Dopingprävention: Eine soziologische Expertise [1. Aufl.] 9783839420423

Organised sport has so far made numerous attempts to combat doping not only through controls but also through prevention

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German Pages 232 Year 2014

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Dopingprävention: Eine soziologische Expertise [1. Aufl.]
 9783839420423

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Karl-Heinrich Bette Felix Kühnle Ansgar Thiel

Dopingprävention

KörperKulturen

Die vorliegende Expertise zur Dopingprävention entstand im Auftrag des Deutschen Leichtathletik-Verbandes.

Karl-Heinrich Bette ist Professor für Sportsoziologie an der Technischen Universität Darmstadt Felix Kühnle hat Sportwissenschaft, Geschichte und Philosophie an der Eberhard Karls-Universität Tübingen und der Victoria University of Wellington (Neuseeland) studiert und war Projektmitarbeiter. Ansgar Thiel ist Professor für Sportwissenschaft an der Universität Tübingen.

I>Staatsdoping>Unabhängigen Dopingkommission« aus dem Jahre 1991. Abgedruckt in Bette (1994: 191-231).

VORBEMERKUNGEN

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Jones wurde, obwohl nachweislich auf hohem Niveau gedopt, mehr als 160mal getestet, ohne bei Dopingkontrollenjemals aufgefallen zu sein. Um die Erkenntnisse der sozialwissenschaftliehen Forschung für den Anti-Doping-Kampf fruchtbar zu machen, hat der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) unter der Verantwortung seines Präsidenten, Dr. Clemens Prokop, an Prof. Dr. Ansgar Thiel vom Institut für Sportwissenschaft der Eberhard-Karls-Universität Tübingen sowie an Prof. Dr. Karl-Heinrich Bette vom Institut für Sportwissenschaft der Technischen Universität Darmstadt den Auftrag erteilt, relevante wissenschaftliche Erkenntnisse über die soziale Bedingtheit des Dopings zusammenzutragen. Auf dieser Basis sollte geprüft werden, welche Ansatzpunkte einer Präventionsarbeit nach dem heutigen Erkenntnisstand als komplexitätsangemessen, theoretisch stimmig und aussichtsreich angesehen werden können. Dabei sollte dem Sachverhalt Rechnung getragen werden, dass vorliegende soziologische Erklärungsmodelle zum Dopingproblem, die auf überindividuelle und transintentionale Dopingursachen abheben, bei den bishetigen Dopingpräventionsbestrebungen der Sportverbände bislang nur wenig berücksichtigt worden sind. Im September 2009 erfolgte der Startschuss für erste Vorarbeiten im Projekt. Ab Januar 2010 begannen die Analysen der einschlägigen Literatur sowie die Recherchearbeiten zur Identifizierung der wichtigsten Dopingpräventionsinitiativen im deutschsprachigen Raum. Im Jahre 2010 fanden verschiedene Rücksprachen zum Projektverlauf mit dem DLV statt. Erste Ergebnisse wurden präsentiert. Die entsprechenden Rückmeldungen wurden im weiteren Projektverlauf berücksichtigt. Der DLV erhielt die Expertise im Oktober 2010. Dieser Projektbericht wurde vom DLV an Vertreter der Deutschen Sportjugend, des Bundesinnenministeriums und der NADA weitergegeben also derjenigen Organisationen, deren Präventionsinitiativen wir analysiert hatten. Im April 2011 fand mit den Vertretern dieser Organisationen in Frankfurt ein Gespräch statt, bei dem die Expertise diskutiert wurde. Die aus diesem Gespräch resultierenden Anregungen flossen in die Überarbeitung des Berichts ein. Anfang Januar 201 2 wurde die Expertise von uns fertig gestellt und dem Verlag übergeben. Mit Beginn der Untersuchung wurde schnell klar, dass das Grundproblem der bisherigen Präventionsarbeit keineswegs in der prinzipiellen Nichtverfügbarkeil von Wissen besteht. In den letzten Jahren ist innerhalb der sportsoziologischen Scientific Community ein Erkenntnisfundus erarbeitet worden, der zahlreiche Einsichten zur Genese und Vermeidung von Dopingvergehen im Spitzensport zur Verfügung ge-

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stellt hat. Ein Demand-pull von wissenschaftlichen Erkenntnissen durch den Sport erfolgt bislang aber meist nur aus jenen Disziplinen, die eine unmittelbare Steigerung der psychischen und physischorganischen Leistungsfähigkeit der Athleten oder der technischen Voraussetzungen spitzensportlichen Handeins herzustellen versprechen. Dies sind in der Regel natur- und ingenieurwissenschaftliche Erkenntnisse, und nicht etwa soziologische Analysen, die den organisierten Sport hinterfragen und dessen Praktiken bisweilen auch kritisieren) Hinzu kommt, dass Wirtschaft, Politik, Massenmedien und Publikum von den Sportverbänden zwar vollmundig ein energisches Vorgehen gegen Doping als eine Art Bringschuld des organisierten Sports einfordern, gleichzeitig aber durch die enge Koppelung ihrer Ressourcenzuteilung an sportliche Leistungserfolge auch ein hartes Durchgreifen der Verbände in einer subtilen und durchaus wirksamen Weise demotivieren. Die Sportverbände befinden sich hier in einer Beziehungsfalle. Anti-Doping-Maßnahmen werden zwar erwartet, doch die Verbände, die keine Medaillen oder vordere Rangplatzierungen ihrer Athleten und Athletinnen von internationalen Meisterschaften mit nach Hause bringen, verlieren über kurz oder lang die Aufmerksamkeit des Publikums und der Massenmedien sowie die Unterstützungszahlungen von wirtschaftlichen und politischen Sponsoren. Um sinnvolle Empfehlungen für eine Ergänzung und Verbesserung der bisheligen präventiven Anti-Doping-Bemühungen geben zu können, führten wir mit Hilfe des Verfahrens der qualitativen Inhaltsanalyse (Mayring 2000) eine Untersuchung ausgewählter, explizit als Doping-Präventionsmaßnahmen bezeichneter und ausgewiesener AntiDoping-Initiativen durch, die aufgrundihres Umfangs und ihrer öffentlichen Präsenz gegenüber anderen Präventionsinitiativen herausragten. Dokumentenanalytisch wurden dabei die proklamierten Ziele, die präventions- und interventionstheoretischen Hintergründe und Wirkungsmaßnahmen, die zielgruppenspezifische Passung von Inhalten und Methoden der Dopingpräventionsmaßnahmen, die Kohärenz von theoretischen Grundlagen und vorgeschlagenen Maßnahmen sowie - falls vor3

Soziologische Erkenntnisse, die sich mit den sozialen Problemen und Pathologien des Sozialbereichs Spitzensport befassen, haben oft nur dann eine Chance, dort auch wahrgenommen zu werden, wenn Skandale den Sport erschüttern und der Ruf nach neuen Sichtweisen und Konterstrategien zu hören ist. Sie werden außerdem häufig für eine Symbolpolitik verwendet, wenn Sportverbände unter Legitimationsdruck stehen und Nachweise benötigen, um gegenüber der Öffentlichkeit und geldgebenden Instanzen Aktivitäten vorweisen zu können.

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banden - die Evaluationsmethoden in den Blick genommen. Eine Gesamterhebung aller dopingpräventiven Maßnahmen im organisierten Sport war im Rahmen der vorliegenden Studie aus forschungsökonomischen Gründen nicht möglich. Allerdings zeigte bereits die erste explorative Durchsicht von beispielhaften Anti-Doping-Aktivitäten bei der Erfassung des Status Quo der Dopingprävention recht schnell, dass bei den verschiedenen Präventionsinitiativen ein hohes Maß an Gemeinsamkeiten und Strukturgleichheiten existiert. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass viele Fachverbände die Materialien der Nationalen Anti-Doping Agentur in ihren internen Schulungsmaßnahmen verwenden. Die Expertise ist wie folgt strukturiert: Kapitel I erhellt die Dopingproblematik aus soziologischer Sicht und gibt einen Einblick in den gegenwärtigen Diskussionsstand. Der Grund für diesen ersten allgemeinen Schritt liegt auf der Hand: Ohne eine Beantwortung der Frage, aufgrund welcher Bedingungen Doping zu einem Dauerproblem werden konnte, machen Empfehlungen und Maßnahmen gegen Doping wenig Sinn. Einem Arzt, der Therapien durchführt, ohne vorab eine zielgenaue Diagnose vorgenommen zu haben, sollte man mit Recht skeptisch begegnen. Man kann Sportverbänden sicherlich nicht unterstellen, dass sie bei ihren Maßnahmen gegen das Doping auf eine »Präventivwirkung des Nichtwissens« (Popitz 1968) setzen. In welchem Maße die Initiativen aber tatsächlich auf systematischen Analysen von Dopingursachen fußen, die außerhalb der Person liegen, ist zu prüfen. Dadurch, dass die pädagogischen, historischen, juristischen und auch pharmakologischen Beobachter ihre Aufklärungsarbeit als Aufklärung über Einzelpersonen, deren Vergehen und Substanzverwendungen anlegen, ergibt sich zwangsläufig ein blinder Fleck. Je genauer aber die Persönlichkeit der Athleten als maßgebliche Dopingursache angesehen wird, desto mehr gerät die strukturelle Bedingtheit des Dopinggeschehens aus dem Blick. Paradoxerweise gilt dies auch im Hinblick auf den vielerorts zu hörenden Ruf, die sog. »Hintermänner« verstärkt ins Visier zu nehmen, um so das Dopingproblem zu eliminieren. Auch dieser Blick auf die Hinterbühne bleibt personenfixiert und lässt das Phänomen der überindividuellen Handlungsverstlickungen unthematisiert. Die Frage, welche Dynarniken diese »Hintermänner« überhaupt zum Handeln gebracht haben, bleibt fatalerweise unbeantwmtet. Kapitel II, das unter Mitarbeit von Felix Kroll entstand, versammelt ausgewählte Erkenntnisse der soziologischen Devianzforschung, die ohne Sportbezug erarbeitet wurden, und klopft diese auf eine mögliche

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Verwendbarkeit für zukünftige Anti-Doping-Maßnahmen ab. Kapitel III beschreibt den bislang üblichen Umgang des organisierten Sports mit der Dopingdevianz und deutet die Möglichkeiten und Grenzen dieser Vorgehensweise an. Die für die Dopingbekämpfung ausdifferenzierten Kontrollorgane des organisierten Sport setzen, wie sich allgemein zeigen lässt, auf eine Intensivierung der Dopingkontrollen und eine Pädagogisierung und Moralisierung des Anti-Doping-Kampfes. Kapitel IV erhöht den Grad an Konkretheit, indem es die »Projektlandschaft der Dopingprävention« in Deutschland anhand ausgewählter Initiativen analysiert. Hier soll gezeigt werden, was man zu sehen bekommt, wenn man mit Hilfe soziologischer Theorien und Einsichten die konkreten Bemühungen beobachtet, die bis heute zur Bekämpfung und Eindämmung devianten Verhaltens im Sport aufgewendet werden. Kapitel V versammelt einige Empfehlungen zur Optimierung des AntiDoping-Kampfes, die der Komplexität des Themas jenseits von Kontrollausweitung, Bestrafung und Pädagogisierung aus Sicht der Soziologie gerecht werden. Die in diesem Buch vorgenommene Abklärung ausgewählter zeitgenössischer Präventionsinitiativen erfolgt nicht aus einem Interesse am Bloßstellen, Diskreditieren, Entlarven oder Vorführen. Ganz im Gegenteil gehen die Verfasser dieser Expertise davon aus, dass ein archimedischer, beobachtungsfreier Punkt der Wahrheit in einer differenzierten Gesellschaft nicht gefunden und eingenommen werden kann. Auch die Soziologie kann mit ihren Theorien und Methoden nur das sehen, was diese an Erkenntnismöglichkeiten hergeben. Es war daher nicht beabsichtigt, den im Anti-Doping-Kampf engagierten Personen, Institutionen und Fachdisziplinen nachzuweisen, das Dopingphänomen falsch bearbeitet zu haben oder gar untätig gewesen zu sein. Die mit der Präventionsarbeit befassten Akteure und Eimichtungen, auf die wir in unserer Untersuchung stießen, zeigten sich trotz knapper Ressourcen und vieler Widerstände in den eigenen Reihen als höchst kompetent und engagiert. Die Bemühungen, die Dopingproblematik durch Vorträge, Aufklärungskampagnen, Broschüren, Wochenendseminare und Runde Tische zu bekämpfen und die vielen Anfechtungen vonseiten der reinen Leistungsverfechter zu ertragen, verdienen Anerkennung und Respekt. Auch der finanzielle Aufwand, der in den Fachverbänden und in den übergeordneten Steuerungsinstanzen inzwischen betrieben wird, um den Anti-Doping-Kampf in die Sportpraxis hineinzutragen, ist mittlerweile beachtlich.

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Dennoch haben diese Maßnahmen aus soziologischer Sicht ihre Grenzen. Phänomene, die sich aus dem intentionalen und transintentionalen Zusammenwirken mehrerer Akteure und deren Interessen ergeben und die ihre devianzstimulierenden Wirkungen auf der Mikro-, Meso- und Makroebene des Geschehens entfalten, lassen sich alleine durch Wissensverrnittlung, gutes Zureden und Bestrafung nicht nachhaltig aus der Welt schaffen. Insofern war es erwartbar, dass der von uns platzierte strukturalistische Zugriff auf das Dopingthema jene Disziplinen initierte, die ihr professionelles Handeln am Subjekt festmachen und jenseits der notwendigen und unverzichtbaren Kontrolle und Bestrafung der Devianten vornehmlich auf Moral und Erziehung setzen, um anstehende Probleme zu bearbeiten. Wenn Soziologen die individuelle Autonomie des Subjekts und - damit verbunden - die auf Personenveränderung und Charakterstärkung ausgerichteten Präventionsinitiativen kritisch hinterfragen, dürfen sie bei jenen, die diese Initiativen durchfUhren, verständlicherweise nicht mit Beifall rechnen. Beim erwähnten Treffen im April 2011 in den Räumen des Deutschen Olympischen Sportbundes in Frankfurt, an dem neben den Projektträgem aus Tübingen und Darmstadt Vertreter der Deutschen Sportjugend, des Bundesinnenministeriums und der NADA teilnahmen, wurden wir mit entsprechend kritischen Rückmeldungen konfrontiert. Das Angebot, unsere im Oktober 2010 dem DLV übergebene Expertise mit ihren fachspezifischen Analyse-Ergebnissen und ihren praxisorientierten Problemlösungsvorschlägen4 kritisch zu kommentieren und die eigene Sichtweise schriftlich darzustellen, wurde freundlicherweise von der NADA und der mit Dopingprävention befassten Abteilung des BMI genutzt. Die übermittelten Anmerkungen waren außerordentlich hilfreich und wurden in die Expertise so weit wie möglich eingearbeitet. Die gegenseitigen Irritationen, die sich anfänglich in dem letztendlich sehr fruchtbaren Gespräch auf der Sprach- und Sachebene andeuteten, zeugen davon, wie schwierig die Zusammenarbeit zwischen Sport, Wissenschaft und Politik sein kann, wenn Überschneidungen in den Situationsdefinitionen und Erwartungen in der Beobachtung und Analyse eines Problemfeldes erst auf den zweiten oder dritten Blick erkennbar werden.

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Stichworte: >>Kontrolloptimierung«, >>Druckreduktionlegale Leistungsoptimierung und Wissensmanagementkollektives Lernen und >mehrsprachige< Interventionen« und >>intersystemischer Diskurs und Global Governance«.

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Dass Dialoge zwischen Vertretern unterschiedlicher Sozialbereiche nicht einfach durchzuführen sind, ist keine neue Erkenntnis. Die Sportpraxis fühlt sich häufig von der Wissenschaft in ihren Problemen allein gelassen und unterstellt eine Praxisferne der Theorie. Andererseits fühlen sich viele Wissenschaftler in ihren Ratschlägen und Analysen von den Sportorganisationen übergangen und reagieren auf diesen Umstand mit dem Vorwurf einer Theorieferne der Praxis. Man kann schnell erkennen, dass diese kritischen Einschätzungen beobachtungsrelativ ausfallen und zu Überforderungen der jeweils anderen Seite führen. Der Umstand, dass man sich wechselseitig häufig nicht versteht, hat weniger mit der Unwilligkeit oder Inkompetenz von Menschen zu tun, sondern verweist eher auf die Konsequenzen, die notwendigerweise entstehen, wenn Sozialbereiche wie Sport, Wissenschaft, Politik, Wirtschaft, Massenmedien oder Recht sich im Laufe der soziokulturellen Evolution verselbständigen, eigene Logiken, Sprachen, Zeithorizonte und Interessen entwickeln und hierdurch die Möglichkeit des Missverstehens in erwartbarer Weise erhöhen. Die in Gestalt dieses Buches vorgelegte Expertise versteht sich als Versuch, konkrete, in der Sportpraxis vorfindbare Dopingpräventionsinitiativen aus wissenschaftlicher Sicht zu beleuchten. Es ist nicht das Ziel, die Erfolge dieser Präventionsinitiativen herauszuheben und zu preisen, sondern - der soziologischen Perspektive entsprechend - sie vielmehr kritisch zu kommentieren. Von einem solchen Vorgehen kann man nicht erwarten, dass hierdurch die anstehenden Probleme direkt und unmittelbar gelöst werden. Deshalb ist die Frage berechtigt, was die Sportsoziologie, die in dieser Expertise als Wissenschaftsdisziplin zum Einsatz kam, der Sportpraxis zu bieten hat. Die Antwort lässt sich wie folgt formulieren: Sportsoziologen übernehmen Funktionen, die eben nicht in den Aufgabenbereich der Vertreter der Präventionsinitiativen fallen: die Beleuchtung blinder Flecken, die Identifikation offener Fragen und das Sondieren bislang nicht genutzter Handlungsmöglichkeiten. Sportsoziologen offerieren damit Erkenntnisse, die sich unter dem Kürzel »Ürientierungswissen« subsumieren lassen. Dieses Wissen kann in Gestalt anwendungsorientierter empirischer Daten über die Situation der Vereine und Verbände auftreten; es kann aber auch in Gestalt kritisch-konstruktiver Beschreibungen formuliert und präsentiert werden - durchaus mit dem Risiko, dass Sichtweisen, die sich im organisierten Sport in der »Anästhesie des Tagesgeschäfts« (Willke 2006: 131) eingeschliffen haben, aufgebrochen und alternativ gedeutet werden. Es liegt auf der Hand, dass hierdurch auch diejeni-

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gen, die sich mit großem Einsatz um das Tagesgeschäft kümmern, gekränkt werden können. Die Soziologie als »Lehre vom zweiten Blick« (Luhmann 1981: 170) ist eben keine Disziplin, die im Spmt nur das sehen und herausfinden will, was die Sportakteure über sich selbst bereits wissen. Ganz im Gegenteil ist sie darauf spezialisiert, das zu sehen, was die Sportakteure und die mit der Förderung des Sports in außersportlichen Bereichen befassten Funktionsträger nicht zu sehen bekommen, wenn sie sich selbst und ihr Handeln zu beobachten versuchen. Die Soziologie offeriert damit kein besseres, sondern ein anderes Wissen. Dass der Deutsche Leichtathletik-Verband in Gestalt seines Präsidenten, Dr. Clemens Prokop, diese Studie in Auftrag gab und finanzierte, ist, soweit uns bekannt, ein Novum in der Bearbeitung des Dopingthemas in Deutschland. Ob andere Verbände in ähnlicher Weise nachziehen werden, wird abzuwarten sein. Soziologisches Know-how wird von Sportverbänden bei der Bearbeitung der Dopingproblematik nach wie vor nur wenig nachgefragt. Sie verzichten damit auf Ressourcen, die in der Wissenschaftslandschaft durchaus zu den knappen Gütern zählen: analytische Ungebundenheit, kognitive Flexibilität und Inkongruenz der Weitsicht. Dass Dr. Prokap als Repräsentant eines großen deutschen Sportverbandes den Mut zeigte und das Risiko einging, den Themenbereich »Dopingprävention« von Soziologen alternativ und ohne eigene Erwartungsvorgaben beobachten zu lassen, ist bemerkenswert. Wir wollen an dieser Stelle gerne bestätigen, dass der DLV nicht versucht hat, auf die Ergebnisse dieser Expertise in irgendeiner Weise Einfluss zu nehmen. Bei einem so hochbrisanten Thema, dass wie kein anderes dazu tendiert, Polarisierungen und massenmediale Wogen zu erzeugen, war dies keine Selbstverständlichkeit. Es versteht sich von selbst, dass sowohl die von uns entfalteten soziologischen Denkfiguren zur strukturellen Erzeugung der Dopingdevianz als auch die Einschätzungen über die im organisierten Sport bislang anzutreffenden Präventionsinitiativen ausschließlich die Sichtweise der Verfasser wiedergeben, und nicht etwa die Meinung des DLV. Dies gilt auch für die Empfehlungen, die wir am Ende der Studie zur Optimierung des Anti-Doping-Kampfes gegeben haben. lnkongruenzen in der Einschätzung der Situation sind erwartbar und sollten genutzt werden, um in einen konstruktiven Dialog einzutreten.

ARGUMENTE GEGEN EINE DOPINGFREIGABE

Am Anfang unserer Überlegungen wollen wir zunächst einige Argumente versammeln, die eine Dopingfreigabe kritisch hintetfragen. Damit soll der Forderung energisch widersprochen werden, dass man auf eine Dopingprävention generell verzichten und die Dopingdevianz durch eine Legalisierung der Normbrüche klinisch-sauber aus der Welt schaffen könne. Forderungen dieser Art bekommt man des Öfteren bei öffentlichen Diskussionen oder auch in einigen Sportverbänden sowie in den Massenmedien zu hören, und zwar nicht nur hinter vorgehaltener Hand. Herbert Fischer-Solms (2009: 33), renommierter Sportredakteur im Deutschlandfunk Köln, wies kritisch auf diesen bedenklichen Sachverhalt hin: »Obendrein gibt es offensichtlich auch unter Sportjournalisten eine erschreckend hohe Anzahl, die das leidige DopingProblem schlichtweg durch eine medizinische Freigabe für am leichtesten lösbar hält.« Mit dem Hinweis, dass Vollzugsdefizite die Dopingkontrollen national und international prägten, die Medikalisierung des beruflichen Handeins außerhalb des Sports ohnehin nicht mehr aufzuhalten sei und eine Chancengleichheit mit den sich dopenden Athleten hergestellt werden müsse, wird die Dopingfreigabe gar aus Fairnessgründen gefordert. Hört man genauer hin, dann drängt sich der Verdacht auf, dass der Ruf nach einer Dopingfreigabe letztlich nur den Willen vokalisiert, den Spmt wieder störungsfrei genießen zu wollen, ohne durch Krankheits- und Schadensmeldungen, Entlarvungen oder Skandale irritiert zu werden. Bereits Anfang der 1990er Jahre trat Harrn Beyer, bis 1992 Präsident des Deutschen Schwimm-Verbandes (DSV) und Präsidiumsmit-

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glieddes Welt-Schwimm-Verbandes, mit der Forderung an die Öffentlichkeit, Doping unter ärztlicher Aufsicht für Erwachsene freizugeben: »Ich glaube [ ... ] nicht mehr daran, dass es uns gelingen wird, die Doping-Problematik so zu kontrollieren, daß der Mißbrauch, der immer noch getrieben wird, wirklich ausgemerzt werden kann« (KSA, 30.5. 1992). Es gibt gewichtige Gründe, dieser Einschätzung nicht zu folgen. Der Spaß am Spitzensport würde durch eine Freigabe vergemeinschaftet, der Problemanfall in extremer Weise personalisiert werden. Die Athleten allein hätten den Großteil der psychischen, physischen und sozialen Konsequenzen einer Legalisierung zu tragen. Und sie dürften sich anschließend noch nicht einmal über die Folgen beschweren, weil sie sich unter den Bedingungen einer offiziellen Dopingfreigabe sehenden Auges auf die Manipulation eingelassen hätten. Aus einer relativ hohen Dopingfrequenz und einer unterstellten weiten Verbreitung des Medikamentenmissbrauchs bei Künstlern, Wissenschaftlern oder Managern eine Freigabe im Sport abzuleiten, macht noch aus einem anderen Grund wenig Sinn: Normen, die sich ein Sozialsystem gegeben hat, um das überschüssige Handlungspotential seiner Mitglieder zu kontrollieren und mögliche Interventionen von außen abzuwehren, verlieren nicht an Bedeutung, wenn des Öfteren Normverstöße stattfinden. Das Gegenteil ist zutreffend. Die Funktion von Normen besteht gerade darin, Verhaltenserwartungen zu generalisieren und »enttäuschungsfest« zu stabilisieren (Luhmann 1964: 56f.), ihnen also auch dann Geltung zu verschaffen, wenn Normbrüche bereits stattgefunden haben und zukünftig auch in erwartbarer Weise immer wieder stattfinden werden. Nur so lässt sich Erwartungssicherheit herstellen. »Der Enttäuschungsfall wird als möglich vorausgesehen - [ ... ] - wird aber im voraus als für das Erwarten irrelevant erklärt« (ders. 1969: 39). Dies gilt generell für Normsetzungen innerhalb und außerhalb des Spotts. Der Staat schafft schließlich auch nicht flächendeckend die Steuern ab, nur weil sich nicht wenige Zeitgenossen der Steuerzahlung immer wieder kreativ entziehen. Und im Straßenverkehr verzichtet man nicht auf den Einsatz von Ampeln zur Regelung des Straßenverkehrs, nur weil einige Verkehrsteilnehmer diese bisweilen bei Rot überfahren. Der Preis, den alle für einen Regelungsverzicht zu zahlen hätten, wäre viel zu hoch. Damit Normen ihre Glaubwürdigkeit allerdings nicht durch ein Übermaß an Devianz verlieren, müssen Sozialbereiche Maßnahmen installieren, um die eigenen Normen kenntlich zu machen, Verstöße aufzudecken und Devi ante zu bestrafen. Eine andere Möglichkeit der Ent-

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täuschungsverarbeitung besteht allenfalls darin, Enttäuschungen bereits im Vorfeld einer möglichen Abweichung dadurch zu vermeiden, dass man die Anlässe für eine mögliche Abweichung präventiv reduziert oder gar aus der Welt schafft. Die Forderung nach einer Dopingfreigabe zielt in eine andere Richtung. Sie will Erwartungsenttäuschungen mit einem Schlag durch Normabschaffung rigoros eliminieren. Die absehbaren Konsequenzen einer solchen Vorgehensweise wären allerdings sehr gravierend. Wer leichtfertig für eine Freigabe und gegen eine Kontrolle und eine umfassend ansetzende Dopingprävention plädiert, sollte die Argumente, die in der folgenden Auflistung enthalten sind, bedenken und ins eigene Kalkül einbeziehen.

Eine Dopingfreigabe würde ... - die Vorbildfunktion des Leistungssports für Kinder und Heranwachsende nachhaltig beschädigen. Sporthelden, die als Spritzenhelden, Betrüger und Lügner entlarvt werden, eignen sich nicht als nachahmenswerte Idole. - gegen die Idee der körperlich und psychisch erbrachten Eigenleistung verstoßen. Zum Wettkampf der Athleten untereinander käme ein Wettkampf der Pharmakologen und der Arzneimittelindustrie. - das Dopingproblem weder reduzieren noch in seiner Brisanz herunterfahren, sandem lediglich einen Schleier schaffen, um die Konsequenzen eines hemmungslosen Dopingeinsatzes zu verbergen. - die gesundheitsgefährdende Dopingspirale weiter anheizen. Der Grund: Die Suche nach immer effektiveren und den Mitkonkurrenten noch nicht zur Verfügung stehenden Mitteln hörte nach einer Freigabe nicht auf, sondern ginge aufgrund des Wettbewerbs der Akteure untereinander und der strukturellen Intransparenz im globalen Spitzensport in verschärfter und ungehemmter Weise weiter. - möglicherweise dazu führen, dass der Leistungssport letztendlich zu einer monströsen und gefährlichen »Freakshow« verkäme, in der genetisch und medikamentös manipulierte Athleten gegeneinander anträten. - die moralische Selbstfestlegung der Sportverbände unterlaufen und die bisherige Identität des Sports in eklatanter Weiseinfrage stellen. Der Leistungssport verlöre seinen eigen- und gegenweltlichen Charakter, der ihn in der Gegenwartsgesellschaft so interessant macht.

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- dazu beitragen, dass auch Wahlbetrug in demokratisch verfassten Gesellschaften, Plagiieren in der Wissenschaft und Kartellabsprachen in der Wirtschaft hoffähig würden. - Dopingkontrollen nicht gänzlich überflüssig machen. Diese wären weiterhin notwendig, um zumindest unmündige Kinder und Jugendliche vor den gesundheitsgefährdenden Wirkungen von Doping zu schützen. - erfolgreiche und finanzstarke Sportler, Sportverbände und Nationen bevorteilen, weil die ärmeren sich die teuren Mittel nicht leisten könnten und auch keinen Zugang zu ihnen bekämen. - die bereits bestehende Ungleichheit zwischen den individuellen und korporativen Sportakteuren weiter verschärfen und zementieren. Ausgleichszahlungen müssten institutionalisiert werden, um eine perverse Verteilungsgerechtigkeit bei der Akquisition, Verabreichung und Wirkungsüberwachung von Dopingmitteln herzustellen. - einen Anpassungsdruck auf die noch dopingabstinenten Sportler, Trainer und Sportfunktionäre erzeugen und eklatante Verdrängungseffekte in den einzelnen Sportarten hervorrufen. Nur die Hasardeure unter den Sportlern, Trainern, Funktionären, Sportmedizinern, Physiotherapeuten und Sportlereltern blieben übrig. Die ohnehin schon in einigen Disziplinen zu beobachtende Negativauslese in der assistierenden Umwelt der Sp01tler würde durch eine Dopingfreigabe weiter verstärkt werden. Vermehrt würden diejenigen Akteure angezogen werden, die in der unethischen Behandlung von Leistungssportlern keine Probleme sehen. - dem Ruf des Sports insgesamt schaden und viele Eltern, Politiker, Lehrer, Sponsoren und Medienakteure desillusionieren, weil deren Sauberkeits- und Enthaltsamkeitserwartungen gegenüber dem Sport massiv enttäuscht würden. Angesichts der faktisch vorhandenen und medial verbreiteten Horrorszenarien bezüglich der gesundheitlichen Folgen von Dopingpraktiken ist davon auszugehen, dass insbesondere fürsorgebewusste Eltern ihre Kinder niemals dem hohen Risiko eines Dopings ausliefern würden. Eine Dopingfreigabe wäre somit für alle Beteiligten sehr gefährlich. Die Suche der Devianzbereiten nach noch nicht bekannten Möglichkeiten der Leistungssteigerung würde weitergehen, um sich Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. Es gibt demnach keine Alternative zur Dopingbekämpfung, wenn man einen humanen Leistungssport will. Klammheimliche Sympathien für Dopingpraktiken sind unangebracht, weil sie

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einer weiteren Selbstschädigung des Sports Vorschub leisten. Insbesondere die sportrelevanten Bezugsgruppen brauchen das Bild von einem sauberen Sport, um ihre Unterstützungsleistungen an den Spitzensport legitimieren zu können. Einigt man sich darauf, dass eine Dopingbekämpfung unverzichtbar und notwendig ist, muss allerdings der folgende Sachverhalt in die Kalkulation einbezogen werden: An der Erzeugung des Dopingproblems sind auch Akteure außerhalb des Sportsystems beteiligt. Bezugsgruppen in Wirtschaft, Politik, Massenmedien und Publikum stellen den Sportverbänden in den ihnen eigenen Steuerungssprachen - Geld, Macht, Informationsverbreitung und Aufmerksamkeit - Ressourcen zur Verfügung und heizen hierzu die Leistungsspirale unaufhörlich mit an. Sie können die sportinternen Maßnahmen gegen Doping sogar in einer subtilen Weise entmutigen - beispielsweise durch Ressourcenentzug nach sportlichen Minderleistungen, die sich im internationalen Wettstreit einstellen können, wenn Sportverbände scharf gegen Doping vorgehen. Die Ursachen des Dopings sind also vielfältig. Die Komplexität des Dopings als Sonderform der Abweichung wurde in den letzten Jahren in zahlreichen sportsoziologischen Arbeiten analysiert und diskutiert. Im nächsten Hauptkapitel werden wir diese Erkenntnisse zusammenfassend vorstellen. Sie werden uns später als Erklärungsfolie dienen, um die dopingpräventiven Initiativen kritisch-konstruktiv zu würdigen.

DOPING AUS SOZIOLOGISCHER SICHT

Indem Soziologen hartnäckig auf die prägende Kraft sozialer Bedingungen und Systeme hinweisen, artikulieren sie eine fundamentale Skepsis gegenüber der in der europäischen Aufklärung entstandenen Idee von der Autonomie des Subjekts.S Soziologen gehen mit dieser modemitätskritischen Sichtweise bewusst auf Distanz zu Pädagogik und Jurisprudenz. Gegenüber der Annahme, dass der Mensch prinzipiell Herr im eigenen Hause sei oder durch geeignete erzieherische Maßnahmen zur Entfaltung seiner Handlungsautonomie gebracht werden könne, betonen Soziologen statt dessen die Verstrickung des Subjekts in strukturelle und prozessuale Zwänge und Verheißungen. Soziologen schauen insofern, bei allem Interesse für Individuen und deren Befindlichkeiten, zunächst durch die Subjekte hindurch auf die sozialen Bedingungen, die hinter dem Rücken der Akteure ihre Wirkungen entfalten, um von hieraus wieder auf die Subjekte und deren Möglichkeiten und Nöte zu schauen. Die Soziologie vergisst oder vernachlässigt demnach das Subjekt nicht, sondern beobachtet es nur aus einer anderen Perspektive. Da Soziologen auch im Sport jene Faktoren thematisieren, die das individuelle Handeln maßgeblich beeinflussen, sind sie in der Lage, auf Sachverhalte und Zusammenhänge aufmerksam zu machen, die das Subjekt notorisch überfordern. Die Dopingproblematik liefert viele Beispiele für die Fruchtbarkeit der soziologischen Annahme, dass man über das individuelle Handeln im Spitzensport nur dann signifikante Aussagen zu treffen vermag, wenn man den Kontext einblendet, in

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Siehe Bette/Schimank (1999a; 2000); Bette (2001).

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dem das Handeln stattfindet, und die Dynamiken beleuchtet, die sich aus dem Handeln anderer Akteure durch Handlungsinterdependenzen und -Verstrickungen ergeben. Soziologen bekommen mit dieser Herangehensweise im Dopingkontext etwas anderes zu sehen als Mediziner, Pharmakologen, Juristen, Pädagogen, Historiker oder Medienvertreter. Der Vorteil: Soziologen können durch ihre amoralische, entsubjektivierende und strukturell ansetzende Vorgehensweise Erkenntnisse über die Determinanten der Dopingneigung sammeln, die anderen Beobachter so nicht zur Verfügung stehen. 6 Da sie im Spitzensport zwar als Beobachter dabei sind, aber nicht als Funktionsträger in unmittelbaren Handlungsverpflichtungen stehen und insofern nicht dazugehören, können sie vor allem Transparenz dort herstellen, wo der Blick auf soziale Zusammenhänge durch eingetretene Wahrnehmungspfade, Bestandserhaltungs- und Karriereinteressen sowie Betriebsideologien verstellt wird. Soziologen legen, wenn sie mit ihren Theorien den Sport und die Dopingpraxis beobachten, eine inkongruente und fremde Perspektive an. Das heißt: Sie entwickeln eine Sicht, die nicht deckungsgleich ist mit dem Erleben der beobachteten Personen und fustitutionen. Soziologen sind demnach keine Duplikataren bereits existierender Weltsichten; sie überziehen den Sport vielmehr mit einem für ihn selbst nicht möglichen Verfahren der Reduktion und Steigerung von Komplexität (Luhmann 1984: 88). hn ersten Abschnitt dieses Kapitels soll zunächst dargestellt werden, wie Dopingvergehen sowohl im Sport als auch im medialen, juristischen und pädagogischen Diskurs üblicherweise thematisiert und attribuiert werden. Eine Abklärung dieses Sachverhalts ist wichtig und unverzichtbar, weil der Umgang mit Doping in maßgeblicher Weise davon abhängt, wie der organisierte Sport und wichtige Umfeldakteure das Problemfeld beobachten und beschreiben und auf welcher analytischen Basis sie ihre Maßnahmen gegen die Dopingdevianz durchführen. Gerade eine Arbeit, die mit dem Anspruch auftritt, die im Sport geleistete Präventionsarbeit an ausgewählten Beispielen einer kritischkonstruktiven Betrachtung zu unterziehen, kommt nicht umhin, sich mit den im Feld vorfindbaren dominanten Situationsdefinitionen auseinanderzusetzen und diese in ihren Wirkungen zu beobachten. Ein Folgeabschnitt wird im Rahmen einer Mehr-Ebenen-Analyse die alternative Sicht der neueren Sportsoziologie skizzieren und ein Bild von

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Zur Amoralität, Fremdheit und Inkongruenz soziologischer Blicke und zur Idee einer Nähe durch Distanz siehe Bette (2010: 65ff.).

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der Dopingpraxis zeichnen, das sowohl zu den weitverbreiteten Situationsdefinitionen von Sport und Öffentlichkeit als auch zu traditionellen soziologischen Theorien abweichenden Verhaltens dezidiert auf Distanz geht. Wir werden hierbei die Mikro-, Meso- und Makroebene des Geschehens ins Visier nehmen und damit die personale, Organisationale und gesellschaftliche Dimension des Dopings einer näheren Betrachtung unterziehen. Vor allem sollen die dopingrelevanten Beziehungen abgeklärt werden, die sich zwischen den verschiedenen Ebenen ergeben haben.

1 KOLLEKTIVE PERSONALISIERUNG ALS DOMINANTES DEUTUNGSMUSTER

In einer soziologischen Betrachtung fällt zunächst auf, dass Doping in der öffentlichen Diskussion durchgängig und nahezu ausschließlich als Fehlverhalten einzelner Menschen angesehen wird. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen einzelne Athleten, aber auch Trainer, Sportfunktionäre, Manager, Ärzte oder Apotheker, denen der Vorwurf gemacht wird, hinter einer Fassade der Regeltreue perfide Täuschungsakte vollzogen, unterstützt oder geduldet zu haben, um sportliche Leistungen zu steigern und um tatsächliche oder nur befürchtete Nachteile gegenüber Konkurrenten aus der Welt zu schaffen (Bette 2001; 2008). Als Antriebsfaktoren werden übersteigerte Erfolgsmotive, Ruhmsucht, Geldgier und insgesamt moralische Verkommenheit unterstellt. Entsprechend einfach fallen die Reaktionen aus. Das Motto lautet: »Haltet den Missetäter und bestraft ihn! « Nur mit Kontrolle, Strafe und einer begleitenden ethischen Aufrüstung könne der mittlerweise existierende »Dopingsumpf« nachhaltig trockengelegt werden. Wenn nicht nur die Sportverbände Doping als individuelles Fehlverhalten darstellen, sondern Medienvertreter, Juristen, Pädagogen, Historiker und selbst viele Dopingkritiker ins gleiche Horn stoßen, und allenfalls pathologisierende Pauschaleinschätzungen über die »Kommerzialisiemng« und den »allgemeinen Sittenverfall« im Spitzensport zu vernehmen sind, der wiederum durch einzelne Personen »im Hintergrund« hervorgerufen werde, ist es Aufgabe der Soziologie, dieses weitverbreitete Beobachtungsschema zu unterlaufen und durch eine komplexere Version der Realität zu ergänzen. Das Fehlverhalten einzelner Personen in der vorderen und hinteren Reihe wird damit nicht

28 I DOPINGPRÄVENTION

etwa relativiert oder entschuldigt, sondern lediglich in einen größeren Zusammenhang gestellt. Vor allem kommen die bislang verdeckten Stellgrößen in Sicht, an denen man anzusetzen hätte, um Doping wirksam herunterzufahren. Die personalisierende Behandlung von Dopingvergehen im Sport ergibt sich vornehmlich aus der systemtypischen Attribuierung, mit der Leistungen im Sport generell dem Vermögen einzelner Athleten und Athletinnen zugerechnet werden. Der Sport stellt einen Handlungszusammenhang dar, der einer im Zuge gesellschaftlicher Modernisierung problematisch gewordenen Komplexität eine Sphäre des körperlich Konkreten, sinnlich Nachvollziehbaren und individuell Zuschreibbaren entgegenstellt. Der Sport macht reale Personen in öffentlich beobachtbaren Situationen in ihren Leistungen sozial sichtbar. Während die Einzelperson als singuläre Erscheinung im Rahmen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zunehmend an Bedeutung verloren hat und in langen und unüberschaubaren Handlungsketten verlorenzugehen droht, wird der Mensch in der Welt des Sports in die Lage versetzt, vor den Augen zuschauender Massen noch den alles entscheidenden Unterschied auszumachen. Im Wettkampf zählt die Leistung einzelner Athleten oder Mannschaften; alles andere verschwindet hinter den Kulissen der Sportorganisationen. Für die Interpretation und Kommunikation von Dopingvergehen hat dieser sporttypische Zugriff auf Person und Körper erhebliche Konsequenzen. Ebenso wie Sportverbände den sportlichen Erfolg ihrer Athleten als Produkt persönlichen Einsatzes und individueller Könnerschaft in Szene setzen, werden Normverstöße in analoger Weise von ihnen personalisiert und singularisiert. Es entspricht dieser Attribuierungspraxis, dass die Körperflüssigkeiten der Athleten und Athletinnen wie Blut und Urin auf verdächtige Praktiken oder Stoffe hin untersucht werden, um Abweichung feststellen zu können. Die zu Lasten einzelner Personen gehende Täterorientierung hat für die Sportorganisationen den profitablen Nebeneffekt, dass ihre eigenen Verstrickungen in Dopingpraktiken unbeachtet bleiben. Mitbeteiligt sind die Fachverbände alleine schon dadurch, dass sie Leistungen dezidiert belohnen, dauerhafte Misserfolge negativ sanktionieren und Kaderkliterien und Teilnahmebedingungen bei nationalen und internationalen Meisterschaften in einer maßgeblichen Weise definieren. Der personen- und täterorientierte Zugriff der Sportverbände auf Doping wird durch den ebenfalls personalisierenden Problemzugriff der Massenmedien verstärkt. Das mediale Bestreben, Abweichung an Personen festzumachen, ergibt sich aus der prinzipiellen Notwendig-

I DOPING AUS SOZIOLOGISCHER SICHT I 29

keit, permanent Neuigkeiten und Informationen aufmerksamkeitsträchtig und verständlich in Wort und Bild präsentieren zu müssen. Strukturen, die Doping hervorbringen, kann man nicht zeigen und zum Interview bitten. Eine mediale Berichterstattung kann zudem langfristig nur dann lukrativ sein, wenn sie Zuschauerbedürfnisse sensibel wahrnimmt und befriedigt. Das Dopingthema ist für die Medien demnach eine ambivalente Angelegenheit. Der täterorientierte Umgang des Sports mit »Dopingsündern« entspricht zunächst dem hohen Personalisierungsbedarf der Medien. Der konfliktträchtige Charakter eines Dopingvergehens ist spannend und eignet sich zudem für eine Moralisierung. Doping ist, so gesehen, der »Stoff, aus dem die Medienträume sind« (Bette 2001: 33). Andererseits besteht bei allzu viel medialer Dopingberichterstattung aber die Gefahr, dass sich die Zuschauer, Leser und Hörer angewidert vom Sport abwenden und anderen Unterhaltungsquellen zuwenden. Die Massenmedien haben insofern ein großes Interesse daran, den Sport als eine Gegenwelt des Positiven nicht vollends durch eine allzu kritische Dopingberichterstattung zu töten. Denn dies würde die eigene Geschäftsgrundlage nachhaltig gefährden. Zur defensiven Strukturierung der Medien gehört es deshalb, die Personalisierung und Singularisierung des Dopings durch den organisierten Sport nicht zu stark zu hinterfragen und die eigene Bedeutung in der Verwertungskette des Leistungssports systematisch auszublenden. Dies gilt insbesondere für die Berichterstattung im Fernsehen. Die strukturelle Koppelung personalisierender Perspektiven zwischen Sport und Massenmedien wird durch die personen- und täterorientierte Problembeschreibung in Juri sprudenz und Pädagogik ergänzt und stabilisiert. Um gemäß der Leitdifferenz von Recht und Unrecht Verantwortung und Schuld eindeutig zuschreiben zu können, arbeitet die Jurisprudenz mit einem Menschenbild, dem es Handlungsautonomie und, daraus resultierend, Rechts- und Schuldfähigkeit attestiert. Schuldzuweisungen haben die Funktion, wie Lohmann (1969, zitiert nach 2008: 52) bemerkte, »Erlösung zu ermöglichen«. Als »Enttäuschungserklärung« gestatten sie es, das »enttäuschende Ereignis auf sich selbst zu isolieren und nicht als unabsehbar weiterlaufendes Verhängnis anzusehen, [ ... ].«Bei der rechtlichen Behandlung von Doping steht somit eine auf einzelne Personen ausgerichtete Kasuistik im Vordergrund. Sportler, Trainer, Funktionäre und Sportmediziner werden, falls man sie des Dopings oder der Dopingunterstützung überführt, als Einzelpersonen an den Pranger gestellt und entsprechend abgeurteilt. Auch die Pädagogik zielt in ihrer Problemdefinition und -bearbeitung

30 I DOPINGPRÄVENTION

auf einzelne Personen ab, selbst dann, wenn von einer Verhältnisprävention die Rede ist. Die in der europäischen Aufklärung entwickelte Idee von einem mündigen und autonomen Subjekt soll mit Hilfe der Pädagogik durch eine entsprechend eingerichtete Erziehungs- und Aufklärungspraxis zur Entfaltung gebracht werden. Am Ende eines langen Prozesses steht im Idealfall der selbstverantwortliche Einzelne mit seiner Fähigkeit, manipulatorische Einflüsse von außen vernunftgemäß abzuwehren und Zweck seiner selbst zu werden. Ein Dopingverstoß wird irrfolge dessen als Charakterschwäche angesehen, die auf einen fehlgeleiteten Erziehungsprozess zurückzuführen ist. Vor allem mit Ethik und Moralerziehung sollen die Abweichler auf den Pfad der Normtreue zurückgeführt werden (Bette 2001: 36ff.; Bette/Schimank 2006a: 34f.). Die kollektive Personalisierung des Dopings durch Sport, Massenmedien, Jurisprudenz und Pädagogik ist nicht ohne Konsequenzen geblieben. Sie hat eine fatale und »ultrastabile Deutungsgemeinschaft« (Bette 2001: 38) entstehen lassen, die einer komplexitätsangemessenen Bearbeitung des Themas bis heute im Wege steht. »Die vieldiskutierte Krise des Spitzensports ist, wie es scheint, auch eine Konsequenz des personalistischen Umgangs mit der Krise« (ebd.: 27). Deutungsangebote, die Dopingdevianz als das Ergebnis einer bestimmten sozialen Konstellation ausweisen und somit auf die strukturelle Bedingtheit der Dopingvergehens abheben, wurden bislang systematisch ausgeblendet und ignoriert. Die Bearbeitung des Dopingproblems ist, wie man als soziologischer Beobachter leicht erkennen kann, bereits bei der Definition des Problems in eine Sackgasse geraten und dort bis heute steckengeblieben. Indem die Schuld systematisch auf die Athleten , Trainer, Funktionäre oder einzelne Mitglieder des assistierenden oder sportinteressierten Umfeldmilieus als Personen abgeschoben wird, verstellen sich die auch unwissentlich beteiligten Akteure die Sicht auf ihre Mitverantwortung innerhalb einer komplexen Konstellation und blockieren damit die Möglichkeit eines angemessenen organisatorischen Lernens. Doping wird also dadurch nicht etwa eliminiert, dass viele sich hiermit inzwischen intensiv beschäftigen. Vielmehr wird Doping durch die kollektive Personalisierung in einer überraschenden Weise am Leben erhalten. Probleme entstehen eben nicht nur durch das bekannte Wegsehen und Nichthandeln der Verbände; auch das obsessioneHe Hinsehen auf einzelne Personen im Vorder-und Hintergrund des Geschehens kann devianzverstärkende Effekte hervorrufen. Es verstellt nämlich den Blick auf die hinter dem Rücken der Akteure wirksamen

I DOPING AUS SOZIOLOGISCHER SICHT I 31

systemisch-strukturellen Vorgaben und kann dadurch Interventionen an den entscheidenden Stellen blockieren. Schon vor Jahren ist auf den Umstand hingewiesen worden (Bette 2001 : 38), dass selbst die Sportpädagogik mit ihrem wichtigen Anspruch, die Position des Subjekts im Sport verteidigen zu wollen, durchaus Teil des Problems werden kann, dass sie durch Moral, Ethik, Erziehung und Eigenengagement im organisierten Sport zu lösen trachtet. Eben weil sie durch ihre Betonung des Subjekts eine gewisse Harmlosigkeit signalisiert, kann sie durch das Sportestablishment leicht für Aktivitätsnachweise instrumentalisiert werden: »Nichts eignet sich besser für die symbolische Politik eines Verbandes, als unverbindliche Moral- und Ethikkampagnen mit Hilfe verbandlieh inkludierter Sportpädagogen.« Auch die energischsten Dopingkritiker können in einer für sie überraschenden Weise nichtintentional dazu beitragen, Doping zu perpetuieren, wenn sie ihr Engagement darauf beschränken, ausschließlich Vorwürfe gegen Personen und deren Handeln zu erheben, und die sozialen Bedingungen ausblenden, die das Handeln dieser Personen über Motivkonstruktionen, Rollenerwartungen und Sinnvorgaben beeinflusst haben.

2

EBENEN DER SOZIOLOGISCHEN PROBLEMBESCHREIBUNG

Die folgenden Ausführungen zielen darauf ab, die schlichte, vornehmlich auf personale Verfehlungen und Charakterdefizite abhebende Problembeschreibung durch eine komplexitätsangemessene soziologische Sichtweise zu ersetzen.7 Drei Systemebenen sollen dabei näher betrachtet und analytisch aufeinander bezogen werden. Wir gehen zunächst davon aus, dass die gesellschaftlichen Teilsysteme, die auf der Makroebene des Geschehens durch Interessenverstrickungen mit dem Spitzensport verbunden sind, nichtintentional dazu beitragen, die ohnehin schon vorhandene und auf Eskalation hin ausgerichtete Leistungs- und Erfolgsorientierung des Sports zu entfesseln. Weiterhin ist festzuhalten, dass die Sportverbände als korporative Akteure auf der Mesoebene des Geschehens durch ihre Prinzipale in Wirtschaft, Politik, Medien und Publikum in Beziehungsfallen verstrickt werden, aus denen es kein einfaches Entri nnen gibt. Durch die Vorgänge auf der 7

Wir folgen in diesem Abschnitt vornehml ich der Argumentation von Bette und Schimank ( l995; 1996; 2006b: 42 lff.).

32 I

DOPINGPRÄVENTION

Makro- und Mesobereich werden wiederum die Athleten und Athletinnen mit inflationären Erfolgserwmtungen auf der Mikroebene konfrontiert, denen nicht wenige von ihnen mit Doping als »brauchbarer«, aber überaus gefährlicher Illegalität zu entsprechen versuchen.S

Medium

Code

Illegale Innovation

Geld

Haben I Nichthaben

Korruption, Kartellabsprachen

Politik

Macht

Regierung I Opposition

Wahlbetrug, illegale Partei spenden

Wissenschaft

Wissen

Wahrheit I Nichtwahrheil

Datenfälschung, Plagiate

Sozialsystem

Wirtschaft

Abb. 1: Dopingäquivalente Devianz in außersportlichen Sozialbereichen

Insgesamt erscheint Doping, wie Niklas Luhmann (1997: 405, 1043) im Rückgriff auf sportsoziologische Erkenntnisse festhielt, als eine »Sabotierung« des sportlichen Sieg/Niederlage-Codes, die mit anderen Formen der Devianz durchaus vergleichbar ist, nämlich mit Korruption und Kartellabsprachen in der Wirtschaft, mit Wahlbetrug und illegalen Parteispenden in der Politik, mit Datenfälschung und Plagiaten in wissenschaftlichen Publikationen oder mit dem Kauf von Liebe in Intimbeziehungen. Das klammheimliche und illegitime Unterlaufen systemischer Codes eigne sich anschließend, so Luhmann (1994: 39), für massenmediale Skandalisierungen und öffentliche Empörungen.

2.1

GESELLSCHAFT: DOPING ALS KONSEQUENZ DES ENTFESSELTEN SIEGESCODES

In einer soziologischen Perspektive steht fest: Doping ist nicht das Resultat isolierter individueller Entscheidungen, die etwa auf Grundlage eines schlechten Charakters oder fehlgeleiteter Siegesambitionen getroffen würden. Doping ist vielmehr als ein »normaler Unfall« (Perrow

8

Der Begriff der »brauchbaren IllegalitätHintermänner«

Hinterbühne - implizite Förderung einer Dopingneigung durch Normsetzung und negative Sanktionierung sportlicher Minderleistungen - Vertuschen, Unterlassen, Wegsehen - Gefälligkeitsjurisprudenz - lasehe und unintelligente Dopingkontrollen - Erschwerung des nationalen und internationalen Anti-Doping-Kampfes durch die notorische Unterfinanzierung von Kontrolleinrichtungen und AntiDoping-Initiativen - Platzierung von >>Trojanern« in strategisch wichtige Positionen l3 - Vollzugsdefizite in der nationalen und internationalen Dopingbekämpfung

Abb. 4: Trennung von Vorder- und Hinterbühne

Die traditionelle Sportmoral, die den Regeltreuen Achtungserweise zollt und jenen die Achtung zeitlich begrenzt oder dauerhaft entzieht, die gegen die selbstgesetzten Normen des Sports verstoßen, findet ihr Haupteinsatzgebiet auf der Vorderbühne. Die Hinterbühne ist das Einsatzgebiet der subversiven Untergrundmoral, die von jenen Akteuren getragen wird, die dem Leitwert des Spitzensports, dem sportlichen Sieg, sowie wirtschaftlichen, politischen und medialen Akteurinteressen kompromisslos Geltung zu verschaffen suchen, ohne die eigenen

I3

>>Trojanersocial death>Social death« (Rosenberg 1984) bezeichnet werden kann. Athleten, die einen Großteil ihres bewusst erlebten Lebens in sportlichen Gemeinschaften integriert waren, diese vielleicht sogar aufsuchten, um vor familialen und schulischen Pressionen zu entfliehen oder um Gefühlen der jugendlichen Langeweile zu entgehen, empfinden Entzugserscheinungen, wenn sie auf dieses soziale Milieu verzichten müssen. Hinzu kommt das Risiko, nach der sportlichen Karriere ins berufliche Nichts zu fallen, falls keine entsprechende Vorsorge betrieben wurde. Da die Athletenrolle als Basis für eine lebenslange Verberuflichung entfällt (Ausnahme: die Übernahme späterer hauptamtlicher Trainer- oder Funktio-

I DOPING AUS SOZIOLOGISCHER SICHT I 53

närspositionen) entsteht für nicht wenige Athleten eine dramatische Situation, falls sie ihre Karriere freiwillig oder unfreiwillig beenden und keine Alternative zur Verfügung steht. Da sich das ökonomisch Erworbene oft nicht als ausreichend erweist, um langfristig hiervon leben zu können, muss eine berufliche Neuorientierung bei oft nicht vorhandenen Perspektiven stattfinden. Auch langfristige Körperschäden, die durch eine jahrelange Instrumentalisierung des Körpers in Training und Wettkampf bisweilen hervorgerufen worden sind, lassen den Körper vom Kapital zum Krisenfaktor werden. Die Zukunftsunsicherheit als Problem der nachspültliehen Karriere speist sich insofern nicht nur aus der sozialen und kognitiven Schließung, die durch Prozesse der Totalisierung der Athletenrollen angestoßen wird, sondern auch durch den möglichen »sozialen Tod«, den man stirbt, wenn alle über das Athletendasein vermittelten Macht-, Einkommens- und Partizipationschancen wegbrechen, ökonomische Probleme auftauchen und der Körper der Athleten und Athletinnen als maßgebliche Materialitätsbasis des Spitzensports durch Verletzungen und Schäden beeinträchtigt worden ist. Vor diesem Hintergrund wird abermals deutlich, dass Doping nicht einfach eine Frage schlechter Charaktereigenschaften aufseiten von Sportlern, Trainern oder Funktionären ist, sondern eine Coping-Strategie darstellt, mit der individuelle Akteure kollektiv auf die Zwänge und Verheißungen ihrer Situation reagieren. Doping ist keine zufällige Aggregation von Einzelfällen, sondern verweist auf konkrete und typische Probleme, mit denen sich Sportler konfrontiert sehen und die sie offensichtlich immer unausweichlicher in eine Spirale der Anpassung durch Abweichung hineintreiben. Doping wird im Spitzensport eingesetzt, um ein Scheitern während der Karriere zu verhindern und die Zukunftsunsicherheit nach der Karriere zu minimieren. Gleichzeitig können Körper und Psyche an die inflationären Ansprüche der Umwelt und an das spezifische zeitliche, sachliche und soziale Anforderungsprofil einer Sportart angepasst werden. Angst, Aufregung, Nervosität und Müdigkeit können medikamentös vertrieben werden. Durch eine illegitime Nutzung von Dopingpraktiken versuchen Sportler weiterhin das Risiko auszuschalten, wichtige institutionelle Fördermöglichkeiten zu verpassen und ökonomische Risiken zu reduzieren. Außerhalb des offiziellen Förderkartells lässt sich schließlich ein Hochleistungstraining nur sehr schwer durchführen. Außerdem stellt Doping einen Weg dar, um dem impliziten Dopingdruck und der klammheimlichen Akzeptanz der Verbände gerecht zu werden.

54 I DOPINGPRÄVENTION

In einem Sozialsystem, in dem ein bedingungsloser Leistungsindividualismus vorherrscht, soll Doping zudem identitätsstabilisierende Wirkungen entfalten. Nicht zuletzt kommt Doping auch als Sekundärdevianz ins Spiel, so dass eine Eskalationsspirale weiterer Devianzen hervorgebracht und vorangetrieben wird. Abweichung führt zu Abweichung, die wiederum zu Abweichung führt. Der Grund: Plötzliche Leistungseinbrüche stellen Fragezeichen hinter einstmals erreichte Rekorde. Um dies zu verhindern, werden Athleten gleichsam gezwungen, mit ihrer Devianz fortzufahren, denn Leistungseinbußen werden vom Publikum, den Medien, Wütschaftspartnern und Sportverbänden nicht sonderlich geschätzt. Fortgesetztes Doping und ein unreflektiertes Weitermachen wie bisher scheinen für viele Sportler unter diesen Bedingungen die einzigen Antworten zu sein, um Entlarvungen und Diffamierungen zu entgehen. Coping durch Doping: Motivkonstellationen Erfolgsbeschaffung und Misserfolgs- und Nachteilsvermeidung Steigerung der eigenen Körpermöglichkeiten; Verschiebung vorhandener Körpergrenzen Passung von Psyche und Spitzensport Zutritt zum Förderkartell und I oder Absicherung bereits erfolgter Fördermaßnahmen Kompensation von Kontrolldefiziten der Sportverbände; Anpassung durch Abweichung Stabilisierung der leistungsindividuali sti schen Sportleridentität Reduzierung ökonomischer Risiken Verheimlichung bereits vollzogener Devianz

Abb. 7: Coping durch Doping (Bette et al. 2002: 366)

Da bereits einer der oben genannten Gründe ausreicht, um auf Dopingpraktiken zurückzugreifen, ist Doping als ein »überdeterminiertes Phänomen« anzusehen. Selbst nach Beseitigung eines einzelnen Motivs durch Steuerungsmaßnahmen des Verbandes oder anderer Instanzen kann es für Sportler noch weitere Gründe geben, sich zu dopen. Hat ein Verband beispielsweise Möglichkeiten der dualen Karrieregestaltung für seine Kaderathleten eingerichtet, können internationale Kontrolldefizite diese risikominimierende Maßnahme zunichte machen, weil eine Laissez-faire-Haltung dieser Art die unausgesprochene Botschaft mitteilt, dass man sich an das Dopen der Mitkonkurrenten anzupassen ha-

I DOPING AUS SOZIOLOGISCHER SICHT I 55

be, um ungerechte Benachteiligungen aus der Welt zu schaffen. Auch die weltweite Einführung von intelligenten Trainingskontrollen würde nicht notwendigerweise zur Elirninierung des gesamten Dopingproblems führen, weil Doping zum Zwecke der ldentitätsbehauptung, zur Steigerung der eigenen psychischen oder physisch-organischen Möglichkeiten oder zur Verheimlichung einer bereits vollzogenen Devianz eingesetzt werden kann. Wirkungsdimensionen

sachlich

zeitlich

Leistungen

Risiken

- hochdifferenzierte Manipulation von Körper und Psyche gemäß sportartspezifischer Anforderungen: u.a. Steigerung von Trainierbarkeit und Regenerationsfähigkeit

- gesundheitliche Negativeffekte: z.B. Nebenwirkungen, Körperschäden bis hin zum Tod: erhöhte Verletzungsanfälligkeit und Sucht

-beschleunigter Leistungsaufbau

- Einstieg in die Dopingspirale - gesundheitliche Langzeitschäden -Verkürzung der Karriere (u.a. durch Entdeckung)

-Verlängerung der Karriere nach vorne und hinten -Verkürzung von Verletzungsund Regenerationspausen

sozial

- Absorption rollenspezifischer Ungewissheiten

-wechselseitige Yerstärkung des Dopingdrucks

- Vorteilsbeschaffung und Nachteilsvermeidung

- soziale Ächtung und Sanktionierung ertappter Dopingsünder

Abb. 8: Leistungs- und Risikomatrix (Betle!Schimank 1995: 183)

An dieser Stelle kann man erkennen, wie schwer es ist, gegen die Verlockungen durch Doping treffsicher vorzugehen, selbst wenn sich diese bei genauerer Betrachtung als höchstriskant zeigen und Leistungen und Risiken bei Dopingpraktiken, wie Abbildung 8 verdeutlicht, gleichzeitig gesteigert werden. Erschwerend kommt bei der Dopingbekämpfung hinzu, dass der illegitime Innovationsnutzen von Doping nicht nur die Athleten betrifft, sondern auch das unmittelbare Umfeld parasitär an den illegitim gesteigerten Leistungen der Athleten teilhaben lässt. Hierdurch entsteht eine auf den sportlichen Erfolg fixierte Zweckgemeinschaft, die sich wechselseitig abstützt, einen »amoral familialism« (Banfield 1958; Bette/Schimank 1994: 45) zeigt und die Athleten und

56 I

DOPINGPRÄVENTION

sich selbst, falls möglich, auch konspirativ vor einer Verfolgung abschottet und schützt. Das Unterstützungsumfeld muss den einzelnen Athleten nicht notwendigerweise explizit zum Dopen ermuntern, sondern kann durch die Vetfügbarmachung oder Verknappung von Ressourcen Anreize für Dopingpraktiken setzen. In nicht wenigen Fällen hat das assistierende Milieu aber auch Opportunitäten für deviante Praktiken subkulturell bereitgestellt. All dies zeigt abermals, dass eine auf einzelne Athleten und deren Charaktereigenschaften abzielende Dopingdiskussion und Präventionsarbeit an der Komplexität des Geschehens völlig vorbeigeht. Auch rein moralbezogene Appelle haben sich bisher nicht als zielführend in der Dopingbekämpfung erwiesen. Während moralische Appelle in »Niedrigkostensituationen« durchaus Gehör finden, können sich in der »Hochkostensituation« des globalen, professionell betriebenen Sports offensichtlich immer weniger Athleten oder Umfeldakteure eine Ethik des fairen Spiels und des olympischen Dabeiseins leisten. Die Situation, in der sich Athleten bei der Entscheidung für oder gegen Doping befinden, entspricht einem klassischen »Gefangenen-Dilemma« (Breivik 1992: 235ff.; Keck/Wagner 1990; Bette/Schimank 1995: 242ff; auch Shermer 2008). Die Athleten A und B haben im Rahmen ihres Konkurrenzspiels jeweils die Entscheidung zwischen zwei Strategien, nämlich sich entweder zu dopen oder sich nicht zu dopen.I5 Gemäß der Spieltheorie entscheiden die Athleten, wenn sie bestimmten rationalen Kalkülen folgen, als hornini oeconomici oder auch normorientiert und emotional. Die Athleten treffen ihre Wahl jeweils mit Kenntnis der Präferenz des Konkurrenten, aber ohne Wissen über dessen tatsächliche Entscheidung. Insofern kann der weitestgehenden Intransparenz, wonach die Sportler selbst nicht im großen Stil miteinander über Doping reden und nicht von den Dopingpraktiken der jeweils anderen Seite wissen, theoretisch Rechnung getragen werden. Im Modell ergeben sich vier mögliche Konste11ationen: (a) A und B dopen sich nicht; (b) A dopt sich, B dopt sich nicht; (c) B dopt sich, A dopt sich nicht; (d) A und B dopen sich.

15

Zur weiteren spieltheoretischen Modeliierung des Dopings als >>connected game>Unterstützungs-Offenbarungs-« und >>Kontroll spiel« siehe Bette/Schimank (1995: 236-267).

I DOPING AUS SOZIOLOGISCHER SICHT I 57

B sich dopen

sich nicht dopen

2 sich dopen

(b)

2

A

1

(d)

4 4

sich nicht dopen

3

(c) 1

(a)

3

Abb. 9: Doping als »Ge.fangenendilemma« (nach Bette/Schimank 1995: 245)

Da die Athleten unter erheblichem Erfolgsdruck stehen, gestalten sich ihre Präferenzen- am Beispiel von Athlet A dargestellt - wie folgt: (4) Bestes Ergebnis: A dopt sich, B dopt sich nicht. Bei dieser Konstellation ergibt sich aufgrundder subjektiven Einschätzung einer positiven Kosten-Nutzen-Bilanz von Doping der höchste Nutzen fürA. (3) Zweitbestes Ergebnis: Beide dopen sich nicht. Bei dieser Konstellation entsteht ein fairer Wettbewerb ohne die potentiell negativen Folgen des Dopings. (2) Zweitschlechtestes Ergebnis: Beide dopen sich. Bei dieser Konstellation entsteht ein »fairer« Wettbewerb, allerdings mit potentiell negativen psychischen, physischen und sozialen Folgen. (1) Schlechtestes Ergebnis: A dopt sich nicht, B dopt sich. Bei dieser Konstellation erfährt A den geringsten Nutzen, da er im Wettbewerb um knappe Siege ohne eigenes Doping benachteiligt wird. Die sogenannte »dominante Strategie« ist in diesem Modell für beide Spieler die Strategie, sich zu dopen. Denn vor dem Hintergrund der Intransparenz in Bezug auf das Wissen um Dopingpraktiken im Konkurrenzfeld führt diese Entscheidung nicht nur in jedem Fall zu einem mindestens so guten Output wie die Entscheidung des anderen. Das Dilemma besteht also darin, dass die Situation (d) mit dem beidseitigen Doping die dominante und damit rational begründbare Entscheidung ist, obwohl das Ergebnis (a) durch das beidseitige Nichtdopen eigentlich ein für alle Beteiligten gemeinsam besseres Resultat wäre, da die psychischen, physischen und sozialen Konsequenzen des Dopings entfielen. Die spieltheoretische Modeliierung des Dopingproblems zeigt, dass die nicht selten von Journalisten oder Sportfunktionären vorge-

58 I

DOPINGPRÄVENTION

brachte These einer Erosion der Werte im heutigen Leistungssport kaum Erklärungskraft besitzt. Auch die damit verbundene Vorstellung, dass Athleten die Regeln nur aufgrund mangelnden Charakters oder mangelnder Intelligenz brächen und »normale« Personen dies niemals tun würden, muss verworfen werden (Waddington 2000). Von der grundsätzlichen Möglichkeit einer Intervenierbarkeit in eine bestehende Dopingfalle gehen auch so genannte Kosten-Nutzen-Untersuchungen zur Ökonomie des Dopings aus. In diesen Analysen wird angenommen, dass Doping dann ein Problem sei, wenn für den erwarteten Nutzen der Athleten gilt:

E(N) sich dopen > E(N) sich nicht dopen.

Für eine wirksame Bekämpfung von Doping müssten also Versuche unternommen werden, die Gleichung umzukehren. Der Athlet müsste prinzipiell auch ohne Doping durch die Teilnahme an Wettkämpfen noch einen Nutzen erzielen können, selbst wenn die subjektive Einschätzung der Wahrscheinlichkeit, vorne mit dabei zu sein, eher gering ist. Der Nutzen von Doping muss allerdings aufgrund der hohen Bedeutung einer gesteigerten Gewinnwahrscheinlichkeit im Allgemeinen sehr hoch eingeschätzt werden. Insgesamt gesehen wäre bei den Dopingpräventionsprogrammen folgende Konstellation anzustreben:

E(N) Nichtdoping > E(N) Doping

Die Alternative »Ausstieg aus dem Leistungssport und Verfolgen einer Alternativkarriere« wurde in Abbildung 9 nicht dargestellt. Für die Sportorganisationen selbst ist diese Handlungsmöglichkeit nur wenig interessant, da hierdurch der Beachtung der traditionellen Werte des Sports prinzipiell mehr Gewicht beigemessen würde als der Erzielung sportlicher Erfolge. Außerdem entzöge diese Alternative dem Spitzensport wichtige Leistungsträger und machte alle vorher getätigten Investitionen und logistischen Anstrengungen mit einem Schl ag zunichte. Anzustreben wäre deshalb die folgende Konstellation: E(N) Alternativkarriere > E(N) Doping

I DOPING AUS SOZIOLOGISCHER SICHT I 59

E(N) von Doping

Erwarteter Nutzen

-

erhöhte Gewinnwahrscheinlichkeit Verkürzung von Verletzungspausen Verlängerung der Karriere nach vorne und hinten

-

Kosten bei Aufdeckung (in Abh. von Wahrscheinlichkeit) direkte Beschaffungskosten Informationskosten tatsächliche oder wahrgenommene Gesundheitsschäden Abhängigkeitsgefahr Abweichung von Werten des Sports Aufwand zur Einhaltung der Regeln des Kontrollsystems Lügen, Täuschen und Verschweigen

-

Erwartete Kosten

-

-

E(N) von Nichtdoping

Erwarteter Nutzen

-

Erwartete Kosten

-

Erhalt der Funktionstauglichkeit I Gesundheit Konformität mit Werten des Sports keine soziale Diffamierung durch Entdeckung geringere Gewinnwahrscheinlichkeit längere Verletzungs- und Regenerationsphasen Aufwand zur Einhaltung der Regeln des Kontrollsystems

Abb. 10: Erwarteter Nutzen von Doping und Nichtdoping

Realisierbar wäre eine solche Konstellation nur dann, wenn genügend Karriereanreize geboten würden, die den Athleten einen Ausstieg ermöglichten, dessen Nutzen größer wäre als sämtliche Investitionen und sämtliche Hoffnungen in eine erfolgreiche (dopingunterstützte) Leistungssportkarriere. Die Kosten-Nutzen-Analyse lässt zumindest hypothetisch die Möglichkeit offen, dass Dopingpräventionsstrategien funktionieren könnten. Vor diesem Hintergrund wollen wir im nächsten Kapitel ausgewählte Erkenntnisse der soziologischen Devianzforschung sondieren. Es könnte schließlich sein, dass sich in diesem großen Ideen- und Erkenntnisfundus bedenkenswerte und bislang übersehene Ansätze für eine zukünftige Dopingprävention finden lassen.

II

AUSGEWÄHLTE ERKENNTNISSE DER SOZIOLOGISCHEN DEVIANZFORSCHUNG16

Doping ist deviantes Verhalten, eine Abweichung von einer Norm, die sich der organisierte Sport selbst verschrieben hat. Setzt man sich mit Dopingprävention auseinander, ist deshalb zunächst nach Theorien zu fragen, die sich mit abweichendem Verhalten beschäftigen. Ein Charakteristikum derjenigen Formen abweichenden Verhaltens, die im Falle einer Aufdeckung durch vorab festgelegte Strafen sanktioniert werden, ist der Wille zur Verschleierung der Devianz, um unerkannt davonzukommen. Dies kann auch beim Tatbestand »Doping« unterstellt werden. Die Auseinandersetzung mit abweichendem Verhalten und Kriminalität ist einer der ergiebigsten Bereiche in der soziologischen Forschung. Dabei wird ein breitgefächerter Fragenkanon abgearbeitet: Warum verletzen Menschen bestehende Normen? Aus welchen Sozialmilieus stammen die Devianten? Wie ist soziale Ordnung möglich? Wie kann und sollte eine Gesellschaft auf Abweichung reagieren? Durch welche Strafen lassen sich Abschreckenswirkungen erzielen? Welche nichtintendierten Resultate werden hervorgerufen , wenn man auf exzessive Strafen verzichtet und mit Therapie und Prävention auf Devianz antwortet? Welche makro-, meso- und mikrostrukturellen Ursachen führen zu Gewalt oder anderen Formen der Normverletzung? In Beantwortung dieser und anderer Fragen sind zahlreiche Theorien entwickelt worden, um die verschiedenen Facetten abweichenden Ver-

16

An diesem Kapitel hat Felix Kroll mitgearbeitet.

62 I

DOPINGPRÄVENTION

haltens abzuklären. Mögliche Anknüpfungspunkte an den Sport gibt es nicht nur in Bezug auf die Dopingproblematik, sondern auch mit Blick auf andere Formen der Devianz wie Hooliganismus, Wettbetrug, Bestechung, Spionage, Klassifikationsbetrug, sexuelle Gewalt, Kmruption oder die diversen Formen der Abweichung, die im Wettkampf zwischen den Athleten bisweilen zu beobachten sind. Das folgende Kapitel gibt zunächst einen Überblick über traditionelle sozialwissenschaftliche Theorieansätze, die abweichendes Verhalten zu erklären versuchen. Diese Theorien bewegen sich auf einem »Kontinuum, das vom abweichenden Individuum bis hin zur problemverursachenden (Welt-)Gesellschaft reicht.«l7 Sie beobachten schwerpunktartig entweder Individuen und Interaktionssysteme auf der Mikroebene, nehmen die Gesellschaft als Ganzes auf der Makroebene ins Visier oder beobachten die mittlere Ebene (Mesoebene) von Subkulturen, Peer-Groups oder Organisationen und nehmen dadurch das soziale Umfeld potentiell, aktuell und habituell devianter Personen in den Blick. Diese systematische Dreiteilung stellt eine modelltheoretische Vereinfachung dar. Viele Theorien argumentieren nicht nur auf einer Ebene, sondern treffen gleichzeitig auch Aussagen über andere Ebenen. So berücksichtigen mikrosozial orientierte Theorien gleichzeitig auch Gruppenbeziehungen und äußern sich über gesamtgesellschaftliche Gelegenheitsstrukturen, um individuelle Devianz zu erklären, während Makrotheorien auch mikrosoziale Menschenbilder nutzen, um abweichendes Handeln zu erklären. Die bislang einzige ausgearbeitete Theorie, in der alle drei Ebenen nicht nur rhetorisch oder episodisch, sondern stringent und systematisch für eine Erklärung von Devianz aufeinander bezogen und jeweils ineinander gespiegelt wurden, lieferten Bette und Schimank (1995;1996; 2000; 2000a; 2006b: 421ff.) und Bette et al. (2002) in ihren Dopinganalysen.l8 Die Autoren profitierten hierbei von dem Umstand, dass dem Systemtypus »Organisation« im Spitzensport eine große Bedeutung als Scharniermechanismus zwischen den beiden anderen Systemebenen zukommt, was für andere Formen der Devianz in vergleichbarer Weise häufig nicht zutrifft.

17

Siehe Dollinger/Raithel (2006: 7f.) und Sampson (2000: 711 ).

18

Siehe hierzu Kapitel I in verkürzter Darstellung.

II AUSGEWÄHLTE ERKENNTNISSE DER SOZIOLOGISCHEN DEVIANZFORSCHUN G

3

I 63

THEORETISCHE ERKLÄRUNGSANSÄTZE ZUR DEVIANZ

Auf der Mikroebene stellen Theorien abweichenden Verhaltens das deviante Individuum in den Mittelpunkt. Zu den wesentlichen Theorien, die in diesem Kontext entwickelt worden sind, gehören die Theorie des differentiellen Lernens (Sutherland 1947; 1956), ausgewählte Rational Choice-Ansätze (Atkinson 1958; Ajzen 1985), die General Theory of Crime bzw. die Selbstkontrolltheorie (Gottfredson/Hirschi 1990) sowie stresstheoretische Konzepte (Lazarus 1966). Gemäß der Theorie des differentiellen Lernens wird sowohl konformes als auch abweichendes Verhalten sozial erlernt. In einer Ausprägung dieses Ansatzes (Burgess/Akers 1966) wird darauf hingewiesen, dass insbesondere die identitätsstiftende Identifikation mit Personen devianzstimulierend wirkt, die abweichendes Verhalten positiv beurteilen. Rational Choice (RC)-Ansätze betrachten abweichendes Verhalten als Wahlverhalten, das auf Kosten-Nutzen-Überlegungen (mehr oder weniger) rational kalkulierender Akteure beruht. Personen wählen nach der RCTheorie immer die Alternative, die subjektiv den höchsten Nutzen abzuwerfen verspricht. So würden beispielsweise höhere Strafen immer zu einer Nutzenminderung und potentiell zu einer Verhaltensänderung führen (Pratt 2008: 43ff.). Allerdings wird in der RC-Theorie individuellen Motivlagen, subjektiven Wahrnehmungen von Gelegenheiten und Restriktionen sowie Einstellungen und Erwmtungen ebenfalls eine große Bedeutung beigemessen. Soziale Kontexte und Sozialisationseinflüsse bleiben jedoch weitgehend unberücksichtigt (Dollinger/Raithel 2006: 53ff.). Die General Theory of Crime (GTOC) wurde von Gottfredson und Hirschi (1990) entwickelt. Im Zentrum steht das Persönlichkeitsmerkmal der Selbstkontrolle, das vom Konzept der Gelegenheit als erklärender Variable ergänzt wird. Deviantes Verhalten findet dann statt, wenn subjektiv wahrgenommene Opportunitäten vorhanden sind. Abweichendes Verhalten wird in diesem Zusammenhang ebenfalls als Wahlhandeln angesehen, das Akteure mit dem Bemühen um Nutzenmaximierung ausführen (ebd.: 85ff.). Selbstkontrolle erscheint dabei als die Fähigkeit, auf eine unmittelbare, aufwandslose Befriedigung verzichten zu können. Eine mangelnde Selbstkontrolle ist demnach von einer starken Augenblicksorientierung geprägt sowie von der Unfähigkeit, zukünftige Ereignisse ausreichend in die Nutzenkalkulation mit einzubeziehen. Für die Entwicklung der Selbstkontrolle werden sowohl angeborene Eigenschaften als auch erzieherische Einflüsse als

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bedeutsam angenommen. Ihnen wird eine kompensatorische Wirkung zugesprochen (Lamnek 1997: 85ff, 152ff.). Die GTOC ist für diese relativ einseitige Konzentration auf die Erziehung als Schlüsselinstrument der Devianzbekämpfung nicht selten kritisiert worden (Dollinger/Raithel 2006: 62). Stresstheoretische Ansätze beruhen auf der Annahme, dass abweichendes Verhalten dann entsteht, wenn den psychosozialen Belastungen unzureichende Bewältigungsmöglichkeiten und -kompetenzen gegenüberstehen. Psychosoziale Belastungen sind Stressoren, die bei Individuen zu Verunsicherung, Bedrohung und Überforderung führen können. Man kann dabei einerseits zwischen den Kategorien »kritische Lebensereignisse« (z.B. Tod eines Angehörigen), »chronische Belastungen« (z.B. Leiden in sozialer Rolle) und »schwierige Übergänge im Lebenszyklus« (z.B. Übergang Schule-Beruf.) unterscheiden. Auf der anderen Seite stehen Ressourcen zur Belastungskompensation, welche sich in personale und soziale Ressourcen unterteilen lassen. Unter personalen Ressourcen werden spezifische Copingstrategien, Selbstwert und Selbstwirksamkeit sowie externale und irrtemale Kontrollüberzeugungen verstanden. Soziale Ressourcen beschreiben dagegen den (wahrgenommenen) sozialen Rückhalt, wobei angenommen wird, dass Personen umso seltener Stressreaktionen aufweisen, je stärker sie in ein soziales Netzwerk eingebunden sind (Dollinger/Raithel 2006: 62ff.). In Bezug auf die Existenz von Stressoren wird die subjektive Bewertung einer Situation oder eines Ereignisses als zentrale Variable wahrgenommen. Individuelle Unterschiede in der Bewertung von psychosozialen Belastungen sind insofern erwartbar. Abweichendes Verhalten tritt dann auf, wenn als Stress empfundene Belastungen nicht in erforderlichem Maße kleingearbeitet werden können. Theorien abweichenden Verhaltens, die auf die Mesoebene ausgerichtet sind, stellen bestehende Kleinkollektive und Gruppenbeziehungen in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung. Korporative Akteure mit ihren System-Umwelt-Beziehungen spielen in dieser Betrachtungsweise keine Bedeutung. Einige ertragreich erscheinende Ansätze sollen an dieser Stelle kurz vorgestellt werden. Hierbei handelt es sich um subkulturelle Ansätze (Cohen 1957), Peer-Group-Theorien (Patterson/ Reid!Dishion 1992) und den sogenannten Broken-Windows-Ansatz (Wilson/Kelling 1996; 2002). Subkulturtheorien beruhen auf der Annahme, dass in komplexen Gesellschaften allgemeine Werte und Normen nicht für alle Gesellschaftsmitglieder in gleicher Weise bedeutsam sind. Soziale Aggregate können sich in Normen und Wertorientierun-

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gen unterscheiden, auch wenn eine Schnittmenge gemeinsam geteilter Werte wahrscheinlich ist. Eine Subkultur ist in diesem Sinne als eine »in sich geschlossene gesellschaftliche Teilkultur zu verstehen, die sich in ihren Werten, Normen, Bedürfnissen, Verhaltensweisen und Symbolen bzw. Stilisierungen von der gesellschaftlich dominierenden Kultur« unterscheidet (Dollinger/Raithel 2006: 85). Subkulturen sind, Downes und Rock (1998: 148ff.) zufolge, Reaktionen auf Probleme, mit denen bestimmte Gruppen konfrontiert werden, ohne dass vonseitender vorherrschenden Kultur Lösungswege angeboten werden. Für die Mitglieder dieser Subkulturen kann ein von den Normen der Gesellschaft abweichendes Verhalten somit funktional bzw. normal sein, wenn es den Normen ihrer jeweiligen Subkultur entspricht. Abweichendes Verhalten tritt folglich immer dann auf, wenn die konträr zur dominanten Hauptkultur ausgerichteten Normen und Werte einer Subkultur befolgt werden (Dollinger/Raithel 2006: 88ff.). Die Mitglieder der Subkultur stellen dabei eine Bezugsgruppe dar, die Angst- und Schuldgefühle vermeiden hilft. Warum jedoch nicht alle Mitglieder einer Subkultur deviant werden, kann diese Theorie nicht erklären. Zu den am besten untersuchten Gruppen in der Devianzforschung gehören Peer-Groups, da diese für die Herausbildung und Festigung von Normen, Einstellungen und Verhaltenstendenzen bei Heranwachsenden besonders bedeutsam sind. Die Gruppe der Gleichaltrigen spielt bei der Identitätsfixierung eine besondere Rolle, da sie ein Interaktionsfeld bietet, in dem Anerkennung und Respekt relativ unabhängig von Erwachsenen erworben werden können. Eine Peer-Group kann sich zu einem devianten Milieu entwickeln. Falls ein hochgeschätztes Gruppenmitglied beispielsweise ein abweichendes Verhalten zeigt, ist es sehr wahrscheinlich, dass andere Gruppenmitglieder ebenfalls deviant werden (Dodge!Lansford/Dishion 2006: 3ff.). Es kann jedoch berechtigterweise die Frage gestellt werden, ob Personen, die zu deviantem Verhalten neigen, sich ihre Gruppen aussuchen (Selektionshypothese) oder devianzbereite Gruppen ursächlich für abweichendes Verhalten verantwortlich sind (Gruppen-Sozialisationshypothese). Der Broken-Windows-Ansatz ist weniger eine Theorie im allgemeinen Sinne als eine lebensweltnah formulierte These über die Entstehung von Devianz bzw. Kriminalität. Die Broken-Windows-These beruht im Kern auf einer Eskalationsannahme. Am Anfang steht eine Situation, in der eine soziale Kontrolle nicht mehr existiert. Wilson und Kelling (1996: 124) zufolge führt dieses Kontrolldefizit innerhalb einer Gemeinschaft unweigerlich zu einer Pfadabhängigkeit der Krimi-

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nalität. Darauf bezieht sich auch die Metapher der zerbrochenen Fenster. Wenn in einem Gebäude ein zerbrochenes Fenster nicht zeitnah repariert wird, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass auch die anderen Fenster des Gebäudes demnächst eingeschlagen werden (dies. 2002: 55). Eine nicht unmittelbar geahndete Devianz führt gemäß dieser Theorie zu einer Folgedevianz, da sie ostentativ den Zusammenbruch gesellschaftlicher Normen demonstriert. Sie hat damit implizit einen Aufforderungscharakter. Soziale Kontrolldefizite und Kriminalität sind demzufolge eng miteinander verbunden, was wiederum auf die Annahme zurückzuführen ist, dass individuelle Akteure weniger aufgrund überdauernder Dispositionen, sondern vielmehr aufgrund situativer Möglichkeiten und Verheißungen handeln. In einer Situation, in der die Entdeckungs- und Sanktionierungswahrscheinlichkeit bei abweichendem Verhalten gering ausfällt, wird Devianz wahrscheinlich. Demzufolge ließen sich Normabweichungen durch den Einsatz strikter Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen erheblich reduzieren. Die auf die Makroebene des Geschehens abzielenden Theorien abweichenden Verhaltens nehmen die Gesellschaft in den Blick, um abweichendes Verhalten zu erklären. Nicht einzelne Individuen oder spezifische Gruppensituationen stehen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Vielmehr werden umfassende gesellschaftliche Hintergründe und Veränderungen betrachtet. Populäre Theorieansätze sind Anomietheorien (Durkheim 1893; Merton 1938; 1975), Theorien der Desintegration (Heitrneyer et al. 1995) sowie Milieu- und Lebensstilansätze. Das auf Emile Durkheim (1893) zurückgehende und von Robert K. Merton ( 1975) modifizierte und weiterentwickelte Konzept der Anomie bezieht sich auf das Fehlen oder die Unwirksamkeit von normativen Regelungen innerhalb einer Gesellschaft. Es gibt zwar Regeln und Normen; die Menschen sind jedoch nur unzureichend an sie gebunden. Die Bestrafung von Ktiminellen dient der Demonstration des gesellschaftlichen Zusammenhalts angesichts von Devianz. Sie zielt nur nachrangig auf Abschreckung oder die persönliche Bestrafung von Abweichenden ab. Ihre eigentliche Funktion besteht darin, den sozialen Zusammenhang und das Kollektivbewusstsein der Gemeinsamkeit aufrechtzuerhalten (Durkheim ebd.: 159). Mertons zentraler These zufolge ist abweichendes Verhalten soziologisch als Symptom der Unvereinbarkeit von kulturell vorgegebenen Zielen und Ansprüchen und den sozial strukturierten Möglichkeiten der Zielerreichung zu deuten. Menschen werden innerhalb dieser Argumentation allerdings nicht aufgrund rationaler Wahl deviant. Sie han-

II AUSGEWÄHLTE ERKENNTNISSE DER SOZIOLOG ISCHEN DEVIANZFORSCHUNG

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deln vielmehr aufgrund eines starken und akuten gesellschaftlichen Drucks, der durch die Diskrepanz zwischen Zielen und Mitteln entsteht. Wie subkulturelle Ansätze können Anomietheorien statistische Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichen Entwicklungen und dem Ausmaß von abweichendem Verhalten erklären; sie können jedoch nicht die Frage beantworten, warum nur bestimmte Menschen auf gesellschaftliche Probleme reagieren, und andere nicht. Gruppeneinflüsse und individuelle Interpretationen der sozialen Umwelt werden nicht ausreichend berücksichtigt (Downes/Rock 1998: 135ff.; Dollinger und Raithel 2006: lllf. , 116f.). Theorien der Desintegration versuchen in ähnlicher Weise, abweichendes Verhalten auf gesellschaftliche Missstände zurückzuführen. Desintegration erscheint dann beispielsweise als eine Reaktion auf fortschreitende Individualisierungsprozesse. Makrostrukturell bedingte Sozialisationsprobleme sollen die soziale Einbindung des Einzelnen in den vorhandenen Wertekosmos verhindern (Heitmeyer 1992). Milieu- und lebensstilorientie11e Ansätze gehen davon aus, dass die Ausdifferenzierung der Gesellschaft nicht nur nach Schichtzugehörigkeit (vertikale Richtung), sondern auch in horizontaler Richtung verläuft. Die vertikale Strukturierung anhand ökonomischer Determinanten wie Einkommen und Beruf wird zwar weiterhin als bedeutsam eingestuft. Milieu- und Lebensstilansätze versuchen jedoch darüber hinaus die soziale Ungleichheit in der Gesellschaft durch subjektive Faktoren wie Werte, Konsum- und Freizeitstile zu erklären. Im Lebensstil bestimmter Bevölkerungsschichten würden sich Entscheidungs- und Routinierungsprozesse in »eigenständigen manifest-subjektiven Verhaltensregelmäßigkeiten« (Dollinger und Raithel 2006: 119) niederschlagen. Diese Faktoren können nach Meinung der Vertreter von Milieu- und Lebensstilansätzen auch zur Erklärung von Kriminalität beitragen. So konnte in einer Studie gezeigt werden, dass Ursachen für Gewaltbefürwortung und tatsächliche Gewalttätigkeit milieutypisch ausfallen und auf der spezifischen Zusammensetzung des Milieus beruhen (Heitmeyer et al. 1995: 163ff.). Die oben beschriebenen Devianztheorien können zur Erklärung jeweils spezifischer Momente des Dopingphänomens beitragen und wurden in dieser Hinsicht auch schon in Anspruch genommen und weiterentwickelt. So finden sich die RC-Überlegungen zum Doping als ein kosten- und nutzenabwägendes Wahlhandeln im Rahmen ökonomi-

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scher Ansätzel9 wieder, auch wenn diese Annahmen meist nur verkürzt dargestellt wurden und monetäre Aspekte einseitig im Vordergrund standen. Spieltheoretische Annäherungen unterstellen in ähnlicher Weise die Existenz rationaler Akteure. In Weiterentwicklung der Anomietheorie von Merton wurde Doping außerdem als Phänomen illegitimer Innovation diskutiert und mit anderen Formen der Devianz verglichen (Bette/Schimank 1995: 166ff.; Bette 2011: 160). Versucht man, die Kernaussagen der oben dargestellten Theorien für die Dopingproblematik zu nutzen, lassen sich Erkenntnisse ableiten, die in der bisherigen sportsoziologischen Dopingdebatte bereits gut belegt worden sind: - Gemäß der Theorie differentiellen Lernens, der Subkulturtheorien sowie der Peer-Group- und auch der Lebensstil-Ansätze erscheint Doping als eine Verhaltensweise, die im Spitzensport sozial erlernt wird (ebd.: 1995: 185ff.). Eine Dopingbereitschaft ist nicht genetisch vorprogrammiert. Am Anfang einer SportlerkaiTiere steht nicht ein dopingwilliger Athlet, sondern ein Akteur, der sukzessive durch handfeste Zwänge und subtile Verheißungen allmählich in eine Dopingkarriere hineingerät und die »tricks of the trade« mit Hilfe eines ihn umgebenden Milieus langsam erlernt. In einem System, das dem Primat der Leistung und Selbstüberbietung unbarmherzig folgt, existieren diverse soziale Kontexte, die mit ihren Dopingpraktiken zur Nachahmung anstiften, fragwürdige Vorbilder liefem und Devianz als Normalität erscheinen lassen. - Vor dem Hintergrund der Broken-Windows-These lässt sich flächendeckendes Doping als ein Eskalation.~phänomen beschreiben, das sich weiter verschlimmern wird, solange die durch Doping »zerbrochenen Fenster« nicht durch ein engmaschiges Netz intelligent durchgeführter Kontroll- und Interventionsmaßnahmen auf der nationalen und internationalen Ebene schnell wieder repariert werden. Die verzögerte oder nur halbherzig durchgeführte Ahndung von Dopingvergehen gibt das Signal, dass man sich zähneknirschend durch eigene Abweichung oder durch Wegschauen und klammheimliches Tolerieren an den Reparaturverzicht der anderen anzupassen hat, wenn man mit den besten Sportlern der Welt auf Augenhöhe mitkonkurrieren möchte.

19

Vgl. Maennig (2000: 287ff.) und Daumann (2003; 2008).

II AUSGEWÄHLTE ERKENNTNISSE DER SOZIOLOGISCHEN DEVIANZFORSCHUNG

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- Im Lichte der RC-Ansätze sowie der General Theory of Crime erscheint die Entscheidung für Doping als ein rationaler Wahlakt (ebd.: 236ff.), den nicht wenige Athleten bewusst in Anspruch nehmen, um tatsächlich vorhandene oder nur vermutete Nachteile aus der Welt zu schaffen. Der Nutzen durch Dopingpraktiken und die damit verbundenen Gewinnchancen erscheint angesichts der vorhandenen Kontrolldefizite im internationalen Sport größer zu sein als die Aufdeckungswahrscheinlichkeit und die Kosten eines halbwegs schlechten Gewissens. - Stresstheoretische Ansätze, Anornietheorien und Desintegrationsmodelle lassen Doping als Reaktion auf zu hohe Anforderungen und Verheißungen erscheinen, die in nahezu inflationärem Ausmaß an die Sportler herangetragen werden (ebd.: 1995: 37ff.). Da Mittel der legitimen Leistungssteigerung knapp sind, greifen immer mehr Athleten auf verbotene Praktiken zurück, um den gestiegenen Erwartungen zu entsprechen und die über sportliche Erfolge erwerbbaren materiellen und symbolischen Gratifikationen einzustreichen. - Auf Grundlage der Annahme von einer defizitär ausgeprägten Fähigkeit zur Selbstkontrolle im Rahmen der General Theory of Crime erscheint Dopingdevianz, gemessen an den offiziellen Sauberkeitserwartungen des Sports, als Resultat einer misslungenen Sozialisation. Gemäß der fudi vidualisierungsthese und darauf aufbauender Theorien der Desintegration hätte Doping dann mit der Erosion traditioneller, kollektiv wirkender Wertemuster zu tun. Gerade im Rahmen spitzensportlicher Karrieredynamiken, die die Identität der Athleten und Athletinnen als komparativ ausgerichtete Leistungsindividualisierung (Bette et al. 2002: 312ff.) operationalisiert haben, scheinen mit der kollektiven Fairplay-Idee des traditionellen Sports wenig identitätsstiftende Potentiale mehr verbunden zu sein. - Da Doping zwar offiziell verboten ist, aber die wichtigsten Systemziele erreichen hilft, nämlich sportliche Siege und Erfolge, zeigen sich dopende Sportler zumindest bei der Erfüllung spitzensportlicher Erfolgserwartungen als konforme und wohlerzogene Akteure. Nur die Nutzung und die Entdeckung verbotener Mittel und Praktiken machen sie zu devianten Sozialfiguren. Die positive Wertbedienung im Rahmen einer brauchbaren Abweichung erklärt die weitverbreitete klammheimliche Sympathie, auf die dopende Athleten und assistierende Sozialfiguren seit Jahrzehnten im organisierten Sport und relevanten Bezugsgruppen zurückgreifen können, um ihre Devianz zu verschleiern und zu perpetuieren.

70 I DOPINGPRÄVENTION

Auf der Grundlage der allgemeinen Theorien abweichenden Verhaltens lassen sich verschiedene Interventionsmöglichkeiten zur Prävention devianten Verhaltens diskutieren. Dabei können steuerungsorientierte Eingriffe als Primärprävention entweder einem möglichen abweichenden Verhalten vorgelagert werden, um ein befürchtetes Verhalten zu unterbinden, oder sie können als Sekundärprävention auf Risikogruppen oder Ersttäter gerichtet sein, um durch Eingriffe in die Bedingungen der Devianzentstehung abweichungsmildernde oder -verhindernde Wirkungen zu erzielen. Eine tertiäre Prävention beinhaltet Maßnahmen zur Rückfallprophylaxe20 durch Wiedereingliederung und Nachsorge.2l Prävention

Ziele

Adressaten

primär

Devianzvermeidung durch Vorbeugung

Non-User

sekundär

Verhinderung der Verschlimmerung bzw. Verfestigung von Devianz durch Früherkennung und Reduktion aktueller Gefährdungsbereiche

User

tertiär

Rückfallprophylaxe und Nachsorge

User I ehemalige User

Abb. 11: Präventionstypen

Präventive Interventionen lassen sich damit sowohl als vorauseilende, prophylaktische als auch als reaktive Maßnahmen der Verhinderung, Regulierung, Abschwächung und Nachbehandlung von Devianz be20 Siehe hierzu Baum (2001: 123) und Brantingham/Brantingham (2005: 274ff.). Zur Minimierung von Folgeschäden und Rückfallrisiken vgl. Ferrer-Wreder et al. (2004: 3ff.). 21

Von der Tertiärprävention abzugrenzen ist die Rehabilitation, da es hier weniger um Vorbeugung im Sinne einer Rückfallprophylaxe, sondern vielmehr um Wiedereingliederung bzw. die Bearbeitung von Folgesfolgen geht. Besonders relevant wurde Rehabilitation beispielsweise für die Opfer des heimlichen und flächendeckenden Einsatzes sog. »unterstützender Mittel>Das Haupthindernis ist im Übrigen ein juristisches. Nicht alle Länder haben einen geeigneten Rechtsrahmen und die, die einen haben, setzen es nicht unbedingt um. Insbesondere kann deshalb die Polizei in diesem Bereich nicht unbedingt so eingreifen, wie sie es sollte. Man braucht eine internationale Zusammenarbeit der Polizei und der 1ustiz. Das ist im Moment fast unmöglich oder wird zumindest noch stark abgebremst.>Testpools>WhereaboutDoping< im engeren Sinne des NADA-Codes ausgerichtet. Die Gefahr, dass eine Entwicklung von Dopingmentalität bereits durch die Einnahme von nicht verbotenen Mitteln entwickelt werden kann, wird dabei zumeist völlig verkannt« (dsj 2: 9).

108 I DOPINGPRÄVENTION

fristig Präventionsmaßnahmen übergreifend angelegt werden und sich nicht auf jeweils kleine Teilbereiche wie Alkohol, Nikotin, Drogen, Medikamente oder Doping beschränken« (dsj 2: 18f.). fu diesem Sinne ktitisieren die Autoren ein gesamtgesellschaftliches Optimierungsstreben und die damit verbundene Tendenz des »Medikamentenmissbrauchs« im Breiten-, Fitness- und Schulsport »Da die Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte im Leistungssport Auswirkungen auf den Breiten-, Jugend- und Fitnesssport [ ... ] bis hin zum Alltagsdoping in Beruf, Schule und Hochschule [ ... ] hatte, ist eine umfassende und großflächige Problembearbeitung im Sinne des Schutzes von Volksgesundheit und Kostenvermeidung dringend nötig. Wesentlich ist dabei das Verhindern der Entwicklung von Dopingmentalität, die oft bereits in jüngsten Kinderjahren beginnt[ ... ]« (ebd.: 9f.). Im präventiven Optimalfall soll das von der dsj versandte Material nicht nur im Kontext des Sports Denkprozesse anstoßen, sondern auch das außersportliche Alltagsverhalten der Athleten positiv beeinflussen, z.B. in Bezug auf Fragen der Gerechtigkeit, des sorgsamen Umgangs mit dem eigenen Körper und mit der Begrenztheit des persönlichen Leistungsvermögens (dsj 1.6: 5). In Analogie zu den biographietheoretischen Betrachtungen von Bette und Schimank (1995: 107ff; Bette et al. 2002) bezüglich der Pfadabhängigkeit spitzensportlicher Biographien wird die Dopingkarriere von Athleten in Zusammenhang mit der Struktur des Spitzensports und der Hyperinklusion in die Athletenrolle gebracht. Es wird angenommen, dass der spitzensportliche Karriereweg eine »Treppe der Verführung« mit sich brächte. Eine Entscheidung für oder gegen Doping müsse immer wieder aufs Neue getroffen werden. Als dopingfördernde Gefahrdungssituationen nennt die Deutsche Sportjugend: gravierende Verletzungen, Vereinswechsel, Misserfolge, Wissen um das Doping der Konkurrenten, fehlende Alternativen zum Sport, die Angst vor dem »social death« oder auch Chancen zum sozialen Aufstieg (dsj 4, Folie 26). Je verführerischer die Situation sei, desto wahrscheinlicher wäre eine Dopingverwendung. Das Präventionskonzept der Deutschen Sportjugend fußt auf bestimmten Kausalannahmen bezüglich der Entstehung devianten Verhaltens. Zum einen wird darauf verwiesen, dass strukturelle Bedingungen und deviante Umwelten eine wichtige Rolle bei der Eskalation der Dopingspirale spielten. Zum anderen wird aber auch davon ausgegangen, dass es letztendlich die Athleten selbst seien, welche die Entscheidung für oder gegen Doping träfen. Oft fehlten - so die Annahme den Athleten in einem »Wettkampf der Argumente« (dsj 1.1: 24) mit

IV DIE PROJEKTLANDSCHAFT DER DOPINGPRÄVENTION

I 109

den »bösen Mächten« (Trainer, Ärzte, Unterstützungsakteure im sozialen Umfeld) eben jene guten Argumente, auf deren Grundlage sie ihre Entscheidungen gegen Doping begründen könnten. Aus diesem Grund zielt die Präventionsarbeit der Deutschen Sportjugend darauf ab, den Athleten eine Argumentations- und Rhetorikschulung zukommen zu lassen, um die hinter den folgenden Fragen steckenden Probleme bewältigen zu können: - Wie kann ein Angebot als Dopingangebot erkannt werden? - Wie denken Verführer und wie kann man ihren scheinbar rationalen Argumenten begegnen?34 - Wie vertrete ich (m)einen Standpunkt gegenüber mir selbst und meinem Umfeld? Als Bedingung der Möglichkeit einer gelungenen Prävention wird die Forderung erhoben, die Anti-Doping-Haltung den Sportlern nicht nur »argumentativ überzeugend« zu vermitteln, sondern auch vorbildhaft vorzuleben (dsj 4, Folie 29; dsj 2: 28). Prävention wird somit essentiell als Hilfe zur Selbstformung auf der Grundlage guter Argumente und einer nachahmenswerten Lebensführung gedacht. Die Vermittlung von Wissen spielt eine zentrale Rolle im Präventionskonzept »Dieses Buch dient in erster Linie dazu, jungen Sportletinnen und Sportlern Wissen über eine der schwerwiegendsten Bedrohungen des Leistungssports zu vermitteln: Doping. Nur wer hinreichende Kenntnisse über dieses Phänomen hat, kann sich ein selbständiges Urteil bilden und eine eigene, gefestigte Überzeugung gewinnen, mit der er diesem Problem begegnet« (dsj 1.1: 7). Die Hauptbroschüre (dsj 1.1) ist konzeptionell dementsprechend darauf ausgelegt, den Sportlern und Sportlerinnen »Argumente und Entscheidungshilfen« an die Hand zu geben, um sie in die Lage zu versetzen, am Ende der Lektüre reflektieren, diskutieren und argumentieren zu können. Die potentiell Gefährdeten sollen lernen, sich zu entscheiden und Zusammenhänge zu erkennen.

34 Siehe dsj (l.l: 30). Vorher heißt es: »Wir wollen dir in diesem Kapitel[ . . .] aufzeigen, wie diese Strategien aussehen, wie viel oder wie wenig Substanz dahinter steckt - und wie du darauf mit Argumenten reagieren kannst. Wir wollen auch untersuchen, wie das Denken der Dopingbefürworter funktioni ert. Wie verhalten sie sich? Wie rechtfertigen sie ihr Verhalten? Wie reden sie und wie schaffen sie es immer wieder, junge Menschen zum Doping zu verführen?DopingpräventionAbschreckungsansatz« (dsj 2: 27). 38

Siehe detailliert dsj (1.1: 5; 1.2: 11, 18; 1.1 : 33; 1.1: 36; 2: 8).

IV DIE PROJEKTLANDSCHAFT DER DOPINGPRÄVENTION

I 111

Der Deutschen Sportjugend geht es allerdings durchaus nicht nur darum, die Sportler gegen Versuchungen im Sinne einer »Verhaltensprävention« aufzurüsten; es soll auch eine Veränderung der Verhältnisse im Kontext einer »Verhältnisprävention« bewirkt werden. Idealerweise vertritt die dsj zusammen mit der Heidelberger Gruppe ein Modell der Dopingprävention, bei dem die Verhaltensebene des Athleten durch die verhältnisbezogenen Ebenen Verein/Umfeld (2. Ebene), Sportverbände (3. Ebene), Staat/Gesellschaft (4. Ebene) sowie internationale Gemeinschaft (5. Ebene) komplettiert wird. So wird in Kenntnis der sportsoziologischen Literatur die Individualisierung des Problems auch im Kontext der dsj-Prävention als Hindernis auf dem Weg zu einer wirksamen Prävention angesehen. Deshalb empfiehlt die Deutsche Sportjugend, neben der primären Zielgruppe der Sportler auch das direkte Umfeld anzusprechen und in das Kategoriensystem präventiver Interventionen aufzunehmen: »Es wird so getan, als handle es sich bei dem Dopingproblem nur um einzelne charakterschwache Athletinnen und Athleten, die der Versuchung nicht widerstehen können. Und wenn man die dann ausschaltet, sei das Problem gelöst. Das Fatale bei dieser Sichtweise ist: Verhältnisprävention wird dann nicht als notwendig angesehen« (dsj 4, Folie 20). Dabei denken die Autoren vor allem an Lehrkräfte und Trainer, die sich durch die Lektüre der »Arbeitsmedienmappe« autodidaktisch fortbilden sollen. Diesen Akteuren werden durch zur Verfügung gestellte Materialien (PowerpointPräsentationen, Arbeitsblätter usw.) außerdem Arbeitshilfen zur Gestaltung von Ausbildungs- und Schulungsmaßnahmen an die Hand gegeben, um einen Trickle-down- bzw. Top-down-Effekt anzustoßen. Neben den Lehrkräften und Trainern will die »Arbeitsmedienmappe« auch die Sportlereltern zur Lektüre motivieren; am Rande werden noch Ärzte und Apotheker als mögliche Bezugspersonen genannt, auf die man entsprechend einwirken müsse.

Inhalte: Diskursvielfalt Die Hauptbroschüre fällt durch eine inhaltliche und perspektivische Vielfalt auf. Der Leser wird über die Entstehung des Dopingproblems und die hieraus abgeleiteten Interventionsstrategien aufgeklärt; er lernt Pro- und Contra-Argumente kennen und stößt auf die Themen Fairplay, Moral und Sauberkeit. Daneben werden dopingspezifische Aspekte angesprochen, die aus Sicht der Autoren Teil des Wissensbestands der Sportler sein sollten. Hierzu gehören Exkurse zur Etymolo-

112 I

DOPINGPRÄVENTION

gie des Dopingbegriffs, zur Geschichte des Dopings, zu den Wirkungen und Nebenwirkungen erlaubter und verbotener Substanzen und Methoden sowie zur Suchtproblematik. Der Leser wird weiterhin über Nahrungsergänzungsmittel und Ausnahmegenehmigungen infmmiert und die Verfasser diskutieren die unscharfe Grenze zwischen Doping und medizinischer Behandlung. In Gegenüberstellung zu den manipulativen Möglichkeiten der Medizin spricht die dsj-Präventionsinitiative das Thema der maximalen Ausschöpfung der natürlichen, individuell gegebenen Ressourcen an. Auch die Organisation des Anti-Doping-Kampfes, das Dopingkontrollsystem der WADA und NADA sowie der Ablauf von Dopingkontrollen und das Meldesystem werden beschrieben. In diesem Zusammenhang beklagen die Verfasser der Broschüre die Unterfinanzierung des Anti-Doping-Kampfes und die prekäre Rolle des IOC bei der Dopingbekämpfung. Außerdem thematisieren sie die rechtlichen Probleme der Dopingbekämpfung. Darüber hinaus werden Themen wie »Leistungsgesellschaft«, entfesselter Spitzensport, Ignoranz und Rekordgier der Zuschauer, die »Medikamentengesellschaft«, Vermutungen und empirische Befunde zur Verbreitung von Doping im Breiten- und Spitzensport, zu »mafiösen« Strukturen des internationalen Dopingschwarzmarktes, zu geschlechtsspezifischen Differenzen beim Dopingkonsum sowie zum sog. Alltagsdoping angesprochen.

Methoden und Medien: Didaktik der Diskussion Neben dem informationsorientierten und ethisch-moralischen Zugang zur Dopingprävention ist im Ansatz der Deutschen Sportjugend eine Diskursdidaktik erkennbar. Dem einzelnen Subjekt sollen durch die Lektüre der Broschüren und Flyer Reflexionsanstöße zur themenbezogenen Auseinandersetzung mit sich selbst und anderen gegeben werden. So werden die jungen Sportler unter anderem dazu aufgefordert, eine eigene Dopingdefinition zu entwickeln.39 In speziellen Kästen

39

>>Du kannst hier für dich durchaus selbst eine eigene Dopingdefinition entwickeln. Musst du Kreatin oder einen anderen Stoff in Überdosierung einnehmen, nur weil er nicht verboten ist. [ .. .] Die Frage nach der Definition von Doping wird für dich kl arer, wenn du für dich eine Grenze ziehst, die am Geist der Regeln ausgelegt ist?Auf einen Blick« liefern.

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Die Vorwegnahme von potentiell auftretenden Emotionen soll den Jugendlichen mittels eines Handlungsmöglichkeiten-KonsequenzenSchemas erleichtert werden. Eine solche Anleitung zum Üben wird damit begründet, dass »je unvorbereiteter dich die Situationen treffen werden, desto größer ist die Gefahr, dass du eine Entscheidung treffen wirst, die du später bereuen könntest« (dsj 1.1: 33ff.). Auf der Arbeitsmaterialien-CD finden sich zudem einige Features, die die Abklärung der eigenen Position erleichtern sollen. Dabei können die eigenen Werte in einem Kartenlege-Spiel dargestellt und in eine hierarchische Reihenfolge gebracht und mit anderen Kursteilnehmern diskutiert werden. Ein szenisch aufbereitetes Spiel zielt zudem darauf ab, die Teilnehmer mit eigenen und fremden Rollen (Eltern, Trainer und Ärzte) bekanntzumachen und Rollendistanz und Empathie zu entwickeln. Nicht zuletzt gibt es im neuesten Exemplar der »Arbeitsmedienmappe« drei »audiovisuelle Arbeitshilfen« in Form von DVDKurzfilmen, die im Rahmen von Unterrichts- oder Fortbildungssituationen verwendet werden sollen. Auch hier zielt die Initiative darauf ab, RoHenspiele in verschiedenen Settings und Sportarten anzuregen. Die Filme tragen die Titel »Entscheide selbst!«, »Der gute Trainer« und »Windschatten« und sind allesamt auf der oben angeführten DVD der neuesten Ausgabe der »Arbeitsmedienmappe« abgespeichert. Ein eigenes Kapitel stellen die Überlegungen zum Thema der legalen Leistungssteigerung dar. Unter der Überschrift »Nutzt du deine natürlichen Möglichkeiten?« werden Impulse gegeben, die verhindern sollen, dass beim Versuch der Leistungssteigerung sofort an Doping gedacht wird (dsj (1.1: 92). Dabei werden die Themen Ernährung, Trainingsrhythmus, gegenseitiges Massieren, ausführliche Dehnübungen, die Möglichkeit des Ausbaus mentaler Stärke und die Maxime »Spaß am Sport« angesprochen. Eine wichtige Komponente der didaktisch-methodischen Überlegungen ste11t die Idee einer »Prävention zum Mitnehmen« dar. Die »Arbeitsmedienmappe« (Fassung 2006) ist nicht nur als ein einfaches Lese-Dokument konzipiert worden, in dem Inhalte präsentiert und Aufgaben gestellt werden. Vielmehr ist sie als ständiger Begleiter gedacht, als ein praktisches Album zum Sammeln von Erfahrungen und zur sukzessiven Anreicherung mit Anti-Doping-Dokumenten. »In dieser Mappe solltet Ihr wichtige Dokumente wie Atteste, Rezepte, Ausnahmegenehmigungen oder Informationen zu Medikamenten und Nahrungsergänzungsmitteln sammeln und immer bei Euch tragen. Ihr habt so alles zur Hand und könnt es den Kontrolleuren auf Anfrage vorzei-

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gen. Die Broschüre/Mappe hält alles zusammen und ist leicht zu transportieren« (dsj 1.2: 7). Auch die nach französischem Vorbild entworfene Flyerform der Informationsbroschüre ist auf praktische Verwendbarkeit ausgerichtet. »Sie hilft Euch beim Arzt/der Ärztin sowie in der Apotheke und enthält wichtige Informationen, die bei der Behandlung sowie beim Verschreiben von Medikamenten zu berücksichtigen sind. [... ] Sie hilft Euch bei einer Dopingkontrolle: Als Leistungssportler/ innen unterliegt Ihr Dopingkontrollen. Bei Dopingkontrollen werden Euch Fragen gestellt, die Ihr leichter beantworten könnt, wenn Ihr diese Informationsbroschüre [ ... ] mit Euch führt« (ebd.: 7). Die Verfasser kommunizieren bei der Darstellung ihrer Anti-Doping-Materialien den Anspruch, die Materialien im Sinne einer »Aktionsforschung« einsetzen zu wollen, um auf einer mittleren Ebene zwischen Theorie und Praxis sowie zwischen Wissen und Moral Lerneffekte zu erzielen. Ihr Selbstverständnis lautet dementsprechend: »Wir sind weder wild drauf los handelnde Praktiker noch über den Dingen stehende Wissenschaftler« (dsj 4, Folie 4). Evaluationen sollen dabei helfen, das Material weiterzuentwickeln. Ein einsetzbarer Evaluationsbogen wurde der Broschüre angehängt und in Dateiform auf der Arbeitsmaterialien-CD druckreif abgespeichert, um in Seminaren und Fortbildungen eingesetzt zu werden. Im Allgemeinen sollen spezifische Fortbildungsmaßnahmen dazu beitragen, die Ideenverbreitung zu verbessern und Sicker-Effekte zu erzielen. In Bezug auf »realisierte Top-Down-Veranstaltungen«, die den Diffusionsprozess von oben nach unten realisieren sollen, wird folgender Katalog angeführt: Entwicklung und Erprobung von vier Modulen für die Übungsleiter-Ausbildung: Grundstufe, Modellprojekt GATE sowie 13 (ein- bis zweitägige) Multiplikatorenschulungen für Repräsentanten der Landessportbünde. Dabei wurden mehrere Veranstaltungen für potentielle Multiplikatoren und für A-Trainer konzipiert. Als Elemente der »Basisarbeit« (Bottom-up-Strategie) verweisen die Verfasser auf Vorträge, Workshops, Tagungen, Ausbildung von Wortführern in Peer-groups, Maßnahmen an einzelnen Schulen, Lehrerfortbildungen, Vorträge im Ausland und ein Kompaktseminar an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. Darüber hinaus wurden einige Modellprojekte und Modellversuche in Zusammenarbeit mit der Metropolregion Rhein-Neckar konzipiett, die jedoch bereits in ihren Anfängen scheiterten. Die Präventionsprinzipien der Deutschen Sportjugend lassen sich schematisch wie folgt darstellen:

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DOPINGPRÄVENTION

»Sport ohne DopingViel hilft viel!« Aus Quantität leitet die Deutsche Sportjugend aber nicht nur Qualität, sondern auch eine treffsichere Zielerreichung ab. Beim Leser wird so der Eindruck erweckt, dass sich das Dopingproblem quasi von alleine lösen würde, wenn man die zahlreichen Sportverbände und Kadermitglieder nur ausreichend mit InfoMaterial »eindeckte« (dsj 5). Im Abschlussbericht, der die Tätigkeiten zwischen 2007 und 2010 resümiert, wird entsprechend dieser Denkweise besonderer Wert auf die Teilnehmerzahlen gelegt, die im Zuge von Basisveranstaltungen erreicht wurden. Insgesamt addieren die Heidelberger Forscher >>mehr als 4000 Personen« (dsj 2: 17). Eine Präventionsarbeit sollte aber nicht mit dem Versand von Broschüren und Flyern und der Durchführung von Seminaren enden.42 Broschüren kann man in den Papierkorb werfen und ein Zuhören lässt sich simulieren, wie Lehrer in schulischen Kontexten immer wieder feststellen können. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Teilnahme an den Anti-Doping-Schulungen nicht freiwillig geschieht, sondern, wie in einigen Verbänden inzwischen der Fall, verpflichtend als Voraussetzung für die Teilnahme an Meisterschaften oder überregionalen

41

>>Die Materialien, die wir für die dsj erarbeitet haben, haben sich bewährt und werden an Interessenten in großem Umfang im wesentlichen kostenlos zur Verfügung gestelltDopingprävention im SportHigh Five>High.five«: Prinzipien der NA DA-Prävention

8.2

KRITISCHE ANMERKUNGEN

Im Gegensatz zur Anti-Doping-Initiative der dsj findet sich bei der NADA kaum eine habitualisierte Negativrhetorik. Stattdessen setzt diese Einrichtung auf vertrauensbildende Maßnahmen. Den jugendlichen Leistungssportlern soll der Glaube an die eigene Leistungs- und Konkurrenzfähigkeit nicht genommen werden. So heißt es: >>Internationale Spitzenleistungen sind auch ohne Doping möglich. Das zeigen viele Athletinnen und Athleten auf nationalen und internationalen Meisterschaften« (nada 2: 17). Weiterhin bietet auch das Konzept der NADA eine sehr breite Palette an Ansätzen und innovativen Methoden zur Dopingprävention, verzichtet aber auf eine Überfraehrung des Inhalts. Trotz der durchdachten und in sich stimmigen Komposition des Ansatzes lassen sich aus soziologischer Sicht diverse Lücken bzw. Unklarheiten identifizieren, die z.T. bereits bei der Präventionsinitiative der dsj beobachtet werden konnten. Im Folgenden soll geklärt werden, ob und wie das vorliegende Wissen zur Entstehung der Dopingdevianz Eingang in die Präventionsbemühungen der Nationalen Anti-Doping Agentur fand, welche Problemdiagnose diese Einrichtung ihrer Arbeit zugrunde legte und wie der Aspekt der legalen Leistungsoptimierung in ihrer Programmatik berücksichtigt wurde. Ferner soll die Frage beantwortet werden, wie die NADA die im Präventionsdiskurs vielerorts zu hörende Forderung nach einer Verhältnisprävention bislang wahrgenommen und umgesetzt hat. Am Ende stehen Überlegungen zu der von der NADA gepflegten Gleichzeitigkeit von Kontrolle und Prävention.

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Selektive Wahrnehmung vorliegender Wissensbestände Das seit Anfang der 1990er Jahre in der Sportsoziologie gesammelte Wissen zur strukturellen Bedingtheit des Dopings hat sich im NADAMaterial praktisch nicht niedergeschlagen. Die Ausführungen zur Entstehung des Dopings und zu möglichen Lösungsansätzen fallen bei der NADA sehr reduziert aus und zeigen eine Distanz zur vorliegenden Literatur. Auf das soziologische Wissen sowohl zur Dopingentstehung als auch zu den Bedingungen devianten Verhaltens wird nicht eingegangen. Die inhaltliche Ausrichtung der Materialien zur Dopingprävention ähnelt eher den seit Jahrzehnten eingesetzten Anti-Raucher-, Anti-Drogen- und Anti-Sucht-Programmen. Mit dem Lesen von Broschüren mit mehr oder weniger informativen Inhalten oder der Durchführung von Wochenendseminaren und dem Halten von Vorträgen kann man sicherlich wichtiges Wissen vermitteln. Das Problem besteht aber darin, dass - wie bereits mehrfach angesprochen - die Vermittlung von Wissen weder gleichermaßen noch notwendigerweise eine Verhaltensänderung bedingt, ebenso wenig wie eine Abschreckung durch Kontrolle und Strafe eine Garantie dafür ist, dass unerwünschte Verhaltensweisen im Leistungssport eliminiert werden und künftig ausbleiben. Eine Berücksichtigung des Umstandes, dass Doping ein mehrfaktorielles, überindividuell angesiedeltes Problem darstellt, dass durch Akteurverstrickungen immer wieder neu katalysiert wird, hätte möglicherweise dazu geführt, dass die NADA der personen- und wissensorientierten Prävention weniger Bedeutung beigemessen hätte.

»Dopingmentalität« als unterstellter Ausgangspunkt Interventionsempfehlungen können nur dann greifen, wenn eine komplexitätsangemessene Problemdiagnose den eigenen Ratschlägen vorgeschaltet wird. Lässt man das Dopingproblem, wie bei der NADA und bei der Deutschen Sportjugend zu beobachten, mit einer unterstellten »Dopingmentalität« beginnen und reduziert deviantes Verhalten somit auf eine psychische, dem einzelnen Subjekt potentiell anzulastende Pathologie oder Fehlsozialisation, die durch Aufklärung und Ich-Stärkung am Ausbruch gehindert werden müsse, schiebt man den »schwarzen Peter« den Athleten zu. Die Auslösebedingungen für die weltweiten Dopingpraktiken werden dagegen systematisch und geflissentlich übergangen.

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DOPINGPRÄVENTION

Die Personalisierung und die Singularisierung des Dopingproblems zu Lasten der Athleten bringen personenorientierte Berufsgruppen wie die Pädagogen als Helfer und »moral entrepreneurs« (Becker 1963: 147ff.) ins Spiel und verschaffen ihnen eine Bedeutsamkeil im Spitzensport, die ihnen aufgrund ihres nicht-technologisierbaren Wissens lange Zeit abgesprochen wurde.44 Die Sportler selbst werden im Grunde als die einzigen Akteure angesehen , bei denen eine präventiv ausgerichtete Intervention chancenreich erscheint, nämlich sie ethisch und moralisch aufzurüsten und ihre Diskurs- und Charakterfestigkeit zu erhöhen, um gegen die »bösen Mächte« gefeit zu sein. Die Verhältnisse, die die »Dopingmentalität« geschaffen haben, nimmt man zähneknirschend hin; sie werden letztlich als unveränderbar akzeptiert und dürfen weiter eskalieren. Diese Fokussierung birgt in sich das Risiko, dass die korporativen Sportakteure, die Vereine und Verbände, ebenso wie die Sponsoren, Massenmedien und das Publikum, die alle eine Rolle im Dopinggeschehen spielen, aus dem Blickwinkel geraten. Hinzu kommt, dass eine personenfokussierte Intervention keinesfalls eine Garantie dafür ist, dass die in den Blick genommenen Subjekte sich anschließend auch wunschgemäß verhalten.

Überforderung der Subjektkomponente Der Ansatz der NADA ist stark geprägt durch das Anliegen, die Sportler, die häufig noch Kinder und Jugendliche sind, durch Aufklärung und Wissensvermittlung in die Lage zu versetzen, einen eigenen Standpunkt in der Dopingdebatte einzunehmen und zu vertreten. Dabei wird angenommen, dass die angestrebte Befähigung zum »mündigen« Denken notwendigerweise zu einer Dopingabwehr führen müsse. Die Möglichkeit, dass Menschen nach einem Lern- und Reflexionsprozess auch gegensätzliche Entscheidungen treffen können, sich also selbstbewusst für Dopingpraktiken entschließen, um ihre eigenen Möglichkeiten auszuschöpfen und Chancengleichheit im globalen Wettbewerb herzustel44 Andererseits gibt es bis heute auch ein ausgeprägtes Desinteresse der Sportpädagogik gegenüber Ieistungssportlichen Belangen. Der Grund: Die Theorie der Leibeserziehung als Vorläuferio der modernen Sportpädagogik war darauf fixiert, Leibeserziehung und Körperbildung didaktisch, methodisch und auch anthropologisch zu begründen, um als Schulfach anerkannt zu werden. Eine analytische Thematisierung des Hochleistungssports kam unter diesen Bedingungen nicht in Betracht.

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len, wird in diesem Denkansatz ausgeschlossen. Damit wird gleichzeitig ignoriert, dass der Spitzensport durch seine Ausrichtung auf sportliche Erfolge die Heranwachsenden extremen Selektionsprozessen unterwirft, denen sich auch diejenigen zu fügen haben, die über die besseren Argumente gegen Doping verfügen. Man könnte sogar behaupten, dass diese Selektion implizit vor allem diejenigen Athleten fördert, die bereit sind, ihre Leistungen um jeden Preis zu steigern, um erfolgreich zu sein und den Sportverbänden Medaillen zu bescheren. Dass eine Intervention in das Denken der Athleten einfacher wäre als eine Intervention in die Strukturen des Spitzensports, ist daher ein Trugschluss. Selbst wenn sie funktionierte, folgte diese Intervention letztendlich einer »Logik des Misslingens« (Dörner 1989). Denn in dem Maße, in dem die begabten Nachwuchsathletinnen und -athleten der Meinung wären, dass man ohne Doping in der eigenen Karrieresportart nichts erreichen könne, würde die Entscheidung, sogenannten »Dopingverführem« zu widerstehen, gleichsam als Anlass für den Ausstieg aus der Spottkarriere wahrgenommen. Dass dies der optimale Outcome einer Dopingpräventionsstrategie ist, darf bezweifelt werden. Man sollte deshalb nicht vergessen: Die Herstellung von Mündigkeit und Diskursfestigkeit ist nicht das oberste Ziel im Spitzensport! Ob Athleten mündig sind oder nicht, ist für die Sportverbändetrotz aller vollmundigen Bekenntnisse allenfalls von nachgeordneter Relevanz. Mündigkeit kann praktisch nur denen zugestanden werden, bei denen gleichzeitig die Leistungen stimmen und denen damit Zukunftsfähigkeit attestiert wird. Denn im Spitzensport geht es bekanntlich nicht darum, wer der mündigste Athlet ist, sondern wer mit seinen sportlichen Leistungen hilft, die Sportverbandsziele zu erreichen. Die Rede von der Mündigkeit der Athleten ist aus systemtheoretischer Perspektive vor allem als eine Legitimationsfloskel zu werten, die im Arsenal der symbolischen Politik des organisierten Sports ihren festen Platz hat. Nimmt man die im Spitzensport vorherrschenden strukturellen Zwänge ernst (Endkampfchance als Bewertungskriterium; Knappheit der Kaderplätze; Konkurrenz der Akteure und Disziplinen untereinander; Abhängigkeit vom Publikumsinteresse und von der medialen Aufmerksamkeit und Sendebereitschaft; Abhängigkeit von Wirtschaft und Politik), fällt es schwer, sich ernsthaft vorzustellen, dass die Mündigkeit der Athleten, die zudem häufig noch Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene sind, eine zentrale Leitlinie in einem Anti-Doping-Kampf sein kann, der gleichzeitig das globale Wetteifern um sportliche Spitzenleistungen und Rangplätze akzeptie1t und honoriert.

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Prävention als mögliche Anleitung zur Devianz Für den inhaltlich auf Wissen über Dopingsubstanzen, -methoden und Medikamente fokussierten Ansatz, wie ihn die NADA aufgrund ihrer Nähe zum Kontrollsystem verfolgt, besteht in besonderem Maße die Gefahr einer unabsichtlichen Anleitung zur Devianz durch Aufklärung und Informationsübermittlung. Die »Präventivwirkung des Nichtwissens« (Popitz 1968) lässt sich auch durch ein Zuviel an Wissensvermittlung nichtintentional aushebeln. Diejenigen Sportler, die vorher wenig über verbotene Wirkstoffgruppen und Praktiken wussten, verfügen nach Absolvierung präventionsorientierter Seminare über das nötige Know-how, um eigene Suchprozesse zu starten oder entsprechende Milieus aufzusuchen. Mit Hilfe engagierter Dopinggegner kann man lernen, dass Doping im internationalen Sport weitverbreitet ist und Waffengleichheit unter den Konkurrenten nicht existiert. So lernten nicht wenige Bodybuilder aus den Analysen von Brigitte Berendonk (1991) zum DDR-Doping und den dort abgedruckten und abgebildeten Dokumenten, wie man Anabolikakuren durchführt, Absetztermine einhält und flankierende Verschleierungstechniken nutzt. Der »heimliche Lehrplan« einer Dopingprävention kann so hinter dem Rücken der Akteure auch den perversen Nebeneffekt erzeugen, dass Sportler nicht vom Doping abgehalten, sondern über Dopingpraktiken instruiert werden. Für die 1960er Jahre und die Hochphase des Anabolikadopings im Westen und die ersten Aufklärungsschriften über Doping wies kürzlich ein ehemaliger Verbandstrainer in bemerkenswerter Offenheit im Rahmen eines Interviews (FAZ vom 1.10.2011: 30) darauf hin, dass in diesen Schriften nicht nur aufgeklärt, sondern wohl auch gezielt über Dopingpraktiken informiert wurde: »Ich kann mich noch an die ersten Broschüren erinnern, die vorgeblich gegen Doping waren. Darin wurde genau beschrieben, wie es wirkt. Die Nebenwirkungen wurden nicht erwähnt.45 Das waren Gebrauchsanweisungen. Ich habe sie noch in meiner Bibliothek. Damals habe ich mir gesagt, den Scheiß verwahrst du, damit du sagen kannst: Leute, ihr wart Heuchler! « Überlegungen zur Diabolik von Kontrolle und Aufklärung finden sich weder in den Materialien der Deutschen Sportjugend noch in dem Präventionsansatz

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Anmerkung der Autoren: Dies trifft für die neueren Materialen nicht mehr zu. Mit Hilfe teilweise drastischer Bilder werden beispielsweise die Folgen eines Anabolikadopings bei Männern und Frauen gezeigt.

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der NADA oder im Nationalen Dopingpräventionsplan. Selbst bei zeitgenössischen Aufklärungs- und Informationsschriften, die explizit gegen Doping gerichtet sind und keine erkennbaren Nebenabsichten verfolgen, darf an eine Einsicht aus der soziologischen Kommunikationstheorie erinnert werden: Entscheidend für das Verstehen einer Mitteilung ist nicht der Informationssender, sondern der Rezipient mit seinen Vorerfahrungen, Interessen und Handlungszielen. Er entscheidet, wie eine Mitteilung verarbeitet und »gelesen« wird, und welche Folgerungen abgeleitet werden. Lernen ist keine passive Fremdbestäubung von außen, die gegen den Willen eines Subjekts vollzogen werden kann, sondern beschreibt einen aktiven Prozess des Selbstlernens im Sinne einer Selbstaneignung von Wissen und Fertigkeiten unter dem Einfluss externer Anregungen.

Vernachlässigung legaler Leistungsoptimierungsmaßnahmen

Das Thema der legalen Optimierung sportlicher Leistungen wird in den Materialien zwar aufgegriffen und verarbeitet (nada 2: 35).46 Der Diskurs beschränkt sich aber lediglich auf ein paar Tipps zum Schlaf, zur Regeneration, zur Ernährung und zum mentalen Training. Damit bleibt ein Themenbereich unterbelichtet, der eigentlich- wie im dsj-Konzept bereits angemerkt - von den einzelnen Fachverbänden ausgeleuchtet und mit verständlichen und umsetzbaren Inhalten gefüllt werden müsste. Einen Suchprozess zur verstärkten Einbeziehung legaler Innovationen zur Optimierung sportlicher Leistungen zu starten, könnte angesichts der überragenden Bedeutung, welche der NADA zukommt, eine ihrer wichtigsten zukünftigen Herausforderungen sein. Dabei ginge es nicht um das Suchen von Medikamenten oder Verfahren, die bislang noch nicht auf der Dopingliste der WADA oder NADA stehen, um sozusagen die Schlupflöcher des Systems fü r »kreative« Machenschaften zu nutzen. Gerrau dies müsste durch entsprechende Forschungen und Forschungsförderungen unterbunden werden. Vielmehr müssten die aufgrund von Fehlkoordination, Fehlplanung sowie von Über- und auch Untersteuerung brachliegenden Ressourcen in den einzelnen Verbänden identifiziert und für legale Leistungssteigerungen genutzt werden.

46 Vgl. auch online unter http://www.highfive.de/ 185l.O.html.

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Folgende Bereiche könnten beispielsweise optimiert werden: Professionalisierung der Trainerrolle; Abstimmung zwischen Bundestrainern und Heimtrainern; Wissensmanagement in und zwischen den Fachverbänden; Förderlogistik und Jahresplanung; Eliminierung von Defiziten bei der An- und Abreise sowie bei der Unterbringung der Athleten/innen bei bedeutsamen Wettkämpfen; duale Karriereplanung; Ernährungsberatung; informationeHe Vernetzung der Leistungsträger und -ermöglicher; Gesundheitsmanagement.47 Für die Sportler wäre es sehr hilfreich, wenn die Sportverbände diese Suche nach einer legalen Leistungssteigerung nicht den einzelnen Sportlern oder Trainern überantworteten, sondern selbst verstärkt nach legalen Verbesserungen Ausschau hielten und diese Suche strukturell in das bestehende Trainings- und Wettkampfsystem einbauten. Bevor man teure Präventionsbroschüren erstellt und Gelder in Anti-DopingSeminare investiert, an denen oft nur diejenigen teilnehmen, die später aufgrundminderer Leistung ohnehin nicht in Versuchung geraten werden, sich zu dopen, sollte man die Weiterentwicklung legaler Möglichkeiten der Leistungsoptimierung ernsthaft betreiben, um Ve1trauen bei den Sportlern, Trainern, Sportlereltern, Sponsoren und Medienakteuren zurückzugewinnen.

Verkürztes Verständnis von Verhältnisprävention Insbesondere im Hinblick auf den verhältnispräventiven Anspruch der NADA lässt sich gegenüber der Initiative der Deutschen Sportjugend keine entscheidende Weiterentwicklung feststellen. Wenn in den Materialien über eine Verhältnisprävention nachgedacht wird, werden Personen im näheren oder weiteren Umfeld der Spo1tler und Sportlerinnen, insbesondere Eltern und Trainer, angesprochen. Im Zusammenhang mit einer Veränderung von Strukturen des Systems geht es allenfalls um Netzwerkbildung und die Verzahnung von Beratungsstellen. Dies entspricht immer noch weitgehend einer pädagogischen Sichtweise und einer hiermit korrespondierenden Personalisierung des Problems. Das implizite Motto der NADA-Vorgehensweise lautet: Personenorientierte Symptombehandlung statt struktureller Ursachendiagnose und Problemminimierung! Die Wirkungsgrenzen der gesamten

47 Vgl. Thiel/Mayer/Digel (2010); Digelffhiel/Schreiner/Waigel (2010).

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Präventionsinitiative werden hierdurch bereits in der eigenen Programmatik vorab festgelegt. Daran ändert auch die verlockende Idee nichts, Sportlereltern ins Präventionsboot zu holen und zur Mitreflexion zu veranlassen. Eine derartige Inanspruchnahme der familialen Komponente funktioniert zum einen nur dann, wenn Eltern überhaupt in der Lage sind, einen entsprechenden Einfluss auf ihre Kinder auszuüben, was angesichts der Hyperinklusion der jungen Athletinnen und Athleten in die Sportlerrolle keinesfalls garantiert ist. Zum anderen setzt es voraus, dass Eltern nicht als unmittelbar Beteiligte und emotional Engagierte, sondern als neutrale Instanzen gedacht werden, die in das Leistungsstreben ihrer Kinder nicht einzugreifen beabsichtigen und auf der Grundlage einer affektiven Neutralität auch bereit wären, den eigenen Kindern Ieistungs- und erfolgsrelativierende Empfehlungen zu geben. Dies mag in dem einen oder anderen Fall sicherlich zutreffen. Die Regel wird es jedoch nicht sein. Insofern ist die Externalisierung der Problembearbeitung zugunsten der Herkunftsfamilie der Sportler nicht unproblematisch: Was ist mit Eltern, die mit der psychischen und physischen Ausbeutung ihrer Kinder überhaupt keine Probleme haben? Die Boulevardpresse hat in den letzten Jahren in nicht wenigen Sportarten (Beispiel: Tennis, Eiskunstlauf, Turnen) zahlreiche Beispiele zusammengetragen, in denen Eltern weit über das Ziel einer angemessenen Leistungsförderung ihrer Kinder hinausgeschossen sind? Was ist mit jenen Eltern, die ihre eigenen unerfüllten Erfolgsphantasien auf dem Rücken ihrer Kinder ausleben wollen, auch wenn diese krank und verletzt sind? Man sollte demnach nicht zu viel an Rücksichtnahme und Empathie von leistungsorientierten und -interessierten Eltern erwarten. Als eine sichere und generalisierbare Bank für die Durchsetzung pädagogischer Ideale zwecks Herstellung einer balancierten Kinderidentität sind die Sportlereltern sicherlich generell nicht anzusehen, insbesondere dann, wenn die sportliche Ausbildung der eigenen Kinder einen beträchtlichen Aufwand an Zeit, Geld und Engagement gekostet hat und ein »return on investment« durch den Sporterfolg der eigenen Kinder erwartet wird und eventuell sogar schon fest im eigenen Budget eingeplant worden ist. Auch die Aufmerksamkeit, die erfolgreiche Kinder- und J ugendathleten und spätere Erwachsenensportler mit Hilfe der Massenmedien erzielen können, ist für manche Sportlereltern eher ein Grund, über problematische Entwicklungsverläufe in den Biographien der eigenen Kinder geflissentlich hinwegzusehen.

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Ganz abgesehen von den Inhalten der Präventionsinitiative müsste grundsätzlich ein Fachdiskurs darüber geführt werden, ob der personalisierte Präventionsansatz der NADA nicht in Gefahr steht, durch die gleichzeitig ausgeübte Kontroll- und Repressionsfunktion dieser Einrichtung konterkariert zu werden. Die Ausweitung des Domänenmonopols von der Kontrolle hin zu einer zusätzlichen Präventionsarbeit ist zwar verständlich, weil es der Organisation ein weiteres Standbein garantiert, welches zudem positiv besetzt ist und die NADA vom Ruch der reinen Kontrollinstanz befreit. Die Ausweitung ist dennoch zumindest in dem Maße zu hinterfragen, in dem knappe Ressourcen aus der Kontrolle abgezogen und in die Vorbeugung abgeleitet werden. Man sollte deshalb darüber nachdenken, ob es nicht Sinn machte, den Repressions- und Kontrollansatz vom Präventionsansatz inhaltlich und institutionell stärker zu trennen.48 Auch die Gewichtungen zwischen der Präventions- und der Kontrollarbeit könnten, fall s man an dieser Aufgabenteilung festhält, neu sortiert werden. Ebenso ließen sich Erfahrungen aus dem Bereich der polizeilichen Aufklärungs- und Repressionsarbeit in zukünftige NADA-Strategien einarbeiten.

9 »RUNDER TISCH« UND »NATIONALER DOPINGPRÄ VENTIONSPLAN«

Angesichts der hohen Skandalfrequenz im nationalen und internationalen Spitzensport und der Dauerthematisierung durch die Massenmedien wurde im Jahre 2007 im Kontext von Sport und Politik der Beschluss gefasst, die Effektivität der Dopingprävention in Deutschland im Rahmen eines »Nationalen Dopingpräventionsplans« zu steigern. Im Rückgriff auf einen Vorschlag aus der Sportsoziologie wurde ein sogenannter »Runder Tisch