Wandel oder Niedergang?: Die Rolle der Intellektuellen in der Wissensgesellschaft [1. Aufl.] 9783839405840

Intellektuelle haben im 20. Jahrhundert mit argumentativer Brillanz und rhetorischem Schliff einen maßgeblichen Einfluss

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German Pages 182 [184] Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Vorbemerkung der Herausgeber
Engagement und Expertise: Die Intellektuellen im Umbruch
Propheten, Richter, Ärzte, Narren: Eine Typologie von Philosophen und Intellektuellen
Der Intellektuelle – ein Zusammendenker
Intellektuelle Wissenschaft, Hyperprofessionalismus und das Allgemeine
Im Diskurs: Zur Legitimierung der Intellektuellen im 21. Jahrhundert
Die Feuilletondebatte zum freien Willen: Expertisierte Intellektualität im medial inszenierten Think Tank
Herausforderung der Intellektuellen durch Naturwissenschaft: Lange und Boutroux
Das philosophische Engagement in der Medizin: Georges Canguilhem heute
Erfolg durch Gruppenorganisation: Die New York Intellectuals
Randbemerkungen: Intellektuelle und kein Ende
Die Autoren
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Wandel oder Niedergang?: Die Rolle der Intellektuellen in der Wissensgesellschaft [1. Aufl.]
 9783839405840

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Martin Carrier, Johannes Roggenhofer (Hg.) Wandel oder Niedergang?

Martin Carrier, Johannes Roggenhofer (Hg.)

Wandel oder Niedergang? Die Rolle der Intellektuellen in der Wissensgesellschaft

Mit freundlicher Unterstützung des Zentrums für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2007 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Mo Tschache, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-584-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorbemerkung der Herausgeber ....................................................................... 7

Engagement und Expertise: Die Intellektuellen im Umbruch Martin Carrier ........................................................................................................ 13

Propheten, Richter, Ärzte, Narren: Eine Typologie von Philosophen und Intellektuellen Michael Hampe ...................................................................................................... 33

Der Intellektuelle – ein Zusammendenker Holk Cruse ............................................................................................................. 55

Intellektuelle Wissenschaft, Hyperprofessionalismus und das Allgemeine Michael Hagner ...................................................................................................... 65

Im Diskurs: Zur Legitimierung der Intellektuellen im 21. Jahrhundert Johannes Roggenhofer ........................................................................................... 83

Die Feuilletondebatte zum freien Willen: Expertisierte Intellektualität im medial inszenierten Think Tank Sabine Maasen ....................................................................................................... 99

Herausforderung der Intellektuellen durch Naturwissenschaft: Lange und Boutroux Michael Heidelberger ........................................................................................... 125

Das philosophische Engagement in der Medizin: Georges Canguilhem heute Claude Debru ....................................................................................................... 143

Erfolg durch Gruppenorganisation: Die New York Intellectuals Walter Reese-Schäfer .......................................................................................... 157

Randbemerkungen: Intellektuelle und kein Ende Gero von Randow ................................................................................................ 177

Die Autoren ........................................................................................................ 181

VORBEMERKUNG M ARTIN C ARRIER

UND

J OHANNES R OGGENHOFER

In neueren Analysen wird nicht selten die Auffassung vertreten, der Typus des moralisch und politisch engagierten Intellektuellen nach dem Vorbild Voltaires, Zolas oder Sartres trete in der Gegenwart zurück. Die öffentliche Empörung über einen Missstand, getragen von hohem moralischem Anspruch, argumentativer Kraft und sprachlicher Brillanz, sei nur mehr von beschränktem Einfluss auf eine zunehmend oberflächliche und medial zersplitterte Öffentlichkeit. Der Fachverstand, die nüchterne, sachbestimmte und mit ihren Wertungen zurückhaltende Analyse, setze sich an die Stelle des mit Verve und Eloquenz vorgetragenen Appells. Die Gestalt des Intellektuellen sei also abgelebt. Im vorliegenden Band soll der Frage nachgegangen werden, ob dieses Urteil zutrifft, und ob sich in dem dadurch gegebenenfalls bezeichneten Trend tatsächlich ein Niedergang von Intellektualität ausdrückt oder stattdessen ein Wandel ihrer Ausdrucksform. Die Einleitung von Martin Carrier skizziert das mögliche Spektrum unterschiedlicher Ausprägungen von Intellektualität. Danach ist es insbesondere der Typus des „Expertenintellektuellen“, der in der Verbindung von Engagement und wissenschaftlichem Sachverstand den Wandel von Intellektualität in der Gegenwart besonders markant zum Ausdruck bringt. Am Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität Bielefeld fand im Januar 2006 eine Konferenz zum Thema „Die Intellektuellen auf dem Weg in die Wissensgesellschaft: Kulturelle Typisierungen und disziplinäre Standardisierungen“ statt. Diese Konferenz war der Untersuchung neuer Formen von Intellektualität gewidmet; ihr entstammen viele Beiträge in diesem Band. Die Herausgeber danken dem ZiF sehr herzlich dafür, dass es diese Konferenz ermöglicht

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hat.1 Im Einzelnen entwerfen die Beiträge ein facettenreiches Bild der Typen und Gestalten von Intellektualität in der Gegenwart. Michael Hampe zielt auf die Abmessung des Spektrums intellektueller Tätigkeit, wobei die klassischen Intellektuellen, Dichter und Philosophen, im Vordergrund stehen. Dabei geht es ihm um eine Rollenbeschreibung oder Funktionsanalyse intellektueller Intervention, die er durch die vier Idealtypen „Propheten, Richter, Ärzte, Narren“ repräsentiert sieht. Generell besteht für Hampe die anhaltende Aufgabe von Intellektuellen im Entwerfen eines Gegenmodells, einer „AntiStruktur“, zur Expertenkultur. Intellektuelle bilden das erforderliche Gegengewicht zum Experten und verdeutlichen durch ihre begründete Kritik und ihr Eintreten für die Belange menschlicher Lebensführung, dass Fachurteile bei solchen Fragen nicht das letzte Wort sind. Statt auf Expertise stützen sich Intellektuelle auf praktische Klugheit und Urteilskraft; sie verstehen es, einen gewissen Abstand zum täglichen Betrieb zu bewahren und urteilen, kritisieren und entlarven aus der Distanz. Holk Cruse geht dem Typus des Expertenintellektuellen nach. Für ihn ist ein solcher dadurch gekennzeichnet, dass er nicht nur die Begrifflichkeit und die Denkansätze seiner eigenen Disziplin beherrscht (das wäre ein Experte), sondern mehrere solcher „Konzeptgruppen“ zum Tragen bringt. Dabei geht es zum Beispiel um das Erkennen von begrifflichen Verknüpfungen oder Gemeinsamkeiten zwischen unterschiedlichen Wirklichkeitsbereichen. Intellektuelle sind dann durch die Fähigkeit charakterisiert, zwischen solchen disziplinären Perspektiven hin und her zu wechseln und entsprechend eine Mehrzahl solcher Perspektiven „zusammenzudenken“. Durch dieses Zusammendenken können Intellektuelle neue Sichtweisen entwickeln und innovative Problemlösungen skizzieren. Michael Hagner entwirft das Bild des engagierten wissenschaftlichen Intellektuellen, dessen Intellektualität sich zunächst in einer Reflexion über die eigene Expertenkultur und ihre soziale und geschichtliche Einbettung ausprägt. Dem Hyperprofessionalismus der Spezialisten setzt solche wissenschaftsreflexive Intellektualität aufklärerisch eine wechselseitig kritische Befragung natur- und geisteswissenschaftlicher Deutungshorizonte und ihrer kulturellen Kontexte entgegen. Experten-Intellektualität in der Wissenschaft geht über das 1 | Besonderer Dank gebührt Mo Tschache vom Forschungssekretariat des ZiF nicht nur für die Erstellung der Druckvorlage mit der gewohnten kritischen Sorgfalt, sondern insbesondere auch für ihr nachhaltiges Hinwirken auf ein termingerechtes Vorliegen der Beiträge.

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public understanding of science hinaus, indem sie nicht nur affirmativ wissenschaftliche Erkenntnisse in die Gesellschaft hinein vermittelt, sondern sich gerade auch kritisch mit der Unabgeschlossenheit und dem kontroversen Charakter von Ergebnissen aus der Grundlagenforschung auseinandersetzt. Johannes Roggenhofer charakterisiert die Diskursform der intellektuellen Intervention als Gleichnisrede, die in einem konkreten Fall ein abstraktes Prinzip zur Anschauung bringt. In der Wissensgesellschaft sind die Experten dafür prädestiniert, selbst die Brücke zu schlagen zwischen der Erkenntniswelt der Wissenschaft, die für zahlreiche politische Entscheidungen die legitimatorische Grundlage bildet, und der Lebenswelt der Gesellschaft, die die Rahmenbedingungen für die Wissenschaft setzt und erhält. Die Leistung der Intellektuellen besteht darin, die spezialistische Professionalisierung des Experten zugunsten einer wissensbasierten Einpassung in das AllgemeinVerständliche (den Common Sense) zu überwinden. Neben die Rolle der Kommunikatoren zwischen Expertenwissen und Common Sense tritt dabei für die Experten-Intellektuellen die Rolle der Aufklärer über die Grenzen wissenschaftlicher Legitimierbarkeit politischer Entscheidungen. Sabine Maasen entfaltet am Beispiel der Feuilleton-Debatte über den freien Willen die Konsequenzen aus der Verschiebung des Intellektuellentums in Richtung Expertenkultur. Wie Hagner und Roggenhofer konstatiert sie in den Intellektuellen ein Gegenmoment zur zunehmenden Professionalisierung der Experten, das selbst von der Expertenkultur getragen wird. Bezeichnenderweise tritt dabei die Person des Intellektuellen hinter seiner Rolle im gesellschaftlichen Diskursraum zurück. Die aktuelle Debatte um den freien Willen eröffnet weniger neue Perspektiven auf das Verhältnis von Gehirn und Geist, sondern gibt Aufschluss über Sinngebungsdefizite und -angebote in unserer Gesellschaft. Expertenintellektualität findet gerade in einer essayistischen, kontingenzbewussten Reflexion der sozialen Bedingtheit von Expertenkontroversen und der sozialen Bedürfnisse, die sich in ihnen ausdrücken, ein neues Wirkungsfeld. Michael Heidelberger zeigt an den beiden Vorläufer-Figuren Friedrich Albert Lange und Émile Boutroux die Genese der critique de la science auf, die bereits am Ende des 19. Jahrhunderts viele Züge von Maasens wissenschaftsreflexiver Intellektualität vorwegnimmt. Zugleich betont Heidelberger mit der Hervorhebung des intellectuel spécifique gegenüber dem „klassischen“ intellectuel universel die Be-

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deutung expertisegestützer (Selbst-)Kritik der formativen Grundlagen der Wissensgesellschaft. Claude Debru befasst sich in seinem Kapitel zum „Philosophischen Engagement in der Medizin“ mit dem Eintreten des französischen Arztes und Philosophen Georges Canguilhem für ein System der medizinischen Versorgung, das den individuellen Kranken in den Mittelpunkt der Behandlung stellt. Bei der Therapie sollte nicht ein bestimmter Typus von Krankheit, sondern eine Person mit ihren Besonderheiten und in ihren Sozialbezügen stehen. Canguilhem stellt damit ein Beispiel für einen politisch engagierten Wissenschaftler dar, der seine fachlichen Grenzen zugunsten einer Orientierung am Gemeinwohl überschreitet. Er verkörpert die Rolle des kritischen Intellektuellen, der für eine Medizin mit menschlichem Antlitz eintritt. Walter Reese-Schäfer verdeutlicht in seinem Beitrag über die New York Intellectuals, dass nicht allein Individuen, sondern Gruppen oder Organisationen gleichsam als Intellektuelle wirken und Einfluss nehmen können. Die hohe Kommunikationsdichte zwischen den Mitgliedern der Gruppe, aber auch die Interaktionen der Gruppe insgesamt mit dem gesellschaftlichen und politischen Umfeld von den dreißiger bis zu den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts waren entscheidend für die Dynamik der inneren Entwicklung und die Ausprägung der Rolle als intellektuelle Ratgeber und Kommentatoren. In seinem Beitrag „Intellektuelle und kein Ende“ zielt Gero von Randow auf die anhaltende Bedeutung der Intellektuellen trotz des Wandels der zugehörigen Ausdrucksformen ab. Intellektuelle sind als kritische Herausforderung der bestehenden Verhältnisse für jede Gesellschaft von der Antike bis zur Gegenwart unentbehrlich. Sie schaffen gemeinsame Brennpunkte der Aufmerksamkeit und stellen damit gleichsam themenzentrierte Modi gesellschaftlicher Bindung und Vergemeinschaftung bereit. Durch das Internet haben sich technische Möglichkeiten ergeben, durch deren Nutzung sich unzählige Einzelne zu ständig wechselnden Informationsnetzwerken verbinden. Aber das Spektrum neuer Optionen eröffnet auch neue Räume für die hergebrachte Rolle der Intellektuellen. In der Gesamtschau der Beiträge wird deutlich, dass Rollenbild und Selbstverständnis der Intellektuellen mit dem Übergang in die entwickelte Wissensgesellschaft tatsächlich einen Umbruch erfahren, der mit einer stärkeren Ausdifferenzierung intellektueller Aktivität und einer Professionalisierung des Einbringens von Wissen in die gesellschaftliche Debatte verbunden ist. Vom personifizierten Gewissen der

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Gesellschaft wandelt sich die Rolle des Intellektuellen zum wissenschaftsbasierten Ratgeber und Kritiker. Dieser Wandel muss keineswegs als genereller Niedergang politischer Intellektualität beklagt werden, in ihm drückt sich vielmehr die öffentliche Erschließung neuer, problemspezifischer Argumentationsräume aus. Bielefeld, im April 2007 Die Herausgeber

ENGAGEMENT UND EXPERTISE: D IE INTELLEKTUELLEN IM U MBRUCH M ARTIN C ARRIER 1

Die Intellektuellen und die Wissensgesellschaft

Die Wissensgesellschaft wird häufig als eine Gesellschaft missverstanden, in der viele sehr viel wissen. Darauf folgt typischerweise gleich die Klage über die Ignoranz weiter Teile der real existierenden Gesellschaft, was in dem Einwand gipfelt, diese unsere Gesellschaft sei alles andere als eine Wissensgesellschaft. Aber um die breite Verteilung des Wissens in der Bevölkerung geht es bei der recht verstandenen Wissensgesellschaft gar nicht, sondern eher um die Bedeutsamkeit des Wissens, insbesondere des wissenschaftlichen Wissens. Gemeint ist, dass die Natur- und Sozialwissenschaften die Grundlagen der gesellschaftlichen Ordnung mitbestimmen, also Wirtschaft, Recht, Politik nachhaltig prägen. Viele der drängenden Fragen der Gegenwart, von regenerativen Energien bis hin zum Klimawandel, vom Umbau der Sozialsysteme bis zur Steuerpolitik, werden zunächst zum Gegenstand der wissenschaftlichen Analyse oder Forschung gemacht und in wissenschaftlich aufbereiteter Form in Öffentlichkeit und Politik erörtert. Zu diesem Zweck muss man nicht unbedingt selbst mit den entsprechenden Zusammenhängen vertraut sein, man muss nur jemanden zur Verfügung haben, der um diese Zusammenhänge weiß. Jetzt schlägt die Stunde der Experten oder der Intellektuellen. Intellektuelle rekrutieren sich im Wesentlichen aus den Bildungseliten einer Gesellschaft. Dabei soll für die hier verfolgte Fragestellung jede fachliche Vorabfestlegung vermieden werden. Intellektuelle können ganz unterschiedlichen akademischen oder künstlerischen Milieus entstammen; nicht allein Schriftsteller und Geisteswissenschaftler sollen zum Intellektuellen taugen. In den vergangenen Jahrzehnten 1 | Ich danke Johannes Roggenhofer für fruchtbare Hinweise und bedenkenswerte Einwände.

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zählen nicht allein Philosophen wie Simone de Beauvoir oder Jürgen Habermas, Historiker wie Eric Hobsbawm oder Schriftsteller wie Susan Sontag oder Assia Djebar als Intellektuelle, sondern auch Naturwissenschaftler wie Albert Einstein oder Carl Friedrich von Weizsäcker, oder ein theoretischer Linguist wie Noam Chomsky. In einem vorläufigen, später zu präzisierenden Verständnis sollen als Intellektuelle solche Wissenschaftler oder Schriftsteller gelten, die sich zu Fragen von öffentlichem Interesse mit Überlegungen von grundsätzlicher Tragweite weithin wahrnehmbar äußern und dabei für ein Anliegen eintreten. Intellektuelle sind im Allgemeinen Personen mit hoher fachlicher Reputation, die mit Öffentlichkeitswirkung einen engagierten Beitrag zu Fragen liefern, welche den Kreis ihres Fachgebiets überschreiten. Dieser Beitrag ist zwar auf Fragen des Tages gerichtet, zielt jedoch seinem Anspruch nach über den Tag hinaus. Intellektuellenengagement ist eine fachlich nicht oder jedenfalls nicht hinreichend untermauerte Parteinahme, bei der nicht der Inhalt, wohl aber die Wirkungsbreite und Sichtbarkeit auf der fachlichen Reputation beruhen. Intellektuelle publizieren daher in der Tagespresse (oder deren modernen medialen Erweiterungen), nicht in der Fachpresse. Eine Verbindung zwischen dem Eintreten für eine Sache als Intellektueller und der professionellen Identität als Wissenschaftler besteht allenfalls in methodischer Hinsicht, nämlich durch die Verpflichtung auf die kritische Prüfung der Tatsachen sowie auf die Freiheit und Kühnheit des gedanklichen Entwurfs, die wissenschaftliche Aktivität und intellektuelles Engagement (im günstigen Fall) gemeinsam charakterisieren. Intellektuelle Intervention zeichnet sich überdies durch ein Mindestmaß an Intellektualität aus, durch ein hohes Niveau der Argumentation und des sprachlichen Ausdrucks. Wesentlich an dieser provisorischen Begriffsbestimmung ist vor allem, was sie nicht enthält, welche weiteren Festlegungen also fehlen. Häufig nämlich gelten nur Geisteswissenschaftler, insbesondere Philosophen und Historiker sowie Schriftsteller als Intellektuelle. Solche „klassischen“ Intellektuellen sehen ihre Aufgabe häufig darin, im Namen übergreifender Werte auf bestimmte Missstände im Gemeinwesen aufmerksam zu machen. Sie verstehen sich als gesellschaftliche Frühwarnsysteme mit einem „avantgardistischen Spürsinn für Relevanzen“ (Habermas 2006). Klassische Intellektuelle gehen häufig kritisch mit den Verhältnissen ins Gericht. In ihrem Engagement bietet die Wahrheit der Macht die Stirn. Die geistesgeschichtlichen Entwicklungen des vergangenen halben Jahrhunderts legen ein breiteres Verständnis der Intellektuellen nahe.

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Neben die klassischen Intellektuellen mit geisteswissenschaftlichem Hintergrund treten Intellektuelle mit einem Hintergrund in den empirischen Wissenschaften. Wir beobachten, dass auch Natur- und Sozialwissenschaftler in wachsendem Umfang für öffentliche Anliegen eintreten. Es ist dieser Wandel im Erscheinungsbild der Intellektuellen, dem im vorliegenden Band genauer nachgespürt werden soll. Entsprechend wird im Folgenden davon abgesehen, Intellektuelle durch einen besonderen disziplinären Hintergrund zu bestimmen; auch empirische Wissenschaftler sollen sich als Intellektuelle qualifizieren können. Folglich wird auf den herkömmlichen kategorischen Gegensatz zwischen Intellektuellen und Fachwissenschaftlern verzichtet. Intellektuelle sollen in der Tat dadurch bestimmt sein, dass sie nicht allein aus der Perspektive ihres Fachs reden. Intellektueller ist nur, wer sich aus der Deckung seiner Fachliteratur heraus- und in die öffentliche Arena hineinwagt. Aber das soll nicht so verstanden werden, dass allein Beiträge ohne fachlichen Hintergrund und ausschließlich das Eintreten für Werthaltungen als Teil des intellektuellen Diskurses zählen. Für Intellektuelle in der Wissensgesellschaft ist der Wissenschaftsbezug keine Disqualifikation. Öffentlichkeitswirksamkeit bleibt dagegen ein Auszeichnungsmerkmal; Intellektuelle brauchen eine wache und interessierte Öffentlichkeit als Resonanzboden für ihre Initiativen. Deshalb ist es einer ersten Annäherung an den Sachverhalt dienlich, sich zu vergegenwärtigen, welche Typen von Wissenschaftlern in den Massenmedien präsent sind. Nach einer Auswertung der ZEIT aus dem Jahr 2005 ergibt sich für die disziplinäre Verteilung der „Quotenkönige der Wissenschaft“ das folgende aufschlussreiche Bild: Neben zwei Geisteswissenschaftler (einen Philosophen und einen Historiker) treten zwei Naturwissenschaftler (ein Neurowissenschaftler und ein Klimaforscher), ein Mediziner und sieben Sozialwissenschaftler, darunter vor allem Ökonomen und Politikwissenschaftler (Spiewak 2005). Es versteht sich, dass es sich bei solchen „Starprofessoren“ nicht in jedem Fall um Intellektuelle im genannten Verständnis handelt; so verbleiben etwa Äußerungen von Wirtschaftswissenschaftlern in den Medien in der Regel im Bereich ihrer Fachkompetenz. Es ist weiterhin deutlich, dass sich eine Einflussnahme auf die Themen der Zeit nicht zwangsläufig in Präsenzquoten in den Massenmedien ausdrückt. Schließlich haben es inhaltlich bedeutsame Debatten der Gegenwart, etwa über den Zusammenhang von Neurodeterminismus und Willensfreiheit, nicht zu denjenigen Quotenhöhen gebracht, die ihren Teilnehmern die Aufnahme in den Kreis der Medienstars ermöglicht hätten. Trotz dieser

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Mängel stützt diese Aufstellung die genannte Vermutung, dass die markante Präsenz empirischer Wissenschaftler (im Umfang von mehr als 80 %) für intellektuelle Debatten der Gegenwart typisch ist und dass sich darin möglicherweise eine historische disziplinäre Verschiebung ausdrückt, die ihrerseits auf dem gesellschaftlichen Wandel hin zu einer Wissensgesellschaft beruht. Die Wissensgesellschaft ist eben weitgehend eine Wissenschaftsgesellschaft – mit einem besonderen Akzent auf den empirischen Wissenschaften. Das Zurücktreten der Geisteswissenschaften in der Wahrnehmung und Wertschätzung der Epoche spiegelte sich danach in einem Umbruch der Intellektualität.

Historische Entwicklungen: Rollen von Intellektuellen in der Geistesgeschichte

Der Begriff des Intellektuellen wurde erst Ende des 19. Jahrhunderts in der Dreyfus-Affäre geprägt. Sein Ausgangspunkt ist die pejorative Bezeichnung für die Verteidiger des unschuldig verbannten Hauptmanns.2 Deshalb ist Émile Zola mit seinem Aufruf „j’accuse!“ in der Dreyfus-Affäre das Urbild des Intellektuellen: ein Literat prangert öffentlich und wortgewaltig eine eklatante Ungerechtigkeit an (Wenzel 2002: 11). Die Gestalt des klassischen Intellektuellen ist jedoch älter als der Begriff, und wenn man sich auf das angedeutete verallgemeinerte Verständnis von Intellektualität einlässt, dann wird in vorangehenden Epochen eine Vielzahl von Phänomenen sichtbar, die retrospektiv als intellektuelles Engagement aufgefasst werden können.3 Bei einem Rückblick auf die Geistesgeschichte ragen zwei Typen von Fragestellungen heraus, die wir heute als Herausforderungen für Intellektuelle begreifen. Solche Beiträge von Intellektuellen avant la lettre betreffen die Verteidigung einer Weltsicht, also einer besonderen Auffassung vom Menschen, seiner kulturellen oder sozialen Konstitution oder seiner Stellung im Kosmos, und die universalistische Rechtfertigung des Handelns in Fragen von übergreifender Signifikanz. Im einen Fall steht das Engagement für eine bestimmte Sichtweise von Natur, Mensch oder Gesellschaft im Vordergrund, im ande2 | Vgl. Lepenies 1992: 17; Charle 1993: 95; Finkielkraut 2000: 51-52. 3 | Es handelt sich um Historiographie aus „anachroner“, rückblickender Perspektive, die sich in einer letztlich unaufgelösten Spannung mit der Geschichtsschreibung aus „diachroner“, die Rekonstruktion am jeweiligen historischen Umfeld orientierender Perspektive befindet. Zu diesen unterschiedlichen historiographischen Ansätzen vgl. Carrier 2001, Abs. 3.

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ren werden aus einer nicht-strategischen, typischerweise ethisch begründeten Perspektive bestimmte, meistens politische Aktivitäten eingefordert. So gehört die Naturphilosophie zu den bevorzugten Aktivitätsfeldern von Intellektuellen. Zu ihren Beiträgen gehört im 17. Jahrhundert unter anderem die Verarbeitung der Wissenschaftlichen Revolution zu einem Weltbild. Wissenschaftler wie Bernard de Fontenelle oder Literaten wie Cyrano de Bergerac erteilten unter Bezug auf den heliozentrischen Umbruch in der Astronomie jeder Form des Anthropozentrismus eine Absage. Der Intellektuelle erklärte der Öffentlichkeit, dass Copernicus gleichsam den Himmel abgeschafft habe und dass die Erde einem Staubkorn im unendlichen Weltall gleichkomme. Im gleichen Sinne unternahmen Ernst Haeckel und Herbert Spencer die Transformation der Darwinschen Evolutionsbiologie in eine Gesellschaftstheorie und Weltanschauung. Dabei nahm der Begriff des Fortschritts eine zentrale Stellung ein. Nach Auffassung von Haeckel und Spencer hatte Darwin durch die Aufklärung des Mechanismus der Evolution die der Natur innewohnende Tendenz zur Höherentwicklung aufgewiesen. Diese Position mündete bei beiden in die Aufforderung, der natürlichen Selektion auch in der Gesellschaft ihren Lauf zu lassen, was den Ursprung des Sozialdarwinismus bildete. Daneben treten vor allem in der französischen Aufklärung die moralisch und politisch engagierten Intellektuellen in den Vordergrund. Vorbild ist Voltaire, der mit den Mitteln der Literatur und einem pragmatischen Vernunftgebrauch viele Missstände seiner Zeit mit schneidender Schärfe attackierte oder mit beißendem Spott überzog. Im Fokus standen etwa Dogmatismus, Scheinheiligkeit, Unterdrückung, die Kriegslust seiner Epoche oder das unselige Wirken der katholischen Kirche. Voltaire verkörpert vorausweisend den Typus des klassischen Intellektuellen, der, typischerweise als Philosoph oder Literat, öffentlich weithin sichtbar Partei ergreift und im Namen breit geteilter Werte auf Beseitigung unakzeptabler Zustände in Politik und Gesellschaft drängt. Voltaire ähnelt daher in seinem Aktivitätsprofil Zolas flammender Parteinahme, die eben gemeinhin als eine Art von Gründungsakt intellektuellen Engagements gesehen wird. Klassische Intellektuelle dieser Art mischen sich „cum ira et studio“ in die Geschäfte des Tages ein und drängen mit einem moralisch getragenen Appell an die Öffentlichkeit auf die Umsetzung anerkannter ethischer Werte und Verpflichtungen. Gleichsam die Nachtseite dieses engagierten Intellektuellen bildet der resignative Intellektuelle. Hier ist Kassandra das Rollenmodell:

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Man weiß um die Geschicke der Welt, aber man greift nicht in diese ein. Diese Haltung ist ab Mitte des 19. Jahrhunderts besonders verbreitet, wesentlich durch den Einfluss Arthur Schopenhauers. In den Unzeitgemäßen Betrachtungen bringt Friedrich Nietzsche diese Vorstellung der tragischen Erkenntnis zum Ausdruck: Der Wissende durchschaut die Verhältnisse, er blickt den Dingen auf den Grund, aber er will und kann nichts ändern. Die Entwicklung Wotans in Richard Wagners Ring des Nibelungen vom gestaltenden Eingreifen über die teilnehmende Beobachtung zur passiven Erstarrung verleihen diesem Motiv der Resignation des Intellektuellen anschaulichen Ausdruck. In neuerer Zeit variiert Christa Wolf in ihrer Erzählung Kassandra (1983) dieses Thema der Ohnmacht des Wissens ein weiteres Mal. Der Gedanke ist, dass Wissende gegen den drohenden Untergang ihrer Kultur oder Zivilisation nichts auszurichten vermögen. Eine der säkularen Veränderungen der jüngeren Geistesgeschichte besteht im Aufstieg der Naturwissenschaften seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Bereits im Umfeld der Dreyfus-Affäre werden Intellektuelle pejorativ charakterisiert als „des gens qui vivent dans les laboratoires et les bibliothèques“ (Finkielkraut 2000: 52), wodurch, positiv gewendet, zugleich natur- und geisteswissenschaftliche Gelehrsamkeit symbolisch angesprochen wird. Seitdem ist ein wachsender Einfluss der Naturwissenschaften auf die geistige Verfassung der Zeit festzustellen, währenddessen die vordem auf diesem Felde dominanten geisteswissenschaftlichen Disziplinen tendenziell zurücktreten. Diese markante Verschiebung in der Wahrnehmung der Naturwissenschaften tritt am Beispiel der Walhalla bei Regensburg vor Augen. Unter den ursprünglichen, etwa aus dem Jahre 1850 stammenden Einstellungen in diese Ruhmeshalle befinden sich erstens nur eine kleine Zahl von Wissenschaftlern (im Gegensatz zu einer Vielzahl von Feldherrn) und zweitens unter diesen ausschließlich Historiker. Kein einziger Naturwissenschaftler wurde Mitte des 19. Jahrhunderts einer solchen öffentlichen Auszeichnung würdig befunden. Dass sich dies drastisch geändert hat, wird bei den späteren Einstellungen deutlich, bei denen Naturwissenschaftler klar überwiegen. Um die Wende zum 20. Jahrhundert wird die intellektuelle Szenerie gerade in Deutschland von einem literarisch geprägten Bildungsbürgertum beherrscht, das durch seine führende Stellung im Bildungswesen gleichsam als Intellektuelle im Staatsdienst über Bildungsabschlüsse und Berufskarrieren entscheidet und damit zukunftsgestaltend tätig werden kann. Der herrschende, neuhumanistische Bildungsbegriff ist individuenzentriert angelegt, auf die Entfal-

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tung der Person, die Entwicklung der Kräfte und Vermögen des Einzelnen gerichtet, nicht von der Gesellschaft her gedacht, also nicht auf Nützlichkeit hin orientiert. In diesem Verständnis besteht der Bildungswert von Forschung nicht in neuartigen, marktfähigen Produkten, sondern in der Einübung von Kreativität, die ihrerseits eine Bereicherung der Persönlichkeit bildet. Diese Intellektuellenschicht sieht sich durch das Aufkommen der Naturwissenschaften („Utilitarismus“) und die Demokratisierung der Gesellschaft („Vermassung“) in eine Krise gestürzt. Deren orthodoxe Verteidigungslinie beansprucht dann unter anderem eine Sonderstellung für die Geisteswissenschaften. Die Intellektuellen verstehen sich als Sachwalter der Tradition und stemmen sich den als verderblich empfundenen Neuerungen entgegen. Im Selbstverständnis wird der Imperialismus der einseitig auf Naturgesetze und Kausalität fixierten Naturwissenschaft durch die auf Individualität und Hermeneutik setzenden Geisteswissenschaften in Schach gehalten. Die Hermeneutik gilt als Leitmethode, und die vom Historismus betonte Einzigartigkeit von Denkweisen und Wertsystemen als zugehöriges inhaltliches Leitbild. Darüber hinaus nehmen die betreffenden Intellektuellen eine dezidiert apolitische Pose ein und betonen die Höherrangigkeit des Sachverstands. Der Intellektuelle herrscht im Reich des Geistes, er steht über den politischen Parteiungen, den wirtschaftlichen Interessen und Gegensätzen (Ringer 1990). Tatsächlich gewinnen im späten 19. Jahrhundert naturwissenschaftliche Erkenntnisse zum ersten Mal nachhaltigen Einfluss auf die Politikgestaltung. Gemeint ist der bereits genannte Sozialdarwinismus, der die aus Darwins Werk abgeleitete Formel vom Überleben des Tüchtigsten als Vorlage für die Sozialpolitik heranzog und soziale Unterstützung als Gegensatz zur Naturordnung und zum Fortschritt des Menschengeschlechts betrachtete. Dabei ist es nicht ohne Ironie, dass nicht selten Geisteswissenschaftler für die natürliche Auslese als Grundlage der Gesellschaftsgestaltung eintraten (Tille 1894), während ein Naturwissenschaftler wie Thomas Huxley (1897), „Darwins Bulldogge“, den ethischen Fortschritt gerade darin sah, solche Naturmechanismen für den Menschen außer Kraft zu setzen.

Handlungsräume für Intellektuelle im 20. Jahrhundert

Zunächst knüpfen Intellektuelle im 20. Jahrhundert an Handlungsoptionen aus der Geistesgeschichte an. So treten sie auch in der Gegenwart auf der Grundlage naturwissenschaftlicher Entwicklungen für eine bestimmte Weltsicht ein. Ein Beispiel ist die Kontroverse zwischen

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den beiden Biologen Jacques Monod und Manfred Eigen über die Frage, ob die Entwicklung des Menschen im Verlauf der Evolution angelegt ist oder sich umgekehrt nur einer Verkettung unwahrscheinlicher Zufälle verdankt und entsprechend nicht zu erwarten war. Monod vertrat die Ansicht, dass das Universum nicht mit dem Leben schwanger ging und die Biosphäre nicht den Menschen in sich trug (Monod 1970: 179). Seine Schlussfolgerung war, dass der Mensch im Universum gänzlich verlassen und radikal fremd ist. Der Mensch lebt am Rande einer ihm gegenüber gleichgültigen Welt (Monod 1970: 211). Explizit gegen Monods Betonung des Zufälligen in der Evolution setzt Eigen die Herrschaft des Gesetzes. Darwins Mechanismus von Variation und Selektion lässt das Auftreten organisierter Materieformen vorhersehbar werden und verleiht dem Auftreten höherer Lebensformen daher eine Art von Notwendigkeit (Eigen u. Winkler 1975: 186195). Weitergehend legen von physikalischer Seite die Ansätze Ilya Prigogines zu einer thermodynamischen Erklärung der Ausbildung geordneter Strukturen fern vom thermodynamischen Gleichgewicht (Prigogine 1979) ein Weltbild nahe, das von der Vorstellung der Selbstorganisation bestimmt ist, von dem Prinzip also, dass lokale Wechselwirkungen zur Entstehung von Ordnung ausreichen und entsprechend keine zentrale, ordnungsstiftende Instanz vonnöten ist (Jantsch 1979; Prigogine u. Stengers 1980). In der feministischen Wissenschaftstheorie wird mit solchen Ansätzen gelegentlich die Vorstellung einer interaktiven und dezentralen Naturordnung verbunden, die durch ihre multifaktorielle und nichthierarchische Anlage ein stärker egalitäres Gesellschaftsverständnis unterstützt (Kourany 2003: 7). Auch der klassische Intellektuelle, der moralisch und politisch engagierte Schriftsteller und Philosoph, hat seinen Platz in der Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts behalten. In der Tradition Voltaires steht dabei zunächst Jean-Paul Sartre, der sich ab 1950 zunehmend und mit Breitenwirkung in die politischen Fragen des Tages einmischte und dabei im Pariser Mai 1968 eine wenn auch kurzlebige politische Führungsrolle spielte. In der Gegenwart verkörpern etwa Bernhard-Henry Lévy oder André Glucksmann diese Tradition des engagierten grand penseur, der vor einem breiten, nicht fachlich gebundenen geistigen Hintergrund in einer Vielzahl von Streitfragen in Politik und Gesellschaft Position bezieht und Partei ergreift. In Deutschland kommt Jürgen Habermas diesem Rollenmodell des engagierten, medial präsenten Großdenkers am nächsten.

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Daneben tritt mit wachsender Markanz ein Typus intellektuellen Engagements, der sich in der Vergangenheit seltener findet: Empirische Wissenschaftler ergreifen öffentlichkeitswirksam in Fragen von breitem Interesse Partei. Diese Fragen übersteigen den Rahmen ihrer Fachkompetenz, und die Konsequenzen sind praktischer, handlungsleitender Natur. Solche Aktivitäten bringen nicht einfach Beschreibungen hervor, sondern Aufrufe. Sie beinhalten Aufforderungen zum Handeln. Dazu zählt zunächst das Eintreten von Naturwissenschaftlern gegen Atomwaffen in der Zeit der Kalten Kriegs. So weist das „RussellEinstein-Manifest“ vom April 1955, das von Bertrand Russell initiiert und von anderen bedeutenden Wissenschaftlern wie Albert Einstein, Linus Pauling und Hideki Yukawa unterstützt wurde, auf die katastrophalen, die Existenz der Menschheit als Ganzes bedrohenden Folgen eines Atomkriegs hin. Dieses Manifest gab den Anstoß zur ersten „Pugwash-Konferenz“ im Sommer 1957, benannt nach dem Konferenzort in Nova Scotia (Kanada), auf der Naturwissenschaftler über die mit der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen verbundenen Gefahren debattierten. In den gleichen Zusammenhang gehört auch die „Göttinger Erklärung“ vom April 1957, in der sich achtzehn Atomforscher gegen die von der damaligen Bundesregierung angestrebte atomare Bewaffnung der Bundeswehr wandten. Die Unterzeichneten (darunter Max Born, Otto Hahn, Werner Heisenberg und Carl Friedrich von Weizsäcker) erklärten darin, dass die Tätigkeit in der Wissenschaft sie mit einer Verantwortung für die Folgen der Wissenschaft belade. Es ist also das fachliche Wissen um die furchtbare Zerstörungsgewalt von Atomwaffen, das diese Wissenschaftler veranlasste, die Beschränkungen der fachlichen Debatte aufzugeben und in der Öffentlichkeit ihre Stimme für die Bewahrung und Sicherung des Friedens zu erheben. Derartiges Engagement von Wissenschaftlern findet sich erneut in den 1980er Jahren im Zusammenhang mit der sog. Nachrüstungsdebatte, also der Streitfrage der Stationierung atomwaffenfähiger amerikanischer Mittelstreckenraketen in Europa.4 Zu den Klassikern eines derart wissenschaftsgestützten Engagements im Umweltbereich zählt der „Bericht zur Lage der Menschheit“, in der der Chemiker Dennis Meadows 1972 auf der Grundlage von „Weltmodellen“ die „Grenzen des Wachstums“ auszuloten bestrebt war und dabei emphatisch für den nachhaltigen Umgang mit den natürlichen Ressourcen eintrat (Meadows 1972). In dieser nüch4 | Vgl. Braun 2005 für einen Überblick über die Einbindung von Wissenschaftlern in die Friedensbewegung.

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tern als „Bericht“ bezeichneten Studie legte Meadows mit großen Nachdruck und erheblicher Breitenwirkung auseinander, welche Maßnahmen die Menschheit ergreifen müsse, um ihr Überleben mittelfristig zu gewährleisten. Ähnlich einzuordnen ist das Engagement des Altphilologen Manfred Fuhrmann für einen Bildungsbegriff, der die Bewahrung von Traditionen ins Zentrum rückt (Fuhrmann 2002), oder die Verteidigung eines naturwissenschaftlich geprägten Bildungsbegriffs durch den Biologen und Wissenschaftshistoriker Ernst-Peter Fischer (Fischer 2001). In allen diesen Fällen trägt der Sachverstand der beteiligten Wissenschaftler zu einer Verbesserung des Verständnisses der Sache bei, verleiht aber keine fraglos überlegene oder exklusive Kompetenz. Insbesondere vermag dieser Sachverstand allein nicht die vertretenen Behauptungen oder die erhobenen Forderungen zu stützen. Wer eine bestimmte Vorstellung von Bildung mit Überzeugungskraft verfechten will, darf sich bei der Begründung gerade nicht auf seine eigene Fachdisziplin beschränken. Noch näher an das Rollenmodell der klassischen Intellektuellen reicht das breite politische Engagement von Wissenschaftlern heran. Typisch dafür ist zunächst wieder Einstein mit seinem Eintreten für eine Weltregierung sowie von Weizsäcker mit seiner Forderung nach einer „Weltinnenpolitik“, die auf einen globalen Abgleich widerstreitender Interessen zielt. Dazu zählen ebenfalls die Aktivitäten Russells gegen den Vietnamkrieg (das sog. „Russell-Tribunal“; vgl. Russell u. Sartre 1968/69) oder gegen religiöse Unterdrückung, für Frauenrechte und sexuelle Befreiung, von denen keine durch Russells fachliche Befassung mit den Grundlagen der Mathematik und der Wissenschaftsphilosophie gedeckt war. In dieselbe Rubrik gehört etwa der Vorwurf Chomskys, dass seinerzeit führende Historiker und Leitmedien Nachrichten (wie den Angriff in der Schweinebucht) aus vorgeblicher Sorge um das Wohl der Nation vorsätzlich unterdrückt hätten. Im Fokus von Chomskys Attacke stand dabei weniger der Mangel an Offenheit und Mut in den Redaktionen der großen Presseorgane. Vielmehr geißelte er das Versagen der Intellektuellen Amerikas, die durch ihre generelle Passivität und im Einzelfall gar durch aktive Mitwirkung das Lügengeflecht der politischen Klasse aufrecht erhielten (Chomsky 1967: 242). Kennzeichnend für solche politischen Forderungen von Intellektuellen ist der gleichsam universelle oder überpersönliche Ausgangspunkt. Die zugrunde liegenden Werte und Interessen sind verallgemeinerbar und auf große soziale Gruppen oder die Menschheit

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insgesamt bezogen. Zwar ergreifen Intellektuelle Partei; aber ihre Beiträge sind gleichwohl nicht parteigebunden, also nicht wesentlich mit spezifischen Einzelinteressen verknüpft. Diese Universalität des Anspruchs passt gut zu der herkömmlichen Charakterisierung von Intellektuellen als „ortlos“ und „freischwebend“. Im Ansatz Karl Mannheims beziehen sich diese Kennzeichnungen auf die fehlende Bindung von Intellektuellen an eine besondere soziale Klasse, und in dieser Hinsicht ist Mannheims Auffassung auf breite Kritik gestoßen (Ringer 1992). Aber zur Charakterisierung des überpersönlichen Anspruchs intellektuellen Engagements ist Mannheims Begrifflichkeit ausgezeichnet geeignet. Bei allen diesen Formen des Engagements von Wissenschaftlern als Intellektuellen handelt es sich um fachlich ungestützte Parteinahme, deren Inhalt nicht auf disziplinäre Expertise zu gründen ist. Intellektueller ist man stets nur im Nebenberuf; auch professionelle Wissenschaftler sind als Intellektuelle Amateure. Gelegentlich zeigen Wissenschaftler dies explizit an. Zum Beispiel schickt Steven Weinberg seinem Eintreten gegen einen persönlichen, in die Geschicke des Menschen eingreifenden Gott, die Einschränkung voran, die betreffende Erörterung sei nicht durch seine physikalische Kompetenz gedeckt (Weinberg 1992: 244). Zwar spricht auch dabei der Nobelpreisträger und weltberühmte Physiker, er tut es aber nicht als Wissenschaftler, sondern als Mensch und Bürger – eben als Intellektueller. Intellektuelle wagen sich entsprechend gleichsam aus der Deckung, ein Wagnis, das nur eine Minderheit unter den Wissenschaftlern eingeht. Stärker verbreitet ist eine Zurückhaltung, die sich in Bescheidenheit und Selbstbeschränkung übt und sich keine Kompetenz in Fragen von allgemeinem Belang zutraut. Intellektuelle sind weniger vorsichtig und eher bereit, sich in der Öffentlichkeit zu Herausforderungen der Zeit zu äußern. Wenn Wissenschaftler als Intellektuelle sprechen, dann begreifen sie die zunehmende Bedeutung ihrer Disziplinen als neue Herausforderung, legen ihren wissenschaftlichen Sicherheitsgurt ab und zielen als gut informierter Bürger darauf ab, der Gesellschaft Orientierung in drängenden Fragen zu geben. Sie empfinden ihr Wissen als Verpflichtung zum Handeln. Sagesse oblige.

Idealtypen intellektueller Einflussnahme

Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen lassen sich Intellektuelle generell durch die folgenden fünf Merkmale kennzeichnen. (1) Intel-

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lektuelle melden sich in einer Angelegenheit von öffentlicher Bedeutung zu Wort. (2) Die Beiträge von Intellektuellen richten sich an die breite Öffentlichkeit – auch wenn sie faktisch unter Umständen nur von einer Bildungselite rezipiert werden. Ihre Äußerungen erscheinen nicht in der Fachpresse, sondern in den Massenmedien. (3) Intellektuelle ergreifen Partei, sie stehen für eine Sache ein. (4) Dabei engagieren sie sich im Namen eines überpersönlichen Anliegens oder treten für ein Vorhaben mit universellem Anspruch ein, etwa eine bestimmte Weltsicht, eine Werthaltung oder das Wohl einer großen Zahl von Menschen. Die Verfolgung von Einzelinteressen ohne Bezug auf übergreifende Werte oder verallgemeinerungsfähige Ziele ist nicht Gegenstand intellektuellen Engagements. (5) Beiträge von Intellektuellen besitzen intellektuelle Qualitäten. Es handelt sich um Überlegungen von grundsätzlicher Tragweite, die sich durch ein hohes Niveau der Argumentation und Begründung oder durch rhetorische Brillanz auszeichnen. Diese fünf Bedingungen lassen neben den klassischen Intellektuellen noch weitere, interessante Konkretisierungen zu. Dabei handelt es sich zunächst um die wissenschaftsgestützten Intellektuellen oder Expertenintellektuellen, bei denen der wissenschaftliche Sachverstand die Grundlage ihres Engagements bildet. Diese Expertenintellektuellen treten neben die wissenschaftsunabhängigen, klassischen Intellektuellen, die sich im Selbstverständnis in einem klaren Gegensatz zum Experten befinden. Die Expertenintellektuellen gliedern sich dabei wieder in zwei Formen auf, die eine mit einem theoretischen Akzent auf einer Weltsicht, die andere mit einem praktischen Schwerpunkt im Tun und Lassen. Dabei handelt es sich um Idealtypen im Sinne Max Webers: sie fassen durch „gedankliche Steigerung bestimmter Elemente der Wirklichkeit“ (Weber 1904: 190) charakteristische Eigenschaften zu Bündeln zusammen und ermöglichen auf diesem Wege die prägnante Darstellung der betreffenden Sachverhalte. Obwohl sie sich kaum in reiner Form in der Erfahrung finden, tragen sie zur begrifflichen Strukturierung der Zusammenhänge bei und befördern dadurch die Hypothesenbildung (ebd.). Erstens, der Expertenintellektuelle in theoretischer Hinsicht ergreift vor einem wissenschaftlichen Hintergrund in einer Frage von grundsätzlichem Belang öffentlich Partei. Beiträge von Intellektuellen stellen dabei nicht einfach Informationen bereit, die für das Verständnis der betreffenden Zusammenhänge wichtig sind; vielmehr treten sie für eine bestimmte Sichtweise ein und verbinden diese nicht selten mit Handlungsempfehlungen. Beispiele aus den letzten Jahren entstam-

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men dabei vorwiegend dem Bereich „Biologie und Menschenbild“. In den 1990er Jahren wurde in den Medien etwa die Tragweite des genetischen Determinismus erörtert, demzufolge die Menschen in Charakter und Tun ihren Genen ausgeliefert sind. Wir hängen Marionetten gleich an Fäden, die von unserem Genom gezogen werden. Einflussreich waren etwa die 1994 veröffentlichten Thesen von Richard Herrnstein und Charles Murray, denen zufolge die Intelligenz durch das Genom festgelegt ist und ihrerseits Leistung und Lebenserfolg maßgeblich bestimmt. Der Schluss war, dass wir stets das bekommen, was wir unserer biologischen Natur nach verdienen, so dass öffentliche Förderprogramme jedweder Art ebenso unberechtigt wie nutzlos seien.5 In jüngerer Zeit sind die möglichen Grenzen eines libertären Begriffs der menschlichen Willensfreiheit vor allem auf neurobiologischer Grundlage von Expertenintellektuellen wie Gerhard Roth, Wolf Singer und Wolfgang Prinz einflussreich markiert worden. Danach sind bewusste Wahlentscheidungen aus Gründen kaum von Einfluss auf menschliches Verhalten; dieses ist stattdessen weit stärker durch Faktoren geprägt, die sich dem willentlichen Zugriff entziehen. Singer bringt die These knapp zum Ausdruck: „Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen“ (Singer 2004: 30). Keiner kann anders, als er ist. Statt von Vernunft, von Abwägungen, von Argumenten oder Gründen, ist von Neurotransmittern und Bereitschaftspotenzialen die Rede. Ein anderes Beispiel für diesen Typus naturwissenschaftsgestützten intellektuellen Engagements stellen die von dem Physiker Alan Sokal geführten „Wissenschaftskriege“ dar, also sein Kampf gegen den als „eleganten Unsinn“ eingestuften Postmodernismus. Es geht zunächst um das Ziel der Klärung bestimmter Begriffs- und Sachbereiche. Insbesondere richtet sich Sokal (zum Teil gemeinsam mit Jean Bricmont) gegen eine als missbräuchlich geltende Verwendung wissenschaftlicher Begriffe, bei der solche Begriffe zum Zweck der Mystifizierung, Verschleierung und Verwirrung eingesetzt werden. Anmaßungen sollen aufgedeckt werden, um dadurch einen Kanon von Rationalität und intellektueller Redlichkeit zu verteidigen (Sokal u. Bricmont 1998: 11, 22-23). Solche Diskussionsbeiträge bleiben nicht ohne Konsequenzen für praktische Fragen. So hat die Absage an die Willensfreiheit Folgen für die Beurteilung von Fehlverhalten, die Auffassung von Strafe oder die Konzeption des Strafrechts (Singer 2004: 63-64). Ebenso verfolgt So5 | Vgl. Herrnstein u. Murray 1994; vgl. Glymour 1998.

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kals Kampf gegen die Postmoderne explizit das Ziel, die Aktivitäten der politischen Linken auf praktisch relevante Herausforderungen zu fokussieren, statt sie sich auf der Spielwiese der Dekonstruktion folgenlos verflüchtigen zu lassen (Sokal u. Bricmont 1998: 253-258). Gleichwohl steht dabei die jeweilige theoretische Herausforderung klar im Vordergrund. Es geht primär um die Entwicklung eines angemessenen Selbstverständnisses des Menschen angesichts der zunehmenden Entschlüsselung der einschlägigen biologischen Mechanismen und um die Respektierung von Standards begrifflicher Klarheit und rationaler Argumentation. Dagegen strebt, zweitens, der Expertenintellektuelle in praktischer Hinsicht vor einem wissenschaftlichen Hintergrund primär eine Einflussnahme auf das politisch-gesellschaftliche Handeln an. Dabei geht es in aller Regel nicht um konkrete Politikberatung, sondern um die Formung des Meinungsklimas. Intellektuelle können dazu beitragen, den konzeptionellen Raum abzugrenzen, innerhalb dessen Maßnahmen überhaupt öffentlich erörtert werden. Nur Vorschläge innerhalb eines durch die Intellektuellen geprägten Optionenspektrums werden ernst genommen und finden Beachtung. Beim Problem des Klimawandels treten Expertenintellektuelle in praktischer Hinsicht auf. Zwar geht es in diesem Zusammenhang auch um das Eintreten für eine bestimmte Sicht der Erde und um die Einsicht in die Vielzahl der Regelkreisläufe, die die natürlichen Lebensbedingungen auf unserem Planeten stabilisieren. Aber der Akzent liegt in der Regel klar auf der Forderung nach politischen Regulierungsmaßnahmen. Die Debatte über die Erderwärmung steht insofern in der Tradition der Diskussion über die „Grenzen des Wachstums“ (s. S. 9). Auch in die Kontroverse um die friedliche Nutzung der Kernkraft oder die Favorisierung regenerativer Energien mischten sich Naturwissenschaftler prominent ein; unter den Begründern der politischen Ökologiebewegung in Deutschland waren Naturwissenschaftler in nicht geringer Zahl vertreten. In allen diesen Fällen wird Engagement entfaltet und öffentlich Partei ergriffen. Die zugrunde liegenden Urteile stützen sich zwar auch auf Sachverstand, lassen sich jedoch durch diesen allein keinesfalls hinreichend begründen. Dagegen stellen sich, drittens, klassische Intellektuelle in einen klaren Gegensatz zu Experten. Die Bedeutsamkeit der Wissenschaft in der Gegenwart zeigt sich nicht zuletzt darin, dass sich auch klassische Intellektuelle auf wissenschaftsbezogene Erörterungen einlassen. Beiträge klassischer Intellektueller sind heute breit in Debatten etwa über Klonen und Stammzellen sowie über bioethische Themen generell

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vertreten. Wie bei Wortmeldungen von Intellektuellen im Allgemeinen wird dabei engagiert Partei ergriffen und ein spezifischer Standpunkt vertreten – der meistenteils (aber nicht ausnahmslos) die Ablehnung größerer Eingriffe in die biologische Beschaffenheit des Menschen beinhaltet. Es handelt sich um höchst meinungsfreudige Beiträge. Darüber hinaus offenbart aber die systematische Durchsicht internationaler Leitmedien, dass Gestalt und Stil der Beiträge von klassischen Intellektuellen von den Äußerungen von Expertenintellektuellen in mehrfacher Hinsicht abweichen. Zunächst finden sich, rein äußerlich betrachtet, solche Beiträge im Feuilleton, nicht auf der Wissenschaftsseite. Darüber hinaus weisen sie zwei Besonderheiten auf. Erstens treten Werte viel stärker in den Vordergrund. Etwa spielen Verpflichtungen wie das Lebensrecht des Embryos eine große und explizite Rolle. Zum Beispiel pocht Habermas darauf, dass ameliorative gentechnische Eingriffe im Gegensatz zu klar identifizierten ethischen Verpflichtungen stehen (Habermas 2002); analog kritisieren Monique Canto-Sperber und Paul Ricœur das Kopftuchverbot in französischen Schulen, indem sie ausdrücklich Werte wie Religionsfreiheit, Toleranz und das Recht auf Selbstbestimmung gegen den staatlichen Regulierungsanspruch geltend machen (Canto-Sperber u. Ricœur 2003). Zweitens sind die Beiträge eloquent und stilistisch avanciert: die Sprache ist farbenreich, metapherngesättigt und voll von mythologischen Anspielungen; sie enthalten Verweise auf Prometheus, die Büchse der Pandora, Adams Sündenfall und den faustischen Pakt. Dieses Verständnis der Intellektuellen als Gegensatz zu den Experten wird von Habermas unzweideutig auf den Begriff gebracht.6 Danach ist zwischen den Beiträgen von Fachleuten zu öffentlichen Debatten und den Urteilen von Intellektuellen strikt zu unterscheiden. Experten haben mit Tatsachen zu tun, Intellektuelle mit Werten. Experten klären darüber auf, welche Szenarien realistisch sind, Intellektuelle erörtern deren Folgen für die menschliche Kultur. Experten klären die Interventionsspielräume, Intellektuelle untersuchen die ethischen Grenzen. Intellektuelle nehmen also ihren Ausgang von den Szenarien der Experten und klopfen diese auf ihren Wertgehalt ab. Intellektuelle steuern keine Informationen zum Sachstand bei, sondern erörtern Weltsichten, Zukunftsentwürfe und Zielvorstellungen. Bei solchen Fragen sind die Bürger gehalten, sich selbst eine Meinung zu bilden und Entscheidungen zu treffen; dieses Erfordernis kann nicht an Experten delegiert werden. Entsprechend liegt bei klassischen Intellektuellen das Schwergewicht auf dem rhetorisch geschliffenen Ein6 | Vgl. Habermas 2002; Wenzel 2002: 12-13.

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treten für bestimmte Werthaltungen. Anlass ist typischerweise der Eindruck, dass diese Werte gefährdet seien und des Schutzes durch Engagement bedürften.

Die Rolle von Intellektuellen: Beobachtungen, Hypothesen, Streitfragen

Viele Beobachtungen legen nahe, dass der Einfluss der klassischen Intellektuellen, die sich als Gegensatz zum Experten verstehen, im Schwinden begriffen ist. Die Bedeutung der Großdenker, die zu allen Wert- und Urteilsfragen der Zeit eine Ansicht äußern, geht anscheinend zurück. Selbst Habermas gibt diesen Bedeutungsschwund umstandslos zu (Habermas 2006: 9). Dieser Rückgang bezieht sich sowohl auf das nachlassende Interesse an geistesgeschichtlichen Rahmungen, wie sie Intellektuelle gern vornahmen, als auch auf die schwindende Kraft des moralischen Appells und der Sprachgewalt. Habermas sieht einen Grund in der Omnipräsenz der Medien, in deren vielfacher Wort- und Bildproduktion auch wortmächtige Äußerungen kaum beachtet untergehen. Die Breite des massenmedialen Angebots führt zu einer Fragmentierung der Öffentlichkeit. Weitherhin ergibt sich aus der Enge der Vernetzung, auch und insbesondere über das Internet, eine Entformalisierung der Kommunikation, in der alle zu Autoren werden. Die Zersplitterung der Öffentlichkeit und die Entdifferenzierung der kommunikativen Rollen machen es schwer, die Aufmerksamkeit einer Gesellschaft auf bestimmte Beiträge zu lenken und zu fokussieren. Obwohl Intellektuelle der Öffentlichkeit zwingend bedürfen, ist der stark erweiterte und dezentrierte Zugang zur Öffentlichkeit mit einem Verlust gebündelter Öffentlichkeit verbunden, so dass die Beiträge von Intellektuellen ihre Ausstrahlungskraft einbüßen (Habermas 2006: 9-10). Zwar trifft es zu, dass sich klassische Intellektuelle nach dem Muster Voltaires, Zolas oder Sartres tendenziell überlebt haben, aber diese Verschiebungen zeigen keinesfalls zweifelsfrei einen Niedergang von Intellektualität an, sondern eher einen Wandel. Insbesondere findet sich ein Aufstieg anderer Formen von Intellektualität. Intellektualität unterliegt einer disziplinären Verschiebung, in deren Verlauf die Expertenintellektuellen Beiträge zum Verständnis des Menschen als Sozial- und Kulturwesen liefern. Jetzt wird der Mensch auch mit denjenigen Eigenschaften, die vordem exklusiv im Blickpunkt der humanities standen, der Geisteswissenschaften, einer Begrifflichkeit zugänglich, die den Naturwissenschaften entstammen.

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Insbesondere ist es dabei die wachsende Deutungsmacht der Biowissenschaften, die die Geisteswissenschaften und tendenziell auch die Sozialwissenschaften in die Defensive gedrängt hat. Die alte Arbeitsteilung, derzufolge die Naturwissenschaften die physische Beschaffenheit des Menschen untersuchen, die Geisteswissenschaften seine kulturellen Erzeugnisse und die Sozialwissenschaften seine gesellschaftliche Ordnung und deren Institutionen ist ins Wanken geraten. Die Naturwissenschaften, namentlich die Biologie, ist gleichsam in die Offensive gegangen und erweitert ihren Deutungsanspruch auf die kulturelle und soziale Natur des Menschen. Im Zusammenhang von Soziobiologie und Neurophysiologie ist es naturwissenschaftlich geprägter Sachverstand, der zunehmend mit dem Anspruch auftritt, uns Aufschluss über das rechte Verständnis und Selbstverständnis des Menschen zu geben. Insgesamt ist damit im Verlauf des letzten halben Jahrhunderts eine Akzentverschiebung vom klassischen Intellektuellen zum Expertenintellektuellen zu verzeichnen, verbunden mit einer Professionalisierung der Beiträge von Intellektuellen. Von Belang ist weniger die Breite der historisch-systematischen Einordnung als die Spezifität von Information und Argumentation. Ebenso ist die Rigorosität des moralischen Urteils in Verbindung mit sprachlicher Ausdruckskraft von geringerer Einflusskraft als das nüchterne, von Sachverstand getragene Plädoyer. Tatsächlich lässt sich ein dritter Typus von Intellektualität ausmachen, der noch neben die klassischen Intellektuellen und die Expertenintellektuellen tritt. Man kann vom neuen Typus der Organisationsintellektualität sprechen, die ihre Legitimation durch globale soziale Bewegungen und NGOs wie Attac erhält. Solche Bewegungen nehmen mit ihren mahnenden, warnenden Äußerungen Aufgaben intellektuellen Engagements wahr: Sie stellen – im günstigen Fall – einen „avantgardistischen Spürsinn für Relevanzen“ unter Beweis. Solche Formen gleichsam überpersönlicher Intellektualität können sich auf einem hohen Niveau von Begründungsrationalität für Menschheitsanliegen einsetzen und repräsentieren dann ein Funktionsäquivalent zu dem zuvor personengebundenen Intellektuellenengagement. Organisationsintellektualität ist also ein gruppenbezogenes Eintreten für eine überpersönliche Sache, die sich oft genug heute nicht mehr im nationalen Rahmen, sondern im Weltmaßstab bestimmt. Zwar ist nicht unstrittig, ob die drei genannten Typen von Intellektuellen hinreichend viele Gemeinsamkeiten besitzen, um eine aussagekräftige Gesamtheit zu bilden, aber es kann kein Zweifel an der

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Wichtigkeit des damit bezeichneten Engagements bestehen. Die Beiträge von Intellektuellen aller Spielarten dienen mit ihrem inhaltlich breiten Anspruch der Integration ansonsten verstreuter Informationspartikel und bündeln Anliegen, die ansonsten implizit und diffus bleiben. Intellektualität wird insbesondere dann wirkungsmächtig, wenn sie ohnedies vorhandene Haltungen aufnimmt und ihnen prägnant Ausdruck verleiht. Intellektuelle Sichtbarkeit beruht nicht selten auf dieser Fähigkeit, verbreitete Auffassungen in der Art eines Brennglases zu fokussieren und sie auf hohem Sach- oder Sprachniveau zu artikulieren. Aufgaben dieser Art sind von anhaltender Bedeutsamkeit. Intellektualität wandelt daher zwar ihre Ausdrucksform, behält aber ihre Funktion als Fokus und als Korrektiv. Zwar nimmt die Breitenwirkung klassischer Intellektueller ab, aber der Einfluss von Intellektualität auf die geistige Situation der Zeit bleibt erhalten. Tatsächlich dürfte dieser Einfluss durch den Rückgang von Radikalität, Distanzierung und Skepsis, die die Haltung vieler klassischer Intellektuellen bestimmten, und die Hinwendung zu konstruktiven Gegenentwürfen aus pragmatischem Geiste, wie er die neueren Ausdrucksformen von Intellektualität auszeichnet, eher anwachsen.

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PROPHETEN , R ICHTER , Ä RZTE, N ARREN: EINE TYPOLOGIE VON P HILOSOPHEN UND INTELLEKTUELLEN M ICHAEL H AMPE „Auf der Grenze liegen immer die seltsamsten Geschöpfe.“ (Lichtenberg, Sudelbücher D 161)

Jenseits des Expertentums

Es gibt eine Affinität zwischen den Rollen, die Philosophen und Dichter spielen und denen, die Intellektuelle einnehmen. Zwar können Angehörige beliebiger Disziplinen Intellektuelle sein, ein Dramatiker wie Harold Pinter ebenso gut wie ein Linguist, wenn man an Noam Chomsky denkt, ein Physiker wie Carl Friedrich von Weizsäcker genau gut so wie ein Soziologe vom Typ Pierre Bourdieus oder ein Arzt wie Alexander Mitscherlich. Keine Disziplin geistiger Tätigkeit scheint ausgezeichnet in der Hervorbringung von Intellektuellen, doch ist zu vermuten, dass, würde man eine statistische Untersuchung durchführen, aus welchen Disziplinen Personen stammen, die die Rolle von Intellektuellen in der Öffentlichkeit spielen, die Philosophen und die Dichter ein gewisses Übergewicht erhielten. Im Folgenden ist von diesen Rollen die Rede, um den Begriff des „Wesens“ zu vermeiden. Denn ein Wesen des Intellektuellen gibt es so wenig wie das des Philosophen. Das wird klar, sobald man die Geschichte dieser Figuren betrachtet, die einen ungeheuren Wandel im Verständnis der Wörter „Philosoph“ oder „Intellektuelle“ auszeichnet. Gibt es eine Gemeinsamkeit im Denken von als Philosophen gekennzeichneten Autoren wie Epikur, Newton, Frege und Sloterdijk oder bei Ludwig Börne, Walther Rathenau und Karl Jaspers, um Beispiele für Intellektuelle zu nennen? Zwar kann man sich leicht eine Definition des Intellektuellen oder Philosophen zurechtlegen und bestimmte Personen als unberechtigterweise so einkategorisiert betrachten. Doch

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ohne die Absicht eine erklärende Theorie zu produzieren oder ein starkes philosophisches Projekt zu verfolgen, wie es beispielsweise Platon im „Sophistes“ tut, wo es ja, aus sehr grundsätzlichen ontologischen Gründen, um eine Definition des Philosophen und eine Abgrenzung vom Sophisten geht, ist ein solches Unterfangen nutzlos. Wenn hier dagegen beschrieben wird, was das Spektrum intellektueller und philosophischer Tätigkeit ausmacht, so geschieht das auch mit dem Ziel einer Funktionsanalyse des historisch gewachsenen kulturellen Symbolsystems, in dem sich Intellektuelle und Philosophen bewegen und das sie eventuell verändern. Die empirischen Einzelwissenschaften, das Recht, die Politik, die Religion, die Philosophie, die Literatur und die übrigen Künste stellen nicht voneinander isolierte symbolische Systeme dar, sondern reagieren in einer Kultur permanent mehr oder weniger intensiv aufeinander. Dabei können sich größere Funktionszusammenhänge entwickeln, in die auch Philosophen und Intellektuelle eingebunden sind. Ein solcher Funktionszusammenhang ist der der Anti-Struktur.1 Äußerungen von Intellektuellen und Philosophen können eine kritische Anti-Struktur zu religiösen, politischen und einzelwissenschaftlichen Behauptungszusammenhängen und Bewertungen darstellen. Diese kritische Funktion kann auf unterschiedliche Weise wahrgenommen werden. Die Beschreibung, die im Folgenden von den Rollen gegeben wird, in denen eine solche kritische Funktion realisiert wird, geschieht nicht nur mit einer explikativen, sondern auch einer legitimatorischen Absicht. Es soll nicht nur gezeigt werden, wie in diesem Bereich Kritik funktioniert, sondern auch, welchen Zweck sie dabei erfüllt. Denn die Tatsache, dass eine Person Behauptungen und Bewertungen anderer kritisiert, ohne eine spezifische Fachkunde für den Bereich zu besitzen, der in Frage steht, erregt immer wieder Anstoß. Zu zeigen, dass solche nicht auf Expertise basierenden Äußerungen „funktionieren“ können, legitimiert diese Tätigkeit zumindest im Allgemeinen, wenn natürlich auch nicht jede einzelne Kritik. Generell kann es als ein Charakteristikum der Tätigkeit des Intellektuellen und auch mancher Philosophen betrachtet werden, eine Anti-Struktur zur Expertenkultur überhaupt zu bilden, das heißt, die Überzeugung in Frage zu stellen, dass Urteile und Bewertungen allein auf der Grundlage von Fachkunde ihre Berechtigung haben können. Das ist auch der Grund, warum niemand zum Intellektuellen oder zum Philosophen ausgebildet werden kann. Zwar ist es möglich, den Beruf des Philosophieprofessors oder des Philosophiehistorikers anzustreben. Doch anders als in der Physik, 1 | Diesen Begriff übernehme ich von Turner 1969.

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Chemie oder Biologie, wo ein Physik-, Chemie- oder Biologieprofessor auch ein Physiker, Chemiker oder Biologe ist, dürften doch die meisten Philosophieprofessoren zögern, sich als Philosophen zu charakterisieren. Denn die Philosophen, deren Texte zu verstehen Studenten der Philosophie von Philosophieprofessoren gelehrt wird, waren ganz überwiegend nicht Professoren. Sokrates, Descartes, Spinoza, Leibniz, Hume, Locke, Marx und Kierkegaard, sie alle sind ihrer Tätigkeit als Philosophen nachgegangen, ohne Hochschullehrer zu sein. Die Kompetenz, die durch eine Hochschulausbildung erworben wird, ist weder notwendig noch hinreichend, um Philosophie zu betreiben. Auch wenn gute Philosophiegeschichtsschreibung auf einer Expertise beruht, die ebenso wie die in Sozialgeschichte oder Wirtschaftsgeschichte erworben werden kann, führt sie nicht unbedingt zu einer erfolgreichen philosophischen, sondern bestenfalls zu einer guten historischen Arbeit. Diese Unabhängigkeit der philosophischen Tätigkeit von in Lehrgängen erwerbbarer Kompetenz und Expertise hat Odo Marquard in der ihm eigenen Art einmal als die „Inkompetenzkompensationskompetenz“ der Philosophen bezeichnet, eine Charakterisierung, die man auch verallgemeinernd auf den Intellektuellen anwenden könnte.2 Die Affinität der Philosophie und auch der Dichtung zur Intellektualität kann jedoch noch genauer spezifiziert werden. Dichter vergleichen ihre Tätigkeit manchmal mit einem Handwerk, das an der Sprache ausgeübt wird, und auch Philosophen wie Ludwig Wittgenstein verstanden Philosophie als eine Tätigkeit, etwa die eines spezifischen Umgangs mit Begriffen und Fragen. Der Vergleich mit dem Handwerk führt zu einer weiteren Abgrenzung vom Expertenwissen. Zwar ist auch ein Handwerker ein Experte, der etwas kann, was andere, die das Handwerk nicht gelernt haben, nicht können. Doch wenn gewöhnlich in akademischen Kontexten von Expertenwissen die Rede ist, so ist dabei meist etwas anderes als ein spezifisches Können gemeint. Der Experte weiß aufgrund seiner Forschungen bestimmte Tatsachen, die andere nicht wissen, weil sie sie nicht erforscht haben. Der Intellektuelle und der Philosoph können dagegen mit diesem Expertenwissen auf eine bestimmte Weise umgehen, es begrifflich analysieren und kontextualisieren, weil sie das Know-how für einen solchen Umgang haben. Die Kritik des Philosophen und Intellektuellen an einem bestimmten Wissensbestand ergibt sich also nicht daraus, dass hier ein anderes oder besseres Tatsachenwissen vertreten wird, sondern dass mit einem vorgelegten Tatsachenwissen anders umgegan2 | „Inkompetenzkompensationskompetenz“ in Marquard 1981: 23-38.

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gen wird als es die Produzenten dieses Wissens tun, etwa indem eine Genealogie dieses Wissens erzeugt wird, wie das Nietzsche und Foucault für das Wissen um moralische Werte (Nietzsche) oder das über das Strafrecht (Foucault) getan haben. Die Art und Weise, wie ein Können oder Know-how weitergegeben wird, unterscheidet sich von der Tradierung des Tatsachenwissens. Ein Know-how ist nur sehr schwer, wenn überhaupt, durch Beschreibung erwerbbar. In der Regel muss einem die betreffende Tätigkeit gezeigt werden. Tatsachenwissen mag zwar auch durch persönlichen Kontakt, etwa zwischen einem Professor in einer Vorlesung und den Studierenden auf besonders effiziente Weise weitergegeben werden. Doch ist die persönliche Beziehung zu jemand, der ein bestimmtes Können beherrscht, sehr viel bedeutsamer, will man dieses Können ebenfalls erwerben, als im Falle des Erwerbs von Wissen über Tatsachen. Das ist problematisch, weil persönliche Lehrer-SchülerBeziehungen immer auch von charismatischer Beeinflussung geprägt sind. Diese soll jedoch gerade für die Akzeptanz von überprüfbarem Tatsachenwissen keine Rolle spielen. Im Erwerb von Fertigkeiten ist die charismatische Einflussnahme kaum eliminierbar. Deshalb hängt die Exzellenz in der Philosophie und auch in der Tätigkeit des Intellektuellen sehr stark an der Beziehung zu Personen, die hier ein besonderes Können haben. Man denke nur an den Einfluss von Karl Kraus als Intellektuellem in Österreich oder den von Ludwig Wittgenstein in England, Skandinavien und Amerika (jeweils vermittelt über direkte charismatische Schülerlinien wie Anscombe, von Wright und Malcolm). Vom Standpunkt des Tatsachenwissens hat die Abhängigkeit des Könnens von persönlichen Beziehungen etwas Dubioses, Nicht-Objektives. Zusammen mit der grundsätzlichen Kritik an der Expertise verursacht es bei den Experten den Eindruck der Unseriosität. Im Folgenden werde ich zuerst auf das öffentliche Bedürfnis nach der philosophischen und intellektuellen Tätigkeit zu sprechen kommen, das – trotz des immer wieder geäußerten Verdachts, es gehe im Bereich von Philosophie und Intellektualität vom Standpunkt des objektivierbaren Wissens nicht mit rechten Dingen zu – zur Ausbildung der angedeuteten Anti-Strukturen führt. Danach werden nacheinander die Rollen des Propheten, Richter, Narren und Arztes charakterisiert. Dass beide – Philosophen und Intellektuelle – in diesen Rollen beschrieben werden können, belegen nicht nur die folgenden Fallstudien, sondern auch die Tatsache, dass Walter Muschg, der ehemalige Basler Litera-

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turprofessor und Stiefbruder von Adolf Muschg, eine ganz ähnliche Einteilung der Dichter in seiner „tragischen Literaturgeschichte“ vornimmt (Muschg spricht vom „Magier“ und „Seher“, vom „Sänger“ und vom „Gaukler“).3 Es scheint sich also um relativ allgemeine Typen einer sich nicht in Tatsachenwissen objektivierenden geistigen Tätigkeit zu handeln.

Erwartungen der Öffentlichkeit

Seit ein paar Jahren ist die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Philosophie und die Erwartungen an sie stark gestiegen. Es scheint beispielsweise viele Menschen zu beunruhigen, dass in Zeiten eines global gewordenen Kapitalismus fast alle gesellschaftlichen Fragen unter Marktgesichtspunkten und in Metaphern des Marktes diskutiert werden oder dass durch biologische Erkenntnisse immer mehr Alternativen in der Reproduktions- und Krebstherapie entstehen, zwischen denen nach irgendwelchen Kriterien von den Betroffenen zu entscheiden ist, wenn sie denn diese Möglichkeiten überhaupt zur Kenntnis nehmen wollen, was auch eine Entscheidung ist, die man nach bestimmten Kriterien rechtfertigen kann oder auch nicht. Deshalb wird von vielen Seiten nach einer ethischen Bewertung des weltumspannenden Wirtschaftens und des biotechnischen Umgangs mit dem Menschen gefragt, nach einer Wirtschafts- und Bioethik. Wirtschaften wir um zu leben, oder leben wir, damit die Wirtschaft in Gang bleibt? Haben wir uns biologisch zu perfektionieren und Leid auf jeden Fall zu vermeiden und wenn ja, wo erhalten Menschen die Maßstäbe der Perfektibilität und der Leidvermeidung? Die öffentliche Erwartung scheint zu sein, dass Philosophen (und theologische Ethiker) als Experten für Werte hierzu etwas zu sagen haben müssen. Und sie tun das ja auch ausführlich, wie beispielsweise Jürgen Habermas, jedoch nicht unbedingt mit dem Selbstverständnis, Experten für Werte zu sein, sondern häufig als kritische Intellektuelle. Allerdings gibt es eine gewisse Tendenz auf diese Nachfrage mit der Ausbildung einer Expertenkultur für Werte zu reagieren, beispielsweise mit der Einrichtung von Lehrstühlen für medizinische Ethik und der Einrichtung von Ethikkommissionen. Die genannten Themen ziehen jedoch genau deshalb eine öffentliche Debatte nach sich, in der Intellektuelle mit ihrer handwerklichen Fähigkeit, pointiert zu formulieren und zu kritisieren besonders ge3 | Muschg 1948.

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fragt sind und nicht nur ökonomische und medizinische Experten, die über bestimmtes Tatsachenwissen verfügen, weil sie mit Fragen verbunden sind, die mit Expertise allein nicht beantwortbar sind. Denn es geht nicht in erster Linie um eine richtige Sicht der Volkswirtschaft oder der Genetik, sondern auch um die möglichen Konsequenzen von Formen des Wirtschaftens und der Biotechnologie für die menschliche Lebensform. Experten für das menschliche Leben als solches kann es jedoch nicht geben, auch wenn Autoren von Lebensratgebern manchmal so tun. Hier geht es nicht um Fachwissen, sondern um Klugheit und Urteilskraft, Fähigkeiten, die aus Lebens- und Reflexionserfahrung erwachsen können, es geht um das, was in der Antike praktische Klugheit, phronesis, und das, was in England common sense heißt. Das Leben ist ja etwas, so sagt man, dass man führen muss. Sein Leben führen zu können, sich Gewohnheiten und Orientierungen zuzulegen, ist wiederum etwas, was man nicht in erster Linie als ein Resultat von Tatsachenwissen bezeichnen wird, sondern als Ergebnis des Lernens aus der Lebenserfahrung, die zu der Erkenntnis führen kann, dass einem das eine gut tut, das andere nicht. Intellektuelle beziehen neue wissenschaftliche und technische Entwicklungen auf diese Lebenserfahrung, sie beziehen das Tatsachenwissen auf etwas, was selbst kein Tatsachenwissen ist, und überlegen, welche Konsequenzen und Entscheidungen aus dieser Bezugnahme wohl folgen: Wird es „unserem“ (wer immer damit jeweils gemeint ist) Leben gut tun, eine technische Entwicklung voranzutreiben oder ein bestimmtes Wissen anzuwenden oder eher nicht, ist dabei eine typische Frage. Charakteristisch ist dabei, dass der Intellektuelle oder der Philosoph zu Recht oder zu Unrecht glaubt, über so etwas wie kollektive Lebenserfahrung zu verfügen und in der Lage zu sein, diese Erfahrung auch für das Kollektiv, für das er spricht, formulieren zu können. So wie eine einzelne Person für sich, aufgrund ihrer Lebenserfahrung, entscheiden muss, ob sie sich im Falle einer Krebsdiagnose einer Chemotherapie unterziehen wird oder nicht, ebenso scheint ein erfolgreicher Intellektueller kollektive Entscheidungsprozesse über die Anwendung einer Technologie, beispielsweise der Atomkraft, mit seiner Fähigkeit zu formulieren, was „unser Leben“ ausmacht, beeinflussen zu wollen und bei Erfolg seiner Arbeit in der Öffentlichkeit auch beeinflussen zu können. Obwohl Probleme, wie die eben geschilderten, gegenwärtig der Philosophie eine allgemeine Aufmerksamkeit verschaffen, herrscht häufig Ratlosigkeit, wenn gefragt wird, was Philosophen eigentlich treiben, wenn sie nicht zu aktuellen ethischen Problemen, die an sie

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herangetragen werden, Stellung nehmen. Hat die Philosophie überhaupt eine Funktion? Diese Frage bekommt in akademischen Zusammenhängen den Charakter einer Drohung, sofern der Gedanke, Hochschulen dienten der Bildung von Menschen, an Boden verliert und die Idee, alle Schulen, auch die sogenannten hohen, hätten einen Markt zu bedienen und Experten für diesen auszubilden, immer mehr um sich greift. In der Philosophie als einem Bildungsfach, in dem man sich auch darum bemüht, kritische Geister mit intellektueller Beobachtungsgabe und einer der Lebenserfahrung vergleichbaren Kundigkeit der eigenen kulturellen Tradition hervorzubringen, werden keine Fachleute ausgebildet und sie bedient deshalb auch kein Expertisesegment auf dem Berufsmarkt. Deshalb steht sie als universitäres Fach in unkultivierten Zeiten, in denen die Komplexität der symbolischen Voraussetzungen und Vernetzungen einer Kultur und der Sinn von historisch gewachsenen Anti-Strukturen zum Expertenwissen nicht begriffen wird, ebenso wie die Intellektuellen als Personen, unter starkem Rechtfertigungsdruck. Dass es sinnvoll ist, Menschen Bildungsprozessen auszusetzen, die zu einer nicht expertenartigen Form der Intellektualität führen, die es ihnen erlaubt, etwas Spezielles zu tun, nämlich begründete Kritik zu üben, ohne dass sie eine Ausbildung als Kritiker durchlaufen, möchte ich im Folgenden zeigen, indem ich mich einer Methode bediene, die auf einen Gründervater der Soziologie, nämlich Max Weber, zurückgeht: der Bildung sogenannter Idealtypen (Walter Muschg beruft sich für sein vergleichbares Geschäft mit ebensolcher Berechtigung auf Goethe4). Diese Methode ermöglicht es, vier Arten von Philosophien und Intellektualität zu unterscheiden: Erstens die des Propheten, zweitens die des Richters, drittens die des Narren und schließlich viertens die des Therapeuten oder Arztes. Es gibt dementsprechend einen prophetischen Typ von Philosophie oder Intellektualität, eine richterliche Philosophie, den Philosophen und Intellektuellen als Arzt oder Therapeuten und auch eine Narrenphilosophie.

Außenseiter

Narren, Richter und Propheten haben die Gemeinsamkeit, dass sie ihre soziale Funktion nur deshalb erfüllen können, weil sie Außenseiter in 4 | Muschg 1948: 17.

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der Gesellschaft oder den bestimmten gesellschaftlichen Segmenten sind, in denen sie wirken. Der Richter steht über dem Geschehen, das die Streitenden vor Gericht bringt, er ist unparteiisch, keiner Seite eines Streits verpflichtet und durch sein Amt herausgehoben. Die Distanziertheit des Narren ist eine dem Richtertum entgegengesetzte. Der Narr steht abseits oder unterhalb von denen, über die er spottet, er wird nicht ganz ernst genommen. Als Hanswurst auf der Bühne ist er nicht in das dramatische Geschehen integriert, sondern betrachtet es spöttisch von außen. Doch tut er das nicht, weil er durch sein Amt herausgehoben wäre, sondern vielmehr, weil ihm die Reife oder Würde mitzumachen entweder nicht zugestanden wird oder er sie sich bewusst nicht zu eigen machen will. Gerade dadurch aber ist er in der Lage, Dinge zu sehen und zu sagen, die denen, die ernsthaft ins Geschehen verwickelt sind, zu sehen und zu sagen nicht erlaubt ist – er besitzt die sogenannte Narrenfreiheit, die in der Philosophie eine Erscheinungsform der Geistes- und Gedankenfreiheit sein kann. Der Prophet wiederum ist nicht deshalb ein Außenseiter, weil er durch seine Mitmenschen in seinem Amt, wie der Richter, herausgehoben wurde oder wie der Narr nicht ganz für voll genommen wird, sondern weil ein Gott ihn sich zu seinem Sprachrohr und Offenbarungsinstrument gewählt und so über alle anderen Menschen erhoben hat. Während sich der Richter um ein Amt bemühen und in es gewählt werden kann, der Narr sich dem Ernst seiner Mitmenschen freiwillig entziehen oder seinen Ausstoß aus der Gemeinschaft provozieren kann, hat der Prophet keine Wahl. Er wird von Gott ungeachtet seiner persönlichen Neigungen erwählt und berufen. Die Divination – wie der Vorgang der Zukunftseröffnung für einen einzelnen Menschen durch die Gottheit auch genannt wird – die Divination ist ein Prozess, in dem ein Mensch nicht durch andere Menschen in eine Außenseiterrolle gerät, sondern in dem eine äußere übermenschliche Macht über ihn kommt und den gewöhnlichen menschlichen Verhältnissen entrückt. Richter, Propheten und Narren sind also sehr verschiedene Außenseiter. Dennoch gibt es natürlich Zwischen- und Mischformen, die die hier gewählte idealtypische Abgrenzung unterlaufen. So kennt man die Rede vom Gottes- oder vom heiligen Narren. Bisweilen übernehmen heilige Einsiedler in ihrer näheren Umgebung tatsächlich eine ähnliche soziale Rolle wie Dorfdeppen. Einerseits werden sie als besonders religiös geachtet, andererseits nicht ganz für voll genommen. Besonders instruktiv ist hier das Lob des Christentums am Ende der Rede der Narrheit im „Lob der Torheit“ von Erasmus von Rotterdam.5 5 | Erasmus von Rotterdam 1987.

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Die einfache Lebensform dieser Außenseiter, aber manchmal auch ihre Reden, stellen eine Kritik derer dar, für die sie Außenseiter sind. Der Arzt schließlich ist zwar ein intensiv wahrnehmendes und zuhörendes Gegenüber. Doch auch als Hausarzt wird er normalerweise nicht Mitglied der Familie oder persönlicher Freund, sondern bleibt ein Beobachter von außen, dem es erlaubt ist, für seine Diagnose intim den Körper zu berühren und für seine Therapie grundsätzliche Kritik etwa an einer ungesunden Lebensweise zu üben, ohne dass er dadurch wirklich Teil der Intimsphäre einer Person würde. Er steht wie Narr, Prophet und Richter auf einer Grenze, ist eine liminale Gestalt.6 Aus dieser Außenseiterrolle ergibt sich für alle vier Typen die Fähigkeit zur Ausübung einer gemeinsamen Funktion, die für sie in sehr unterschiedlicher Mentalität realisierbar ist: die Funktion der Kritik. Wollte man also über alle Funktionen der Philosophien und Intellektualität hinweg eine gemeinsame Aufgabenstellung angeben, so wäre es die der Kritik oder, um sich der Formulierung von Max Horkheimer zu bedienen: die der kritischen Theorie im Unterschied zur traditionellen, bloß behauptenden.7 Allerdings sind die Formen und Gegenstände der Kritik in den verschiedenen Philosophien und Spielarten der Intellektualität so unterschiedlich, dass diese allgemeine Funktionsbestimmung in ihrer Vagheit noch nicht sehr hilfreich ist. Der Richter kritisiert die, die ihm vorgeführt werden durch sein Urteil. Der Narr kritisiert das Geschehen, das er begleitet, durch seine Lebensweise oder seinen Spott. Der Prophet kritisiert die sozialen und religiösen Verhältnisse als verkehrt durch seine neue Offenbarung. Und der Arzt oder Therapeut kritisiert eine Lebens- oder Denkweise als krank. Diese Charakterisierungen werden verständlicher durch die Betrachtung von Beispielen.

Beispiele

Der antike Narr Sokrates übt Kritik an den Überzeugungen vom guten Leben unter der jugendlichen Elite in Athen. Als Richter kritisiert Immanuel Kant die Uneinigkeit der Metaphysiker und verurteilt diejenigen intellektuellen Projekte, die nicht seine Verhältnisbestimmung von Sinnlichkeit und Verstand erfüllen, als unwissenschaftlich. Der 6 | Vgl. für die liminale Gestalt des Arztes die instruktive Darstellung von Berger 2001. 7 | Horkheimer 1937.

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Prophet Karl Marx kritisiert im 19. Jahrhundert die gesellschaftlichen Verhältnisse des Frühkapitalismus als solche, in denen die Menschen von sich und voneinander entfremdet sind, als Verhältnisse, die notwendigerweise überwunden werden müssen. Der Therapeut Spinoza kritisiert in seiner Medicina Mentis, dem „Traktat zur Verbesserung des menschlichen Verstandes“, Lebensformen, die sich der Lust, der Ehre oder dem Reichtum als höchsten Gütern widmen als tatsächlich lebensbedrohlich, als Formen von Krankheit. Das therapeutische Unternehmen Spinozas ist vielleicht das letzte große philosophische Projekt dieser Art gewesen. Denn in der Antike war die Philosophie, wenn man an die Kyniker, die Epikureer und die Stoa denkt, vor allem eine therapeutische Angelegenheit. Die Sorge um die eigene Seele, die Sokrates als die eigentliche Aufgabe eines jeden Menschen ansah, lief unter dem Begriff der Therapie.8 Das Christentum nahm den antiken Philosophenschulen, vor allem in den klösterlichen Bewegungen diese Funktion ab und erst im 19. Jahrhundert, im Zuge einer starken Abschwächung der kulturellen Relevanz des Christentums in Europa, gewinnt bei Kierkegaard und in der Psychoanalyse der Gedanke einer Therapie durch Reflexion wieder außerhalb der Religion an Bedeutung. Die psychoanalytische Bewegung greift hier eine ursprünglich philosophische Funktion wieder auf, allerdings, auch bei Freud selbst, häufig in der Realisierung mit dem Anspruch des medizinischen Expertentums verknüpft.9 Will man die verschiedenen Funktionen der Kritik dieser Figuren genauer beschreiben, so ergibt sich das folgende Bild: Die Spötteleien der Narren, beispielsweise des Sokrates, über die politischen und ethischen Gewissheiten seiner Zeitgenossen oder von Paul Feyerabend über die Projekte einer fundamentalistischen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, untergraben pompöse Erkenntnisansprüche oder überzogene Machtambitionen im wissenschaftlichen wie im politischen Bereich. Der Spott entlarvt dogmatisches Brimborium, das sich wie Sachwissen geriert, aber keines ist und setzt sich dafür ein, dass Gedankenfreiheit gewahrt bleibt, auch da, wo einer glaubt, aufgrund einer vermeintlich endgültigen Wahrheit normative Entscheidungen fällen und die öffentliche Meinung monopolisieren zu können. Indem der Narr rhetorisch glänzende Wortkaskaden karikiert oder in ihr Gegenteil umdreht, verhindert er, dass inhaltsloses aber geschicktes Gerede allzu viele verblüfft. Er arbeitet, wie Her8 | Vgl. Foucault 2004. 9 | Vgl. dazu die Freud-Deutung in Cavell 2004 und Hampe 2006.

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mann Lübbe das einmal genannt hat, an der Verblüffungsresistenz seiner Mitmenschen. Das Urteil des Richters ist dagegen nicht immer nur Verurteilung. Es geht ihm nicht allein darum, Wissen, das sich nicht ausweisen, rechtfertigen, legitimieren kann, als Bluff zu entlarven, wie Kant etwa in seiner Swedenborg-Kritik. Häufig bemüht er sich auch, zu Unrecht beiseite geschobene Einsichten, Erkenntnisse von Außenseitern, die nicht akademisch etabliert sind, auf den Schild des als gültig anerkannten Wissens zu heben. Wo Macht versucht, Erkenntnis für sich zu instrumentalisieren, tritt die richterliche Philosophie schützend vor diejenigen, die reine Erkenntnisinteressen verfolgen. So in der jüngsten Auseinandersetzung zwischen dem Kreationismus und den Vertretern der Evolutionstheorie. Die Einsicht, dass die Evolutionstheorie auf Hypothesen beruht, bedeutet ja nicht, dass sie unsicheres Wissen darstellt, wie die Vertreter der sogenannten design-Hypothese unterstellen. Die Evolutionstheorie stellt so sicheres Wissen dar, wie es menschliche Wesen über die Erfahrungswelt eben zu erzeugen vermögen. Der als Mythos missverstandene Schöpfungsbericht der Bibel stellt dagegen gar keine Hypothese dar und ist damit auch nicht mit dem hypothetischen Wissen der Biologie vergleichbar. Diese richterliche Beurteilung des wissenschaftlichen Wissens im Vergleich zum Inhalt eines religiösen Textes ist als der Versuch anzusehen, eine politische Macht, die das fundamentalistische Christentum in den USA ja darstellt, am Missbrauch der wissenschaftstheoretischen Feststellung zu hindern, dass alles menschliche Wissen hypothetisch ist. Daniel Dennett und Jochen Leffers haben sich entsprechend als richterliche Philosophen und der Aufklärung verpflichtete Intellektuelle in der Öffentlichkeit zu diesem Thema geäußert.10 Die bewertende Tätigkeit des prophetischen Philosophen schließlich ist sowohl in die Zukunft wie in die Vergangenheit gerichtet. Durch seinen Blick auf die Vergangenheit der Geistes- und Kulturentwicklung entzieht er ihre Produkte dem rein musealen Interesse. Wenn der Prophet die Gegenwart daran erinnert, dass sie beispielsweise durch ein vergangenes Gesetz zu etwas verpflichtet ist, oder vor den schlimmen Folgen gegenwärtigen Handelns in der Zukunft warnt, so macht er deutlich, dass gegenwärtiges Denken und Handeln in allen zeitlichen Dimensionen eine Relevanz hat. Es hat vergangene Verpflichtungen einzulösen und zukünftige Konsequenzen zu verantworten. 10 | Vgl. das SPIEGEL-Dossier: „Darwins Werk, Gottes Beitrag“ vom 21.12.2005.

44 | M ICHAEL H AMPE Gelingende und misslingende Kritik

Alle genannten kritischen Funktionen sind im Prinzip im komplexen Zusammenhang eines ausdifferenzierten kulturellen Symbolsystems sinnvoll. Doch kann man sie – wie fast alle Tätigkeiten – sowohl gut wie auch schlecht ausführen. Die rechtfertigende und richterliche Funktion kann zu geistespolizeilichen Maßnahmen gegenüber wohletablierten Erkenntnisprojekten führen, die als Anmaßung erscheinen. Ein Beispiel wäre hier die Wissenschaftstheorie, die von dem Münchener Philosophen Hugo Dingler als Konstruktivismus begründet wurde und eine ablehnende Einstellung gegenüber der Einsteinschen Relativitätstheorie einnahm. Die Wissenschaft selbst hat sich bald um diese Art Kritik nicht mehr gekümmert und sie als eine philosophische Skurrilität abgetan. In diesem Moment erfüllte sie, anders als die Kantische Kritik der Metaphysik, nur noch scheinbar eine Funktion. Weil sie nicht als Anti-Struktur von der Struktur, auf die sie sich bezog, anerkannt wurde, lief sie „leer“, war eine Scheinkritik und damit ohne öffentliche Bedeutung. Die Bewertung der eigenen Tradition nach nicht-musealen Prinzipien und die Extrapolation auf Zukunftszustände in der prophetischen Kritik kann ihrerseits zu grotesken Verzerrungen der Vergangenheitswahrnehmung führen, wie in der Metaphysikgeschichte vor allem Martin Heidegger zeigt, der überall immer nur die Seinsvergessenheit sah und so die historisch-kritische Forschung, also eine Form der Expertise, zumindest in Deutschland, mit seinen einflussreichen Schriften lange behindert hat. Um aber die Funktion prophetischer Philosophie überhaupt erfüllen zu können, ist es gleichwohl nötig, die eigene Geistestradition nicht nur museal zu verwalten, sondern als Bedingung des gegenwärtigen Denkens und möglicher zukünftiger Entwicklungen zu bewerten. Nur in diesem Fall wird sie als eigene Vergangenheit ernst genommen. Die Nihilismusdiagnosen Friedrich Nietzsches und seine Prophezeiung destruktiver Totalitarismen für das 20. Jahrhundert sind hier ein eindrucksvolles Beispiel für eine prophetisch orientierte Philosophie, die auf verlebendigende Weise die Vergangenheit wahrnimmt und vor einer aus ihr folgenden Zukunft warnt. Genau dies ist die Standardfunktion des Propheten: er legt das alte Gesetz, die alte Religion, neu aus, sagt, wohin sie geführt hat oder führen wird und warnt vor bestimmten Entwicklungen beziehungsweise empfiehlt bestimmte Erneuerungen.11 Nietzsches positive Prophetie des Übermenschen als Überwinder des Nihilismus mag man als unsinnig und vor 11 | Vgl. hierzu Strauss 1935.

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allem bei Kenntnis der Rezeptionsgeschichte im Nationalsozialismus als gefährlich ansehen. Das ändert jedoch nichts daran, dass sein bewertender Blick auf die Vergangenheit und seine negativen Prophezeiungen die Philosophie auf eindrucksvolle Weise verlebendigt haben und als große Leistung eines Intellektuellen anzusehen sind. Man sieht bei Nietzsche, anders als in der philologischen Forschung, welche kulturelle Macht philosophischen Gedankengebäuden zukommen kann, wenn sie eine die ganze Kultur organisierende Religion wie das Christentum untergraben, ohne einen Ersatzorganisator an ihre Stelle zu setzen. Nietzsches Nihilismusdiagnose und seine Prophezeiung von politischen Hysterien in Massenbewegungen als Religionsersatz zeigen die prophetische Philosophie anders als Heidegger von ihrer besten Seite. Nietzsche bedient sich dabei explizit einer prophetischen Sprache, etwa wenn er sagt: ,,Ich sehe ungeheure Konglomerate an Stelle der vereinzelten Kapitalisten treten. Ich sehe die Börse dem Fluche verfallen, dem jetzt die Spielbanken gefallen sind.“12 Trotzdem ist es natürlich keine echte Vision, kein auf Divination zurückgehendes „Gesicht“, das Nietzsche für sich in Anspruch nimmt, sondern eben eine Extrapolation auf Zustände des 20. Jahrhunderts von seinen Wahrnehmungen im 19. Dies zeigt sich etwa, wenn er von ,,Symptomen“ spricht: ,,Überall Symptome eines Absterbens der Bildung, einer völligen Ausrottung, Hast, abflutende Gewässer des Religiösen, die nationalen Kämpfe, die zersplitternde und auflösende Wissenschaft, die verächtliche Geld- und Genusswirtschaft der gebildeten Stände, ihr Mangel an Liebe und Großartigkeit [...] Ein Zeitalter der Barbarei beginnt, die Wissenschaften werden ihm dienen.“13 Dieses Zeitalter der Barbarei wird ,,äußerlich“, wie Nietzsche in den 1880er Jahren schreibt, ein ,,Zeitalter ungeheurer Kriege, Umstürze, Explosionen“ sein, ,,innerlich eines der immer größeren Schwäche der Menschen“.14 Die innere Schwäche besteht in einem ,,nicht wissen, wohinaus?“, im Gefühl der Leere, über die man mit dem Rausch hinwegzukommen versucht. ,,Rausch als Musik, Rausch als Grausamkeit [...], als blinde Schwärmerei für einzelne Menschen oder Zeiten (als Hass usw.). – Versuch, besinnungslos zu arbeiten, als Werkzeug der Wissenschaft [...] das Durcheinander aller Mittel, Krankheit durch allgemeine Unmäßigkeit (die Ausschweifung tötet das Vergnügen.)“15 12 13 14 15

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Nietzsche 1984: 514. Ebd.: 487. Ebd.: 680. Nietzsche 1980: 911.

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Der ,,Wille zur Unterwerfung“ und ,,die blinde Schwärmerei“, die die Leere nach dem Verfall des Christentums füllen sollen, führen in die politische Demagogie und Tyrannei. Massenbewegungen und nationalistische Exzesse sieht Nietzsche als Folge der Selbstauflösung des Christentums. Die unbedingte Wahrhaftigkeit, die das Christentum gepredigt habe, wende sich in Gestalt der aufklärerischen Philosophie gegen diese selbst und entlarve ihren Jenseitsglauben als Phantasterei. Die politische Massenhysterie und das individuelle Rausch-Streben seien die Konsequenz. Nietzsche bedauert diesen Zustand nicht, sondern ahnt, wie ein klassischer Prophet, auch das Gute, das diesem Verfall folgen wird. ,,Die Kleinstaaten Europas [...] müssen, bei dem unbedingten Drange des großen Verkehrs und Handels,“ schreibt er 1880, ,,wirtschaftlich unhaltbar werden. (Das Geld allein schon zwingt Europa, irgendwann sich zu einer Macht zusammen zu ballen.)“16 So werden schließlich Menschen, die ihrem Leben ohne Jenseitsglauben einen Sinn zu geben vermögen, die Nationalstaaten und den Nationalismus als identitätsstiftende Ersatzreligionen aufgeben und in einem europäischen Gesamtstaat zusammenleben. Ganz ähnlich, wenn auch mit einer anderen Mentalität, prophezeit auch der amerikanische Philosoph und Semiotiker Charles Sanders Peirce. Der Ökonomismus des 19. Jahrhunderts, der für Peirce alles unter den Aspekt des materiellen Nutzens für den einzelnen stellt, werde, so behauptet er, im 20. Jahrhundert zu einer Schreckensherrschaft führen. Und er fährt in prophetischer Donnerstimme fort: ,,Bald werden Blitz und Donner die Ökonomen ganz aus ihrer Selbstzufriedenheit aufschrecken, doch zu spät.“ „Das 20. Jahrhundert,“ schreibt er 1892, ,,wird in seiner zweiten Hälfte die Sintflut über die soziale Ordnung hereinbrechen sehen, und der Himmel wird sich über einer Welt wieder aufhellen, die ebenso tief unter Trümmern liegen wird, wie die Schuld es ist, in welche diese Habsuchtsphilosophie [des Ökonomismus im 19. Jahrhundert] sie so lange getrieben hat.“17 Es geht mir, wohlgemerkt, nicht darum, inwieweit diese Prognosen von Nietzsche oder Peirce eingetreten und in welchem Sinn sie wissenschaftlich sind. Es geht mir vielmehr darum, dass hier durch Zeitdiagnose und Extrapolation in die Zukunft die Auseinandersetzung mit der philosophischen Vergangenheit und Gegenwart einen Ernst und ein kritisches Potential bekommt, den sie als bloße historische Gelehrsamkeit nie hätte.

16 | Nietzsche 1984: 675. 17 | Peirce 1991: 241.

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Richterlich-erkenntnistheoretische Unternehmungen wie die von John Locke und David Hume, oder die schon erwähnten von Immanuel Kant, haben entscheidend dazu beigetragen, die Wissenschaftslandschaft zu verändern. Von ihnen wurde die vernünftige Berechtigung der neuen Erfahrungswissenschaften aufgezeigt. Sie haben Erkenntnisideale entwickelt, mit denen sich die experimentellen Philosophien, die die Gründungsväter der modernen Naturwissenschaft, wie Isaac Newton, Galileo Galilei und Robert Hooke gegenüber den damaligen universitären Lehrmeinungen vertraten, nicht nur als ebenbürtig, sondern als überlegen darstellen ließen. Unser heutiges Verständnis wissenschaftlicher Tatsachen ist ganz wesentlich durch die legitimatorischen Anstrengungen der richterlichen Aufklärungsphilosophie bestimmt. Ohne notwendigerweise immer selbst etwas zum Bestand dieses Tatsachenwissens beigetragen zu haben, ist es doch ihrer Kritik zu verdanken, dass sich die symbolische Struktur der europäischen Kultur, einschließlich des Bildungssystems entscheidend gewandelt hat, die Erfahrungswissenschaften zu den größten universitären Fächern wurden und an die Stelle der Religion als die Lebenswelt in ihren technischen Anwendungen beherrschende Macht traten. Neben der „Kritik der reinen Vernunft“, mit ihrem bekannt häufigem Gebrauch juridischer Termini, ist sicherlich David Humes „Untersuchung über den menschlichen Verstand“ der klassische Ort für die richterliche Haltung in der Philosophie. Mit seiner Zurückführung aller Verstandesleistung auf Sinneseindrücke (impressions) oder reflektiven Vorstellungen (ideas of reflection) glaubte Hume, ein Entscheidungsverfahren entwickelt zu haben, mit dem sich sogenanntes ,,Gewäsch“ von sinnvoller Rede trennen lässt. In der folgenden Passage zeigt sich Hume als Vorläufer der modernen wissenschaftstheoretischen Scheidekünstler, die im 20. Jahrhundert wahre Wissenschaft von Pseudowissenschaften trennen wollten. Hume schreibt: „Haben wir [...] Verdacht, daß ein philosophischer Ausdruck ohne irgendeinen Sinn [...] gebraucht werde, [...] so brauchen wir bloß nachzuforschen, von welchem Eindruck stammt diese angebliche Vorstellung her? [...]. Sehen wir, von diesen Prinzipien durchdrungen, die Bibliotheken durch, welche Verwüstung müssen wir da nicht anrichten? Greifen wir irgendeinen Band heraus, etwa über Gotteslehre oder Schulmetaphysik, so sollten wir fragen: Enthält er irgend einen abstrakten Gedankengang über Größe und

48 | M ICHAEL H AMPE Zahl? Nein. Enthält er irgend einen auf Erfahrung gestützten Gedankengang über Tatsachen [...] Nein. Nun, so werft ihn ins Feuer [...]“18

Im ersten Teil des Zitats geht es Hume um die eindeutige Entscheidung in metaphysischen Streitfragen, im zweiten Teil verurteilt er hart – und zwar mit der heute etwas anrüchigen Methode der Bücherverbrennung. Die modernen Nachfolger dieser richterlichen Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheoretiker wie Popper, erfüllen ganz in diesem Humeschen Sinne weniger die rechtfertigende als die verurteilende Funktion. Die Naturwissenschaften und die experimentelle Methode sind inzwischen jedoch wohl etablierte akademische Projekte, die auf philosophische Schützenhilfe nicht mehr angewiesen sind. Doch galt es in den Augen der richterlichen Wissenschaftstheorie weiterhin, bestimmte Unternehmungen, die Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhoben, zu verurteilen. Das so genannte Demarkationsproblem, also die Frage, welches intellektuelle Projekt sich „Wissenschaft“ nennen darf, richtete sich dabei nicht nur, wie bei Popper, gegen die Psychoanalyse und den Marxismus, sondern bei seinem Anhänger Hans Albert auch gegen Existenzphilosophie und Theologie und zog so über die Fachgrenzen der Philosophie hinaus Aufmerksamkeit auf sich. In der Studentenrevolte der 70er Jahre spielte die Allianz von Marxismus und Psychoanalyse, beispielsweise in den Werken Herbert Marcuses,19 eine wichtige ideologiekritische Rolle. Poppers Kritik dieses ideologiekritischen Instrumentariums stellte dieses selbst unter Ideologieverdacht, sprach ihm die Wissenschaftlichkeit ab und war deshalb von großer öffentlicher Relevanz. Denn mithilfe von Marxismus und Psychoanalyse wollte Marcuse das Krankhafte der bürgerlichen Existenz im Kapitalismus entlarven, also ein sozialtherapeutisches Projekt im Sinne des Intellektuellenarztes realisieren. Nicht wie der Richter an der Verleihung des „epistemischen Ordens“ der Wissenschaftlichkeit interessiert, kritisiert der Narr vor allem wissenschaftliche und moralische Selbstgefälligkeiten, die in hierarchisierten politischen und akademischen Verhältnissen entstehen. Beispiele für wissenschaftliche Hierarchien sind äußerliche oder auch in Eurobeträgen sich zeigende Beurteilungen verschiedener Wissenschaften. Heute genießen beispielsweise die Molekularbiologie, die Neurowissenschaften und die Hochenergiephysik großes Ansehen. Sie 18 | Hume 1975: 22 u. 193. 19 | Vgl. vor allem Marcuse 1971.

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gelten als fortschreitende zukunftsträchtige und theoretisch sehr gut abgesicherte Wissenschaften. An mancher Universität sind die Studentenzahlen in Physik, Biologie und Philosophie ungefähr gleich, in der Philosophie jedoch drei oder vier, in der Physik und Biologie dagegen jeweils über zwanzig oder dreißig Professoren tätig; von der Sachmittelausstattung gar nicht zu reden. Es kann nun passieren, dass Vertretern hochangesehener und wohlausgestatteter sogenannter „Leitwissenschaften“, ein Begriff, der ganz unverblümt eine Hierarchie zum Ausdruck bringt, ihre öffentliche Achtung zu Kopf steigt und sie plötzlich alles aus der Perspektive ihrer Wissenschaften betrachten und erklären wollen. Das führt dann zu den berühmten „Ismen“, dem Physikalismus oder Biologismus. Aber auch Unternehmungen, die nicht den Status einer „Leitwissenschaft“ genießen, können zum epistemischen Größenwahn tendieren, etwa in Form eines Psychologismus oder Soziologismus. Der Physikalist behauptet, dass die Physik die Wissenschaft aller Wissenschaften sei, weil eben alles aus Elementarteilchen bestehe und die Physik die Grundgesetze der Wechselwirkung dieser Elementarteilchen erforsche. Wenn diese bekannt seien, könne alles andere auf sie reduziert werden. Der Biologist behauptet, dass die menschlichen Gehirne Produkt der Evolution sind. Alles Wissen sei als eine Funktion des Gehirns und deshalb auch als ein Anpassungsmechanismus zu begreifen. Die Biologie erforsche diese Anpassungsmechanismen und stelle deswegen die wahre Grundwissenschaft dar, die auch das physikalische Wissen einmal als Hirnfunktion erklären werde. Der Soziologismus dagegen stellt die unbestreitbare gesellschaftliche Bedingtheit alles Handelns und Wissens in den Mittelpunkt und will alles Erkennen als ein gesellschaftliches Phänomen betrachten und so auch die Elementarteilchenphysiker und Biologen als einen eigentümlichen Stamm rekonstruieren, der ein spezifisches Sozialverhalten zeigt, das Wissenschaft genannt wird. Dieser Universalisierungsdrang von ursprünglich partikularen Erkenntnisunternehmen bestimmter Einzelwissenschaften führt zu dem, was Joachim Schulte Strickstrumpfphilosophien nennt. Denn all diesen „Ismen“ ist eines gemeinsam: Auf den Gebieten, auf denen sie ursprünglich nicht zu Hause sind, wirken ihre Erläuterungen abstrakt und unplausibel. In einem Vortrag eines englischen Kunsthistorikers am Wissenschaftskolleg in Berlin wurde 1995 einmal eine evolutionäre Ästhetik skizziert, die ästhetische Analysen ausschließlich vor dem Hintergrund evolutionsthoretischer Einsichten vornahm. Die Bilder, die dieser Kollege deutete, zeigten immer nur nackte Frauen oder

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wehrhafte Männer, die Plastiken waren entweder Phalli oder Vulven. Die ganze Kunstgeschichte schien nur noch Geschlechtlichkeit und Fortpflanzung zu ihrem Thema zu haben. Diese Vereinseitigung machte aus der Kunstwissenschaft etwas Lächerliches. In diesem Moment schlägt die Stunde des Narrenphilosophen. Mit Skepsis und Spott unterminiert er derartig überspannte Erkenntnisansprüche. Neben Sokrates ist wohl der Kyniker Diogenes von Sinope der Urvater der Narrenphilosophie. Auf die Platonische Definition des Menschen als federloses zweifüßiges Tier soll Diogenes reagiert haben, indem er einem Hahn die Federn ausrupfte, ihn in Platons Akademie trug und sagte: ein Platonischer Mensch. Die Akademiker sollen daraufhin den Zusatz: ,,mit abgeplatteten Nägeln“ eingeführt haben. Diogenes zieht durch sein Handeln die Geltung und Tauglichkeit einer abstrakten Definition in Zweifel. Insgesamt war sein angeblich heruntergekommenes Äußeres, seine vermeintliche Unterkunft in einem Fass sowie sein Masturbieren auf dem Marktplatz wohl als Affront gegen die selbstgefällige Vornehmheit der reichen Mitglieder der Akademie gedacht. Moderne Narren des 20. Jahrhunderts wie Paul Feyerabend sind verglichen damit relativ harmlos in ihrer Subversion. Doch auch Feyerabend kritisiert die Abstraktionen der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, ihren überheblichen Gebrauch des Vernunftbegriffes und den Universalitätsanspruch der westlichen Wissenschaft, den sie zu stützen versuchte. Stattdessen verteidigte er mehr rhetorisch geschickt als kulturwissenschaftlich und historisch fundiert den theoretischen Pluralismus und die Gedankenfreiheit gegen in ihren Methoden und Überzeugungen zum Dogmatismus neigende Normalwissenschaften, die, wie gegenwärtig die in Neuro-Psycho-, Sozio- und -Theologie ausufernde Gehirnforschung, differenzierte theoretisch-symbolische und kulturelle Landschaften einzuebnen droht. Dabei achtete Feyerabend die positiven Wissenschaften und ihr methodisch kontrolliertes Erkenntnisstreben sehr wohl. Doch betrachtete er deren pekuniär und lebensweltlich privilegierte Rolle als eine Gefahr – eine Gefahr für die Wissenschaft selbst: für die immanente Kritikfähigkeit und für das existentielle Selbstbestimmungsrecht der Menschen in einer bestimmten Lebensform. Dass eine Erkenntnis als wahr anzusehen ist, bedeutet ja noch nicht, dass in allen Bereichen einer Kultur oder gar in allen Kulturen auf dem Globus aus ihr auch praktische Konsequenzen in Form von verkaufbaren Technologien gezogen werden müssen. Die verschiedenen kritischen Funktionen, die in diesen vier Idealtypen dargestellt worden sind, können sich auf die Philosophie selbst beziehen oder auf außerphilosophische Bereiche. Um ein Beispiel von

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misslingender prophetischer Philosophie und Pseudointellektualität zu geben, ist noch einmal auf Heidegger zurückzukommen. Denn er hat seine Prophetien sowohl auf die Philosophie, wie auch auf die europäische Kultur insgesamt bezogen. Das Ende der Metaphysik und der Seinsvergessenheit war für ihn nicht allein ein innerphilosophischer, sondern ein vermeintlich die ganze Menschheit betreffender Vorgang. Er knüpfte in dieser Haltung wohl an den prophetischen Gestus von Husserl in der Krisisschrift an, wo dieser vom „europäischen Menschentum“ spricht, dessen Aufgabe angeblich sei, eine sich vollständig selbst transparente Wissenschaft hervorzubringen. Ohne Maßangabe wagte der Prophet aus dem Schwarzwald beispielsweise in einem Brief vom 5. Juli 1949 an Jaspers folgende kulturelle Gezeitenprognose: „Die Flut des Leides steigt immer noch; der Mensch wird gleichwohl flacher.“

Und ebenfalls an Jaspers schrieb Heidegger dann ein Jahr später (am 8. April 1950): „Die Sache des Bösen ist nicht zu Ende. Sie tritt erst ins eigentliche Weltstadium. 1933 und vorher haben die Juden und die Linkspolitiker als die unmittelbar Bedrohten heller, schärfer und weiter gesehen. Jetzt sind wir daran. Ich mache mir gar nichts vor. Stalin braucht keinen Krieg mehr zu erklären. Er gewinnt jeden Tag eine Schlacht. Aber „man“ sieht das nicht. Für uns gibt es auch kein Ausweichen. Und jedes Wort und jede Schrift ist in sich Gegenangriff, wenn all dies sich auch nicht in der Sphäre des „Politischen“ abspielt, die selber längst durch andere Seinsverhältnisse überspielt ist und ein Scheindasein führt.- [...] Trotz allem, lieber Jaspers, trotz Tod und Tränen, trotz Leiden und Greuel, trotz Not und Qual, trotz Bodenlosigkeit und Verbannung, in dieser Heimatlosigkeit ereignet sich nichts; darin verbirgt sich ein Advent, dessen fernste Winke wir vielleicht doch noch in einem leisen Wehen erfahren dürfen und auffangen müssen, um sie zu verwahren für eine Zukunft [...]“20

Dreist parallelisiert Heidegger hier seine eigene Situation in der Nachkriegszeit mit der Lage der „Juden und Linkspolitiker“ im gerade vergangenen Naziregime. Er sah sich selbst als Opfer seiner Zeit. Gleichzeitig sollte jedes Wort, das Philosophen wie er schreiben, Widerstand gegen den Kommunismus, ein „Gegenangriff“ gegen den Stalinismus sein. Zwar finden diese vermeintlichen Gegenangriffe nicht auf der in Heideggers Augen seichten Ebene der Politik statt. Das Politische führt ja nur ein „Scheindasein“. Auch Tod und Tränen, 20 | Heidegger 1990: 175 u. 202 f.

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Leiden und Greuel gehören für Heidegger nicht zu dem, was sich als Wahrheit ereignet. Denn die Wahrheit geschieht im sogenannten „großen Kunstwerk“, etwa van Goghs Bauernschuhen, wie Heidegger an anderem Ort, in seinem Aufsatz „Über den Ursprung des Kunstwerks“ behauptet. Das Typische der philosophischen Prophetie Heideggers ist, dass sie sich selbst nicht als Symptom ihrer Zeit sieht. Sie versteht sich überpolitisch, überwissenschaftlich, übergesellschaftlich. Der wahre Prophet im Sinne von Maimonides wird zum Beispiel nachts von Gott quasi überfallen. Gott bemächtigt sich seiner vollkommenen Einbildungskraft, indem er ihm Bilder eingibt. So offenbart Gott in einem Wahrtraum dem Propheten die Zukunft. Das hieß in der Tradition „Divination“. Sie zwingt den Propheten mit „fremden Zungen“ zu reden. Ohne das Wort „Divination“ in den Mund zu nehmen, das heißt ohne explizit zu behaupten, dass ein Gott durch ihn spreche, der sich seiner Zunge bemächtigt hat, ohne also diesen hohen Anspruch tatsächlich an sich zu stellen, redet Heidegger so, als stünde er über den Dingen und Zeiten. Er redet, als habe ein Gott ihn erhoben. Deshalb sieht er vermeintlich sehr, sehr weit. Seine Betrachtung geschieht scheinbar von einem fernen Standpunkt, von außerhalb. Jaspers glaubte damals nicht, dass Heidegger tatsächlich einen solch erhabenen Standpunkt auf das Weltgeschehen oder Seinsgeschick habe. Er antwortete scharf auf Heideggers Brief. Jaspers erwog, ob nicht durch die „Unbestimmtheit“ im Begriff des Bösen, durch den „Schein der Großartigkeit solcher Visionen“ versäumt wird, was zu tun möglich ist. Jaspers schäumte wie selten in seiner Korrespondenz bei der Antwort an Heidegger vom 24. Juli 1952: „So etwas zu lesen, erschreckt mich. Sie würden, wenn Sie mir gegenübersäßen [...] noch heute meinen Redeschwall erfahren, in Zorn und in der Beschwörung der Vernunft. [...] Ist solche Ansicht der Dinge durch ihre Unbestimmtheit Förderung des Verderbens? Wird durch den Schein der Großartigkeit solcher Visionen versäumt, was zu tun möglich ist? Wie kommt es, daß Sie irgendwo ein sehr positives Urteil über den Marxismus drucken lassen, ohne zugleich mit Klarheit auszusprechen, daß Sie die Kraft des Bösen erkennen? [...] Ist diese Macht des Bösen nicht auch dieses, was ständig gewachsen ist und in der Tat den Sieg Stalins vorbereitet: die Verschleierung und das Vergessen des Vergangenen, der neue sogenannte Nationalismus? Ist nicht eine Philosophie, die in solchen Sätzen Ihres Briefes ahnt und dichtet, die die Vision eines Ungeheuren bewirkt, wiederum Vorbereitung des Sieges des Totalitären dadurch, daß sie von der Wirklichkeit sich trennt? [...] Sie schreiben [...]: ‚In dieser Heimatlosigkeit [...] verbirgt sich ein Advent.‘ Mein Schrecken wuchs als ich das las. Das sind [...] reine Träumereien, die [...] dieses halbe Jahrhundert genarrt haben. Sind Sie im Begriff als Prophet aufzutreten, der aus verborgener Kunde Übersinnliches

P ROPHETEN , Ä RZTE , R ICHTER , N ARREN | 53 zeigt, als ein Philosoph, der von der Wirklichkeit wegführt? Der das Mögliche versäumen läßt durch Fiktionen? Bei dergleichen ist nach Vollmacht und Bewährung zu fragen [...]“21

Der Streit zwischen Heidegger und Jaspers ist einer zwischen einem Pseudopriester des kommenden Gottes und einem auch politischen Intellektuellen. Man könnte ihn von der Frage geleitet betrachtet, welche Distanz die Philosophie zum tagespolitischen Geschäft einzunehmen habe. Jaspers hat sich mit richterlichem und manchmal ebenfalls schwer erträglichem Gestus sowohl bei der Debatte um die Wiederbewaffnung Deutschland wie bei der um die Verjährung von Mord im Deutschen Bundestag, die unmittelbar die strafrechtliche Verfolgbarkeit von Mördern in den Konzentrationslagers des Nationalsozialismus betraf, direkt in das politische Geschehen eingemischt. Seine Äußerungen hatten – im Unterschied zu denen Heideggers – eine politische Funktion, ein Gewicht in der öffentlichen Debatte, ebenso wie die von Sartre oder später von Habermas, unabhängig davon, ob man sie für stilistisch erträglich und politisch überzeugend hält.

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Was charakterisiert den Intellektuellen? Martin Carrier hat in seinem Beitrag eine ausführliche Definition formuliert. Wie auch andere der im vorliegenden Band versammelten Autoren, hat er als Ausgangspunkt für seine Überlegungen den Ansatz gewählt, dass man im Wesentlichen dann von einem Intellektuellen sprechen könne, wenn sich die Person über ihre Fachgrenzen hinaus äußert. Sich über seine Fachgrenzen hinaus zu äußern birgt natürlich – und darauf weist Martin Carrier in aller Deutlichkeit hin – die Gefahr zu dilettieren. Der von ihm gewählte Ansatz birgt also das Problem, dass der Intellektuelle vom Dilettanten unterschieden werden muss, wobei die Grenzen zwischen beiden häufig unscharf sind. Zumindest implizit geht dieser Ansatz von der Vorstellung aus, dass man verschiedene Fachgebiete vor Augen hat und sich ein Experte eines Fachgebietes zu Fragen eines anderen Fachgebietes äußert. Die Gefahr für diesen Intellektuellen, dabei zum Dilettanten zu werden, ließe sich möglicherweise vermeiden, wenn man einen etwas anderen Ansatz wählt, den ich hier kurz vorstellen will. Warum gesteht man etwa Habermas den Status des Intellektuellen zu, wenn er sich – wie in der „Neurodebatte“ – zu Fragen der Funktion des menschlichen Gehirns äußert? Habermas äußert sich als Philosoph etwa zu ethischen Fragen, aber nicht zu Detailproblemen aus der Neurobiologie. Täte er dies, ohne sich dabei von Fachleuten gründlich beraten zu lassen, würde er sich dem Risiko des Dilettantismus aussetzen. Soweit mir bekannt, hat er das, im Unterschied zu anderen Philosophen, vermieden. Er hat seine Fachgrenzen nicht überschritten. Beeindruckend an Intellektuellen wie Habermas scheint mir die Breite des Gebietes, in dem er Experte ist. Seine Fachgrenzen überschreitet er aber nicht. Was könnte dann die spezielle Fähigkeit sein, die einen Intellektuellen auszeichnet? Sie besteht meines Erachtens in seiner besonderen Befähigung, die Welt zu sehen. Um diese zu erläutern, will ich, für einen Biologen nahe liegend, die Fähigkeit von Lebewesen, die Welt zu erkennen und auf sie zu reagieren, in einer Reihe zuneh-

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mend komplexer Stufen anordnen. Die aus drei Stufen bestehende Reihe könnte durch Lebewesen repräsentiert sein, die auf unterschiedlichen Evolutionsstufen angesiedelt sind. Ebenso könnte man sie sich als hypothetische Entwicklungsstufen eines sich vom Kleinkind zum Erwachsenen entwickelnden Menschen vorstellen.

Drei Wege zur Interpretation der Welt

Die Daten, die ein Lebewesen mit Hilfe seiner Sinnesorgane aufnimmt, werden von diesem interpretiert. Das Ergebnis der Interpretation kann man an der Art seiner jeweiligen Verhaltensreaktionen ablesen. Die einfachste Form einer solchen „Interpretation“ besteht darin, dass bestimmte Sinnesreize zu einer jeweils festgelegten Reaktion führen. So kann etwa eine plötzliche Verdunkelung einen Fluchtreflex auslösen – der Schatten wird dabei als Signal für das Auftreten eines möglichen Räubers interpretiert. Beispiele für die entsprechenden „neuronalen Filter“ sind in großer Zahl z. B. bei Insekten (Wehner 1987), aber natürlich auch beim Menschen bekannt. Eine höhere Form der Interpretation – und hier ist dieser Begriff schon eher zu rechtfertigen – liegt dann vor, wenn der Reiz die Reaktion nicht eindeutig festlegt, sondern das Tier aufgrund unterschiedlicher innerer Zustände den eintreffenden Reiz unterschiedlich bewerten kann und damit der gleiche Reiz, je nach dem jeweiligen Zustand des Tieres, in verschiedener Weise beantwortet wird. Ist etwa eine Biene in der Stimmung Wasser zu sammeln, weil es im Stock dringend benötigt wird, so reagiert sie, ganz entgegen ihrem üblichen Verhalten, nicht auf einen angebotenen Honigtropfen. Liegen gleichzeitig mehrere Reize vor, so kann das dazu führen, dass dem einen Reiz mehr Aufmerksamkeit gewidmet wird als dem anderen und das Tier nur auf einen der angebotenen Reize regiert. Auch diese Fähigkeit findet man schon bei Insekten und natürlich bei „höheren“ Tieren wie auch bei Menschen. Die dritte Stufe ist dadurch gekennzeichnet, dass die Welt, bzw. die aus ihr eintreffenden Sinnesdaten mit Hilfe eines „Weltmodells“ interpretiert werden. Mit Weltmodell ist hier gemeint, dass bestimmte Annahmen über die Eigenschaften der Welt, oder genauer, bestimmter Ausschnitte der Welt, bereits vorliegen. Diese Annahmen sind im Laufe von Lernprozessen entstanden oder auf angeborenes „Wissen“ zurückzuführen. Im Vergleich zu den ersten beiden der hier betrachteten Stufen benötigt der Aufbau solcher Weltmodelle einen größeren Aufwand im Hinblick auf die neuronale Struktur. Sie hat aber den Vorteil, dass auch komplexere Situationen erkannt werden können,

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und zwar selbst dann, wenn die zur Verfügung stehende Information mehr oder weniger stark eingeschränkt ist. Solche Weltmodelle dienen also der Ergänzung fehlender Information, was deshalb möglich ist, weil die Weltmodelle auf „plausiblen“ Annahmen über die Eigenschaften der Welt beruhen. Die Wirkung solcher „plausibler“ Annahmen, die wir ständig unbewusst verwenden, wird uns normalerweise erst dann bewusst, wenn sie zu Fehlinterpretationen führen, wie es etwa bei verschiedenen optischen oder kognitiven Täuschungen der Fall ist (Cruse, Dean, Ritter 1998).

Die Zahl individueller Konzepte ist begrenzt

„Erkennen“ ist, verwendet man solche Weltmodelle, zum überwiegenden Teil „Wiedererkennen“. Man versucht, die eintreffenden Daten zur Passung mit vorhandenem Wissen zu bringen und die Daten auf diese Weise in Information zu verwandeln. Die Anwendung des vorhandenen Wissens bedeutet, dass in der Welt vorliegende, sensorisch wahrgenommene Situationen Konzepten zugeordnet werden, die teils angeboren, teils, insbesondere bei Menschen, erlernt, also kulturell erworben sind. Die Vermutung liegt nahe, dass Menschen aufgrund ihrer ausgeprägten Lernfähigkeit und vor allem aufgrund ihrer Fähigkeit, sich über die Sprache auszudrücken, eine sehr viel höhere Zahl und wohl auch komplexere Formen von Konzepten entwickelt haben als das bei den meisten Tieren der Fall ist. Je genauer wir die Welt untersuchen, desto größer wird die Zahl der uns zur Verfügung stehenden Konzepte. Wegen der – auch individuell unterschiedlichen – Begrenztheit der uns zur Verfügung stehenden mentalen Fähigkeiten, aber auch der Begrenztheit der zur Verfügung stehenden Zeit, kann der einzelne Mensch nicht alle der Menschheit insgesamt zur Verfügung stehenden Konzepte in seinem Gedächtnis repräsentieren. Es bilden sich notgedrungen Spezialisten aus, die in dem einen oder dem anderen der vielen denkbaren Konzeptbereiche Experten sind. Es sind Fachidioten im Sinne der ursprünglichen Bedeutung von idiotes, also eines Menschen, der sich auf seinen persönlichen Bereich konzentriert, sich aber um die allgemeinen Belange nicht kümmert. Der Experte verwendet beim Erkennen der Welt seine, d. h. die ihm bekannten Fachkonzepte und ordnet die Welt notgedrungen ausschließlich nach diesen ihm geläufigen Konzepten. Er sieht nicht – und kann nicht sehen – , dass es auch andere Konzeptgruppen gibt, da er sie nicht eingeübt hat. Ich will im Folgenden die Sichtweise vertreten, dass ein Intellektueller nicht nur

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die Konzeptgruppe seines Faches kennt, wie man es von einem Experten erwarten würde, sondern dass er darüber hinaus weiß, dass die von ihm verwandte Konzeptgruppe nicht die einzig mögliche ist. Er vermag sich deshalb auf einen „höheren“ Standpunkt zu stellen und somit Standpunktwechsel vorzunehmen. Um das genauer zu erläutern, will ich im Folgenden holzschnittartig zwei Konzeptgruppen konstruieren, die eine, die dem naturwissenschaftlichen Denken entspricht, und die andere, die die geisteswissenschaftliche Sichtweise der Welt repräsentiert. Beide Gruppen sind im Zusammenhang des vorliegenden Buches besonders interessant, da ja die Vermutung untersucht werden soll, inwieweit die klassischen, an den Geisteswissenschaften orientierten Intellektuellen möglicherweise durch Expertenintellektuelle abgelöst werden, die eher an den Naturwissenschaften orientiert sind (vgl. Martin Carriers Einleitung). Was kennzeichnet diese beiden Konzeptgruppen? Naturwissenschaftler könnte man dadurch charakterisieren, dass sie in der Hoffnung leben, die Welt auf (möglichst) wenige Prinzipien zurückführen zu können. Sie sind auf der Suche nach einer „Weltformel“. Sie leben, anders ausgedrückt, in dem – vielleicht impliziten – Glauben, dass die Welt verstehbar, d. h. mit Hilfe bekannter Elemente modellierbar sei. Sie suchen also in der Vielfalt der Phänomene nach dem Gemeinsamen, nach dem Typischen. Damit eng verknüpft ist der Wunsch nach Objektivierbarkeit. Ganz anders der prototypische Geisteswissenschaftler. Er ist weniger an den Gemeinsamkeiten, am Mittelwert, sondern vielmehr an den Unterschieden interessiert. Er untersucht, was die Individualität ausmacht. Er sucht, mit den Methoden der einfühlenden Interpretation, nach Formen und Ursachen der beobachteten Variabilität. Geisteswissenschaftler und Naturwissenschaftler interessieren sich für Phänomene dieser Welt, verwenden aber dabei ganz unterschiedliche Konzeptgruppen, unterschiedliche gedankliche Werkzeuge und versuchen mit ihren jeweiligen „Denkzeugen“, die Welt zu interpretieren. Daraus ergibt sich auch eine Antwort auf die Frage, ob sich der Stil der Diskussionen dadurch geändert hat, dass sich vermehrt auch Naturwissenschaftler zu Wort melden. Vermutlich ja, und zwar deshalb, weil (wie eben angedeutet) Geisteswissenschaftler und Naturwissenschaftler verschiedene Konzepte und Zielvorstellungen verwenden. Diese unterschiedlichen Denkstrukturen sind allerdings auch der Grund dafür, dass so oft aneinander vorbeigeredet wird, wie die eingangs erwähnte „Neurodebatte“ zeigte.

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Unterschiedliche „Lager“ oder unterschiedliche Beschreibungsebenen?

Nun stellt sich die Frage, ob es richtig oder sinnvoll ist, hier zwei verschiedene „Lager“ auszumachen, die um die Deutungshoheit bei der Interpretation der Welt konkurrieren, wie je nach Standpunkt und Blickrichtung erhofft oder befürchtet wird. Ich denke, dass wir hier stattdessen vielmehr von verschiedenen Beschreibungsebenen sprechen sollten, in denen zwar ein und dasselbe Phänomen „Welt“ betrachtet, allerdings unter Verwendung unterschiedlicher Konzepte, unterschiedlicher „neuronaler Filter“ analysiert, das heißt interpretiert wird. Da bereits innerhalb der Naturwissenschaften die unterschiedlichsten Beschreibungsebenen existieren, will ich diese zunächst als Beispiel verwenden. Die einzelnen Beschreibungsebenen unterscheiden sich in ihrer Granularität. So unterscheidet man etwa die Teilchenphysik, die Atomphysik, oder die sich auf die Molekülebene konzentrierende Chemie. Dann folgen Biochemie und Molekularbiologie, die sich mit sehr großen Molekülen und deren Interaktionen befassen. Auf den nächsthöheren Ebenen folgen die Zellphysiologie und die Organphysiologie, schließlich die sich mit dem Verhalten von Tieren befassende Ethologie sowie die sich dem Zusammenwirken ganzer Tierund Pflanzengruppen befassende Ökologie. Unterhalb der Ethologie kann man die Neurobiologie, darüber die Psychologie mit Anbindung an die Philosophie ansiedeln. Jede Ebene ist durch die in ihr angewandten Konzepte – und dazu gehören auch die auf der jeweiligen Ebene geltenden Gesetze – charakterisiert. Es gibt Experten auf jeder Beschreibungsebene, wobei deren Deutungshoheit auf diese eine Beschreibungsebene beschränkt bleibt. Dennoch ist es unvermeidlich, die Grenzen zwischen Beschreibungsebenen immer wieder zu überschreiten und die Erkenntnisse aus verschiedenen Ebenen miteinander in Beziehung zu setzen. Die Aussagefähigkeit solcher Verknüpfungen ist allerdings nicht aus der Perspektive einer einzelnen Ebene heraus zu beurteilen.

Der Zusammendenker

Daher ist es von größter Wichtigkeit, dass über die essentiell notwendigen Experten hinaus Personen gefunden werden, die Antworten darauf finden, ob und inwieweit Regeln, die in einer der Ebenen gelten, auf Regeln abgebildet werden können, die auf einer anderen, benach-

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barten Ebene Gültigkeit haben. Hierzu bedarf es Persönlichkeiten, die gedanklich aus der jeweiligen Konzeptgruppe heraustreten können und in der Lage sind, Gemeinsamkeiten zu entdecken und Übersetzungswerkzeuge zu entwickeln, mit deren Hilfe solche Abbildungen möglich sind. Nur wenige Personen erreichen diese intellektuelle Stufe. Diese würde ich versuchsweise Intellektuelle nennen wollen. Sie wären in der Lage, zu erkennen, dass es verschiedene Konzeptgruppen gibt, und dass jede einzelne Konzeptgruppe nur den Blick auf bestimmte Aspekte ermöglicht. Der Intellektuelle erkennt das aber nicht nur als passiver Beobachter, sondern versucht aktiv, sich von den festen Konzeptgruppen zu lösen bzw. zwischen ihnen zu wechseln. Er ist ein „Zusammendenker“ (Gunter Hofmann über W. Lepenies. DIE ZEIT 6, 1998). Experten bleiben im Fachgebiet, die grands penseurs stattdessen versuchen, verschiedene Konzeptwelten als Ausdruck verschiedener Beschreibungssysteme zu sehen, die nicht etwa konkurrieren, sondern sich ergänzen. Dadurch kommen sie zu neuen Sichtweisen. Die Fähigkeit, sich außerhalb der Konzeptgebäude zu stellen, ist die Voraussetzung für die Fähigkeit, zur Lösung eines Problems dieses „auf einen Begriff zu bringen“, so dass alle ihn verwenden können und damit das sagen können, was sie schon immer sagen wollten. Intellektuelle können so neue Weltsichten entwickeln.

Zwei Beispiele, das eine abgeschlossen, das andere (noch) offen

Ein klassisches Beispiel aus der Physik, bei dem die Zusammenführung zweier Beschreibungsebenen geglückt ist, stellen Wärmelehre und Thermodynamik dar. Auf der einen Ebene gibt es das Konzept Temperatur, auf der anderen das Konzept der mittleren kinetischen Energie der Moleküle. Beide Konzepte sind nur in ihrer jeweiligen Beschreibungsebene verwendbar, der Bezug zwischen beiden Ebenen ist in diesem Falle aber gut verstanden. Die Rückführung der einen auf die andere Ebene, in anderem Zusammenhang oft kritisch mit „Reduktionismus“ bezeichnet, stellt hier jedoch keineswegs einen Verlust, sondern einen entscheidenden Fortschritt in der Erkenntnis dar. Umgekehrt bedeutet Reduzierbarkeit nun aber nicht, dass man den Begriff Temperatur verabschieden könnte oder sollte, mit dem Argument, dass nicht die Temperatur eines Gases dessen Druck erhöhe, sondern dies vielmehr („in Wahrheit“) die mittlere kinetische Energie der beteiligten Moleküle bewirke. Der Begriff Temperatur wird keineswegs

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überflüssig. Beschreibungen auf einer höheren Ebene erlauben vielmehr, Wissen in kompakter Form zusammenzufassen und es auf dieser höheren Ebene in neue Zusammenhänge zu bringen. Während die Diskussion beim Vergleich der Beschreibungsebenen Wärmelehre und Thermodynamik längst abgeschlossen ist, ist sie bei einem aktuellen Beispiel noch in vollem Gange. Hat der Mensch einen freien Willen oder ist er determiniert? Bei dieser sowohl im Feuilleton als auch in einschlägigen wissenschaftlichen Konferenzen seit einiger Zeit wieder intensiv diskutierten Frage stehen sich Naturwissenschaftler – meist Neurowissenschaftler – und Geisteswissenschaftler – meist Philosophen, in der Regel kontrovers gegenüber. Die einen sagen: das Gehirn entscheidet. Es handelt sich dabei um ein zwar komplexes und noch bei weitem nicht vollständig verstandenes Organ, das jedoch den Gesetzen der Physik unterliegt und damit im Prinzip wie jedes andere physikalische System beschreibbar ist. Provokant zugespitzt kann die Position mancher Neurowissenschaftler in der Formulierung zusammengefasst werden: Das Gehirn entscheidet, und nicht die Person. Die anderen akzeptieren zwar zumeist, dass das Gehirn für das Treffen von Entscheidungen notwendige Voraussetzung ist, dass aber die Entscheidung von der Person (dem Ich) und eben nicht vom Gehirn getroffen wird. Die Entscheidung der Person basiert auf Gründen. Im Gehirn finden sich zwar komplexe Aktivitätsmuster von Nervenzellen, aber keine Gründe. Die unterschiedlichen Sichtweisen führen dazu, dass die einen annehmen, der Mensch sei (durch sein Gehirn) determiniert, während die anderen genau das ablehnen. Beide Seiten sind gleichermaßen von der Richtigkeit ihrer jeweiligen Meinung überzeugt. Welche hat Recht? Auch hier scheint mir der Ansatz, dass es zwei konkurrierende Konzeptgruppen gibt, von denen entweder nur die eine oder nur die andere die adäquate Deutung liefern kann, nicht richtig zu sein. Beide Sichtweisen entsprechen unterschiedlichen Beschreibungsebenen desselben Phänomens. Was bislang fehlt, ist der Versuch, eine Verbindung zwischen den Ebenen herzustellen. Dies setzt zunächst einmal voraus, dass man eine Abbildung der jeweiligen Regeln überhaupt für möglich hält, setzt also auch die Fähigkeit und die Bereitschaft voraus, sich außerhalb seiner jeweiligen Konzeptgruppen zu stellen. Erst dann wäre man in der Lage, solche Verbindungen, falls sie denn möglich sein sollten, herzustellen. Wer durch die naturwissenschaftliche Denkweise, also den Glauben an die Möglichkeit einer einheitlichen Erklärung der Welt, geprägt ist, tendiert eher zu der Annahme, dass es zwischen Phänomenen, wie zum Beispiel Gründen, die auf der menta-

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len Ebene beschreibbar sind, und gewissen neuronalen Systemen keine ontologische Differenz gibt. Wir haben es, so auch meine Vermutung, vielmehr mit zwei getrennten Beschreibungsebenen zu tun, die möglicherweise durch die Betrachtung der Eigenschaften von dynamischen Systemen gedanklich zusammengeführt werden könnten. Geisteswissenschaftler erheben hierbei gelegentlich den kritischen Vorwurf, dass hier versucht wird, einer Einheitswissenschaft das Wort zu reden. Für den Naturwissenschaftler bedeutet dies aber keine Kritik, sondern entspricht dem inhärenten Ziel naturwissenschaftlichen Denkens. Auch bei der Zusammenführung introspektiv abgeleiteter mentaler Konzepte und neurophysiologisch-mathematischer Konzepte würde eine möglicherweise erfolgreiche Reduzierbarkeit aber nicht bedeuten, dass Konzepte wie Schuld, Gründe oder freier Wille überflüssig sind. Beide Beschreibungsebenen sind unverzichtbar, weil die Begriffe, die für die Beschreibung des Phänomens auf der einen Ebene verwendet werden, nicht geeignet sind, das Phänomen auf der anderen Ebene zu beschreiben (Temperatur – Energie der Moleküle, oder Gründe – neuronale Attraktorzustände). Habermas drückt es so aus: „Gedanken, die wir im mentalistischen Vokabular ausdrücken können, lassen sich nicht ohne semantischen Rest in ein empiristisches, auf Dinge und Ereignisse zugeschnittenes Vokabular übersetzen“ (Habermas 2004). Man sollte übrigens ebenso wenig von kausalen Einflüssen zwischen den Ebenen sprechen. Die Erhöhung der kinetischen Energie der Moleküle beeinflusst nicht die Temperatur, die kinetische Energie ist die erhöhte Temperatur. Zwar werden umgangssprachlich oft Sätze formuliert wie „Alkohol hat Auswirkungen auf den psychischen Zustand einer Person“. Dies ist eine zwar praktische, weil kurze Formulierung. Genau genommen machen wir dabei aber den Fehler, dass die Beschreibungsebenen gewechselt werden und dabei eine unerlaubte Kausalbeziehung formuliert wird. Man bewegt sich also hierbei in gefährlicher Nähe eines Kategorienfehlers, der sich aus der gleichzeitigen Verwendung zweier Beschreibungsebenen ergeben kann. Das gemeinsame Ziel von Wissenschaftlern, die an Diskussionen wie der zur Willensfreiheit interessiert sind, sollte darin bestehen, lebensweltliche und naturwissenschaftliche Beschreibung möglichst eng zusammenzuführen, wobei aber „keines der beiden Reiche den Versuch machen sollte, sich das andere einzuverleiben“ (Nida-Rümelin 2003). Die dazu notwendigen Schritte zu tun, wären Intellektuelle gefragt. Aber auch Habermas wehrt sich offenbar dagegen, diese einzuleiten.

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INTELLEKTUELLE W ISSENSCHAFT , H YPERPROFESSIONALISMUS UND DAS A LLGEMEINE M ICHAEL H AGNER

Vor zwei Jahren hat der amerikanische Wissenschaftshistoriker Steven Shapin Klage über einen Hyperprofessionalismus in der Wissenschaftsgeschichte geführt und vor allem zwei Ursachen für diese Entwicklung ausgemacht: Zum einen beklagt er die Selbst-Referentialität, die es verhindert, dass Fragestellungen, Themen, Methoden und Anregungen außerhalb des disziplinären Terrains wahrgenommen werden. Eine hyperprofessionelle Disziplin kommt aus dem Fliegenglas nicht mehr heraus. Zum anderen konstatiert Shapin eine Selbstgenügsamkeit, die es erschwert oder unmöglich macht, Akademiker außerhalb der eigenen Disziplin für die jeweilige Forschung zu interessieren, weil man sich nicht die Mühe macht, anderen zu erklären, wie die eigene Arbeit motiviert ist, in welchem historischen, philosophischen oder sozialen Kontext das jeweilige Thema situiert ist und welchen intellektuellen Mehrwert die Beschäftigung mit einem solchen Thema für unsere Gegenwart hat.1 Als Ursache für den Hyperprofessionalismus sieht Shapin die akademische Etablierung der Wissenschaftsgeschichte an den angloamerikanischen Universitäten. Je höher der Professionalisierungsgrad, desto geringer das Interesse daran, dass die eigene Wissenschaft über die selbst gezogenen Grenzen hinaus vernehmbar ist. Gegen diese Beobachtung lässt sich wenig einwenden, zumal ähnliche Prozesse auch in anderen Disziplinen wie der Philosophie oder der Soziologie zu beobachten sind. An diesem Punkt lohnt es sich, die Konsequenzen einer forcierten Professionalisierung noch etwas genauer zu betrachten. Nicht, dass Professionalisierung als solche schlecht wäre, aber sie bringt bestimmte Konventionen, Kanonisierungen und Standards mit sich, die genau dann zum Handicap werden, wenn sie intellektuellen Mut, Risikobereitschaft und eine Überschreitung des vorgegebenen Denkstils im Keim ersticken. Diejenigen von Ludwik Fleck so ingeni1 | Shapin 2005.

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ös beschriebenen Mechanismen zur Entstehung von Denkkollektiven,2 die einen bestimmten Stil pflegen, jenseits dessen Grenzen Phänomene nicht einmal mehr wahrgenommen werden, sind nicht bloß in den Naturwissenschaften und in der Medizin wirksam, sondern selbstverständlich auch in den Geisteswissenschaften. Wer sich einem bestimmten Kollektiv zugehörig fühlt, erweist diesem seine Reverenz in der Regel dadurch, dass er die Früchte seiner Arbeit – und dazu zählen nicht bloß Kommissionen, Evaluationen und Begutachtungen, sondern eben auch Publikationen – diesem Kollektiv zur Verfügung stellt. Damit erfüllt man eine der am wenigsten in Frage gestellten Maximen der wissenschaftlichen Praxis, nämlich, dass sich die Qualität einer wissenschaftlichen Arbeit daran bemesse, dass sie innerhalb der jeweiligen scientific community akzeptiert wird. Wer seine wissenschaftliche Arbeit nur an ein anderes Publikum adressiert – sei es eine andere Disziplin, politische Gremien oder die breitere Öffentlichkeit – wird in der ursprünglichen Gemeinschaft schnell marginalisiert. Dabei mag es auch eine Rolle spielen, dass der so aus der Konvention Ausscherende seine Dankbarkeit nicht mehr bezeugt, denn es ist schließlich die Wissenschaftlergemeinschaft, die einen zu dem hat werden lassen, was man geworden ist. Nimmt man Shapins Diagnose ernst, dann trägt auch erfolgreiche akademische Professionalisierung in den Geisteswissenschaften den Keim des Misserfolgs oder Fehlschlags in sich. Man hat sich erfolgreich am Modell der Experten orientiert und weiß alles über Newtons Alchemie, Leibniz’ Kalküle oder die Pariser Akademie der Wissenschaften, doch dafür vermag sich nur eine kleine Zahl von Kolleginnen und Kollegen zu erwärmen. Man könnte es auch so formulieren, dass die akademische Selbstgenügsamkeit und die intellektuelle Neugierde in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zueinander stehen. Vielleicht sind die Wissenschaftshistoriker zu sehr Experten und zu wenig Intellektuelle. Dass ein solcher Zusammenhang keineswegs zwingend sein muss, zeigt sich beispielsweise an den Historikern, die in jeder Generation eine Anzahl von Intellektuellen hervorbringen. Unter Intellektuellen verstehe ich in diesem Zusammenhang nicht solche Personen, die sich zu allen möglichen, ihnen unter den Nägeln brennenden Themen äußern, ohne über irgendeine kompetente Wissensgrundlage zu verfügen. Vielmehr verstehe ich darunter Wissenschaftler, die sich erstens nicht sklavisch an die Grenzen ihrer Disziplin halten, die zweitens bestrebt sind, Themen aufzuwerfen, die jenseits des engeren akademischen Feldes relevant sind und diese drit2 | Siehe Fleck 1980.

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tens im öffentlichen Raum und keineswegs nur im geschützten Brutkasten der Disziplin diskutieren. Mit den klassischen Intellektuellen haben intellektuelle Wissenschaftler gemeinsam, dass sie nicht als Kollektivsubjekt für eine scientific community, ein Fach oder die Wissenschaft als solche sprechen, sondern ausschließlich für sich selbst. Sie können sich also nicht hinter irgendwelchen persönlichen oder institutionellen Autoritäten verstecken und nehmen sogar potentiell in Kauf, sich mit ihren Ansichten gegen die Mehrzahl der Fachkollegen zu stellen. Und schließlich teilen die intellektuellen Wissenschaftler mit den Intellektuellen den Habitus der ungefragten Einmischung, die sich vom Experten grundsätzlich dadurch unterscheidet, dass dieser seine Expertise nur im Auftrag von erstellt. Eine solche Definition verstehe ich nicht als Einschluss- oder Ausschlussinstrument, mit dem sich Wissenschaftshistoriker und andere Geisteswissenschaftler in die eine oder andere Rubrik sortieren lassen. Mir geht es nur darum, einige Optionen zu benennen, die ein sinn- und verantwortungsvolles Reden an den Grenzen von Natur- und Geisteswissenschaften ermöglichen können. Auch wenn ich die pessimistische Einschätzung von Shapin nicht vollständig teile, so bin ich allerdings der Meinung, dass die Wissenschaftsgeschichte sich am öffentlichen Diskurs beteiligen sollte, ja, dass sich ein guter Teil ihrer gegenwärtigen Legitimation aus dieser Beteiligung ableitet. Der Anspruch sollte nicht geringer veranschlagt werden als in der Weise, dass eine historische Perspektive die Beurteilung gegenwärtiger Diskussionen in und um die Naturwissenschaften zu verändern vermag. Selbstverständlich trifft das nicht für alle Bereiche des Wissens zu, und das muss auch gar nicht unbedingt sein. Doch in kontrovers diskutierten Feldern wie der Evolutionsbiologie oder der Gentechnologie, den Neurowissenschaften oder im Klimawandel stellt der Verzicht auf historische Vergleiche und Verweise auf frühere Ähnlichkeiten und Unterschiede eine Verarmung der möglichen Argumente dar, die denjenigen, die ahistorisch denken, nicht einmal auffallen. Offensichtlich operieren auch andere Akteure an jenen Grenzen von Natur- und Geisteswissenschaften, an denen es um die gesellschaftliche und kulturelle Rolle bei der Entstehung, Etablierung und Verbreitung wissenschaftlichen Wissens geht. In den aktuellen Diskussionen um die Hirnforschung beispielsweise sind es die Hirnforscher selbst, Philosophen, Psychologen und Juristen, die das Wort führen, von Journalisten, Politikern oder Marketingstrategen einmal ganz abgesehen. So interessant es wäre, die Rolle all dieser Akteure genauer zu bestimmen, im Hinblick auf die Frage nach einem intellektuellen

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Wissenschaftler führt das nicht weiter. Hingegen möchte ich eine andere Frage aufwerfen, die mir für diesen Zusammenhang relevant erscheint, nämlich: können Hirnforscher qua Naturwissenschaftler und qua Angehörige der community der Neurowissenschaften überhaupt als intellektuelle Wissenschaftler sprechen? Reden sie nicht – gerade wenn sie sich an ein größeres Publikum wenden – als Kollektivsubjekte und Vertreter ihrer Disziplin, die sich auf Formeln zurückziehen wie: die Wissenschaften haben herausgefunden ... ; wir wissen inzwischen, dass ... usw.? Verstecken sie sich nicht als Individuen hinter der Autorität ihres Faches und ihrer Kollegen, selbst wenn sie in der Öffentlichkeit den Kopf hinhalten? Mit seinem im 19. Jahrhundert kolportierten Diktum: „Der Künstler ist ein Ich; der Wissenschaftler ist ein Wir.“3 wollte der französische Physiologe Claude Bernard zum Ausdruck bringen, dass ein Künstler als alleiniger Autor seines Werks anzusehen ist, während ein wissenschaftliches Werk bei allen individuellen Verdiensten das Werk eines Kollektivs ist, weil jede einzelne Arbeit auf vorangegangenen Arbeiten aufbaut. Ist ein bestimmtes Resultat oder eine Theorie richtig, so kann sich das eine ganze Wissenschaftlergemeinschaft zugutehalten. Im umgekehrten Fall wird eher ein Individuum verantwortlich gemacht, aber die Gemeinschaft hält es sich kollektiv zugute, den Fehler oder Irrtum aufgedeckt zu haben. So scharfsinnig Bernards Aphorismus auch sein mag, es liegt auf der Hand, dass allein die Vergabe eines Nobelpreises dem schlichten „Wir“ der Wissenschaften entgegensteht. Doch im öffentlichen Auftritt ist das „Wir“ ziemlich ungebrochen, und das, so meine Behauptung, ist dem Ansehen der Naturwissenschaften auf längere Sicht ziemlich abträglich. Nicht nur die Wissenschaftshistoriker, auch die Naturwissenschaftler selbst könnten sich mehr als intellektuelle Wissenschaftler und weniger als Propheten ihres Faches verstehen, um die Rolle der Wissenschaften im Leben und in der Gesellschaft genauer und kritischer zu verstehen. Einem solchen Anspruch sind die folgenden Überlegungen gewidmet, und dabei werde ich mich zunächst noch einmal genauer der Professionalisierung in der Wissenschaftsgeschichte mit besonderem Augenmerk auf den deutschsprachigen Raum zuwenden, sodann einige historisch abgeleitete Überlegungen anstellen, wie der Weg aus dem Fliegenglas möglich sein könnte. Danach werde ich mich der Lage der Naturwissenschaften selbst zuwenden und meinen Punkt an einem aktuellen Beispiel illustrieren, um in einem abschließenden Kapitel auf die Frage einer intellektuellen Wissenschaftsgeschichte zurückzukommen. 3 | Bernard 1865: 47.

A LLGEMEINE W ISSENSCHAFT | 69 Zur neueren Wissenschaftsgeschichte

Es ist eine unangenehme, aber nicht von der Hand zu weisende Einsicht, dass die Konsequenz einer disziplinären Erfolgsgeschichte nicht zuletzt darin liegt, ein unordentliches, nicht fest etabliertes Wissensfeld zu normalisieren und ihm damit einen Teil seiner Produktivität und Fähigkeit zur Überraschung zu nehmen. Dieser Prozess lässt sich gerade an kleinen Disziplinen recht gut beobachten. In den USA und in Großbritannien ist die professionelle Ausbreitung der Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsforschung vielleicht 25 Jahre alt. Sie ging Hand in Hand mit der methodischen Neuorientierung, weg von einer reinen Ideengeschichte, hin zu einer Untersuchung der Wissenschaft im Machen – eine Transformation, die vielfach als practical turn bezeichnet worden ist. Diese Veränderung lässt sich neben der inhaltlichen Neuorientierung gleichzeitig auch als Professionalisierungsschub beschreiben, mit dem die methodischen und historiographischen Ansprüche enorm gewachsen sind. Ausgefeilte, gründliche Fallstudien, große Detailtreue und Archivstudium, Vergraben in Mikroprozesse – das sind einige der wichtigsten Merkmale, die die neueren Arbeiten auszeichnen. Sie zeichnen sich durch große Souveränität aus, doch die Kehrseite dieser Entwicklung liegt darin, dass sie bisweilen nur noch schwer oder gar nicht mehr vermitteln können, wofür dieser enorme Material- und Detailaufwand überhaupt getrieben wird. Dem steht der ebenso ernsthafte und erfolgreiche Versuch der neueren Wissenschaftsgeschichte gegenüber, sich von den Naturwissenschaften selbst loszulösen. Diese Emanzipation war und ist mit dem Anspruch verbunden, die Naturwissenschaften mit ihrer Historisierung aus der monolithischen Isolation herauszuholen und in ähnlicher Weise zu beschreiben wie andere menschliche Kulturtechniken auch. Mit der erfolgreichen Durchsetzung eines solchen Anspruchs sollte die Wissenschaftsgeschichte im Prinzip auch für diejenigen von Interesse sein, die bislang um die Entwicklung der Naturwissenschaften einen Bogen gemacht haben. Man sieht sofort das Dilemma: Einerseits Hyperprofessionalismus, andererseits das Ziel, die Naturwissenschaften zum Gegenstand der Geisteswissenschaften zu machen und sich damit am öffentlichen Diskurs zu beteiligen. Natürlich gibt es keine Disziplin – nicht einmal die selbstbewusste und notorisch streitsüchtige Geschichtswissenschaft –, in der alle Vertreter öffentlich vernehmbare Wortführer wären. Aber eine Disziplin, die keine außerhalb ihrer Kreise laut werdenden Stimmen aufzubieten hat, ist über kurz oder lang wahrscheinlich zum Aussterben verurteilt. Große Disziplinen müssen sich

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aufgrund einer genügend vorhandenen kritischen Masse nicht allzu große Sorgen machen, doch für die kleinen Fächer kann die Situation schnell gefährlich werden. Ehrliches und grundsolides Arbeiten innerhalb einer Disziplin wird zwar intern honoriert, ist aber keineswegs ein Überlebensgarant, sobald irgendwelche Begehrlichkeiten von außen angemeldet werden und ein weiterer Nutzen jener Disziplin als nicht mehr erkennbar angesehen wird. Öffentliche Einmischung dagegen mag die Lebendigkeit eines Faches vorführen oder auch nur vortäuschen, wird aber intern oftmals mit Naserümpfen quittiert, selbst wenn die wissenschaftliche Solidität durch den Ausflug ins freie Gelände gar nicht tangiert wird (was bisweilen allerdings vorkommt). Allein aus überlebenstechnischen Gründen ist es für eine Disziplin also ungünstig, wenn sie nur auf professionelle Ausdifferenzierung oder nur auf öffentliche Präsenz setzt. Es muss eine produktive Mischung zwischen beiden geben, eine permanente Bewegung, vielleicht sogar Unruhe, die eine Art Motivationsgenerator darstellt, der vor Erstarrung und Resignation bewahrt. Eine solche Motivation ist auch dringend notwendig. Der angloamerikanische Import der neueren Wissenschaftsgeschichte in das deutsche juste milieu hat in einer Hinsicht nicht gut funktioniert: Die akademische Implementierung ist weitgehend ausgeblieben. Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsforschung sind in Deutschland alles andere als erfolgreich an den Universitäten verankert. Trocken stellt der Wissenschaftsrat in seinen 2006 veröffentlichten „Empfehlungen zur Entwicklung und Förderung der Geisteswissenschaften“ fest, dass die ohnehin nicht allzu zahlreichen Stellen in der Wissenschaftsgeschichte gegenwärtig auch noch abgebaut werden, was im Widerspruch stehe zu ihrem Potential „zur Integration geistes-, technik- und naturwissenschaftlicher Fragestellungen, dessen Bedeutung auch künftig weiter zunehmen wird“.4 Daraus darf man wohl schließen, dass die Erneuerung der Wissenschaftsgeschichte in einer anderen Hinsicht durchaus erfolgreich war. Sie scheint nämlich nachhaltig die Erwartung geweckt zu haben, eine Brücke zwischen den verschiedenen Wissenschaftskulturen bauen zu können. Der Bedarf, so möchte man meinen, ist also vorhanden, und dennoch gestaltet sich die Integration viel schwieriger, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Eine Vermittlung zwischen den Geistes- und den Naturwissenschaften herzustellen ist eine gute Sache, aber was heißt das konkret? In erster Linie vermutlich, den Ansprüchen zweier Wissenschaftskulturen zu genügen. Gegenstand der Wissenschaftsge4 | Wissenschaftsrat 2006: 65.

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schichte sind die Naturwissenschaften, und das setzt voraus, sich in der Sache auszukennen; doch ihre Methode, insbesondere die Art und Weise der Fragestellung, ist geisteswissenschaftlich. In dieser doppelten Herausforderung liegt eine Schwierigkeit, die die besondere Anfälligkeit für Hyperprofessionalismus in diesem Fach ausmacht, gerade weil von den beiden Kulturen immer wieder der Vorwurf erhoben wird, die Wissenschaftsgeschichte sei als akademische Disziplin nicht so ernst zu nehmen, dass man sie auch an den Universitäten etablieren müsse. Um nur ein konkretes Beispiel zu benennen: Als vor ungefähr zehn Jahren im Rahmen der sogenannten Science Wars selbsternannte Verteidiger der Naturwissenschaften den Vorwurf an Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsforschung richteten, sie beherrschten erstens ihren Gegenstand nicht und zweitens unterminierten sie in wissenschaftsfeindlicher Absicht den Geltungsanspruch der Wissenschaften, hatte das nicht zuletzt den Effekt, dass Wissenschaftsforscher dazu tendierten, ihre Forschungsprojekte zu einer uneinnehmbaren Festung auszubauen. Das ging Hand in Hand mit dem Verlust jenes intellektuellen Mutes, gewagte, spekulative oder gar provozierende Thesen zu formulieren und diese auch in einem öffentlichen Raum zu vertreten. Weniger in Deutschland, wo Alan Sokal und Jean Bricmont mit ihren armseligen Attacken kaum punkten konnten, wohl aber im angloamerikanischen Raum hat man den Eindruck gewonnen, dass gerade die jüngeren Forscherinnen und Forscher sich hinter Gelehrsamkeit und Professionalität verschanzen.5 Ich habe dieses etwas kritische Beispiel gewählt, weil es eine gewisse Widersprüchlichkeit der Wahrnehmung hinsichtlich der aktuellen und durchaus verständlichen Erwartungen an die Wissenschaftsgeschichte als Disziplin mit Brückenkopffunktion offenbart. Einerseits ist diese Mischung aus Hyperprofessionalität und Furchtsamkeit zu konstatieren, andererseits ist die Wissenschaftsforschung insgesamt in den letzten Jahren allgemein als ein schöner Kopf wahrgenommen worden, und dabei hat man übersehen, dass unterm Kopf kein Körper ist. Das darf und soll kein Anlass für ein Lamento oder eitle Selbstbespiegelung sein, sondern muss zu einer Bestandsaufnahme über die Möglichkeiten und Perspektiven führen. Alles andere wäre unverantwortlich, denn das Verhältnis zwischen Geistes- und Naturwissenschaften gehört zu den zentralen Themen, die die Gegenwart und Zukunft der zivilisierten Gesellschaften betreffen. Hyperprofessionalismus kann nicht die Antwort auf die vorhandenen Probleme sein, 5 | Zu den Science Wars siehe die Überblicke von Labinger/Collins 2001; Scharping 2001 sowie Carrier et al. 2004.

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sondern nur eine offene, explorative und damit auch risikobehaftete Wissenschaft, die bewusst in Grauzonen und Grenzbereichen operiert. Das ist leicht gesagt und schwer getan, denn selbstverständlich kann eine intellektuelle Wissenschaft nicht von einem Habitus allein leben. Sie bedarf auch theoretischer Grundierungen, die ich im folgenden Teil historisch umreißen möchte, und das heißt – wieder einmal –, von jener Zeit auszugehen, die wie keine andere für das moderne Bildungs- und Universitätssystem in Deutschland verantwortlich ist.

Über das Allgemeine

Im Jahre 1802 hielt der 27-jährige Schelling in Jena seine „Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums“, die mit am programmatischen Anfang der Blüte der deutschen Universitäten im 19. Jahrhundert stehen. Schon ein oberflächlicher Blick in das ein Jahr darauf erschienene Buch belehrt darüber, dass es bei Schelling eine Trennung in Geistes- und Naturwissenschaften nicht gibt. Natur und Geschichte sind bei ihm keine Gegensätze, sondern Bestandteile jener Doppelgestalt, in der das Absolute als „ein und dasselbige erscheint“.6 Die eigentlichen Gegensätze im Hinblick auf die Art und Weise, wie das wissenschaftliche Geschäft zu betreiben sei, sind das Allgemeine und das Spezielle. Das Spezielle, so könnte man vereinfachend sagen, stellt für Schelling die nützlichen oder die Brotwissenschaften dar, die das Leben erleichtern und die kaum mehr erfordern als Geschicklichkeit und Handwerkertalente. Das Allgemeine dagegen „ist die Quelle der Ideen, und Ideen sind das Lebendige der Wissenschaft“ (25). Nur das Allgemeine verweist auf die „wahre Erkenntnis des lebendigen Zusammenhangs aller Wissenschaften“ (7). Lebendigkeit oder auch „der organische Bau der Wissenschaften“ – damit übernimmt Schelling Begriffe aus der Biologie, die auf die Prozessualität und die Entwicklung des Wissens zielen. Das Allgemeine ist nicht das Abgeschlossene oder das Vollständige, dem ja nichts mehr hinzuzufügen wäre; das Allgemeine zu verfolgen bedeutet die immer wieder neue Suche nach Verbindungen, Knotenpunkten und Überkreuzungen, die die Zusammenhänge im Bereich des Wissens aufsucht und verdeutlicht, um welche Art von Zusammenhängen es sich handelt.7 Hierbei handelt es sich um einen im Prinzip unabschließbaren Vorgang, denn 6 | Schelling 1974: 100. Im Folgenden weise ich nicht jedes einzelne Zitat durch Fußnote nach, sondern stelle die Seitenzahl hinter das Zitat. 7 | Zur Bedeutung des Allgemeinen in den modernen Wissenschaften siehe Hagner/Laubichler 2006.

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„der Baum der Erkenntnis ist unermeßlich“ (9). Diese Haltung reicht bei Schelling bis in die Lehre hinein: Wer nur das vorhandene Wissen mitteilt, ohne es durch eigene Ideen, Erfindungen, Forschungen anzureichern, kann keinen Anspruch darauf erheben ein würdiger akademischer Lehrer zu sein. Man kann die Studierenden „an die ausdrücklich für ihn geschriebenen, gemeinfaßlichen Handbücher“ (27) verweisen – heute würde man sagen: ans E-learning –, den Geist der Wissenschaft werden sie dadurch nicht begreifen. Wie könnte eine Befragung des Allgemeinen und des Speziellen aus heutiger Sicht aussehen, wie ließe sich das auf das Verhältnis von Geistes- und Naturwissenschaften ummünzen? Zunächst einmal ist festzuhalten, dass sich in der rigiden Aufspaltung in Geistes- und Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert der Sieg des Speziellen abgezeichnet hat. Das Spezielle hat sein natürliches Habitat in dem, was durch den Begriff Ausbildung charakterisiert wird, also jenes hochgradig organisierte, verschulte Erlernen eines bestimmten Wissensgebietes, wodurch bestimmte Fähigkeiten und Kompetenzen vermittelt werden, die in der Gesellschaft benötigt werden – oder auch nicht. Das Allgemeine hingegen könnte man durch den Begriff der Bildung ersetzen, also jene freiwillige, auf ein sinnstiftendes Erkenntniswissen gerichtete Tätigkeit, die nicht unmittelbar auf einen bestimmten Zweck oder Nutzen gerichtet ist, die weniger direkt abfragbare Kompetenzen als vielmehr ein Wissen, einen Überblick und eine Haltung vermitteln, die gleichsam einen anderen Zugang zu den Phänomenen der Welt eröffnet. Diese idealtypische Überzeichnung der beiden Pole dürfte deutlich machen, dass heute der Bereich des Speziellen oder der Ausbildung längst nicht mehr so negativ betrachtet wird wie bei Schelling. Wir stehen dem Allgemeinen oder der Bildung wesentlich reservierter gegenüber, selbst wenn nur wenige sich wirklich trauen, sie vollständig zu verabschieden. Wenn die Diagnose, dass das Allgemeine als epistemischer und kultureller Wert unter Druck steht, nicht völlig aus der Luft gegriffen ist, dann reicht es nicht aus, in kulturpessimistischer Absicht die Anklage gegen die anderen zu richten. Gegen ein solches wohlfeiles Jammern richtete der Soziologe Helmut Schelsky bereits 1963 in seinem nach wie vor lesenswerten Werk „Einsamkeit und Freiheit neu besichtigt“ folgende scharfsinnige Bemerkung: „In dem Dualismus von Natur- und Geisteswissenschaften, der nach Hegels Tode die Wissenschaftsauffassung der deutschen Universität zu beherrschen begann, war die sogenannte Geisteswissenschaft die Erbin des philosophischen Bildungsgedankens; sie vermochte aber den philosophischen Bil-

74 | M ICHAEL H AGNER dungsgehalt des ‚absoluten Wissens‘ Schellings oder der ‚Sinnsynthese des Ganzen‘ nicht aufrechtzuerhalten, sondern schuf unvermerkt einen eigenen geisteswissenschaftlichen Bildungsgedanken; [...] er hatte den Nachteil, daß er vorwiegend auf den historischen Kulturwissenschaften beruhte und so die Naturwissenschaften prinzipiell vom Raume der Bildung ausschloß.“8

Schelskys Diagnose mag nicht mehr vollständig zutreffen, aber sie trifft doch noch viel zu sehr zu, und genau darin scheint mir einer der Kernpunkte für die nach wie vor unbefriedigende intellektuelle Lage im Verhältnis von Geistes- und Naturwissenschaften zu liegen. Der Versuch des klassischen Bildungsideals, auf diese Situation mit dem sogenannten Studium generale zu reagieren, lässt sich kaum mehr revitalisieren, ist möglicherweise auch seit jeher in seiner Wirkung überschätzt worden. Das Allgemeine könnte man aber versuchsweise als dasjenige definieren, das sich im Grenzbereich von Geistes- und Naturwissenschaften ansiedelt und diejenigen Fragen zu stellen erlaubt, denen mit der einen oder anderen Spezialisierung allein nicht beizukommen ist. Es setzt ein über die sicheren disziplinären Bestände hinausgehendes Interesse und Engagement voraus, die Bereitschaft sich einzumischen und eine klare Position zu vertreten. Für Wissenschaftler, die sich dem Allgemeinen verschreiben, gilt, dass sie sich selbst und anderen erklären können sollten, welche Rolle sie in einer sich verändernden Welt einnehmen und wie sie sich im großen Konzert des Wissens positionieren möchten. Mit Schelling gesagt: dass sie „ihre Bestimmung in der sich bildenden Welt zum voraus erkennen“ (8). Eben darin liegt eine große Stärke der intellektuellen Wissenschaft, nämlich in ihrer seismographischen Funktion für eine Beschreibung und Analyse der sich verändernden Welt, und zwar jenseits von apokalyptischen Untergangsphantasien oder utopischen Zukunftsversprechungen, wie man sie zuletzt zur Jahrtausendwende ad nauseam erleben konnte. Eine solche seismographische Arbeit ist angesichts der gegenwärtigen Lage der Naturwissenschaften auch dringend geboten. Dafür möchte ich zwei kurze Beispiele geben.

Zur Lage der Naturwissenschaften

Es dürfte ausgesprochen unüblich sein, Naturwissenschaftlern Hyperprofessionalismus vorzuwerfen. Ihr Umgang mit Daten, Instrumenten, Objekten, Theorien und Modellen kann gar nicht professionell genug sein. Es wird – zumindest in vielen Bereichen – wie selbstverständlich 8 | Schelsky 1963: 279.

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vorausgesetzt, dass ihre Forschungen nur für einige Wissenschaftler nachvollziehbar sind und dass ihre Publikationen, in hohem Maße standardisiert, in spezialisierten Journalen erscheinen. Und doch scheint eine solche disziplinenimmanente Arbeit nicht mehr auszureichen, um den enormen finanziellen und personellen Aufwand zu rechtfertigen, mit dem naturwissenschaftliche Arbeit betrieben wird. Man erwartet mehr von den Naturwissenschaften: Eine lautstarke und einflussreiche Minderheit scheint inzwischen davon auszugehen, dass die Naturwissenschaften in erster Linie der ökonomischen Prosperität eines Landes dienen sollen; eine vernehmbare Mehrheit scheint der Ansicht zu sein, dass die Wissenschaften überhaupt in engmaschigen Abständen ihre Arbeit vor Gremien, Kommissionen, Gutachtern, Politikern und der Öffentlichkeit legitimieren sollen. Wie ist es dazu gekommen, dass sich für die Naturwissenschaften in den letzten Jahren die kulturellen, sozialen und ökonomischen Koordinaten erheblich gewandelt haben? Es hat den Anschein, dass das Jahr 1989 als Kristallisationspunkt dieses Wandels zu betrachten sei. Mit dem Ende des Kalten Krieges verlor die westliche Welt ihren großen Rivalen im Osten, und damit verloren auch die Naturwissenschaften ihren festen Ankerpunkt, der sie zum führenden player einer kulturell sensibleren und offeneren, moralisch besseren Welt erkoren hatte. Es ist den Naturwissenschaften in jenen Jahren keineswegs an den Kragen gegangen. Im Gegenteil: Damals begann bekanntlich eine bis dahin beispiellose Förderung der biomedizinischen Wissenschaften, insbesondere der Neurowissenschaften und der Molekularbiologie, und zum ersten Mal seit vielen Jahrzehnten sah sich die Physik mit der Situation konfrontiert, dass sie nicht mehr als Leitwissenschaft angesehen wurde, sondern den Stab an die Lebenswissenschaften abgeben musste. Diese Veränderungen bedeuten weit mehr als nur die Umverteilung von Forschungsgeldern. Das Ideal einer reinen, zweckfreien Erkenntnis ist noch nicht auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet, doch – wie bereits angedeutet – werden der praktische Nutzen und die Anwendbarkeit des Wissens immer stärker eingeklagt. Selbstverständlich hat es auch im 19. und 20. Jahrhundert angewandte Wissenschaft im großen Maßstab gegeben, doch stets wurde sie neben die reine Wissenschaft gestellt, wobei letztere entschieden das höhere Ansehen hatte. Diese Verschiebungen sind in den letzten Jahren von mehreren Seiten diagnostiziert und im Hinblick auf ihre Konsequenzen analysiert worden, und in der Zwischenzeit scheinen auch viele Naturwissenschaftler zu der Einsicht gekommen zu sein, dass hier Veränderungen im Gange sind, die die Praxis ihrer Wissenschaft

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grundlegend verändern, und zwar in einer Weise, die mehr als nur ein unbestimmtes Unbehagen auslöst. Wenn die Kriterien für wissenschaftlichen Erfolg vornehmlich in so genannter Drittmitteleinwerbung, Zitationshäufigkeiten, Rankingtabellen und Unternehmensgründungen aus der Universität heraus bestehen, sieht es für risikoreiche, nicht antizipierbare, auf Neugierde, Intuition und Vertrauen gründende Forschung nicht mehr gut aus. Vielleicht liegt die Zukunft in der Verabschiedung dieser Kategorien, vielleicht hat die Wissenschaft ihre seit ungefähr 300 Jahren gültigen Werte und Vereinbarungen weitgehend über Bord zu werfen. Immerhin hat kaum eine menschliche Kulturtechnik ein automatisch verlängerbares Abonnement auf Ewigkeit, die Wissenschaft schon gar nicht. Doch genau diese Fragen müssen in kompetenter, kontroverser und parteinehmender Weise diskutiert werden. Unterschiedliche Wissenschaftsstile sollten artikuliert und auch verteidigt werden, bevor sie der einen oder anderen Managementplanung zum Opfer fallen. Solche Diskussionen und Interventionen zählen zur Aufgabe einer intellektuellen Wissenschaft, wobei die Polyphonie der Stimmen hier durchaus erwünscht ist, gerade weil so unterschiedliche Bedürfnisse, Werte und Interessen im Spiel sind. Dass die Naturwissenschaftler selbst für diese Aufgabe bislang nicht allzu gut gewappnet sind, zeigt sich recht unverblümt in der Art und Weise, wie sie mit der breiteren Vermittlung des naturwissenschaftlichen Wissens umgehen. Möglicherweise im Zusammenhang damit, dass die Naturwissenschaften nicht mehr über die gleiche gesellschaftliche Legitimation verfügen wie zu Zeiten des Kalten Krieges, hat es, von Großbritannien und den USA ausgehend, eine breite, nach wie vor anhaltende Initiative zum public understanding of science gegeben. Seitdem sind die Naturwissenschaften tatsächlich viel mehr in der Öffentlichkeit präsent, aber etwas fehlt auf geradezu eklatante Weise: Es existiert höchstens in Ansätzen eine öffentliche Diskussionskultur. Dabei gibt es durchaus die Ansicht, dass solche Diskussionen überflüssig sind, weil ohnehin nur viele Worte gemacht werden, die aber zu keinem konkreten Ergebnis führen. Eine solche Haltung hat es vermutlich auch mit sich gebracht, dass viele Naturwissenschaftler Intellektuellen und Intellektualität gegenüber eine eher negative Einstellung haben. Doch diese Abwehrhaltung hat die Naturwissenschaften möglicherweise in ein Abseits manövriert, aus dem nur schwer herauszufinden ist. Grundlegende Debatten, in denen Naturwissenschaftler sich und andere über ihre Lage verständigen, und die jenseits vollmundiger Versprechungen eine neue Orientierung zu schaffen vermögen, haben kaum stattgefunden.

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Dagegen ist das Denkmuster des public understanding of science anders gestrickt. Es geht um öffentliche Akzeptanz für die Naturwissenschaften, die auf Affirmation baut. Die dem zugrunde liegende Logik ist einfach: Man geht von einer Sicherheit und Vollkommenheit des Wissens aus, die eine kritische Beurteilung oder Diskussionsoffenheit gar nicht erst zulässt. Das Wissen, das im öffentlichen Raum präsentiert wird, ist – rühmliche Ausnahmen bestätigen die Regel – eine Art Leistungsshow analog zur Industriemesse. Eine solche Darstellung hat ihre Berechtigung. Keiner sozialen Gruppe oder Institution ist das Recht verwehrt, für sich selbst Werbung zu machen. Nur entspricht sie nicht ganz der Realität der Naturwissenschaften. Ihre zum Teil heftigen Auseinandersetzungen führen Naturwissenschaftler nach wie vor zu oft hinter verschlossenen Türen. Dadurch gewinnt die intellektuelle Öffentlichkeit fälschlicherweise den Eindruck, als würden sie etwa in Fragen der Gentechnologie, der Anwendung von Stammzellen oder der kognitiven Neurowissenschaften in geschlossener Front sprechen. Anstatt die Unterschiede zu thematisieren und auszutragen, werden öffentliche Diskussionsforen veranstaltet, die entlang der Linie der zwei Kulturen funktionieren, als ob sich die Naturwissenschaftler im Gegensatz zum Rest der intellektuellen Welt, insbesondere Juristen, Philosophen und Theologen, befänden. Das ist nicht einmal im 19. Jahrhundert der Fall gewesen, und heutzutage schon gar nicht. Erst wenn die Kontroversen und Kontingenzen innerhalb der Naturwissenschaften vermehrt den Weg in die Öffentlichkeit finden, werden die Hoffnungen, die sich an ein allgemeineres Verständnis knüpfen, auch Früchte tragen. Erst dann, wenn mehr Naturwissenschaftler bereit sind, bei der Einschätzung der wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Konsequenzen der eigenen Forschungen das breite Feld zwischen optimistischen Verheißungen und nüchtern abwehrender Entzauberungsrhetorik genauer zu erkunden, werden sie das Gehör finden, das sie bisweilen so bitter vermissen. Der Preis dafür wird sein, dass die Naturwissenschaften nicht mehr so gefestigt und unantastbar dastehen, was möglicherweise zu einer Revision bestimmter Deutungsansprüche führen wird, doch wirkt sie vielleicht auch weniger monolithisch und bedrohlich.

Schluss

Die eben skizzierten Beispiele der Naturwissenschaften nach 1989 und ihrer öffentlichen (Selbst-)Darstellung sollten zwei Dinge verdeutlichen: erstens besteht nach wie vor ein dringender Bedarf an

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selbstreflexiver Arbeit innerhalb der Naturwissenschaften, und zwar aus dem schlichten Grunde, weil in einer Phase des Wandels der sozialen, ökonomischen und kulturellen Bedingungen, unter denen Wissenschaft stattfindet, eine Befragung und eben auch Verteidigung oder Modifikation der eigenen Werte und Kategorien, Theorien und Praktiken notwendig ist. Unterbleibt diese Arbeit, gibt eine Wissenschaft ihren kollektiven Handlungsspielraum preis. Insofern scheint es mir durchaus angemessen zu sein, bei den aktuellen Naturwissenschaften eine unproduktive Mischung aus Hyperprofessionalismus und Hyperaktivismus im Hinblick auf öffentliche Akzeptanz zu konstatieren. Zweitens kann die Aufgabe der Wissenschaftsforschung nicht darin bestehen, diese beklagenswerte Leerstelle zu besetzen. Natürlich ist sie nicht die rhetorische Dienstleistungsfirma, die einer naturwissenschaftlichen Sprachlosigkeit Abhilfe leistet. So, wie ich sie verstehe, beschäftigt sie sich mit den Bedingungen für die Entstehung, Entwicklung, Zirkulation und Veränderung von Wissen in unterschiedlichen sozialen Repräsentationsräumen. Dabei orientiert sie sich an Praktiken, Diskursen, Medien, materiellen und visuellen Repräsentationen, Werten und Symbolen, glaubt aber nicht, dass in einem einzelnen dieser Aspekte eine apriorische Schlüsselkraft verborgen liegt. Die Historisierung oder, auf heute gemünzt: die gesellschaftliche Einbettung der wissenschaftlichen Praxis bzw. Erkenntnis ist – und damit komme ich zum Ausgangspunkt zurück – kein Selbstzweck der Gelehrsamkeit. Hyperprofessionalismus ist ja nichts anderes als eine kleinteiligere, vornehmere Beschreibung dessen, was Nietzsche ehedem als Bildungsphilisterei angeprangert hat.9 Intellektuelle Wissenschaft versucht sich denjenigen Fragen zu stellen, die die Zeitgenossen bedrängen, versucht Probleme aufzugreifen oder überhaupt erst sichtbar zu machen. Dabei geht es nicht, wie das von Experten üblicherweise erwartet wird, um Rezepte mit schneller Wirkung. Zweifellos umgeben uns zahlreiche Probleme, bei denen eine rasche Lösung wünschenswert wäre, aber in vielen Fällen stellt sich auch heraus, dass solche Lösungen nicht ohne weiteres zu haben sind. Deswegen sind Geduld und Beharrlichkeit eine der Haupttugenden der intellektuellen Wissenschaft, und das bedeutet auch, der Komplexität der Phänomene Rechnung zu tragen und sie nicht auf einen zur Unkenntlichkeit verstümmelten kleinen Nenner zusammen zu stauchen. Dazu ein abschließendes Beispiel aus meinen eigenen Forschungen zur Geschichte der kognitiven Neurowissenschaften. In meinen Untersuchungen bin ich von der These ausgegangen, dass dieser Teil der Hirnfor9 | Nietzsche 1980.

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schung in den letzten 200 Jahren eine bestimmte Art von Kultur darstellt. Darunter ist zu verstehen, dass die epistemische Praxis und damit die Art und Weise, wie Gehirne wissenschaftlich bearbeitet werden, mitgeprägt ist durch Werte und Symbole, Konventionen und Vorannahmen, ein immer wieder verblüffendes Vertrauen in technologisch evozierte Repräsentationstechniken und ein überschaubares theoretisches Handwerkszeug, das oftmals nicht so neu ist, wie es gern daherkommen möchte.10 Wenn man weiß, dass die komplexen und kontroversen Fragen von Willensfreiheit und zerebraler Determination, von Gehirn und Maschine oder von Gehirnzentren für Spiritualität, Lustempfinden oder Altruismus in der Vergangenheit bereits mehrfach erbittert debattiert worden sind, dann hat man zwar keine einfache Lösung auf diese Fragen parat – sofern es diese überhaupt gibt. Aber man ist sehr wohl in der Lage, sich an solchen Debatten mit weniger Schaum vorm Mund zu beteiligen, sie nüchterner und gelassener zu betrachten, eben weil man ihre soziokulturellen Verankerungen erkennt. Kurz gesagt, Historisierung ist ein Akt der Entzauberung und gehört damit zum Geschäft einer wohlverstandenen Aufklärung. Damit komme ich abschließend noch einmal auf Schellings Forderung zurück, dass jede Wissenschaft in der sich bildenden Welt ihren Ort bestimmen und diesen sich selbst und anderen erklären muss. Im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften haben die Geisteswissenschaften zu lange das große Bildungserbe hinter sich geglaubt und nicht gemerkt, dass es irgendwann nicht mehr da war. Seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts hat die so genannte Kompensationsthese à la Joachim Ritter und Odo Marquardt die Bemühungen um ein Verständnis der Naturwissenschaften als Kultur eher stillgestellt als befördert. Nicht zuletzt diese selbstverschuldete Askese erklärt den zeitweise außerordentlichen Erfolg eines so provozierenden Denkers wie Paul Feyerabend in den siebziger und achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Seine These, dass die Menschen mit ihrem unbedingten Glauben an die Naturwissenschaften seit der Aufklärung von einer Unmündigkeit in die nächste geschlittert sind, war angesichts eines fröhlichen Positivismus und eines unreflektierten Fortschrittsoptimismus bitter nötig, auch wenn seine Begründungen für diese These nicht gerade sehr ausgefeilt waren.11 Seit Feyerabends Zeiten haben sich neue, grenzerkundende Wissenskulturen aufgetan, die jedoch erst einmal dieses offene, explorative, risikobehaftete Milieu schaffen mussten, in dem das Allgemeine als epistemischer Wert 10 | Hagner 2004; 2006. 11 | Siehe Feyerabend 1976 und in pointierter Kürze Feyerabend 1982.

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gepflegt wird. In diesem Grenzbereich von Natur- und Geisteswissenschaften geht es darum, intellektuelle Wissenschaft zu betreiben, die darauf hinausläuft, eine jeweils neu zu bestimmende Synthese zu schaffen von Gelehrten- bzw. Spezialistenwissen und Eingrenzung sowie von einer allgemeinen, distanzierenden Perspektive, die sich bewusst ist, dass Wissenschaft jeweils in einem kulturellen, politischen und ökonomischen Zusammenhang stattfindet. Wenn sich ein schärferes Sensorium dafür ausbildet, wie jene Zusammenhänge sich formieren und auch wieder auseinander brechen; wenn Geistes- und Naturwissenschaftler genauer wissen, welche Positionen und Funktionen die verschiedenen Wissenschaften in einer Gesellschaft haben (so wie sie es ja auch bei politischen Parteien, der Unterhaltungsindustrie oder der Börse wissen oder wenigstens zu wissen meinen), könnte das in hohem Maße dazu beitragen, die Bedeutung der Wissenschaften neu und anders zu legitimieren und kritisch zu hinterfragen, als es bislang geschehen ist.

Literaturverzeichnis Bernard, Claude (1865): Introduction à la médecine expérimentale. Paris: Garnier-Flammarion. Carrier, Martin et al. (Hrsg.) (2004): Knowledge and the World: Challenges beyond the Science Wars. Heidelberg: Springer. Feyerabend, Paul K. (1976): Wider den Methodenzwang. Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Feyerabend, Paul K. (1982): Die Aufklärung hat noch nicht begonnen. In: Paul Good (Hrsg.), Von der Verantwortung des Wissens. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 24-40. Fleck, Ludwik (1980): Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Hagner, Michael (2004): Geniale Gehirne. Zur Geschichte der Elitegehirnforschung. Göttingen: Wallstein. Hagner, Michael (2006): Der Geist bei der Arbeit. Historische Untersuchungen zur Hirnforschung. Göttingen: Wallstein. Hagner, Michael u. Manfred Laubichler (2006): Vorläufige Überlegungen zum Allgemeinen. In: dies. (Hrsg.), Der Hochsitz des Wissens. Das Allgemeine als wissenschaftlicher Wert. Zürich/Berlin: Diaphanes, S. 7-21. Labinger, Jay A. u. Harry Collins (Hrsg.) (2001): The One Culture? A Conversation about Science. Chicago: The University of Chicago Press. Nietzsche, Friedrich (1980): Unzeitgemäße Betrachtungen II: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. In: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 1. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, S. 243-334.

A LLGEMEINE W ISSENSCHAFT | 81 Scharping, Michael (Hrsg.) (2001): Wissenschaftsfeinde?: „Science Wars“ und die Provokation der Wissenschaftsforschung. Münster: Westfälisches Dampfboot. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph (1974): Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums. Hrsg. v. Walter E. Ehrhardt. Hamburg: Meiner. Schelsky, Helmut (1963): Einsamkeit und Freiheit. Idee und Gestalt der deutschen Universität und ihrer Reformen. Reinbek: Rowohlt. Shapin, Steven (2005): Hyperprofessionalism and the Crisis of Readership in the History of Science. In: Isis 96, 238-243. Wissenschaftsrat (Hrsg.) (2006): Empfehlungen zur Entwicklung und Förderung der Geisteswissenschaften in Deutschland. Köln: Wissenschaftsrat.

IM D ISKURS : ZUR LEGITIMIERUNG DER INTELLEKTUELLEN IM 21. J AHRHUNDERT J OHANNES R OGGENHOFER

Vorbemerkung

Über den Begriff des Intellektuellen und seine historische und methodische Fasslichkeit ist schon viel und vieles gedacht, gesagt und geschrieben worden, ohne dass eine überzeugende und kohärente Bestimmung dabei erzielt werden konnte. „Von der Parteien Gunst und Hass verwirrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte“ – wie man den Intellektuellen zeichnet, ob als medienversessenen Protagonisten der chattering classes oder als mahnendes und ratendes Gewissen einer ganzen Zeit, das hängt ganz entscheidend von der Bedeutung ab, die man den Interventionen der Intellektuellen für sich selbst und für die Gesellschaft beimisst. Statt eines weiteren Versuches einer vorgängigen begrifflichen Bestimmung des Intellektuellen, die signifikant weiter kommen müsste als die geläufigen Charakterisierungen, will ich daher lieber etwas ganz und gar Abseitiges vorausschicken, nämlich einige kurze Zitate aus dem Artikel „intellectuel“ in Étienne Souriaus Vocabulaire d’esthétique (1990; 1999). Offenkundig geht es in dem Artikel nicht um den oder die Intellektuellen, sondern um das Adjektiv „intellektuell“, das u. a. in der Fügung „art intellectuelle“ vorkommt: „INTELLECTUEL – Qui relève de l’intelligence, faculté de penser les rapports (qu’il s’agisse de comprendre des relations, où d’établir de nouvelles, soit en les découvrant, soit en les inventant). [...] Le terme indique donc une présence priviligiée et une importance des préoccupations conceptuelles et théoriques; il n’implique aucunement l’absence d’autres préoccupations. Un préjugé absurde et malheureusement fort repandu veut que l’intellectuel exclue l’affectivité et la sensualité – comme si l’on ne pouvait développer d’un côté qu’atrophiant d’un autre. [...] Les faits montrent pourtant l’existence d’esprits riches et équilibrés, capables d’aller fort loin dans bien des direc-

84 | J OHANNES R OGGENHOFER tions variées. Le grand développement des tendances intellectuelles ne suppriment aucunement, dans la domaine artistique, les jouissances de la sensation (plaisir de la couleur, de la matière de l’œuvre, plaisir charnel des sons articulés), ni de l’affectivité, car on peut s’enthousiasmer pour une idée et éprouver de grands plaisirs à la perfection des formes et des structures. Mais l’art intellectuelle intègre tout cela dans des organisations fermes, dont il valorise la pureté et la rigeur.“1

Die Apologie der Sinnlichkeit und der Emotionalität im Intellektuellen gegen den oft unterstellten sterilen Rationalismus der Intellektualität, die feste Fügung des gedanklichen Entwurfs und seiner Ausführung sowie das Inszenieren (valoriser = zur Geltung bringen) von Reinheit und Rigorosität halten sich als Stereotypen intellektueller Aktivitäten (nicht nur in der Kunst) fast das ganze 20. Jahrhundert hindurch. Eine gewisse Theorielastigkeit und somit prinzipielle Wissenschaftlichkeit wird dem Intellektuellen grundsätzlich zugeschrieben. Die Assoziation zur theorieorientierten Wissenschaft legt aber gerade ab dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts die Frage nahe, ob nicht auch für das Intellektuelle die Epoche der grundlagenorientierten Radikalität zu Ende geht, und die Weiterentwicklung der Intellektuellenfunktion in der Gesellschaft und der intellektuellen Interventionsformen in deutlich veränderter Form erfolgt. Die Intervention der Intellektuellen scheint jedenfalls sehr viel mehr von einem partikularen, sachlichtechnischen Problemzugang als von einer breiten gesamtgesellschaftlich politisierenden Zugangsweise geprägt zu werden. Praktischer Ausdruck dieser Veränderung ist das Aufkommen (und Avancieren) des Typs des Experten-Intellektuellen. Im Folgenden versuche ich, etwas genauer zu erfassen, was den klassischen Intellektuellen und den Experten-Intellektuellen jeweils kennzeichnet. Ansatzpunkt ist dabei die Untersuchung der argumentativen Grundstrukturen. Meine Überlegungen werden von zwei Leitfragen angetrieben: 1) Ändern sich im Übergang vom klassischen zum Experten-Intellektuellen die argumentativen Grundstrukturen? 2) Ändern sich die Legitimierungen und Legitimierungsstrategien der Intellektuellen in diesem Prozess?

Sollten sich beide Frage mit „ja“ beantworten lassen, so hielte ich den Schluss für gerechtfertigt, dass es sich bei diesem „Übergang“ gar nicht um eine Transformation, sondern vielmehr um einen Bruch handelte und die allem zugrunde liegende Frage nach der sozialen Rolle 1 | Souriau: 1990; 1999 [zit. Ausg.]: 894.

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der Intellektuellen in der Wissensgesellschaft in der Tat neu gestellt werden müsste.

Die intellektuelle Intervention als Gleichnis und Plädoyer am Beispiel des klassischen politischen Intellektuellen

Innerhalb einer jeden differenzierten Gesellschaft lassen sich Bildungseliten ausmachen. Ihre Mitglieder können ganz allgemein als „Intellektuelle“ bezeichnet werden oder kollektiv als „Intelligenz“ (so noch Meyers Großes Taschenlexikon 1981). Spezifischer wird der Ausdruck aber spätestens seit der Dreyfus-Affäre auch für diejenigen Angehörigen der Bildungseliten verwandt, die zu einem Thema von allgemeinem Interesse öffentlich Stellung beziehen, ohne dazu professionell oder von Amts wegen verpflichtet zu sein. Bereits die DreyfusAffäre zeigt deutlich, dass die Charakterisierung „Thema von allgemeinem Interesse“ zunächst durchaus von den Intellektuellen selbst festgesetzt werden kann, allerdings sich ex post auch als tatsächlich von allgemeinem Interesse erweisen muss. Die Verurteilung von Dreyfus 1894 war zwar sachlich schon damals ein Justizskandal, aber zunächst womöglich kein Thema von allgemeinem Interesse. Als von der am 13. Januar 1898 erschienen Ausgabe der L'Aurore, die Zolas J’accuse enthielt, binnen kürzester Zeit 300 000 Exemplare gekauft wurden, wurde die Affäre zum Thema des allgemeinen Interesses und zur größten innenpolitischen Krise der Dritten Republik. Zola wie auch die anderen „Dreyfusards“ wie Jaurès, Clemenceau, Picquart waren sich ohne Zweifel sicher, dass die Affäre von allgemeinem Interesse sein müsste, weil es eben nicht nur um die zu Unrecht verurteilte Person Alfred Dreyfus ging, sondern um die grundsätzliche Frage der Stellung des Militärs und der klerikal-nationalistischen Rechten innerhalb der Republik. Dennoch wurde die Problematik der Rechtsstaatlichkeit, der Gleichheit vor dem Gesetz und der Kontrolle aller Staatsorgane durch die Öffentlichkeit nicht in Form parteipolitischer Manifeste oder philosophischer Traktate behandelt, sondern in der Analyse des konkreten Einzelfalls. Indem er den Fall akribisch aufrollt, die Fakten umfassend und im Zusammenhang darlegt2 und mit unerhörter Offenheit und rhetorischer Brillanz in der Schlusskadenz des achtfachen „J’accuse“ gegen die führenden Generalstabsmitglieder Ross und Reiter beim Namen nennt, gelingt es Zola, den Fall in 2 | Die umfassende Exposition der relevanten Fakten ist als Auftrag und Erbe der Aufklärung mithin ein Kennzeichen intellektueller Intervention von Anfang an.

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ein Gleichnis zu verwandeln, d. h. ein abstraktes und allgemeines Problem durch eine konkrete Instanz zu veranschaulichen und damit in seiner allgemeinen Bedeutung auch für eine nicht-professionelle Öffentlichkeit nachvollziehbar und bewertbar zu machen. Das argumentative Grundmuster der Gleichnisrede ist ebenso charakteristisch für den intellektuellen Diskurs wie der Bildungsstatus der aktiv Beteiligten, die Öffentlichkeit und mediale Präsenz. Das Gleichnis nicht nur als rhetorische Figur, sondern als argumentative Strategie genommen, ist ja eine indirekte Anrede: Auf der Gleichnisebene sind nicht mehr die beteiligten Mitglieder des Generalstabs angesprochen, auch wenn ihnen Zola sein „J’accuse“ noch so adressatenspezifisch entgegenschleudert, angesprochen ist in diesem offenen Brief auch keineswegs nur der Präsident der Republik, Félix Faure, angesprochen ist tatsächlich die Zuhörerschaft, das Publikum, das überzeugt und dessen Bewusstsein verändert werden soll. Die archetypische Diskurssituation der Intellektuellen ist also folgende: Es gibt einen Fall, in dem sich ein abstraktes und die Gesellschaft insgesamt betreffendes Problem konkretisiert. Weder die professionellen Akteure in diesem Fall noch die Öffentlichkeit verfügen über eine adäquate Lösung für den Fall bzw. noch nicht einmal über ein adäquates Verständnis (Bewusstsein) des Falles. Wohl aber Mitglieder der Bildungselite, die keine professionellen Akteure in dem Fall sind. Die Intellektuellen wenden sich an die Öffentlichkeit, nehmen aber darüber auch Einfluss auf die professionellen Akteure. Mag die so beschriebene Kommunikationssituation auch an die Konstellationen bei einer Gerichtsverhandlung vor einem Geschworenengericht oder an die bei einer Aufführung eines Theaterstückes erinnern, so geben diese Analogien doch keine Antwort auf die Frage, was die Rolle der Intellektuellen genau ist. Alle Prozessbeteiligten sind entweder unmittelbar (Kläger, Angeklagte, Zeugen) von dem Fall betroffen oder nehmen in einer professionellen Rolle (Rechtsanwälte, Richter, Geschworene, Fachgutachter) teil. Die Öffentlichkeit ist zwar zugelassen, für die Urteilsfindung aber nicht relevant. Kein Außenstehender kann sich im Gerichtssaal Rede- und Antragsrecht anmaßen. Ebenso wenig ist es auf der Bühne möglich, den Diskursraum des Stücks zu verlassen. Sollte ein Schauspieler sich während einer Aufführung als Intellektueller gebärden, so wäre dies entweder als Darstellung eines Intellektuellen aufzufassen (und damit genauso wenig realitätshaltig wie die Darstellung eines Arztes den Schauspieler zu einem wirklichen Arzt macht). Andernfalls handelte es sich schlicht

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um eine Störung der Aufführung. Gleiches würde auf jeden Außenstehenden zutreffen, der etwa während einer Aufführung des Don Giovanni beim fatalen Festmahl mit dem Commendatore auf die Bühne und für den Titelhelden in die Bresche springen wollte. Aber könnte man den Regisseur oder Autor als Analogon zum Intellektuellen sehen? Diese wenden sich ja an ein Publikum, um ein Urteil einzuholen, das jedes Expertenurteil der Kritiker und der Theaterprofis überbietet. Sie verlassen also die Sphäre der eigenen Professionalität und Expertise um einer allgemeinen Wirkung willen. Allerdings erfindet der Intellektuelle – im Gegensatz zum Autor – seinen Fall nicht, und – im Gegensatz zum Regisseur – inszeniert er jedenfalls unmittelbar weder den Fall noch dessen Protagonisten. J’accuse ist ja kein Roman, den Zola verfasst hätte, ebenso wenig wie Sartres Engagement gegen den Vietnam-Krieg ein Drama. Vielmehr tritt der Intellektuelle gerade aus dem institutionellen Raum seiner eigenen Professionalität, der notwendigen Fiktionalität seiner Konstrukte heraus, um seine Sicht der Dinge dem Publikum vorzustellen.3 Die Intervention des Intellektuellen ist auch keinesfalls in der Art reproduzierbar wie etwa ein Theaterstück, das jeden Abend erneut aufgeführt werden könnte. Man kann sich schlecht vorstellen, dass Zola versucht haben könnte, J’accuse zwei Wochen später erneut in L’Aurore zu veröffentlichen. Auch in dieser Hinsicht ist die intellektuelle Intervention eine konkrete, historische Handlung und nicht ein ritueller oder rein symbolischer Akt. Der Grund hierfür mag auch für die leichte Abnutzbarkeit von Intellektuellen, die sich zu oft in technisch reproduzierte Performanzsituationen wie z. B. Talkshows begeben, verantwortlich sein. Was der Grund ist, ist allerdings nicht offensichtlich. Feststellbar ist nur, dass die Intervention ihre Authentizität 3 | Ein interessanter Grenzfall ist das dokumentarische Theater, wie z. B. Heinar Kipphardts Dramen In Sachen J. Robert Oppenheimer (1964) oder Bruder Eichmann (1983). Die ästhetische Transformation von Fakten in Gleichnisse ist hier Programm und vor dem Hintergrund von Kipphardts politischen Überzeugungen könnte man die Dramen durchaus als intellektuelle Interventionen auffassen. Dennoch sieht man gerade hieran die Verschiebung, die die Zeit bewirkt: Wir lesen Zolas J’accuse heute als historisches Dokument einer gewesenen intellektuellen Intervention, eine heutige Aufführung eines Kipphardt-Dramas ist keine intellektuelle Intervention Kipphardts mehr, sondern allenfalls eine des Regisseurs. Das Kunstwerk (wenn wir das Drama als solches betrachten) unterscheidet sich vom intellektuellen Pamphlet eben dadurch, dass es seinen (historischen) Produktionskontext erinnert und sich ihm zugleich entzieht, weil es grundsätzlich für einen veränderten (also nicht mehr zeitgenössischen) Rezipientenkontext offen ist.

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verliert, wenn sie re-inszeniert wird. Wenn von der intellektuellen Intervention Authentizität gefordert wird, heißt dies ja, dass sie Zeugnis ablegen soll, so wie das authentische Kunstwerk Zeugnis für seinen Schöpfer ablegt und sein Schöpfer es beglaubigt. Ein authentisches Drama kann offenkundig re-inszeniert werden. Warum kann das eine intellektuelle Intervention nicht in gleicher Weise? Mir scheint, dass – idealtypisch – das Drama wie jedes Kunstwerk in einer wesentlichen Hinsicht eine Welt für sich, ein eigenes semantisches Universum konstituiert und gewissermaßen als Flaschenpost oder U-Boot des Autors von Aufführung zu Aufführung, von Inszenierung zu Inszenierung reisen kann, ohne in dem umgebenden Ozean (der jeweiligen historischen Wirklichkeit) je definitiv aufzugehen. Insoweit hat jedes Kunstwerk immer auch ahistorische Züge. Die intellektuelle Intervention ist aber grundsätzlich auf ein konkretes Hier und Jetzt bezogen, sie wendet sich rhetorisch an eine bestimmte gegenwärtige Zuhörerschaft. Das Gleichnis, in das sie den konkreten Fall transformiert, ist zugleich ein Plädoyer: d. h. eine wertende Handlungsempfehlung an die Adressaten. Charakteristischerweise ist allerdings die Handlungsempfehlung in einem Gleichnis nicht explizit, die Adressaten müssen sie vielmehr selbst auffassen. Zola sagt weder dem Präsidenten, er solle Dreyfus begnadigen und den Prozess neu aufrollen, noch den Franzosen, sie sollen die Machenschaften der Militärs, die die Ideale der Republik mit Füßen treten, nicht länger tolerieren. Aber schon die biblischen Gleichnisse ziehen die „Moral von der Geschicht“ im Unterschied zum Bänkelsang nicht explizit. Gerade deshalb nahm das Gleichnis, der argumentativ eingesetzte Vergleich (die similitudo) in der antiken Rhetorik (und nicht nur in der neutestamentlichen Praxis) einen besonders hohen Stellenwert im Redeschmuck (exornatio) ein. In der ältesten erhaltenen lateinischen Rhetorik, der Rhetorica ad Herennium, heißt es: „(Die andeutende Rede erfolgt) durch einen Vergleich, wenn wir irgendeinen ähnlichen Sachverhalt angeführt haben, aber nichts weiter sagen, sondern nur durch diesen Sachverhalt andeuten, was wir meinen, z. B. auf folgende Weise: ,Saturninus, vertraue nicht zu sehr auf die zahlreiche Anhängerschaft im Volke; ungerächt liegen die Gracchen tot da.‘ Diese Ausschmückung bringt manchmal sehr viel Anmut und Würde mit sich; sie läßt nämlich den Zuhörer selbst etwas vermuten, ohne daß der Redner es ausspricht.“ („per similitudinem, cum aliqua re simili allat nihil amplius dicimus, sed ex ea significamus, quid sentiamus, hoc modo: ,Noli, Saturnine, nimium populi frequentia fretus esse, inulti iacent Gracchi.‘ Haec exornatio

I M D ISKURS | 89 plurimum festivitatis habet interdum et dignitatis; sinit enim quiddam tacito 4 oratore ipsum auditorem suspicari.“)

Der Gestus der intellektuellen Intervention ist also durchaus ein rhetorisch-öffentlicher im antiken Sinne und darin von der Kommunikationsform innerhalb einer Expertenkultur verschieden. Zwei Aspekte halte ich bei der Interpretation der intellektuellen Intervention als Gleichnis und Plädoyer für weiterführend: Zum einen die Frage nach den Mechanismen, die der Extrapolationsleistung des Zuhörers zugrunde liegen, wenn er herausfindet, welche Handlungsempfehlung der Intellektuelle geben will. Wie kommt der Zuhörer dazu, zu vermuten, auf was der Intellektuelle mit seinem Gleichnis hinaus will? Und in welchem Verhältnis steht diese Vermutung zum abstrakten Problem, das durch den konkreten Fall exemplifiziert wird? Zum anderen die Frage nach der Legitimität der Interventionssituation. Warum aber sollen die Zuhörer dem Intellektuellen glauben, sein Gleichnis annehmen? Und woher nimmt der Intellektuelle das Recht, sich zur Artikulation, zur Intervention verpflichtet zu fühlen? Auf den ersteren Fragenkomplex komme ich am Ende meiner Ausführungen zurück. Zum zweiten Fragenkomplex lässt sich – die Betrachtung der Dreyfus-Affäre abschließend – Folgendes festhalten. Der Intellektuelle tritt als Gewissen, aber vor allem als Vertreter eines Wissens und einer Interpretation der Fakten, die allgemeine Gültigkeit in Anspruch nimmt und allgemeine Akzeptanz fordert, in Erscheinung. Zola zählt die Fakten des Falles auf, demonstriert die fahrlässige Urteilsfindung und die dahinter stehenden Motive. Die Argumentationsstrategie fußt nicht auf dem Appell an fundamentale oder allgemein geteilte Werte wie Humanität, Solidarität oder Barmherzigkeit (und deshalb ist Drewermann kein Intellektueller) und auch nicht auf einer charismatischen Gefolgschaftsrhetorik, sondern auf der nicht nur überzeugenden, sondern zwingenden Kraft eines zu Bewusstsein gebrachten, überprüfbaren Wissens. Die intellektuelle Intervention ist schon lange vor der Heraufkunft der Wissensgesellschaft fundamental wissensbasiert. Die Wissensbasis ist nun aber zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die intellektuelle Intervention. Die Zuhörerschaft soll ja nicht nur von der Existenz der Fakten überzeugt werden, sondern von der weitergehenden Interpretation als Handlungsempfehlung. Hierzu bedarf es der Vertrauenswürdigkeit des Intellektuellen, die ja im Zweifelsfalle größer sein muss als die Ver4 | Rhetorica ad Herennium IV 67-68.

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trauenswürdigkeit der Kritisierten (Angeschuldigten). An dieser Stelle kommen, wie ich meine, Person und Profession des Intellektuellen ins Spiel. Das Wissen und die handlungsleitende Interpretation des Intellektuellen sind umso glaubwürdiger, je mehr sie durch seine Profession und durch die Integrität und Vertrauenswürdigkeit seiner Person gedeckt sind. Zola steht eben auch für den unverstellten, „realistischen“ Blick des Literaten auf die menschliche und gesellschaftliche Wirklichkeit seiner Zeit (Profession) und für eine Persönlichkeit, die gegenüber jeder Lobby und pressure group ihre Souveränität bewahrt.

Der Experten-Intellektuelle

Wenn das Intellektuellentum – wie oben entwickelt – in ganz essentieller Weise wissensbasiert ist, heißt das zunächst, dass Expertise und intellektuelle Intervention noch nie getrennte Wege gingen, es heißt aber eben auch, dass Veränderungen im Wissenssystem, in dem, was Expertise und Professionalität im Wissen ausmacht, aller Voraussicht nach auf die Intellektuellen durchschlagen werden. Mit dem Abschied von den „großen Narrationen“, den großen Ideologien als universalen Gesamtdeutungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit, der den Übergang zur postmodernen (d. h. vor allem postindustriellen) Gesellschaft kennzeichnet, geht eine Partikularisierung und Spezialisierung gesellschaftlicher Debatten einher. Debatten über die Zukunft der Alterssicherungssysteme, der Gesundheitsversorgung oder die Verteilung von Arbeit werden nicht mehr zum Anlass für gesamtgesellschaftliche Entwürfe genommen, sondern werden als spezifische und für sich („sozialtechnologisch“ – wie Paul Nolte vielleicht sagen würde) zu behandelnde Probleme akzeptiert. Diese Partikularisierung führt offenbar zu einer deutlichen Steigerung der Rolle der Experten, insbesondere auch aus den empirisch arbeitenden Disziplinen, in den entsprechenden Diskursen. Man könnte nun fragen, ob dies nicht einfach das Ende und die Bankrotterklärung des Intellektuellentums überhaupt sei. Themen wie die Debatte um die Willensfreiheit und die Neuro- und Kognitionswissenschaften, aber auch die diversen Reformvorschläge zu den sozialen Sicherungssystemen und zur Umstrukturierung des Steuersystems werden ja in den Feuilletons auf den ersten Blick wie genuine Expertenrunden abgehandelt. Der Impetus des Zola’schen J’accuse, dass das Skandalon der Dreyfus-Affäre die Glaubwürdigkeit und damit die Existenz der Republik bedrohe, ist in keiner dieser Debatten zu finden, obwohl von den damit verbundenen Maßnahmen sicherlich

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mehr Menschen betroffen sind als ein einzelner Hauptmann und hier potentiell auch ein mindestens genauso hohes Degradierungsrisiko aufzudecken wäre. Mir scheint dabei entscheidend, dass es einen ungebrochenen Grundkonsens in der Gesellschaft gibt, die damit verbundenen Fragen tatsächlich auf der Grundlage der wissenschaftlichen Aussagen diskutieren zu können. Die Situation verändert sich sofort, wenn dieser Grundkonsens und die vorrangige Bedeutung wissenschaftlicher Expertise bezweifelt werden. Ein Blick über Europa hinaus zeigt dies sehr deutlich. Die Kontroverse um das Intelligent Design in den USA gibt ein gutes Beispiel für einen Fall, in dem die Expertenkultur selbst zur Debatte steht und intellektuelle Interventionen nicht den Charakter von Expertenrunden annehmen. Zwar sind auch in dieser Kontroverse die empirischen Wissenschaften als Basis der Wissensgesellschaft zentral, aber anders als bei den vorgenannten Debatten steht hier die Wissenschaft nicht als Klärungsinstrument und Ratgeber im Hintergrund, sondern wird selbst radikal in Frage gestellt. In Europa, wo die fundamentierende Rolle der Wissenschaft noch zum gesellschaftlichen Konsens gehört, wirkt die Debatte eher bizarr. Die intellektuelle Herausforderung besteht eher in der Analyse der Nicht-Diskutierbarkeit des Intelligent Design in Europa (und den Gründen für seine gesellschaftliche Diskussionsfähigkeit in den USA). Bislang sind – für unsere Wahrnehmung jedenfalls – die in Deutschland zu lesenden, in der Regel also nur referierten Einlassungen der Vertreter des Intelligent Design derart dilettantisch, dass genau darin die Hauptschwierigkeit einer möglichen Auseinandersetzung damit zu bestehen scheint. Es verwundert eher, dass etwa der SPIEGEL in seiner großen Titelstory in Heft 52/20055 mit keinem Wort die Problematik erwähnt, eine seit mindestens 100 Jahren historisch überholte, völlig uninteressante und anscheinend ohne jedes neue Argument ausgefochtene Debatte gänzlich ungerechtfertigt aufzuwerten. Es verwundert auch, dass als Gegenspieler zum Intelligent Design Daniel Dennett eingeführt wird, der in fast genauso peinlicher – die Frage der möglichen Grenzen des Deutungsanspruchs der Naturwissenschaften gar nicht reflektierender – Art die Evolutionstheorie als Argument für seine persönliche atheistische Überzeugung ins Feld führt.6 Zur Verteidigung der Wissensgesellschaft bedarf es jedenfalls allem Anschein nach in Europa noch keiner intellektuellen Bemühung, und zur Verteidigung des Intelligent Design und der rigorosen Infra5 | „Darwins Werk, Gottes Beitrag“, Blech et al.: 136-147. 6 | Vgl. „Süßigkeit für den Geist“, Dennett 2005, hier insbes.: 150.

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gestellung der Wissensgesellschaft hat sich – soweit unseren Medien zu entnehmen – noch bislang kein intellektueller (in unserem Sinne) Vorstoß manifestiert. Europa scheint jedenfalls weitgehend ungebrochen Wissenschaft als Basis der Wissensgesellschaft gelten zu lassen, und intellektuelle Interventionen müssen sich in diesem Rahmen situieren. Zurück also zu den Experten-Intellektuellen. Die Emotionalisierung, der sich Zola hingibt, scheint also insgesamt einem sehr viel ausgeprägteren Rationalismus und Pragmatismus gewichen zu sein. Die andere Frage ist dann, womit die Protagonisten dieser Debatten denn überhaupt noch über die klassischen Experten- bzw. ConsultantRolle hinausgehen? Die Antwort hierauf ist partiell einfach: Durch die Öffentlichkeit bzw. die Medialisierung findet etwas anderes statt als ein Expertengespräch. Es kommt ja bei unserer Thematik eben nicht nur darauf an, was einzelne Protagonisten sagen und meinen, sondern vor allem auch, was das Publikum versteht oder meint, dass die Protagonisten sagen. Intellektueller zu sein bedeutet eben, ein umfängliches soziales Handeln zu entfalten, weil erst in der Rezeption durch eine breite, d. h. vielpersonige Nicht-Experten-Öffentlichkeit der Intellektuellen-Status aktualisiert wird. Innerhalb eines Philosophenkongresses wird selbst ein Habermas wieder zum Philosophen und ein Spitzer zum Kognitionswissenschaftler, im Feuilleton können die beiden nicht mehr in ihrer bloßen Profession verbleiben. In der intellektuellen Intervention wird der Gegenstand wissenschaftlicher Expertise eben nicht um weitere, möglicherweise anders perspektivierte Expertise ergänzt, sondern ins Allgemeine, und darin Politische gewandt: Die intellektuelle Intervention soll ja gerade von allen – auch den „Laien“ – nachvollzogen werden können und nicht nur von den anderen Experten. Das ist auch der Grund, weshalb ich nicht davon ausgehe, dass die Figur des Intellektuellen in der Wissensgesellschaft schlicht obsolet ist. Die Eingrenzung der Deutungsmacht und der Orientierungsangaben der Experten-Intellektuellen entspricht auch der fehlenden Universalität einer entwickelten pluralistischen Gesellschaft. Am ehesten scheint mir daher in der Wissensgesellschaft immer dann wieder die Figur des klassischen Intellektuellen aufzutauchen, wenn eine Debatte über so etwas wie eine „Leitkultur“ entsteht, an der sich universalistische Elemente vergleichsweise leicht entfalten lassen. Wehlers Kommentare zur EU-Fähigkeit der Türkei7 sind für mich daher nicht die letzten Ausläufer einer älteren Generation von Intellektuellen und einer anderen Gesellschaftsstruktur, sondern indizieren auch in 7 | Vgl. u. a. die Beiträge von Wehler 2002-2004.

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der Wissensgesellschaft einen Ort universalistischer Orientierungsansprüche. (Der Grund für den „Ausbruch“ aus der Experten-Intellektualität scheint mir in diesem Fall auf der Hand zu liegen: Die breite Öffentlichkeit hat kein Vertrauen in die „sozialtechnologische“ Machbarkeit oder Bewältigbarkeit dieses Beitritts.) Ein anderer Aspekt in der Kommunikations-/Argumentationsform der Experten-Intellektuellen ist der besondere Ausweis (sozusagen die Eintrittskarte in den öffentlichen Ring) durch die Expertise. Zola konnte sich die nötige Expertise in der Dreyfus-Affäre noch verschaffen, ohne Staatsanwalt oder Ermittlungsrichter zu sein. In einer Debatte über Willensfreiheit oder über Steuerreform ist sehr viel mehr professionelle Expertise erforderlich, um adäquat und mit dem Anspruch, Wissen an die Zuhörer heranzutragen, öffentlich diskutieren zu können. Einerseits fördert auch das die Rationalisierung der Debatten, andererseits scheint mir hier der Grund für eine gewisse Entpersonalisierung der Intellektuellenrolle zu liegen. Für das professionelle Expertenwissen muss der Intellektuelle eben nicht mit der Integrität seiner ganzen Person haften, die Integrität des professionellen Expertenwissens wird vom Diskurs vorausgesetzt. Die Person tritt gegenüber Rolle und Expertise stärker in den Hintergrund. Ganz aufhebbar scheint aber die Personalität des Intellektuellen in der Regel nicht zu sein, jedenfalls scheinen Kollektivorgane keine vergleichbare Medienwirksamkeit entfalten zu können (man denke etwa an den Fall der Grünen und deren programmatischer, aber uneingelöster Abkehr von jeder Personalisierung in Führungspositionen). Die Funktion des Intellektuellen in der Wissensgesellschaft ist nicht nur mit den Transformationen der Wissensgenerierung und -legitimierung, sondern auch mit den veränderten Bedingungen und Anforderungen der Medialisierung von Wissenschaft und Wissen eng verknüpft.

Die Verknüpfung von Intellektualität und Common Sense in der Wissensgesellschaft

Ist damit die Rolle des Intellektuellen in der Wissensgesellschaft als telegener Experte neu beschrieben? Hat sich der Intellektuelle vom Gewissen der Nation zum Mediator in Sachen public understanding of science gewandelt?

94 | J OHANNES R OGGENHOFER Gleichnis beim Experten-Intellektuellen?

Mit diesen Fragen schließe ich an die Eingangsfragen meiner Überlegungen an. Als rhetorische (kommunikative) Grundsituierung und argumentative Grundstruktur des klassischen Intellektuellen habe ich das faktenbasierte Gleichnis herausgearbeitet. Wenn diese Kommunikation mit einer Öffentlichkeit über den Typus des Gleichnisses in der Wissensgesellschaft nicht mehr möglich ist, dann hätte sich die Funktion des klassischen Intellektuellen erledigt. Mir scheint es aber eher so zu sein, dass sich der Rahmen für die erfolgreiche Transformation eines Falles in ein Gleichnis gewandelt hat und damit eine neue, der Wissensgesellschaft angemessene Form von Intellektualität entsteht. Die Funktion des Gleichnisses ist es, etwas Abstraktes und Komplexes für den Nichtexperten, den „Laien“, der auf den „gesunden Menschenverstand“ (Common Sense) rekurriert, anschaulich und handhabbar zu machen. Das Problem der Handhabbarkeit des komplexen Wissens der Wissensgesellschaft für die Laien ist nun aber alles andere als gelöst, und hier sehe ich die eigentliche – aber wie die Wissenschaftsgesellschaft in statu nascendi befindliche – künftige Rolle der Experten-Intellektuellen. Experten-Intellektuelle im Vollsinn des Wortes sind solche, die ihr Expertenwissen wiederum in ein Gleichnis verwandeln und damit für die Allgemeinheit griffig machen können, gerade um eine bewusste Partizipation dieser Allgemeinheit an den Entscheidungsprozessen und den Entwicklungen der Gesellschaft zu ermöglichen. In Ansätzen scheinen mir Manfred Spitzer für die Pädagogik und Gerhard Roth für die Justiz eine solche Mediation und Metamorphose von Expertenwissen vorzunehmen und paradigmatisch den Typus des Experten-Intellektuellen zu verkörpern. Man sieht aber gerade auch an diesen Fällen leicht, wie schwer das ist, und dass man dabei möglicherweise sogar seinen Anerkennungsstatus innerhalb der scientific community in Gefahr bringt. Die mediale Prominenz, die zentral zur Rolle auch des Experten-Intellektuellen gehört, produziert Spannungen in der wissenschaftlichen Einbettung, weil mediale Präsenz nicht ohne Komplexitätsreduktion gegenüber der innerwissenschaftlichen Betrachtung und Diskussion eines „Falles“ (eines Themas) möglich ist. Diese Spannung wird bereits bei Initiativen zum public understanding of science deutlich spürbar. Ein wesentlicher Teil des Medienerfolges von Kognitionswissenschaftlern wie Spitzer und Roth gründet sich offensichtlich auch auf ihre Kompetenz in der Vermittlung wissenschaftlicher Er-

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kenntnisstände an ein breites Publikum. Dies ist eine wichtige Aufgabe in der Wissensgesellschaft und eine Voraussetzung für intellektuelle Interventionen, denn die Rezipienten einer intellektuellen Intervention können den Sinn des dargestellten Falles nur erfassen, wenn sie über eine hinreichende gemeinsame Wissensbasis mit dem Intellektuellen verfügen. Die Wirkung der Experten-Intellektuellen beruht ja gerade nicht nur auf ihrem Wissensvorsprung, ihrer rhetorischen Brillanz und ihrer Integrität, sondern vor allem auf der Überzeugungskraft des Falles, ihrer Beispiele. Der legitimatorischen Funktion der Wissenschaft kommt in den gesellschaftlichen Diskursen eine zentrale Rolle zu: Gerade Wissenschaft dient als Ausweis von Wahrheit und Unparteilichkeit und kann deshalb leicht zur Grundlage eines allgemeinen Handlungskonsenses gemacht werden. Je differenzierter nun die Wissensgesellschaft wird, desto mehr haben nur noch Experten überhaupt eine Chance, eine solche Transformation wissensbasiert zu leisten und die Ergebnisse der Wissenschaften einigermaßen adäquat an eine breite Bevölkerung zu vermitteln. Aus diesem Grunde gehört die Kommunikation der Wissenschaft an das soziale und politische Umfeld zu den Aufgaben der Wissenschaft in der Wissensgesellschaft. Ich denke nicht, dass auf Dauer diese Aufgabe ausschließlich von Wissenschaftsjournalisten geleistet werden kann. Eine adäquate Komplexitätsreduzierung und Veranschaulichung kann und muss verantwortlich von den Wissenschaftlern selbst vorgenommen werden. Public understanding of science ist also eine zentrale Voraussetzung für die Entstehung und die Wirkung des Experten-Intellektuellen in der Wissensgesellschaft. Intellektuelle Interventionen gehen aber immer über das public understanding hinaus, indem sie nicht bloß Inhalte vermitteln, sondern mit politischen Fragestellungen und Problemen verknüpfen. Wenn sich Spitzer bildungspolitisch, Roth rechtspolitisch oder Wehler außenpolitisch äußern, so verlassen sie damit jeweils auch die Sphäre ihrer genuinen Expertise, da in die Werturteile und normativen Ansprüche (Kreativitäts- und Leistungserziehung, Rückfallprävention, europäische Identitätssicherung) Voraussetzungen einfließen, die aus ihrer wissenschaftlichen Forschung allein nicht abgeleitet werden können. Anders als Holk Cruse8 sehe ich darin aber nicht ein Zusammendenken von Deutungsmöglichkeiten aus verschiedenen Fachkompetenzen (z. B. Neurologie und Kriminologie), sondern eine Interaktion zwischen dem wissenschaftlichen und dem allgemeinen politischen Diskursraum. Das Funktionieren des Gehirns wird so etwa zum Bild, zur 8 | Vgl. dessen Beitrag in diesem Band.

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Gleichnisrede für das Funktionieren gesellschaftlicher Prozesse und Institutionen wie Schulbildung oder Strafvollzug. Eine sozialgeschichtlich geprägte Betrachtung der gravierenden Unterschiede zwischen Europa und der Türkei wird zum Gleichnis für die historisch gewachsene, vorerst unaufgebbare Identität Europas. Die Fakten, die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die die Experten ihren intellektuellen Interventionen zugrunde legen, determinieren die politischen Schlussfolgerungen keineswegs (sonst bedürfte es ja gar keiner Intervention), sondern sie appellieren an das politische Bewusstsein breiter Bevölkerungsschichten. Der Appellcharakter der Intervention gewinnt aber seine für die Wissensgesellschaft typische Ausprägung dadurch, dass er auf wissenschaftlichen Ergebnissen (und z. B. nicht auf religiösen, ästhetischen oder nationalistischen Fundierungen) aufbaut. Da die politische Willensbildung nicht in Wissenschaft aufgelöst werden kann, ohne den lebensweltlichen Kontext von Entscheidungen abzuschaffen und alle nichtwissenschaftlichen Entscheider auszugrenzen, ist die Herausbildung des Experten-Intellektuellen eine Notwendigkeit für die Konsolidierung der Wissensgesellschaft. In der Wissensgesellschaft können sich die Experten gerade nicht mehr auf ihre Expertise und ihr Fachgebiet zurückziehen, sondern müssen die Brücke zwischen ihrem Fachgebiet und der Lebenswelt der Gesellschaft schlagen, weil die Gesellschaft ihre Entscheidungen informiert treffen will und nur informierte, d. h. wissensbasierte Entscheidungen allgemein anerkennungsfähig sind. Die Rolle der Experten-Intellektuellen ist es damit, politische Entscheidungen auf legitimationsfähige Grundlagen zu stellen. Die Intervention von Wissenschaftlern in gesellschaftliche Fragen steht deshalb nicht grundlegend im Widerstreit mit ihrer wissenschaftlichen Professionalität, diese Einmischung ist – im Gegenteil – gerade ein Charakteristikum der sich gegenwärtig neu herausbildenden Form wissenschaftlicher Professionalität9 – unabhängig davon, wie man die Position, die die Experten-Intellektuellen dabei einnehmen, selbst beurteilt.

9 | Dies gilt selbstredend nur kollektiv, dem einzelnen Wissenschaftler steht es unvermindert frei, sich in die Rolle eines Experten-Intellektuellen zu begeben oder nicht (wie das auch bei den klassischen Intellektuellen für jeden einzelnen Schriftsteller, Künstler, Philosophen etc. galt). Nicht mehr frei steht dies aber der Gesamtheit der Wissenschaftler, denn die Leerstellen für die Funktion der Experten-Intellektuellen sind in der Wissensgesellschaft eröffnet.

I M D ISKURS | 97 Common Sense und Expertokratie

Wenn nun die Experten-Intellektuellen fester Bestandteil der Wissensgesellschaft sind, so könnte dies als nächster Meilenstein auf dem Weg zur vollständigen Expertokratie verstanden werden. Die Experten legen nicht nur das Fundament für die gesellschaftliche Entwicklung, sondern determinieren durch ihre intellektuellen Interventionen auch gleich noch die politischen Entscheidungen dazu. Im Kontext dieser Problematik sehe ich auch für die zweite traditionelle Aufgabe der Intellektuellen (außer der vollständigen Aufklärung der Fakten und ihrer stringenten Bewertung), nämlich für die Kritik am bestehenden Konsens oder stillschweigenden Vorurteil, eine Zukunft bei den ExpertenIntellektuellen. Als solche stehen sie in der Vermittlung zwischen wissenschaftlicher Spezialisierung und Common Sense. In dieser Position ist gerade von ihnen auch die Kritik etwa vorschneller Schlüsse aus wissenschaftlichen Ergebnissen auf gesellschaftliche Prozesse und Reglementierungen einzufordern, eben weil die Experten-Intellektuellen die Grenzen zwischen Wissenschaft und Common Sense deutlich wahrnehmen können. Die oft beklagte Meinungsvielfalt unter Wissenschaftlern, die das Gutachtenwesen bei Gerichtsverfahren oder öffentlichen Anhörungen zu Regionalentwicklungsprozessen zum Gegenstand des Spottes vonseiten der Vertreter des bloßen Common Sense werden lässt, erweist sich darin gerade als Kernelement der kritischen Aufgabe von Intellektuellen. Die Zukunft und die Legitimität der Intellektuellen im 21. Jahrhundert liegt in der anschaulichen, medienfähigen Verknüpfung von Expertise und Common Sense, von affirmativem Rat und anschaulicher Kritik.

Literaturverzeichnis Blech, Jörg, Rafaela von Bredow und Johann Grolle (2005): „Darwins Werk, Gottes Beitrag“. In: Der SPIEGEL Nr. 52/2005, S. 136-147. Dennett, Daniel (2005): „Süßigkeit für den Geist“, SPIEGEL-Gespräch. In: Der SPIEGEL Nr. 52/2005, S. 148-150. Kipphardt, Heinar (1964): In der Sache J. Robert Oppenheimer. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. Kipphardt, Heinar (1983): Bruder Eichmann. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Meyers großes Taschenlexikon in 25 Bänden (1981): Hrsg. und bearbeitet von Meyers Lexikonredaktion. Mannheim u. a.: BI-Taschenbuchverlag. Souriau, Étienne (1990; 1999 [zit. Ausg.]): Vocabulaire d’esthétique. Paris: Presses universitaires de France.

98 | J OHANNES R OGGENHOFER Rhetorica ad Herennium (21998): Hrsg. von Theodor Nüßlein. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft (Sammlung Tusculum). Wehler, Hans-Ulrich (2002-2004): „Das Türkenproblem“. In: DIE ZEIT Nr. 38 (2002); „Der Türkei-Beitritt birgt das Risiko der Selbstzerstörung der EU“. In: Kölner StadtAnzeiger vom 21.12.2002; „Der Türkei-Beitritt bedeutet für die EU den politischen Selbstmord“. In: DER TAGESSPIEGEL vom 19.06.2003; „Türkei-Beitritt torpediert die EU“. In: FOCUS vom 16.02.2004, S. 50; „Verblendetes Harakiri: der TürkeiBeitritt zerstört die EU“. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung DasParlament, Jg. 54 (2004), Nr. 33/34 vom 09.08.2004, S. 6-8; „Das großartige Projekt der EU scheitert mit einem TürkeiBeitritt“, Interview der Deutschen Welle (Steffen Leidel) am 06.12.2004. Zola, Émile (1898): „J’accuse“. In: L’Aurore vom 13.01.1898.

D IE FEUILLETONDEBATTE ZUM FREIEN W ILLEN: EXPERTISIERTE INTELLEKTUALITÄT IM MEDIAL INSZENIERTEN T HINK T ANK S ABINE M AASEN

Einführung „Mir scheint, wir befinden uns an einem Punkt, an dem die Funktion des spezifischen Intellektuellen neu definiert werden muß. Sie darf nicht verworfen werden, trotz der Sehnsucht nach den großen ‚universellen‘ Intellektuellen, die noch immer einige plagt (‚Wir brauchen‘, sagen sie, ‚eine Philosophie, eine Vision der Welt‘).“ (Foucault 2003)

Dieser Forderung stimmt die folgende Studie zu und wird den Vorschlag unterbreiten, dass Wissensbasierung und Medialisierung der heutigen Gesellschaft in zweierlei Hinsicht zu einem weiteren Formwandel des Intellektuellen führt: Das Intellektuelle operiert erstens weniger über charismatische Personen, als über eine dialogischdiskursive Kultur und zweitens im Modus des Essayistischen. Dies kulminiert in einer Form, die Bourdieu als kritische think tanks (Bourdieu 1992) bezeichnet hat: Hier führen spezifische Intellektuelle, heute: ExpertInnen mit Kompetenzen in spezialisierten Wissensbereichen, in Quasi-Kooperationen einen kritischen Diskurs über die Bedingungen und Folgen wissenschaftlich-technologischer Entwicklungen. Die rezente Debatte um den freien Willen scheint eben dafür ein Prototyp gewesen zu sein: Das Intellektuelle lag im Diskurs, im medial inszenierten think tank expertisegestützten Räsonnements. Hier geschieht kontroversielle Sinngebung zur Frage nach Subjektivität und Sozialität in einer neurobiologisierten Gesellschaft.

100 | S ABINE M AASEN Intellektualisierung von Expertise oder Expertisierung von Intellektualität?

Die Anerkennung und Konsekration des Intellektuellen bemesse sich, wie Bourdieu in seinem Essay „Das intellektuelle Feld“ (1992) betont, weder am kommerziellen Erfolg noch an der sozialen Anerkennung allein. Auch die schiere Bekanntheit könne ja durchaus ins Negative umschlagen. Nein, der Intellektuelle versuche, die dominierenden „Wahrnehmungs- und Bezugskriterien“ einer Weltsicht zu problematisieren, also „die Konstruktionsprinzipien von sozialer Welt, die Definition dessen, was wesentlich und was unwesentlich ist, was würdig ist, repräsentiert, dargestellt zu werden, und was nicht“ (Bourdieu 1992). Diesen Punkt forciert Lyotard mit Pathos: Da sie die „Idee der Universalität“ für sich reklamieren, werden Intellektuelle als „Geister“ begriffen, die „vom Standpunkt des Menschen, der Menschheit, der Nation, des Volks, des Proletariats, der Kreatur oder einer ähnlichen Kreatur aus denken und handeln [...]. Sie identifizieren sich mit einem Subjekt, das einen universellen Wert verkörpert; sie beschreiben und analysieren von dieser Position aus eine Situation und folgern was getan werden muß, damit dieses Subjekt sich verwirkliche oder wenigstens seine Verwirklichung voranschreite.“ (Lyotard 1985)

In der heutigen Expertenkultur muten Sätze wie diese anachronistisch an: Gegenüber dem mit spezialistischem Wissen operierenden Experten kommt der Intellektuelle aufgrund von Werturteilen, bewusster Parteilichkeit und übergeordneten Gesichtspunkten zu seiner Sicht auf die Dinge, die Subjekte, die Welt. Damit erlauben wir ihm etwas, das wir dem Experten – zumindest intuitiv – dezidiert absprechen. Experten, so die Intuition, geben auf der Grundlage empirisch und/oder theoretisch gestützten Wissens ihr Urteil genau zu solchen Fragen ab, zu denen sie mit diesem Wissen etwas beitragen können. Oder sie verfahren umgekehrt: Sie reformulieren die an sie gestellten Fragen so, dass sie mit ihrem Wissen und innerhalb dessen Grenzen wissenschaftlich gestützte Aussagen treffen können. Wie wir jedoch unterdessen wissen, verhält es sich nicht so. Helga Nowotny hat überzeugend auf die notorische Transgressivität von Expertise hingewiesen: In der (politischen) Praxis sind die an Experten gestellten Fragen in der Regel von einer Art, dass sie ihre spezialisierte Kenntnis überschreiten. Eine weitere Form der Überschreitung stellt die rezente Tendenz dar, Expertise in einer intellektualistischen Weise zu präsentieren. Das Beispiel der Hirnforschung, die eine lebhafte De-

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batte über das in unserer Kultur traditionsreiche Thema des freien Willens re-inszeniert hat, ist dafür ein einschlägiges Beispiel. Interessant ist, dass die Expertise der Neurowissenschaftler den intellektuellen Gestus nutzt, um im Konkurrenzkampf um knappe Fördermittel für sich selber zu werben. Das Feuilleton und die hier ausgebreiteten Positionen werden zum Element im Spiel von sozialer und materieller Anerkennung. Die damit verbundenen Überschreitungen nehmen in diesem Spiel zwei komplementäre Varianten an: Als expertisebewehrte Intellektuelle berufen sich die Hirnforscher auf ‚experimentelle Befunde‘, ‚theoretische Perspektiven‘ und ‚Wahrheit‘ und deuten an, dass all dies weitreichende Implikationen für die Gesellschaft habe; als intellektuell ausgreifende Experten wollen sie uns desillusionieren und uns einer dem neurowissenschaftlichen Stand gemäßen Auffassung von Selbst und Gesellschaft zuführen. In der Tat: „Eine neue Form der ‚Verbindung zwischen Theorie und Praxis‘ hat sich herauskristallisiert. Die Intellektuellen haben sich daran gewöhnt, nicht im ‚Universellen‘, ‚Exemplarischen‘, im ‚für alle Richtigen und Wahren‘ zu arbeiten, sondern in abgegrenzten Bereichen, an genau definierten Orten, an die sie ihre berufliche Situation oder ihre Lebensumstände (Wohnsituation, Krankenhaus, Asyl, Labor, Universität, familiäre und sexuelle Beziehungen) gebracht hat.“ (Foucault 2003: 148)

Intellektualisierte Expertise und expertisegestützte Intellektualität sind aus der Warte der nun folgenden Studie zwei Optionen, mit einem Problem umzugehen. Das Problem lautet: Wie führt man sinngebende Diskurse unter den Bedingungen zunehmender Wissensbasierung und Medialisierung heutiger Gesellschaften? Wissensbasierung bedeutet: die Notwendigkeit, die Spezifik und die Differenzierung von Expertise anzuerkennen; Medialisierung bedeutet: die mediale Aufbereitung bzw. Zuspitzung von Expertendebatten anzuerkennen. Sobald ein Thema, wie etwa das des freien Willens, den Kreuzungspunkt von Wissensbasierung und Medialisierung erreicht, entsteht deshalb üblicherweise eine Lücke, der wir den Namen Sinnbedarf geben können. Denn Expertisierung geht in der Regel mit Kontroverse einher. Die daraus folgende Fragmentierung des Wissens, der Werthaltungen und deren gemutmaßte Implikationen wird durch Medialisierung indessen nicht etwa geschlossen, sondern eben offenkundig. Die Spannung aktueller Sinngebungschancen ist enorm: Auf der einen Seite vervielfacht sich vertieftes, aber spezialistisches Wissen qua Expertise; auf der anderen Seite erhöht sich informierte, aber sensationalisierte Transparenz qua Medialisierung. Auf diesem Nährboden gedeiht die

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Paradoxie aktueller Intellektualität: Sinn muss sich, kann sich aber nicht allein auf Expertise stützen und sie muss sich, kann sich aber nur bedingt im forcierten Diskurs der Medien entfalten. Intellektualisierte Expertise und expertisegestützte Intellektualität stellen zwei derzeit praktizierte Varianten dar, dieses Paradox zu prozessieren. Zu erwähnen ist, dass in der Debatte um den freien Willen zwar Vertreter unterschiedlicher Disziplinen, nämlich Neurowissenschaftler, Kognitionspsychologen und Philosophen als Experten-Intellektuelle figurieren, in neuerer Zeit nehmen aber auch Bürger und Bürgerinnen an ihr teil; Sozial- und KulturwissenschaftlerInnen hingegen sind eher selten vertreten (weder als Experten noch als Intellektuelle). Was rechtfertigt diese aktive wie passive Abstinenz? Ist für die Gesellschaftswissenschaften bereits ausgemacht, dass die neurowissenschaftliche Absage an die Existenz eines freien Willens gesellschaftswissenschaftliche Reaktion unnötig mache? Oder sind sie der Meinung, dass eine gesellschaftswissenschaftliche Reaktion auf die neurowissenschaftlichen Postulate diese nur unberechtigterweise als ernst zu nehmende Gesellschaftsdiagnostik, gar als intellektuellen Wurf, adeln würde? Diese Fragen werden zum Schluss wieder aufgenommen. Sicher ist jedoch: Wenn sich die Gesellschaftswissenschaften an diesem Diskurs um den freien Willen (noch) beteiligen wollen, müssen sie, so die Linie dieser Studie, ihre beste Tugend ausspielen, nämlich die, abgeklärt zu bleiben, da Protagonisten und Moderatoren der Debatte bereits vor Aufklärungsanstrengungen nur so überschäumen. Die Hirnforscher klären uns über veraltete Menschenbilder auf, die Medien organisieren – im aufklärerischen Gestus – Positionsbestimmungen im Feuilleton, die sodann ihrerseits Gegenaufklärung von Seiten der Philosophie und in neuerer Zeit auch der Psychologie erfahren. Was gäbe es hier noch sozial- oder kulturwissenschaftlich abzuklären, gar intellektuell beizusteuern? Ebendies: In welcher Gesellschaft findet diese Debatte eigentlich statt? Was sagt sie über die Gesellschaft, in der wir leben – oder künftig leben werden? Das analytische Beispiel der Mediendebatte um den freien Willen beginnt mit dem experimentellen Befund, der zu dieser Debatte Anlass gab. Es fährt fort mit den akademischen Bewusstmachungen, den kategorialen Berichtigungen, den theoretischen und wissenschaftspolitischen Bereichsmarkierungen. Dies wird anschließend mit einer gouvernementalitätstheoretisch inspirierten Dekonstruktion konfrontiert: Aus dieser Perspektive nämlich wird die neurowissenschaftliche Verlustmeldung des freien Willens dem rezenten neoliberalen Ruf nach

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dem willentlich handelnden, unternehmerischen Selbst gegenübergestellt. Im neoliberalen Diskurs wird Willentlichkeit jedoch nicht länger als zentrales Merkmal einer reifen Persönlichkeit beschworen, sondern in ontologisch reduzierter Form lediglich als Adresse für Selbst- und Fremdsteuerung verstanden. Die These ist, dass die Neurowissenschaften durch die Debatte um den freien Willen zu einer Plattform für die öffentliche Deliberation von Gesellschaftlichkeit avancieren: Agency, Verantwortung und Schuld von willentlich agierenden Individuen tragen sich in die Diskussionen um die Möglichkeit von Soziabilität in neosozialen Gesellschaft ein (Lessenich). Die weitere These lautet: Diese Deliberation geschieht, so will es die wissensbasierte Gesellschaft, auf der Grundlage von Expertise, und, so will es die medialisierte Wissensgesellschaft, über einen aufmerksamkeitsheischenden Gestus: Expertisegestützte Intellektualität verspricht in der Sache den Blick über den Tellerrand einzelwissenschaftlicher Befunde hinaus und demonstriert in seiner Form den Prototyp eines neuen Formats – den des kritischen think tanks (Bourdieu).

Befund

Alles begann mit den Experimenten Benjamin Libets im Jahre 1985. Während Gehirn- und Nervenimpulse gemessen wurden, waren Versuchspersonen gehalten, eine einfache Entscheidung zu treffen, nämlich die, zu einem Zeitpunkt ihrer Wahl ihren Finger zu heben und anschließend anzugeben, wann genau sie diese Entscheidung getroffen hatten. Libet fand heraus, dass die Nervenimpulse vom Gehirn zum Finger einsetzten, und zwar 350 msec bevor die Versuchspersonen angaben, ihre Entscheidung getroffen zu haben. Die Interpretation dieser Befunde ist bis heute kontrovers1 – selbst Libet hat daraus nicht den Schluss gezogen, dass es Willensfreiheit nicht gebe, sondern im Gegenteil experimentell nachzuweisen versucht, dass eine unbewusst geplante Handlung noch bis 100 msec vor der Ausführung willentlich gestoppt werden könne. Dessen ungeachtet haben diese Experimente – mit einer gewissen Latenzzeit von ca. fünfzehn Jahren – die Öffentlichkeit mit der Botschaft erreicht: „Wir tun nicht, was wir wollen, sondern wir wollen, was wir tun“ (Wolfgang Prinz). Das Veto des Kognitionspsychologen 1 | Vgl. die neueren Experimente von Haggard, O./Eimer, M.: „On the relation between brain potentials and the awareness of voluntary movements.“ Experimental Brain Research 126 (1999): 128-133.

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richtete sich vehement gegen die Vorstellung, dass es im Hirn eine Instanz geben könne, die gegen die deterministisch ablaufenden Entscheidungsprozesse ein „Veto“ (Libet) einlegen könne. Ein solch schierer Determinismus neurophysiologischer Prozesse war Libet selbst eine zu starke Interpretation, doch seine Distanzierung in einem FAZ-Artikel mit dem Titel „Ich weiß auch nicht mehr, ob ich Determinist werden will“ (Libet) ist ohne Folgen geblieben. Denn, wie wir nicht nur aus der Diskurstheorie wissen, kümmert sich die Rezeptionslogik generell weder um die ursprüngliche Intention des Autors noch folgt die Mediendebatte primär dem Code der Wahrheit, sondern dem des news value. Es wäre also wenig plausibel, in den Medien primär eine externe Plattform für wissenschaftliche Debatten zu sehen, sondern diese werden, so sie explizit vorkommen, in den Dienst des Edutainments genommen: Sie unterstützen oder bestreiten spektakuläre Botschaften. In diesem Falle lautet sie: Der freie Wille ist eine Illusion. Die Frage nach dem möglichen Zusammenhang oder dem Widerspruch zwischen physiologischem Determinismus und personal erlebter Willensfreiheit wird damit zugleich so umgeschrieben, dass sie eine intellektuelle Perspektive erhält: Zwar geht es möglicherweise auch um die expertisegestützte Beantwortung der Frage selbst (gibt es den freien Willen?). Darüber hinaus aber geht es um die Positionierung dieser Expertise im Feld des Intellektuellen. Hier stellt sich die Debatte, die einschlägigen Philosophien zitierend, einerseits in die Tradition der ehrwürdigen „Leib-Seele“-Problematik. Andererseits stellen sich die Experten selbst in eine Tradition der Aufklärung: Es geht ihnen um die Wahrheit und die Funktionen, die sie jenseits von Labor oder Universität in der und für die Gesellschaft spielen soll. Sie artikulieren zugleich eine Diskontinuität: Das neue intellektuelle Régime ist an das je spezifische Wissen von Experten geknüpft. Gesellschaftlichen Einsatz und allgemeine Sichtbarkeit erlangt es vor allem durch seine Medialisierung. Es wundert deshalb nicht, dass intellektuelle Debatten kaum mehr ohne medialen Regisseur auskommen: Frank Schirrmacher, einer der journalistischen Diskurs-Arrangeure, moniert (mehr noch: parodiert) dazu den Unwillen des (alt-)europäischen Intellektuellen, sich mit den aktuellen Schlüsseltechnologien auseinanderzusetzen: „Die Geschichte des europäischen Intellektuellen im neuen Jahrhundert beginnt mit seinem störrischen oder linkischen Drumherumschweigen. Man sieht ihn förmlich vor sich, wie er mit seinem Textverarbeitungsprogramm hantiert – dieses genervt und wütende Nichtzurechtkommen, dieser angeb-

D IE F EUILLETONDEBATTE ZUM FREIEN W ILLEN | 105 lich fehlende ‚technische Verstandǥ, dieser Überdruss, der sich – ja oft zu Recht – schon beim Einstecken der Kabel anmeldet: dies alles kennzeichnet auch die Geisteshaltung dem revolutionären Paradigmenwechsel gegenüber.“2

Was für die Beziehung des Intellektuellen zu seinem Textverarbeitungsprogramm gilt, gilt mutatis mutandis für die Herausforderungen durch die Naturwissenschaften und die sich ankündigenden Schlüsseltechnologien: „Kaum je zuvor [...] stand Naturwissenschaft so nah am Rand von Erkenntnissen und Praktiken, die die Gesellschaft durchrütteln und umordnen werden. Niemand weiß, wohin die Gentechnologie führt. Aber schon jetzt ist klar, daß sie beginnt, unseren Begriff von Gesellschaft [...] ebenso zu verändern wie unsere medizinische Praxis. Auf die Grundfragen einer gesellschaftlichen Moral – vom therapeutischen Klonen bis zum Gentest – hat unsere Gesellschaft keine nichtwissenschaftliche Antwort.“3

Sachliche Notwendigkeit und moralische Verantwortung zwingen zur intellektuellen Deutung: Wenn sie sich nicht von selbst einstellt, so wird sie inszeniert. Schirrmacher setzt dazu jedoch neues Personal ein: „führende Theoretiker“, „Essayisten“ und „Futurologen“ aus den Bereichen Nano-, Bio- und Computertechnologie. Aus seiner Perspektive ist dies die den aktuellen wissensbasierten und medialisierten Verhältnissen angepasste Form kollektiver Sinngebung: Er vollzieht sich als inszenierter intellektueller Diskurs unter Experten (darauf komme ich zurück).

Bewusstmachungen

Auch der freie Wille wurde von diesem Format erfasst: Er ist das Thema einer Debatte, die seit der zweiten Jahreshälfte 2003 im SPIEGEL, in der ZEIT und in der FAZ, zum Teil in Form von Sondernummern und Artikelserien, geführt wird. Von Seiten der Neurowissenschaften, prominent vertreten durch visible scientists (Goodell 1978) wie Wolf Singer und Gerhard Roth, formiert sie sich als regelrechte Aufklärungskampagne. Den Kommentar dazu, wie tiefgreifend diese Aufklärung einzuschätzen ist, liefert die Debatte gleich mit: Peter Sloterdijk kommentierte sie in seiner Funktion als Moderator des Philosophischen Quartetts als die vierte Kränkung, die die empirische 2 | Schirrmacher 2001: 22 f. 3 | Ibid.: 21, meine Hervorhebung.

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Wissenschaft der Menschheit zugefügt habe. Kopernikus riss uns bekanntlich aus der Mitte des Universums; Darwin machte uns zu einer Horde nackter Affen, Freud degradierte uns zu Marionetten unbewusster Triebe, und die Neurobiologen berauben uns nun des letzten Fundaments unseres Selbstverständnisses: der Willensfreiheit. Durch diese Ahnengalerie klassischer Kränkungen beflügelt, werden die Hirnforscher in vielen Artikeln, Interviews und Talkshows nicht müde, uns von dieser Illusion zu befreien. „Wie das Gehirn die Seele macht“, „Das entscheidende Gehirn“ oder „Ich denke, also bin ich ein Computer“ bleiben allerdings keine Solitäre, sondern werden – der medialen Konfrontationslogik folgend – zum Gegenüber von Artikeln mit eher skeptischem Inhalt. Deren Titel haben meistens ein Fragezeichen: „Sind wir wirklich Sklaven unseres Gehirns?“, „Das Ende des freien Willens?“, „Ich denke, dennoch bin ich nicht?“ und signalisieren hinreichende Verunsicherung durch die empirischen Befunde der Neurowissenschaften. Dies realisiert sich in der Regel durch Argumentationen, die zwar nicht leugnen, dass alles Verhalten eine neuronale Grundlage habe, aber deshalb sich nicht alles neuronal erklären lasse. Rede und Gegenrede sichern eine fortdauernde Debatte. Die Gegenredner sind in der Regel allerdings nicht neurowissenschaftliche Kollegen, sondern, sofern es das generelle Thema der Willensfreiheit betrifft, Philosophen. Sie debattieren die empirischen Befunde; vor allem aber bezweifeln sie die zum Teil weitreichenden Konsequenzen, die Neurowissenschafter aus ihnen ziehen – vor allem im Bereich des Strafrechts und der Pädagogik. An diesem Punkt melden sich weitere Disziplinenvertreter zu Wort, so etwa Strafrechtler und Pädagogen. Alle Teilnehmer an der Debatte, das sei vorgreifend gesagt, wissen sich weit Größerem verpflichtet als nur der Klärung einer anregenden Frage, die durch neurophysiologische Evidenzen neue Aspekte erhalten hat. Alle verstehen sich, oft genug explizit, einer Antwort auf die Frage „Was ist der Mensch“ (Kant) oder einer „historischen Ontologie unserer Selbst“ (Foucault) verpflichtet: Veranlassen die instrumentell und experimentell gestützten Einblicke ins Hirn eine Revision unseres Menschenbildes? Denken wir unter naturalistischer Herausforderung nun anders über Schuld- und Bildungsfähigkeit des Menschen? Was das Strafrecht betrifft, so verficht die Neurowissenschaft eine radikale Abkehr vom moralischen Prinzip der Schuld und dem strafrechtlichen Prinzip der Vergeltung. Die Verurteilung von Straftätern solle sich allein von dem Gedanken der Abschreckung und Neukonditionierung leiten lassen. Ob sich jedoch Maßnahmen zur ‚Besserung‘

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überhaupt lohnen, soll nun vom Persönlichkeitsprofil des Einzelnen bestimmt sein. Auch hier, so die Neurowissenschaften, gilt es zu testen, wobei die Entwicklung entsprechender Messmethoden (EEG, bildgebende Verfahren, etc.) allerdings noch aussteht. Strafrechtler klagen demgegenüber das Schuldprinzip als Schutzfunktion ein, da es vor willkürlicher Verurteilung schütze (Lüdersen 2003). Es ist erhellend zu sehen, dass sich beide, Befürworter wie Gegner des Schuldprinzips, auf die emanzipatorische Wirkung ihrer jeweiligen Position berufen: Singer vermutet, dass ein neurowissenschaftlich aufgeklärter Umgang mit ‚Kriminellen‘ verständnisvoller wäre, da er die konfliktträchtige Zuschreibung graduierter Freiheit und Verantwortlichkeit durch bewusste und unbewusste Prozesse ersetze und damit einen vorurteilsloseren Raum zur Beurteilung und Bewertung von „normalem und abweichendem Verhalten“ eröffne (Singer 2004). Der Strafrechtler Lüdersen kontert: „Macht man die schuldhafte Tat zur Voraussetzung der Resozialisierung, so geht es nicht um Dressur, sondern um Emanzipation.“ In dieser Auseinandersetzung entfaltet sich nicht weniger das, was Foucault die „Politik der Wahrheit“ nennt (Foucault 2003): Das hier verhandelte politische Problem besteht eben darin, ob es durchsetzbar ist, eine „neue Politik der Wahrheit zu begründen“, deren Machtwirkung nicht nur Effekte auf die Subjekte (hier: ihre Schuldfähigkeit), sondern auf das juridische System insgesamt und das gesellschaftliche Verständnis von Kriminellen entfaltet. Analoges trifft auf das Erziehungssystem zu: Was die Pädagogik betrifft, so verficht Singer ein Programm der Differenzierung. Man müsse sowohl den unterschiedlichen Entwicklungsgeschwindigkeiten der Kinder als auch ihren spezifischen Begabungen Rechnung tragen. „Um die Erziehung zu optimieren, müsste man Kinder früh testen, Begabungen identifizieren und entsprechend der Begabungsspektren früh kanalisieren. Man muss sich dabei frei machen von der Illusion, dass alle gleich sind und dass aus allen das Gleiche werden kann. Diese Annahme ist unsinnig und widerspricht elementaren biologischen Gesetzen: mein Postulat läuft also auf eine starke Differenzierung hinaus.“4

Die Kommentare der Gegenredner sind unentschieden: Handelt es sich bei Aussagen wie diesen um ein naives anti-autoritäres Plädoyer (da laut Singer „die jungen Gehirne selbst am besten wissen, was sie in verschiedenen Entwicklungsphasen benötigen“) oder um ein technokratisches Programm zur rechtzeitigen Auslese Begabter, wie es der Begriff des Kanalisierens nahe zu legen scheint? Auch hier jedoch se4 | Singer 2002b.

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hen beide, Befürworter und Gegner der „Neurodämmerung“ (Schwägerl 2004), die Emanzipation jeweils auf ihrer Seite. Angesichts der sich ankündigenden Brisanz der Thematik verdient die eigentümliche Hermetik der intellektuellen Auseinandersetzung Beachtung. Insgesamt handelt es sich um eine öffentliche Debatte ohne Öffentlichkeit. In der Tat ist es eine auffällige Differenz zu anderen Debatten im Bereich von Schlüsseltechnologien, wie etwa der Gentechnologie oder der Stammzelldebatte, dass die Hirnforschung mehr oder weniger im Rahmen eines Expertendiskurses verbleibt. Neurowissenschaftler, Theologen, Philosophen, Rechtswissenschaftler und Pädagogen führen eine Debatte auf, in der sie die Implikationen für unser Selbstverständnis, aber auch die Konsequenzen für Didaktik und Ökonomie zwar auf öffentlichem Podium, aber weitestgehend unter sich diskutieren. Alles in allem zeichnete sich diese Debatte deshalb durch einen hohen akademischen Standard aus, aber macht zugleich auch einen eigentümlich sterilen Eindruck. Sie ist lange ohne Rückhalt durch eine soziale Protestbewegung, durch Nicht-Regierungsorganisationen oder Runde Tische geblieben, die vorherige Kontroversen gerade im Bereich des Human-Genom-Projekts kannten. Auch die Ende 2005 ausgerichtete Bürgerkonferenz zur Hirnforschung hat Bürger in einen Expertendiskurs involviert. Zwar entstand die Konferenz nicht aus einem Begehren oder Protest von ihrer Seite, jedoch steht sie im Zeichen der Auffassung, dass „Experten“ nicht nur fachwissenschaftlicher Provenienz sein müssen, sondern problemspezifisch auch weitere stakeholder einschließen können (z. B. politische, administrative, wirtschaftliche Akteure). Man kann sagen, dass die akademische Debatte um die Implikationen neurowissenschaftlicher Befunde aus dem Elfenbeinturm die öffentlichen Foren des Feuilletons und inszenierter Deliberation nach dem Muster öffentlicher Technikfolgenabschätzung wechselte (Kuhlmann 2004). Das Agenda-Setting blieb weitgehend einigen akademischen und wissenschaftsjournalistischen Schlüsselfiguren überlassen. Der Frame schillert eigentümlich zwischen akademischem Expertenstreit und quasi-öffentlichem Intellektuellendiskurs. Doch gehen wir zunächst der Debatte weiter nach. Denn es fragt sich erneut: Warum diese Debatte? Für wen? Worum geht es? Vielleicht wagen wir uns an den vermeintlichen Kern, die Willensfreiheit selbst: Liegt hier der Grund für die inhaltliche Kontroverse (freier Wille: ja oder nein?) und die wissenspolitische Form der Debatte (Expertise oder intellektueller Diskurs?) verborgen?

D IE F EUILLETONDEBATTE ZUM FREIEN W ILLEN | 109 Berichtigungen, kategoriale

Fordert der Befund, dass alles, was wir wollen und tatsächlich tun, durch neurophysiologische Aktivitäten instantiiert ist, tatsächlich unsere gesellschaftlich gepflegten Vorstellungen darüber heraus, was es heißt, einen freien Willen auszuüben? Was meinen wir überhaupt im Alltag mit der Bezeichnung freier Wille? Der analytische Philosoph Peter Bieri fragt sich deshalb zunächst: Worin genau besteht die Herausforderung? Zunächst betrachten wir uns in der Regel als die Urheber unserer Handlungen und tendieren zu der Ansicht, einer offenen Zukunft entgegenzugehen, die wir gestalten, indem wir zwischen verschiedenen Möglichkeiten wählen. Letztlich halten wir uns (wechselseitig) für unsere Handlungen verantwortlich. Dass alles, was wir entscheiden und tun, eine neurophysiologische Basis hat, scheint alles auf den Kopf zu stellen: Erstens scheinen wir nicht mehr als die Vehikel unserer Gehirnaktivitäten zu sein; zweitens erscheint unsere Zukunft nur deshalb offen, weil wir die Gehirnaktivitäten nicht verstehen, die unsere Handlungen determinieren; drittens erscheint aus diesem Grund die Zuschreibung von Verantwortung sinnlos. Bieri vermutet nun bei den neurowissenschaftlichen Aufklärern ebenso wie bei deren Anhängern eine Reihe von Missverständnissen darüber, was mit freiem Willen gemeint sein kann:5 Missverständnis 1: unbewegter Beweger. Glauben wir wirklich, dass unser Wille frei ist in dem Sinne, dass er vollkommen unabhängig von jeder Bedingung ist und beständig neue Kausalketten initiiert? Ein so verstandener Wille beruhte auf purem Zufall, er gehörte zu niemandes Leben oder Charakter, gäbe auch keinen Anlass zu lernen. Mit anderen Worten: Es ginge um Chaos, nicht um Freiheit. Missverständnis 2: der Wille als nicht-physiologisches Phänomen. Glauben wir wirklich, dass Erfahrung kausal autonom, d. h. komplett unabhängig von physiologischen Bedingungen ist? Natürlich verstehen die meisten von uns physiologische Prozesse nicht, die unsere psychischen Erlebnisse hervorbringen. Sie nicht zu verstehen lässt indessen nicht den Schluss zu, sie seien unabhängig von ihnen. Mit anderen Worten gilt: Keine psychologische Änderung ohne physiologische Änderung. Missverständnis 3: die Allgegenwart der Erfahrung. Glauben wir wirklich, dass es nichts hinter unserem Rücken gibt, das unser Leben bestimmt? Da wir dazu tendieren, unseren Willen als spontan zu erfahren, schließen wir 5 | Bieri 2004.

110 | S ABINE M AASEN daraus, dass er frei sei. Diese Prozesse nicht zu kennen, bedeutet jedoch nicht, von einer neurophysiologischen Maschinerie unabhängig zu sein, die sie hervorbringt. Mit anderen Worten: Keine Erfahrung ohne neurophysiologische Prozesse.

Aus Bieris Perspektive ist der Befund eindeutig: Nur wenn man eines oder mehrere dieser Missverständnisse teilt, kann man zu der Schlussfolgerung gelangen, dass die neurowissenschaftlichen Ergebnisse den freien Willen und die Idee frei entscheidender Individuen unterminierten. Bieri klagt demgegenüber die rigorose Unterscheidung von zwei Registern ein: In dem einen benutzen wir neurophysiologische Narrative über das, was im Gehirn passiert. Dies ist eine mechanistische und deterministische Darstellung über unsere neurobiologischen Körper. In dem anderen geben wir eine psychologische Darstellung über uns als Personen. Hier sprechen wir über Handlungen, die eine Person ausübt, die Gründe, die sie für diese Handlungen angibt sowie darüber, was sie wünscht und fühlt, erinnert und sich vorstellt. Über Freiheit kann nur auf dieser Personen-Ebene gesprochen werden. Dementsprechend können nur handelnde Individuen Gegenstand einer Suche nach Freiheit oder aber deren Fehlen sein. Auf dem physischen Level kann uns die Hirnforschung über neurophysiologische Prozesse und deren deterministische Natur Auskunft geben. Wir benötigen den konzeptionellen Rahmen der Person, um über Freiheit reden zu können. Das schließt Neurowissenschaftler ein – ihre Forschung bedarf eines Konzepts von Willensfreiheit, das sie ihren Forschungen selbst nicht entlehnen können. Kurz: Bieri macht den Hirnforschern den Vorwurf des Kategorienfehlers. Was ist mithin eine begrifflich kohärente Konzeption des freien Willens? Unser Wille ist frei, wenn er auf guten Gründen beruht, was in einer gegebenen Situation zu tun ist. Unser Wille ist nicht frei, wenn Beurteilung und Wille auseinanderfallen – z. B. dann, wenn man impulsiv handelt. In genau diesem Sinne mag man an der hergebrachten Vorstellung festhalten, wonach wir im Prinzip in der Lage sind, anders zu handeln. Dies aber bedeutet nicht „anything goes“. Stattdessen bedeutet es, wir hätten anders handeln können, wenn wir eine andere Beurteilung der Situation gehabt hätten. Aus dieser Perspektive ist Freiheit die Plastizität des Willens in Relation zu unserer Beurteilung. Und genau deshalb halten wir jemanden auch für verantwortlich für seine Handlungen: „Wir beurteilen, was du in Relation zu dem, was du wolltest, tatest. Und was du wolltest, beurteilen wir in Beziehung auf bestimmte Normen.“

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In diesem Sinne kann man einerseits durchaus die erstaunlichen Befunde der Neurowissenschaften anerkennen (also ihre Expertise) und zugleich eine gehaltvolle Bedeutung des freien Willens für willentlich handelnde und verantwortliche Personen beibehalten. Bieri spricht sich mit diesem Votum ebenso indirekt wie deutlich dafür aus, dass der Expertenstreit stets an kategoriale Grenzen stößt, die nur durch das souveräne Räsonnement, hier in der Form der philosophischen Reflexion, in weiterführende Bahnen zu lenken sei. Experten, so der Philosoph, bieten Expertise, die Intellektualität zwar ungemein befruchtet, aber selbst keine ist. Zur Debatte selbst: Folgt man Bieris Position, die in der Mediendebatte von verschiedenen Experten vertreten wird, hat man es erneut mit einem non-issue zu tun. Während die Neurowissenschaftler den freien Willen verabschieden, verabschiedet Bieri die Debatte selbst, da es nur Dank eines Kategorienfehlers überhaupt zu ihr kommen konnte. Auch wenn man der Sache nach mit dieser Position sympathisiert, fragt sich wiederum, wo die Debatte nun steht, ihrem Inhalt und ihrer Form nach. Ein Grund für diese Debatte, in der sich die Beteiligten gegenseitig bezichtigen, keinen Gegenstand zu haben, mag darin liegen, dass der freie Wille als eher akademisches und nicht wirklich zu lösendes Problem gesehen wird, zu dem es viele engagierte, aber differierende Perspektiven und Positionen gibt: In neuester Zeit treten neurowissenschaftliche hinzu. Innerhalb der Natur-, Geistes- und Kulturwissenschaften scheint der freie Wille etwas zu sein, das des so genannten „boundary work“ (Gieryn 1983) bedarf. Alle Parteien in dieser Kontroverse versuchen, auf diese Herausforderung zu reagieren. In der modernen Wissensgesellschaft suchen solche Grenzziehungsarbeiten zunehmend die öffentliche Aufmerksamkeit. Die Öffentlichkeit zu überzeugen (die politische, industrielle und generelle) verspricht, Akzeptanz nicht nur für die eigene Position, sondern auch für die eigene Disziplin zu erlangen, was wiederum – zumindest indirekt – zu politischer und finanzieller Unterstützung der Forschung führen kann. Auch hier ist der Foucaultsche Topos zu bemühen, wonach es für spezifische, expertise-orientierte Intellektuelle oder intellektuell agierende Experten um nicht weniger als die „Politik der Wahrheit“ gehe. Ziel ihrer Interventionen sei deshalb nicht, „das ‚Bewusstsein‘ der Menschen oder das, was sie in ihrem Kopf haben, zu verändern, sondern das politische, ökonomische, institutionelle Regime der Wahrheitsproduktion zu verändern“ (Foucault 2003: 152). Aus diskursana-

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lytischer Perspektive eignet sich ein paradox formulierbares Problem am besten für solche Kämpfe. Reden und Gegenreden liefern einander Vorlagen im Ringen um den Regimewechsel: Der neuronale Naturalismus muss sich dabei sowohl wissenschaftstheoretischen als auch wissenschaftspolitischen Grenzarbeiten unterziehen.

Bereichsmarkierungen

Neurowissenschaftler behaupten, wie gesehen, nichts Geringeres, als dass alle bewussten, willentlichen Vorgänge auf unbewussten, neurophysiologischen Prozessen ruhen. Sowohl das Persönlichkeitsprofil einer Person als auch individuelle Reaktionsweisen und Handlungen seien, so Roth, durch genetische Faktoren und frühe Kindheitserlebnisse determiniert (Roth 2003: 256). Entsprechend seien alle Wahrnehmungen und Vorstellungen aber auch konkrete Handlungspläne einer Evaluation durch das limbische System unterworfen. In diesem System prüfe das Gehirn, ob die Handlungseffekte zu guten oder schlechten Emotionen führen werden. Roth zufolge hat das limbische System das erste und das letzte Wort: Das erste, wenn es zu einem Wunsch und zu einem Ziel kommt; das letzte, wenn Gründe und begründetes Urteil auf die emotionale Akzeptabilität geprüft werden. Deshalb gibt es rationale Erwägungen von Handlungen, alternativen Handlungen und deren jeweiligen Konsequenzen, aber es gibt kein rationales Handeln (Roth 2003: 256). Während kaum jemand die materialistische Grundlegung aller Gedanken, Erwägungen und Emotionen abstreiten würde, weisen jedoch viele Autoren die Behauptung zurück, dass mit ihrer Aufdeckung symbolische Prozesse keinerlei Rolle mehr spielten. Auch Lutz Wingert weist in Medienberichten immer wieder darauf hin, die Ebenen der Beschreibung sauber zu unterscheiden. Wenn es um Gedanken oder soziale Einrichtungen geht, wie Aussagen, Geld oder politische Verfassungen, reden wir über Bedeutungen und sinnhafte Gegenstände. Wingert formuliert es pointiert: Zu sagen „nichts ohne mein Gehirn“ impliziere in keiner Weise „nichts außer meinem Gehirn“ (Wingert in Assheuer/Schnabel 2000). Stattdessen konfrontiert er die Hirnforscher mit einem Paradox: Um eben solche Erfahrungsgegenstände wie den freien Willen zu identifizieren, für die neurophysiologische Korrelate gefunden werden sollen, müssen sie über symbolische Vorstellungen genau dieser Phänomene verfügen. Auf genau diese Weise bleiben auch neurowissenschaftliche Forschungen unhintergehbar mit Alltagserfahrungen und kulturwissenschaftlichem Wissen

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verbunden. Ob diese Einwände schließlich zu einer Grenzverschiebung hinsichtlich der jeweiligen Erklärungskraft der Vokabulare führen werden, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch offen. Die Neurowissenschaften argumentieren indessen nicht durchweg strikt reduktionistisch. Diejenigen, die, wie Singer, die Bedeutung psychischer Zustände und kultureller Phänomene durchaus anerkennen, hoffen auf Brückentheorien (Singer 2002a), die beide Welten, die materielle und die kulturelle, dereinst zu verbinden vermögen. Diese „Vereinigungseuphorie“ (Kettner 2003) klingt anderen wiederum verdächtig nach Wiederauflage eines Programms namens Einheitswissenschaft, diesmal unter Führung der Neurowissenschaften schier Unmögliches zu schaffen, nämlich die Kluft zwischen physikalisch zu beschreibenden materialen Phänomenen und sinnhaft zu beschreibenden, kulturellen Phänomenen zu überwinden. Tatsächlich findet sich in den öffentlichen Äußerungen der Hirnforscher kein konkreter Vorschlag zu einer solchen Brückentheorie. Deshalb ist dies wohl weniger wissenschaftstheoretisch als wissenschaftspolitisch im Sinne einer öffentlichkeitswirksamen Geste der Interdisziplinarität zu verstehen. Auch die wissenschaftspolitische Dimension artikuliert sich über eine Reihe von Grenzziehungsarbeiten, deren wichtigste die Form eines science wars annimmt, wenn auch en miniature. Unverhohlen geht es um die Definitionsmacht in der Frage der Willensfreiheit, die bislang im klaren Zuständigkeitsbereich der Geisteswissenschaften, speziell: im Bereich der Philosophie lag. Aus Singers Perspektive geht es für die Neurowissenschaften um nichts weniger, als diesem dekretierten Ghetto zu entfliehen und endlich damit zu beginnen, auch über solche Phänomene nachzudenken, die bislang den Kulturwissenschaften vorbehalten schienen. Komplementär dazu konzedieren einige Philosophen, dass sie durch die empirischen Befunde der Hirnforschung durchaus irritiert werden: Die selbstbewussteren unter ihnen (z. B. Bieri) meinen indessen, dass dies zu intensivierten begrifflichen Anstrengungen führen müsse und nicht zu unbegründeter Unterwerfung unter Geltungsansprüche, die die empirische Befundlage der Hirnforschung weit überzögen und letztlich nur von Pseudoempirismus zeugten (Smedslund 1988). Dieses Narrativ sollte jedoch nicht verdecken, dass nicht die Geistes- und Kulturwissenschaften der eigentliche Gegner in dieser Auseinandersetzung sind: Aus dem Zwiegespräch zwischen Wolf Singer und Wolfgang Prinz, die ihr Pendant in „Manifesten“ der Zeitschrift Gehirn & Geist im Herbst 2004 fanden (2004a, 2005) gehen zwei weitere Frontlinien hervor. Zum einen offenbart der Neurobiologe Singer

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seine Sorge, dass neurobiologische Grundlagenforschung gegenüber Molekularbiologie, Biotechnologie oder Genetik keine Chance habe. „Da müssen wir schon ein Anwendungsfensterchen finden – zum Beispiel in der Klinik oder im Bereich der Informationstechnologie“ – eine öffentliche Debatte um den freien Willen mag da als funktionales Äquivalent dienen (Prinz/Singer 2005). Zum anderen offenbart der Psychologe Prinz seine Sorge, dass sich durch den aktuellen NeuroBoom, der sich auch in der Debatte um die Willensfreiheit ausdrückt, der Beitrag der Kognitionspsychologie zur Erhellung der neurophysiologischen Befunde nicht recht deutlich werde: Es sei schließlich die Kognitionspsychologie, die seit Anbeginn kognitive Vorgänge erforsche und Korrelationen zwischen Variablen herstelle, die die Neurowissenschaften kennen müsse, um überhaupt physiologische Korrelate dieser Vorgänge finden zu können. Dem Manifest der Hirnforscher, das sich, die gegenwärtige Faszination ihres Gebiets souverän nutzend, eher bescheiden präsentiert (Sentker 2004), halten die Psychologen ihrerseits eine Stellungnahme entgegen, die sich gar nicht bescheiden gibt: Die bunten fMRI-Bilder6 der Hirnforschung seien selbst erklärungsbedürftig – mit Hilfe psychologischer Theorien. Doch auch die Psychologie plädiert für „Kooperation statt Konkurrenz“ (Schwägerl 2004). Die Grenzen werden mithin nicht nur im Innern der Debatte verhandelt, sondern, wie der Philosoph Wingert feststellt, auch von außen. Es sind nicht länger die Sozialwissenschaften und die Politische Philosophie, sondern, ganz im Gegenteil, Biologie und Ökonomie, denen heute der Status von Leitwissenschaften zukommt (Wingert in Assheuer/Schabel 2000). Fairerweise muss man hinzufügen, dass sich die Sozialwissenschaften bisher in keine der jüngeren neurowissenschaftlichen Debatten aktiv eingeschaltet haben (Maasen 2003). Nicht zuletzt aus diesem Grund haben die Neurowissenschaften nicht nur „freie Bahn“ für das, was Bieri „abenteuerliche Metaphysik“, sondern auch für das, was Kuhlmann „abenteuerliche Sozialwissenschaft“ nennt.

Die Neurowissenschaften und ihre Gesellschaft

Diese knappe Studie versteht sich als Ausgangspunkt für die weitergehenden Fragen, welcher Diskurs sich in und durch diese Debatte ar-

6 | Funktionale Magnetresonanztomographie.

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tikuliert und ob sie ein neues Verhältnis von Expertise und Intellektualität andeuten. Die allgemeinere These zur ersten Frage ist, dass die Neurowissenschaften durch die Debatte um den freien Willen in ihrem gesellschaftlichen Kontext beobachtet werden müssen. Dabei fällt u. a. auf, dass die Neurowissenschaften das Ende des willentlich handelnden Selbst just in dem Moment verkünden, in dem den Individuen allenthalben nahegelegt wird, stets zu wissen, was sie wollen, um sich auf diese Weise ebenso umfassend wie flexibel selbst zu steuern (beruflich, familiär, sozial). Die neosoziale Gesellschaft, so bringt es Stephan Lessenich auf den Punkt, „konstituiert sich als Subjekt, das gemeinwohlkompatibles Handeln der Subjekte einklagt [...] (Die Gesellschaft) wird zum Bezugspunkt des Sozialen und (misst) die Subjekte am Grad ihrer Gesellschaftlichkeit (Lessenich 2003: 89). Eben dies verlangt im neuen Regime des Forderns und Förderns nach allseits arbeits-, präventions- und aktivierungswilligen Subjekten und deren Willen zu unternehmerischem, eigenverantwortlichem Handeln. Diese Beobachtung plausibilisiert sich dann, wenn man über die Grenzen der inszenierten Debatte hinausgeht und mit gouvernmentalitätstheoretischen Theoremen (Foucault 2000) deren gesellschaftliche Konstellation berücksichtigt. Die Gleichzeitigkeit des neurowissenschaftlichen Abgesangs auf den freien Willen und des neoliberalen Hochgesangs auf das willentlich handelnde, unternehmerische Selbst erscheint zunächst widersprüchlich – möglicherweise jedoch, damit spitze ich die allgemeinere These zu, ist sie es, aus dieser Perspektive betrachtet, nicht: Es scheint Hinweise dafür zu geben, dass individuelle Praktiken der willentlichen Steuerung ebenso wie gesellschaftliche Praktiken der Zuschreibung von Urheberschaft und Verantwortung zwar ostentativ auf Willentlichkeit referieren, dabei jedoch mit einem zunehmend formalen, entsubstantialisierten Verständnis von Willentlichkeit operieren. Ein Beispiel: Das gesellschaftliche Ansinnen, uns dauerhaft und umfassend selbst zu steuern, verlangt vielstimmig nach dem Willen, auf sich selbst einzuwirken. Glücksratgeber (Duttweiler, im Erscheinen), Anleitungen zum Selbstmanagement (Maasen/Sutter 2007) oder Handbücher zum Bürgerschaftlichen Engagement üben in diese Selbsteinwirkungsfähigkeit des Individuums durch methodische Selbstbeobachtung und Entscheidungstraining ein. Diese Willentlichkeit wird jedoch nicht länger als zentrales Merkmal einer reifen Persönlichkeit beschworen, sondern in ontologisch reduzierter Form lediglich als Adresse für Selbst- und Fremdsteuerung verstanden.

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Im praktischen Diskurs der Ratgeber lässt sich zeigen, dass sich der Wille von einer emphatisch verstandenen Eigenschaft der Person zu einem umfassend einsatzfähigen Regulativ für Individuen und Institutionen wandelt. Soziabilität erwächst aus Zuschreibungspraktiken, die an die so verstandene Willentlichkeit in zunehmendem Maße (Eigen-) Verantwortung für die Selbstregulierung knüpfen. Ratgeber glauben an die instrumentelle Kraft von Gedanken und Absichten für die Gestaltung der Realität. Sie ermuntern uns z. B., ganz anders zu denken, und zwar eine Vision zu entwickeln oder Ziele und Zwischenziele zu differenzieren. Diese Prozeduren der willensregulierten Zielvereinbarung mit sich selbst werden zu einer Erwartung, die wir nicht nur an uns selbst, sondern auch an andere und andere an uns richten. Sie wird zur Norm in einer individualisierten und zugleich sozial koordinierten Gesellschaft. Entscheidend ist dabei, dass sich das Verständnis von Willentlichkeit von den Inhalten (was) auf die Prozeduren (wie) verlagert. An der Ratgeberliteratur lässt sich beispielhaft zeigen: Ja, wir pflegen zwar weiterhin eine Semantik des (freien) Willens; doch die Praxis des (freien) Willens ist strikt und nur-regulativ. Möglicherweise ist deshalb – zumindest bis jetzt – der öffentliche Schock über die neurowissenschaftliche Desillusionierung ebenso wie die Teilnahme am Aufklärungsdiskurs ausgeblieben: Wir sind schon praktizierende Selbstregulierer, die einen pragmatischen Bezug zum Willen unterhalten. Ein ganz analoges Beispiel der neurowissenschaftlich nicht mehr zu desillusionierenden Alltagspraxis wäre im Bereich der Neurozeutika zu finden: Männer, Frauen, Kinder, alte Menschen – zunehmend machen wir nicht mehr nur von Aspirin, sondern auch von Premarin, Prozac und Viagra Gebrauch. In dem eben beschriebenen Sinne von Willentlichkeit entscheiden wir uns willentlich, uns pharmazeutisch zu beeinflussen, so denn innere oder äußere Umstände unserer Ansicht danach verlangen – dies schließt die bewusste Gestaltung von Bewusstseinszuständen ein. Diese Praxis verwebt sich, wie auch Werbemaßnahmen von Prozac (Rose 2003) zeigen, eigentümlich mit dem eben beschriebenen zielorientierten Willenstraining. Der Hinweis des Philosophen Metzinger (2000), angesichts der revolutionären neurowissenschaftlichen Befunde und Technologien baldmöglichst eine neue „Bewusstseinskultur“ aufzubauen, nimmt sich aus der hier skizzierten Perspektive eigentümlich verzerrt aus. Danach ist es weniger die Hirnforschung, die die Gesellschaft nach ihrem Bilde formt – vielmehr ist die Hirnforschung die Wissenschaft

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dieser (neoliberalen, neosozialen) Gesellschaft, die zunehmend auf die Selbststeuerungskompetenz ihrer Mitglieder setzt. Diese wiederum setzen den ihnen so angedienten Willen zur (freiheitlichen) Selbststeuerung mit den unterschiedlichsten Mitteln um – teils auch unter willentlichem Einsatz willensmodellierender Maßnahmen. Die Gesellschaft dieser Hirnforschung wartet deshalb durchaus nicht nur ängstlich, sondern auch durchaus hoffnungsfroh auf neue Erkenntnisse. Der Gegenstand der Mediendebatte kann nun vermutlich darin gesehen werden, dass es sich um einen Diskurs handelt, der als Neurowissenschaftsfolgenabschätzung bezeichnet werden kann. In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich? – Und wer genau sind ‚wir‘? Es sind diese Fragen, die die Mediendebatte zum freien Willen nicht trotz, sondern wegen ihrer Eigentümlichkeiten in Foucaultscher Perspektive in einen Beitrag zu einer Ethnologie unserer von den life sciences beeindruckten Kultur verwandeln – Fragen, die durchaus den Einbezug sozial- und kulturwissenschaftlicher Expertise verlangten, ja, mehr noch, ihren Beitrag zur inhaltlichen Ausgestaltung eines intellektuellen Diskurses. Doch wenn auch die Gesellschaftswissenschaften weithin fehlten, so beteiligte sich immerhin „die Gesellschaft“. Die bereits erwähnte Bürgerkonferenz fragte sich hier etwa: „Wie zuverlässig ist die Diagnose ADHS, und ist Ritalin ein geeignetes Mittel, um die Symptome zu behandeln? Wo verläuft die Grenze zwischen der 7 Behandlung von Krankheiten und der Steigerung individueller Leistung?“

Dieser Diskurs versteht sich ganz im Sinne einer Anthropologiefolgenabschätzung, die der Philosoph Thomas Metzinger zur besseren Einschätzung der gesellschaftlichen Implikationen neurowissenschaftlicher Entwicklungen schon früh eingefordert hat (Metzinger 2000). Doch schon ihr Vorbild, die Technologiefolgenabschätzung, hat dieses Programm als zu technikdeterministisch erkannt: Unterdessen hat man sich der Technikgenese und der Entwicklung soziotechnischer Wissensregimes zugewandt. Man befasst sich nicht mehr nur mit den Folgen, sondern auch mit den Bedingungen wissenschaftlichtechnischer Erkenntnisse und Anwendungen, und zwar mit technischen ebenso wie mit soziokulturellen: Aus einer solchen Perspektive könnten die Sozial- und Kulturwissenschaften Fragen an die Neurowissenschaften stellen, die nicht nur das Assessment einer soziotechnischen Entwicklung verbreiterten, sondern auch die Grundlage für ei7 | Meeting of Minds 2005.

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nen differenzierteren intellektuellen Diskurs legen würden. Es ginge darum, das Technische (z. B. Neurozeutika), das Subjektive (individuelles Wollen) und das Soziale (z. B. neosoziales Strafrechtssystem) nicht ausschließlich als Epiphänomen oder gar Appendix neuronaler Aktivierungen zu konzipieren, sondern als wechselseitig konstitutive, wenn auch eigenlogisch operierende Bestandteile soziotechnischer Innovationen. Ein solches Programm erweitert den Fokus: Dem Register des Hirns (Körper/kausale Mechanismen) und dem Register der Person (Psyche/Gründe) wäre – Bieris Kategoriensystem ergänzend – das Register des Gesellschaftlichen hinzuzufügen, in dem wir über Sozialität und Sinnhaftigkeit sprechen. Nur im Dialog aller drei Register können wir als aufgeklärte (Selbst-)Regulierer den stets vorauseilenden soziotechnischen Innovationen verstehend hinterhereilen – dies verlangt in der Tat nach mehr als nur Expertenstreit und Medienhype. Es verlangt nach dialogischer Sinngebung vis-à-vis der Vielfalt und Interaktivität der Register sowie der kognitiven und evaluativen Perspektiven.

Expertengestützte Intellektualität: Kultur des Dialogischen und Essayistischen

Indem sich das Was der Debatte signifikant verschiebt (welcher Diskurs sich in und durch diese Debatte artikuliert), bleibt auch das Wie der Debatte nicht unberührt, v. a. hinsichtlich der Frage, ob sie ein neues Verhältnis von Expertise und Intellektualität andeutet. Die allgemeinere These zu diesem Teil der Frage ist wiederum zweiteilig. Sinngebung, die Wissensbasierung und Medialisierung in Rechnung stellt, führt in zweierlei Hinsicht zu einem Formwandel des Intellektuellen: Sie operiert erstens weniger über Personen, als über eine dialogische Kultur und zweitens im Modus des Essayistischen. Was den ersten Punkt betrifft, so deutet die Debatte um den freien Willen an, dass wir das Intellektuelle nicht länger oder nicht mehr in erster Linie auf die Form der charismatischen Person festlegen können. An diesem Punkt scheint es ratsam, sich erneut auf Foucault und Bourdieu zu beziehen. Foucault spricht sich dezidiert gegen das traditionelle Konzept des universellen Intellektuellen aus, der für und über andere denkt und spricht. Stattdessen plädiert er für die Figur des spezifischen Intellektuellen, der aus spezifischen Perspektiven denkt und spricht: Dies ist in heutiger Diktion der Experte (Foucault 1972). Bourdieu votiert für „kritische think tanks“, in denen solche spezifischen Intellektuellen, also ExpertInnen mit Kompetenzen in spezifischen Wissensbereichen

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in „intellektuellen Kooperationen“ zusammenarbeiten (Bourdieu 1992), ggf. unter Einschluss von Bürgerinnen und Bürgern oder anderen stakeholdern. Was den zweiten Punkt betrifft, so zeichnet sich der intellektuelle Diskurs in einer wissensbasierten, medialisierten Kultur, wie es sich am Beispiel der Debatte um den freien Willen darstellt, durch einen modus operandi aus, der sich mit Peter Fuchs als Essayismus bezeichnen lässt. Damit meint Fuchs den Modus eines riskanten, ironischen, kontingenzbewussten Versuchens (Fuchs 1999). Aus einer solchen Perspektive lassen sich die im Diskurs geäußerten Positionen als fragend, provozierend, stets aufs Neue deutungsanreizend verstehen (vgl. Fuchs 1999). Trotz und wegen starker Geltungsansprüche der Hirnforscher (Neuronaturalismus), Korrekturversuche von Seiten der Kognitionspsychologie (Theoriemangel) und der Philosophie (Kategorienfehler) sowie der ostentativen Radikalabstinenz der Sozial- und Kulturwissenschaften (kein Kommentar!) handelt es sich aus der hier vorgetragenen Perspektive um mehr als um Expertenstreit und Medienhype: Es geht um einen teilweise organisierten, aber offenen Versuch der Sinngebung im Rahmen eines teilweise organisierten, aber offenen think tank expertisegestützter, intellektueller Interaktionen. Dieses Konzept versteht sich, nota bene, nicht als Plädoyer für eine „intellektuelle Internationale“ (Bourdieu). Im Gegenteil: In einer wissensbasierten, medialisierten Kultur scheint eben das Essayistische und Dialogisch-Kontroversielle das Format zu sein, in dem die notwendig spezialisierte und verteilte Expertise nicht fragmentiert, sondern im kritischen Diskurs zu spezifischen, aber übergeordneten Fragen das intellektuelle Moment sucht. Genau dafür erscheint mir – eingedenk aller geschilderten Verkürzungen – die Debatte um den freien Willen ein Prototyp gewesen zu sein. Das Intellektuelle lag im Diskurs, im medial inszenierten think tank expertisegestützten Räsonnements. Es ging (und geht noch) um Sinngebung in Sachen „neuronale Subjekte in einer neurobiologisierten Gesellschaft“. Ja, dem intellektuellen Diskurs heute geht es um diese Gesellschaft: „Die Bindung ans ursprüngliche Ideal vernünftig-moralischer Integrität des einzelnen wie der Gesellschaft wird dadurch nicht hinfällig. Doch sie bekommt einen anderen Sinn. Statt strategischer Verpflichtung und futuristischer Militanz zugunsten letzter Intentionen wird sie gewissenhaft präsentistisch: zum Interesse am Unterhalt und am Spiel der gegebenen, real existierenden Welt.“8

8 | Lepenies 1992: 36.

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In Gesellschaften, die nicht zuletzt durch die Herausforderungen der modernen Schlüsseltechnologien (Neuro-, aber auch etwa Nanotechnologie) einem weiteren Modernisierungsschub ausgesetzt sind, werden solchermaßen professionalisierte Intellektuelle zu einem Hauptakteur des Wandels – forschend wie kommentierend. Sie forcieren dabei einen neuen Stil intellektueller Intervention: Es handelt sich, wie Thomas Macho es ausdrückt, um eine „Geistesgegenwart“ (Macho 1992) – vielstimmig, ohne Anspruch auf Kohärenz oder Nachhaltigkeit. Wer sich, wie die Sozial- und Kulturwissenschaften, an diesem so konfigurierten intellektuellen Diskurs nicht beteiligt, darf sich wissenschaftlicher Bescheidenheit und medialer Zurückhaltung rühmen, doch er riskiert eben dies: die, wenn auch stets essayistische, Mitwirkung an dialogisch-kontroversieller Sinngebung in der wissensbasierten und medialisierten Gesellschaft aufzugeben.

Nachwort

Wenn Intellektualität zunehmend die Form des Essayistischen und Dialogisch-Kontroversiellen annimmt, so mag mancher dies, wie das Eingangszitat von Foucault bereits andeutete, als Verlust betrachten. Denn diesem kaum organisierten think tank gehören zunehmend auch solche Akteure an, deren Beitrag zur kollektiven Sinngebung man zweifelhaft finden mag. Ja, die Kommunität der Intellektuellen ist weniger denn je homogen. Neben Schriftsteller, Wissenschaftler und philosophische Gelehrte treten zunehmend auch Journalisten, die sich „um die Zukunft der Gesellschaft sorgen“ oder – oft genug technokratisch argumentierende – Futurologen. Doch gerade für diese Gemengelage mag sich der (quasi-)öffentliche Diskurs als das Format der Wahl erweisen, denn jeder einzelne Beitrag setzt sich prinzipiell der Kontroverse aus. Ein letztes Beispiel aus der uns nun zunehmend beschäftigenden Nanotechnologie mag dies erläutern. Ray Kurzweil wird gefragt, was in 30 Jahren nanotechnologisch zu erwarten sei: „Geräte, die in unserem Hirn tätig werden. Wenn Nanoboter zum Beispiel neben ausgewählten Nervenfasern Position beziehen, können sie eine Virtual Reality von innen heraus erzeugen, indem sie die Signale ersetzen, auf die das Hirn reagiert. Signale, die anscheinend von unseren Augen ausgehen, sendet in Wahrheit der Computer. Jetzt wird es möglich, einander zu berühren. Alle fünf Sinne werden angesprochen. Vom Geschäftstermin bis zum

D IE F EUILLETONDEBATTE ZUM FREIEN W ILLEN | 121 Sex kann das Leben sich in der Virtual Reality abspielen. Nanoboter können die Sinne stimulieren, wenn nicht gar modifizieren.“9

Herr Schirrmacher fragt zurück: „Was bleibt da noch von freiem Willen, von Individualität?“ Ray Kurzweil missversteht diese Frage – gründlich, aber instruktiv: „Ich sage doch nicht, dass wir uns entscheiden können, ob diese Technologien entstehen. Ich sage: Diese Technologien werden mit Sicherheit noch zu unseren Lebzeiten entstanden sein.“10

Angesichts dessen mag dahin gestellt sein, ob der freie Wille Zukunft hat, der Debatte über den freien Willen ist sie sicher, den Nano-, Bio-, Neuro-, Informationstechnologien und ihren zunehmenden technologischen Konvergenzen sei Dank. Der expertisegestützte think tank intellektuellen Räsonnements hat ein bleibendes Übungsfeld.

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HERAUSFORDERUNG DER INTELLEKTUELLEN DURCH NATURWISSENSCHAFT: LANGE UND BOUTROUX M ICHAEL H EIDELBERGER

Die „Transformation der Philosophie“ im Zeitalter der Wissenschaft

Den Begriff der „Transformation der Philosophie“ von Karl Otto Apel aufgreifend und sich an Köhnkes Untersuchung der Entwicklung des Neukantianismus anlehnend, versucht Hauke Brunkhorst die „moderne Figur des Intellektuellen“ als Produkt einer „doppelten Transformation der Philosophie“ begreiflich zu machen. In der Periode nach Hegels Tod sei die Philosophie unter den wachsenden Druck moderner Herausforderungen geraten, denen „der philosophische Vernunftbegriff nicht standgehalten hat.“ Die eine Herausforderung war die empirische Wissenschaft, die im späteren 19. Jahrhundert ihre Autonomie gewinnt, die andere die Bildung einer diskutierenden Öffentlichkeit, in die zunächst die Bürger, dann aber auch die proletarischen Massen einbezogen werden. Auf beide Herausforderungen reagierten Intellektuelle sowohl affirmativ als auch negativ, also entweder in eine „wissenschaftliche“ oder „antiszientistische“ bzw. in eine „intellektuelle“ oder „anti-intellektuelle“ Richtung gewendet, wie es Brunkhorst ausdrückt.1 Der Intellektuelle hat also in Bezug auf die historisch geforderte Transformation der Philosophie sozusagen vier Freiheitsgrade. So hilfreich diese Klassifizierung für die historische Verortung des Intellektuellen ist, so kann sie jedoch noch nicht ausreichen, seine Rolle zu bestimmen. Um vom Wirken eines Intellektuellen sprechen zu können, muss zur Mitarbeit an wenigstens einem der möglichen Transformationsprozesse mindestens noch das öffentliche Eintreten 1 | Brunkhorst 1990: 178-186; 1987: 43-64. Vgl. Apel 1973, Köhnke 1986.

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für eine cause juste bzw. chose publique, also der selbstverantwortete Einsatz an exponierter Stelle für die Belange der Allgemeinheit – häufig begleitet von einem Engagement für Benachteiligte – kommen sowie die Unabhängigkeit von eigennützigen, partikularen Interessen. Neben dem zweifellos notwendigen Bezug auf die Philosophie muss die soziale Stellung des Intellektuellen berücksichtigt werden. Im Folgenden möchte ich mich der die empirischen Wissenschaften affirmierenden Transformation der Philosophie widmen, die von Intellektuellen im 19. Jahrhundert vorwärts getrieben wurde. Hierüber ist vergleichsweise wenig geforscht worden – meist steht, wenn es um den Typ des Intellektuellen geht, die von Brunkhorst festgestellte „intellektuelle“ oder „anti-intellektuelle“ Transformation im Vordergrund. Bezeichnenderweise macht Brunkhorst es auch nicht klar, ob die Akteure, die positiv auf die Herausforderung durch die Naturwissenschaft reagieren, nach seiner Meinung überhaupt Intellektuelle sind. Er bemüht sich zwar, die beginnende analytische Philosophie sowie den logischen Empirismus in die wissenschaftliche Transformation der Philosophie einzuordnen2 und diskutiert den Beitrag Friedrich Albert Langes,3 der uns im Folgenden noch näher beschäftigen wird. Er sieht aber wohl erst in den aufkommenden Sozialwissenschaften die entscheidende, die wissenschaftliche Transformation bewirkende „Fortsetzung der Philosophie mit anderen Mitteln“, wobei er Horkheimers ursprünglicher Idee einer kritischen Theorie darin einen Sonderplatz einräumt. Die auf die Herausforderung der empirischen Wissenschaften negativ reagierende Transformation der Philosophie war bekanntlich in Deutschland besonders stark. Die noch heute sehr tiefe Kluft zwischen „Geistes-“ und „Naturwissenschaften“ in Deutschland legt davon ein beredtes Zeugnis ab. Anstatt die Geisteswissenschaften als Ergänzung zu den Naturwissenschaften zu sehen, treten sie oft in eine Gegenposition: An die Stelle der (Natur-)Wissenschaft und der Vernunft tritt das Leben, das Sein, das Irrationale und dergleichen, das von den Geisteswissenschaften gegen die Naturwissenschaften in Anschlag gebracht wird. „Die Generalprämisse ist (fast) immer: die Vernunft trägt sich nicht selbst, aber die alten Träger sind am Ende (das Subjekt, das Absolute, der alte Gott usw.).“4 Der antiwissenschaftliche Affekt drückt sich dabei häufig in der Kritik am „Positivismus“ und „positivistisch“ betriebener Wissenschaft aus. 2 | Brunkhorst 1987: 45 f. 3 | Ibid.: 112-118. 4 | Ibid.: 51.

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Es wäre sicher unangemessen, jeden Beitrag zur Transformation der Philosophie, der sich affirmativ mit Wissenschaft auseinandersetzt, als Ausweis der Intellektuellenrolle zu nehmen. Das Ergebnis wäre ein inflationärer und damit entwerteter Begriff des Intellektuellen. Es erscheint daher sachgemäßer, die reine Vermittlung wissenschaftlicher Kenntnisse und ihre Popularisierung, aber auch die reine Expertentätigkeit von der dem Intellektuellen eigenen Aktivität auszunehmen. Andererseits wäre es zu stark, für jeden geistigen Arbeiter einen „Dreyfus“ zu fordern, für den er sich einzusetzen hat, um als Intellektueller betrachtet werden zu können. Auch ohne ein solches Engagement kann die Verfechtung einer bestimmten Konzeption von Wissenschaft als Einsatz für öffentliche Belange gelten. Für die nähere Bestimmung der Rolle des Intellektuellen bei der Bewältigung der modernen Wissenschaft ist Michel Foucaults Begriff des intellectuel spécifique hilfreich. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs taucht vermehrt ein Typ des Intellektuellen auf, der „in bestimmten Bereichen an bestimmten Punkten“ anknüpft, die ihm durch seine Arbeits- oder Lebensbedingungen vorgegeben sind. Er löst den ursprünglichen intellectuel universel ab, der sich fürs „Universale, Exemplarische, das Wahre-und-Gerechte-für-alle“ eingesetzt hat.5 Pierre Bourdieu forderte den Zusammenschluss der spezifischen Intellektuellen zu einem wahrhaften intellectuel collectif.6 Es ist verführerisch, eine Philosophengruppe wie z. B. den „Wiener Kreis“ der 1920er und 30er Jahre, in dem die im 19. Jahrhundert begonnene wissenschaftliche Transformation der Philosophie auf ihren Höhepunkt gelangt, dieser Kategorie zuzuordnen. Ich möchte nun die These vertreten, dass die auf Wissenschaft zielende Transformation der Philosophie im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts von einem besonderen Typ des Intellektuellen beherrscht wurde. Es ist ein Typ, der nicht notwendigerweise selbst in schöpferischer Weise in den empirischen Wissenschaften tätig ist, sondern sie auf eine neue Weise deutet, die sich vom herkömmlichen Wissenschaftsverständnis unterscheidet. Das soll natürlich nicht heißen, es habe vor dieser Zeit keine Neuinterpretation von Wissenschaften gegeben. Es scheint mir aber, dass in den meisten dieser Fälle der neue Wissenschaftsbegriff eher eine Begleiterscheinung neuer Wissenschaft war. Um ein Beispiel schematisch anzudeuten: Die Physik Galileis erzeugte keine bloße Umdeutung bestehender aristotelischer Theorie, sondern löste sie durch eine neue Wissenschaft ab, die 5 | Foucault 2001: 109. 6 | Bourdieu 2001: 33-40.

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gleichzeitig eine neue Wissenschafts- und Naturauffassung, einen neuen Begriff der Wissenschaften erforderte. Dagegen: Ernst Machs Mechanik von 1883, in der er seine Kritik an Newtons Lehre des absoluten Raumes formulierte, ist, wie es im Vorwort heißt, „kein Lehrbuch zur Einübung der Sätze der Mechanik. Ihre Tendenz ist vielmehr eine aufklärende oder, um es noch deutlicher zu sagen, eine antimetaphysische.“7 Mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert löst sich nun die wissenschaftsdeutende intellektuelle Tätigkeit, die den Antrieb der „wissenschaftlichen Transformation der Philosophie“ bildet, allmählich von der wissenschaftlichen Tätigkeit selbst ab, ob sie nun von Philosophen, Wissenschaftlern oder anderen formuliert wird. Die neuinterpretierende Transformation geht – entsprechend der Einteilung Brunkhorsts – entweder in affirmativer oder in anti-szientifischer Weise vonstatten. Als affirmative Modernisierungsbewegung nimmt sie auf weite Strecken eine ganz bestimmte Tendenz an: Sie ist geprägt von einer Relativierung und Differenzierung der Ansprüche, die mit Wissenschaft verbunden sind. In den Worten von Gregor Schiemann: „Nicht die inhaltliche Ersetzung einer ihrem Anspruch nach ausschließlich geltenden Naturauffassung durch eine andere, sondern die formale Anerkennung der Begrenztheit und Kontingenz von Geltungsbedingungen sowie der Gleichberechtigung alternativer Betrachtungsweisen ist das Signum der naturphilosophischen Moderne.“8 Die der Modernisierung entgegengerichtete Bewegung wird durch diese Tendenz zu verstärkter intellektueller Deutungsarbeit für die überkommene Wissenschaftsauffassung gezwungen, die ihrerseits zu Neuerungen führen kann. Neuinterpretation in diesem Sinne ist daher mehr als Popularisierung und Expertentätigkeit. Sie ist in erster Linie eine kritische Haltung, die nicht wesenhaft eine weltanschauliche Stoßrichtung besitzen muss. Es zeigt sich, dass der diese Rolle verkörpernde Typ des Intellektuellen durchaus Wissenschaft als „öffentliche Sache“ vertreten kann, was den eigentlichen Schöpfern des Wissens oft versagt bleibt. Es entsteht also so etwas wie die Rolle eines Kritikers der empirischen Wissenschaft, der nicht primär die Vermittlung von Wissenschaft oder ihre Versöhnung mit bestehenden Weltanschauungen zum Ziele hat, sondern ihre kreative Umdeutung, Begrenzung, Kritik. Um diese These zu illustrieren und zu belegen, gleichzeitig aber auch eine allgemeinere, Ländergrenzen überschreitende Tendenz für 7 | Mach 1883: V. 8 | Schiemann 1997: 3.

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diesen Typ des Intellektuellen klarzumachen, möchte ich auf zwei Denker näher eingehen, die um das Jahr 1875 mit folgenreichen Neuinterpretationen empirischer Wissenschaft hervortraten. Es handelt sich einmal um Friedrich Albert Lange (1828-1875), der 1873-75 die zweite Auflage einer fulminanten Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart vorlegte, andererseits um den Philosophiehistoriker Émile Boutroux (1845-1921), der 1874 seine Dissertation De la contingence des lois de la nature abschloss.

Friedrich Albert Lange als Kritiker des Materialismus und der Metaphysik

In seiner Geschichte des Materialismus versuchte Lange nachzuweisen, dass die in Anbetracht der stürmischen Wissenschaftsentwicklung notwendige Modernisierung der Philosophie und des gesellschaftlichen Denkens unter Verwendung von Einsichten der Sinnesphysiologie seiner Zeit und durch Rückgriff auf damit übereinstimmende theoretische Philosophie Kants zu erbringen ist. Diese Modernisierung beinhaltet einerseits eine Kritik am Materialismus als Philosophie der Naturwissenschaft, andererseits die Ablehnung jeder Auffassung, die mit dem Materialismus in Konflikt gerät, darunter auch der Religion und Theologie der Zeit sowie des Hegelianismus. Der metaphysische Teil des Materialismus ist durch eine angemessenere Auffassung zu ersetzen: durch den von Lange so genannten „Standpunkt des Ideals.“ Lange beginnt mit einer Verteidigung des Materialismus. Es zeige sich in dessen Bemühen, das „gesamte Gebiet der Naturwissenschaften“ zu überblicken, „um überall die verbürgtesten Tatsachen aus fremden Forschungen aufzulesen und sie zu einem Gesamtbilde zusammenzusetzen,“ eine philosophische Tendenz, die zu tieferen Einsichten führt, als wenn man alles Wissen nur den Experten („Spezialforschern“) überließe.9 „Wer das Gesamtgebiet der Naturwissenschaften fleißig durchwandert hat, um ein Bild des Ganzen zu gewinnen, der wird die Bedeutung einer einzelnen Tatsache oft besser zu beurteilen wissen, als ihr Entdecker.“10 Auch darin ist dem Materialismus recht zu geben, dass er das Wirkliche mit dem Sinnlichen gleichsetzt und festhält, „dass die Welt so ist, wie sie uns kraft unsrer Sinne erscheint.“ Außerhalb der unseren Sinnen zugänglichen Erscheinungen können wir kein Wissen ge9 | Lange 1974: 587 f. 10 | Ibid.: 589.

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winnen. „Die Erscheinungen sind das, was der gemeine Verstand Dinge nennt.“11 Lange geht sogar so weit zu schreiben: „Der Materialismus ist die erste, die niedrigste, aber auch vergleichsweise festeste Stufe der Philosophie,“ auf der auch die kantische Philosophie letztlich beruht. Deshalb lässt sich auch nicht auf ihn verzichten. Der Materialismus „hält sich mehr als irgendein andres System an die Wirklichkeit, d. h. an den Inbegriff der notwendigen, durch Sinneszwang gegebenen Erscheinungen.“12 Er kann aber nur dann als philosophisches System, als allgemeine philosophische Doktrin angesehen werden, solange man die von der Naturwissenschaft selbst erkannten Grenzen der Naturerkenntnis nicht in Betracht zieht. Diese Grenzen hat die von Helmholtz entwickelte Physiologie der Sinnesorgane aufgedeckt. Sie hat nämlich gezeigt, dass die „Qualität unsrer Sinneswahrnehmungen ganz und gar von der Beschaffenheit unsrer Organe bedingt ist.“13 Unsere Wahrnehmungen verdanken „ihr eigentümliches Wesen unsrer Organisation [...], obwohl sie von der Außenwelt veranlaßt werden.“14 Aber nicht nur die Qualität der Sinneswahrnehmungen, sondern unsere ganze Erfahrung wird „von einer geistigen Organisation bedingt [...], die uns nötigt, so zu erfahren, wie wir erfahren, so zu denken, wie wir denken, während einer andern Organisation dieselben Gegenstände ganz anders erscheinen mögen und das Ding an sich keinem endlichen Wesen vorstellbar werden kann.“15 Ist aber unsere ganze Erfahrung nur Vorstellung, die uns nichts über das Wesen der Dinge an sich mitteilt, dann kann auch der Materialist für die Materie nicht mehr als Vorstellung in Anspruch nehmen. „Wir schreiten nun mitten durch die Konsequenz dieses Materialismus hindurch, indem wir bemerken, dass derselbe Mechanismus, welcher sonach unsre sämtlichen Empfindungen hervorbringt, jedenfalls auch unsre Vorstellung von der Materie erzeugt. Er hat hier aber keine Bürgschaft bereit für einen besonderen Grad von Objektivität. Die Materie im ganzen kann so gut bloß ein Produkt meiner Organisation sein – muß es sogar sein – wie die Farbe.“16 Der auf diese Weise von der Physiologie der Sinnesorgane erzeugte „Zweifel an der Wirklichkeit der Erscheinungswelt“ trifft sich mit der theoretischen Philosophie Kants. 11 12 13 14 15 16

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Ibid.: 981 f. Ibid.: 498. Ibid.: 456. Ibid.: 850. Ibid.: 456. Ibid.: 852.

L ANGE UND B OUTROUX | 131 „Die Physiologie der Sinnesorgane ist der entwickelte oder der berichtigte Kantianismus, und Kants System kann gleichsam als ein Programm zu den neueren Entdeckungen auf diesem Gebiete betrachtet werden. Einer der erfolgreichsten Forscher, Helmholtz, hat sich der Anschauungen Kants als eines heuristischen Prinzips bedient und dabei doch nur mit Bewußtsein und Konsequenz denselben Weg verfolgt, auf welchem auch andre dazu gelangten, den Mechanismus der Sinnestätigkeit unserm Verständnis näher zu 17 bringen.“

Nachdem Lange mit Hilfe der Sinnesphysiologie und dem Kantianismus den Materialismus überwunden hat, könnte man erwarten, dass er nunmehr all diejenigen Begriffe, gegen die der Materialismus seiner (und vielleicht jeder) Zeit angetreten ist – also die Ideen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, um es mit Kant auszudrücken – als wissenschaftlich gerechtfertigt ansieht. Diese Erwartung trügt jedoch nachhaltig und macht gerade den Reiz von Langes Philosophie aus. Für Lange besitzen alle wissenschaftlich nicht begründbaren Auffassungen, auch die Ideen im Sinne Kants, keine Geltung. „Schreiben wir ihnen eine objektive Existenz außer uns zu, so stürzen wir uns in das uferlose Meer der metaphysischen Irrtümer.“18 Wenn Kant die Freiheit des Menschen in den noumenalen Bereich versetzen möchte, so gibt er seine eigene Lehre von der Unerkennbarkeit des Dings an sich auf. „Kant wollte nicht einsehen [...], dass die ‚intelligible Welt‘ eine Welt der Dichtung ist und dass gerade hierauf ihr Wert und ihre Würde beruht. Denn Dichtung in dem hohen und umfassenden Sinne, wie sie hier zu nehmen ist, kann nicht als ein Spiel talentvoller Willkür zur Unterhaltung mit leeren Erfindungen betrachtet werden, sondern sie ist eine notwendige und aus den innersten Lebenswurzeln der Gattung hervorbrechende Geburt eines Geistes, der Quell alles Hohen und Heiligen und ein vollgültiges Gegengewicht gegen den Pessimismus, der aus dem einseitigen Weilen in der Wirklichkeit entspringt.“19

Hier wird deutlich, was Lange den „Standpunkt des Ideals“ nennt. Der Mensch hat eine unabweisbare, anthropologisch verankerte Naturanlage, über das naturwissenschaftlich legitimierte Wissen hinaus Ideen zu entwickeln, denen jede theoretische Geltung abgeht und die mit der Erfahrung nichts zu tun haben. Was diese Ideen von bloßen Hirngespinsten unterscheidet, ist der Nutzen, den sie für das Leben des Men17 | Ibid.: 850. 18 | Ibid.: 503. 19 | Ibid.: 509 f.

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schen besitzen. Ohne die Ideen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, ohne Dichtung und Ideale, wäre das Leben schwer oder gar nicht erträglich, ohne sie bekommt auch unser Wissen von der Welt keine innere Einheit. „Eins ist sicher: dass der Mensch einer Ergänzung der Wirklichkeit durch eine von ihm selbst gestaltete Idealwelt bedarf, und dass die höchsten und edelsten Funktionen seines Geistes in solchen Schöpfungen zusammenwir20 ken.“

Die Philosophie besitzt also bei Lange eine doppelte Funktion: Sie hat einerseits die Illusionen auf allen Gebieten des Denkens mit Hilfe von Wissenschaft und Logik zu entlarven. Sie muss also auch zeigen, dass sie selbst als eigenständige Disziplin, die theoretische Wahrheiten außerhalb der Wissenschaften aufstellt, ganz unmöglich ist. Andererseits hat sie aber die positive Aufgabe, Ideale zu schaffen, die ein harmonisches Weltbild liefern, das Ethik und Ästhetik mit einschließt. Metaphysik und Spekulation werden nicht eliminiert, sondern es wird ihnen nur der Anschein der Wahrheit genommen. In positiver Hinsicht ist Philosophie also bewusste Illusion! Interessant ist nun, dass Lange den Standpunkt des Ideals nicht nur außerhalb der Wissenschaft ansiedelt, sondern auch schon in der Wissenschaft selbst Elemente des Ideals wesentlich am Werke sieht. Allerdings ist hier die Freiheit der Synthesis durch die Naturgesetze beschränkt: „Der Einheitspunkt, welcher die Tatsachen zur Wissenschaft und die Wissenschaft zum System macht, ist eine Erzeugung freier Synthesis und entspringt also derselben Quelle wie die Schöpfung des Ideals. Während jedoch diese völlig frei mit dem Stoffe schaltet, hat die Synthesis auf dem Gebiete des Erkennens nur die Freiheit ihres Ursprungs aus dem dichtenden Menschengeiste. Sie ist auf der anderen Seite gebunden an die Aufgabe, möglichste Harmonie zu stiften zwischen den notwendigen, unsrer Willkür ent21 zogenen Faktoren der Erkenntnis.“

Manche der Formulierungen Langes lesen sich in diesem Zusammenhang wie eine vorweggenommene Kritik am Logischen Empirismus der 1960er und 70er Jahre: „Ein absolut festes, von uns unabhängiges und doch von uns erkanntes Dasein – eine solche Wirklichkeit gibt es nicht und kann es nicht geben, da 20 | Ibid.: 987. 21 | Ibid.: 981.

L ANGE UND B OUTROUX | 133 sich der synthetische, schaffende Faktor unsrer Erkenntnis in der Tat bis in die ersten Sinneseindrücke und bis in die Elemente der Logik hinein er22 streckt.“

Lange kann nach dieser Analyse seine Kritik des Materialismus vervollständigen: Der Materialismus ist so lange notwendig und theoretisch gerechtfertigt, solange wir Wissenschaft betreiben, obwohl auch schon hier Mittel verwendet werden, die den Materialismus übersteigen. Wird der Materialismus aber zu einem philosophischen System gemacht, wird ihm, um mit Kant zu sprechen, eine „synthetische Funktion der Vernunft“ zuerkannt, ist er – wie die Religion, die Kunst, die Literatur – nur eine Dichtung, eine Metaphysik, die den Boden der theoretischen Geltung übersteigt. Auf der anderen Seite wird dadurch, dass die Möglichkeit, ja Notwendigkeit von dichterischen Elementen auch im kognitiven Bereich zugegeben wird, die Wissenschaft als genuiner Teil der Bestrebungen gesehen, mit denen der Mensch als Gattungswesen sein Leben zu bewältigen sucht. Der Wert einer Theorie wird nicht an ihrer Wahrheit oder Wahrheitsähnlichkeit gemessen, sondern an ihrer Nützlichkeit. Hier bekennt sich Lange zu einem Instrumentalismus in Bezug auf theoretische Begriffe und es kündigt sich schon die spezielle Art des Pragmatismus an, die von Hans Vaihinger später weiter entwickelt wurde.23 Vaihinger behauptete den wissenschaftlichen Wert teilweise widersprüchlicher Fiktionen. Lange gibt zwei Beispiele, an denen schon der spekulative Charakter der Wissenschaft selbst offensichtlich wird: der Atombegriff, der für die metaphysische Überhöhung des Materialismus in einem philosophischen System wesentlich ist („Die Welt besteht aus den Atomen und dem leeren Raum“) sowie die Theorie des Egoismus in der Volkswirtschaft, „die mehr als irgendein Element der Neuzeit den Charakter des Materialismus an sich trägt.“24 Atome sind für Lange hypothetisch eingeführte „Träger von Relationen“, die „wie wirkliche Dinge behandelt werden dürfen,“ solange man aus ihrer Realität kein Dogma macht. Einen Ausdruck von Gustav Theodor Fechner aufgreifend charakterisiert er den Atombegriff als einen „Hilfsausdruck,“ der ein spekulatives Element beinhaltet.25 Sicherheit gibt es für die Naturwissenschaft nur in ihren Behauptungen über Kräfte, die den Relationen zwischen den Gegenständen entsprechen, aber nicht in Behaup22 | Ibid.: 982. 23 | Vgl. Ceynowa 1993, Vaihinger 1911. 24 | Lange 1974: 897. 25 | Ibid.: 664 f.; vgl. 637. Zu Fechners differenzierender Behandlung des Problems vgl. Heidelberger 1993: Kap. 4.

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tungen über die Natur der Gegenstände, zwischen denen die Kräfte wirken. Deutlicher ausgearbeitet hat Lange den Nutzen von Hypothesen, kontrafaktischen Annahmen und Fiktionen in seiner Untersuchung der Volkswirtschaft von Adam Smith. Sie geht nach Lange vom Egoismus des Menschen in Bezug auf den „Marktverkehr von Angebot und Nachfrage“ aus. Ein solcher Schritt beinhaltet eine „Abstraktion von der vollen, mannigfach zusammengesetzten Wirklichkeit“, also eine Behauptung, die strenggenommen nicht der Wirklichkeit entspricht. Der Grund für diese Abstraktion liegt in dem Versuch, die Volkswirtschaft zu einer exakten Wissenschaft zu machen. Wir geben „den Betrachtungen über den gesellschaftlichen Verkehr durch Fingierung eines möglichst einfachen Falles eine exakte Form. [...] Exakt ist ein für allemal für uns, die wir die Unendlichkeit der Naturwirkungen nicht zu übersehen vermögen, nur dasjenige, was wir selbst exakt machen.“

Exaktheit einer Theorie fordert also kontrafaktische Annahmen durch den Theoretiker. Eine unter dieser willkürlichen Abstraktion gemachte „Fiktion“, wie Lange es explizit nennt, ist aber häufig viel nützlicher und unserer Einsicht förderlicher als Behauptungen, welche die Vereinfachung nicht mitmachen wollen, sondern die komplexe Wirklichkeit direkt zu fassen versuchen. Die Fiktion gibt uns wenigstens eine Erkenntnis darüber, wie sich der Mensch verhalten würde, wenn die Bedingungen seines Handelns dieser Voraussetzung entsprächen bzw. insofern sie diesen Bedingungen entsprechen. Eine Behauptung, die der Wirklichkeit gerechter werden möchte und deshalb die Abstraktion nicht mitmacht, schleppt aber „dabei eine unvermeidliche und in ihrer Tragweite unbekannte Masse von Irrtümern mit sich,“ kann also noch weniger als echte Erkenntnis gewertet werden.26 Es soll uns hier nicht weiter beschäftigen, wie Lange aus seiner Unterscheidung eine handfeste Kritik an der Volkswirtschaft und dem „oberflächlichen Liberalismus“ ableitet. Jedenfalls sieht er den Materialismus in der Volkswirtschaft gerade darin bestehen, dass die „Abstraktion mit der Wirklichkeit verwechselt wird.“ Diese Verwechslung erfolgt „unter dem Einfluß eines ungeheuren Vorwaltens der materiellen Interessen“27 und führt dazu, dass die „Form der Besitzverhältnisse verschleiert“ wird.

26 | Ibid.: 898 f. 27 | Ibid.: 899.

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Spätestens an dieser Stelle wird auch im Werk deutlich, was sich in Langes Lebensgeschichte zeigt: Dass er kein akademischer Leisetreter war, sondern ein engagierter Intellektueller, der sich nicht scheute, Pensionsansprüche aufzugeben und Journalist zu werden, um sich seine innere Freiheit und die Freiheit der Meinungsäußerung zu bewahren. Die Art, wie er die Neubestimmung des Begriffs von Wissenschaft in seiner Geschichte des Materialismus in Kritik an der Ideologie seiner Zeit umgesetzt hat, könnte auch am Beispiel seines Buches Die Arbeiterfrage. Ihre Bedeutung für Gegenwart und Zukunft nachgewiesen werden. Lange selbst hat in seinem Werk die Rolle des Kritikers philosophischer Illusionen seiner Zeit sowie der Naturwissenschaft, soweit sie sich in den Bund mit dem metaphysischen Materialismus begibt, vorbildlich und wirksam ausgefüllt. Eine ganze Generation von Denkern, von Nietzsche angefangen über Hans Vaihinger, Max Weber, Friedrich Paulsen, Hermann Cohen, Paul Natorp, Eduard Bernstein, Franz Mehring, ja selbst Rosa Luxemburg waren von Lange fasziniert und eiferten seiner Ideologiekritik nach,28 auch wenn sie später ganz andere Wege einschlugen.

Émile Boutroux als Kritiker des Determinismus der Naturwissenschaften

Ungefähr zur selben Zeit als Lange im deutschsprachigen Bereich den Materialismus kritisierte, eröffnete Émile Boutroux in Frankreich mit seiner Dissertation29 eine neue und wirkungsvolle Phase in der Kritik am Positivismus von Auguste Comte, die mehrere Parallelen zur Kritik Langes aufweist. Während Lange mit der Sinnesphysiologie und der in diesen Rahmen eingepassten theoretischen Philosophie Kants vorwiegend erkenntnistheoretisch argumentiert, nimmt sich Boutroux ein naturphilosophisches Theorem vor und versucht aus dessen Kritik einen neuen und relativierteren Wissenschaftsbegriff abzuleiten, der in der Bestimmung der theoretischen Mittel der Naturwissenschaften und der Mathematik ebenfalls eine Tendenz zum Pragmatismus auslöst. Boutroux’ Ausgangspunkt sind die Naturgesetze, bzw. ihre vorherrschende Interpretation als physische Notwendigkeiten, an denen der Mensch nicht rütteln kann. Stattdessen versucht Boutroux nachzuweisen, dass die Naturgesetze „Kontingenz“ besitzen. Dieser Ausdruck ist nicht leicht zu fassen. Zwar wird damit einerseits in der 28 | Köhnke 1986: 323-327, 246; Willey 1978: 100 f.; Jacobsen 1999; Stack 1983. 29 | Boutroux 1911 [1874]).

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Nachfolge von Aristoteles gesagt, dass etwas auch anders oder überhaupt nicht sein könnte. Insofern heißt ein Gesetz kontingent, wenn ihm keine Notwendigkeit zukommt, stamme diese nun aus dem Denken oder aus der Beschaffenheit der Natur. Andererseits wird damit auch eine Unbestimmtheit oder Indetermination ausgedrückt, die die Einzelfälle im Kleinen kennzeichnet: Dass also Gesetze nur einen Spielraum angeben, innerhalb dessen jeder Einzelfall durch kleine nicht determinierte Abweichungen seine eigene individuelle Ausprägung erfährt. Der Determinismus gilt nur angenähert. Schließlich ist damit auch der deutsche Ausdruck „Zufälligkeit“ gemeint, wie ihn Hegel in seiner Geschichtsphilosophie verwendet und er von dem Philosophen und Zeitgenossen Eduard Zeller kritisiert wird.30 Dazu kommt noch, dass contingence wie „Zufälligkeit“ auch teleologische Konnotationen besitzt: Das Kontingente als das nicht Beabsichtigte. Auch wenn Boutroux mit seiner Behauptung der Kontingenz der Naturgesetze sich an verschiedene philosophische Traditionen anschließt (allen voran dem Spätidealismus Zellers), so versucht er doch für sie auch naturwissenschaftlich zu argumentieren. So hält er z. B. die Kontingenz der Gesetze für wahrscheinlicher, weil unter ihrer Voraussetzung die Übereinstimmung mit den Beobachtungen weniger starke und problematische Annahmen erfordert als ohne sie. Wenn wir einzelne Fälle eines Gesetzes betrachten, stellen wir fest, dass sie streng genommen alle von den durch das Gesetz behaupteten Werten abweichen. Der Determinismus muss daher die unbewiesene Annahme machen, dass diese Abweichungen von unbekannten Faktoren als Fehlerquellen verursacht werden, während unter der Voraussetzung der Kontingenz der Gesetze eine solche Hypothese nicht notwendig ist. „Angenommen, die Erscheinungen wären unbestimmt, aber nur in einem gewissem Maasse, das die Tragweite unserer groben Mittel zur Abschätzung unüberwindlich überschreiten könnte: so wären die Erscheinungen dennoch genau so, wie wir sie sehen. Man schreibt also den Dingen eine rein hypothetische, oder gar eine unverständliche Determiniertheit zu, wenn man das Prinzip, wonach die eine Erscheinung mit der anderen verknüpft ist, im buchstäblichen Sinne nimmt.“31

30 | Ich habe an anderer Stelle gezeigt, dass Boutroux seine Philosophie der Kontingenz durch radikalisierte Übertragung von Zellers hegelkritischer Geschichtsphilosophie auf die Naturphilosophie gewonnen hat. Boutroux hat vor Abfassung seiner Dissertation ein Jahr bei Zeller in Heidelberg verbracht. Vgl. Heidelberger 2006; Espagne 2005. 31 | Boutroux 1911 [1874]: 23.

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Die Konsequenzen, die Boutroux aus diesen Voraussetzungen für den wahren Charakter der Wissenschaften zieht, betreffen viel stärker die mathematisierten Wissenschaften als im Falle von Lange. Wenn die Gesetze kontingent sind, so argumentiert Boutroux, dann ist ihre mathematische Form nichts, was den Dingen selbst zu Grunde liegt oder ihr Sein ausmacht, wie Descartes es gelehrt hat, sondern es handelt sich um eine freie création de l’esprit, eine „Schöpfung des Geistes“, die sozusagen von „außen“ an die Natur herangetragen wird, um mit ihrer Hilfe die qualitative Verschiedenheit der Dinge zu überwinden und damit ihre Begreiflichkeit zu erhöhen.32 Die Befreiung von der ontologischen Interpretation der Mathematik hat auch Konsequenzen in Bezug auf die Relation der verschiedenen Wissenschaften zueinander. Die Gesichtspunkte, unter denen die Realität durch Mathematisierung wissenschaftlich bearbeitet wird, sind für jede Stufe der Wirklichkeit verschieden. Wir wissen durch Erfahrung, dass von der unbelebten Materie bis zur gesellschaftlichen Wirklichkeit die Komplexität und damit die Unbestimmtheit der Gegenstände wächst. Die einzelnen Gesetze sind also für ihre Bereiche spezifisch und können nicht von einem Gebiet auf das andere übertragen werden. Die Annahme ist deshalb zu verwerfen, dass der Gegenstandsbereich einer Wissenschaft auf den einer anderen zurückführbar ist. Da die idée directrice der Biologie eine ganz andere als die der Physik ist, lässt sie sich auch nicht auf die Physik reduzieren. In diesem Punkt trifft sich Boutroux mit Auguste Comte, der ebenfalls eine irreduzible Hierarchie der Wissenschaften gelehrt hat, mit der Soziologie als Krönung. Die Naturwissenschaften beruhen einerseits auf dem Postulat, dass nichts entsteht und nichts vergeht: Änderung wird auf Umordnung von Unveränderlichem, Beharrendem zurückgeführt. Aber genau betrachtet stellt man fest, dass die Beharrung nicht ohne Einschränkung existiert und es auch das „Wirken eines Prinzips absoluter Veränderung“ in der Welt gibt und dass man das Eine nicht vom Anderen trennen kann: „Man kann nicht sagen, ein Teil des Seins oder eine Schauseite an den Dingen werde durch das Gesetz beherrscht, während die anderen Wesen oder die andere Schauseite der Dinge sich der Notwendigkeit entziehe. Nur so viel steht fest, dass in den Welten niederen Ranges das Gesetz einen so breiten Raum einnimmt, dass es fast an die Stelle des Seins tritt; in den Welten höheren Ranges dagegen lässt das Sein das Gesetz fast in Vergessenheit ge-

32 | Boutroux 1907 [1895]: 22.

138 | M ICHAEL H EIDELBERGER raten. Demnach ist jede Tatsache der Ausdruck nicht nur des Prinzips der Erhaltung, sondern auch und vor allem eines Prinzips der Schöpfung.“

Um das Sein „bis in seine Tiefe“ zu erkennen, genügt die Wissenschaft nicht, denn es muss noch in seiner „schöpferischen Quelle“ erkannt werden.33 Ähnlich wie später Charles Sanders Peirce argumentiert Boutroux, dass ohne die Annahme dieser schöpferischen Quelle die Welt sich in totaler Gleichförmigkeit befände und sich keine hierarchische Stufung und Mannigfaltigkeit ergeben könnte, wie sie tatsächlich entstanden ist. Die „Lehre der Kontingenz“ deckt „in den Einzelerscheinungen der Welt selbst Kennzeichen von Schöpfung und Veränderung auf. Sie verträgt sich also mit der Vorstellung von einer Freiheit, die aus den übersinnlichen Regionen herabsteigt, um sich in die Erscheinungen zu mischen und sie nach unvorhergesehenen Richtungen zu lenken.“34

Die letzte Bemerkung ist eine Anspielung auf die Lehre Kants, der die Welt der Freiheit in den noumenalen Bereich verlegt und die Welt der Erscheinungen als der Notwendigkeit unterworfen ansieht. Ähnlich wie Lange verwirft Boutroux diese „Lehre von den zwei Welten“, die zwar „eine Freiheit ohne Schranken zulässt“, aber sie versetzt „in so hohe, von den Dingen so entfernte Regionen [...], daß ihre Wirkung sich im Leeren verliert. Von derartigen Folgen kann in der Lehre der Kontingenz nicht die Rede sein. Sie begnügt sich nicht damit, der Freiheit außerhalb der Welt ein unendliches Feld zu eröffnen, das aber ohne Objekte wäre, an denen sie sich betätigen könnte. Sie erschüttert das Postulat, welches das Eingreifen der Freiheit in den Verlauf der Erscheinungen unbegreiflich macht, den Grundsatz, wonach nichts vergeht und nichts ent35 steht.“

In seinem späteren Werk über den Begriff des Naturgesetzes geht Boutroux von zwei Gesetzestypen aus: solchen, die zwar eine strenge, wenn auch nicht absolute Notwendigkeit ausdrücken, aber dadurch die Erscheinungen in ihrer Individualität und in ihren Einzelheiten nicht trifft, und solchen, welche die Einzelheiten und die „wirklichen Realisationsformen der Erscheinungen“ bestimmen, aber einen geringen

33 | Boutroux 1911 [1874]: 135. 34 | Ibid.: 145. 35 | Ibid.: 145.

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Grad von Notwendigkeit und Allgemeinheit besitzen. Dies zeigt, dass die Mathematik, die bei Gesetzen zur Anwendung kommt, „einerseits in bezug auf Voraussetzungen notwendig [ist], deren Notwendigkeit unbeweisbar ist, und infolgedessen ist ihre Notwendigkeit im Grunde doch nur eine hypothetische. Andererseits ist die Anwendung der Mathematik in bezug auf die Realität nur annähernd, und sie kann, wie es scheint, nur das sein.“

Für den Determinismus folgt daraus, dass er eine unbewiesene und voreilige Verallgemeinerung und Grenzüberschreitung darstellt.36 „Was wir Naturgesetze nennen, ist die Summe der Methoden, die wir erfunden haben, um uns die Dinge anzueignen, und sie in den Dienst unseres Willens zu stellen.“37

Boutroux hat mit seiner Lehre von der Kontingenz der Naturgesetze eine Denkrichtung in Frankreich ausgelöst, die bis mindestens zum Ersten Weltkrieg Bestand hatte und critique de la science genannt wurde. Man kann die Wirkung seines Denkens in zwei extremen Ausformungen sehen: Bei Henri Bergson, der das schöpferische Element in der Natur weiter untersucht und betont, aber auch bei seinem Schwager, dem Mathematiker und Philosophen Henri Poincaré, der die Prinzipien der Mathematik und Naturwissenschaft als Konventionen ansieht, die zwar von der Erfahrung nahegelegt werden, aber unserer freien Wahl unterliegen. Fast alle wichtigen Intellektuellen Frankreichs der Zeit haben bei Boutroux Geschichte der Philosophie gehört und von ihm über die schöpferische Kraft des Geistes in der Wissenschaft erfahren. Auch die Autoren, welche die frühen Mitglieder des Wiener Kreises in ihren Kaffeehausdiskussionen im Wien vor dem Ersten Weltkrieg lasen, waren in seine Schule gegangen oder von seinen Schülern unterrichtet worden. Die Intellektuellen, die sich um die Jahrhundertwende zu Dreyfus bekannten, rekrutierten sich in starkem Maße auch aus der Gruppe der Naturwissenschaftler und Mathematiker und es ist wahrscheinlich, dass auch viele Boutroux-Anhänger hierzu gehörten. Poincaré hat in dieser Auseinandersetzung zwar nicht direkt Partei für Dreyfus ergriffen, aber das entscheidende graphologische Gutachten, das zur Verurteilung von Dreyfus führte, scharf und detailliert verurteilt und damit entwertet.

36 | Boutroux 1907: 129. 37 | Boutroux 1907: 131.

140 | M ICHAEL H EIDELBERGER Schluss

Wir sahen, dass beide, Boutroux und Lange, einerseits einen überzogenen Anspruch der Naturwissenschaften kritisieren, aber so, dass deren Gültigkeit und Verbindlichkeit auf ihrem eigenen Terrain nirgends in Frage gestellt wird. Andererseits wird mit den so als legitim erscheinenden Mitteln der Wissenschaft gegen Bestrebungen angegangen, die meinen, die praktischen Aspekte des Lebens aus der Reichweite der Wissenschaften herausnehmen zu können. Schließlich wird auch sichtbar, dass beide die Resultate der Wissenschaften abhängig sehen von Voraussetzungen, die der Wissenschaftler und die Wissenschaftlerin willentlich an ihr Material herantragen oder an ihr Material herantragen müssen, weil sie diese von der Natur wie jeder Mensch mitbekommen haben. Wie stellt sich dieser Typ des Intellektuellen für die Situation unserer eigenen Gegenwart dar? Durch die politischen Umstände hat der Typ des Intellektuellen, der an der intellektuellen oder anti-intellektuellen Transformation der Philosophie arbeitete, bis heute stark dominiert. Die schon durch Lange nachhaltig kritisierte Haltung des Großintellektuellen Hegelscher Provenienz, die eigentlich schon längst der Transformation hätte zum Opfer fallen müssen, hat sich künstlich bis 1989 gehalten. Durch die mangelhafte Ausbildung in der Geschichte des naturwissenschaftlichen Denkens (ja, die Naturwissenschaft denkt!) sind heute nur noch traurige Schrumpfformen von Auseinandersetzungen und Bündnissen von Philosophie und Naturwissenschaften – wenigstens im kontinentalen Europa – mehr möglich, wie man zuletzt an der Diskussion um die Freiheit im Lichte der modernen Gehirnforschung gesehen hat. Diese Diskussion verlief weit unter dem Niveau, das ihr hundert Jahre früher, besonders im damaligen Frankreich, möglich gewesen wäre und bildet sich etwas auf seine gefeierten Einsichten aus der Neurophysiologie ein, die man in ihrer philosophischen Substanz schon besser im Kapitel über „Gehirn und Seele“ bei Lange nachlesen kann.38 Es scheint als stünden wir heute wieder am Anfang der „wissenschaftlichen Transformation der Philosophie.“

38 | Lange 1974: 776-817.

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D AS PHILOSOPHISCHE E NGAGEMENT IN DER M EDIZIN : G EORGES C ANGUILHEM HEUTE C LAUDE D EBRU 1

Einleitung

Im philosophischen Denken des 20. Jahrhunderts im europäischen oder globalen Maßstab stellt Georges Canguilhem (1904-1995) das seltene Beispiel eines Intellektuellen dar, der sich in einer philosophischen Debatte engagiert, die einen besonderen technischen Bereich berührt, nämlich den der Medizin. In dieser Hinsicht unterschied sich Georges Canguilhem von Raymond Aron oder Jean-Paul Sartre, seinen Mitschülern an der École normale supérieure in Paris, die sich in unterschiedlichen Streitfragen von weltweiter Tragweite engagierten. Georges Canguilhem war bescheidener und widmete sich einer besonders originellen Reflexion, deren praktische Konsequenzen heute in der Medizin und den Lebenswissenschaften, einschließlich ihrer philosophischen Verfasstheit, deutlich fühlbar sind. In seiner Zeit teilte er dieses philosophische Anliegen mit einigen anderen Denkern in Europa wie Karl Rothschuh und Pedro Llain Entralgo. In dieser Epoche zwischen den 1940er und 1960er Jahren, in die die hauptsächliche Forschungstätigkeit von Georges Canguilhem fiel, übten diese Bereiche nur eine geringe Anziehungskraft aus und schienen weniger folgenreich als andere Teile philosophischer Aktivität wie Phänomenologie, Wissenschaftsphilosophie oder politische Philosophie. Heutzutage sind hingegen diese Folgen für die Ethik, die medizinische Praxis und sogar die Vorstellung vom Wert des menschlichen Lebens klar spürbar. In mehrerlei Hinsicht war Canguilhem ein Vorläufer. Zugleich nahm Canguilhem eine Haltung ein, die typisch für Philosophieprofessoren im französischen Bildungssystem war. Diese begriffen sich nämlich als politisch engagierte Intellektuelle in der Entwicklung einer Gesellschaft, die sich in jener Zeit nicht ausschließlich 1 | Übersetzung aus dem Französischen von Martin Carrier.

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als auf Wissen (im Sinne wissenschaftlichen Wissens) gegründet verstand, die aber gleichwohl Fragen von Bildung und Erziehung einen zentralen Ort einräumte. Dieser Stellenwert von Bildung und Erziehung ist durch das Gleichgewicht charakterisiert, das man zwischen den Geisteswissenschaften auf dem Gipfel ihrer Reputation und den „Anwendungen“, also den Naturwissenschaften mit ihrer wachsenden Reputation herzustellen suchte. In der französischen Gesellschaft der Mitte des 20. Jahrhunderts stellten Medizin und Rechtswissenschaft Anwendungsfelder dar, deren Fakultäten eine besondere Organisationsform besaßen und immer noch besitzen, die sie eher als Orte der Berufsausbildung erscheinen lässt. Diese Felder wurden stark aufgewertet, sowohl wegen ihres auf den Menschen bezogenen Gehalts, als auch wegen ihrer eher materiellen Aspekte, ohne jedoch ebenso an der Spitze der gesellschaftlichen Wertehierarchie zu stehen wie Politiker, Bankiers, Industrielle – oder Intellektuelle. Die Laufbahn von Canguilhem, der der französischen Provinz entstammte und in Paris an der École normale supérieure studierte, war zugleich typisch und einzigartig. Als ein junger, politisch engagierter Intellektueller in den 1930er Jahren und noch mehr in der Résistance war er zugleich exemplarisch und doch nicht ganz und gar durchschnittlich. Indem er gegen Ende der 1930er Jahre ins Auge fasste, die Lehre am Gymnasium zugunsten der Arbeit als praktischer Arzt in der Region seiner Geburt aufzugeben, ist er weniger ein exemplarischer Intellektueller als ein Vertreter seines Herkunftsmilieus. Die Verknüpfung von Medizin und Résistance hat, wie man weiß, den Anlass zu seinem Meisterwerk der philosophischen Literatur gegeben, nämlich dem zuerst 1943 erschienenen Buch Das Normale und das Pathologische (Essai sur quelques problèmes concernant le normal et le pathologique), das 1974 in deutscher Übersetzung veröffentlicht wird. Dieses Meisterwerk ist das Ergebnis einer komplexen Entstehungsgeschichte, in der das deutsche Denken neben französischen und anglo-amerikanischen Elementen eine wichtige Rolle spielt – während Canguilhem zugleich sein Leben im Kampf gegen die Nazis riskierte. Meine Absicht in diesem Beitrag ist es, die anhaltende Aktualität der medizinischen Philosophie und des intellektuellen Engagements von Georges Canguilhem darzulegen.

Die Normativität des Organismus

Der Kern dieser medizinischen Philosophie liegt in der Vorstellung, dass das Pathologische eine Funktionsweise des Organismus ist, in der

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dessen „normative“ Kraft fortbesteht, wenn auch in verminderter Ausprägung. Der Organismus im pathologischen Zustand funktioniert nach anderen physiologischen „Normen“ als im gesunden Zustand; es handelt sich jedoch ebenso um Normen. Eine chronische Krankheit wie Diabetes illustriert sehr schön diese Betrachtungsweise. Zwar erfasst die Krankheit in gewisser Weise den ganzen Organismus, gleichwohl findet dieser einen Funktionsmodus, der relativ stabil ist oder stabil gehalten werden kann. Mit anderen Worten, die normale und die pathologische Funktionsweise des Organismus sind verschieden: sie schließen bruchlos aneinander an, sind aber von qualitativ verschiedener Art. Beide bringen auf ihre eigene Weise die Fähigkeit des Organismus zum Ausdruck, unter verschiedenen Funktionsnormen zu existieren, eine Fähigkeit, die Canguilhem „Normativität“ nennt. Während der Abfassung seiner medizinischen Doktorarbeit Das Normale und das Pathologische an der Universität Straßburg, die während des Krieges nach Clermont-Ferrand verlegt war, konnte Canguilhem in der geistigen Atmosphäre Straßburgs die reiche deutschsprachige medizinphilosophische Literatur vom Beginn des 20. Jahrhunderts zur Kenntnis nehmen. Diese umfasst eine Vielzahl von Autoren, darunter insbesondere Kurt Goldstein, von dem er Ausgangspunkt und Sichtweise der Neurologie übernimmt und diese zu einer breiteren, auf eine mehr theoretische Physiologie gerichtete Vision ausarbeitet. In diesem Zusammenhang habe ich vorgeschlagen, dass einige Thesen Canguilhems zu den beiden Funktionsmodi des Organismus der Anlage der Konzeption nach der sogenannten qualitativen Dynamik (also der Theorie des Verhaltens nichtlinearer komplexer Systeme) sehr ähnlich sind und in deren Begriffen interpretiert werden können.2 Philosophisch gesprochen scheint Canguilhems Konzeption einen optimistischen Rationalismus wiederzubeleben. Es ist ein Rationalismus, da das Pathologische in Modellen fassbar gemacht wird, auch wenn diese nur qualitativ sind; und es ist ein Optimismus, da die Idee der Normativität einen Hymnus auf die Fähigkeit des Lebendigen zur Erhaltung und Neuschöpfung darstellt. Dieser Optimismus wird durch die befreiende oder sogar heilende Wirkung von Canguilhems Konzeption bezeugt. Als Philosoph setzt Canguilhem auf die Heilkräfte im Organismus, und es ist unbestreitbar (ich könnte dafür Zeugen benennen), dass die Lektüre von Canguilhems Schriften Patienten in

2 | Debru 2004: 35-36, 44-45.

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schwierigen Situationen helfen kann, ihre Lage zu überwinden und ihre Gesundheit zurückzugewinnen. Eine solche eigentümliche Wirksamkeit philosophischen Denkens ist selten genug, um explizit erwähnt zu werden. Seine Leser davon zu überzeugen, dass die Normativität des Lebens im Organismus wirksam bleibt und dass sie sich auf diese stützen können, um ihre Gesundheit wiederzuerlangen, ist ein besonderer philosophischer Akt von der Größenordnung einer Konversion, die die Darlegungen Canguilhems bewirken und hervorrufen. Aber damit diese Konversion wirksam wird, muss die Person, die sie erlebt, ein Verständnis der Lebensphänomene gewinnen, worin sich das Leben und Lebensbewusstsein auf eine neue Weise miteinander verknüpfen, also gewissermaßen Ethik und Erkenntnistheorie verbinden. Eine Idee Canguilhems, die stark an die deutsche Wertphilosophie erinnert, lautet, dass das Leben unbewusste Werthaltung ist. Der Wert entsteht aus der Auseinandersetzung des Lebens mit seiner Umwelt. Der Wert ist etwas, das zugleich aus der bedrohten Existenz entsteht und die Eroberung (oder Rückeroberung) dieser Existenz hervorruft. Der Wert ist eine dynamische Polarität. Er durchdringt das Wesen und bringt seine Zukunftsorientierung zum Ausdruck. Eine von Canguilhem anhaltend vertretene These ist, dass die wissenschaftliche Erkenntnis des Lebens eine philosophische Konzeption des Lebens nicht überflüssig macht und dass diese von der Vorstellung der Werthaltung getragen wird. Diese unbewusste Werthaltung wird in der Philosophie ebenso wie in der Medizin bewusst, noch mehr aber in der (seltenen) Verbindung beider. Eine solche philosophische Erkenntnis verändert die Wahrnehmung der Krankheit und lenkt die Wirkung der Medizin in eine andere Richtung. Aber diese Erkenntnis kommt nicht von außen. Sie ist nicht von der schlichten Art der Wissenschaft, von reiner und einfacher Objektivität. Die gesunde oder kranke Person kommt zuerst, die Medizin als Technik setzt an dieser ursprünglichen Erfahrung an und arbeitet mit ihr zusammen. Canguilhems These ist, dass die Technik der Wissenschaft vorangeht und dass die Medizin dafür das vielleicht sprechendste Beispiel liefert. Aus welchen Gründen stellen die vitalistischen Spekulationen, die von Canguilhem unter Bedingungen und in einer Welt ausgearbeitet wurden, die nicht mehr die unseren sind, eine kritische Herausforderung und einen Antrieb für die moderne Medizin dar, obwohl diese von vielfachen Zweifeln erfasst ist, sich von ethischen und manchmal widersprüchlichen ökonomischen Forderungen beherrscht findet, und die gelegentlich ihre wachsenden Fähigkeiten allein der biomedizini-

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schen Forschung, der Zellbiologie und der Molekularbiologie zu widmen scheint? Aus welchen Gründen hat das ziemlich isolierte und höchst originelle Engagement eines jungen Philosophieprofessors inmitten der Wirren des Zweiten Weltkriegs auf einem Gebiet, das nicht wirklich etwas mit der damaligen politischen Katastrophe zu tun hatte und das eher am Rande der philosophischen Hauptströmungen in Frankreich lag, in der jüngeren Vergangenheit ein breites Echo unter praktizierenden Ärzten und darüber hinaus gefunden? Diese Frage stellt sich tatsächlich, und dies umso mehr, als die heutige Lektüre des Werks Das Normale und das Pathologische zugleich dessen Fremdartigkeit enthüllt (wobei es in der Tat in gewisser Hinsicht stark veraltet ist) und die Aktualität von Canguilhems Ansichten deutlich macht. Die heutige Medizin ist „wissenschaftlich“ geworden, auf Beweise gegründet („evidence-based“). Sie stützt sich auf einen gewaltigen statistischen Apparat, auf standardisierte klinische Prüfungen, auf Klassifikationen, die gleichermaßen standardisiert und im Konsens akzeptiert sind, auf internationale Forschungsgruppen. Die Medizin ist ein kollektives Experiment im planetaren Maßstab geworden. Sie zielt auf größere Wirksamkeit durch biologisches Wissen, und sie setzt sich zunehmend das Ziel einer individualisierten biologischen Erkenntnis des Patienten und seiner Erkrankung, dies jedenfalls in dem Maße, in dem die Erkrankungen und ihre genetischen Ursachen in hinreichendem Umfang individuell variieren. Allerdings gibt es solche Ursachen nicht immer, zumindest nach gegenwärtigem Kenntnisstand; eine Krankheit wie Diabetes kann, muss aber nicht genetisch bedingt sein. Zwar ist die Medizin bei den akuten Erkrankungen oder bei Krebs erheblich wirkungsvoller als vor einem halben Jahrhundert, sie leidet aber unter einem Defizit in der Klinik, also einem mangelhaften individuellen Zugang zum Patienten mit seiner Biografie, seiner Existenz, seiner Art des In-der-Welt-seins und seinen sozialen und emotionalen Beziehungen. Die heutige Medizin ist auf die immer raffiniertere Erkenntnis der biologischen Grundlagen eingegrenzt und neigt dazu, sich damit zufrieden zu geben. Sie sieht sich berechtigt, die sozialen und emotionalen Dimensionen zahlreicher Krankheiten zu ignorieren. Wegen dieser Dimension kann es übrigens keine völlig kohärente und einheitliche Philosophie der Medizin geben, sondern nur eine solche, die die Vielfalt der Voraussetzungen menschlicher Gesundheit oder Krankheit in Betracht zieht. Diese Vielfalt besteht bei vielen verbreiteten Krankheiten bereits auf der biologischen Ebene, wenn ökologische oder genetische Bedingungen und infektiöse Einflüsse im pathologischen Prozess zusammenwirken. Was kann in einem solchen Zusam-

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menhang, der sich seit den 1930er oder 1940er Jahren wesentlich weiterentwickelt hat, Canguilhems fast mystische „Normativität“ zur Reflexion und zur Praxis der Medizin beitragen?

Medizinische Rationalität und die Individualität des Kranken

Um über die Aktualität des philosophischen Engagements von Georges Canguilhem mit Bezug auf den heutigen Zustand der Medizin (dessen Herausbildung er erlebt hat) zu urteilen, sollen drei Themenbereiche betrachtet werden, denen er sich besonders gegen Ende seiner Laufbahn gewidmet hat: (1) Medizin, Wissenschaft und Technik, (2) Experimentieren, (3) Gesundheit. Für Canguilhem bleibt die Medizin grundsätzlich eine Technik, und dies legt ihr Verpflichtungen auf. Das Band zwischen Medizin und medizinischer Ethik ist übrigens sehr alt und für die Praxis der Medizin ganz wesentlich. In einem Vortrag zu „Macht und Grenzen der Rationalität in der Medizin“, den Canguilhem 1978 an der medizinischen Fakultät der Universität Straßburg gehalten hat, nahm er einen kritischen Standpunkt zu den Triumphen der Medizin und der Organisation der medizinischen Versorgung ein, die zugleich die Nachfrage und das Angebot anheizt. „Der Ruhm eines Menschen, so Rainer-Maria Rilke, besteht in der Summe der auf einen Namen gehäuften Missverständnisse. Ist vielleicht auch der Nimbus der heutigen Medizin nichts anderes als die Summe der divergierenden Vorstellungen, die sich die Menschen von ihr machen: sei’s jene, die die Medizin als Wissen produzieren, sei’s jene, die sie als Macht gebrauchen, oder jene, die in der Produktion dieses Wissens und dem Gebrauch dieser Macht eine um ihretwillen und zu ihrem Wohl übernommene Pflicht sehen? Wird die Medizin nicht in mehrfacher Weise wahrgenommen: als Wissenschaft im Institut National de la Santé et de la Recherche Médicale, im Centre National de la Recherche Scientifique oder im Institut Pasteur; als Praxis und Technik auf der Intensivstation eines Krankenhauses; als Gegenstand des Konsums und womöglich der Reklamation in den Büros der Krankenkasse; und als dies alles auf einmal in einem Labor der pharmazeutischen Industrie? Man kommt daher wohl nicht umhin, die verschiedenen Bereiche, von denen man ausgehen kann, wenn man über die Macht der medizinischen Rationalität nachdenkt, voreinander zu trennen. Und man muß sich fragen, ob beim Durchgang durch diese Bereiche (beginnend beim ersten) eigentlich der dem medizinischen Wissen mittlerweile attestierte Rationalitätsstandard erhalten bleibt oder nicht. Übermittelt die medizinische

D AS PHILOSOPHISCHE E NGAGEMENT IN DER M EDIZIN | 149 Praxis dem Verbraucher von Medikamenten und ärztlicher Behandlung jene Rationalität des Wissens, deren Anwendung sie darstellt?“3

Dieser Frage, die mit einer gewissen Radikalität und bezogen auf eine sehr komplexe Situation gestellt wird, kann man mit ein wenig mehr Abstand zu Georges Canguilhem eine noch stärker kritische Wendung geben. Was ist der Rang der „Rationalität“ des medizinischen Wissens? In welchem Sinn kann man bei diesem Wissen von „Rationalität“ sprechen? Zumindest kann man heute sagen, dass diese „Rationalität“ eine größere Komplexität von Faktoren als jemals zuvor umschließt. Wenn es „Rationalität“ gibt, dann nur in einem breiten pragmatischen Verständnis, und dies aus mehreren Gründen, die sich seit der Zeit, in der Canguilhem seine Überlegungen entwickelte, noch verstärkt haben. Zunächst ist in der Krankheitslehre, die kaum ausgearbeitet und doch für die Argumentation in Das Normale und das Pathologische zentral war, inzwischen die Bedeutsamkeit einer Vielzahl von Ursachen anerkannt. Die Krankheitslehre entfernt sich daher noch weiter von der Monokausalität, die in den medizinischen Konzeptionen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbreitet war. Solche monokausalen Konzeptionen waren aber schwer mit Canguilhems holistischem Vitalismus vereinbar gewesen, der in der Vorstellung zusammengefasst ist, dass nicht die Zelle krank ist und nicht das Organ, sondern der ganze Organismus. Heute hat die Einführung von „Risikofaktoren“, wie sie aus großangelegten epidemiologischen Untersuchungen hervorgegangen ist, die Wahrnehmung der Komplexität der Mechanismen der Krankheitsentstehung geschärft, bei denen einige Bestimmungsstücke, insbesondere genetischer Natur, bis zum Beweis des Gegenteils nicht notwendig für die Ausbildung einer Krankheit sind, sondern lediglich hinreichende Bedingungen darstellen. Darüber hinaus zeigt die Epidemiologie für typische Fälle sehr deutlich die Korrelation zwischen dem Zusammenwirken von Ursachen und unterschiedlichen Erkrankungsraten (wofür die Vielzahl von Faktoren, die das Auftreten des Burkitt-Lymphoms beeinflussen ein klassisches Beispiel darstellt). Eine erkenntnistheoretische Konsequenz dieser Sachlage ist, dass das Verständnis pathologischer Phänomene mehr denn je Merkmalsverteilungen in der Bevölkerung auf mehreren Ebenen in Betracht ziehen muss. Dazu zählen sicher genetische Eigenschaften, aber auch ökologische, soziale oder psychologische. Eine Rationalität holistischer Art kann nur zurückgewonnen werden, wenn man sich auf ein 3 | Canguilhem 1989: 49.

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Komplexitätsniveau einlässt, das um einiges oberhalb der Komplexität des einzelnen Organismus liegt. Auf einem solchen Niveau kann aber Rationalität nur holistischer Natur sein, kann sie nur auf einem Gesamtblick beruhen. Wie Einzelorganismen mit ihrer Umwelt ein Gleichgewicht herstellen oder dieses verfehlen (wobei Canguilhem beständig hervorhebt, dass das Lebendige seine Umgebung schafft) ist heute eine Frage, die Teil der „Gesundheitswissenschaften“ ist, die sich mit dem öffentlichen Gesundheitswesen befassen. Dieser Bereich liegt den ursprünglichen Intuitionen Canguilhems zur physiologischen Normativität eher fern, ohne ihnen jedoch zu widersprechen. Eine weitere Betrachtung richtet sich auf den pragmatischen Charakter der medizinischen Rationalität und betrifft die Therapieverfahren. Die wachsende Präzision der molekulargenetischen Analyse von Einzelpersonen oder der zugehörigen Erkrankungsursachen lässt die Ärzte von einer individualisierten Behandlung träumen. Eine solche gibt es gegenwärtig nicht, da Medikamente nur in geringer Zahl für spezifische Formen von Krankheiten verfügbar sind und da die Identifikation geeigneter Medikamente eine weitgehend pragmatische, nicht-rationale Angelegenheit ist. Es ist jedoch in keiner Weise ausgeschlossen, dass der Fortschritt der Bio- und Nanotechnologie die Realisierung dieses Traums einer gänzlich individualisierten Behandlung ermöglicht. Schließlich wurde eine derartige Spezifität der Therapie bei der Behandlung von Infektionskrankheiten erreicht, die auf der chemischen Spezifität der Bindung von Antigen und Antikörper beruht. Jedenfalls verstärkt die Hoffnung auf eine individualisierte Medizin die Perspektive einer rationalen Medizin. Sie tritt zum Verständnis von Krankheitsentstehung hinzu, wie sie aus der Untersuchung des öffentlichen Gesundheitswesens hervorgegangen ist und eröffnet die Perspektive neuer und wirksamerer Therapieverfahren. Hebt dies die Kritik von Canguilhem in ihrer gesamten Tragweite auf? Um diese Tragweite zu beurteilen, ist es erforderlich, sein kritisches Denken genauer vorzustellen. Canguilhem hat sehr gut den Charakter der Selbstverstärkung des technisch-wissenschaftlichen Kreislaufs in der Medizin erkannt. Er hat überdies gesehen, dass dieser Kreislauf neue Ungleichheiten einführte und damit eine Schwierigkeit ethischer Natur für die Medizin aufwarf. In der Zeit der großen Entwicklung von Verfahren der Organverpflanzung schreibt er: „Mit Recht fragte man sich, ob die in den ursprünglichen Forschungen waltende Rationalität sich in den staatlichen Programmen zur Bereitstellung der Mittel für therapeutische Eingriffe überhaupt wiederfand. In nicht wenigen

D AS PHILOSOPHISCHE E NGAGEMENT IN DER M EDIZIN | 151 Ländern der dritten Welt, in denen Erkrankungen durch Parasiten und Infektionen die häufigste Todesursache bilden, gilt die Organtransplantation als irrational. […] Deutlich wird damit, daß in jeder Gesellschaft die Macht der Rationalität von oben, welche von jenen ausgeht, die im Besitz des Wissens sind und die es anwenden, abhängig ist von der Rationalität von unten, die in den Ansichten der von neuen Vorstößen auf dem Gebiet der Therapie am eigenen Leibe Betroffenen steckt. [...] Sollten die Mediziner mit dieser Erfindung eines (nur einer Patientenelite zugutekommenden) Verfahrens der Produktion anonymer Organe etwa vergessen haben, daß die Rationalität ihrer Disziplin zuerst einmal allen offenbar wurde, weil sie ihnen Beweise ihrer Fähigkeit lieferte, bei der Verwirklichung eines ihrer ältesten Träume, nämlich des Traums von der Erhaltung und dem richtigen Gebrauch ihrer Gesundheit, behilflich zu sein?“4

Diese an die Medizin gestellte Frage ruft nach einer Analyse in mehrerlei Hinsicht. Sie stellt nicht die Rationalität der Erforschung von Krankheitsursachen infrage, zu deren Verteidiger sich Canguilhem gegen Ideologien der Selbsttherapie (der Idee des „médecin de soimême“) der Krankheit durch den Patienten macht. Zugleich erinnert Canguilhem angesichts des medizinischen Könnens daran, dass „der Kranke ein […] Subjekt ist“5. „[…] es ist unmöglich, die Subjektivität des den Kranken eigenen Erlebens in der Objektivität des ärztlichen Wissens aufzulösen.“6 In seinem Plädoyer für die Wiedereinführung der Subjektivität des Kranken in die Zugangsweise der Medizin definiert Canguilhem die „medizinische Rationalität“ als „ihren Wendepunkt – freilich nicht Rückzugspunkt“.7

Medizin als angewandte Wissenschaft

Der epistemologische Status der Medizin ist einer der letzten Texte von Canguilhem und gehört zu denjenigen seiner Arbeiten, die am meisten Aufmerksamkeit erregt haben. In diesem 1985 in Perugia gehaltenen Vortrag untersucht Canguilhem die gesamte Medizingeschichte unter dem Gesichtspunkt des Strebens nach Wissenschaftlichkeit; er beschreibt die großen Entwicklungslinien und identifiziert deren große Momente. Einer dieser großen Momente ist die öffentliche Hygiene, die am Ende des 19. Jahrhunderts und insbesondere

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Ebd.: 52-53 ; orig.: 400-401. Ebd.: 61, orig. : 409. Ebd.: 62, orig. : 409. Ebd.: 65, orig.: 411.

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durch die Arbeiten von Pasteur und seiner Schule Anlass zu großer Sorge gegeben hatte. „Auf dem Umweg über die in den europäischen Gesellschaften im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts institutionalisierte öffentliche Hygiene drängt die Epidemiologie die Medizin auf das Feld der Sozial- und sogar der Wirtschaftswissenschaften. Von da an wird es unmöglich, in der Medizin die Wissenschaft von ausschließlich organischen Anomalien oder Störungen zu sehen. Zu den Umständen, die der Arzt berücksichtigen muß, kommen nunmehr die sozioökonomische Lage des besonderen Kranken und ihr Niederschlag in dessen Erleben hinzu. Auf dem Umweg über die politischen Erfordernisse der öffentlichen Hygiene machen die ursprünglichen Zielsetzungen und Einstellungen der Medizin in der Folge einen allmählichen Bedeutungswandel durch.“8

Die Medizin wird zu einer „biologischen Technologie“, die den einzelnen Kranken „einklammert“, der doch der einzige Gegenstand der klinischen Medizin ist. Erlauben aber nicht die Biologie, die Immunologie oder die Genetik die Rückgewinnung der Individualität des Kranken? In den Augen von Canguilhem ist das nicht wirklich der Fall. „An diesem Punkt muß man sich vor einer Versuchung hüten, nämlich der zu glauben, man habe dank der Fortschritte in medizinischer Wissenschaftlichkeit zu dem (doch gerade durch diese Fortschritte ‚eingeklammertenǥ) konkreten Individuum des Kranken zurückgefunden. Die Identität des Immunsystems bleibt ungeachtet der semantischen Nachlässigkeit, mit der sie gelegentlich als Gegensatz von Selbst und Nicht-Selbst präsentiert wird, etwas streng Objektives.“9

Wie soll also der epistemologische Status der Medizin bestimmt werden? Canguilhem schlägt vor, sie als angewandte Wissenschaft zu definieren, oder präziser als sich entwickelnde Summe der angewandten Wissenschaften. Als angewandte Wissenschaft bewahrt die Medizin „die theoretische Stringenz jenen Wissens, das sie zur besseren Verwirklichung ihrer therapeutischen Intention übernimmt“.10 Eine angewandte Wissenschaft bleibt eine Wissenschaft, auch wenn die Anwendung eine neue experimentelle Dimension hinzufügt. Canguilhem zitiert Rothschuh, der die Medizin als „operationale Wissenschaft“11 definiert hatte. Aber diese Bezeichnungen reichen nicht hin, denn sie 8 9 10 11

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Canguilhem 71994: 69-93, hier: 81, orig.: 421. Ebd.: 83-84, orig.: 423. Ebd.: 84, orig.: 423. Ebd.: 90, orig.: 427.

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berücksichtigen nicht den notwendigen Beitrag der menschlichen Individualität, der in der „Einheit des Handelns“ besteht, auf die diese „Summe“12 der Erkenntnisse und Verfahren abzielt, die die Medizin ausmachen. Man sieht, dass Canguilhems Kritik an einer Medizin, die auf eine bloß instrumentelle Tätigkeit reduziert ist, heute nichts von ihrer Aktualität verloren hat. Die Medizin ist Summe der angewandten Wissenschaften, und insofern sie auf Anwendungen gerichtet ist, schließt sie ein Moment des Experimentellen ein. Canguilhem erinnert daran, dass jedes therapeutische Eingreifen ein Experiment ist. Ein Text aus dem Jahre 1959, älter also als die vorangehenden, mit dem Titel Medizin – Therapie, Experiment, Verantwortung (Médicine – Thérapeutique, expérimentation, responsabilité), fasst alle Konsequenzen dieser Situation ins Auge, darunter auch die Konsequenzen für die Ausbildung von Ärzten. Canguilhem stellt die folgende Diagnose der Wirklichkeit der Medizin verglichen mit ihren Leitwerten: „Da die Medizin heute – wie alle Formen technischen Handelns – ein Phänomen nach den Maßstäben einer Industriegesellschaft ist, sind Entscheidungen politischer Natur in alle Debatten über das Verhältnis von Mensch und Medizin eingewoben. Jeder Standpunkt, den man zu Mitteln und Zwecken der neuen Medizin einnimmt, umfasst eine implizite oder explizite Stellungnahme zur Zukunft der Menschheit, der Gesellschaftsstruktur, den Hygienevorschriften und der sozialen Sicherheit sowie zur Ausbildung und zum Beruf des Mediziners. Wegen dieser Wechselbeziehungen ist es manchmal schwierig, in einigen Polemiken zwischen der Sorge um die Zukunft der Menschheit und den Befürchtungen für die zukünftige Stellung der Ärzte zu unterscheiden. […] Die besonders akute Form der heutigen medizinischen Bewusstseinskrise besteht in der Verschiedenheit oder gar dem Gegensatz von Meinungen zur richtigen Einstellung oder zur Pflicht des Mediziners angesichts der therapeutischen Möglichkeiten, die ihm die Resultate der Laborforschung, die Verfügbarkeit von Antibiotika und Impfstoffen, von chirurgischen Eingriffen zur Wiederherstellung, zur Organverpflanzung oder Prothetik sowie die Anwendung radioaktiver Stoffe im Organismus bieten.“13

Diese Diagnose einer medizinischen Bewusstseinskrise oder eines Unbehagens in der Anwendung der neueren Möglichkeiten, die die medizinische Forschung erschlossen hat, kann beinahe Wort für Wort auf die heutige Situation übertragen werden – was das Ausmaß der kulturellen Kontinuität in der Medizin unterstreicht (eine Auffassung, 12 | Ebd.: 91, orig.: 428. 13 | Canguilhem 1966: 383-384.

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die im Übrigen von dem Historiker Mirko Grmek geteilt wird). Diese Kontinuität drückt sich markant in dem Bewusstsein aus, dass „behandeln heißt, ein Experiment zu machen“.14 Als Philosoph (und Mediziner) versäumt Canguilhem nicht, die Mediziner an die bekannten Folgen dieser Sachlage zu erinnern: „Wenn man die Pflicht zum klinischen Experiment beansprucht, müssen die zugehörigen intellektuellen und moralischen Forderungen erfüllt sein“.15 Diese Forderungen sollten in der Ausbildung der Ärzte Ausdruck finden. In der Zeit, in der Canguilhem seine ethischen Überlegungen vortrug, war die Ethik nicht Teil dieser Ausbildung. „Eine Tatsache sollte eine Überraschung oder eigentlich ein Skandal sein. [...] Ist es nicht überraschend, dass sich das Medizinstudium mit allem befasst, außer mit dem Wesen der ärztlichen Tätigkeit, und dass man Arzt werden kann, ohne etwas von den Verpflichtungen des Arztes zu wissen? An der medizinischen Fakultät kann man die chemische Zusammensetzung von Speichel oder den Lebenszyklus der Darmbakterien der Küchenschabe studieren. Man kann aber sicher sein, über andere Sachverhalte niemals die geringste Information zu erhalten, nämlich die Psychologie des Kranken, die Bedeutung der Krankheit im Leben, die Pflichten des Arztes gegenüber dem Kranken (und nicht allein gegenüber seinen Kollegen oder dem Staatsanwalt), die Psycho-Soziologie der Krankheit und der Medizin.“16

Diese kritischen Bemerkungen zum Medizinstudium haben dreißig Jahre gebraucht, um ihren Weg durch das französische Ausbildungssystem zu finden und am Ende die Einführung der Geistes- und Sozialwissenschaften sowie der Philosophie und der medizinischen Ethik in den medizinischen Lehrplan herbeizuführen. Es versteht sich, dass neben den anhaltenden Problemen eine Vielzahl von Skandalen im öffentlichen Gesundheitswesen die französischen Behörden in den 1990er Jahren veranlasst haben, den von Georges Canguilhem empfohlenen Weg zu gehen. Zu der Frage, wer diese Fächer unterrichten sollte, hat Canguilhem klare Ansichten: „Es obliegt den Ärzten von großer Kultur und langer Erfahrung, ihre jungen Nachfolger darüber aufzuklären, dass Behandeln in bestimmtem Ausmaß stets die Entscheidung beinhaltet, zum Nutzen des Lebens ein Experiment auszuführen.“17

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Ebd.: 389. Ebd.: 390. Ebd.: 390. Ebd.: 391.

D AS PHILOSOPHISCHE E NGAGEMENT IN DER M EDIZIN | 155 Gesundheit als philosophisches Problem

Eine Philosophie der Medizin wäre ohne Reflexion über Gesundheit unvollständig. Der Gesundheit sind mehrere Texte Canguilhems gewidmet, darunter Die Gesundheit. Gemeinbegriff und philosophische Frage (La santé, concept vulgaire ou question philosophique) von 1988. Vielleicht findet Canguilhem in diesen Kommentaren zur Gesundheit als philosophische Frage auf die klarste und intensivste Weise zum Vitalismus seiner Jugend zurück. Gibt es eine Wissenschaft der Gesundheit? In Das Normale und das Pathologische schien Canguilhem gelegentlich im Zweifel, ob es eine Wissenschaft der Krankheit gibt. „Da es sich als unmöglich erwiesen hat, die Definition der Physiologie als einer Wissenschaft vom Normalen aufrechtzuerhalten, dürfte es demnach auch schwerfallen, von einer Wissenschaft der Krankheit, also von einer rein wissenschaftlichen Pathologie zu sprechen.“18

„Es gibt keine objektive Pathologie.“19 Die Schlussfolgerung, die Canguilhem aus seinen Überlegungen zum Problem der Gesundheit zieht (und die zugleich Nietzsches „große Gesundheit“ kommentiert), ist von doppelter Natur, da sie, wie stets bei ihm, auf den beiden Registern der Wahrheit und der Werte spielt. „Die Anerkennung der Gesundheit als Wahrheit des Körpers in einem ontologischen Sinn, kann nicht nur, sondern muss, im Sinne eines Randstreifens und Geländers, von der Anwesenheit der Wahrheit im logischen Sinn, d. h. der Wissenschaft, ausgehen. Gewiss, der erlebte Körper ist kein Gegenstand. Aber für den Menschen heißt leben auch erkennen. Ich fühle mich wohl in dem Maße, in dem ich mich dazu in der Lage fühle, die Verantwortung meiner Handlungen zu tragen, die Dinge zur Existenz zu bringen und zwischen den Dingen Beziehungen zu stiften, die ihnen ohne mich nicht zukommen würden, ohne die sie aber nicht das wären, was sie sind. Also muss ich lernen zu erkennen, was sie sind, um sie zu verändern.“20

Man findet hier erneut, in beinahe reinem Zustand und über einen Abstand von 45 Jahren hinweg, das philosophische Thema der menschlichen Normativität. Canguilhem hat in seiner Zeit angesichts einer Vielzahl von Mechanismen der Entmenschlichung die Rolle des „kritischen“ Intellek18 | Canguilhem 1966: 143. 19 | Ebd.: 154, orig.: 153. 20 | Canguilhem 2004 : 68-69.

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tuellen eingenommen. Auf diese kritische Intervention gründet sich seine Reputation in medizinischen Kreisen und darüber hinaus. Seine kritische Analyse ist zunächst auf die in den 1930er Jahren verbreiteten Konzeptionen gerichtet, darunter die Kontinuität zwischen dem Normalen und dem Pathologischen, die Lokalisierbarkeit pathologischer Prozesse und die Monokausalität der Krankheiten. Canguilhems Polemik gegen diese Vorurteile hat ihre Aktualität verloren, denn diese Vorurteile sind nicht mehr die unseren. Aber das bedeutet nicht, dass in der nun wissenschaftlich gewordenen Medizin und dem System der medizinischen Versorgung, das daraus hervorgegangen ist, keinerlei Vorurteil mehr wirksam wäre. An dieser Stelle ist demnach die philosophische Kritik für den Fortschritt der Wissenschaft und der medizinischen Praxis wichtig, und Canguilhem stellt dafür Inspiration und Anleitung bereit.

Literaturverzeichnis Canguilhem, Georges (1966): „Médicine – Thérapeutique, expérimentation, responsabilité“, Études d’histoire et de philosophie des sciences concernant les vivants et la vie, Paris: Vrin, S. 383-384. Canguilhem, Georges (1974): Das Normale und das Pathologische. Hrsg. Wolf Lepenies, Henning Ritter, Übers. v. Monika Noll u. Rolf Schubert, München: Hanser, S. 144. (Orig. Canguilhem, Georges (1966): Le normal et la pathologique, Paris: Presses Universitaires de France, S. 143). Canguilhem, Georges (1989): „Macht und Grenzen der Rationaliät in der Medizin“. In: Gerd Hermann (Hrsg.), Georges Canguilhem. Grenzen medizinischer Rationalität. Historisch-epistemologische Untersuchungen, übersetzt von Monika Noll, Tübingen: edition diskord, S. 41-68, (Orig. Canguilhem, Georges (1988): „Puissance et limites de la rationalité en médecine“, Études d’histoire et de philosophie des sciences concernant les vivants et la vie, Paris: Vrin, S. 398). Canguilhem, Georges (71994): „Der epistemologische Status der Medizin“. In: Gerd Hermann (Hrsg.), Grenzen medizinischer Rationalität, S. 69-93. (Orig. Canguilhem, Georges (1989): „Le statut épistemologique de la médecine“, Etudes d’histoire et de philosophie des sciences concernant les vivants et la vie, Paris: Vrin, S. 421). Canguilhem, Georges (2004): Gesundheit – eine Frage der Philosophie, herausgegeben und übersetzt von Henning Schmidgen, Berlin: Merve. (Orig. Canguilhem, Georges (2002): „La santé, concept vulgaire et question philosophique“, Écrits sur la médecine, Paris: Editions du Seuil, S. 68. Debru, Claude (2004): Georges Canguilhem, science et non-science, Paris: Editions Rue d’Ulm, Presses de l’École normale supérieure.

ERFOLG DURCH GRUPPENORGANISATION : D IE N EW YORK INTELLECTUALS W ALTER R EESE -S CHÄFER

Einführung

Gruppenbildungen von literarischen oder politischen Intellektuellen sind eines der interessantesten Phänomene der Ideengeschichte. Manchmal genügt es, dass ein paar Studenten für zwei, drei Jahre sich treffen, auf den Hainberg wandern, gemeinsam sich für einen Nationaldichter begeistern und selber anfangen, Gedichte zu schreiben, um immerhin in die deutsche Literaturgeschichte als der Göttinger Hain einzugehen, eine Gruppe, die jeder Germanist kennt und an deren Existenz in den Jahren 1772-73 noch einige Gedenktafeln an Göttinger Häusern erinnern.1 Andere Gruppen entwickelten einen bis heute anhaltenden Weltruhm. Zum Beispiel die Weimarer Klassiker und deren Umfeld sowie, für das ganze 18. Jahrhundert, die französische, auf Paris konzentrierte, aber nach ganz Europa ausstrahlende Aufklärung. Dazu bedarf es einer ganz anderen Basis als bloß der Gemeinsamkeit einiger Studenten. Die Basis bildet immer ein Ort mit hoher Kommunikationsdichte sowie eine in Bewegung geratene Gesellschaft, die jungen Aufsteigern völlig neuartige Chancen eröffnet, berühmt zu werden, wenn auch zunächst gelegentlich in einer so brotlosen Kunst wie dem Gedichteschreiben.2 Wenn nun eine Gruppe von Intellektuellen sich in einer Weltstadt wie New York konzentriert und einen über mehrere Generationen sich erstreckenden Zusammenhalt aufweist, wenn sie zudem in erster Linie nicht so sehr auf literarischem Ruhm basiert, sondern vielmehr auf politischen Gemeinsamkeiten und der Fähigkeit, dies in einem brillanten und zugespitzten Stil diskutieren zu können, dann verdient eine 1 | Dazu gehörten u. a. Johann Heinrich Voß, die Brüder Stolberg, Boie und Hölty. 2 | Vgl. dazu mit einer brillanten Konzeption der Clusterbildung Collins 4 2002.

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solche Gruppe besondere Aufmerksamkeit, auch und gerade von Seiten der politischen Ideengeschichte. Charakteristisch für diese Gruppe ist die intensive Schärfung und Schulung der politischen Urteilskraft an der Auseinandersetzung mit historischen Großereignissen, aber auch der Literatur- und Kunstkritik. Politisches Kritikvermögen und das Vermögen, die aktuelle Entwicklung der bildenden und schreibenden Künste kommentieren und kritisieren zu können, liegen begabungsmäßig oftmals eng beieinander. Die Gruppe von Intellektuellen, mit der ich mich hier befassen will, weist einige Besonderheiten auf: Sie erstreckt sich über mehrere Generationen, konzentriert sich neben Ablegern nach Chicago und später nach Washington, als einige berühmt und Regierungsberater geworden waren, im Wesentlichen auf New York. Sie weist eine hohe interne Kommunikationsdichte auf sowie, bei allen persönlichen Differenzen und politischen Unterschieden, eine enorme Familiarität, so dass Norman Podhoretz, der in der dritten Generation hinzugekommen ist, diese Gruppe konsequent als family gekennzeichnet hat.3 Man zog ständig übereinander her und lästerte pausenlos, fühlte sich aber im Innersten zusammengehörig, was sich darin manifestierte, dass das Urteil der anderen als außerordentlich wichtig, im Grunde konstitutiv empfunden wurde. Die New Yorker Geographie ist noch präziser zu beschreiben: Die meisten der „Familienangehörigen“ waren in Brooklyn geboren und aufgewachsen,4 stammten aus jüdischen Einwandererfamilien, besuchten die High School und danach das College, meist das New York City College. Sie lebten und arbeiteten danach fast ausnahmslos in Manhattan, nicht nur, wie meist in Kommentaren steht, im Greenwich Village, sondern vor allem auch auf der Upper West Side, im Umkreis der Columbia University, wo dann auch Hannah Arendt wohnte, die als Emigrantin bald in den „Familienkreis“ einbezogen wurde. Das Umfeld dieser niemals fest organisierten Gruppe beschränkte sich aber keineswegs nur auf jüdische Mitglieder, bald gehörten eine Reihe von gentile cousins, wie sie ziemlich unbefangen charakterisiert wurden, z. B. Mary McCarthy oder Dwight Macdonald ebenfalls dazu. Die Gemeinsamkeit, die diese Gruppe zusammenfügte, bestand zunächst im Wesentlichen darin, dass man brillante Artikel für anfangs kleine, später immer einflussreicher werdende Zeitschriften schrieb, allen voran den Partisan Review. Später, als einige Autoren richtig berühmt geworden waren, schrieben sie dann auch für den New 3 | Vgl. Podhoretz 1967, bes. Kap. 4: 109-136, und passim. 4 | Daniel Bell auf der Lower East Side.

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Yorker, was aber lange als anstößig galt. Eine zweite Zeitschrift war besonders in den sechziger und siebziger Jahren noch einflussreicher: Commentary, herausgegeben vom Jewish Council und redigiert zunächst von Elliot Cohen, dann von Norman Podhoretz, der sich erst vor kurzem aus der Redaktionsleitung zurückgezogen hat. Man kann also von einer stark ethnisch-familial geprägten Wissenskultur sprechen, die sich über sehr lange Zeit außerakademisch behaupten musste, also auf das Stilmittel der literarischen Brillanz und der intellektuellen Provokation zurückgreifen musste, um gehört und gelesen zu werden. Die Entwicklung dieser Gruppe lässt sich in deutlich sichtbare Phasen einteilen: Erstens die Aufstiegsphase seit den dreißiger Jahren: der Weg zum Ruhm. Zweitens die Phase des Kalten Krieges, als die auch internationale Bedeutung dieser Intellektuellengruppe ihren Höhepunkt erreicht; drittens die Phase der Entfremdung von der Neuen Linken; viertens die Phase des Neokonservatismus in der beginnenden Reagan-Ära. Eine fünfte bis in die Gegenwart reichende Phase der Auflösung und Verlagerung der politischen Wirkung nach Washington ließe sich vielleicht anfügen.5

Phase 1: Der Weg zum Ruhm

Die erste Phase der New York Intellectuals wurde vor allem von dem geprägt, was man den marxistischen Radikalismus der Weltwirtschaftskrise nennt. (Dorman, S. VIII). Die jungen New Yorker Linken sammelten sich um den Partisan Review, zunächst 1934 als Zeitschrift des John-Reed-Club gegründet, also einer der vielen kommunistischen Vorfeldorganisationen. 1937 erfolgte dann die Neugründung durch unabhängige und antistalinistische Linke. Die Zeitschrift kritisierte die 5 | Die folgene Darstellung stützt sich auf die Durchsicht der verschiedenen Jahrgänge des Partisan Review und des Commentary, auf die Memoiren der Hauptbeteiligten sowie auf eine umfangreiche Sekundärliteratur, durch die die Bezeichnung „New York Intellectuals“ endgültig zu einem Markenbegriff geworden ist. Diese Arbeiten sind von unterschiedlicher Qualität. Am klarsten und besten ist die auf Interviews basierende Zusammenstellung von rückblickenden Analysen und Bewertungen der New York Intellectuals selbst: Joseph Dorman, Arguing the World. The New York Intellectuals in Their Own Words [= Dorman 2001]. Zu nennen sind: Steinfels 1979; Jumonville 1991; Bloom 1986; Wald 1987. Nicht zu unterschätzen sind die Reflexionen von Irving Kristol in Kristol 1995) und ders. 1983 (teilweise überschneiden sich die Texte). Ergänzend: McAuliffe 1978; Pells 1985.

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Moskauer Schauprozesse und beschäftigte sich mit allen jenen aufregenden Formen moderner Kunst, die von der Parteidoktrin des sozialistischen Realismus bekämpft wurden. Die antistalinistische Identität basiert also auf einer Einheit des politischen und ästhetischen Denkens. Den Volksfrontbestrebungen der Kommunisten und deren eher mittelmäßigen künstlerischen Veranstaltungen stand man distanziert gegenüber. Der Beginn einer gemeinsamen Identitätsentwicklung der New York Intellectuals in den dreißiger und vierziger Jahren liegt also in einer Gefühlszugehörigkeit zur nichtkommunistischen Linken. Viele sympathisierten mit Leo Trotzki, nachdem dieser entmachtet und aus der Sowjetunion ausgewiesen worden war. Bemerkenswert war die Clusterbildung junger Nachwuchsintellektueller am City College in New York, weil dieses damals keine Studiengebühren verlangte. Für begabte und aufstrebende jüdische Jugendliche aus Brooklyn war dies die Anlaufadresse. Sehr anschaulich hat Irving Kristol in seinem Memoirs of a Trotskyist6 beschrieben, wie eine Kerngruppe um Irving Howe, Daniel Bell, Nathan Glazer und ihn selbst, der sich immer eher als randständiger Beobachter fühlte, sich zur permanenten hitzigen Politdiskussion im ersten Alkoven der dortigen Caféteria trafen, von wo aus man die wesentlich zahlreicheren Stalinisten im Nachbaralkoven Nr. 2 lautstark und wortreich bekämpfte. Die marxistische Theoriekonzeption gab diesen amerikanischen Intellektuellen – zeitgleich auch vielen in Großbritannien – einen Begriffsrahmen und einen Weltzugang, der das Gefühl vermittelte, alles vollkommen zu durchschauen und dabei keineswegs dogmatisch, sondern durchaus kritisch zu denken. Die New York Intellectuals haben in diesen Jahren eine Erfahrung gemacht, die in den sechziger Jahren von einer neuen und zahlenmäßig umfangreicheren Gruppe wiederholt und fast in der gleichen romantischen und gefühlsseligen Begrifflichkeit beschrieben worden ist. Da wir von der methodischen Regel ausgehen müssen, dass Geschichte sich eher nicht wiederholt, haben wir es hier ganz offenbar mit strukturellen Homologien zu tun, die herausgearbeitet werden können und aus denen ein entsprechender Erkenntnisgewinn zu ziehen ist. Mit dem Hitler-Stalin-Pakt von 1939 wurden dann die antikommunistischen Töne schärfer und verschärften sich weiter nach 1945, als klar wurde, dass die Sowjetunion nicht bereit war, die eroberten Länder Polen, Estland, Lettland, Litauen, Ungarn, Bulgarien, Rumänien, die Tschechoslowakei sowie Ostdeutschland einer eigenständigen demokratischen Entwicklung zu überlassen, sondern ihrem 6 | Kristol, Memoirs of a Trotskyist, in Kristol 1983: 3-13.

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Machtbereich angliederte und ihrem Gesellschaftssystem zwangsweise anpasste.

Phase 2: Der Kalte Krieg

Dieser Wandel von einer nichtkommunistischen zur antikommunistischen Linken macht die zweite Phase aus. Er wurde unterschiedlich intensiv und zu unterschiedlichen Zeitpunkten vollzogen, ist aber ein gemeinsames Charakteristikum für die New York Intellectuals, wie man sie heute nennt. In den Memoiren der einander nachfolgenden Generationen wird durchweg jeweils ein bestimmtes signifikantes oder markantes Ereignis genannt, das den Zorn auf den Stalinismus in besonderem Maße hervorgerufen hatte – das beginnt schon mit der Niederschlagung des Kronstädter Aufstands 1921 und setzt sich fort mit der Entmachtung Trotzkis, den Schauprozessen, dem HitlerStalin-Pakt etc. Besonders mobilisierend wirkten der kommunistische Staatsstreich in der Tschechoslowakei vom Februar 1948 und die Berliner Blockade vom Juni jenes Jahres. Politisch orientierte man sich in dieser Zeit fast ausschließlich an der demokratischen Partei. Man wandelte sich zu kalten Kriegern, und Irving Kristols Erinnerungen an diese Phase tragen konsequenterweise die Überschrift „Memoirs of a Cold Warrior“.7 Relevant war vor allem, dass Hannah Arendt die anschließend rasch akademisierte Totalitarismustheorie entwickelte und die New York Intellectuals damit den linken Antikommunismus argumentativ fundieren konnten. Diese Position im Kalten Krieg brachte einige der schärfsten und differenziertesten Diskussionen hervor. Es ging besonders um den Einfluss von Kommunisten oder ihren sogenannten Fellow-Travellers auf die New-Deal-Administration, auf die Medien und auf das Erziehungssystem, nicht zuletzt die Hochschulen. Von kommunistischer Seite wurde dies als Hexenjagd und als Meinungsterror unter Berufung auf das Recht der freien Meinungsäußerung bekämpft. Die Mehrzahl der New York Intellectuals allerdings vertrat eine recht aktivistische Position und empfahl, man solle zu einer Selbstreinigung von Volksfronteinflüssen kommen, bevor dies von einer populistischen Rechten übernommen werden würde. Diese Phase begann deutlich vor dem Auftreten des populistischen Senators Joseph McCarthy. McCarthys Methoden und seine unterschiedslosen Verdächtigungen wurden jedoch von den New York 7 | Kristol, Memoirs of a „Cold Warrior“, in Kristol 1983: 14-26.

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Intellectuals mehr und mehr zurückgewiesen, vor allem deshalb, weil er nicht bereit oder in der Lage war, zwischen Kommunisten und antistalinistischen Sozialisten zu unterscheiden, so dass die New York Intellectuals selbst fürchten mussten, unter Verdacht zu geraten. McCarthy selbst wurde 1954 schon unter der Regierung Eisenhower von der Mehrheit des Senats durch einen Missbilligungsantrag entmachtet, nachdem er seinen Verdacht auch auf die Armeeführung ausgedehnt hatte und damit nicht nur Randgruppen, sondern den Kern des Establishments zu bedrohen begann und vor allem, weil die Republikaner seine Agitation nun nicht mehr aus der Opposition heraus nutzen konnten, sondern diese ihnen selbst zu schaden begann. McCarthys kurzer Aufstieg und Fall gaben dieser Phase einen Namen, obwohl die eigentlichen Anhörungen keineswegs im Senat stattfanden, sondern vielmehr im Repräsentantenhaus vor dem House Committee of Unamerican Activities,8 mit dem McCarthy meist irrtümlich identifiziert wird. Doch dies war nur die innenpolitische Seite einer weltweiten Mobilisierung von Intellektuellen gegen den Stalinismus in einer Serie von spektakulären internationalen Kongressen und Zeitschriftengründungen. Den Anfang machte im Juni 1950 der vielbeachtete Kongress für kulturelle Freiheit in Berlin, dem weitere Veranstaltungen folgten. Die Kongresse und Zeitschriften wurden von verschiedenen Stiftungen, besonders der Ford Foundation, und nicht zuletzt durch verdeckte CIA-Gelder finanziert.9 Der hochsubventionierte Institutionalisierungsprozess rief die anspruchsvollen Kulturzeitschriften der fünfziger Jahre ins Leben, den Encounter in Großbritannien, den Monat in Deutschland sowie die Preuves in Frankreich, Tempo Presente in Italien, Forum in Österreich, Quadrant in Australien sowie noch einige mehr. Es waren Gründungen gegen die Hauptströmung unter den Intellektuellen und der Versuch, diese für die Sache der liberalen Demokratie zu gewinnen und zu mobilisieren. Bald wurde aus der politischen Protestversammlung von Intellektuellen, Schriftstellern und Künstlern gegen 8 | Es existierte von 1946 bis 1975, seit 1969 unter dem Namen Committee on Internal Security. Ein Vorläufer war die seit 1938 existierende Dies-Kommission, die zunächst die Aktivitäten deutscher Nazis in den USA zu untersuchen hatte und sich bald auch kommunistischen Aktivitäten zuwandte. 9 | Dazu vor allem die differenzierte Darstellung von Coleman 1989. Eine knappe deutsche Darstellung bietet Ackermann 2000, darin das 2. Kap. „Antitotalitäre europäische Intelligenz im Kongreß für kulturelle Freiheit, S. 52-119. Zur Finanzierung vor allen Dingen Saunders 1999.

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sowjetische Repression allerdings eine vorwiegend kulturell ausgerichtete Serie von Festivals und Konferenzen. Das politische Argument, damit schaufensterartig zeigen zu wollen, dass im Westen die moderne Kunst blühe, während sie im Ostblock weitgehend reglementiert und unterdrückt sei, wurde in den Augen der politischen Antistalinisten wie Sidney Hook mehr und mehr zum Vorwand der Selbstsubventionierung einer Elite, der die schon damals von Gerüchten umgebenen Geldquellen gleichgültig waren, wenn man nur Reisen nach Rom, Paris und anderswohin bezahlt bekam. In gewisser Weise kopierte man damit die von Willi Münzenberg in der Volksfrontzeit der Kommunisten entwickelte Strategie der Festivals, Pressefeste und Vorfeldveranstaltungen, so den Pariser Kongress zur Verteidigung der Kultur aus dem Jahre 1935. Aus der Sicht der CIA schien es überzeugender und wirkungsvoller, Sozialisten oder ehemalige Sozialisten gegen den Stalinismus zu mobilisieren, während Konservative im Grunde nur zur eigenen Klientel hätten sprechen können. Hieraus entwickelte sich eine Denkrichtung, die als Cold War Liberalism gekennzeichnet worden ist. Außenpolitisch war man gegen die sowjetische Expansion und gegen jeden Einfluss von Kommunisten auf die amerikanische Politik. Innenpolitisch war man für die Fortsetzung der Wohlfahrtsstaatspolitik des New Deal. So bekämpfte man 1948 die Präsidentschaftskandidatur von Henry Wallace und seiner Progressive Party, weil dieser von den Kommunisten und ihren Frontorganisationen unterstützt wurde und als Gegner des Marshall-Plans auftrat.10

Phase 3: Die Entfremdung von der Neuen Linken

Drittens dann die Phase der zunehmenden Entfremdung dieser älter gewordenen kalten Krieger von der neuen Linken der sechziger Jahre, der sie, mit der Ausnahme des anfangs eher gegen den Vietnamkrieg engagierten Norman Podhoretz, mit zunehmender Skepsis gegenüberstanden, erkannten sie doch von Anfang an die Ähnlichkeit zwischen den neulinken Argumenten und der altkommunistischen Orthodoxie, die sie seit Stalin so entschieden bekämpft hatten. Während dieser Phase blieben die New York Intellectuals durchweg links im sozialstaatlichen Sinne, außenpolitisch aber deutlich antikommunistisch, auch wenn ihre Haltung zum Vietnamkrieg zunehmend kritischer wurde. Mary McCarthy wurde wie Susan Sontag sogar eine scharfe 10 | Vgl. Kristol, Memoirs of a „Cold Warrior“ in Kristol 1983: 14-26.

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Kritikerin des Krieges, Norman Podhoretz kritisierte ihn zeitweise kaum weniger scharf, bestand aber schließlich darauf, dass die USA mit schlechten und unzulässigen Mitteln doch eigentlich für eine gute Sache gekämpft hätten. Die Opposition gegen den Vietnamkrieg entfaltete sich unter Nixon ungebremst, brauchte man hier doch keine Rücksicht mehr auf die Partei der Linken zu nehmen. Als aber die Regenbogenlinke seit 1968 zunehmend Einzug in die demokratische Partei nahm, setzte auch hier ein Entfremdungsprozess ein. Irving Kristol und Daniel Patrick Moynihan begannen nun auch den Sozialstaat zu kritisieren. Für viele lag der Bruch im Jahre 1967, als nach Israels Sieg im Sechstagekrieg in der amerikanischen Linken zunehmend israelkritische Töne hörbar wurden, die von ihnen als antisemitisch dechiffriert wurden. In den Gettoaufständen dieser Jahre zeigte sich zudem etwas, was die New York Intellectuals sehr früh schon sehr pointiert als schwarzen Rassismus kennzeichneten, der vor allem gegen Juden gerichtet war – es waren damals eine ganze Reihe von Geschäften jüdischer Händler in den Gettos verwüstet worden. Heute kann man sich gar nicht mehr vorstellen, dass es je jüdische Händler dort hätte gegeben haben können. Zwischen den New York Intellectuals und den Neuen Linken fanden hitzige und zugespitzte Debatten statt, von denen allerdings beide Seiten übereinstimmend berichteten, man habe sich einander nicht verständlich machen können und im Wesentlichen aneinander in durchweg persönlich verletzender Weise vorbeigeredet. Dies ist um so erstaunlicher, als die ehemaligen Altlinken doch in den jungen Radikalen ihre eigene Vergangenheit wiedererkennen mussten. In Deutschland wurde diese Diskussion nicht im intellektuellen Feld ausgetragen, auch wenn Horkheimer und vor allem Adorno wegen ihrer Bürgerlichkeit und mangelnden Radikalität zur Zielscheibe von Attacken wurden. In Deutschland fand eine Art nachgeholte McCarthy-Debatte statt, weil die Sozialdemokraten, die sich 1959 in Bad Godesberg vom Marxismus abgewendet hatten, mit dem Radikalenerlass vom 28. Januar 1972 und den von kommunistischer Seite so genannten Berufsverboten das Eindringen von Kommunisten in den öffentlichen Dienst zu verhindern suchten. Die sozialdemokratischen Befürworter dieses Erlasses, nicht zuletzt der Initiator Willy Brandt selbst und Peter Schulz, der Hamburger Bürgermeister, vertraten dies durchaus bekennerhaft – aus der Erfahrung des Kampfes der Berliner Sozialdemokratie gegen die Zwangsvereinigung mit der SED im April 1946.

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Eloquente intellektuelle Fürsprecher der Ausgrenzung von Kommunisten fanden sich allerdings nicht, und eine Atmosphäre der öffentlichen Mobilisierung, der Hearings und Entlarvungen, wie man sie gegenüber von Freiflügen von Politikern oder anderen kleineren Verstößen kennt, ist gegenüber kommunistischen Einflussversuchen nie entstanden. Eine offene Diskussion über die Finanzierung und Steuerung der DKP von Seiten der DDR hat es ohnehin erst nach deren Ende und nach der Öffnung der Archive gegeben; und diese war nur kurz und schnell wieder beendet.

Phase 4: Neokonservatismus

Die vierte Phase manifestierte sich im Jahre 1980, als eine Reihe von traditionellen Anhängern der demokratischen Partei für die Wahl von Ronald Reagan eintraten, die sogenannten Reagan Democrats, die nicht nur die Auto- und Stahlarbeiter aus der Detroiter Region umfassten, sondern auch einen Teil der New York Intellectuals. Irving Howe und andere bestanden darauf, weiter Linke in einer sozialliberalen Traditionslinie zu bleiben, aber Norman Podhoretz und Irving Kristol wurden zu Wortführern einer politischen Richtung, die um 1980 sogar in der ZEIT ausführlich, wenn auch oberflächlich, diskutiert und kommentiert wurde: der Neoconservatives. Meiner Meinung nach sind deren Denkstrategien und politischen Positionsentwicklungen sehr viel besser zu verstehen, wenn man sich damit vertraut macht, dass ihr Konservatismus tatsächlich „neu“ in dem Sinne ist, dass er nicht „angeboren“, sondern erworben ist und biographisch auf eine oft linksradikale, mindestens aber linksliberale Vorgeschichte folgt. Besonders wichtig ist der Einfluss von Irving Kristol, der es durch seine hervorragenden Kontakte zu Stiftungen und Firmen schaffte, eine neue Generation von außerakademischen Intellektuellen zu fördern, und der einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Reagan-Regierung entfaltete. Zeitweise galt er als wichtige Hintergrundgestalt der republikanischen Partei. Seine Wandlung vom linken Radikalismus über liberale Positionen hin zum Neokonservatismus hat er selber immer wieder als vollkommen rationalen Prozess beschrieben – wichtig war ihm dabei nicht zuletzt die Erhaltung einer gewissen Identität über die Zeit hinweg. Rückblickend formuliert er das so: „Für mich war die entscheidende Wende im neuentstandenen, aber noch nicht voll entwickelten Konservativismus der Zeitpunkt, als Ronald Reagan sich lobend über Franklin D. Roosevelt äußerte. Das bedeutete einen schar-

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Diese Behauptung der Kontinuität im Wandel wird auch von vielen anderen der New York Intellectuals aufgestellt. Die Bewegung aus der radikalen Ecke in das Zentrum der Gesellschaft und des politischen Einflusses ist aber derart unübersehbar, dass für den außenstehenden Beobachter das Moment der Wandlung deutlich in den Vordergrund tritt – wenn auch in einer ganz anderen Weise als etwa bei Jean-Paul Sartre, der bei allen scharfen Brüchen seines Engagements zwischen einer unabhängigen Linken, den Kommunisten und den Maoisten und zurück zu einem humanitären Engagement doch immer dem linken Radikalismus, wenn auch eben in den verschiedensten Erscheinungsformen, verpflichtet blieb. Dennoch, bemerkenswerter als der Fall und die Ausnahmeerscheinung Sartre sind die Ähnlichkeiten in der internationalen Entwicklung: Seit Anfang der siebziger Jahre traten in Frankreich die „Neuen Philosophen“ auf. Kurz nach der Veröffentlichung von Solschenizyns „Archipel Gulag“ (Ende 1973, französische Übersetzung Juni 1974) erregten André Glucksmanns „Köchin und Menschenfresser“ (1975) sowie später die „Meisterdenker“ (1977) ein weit über Frankreich hinausgehendes Aufsehen. Bernard-Henri Lévy folgte 1977 mit „Die Barbarei mit menschlichem Antlitz“. Während die französische politische Klasse eine kritische Diskussion über die UdSSR vermied (es war schließlich die Zeit des „gemeinsamen Regierungsprogramms“ von Sozialisten und Kommunisten), wurde die Debatte auf der intellektuellen Ebene sehr scharf geführt: Ein „Akt des Bruchs, den ein Teil der intellektuellen extremen Linken oder des Gauchismus mit dem Marxismus-Leninismus vollzieht.“12 Dies blieb kein ephemeres Engagement, sondern verschärfte sich noch mit dem sowjetischen Eingreifen in Afghanistan 1979 und dem Sieg des Linksbündnisses unter Mitterand bei den Wahlen 1981. Der französische Regierungssprecher beklagte die mangelnde Unterstützung durch die Intellektuellen,13 und Ronald Reagan erwähnte in seiner programmatischen Rede vor dem britischen Parlament im Juni 1982 die neuen Philosophen an prominenter Stelle: „Ob es sich um die Entstehung neuer ökonomi11 | Dorman 2001: 173. 12 | Winock 2003: 761. 13 | Lyotard 1985.

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scher Schulen in Amerika oder England oder das Auftreten der sogenannten neuen Philosophen in Frankreich handelt, es gibt einen das intellektuelle Werk dieser Gruppen durchziehenden Faden: Die Zurückweisung der willkürlichen Macht des Staates, die Weigerung, die Rechte des Individuums dem Superstaat unterzuordnen, die Einsicht, daß Kollektivismus die besten menschlichen Impulse erstickt.“14 In der in jenen Jahren heftig geführten Nachrüstungsdebatte hat André Glucksmann die Position Helmut Schmidts und Reagans dann auch nachdrücklich unterstützt. Außerhalb Frankreichs und den USA hat sich kaum irgendwo eine außenpolitisch artikulationsfähige Intellektualität entwickeln können – und bei den einstigen neuen Philosophen hat sich herausgestellt, dass ihre Positionen etwa zur Nachrüstung vor allem von moralischer Empörung über die sowjetische Politik gekennzeichnet waren, die sich heute in punktuellem humanitärem Engagement fortsetzt, ohne dass daraus schon ein umfassenderes politisches Konzept entwickelt worden wäre. Die neokonservative Denkbewegung der Thatcher- und ReaganÄra umfasste vor allem auch die Wirtschafts- und Sozialpolitik. Hier wird der Denkhorizont der meisten New York Intellectuals überschritten, die doch wenigstens deklaratorisch der Sozialpolitik verbunden blieben. Zwar gab es in ihrem Umkreis Kritik an bestimmten Maßnahmen, vor allem der Quotierungspolitik in der sogenannten „Affirmative Action“, aber der vor allem wirtschaftspolitisch schärfer akzentuierte Neoliberalismus hat unter ihnen nur marginal Fuß gefasst. Da die Gruppe insgesamt Auflösungs- und Abbröckelungstendenzen aufweist, könnte man mit der Einstellung des Partisan Review im Jahre 2003 einen Abschlusspunkt dieser Phase setzen.

Phase 5: Auflösung und Verlagerung nach Washington

Ob dies schon der letzte Abschnitt war, ob man hier also von einem Ende sprechen kann, bleibt zu diskutieren. Versuchsweise will ich von einer fünften Phase mit starken Auflösungstendenzen, aber auch einer gewissen Erweiterung sprechen. Der Schwerpunkt hat sich jedenfalls von New York nach Washington in die engeren Zirkel der Politikberatung und der Think Tanks verlagert, was sich auch an dem Umzug mehrerer wichtiger Protagonisten nach Washington ablesen lässt. In das gesamte Umfeld hinein sind zudem andere Einflüsse wirksam ge14 | Reagan 1989: 112 f.

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worden, so die der Chicagoer Politikwissenschaft mit Leo Strauss und Albert Wohlstetter, auch wenn hier wiederum entfernte Verwandtschaftsbeziehungen zu den New York Intellectuals nicht zu übersehen sind. Der ideengeschichtliche Klassizismus von Leo Strauss bedeutete wohl vor allem die Ermutigung, Begriffe wie Tyrannis, wie Gut und Böse in der politischen Abgrenzung wieder zu verwenden, also Freund und Feind deutlich zu unterscheiden. Albert Wohlstetter, der wichtigste Protagonist des Raketenschachs und intellektueller Hardliner in der Auseinandersetzung mit der Sowjetunion, hat Politiker wie Paul Wolfowitz und Richard Perle nachhaltig geprägt. Diese Gruppe sammelte sich vor allem um den demokratischen Senator Henry Jackson, der seit Beginn der siebziger Jahre bis zu seinem Tode 1983 einer der Hauptgegner der nuklearen Abrüstungsverhandlungen mit der Sowjetunion geworden war. Viele von ihnen wechselten in der Reagan-Ära zu den Republikanern und erhielten Führungspositionen, wie z. B. Jeane Kirkpatrick, Joshua Muravchik, Richard Pipes und Max Kampelman.15 Auch diese Intellektuellen haben also den Wandlungsprozess von liberalen zu neokonservativen Positionen vollzogen – eine bemerkenswerte Parallelität. Wie schon Henry Jackson stellte diese Gruppe Menschenrechtsfragen in den Vordergrund und betonte die Bedeutung der Regierungs- bzw. Gesellschaftsform: Bedrohungen gingen ihrer Auffassung nach nicht von den Waffen als solchen aus, sondern davon, dass diese in den Händen von tyrannischen oder unberechenbaren Regimes sich befänden. Mit diesem Argument bekämpfte man die politisch-moralische Äquivalenzvorstellung, die den damaligen Rüstungskontrollverhandlungen zugrunde lagen, und war vor allem auch gegen das SALT-Abkommen. Man könnte also durchaus von einer sich dispersierenden fünften Phase der Politikberatung und direkt politischen Wirksamkeit sprechen, die sich in der Reagan-Ära schon abgezeichnet hatte. Die Theorien und Konzeptionen der zunächst in der Politikwissenschaft entwickelten und anfangs nicht von den Republikanern, sondern von Präsident Clinton übernommenen Democratic Peace Theory in Richtung auf das, was Befürworter und Kritiker gelegentlich übereinstimmend als Democratic Imperialism bezeichnet haben, sind in den Think 15 | Siehe Kubbig 2004: 21. Jeane Kirkpatrick wurde UNO-Botschafterin, Muravchik ihr Stellvertreter, Richard Perle wurde Assistant Secretary of Defense, Max Kampelman Hauptunterhändler für Menschenrechte mit der Sowjetunion, Richard Pipes wurde Mitglied im Nationalen Sicherheitsrat des Weißen Hauses. Wolfowitz wurde 1983 Assistant Secretary of State für Ostasien und Pazifikangelegenheiten und danach drei Jahre Botschafter in Indonesien. Zu Jackson ist maßgeblich: Kaufman 2000.

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Tanks und Beratergruppen ausformuliert worden, die sich – nicht zuletzt durch Irving Kristols Anregung – in Washington immer stärker ausgebreitet haben. Doch kann man diese zunehmend sich professionalisierenden und deshalb auch spezialisierenden Politikberater noch als Intellektuelle im Sinne der New York Intellectuals betrachten? Der Wille zur Begründung und Durchsetzung einer eindeutigen politischen Position war sicherlich auch schon im Alkoven I am New York City College wirksam, denn von einer freien und ergebnisoffenen Diskussion kann man bei den damaligen Richtungskämpfen wohl nicht unbedingt sprechen. Heute kommen eine erheblich größere Nähe zur politischen Macht und deutlich höhere Einkommenschancen hinzu, wodurch vermutlich die Artikulation abweichender Meinungen erschwert wird. Darüber hinaus ist die ästhetisch-literarische Ausweitung der Interessen und der Diskussionsbasis mit der Wendung nach Washington, so weit ich sehen kann, vollständig verschwunden. Der demokratietheoretische Idealismus der Neokonservativen, der sich in dem Glauben konzentrierte, ein Wandel der Regime im Nahen Osten hin zu demokratischen Formen könne die Lösung der dortigen Probleme bedeuten, scheint sehr schnell an seine Grenzen gestoßen zu sein: Die Transformation im Irak steht unter permanenter Bürgerkriegsgefahr, und die Wahl in den Palästinensergebieten ließ den Wählern eigentlich nur die Entscheidung zwischen zwei Terrorgruppen. Ein Demokratietheoretiker ohne trotzkistische Vergangenheit, aber mit hegelianischer Neigung, jeweils das Ende von Epochen zu verkünden, hat deshalb schon von der Zeit nach dem Neokonservatismus gesprochen. Es sei ein innerer Widerspruch der neokonservativen Position gewesen, einerseits in der Innenpolitik vor allem im Umfeld von „Public Interest“ zu einer Selbstkritik des Social Engineering der sechziger Jahre zu kommen, andererseits aber für die internationale Politik überzugehen zu einem weltweiten demokratischen Transformationsprogramm. Fukuyama wirft den New York Intellectuals und ihren neokonservativen Nachfolgern einen idealistischen Glauben an den sozialen Fortschritt und die Universalität von Rechten vor, verbunden mit einem intensiven Antikommunismus. Da der Kalte Krieg erfolgreich und weitgehend friedlich nicht nur beendet, sondern sogar gewonnen werden konnte, hatten die Neokonservativen einen historischen Augenblick lang die Illusion gehabt, dieses Modell ließe sich auch auf die Konflikte danach übertragen. Dies sei im Irak und in Palästina nachhaltig gescheitert, so dass Fukuyma nunmehr eine Abkehr

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von der idealistischen Programmatik und die Entwicklung eines „realistischen Wilsonianismus“ fordert, also eine Art Zwischenlösung.16

Fazit

Die von einer ganzen Gruppe – wenn auch mit unterschiedlicher Intensität und Ausgeprägtheit – vollzogene, etwa 40 Jahre umfassende Denkbewegung vom Trotzkismus über den Kalten Krieg und die Opposition gegen die Neue Linke zum Neokonservatismus und möglicherweise auch darüber hinaus ist das meiner Auffassung nach Interessanteste. Hier hat wirkliche Ideengeschichte im Sinne einer Ideenund Denkbewegung stattgefunden, in Zeitschriften monatlich oder vierteljährlich dokumentiert durch einen erkennbaren Personenkreis von Autoren, die eben auch in der Lage waren, sich glänzend auszudrücken, wovon vieles gewiss auch Verdienst hingebungsvoller Redakteure war, denn viele der Autoren waren keine englischen Nativespeakers, und anders als bei heutigen schlecht geschriebenen peer review-Artikeln in sozialwissenschaftlichen Fachzeitschriften wurde jede Zeile gründlich redaktionell überarbeitet. Der für die New York Intellectuals zu beschreibende Prozess hat sich nicht weltfern und exzentrisch, sondern im direkten politischen Alltagskonflikt abgespielt, der permanent in einer stark vergrundsätzlichenden Weise reflektiert wurde. Die Auflagen dieser Blätter waren nicht besonders eindrucksvoll, ihre öffentliche Wirkung allerdings umso stärker. Gewiss hatten die Diskussionen z. T. sektenhafte Züge, aber es handelte sich um ein brillantes und lesbares Sektierertum im Unterschied zu den Sektenkämpfen der europäischen Nach-68er Linken, wo allenfalls noch die britische Variante mit dem New Left Review hieran anknüpfen konnte. Ich würde immerhin zugestehen, dass der deutsche Leviathan einiges, was Form und Stil betrifft, von den New York Intellectuals gelernt haben könnte. Dies halte ich für die eigentliche intellektuelle Tätigkeit, will sagen, interessant ist ja nicht, was irgendein literarisch berühmter Autor zu politischen Fragen, die ihm normalerweise eher fernliegen, sagen zu müssen meint, sondern hier handelt es sich um die existentielle Auseinandersetzung mit den politischen Grundfragen und Grundthematiken der jeweiligen Zeit, von Personen, die nicht wegen ihrer anderswo erworbenen Prominenz um Stellungnahmen gebeten wurden, sondern die sich ihre Prominenz auf diese Weise überhaupt erst erar16 | Fukuyma, Francis: After Neoconvervatism, New York Times, 19.2.2006.

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beiten mussten. Die Prominenz wird nicht, wie das die meisten französischen Theoretiker des Intellektuellen unter dem Eindruck des Paradigmas der Dreyfus-Affäre bis heute vertreten, auf anderem, z. B. literarischem Gebiet erworben und ins Allgemeinpolitische übertragen. Das gleiche gilt für das Einkommen, das ebenfalls bei den New York Intellectuals nur in Ausnahmefällen (z. B. Sidney Hook) aus einem Professorengehalt stammt, so dass die intellektuelle Tätigkeit nur ein Nebenerwerb war, sondern bei fast allen in der und durch die eigentlich intellektuelle Tätigkeit erst erworben werden musste: als Redakteur, Rezensent etc. etc. Prägende und relevante Ideen entstehen nur sehr selten in der abgeschiedenen Kammer einsamer Denker. Die heißen Phasen intellektuellen Lebens bedürfen einer intensiven Kommunikation und eines permanenten Austausches. Das ließ sich im antiken Athen in der Phase von Sokrates bis Aristoteles beobachten, ähnlich aber in der Kommunikation von Spinoza, Leibniz, Locke und Bayle und natürlich der in Paris konzentrierten französischen, später europäischen Aufklärung, oder in der deutschen Philosophie von Kant bis zu den Junghegelianern. Die Zirkel stimulieren die intellektuelle Energie; der Austausch findet in Zeitschriften, aber auch in der persönlichen Kommunikation und nicht zuletzt in der Bündelung der Kommunikation zu Büchern statt, welche Kontroversen und Debatten auslösen und vorantreiben. Oft findet der Kontakt mit diesen Zirkeln, wie etwa bei Hobbes und Rousseau, vor der ersten Veröffentlichung statt. Das Umfeld drängt zur Veröffentlichung, welche den Ruhm dieser Autoren dann begründet. Die Zirkel werden zusammengehalten durch Zeitschriften und durch soziale Kontakte, die am intensivsten florieren, wenn unmittelbare Nähe gegeben ist, wie in Athen, Paris oder New York. Aber Mobilität hängt stärker noch vom Willen ab als von den lokalen oder technischen Gegebenheiten, denn schon die Autoren des Göttinger Hain haben einen Fußmarsch von Göttingen nach Altona unternommen, immerhin fast 300 Kilometer, um Klopstock zum Geburtstag zu gratulieren. Die Einheit des Ortes reicht nicht aus, es bedarf einer ständigen sozialen Aktivität der Redaktionskonferenzen und sozialen Ereignissen wie Feiern und Einladungen, bei denen immer wieder bei allem Streit untereinander das gemeinsame Interesse an ähnlichen Dingen manifestiert werden muss. Entscheidend sind also: erstens das Bedürfnis, zu allgemein interessierenden politischen, gesellschaftlichen und ästhetischen Fragen Stellung zu nehmen und Stellungnahmen zu provozieren, also die Produktion von begründeten Meinungen sowie zweitens die Bereit-

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schaft zur Kommunikation mit einer breiteren, nichtsektiererischen Öffentlichkeit, wozu gelegentlich durchaus der sektiererische Optimismus, man könne schon mit einer Auflage von wenigen hundert Exemplaren die Welt verändern, hilfreich beigetragen haben wird.17 In diesem Verständnis sind Akademiker nicht notwendigerweise schon Intellektuelle: Dazu gehören vor allem Unabhängigkeit, Brillanz und der Wille zur Vergrundsätzlichung, also die Fähigkeit, zu generalisieren und alle Fragen auf als wesentlich angesehene Grundunterscheidungen zurückführen zu können.18 Bei Naturwissenschaftlern kann und sollte dann von einem intellektuellen Ansatz gesprochen werden, wenn diese zu starken Generalisierungen, spekulativen Denkpassagen und Vergrundsätzlichungen neigen – wie dies z. B. bei einigen gegenwärtigen Empirikern zu beobachten ist, die zum Problem der Willensfreiheit Stellung nehmen, aber auch bei den kosmologischen Erörterungen der theoretischen Physiker. Diese habituellen Faktoren zusammen mit dem Kommunikations- und Interaktionsumfeld haben sehr viel mehr Erklärungskraft als bloß äußerliche sozialstrukturelle Zuordnungen nach dem Ausbildungsgang, der Fachzugehörigkeit oder der beruflichen Tätigkeit. Sozialstrukturelle Studien zu diesem Thema sind deshalb durchweg auch von gähnender Langeweile.19 Die Kommunikationsdichte ist von zentraler Bedeutung. Die These vom Verfall der öffentlichen Intellektuellen, die nach der weitgehenden Auflösung dieser New Yorker Szene häufig vertreten wird, nennt oft auch die Akademisierung als Grund, die statt Generalisierung die Spezialisierung nahelegt und damit die intensive Kommunikation über allgemeinpolitisch und allgemeingesellschaftlich relevante Fragen gerade erschwert. Irving Kristol hat dazu beobachtet: Viele, 17 | Irving Kristol hat dies formuliert, vgl. Dorman 2001: 158. 18 | Ähnlich William Phillipps in Dorman: 98: Unabhängigkeit, Generalisierung und Originalität. Von Originalität zu reden, überzeugt allerdings nicht besonders, wenn z. B. Nathan Glazer selbstkritisch bemerkt, alle Debatten seien vor allem deshalb so frisch und neu gewesen, weil die Beteiligten nie von Nietzsche oder Schopenhauer gehört hatten (Dorman: 99 f). Das hatte seine Ursache darin, dass fast alle Mitglieder dieser Gruppe einen raschen Aufstieg aus bildungsfernen Verhältnissen erlebt hatte. Hannah Arendt mit ihrer soliden und an den griechischen Originaltexten geschulten philosophischen Vorbildung war die große, von außen kommende Ausnahme. Möglicherweise hätte es die Kreativität der New York Intellectuals damals nachhaltig gehemmt, wenn ihnen jemand gesagt hätte, dass ihre Originalität nicht so ausgeprägt war, wie sie glaubten. Aus diesem Grunde ziehe ich es vor, von Brillanz zu sprechen. Podhoretz 1967, ebd.: 97: Artikuliertheit, Brillanz, Schnelligkeit, die Fähigkeit, Verbindungen herzustellen, die andere nicht gesehen hatten. 19 | Z. B. Posner 2001.

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die heutzutage Intellektuelle zu sein scheinen, sind meist auch Professoren: Er kritisiert das nicht, weil sie dann nicht davon abhängig sind, dass ihre Ehepartner als Schullehrer die Rechnungen bezahlen können – aber sie leben dezentralisiert über das ganze Land verstreut und bilden eben keine enge Gemeinschaft der tagtäglichen erhitzten Kommunikation (Kristol in Dorman: 99).20 Wenn Meinungen nicht produziert werden oder keine Bereitschaft besteht, sich ernsthaft mit ihnen zu beschäftigen, ist ein derartiges intellektuelles Leben nicht möglich – daher die von vielen beklagte intellektuelle Austrocknung des akademischen Lebens, wo viele allein ihre Karriere als existentielle Frage ansehen und politische Positionsbegründungen als Privatsache ausgrenzen. Andererseits: Viele derjenigen, die derzeit aktiv die aktuelle Diskussion prägen, erfahren als Neokonservative oder „Straussianer“ eine gewisse Ausgrenzung in der akademischen Welt und werden deshalb in die Richtung klassischer Intellektuellenkarrierren gedrängt, also in die Presse, zu den Think Tanks oder auch in die Tätigkeit politischer Mitarbeiter, Zuarbeiter und Redenschreiber.21 Inhaltlich haben die New York Intellectuals übereinstimmend den Stalinismus als das politisch-moralische Grundproblem des 20. Jahrhunderts identifiziert (Howe in Dorman: 182). Sie haben dies früher erkannt und deutlicher herausgearbeitet als die Mehrzahl der europäischen oder Drittweltintellektuellen. Das könnte man als ihre bleibende Leistung ansehen. Dadurch rückten Demokratie und Menschenrechte sowie politisch die Sympathie z. B. mit den sowjetischen Dissidenten in den Vordergrund. Heute kann dies Problem für Europa als weitgehend gelöst gelten; in Asien, vor allem in Korea und China, ist es weiterhin virulent, und natürlich im Kuba Fidel Castros. Ihr intellektuelles Kritikpotential haben sie auf die großen Missstände des Jahrhunderts gerichtet. Man könnte also abschließend fragen: Was wäre von ihrer Art zu denken heute zu lernen? Als ausschlaggebend würde ich die entschlossene Auseinandersetzung mit dem Stalinismus ansehen, die so radikal war, dass sie sich von den herkömmlichen Mythen einer Einheit der Linken nicht irritieren ließ. Aus der Heraufkunft des Nationalsozialismus hatte man die Lehre gezogen, dass eine Politik des Appeasement Diktatoren eher ermuntert und deshalb einen eher harten Kurs gegenüber allem, was als kommunistische Expansion interpretiert werden konnte, befürwortet. In einer Phase der Entspannungspo20 | Die These vom Niedergang durch Akademisierung vertritt vor allem Jacoby 1987. 21 | So Alain Frachon und Daniel Vernet in: Le stratège et le philosophe, Le Monde 15.4.2003.

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litik wie in den siebziger Jahren führten die Anhänger Henry Jacksons einen hartnäckigen und vielfach erfolgreichen Kampf, in Verhandlungen immer wieder die Menschenrechtsthematik einzubringen, Technologieexporte an kommunistische Diktaturen zu unterbinden und bei internationalen Abkommen die Ratifizierung von Zugeständnissen bei der Freiheit zur Ausreise abhängig zu machen. Dieses oftmals pragmatische, aber durchweg recht harte und entschlossene Herangehen entsprach dem Denken, wie es von Sidney Hook entwickelt worden war und von Irving Kristol immer weiter in die neokonservative Richtung vorangetrieben wurde.

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INTELLEKTUELLE

UND KEIN

Randbemerkungen von G ERO

VON

ENDE

R ANDOW

Nachrichten vom Ende der Intellektuellenrolle sollten nicht sonderlich ernst genommen werden. Die Funktion des Intellektuellen wandelt sich, lässt sich aber auch dieser Tage ganz bequem definieren und allenthalben entdecken. Was nicht bedeuten soll, dass ihre Untersuchung uninteressant geworden ist; es lohnt sich namentlich, die Veränderungen zu betrachten. Geschichtsübergreifend ist das Phänomen, dass relativ freie und aufs Ganze denkende Kopfarbeiter dazu beitragen, Möglichkeitsräume gesellschaftlicher Entwicklungen auszuloten; das gilt auch für den konservativen Intellektuellen, der typischerweise am Widerspruch zwischen dem Hergebrachten und seiner veränderten Umwelt arbeitet. Rechtfertigungen des Existierenden (sei es altes, sei es neues) sind in einer Gesellschaft stets genug zu finden, dessen Kritik indes, die Entwicklungsvarianten offenhält, bedarf besonderer Anstrengung geistiger Art. Deshalb hat die Arbeitsteilung unter den Kopfarbeitern in Intellektuelle und solche, die es nicht sind, ihren guten Sinn. Nur totalitäre Gesellschaften verzichten auf die intellektuelle Kritik. Der Intellektuelle als Individuum, das im Genuss des Privilegs einer lediglich losen Kopplung mit dem „Reich der Notwendigkeit“ steht (oder zumindest diese Positur einnimmt) und durch seine Äußerungen in die Öffentlichkeit eingreift, ist keineswegs eine Erfindung der Neuzeit. Wir dürfen annehmen, dass die Philosophen und Dramatiker der hellenischen Aufklärung (Anaxagoras, Anaximander sowie, als Konservativer, Euripides) eben diese Rolle innehatten. Bereits in dem Umstand, dass sie sich überhaupt verstörend einmischten, lag eine Botschaft an die Gesellschaft, nämlich ein Hinweis auf die Bedeutung selbstständigen und furchtlosen Fragens und Denkens. Dieses Signal gaben sehr viel später auch Inhaber der Macht selbst, etwa der Philosophenkaiser Marc Aurel oder der Kirchenvater Augustinus. Mit Entstehung des modernen bürgerlichen Subjekts tritt der Intellektuelle als freier Denker in Reinform auf, beispielsweise mit Montaigne, Voltaire oder den Enzyklopädisten.

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Das alles sind große Namen, gewissermaßen invers leuchtende Sterne, die umso heller strahlen, je weiter sie entfernt sind. Deshalb neigen die Heutigen dazu, sich selbst und vor allem ihresgleichen gering zu schätzen. Tatsächlich sind jedoch die Intellektuellen dieser Tage überaus gefragte Mitarbeiter des publizistischen Gewerbes (einige sind sogar „Stars“). Die Produktion allgemeiner und die Allgemeinheit erfassender Ideen ist zwar ein Vergesellschaftungsmittel neben anderen, etwa neben der Politik und der Mode, neben der Fußball-WM oder dem Boulevard, nur eben, dass die allgemeinen Ideen alle anderen Vergesellschaftungsmittel durchdringen und erfassen können, in einem gewissen Sinne also primär sind. Das soll nicht bedeuten, dass ein und dasselbe Individuum nicht heute Intellektueller und morgen Unterhaltungskünstler sein kann; gerade dieses Oszillieren macht ja den Reiz mancher Geistesproduktion aus, ebenfalls nicht erst seit heute. Die Umweltbedingungen der intellektuellen Arbeit dieser Tage sind freilich interessant; sie können als Fläche verstanden werden, deren zwei Koordinaten sich mit „Globalisierung“ und „Wissensgesellschaft“ bezeichnen lassen. Die Globalisierung bezieht sich nicht zuletzt auf die Grenzenlosigkeit der Information und Kommunikation. Sie erweitert den Markt für die Intellektuellen, setzt sie aber auch härterer Konkurrenz aus, etliche von ihnen stehen mittlerweile bei weltweit operierenden Agenten unter Vertrag. Nachgefragt werden intellektuelle Leistungen derzeit besonders auf zwei Gebieten: Ethische und strategische Fragen des Kampfes gegen den Terror sowie der neuen Geopolitik, ethische Probleme der globalen Wissensgesellschaft, namentlich auf dem Gebiet der Biopolitik und Medizin. Man könnte argumentieren, dass informierte Urteile über diese Themen ein hohes Maß an Expertenwissen voraussetzen und deshalb der charismatische Intellektuelle hergebrachten Typus durch den öffentlich auftretenden Fachmann abgelöst werde. Doch das stimmt aus zwei Gründen nicht. Zum einen ist der mit Expertise punktende Charismatiker keineswegs ein neuartiges Geschöpf, denken wir nur an die Gebrüder Humboldt oder an Karl Marx. Zum anderen entzünden die Entwicklungen im Besonderen, wie etwa heute in den life sciences, immer wieder die Leidenschaft für das Allgemeine, etwa in der Diskussion um Anfang und Ende des Lebens oder um den freien Willen. Verändert hat sich in Sonderheit der Modus selbst, in dem die Intellektuellen ihrer Tätigkeit nachgehen. Neben die Zeitung und das Buch ist ein Medium eigener Art getreten: das Internet. In ihm spielt sich das intellektuelle Leben anders ab als in den bisherigen Medien,

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und es ist auch schon gefragt worden, ob wir nicht gerade das Ende des intellektuellen Individuums erleben, an dessen Stelle ein Geist tritt, der aus massenhafter Interaktion der Vielen entsteht. Diese Diskussion wird derzeit in Netzmagazinen wie edge.org und salon.com geführt. Den Anlass gibt ein Umbruch der publizistischen Ökonomie. Im Internet ist ein Öffentlichkeitsraum eigener Art entstanden, strukturiert durch eine spezifische Erzeugungsweise sozialer Bindung. Im Unterschied zum Buchdruck mit beweglichen Lettern findet die Mobilität seiner Informations-Atome nie ein Ende, es lässt sich also alles und jedes unausgesetzt rekombinieren. Online ist beständiger als Print, aber gerade deshalb, weil es ein sich unaufhörlich drehendes Archivkaleidoskop ist. Das freie Umgruppieren von Informationen und von Informationsbeziehungen zwischen Menschen erlaubt dem Internet eine soziale Physik, die einem Demokrit Freude gemacht hätte: Atome gesellen sich umeinander, und Neues entsteht, wie zum Beispiel die Wikipedia, die kollektiv verfasste Netz-Enzyklopädie. Ist sie ein Modell für den Geist der Zukunft? Derlei Folgerungen elektrisierten unlängst den Informatiker, Künstler und Essayisten Jaron Lanier, der darin einen digitalen „Maoismus“ entdeckt, demzufolge die Weisheit in den Massen wohne.1 Lanier beschreibt in einem weithin diskutierten Artikel auf edge.org eine drohend heraufkommende Kollektiv-Öffentlichkeit nach dem Muster der Mitmach-Show „Deutschland sucht den Superstar“, in der das Individuum nur noch eine verachtete Nebenrolle spiele. Dieses Bedenken ist nicht zuletzt deshalb von Interesse, weil dem Netz auch schon der entgegensetzte Vorwurf gemacht wurde: Weil es nicht mehr ein einfacher Verteilmechanismus aus der Gutenbergzeit ist, in dem einer sendet und alle anderen empfangen, führe es zwangsläufig zur Zersplitterung der Öffentlichkeit – und aus diesem Grund zum Elend der Intellektuellen. In dieser Diskussion schwingt viel unreflektierter Technikdeterminismus mit, der von der Mediengeschichte nicht gestützt wird. Schon der Buch- und Zeitungsdruck erzwang keineswegs die eine

1 | Vgl. Jaron Lanier: „One Half of a Manifesto“. Edge 74, 11. November 2000 (The Third Culture) [http://www.edge.org/3rd_culture/lanier/lanier_ index.html]. Jaron Lanier: „Digital Maoism: The Hazards of the New Online Collectivism“ Edge 183, 30. Mai 2006 (The Third Culture). [http://www. edge.org/3rd_culture/lanier06/lanier06_index.html]. Eine stark gekürzte Übersetzung ins Deutsche von Andrian Kreye erschien unter dem Titel „Das so genannte Web 2.0. Digitaler Maoismus. Kollektivismus im Internet, Weisheit der Massen, Fortschritt der Communities? Alles Trugschlüsse“ in der Süddeutschen Zeitung, Nr.136, 16. Juni 2006.

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oder andere Form der Öffentlichkeit. Kardinal Richelieu beispielsweise, als er den französischen Nationalstaat formieren wollte, ließ in den 30er Jahren des 17. Jahrhunderts das regierungsnahe Wochenblatt „Gazette“2 erscheinen und konnte daher auf die politisch immer etwas unsicheren Versammlungen der Generalstände als Proklamationsort verzichten. Doch ebenso gut wurden Zeitungen später zu Instrumenten von Oppositionen aller Art. Das Internet weist diese medientypische Amöbenhaftigkeit in noch viel höherem Maße auf, denn Computertechnik ist prinzipiell flexibel. Alles was programmiert wird, kann auch umprogrammiert werden. Vereinzelung oder Gruppenbildung, Eindimensionalität oder Vielschichtigkeit sind nicht in der DNA des Internets angelegt. Ebenso wenig das Ende des Intellektuellen oder ein neues Zeitalter demokratischer Debatte. Techniken der Kommunikation erweitern immer nur den Möglichkeitsraum; erst der Kampf der Interessen verengt ihn zur Wirklichkeit. Ist nicht aus dieser Debatte vor allem der Name Jaron Laniers erinnerlich, eines Intellektuellen also? Die gegenwärtige Diskussion über das Ende der Autorschaft und des individuellen Geistes hat ihre Vorläufer. Als der Buchdruck sich durchgesetzt hatte, war ein Buch kein Werk mehr, das man beim eigenhändigen Abschreiben laut lesend verstanden hatte, oder das man als kostbares Geschenk zwecks Pflege intellektueller oder anderer bedeutsamer Beziehungen überreicht bekam, sondern nur mehr das Exemplar einer Massenware für jedermann. Dieser Wandel ließ noch im späten 17. Jahrhundert keinen geringeren als Leibniz über die „schreckliche und stets wachsende Menge von Büchern“ klagen, die das Ende der Autorenrolle nach sich ziehen werde. Zwei Jahrtausende davor überlieferte Platon die pessimistische Kulturkritik am phonetischen Alphabet, dem das Erinnern aus eigener Kraft und damit die Weisheit zum Opfer fallen würde. Die Menschen, die das Wissen herumtragen könnten, würden dadurch zu „Scheinweisen“. Aber vielleicht gehören diese Kassandrarufe wesentlich zur Rolle des Intellektuellen. Hübsch ist nur, dass die Kritik an den geistesgefährdenden Wirkungen des Internets vorwiegend durch das Internet selbst verbreitet wird. Nein, indem der Intellektuelle die neuen Formen der Öffentlichkeit kritisiert, nimmt er an ihrem Reproduktionsprozess teil – und an demjenigen der Rolle des Intellektuellen selbst. Soll er klagen! So bleibt er uns erhalten. 2 | Die erste Ausgabe erschien in am 30. Mai 1631 in Paris. Herausgeber, Chefredakteur und Journalist war der Arzt Théophraste Renaudot, ein enger Vertrauter Richelieus.

DIE AUTOREN Martin Carrier (Prof. Dr. phil.) lehrt Wissenschaftsphilosophie an der Universität Bielefeld. Seine Forschungsschwerpunkte sind Theorienwandel und Methodenlehre der Naturwissenschaften. http://www.uni-bielefeld.de/philosophie/personen/carrier/ Holk Cruse (Prof. Dr.) ist Biologe und arbeitet auf dem Gebiet der Biokybernetik. Seit 1981 leitet er die Arbeitsgruppe Biologische Kybernetik/Theoretische Biologie der Universität Bielefeld. Insbesondere beschäftigt er sich mit der Steuerung von Laufbewegungen bei Insekten, Krebsen und bionisch modellierten Robotern. Claude Debru (Prof. Dr.) lehrt an der École normale supérieure in Paris Wissenschaftsgeschichte und -philosophie im Bereich der Lebenswissenschaften. Sein besonderes Interesse gilt derzeit der Entwicklung medizinischer und neurowissenschaftlicher Problemstellungen nach 1945 im philosophischen, gesellschaftlichen und biographischen Kontext. Michael Hagner (Prof. Dr.) arbeitete nach der Promotion zum Dr. med. zunächst am Neurophysiologischen Institut der FU Berlin, später als Medizinhistoriker an den Universitäten Lübeck und Göttingen. Ab 1995 forschte er am MPI für Wissenschaftsgeschichte in Berlin. Seit Oktober 2003 lehrt Hagner Wissenschaftsforschung an der ETH Zürich. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Geschichte der Kybernetik, Visualisierungsstrategien in den Lebenswissenschaften und historische Epistemologie der Humanwissenschaften. Michael Hampe (Prof. Dr.) studierte Philosophie, Psychologie und Germanistik und anschließend Biologie mit den Schwerpunkten Neurobiologie und Genetik in Heidelberg und Cambridge. Seit Oktober 2003 lehrt Hampe theoretische Philosophie an der ETH Zürich. Schwerpunkte seiner Forschungsarbeit sind die Geschichte des Naturgesetzbegriffs, die Geschichte des Wissens sowie der Erkenntnistheorie der Psychoanalyse.

182 | D IE A UTOREN Michael Heidelberger (Prof. Dr.) lehrt Philosophie mit Schwerpunkt Logik und Wissenschaftstheorie am Philosophischen Seminar der Universität Tübingen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Kausalität und Wahrscheinlichkeit, Messung und Experiment sowie die Geschichte der Wissenschaftsphilosophie im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Sabine Maasen (Prof. Dr.) studierte Soziologie, Linguistik und Psychologie in Bielefeld und lehrt seit 2001 Wissenschaftsforschung mit Schwerpunkt Wissenschaftssoziologie an der Universität Basel. Sie forscht vornehmlich zu Fragen der Entwicklung des Verhältnisses von (Natur- resp. Geistes-)Wissenschaft und Gesellschaft, zu inter- und transdisziplinären Wissensdynamiken, zur Gouvernementalisierung moderner Selbstverhältnisse. Methodisch sind die Arbeiten an soziologischer (Bild-)Diskursanalyse orientiert. Gero von Randow ist Chefredakteur von ZEIT online und Mitherausgeber des Magazins ZEIT Wissen. Er ist Träger des Medienpreises der Deutschen Mathematikervereingung (2002) und des European Science Writers Award (2003). Walter Reese-Schäfer (Prof. Dr.) lehrt politische Theorie und Ideengeschichte am Seminar für Politikwissenschaft der Universität Göttingen. Seine Forschungsschwerpunkte sind politische Ethik im europäisch-nordamerikanischen Vergleich, Kommunitarismus, das Verhältnis von Globalisierung und politischer Verantwortung und Klassiker des politischen Denkens. Johannes Roggenhofer (Dr. phil., M. A.) ist Geschäftsführer des Zentrums für interdisziplinäre Forschung (ZiF) und Lehrbeauftragter für Philosophie an der Universität Bielefeld. Seine Forschungsschwerpunkte sind Ästhetik und die philosophischen Aspekte wissenschaftlicher Kommunikation. www.uni-bielefeld.de/ZIF/Personen/Taetigkeiten/roggenhofer.html

Science Studies Sabine Maasen Wissenssoziologie (2., komplett überarbeitete Auflage) Oktober 2007, ca. 120 Seiten, kart., ca. 12,80 €, ISBN: 978-3-89942-421-8

Martin Carrier, Johannes Roggenhofer (Hg.) Wandel oder Niedergang? Die Rolle der Intellektuellen in der Wissensgesellschaft Juni 2007, 182 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN: 978-3-89942-584-0

Thomas Gondermann Evolution und Rasse Theoretischer und institutioneller Wandel in der viktorianischen Anthropologie April 2007, 324 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 978-3-89942-663-2

Tatjana Zimenkova Die Praxis der Soziologie: Ausbildung, Wissenschaft, Beratung Eine professionstheoretische Untersuchung April 2007, 324 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN: 978-3-89942-519-2

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