuelle Vorbehalte und Distanz zu einer bis dahin nur wenig bekannten Organisation abzubauen. Die Freiwilligen gaben ihrer Inlandsarbeit ein Gesicht und damit einen ebenso direkten Charakter wie ihn die empfohlene Hilfe haben sollte. Schon Zuschriften aus den frühen Jahren bezeugen, wie entscheidend für viele Spendende der Aspekt war, möglichst den kompletten Spendenbetrag für die direkte Hilfe einzusetzen und die weiteren Kosten durch zusätzliche Einnahmen oder ehrenamtliches Engagement zu decken: „Meine Bereitschaft zu helfen haben Sie zum großen Teil dadurch gewonnen, daß Sie mich überzeugt haben, daß hier direkt, mit bestem Wirkungsgrad gearbeitet wird, und nicht wie oft ein großer Teil für Verwaltung und ‚Geschäftsleute‘ verlorengeht.“ 74
Das übergreifende Label „Heimatdienst“ hatte den Effekt, den Spendenden eine zusätzliche aktive, sinnvolle Betätigung anzubieten, die den eigenen ‚kleinen Beitrag‘ erweiterte und es Einzelnen ermöglichte, sich gemeinsam mit vielen anderen zu engagieren und sich dabei durch die größere, übergeordnete Aufgabe verbunden
298
73
Zu Werbestrategien vgl. Lingelbach, Spenden (wie Anm.5), 359f.
74
Kindernothilfe, 17. Bericht an unsere Freunde, Juli 1965, 8.
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zu fühlen. Dies festigte das Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb der häufig als Gemeinschaft 75 angesprochenen Gruppe der Pateneltern, für deren Vergemeinschaftung sich bereits regelmäßige kleinere Patentreffen und ein Gebetskreis etabliert hatten. Neben der Zugehörigkeit zu diesem großen Ganzen war es nun überdies möglich, Teil einer exklusiveren Gemeinschaft der aktiv vor der Haustür Handelnden und Helfenden zu werden. Im Dienst der Kindernothilfe zu stehen bedeutete auch, über den Akt des reinen Geldtransfers hinaus mit dem Hilfswerk verbunden zu sein und sich selbst als einen Teil davon zu verstehen. Dies konnte eine gesteigerte Identifikation mit der Organisation und ihrer Arbeit bewirken und die Loyalität der Aktiven stärken, die durch die längerfristig angelegte Patenschaftsbeziehung schon tendenziell gegeben war. Loyalität schlug sich in langjährigen Spendeneingängen ebenso wie durch darüber hinausgehende Engagementbereitschaft, Weiterempfehlungen sowie einen starken Zusammenhalt bis hin zu Verteidigung in Krisenzeiten nieder. Sie bildete neben Vertrauen vermutlich das kostbarste Kapital einer Hilfsorganisation, zumal die Konkurrenz auf dem Spendenmarkt wuchs und öffentliche Kritik sowohl an bestimmten Hilfsformen als auch an der Verwendung von Spendengeldern laut wurde. Eine Aktion wie der „Heimatdienst“ verband nicht nur die Spendenden miteinander, sondern diese auch mit ‚ihrem‘ Hilfswerk, zu dem sie durch ihr Mitwirken in eine völlig neue Beziehung traten. Ein flächendeckender Einsatz der Unterstützungswilligen legitimierte wiederum die Existenz, die Arbeit und das Anliegen des Vereins zusätzlich nach außen, konnte im Idealfall Vorbehalte überbrücken sowie Glaubwürdigkeit vermitteln. In Duisburg wurden die Mühen der ehrenamtlich Aktiven kontinuierlich anerkannt und deren Bedeutung für die Vereinsarbeit und die Effektivität jedes kleinen Beitrags, den jeder einzelne Mensch leisten konnte, betont. Beim Anheben des Patenschaftsbeitrags Mitte der siebziger Jahre wies der Verein ausdrücklich darauf hin, dass die Verwaltungskosten maßgeblich durch die Kostenersparnis getragen werden konnte, welche die ehrenamtlichen Dienste einbrachten. 76 1994 bildete ein
75 Eine „Gemeinschaft des Dienstes“, die auf das religiöse Dienen der Hilfe abzielte, wurde bereits 1966 beschworen: Die Kindernothilfe sei „eine Gemeinschaft von Menschen geworden, die an einem Strang ziehen. Wir, die wir zu diesem Verein gehören, sollten uns immer wieder daran erinnern lassen, dass wir Brüder und Schwestern geworden sind. Vielleicht kennen wir einander nicht und werden uns wahrscheinlich auch nie sehen. Trotzdem ist Gemeinschaft unter uns, und wird es bleiben, weil sie eine Gemeinschaft des Dienstes ist.“ Kindernothilfe, 21. Bericht an unsere Freunde, Ostern 1966, 1. 76 Die Verwaltungskosten wurden zudem durch Sonderspenden und von Gerichten an gemeinnützige
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Rückblick auf das bisherige ehrenamtliche Engagement für die Kindernothilfe mit ausführlichen Würdigungen zahlreicher Aktivitäten das Schwerpunktthema des Mitgliedermagazins, das unter dem Motto eines südsudanesischen Sprichworts stand: „Viele kleine Leute an vielen kleinen Orten, die viele kleine Schritte tun, können das Gesicht der Welt verändern.“ Der Vorstandsvorsitzende Pfarrer Hanns P. Keiling interpretierte dieses im Editorial: „‚Kleine‘ Leute sind alle, die nicht an den Schalthebeln der Macht sitzen und trotzdem nicht die Hände in den Schoß legen, sondern zupacken und tun, was in ihren Kräften steht. ‚Kleine‘ Leute mischen sich ein, um ihre Umgebung zu verändern. Zu diesen Leuten gehören auch Sie, die Paten und Förderer der Kindernothilfe-Arbeit. Mit ihrem regelmäßigem Engagement ‚an vielen kleinen Orten‘ tragen Sie dazu bei, daß ‚sich das Gesicht der Welt verändert‘, damit Kinder eine Zukunft haben.“
Er führte weiter aus, der Verein sei „immer eine Bürgerbewegung gewesen“, in der sich „viele ehrenamtliche Helferinnen und Helfer – Einzelpersonen, Gruppen oder Arbeitskreise […] aktiv, in der Kirchengemeinde, in der Schule, in ihrer Stadt“ einbringen. So nutzen sie etwa regelmäßig den Weltkindertag für Aktionen, „um auf das Unrecht, dem Kinder ausgesetzt sind, hinzuweisen“. Dem bundesweiten Netz der Ehrenamtlichen und seiner Arbeit maß der Vorstand so große Bedeutung bei, dass er betonte, nicht sie als Stütze der Kindernothilfe-Arbeit zu verstehen, sondern „wir, die hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, unterstützen sie“. 77 In einem Beitrag über die notwendige Vernetzung von lokalen Nord-Süd-Initiativen stellte ein entwicklungspolitisch erfahrener Pate heraus, wie zunehmend wichtig auch in der Entwicklungshilfe der Bezug zur Basis geworden sei. Immer häufiger stelle sich die Frage, ob die Programme tatsächlich sowohl die beabsichtigten Zielgruppen als auch die Bürger im Inland erreichten. Seiner Beobachtung nach sei es schwierig, Letztere „über Organisationszeitschriften oder Massenmedien dort abzuholen, wo sie gerade stehen und auf ihre speziellen Fragen einzugehen“. Demnach hatten es viele größere entwicklungspolitische Gruppen „lange Jahre versäumt,
Vereine überwiesenen Bußgeldern getragen; Kindernothilfe, 61. Bericht an unsere Freunde, September 1976, 1. 77 Kindernothilfe, Zeitschrift der Kindernothilfe 130/1, Februar 1994, 2.
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einen Unterbau für die Trägerorganisationen zu beschaffen“ 78 – ein Potenzial, das die Kindernothilfe hingegen schon früh erkannt und mit ihren lokalen Helferkreisen und Aktionen wie dem „Heimatdienst“ bereits in den 1960er Jahren versucht hatte, für ihre eigene Arbeit auszuschöpfen.
V. Fazit Kinderpatenschaften haben sich in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts als ebenso erfolgreiches wie strittiges Instrument der privaten humanitären Hilfe erwiesen. Mit ihnen versuchten Spendenorganisationen komplexe Zusammenhänge der globalen Armut auf Einzelschicksale zu reduzieren und versprachen den geldgebenden westlichen Pateneltern die direkteste und wirksamste Form der Hilfe. Ihre große Beliebtheit in der Bundesrepublik erklärt sich überdies aus Assoziationen zu der eigenen erfahrenen Not und Dankbarkeit für die empfangene Hilfe in der Nachkriegszeit, welche die Hilfsbedürftigkeit ferner Menschen ab den späten 1950er Jahren bei vielen Deutschen auslösten. Der neuerlangte Wohlstand erlaubte ihnen, sich mit einer Rollenumkehr als gebende Seite bei der Weltgemeinschaft zu revanchieren. Durch die angepriesene persönliche Beziehung und das konkrete, überschaubare sowie vermeintlich überprüfbare Wirkungsfeld der Spende erfüllte das Modell bei vielen den Wunsch nach Unmittelbarkeit und Transparenz. Die Kindernothilfe traf damit einen besonderen Nerv, der in ihrem Unterstützerkreis bei vielen durch den religiösen Aspekt einer virtuellen Verbindung mittels Gebet und der neben der finanziellen Fürsorge übernommenen spirituellen Verantwortlichkeit für das Patenkind noch verstärkt wurde. Über kirchliche Strukturen gelang es ihnen nicht nur, ihre Hilfsprogramme in Indien und weiteren Ländern auszubauen, sondern auch ein lokal immer weiter ausgeweitetes Netz an ehrenamtlichen Helfenden zu knüpfen, die eine tragende Rolle bei der Gewinnung neuer Pateneltern einnahmen. Hier spiegelte sich das für Patenschaften essentielle Prinzip „von Mensch zu Mensch“ wider, das dem Verein neben unentgeltlichen personellen Ressourcen vor allem Glaubwürdigkeit im direkten Kontakt mit möglichen Spen-
78 Dieter Danckwortt, Die Bürger dort abholen, wo sie stehen, in: Zeitschrift der Kindernothilfe 130/1, Februar 1994, 4. Danckwortt war von 1960 bis 1990 Mitarbeiter der Deutschen Stiftung für internationale Entwicklung (DSE) und damals seit über 15 Jahren Kindernothilfe-Pate.
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denden gab. Mit Aktionen wie dem „Heimatdienst“ versuchte die Kindernothilfe schon früh, das Potenzial einer breiten ehrenamtlichen Basis für ihre Zwecke fruchtbar zu machen und reagierte gleichermaßen auf den Wunsch vieler Patinnen und Paten, sich über ihre Geldspende hinaus aktiv für die notleidenden Kinder einsetzen zu wollen. Hiermit wurden verschiedene Funktionen hinsichtlich Partizipation und Gemeinschaft erfüllt, deren weitere und vergleichende Erforschung vielversprechende Erkenntnisse im Bereich der Freiwilligenarbeit liefern könnte. Dem breitgefächerten Engagement und den guten Absichten der Kindernothilfe sowie ihrem Helferkreis standen jedoch auch neue entwicklungstheoretische Erkenntnisse und Überzeugungen gegenüber. Die zunächst innerhalb konkurrierender Hilfswerke wie „Brot für die Welt“ und Ende der 1970er Jahre in einer breiten öffentlichen Diskussion geäußerte Kritik an der mit der Patenschaft verknüpften traditionellen Heimunterbringung sowie an der primär an den Bedürfnissen der Spendenden orientiert scheinenden Ausrichtung der Hilfsform Kinderpatenschaft bietet Potenzial für umfassende Analysen des zeitgenössischen Entwicklungsdiskurses und gesamtgesellschaftlicher Tendenzen. Dem Erfolg und Ansehen der Kindernothilfe konnte die Kritik keinen bleibenden Schaden zufügen, was sie vermutlich nicht zuletzt ihrem loyalen Unterstützerkreis und der hohen Bindungskraft des Patenschaftsmodells verdanken konnte. Sie stellte nach schrittweiser Anpassung ihrer Programme erst 1999 ihren Hilfsansatz von der institutionalisierten Einzelfallhilfe auf stärker gemeinwesenorientierte Projekte mit neuen Partnern um.
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Ethischer Konsum und zivilgesellschaftliches Engagement Moralisierungsstrategien des privaten Konsums seit den 1960er Jahren von Benjamin Möckel
I. Einleitung: Konsum und Moral Praktiken des „ethischen Konsums“ erfahren seit den 1960er Jahren eine bemerkenswerte Konjunktur. Eingebettet in weiter zurückreichende Traditionen der Kritik und Moralisierung entwickelten sich in diesem Zeitraum verschiedene Strategien, mit denen das individuelle Konsumverhalten einer kritischen Reflektion unterzogen oder Konsumprodukte als Mittel des politischen Protests eingesetzt wurden. 1 Das gilt für das Feld des „fairen Handels“, der in Europa in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren entstand, für Formen der ökologisch motivierten Konsumkritik, aus der sukzessive ein eigenständiges ökologisches Konsumsegment hervorging, sowie für die Wiederentdeckung von Konsumboykotten als Mittel des politischen Protestes, wie er in den 1950er und 1960er Jahren im Civil Rights Movement und der transnationalen Anti-Apartheid-Bewegung genutzt und in der Folge von zahlreichen weiteren Kampagnen aufgegriffen wurde. 2 Interpretationen dieses Feldes haben sich bislang in erster Linie auf den Prozess einer sich beschleunigenden Marktexpansion konzentriert. So hat beispielsweise
1 Vgl. für diese weiter zurückreichenden Strategien der Moralisierung von Konsum u.a.: Frank Trentmann, Before „Fair Trade“. Empire, Free Trade, and the Moral Economies of Food in the Modern World, in: Environment and Planning D: Society and Space 25, 2007, 1079–1102; Matthew Hilton, The Legacy of Luxury. Moralities of Consumption since the 18th Century, in: Journal of Consumer Culture 4, 2004, 101–123; Gudrun M. König, Konsumkultur. Inszenierte Warenwelt um 1900. Wien 2009. 2 Für detaillierte Literatur zu den genannten Themenfeldern vgl. die Literaturangaben in den folgenden Abschnitten. Als Überblicksdarstellungen aus dem Feld von Soziologie und Wirtschaftswissenschaften zu den Verbindungen zwischen Konsum und Moral vgl. einführend: Michele Micheletti (Ed.), Political Virtue and Shopping. Individuals, Consumerism, and Collective Action. Basingstoke 2015; Ludger Heidbring/Imke Schmidt/Björn Ahaus (Hrsg.), Die Verantwortung des Konsumenten. Über das Verhältnis von Markt, Moral und Konsum. Frankfurt am Main 2011; Jörn Lamla/Sighard Neckel (Hrsg.), Politisierter Konsum – konsumierte Politik. Wiesbaden 2007.
HTTPS :// DOI . ORG / 10.1515/9783110627442-012
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der Soziologe Nico Stehr die Entwicklung ethischer Konsumpraktiken unter dem Schlagwort einer „Moralisierung der Märkte“ in den Blick genommen. 3 Nach seiner Deutung verfügten westliche Konsumenten in den letzten Jahrzehnten über immer größere finanzielle Ressourcen und ein fundierteres Wissen über die politischen, ökologischen und sozialen Folgen des eigenen Konsums. Aus diesem Grund würden sie im eigenen Konsumverhalten größeren Wert auf soziale und moralische Kriterien legen und Unternehmen auf diese Weise dazu zwingen, solche Kriterien stärker als zuvor in das eigene Markthandeln zu integrieren. 4 Auch Kritiker dieser Entwicklung haben in erster Linie auf diese Dimension der ökonomischen Expansion „ethischer“ Konsumsegmente fokussiert. In ihrer Interpretation erscheint die Marktexpansion und Integration in den konventionellen Konsummarkt jedoch vor allem als eine Form der Kommerzialisierung, in der ursprünglich politisch motivierte Protestkampagnen in bloße Konsumstile transponiert würden. Insbesondere im Bereich des „fairen Handels“ ist diese Kritik in den vergangenen Jahren von verschiedenen Seiten erhoben worden. 5 Für die jüngste Entwicklung dieser Konsumsegmente ist ein solcher Fokus unmittelbar einleuchtend. So hat beispielsweise der faire Handel in Deutschland seit 2003 eine Umsatzvervielfachung von 50 Millionen auf 1,2 Milliarden Euro (2016) erfahren. 6 Der Umsatz mit biologisch angebauten Lebensmitteln hat sich in Deutschland in demselben Zeitraum von gut 3 Milliarden auf 9,5 Milliarden Euro verdreifacht. 7 Diese Wachstumszahlen waren zweifellos auch ein Auslöser dafür, dass „ethischer Konsum“ in den letzten Jahren in den Fokus der sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Forschung gerückt ist. Dass in diesen Forschungen das Narrativ der Marktexpansion einen zentralen Zugang bildet, ist demnach wenig überra-
3 Nico Stehr, Die Moralisierung der Märkte. Eine Gesellschaftstheorie. Frankfurt am Main 2007. 4 Ebd., u.a. 49–60. 5 Siehe z.B. die Kritik bei Gavin Fridell, Fair Trade Coffee. The Prospects and Pitfalls of Market-Driven Social Justice. Toronto 2007, oder die Kritik von Fairtrade als einer neuen Form der „conspicuous consumption“: Matthias Zick Varul, Ethical Consumption. The Case of Fair Trade, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie [Sonderbd.] 49, 2009, 366–385. 6
Siehe: https://www.fairtrade-deutschland.de/service/presse/details/12-milliarden-umsatz-mit-fair-
trade-produkten-1951.html (Zugriff: 10.8.2017). 7 Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft (Hrsg.), Die Bio-Branche 2017. Zahlen – Daten – Fakten. Berlin 2017, http://www.boelw.de/fileadmin/pics/Bio_Fach_2017/ZDF_2017_Web.pdf (Zugriff: 10.8.2017); siehe für die Zahlen auch: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/4109/umfrage/bio-lebensmittel-umsatzzeitreihe (Zugriff: 10.8.2017).
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schend. Wie ich im Folgenden argumentieren werde, verstellt die alleinige Konzentration auf die ökonomische Dimension jedoch den Blick auf die historische Genese dieser Konsumfelder. Denn in ihren Anfängen blieb die ökonomische Bedeutung ethischer Konsumpraktiken über einen langen Zeitraum hinweg äußerst marginal – und das sowohl in Bezug auf quantifizierbare Umsatzzahlen als auch in Bezug auf die Motivlagen und Ziele der Aktivisten und Unterstützer. Häufig zielten die Kampagnen nicht primär auf größtmöglichen Umsatz, sondern folgten einer Rationalität der Herstellung von Öffentlichkeit, der expressiven Darstellung und Propagierung eines „alternativen“ Lebens- und Konsumstils sowie der öffentlichkeitswirksamen Artikulation von politischem Protest. Im Vergleich hierzu wurden ökonomische Aspekte meist in den Hintergrund gedrängt oder gar als Gefahr für die politischen und sozialen Zielsetzungen wahrgenommen. 8 In der historischen Forschung wiederum ist die moralische Aufladung des individuellen Konsums bislang kaum in der Zusammenschau betrachtet worden. 9 Zwar liegen für einzelne Felder mittlerweile empirische Studien vor, wie beispielsweise zur Geschichte des fairen Handels 10, zur Geschichte des Konsumboykotts 11 oder – wenn auch nur in ersten Ansätzen – zur Geschichte ökologischer Konsumpraktiken. 12 Doch sind diese Felder in der zeitgeschichtlichen Forschung bislang nicht als
8 Dies lässt sich exemplarisch für die Aktivisten des „fairen Handels“ zeigen, die eine ökonomische Expansion über den engen sozialen Raum des lokalen Weltladens hinaus lange Zeit eher als Gefahr denn als Chance für die eigene Bewegung wahrnahmen und Prozesse der Professionalisierung und der Marktexpansion als ein Überhandnehmen „ökonomischer Eigenlogiken“ und „Sachzwänge“ interpretierten. Vgl. hierzu: Benjamin Möckel, Gegen die „Plastikwelt der Supermärkte“. Konsum- und Kapitalismuskritik in der Entstehungsgeschichte des „fairen Handels“, in: Archiv für Sozialgeschichte 56, 2016, 335–352. 9 Vgl. aber Claudius Torps übergreifende Darstellung der „politischen Legitimation des Konsums“ im 20. Jahrhundert: Claudius Torp, Wachstum, Sicherheit, Moral. Politische Legitimationen des Konsums im 20. Jahrhundert. Göttingen 2012. 10 Ruben Quaas, Fair Trade. Eine global-lokale Geschichte am Beispiel des Kaffees. Köln 2015; Matthew Anderson, A History of Fair Trade in Contemporary Britain. From Civil Society Campaigns to Corporate Compliance. Basingstoke/New York 2015. 11 Monroe Friedman, Consumer Boycotts. Effecting Change through the Marketplace and the Media. New York 1999; Lawrence B. Glickman, Buying Power. A History of Consumer Activism in America. Chicago 2012; Martin Gerth/Gabriele Lingelbach, Konsumboykotte im Spannungsfeld von Markt, Zivilgesellschaft und Staat. „Alte“ und Neue Soziale Bewegungen im Vergleich, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 29, 2016, 112–121. 12 Josée Johnston/Kate Cairns, Eating for Change, in: Sarah Banet-Weiser/Roopali Mukherjee (Eds.), Commodity Activism. Cultural Resistance in Neoliberal Times. New York 2012, 219–239; Helen Zoe Veit, Modern Food, Moral Food. Self-Control, Science, and the Rise of Modern American Eating in the Early Twentieth
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gemeinsames Phänomen eines gesellschaftlichen Transformationsprozesses wahrgenommen worden. Interpretationsangebote, die über die eher eindimensionale These einer „Kommerzialisierung“ alternativer Lebensstile hinausweisen, liegen nicht vor. 13 Im Gegensatz zu diesem Kommerzialisierungsnarrativ steht im vorliegenden Beitrag die These im Zentrum, dass sich die Genese ethischer Konsumpraktiken nicht allein anhand individueller Markt- und Konsumentscheidungen erklären lässt. Sie beruhte vielmehr in erster Linie auf dem Einfluss handlungsfähiger Institutionen und dem zivilgesellschaftlichen Engagement individueller Akteure. Statt als ein „consumer-driven movement“ 14, das allein durch steigende Marktnachfrage angetrieben wurde, erscheinen Phänomene wie der „faire Handel“ oder ökologische Konsumformen vor allem als zivilgesellschaftliche Bewegungen, die davon abhängig waren, dass eine relativ kleine Gruppe freiwilliger Aktivisten und Aktivistinnen das eigene Engagement auch unabhängig von ökonomischem Erfolg oder Misserfolg aufrechterhielt. 15 Boykotts und „buycotts“ 16 bilden somit zwar individuell niedrigschwellige Formen des gesellschaftlichen Engagements, deren langfristige Aufrechterhaltung aber institutionell äußerst voraussetzungsreich war. Der Beitrag beleuchtet daher als treibende Kraft der Etablierung „alternativer“ Konsumpraktiken nicht individuelle Konsumentscheidungen, sondern die organisierten Formen des zivilgesellschaftlichen Engagements, die in vielen Aspekten an weiter zurückrei-
Century. Chapel Hill 2013; Florentine Fritzen, Gesünder leben. Die Lebensreformbewegung im 20.Jahrhundert. Stuttgart 2006. 13
Im Gegensatz beispielsweise zu den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, wo sich im deutschspra-
chigen Raum neben Nico Stehr auch Birger Priddat in mehreren Veröffentlichungen mit dem sich wandelnden Verhältnis von Markt- und Moralvorstellungen auseinandergesetzt hat; vgl. u.a. Birger P. Priddat, Moralischer Konsum. 13 Lektionen über die Käuflichkeit. Stuttgart 1998; ders., Moral und Ökonomie. Berlin 2005. 14
Siehe z.B. Alex Nicholls/Charlotte Opal, Fair Trade. Market-Driven Ethical Consumption. London 2005,
13. 15
In ähnlicher Weise betont auch Matthew Anderson die Bedeutung von NGOs und anderen Institutio-
nen für die Entstehung der britischen Fairtrade-Bewegung: Anderson, History of Fair Trade (wie Anm.10), 1ff. 16
Monroe Friedman, A Positive Approach to Organized Consumer Action. The „Buycott“ as an Alter-
native to the Boycott, in: Journal of Consumer Policy 19, 1996, 439–451; Emmanuel Adugu, Boycott and Buycott as Emerging Modes of Civic Engagement, in: International Journal of Civic Engagement and Social Change 1, 2014, 43–58.
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chende Traditionen – des politischen Protestes einerseits, des karitativen Engagements andererseits – anschlossen. Die Bedeutung zivilgesellschaftlicher Institutionen und freiwilliger Unterstützer war vor allem auf drei Ebenen wichtig: Erstens ging es darum, Kampagnen zu initiieren und neue Themenfelder zu besetzen, die über Konsumpraktiken medial wirkungsvoll dargestellt werden konnten. Das galt sowohl für Boykottkampagnen, die darauf angewiesen waren, Skandalisierungspotentiale zu nutzen und moralische Empörung zu produzieren. Es war aber auch ein wichtiger Faktor für die europäische Fair-Trade-Bewegung, die in ihren Kampagnen der 1970er Jahre immer wieder zeitgenössische politische und ökonomische Kontroversen aufgriff. 17 Hiermit verbunden war zweitens die große Bedeutung, die Aktivisten bei der Generierung relevanter und zuverlässiger Informationen über neue Produkte oder Kampagnen zukam. Häufig stellte diese Informationsbeschaffung und -vermittlung die bei weitem zeitaufwändigste Tätigkeit dar – war aber zugleich von fundamentaler Bedeutung in einem Feld, das maßgeblich von dem Vertrauen und der moralischen Autorität abhing, die auf der detaillierten und zuverlässigen Bereitstellung von Informationen über die eigenen Produkte und Kampagnen beruhte. 18 Drittens spielten die Institutionen und Freiwilligen eine zentrale Rolle, um die sich etablierenden Infrastrukturen des ethischen Konsums aufrechtzuerhalten und den Kampagnen eine dauerhafte Struktur zu geben. Das betraf Verkaufsorte wie Weltläden, Bioläden, Charity Shops und Basare, deren Existenz in den meisten Fällen durch ehrenamtliches Engagement und freiwillige Arbeit getragen wurde, aber auch die Durchführung von Protestaktionen, das Entwerfen und Drucken von Flyern oder die Beteiligung an Protesten und Mahnwachen. Alle drei Phänomene lassen sich nicht mit einem allein auf die Rolle der Konsumenten fokussierten Blick erfassen. Insbesondere verliert man unter dieser Perspektive die von den Akteuren bewusst angestrebte Verschränkung von Konsum und politisch-gesellschaftlichem Engagement aus dem Blick. In den meisten Fällen lassen
17 Siehe z.B. Peter van Dam, How Fair Trade Activists Lost Out to Europe – the Cane Sugar Campaign, 1968– 1974, erscheint in: Contemporary European History, eine Manuskriptversion findet sich unter: https:// www.academia.edu/33274338/How_fair_trade_activists_lost_out_to_Europe_the_cane_sugar_campaign_1968–1974 (Zugriff: 10.8.2017). 18 Ein ähnliches Phänomen lässt sich auch im Feld des zivilgesellschaftlichen Menschenrechtsengagements – beispielsweise im Fall von Amnesty International – beobachten; vgl. Stephen Hopgood, Keepers of the Flame. Understanding Amnesty International. Ithaca, NJ 2006.
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sich die frühen Initiativen eines „alternativen“ oder „ethischen“ Konsums eher als Versuche eines umfassenden politisch-gesellschaftlichen Engagements verstehen, das sich erst in der Folge sukzessive von diesen politischen Einbettungen löste und als eigenständiges Konsumsegment etablierte. Aus diesem Grund erscheinen die Kategorien des zivilgesellschaftlichen Engagements und der voluntary action als ein vielversprechender Zugang, um diese gesellschaftspolitische Dimension deutlicher als bislang in den Blick zu nehmen. 19 Der Aufsatz betont unter dieser Perspektive die Bedeutung von Aktivisten und Freiwilligen für die Etablierung und Institutionalisierung ethischer Konsumpraktiken, die als eine Form der voluntary action interpretiert werden können. Der erste Abschnitt (Kapitel II) nimmt zunächst zwei Grenzziehungen in den Blick, die im Sinne der in der britischen Forschung zur voluntary action history etablierten Kategorie der „moving frontiers“ von zentraler Bedeutung für die Konstituierung des Feldes waren: einerseits die Grenzziehung gegenüber dem Staat und zum anderen die Abgrenzung gegenüber der kommerziellen Ökonomie, die jeweils für das Selbstverständnis der Protagonisten von entscheidender Bedeutung war. Der zweite Abschnitt (Kapitel III) konkretisiert diese konzeptionelle Einordnung anhand des Beispiels des „fairen Handels“. Im Fokus stehen dabei die Selbstverortungen der Akteure, die sich einerseits als Freiwillige, andererseits als politische Aktivisten verstanden. Zugleich zeigt dieser Abschnitt, dass sowohl die Grenzziehung zum Staat als auch diejenige zur kommerziellen Ökonomie weniger eindeutig war, als es die Selbstdarstellung der Akteure nahelegte. Der letzte Abschnitt (Kapitel IV) führt diesen Gedanken weiter und stellt dar, in welcher Weise die Vermarktlichungsprozesse im Bereich des fairen Handels seit den 1980er Jahren in die Interpretation des fairen Handels als ein Feld des politischen und zivilgesellschaftlichen Engagements eingeordnet werden können. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Frage, inwiefern hierbei von einer Diffusion der Praktiken des politischen Engagements gesprochen werden kann und welche Veränderungen sich hieraus für die skizzierten Grenzziehungen zu den
19
Zum Konzept der „Zivilgesellschaft“ in historischer Perspektive vgl. einführend: Ralph Jessen/Sven
Reichardt/Ansgar Klein (Hrsg.), Zivilgesellschaft als Geschichte. Studien zum 19. und 20.Jahrhundert. Wiesbaden 2004; Arnd Bauerkämper/Manuel Borutta (Hrsg.), Die Praxis der Zivilgesellschaft. Akteure, Handeln und Strukturen im internationalen Vergleich. Frankfurt am Main/New York 2003; Frank Trentmann (Ed.), Paradoxes of Civil Society. New Perspectives on Modern German and British History. New York 2000.
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Sphären von Staat und Ökonomie einerseits sowie für die Unterscheidung zwischen Aktivisten und Konsumenten andererseits ergaben.
II. Ethischer Konsum und zivilgesellschaftliches Engagement In den meisten Fällen, in denen seit den 1960er Jahren Praktiken des „ethischen Konsums“ aufgegriffen wurden, standen bei den Aktivisten zunächst proteststrategische Motive im Vordergrund. Die Kampagnen waren eingebunden in ein breites Repertoire von Protestpraktiken, die das Ziel verfolgten, öffentliche Aufmerksamkeit für die eigenen politischen Anliegen zu erregen. 20 So verband beispielsweise die Anti-Apartheid-Bewegung den Boykott südafrikanischer Produkte mit Demonstrationen, Mahnwachen und politischer Lobbyarbeit. 21 Ökologische Konsumformen entstanden im Kontext der neuen Umweltbewegung und der dort formulierten Kritik an der Konsum- und „Überfluss“-Gesellschaft, und auch der „Alternative Dritte Welt Handel“ verstand sich als Teil einer entwicklungspolitisch motivierten Solidaritätsbewegung mit der sogenannten „Dritten Welt“. 22 Der Rückgriff auf Konsumpraktiken als Protestform war jedoch nicht akzidentiell, sondern stand im Kontext einer Distanzierung von etablierten Formen der Philanthropie, des Spendenwesens und der karitativen Hilfe, die gleichzeitig fortgesetzt
20 James Jasper spricht in Bezug hierauf von „companion tactics“, vgl. James M. Jasper, The Art of Moral Protest. Culture, Biography, and Creativity in Social Movements. Chicago 1997, 256. 21 Zur Anti-Apartheid-Bewegung in Deutschland vgl. Jürgen Bacia/Dorothée Leidig, „Kauft keine Früchte aus Südafrika!“ Geschichte der Anti-Apartheid-Bewegung. Frankfurt am Main 2008; Sebastian Tripp, Fromm und politisch. Christliche Anti-Apartheid-Gruppen und die Transformation des westdeutschen Protestantismus 1970–1990. Göttingen 2015; Detlef Siegfried/Knut Andresen, Apartheid und westeuropäische Reaktionen. Eine Einführung, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 13, 2016, 195–209, sowie das dazugehörige Themenheft. 22 Vgl. jeweils einführend zur Umweltbewegung und zur „Dritte-Welt“-Bewegung in der Bundesrepublik: Claudia Olejniczak, Dritte-Welt-Bewegung, in: Roland Roth/Dieter Rucht (Hrsg.), Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch. Frankfurt am Main/New York 2008, 320–345; Karl-Werner Brand, Umweltbewegung (inkl. Tierschutz), in: Roth/Rucht (Hrsg.), Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945, 219–244. Zum Begriff der „Dritten Welt“, der hier primär als Quellenbegriff benutzt wird: Christoph Kalter, Die Entdeckung der Dritten Welt. Dekolonisierung und neue radikale Linke in Frankreich. Frankfurt am Main 2011, 44–80; Jürgen Dinkel, Dritte Welt. Geschichte und Semantiken, in: Docupedia Zeitgeschichte, http://docupedia.de/zg/Dritte_Welt (Zugriff: 31.8.2017).
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wurden. 23 Diese ambivalente Bezugnahme auf weiter zurückreichende Traditionen des zivilgesellschaftlichen und karitativen Engagements lässt sich exemplarisch am Beispiel des „fairen Handels“ verdeutlichen. Dessen Aktivisten betonten in ihren Konzeptpapieren regelmäßig, dass es ihnen gerade nicht darum ging, Spenden für die „Dritte Welt“ zu sammeln, sondern darum, durch gerechtere Handelsbeziehungen lokalen Produzenten ein eigenständiges Auskommen zu ermöglichen. Während Spenden und Entwicklungshilfe, so die Kritik, asymmetrische Beziehungen und Abhängigkeiten eher verfestigten, reklamierten die Aktivisten für sich selbst, mit dem eigenen Ansatz gleichberechtigte und partnerschaftliche Beziehungen mit lokalen Produzenten und Kooperativen aufbauen und auf diese Weise deren Unabhängigkeit von Hilfsleistungen langfristig gewährleisten zu können. 24 Im Verweis auf das vor allem im Kontext der „United Nations Conference on Trade and Development“ (UNCTAD) geprägte Schlagwort „Trade not Aid“ erhielt der Rekurs auf Marktund Konsumpraktiken somit eine positiv gewendete Deutung. 25 In Wirklichkeit war diese Gegenüberstellung jedoch weniger eindeutig als es auf den ersten Blick erscheint. Zum einen waren auch in der Entwicklungshilfe seit geraumer Zeit neue Ansätze formuliert worden, die sehr viel größeren Wert auf langfristige Projekte, die Beteiligung lokaler Akteure und die gleichberechtigte Zusammenarbeit mit „Counterparts“ legten – Praktiken, die zeitgenössisch unter dem Be-
23
Zur Entwicklung des Spendenwesens in der Bundesrepublik: Gabriele Lingelbach, Spenden und Sam-
meln. Der westdeutsche Spendenmarkt bis in die 1980er Jahre. Göttingen 2009. 24
Diese Kritik an den potenziell kontraproduktiven Effekten der Entwicklungshilfe und einer ver-
meintlich zu überwindenden „Spendenmentalität“ findet sich schon in einem der frühesten Konzeptpapiere des „alternativen Dritte Welthandels“. So argumentierte beispielsweise Gerd Nickoleit in einem im Auftrag der „Aktion Dritte Welt Handel“ verfassten Konzeptpapier: „Wir haben lange genug die Elendsstatistiken aus der Dritten Welt gehört, sie können schon kaum mehr die Vorstellung anregen, viel weniger zur Tat mobilisieren. Die in den roten Himmel gestreckte Hungerhand (Brot für die Welt) und die Barmherzigkeit heischenden leeren Löffel (Misereor) sollten einer Bewußtseinsstrategie der Vergangenheit angehören.“ Siehe Gerd Nickoleit, Entwicklung der Unterentwicklung. Eine Analyse im Auftrag der Aktion Dritte Welt Handel, Misereor Archiv Aachen, Fairer Handel 2 (im Folgenden: MAA, FH 2), 17. 25
Zu UNCTAD siehe: Samuel Misteli, Der UNCTAD-Moment. Die Entstehung des Nord-Süd-Konflikts und
die Politisierung des Schweizer Entwicklungsdiskurses, in: Sara Elmer/Konrad J. Kuhn/Daniel Speich Chassé (Hrsg.), Handlungsfeld Entwicklung. Schweizer Erwartungen und Erfahrungen in der Geschichte der Entwicklungsarbeit. Basel 2014, 185–212; Sönke Kunkel, Zwischen Globalisierung, internationalen Organisationen und „global governance“. Eine kurze Geschichte des Nord-Süd-Konflikts in den 1960er und 1970er Jahren, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 60, 2012, 555–578.
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griff der „Hilfe zur Selbsthilfe“ zusammengefasst wurden. 26 Darüber hinaus waren die ersten Initiativen des „fairen Handels“ eng verbunden mit den etablierten, meist konfessionell verankerten Institutionen des karitativen Spendenwesens. Das galt in Deutschland für Misereor und Brot für die Welt, die den entscheidenden institutionellen und finanziellen Rückhalt für die Etablierung des „alternativen Dritte Welt Handels“ bildeten. 27 In Großbritannien war es insbesondere Oxfam, das mit „Oxfam Bridge“ zum wichtigsten Pionier des „fairen Handels“ wurde – auch hier also eine lange etablierte Institution der karitativen Hilfe, die 1942 als „Oxfam Committee for Famine Relief“ gegründet worden war. 28 Noch wichtiger als diese institutionellen Verbindungen ist die Tatsache, dass sich auch ideengeschichtlich und in der konkreten sozialen Praxis Kontinuitäten zur langen Tradition der Philanthropie als bürgerlicher Praxis seit dem 19.Jahrhundert erkennen lassen. Zwar hatte sich die Zielrichtung des Engagements zum Teil verschoben – während die „social reform movements“ des späten 19.Jahrhunderts durch eine verschränkte Problemwahrnehmung von „distant others“ und „urban poor“ gekennzeichnet gewesen waren 29, spielten Letztere in den 1960er Jahren eine deutlich geringere Rolle. Und auch die Begriffe, unter denen die Hilfe gefasst wurde, hatten einen Bedeutungswandel erlebt – von Fürsorge und Wohlfahrt zu Begriffen wie Solidarität und globale Gerechtigkeit. Dennoch lassen sich auffällige Analogien und Kontinuitäten feststellen. So blieb das freiwillige Engagement im Weltladen und in anderen Feldern des ethischen Konsums eine Praxis, die eher bürgerliche, häufig religiös motivierte Akteure ansprach. Nicht selten verband sich hiermit auch weiterhin eine Praxis der sozialen Distinktion, die der bürgerlichen Philanthropie ähnlich war. 30 In vielen Fällen blieb es darüber hinaus ein Engage-
26 Zur langen – und durchaus problematischen – Geschichte des Konzepts vgl. Hubertus Büschel, Hilfe zur Selbsthilfe. Deutsche Entwicklungsarbeit in Afrika 1960–1975. Frankfurt am Main 2014. 27 Zu Brot für die Welt und Misereor vgl. Lingelbach, Spenden (wie Anm.23), 136ff.; Konstanze Kemnitzer, Der ferne Nächste. Zum Selbstverständnis der Aktion „Brot für die Welt“. Stuttgart 2008. 28 Zu Oxfam vgl. Maggie Black, A Cause for Our Times. Oxfam: the First 50 Years. Oxford 1992. Zu Oxfams Rolle im „fairen Handel“: Anderson, History of Fair Trade (wie Anm.10), 23–43. 29 Vgl. für diese Verschränkung u.a. Mariana Valverde, The Dialectic of the Familiar and the Unfamiliar. „The Jungle“ in Early Slum Travel Writing, in: Sociology 30, 1996, 493–509. 30 Thomas Adam, Philanthropy and the Shaping of Social Distinctions in Nineteenth-Century U.S., Canadian, and German Cities, in: ders. (Ed.), Philanthropy, Patronage, and Civil Society. Experiences from Germany, Great Britain, and North America. Bloomington, IN 2004, 15–33; ders., Philanthropy, Civil Society, and the State in German History, 1815–1989. Rochester 2016, 13–70.
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ment, das ähnlich wie im 19.Jahrhundert in großem Maße von Frauen getragen wurde und in diesem Kontext auch neue politische Partizipationsmöglichkeiten eröffnete. 31 Charakteristisch war nicht zuletzt die Kombination aus dem Einsatz finanzieller und zeitlicher Ressourcen in Form eines regelmäßigen freiwilligen Engagements, das zugleich eine Integration in eine Gruppe gleichgesinnter Akteure ermöglichte. Fasst man die genannten Praktiken als eine Form des zivilgesellschaftlichen Engagements, so lässt sich die Spezifik des Feldes vermutlich am besten als Teilbereich des „voluntary sector“ oder „third sector“ verstehen. 32 Von zentraler Bedeutung für diese Einordnung war die Grenzziehung zu den beiden anderen Sektoren des Staates einerseits und der kommerziellen Ökonomie andererseits. Einen analytischen Zugang hierzu bietet der von William Beveridge geprägte und von Geoffrey Finlayson aufgegriffene Begriff der „moving frontier“. 33 Wie Finlayson für den britischen Sozial- und Wohlfahrtsstaat der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts ausführt, existierte in diesem Kontext eine „mixed economy of welfare“, in der Praktiken der voluntary action keineswegs an Bedeutung verloren, sondern staatliches und zivilgesellschaftliches Handeln in einem Spannungsverhältnis aus gegenseitiger Ergänzung und Konkurrenz standen. 34 Für die Akteure des „voluntary sector“, so Finlayson, ergab sich hieraus eine Situation, in der sie im Kontext der Ausweitung staatlichen Handelns zwischen einer eher kooperativen und einer eher konfrontativen Handlungsstrategie gegenüber dem Staat wählen mussten: „[V]oluntarists […] had to decide between a course of convergence with a more active state presence and one of divergence from it. The first offered advantages of finance and resources, but endangered a separate identity and inde-
31
Siehe für den Kontext z.B. Dorice Williams Elliott, The Angel out of the House. Philanthropy and Gender
in Nineteenth-Century England. Charlottesville 2002; Andrea Geddes Poole, Philanthropy and the Construction of Victorian Women’s Citizenship. Lady Frederick Cavendish and Miss Emma Cons. Toronto 2014. 32
Für die unterschiedlichen begrifflichen Definitionen des Feldes vgl. N. J. Crowson/Matthew Hilton/
James McKay (Eds.), NGOs in Contemporary Britain. Non-State Actors in Society and Politics since 1945. Basingstoke 2009, 1–11; Pete Alcock, A Strategic Unity. Defining the Third Sector in the UK, in: Voluntary Sector Review 1, 2010, 5–24; Martin Knapp/Jeremy Kendall, A Loose and Baggy Monster. Boundaries, Definitions and Typologies, in: Justin Davis Smith/Colin Rochester/Rodney Hedley (Eds.), An Introduction to the Voluntary Sector. London 1995, 65–94. 33
Geoffrey Finlayson, A Moving Frontier. Voluntarism and the State in British Social Welfare, 1911–1949,
in: Twentieth Century British History 1, 1990, 183–206. 34
312
Ebd. 185.
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pendence; the second retained identity and independence, but raised problems of finance and resources.“ 35
Eine ähnliche Ambivalenz aus Distanznahme, Kooperation und Abhängigkeit in Bezug auf den Staat lässt sich auch für das Feld des „ethischen Konsums“ beobachten. Einerseits spielten eine klare Distanzierung und die emphatische Proklamation der eigenen Unabhängigkeit eine entscheidende Rolle und waren wichtige Garanten der eigenen Glaubwürdigkeit. Darüber hinaus wurden staatliches Handeln und konkrete politisch-ökonomische Entscheidungen regelmäßig Thema von Kampagnen der jeweiligen Institutionen, die somit auch direktes Konfliktpotenzial beinhalteten. Auf der anderen Seite kam es aber auch zu einer Reihe von Überschneidungen mit staatlichen Stellen, sei es durch Kooperationen und finanzielle Unterstützungen oder aber durch staatliche Kontrollen und Regulierungen. Das galt beispielsweise für Fördermaßnahmen, steuerliche Begünstigungen oder die Bereitstellung von Arbeitskräften über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Zivildienstleistende, mit denen die Grenzen zwischen dem staatlichen und dem Freiwilligensektor zum Teil fließend wurden. 36 Charakteristischer für das Feld des „ethischen Konsums“ ist jedoch eine zweite Abgrenzung – jene zur kommerziellen Ökonomie. In der historischen Forschung hat diese Grenzziehung bislang deutlich weniger Aufmerksamkeit erfahren. George Gosling hat in diesem Sinne beispielsweise argumentiert: „[T]he other moving frontier – the relationship and interaction between charity and commerce – remains largely overlooked.“ 37 Dies steht im Gegensatz zu der immer engeren Verschränkung von „third sector“ und kommerzieller Ökonomie in der Gegenwart, die auch in der jüngeren sozialwissenschaftlichen Forschung aufgenommen worden ist. 38 In der Geschichtswissenschaft ist das Phänomen zuletzt vor allem in Bezug auf
35 Ebd. 36 Siehe hierzu die detailliertere Darstellung in Kapitel III. 37 George Campbell Gosling, Charity and Commerce. The Other Moving Frontier, in: Voluntary Action History Society Blog, 13.November 2011, http://www.vahs.org.uk/2011/11/charity-and-commerce-gosling (Zugriff: 31.8.2017). 38 Ein besonders überzeugendes Beispiel: Andrea Karin Muehlebach, The Moral Neoliberal. Welfare and Citizenship in Italy. Chicago/London 2012. Für das Feld des Humanitarismus vgl. Thomas G. Weiss, Humanitarian Business. Cambridge 2013.
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das Verhältnis von Humanitarismus und Kapitalismus in den Blick genommen worden. 39 Ethische Konsumpraktiken bilden für diesen Konnex ein aufschlussreiches Untersuchungsfeld. Auf der einen Seite waren die Initiativen meist durch konsumkritische Ansätze und Motive geprägt, die eine Distanz zur kommerziellen Ökonomie nahelegten. Auf der anderen Seite entwickelten sich im längeren Verlauf jedoch unweigerlich Überschneidungen zur kommerziellen Ökonomie und Konsumkultur. Für das gesamte Feld des „ethischen Konsums“ lässt sich daher argumentieren, dass es durch eine Ambivalenz von Marktkritik und Marktintegration geprägt war, wie sie Eric Fichtl für den „fairen Handel“ als „in and against the market approach“ beschrieben hat. 40 Auch für diese Grenzziehung lässt sich Finlaysons Differenzierung zwischen kooperativen und konfrontativen Strategien als Leitmotiv aufgreifen. Strategien der Zusammenarbeit mit kommerziellen Konzernen und der Integration von Produkten in kommerzielle Verkaufs- und Vertriebswege versprachen neue finanzielle Spielräume und eine größere Aufmerksamkeit für die eigenen Kampagnen. Zugleich bedrohte eine Aufweichung der Grenze zur kommerziellen Ökonomie jedoch potenziell die Glaubwürdigkeit der eigenen Institution als Ausdruck eines politischen oder zivilgesellschaftlichen Engagements. Im Ganzen betrachtet war die Distanznahme zur kommerziellen Ökonomie für die Aktivisten sogar von noch größerer Bedeutung als die Abgrenzung von staatlichen Initiativen und Unterstützungen. Ähnlich wie dort spielte die Proklamation der eigenen Unabhängigkeit eine wichtige Rolle. Im Fall der kommerziellen Ökonomie war diese Grenzziehung jedoch ungleich prekärer, weil hiermit nicht nur Formen der Kooperation und Abgrenzung nach außen verbunden wurden, sondern auch eine kritische Selbstreflektion des eigenen Handelns. In den internen Debatten ging es daher nicht nur um die Frage, mit welchen kommerziellen Akteuren man unter welchen Bedingungen kooperieren durfte, sondern auch darum, in welchem Maße man selbst Strukturen und Mechanismen kommerzieller Konzerne in das
39
Siehe z.B. Tehila Sasson, Milking the Third World? Humanitarianism, Capitalism, and the Moral Econ-
omy of the Nestlé Boycott, in: The American Historical Review 121, 2016, 1196–1224. Als klassischer Bezugspunkt für die hiermit verbundenen Debatten: Thomas L. Haskell, Capitalism and the Origins of the Humanitarian Sensibility. Part 1 and 2, in: The American Historical Review 90, 1985, 339–361, 547–566. 40
Eric Fichtl, The Fair Trade Movement in Historical Perspective. Explaining the „In and Against the Mar-
ket“ Predicament. Master Thesis 2007.
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eigene Handeln integrieren dürfe. Professionalisierung und Vermarktlichung waren daher immer wieder Anlass für interne Grundsatzkontroversen. Nicht zuletzt ging es aber auch im Verhältnis zur kommerziellen Ökonomie um Fragen der Subsidiarität und Konkurrenz. In Bezug auf den Staat war die Sorge vor einer Übernahme der eigenen Aufgaben lange Zeit vor allem auf einen expandierenden Sozialstaat fokussiert und auf die immer wieder formulierte Verfallserwartung, mit dem Ausbau staatlicher Sicherungsleistungen werde freiwilliges soziales Engagement sukzessive an Bedeutung verlieren. 41 Das Konkurrenzverhältnis zur kommerziellen Ökonomie war dagegen durch eine andere Dynamik geprägt. Hier war die Befürchtung eher, dass die eigene Marktexpansion dafür sorgen würde, dass kommerzielle Akteure das Konsumsegment aufgreifen und in der Folge die alternativen Initiativen und Betriebe verdrängen würden – auch dies im Übrigen eine Befürchtung, die sich ähnlich wie die Verdrängung des zivilgesellschaftlichen Engagements durch den Sozialstaat bislang nicht bestätigt hat. 42 Die beiden Grenzziehungen verdeutlichen den volatilen Charakter der Kampagnen und Institutionen. Oftmals überlappten oder konterkarierten sich beide auch: Der Rekurs auf den Markt und kommerzielle Akteure konnte einerseits eine Distanznahme zu staatlichen Regulierungsversuchen bedeuten, erzeugte aber zugleich oftmals neue Abhängigkeiten von kommerziellen Akteuren und hiermit verbundene ökonomische Eigenlogiken. In jedem Fall hatte die Betonung der Unabhängigkeit von jeglichen ökonomischen und politischen Einflüssen auch einen selbstreferenziellen Charakter. Sie zielte auf die innere Logik eines Konsumsegmentes ab, das zwar nicht profitorientiert war, aber doch auf Marktmechanismen beruhte. In diesem Kontext war es ein zentraler Bestandteil der Marktpositionierung, glaubwürdig zeigen zu können, dass es sich bei der eigenen Arbeit um eine Form des freiwilligen
41 Vgl. Christine G. Krüger, Dienstethos, Abenteuerlust, Bürgerpflicht. Jugendfreiwilligendienste in Deutschland und Großbritannien im 20.Jahrhundert. Göttingen 2016, 78–83; Andrew J. F. Morris, The Limits of Voluntarism. Charity and Welfare from the New Deal through the Great Society. Cambridge/ New York 2009. 42 Die Weltläden und Aktionsgruppen hatten im Jahr 2015 einen Gesamtumsatz von 76 Millionen Euro. Zwar haben sie an den massiven Umsatzsteigerungen des vergangenen Jahrzehnts in deutlich geringerem Maße partizipiert als die konventionellen Händler und Unternehmen. Gegenüber der Zeit vor den Zertifizierungen lässt sich dennoch eine deutliche Umsatzsteigerung feststellen: So setzen die Weltläden 1988 beispielsweise GEPA-Produkte im Wert von circa 7 Millionen DM um. Vgl. für die Zahlen für die 1980er Jahre: Quaas, Fair Trade (wie Anm.10), 200. Für aktuelle Zahlen vgl. https://www.forum-fairer-handel.de/fileadmin/user_upload/dateien/jpk/jpk_2016/Factsheet_web.pdf (Zugriff: 29.1.2018).
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Engagements handelte und nicht um ein rein kommerzielles Unternehmen. Mit welchen Strategien diese Grenzziehungen konkret plausibilisiert wurden, wird im folgenden Kapitel anhand des Beispiels des „fairen Handels“ genauer dargestellt.
III. Fair Trade: Ethischer Konsum und zivilgesellschaftliches Engagement In der Bundesrepublik entstand der „Alternative Dritte Welt Handel“ (A3WH) zunächst im Kontext kirchlicher Jugendorganisationen. 1969 wurden dort erste Kampagnen durchgeführt, die nicht mehr allein auf das Sammeln von Spenden gerichtet waren, sondern diese Sammeltätigkeit mit Versuchen der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit verbanden. 43 Ein weiterer Schritt war der 1970 vom ökumenischen Entwicklungspädagogischen Arbeitskreis (EPA) organisierte „Friedensmarsch“, der verwandte Aktionen aus dem angelsächsischen Raum aufgriff. 44 Unter anderem auf der Grundlage der dortigen Erfahrungen verfasste einer der beiden Vorsitzenden des EPA, Ernst-Erwin Pioch, in demselben Jahr eine „Problemskizze zur Gründung einer
Aktionsgemeinschaft Dritte Welt-Handel“, die zum frühesten theoretischen Fundament des „Alternativen Dritte Welt Handels“ wurde. 45 In enger Kooperation mit niederländischen Kampagnen, die das Konzept eines entwicklungspolitisch motivierten Warenverkaufs schon etwas früher aufgegriffen hatten, entstanden auf dieser Basis erste Verkaufsaktionen, die zunächst in der Form von Basaren und anderen temporären Verkaufsformen stattfanden und sich in der Folge mit der Eröffnung erster „Dritte-Welt-Läden“ verstetigten. 46 Die konzeptionellen Debatten standen im Kontext einer gesteigerten zeitgenös43
Zu nennen sind hier z.B. Verkaufsaktionen von Brot- und Reispackungen, denen Informationen über
Probleme der „Dritten Welt“ beigefügt waren; vgl. Ernst Schmied, Die „Aktion Dritte Welt Handel“ als Versuch der Bewusstseinsbildung. Ein Beitrag zur Diskussion über Handlungsmodelle für das politische Lernen. Aachen 1977, 27; Markus Raschke, Fairer Handel. Engagement für eine gerechte Weltwirtschaft. Ostfildern 2009, 46f. 44
Ebd.46; Quaas, Fair Trade (wie Anm.10), 81–93.
45
Ernst-Erwin Pioch, Problemskizze zur Gründung einer Aktionsgemeinschaft Dritte Welt-Handel
(8. Juni 1970), in: MAA, FH 2. 46
Die Entstehungsgeschichte des „alternativen Dritte Welt Handels“ kann hier nicht im Detail nachge-
zeichnet werden; vgl. hierzu sehr viel detaillierter: Quaas, Fair Trade (wie Anm.10); Raschke, Fairer Handel (wie Anm.43).
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sischen Aufmerksamkeit für Fragen der Entwicklungspolitik sowie insbesondere einer Kritik an zeitgenössischen Formen der Entwicklungshilfe seit den 1960er Jahren. 47 Für die Konstituierungsphase des „Alternativen Dritte Welt Handels“ war daher die Abgrenzung von der offiziellen Entwicklungszusammenarbeit von zentraler Bedeutung. Dies betraf sowohl den eigenen Staat als auch die Empfängerländer im globalen Süden, wo ein Großteil der Hilfe in Kooperation mit staatlichen Stellen verwendet wurde. In bewusstem Gegensatz hierzu betonte der „Alternative Dritte Welt Handel“ die Zusammenarbeit mit unabhängig organisierten Kooperativen als Partner der eigenen Initiativen. In Fällen, in denen man mit staatlichen Exportorganisationen zusammenarbeitete – wie zum Beispiel im Fall von Encafé als dem staatlichen Kaffeeexporteur Nicaraguas in den 1980er Jahren – erzeugte das regelmäßig kontroverse Debatten innerhalb der Bewegung. 48 Darüber hinaus richteten sich viele der frühen Kampagnen explizit gegen den eigenen Staat und kritisierten konkrete politische und ökonomische Entscheidungen, zum Beispiel in Bezug auf Zölle, Handelsbeschränkungen oder Subventionen. Kampagnen der frühen 1970er Jahre wie die Rohrzucker- oder die „Aluschok“-Kampagne hatten in diesem Sinne dezidiert eine Kritik politischer Entscheidungen zum Ziel und versuchten Konsumenten dazu zu animieren, über den Einkauf hinaus politische Initiativen zu ergreifen und beispielsweise Protestbriefe an die Bundesregierung zu schreiben. 49 Diese betont konfrontative und kritische Positionierung gegenüber dem Staat sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der „Alternative Dritte Welt Handel“ in der Alltagspraxis immer wieder auf Kooperation und Unterstützung durch staatliche Stellen angewiesen war. Hier lässt sich eine ähnliche Spannung zwischen diskursiver Abgrenzung und finanziellen Abhängigkeiten beobachten, wie sie Jörg Neuheiser für das gesamte Feld der selbstverwalteten Betriebe herausgearbeitet hat. 50 Es ist generell zu beobachten, dass viele „Dritte-Welt-Läden“ zu einer Zeit ge47 Zur zeitgenössischen Kritik an der Entwicklungszusammenarbeit vgl. Hubertus Büschel/Daniel Speich Chassé, Einleitung – Konjunkturen, Probleme und Perspektiven der Globalgeschichte von Entwicklungszusammenarbeit, in: dies., Entwicklungswelten. Globalgeschichte der Entwicklungszusammenarbeit. Frankfurt am Main 2009, 7–29, vor allem 14–16; Bastian Hein, Die Westdeutschen und die Dritte Welt. Entwicklungspolitik und Entwicklungsdienste zwischen Reform und Revolte 1959–1974. München 2005, 129–146. 48 Siehe hierzu: Quaas, Fair Trade (wie Anm.10), 198–202. 49 Zur Alu-Schok-Kampagne siehe: MAA, FH 12 (A3WH, Aktion Aluschok 1974–75). 50 Jörg Neuheiser, Utopische „Schulen unternehmerischer Tugenden“? Leistung, Qualität und Qualifizierung als Probleme des alternativen Wirtschaftens in den 1970er und 1980er Jahren, in: ders./Bernhard
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gründet wurden, in der innerhalb des „alternativen Milieus“ auch zahlreiche andere Betriebe und Kooperativen entstanden. Als diese Betriebe in den 1970er und 1980er Jahren in eine Phase der ökonomischen Konsolidierung eintraten, wuchs auch der Druck, sich mit organisatorischen, finanziellen und rechtlichen Fragen auseinanderzusetzen. 51 In diesem Kontext etablierten sich neue „alternative“ Unternehmensberater und Manager sowie eine Ratgeberliteratur, die Expertenwissen über Rechtsformen, Finanzierungsmöglichkeiten und staatliche Förderungen zur Verfügung stellten sowie basales Wissen über Kostenkalkulation, Buchhaltung und Management vermittelten – oder zumindest dafür warben, sich mit solchen Fragen auseinanderzusetzen. Eine im Berliner Stattbuch-Verlag erschienene Reihe von drei „Leitfäden für die Arbeit in selbstverwalteten Betrieben und Projekten“ versuchte beispielsweise, dieses Wissen zu bündeln und Akteuren des alternativen Milieus zur Verfügung zu stellen. 52 Hinweise für das Akquirieren von „Staatsknete“ – von Fördermaßnahmen der Arbeitsämter über die Zuteilung von Finanzmitteln aus kommunalen Bußgeldern bis zu Mitteln aus der Deutschen Klassenlotterie – bildeten hierbei ein wiederkehrendes Thema. 53 Eine ähnliche Systematisierung ökonomischer und juristischer Wissensbestände lässt sich auch für die Weltläden beobachten. 1980 gab die „Arbeitsgemeinschaft Dritte Welt Läden“ (AG3WL) – der 1975 gegründete Dachverband, in dem sich ein großer Teil der Weltläden organisiert hatte – ein „Weltladen-Handbuch“ heraus, das als Handreichung für etablierte Ladengruppen ebenso gedacht war wie für Personen oder Gruppen, die sich Gedanken über eine eigene Ladengründung machten. Das Handbuch erschien zunächst in einer Auflage von 300 Stück und wurde 1989 in Dietz (Hrsg.), Wertewandel in der Wirtschaft und Arbeitswelt. Arbeit, Leistung und Führung in den 1970er und 1980er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin/Boston 2017, 283–310. 51
Vgl. allgemein zu alternativen Betrieben und Arbeitsformen: Frank Heider, Selbstverwaltete Betriebe
in Deutschland, in: Roth/Rucht (Hrsg.), Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945 (wie Anm.22), 513–526; Rolf Schwendter (Hrsg.), Die Mühen der Ebenen. Grundlegungen zur alternativen Ökonomie. Amsterdam 1986; ders. (Hrsg.), Die Mühen der Berge. Grundlegungen zur alternativen Ökonomie. München 1986; Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren. Berlin 2014, 319–350. 52
Arbeitskreis „Unter Geiern“/Ulrich Burnautzi (Hrsg.), Unter Geiern. Ein Leitfaden für die Arbeit in selbst-
verwalteten Betrieben und Projekten. Berlin 1982; Klaus Esche/Arbeitsgruppe Projektberatung (Hrsg.), Der Schatz im Silbersee. Ein Finanzierungsleitfaden für selbstverwaltete Betriebe und Projekte. Berlin 1986; Matthias Neuling, Auf fremden Pfaden. Ein Leitfaden der Rechtsformen für selbstverwaltete Betriebe und Projekte. Berlin 1987. 53
318
Z.B. Burnautzi (Hrsg.), Unter Geiern (wie Anm.52), 109–130; Esche, Schatz (wie Anm.52), 113–144.
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einer zweiten Auflage von 2000 Exemplaren noch einmal herausgegeben. 54 Das erste Kapitel stand unter der Überschrift „Von der Aktionsgruppe zum Laden“. In diesem Kontext wurden die Vor- und Nachteile unterschiedlicher Rechtsformen (GmbH, Genossenschaft, Verein) diskutiert, weitere Voraussetzungen wie Startkapital, Gewerbeschein und Darlehen erklärt sowie grundlegende Praktiken der Buchhaltung und Finanzkalkulation dargestellt. Die Rolle des Staates rückte vor allem dort in den Fokus, wo es um Möglichkeiten der steuerlichen Begünstigung oder finanziellen Förderung ging. Ein Weltladen, so die Autoren, stelle „für das Finanzamt keine Besonderheit dar“: In Bezug auf Mehrwertsteuer oder zu versteuernde Gewinne werde er „wie jeder andere Händler auch behandelt“. 55 Unerwähnt blieb hier, dass es in den 1970er Jahren durchaus Versuche gegeben hatte, „Dritte-Welt Läden“ als gemeinnützige Institutionen zum Beispiel von der Körperschaftssteuer zu befreien, was jedoch am Widerstand des Finanzministeriums scheiterte, das argumentierte, dass hieraus eine illegitime Bevorzugung gegenüber anderen Marktteilnehmern entstehen würde. 56 Dennoch betonten die Autoren des Handbuchs, dass es zahlreiche Möglichkeiten gebe, sich um staatliche Förderung zu bemühen. Ein Schlüssel hierzu war die Anerkennung des Ladens als „gemeinnützig“. Der Ratgeber verwies hierzu auf konkrete Formulierungen, die „möglichst wörtlich“ in die Satzung des eigenen Vereins aufzunehmen seien, wie zum Beispiel die „Förderung internationaler Gesinnung“, der „Toleranz auf allen Gebieten der Kultur und des Völkerverständigungsgedankens“, die „Förderung der Fürsorge für politisch und rassisch Verfolgte“ und die „Verbraucherberatung“. Der Status der Gemeinnützigkeit hätte zahlreiche Vorteile wie die Möglichkeit, Spendenquittungen auszustellen oder sich um diverse Formen der staatlichen Förderung zu bewerben. 57 Etwaige Bedenken, staatliche Gelder für die eigenen Kampagnen in Anspruch zu nehmen, wurden wirkungsvoll beiseitegescho-
54 Harald Rohr/Arbeitsgemeinschaft Dritte Welt Läden e.V., Der Dritte Welt Laden. Darmstadt 1980; Toni Aulbach (Hrsg.), Weltladen-Handbuch. Ein Wegweiser für Mitarbeiterinnen von Weltläden und andere entwicklungspolitisch Interessierte. Wuppertal 1989. Die folgenden Zitate beziehen sich auf die neu überarbeitete und erweiterte Auflage von 1989. 55 Aulbach, Weltladen-Handbuch (wie Anm.54), 41. 56 Vgl. die hierzu erhaltenen Dokumente der Anfrage von Roland Burkl an das Bundesfinanzministerium und die hierauf folgende Korrespondenz. Burkl verfolgte das Anliegen bis zu einer Petition in den Bundestag weiter. Siehe: „Steuerliche Behandlung von Dritte-Welt-Läden“, Bundesarchiv B 126/100998. 57 Aulbach, Weltladen-Handbuch (wie Anm.54), 46f.
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ben: Über Kaffee-, Tee-, Mehrwertsteuer und Zölle würde allein die GEPA schon mehr an den Staat zahlen als an die eigenen Mitarbeiter. 58 Auf diese Weise entstand zum Staat mit der Zeit eher ein Verhältnis der partiellen Kooperation und Förderung, das sich in einer langen historischen Linie bis zum 2016 von der Bundesregierung beschlossenen „Nationalen Programm für nachhaltigen Konsum“ weiterverfolgen ließe. 59 Im Gegensatz hierzu besaß das Verhältnis zur kommerziellen Ökonomie eine ungleich größere Sprengkraft. Stärker als in Bezug auf den Staat entstand hier ein Konfliktfeld, das die internen Debatten des „Alternativen Dritte Welt Handels“ immer wieder beschäftigen sollte. Ein wichtiger Aspekt dieser Grenzziehung war die Debatte über die Spannung zwischen Handel und „Bewusstseinsbildung“ als den beiden zentralen, zum Teil aber eben miteinander in Konflikt stehenden Zielen der „Aktion Dritte Welt Handel“. 60 Aktivisten reagierten häufig äußerst sensibel, wenn in Zweifel geriet, dass es sich bei den eigenen Kampagnen um eine Form des politischen Aktivismus und nicht um eine bloße Verkaufstätigkeit handelte. In der konkreten Umsetzung zeigte sich aber schnell, dass es zwar relativ einfach war, Kunsthandwerk und andere Produkte aus der „Dritten Welt“ an interessierte Konsumenten zu verkaufen, aber ungleich schwerer, auf diese Weise bei den Käufern auch Interesse für die eigenen entwicklungspolitischen Anliegen zu wecken. Immer wieder beklagten Akteure daher die Diskrepanz zwischen erfolgreichen Verkaufsaktionen einerseits und einer geringen Resonanz gegenüber Versuchen der Information und Bewusstseinsbildung andererseits. Schon 1971 berichtete beispielsweise eine Aktionsgruppe aus Schwenningen in einem Erfahrungsbericht rückblickend, dass sie zwar einen „Gesamterlös von 8.000,– DM“ erzielt habe, zugleich aber frustriert darüber gewesen sei, „nur verkauft und keinem unserer Mitbürger die Probleme des Welthandels nähergebracht zu haben“. 61 Die selbstkritische Erkenntnis der Akteure lautete: „Wir hatten Spaß daran, unseren Käufern
58
Ebd. 33.
59
Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (Hrsg.), Nationales Programm
für nachhaltigen Konsum. Gesellschaftlicher Wandel durch einen nachhaltigen Lebensstil. Berlin 2017, http://www.bmub.bund.de/fileadmin / Daten_BMU/Download_PDF /Produkte_und_Umwelt/nat_programm_konsum_bf.pdf (Zugriff: 10.8.2017). 60
Siehe z.B. Harry Neyer, Bestätigung von Zielvorstellung und Grundsätzen (7.Oktober 1974), in: MAA,
FH 2.
61
Erfahrungsbericht der 2. Aktion Dritte Welt-Handel in Schwenningen vom 4.–5.12.1971, in: MAA, FH
73.
320
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Weihnachtsgeschenke zu verkaufen und vergaßen dabei unser eigentliches Wollen.“ 62 Ähnliche Wahrnehmungen durchziehen die gesamte Geschichte des „fairen Handels“, nicht zuletzt auch bei solchen Kampagnen, die einen großen ökonomischen Erfolg darstellten. Zum Teil rief dies sogar Gegenreaktionen hervor: So wurden beispielsweise für die Verkaufsaktionen der Kampagne „Jute statt Plastik“ nach einiger Zeit Strategien zum „Bremsen des Verkaufs“ formuliert wie zum Beispiel ein Quiz, an dem vor dem Kauf eines Beutels teilgenommen werden musste oder eine Begrenzung des Verkaufs auf zwei bis drei Beutel pro Käufer. 63 Auch für den Alltagskontext der Weltläden wurde in der internen Kommunikation immer wieder hervorgehoben, dass der Verkauf nicht zum Selbstzweck werden dürfe, sondern die soziale und kommunikative Interaktion im Laden primäre Bedeutung besitze. 64 Wurde der Antagonismus zwischen Handel und „Bewusstseinsbildung“ betont, so verwies dies im Kern auf eine im Verlauf der 1970er und 1980er Jahre gewachsene Sorge, dass die kommerzielle Dimension ein Übergewicht gewinnen könnte und institutionelle Eigenlogiken die ursprünglichen politischen Ziele zu überformen drohten. Wurde die Spannung zwischen Handel und Informationsarbeit auf einer Mitgliederversammlung 1977 noch als produktiv charakterisiert, da sie dafür sorge, „daß die Bewegung nicht erstarrt“ 65, so hieß es im Weltladen-Handbuch von 1989 sehr viel kritischer, „der Weg zwischen Kommerz- und Bildungseinrichtung [sei] immer eine Gratwanderung“. 66 Insbesondere in den 1980er Jahren – zu einem Zeitpunkt also, zu dem die Weltläden stärker als zuvor durch Akteure aus dem „alternativen Milieu“ geprägt waren – entstand eine Vielzahl von Texten, in denen über die Frage debattiert wurde, ob es sich bei den eigenen Initiativen überhaupt noch um al-
62 Ebd. 63 Vgl. Konrad J. Kuhn, „Das Produkt als Aufhänger für Information und Schulungsarbeit“. Die entwicklungspolitische Konsumentenaktion „Jute statt Plastic“, 1976–1979, in: traverse. Zeitschrift für Geschichte 12, 2005, 27–39; ders., Fairer Handel und Kalter Krieg. Selbstwahrnehmung und Positionierung der FairTrade-Bewegung in der Schweiz 1973–1990. 1.Aufl. Bern 2005, 82–111. 64 Die Abwägung z.B. in: Thesen der Arbeitsgruppe „Alternativbewegung und Dritte-Welt-Läden“, in: Archiv der AG3WL, AG3WL-Rundbrief, Nr.6. Exemplarisch für die große Bedeutung, die die Akteure der kommunikativen Dimension des Weltladens zusprachen: Gisela Kriebel, Protokoll meines Ladendienstes am Dienstag, 4.September 1984, in: Archiv der AG3WL, AG3WL-Rundbrief 14, Februar 1985, 8–11. 65 Werner Rostan, Grundsatzbericht bei der Mitgliederversammlung am 23.September 1977, in: MAA, FH 2.
66 Aulbach, Weltladen-Handbuch (wie Anm.54), 58.
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ternative Projekte handeln würde. 67 Außerdem wurden die Tendenzen einer weiter fortschreitenden Professionalisierung angeprangert 68 und generell vor einem Überhandnehmen der „ökonomischen Eigenlogiken“ und „alternativen Sachzwänge“ gewarnt. 69 Wiederkehrende Motive waren etwa der Verweis auf eine vermeintliche „Selbstausbeutung“ der Mitarbeiter innerhalb der Weltläden oder Fragen der demokratischen Partizipation und dezentraler Entscheidungsprozesse, die insbesondere gegenüber der GEPA regelmäßig eingefordert wurden. 70 Zum Teil konnte hier schon eine zu marktaffine Ausdrucksweise zu einem Skandalon werden, wenn beispielsweise ein Leserbrief auf Vorschläge einer weitreichenden Reform und Modernisierung der Weltläden antwortete: „In eurem Brief sind die gleichen Motive, wie in der Wirtschaft zu entdecken: Der Kunde als passiver Konsument von Waren und Infos, der Laden straff organisiert und gleichaussehend, ‚Werbe‘-Katalog […], Profitmaximierung ohne Rücksicht auf die Produzenten. […] Bereits in der Wortwahl kommt das Managerdenken schon offen heraus […]“ 71
Auch diese Skepsis gegenüber einer ökonomischen Überformung der eigenen Projekte teilte der „Alternative Dritte Welt Handel“ mit anderen „alternativen“ Betrieben und Projekten, die irgendwo zwischen „Staatsknete“ und „proto-neoliberalen“ Arbeitsformen eine prekäre ökonomische Existenz zu erhalten versuchten. 72 Der Vorwurf der „Kommerzialisierung“ beinhaltete hierbei ein enormes Skandalisierungspotenzial für eine Bewegung, die sich von ihren Anfängen an über eine Kritik an der westlichen Konsumgesellschaft und globaler ökonomischer Ungleichheit definiert hatte. Dass im Kontext dieser Prozesse der Professionalisierung und Ökonomisierung aus lokalen Weltläden in großem Umfang „kleine geile Firmen“ geworden seien, die Organisationspraktiken des alternativen Milieus in eine neoliberal überformte Marktgesellschaft überführt hätten, darf mit guten Gründen bezwei-
67
Thesen der Arbeitsgruppe „Alternativbewegung und Dritte-Welt-Läden“, in: Archiv der AG3WL,
AG3WL-Rundbrief, Nr.6, November/Dezember 1982, 12–14, Alterna(t)iver Handel, in: Archiv der AG3WL, AG3WL-Rundbrief, Nr.13, Juni 1984, 25–29. 68
Vgl. z.B. Schöne Schaufenster, Archiv der AG3WL, AG3WL-Rundbrief 34, Januar 1989, 6f.
69
Alternativer Handel?, in: Archiv der AG3WL, AG3WL-Rundbrief 12, März 1984, 12–14. Über den ge-
samten Diskussionskontext vergleiche detailliert: Möckel, Plastikwelt (wie Anm.8).
322
70
Z.B.: GEPA wohin? – mit wem?, in: AG3WL-Rundbrief 18, Oktober 1986, 32–35.
71
Sigi Schwarzer, Leserbrief, in: Archiv der AG3WL, AG3WL-Rundbrief 3, März 1982, 15f.
72
Vgl. für den Gesamtkontext wiederum Neuheiser, Utopische Schulen (wie Anm.50), 283–310.
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felt werden. 73 Die Kontroversen hierüber bildeten aber ein zentrales Debattenfeld der 1980er Jahre. 74 Für die Einordnung des „Alternativen Dritte Welt Handels“ in den Kontext eines entwicklungspolitisch motivierten „voluntary sector“ in der Bundesrepublik sind diese Grenzmarkierungen von zentraler Bedeutung. Sie waren nicht nur wichtig für die Identität und das Zugehörigkeitsgefühl der Aktivisten, sondern stellten letztlich auch einen entscheidenden Faktor für die Glaubwürdigkeit der Konsumkampagnen als Formen eines politischen oder moralischen Engagements dar. 75 Für die in diesem Beitrag verfolgte Fragestellung ist dabei nicht zuletzt von Interesse, inwiefern sich diese Grenzziehungen auch auf die Selbstbilder, den Habitus und das Alltagshandeln der einzelnen Aktivisten auswirkten. Auch hier, so ist zu vermuten, bildete die Abgrenzung von einer reinen Konsum- oder Verkaufstätigkeit einen wichtigen Anknüpfungspunkt für das Selbstbild der Akteure und die Präsentation des eigenen Engagements. An zwei Beispielen lässt sich das verdeutlichen. Eine erste Kontroverse betraf die Legitimität fest angestellter und bezahlter Mitarbeiter innerhalb der Ladengruppen. Wie dargestellt, betonten viele Ladengruppen nachdrücklich die Freiwilligkeit des eigenen Engagements, wobei es vor allem um zwei Punkte ging: Einerseits wurde es als problematisch angesehen, Geld für fest angestellte Mitarbeiter aufzuwenden, das aus dem Verkauf von Waren aus der „Dritten Welt“ gewonnen worden war. Denn wenn Gehälter zu zahlen waren, ging dieses Geld für Entwicklungs- und Hilfsprojekte verloren. Hierin lag ein moralisches Skandalisierungspotenzial, das sich in ähnlicher Weise auch in anderen Institutionen des humanitären Feldes in Bezug auf eine befürchtete Verschwendung finanzieller Ressourcen finden lässt. 76 Dies wurde noch dadurch potenziert, dass die Gehälter für eigene Angestellte notwendigerweise
73 Zum Begriff: Arndt Neumann, Kleine geile Firmen. Alternativprojekte zwischen Revolte und Management. Hamburg 2008. 74 Für den allgemeinen Kontext der Professionalisierung von NGOs seit den 1970er Jahren: Matthew Hilton, The Politics of Expertise. How NGOs Shaped Modern Britain. Oxford 2013, 80–105. 75 In Anlehnung an Christopher Browns Arbeit zur britischen Anti-Sklaverei-Bewegung ließe sich von „moralischem Kapital“ sprechen, das hier generiert und/oder verteidigt werden musste; vgl. Christopher Leslie Brown, Moral Capital. Foundations of British Abolitionism. Chapel Hill 2006. 76 Vgl. z.B. Oxfam, die in internen Infoblättern die eigenen Mitarbeiter aufforderte, nie zu den teuersten Zeiten zu telefonieren oder Telegramme aufzugeben, wenn es nicht unbedingt notwendig sei. Begründet wurde das u.a. mit dem Hinweis: „A 3-minute call to London from Oxford costs 89p. and we can buy a chicken for a leprosy colony for that.“ Bodleian Library Oxford, Oxfam Archive, MS. Oxfam COM 2–1-1.
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weit über der Entlohnung jener Kleinbauern und anderen Handelspartner lagen, deren Produkte man verkaufte und die man mit dem eigenen Laden unterstützen wollte. 77 In den internen Diskussionen wurde daher zum Teil die Forderung erhoben, dass das Geld für hauptamtliche Mitarbeiter in jedem Fall anderen Quellen entspringen müsse als dem Gewinn aus den Produkten der „Dritten Welt“. 78 Ein weiterer Grund für die Skepsis gegenüber bezahlten Mitarbeitern lag im Selbstbild als politische Aktionsgruppe und in der Betonung des freiwilligen Engagements als Kern des eigenen Handelns. Einige Aktivisten argumentierten beispielsweise, dass die Entstehung zusätzlicher regelmäßiger Kosten die ökonomische Abhängigkeit erhöhen und eine effektive Bildungsarbeit dadurch noch weiter erschweren würde. Steigende Betriebskosten, so folgerten sie, würden den Anspruch zusätzlich konterkarieren, dass bei dem eigenen Handelsmodell nicht Umsatz und Gewinn im Zentrum stünden, sondern das politische Engagement. 79 Darüber hinaus befürchteten viele Aktivisten, dass sich die Trennung zwischen freiwilligen und bezahlten Mitarbeitern negativ auf die Gruppendynamik auswirken könne. Ladengruppen, so hieß es etwa in einer zeitgenössischen Untersuchung aus den späten 1970er Jahren, verstünden sich in den meisten Fällen nicht nur als eine „Zweckgemeinschaft“, sondern basierten auf einer von allen geteilten Motivation, die auf „individuelle Selbstverwirklichung in der Gruppe“ ziele. 80 Das Weltladen-Handbuch von 1989 wiederum berichtete in einem Unterkapitel über die „Schwierigkeiten hauptamtlicher Arbeit in ehrenamtlichen Vereinsstrukturen“. 81 Dort wurde zwar zunächst auf die evidenten positiven Effekte einer solchen Stelle hingewiesen: „[D]ie Post wird endlich gelesen und ausgewertet, Termine und Infos werden an die Gruppe weitergegeben, Regionaltreffen besucht und Kontakte zu anderen Gruppen aufgebaut.“ Auf der anderen Seite wurden aber auch die möglichen negativen Auswirkungen der Konzentration der Verantwortung auf eine einzige Person betont:
77
Vgl. Arbeitsgruppe Alternative Ökonomie im 3. Welt Laden und bei den Produzenten: Hauptamt-
liche: Pro und Contra, in: AG3WL-Rundbrief 16, Februar 1986, 24–28, hier 24. 78
Alternativbewegung und Dritte-Welt-Läden (wie Anm.64). Legitim erschien dann z.B. die Finanzie-
rung über Spenden oder über den Verkauf einheimischer Produkte wie Umweltschutzpapier. 79
So das Argument in dem Thesenpapier: Alternativbewegung und Dritte-Welt-Läden (wie Anm.64).
80
Martin Kunz, Dritte-Welt-Läden. Einordnung und Überprüfung eines entwicklungspolitischen Bil-
dungsmodells anhand der Fallbeispiele der Leonberger und Ludwigsburger Ladeninitiativen. Darmstadt 1987, 248. 81
324
Aulbach, Weltladen-Handbuch (wie Anm.54), 55f.
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„Die erste Zeit arbeiten Gruppe und Hauptamtliche gut zusammen. Doch dann tun sich Abgründe zwischen Arbeit und Engagement auf. Einzelne Gruppenmitglieder erlahmen in ihren Aktivitäten und der/die Hauptamtliche wird mehr und mehr zur zentralen Figur.“ 82
Die Unterscheidung zwischen „Arbeit“ und „Engagement“ in dem Zitat ist äußerst aussagekräftig und verweist nochmals darauf, dass das Thema „Freiwilligkeit“ für die Gruppenmitglieder sowohl emotional als auch politisch stark aufgeladen war. Eine nüchternere Betrachtung hat aber ebenfalls ein gewisses Erklärungspotenzial: Das freiwillige Engagement zahlreicher Mitarbeiter und die hiermit verbundene unentgeltliche Arbeitsleistung bildeten selbstverständlich auch einen entscheidenden wirtschaftlichen Faktor, ohne den der „faire Handel“ kaum ökonomisch überlebensfähig gewesen wäre. Stephen Hopgood hat diese mit dem freiwilligen Engagement verbundene Bereitschaft zu „self-sacrifice“ ökonomisch als Wettbewerbsvorteil von „high quality of […] cheap labor“ interpretiert, mit dem sich NGOs und andere Institutionen des humanitären Feldes von kommerziellen Unternehmen absetzen konnten. 83 Innerhalb der Fairtrade-Bewegung ist dies durchaus auch als eine Form der „Selbstausbeutung“ kritisiert worden 84, und so ist es womöglich kein Zufall, dass sich in den folgenden Jahren in vielen Läden dennoch angestellte Mitarbeiter als Teil der Ladengruppen durchsetzten. In einer Umfrage aus dem Jahr 1981 gaben beispielsweise schon knapp ein Drittel der befragten Läden an, einen bezahlten Mitarbeiter zu beschäftigen. 85 In den folgenden Jahren verstärkte sich dieser Trend noch, nicht zuletzt weil stärker als zuvor auf staatliche Förderungen und Arbeitsbeschaffungsprogramme zurückgegriffen werden konnte. Ein zweites Debattenfeld, das abschließend nur angedeutet werden kann, betraf die Frage, wie innerhalb der Weltläden mit Profiten umgegangen werden sollte. Auch dies zielte auf den Kern der Abgrenzung von der kommerziellen Ökonomie. Es war in den meisten Läden gängige Praxis, dass etwaige Profite genutzt wurden, um 82 Ebd. 83 Stephen Hopgood, Saying „No“ to Wal-Mart? Money and Morality in Professional Humanitarianism, in: Michael Barnett/Thomas G. Weiss (Eds.), Humanitarianism in Question. Politics, Power, Ethics. Ithaca, NY 2008, 98–123, 102–120. 84 So z.B. auf einem europäischen Vernetzungstreffen im September 1985, wo das Protokoll über die dortige Diskussion festhielt: „Wir wollen einen gerechten Handel und beuten uns selber aus.“ Europäisches Dritte-Welt-Läden-Seminar 21./22.September 1985, in: AG3WL-Rundbrief 20, Februar 1986, 23–25. 85 Ergebnisse der Umfrage unter den Mitgliedsläden der AG3WL, in: Archiv der AG3WL, AG3WL-Rundbrief 1, Oktober 1981, 19–21.
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Hilfsprojekte zu unterstützen. Wenn diese Projekte nicht in direkter Weise mit den Gruppen verbunden waren, von denen man die Produkte gekauft hatte, widersprach dies aber letztlich dem Anspruch, mit dem „Alternativen Dritte Welt Handel“ ein Gegenmodell zum Spendenwesen zu konstituieren. Es war innerhalb der Bewegung daher durchaus umstritten, inwieweit die Unterstützung von Hilfsprojekten ein legitimes Ziel des „fairen Handels“ darstellte. 86 Darüber hinaus sorgte die Praxis, alle Einnahmen möglichst vollständig an Hilfsprojekte weiterzuleiten, tendenziell dafür, dass notwendige Investitionen in den eigenen Laden sowie Werbemaßnahmen und andere Betriebsausgaben innerhalb der Ladengruppen skeptisch beäugt wurden und auf diese Weise eine Modernisierung der Läden zum Teil unterblieb. Der „Alternative Dritte Welt Handel“ lässt sich somit als Beispiel einer ethischen Konsumpraxis verstehen, die sich im Spannungsfeld zwischen Staat, Zivilgesellschaft und Ökonomie konstituierte. Insbesondere die Abgrenzung zur kommerziellen Ökonomie war dabei für die Glaubwürdigkeit des Konsummodells von entscheidender Bedeutung, wobei die Grenzziehungen hier notorisch prekär und umstritten blieben. Dies verstärkte sich noch in den einsetzenden Prozessen der Vermarktlichung, die vor allem seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre die Diskussionen innerhalb der Dritte-Welt-Handels-Bewegung zu dominieren begannen.
IV. Vermarktlichungen und die „moving frontiers“ des zivilgesellschaftlichen Engagements Ungefähr seit den späten 1980er Jahren lassen sich für das Feld des „fairen Handels“ Prozesse der Vermarktlichung im Sinne einer verstärkten Öffnung gegenüber kommerziellen Unternehmen, der Integration von Produkten in konventionelle Verkaufswege und einer Professionalisierung der eigenen Geschäftspraktiken erkennen. Als Umschlagpunkt gilt hierbei gemeinhin die Einführung von FairtradeSiegeln und Zertifizierungen in den frühen 1990er Jahren, mit denen es möglich wurde, fair gehandelte Produkte auch außerhalb alternativer Vertriebswege und in Kooperation mit kommerziellen Unternehmen zu verkaufen. 87 Bei genauerer Be-
86
Siehe zur Kritik hieran z.B. Wolfgang Müller, Handel zwischen Barmherzigkeit und Profit, in: Blätter
des iz3w 59, Februar 1977, 9–13. 87
326
Elisabeth Bennett, A Short History of Fairtrade Certification Governance, in: Janet Dine/Brigitte Gran-
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trachtung setzte diese Entwicklung schon einige Jahre früher ein und beeinflusste die Debatten insbesondere innerhalb der Weltladengruppen in der Bundesrepublik bereits seit Mitte der 1980er Jahre. Solche Prozesse der Vermarktlichung sind in diesem Zeitraum nicht nur für den „fairen Handel“ charakteristisch, sondern lassen sich auch in anderen Feldern des „ethischen Konsums“ wiederfinden. Das gilt insbesondere für das Feld des „ökologischen Konsums“, wo diese Entwicklung schon einige Jahre zuvor einsetzte – und dabei mit ganz ähnlichen Bedrohungswahrnehmungen verbunden wurde. So entspann sich in Großbritannien beispielsweise eine intensive Debatte über den Einfluss eines vermeintlichen „green consumerism“, der nicht mehr allein auf ein „alternatives Milieu“ politisch interessierter Aktivisten beschränkt war, sondern mit Unternehmen wie „The Body Shop“ auch weit in die Sphäre der kommerziellen Ökonomie vordrang. 88 Ähnlich wie beim „fairen Handel“ stellten solche Marktexpansionen etablierte Institutionen zum Teil vor erhebliche Probleme. So berichtete beispielsweise die Zeitschrift Öko-Test – selbst ein Produkt des gestiegenen Interesses für ökologische Konsumformen – im Jahr 1985 in einem ausführlichen Artikel mit dem Titel „Kommen die Naturkostläden nicht mehr mit?“ über die Probleme, die sich für die traditionellen Bio- und Naturkostläden aus dem beschleunigten Wachstum des eigenen Marktsegmentes ergaben, und über den Modernisierungsdruck, der mit der neuen Konkurrenz durch kommerzielle Anbieter einherging. 89 Ähnliche Phänomene der Vermarktlichung und Professionalisierung lassen sich auch in den Boykottaktionen der Anti-Apartheid-Bewegung beobachten. Hier gründeten Aktivisten im Jahr 1986 ein mit der Anti-Apartheid-Bewegung verbundenes, ökonomisch aber eigenständig agierendes Unternehmen mit dem Namen „AA Enterprises“, das das Ziel verfolgte, Protestmaterialien, Alltagsgegenstände und Produkte aus den an Südafrika angrenzenden „Frontline States“ an Unterstützer der Bewegung zu verkaufen. Das Unternehmen war von Beginn an äußerst professionell organisiert und hatte unter anderem mit Hilfe einer Unternehmensberatung einen
ville (Eds.), The Processes and Practices of Fair Trade. Trust, Ethics, and Governance. London 2013, 53–78. In Deutschland bildete die Gründung von „Transfair“ im Jahr 1992 den wichtigsten Schritt zu einer Institutionalisierung. 88 Zur Diskussion über den „green consumerism“ vgl. z.B. Sandy Irvine/Friends of the Earth, Beyond Green Consumerism. London 1989; Karen Christensen, Don’t Call Me a Green Consumer, in: Resurgence 145, März/ April 1991, 4–6. 89 Fritz Arndt, Kommen die Naturkostläden nicht mehr mit?, in: Öko-Test 8, 1985, 14–21.
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genauen Finanzplan erstellt und über Befragungen die Reichweite der eigenen Zielgruppe ermittelt. Der erste Versandkatalog erschien im Herbst 1986 und wurde in den folgenden Jahren zweimal jährlich herausgegeben. 90 Bislang sind diese Phänomene vor allen Dingen unter dem Begriff der „Kommerzialisierung“ verhandelt worden, wobei hiermit insbesondere für den „fairen Handel“ bis heute eine normativ aufgeladene Grundsatzdebatte verbunden ist. Drei Entwicklungen sind dabei betont worden: erstens die vermeintliche Transformation einer politischen Bewegung in einen bloßen Anbieter kommerzieller Produkte; zweitens das Abrücken von konfrontativen Strategien zugunsten einer immer engeren Kooperation mit kommerziellen Unternehmen, bei der die Grenzen zum bloßen „white-“ oder „greenwashing“ nicht immer klar genug gezogen seien; sowie drittens die Abschwächung oder gar die Aufgabe des Lern- und Bewusstseinsbildungsmodells zugunsten eines reinen Handelsmodells, das in letzter Konsequenz einer Rückkehr zu einem rein karitativen Ansatz nahekam, der mit dem Handelsmodell ursprünglich überwunden werden sollte. 91 Betrachtet man die dargestellte Entwicklung jedoch nicht allein aus der Perspektive einer Umsatz- und Marktveränderung, sondern als Wandel einer zivilgesellschaftlichen (Protest-)Bewegung, so lässt sich ein nuancierterer Zugang zu den Transformationsprozessen der 1980er und 1990er Jahren gewinnen, der die nötige Distanz zu normativ aufgeladenen Deutungsmustern wie einer „Moralisierung der Märkte“ (Nico Stehr) oder einer Kommodifizierung des politischen Protests hält. 92 Vor allem die im vorangegangenen Abschnitt skizzierten „moving frontiers“ können dazu beitragen, die vermeintlich eindeutige Gegenüberstellung von politischer Bewegung und kommerziellem Marktsegment zu differenzieren und damit zugleich auch zu hinterfragen, ob Formen der Vermarktlichung immer und notwendigerweise mit Prozessen der Entpolitisierung einhergehen mussten. Tentativ lassen sich hierzu abschließend drei Perspektiven formulieren. Ein erster Zugang liegt in dem Phänomen einer Diffusion von Praktiken und Deutungsmustern des alternativen Milieus in den Alltag breiterer sozialer und kultureller
90
Vgl. die Aktenbestände in: Bodleian Library Oxford, MSS AAM 2349–2352.
91
Siehe für die Kritik u.a. Fridell, Fair Trade (wie Anm.5); ders., Fair-Trade Coffee and Commodity Fetish-
ism. The Limits of Market-Driven Social Justice, in: Historical Materialism 15, 2007, 79–104. 92
Vgl. für die Formulierung: Thomas Frank/Matt Weiland, Commodify Your Dissent. Salvos from the
Baffler. New York 1997.
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Schichten – zum Teil ohne dass die hiermit ursprünglich verbundenen politischen Deutungen noch eine zentrale Rolle spielen mussten. Dies lässt sich einerseits als eine der nachhaltigsten Folgen eines Erbes von „1968“ ansehen, das über ein klar abzugrenzendes „alternatives Milieu“ hinauswies. 93 Zugleich lässt sich hierin aber auch ein Grund für die Skepsis und tendenzielle Ablehnung dieser Prozesse innerhalb der etablierten Aktivisten und Unterstützer vermuten, insofern dies notwendigerweise auch mit einer partiellen Erosion identitätsstiftender, milieukonstituierender und nicht zuletzt sozial distinguierender Phänomene einherging. Die Bedeutung der Expansion ethischer Konsumpraktiken seit den 1990er Jahren lässt sich insofern womöglich sehr viel besser fassen, wenn man sie nicht allein als Phänomen einer ökonomischen Marktexpansion versteht, sondern zugleich als einen sozialen und milieuspezifischen Diffusionsprozess. 94 Die zweite Perspektive verweist auf ein verändertes Politikverständnis, das sich mit der größeren Bedeutung ethischer Konsumpraktiken verband. Die dargestellten Praktiken ordnen sich in einen Deutungswandel ein, der es mehr und mehr Menschen plausibel erscheinen ließ, politische und gesellschaftliche Veränderungen mit Hilfe von Konsumhandlungen zu befördern und zu artikulieren. Der Wandel innerhalb der Fairtrade-Bewegung, durch den der Verkauf der Produkte nicht mehr bloß als symbolische Handlung interpretiert wurde, sondern zum Kern des eigenen Konzeptes wurde, lässt sich somit in einen Kontext einordnen, in dem auch gesamtgesellschaftlich die Deutung an Akzeptanz gewann, es sei „better to shop than to vote“ – in dem sich also ein steigender Marktoptimismus mit einer Desillusionierung über die Möglichkeiten direkter politischer Partizipation verband. 95 Die von Albert Hirschman in den frühen 1980er Jahren als „shifting involvements“ analysierten „Konjunkturschwankungen“ zwischen gesellschaftlichem Engagement und Rückzug in den (privaten) Konsum erfahren hier womöglich eine interessante und
93 Auch Sven Reichardt weist in seinem Buch auf dieses Phänomen einer gesamtgesellschaftlichen Diffusion hin: Reichardt, Authentizität (wie Anm.51), 885–891. 94 Innerhalb des fairen Handels wurde hierzu explizit auf die Milieu-Zuschreibungen des Sinus-Instituts zurückgegriffen und insbesondere das „liberal-technokratische“ Milieu als jene Zielgruppe identifiziert, die neben dem „alternativen Milieu“ die größte Affinität zu den eigenen Produkten besitze. Vgl. Grundgedanken und Struktur zu einem neuen Corporate Design Konzept für die gepa, GEPA-Archiv, Wuppertal, Archivkarton C. 95 Noreena Hertz, Better to Shop than to Vote, in: New Statesman 1999.
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von ihm so nicht vorhergesehene Wendung, indem der private Konsum nun selbst als Form des politischen Engagements interpretiert wurde. 96 Drittens schließlich – und mit dem zweiten Punkt verbunden – spiegelt sich in der anhaltenden Konjunktur ethischer Konsumpraktiken womöglich eine Entwicklung, in der globale politische und soziale Probleme verstärkt unter Verweis auf eine individuelle moralische Verantwortung verhandelt wurden – eine Entwicklung, die in jüngerer Zeit unter dem Begriff der „Responsibilization“ gefasst worden ist. 97 Die dargestellten Konsumpraktiken verwiesen dabei häufig auf ein vermeintlich gemeinsam geteiltes Gefühl globaler Verantwortung und waren andererseits selbst Teil des Versuchs, ein solches Verantwortungsgefühl überhaupt erst zu generieren – mithin also selbst Teil einer Strategie der „Responsibilization“. Besonders deutlich wird dies in den zahlreichen ethischen Konsumratgebern, die in den 1980er Jahren begannen, Konsumenten über die ökologischen und sozialen Folgen des eigenen Konsums aufzuklären. Diese standen in klarer Kontinuität zu jenen Konsumratgebern und Produkttestzeitschriften, die seit den 1950er Jahren Informationen für den „rationalen Konsumenten“ bereitstellten 98, verwiesen nun aber nicht mehr auf das beste Preis-Leistungsverhältnis der Produkte, sondern auf deren ethische, soziale und ökologische Folgen. 99 Diese Betonung der Macht und Verantwortung des Konsumenten besaß jedoch eine ambivalente Dimension. Politiker und Unternehmen
96
Albert O. Hirschman, Shifting Involvements. Private Interest and Public Action. Princeton 1982.
97
Ronen Shamir, The Age of Responsibilization. On Market-Embedded Morality, in: Economy and So-
ciety 37, 2008, 1–19; Wendy Brown, Undoing the Demos. Neoliberalism’s Stealth Revolution. New York 2015. 98
Das Genre der Konsumratgeber geht bis in das frühe 20.Jahrhundert zurück: Stuart Chase/Frederick J.
Schlink, Your Money’s Worth. A Study in the Waste of the Consumer’s Dollar. New York 1927. Zum Verbraucherschutz in der Bundesrepublik und zum Diskurs um den „rationalen Konsumenten“ vgl. Nepomuk Gasteiger, Der Konsument. Verbraucherbilder in Werbung, Konsumkritik und Verbraucherschutz 1945– 1989. Frankfurt am Main 2010. 99
Vgl. z.B. John Elkington/Tom Burke/Julia Hailes, Green Pages. The Business of Saving the World. London
1988; John Elkington/Julia Hailes, The Green Consumer Guide. From Shampoo to Champagne: High-Street Shopping for a Better Environment. London 1989; Rainer Grießhammer, Umweltengel – Umweltteufel: „umweltfreundliche Produkte“ – die Wahrheit über den Wa(h)ren-Wert; mit Verhaltenstips nach Tschernobyl. Freiburg im Breisgau 1986; Barbara Kasel, Wegweiser durch den Supermarkt. Hamburg 1983; Horst Speichert/Frank Brettschneider, Öko-Rat von A bis Z: Produktempfehlungen, Verhaltenstips, Rezepte. Frankfurt am Main 1989. Darüber hinaus entstanden mit Öko-Test (1985) und The Ethical Consumer (1989) in der Bundesrepublik und Großbritannien Ratgeberzeitschriften, die explizit ökologische und soziale Faktoren in den Vordergrund stellten.
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konnten auf diese Weise auf die freie Entscheidungskraft der Konsumenten verweisen und die hieraus vermeintlich resultierenden Marktveränderungen gegen die Forderung nach politischen und rechtlichen Regulierungen ausspielen. Der letzte Punkt sollte jedoch nicht so verstanden werden, dass sich ethische Konsumpraktiken damit bruchlos in ein Narrativ der neoliberalen Entstaatlichung einfügten, in dem globales Engagement auf individualisiertes Konsumhandeln reduziert würde. 100 Stattdessen lässt sich das Konzept der „Responsibilization“ womöglich am überzeugendsten dazu nutzen, um genau jenes Deutungsmuster zu historisieren, das in vielen Analysen des „fairen Handels“ unhinterfragt als Ausgangspunkt vorausgesetzt wird – nämlich die Vorstellung, dass der einzelne Konsument als treibende Kraft der Durchsetzung ethischer Konsumpraktiken anzusehen sei. Wie ich im vorliegenden Beitrag argumentiert habe, ist diese Deutung mindestens bis in die späten 1990er Jahre nur wenig plausibel. Hier sind es vor allem die NGOs und zivilgesellschaftlichen Bewegungen sowie das freiwillige Engagement einzelner Aktivisten, die Konsum zu einem Mittel des politischen und gesellschaftlichen Protests machten. Die Vorstellung, dass individuelle Konsumentscheidungen einen substanziellen Einfluss auf politische und gesellschaftliche Entwicklungen ausüben können, war diesen Akteuren nicht vollkommen fremd; sie besaß aber keineswegs jene Deutungsdominanz, die heute oft aus einer Gegenwartsperspektive in die Entstehungsgeschichte ethischer Konsumpraktiken rückprojiziert wird. Dass der Konsument zu einem Motor gesellschaftlicher Veränderung werden müsse, ist als Deutungsmuster in der Gegenwart omnipräsent. 101 Statt diese Deutung als Analysezugang zu reproduzieren, geht es eher darum, die Genese dieser Vorstellung ideengeschichtlich und als Geschichte konkreter sozialer Praktiken in den Blick zu nehmen.
100 Eine solche Kontextualisierung in Rahmen neuerer Debatten wäre selbstverständlich problemlos möglich, beispielsweise in Colin Crouchs Theorien einer Aushöhlung der Demokratie (Colin Crouch, Postdemokratie. Frankfurt am Main 2008), Luc Boltanskis und Ève Chiapellos Überlegungen zur produktiven Einverleibung jeglicher (Künstler-)Kritik im „modernen Geist des Kapitalismus“ (Luc Boltanski/Ève Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz 2006) oder in Bezug auf die Arbeiten Ulrich Bröcklings zum unternehmerischen Selbst (Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt am Main 2007). 101 Vgl. beispielsweise die neuere Debatte um das Konzept der „Consumer Social Responsibility“: Imke Schmidt, Consumer Social Responsibility. Gemeinsame Verantwortung für nachhaltiges Konsumieren und Produzieren. Wiesbaden 2016; Robert Caruana/Andreas Chatzidakis, Consumer Social Responsibility (CnSR): Toward a Multi-Level, Multi-Agent Conceptualization of the „Other CSR“, in: Journal of Business Ethics 121, 2014, 577–592.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Kate Bradley ist Senior Lecturer für Sozialgeschichte und Sozialpolitik an der School of Social Policy, University of Kent Georgina Brewis ist Associate Professor für Erziehungsgeschichte am Institute of Education, University College London George Gosling ist Lecturer für Geschichte an der School of Social, Historical and Political Studies, University of Wolverhampton Norbert Götz ist Professor für Geschichte an der School of Historical and Contemporary Studies, Södertörn University, Stockholm Ana Kladnik ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Postdoktorandin am HannahArendt-Institut für Totalitarismusforschung, Dresden Nicole Kramer ist Wissenschaftliche Assistentin und Habilitandin am Historischen Seminar der Goethe-Universität Frankfurt am Main Christine G. Krüger ist Privatdozentin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am SFB „Dynamiken der Sicherheit“, Universität Gießen Thomas Lindenberger ist Direktor des Hannah-Arendt-Instituts, Dresden, und Professor für Totalitarismusforschung an der Technischen Universität Dresden Patrick Merziger ist Juniorprofessor für Kommunikationsgeschichte am Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft, Universität Leipzig Benjamin Möckel ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Postdoktorand am Historischen Institut der Universität zu Köln Klaus Nathaus ist Associate Professor am Department of Archaeology, Conservation and History, University of Oslo Melanie Oppenheimer ist Professorin für Geschichte am College of Humanities, Arts and Social Sciences, Flinders University, Adelaide Matthias Ruoss ist Advanced Postdoc.Mobility-Stipendiat des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (SNF) und Gastwissenschaftler an der Universität Konstanz
HTTPS :// DOI . ORG / 10.1515/9783110627442-013
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Freda Wagner ist Doktorandin an der Universität Gießen und an der Universität Leipzig Steffen Werther ist Senior Lecturer für Geschichte an der School of Historical and Contemporary Studies, Södertörn University, Stockholm
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