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German Pages 304 [306] Year 2014
Joachim Renn Performative Kultur und multiple Differenzierung
Sozialtheorie
2014-07-24 10-24-17 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03cc372606739030|(S.
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4) TIT2469.p 372606739038
Joachim Renn (Prof. Dr. phil.) lehrt Soziologie an der Universität Münster. Er arbeitet im Feld pragmatistischer Gesellschaftstheorie und ist Mitherausgeber der Zeitschrift für Theoretische Soziologie (ZTS).
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Joachim Renn
Performative Kultur und multiple Differenzierung Soziologische Übersetzungen I
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Inhalt Performative Kultur & multiple Differenzierung. Ein Vorwort | 9 1. Performative Kultur und sprachpragmatische Soziologie | 13 I. Kultur als Praxis? | 13 II. Sprachpragmatische Kultursoziologie | 16 III. Varianten der Sprachpragmatik | 19 IV. Kontextualität und Universalität | 25 V. Kulturelle Pluralität und implizites Hintergrundwissen | 30 VI. Inkommensurabilitätsverdacht | 34 VII. Methodische und normative Konsequenzen für die Kultursoziologie | 39 Literatur | 45
2. Die gemeinsame menschliche Handlungsweise. Das doppelte Übersetzungsproblem des sozialwissenschaftlichen Kulturvergleichs | 51 I. Zugang: Identität und Differenz | 51 II. Praktischer Zugang und begriffliche Repräsentation | 55 III. Vertiefte Differenz und die Erfahrung der Unübersetzbarkeit | 60 IV. Die gemeinsame menschliche Handlungsweise und performative Kultur | 63 V. Übersetzung zwischen Diskurs und Praxis statt Pathos des Dialoges | 71 IV. Pragmatische Unschärferelation | 77 Literatur | 79
3. Der Tod des Kapitän Cook. Formen des Verstehens und die Dynamik interkultureller Kollisionen | 87 I. Missverstehen | 87 II. Heterogene Geschichten und Horizontdifferenzen | 90 III. Unbemerkte Gleichzeitigkeit und Anverwandlung | 96 IV. Performative Grundlagen des »Verstehens« | 104 Literatur | 110
4. Differenz der Religion. Implizite religiöse Gewissheit zwischen Milieu und Organisation | 113 I. Zur Eigenart von religiöser Gewissheit als Teil einer »performativen Kultur« | 117 II. Die Unwahrscheinlichkeit des interreligiösen Dialoges | 123 III. Arbeitsteilung: Differenzierung zwischen Milieu und Organisation (Mitgliedschaft und Zugehörigkeit) | 127 IV. Schluss: Lob der Bürokratie | 134 Literatur | 136
5. Traditionelle Rationalität und rationale Tradition. Max Weber, Preußen und der Mythos der Bürokratie | 139 I. Vorüberlegungen zur soziologischen Frage der Rationalität | 139 II. Webers Bürokratiemodell | 145 III. Erweiterte Rationalitätsproblematik | 151 IV. Fachbeamtentum und Anwendungsrationalität | 158 V. Anwendungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung | 165 Literatur | 167
6. Vertraute Fremdheit und desperate Vergemeinschaftung. Ethnizität und die doppelte Normalisierung kultureller Differenz in der Moderne | 173 I. Konstruierte Alterität? | 173 II. Subtile Re-Substantialisierung | 176 III. Kriterien der »Ethnisierung« | 179 IV. Basale Fremdheit und soziale Differenzierung | 182 V. Die Veränderung von »Horizont-Triangulationen« | 185 VI. Die zweite Normalisierung: Reaktion auf Anonymisierung | 188 VII. Desperate Formen kultureller Selbst- und Fremdauslegung | 192 VIII. Von kulturellen Stereotypen zu stereotypisierenden Praktiken | 195 Literatur | 199
7. Von der anerkannten Ungleichheit zur ungleichen Anerkennung. Normative Implikationen multipler sozialer Differenzierung | 205 I. Das gleiche Recht auf Ungleichheit | 205 II. Konkrete Kritische Theorie und die Pluralisierung von Auslegungshorizonten | 209 III. Multiple Differenzierung oder stabile Anerkennungsordnung? | 212 IV. Multiple Differenzierung: Anerkannte Ungleichheit und ungleiche Anerkennung | 222 V. Ausblick auf normative Übersetzungsverhältnisse | 229 Literatur | 231
8. Gewalt und kulturelle Selbstbehauptung | 237 I. Gewalt und Kultur | 238 II. Die zweifach doppeldeutige »Behauptung« kultureller Identität | 242 III. Das pragmatische Verstehen und die flexible Selbstbehauptung | 253 IV. Die notwendig symbolische Struktur der angeblich physischen Gewalt | 258 Literatur | 262
9. Zur Form des Milieus. Performative Kulturen im Horizont von Gesellschaftstheorie und Sozialstrukturanalyse | 267 I. Von der Form des Milieus zur multipel differenzierten Gesellschaft | 269 II. Vokabulare und Kategorien der Milieuforschung | 272 III. Differenzierungstheoretische Horizonte | 278 IV. Milieu als Form | 284 V. Formen der Form des Milieus | 288 VI. Empirische Zugänge zu performativen Kulturen | 294 Literatur | 295
Drucknachweise | 301
Performative Kultur & multiple Differenzierung Ein Vorwort Joachim Renn
Kultur ist ein unmöglicher Begriff. Auch wenn ein Begriff im Zuge konstitutiver Unterscheidung durch bestimmende Gegenbegriffe hinreichend geklärt werden könnte (was man bezweifeln kann), so ließe sich die Anzahl der einschlägigen Kandidaten für einen solchen Gegenbegriff hier kaum sinnvoll begrenzen. Ohne den schillernden Ausdruck Kultur aber kommt die soziologische Gesellschaftstheorie nicht aus. Und das nicht nur deshalb, weil keine Theoriebildung ihre subkutane Abhängigkeit von kulturellen Horizonten, wirksam als implizite Plausibilitätskriterien (»Paradigma«), leugnen könnte ohne bedenkliche Rückwirkungen auf den Grad an Selbstillusionierung. »Kultur« muss als Kategorie, als operationaler Begriff, als Dimensionsangabe, als Titel für Sinn-, Wissens- oder Sachsphären oder wie auch immer ins Sprachspiel der Gesellschaftsanalyse aufgenommen werden. Selbst Niklas Luhmanns fortgesetzter Umbau der Systemtheorie kommt bei aller anfänglichen, nur halbwegs theorietechnisch ausgewiesenen Unduldsamkeit gegen Ende nicht darum herum, es mit dem Kulturbegriff als einem seriösen Element des terminologischen Netzwerkes doch noch zu versuchen (und somit tritt »Kultur«, der unsterbliche Wiedergänger unter den alteuropäischen Konzepten, als »Vergleichsbegriff« oder als Synonym für Teile spezieller Semantiken auch in der Systemtheorie wieder in Erscheinung). Endgültige Klärungen des Kulturbegriffs sind auch davon nicht zu erwarten. Selbst die bemerkenswerte Karriere der »Kulturwissenschaften«, die es mittlerweile zu Studiengängen und zu allerlei eigenen Handbüchern gebracht haben, hat die babylonische Sprachverwirrung, die sich wie in einem Prisma der theoretischen Verlegenheiten in den zahllosen Kulturbegriffen bricht, nicht bereinigt, sondern eher zur Tugend der Geringschätzung theoretischer Strenge nobilitiert. Und auch die mit dem Markenprestige eines paradigmatischen »turns« ausgestattete »Transformation« der Kulturtheorie teilt mit den
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Einseitigkeiten, von denen der »turn« sich abzuwenden behauptet, mindestens soviel in der Form der Theorie, dass der konstitutive Leitbegriff des Paradigmas trotz aller akribischen Kartographie sortierter »Ansätze« in seiner Einheit und in seinen Differenzen unterbestimmt bleibt. Das ist den Sympathisanten eines »cultural turn« nicht vorzuwerfen, liegt das Problem des Kulturbegriffs doch in der »Sache« selbst beschlossen. Eine substantielle Bestimmung dessen, was Kultur sei, worin ihre Rolle im Sprachspiel einer Gesellschaftstheorie bestehen müsste, oder gar was als Einheit der Differenz der Kulturbegriffe zur Bereinigung des terminologischen Terrains taugen könne, ist deshalb entschieden nicht das Anliegen der hier vorgelegten Sammlung von Aufsätzen. Die Absicht ist eher, eine interne, den Umfang des Kulturkonzepts keineswegs erschöpfende, Unterscheidung zwischen Modi kultureller Formatierungen des Handelns vorzuschlagen und die Leistungsfähigkeit dieser Unterscheidung im Bereich makrosoziologischer, genauer: gesellschaftstheoretischer, noch genauer: differenzierungstheoretischer Theorie und Analyse zu erproben. Die eine Abteilung des hier durchgespielten analytischen Instrumentariums kreist also im Kern um die Unterscheidung zwischen dem Modus einer »performativen« Kultur, d.h. eines kulturellen Hintergrundes des Handelns, Wahrnehmens und Wissens, der mit Notwendigkeit implizit bleibt, und einer »expliziten« Kultur, d.h. einer systematischen Gesamtheit ausdrücklich artikulierter, begrifflich und propositional bestimmter sowie entsprechend bearbeiteter kultureller Formate des Handelns. Die andere Abteilung der theoretischen Heuristik ist differenzierungstheoretischer Art. Der Titel »multiple Differenzierung« ist selbst als eine zweifache Reaktion auf den Diskussionsstand zu verstehen. Erstens als Antwort auf die mittlerweile als unfruchtbar durchsichtige Kontroverse um den Primat entweder »funktionaler« oder aber »vertikaler« Differenzierung (»Ungleichheit«). Die späte Moderne (eine dieser dürftigen Formulierung gegenüber eindeutig überlegene Bezeichnung haben wir noch nicht) lässt sich theoretisch nicht sinnvoll auf nur eine primäre, konstitutive und charakteristische Differenzierungsform festlegen. Viel überzeugender erscheint es, von einer Differenzierung zweiter Ordnung auszugehen, mithin von einer Differenzierung zwischen Formen der sozialen Differenzierung, die eine Vielzahl von heterogenen, selbst wieder regional unterschiedlich realisierten, Varianten der Interferenz von Differenzierungsfolgen erzeugt (und von ihren Erzeugungen rekursiv wieder beeinflusst wird). Eine Achse dieser Differenzierungsformen ist mit guten Gründen als »kulturelle« Differenzierung zu bezeichnen, zum einen als Differenzierung von Modi des »Kulturellen« (habitueller Hintergrund versus »gepflegte Semantik«), zum anderen als Pluralisierung von Kollektiven oder Handlungskontexten, die sich qua gegenseitiger kultureller Abgrenzung, sei es in ausdrücklicher oder aber in performativer Weise, bestimmen. Das zweite Motiv einer analytischen Heuristik unter dem Titel der »multiplen Differenzierung«
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steht mit dem erstgenannten, eher kultursoziologischen Zugang an dieser Stelle offensichtlich in einem engen Zusammenhang. Die Überzeugungskraft einer wachsenden Aufmerksamkeit für die »Praktiken« und »Praxen«, deren Eigensinn sich in auffälliger – aber historisch variabler – Distanz zur Wirkmächtigkeit von Strukturierungen auf Makroebene entfaltet und vollzieht, gibt hinreichende Anlässe für eine Erneuerung der handlungstheoretischen Erdung der makroperspektivischen Gesellschaftsanalyse. Insofern ergänzen sich die im Titelausdruck dieser Aufsatzsammlung zusammengebrachten Optiken in der Form einer gegenseitigen Spezifikation. Kultursoziologische und handlungstheoretische Nahaufnahmen und differenzierungstheoretische Makroanalysen konkretisieren und bestimmen sich gegenseitig, wenn es gelingt, systematische Pfade der Übersetzung zwischen den im Fach doch weitgehend getrennt operierenden Analysen der performativen Phänomene auf Bodenhöhe der Interaktion und der großformatigen Gesellschaftsdynamiken »entkoppelter« Eigenlogiken freizulegen. Beide Horizonte: die analytische Perspektive einer kultursoziologischen Untersuchung »performativer« Kulturen und die pragmatistisch fundierte Theorie »multipler Differenzierung« bilden also einen engen systematischen Zusammenhang, und sie können möglicherweise auf diesem Wege Verbindungen legen zwischen in der Regel einigermaßen getrennt verhandelten soziologischen Feldern der Forschung und der Theoriebildung. Es ist darum weniger das Ziel der pragmatistischen Gesellschaftstheorie, in deren Fokus die Aufsätze dieses Bandes stehen, eine integrative Gesamtformel für die Beschreibung der Gegenwartsgesellschaft zu erstellen, als Brücken zu bauen zwischen Handlungs- und Gesellschaftstheorie, zwischen Praxis- und Differenzierungstheorie, vor allem aber zwischen qualitativen Formen der empirischen Forschung und einer Theoriebildung, die das Vertrauen in den Sinn und die Möglichkeit makroskopischer Generalisierung mit der Verpflichtung zur permanenten Revisionsbereitschaft im Lichte der Phänomene verbindet. Bei den hier zusammengebrachten Aufsätzen handelt es sich ohne Ausnahme um – zum Teil allerdings sehr weitgehend – überarbeitete Fassungen von Beiträgen, die bereits in Sammelbänden oder Zeitschriften erschienen sind. Abgesehen von möglichen allgemeinen Vorbehalten gegen die Publikation von Einzelstücken, die in anderen Zusammenhängen entstanden sind, scheint eine solche Aufsatzsammlung demnach der Rechtfertigung zu bedürfen. Bei genauerer Überprüfung des Gesamtbildes, das die Aufsätze ergeben, lässt es sich aber vielleicht doch mit einigem Recht vertreten, dass sie zugleich jenseits von allzu störender Redundanz und diesseits von irritierender Heterogenität an einem gemeinsamen Strick ziehen. Es kommen – so der Eindruck und die Hoffnung des Autors – eine Theoriefigur und eine Forschungsperspektive zur Ansicht, die eine Zusammenstellung von anderenfalls verstreut gebliebenen Arbeiten zu einem umfassenderen Vorhaben hinreichend legitimiert.
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Für die erwähnte umfassende Überarbeitung der Vorlagen waren die Vorschläge Linda Nells sowie die ausgesprochen sorgfältige und strenge Korrekturleistung von Franka Haak und Christian Keitel am Institut für Soziologie der Universität Münster von größter Bedeutung. Ihnen ist deshalb zum Schluss zu danken. Münster, Februar 2014
1. Performative Kultur und sprachpragmatische Soziologie
I. K ultur als P r a xis ? Seit einiger Zeit ist viel von einem »cultural turn« in den Sozialwissenschaften zu hören. Das bedeutet im Groben wohl zunächst, dass der – oder ein spezieller – Begriff der »Kultur« einen zuvor unterschätzten systematischen Rang im Geschäft der Gesellschaftsanalyse habe. Man wird sofort zugeben: Ohne Zweifel haben die klassische und die neuere (z.B.: »reflexive«, Clifford, Marcus 1986) Kulturanthropologie sowie die Ethnographie den Sozialwissenschaften viel zu sagen. Aber das war auch schon zu Zeiten der großen, paradigmatischen Studien im heroischen Zeitalter »vor-postkolonialistischer« Ethnographie nicht grundsätzlich anders. Die einflussreiche Studie von Evans-Pritchard (1988) hat am Beispiel der »Hexerei« bei den Zande eine Art Dekonstruktion der Differenz zwischen Rationalität und Mythos vorgenommen. Schon vor Jahrzehnten hat diese Studie unverkennbar ihre Spuren in der wissenschaftstheoretischen Relativierung eines monochromen, transkulturellen Begriffs der Rationalität hinterlassen. Und es ist ja auch kaum vertretbar, dass in der klassischen Soziologie der Begriff und die Sache der »Kultur« keinen systematischen Stellenwert gehabt hätten. Was Max Weber angeht, verbietet sich geradezu eine diesbezüglich ausführlichere Explikation. Selbst die funktionalistische Offensive, die von Talcott Parsons gestartet wurde, und die noch heute in der Systemtheorie und bei den Nach-Parsonsianern lebendig ist, hat bekanntlich einen der entscheidenden Anstöße von B. Malinowski erhalten (Parsons 1978). Will man also Zurückhaltung üben, d.h. den »cultural turn« nicht unbedingt wie so manchen der rezenten »turns« verdächtigen, nur eine simulative Marktstrategie anzuzeigen, dann muss es einen spezifischen Gesichtspunkt geben, unter dem die »Kultur« noch einmal ganz frisch in den Fokus gerückt zu werden verdient. Was die soziologische Diskussion angeht, ist dieser Gesichtspunkt die performative Modalität, in der sich Kultur im sozialen Handeln bemerkbar macht. Kultur soll im Unterschied zu ihrer vorherigen rationalistischen Verkürzung,
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z.B. auf generalisierte Werte, jetzt als »Praxis« verstanden werden. Dass Kultur selbst »Praxis« sei, sich als Praxis in der Praxis vollziehe, forme, transformiere, dass sie sich gleichsam im Dickicht der sich selbst undurchdringlichen »Praktiken« fortwälze mit unbestimmter Zukunft, Abgrenzung und Bestandssicherheit, und dies in großer Unabhängigkeit von den abstrakten Strukturgerüsten, die eine klassische Soziologie erst theoretisch und methodisch fingiert und dann für die soziale Realität ausgegeben haben soll, dass diese soziologische Abstraktion überdies unbemerkt als Komplizin kolonialistischer Assimilation fungiert, das sind im Kern die postkolonialen und »praxeologischen« Kernthesen und Monita, die Inhalt und Dringlichkeit des »cultural turn« definieren sollen. Neben den »kritischen« Konnotationen, die der Bezug auf den intellektuellen Kolonialismus trägt, wird damit die ihrerseits lang schon geführte Diskussion über das Verhältnis zwischen »Struktur« und »Akteur« bzw. zwischen »Struktur« und »Handlung« mit leicht verschobenen Akzenten weitergeführt. Diese Akzentverschiebung – etwa im Kontrast zur älteren Kritik des Symbolischen Interaktionismus an der Reduktion des Akteurs auf eine Strukturmarionette durch die strukturfunktionalistische Makrotheorie – wird durch die zur Bezugsgröße ersten Ranges avancierte Praxistheorie Pierre Bourdieus (1979) markiert. Während E. Goffman und H. Garfinkel noch als Anwälte der relativen Interpretations- oder auch Aushandlungsfreiheit situierter Akteure gegenüber stabilen Struktur- und »Rollen«-Mustern aufgetreten sind (»role-making«), geht man mit Bourdieu nun gern einen Schritt weiter und erklärt – zusätzlich motiviert durch den »Post«-Strukturalismus – die Strukturkategorien und die an sie gehängten Vermutungen über die Determination individuellen Handelns im Ganzen zu Fiktionen der Soziologie. Bourdieus Feldzug gegen das »juridische« Vorurteil der Praxis der Logik (d.h. der sozialwissenschaftlichen Verwechslung von juridischen, gleich: regel-deterministischen Modellen des Handelns mit der sozialen »Realität«) kann so gelesen werden, dass soziales Handeln sich in nichts weiter abspielt und auf nichts weiter reagiert als auf die habituell-dispositional internalisierten Elemente einer »Performativen Kultur«. Die Auflösung der Struktur in der Praxis könnte aber zu weit gehen. Schon dem Interaktionismus ist im Verlauf der früheren Debatte mit einigermaßen überzeugenden Argumenten vorgehalten worden, dass man es mit der »Kulturalisierung« des Sozialen nun auch nicht zu weit treiben dürfte. Ein solches Argument ist der Hinweis auf die bemerkenswerte Stabilität situationstranszendenter Ordnungsmuster bzw. »Selektionsordnungen«. Und ein weiteres, anscheinend begriffliches, aber auch in der Sache gut verankertes Argument tritt hinzu: Was auch immer »Kultur« sein mag (Kroeber, Kluckhohn 1952) – auch »Kultur als Praxis« oder, was nicht dasselbe ist, »Performative Kultur« können, wenn denn »Kultur« ein Differenzbegriff ist (Luhmann 1999: 31ff.), nur in Abhebung, im Kontrast gegen ein anderes als sie selbst begriffen werden (von
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sich selbst oder von jemand anderem). Identität ist Differenz. Und schon deshalb scheint die sehr begründete Aufmerksamkeit für die performative Dimension sozialen Handelns und entsprechender Selektionsordnungen gut beraten, nicht einfach »Kultur« von Struktur zu unterscheiden (und was hieße das für beide Seiten der Unterscheidung?), sondern zwischen Modi des Kulturellen zu differenzieren – und dann ist Kultur schon nicht mehr nur Praxis, sondern Praxis wird, wenn Kulturformate sich hinreichend differenzieren und Kontraste bilden, zu einer Art Kultur. »Performative« Kultur »ist«, wirkt, fällt auf und wird mögliches Thema der soziologischen Theoriebildung und der kultursoziologischen Analyse erst dann und nur dann, wenn sie sich abhebt gegen erstens andere »performative Kulturen« und zweitens gegen »Kulturen« anderer Bauart. Kulturformen begrifflich zu differenzieren kann bedeuten, Freiheitsgrade von Praktiken zu unterscheiden. Das implizite Ethos beeinflusst die Praxis anders als der kanonische Ritus und die kodifizierte Regel (auch wenn in beiden Fällen keine »Determination« vorliegt). Und man sieht sofort, dass neben der Kultur-Struktur- und der Kultur-Kultur-Differenz eine dritte Seite ins Spiel kommt: Die Differenz an Freiheitsgraden korreliert mit dem Grad an sprachlicher Explizitheit der Praxis-koordinierenden, »kulturellen« Institutionen. Es ist eben doch die Sprache, an die wir uns hier halten sollten, gerade weil das keineswegs und überhaupt nicht impliziert, die nicht-sprachlichen, körperlichen und »leiblichen« Vollzugsmomente der Praxis aus der Rechnung zu nehmen. Im Gegenteil: Es ist gerade das jeweils unterschiedliche Verhältnis der sprachlichen Praxis zu den nicht-sprachlichen Aspekten der praktischen Situation, das den Zugang zur theoretischen Unterscheidung zwischen sprachlichen Handlungsformaten und dann zwischen performativen und »anderen« Kulturen freizulegen erlaubt. Die folgenden Überlegungen setzen deshalb an bei dieser dritten Problematik des Performativen (neben der Kultur und der Struktur), bei der Sprache. Die soziologische Aufmerksamkeit für das Performative ist ja traditionell und gegenwärtig nicht allein in der Form allgemeiner Handlungstheorien aufgetreten, sondern es gibt einen eigenen, respektablen Strang der sprachpragmatischen Reflexion. Diesen Strang der Theoriebildung aufzurufen, kann u.U. zur Beförderung der begrifflichen Präzision und vor allem zur Erweiterung der analytischen Kapazitäten einer so genannten Praxeologie beitragen. Denn die Totalversenkung der situationstranszendenten sozialen Struktur – wie auch der reflexiven Intentionalität des handelnden Individuums – in die »dichte« Praxis trägt nur so weit, wie ein kurzer Moment der intellektuellen Befreiung von theoretischen Zwangsapparaten zu euphorisieren vermag. Nach der publikations- und karrierefördernden Ekstase des Neubeginns aber stellt sich schnell heraus, dass mit einer »Praxeologie« im Stile theoretischen Komplexitätsabbaus der »cultural turn« am Ende hinter den »lingusitic turn« (den einzigen echten Dreh der Kulturwissenschaften, der über jeden Zweifel an
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Substanz erhaben ist) zurückfällt. Eine sprachpragmatische Kultursoziologie könnte hier vielleicht einspringen.
II. S pr achpr agmatische K ultursoziologie Eine sprachpragmatische Kultursoziologie liegt in ausgearbeiteter, klar abgegrenzter und methodisch operationalisierter Form nicht vor. Die Sprachpragmatik im philosophischen, linguistischen und soziologischen Sinne ist vielmehr eine umfassende und facettenreiche Perspektive, aus der heraus klassische Bestimmungen des Kulturbegriffs und die Methoden und Themenreihen kulturwissenschaftlicher Forschung und Theorie in einer zugleich erweiterten und veränderten Beleuchtung erscheinen. Diese optische Umstellung ist dabei keineswegs allein den Überlegungen aus sprachtheoretischen und -philosophischen Disziplinen zuzurechnen, sondern erwächst zugleich, sozusagen endogen aus der kritischen Selbstreflexion kulturanthropologischer, ethnologischer und historischer Forschung. Die allgemeinste Klammer dieser Perspektivenverschiebung lässt sich simpel bezeichnen: Eine Kultur ist keine Gesamtheit objektiver Gegenstände, nicht einfach ein System von Ideen oder subjektiven Einstellungen,1 sondern zuerst eine kollektive, besonders: sprachliche Praxis. Das ist – wie bereits angedeutet – in dieser Form noch kein besonders origineller oder neuer Gedanke. Schon die funktionalistische Kulturanthropologie Malinowskis kann als Vorreiterin auch einer sprachpragmatischen Perspektive angesehen werden, waren doch in Malinowskis Auffassung Formen des Sprachgebrauchs wichtige funktionale Bestandteile der sozialen Organisation einer Gruppe.2 In der ur- und frühgeschichtlichen Kulturforschung ist die Ergänzung archäologischer Funde und ihrer Interpretation durch sprachhistorische Rekonstruktionen der praktischen Implikationen von Wortbedeutungen längst etabliert. So erlaubt die chronologische Zuordnung von Lehnwortgruppen Rückschlüsse auf den Stand der materiellen Kultur einer vergangenen, schriftlosen Kultur (Maier 2000; Polenz 1991: 37ff.). Darum wäre die Betonung sprachlicher Praxis und der praktischen Grundlage sprachlicher Konzepte allein noch nicht besonders aufschlussreich, würden sich an die Umstellung der Aufmerksamkeit auf den Primat 1 | Siehe diesbezüglich die Kritik von Clifford Geertz an der Definition von Ward Goodenough, in: Geertz 1987: 17. 2 | So heißt es beispielsweise: »In its primitive uses, language functions as a link in concerted human activity, as a piece of human behaviour. It is a mode of action and not an instrument of reflection« (Malinowski 1923: 312). Vgl. zur pragmatischen »Bedeutungstheorie« Malinowskis: Gloning 1996: 41ff.
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der sprachlichen (und nicht- sprachlichen) Praxis nicht weitere Bestimmungen anschließen; sie betreffen den Charakter kollektiver, praktischer Regelmäßigkeiten, ihre kognitive Struktur und Geltung, ihre Reproduktions- und Transformationsformen und ihre methodische Zugänglichkeit. Im Horizont einer pragmatischen Interpretation von Kulturen und von »Kultur« liegen schließlich evaluative, anti-essentialistische, nicht-teleologische Implikationen sowie methodologische Konsequenzen, die auf das kognitive und normative Selbstverständnis rationaler kulturwissenschaftlicher und kultursoziologischer Forschung zurückwirken. Kulturen, begriffen als Praktiken oder Praxisfelder, werden zu einem sich selbst interpretierenden und auch dadurch vor allem zu einem transitorischen Gegenstand der Interpretation. Sie »liegen« nicht objektiv »vor«, etwa als geschlossene und scharf umrandete Gesamtheiten von expliziten Regeln, Glaubensaxiomen oder Handlungsmaximen, sie sind nicht notwendig ko-extensiv mit ethnischen, regionalen oder (hoch-)religiösen Grenzziehungen. Kulturen im genannten Sinne stellen bewegliche, normativ besetzte Zusammenhänge zwischen kollektiven Handlungsweisen dar, zwischen denen unscharfe Grenzen und Austauschbeziehungen nicht die Ausnahme, sondern das Übliche bedeuten (Burke 2000). Kulturen interpretieren sich selbst und dabei und dafür immer schon andere Kulturen. Kulturwissenschaftliche Interpretation ist darum darauf verwiesen, objektivistische, universalistische und vermeintlich normativ neutrale Prämissen ihrer Methode auf den Prüfstand zu stellen. Dazu reicht es aber noch nicht aus, sich nur auf die vage Bestimmung kultureller Einheit als Einheit einer Praxis zu einigen. Es ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts schon ein Allgemeinplatz, dass Kulturen sich als symbolische Praktiken realisieren, und dass sie als diese Praktiken in diesen Praktiken symbolisiert werden.3 Performative Kulturen »sind« als »Kulturen« also elementar »selbstreferenziell«, auch dann, wenn sie noch nicht explizit selbstreflexiv sind, weil ein Element der Kultur als Ereignis in einer Sequenz durch andere Ereignisse eben dieser Sequenz, die auf es »verweisen«, in seiner Bedeutung und »Substanz« (mit-)bestimmt wird. Kulturen sind ein jeweiliges Gewebe von Bedeutungen,4 das durch die Angehörigen einer Kultur in ihren alltäglichen
3 | Klassisch ist dafür bekanntlich: Geertz 1987. Siehe dazu z.B. die Bestandsaufnahme der Kulturanthropologie von: Martin Fuchs 2001: 21. 4 | Man könnte also ebenso formulieren (und tut es auch), eine Kultur sei ein Text. Die pragmatische Interpretation von Texten, die sich über die hermeneutische Untersuchung von Schriften hinaus für die Beziehungen von Texten zu Handlungen interessiert, kann als Nachfolgerin von Versuchen einer Textgrammatik (als Analyse der Struktur von mehrsätzigen Sprachäußerungen) betrachtet werden, vgl. Motsch, Pasch 1987: 11f.
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und außeralltäglichen Handlungen transformiert und reproduziert wird.5 Es kommt allerdings sehr darauf an, genauer anzugeben, was unter »symbolischen Praktiken« zu verstehen ist. Denn in welchem Maße und in welcher Form Kulturen in Sprache und Wissen »repräsentiert« werden, ist folgenreich sowohl für den Modus der kulturimmanenten Tradierung und Revision kultureller Hintergrund-Selbstverständlichkeiten als auch für den interkulturellen oder aber methodischen Zugang zu kulturellen Horizonten von außerhalb. Von entscheidender Bedeutung ist darum – schon in der Geertz’schen Kritik an tradierten Kulturtheorien – der Begriff der Regel. »Regeln« sollen den sprachlichen und nicht-sprachlichen Praktiken innerhalb eines kulturellen Horizontes Zusammenhang, »Einheit« und Kontinuität geben. Die Frage aber bleibt, wie genau Regeln diese konstitutive Kraft entfalten? Es hängt vom Begriff der Regel und vom Konzept der Praxis ab, ob das Verständnis von »Kultur als Praxis« es noch immer zulässt, Regeln als eindeutige, klar definierte und einzelne Handlungen direkt determinierende Algorithmen zu begreifen (Geertz 1987: 17). Die Kenntnis der Kultur hinge dann vollständig und erschöpfend, von innen wie von außen betrachtet, von der Kenntnis eines mehr oder weniger umfangreichen Sets expliziter Regeln ab. Das würde bedeuten, dass man sich zum »Insider« einer zuvor fremden Kultur hinreichend durch das theoretische Studium eines Handbuchs entsprechender konstitutiver Regeln machen könnte. Eine der zentralen Einsichten einer möglichen sprachpragmatischen Kulturtheorie begründet jedoch ernsthafte Zweifel an genau jener Prämisse und ihren offensichtlich unplausiblen Implikationen. Diese Einsicht besteht kurz gesagt darin, dass einer prädikativ bzw. propositional verfassten, eindeutig definierten und in diesem Sinne expliziten Regel eine unbegrenzbare Anzahl »korrekter« Regelfolge-Ereignisse zugeordnet werden kann, so dass die handlungspragmatisch notwendige Selektion korrekter Regelanwendungen nicht durch die explizite Regel selbst und allein garantiert werden kann. Diese Einsicht begründet die Unhaltbarkeit der Vorstellung, man könne die Einheit des Sprach- und Weltwissens im Sinne einer Kultur oder eines kulturellen Horizontes adäquat durch eine klar bestimmte (und die Praxis bestimmende) Menge von Regeln und Normen repräsentieren. Die Regelartikulation kann zwar selbst angemessen, plausibel und in einem speziellen Sinne adäquat sein, nicht aber ist die Regelkenntnis allein hinreichend für eine angemessene Teilnahme an der Praxis, aus deren Betrachtung die Regel durch Abstraktion gewonnen wurde. 5 | Prominente Vertreter der »Cultural Studies« (die selbst weniger einem distinkten Paradigma folgen als eine Art »nicht-fixierter« Wissenschaftskultur darstellen) bringen die Voraussetzung des flüssigen und pragmatischen Charakters von Kulturen deutlich in Verbindung mit der Kritik z.B. an den ideologischen Folgen der Orientierung an fest umrissenen, statischen (»hoch«)-kulturellen Einheiten, siehe: Hall 1999.
1. Per formative Kultur und sprachpragmatische Soziologie
Der spezifische Beitrag einer sprachpragmatischen Kulturtheorie besteht deshalb in der Präzisierung des Zusammenhanges zwischen (Hintergrund-) Wissen, Praxis und Sprache. Eine solche Präzisierung liefert die Vorbereitung dafür, Typen kulturellen Wissens entlang der Differenzierung von Explizitheitsstufen sprachlicher Regeln und Bedeutungen zu unterscheiden. Darum ist neben der eingespielten sprechakttheoretischen Hauptlinie, die von J.L. Austin über J. Searle zu einer formalistischen Version der Sprachpragmatik führt, eher jener Traditionsstrang von besonderer Bedeutung, der unter Bezeichnungen wie »ordinary language philosophy« eine gewisse Skepsis gegenüber formalistischen Verallgemeinerungen und eine besondere Aufmerksamkeit für die kulturelle Funktion impliziten Sprach- und Weltwissens bewahrt.6 Die Sprachpragmatik leistet also nicht nur und nicht schon durch die Fokussierung auf die Struktur sprachlicher Praxis – die eben auch unabhängig von ihr längst en vogue ist – einen kulturwissenschaftlichen Beitrag, sondern durch die besondere Analyse der Funktion und der Modalität impliziten sprachlichen (kulturellen) Hintergrundwissens. Methodologisch hat diese Analyse sodann weitreichende Konsequenzen, insofern sie sich selbst und die kultursoziologische Perspektive im Allgemeinen als explizierende Repräsentation solch impliziten Wissens reflektiert, um schließlich die Verankerung des methodischen Kulturverstehens in der Pragmatik des Zugangs zu Feldern der Forschung und zu Foren der Argumentation sichtbar zu machen.
III. V arianten der S pr achpr agmatik Die Entwicklung bzw. Schärfung sprachpragmatischer Instrumente zur Unterscheidung von Explizitheitsstufen kulturellen Wissens und kultureller Praxis sollte mit einer ausführlicheren Rekapitulation sprachtheoretischer, vor allem sprachphilosophischer Untersuchungen zur pragmatischen Dimension beginnen: Mit Bezug auf Präzisionsgrade und Gegenstandsbereiche empfiehlt es sich, zuerst zwischen einer pragmatistischen Sprachauffassung im weiteren und einer sprachpragmatischen Theorie im engeren Sinne zu unterscheiden. Zum einen bezeichnet die pragmatische Dimension der Sprache eine Hinsicht, die in so gut wie jeder sprachwissenschaftlichen oder sprachtheoretischen Betrachtungsweise oder Forschung auf die eine oder andere Art Berücksichtigung findet: die Ebene des Gebrauchs bzw. der Verwendungsweisen und
6 | Vgl. zur sprachphilosophischen Darstellung und Einschätzung der »ordinary language philosophy«: von Savigny 1993, und als eine Neuauflage dieser Darstellungen im Zuge der Konjunktur des Performativen: Krämer 2006.
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-formen von sprachlichen Ausdrücken, Strukturen oder Regeln.7 Zum anderen stellt der philosophische Pragmatismus mit seiner spezifischen semiotischen Ausrichtung – vor allem bei Charles S. Peirce, William James und John Dewey – eine umfassende, auf die praktische Bedeutung kognitiver und sprachlicher Konzepte ausgerichtete Perspektive auf sämtliche klassische, philosophische Themen dar.8 Die Sprachpragmatik im engeren Sinne steht mit dem zuletzt genannten Pragmatismus in mancherlei Beziehung, ist aber aufgrund ihres methodischen und gegenstandsbezogenen Zuschnitts als eine spezifischere Analyse sprachlicher Gebrauchsweisen im engeren Sinne zu sehen, die sich u.a. in Sprechakttheorie, Konversationsanalyse, Universal- und Formalpragmatik unterteilt. Die Sprechakttheorie ist zuerst eine Theorie sprachlicher Bedeutung, die im Horizont wissenschafts- und erkenntnistheoretischer Fragestellungen zwei alte Einsichten wiederentdeckt, für die bereits Humboldt und später die Bühler’sche Organontheorie der Sprache stehen: dass die Sprache erstens nicht allein deskriptive Funktionen hat, und dass darum die Form des Aussagesatzes nicht das exklusive Modell der Reflexion auf die Sprache sein kann. Diese Relativierung der deskriptiven Funktion erhält zweitens grundlegende Bedeutung dadurch, dass bei den Alternativen zur Form des Aussagesatzes nicht einfach – wie durchaus auch vorher schon üblich – an referenzlose sprachliche Ausdrucksmittel gedacht wird, sondern dass der Bezug von sprachlichen Ausdrücken auf außersprachliche Wirklichkeit selbst nicht auf die Aussageform beschränkt werden kann: Diese Bezugnahme der Sprache bzw. vermittels der Sprache auf »die Welt« besteht nicht exklusiv in einer reinen Abbildung, bzw.
7 | Es werden dabei durchaus unterschiedliche Abgrenzungen zwischen Semantik und Pragmatik vorgenommen: Rudolf Carnap stellte noch die Semantik als eine Theorie der Anlage und der Interpretation künstlicher Sprachen der Pragmatik als einer empirischen Untersuchung von natürlichen Sprachen gegenüber (Carnap 1938), während an anderer Stelle die Semantik als die Theorie, in der kontextlosen Sätzen Bedeutung zugeschrieben wird, die Pragmatik dagegen als die Theorie der Kontexte, in denen die Sätze von Sprechern interpretiert werden, gilt (Levinson 1994: 5ff, 20; Blakemore 1987). 8 | Dass die Verbindung z.B. von Erkenntnisvermögen und Praxis in der Tradition des amerikanischen Pragmatismus eine wesentliche Einsicht der »postempiristischen« Wissenschaftstheorie vorwegnimmt – nämlich den Gedanken, dass alle sprachlichen Repräsentationen von vermeintlich reinen Beobachtungstatsachen sprach-, vokabularund damit gewissermaßen kulturabhängig sind – bringt z.B. Hilary Putnam prägnant zum Ausdruck: »Was vorliegt, sogar auf der Ebene der Beobachtungstatsachen, wird teilweise davon abhängen, welche Kulturen wir schaffen, und das heißt, welche Sprachen wir ausbilden« (Putnam 1995: 27).
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sie entspricht grundsätzlich nicht einer in jeder Hinsicht äquivalenten Repräsentation außersprachlicher Tatsachen.9 Diese beiden Einsichten sind durchaus als voneinander getrennte Impulse der Sprachpragmatik zu behandeln, denn sie motivieren voneinander logisch unabhängige Reaktionen auf die klassische Verkoppelung von Bedeutung und Geltung (nämlich entweder eine kontextualistische Verabschiedung oder aber eine formalistische Erweiterung der Bindung der Bedeutung an die Geltung). Diese Verkoppelung hat sich spätestens seit Frege – dann paradigmatisch beim frühen Wittgenstein des Tractatus – in der wahrheitsfunktionalen Semantik zugespitzt (Tugendhat 1976). In der prägnanten Formel des frühen Wittgenstein kennen und verstehen wir die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks, wenn wir wissen, was der Fall ist, wenn der Ausdruck – der demnach ein Satz bzw. die Realisierung einer Proposition sein muss – wahr ist. Man muss die repräsentationalistische Korrespondenzidee, die so nachhaltig die abendländische Tradition der Sprachreflexion beeinflusst hat, dabei gar nicht gering schätzen. Immerhin vermochte sie für lange Zeit eine arbeitsfähige Antwort auf die Frage, wie die Sprache überhaupt in der Welt verankert wäre (nämlich über die relationierbaren Kenntnisse des Sprachverwenders erstens von außersprachlichen Sachverhalten und zweitens von sprachlichen Ausdrucksformen), zu geben. Das Bild gerät aber ins Wanken, sobald sich die Erfahrung durchsetzt, dass eben jene sachliche Weltkenntnis durch das Sprachwissen selbst geformt wird. Der »linguistic turn« impliziert eben auch, dass nicht allgemeine subjektive Verstandesleistungen, sondern sprachliche Formate für die Synthesis der Gegenstände und Sachverhalte konstitutiv sind. Dann aber fällt der Vergleich zwischen Sprache und Welt als Kriterium adäquater Repräsentation aus, weil sich zeigt, dass hier Sprache mit Sprache verglichen wird und die »Welt« sich dem Zugriff verbirgt. Gegenüber der wahrheitssemantischen Zuspitzung des Begriffs sprachlicher Bedeutung haben in diesem Horizont schließlich Wittgenstein selbst und z.B. John Langshaw Austin – jeder auf seine Weise – (erneut) die Dimension des Gebrauchs sprachlicher Ausdrücke geltend gemacht.10 Während Wittgenstein in seinen Philosophischen Untersuchungen, im braunen und im blauen Buch, sowie in »Über Gewissheit« (Wittgenstein 1969, 1984) sich selbst kritisierte und in aphoristischer Form eine Gebrauchstheorie der Sprache vorlegte, versuchte sich Austin an einer Systematisierung der Unterscheidung zwischen 9 | Was im Sinne der soeben (Fußnote 8) erwähnten postempiristischen Wissenschaftstheorie beispielgebend von Richard Rorty vertreten wurde, vgl. Rorty 1984. 10 | Als ein Vorläufer der pragmatischen Wende in der Bedeutungstheorie kommt im Übrigen bereits John Rupert Firth in Betracht (Firth 1930), der bereits den Sprachgebrauch als Teil eines kulturellen Zusammenhanges zu analysieren empfahl (Firth 1957: 56).
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propositionaler und performativer Dimension von Äußerungen (Austin 1975).11 Im ersten Schritt machte Austin klar, dass wir neben darstellenden Sätzen eine Fülle von sprachlichen Äußerungen finden, die nicht als Darstellungen äußerer Sachverhalte, sondern als Handlungen verstanden werden müssen. Die Äußerung eines performativen Satzes ist der Vollzug einer Handlung und nicht seine sprachliche Beschreibung oder Darstellung. Austin zieht aus dieser recht einfachen Beobachtung weitreichende Konsequenzen: Performative Sätze sind weder wahr noch falsch (Austin 1975: 6).12 Würde also das Verstehen sprachlicher Bedeutung nur an die Wahrheitsbedingungen von Sätzen gebunden, wären performative Äußerungen unverständlich oder bedeutungslos.13 Das sind sie offensichtlich nicht; darum kann ein möglichst enger Zusammenhang zwischen Bedeutung und Geltung nur aufrechterhalten werden, wenn man angesichts performativer Sätze nicht an Wahrheits-, sondern an Gelingens-Bedingungen denkt. Sprachliche Handlungen können effektiv (oder nicht) und – vor allem – berechtigt (oder nicht) sein. Als Handlungen können sie gemessen an den gegebenen Umständen deplatziert sein (»misinvocations«)14 oder aber fehlausgeführt werden (»misexecutions«) (Austin 1975: 17ff.). In jedem Falle erschöpfen sich die Bedingungen des Gelingens von Sprechakten nicht in den physischen Gegebenheiten einer materiellen Situation, in und an der instrumentelles Handeln gegebenenfalls scheitern kann, sondern sie sind bezogen auf soziale Konventionen, die den Ablauf und die Legitimität von Sprechhandlungsvollzügen (mit-)bestimmen, und zwar im Sinne der konstitutiven Vorklärung, »worin« diese Vollzüge überhaupt bestehen bzw. was als korrekte Realisierung der typischen Form solcher Vollzüge anerkannt werden könnte. 11 | Einen weiteren – durchaus als pragmatisch zu verstehenden – Strang der Kritik am Modell des Aussagesatzes stellt die Hermeneutik der Faktizität des Heideggers von Sein und Zeit dar, der zufolge die Aussage, damit die deskriptive Bezugnahme auf »Vorhandenes« derivativ (und verzerrend) aus der basalen Auslegung des »Zuhandenen« hervorgeht (Heidegger 1984: 154, vgl.: Gethmann 1993: 281ff.; Okrent 1988). 12 | Ebenso eindringliches wie knappes Beispiel ist für Austin an dieser Stelle die Äußerung: »Verdammt!«, die nicht wahr oder falsch, höchstens aber berechtigt oder effektiv oder eben nicht sein kann (Austin 1975: 6). 13 | Damit ist bereits deutlich, dass sich die eingebürgerte Orientierung an der Form des deskriptiven Aussagesatzes und seiner Wahrheitswerte weitgehend der Verklammerung von Sprachanalytik und Wissenschaftstheorie (als Nachfolgerin der allgemeinen Erkenntnistheorie) verdankt, und dass die »ordinary language philosophy« zuerst durch eine Erweiterung des Fokus der Sprachanalyse von den theoretischen Sätzen empirischer Wissenschaften zum allgemeinen und eben auch alltäglichen Phänomen der Sprache charakterisiert ist. 14 | Dies umfasst die zwei Fälle, dass erstens keine passende Konvention in Geltung (sozial akzeptiert) ist, zweitens, dass die handelnde Person nicht berechtigt ist.
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Darum ist der Begriff der Regel für die sprechakttheoretische Pragmatik von herausragender Bedeutung. Von hier aus gesehen ist für sprachliche Bedeutung nicht die Beziehung zwischen Ausdruck, Sinn und Welt allein zentral, sondern vor allem die Ebene sozialer – und damit eben kultureller – Konventionen und Regeln. Und dies gilt schließlich nicht nur für ausdrücklich performative Sätze (die nach Austin durch die Hinzufügbarkeit von »hiermit« ausgezeichnet sind), sondern für alle sprachlichen Akte. Nachdem Austin anfänglich performative und konstative Äußerungen wie disjunkte Klassen behandelt hatte (und für beide Formen unterschiedliche Beispielreihen auflistete), ging er im folgenden Schritt (Austin 1975: 94ff.) dazu über, jeder Äußerung eine lokutionäre und eine illokutionäre Dimension zuzuordnen. Dann ist die Aussage, die eine Proposition mit Wahrheitswerten enthält – in der Searl’schen Lesart den propositionalen Teil einer Äußerung – zugleich eine Behauptungshandlung mit performativer Dimension.15 Die theoretische Aussage oder der deskriptive Satz, an denen die traditionelle Interpretation des logos-Charakters der menschlichen Sprache Maß nimmt, ist deshalb eine Abbreviatur und eine vergegenständlichende Ableitung aus der komplexeren Praxis des sozialen Behauptens, zu der mindestens zwei, Sprecher und Hörer, also eine soziale Beziehung und der von ihnen mehr oder weniger geteilte konkrete Hintergrund aus Sprach- und Weltwissen gehören.16 In die Bedingungen der Verständlichkeit von Äußerungen und der in ihnen enthaltenen Aussagen gehen darum immer schon (und meist eben unthematisch) die sozialen Konventionen und das praktische Hintergrundwissen ein, die und das die Beteiligten teilen. Und diese »Intersubjektivität« verweist auf die Gemeinsamkeit einer Sprachgemeinschaft, d.h. einer kulturellen Lebensform.17 Damit ist schon deutlich geworden, dass die für die Bedeutung von Sprachhandlungen relevanten Regeln keine universalen, eindeutigen Erzeugungsregeln (z.B. angeborene Prinzipien einer generativen Grammatik im 15 | So dass die Formalpragmatik aus der Struktur des interaktiven Behauptungshandelns und der entsprechenden Geltungsprüfung ein Modell kommunikativer Rationalität abstrahieren kann (Habermas 1988; Apel 1973). 16 | Aus diesem Grunde wird z.B. bei Michael Dummett die wahrheitsfunktionale Bedeutungstheorie um den Aspekt der argumentativen Rechtfertigung von Wahrheitsansprüchen erweitert (Dummett 1976). Bedeutungsverstehen hängt dann an der Kenntnis der Art von Gründen, die zur Verteidigung entsprechender Geltungsansprüche herangezogen werden könnten (Habermas 1988). 17 | Wir verwenden diesen Begriff im Sinne Wittgensteins 1984, auf den wir weiter unten eingehen. Hier kommt es zunächst einmal darauf an, was weiter unten näher begründet wird, dass – entgegen anderslautender Interpretationen – Wittgensteins Begriff der Lebensform als Bezeichnung für eine Pluralität von Kontexten (nicht für das allen Kontexten Gemeinsame) gelesen wird, vgl. dazu: Renn, Sebald, Weyand 2012.
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Sinne der universalen Tiefenstruktur N. Chomskys)18 sind, sondern als Konventionen eben das Moment sozialer und historischer Kontingenz enthalten. Denn die Bedeutung von Äußerungen oder Sprechakten ist (auch) relativ zu einem konkreten Kontext. Die empiristische Tradition und das verifikationistische Paradigma lebten von der Prämisse, sprachliche Bedeutung könnte sich kontextfrei aus der Beziehung zwischen Ausdruck und objektiver (Beobachtungs-)Tatsache, die sozusagen unkontaminiert durch subjektive oder kulturelle Verunreinigungen in Basis- oder Protokollsätzen repräsentierbar sei, ableiten lassen. Searle bringt die sprachpragmatische Kritik an dieser Vorstellung mit Bezug auf den Begriff der wörtlichen Bedeutung zum Ausdruck: Ich wende mich gegen die Theorie, nach der die wörtliche Bedeutung eines Satzes sich als seine Bedeutung im sogenannten »Null-kontext« – d.h. als Bedeutung, die er unabhängig von jedem beliebigen Kontext hat, auffassen lässt. Dieser Auffassung halte ich entgegen, dass der Begriff der wörtlichen Bedeutung nur vor einem Hintergrund von Annahmen und Praktiken Anwendung hat, die in der wörtlichen Bedeutung nicht selbst repräsentiert sind. (Searle 1982: 11)
Bezogen auf diesen Hintergrund von Annahmen und Praktiken sind die Regeln sprachlichen Handelns soziokulturelle Konventionen (Lewis 1969). Aus diesem Grund ist »Bedeutung« nicht ausschließlich auf objektive Geltung bezogen (im Sinne der Verbindung zwischen Bedeutungsverstehen und Prüfung der Wahrheitsgeltung), sondern auf die normative, soziale Geltung von vermeintlich gewissem Weltwissen und von Handlungsregeln.19 Searle hat in seiner Ausarbeitung der Sprechakttheorie deutlich gemacht, dass der Vollzug von bestimmten Sprechakten – paradigmatisch ist dabei das Versprechen – das Eingehen einer Verpflichtung impliziert (Searle 1992: 54ff, 177f.). Ein Versprechen zu verstehen, bedeutet nicht nur, zu wissen, was versprochen wurde, sondern auch, was es bedeutet, ein Versprechen (z.B. im Unterschied zu einer Prognose) zu geben.20 Eine Prüfung der Geltung eines Versprechens kann also nicht einfach im Vergleich zwischen Ausdruck und bestehendem 18 | Vgl. zur Kompatibilität bzw. zur Arbeitsteilung zwischen einem Wittgenstein’schen und einem Chomsky’schen Regelkonzept: Grewendorf 1995. 19 | Darum führt ein Weg von der bedeutungstheoretischen Frage im engeren Sinne der Sprechakttheorie zur soziologischen Rekonstruktion des sprachlichen Mediums sozialer Bindungskräfte und Ordnungen, siehe dazu: Winch 1974, Habermas 1981, worauf wir noch näher eingehen werden. 20 | Darum hat der Satz, »ich verspreche, zu kommen«, zwei Negationen: eine illokutionäre (ich verspreche nicht, zu kommen) und eine propositionale (ich verspreche, nicht zu kommen), Searle 1992: 32.
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außersprachlichem Sachverhalt bestehen, sondern muss sich (implizit) auf das gesamte Netz von Praktiken, in denen Versprechungen sinnvoll, beurteilbar, einklagbar etc. sind, beziehen. Bei dem Vollzug einer Handlung des Versprechens kehrt sich die »direction of fit« (Searle) der Äußerung gegenüber der deskriptiven Aussage um. Der Satz muss – um gültig zu sein oder zu werden – nicht »passend« zur Welt gemacht werden, sondern das Gelingen des Sprechaktes erfordert eine Veränderung des »Zustandes der Welt«, den Handlungsvollzug, der im Versprechen nicht prognostiziert wird, sondern zu dem der Sprecher sich verpflichtet. Der kulturelle Hintergrund als ein besonderer Kontext neben anderen ist der Bedeutungsebene also nicht äußerlich (im Sinne kultureller Varianten der allgemeinen Regeln des Versprechens), insofern Regeln des Versprechens konstitutive Regeln für eine Praxis sind, die es ohne diese Regeln als solche gar nicht gäbe und die in anderen Kulturen anders aussehen oder vollständig fehlen könnte. Searle unterscheidet zwischen regulativen Regeln, die eine unabhängig von der Regel schon bestehende Praxis normieren, und konstitutiven Regeln, die eine entsprechende »neue« sinnvolle Praxis überhaupt erst »kreieren und definieren« (Searle 1992: 33). Die Regeln des Schachspiels (ein bei Wittgenstein beliebtes Beispiel) regulieren nicht ein bestehendes Spiel, sondern sie definieren zuallererst den Handlungsraum, in dem man einen »Springer« ziehen und damit – wenn es gut läuft – unwiderstehliche Drohungen auf bauen kann (»Figurengabel«). Vor allem die offensichtlich tragende Kategorie des »Hintergrundes« rückt die sprachpragmatische Analyse in die Nähe hermeneutischer Positionen, für die eine Bedeutungstheorie immer die Dimension des Sinnverstehens bezogen auf die untilgbare Abhängigkeit der Bedeutung von umfassenden Horizonten einschließt. Mit der Pluralität der Hintergrundstrukturen tritt ein Moment der Kontingenz in Erscheinung, das relativ zum Grad der Differenz zwischen alternativen kulturellen Kontexten und Praktiken mehr oder weniger relevant wird, und dies hat Konsequenzen für den Geltungs- und für den Universalitätsanspruch einer sprachpragmatischen Theorie und Forschung.
IV. K onte x tualität und U niversalität Wenn die zentrale Rolle der kontextspezifischen, partikularen Verwendungsweisen von sprachlichen Ausdrücken hervorgehoben wird, dann bedeutet das auch, dass gehaltvolle Aussagen über sprachliche Regeln eine praxisnahe Rekonstruktion komplexer Netze von Praktiken und Hintergrundannahmen bzw. impliziten Gewissheiten der Sprecher erfordern. Genau diesen Weg hat die »ordinary language philosophy« von J.L. Austin und G. Ryle eingeschlagen, die nun nicht mehr allgemeinen Bedeutungen und Regeln, sondern konkreten
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Gebrauchsweisen auf der Spur sind, über deren Verallgemeinerbarkeit aus der Analyse konkreter Kontexte allein wenig gefolgert werden kann. Die Abhängigkeit der Bedeutung vom kontingenten Hintergrundwissen von Sprecher und Hörer drückt sich vor allem darin aus, dass das konkrete Bedeutungsverstehen in Interaktionen von Präsuppositionen und impliziten Ergänzungen abhängig ist, die nicht mehr aus der allgemeinen (kontexttranszendierenden) logischen Struktur der Sprache bzw. einzelner Sätze oder Satzpartikel herausgelesen werden können. Ein etabliertes Schlüsselkonzept, das aus dieser Beobachtung die Konsequenz zieht, ist das Prinzip der »pragmatischen Inferenz«. In der Theorie und Analyse der »konversationalen Implikaturen« (Grice 1975, 1978) geht es um die indirekt mitgeteilte und verständliche Bedeutung von Äußerungen, die sich von dem wörtlich Gesagten (der dem Ausdruck oder den in einem Satz verbundenen Ausdrücken semantisch inhärenten Bedeutung) unterscheidet, durch dieses wörtlich Gesagte aber »impliziert« wird.21 Die Beziehung zwischen einer einzelnen Äußerung und all ihren Implikationen, den indirekt mitgeteilten Aufforderungen, Unterstellungen etc., folgt nicht einer universalen logischen Struktur, der die Hörer einer Äußerung auf den Wegen logischer, etwa deduktiver oder induktiver Inferenzen nachgehen, sondern sie sind vom Einzelkontext und den besonderen etablierten sprachlichen (und nicht-sprachlichen) Routinen einer Sprachgemeinschaft abhängig. Die »Schlussfolgerungen« von einer wörtlichen Bedeutung auf alle möglichen relevanten Implikationen sind darum »pragmatische Inferenzen«, die nicht »[…] für semantische (d.h. den Wort-, Ausdrucks- und Satzbedeutungen zugehörig) gehalten werden (können), weil sie fest auf gewissen kontextuellen, die Kooperativität der Kommunikationsteilnehmer betreffenden Annahmen basieren und nicht in der Sprachstruktur der Sätze, die ihre Entstehung verursachen, eingebaut sind« (Levinson 1994: 169).22 Radikalisiert hat den Gedanken, dass selbst die schein21 | Eine knappe Erläuterung gibt Richard A. Wright: »Konversationale Implikatur heißt im Prinzip, dass eine ›Äußerung‹ im Sinne des Geäußerten eine Sache bedeuten und trotzdem im Sinne des zu Verstehenden eine ganz andere Sache implizieren (oder bedeuten) kann. Konversationale Implikatur heißt etwas meinen, ohne es zu sagen.« (Wright 1993: 390) Die Frage, ob einer mir das Salz reichen könne, fordert eben (meistens) nicht dazu auf, eine deskriptive Aussage über die faktischen Möglichkeiten des Angesprochenen zu geben, sondern impliziert die Bitte, das Salz zu reichen. Der Aufforderungscharakter ist nicht semantisch in der Frage enthalten, sondern ist nur relativ zum Kontext verständlich. Ein Orthopäde könnte in der Tat mit denselben Worten zu einer Beschreibung des Zustandes der Hand auffordern. Bei der Verbindung von Bedeutung und »logischer« Implikation von Sprachhandlungen bleibt dagegen z.B. Hare (1970). 22 | Nichtsdestotrotz ist die Kontextabhängigkeit der Implikationen, die Sprecher und Hörer implizit oder explizit voraussetzen, durchaus als graduell anzusehen. Gerade die
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bar glasklar objektiven Voraussetzungen von Argumenten letztinstanzlich nur auf dem Boden der Konventionen einer etablierten Sprachpraxis (nicht durch objektive Tatsachen oder formallogische Implikationen) als »begründet« gelten können (Wittgenstein 1969). An prägnanten Beispielen wird hier, zugespitzt in der Metapher von Fluss und Ufer der Sprache, die ihren Platz vertauschen können, erläutert, dass analytische Sätze (die traditionell ohne empirischen Gehalt sind, weil die Prädikation nur die Definition – oder gar die »Substanz« des Subjektausdrucks artikuliere) de facto synthetischer Natur sind, weil der Sinn der definierenden Prädikate selbst seine relative Eindeutigkeit aus Konventionen ihres Gebrauchs bezieht, so dass es keine stabile Konstitutionshierarchie zwischen »grammatischen« und empirischen Sätzen geben könne. Die pragmatische Sprachtheorie führt darum aus der universalistischen logischen Analyse und semantischen Theorie einer Philosophie sprachlicher Bedeutung auch in eine empirische, z.B. soziolinguistische Untersuchungshaltung. Neben der Philosophie der normalen Sprache hat sich z.B. die »Konversationsanalyse« als eine empirische Forschungsperspektive entwickelt, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Typen und Basisstrukturen der Gesprächsführung (bzw. der sequentiellen Ordnung von Gesprächen) in lokalen Kontexten zu analysieren (Schegloff, Sacks 1973; Labov 1972).23 Die Konversationsanalyse als Zweig der linguistischen Forschung wurde schließlich adoptiert von der soziologischen »Ethnomethodologie« (Psathas 1979; Garfinkel, Goffman), in der sie im Feld qualitativ-interpretierender Methoden bis in die Analyse kommunikativer Gattungen hineinwirkte (Bergmann 1987; Luckmann 1986). Nichtsdestotrotz wurde in der Tradition der sprachpragmatischen Theorie weiterhin der Akzent auf die universalen Charakteristika des Sprachgebrauchs und die Möglichkeit der Formalisierung von Kommunikationsstrukturen gelegt. Schon Searle war daran interessiert, den Vorstoß Austins in Richtung einer notwendig partikularen Rekonstruktion alltäglicher Sprache(n) vorsorgAnalyse von Präsuppositionen (von stillschweigend mitgemeinten notwendigen Unterstellungen) scheint sich auf relativ kontextneutralem Boden zu bewegen, zeigt aber doch bei näherer Betrachtung ebenso »Kontextempfindlichkeit« (Levinson 1994: 169). Schon für die Struktur der logischen Partikel bzw. »Junktoren« (»und«, »oder«) muss offenbar eine erhebliche Abweichung zwischen einer reinen (formalen) Argumentationslogik und natürlichen Sprachen konstatiert werden (siehe dazu: Cohen 1993). 23 | Der Allgemeinheitsanspruch der konversationsanalytischen Überlegungen changiert dabei zwischen der Angabe allgemeiner Strukturprinzipien der Gesprächsorganisation (Eröffnungen, Abschlußeinleitungen, »Turntaking«) und der Betonung der lokalen Regelung von Gesprächen sowie der Orientierung der Sprecher an einer partikularen Vorstellung der Einheit des Gesamtgesprächs (Levinson 1994: 330), die nicht anders denn als eine narrative Einheit bezeichnet werden kann (durchaus im Sinne von Ricoeur 1988).
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lich »aufzufangen«, und er versuchte, der performativen Dimension einen systematischen Ort innerhalb einer formalisierbaren Theorie der GelingensBedingungen von klar typisierten universalen Sprechakttypen zuzuweisen.24 Das Ziel dieser Strategie besteht darin, die Sprechakttheorie in eine Form zu bringen, die es erlaubt, weiterhin den isolierbaren propositionalen Gehalt einer Äußerung als wahrheitsfunktionales Bedeutungselement und die wörtliche Rede und direkte Sprechakte als Standardfall ausgeben zu können (gegenüber indirekten Sprechakten, die auf das oben genannte Problem der konversationalen – sozial kontingenten – Implikatur verweisen). Metaphern, Ironie, partikulare, weil kontextspezifische Horizonte der Bedeutung können dann als »parasitär« bezeichnet und vom Standardfall aus als Abweichungen und Derivationen analysiert werden (Searle 1992: 78; Searle 1982: 98ff.).25 In diesem Punkt unterscheidet sich die Unternehmung Searles deutlich von anderen Ansätzen, die ebenfalls an Wittgenstein und an Austin mit der Absicht auf eine diesen beiden Autoren gegenüber explizitere Systematisierung anschließen. Zu nennen wären hier Z. Vendler (Vendler 1967) und W.P. Alston, der in seinen Ansätzen zu einer Dialogsemantik (Alston 1964, 1968) die Satzbedeutung als Verwendungspotential für sprachliche Handlungen versteht und damit in stärkerem Ausmaße als etwa Searle an die konkrete Bedeutungsbestimmung in dialogischen bzw. interaktiven Sequenzen bindet.26 Die sprachpragmatische Konzentration auf die nicht-deskriptiven Funktionen der Sprache und des Sprachgebrauchs führte im formalistischen Strang der Sprechakttheorie nicht zu einer Verabschiedung, sondern nur zu einer Erweiterung der Verkoppelung von Bedeutung und Geltung (pragmatisch: von Bedeutungsverstehen und Geltungsrechtfertigung). Auf der Linie der Searle’schen Sprechakttheorie liegt hier vor allem die Formalpragmatik. Unter 24 | Weitergehende Formalisierungen der sprechakttheoretischen »Entdeckung« des Performativen wurden überdies in Gestalt der Münchner Illokutionssemantik (Vennemann, Jakobs 1982) oder einer formalen Semantik »of success and satisfaction«, die die Übersetzung natürlichsprachlicher Sätze in die kanonische und regulierte Notation eines semantischen Formalismus anstrebt (Vanderveken, 1990: 157), vorgelegt. 25 | Besonders deutlich wird diese Strategie Searles am Beispiel seiner Interpretation des Metapherngebrauches. In letzter Instanz bleibt die Bedeutung einer Metapher an die Wahrheitswerte ihrer wörtlichen Paraphrase (von deren Möglichkeit Searle nicht abrücken will) angehängt (Searle 1982: 104). 26 | Die Wortbedeutung ist darum für Alston abhängig von der Illokution, in die die einzelnen Ausdrücke eingebettet sind, so dass »Bedeutungen« in sehr viel stärkerem Maße als für Searle mit dem Wechsel performativer Kontexte schwanken (Alston 1964: 36f.). Für das formalisierende Bestreben einer Sprechakttheorie im Searleschen Sinne stellt genau dieses Zugeständnis an einen bedeutungstheoretischen Kontextualismus dann eben einen problematischen Zug dar (vgl. Gloning 1996: 138f.).
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diesem Titel haben Karl Otto Apel und Jürgen Habermas eine ausgefeilte Vermittlung zwischen dem »pragmatic turn« in der Sprach- und Bedeutungstheorie und einer universalistischen praktischen Philosophie entwickelt. Die Interpretation des pragmatischen Motivs, die Apel und parallel Habermas (Apel 1973; Habermas 1981) vorgeschlagen haben, konzentriert sich auf die Möglichkeit, die Konventionalität der Grammatik des Sprachgebrauchs durch Formalisierung auf Universalien der Kommunikation zuzuspitzen. Die Sprachpragmatik von Austin und Searle wird dabei (neben anderem) eingespeist in eine diskurstheoretische Neuinterpretation einer deontologischen Moraltheorie. Das kommt in unserem Zusammenhang einer universalistischen Abwendung kontextualistischer Konsequenzen der Gebrauchstheorie der Sprachbedeutung gleich. Die Theorie der performativ-propositionalen Doppelstruktur von Sprechakten erlaubt zweierlei: Erstens Wittgensteins Überlegungen zu den Regeln des Sprachgebrauches als konventionalisierte performative Regeln des Sprachhandelns zu systematisieren; zweitens diese Systematisierung in die universalistisch verstandene Trias von Geltungsansprüchen und drei fundamentalen Sprechaktklassen zurückzubiegen. Dann sind sprachliche Normen sowie Handlungsnormen zwar partikulare Konventionen und performative Regeln: Die Normen bestimmter Sprachhandlungstypen können als Katalysatoren sozialer Bindungskräfte analysiert werden. In der pragmatischen Bedeutung eines Versprechens z.B. sind soziale Verpflichtungen hinterlegt, die derjenige eingeht, der jemandem ein Versprechen gibt. Die formalen Reziprozitätsbedingungen, die etwa in der kommunikativen Verständigungsform impliziert sind, sollen aber universal sein, und d.h., jeden partikularen Kontext und die Provinzialität einer sozialen Lebensform transzendieren (Habermas 1981, 1983). Wenn also die Sprachpragmatik mit Austin, Ryle und Wittgenstein auf die Partikularität des Hintergrundwissens einer konkreten Sprachgemeinschaft gestoßen ist, sich damit im Prinzip der kontextualistischen Einschätzung der Geltung konkreten Sprach- und Weltwissens angenähert hat,27 so hält doch die Formalpragmatik dafür, dass die Form des dialogischen Sprachgebrauchs universale – vor allem mit Bezug auf interpersonale Obligationen: universale moralisch praktische – Züge trägt. Bedeutungsverstehen ist zwar jeweils eingebettet in konkrete Kontexte, doch schon die Teilnehmerperspektive von Sprecher und Hörer ist selbst über die Verknüpfung von sprachlicher Bedeutung und idealiter universaler, diskursiver Einlösung von Geltungsansprüchen auf kontexttranszendierende Bedeutungsintentionen ausgerichtet. Die kulturelle Partikularität von Sprachgemeinschaften ist dann, bezogen auf Form und Inhalt, von relativistischen 27 | Hier wäre an das sprachliche Relativitätsprinzips von Benjamin Lee Whorf (Whorf 1986) zu erinnern, oder aber der Neopragmatismus Richard Rortys zu nennen (Rorty 1989).
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Konsequenzen befreit. Denn erstens teilen alle offensichtlich verschiedenen Sprachen formale Grundstrukturen der Kommunikation und zweitens nimmt das Hintergrundwissen der Angehörigen einer partikularen Lebensform die Form prinzipiell propositionalen, explizierbaren, damit rationalisierbaren und in Verständigungsprozessen restlos repräsentierbaren Wissens an.28 Das Hintergrundwissen der Sprecher und Hörer ist im Prinzip explizites – bloß unthematisches – Sprach-, Welt- und Regelwissen. Einen wesentlichen Bestandteil dieser Begründungskette stellt Searles »Principle of Expressibility« dar (Searle 1992: 19f.): Was gemeint werden kann, muss gesagt werden können. Die Sprache holt im Zuge der Reflexion, und d.h. dann der Rekonstruktion, die notwendige Präsuppositionen analysiert, das diffuse Sprach-, Welt- und Regelwissen, über das die Sprecher oder Teilnehmer verfügen, ein und kann gültige Explikationen des impliziten Wissens liefern. Daraus wird – vor allem bei Apel – das Prinzip der Selbsteinholung der Sprache. In der »Selbstaufstufung« des Diskurses im Zuge iterierter Reflexionen gelangt die Sprachpraxis zu gültiger Selbstausweisung.29 Auf diese Weise versucht Apel, das Programm einer transzendentalen Philosophie mit der Wittgenstein’schen Gebrauchstheorie der Sprache und seinem bedeutungsholistischen Welterschließungskonzept zu versöhnen.
V. K ulturelle P lur alität und implizites H intergrundwissen Das Problem der Einheit und der Analyse kultureller Sprachgemeinschaften wird von dieser universalpragmatischen Strategie mit Rücksicht auf den Übergang zwischen impliziten sprachlichen und praktischen Routinen und ihrer explizierenden Reflexion jedoch unterschätzt. Die pragmatische Bedeutungstheorie hatte sich bei Wittgenstein, Ryle und Austin der Überzeugung angenähert, dass das Bedeutungsverstehen auf einem Wissen der Sprecher und Hörer beruht, das – obwohl qua Konventionalität hinreichend übereinstimmend – praktisches, d.h. in einem starken Sinne implizites Wissen ist. Das bedeutet, 28 | Hierfür steht die Habermas’sche Interpretation des »lebensweltlichen« Hintergrundwissens (Schütz), das nach Habermas in actu der Kommunikation zwar notwendig unthematisch, trotzdem aber gültig explizierbar ist, weil es immer schon eine (kognitiv und diskursiv kompatible) propositionale Form haben müsse (Habermas 1981, II: 190ff.), denn nur dann könnten kulturelle und praktische Konventionen Gegenstand postkonventioneller Aushandlungs- und Rechtfertigungsdiskurse sein. 29 | Und dies ist schließlich die Grundlage der Habermas’schen Einschätzung, dass kulturelle Lebensformen im abstrakt formalen Medium des Rechts adäquat repräsentiert werden können.
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dass es sich hier um ein Wissen handelt, das eher in den Bereich der Fertigkeiten, der routinisierten, habitualisierten und prinzipiell nicht explizierbaren Anwendung von Konventionen, Normen und Regeln fällt. William James hatte bereits zwischen »knowledge about« und »knowledge of acquaintance« unterschieden und die letztgenannte Form über die mögliche Unfähigkeit definiert, über das hierbei Gewusste explizit etwas sagen zu können (James 1950: 221ff.). Die pragmatistische Einsicht, dass das Handeln und die Handlungsfähigkeit dem Denken und der kognitiven Explikation vorausgehen, fand entsprechend sowohl bei Dewey als auch bei Heidegger ihren Ausdruck in der Abgrenzung des praktischen Wissens vom expliziten (auf Nachfrage angebbaren) Wissen über Dinge oder über Regeln, denen das eigene situationsangemessene Handeln »folgt«. Darum ist es für die sprachpragmatische Analyse kulturellen Hintergrundwissens von besonderer Bedeutung, welchen Status sowohl bei Wittgenstein als auch bei Austin nun jene Regeln haben, die die Bedingungen der Verständlichkeit und des Gelingens von Sprechakten bestimmen. Austin und Wittgenstein legen beide auf unterschiedliche Weise Zeugnis dafür ab, dass die Rekonstruktion von Regeln des Sprechens und Handelns in expliziter Form den besonderen Modus habituellen Hintergrundwissens verfehlt. Und soweit unterfüttert der Ertrag dieser Linie der sprachpragmatischen Reflexion zunächst den für die oben angesprochene »Praxeologie« so wertvollen Gedanken Bourdieus, dass die »Logik der Praxis« sich der Darstellung in der Sprache der Praxis der Logik entziehen muss. Schon die sprachpragmatische Tradition ist also auf einen Kernbestand der modalen Besonderheit des Wissens gestoßen, das für kulturelle Sprachgemeinschaften eine konstitutive Rolle spielt. Diese Besonderheit liegt in der notwendigen Beschränkung bzw. Selektivität jeder möglichen expliziten Repräsentation dieses Wissens. Und diese Notwendigkeit (der Beschränkung) liegt wiederum begründet in der Unverzichtbarkeit des praktischen Wissens für die Konstitution und Reproduktion einer kulturellen, wie einer sprachlichen Praxis. Davon sind des Weiteren der praktische wie der epistemische Übergang zwischen unterschiedlichen Lebensformen (oder praktischen Kontexten) betroffen, und mutatis mutandis schließlich auch die (kultursoziologische) Möglichkeit der konkreten Bestimmung und Beschreibung der Einheit einer Lebensform. Denn diese Einheit liegt auf der Ebene des impliziten Sprach- und Handlungswissens, das nicht ohne Verluste in den Modus expliziten Regelwissens überführt werden kann (Schneider 1991, 2000). Entscheidend ist der implizite Charakter des Wissens von den innerhalb einer besonderen Lebensform konstitutiven Regeln. Denn schon deren Anwendung sowie die Fähigkeit, zwischen korrekter Regelfolge und einem Regelverstoß zu unterscheiden, macht zwingend einen Sinn für Angemessenheit zur Voraussetzung halbwegs fort-
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setzbarer (Sprach-) Praxis, und dieser Sinn für Angemessenheit kann selbst nicht explizit »reguliert« werden. Das dieser Kette von Folgerungen zugrunde liegende Argument ist weit bekannt, und es wurde weiter oben bereits sinngemäß aufgerufen; es wird von Wittgenstein vorgetragen mit Verweis auf die Paradoxie eines nur vermeintlich abschließbaren Regelregresses bei dem Versuch, die Anwendung der Regel »genau« zu regeln. Wenn die korrekte Befolgung und Beurteilung einer sprachlichen und einer Handlungsregel restlos durch explizite Kriterien angemessener Regelfolge bestimmbar sein könnte, dann würde dies die Formulierung einer Anwendungsregel erzwingen, die für alle möglichen Fälle eindeutig definieren könnte, »wie« (und auch »wann genau«) in concreto die explizite Regel angewendet werden müsste. Aber nun bedarf die Anwendungsregel einer weiteren Regel ihrer eigenen Anwendung. Und diese Aufstufung von Regeln liefe ohne Abschluss in eine unendliche Iteration. Nun laufen Praktiken aber nicht generell und ausnahmslos ins Leere. Sondern »in der Regel« ist implizit geregelt, was (ungefähr, hinreichend genau, unscharfe Toleranzgrenzen einschließend) z.B. gemeint ist, wenn mir gesagt wird: »Stelle Dich genau hier hin« (eines der Beispiele Wittgensteins). Die Anwendungssicherheit muss darum auf einen impliziten Sinn für Angemessenheit gestützt sein (was empirisch sofort einleuchtet), so dass die Einheit der »Grammatik« einer Lebensform (Wittgenstein) in der Übereinstimmung des impliziten Sprach- und Handlungswissens der Angehörigen einer Sprachgemeinschaft begründet liegt. Einzelne Handlungen und die darauf bezogenen Interpretationen (auch: normative Stellungnahmen) der Beteiligten folgen dann unscharfen Regelmäßigkeiten. In der Sprache Wittgensteins stehen einzelne Handlungen zwar im Horizont der Regelmäßigkeiten, die die Einheit eines Sprachspiels (oder eines komplexen Netzes von verwobenen Sprachspielen) tragen; die Beziehung der einzelnen Fälle zu anderen Fällen »derselben Regel« entspricht jedoch nicht der Subsumtion verschiedener Fälle unter eine ihnen gemeinsame abstrakte Kategorie, sondern sie stehen untereinander in einem Verhältnis der Familienähnlichkeit. Die Regeln des Sprechens und Handelns müssen unscharf sein, d.h. ohne klare Kriterien und Definitionen auskommen, die zwischen regelkonformen und abweichenden Handlungen zu unterscheiden erlauben, weil nur so die vielen interaktiven, praktischen Anwendungen von Regeln, Normen, Konventionen in wechselnden Situationen und angesichts mannigfaltiger subjektiver Abweichungen und Unberechenbarkeiten zu relativ erwartungsstabilen Handlungszusammenhängen verknüpft werden können. Damit gerät die sprachpragmatische Überlegung nun ganz offensichtlich in nächste Nähe zur soziologischen Handlungstheorie, nicht ohne systematischen Grund vor allem zu Bourdieus Beschreibungen der »praktischen Logik«
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(Bourdieu 1979).30 »Akteure« richten sich in ihrem Sprechen und Handeln nicht an expliziten Regeln aus, so als sprächen sie sich zuerst Regeln vor und leiteten aus ihnen dann deduktive Schlüsse ab, um aufgrund dieser Schlüsse »Einzelhandlungen« auszulösen. Eher folgen und vertrauen sie im Sinne Gilbert Ryles ihren komplexen Dispositionen.31 Die Stabilität der Praxis und der Sprachpraxis innerhalb einer Lebensform folgt aus der Übereinstimmung der pragmatischen Dispositionen oder des »Habitus« der Angehörigen; und sie sind auf vorsprachlicher prä-expliziter Ebene in den gemeinsamen Praktiken oder pragmatischen Routinen verankert.32 Darum bedeutet eine Sprache vorstellen, sich eine ganze (und nicht nur eine sprachliche) Praxis vorstellen. Die Sprachpragmatik ist unter den genannten Voraussetzungen also ganz ausdrücklich eine theoretische Strategie, die nicht-sprachliches Handeln nicht auf sprachliche Repräsentation zu reduzieren empfiehlt. Ganz im Gegenteil erklärt sie die effektive Koordinierung sprachlichen und nicht-sprachlichen Handelns innerhalb kultureller Lebensformen aus dem wiederholten, routinisierten, aber stets wieder varianten Ineinandergreifen von kooperativem Handeln in der geteilten (»zuhandenen«) Umwelt und sprachlichen Äußerungen. Der implizite Charakter des dabei in Gebrauch genommenen Wissens der Akteure ist keineswegs trivial. Denn das implizite Wissen stellt keine bloße Abkürzung expliziten Wissens, keine sekundäre Sedimentierung von zuvor formal geregelten oder explizit organisierten Praktiken (z.B. von Techniken und Ritualen mit scharfen Abweichungs-Intoleranzen) dar. Das Entscheidende an der impliziten Gestalt des Wissens ist, ganz im Gegensatz zum von Searle formulierten »Principle of Expressibility«, dass dieses konstitutive Wissen, um 30 | Das ist nicht übermäßig überraschend, zumal Bourdieu sich selbst hinreichend deutlich auf das Problem der Regelfolge in sprachphilosophischer Bearbeitung berufen hat. Ein weiterer Sympathisant dieser Tradition ist Anthony Giddens. Vgl. zu dessen Aufnahme der Wittgenstein’schen Reflexionen über das Regelfolgen: Giddens 1997: 69ff. 31 | Komplexe Dispositionen zeichnen sich gegenüber einfachen Dispositionen dadurch aus, dass sie eine ganze Sprachpraxis appräsentieren und darum keine einstellige Reiz/Reaktions-Beziehung darstellen (Ryle 1949: 116f.). Deshalb schließen sie das Moment der Spielräume individuellen Handelns auf der Basis kollektiv geteilter Dispositionen, das z.B. Kenny (1975) kritisch gegen den Ryle’schen Dispositionsbegriff vorgebracht hat, durchaus mit ein. 32 | Es ist darum auch gar nicht nötig, gegen das deduktive Schlussmodell, das Handlungen mit Schlussfolgerungen aus allgemeinen Regeln identifiziert (Wright 1984), sogleich das viel zitierte Modell der Abduktion zu bemühen. Denn »Akteure« sind nicht meistens und nicht einmal oft auf der Suche nach »neuen Regeln«, sie handeln und sprechen einfach – und d.h. auch, dass sie nicht permanent an einer umwälzenden »Strukturation« beteiligt sein müssen (Giddens 1997), zunächst und zumeist tun sie eben, was gerade (anscheinend) getan werden muss.
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seine Aufgabe zu erfüllen, unformulierbar sein muss. Das liegt systematisch schon darin begründet, dass eine Fokussierung des Wissens auf dem Wege der Explikation am Ende, d.h. bei der »Nutzung« dieses Wissens wieder neues »know-how«, nämlich das implizite Wissen, wie das explizite Wissen in concreto angewendet werden muss, erforderlich macht.33 Soziales Handeln greift immer auch auf implizites Wissen zurück, denn explizites Wissen allein kann das konkrete Handeln nicht anleiten. Das Wissen, wie man etwas macht, wie wir, die Angehörigen einer Sprachgemeinschaft handeln, enthält notwendig mehr als nur das, was man sagen, ausdrücken und explizieren kann. Folglich kann die explizite Angabe von konstitutiven Regeln einer Praxis den Charakter, die Innenperspektive und die feingesponnenen Netze kultureller Bedeutungen von praktischen Kontexten (kulturellen Lebensformen) nicht vollständig und nicht neutral repräsentieren. Zumindest nicht in dem Sinne, dass solche Regelformulierungen, die – gemessen an kontrollierbaren Rekonstruktionen – auf Praktiken und praktische Kontexte »passen«, tatsächlich das zum Ausdruck bringen, was die Praxis faktisch »anleitet«.34
VI. I nkommensur abilitätsverdacht Bedeutet aber nun diese schärfere Fassung des Begriffs des impliziten Wissens, d.h. die notwendige Nicht-Substituierbarkeit impliziten bzw. praktischen Wissens durch explizit-propositionales Wissen in der faktischen Interaktion, dass die sprachpragmatische Kultursoziologie jede Strukturkategorie im Sinne der praxeologischen Interpretation des so genannten »cultural turn« entzaubern und preisgeben sollte? Sind allgemeine, situations-transzendente Strukturen sowie die expliziten, und also gegenüber Anwendungsereignissen generalisierten und typisierten Regelartikulationen dann nichts als verzerrende Rekonstruktionen der faktischen Praxis? Das »juridische Vorurteil«, auf das 33 | Das ist die Pointe, die die Beschreibung des impliziten Wissens bei Michael Polanyi (1985: 25ff.) hat. 34 | Der Gedanke, dass Regelformulierungen in expliziter, definierter Form die praktische Logik und die praktische Einstellung der Angehörigen einer Kultur verzeichnen (können), ist mittlerweile weit verbreitet. Bourdieu (Bourdieu 1979: 162) bezieht sich auf Quines Unterscheidung zwischen einerseits Regeln, die auf ein beobachtbares Verhalten »passen« (Beschreibung) und andererseits solchen Regeln, die das Verhalten faktisch anleiten (Praxis) (Quine 1972). Ein verwandter Gedanke findet sich auch bei Strawson: »We do not generally (in ordinary speech) draw up rules and make our practice conform to them; it is rather that we extract the rules from our practice, from noticing when we correct one another, when we are inclined to say that something is inconsistent, and so on« (Strawson 1952: 10).
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sich Bourdieu kritisch bezieht, ist jedoch selbst Ausdruck einer sozial etablierten, nun allerdings explizit und diskursiv verfassten Praxis. Und es muss als solches, bei aller Fundierung der diskursiven Modalität der Regelartikulation (Kodifizierung bei Bourdieu) in der Praxis, als eine reale, soziale Institution mit realen Folgen für die performative Kultur verstanden werden. Überdies wüssten wir von der Rolle des impliziten Wissens und von der Differenz zwischen performativer Kultur und (theoretisch) explizitem kulturellem Wissen (inklusive propositionalem Regelwissen) schlechthin nichts, wäre nicht der sozial etablierte Kontrast zwischen expliziten Regeln und implizit regulierter Praxis selbst praktisch auffällig und seinerseits in eine explizite Rekonstruktion, d.h. eben auch in einen expliziten Begriff des impliziten Wissens, übersetzbar. Regeln des Handelns und Sprechens sind also zwar als handlungseffektiv wirksame Bestimmungen von Anschluss-Selektionen an einer bestimmten Stelle, im Moment der faktischen Selektion, notwendig gegeben im Modus der implizit strukturierten unscharfen Praxis, aber erstens müssen sie der Möglichkeit nach auch als explizite Regeln artikulierbar sein, um dann wieder in die Praxis »übersetzt« werden zu können, so dass das Regelfolge-Problem überhaupt zum Problem der Regel-»Folge« wird (Renn 2006: 443ff.). Zweitens muss der entsprechende Kontrast zwischen explizitem und implizitem Wissen bzw. zwischen performativer und expliziter (explizierter) Kultur etabliert und erfahrbar sein, damit die primäre Modalität performativer Kultur überhaupt reflexiv explizierbar wird. Und drittens erklärt nur die dieser Explikationsmöglichkeit zugrunde liegende Potentialität der performativen Kultur, selektiv aber explizit artikuliert zu werden, dass die erheblichen Kontraste zwischen differenten performativen Kulturen und zwischen Formen der Kultur nicht durch die unerkannte Inkommensurabilität zwischen praktisch verankerten Lebensformen jede dezentrierende Erfahrung der kulturellen Alterität verhindert, so dass jene Differenz schlicht unsichtbar bliebe. Eine »praxeologische« Theoriebildung ist als explizierende Bezugnahme auf die Praxis selbst »Theorie«, und sie ist deshalb ihrerseits soziostrukturell wie epistemologisch auf die faktische Differenzierung zwischen (performativen und expliziten) Formaten der »Kultur« angewiesen. Insofern bezeugt die Praxis-Theorie ironischerweise performativ, dass die sozialen Formen der Handlungskoordination eben nicht auf den Modus der Praxis, den die Praxistheorie rekonstruiert, beschränkt werden können. Grundlegend für diesen Zusammenhang ist für die Theoriebildung zunächst, dass konstruktivistische oder relativistische Auslegung der Kontextabhängigkeit der Regelbedeutung für das soziale und das soziologische »Kulturverstehens« inkonsistent ist. Für die Möglichkeit einer »Theorie« der Praxis ist die Verbindung zwischen den Verständlichkeits- und Gelingens- bzw. Erfüllungsbedingungen von Sprachhandlungen und dem Horizont- bzw. Kontextbegriff, die die Sprach-
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pragmatik untersucht, von großer Bedeutung. Denn die implizite Modalität des (sprach-) praktischen Wissens stellt eine Herausforderung für interkulturelle und wissenschaftliche Bemühungen um die Repräsentation »fremder« kultureller Einheiten dar. Das gilt wenigstens dann, wenn die rekonstruktive Explikation impliziten kulturellen Wissens als eine kontingente, verzeichnende und assimilative Objektivierung angesehen werden müsste. Für die kultursoziologische Perspektive ist der Gegensatz zwischen einer formalen Pragmatik und einer konkreten Rekonstruktion von partikularen impliziten Hintergrundstrukturen von Lebensformen doppelt relevant: erstens für das Problem sozialen interkulturellen Verstehens und zweitens für die Methode wissenschaftlicher Interpretation von kulturellen Kontexten. Denn an der Option für oder gegen eine formalistische Version der Pragmatik hängt die Herausforderung relativistischer oder kulturalistischer Positionen. Wenn der Hintergrund, der eine Lebensform oder eine kulturelle Gemeinschaft vereint, als Syndrom notwendig impliziten Wissens (im oben angedeuteten starken Sinne) erklärt wird, scheint die sprachpragmatische Verwendung des Kulturbegriffes auf eine kontextualistische (bzw. relativistische) Position zu verpflichten. Denn die transitorische Einheit eines kulturellen Kontextes, der vor allem auf der Basis impliziten, geteilten Hintergrundwissens zusammengehalten wird, reproduziert sich dann in der Interaktion der Zugehörigen zu der entsprechenden kulturell verbundenen Praxisgemeinschaft. Das Sprachspiel der Lebensform (bestehend aus verwobenen einzelnen Sprachspielen) bedarf keiner Umwege über explizite Regelformulierungen,35 sondern setzt sich fort im Medium der implizit verbleibenden Normativität der Hintergrundeinstellungen aller Angehörigen.36 Regeln und Normen gelten dann in der Innenperspektive der Angehörigen einer Lebensform nicht etwa auf der 35 | Weil implizites Wissen nur praktisch erworben und weitergereicht werden kann, in der Form der Einsozialisation von praktischen Routinen, nicht aber über eine Pädagogik der Vermittlung expliziter Normen und Regeln. Darauf bestehen sowohl Bourdieu (1979), als auch Ryle (1949) und schließlich Wittgenstein, der in seinen Analysen des Regelfolgens stets auf die problematische Metapher der »Abrichtung« zurückgreift (zur diesbezüglichen Unterscheidung zwischen einem ontologischen, logischen und einem methodologischen Behaviourismus siehe Glock 2001: 13ff.). 36 | Damit ist an die verkürzende Alternative zwischen einer kognitivistischen Konzeption der Regelorientierung von Akteuren und einem bloßen Behaviourismus erinnert. Das implizite Wissen entspricht keiner Ausrichtung an ausdrücklichen Regeln, Normen und Maximen, es fällt dadurch aber nicht in den Bereich bloßen Verhaltens, sondern schließt bereits eine normative Attitude der Handelnden gegenüber Zügen im Sprachspiel ein, siehe zum Modell einer basalen Normativität im Modus impliziter Regelsicherheit (die sich z.B in praktischen Sanktionen und nicht in kritischen Stellungnahmen, die Geltungsansprüche thematisieren, ausdrückt): Brandom, 1994.
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Basis diskutabler und rechtfertigungsbedürftiger Begründungen, sondern sie verbleiben im Modus des »taken for granted« (Schütz), allein schon, weil sie eine quasitranszendentale Funktion als konstitutive (den Handlungsraum erschließende) Regeln haben, und weil sie um der Anwendungssicherheit willen auf den Modus der impliziten Gewissheit (anstelle rationaler Geltung) angewiesen sind. Dieses Modell hat aber die problematische Konsequenz, dass sowohl das Verständnis als auch eine (kritische) Bewertung einer kulturellen Lebensform in adäquater Weise dann ausschließlich aus der Innenperspektive einer Angehörigen dieser Lebensform zu erreichen wäre. Der diesem Modell inhärente bedeutungsholistische Zug kann darum so gelesen werden, dass kulturell voneinander abweichende Einzelsprachen (und praktische Sprachspiele) gegenseitig inkommensurabel sind. Diese Lesart legt den Wittgenstein’schen Satz, dass die Grenzen meiner (unserer) Sprache, die Grenzen meiner Welt seien, so aus, dass die Differenz zwischen kulturellen Lebensformen nicht in einem schwachen Sinne als Unterschied zwischen alternativen Artikulationen der praktischen Erfahrung einer gemeinsamen objektiven Welt, sondern in einem starken Sinne als Differenz zwischen alternativen Welten zu verstehen sei. Die bedeutungstheoretische Betonung holistischer Vokabularien bei R. Rorty (1989) oder widerstreitender »Regelsysteme« bei J. F. Lyotard (1989: 57ff.) setzt sich ab von der traditionellen Vorstellung, der Streit zwischen konkurrierenden Beschreibungen der Welt (und theoretischen Abstraktionen) könnte anhand neutraler Kriterien oder eines objektiven Vergleichs zwischen dem zu Beschreibenden und den Beschreibungen entschieden werden.37 Die so genannte postempiristische Wissenschaftstheorie (Kuhn 1979) stürzt auch die teleologische Variante eines epistemischen und ontologischen Optimismus in Zweifel: die Vorstellung einer allmählichen Approximation an die eine richtige Beschreibung,38 auf deren Weg falsche Repräsentationen und Repräsentationssysteme ausgeschieden werden und verträgliche aber alternative Beschreibungen »in the long run« konvergieren. Kuhn brachte – als Wissenschaftshistoriker – überzeugende Argumente ins Spiel, die die Trennung zwischen »context of discovery« im Sinne externer Bedingungen der Erkenntnis und »context of justification« als interne Bedingungen der Erkenntnis und der Geltung von Theorien und wissenschaftlichen Beschreibungen unterminierten. Die Plau37 | Von wo aus – so das Argument – sollte ein solcher Vergleich vorgenommen werden, wenn wir nicht über einen »god’s eyes view« verfügen? 38 | Die man mit Peirce’s Begriff der »ultimate opinion« der scientific community gleichsetzen kann, wobei z.B. Habermas und Apel mit ihrer Anlehnung an das Peirce’sche Konzept nicht an eine empirische Teleologie der Wissenschaften denken, sondern ausdrücklich von einer regulativen Idee (die nach Kant niemals »realisiert« (Gegenstand der Erfahrung) sein kann) sprechen.
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sibilitätsbedingungen von wissenschaftlichen Erkenntnissen sind nicht unabhängig von den vermeintlich externen Umständen des konkreten (kulturellen) Kontextes, in dem rationale Argumentationen situiert sind. Dieser erkenntnistheoretische Kontextualismus steht in Verbindung mit einer kulturanthropologischen Relativierung des universalistischen und teleologischen Vernunftbegriffs. So wie der Kuhn’sche Paradigmenbegriff in die Idee der Einheit der wissenschaftlichen Rationalität das Moment der historischen Kontingenz von Kontexten der Plausibilität eingebracht hat,39 führten Untersuchungen wie etwa jene, eingangs schon erwähnte, von Evans Pritchard über die besondere Rationalität der Zande (Evans-Pritchard 1988) zu einer Relativierung des universalistischen und teleologischen Modells der Ethnologie, demzufolge die kognitiven Muster, die Riten und Handlungsweisen geringer differenzierter Kulturen oder Ethnien als ein »primitives« Denken galt, als Beispiel für eine »frühere« Phase, eine Vorstufe auf der Linie des kulturellen Fortschritts, deren telos die eigene, okzidentale Rationalität sei (Lévy-Bruhl 1926; Hallpike 1990; Moscovici 1991). Von dieser selbstkritischen Relativierung einer universalistisch gemeinten Projektion der »eigenen« Rationalitätsstandards führt der Weg bis zur ausdrücklichen Verdächtigung jeder ethnographischen Beschreibung als assimilative und ethnozentrische Repräsentationstechnik (Clifford, Marcus 1986). An die Stelle einer einheitlichen Rationalität und der unproblematischen Repräsentation von sprachlicher Bedeutung in speziellen Kontexten tritt auf mehreren Wegen die Vorstellung kontingenter Diskursuniversen, Epistemen, Vokabularien. In der kontextualistischen Strömung wird auf diese Weise die Einsicht älterer Sprachtheorien, dass die Sprache eine »welterschließende« (nicht einfach ‑abbildende) Kraft habe (Taylor 1985) konstruktivistisch vereinseitigt.40 Auf dieser Basis können der Zugang, die Bewertung und die Repräsentation einer Kultur von außen schlichtweg nicht gelingen, oder aber wären nichts als ethnozentrische (oder auch: »systeminterne«) Projektionen. Hier also zeigen sich in zugespitzter, gleichsam extremer Akzentuierung die normativen Rückwirkungen der sprachpragmatischen Perspektive auf das erkenntnistheoretische und methodologische Selbstverständnis der Kulturwissenschaften. Die (wissenschaftliche) Explikation impliziten kulturellen Wissens wird 39 | Wie vor ihm allerdings auch schon andere. In die hierbei zentrale Debatte über »Basis«- oder »Protokollsätze«, die neutrale Beschreibungen von Tatsachen bieten sollten, gehört das Argument der unvermeidlichen Sprach-, Kontext- oder eben auch Vorurteilsabhängigkeit von vermeintlich reiner Erfahrung. Dazu hatte bereits Ludwig Fleck wesentliche Einsprüche vorformuliert (Fleck, 1983). 40 | Vereinseitigt, weil die sprachliche Welterschließung sich zwischen Erfindung und Entdeckung bewegt.
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im Kontext postkolonialer Kritik am Ethnozentrismus schließlich unter den Verdacht der imperialistischen Versagung der Anerkennung von Alterität gestellt (Said 2001). Allerdings muss auch die scharfe Betonung des Abstandes zwischen praktischem Wissen und seiner expliziten Rekonstruktion (als problematischer Repräsentation) nicht notwendig diese kontextualistische Folgen haben. Trotz aller Inkohärenzen eines radikalen Relativismus ist die selbstkritische Problematisierung der Explikation impliziten Wissens kaum hintergehbar. Eine pragmatistische Kulturtheorie (und -wissenschaft) muss und kann aber methodisch zwischen den Polen eines ideologischen Objektivismus und der relativistischen und immanentistischen Perspektive hindurchsteuern.
VII. M e thodische und normative K onsequenzen für die K ultursoziologie Dazu muss eine pragmatische Kultursoziologie mindestens die folgenden Zusammenhänge genauer analysieren: (1) die pragmatische Basis des Kulturverstehens, (2) den spezifischen Charakter der Explikation von Regeln und Bedeutungen mit Bezug auf die Prozesse der Abstraktion und der Rationalisierung kulturellen Wissens, schließlich (3) als besonderen Fall den kultursoziologischen Übergang zwischen impliziten kulturellen Hintergrundhorizonten und ihrer explizierenden Rekonstruktion im Spannungsfeld zwischen Erkennen und Anerkennung. (1) Das Verstehen einer Kultur im Sinne der Explikation des immanenten impliziten Hintergrundes – sowohl innerhalb dieser Kultur (Rationalisierung, Postkonventionalisierung) als auch zwischen Kulturen (Interkulturalität und Kulturvergleich) – findet seine Grundlage und Voraussetzung in einem Modell der pragmatischen Übersetzung. Das bedeutet, dass das tertium comparationis, das den Übergang zwischen kulturellen Lebensformen und Sprachen ermöglicht, als ein gemeinsamer praktischer Kontext, in dem sich Praktiken unterschiedlicher Sprachspiele treffen, verstanden werden kann. Wittgenstein selbst hat Hinweise hinterlassen, die an der Inkommensurabilität zwischen Lebensformen zweifeln lassen. Es ist das »gemeinsame menschliche Handeln«, das für Wittgenstein das tertium comparationis zwischen Lebensformen darstellt (Wittgenstein 1984, § 206: 346). Diese Formulierung aber bedeutet nicht notwendig, dass alle Lebensformen auf elementarer Ebene denselben Regeln folgen, oder per se eine gemeinsame, einheitlich explizierbare Grundstruktur aufweisen, sondern nur, dass alle Lebensformen, sobald sie konkret pragmatisch in Kontakt geraten, ineinander übersetzbar
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werden, weil sie sich nun aneinander weiterentwickeln und in einen Prozess kooperativer Welterschließung verstrickt werden.41 Es gibt zwar keine allen gemeinsame Sprache,42 aber trotzdem praktische Übergänge zwischen den Sprachen, die die immanente Variabilität von Praxis und Semantik nutzen können und insofern zunächst auf der Ebene des impliziten pragmatischen Sprach- und Weltwissens verbleiben.43 Hans Julius Schneider hat in diesem Zusammenhang auf die »allgemeine freie Sprachkompetenz« verwiesen, mittels derer sich Sprecher in Grauzonen zwischen Lebensformen einander annähern können (Schneider 1999: 146ff.). Die Grenzen zwischen Lebensformen zu überschreiten, bedeutet dann, zwischen diesen Lebensformen zu übersetzen, ohne dafür auf ein semantisches tertium comparationis, auf ein Metasprachspiel, zurückgreifen zu müssen und zu können. Ein semantisches tertium comparationis wäre ein neutraler Ausdruck der Identität der Bedeutung von fremdsprachlichen Ausdrücken. Nur unter der Bedingung der Identität der Bedeutung wären zwei Ausdrücke aus verschiedenen Sprachen – als Ausdrücke derselben Sache, desselben Gegenstandes oder Sachverhaltes – als koreferentiell zu betrachten. Hier nun hat die Sprachpragmatik die Dinge offenbar verkompliziert. Wenn – wie oben ausgeführt – die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke mehr oder weniger stark von dem sprachpraktischen Kontext abhängig ist, kann es zwischen erheblich differenten Kontexten streng genommen keine Bedeutungsidentität geben. Die Sprache der Lebensform konstituiert »quasitranszendental« die Welt, in der die Angehörigen der Lebensform leben; und verschiedene Lebensformen bewohnen dann verschiedene Welten. Dann also wären Lebensformen und die ihnen eigenen Sprachen »inkommensurabel«. Eine repräsentationalistische Remedur gegen den kontextualistischen Verdacht der Inkommensurabilität muss nun die Gemeinsamkeit einer objektiven Welt mobilisieren, so dass Ausdrücke verschiedener Sprachen, da sie ein und dieselbe Welt »bezeichnen«, über die Gleichheit der Gegenstände und Sachverhalte ineinander übersetzbar wären. Dagegen opponierten nicht erst die Ver41 | Vgl. zur pragmatischen Übersetzung zwischen Vertretern von Kulturen und Sprachen, die von einander nichts wissen: Sahlins 1986, vgl. auch Burke 2000. 42 | Das muss überhaupt nicht bedeuten, dass universalistische Regelkonstruktionen – sei es einer generativen Grammatik oder einer formalen Pragmatik – prinzipiell falsch sind; es bedeutet nur (aber immerhin), dass die derart formulierten Regeln nicht das beschreiben, was als faktische Basis der Übersetzung zwischen differenten kulturellen Lebensformen und zwischen diesen und einer kulturwissenschaftlichen Sprache wirksam sein muss. 43 | So sieht es mittlerweile auch Habermas, ohne allerdings das Prinzip der Selbsteinholung der Sprache und damit die Aussagekraft einer Formalpragmatik in Zweifel zu ziehen: Habermas 1999, 140ff.
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treter einer starken Welterschließungsthese der Sprache, sondern hatte bereits Quine das Nötige eingewendet in der Analyse der radikalen Übersetzung.44 Es ist allerdings durchaus möglich, die Gemeinsamkeit der Welt zu unterstellen, in der sich verschiedene Lebensformen bewegen und bewähren, auf die sie einwirken, reagieren und im Horizont ihres eigenen Vokabulars sprachlich Bezug nehmen, und zugleich die Vorstellung, diese Welt wäre neutral zu repräsentieren, aufzugeben. Die Position eines internen Realismus (Putnam 1991; Habermas 1999) erlaubt es, die sprachunabhängige Realität, auf die referentiell und praktisch jeweils kontextspezifisch Bezug genommen wird, als objektive und gemeinsame Grundlage verschiedener Sprachkontexte vorauszusetzen, ohne dies an eine vermeintlich neutrale Repräsentation dieser Grundlage (in die beide Sprachen übersetzt werden müssten, um kommensurabel zu werden) zu binden. Außerdem ist die Koreferentialität nicht als ein statisches Verhältnis zwischen Ausdrücken, die unterschiedlichen Kontexten angehören, zu verstehen, sondern als eine Beziehung, die das Ergebnis kultureller Kontaktprozesse sein kann. Zum einen beziehen sich sprachliche Ausdrücke ja nicht nur auf »Gegenstände«, da, wie ausführlich festgestellt, über die deskriptive Funktion der Sprache hinaus die Bedeutung eben auch mit den Konventionen des Handelns und Sprechens zusammenhängt; Koreferentialität heißt dann nicht einfach äquivalente Beschreibung und Identifikation von Dingen, sondern auch Übereinstimmung sozialer Konventionen der performativen Bezugnahme auf eine objektive, eine soziale (Normen und Regeln) und subjektive »Welt« (Habermas 1981). Zum anderen muss eine entsprechende partielle und steigerungsfähige Übereinstimmung nicht die Voraussetzung kultureller Begegnung sein, sondern sie kann auch Resultat eines kooperativen Welterschließungsprozesses sein, der beide beteiligten Lebensformen verwandelt: Gerade wenn Lebensformen praktisch und sprachlich die Welt, in der sie leben, teilweise »erzeugen«, können sie im Fall der Begegnung eine teilweise und – je nach Verlauf – zunehmend gemeinsame praktische Umwelt, schließlich auch eine gemeinsame »Welt«, die auf praktisch hinreichend geteilten impliziten Hintergrundhorizonten aufbaut, erzeugen. Sprachen mögen durchaus auf stark voneinander abweichende Weisen »Welt« konstituieren. Sie bleiben dabei aber jeweils in ihrem Artikulationsspielraum von einer »zuhandenen Umwelt«45 eingeschränkt, die den Erwar44 | Bei der wir uns eben auch in Situationen der leiblichen Ko-präsenz niemals endgültig sicher sein können, ob wir und der »Eingeborene« nicht schon auf der Ebene der sprachlich vorstrukturierten Wahrnehmungen und Abgrenzungen von »objektiv« sichtbaren Phänomenen voneinander abweichen, so dass eben das Wort »gavagai« nicht eindeutig auf ein vorüberhuschendes Kaninchen bezogen werden kann, vgl. Quine 1980. 45 | Die man mit Bezug auf die Unmöglichkeit der neutralen, ojektiven Beschreibung vom Standpunkt eines »Null-Kontextes« aus auch eine »noumenale« Realität nennen könnte.
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tungen im Handeln Widerstände entgegensetzt und so innerhalb des Spielraums der Welterschließungen Revisionen der Sprachpraxis motiviert. Diese Revisionen werden über die praktischen Erfahrungen mit den innerweltlichen Konsequenzen der eigenen Praxis angestoßen.46 Die Übersetzung zwischen Lebensformen, die einander begegnen, ist dann von den voneinander relativ unabhängigen Revisionen der jeweiligen Sprachen getragen, die durch eine gemeinsame pragmatische Umwelt zueinander in Beziehung geraten. Kulturen, die aufeinandertreffen, verwandeln sich aneinander, da sie es für sich allein genommen ohnehin schon tun, während sie nun aber – im Moment und in der Sequenz der Begegnung – die jeweils andere Kultur als Teil ihrer spezifischen, zuhandenen Umwelt erleben, als einen Teil, dem überdies eine eigene interpretative Perspektive unterstellt werden muss. Kulturkontakte erscheinen in dieser Perspektive immer als Anlässe möglicher reziproker Revisionen der jeweiligen pragmatischen Horizonte der aufeinandertreffenden Lebensformen. Gleichwohl bleibt diese Reziprozität wohl gemerkt eine Möglichkeit. Denn historisch (empirisch) gesehen darf man wohl kaum vollständig von der Evidenz abstrahieren, dass der Kulturaustausch in den meisten Fällen durch eine Asymmetrie zwischen den Beteiligten charakterisiert ist. Aber auch asymmetrische Prozesse kulturellen Transfers (folgenreich z.B.: die Romanisierung der »ur-alteuropäischen« Kulturen) beinhalten historisch ein Moment der gegenseitigen Beeinflussung, die durch das Modell der einseitigen Assimilation nicht erschöpfend dargestellt ist. Auf dieser Ebene wäre die Aufgabe einer pragmatischen Kulturtheorie eine weiterführende und präzisere Entfaltung der Analyse von verschiedenen Wegen und Formen der partiellen und beweglichen pragmatischen »Kontextverschmelzung« zwischen vormals voneinander vollständig getrennten kulturellen Lebensformen. (2) Das Moment des interkulturellen Austausches ist des Weiteren als ein wesentlicher Reflexionsanstoß zu betrachten, der die Innenperspektive einer kulturellen Lebensform durch die praktische Kontrasterfahrung auf die Bahn der Explikation des eigenen impliziten Hintergrundes bringt. Im Prozess der Begegnung mit einer anderen Lebensform, die als andere Lebensform interpretiert wird, gerät eine Variation von Selbstverständlichkeiten in den praktischen Erfahrungsraum, die zur abstraktiven Explikation des Hintergrundes 46 | Die »intern realistische« Perspektive bindet die Revisionen von Theorien, Beschreibungen und schon pragmatischen Konventionen also an die Erfahrung, die man in der Welt mit den Konsequenzen macht, die jene Theorien und Konventionen im eigenen Handeln haben (Habermas 1999). Die ontologischen Verpflichtungen, die man damit eingeht, sind nicht leicht zu überschauen, z.B. bleibt eine offene Frage der Referenztheorie, woraus »die Welt« wohl bestehen mag. Aus Dingen, Ereignissen, Sachverhalten? (Vgl. Renn 2000).
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als Hintergrund motiviert. Dann erst kann es zur Bildung des Begriffs der »Kultur« kommen, der als eigenes Konzept selber schon Ausdruck erstens der Vergleichung von Kulturen und damit der praktisch angeregten Distanznahme gegenüber den eigenen Horizonten selbstevidenten kulturellen Hintergrundwissens ist und dabei zweitens eine Formtransformation des kulturellen Hintergrundwissens in Richtung seiner Explikation anregt: Erst durch den Übergang der performativen Kultur in das nun thematisch distanzierbare explizite kulturelle Wissen wird eine performative Kultur für sich selbst – und viel später für die Theorie der Praxis – ausdrücklich eine »performative Kultur«. Diese exogenen Reflexionsanstöße mischen sich mit endogenen, durch soziale Differenzierung von Lebensformen (qua demographischer Entwicklung, Arbeitsteilung, Medienetablierung – man denke an die Schrift) angeregten, Kontrasterfahrungen. Die Explikation impliziten Wissens ist also keineswegs nur eine verzeichnende Abstraktion durch den wissenschaftlichen Objektivismus (der zudem selbst auf sozialen Differenzierungen auf bauen muss), nicht einfach – wie die radikale kontextualistische Kritik mitunter suggeriert – eine gigantische Entfremdungsmaschinerie, sondern ebenso wie die wissenschaftliche Perspektive selbst Teil eines endogenen Prozesses der Veränderung der Modalität von kulturellem Wissen. Eine pragmatische Kultursoziologie muss deshalb nicht nur Formen impliziten kulturellen Wissens mit dem ihnen eigenen Geltungsmodus der unthematischen Gewissheit von expliziten kulturellen Wissenssystemen und ihrer Legitimationsform unterscheiden, sondern sie sollte sich neben der Bemühung um die Rekonstruktion der Form und der Funktion des impliziten Wissens um den Übergang zu expliziten kulturellen »Wertsphären« (Max Weber) oder Systemen (Talcott Parsons) kümmern. Sie muss dann mögliche Pfade der »Rationalisierung« der Lebensform47 rekonstruieren, ohne dem historisch erfolgreichen Weg einer vermeintlich linearen und monolithischen Modernisierung den Charakter einer notwendigen Teleologie der Explikation des impliziten kulturellen Wissens zuzuschreiben. Zu den Aufgaben dieser Rekonstruktion der Formen und Wege und Folgen der Explikation und der strukturbildenden Reflexivierung von Lebensformen gehören sowohl medientheoretische Untersuchungen (mit Akzent auf symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien und technischen Verbreitungsmedien) als auch die Analyse der pragmatischen Formen der Umsetzung explizierter Regeln und abstrakter Strukturen in konkrete Handlungen und der sekundären Kontrasterfahrungen (Renn 1998) zwischen sozialen Systemen, die die Explikationen impliziten Wissens auf dem Wege der sozialen Differenzierung auslösen. (3) Schließlich stößt die pragmatische kultursoziologische Explikation dieser beiden Stufen – der interkulturellen Pragmatik und der sozialen Explikation 47 | In Variation der Habermas’schen Formulierung der Rationalisierung der Lebenswelt.
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von Lebensformen – innerhalb dieses sozialtheoretischen Szenarios auf ihren eigenen Standort. Sie entdeckt sich selbst als Variante der sozialen Explikation von kulturellen Lebensformen, die sich im Horizont des Wissenschaftssystems auf die reflexive und rekonstruktive Beschreibung »anderer« Lebensformen und der typischen Formen von Lebensformen überhaupt spezialisiert hat. Auch die kultursoziologische Interpretation ist auf die reziproke Revision von Horizonten angewiesen, d.h. sie muss, wenn sie objektivistische (assimilative) Projektionen und die verzeichnende Subsumtion kultureller Lebensformen unter ihre eigenen analytischen Kategorien vermeiden will, diese Kategorien in praktischen Kontexten der Untersuchung erfahrungsoffen auf den Prüfstand stellen; und sie muss dabei notwendig in Kauf nehmen, dass der Gegenstand, den sie untersuchen will, sich selbst im Prozess der Untersuchung verwandelt, weil die praktische Forschungsarbeit und ‑interaktion ihrerseits zur Kontextbedingung im pragmatischen Forschungsfeld wird und damit zu einem Reflexionsanstoß für »das Erforschte« selbst. Die pragmatische kulturwissenschaftliche Forschung ist keine »neutrale«, distanzierte und objektive »Beobachtung«, sondern sie ist eine in der (oben unter (1) skizzierten) pragmatischen Verschränkung von kulturellen Lebensformen fundierte Objektivierung (im Sinne von (2)), die bei sich selbst (z.B. bezogen auf den »Stand der Forschung«) und in den untersuchten Kontexten Transformationen, Selbstrevisionen und Reflexionen auslösen muss. Sie revidiert, spezifiziert und differenziert im Zuge ihrer erfahrungsoffenen Forschung ihre eigenen Vorbegriffe (was heißt in anderen Kontexten »Familie«, »Religion«, »Person«, »Eigentum« etc.), stößt aber gleichzeitig im Feld durch die partielle Reziprozität eines kooperativen Welterschließungsprozesses Kontrasterfahrungen und Transformationen an. Darin besteht der konstruktive Aspekt kulturwissenschaftlicher Forschung:48 Sie wirkt an der »Erzeugung« ihres Gegenstandes mit, weil sie zu einem realen Faktor der Selbsttransformation einer kommunikativ berührten Lebensform wird. Gleichwohl bleibt auch die pragmatische Kultursoziologie auf die objektivierende Explikation verpflichtet und kann sich nicht in vermeintlich mimetischer und rein ideographischer Beschreibung eines und nur dieses einen Kontextes erschöpfen (was auch Clifford Geertz nie angestrebt hatte). Das liegt nicht allein in der Eigenlogik der Wissenschaft begründet, sondern überdies schon in der Logik der Kontexttranszendierung, die notwendige Folge der Kontrasterzeugung ist. Die kulturwissenschaftliche Untersuchung von kulturellen Lebensformen ist nolens volens selbst Teil eines Geschehens der Kontingenzerzeugung.
48 | Und eben nicht in einer autopoietisch eingekapselten Erfindung kultureller Gegenstände.
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Die normative Dimension der Anerkennung differenter kultureller Lebensformen und Horizonte betrifft darum den Grad der Symmetrie, die in der dichten Praxis der Forschung (und der Argumentation ihrer Ergebnisse) zwischen den Beteiligten besteht (oder eben nicht besteht). Auch wenn das Erkenntnisstreben in der Begegnung mit anderen Lebensformen historisch (und gegenwärtig?) durchmischt ist mit »externen«, politischen und ökonomischen Imperativen, so dass die kommunikative Symmetrie allzu oft mehr oder weniger kolonialistischen Interessen zum Opfer fällt, so legt dies normativ keineswegs nahe, im Zeichen geheiligter und vermeintlich radikaler Differenz auf Kontakt zu verzichten, um Reflexionsschutz zu gewähren. Performativ ist eine pragmatische bzw. sprachpragmatische Kultursoziologie unausweichlich in die »Politik der Identität« verstrickt. Sie wird der Maxime der Symmetrie pragmatischer Verschränkung in Kulturkontakten aber nicht gerecht, wenn sie sich in Parteilichkeiten verbeißt, sondern nur, indem sie die eigene Revisionsbereitschaft und Erfahrungsoffenheit kultiviert und verteidigt. Dem Gegenstand den Spielraum für eigensinnige Selbsttransformationen einzuräumen und offenzuhalten, ist dabei kein externes normatives Postulat, sondern gehört – angesichts der sprachpragmatischen Grundlagen der Kommunikation zwischen kulturellen Lebensformen – zu den notwendigen Ausgangsbedingungen einer praktischen und pragmatischen Kultursoziologie. Über normative Implikationen einer soziologischen Theorie und Analyse »performativer« Kulturen kann man streiten, es dürfte aber klar geworden sein, dass die differenzierungstheoretische Achse der epistemologischen Rechtfertigung einer pragmatischen Kultursoziologie eine Notwendigkeit darstellt. Insofern ist man schlecht beraten, wenn man den »cultural turn« – wenn es so etwas geben sollte – als Aufruf zur Reduktion des Sozialen und der gesellschaftlichen Konstellationen komplexer Ordnung auf reine Praxis verstehen wollte. Praxis »gibt« es nur – als faktisches soziales Geschehen und als Gegenstand plausibler Theorie – wenn es in der Gesellschaft zuvor und zugleich auch andere Formate der Handlungskoordination und der Kultur gibt.
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2. Die gemeinsame menschliche Handlungsweise
Das doppelte Übersetzungsproblem des
sozialwissenschaftlichen Kulturvergleichs
I. Z ugang : I dentität und D ifferenz Die Diskussion des sozialwissenschaftlichen Kulturvergleichs kreist in stets erneuerten Schleifen zwischen Skeptizismus oder Kontextualismus und Objektivismus oder Universalismus um das Problem von Identität und Differenz (oder auch: Identität oder Differenz von Identität und Differenz).1 Sind nicht »andere« kulturelle Lebensformen so radikal anders, dass jeder Vergleich zwischen den Kulturen, der auf dem Boden einer Kultur, unter Verwendung der Begriffe und im Horizont der »eigenen« Schemata, vorgenommen wird, nur bei sich selbst bleibt, eine Spiegelfechterei bedeutet, die »das andere« assimiliert oder bestenfalls exotisiert, dabei in jedem Falle verkennt, schlimmstenfalls vergewaltigt? Die reflexive Anthropologie (Clifford, Marcus 1986; Clifford 1988; Berg, Fuchs 1993; vgl.: Ackermann 2004: 144ff.) wie auch poststrukturalistische und postkolonialistische Kulturtheorien haben den schon älteren konstruktivistischen Strom der Erkenntnistheorie in die kritische Selbstanklage westlicher Bemühungen gelenkt, fremde Kulturen zu verstehen und zu beschreiben. Die Beschreibung anderer »Kulturen« und ihr Vergleich mit der eigenen oder einer anderen werden kritisiert als ethnozentrische Manöver. Dieser Einwand lebt zum einen von einem methodischen Fiktionalismus, der historio-, ethnographische und soziologische Texte (ebenso aber bereits: »Kulturen« selbst) als rhetorische Produkte ohne Referenz verstehen will (Bhabha 1996: 53; vgl. Schiffauer 1997 sowie: Holz, Wenzel 2003: 199ff.); er präsentiert sich zum anderen als Kritik des Gebrauches solcher Fiktionen im Dienste ob1 | Siehe als Etappenmarken der langen Wirkungsgeschichte dieser basalen logischen Selbstproblematisierung der Moderne: Hegel 1952: 125ff.; Heidegger 1982; Luhmann 1985: 26 und zu letzterem: Clam 2002.
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jektivierender Ausflüchte der verschleierten Aneignung und Unterwerfung des Fremden. Dafür steht prominent der Begriff des Orientalismus.2 Kolonialismuskritik und erkenntnistheoretischer Konstruktivismus (oder: Fiktionalismus) gehen eine Allianz ein; die These der faktischen, historischen Assimilation »des« Fremden auch mithilfe seiner ethnologischen Beschreibung und die generalisierte Behauptung der Inkommensurabilität kultureller Horizonte stützen einander (so: Lyotard 1989; Waldenfels 1997: 118 und auch: Lütterfelds 1999). Vergleichen, so heißt es nun, ist erst kognitives und dann praktischpolitisches Angleichen. Wie aber konnte man auf diesen Gedanken überhaupt kommen, wenn er doch impliziert, dass dann auch jener Vergleich unmöglich ist, der das Ungenügen von manifesten Beschreibungen und Vergleichen belegen soll (und würde die Vergleichs-Kritik das nicht implizieren, kritisierte sie nicht – wie ihre Verfechter beteuern – das begreifende Vergleichen selbst, sondern nur eine misslungene oder strategisch verfälschte Variante des Vergleichs)? Die Behauptung der Unvergleichbarkeit muss mehr beanspruchen, als nur ein epistemologisches Gedankenspiel zu sein; sie artikuliert eine Erfahrung. Diese Erfahrung, die zugleich das Scheitern von Identitätsunterstellungen und die Reflexion dieser Unterstellungen einschließt, lässt sich von »außen« betrachtet als Selbstdistanzierung begreifen: Vom Standpunkt einer Soziologie der Wissenschaft aus (die nun die Kritik an einer assimilierenden Wissenschaft wieder von außen interpretiert) drückt sich in der autoskeptischen und polemischen Wiederbelebung von Elementen des Historismus und Relativismus eine vertiefte Einsicht in die Dramatik kultureller Differenz aus: Die Differenzen zwischen »den« Kulturen reichen weiter und liegen tiefer, sie errichten weit mehr und drastischere Erkenntnishürden, als dass ein neutraler Boden für einen objektiven Vergleich zur Verfügung stünde. Woher aber wissen wir das? Man kann unterstellen: Der abgeleitete Eindruck, es könnte jeder Vergleich doch nur Selbstgespräch und Projektion einschließlich der Übertragung abgespaltener (im psychoanalytischen Sinne »verdrängter«) Selbstverdächtigungen sein, ist Ausdruck einer Erfahrung, die durch die Effekte sozialer Differenzierung angestoßen ist. Vor allem kulturelle Diversifizierung (durch global ausgebreitete Migration, Lebensstilpluralisierung etc.) und wachsend auffällige 2 | Zum kritischen Begriff des Orientalismus, vgl. Said 1978, 1993; kritisch dazu: Sardar 2002 oder Stauth 1999. Der Begriff bezeichnet nicht nur die literarische, kulturell imaginäre, sondern auch die wissenschaftliche »Erfindung« des Orients und darüber hinaus die Überformung indigener Kulturen durch den westlichen Orientalismus (»Orientalisierte Orientalen sehen in ihrer Herkunftskultur ein Spiegelbild des Westens. Die nicht-westliche Welt existiert, um das westliche Selbst zu vollenden.« Sardar 2002: 136) Siehe – in ähnlichem Sinne – auch: die »Erfindung« Japans laut Shimada 2000.
2. Die gemeinsame menschliche Handlungsweise
Inkongruenzen zwischen Staat, Kultur, Kollektiv und Person vermehren die Chancen von heterogenen Nachbarschaften, Kommunikationsrisiken und damit von gesteigerter oder verbreiteter Dezentrierung »eigener« Horizonte (vgl. auch: Bielefeld 2001; Renn 2003). Solche Dezentrierungen heben durch problematische Kontrasterfahrungen den Charakter des »taken for granted« (Schütz) von alltagspraktisch konstitutiven Vorurteilen und Schemata auf. Die sozialen und die sozialwissenschaftlichen Reaktionen auf Tendenzen solcher Diversifizierung durchlaufen dabei zwei Etappen oder Reflexionsstufen: Zuerst erodiert die ehedem romantische, dann strategische, schließlich totalitäre und endlich melancholische Überzeugung, nationalstaatliche Einheiten stellten kulturell (und/oder ethnisch) homogene Einheiten bzw. die politische Realisierungsform »eines Volkes« dar (Schmitt 1996: 20). Sobald die Identifikation von ethnos und demos aufgehoben wird und aus der Teilnehmerperspektive als aufgehoben gilt, kommt es zu Toleranzforderungen bezüglich explizit anzuerkennender Minderheiten und zu »interkulturellen« Stadtteilfesten. Es handelt sich dann schon um die Erfahrung von Differenzen, die nicht eingeholt werden können durch die Subsumtion unter bekannte und vertraute Kategorien und die nicht aufgehoben oder »eingeebnet« werden wollen oder sollen, etwa im Stile der älteren Integrationszielvorgabe der »Assimilation« von Zuwanderern, da sich ihre »Alterität« in Ansprüchen auf die Anerkennung von und auf ein Recht auf Differenz ausdrückt (Taylor 1991, 1993; vgl. Benhabib 1996 und Habermas 1996 sowie Fuchs 1999). In diesem zweiten Schritt wurde nicht nur die Homogenität der Kultur einer Nation (eines »Volkes«) historisch und bezogen auf Phänomene der Milieupluralisierung und Folgen von Migration3 in Zweifel gezogen, sondern das »container«-Modell von Kultur überhaupt, das u.a. Personen exklusiv einer und nur einer Kultur zuordnet und die Grenzen zwischen den Kulturen als ebenso eindeutig wie stabil und selbstidentifizierend versteht.4 Auch die Anerkennung von Differenz (im Sinne Taylors) gilt dann nicht mehr als unbezweifelbare liberale Errungenschaft (Bhabha 1996)5, sondern ist womöglich selbst Vehikel eines »Othering« 3 | Vgl. für viele und zusammenfassend: Bräunlein, Lauser 1997. 4 | In diesem Sinne ist der vieldiskutierte Ansatz von Huntington (Huntington 1996, vgl. bezüglich sachlicher Einwände: Riesebrodt 2000: 15ff.) vielleicht eher ein soziales Phänomen als ein sozialwissenschaftlicher Beitrag; und das gilt nicht weniger für: Huntington 2000. 5 | Denn auch die klassische Artikulation eines Rechtes auf Differenz, die sich auf den Linien liberaler Toleranzprinzipien bewegt (Taylor 1991; Kymlicka 1995) gerät in die Kritik, da ihre Trennung zwischen kulturell neutralen Regeln der Koexistenz und »privaten« commitments kultureller Identität problematisch sei und dem Status von Grenzgängern, Nichtidentifizierbaren und hybriden Identitäten in »Zwischenräumen« nicht gerecht werde (so: Bhabba 1996, vgl.: Bachmann-Medick 2002).
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(Fabian 1993, vgl. Ackermann 2004: 144f.), das in Übertragung unbequemer, abgespaltener und verdrängter Gehalte eigener Identität auf ein stereotypisiertes Gegenüber den »Fremden« erst erzeugt (in diesem Sinne auch: Janz 2001). Demgegenüber betonen die Vertreter der so genannten »post-colonial studies« die »Hybridität« von Identitäten (neben Bhabha 1996 auch: Said 2001 und 2002) bzw. die »Transdifferenz« (d.h. die Unentscheidbarkeit von binär gefassten Zuordnungsfragen) von Zugehörigkeiten und Selbstdeutungen der Personen. Diese integrations- und kulturtheoretischen wie auch normativen Bestandsaufnahmen sozialer Differenzierung schlagen, wie gesagt, durch auf die Ebene der methodischen und erkenntnistheoretischen Selbstreflexion der Kulturbeschreibung und ‑vergleichung. Die normativen Obertöne der methodischen Kritik soziologischen Kulturvergleichs (Matthes 1992 und 1993, vgl. Straub 1999: 33ff. sowie Shimada, Straub 1999)6 geben darum einen Hinweis auf die Grundlagen der Konjunktur der Vergleichs-Kritik: Differenzierungsgrad und -form moderner Gesellschaft haben zu einer Reflexivität des Kulturbegriffs geführt, mit der die praktische Funktion dieses Begriffs, der womöglich ohnehin ein Vergleichsbegriff ist (Luhmann 1999: 36f.), für die Verwender des Begriffs sichtbar und der Vergleich somit verdächtig geworden ist (vgl. auch: Renn 1998: 160f.). Mit dieser Sichtbarkeit wird dann allerdings nicht allein diese oder jene »Kultur« kontingent, sondern die Grundlage der Beschreibung und des Vergleichs von Kulturen überhaupt, sofern diese Grundlage ihrerseits eine kulturelle Grundlage ist. Für diese Selbstreferentialität der Beschreibung der Kontingenz von Kulturen sorgt nun wieder der epistemische Kontextualismus (etwa: Rorty 1989 und auf seine Weise: Luhmann 1990). Das soziale Problem der zunehmenden und einsichtigen Inkongruenz von (u.a.) politischen, ökonomischen und kulturellen Handlungszusammenhängen (vgl. Renn 2002a) zeigt sich z.B. im Problem der Übersetzbarkeit der Kulturen eines europäischen »Gemeinwesens«, dem eine verbindende kulturelle Identität zuwachsen soll (Lepenies 1997, vgl. Kraus 2004). Dieses Problem wird durch Selbstbezüglichkeit einer Theorie, die vom Primat der Differenz der kontextrelativen Bedeutungen ausgeht, dann zum soziologischen Problem der Repräsentation von (anderen) Kulturen schlechthin. Der gesellschaftliche Hintergrund des epistemologischen Problems besteht damit in den soziostrukturellen Voraussetzungen für eine gesteigerte Erfahrung des Abstandes zwischen der Beschreibung 6 | Die kritische methodologische Metapher lautet »Nostrifizierung«, vgl. Matthes 1992 und dazu die Analysen von: Srubar 2003a: 118ff. und in: Srubar 2002, die über den zu einfachen Gegensatz zwischen nostrifizierender Assimilation und adäquater Repräsentation hinaus führen, indem sie die Übersetzung aus einer (kulturspezifischen) Sprache in eine andere als prinzipiell »suboptimal« und als phasenweise notwendig partiell »nostrifizierend« beschreiben.
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einer Kultur und dieser Kultur selbst. Denn wenn die »andere« Kultur anders ist, dieses andere aber als eine Sprache und als eine Praxis in Erscheinung tritt, dann betrifft dieser Unterschied zugleich die Differenz zwischen der Sprache der Beschreibung und der Sprache des Beschriebenen. Trotzdem aber kann – bei genauerer Betrachtung – die relativistische Schlussfolgerung einer radikalen Unerreichbarkeit nicht das letzte Wort behalten.
II. P r ak tischer Z ugang und begriffliche R epr äsentation Denn die Behauptung einer solchen (relativen) Unerreichbarkeit einer anderen Kultur setzt die Erfahrbarkeit der (entstellenden) Selektivität ihrer Beschreibung voraus. Und das bedeutet, dass der Zugang zu dieser anderen Kultur mehrdimensional sein muss. Mindestens müssen sich nämlich die sprachliche Bezugnahme auf eine andere Kultur als »Objekt« der Untersuchung und der praktische Zugang zu diesem Objekt unterscheiden. Denn wie sollte man anders das Ungenügen, die Selektivität einer Beschreibung an der Erfahrung des Abstandes zwischen Beschreibung und Beschriebenem bemessen, wenn diese Erfahrung – wie es kontextualistische und konstruktivistische Epistemologien unterstellen – ausschließlich durch die begrifflichen Schemata und Prämissen der Beschreibungssprache bestimmt oder konstituiert wird? Die Beschreibung einer anderen Kultur ist als eine Übersetzung eines kulturellen Selbstverständnisses in die Sprache einer anderen Kultur unvollkommen (Budick, Iser 1996; Bachmann-Medick 1997, vgl. auch: Srubar 2002 und Renn 2002b). Sie kann keine »neutrale« oder in jeder Hinsicht äquivalente Darstellung eines anderen kulturellen Horizontes liefern, da sie einen Wechsel des sprachlichen Artikulationsmediums, damit eines welterschließenden (praktischen) Horizontes einschließt.7 Damit ist eine radikale und vor allem endgültige »Inkommensurabilität« allerdings noch längst nicht belegt, denn diese Unvollkommenheit der Über7 | Das sprachphilosophische Präzedenzargument lieferte Quine mit dem gedankenexperimentellen Beleg der »Unbestimmtheit der Übersetzung« (Quine 1980): Der Versuch, durch beobachtende Korellierung von Sätzen einer »ganz unbekannten« Sprache und äußeren Ereignissen (»Reizbedeutungen«) ein hinreichend eindeutiges Übersetzungsmanual anzufertigen, ist zum Scheitern verurteilt. Allerdings hat Quine sich später selbst von zwei zentralen Voraussetzungen dieser Argumentation distanziert: von der observationalistischen Perspektive und von der Annahme der Geschlossenheit von »conceptual schemes« (Quine 1990: 46f, vgl. Glock 2001 und Cappai 2000). Auch in dieser Selbstdistanzierung zeigt sich, dass die Erfahrung relativer Unerreichbarkeit von der Differenz zwischen deskriptiver Bezugnahme (etwa in einer Theoriesprache) und praktischem Zugang abhängig ist.
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setzung fällt nur auf, wenn Übersetzung in einer gewissen Form gleichwohl möglich und der genannte Abstand als ein Abstand erfahrbar ist. Diese Erfahrbarkeit des Abstandes ist als notwendige Voraussetzung für die Übersetzung (und die Einsicht in ihre Begrenztheit) angewiesen auf die Differenz zwischen der praktischen Zugänglichkeit und der expliziten Repräsentation einer anderen Kultur (die nicht »einholt«, was sich über jenen Zugang »mitteilt«). Die Vertreter einer strikten Inkommensurabilität zwischen kulturellen Lebensformen bzw. Sprachspielen gehen allerdings weiter, sofern sie den Begriff einer »radikalen Alterität«, der sinnvollerweise nur ein Limesbegriff sein kann, aufgeladen mit normativen Impulsen wie ein reales Prädikat verwenden (implizit: Waldenfels 1997; Shimada, Straub 1999). Ein klassisches logisch-epistemologisches Argument gegen eine solche forsche Behauptung grundsätzlicher und ubiquitärer Inkommensurabilität zwischen den Kulturen (im Sinne von Lebensformen, »ihren« Symbolsystemen, Praktiken oder auch Diskursen, vgl. Schiffauer 1997) lautet stets: Zu wissen, dass zwei Relata unvergleichbar sind, unterstellt (oder erstellt) eine Relation, die schon einen Vergleich impliziert und bemüht. Also verstrickt sich diese Behauptung in den performativen Selbstwiderspruch einer Vergleichung, die Unvergleichlichkeit belegen will (so das »Putnam-Argument« in: Putnam 1990: 161). Dieses Argument ist zwar ohne Zweifel zwingend mit Bezug auf typengleiche Relata.8 Es ist jedoch zu einfach, wenn wir es genauer nehmen und zwischen Zugänglichkeit und Darstellbarkeit strikt unterscheiden. Das Argument des performativen Widerspruchs unterschlägt in seiner zu einfachen Fassung den Unterschied zwischen der expliziten Repräsentation eines verglichenen Elementes und dem impliziten, praktischen Zugang zu jenem Element,9 bei dem die Erfahrung der Grenzen der adäquaten Explizierbarkeit (bzw. Repräsentation) auch dann möglich ist, wenn das relativ unzugängliche Relatum und damit das Ganze jener Erfahrung selbst nicht explizit repräsentiert werden kann.10 Unzugänglichkeit 8 | Putnam nimmt in Putnam 1990: 160ff. Bezug auf den Kuhn’schen »Anarchismus« (Kuhn 1967), d.h. die auf ihre Kommensurabilität hin diskutierten Relata sind hier wissenschaftliche Theorien. Das bedeutet: Im Zusammenhang des »Kulturvergleichs« bezieht sich sowohl das Inkommensurabilitäts-Argument als auch das kritische Gegenargument auf zwei, u.U. konkurrierende, begriffliche Explikationen einer Kultur. Die Frage lautet dann, ob diese alternativen Explikationen überhaupt denselben Bezugsgegenstand haben (ein und dieselbe Kultur) oder aber zwei ganz unterschiedliche Kulturen »erschließen«, die nur fälschlicherweise unter demselben Namen laufen. 9 | Hier im Sinne der Unterscheidung von »Vorhandenheit« und »Zuhandenheit« (Heidegger 1984), siehe zur handlungstheoretischen Aufnahme dieser Unterscheidung z.B.: Renn 2004: 233ff. 10 | An dieser Stelle ist eine Qualifizierung des Erfahrungsbegriffs nachzutragen: Für die Analyse des sozialwissenschaftlichen Kulturvergleichs hängt natürlich von der Be-
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kann in und an der Sache praktisch erfahren werden und dann – ohne dass dafür die Sache als sie selbst propositional darstellbar sein müsste – als Relativierung des Adäquations-Anspruchs der expliziten Darstellung der Sache selbst expliziert werden, als Kritik am Anspruch der Repräsentation. Diese Unterscheidung zwischen expliziter (begrifflicher) Repräsentation der widerständigen Sache und dem praktischen Zugang zu ihr fällt dort nicht auf (oder ins Gewicht), wo der Vergleich Elemente relationiert, die nicht selbst handeln und ihrem Handeln praktisch und symbolisch Bedeutung geben. Wenn eine positive Wissenschaft Phänomene unter Kategorien subsumieren kann, sofern diese erst als Gegenstände von Aussagen zu Phänomenen werden, dann ist ein Vergleich der ex ante durch diese Kategorien auf ein tertium comparationis bezogenen Elemente mit Bezug etwa auf skalierte Größen unproblematisch. Das Delta des Amazonas und die niederrheinische Ebene bezüglich durchschnittlicher Jahresniederschlagsmengen zu vergleichen, ist so unproblematisch wie die Vergleichsregionen durch positive Parameter (und durch eine in beiden Fällen identische Praxis des Messens) zu objektivieren. Hier folgt bereits der Zugang zu den Phänomenen, die verglichen werden, durch die Skalierung den expliziten Kategorien der Repräsentation, da die Technik der Datenerhebung nur quantifizierte Größen als die fraglichen Phänomene erzeugt. Die Unterscheidung zwischen expliziter Repräsentation und praktischem Zugang greift demgegenüber sofort, wenn die Bedeutung von Niederschlägen (z.B. Ursachen- oder Bedeutungs-Attributionen und implizite, habituelle Reaktionen) im kulturellen Horizont hier wie dort ansässiger Menschen verglichen werden sollte. Dann hängt es vom Begriff der Kultur ab, in welchem Sinne oder Ausmaße sich eine explizite (ausdrückliche, begriffliche und propositionale) Repräsentation von Deutungen und Bedeutungen von der impliziten praktischen Gestalt divergenter symbolischer Praktiken, Interpretationen und Routinen unterscheidet. Die alte eurozentrische Neigung, »primitive Gesellschaften« als Defizit- oder Frühstadientypen am Maßstab der Explikation eigener
stimmung dessen, was als eine Erfahrung zählen darf, viel ab, wenn wir diesen Kulturvergleich als Unternehmen einer empirischen Wissenschaft verstehen. Einwände gegen die empiristische Verengung des Erfahrungsbegriffs auf die hypothesentestende Funktion der neutralen Repräsentation äußerer Tatsachen sind hinreichend häufig vorgebracht worden (mindestens seit: Quine 1979 und 1980); die Unterscheidung zwischen praktischem Zugang und explizit identifizierender Artikulation, die in unserem Zusammenhang für den Begriff der Erfahrung grundlegend ist, kann sich berufen ebenso auf Adorno 1981, wie auf Dewey 1980 (und weist damit auf die ästhetische Dimension der reflektierenden Urteilskraft hin).
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Standards zu messen,11 überdeckt die Differenz zwischen praktischem Zugang und expliziter Repräsentation, indem sie nicht zwischen der praktischen Bedeutung und der begrifflichen Deskription von »Tatsachen« unterscheidet. In jüngerer Zeit stützen sich einige der letzten Vertreter dieser Strategie auf die Unterstellung der kulturneutralen Bedeutung kognitiver Strukturen und einer Stadienfolge ihrer Entwicklung, die als ein neutrales tertium comparationis des Vergleichs von »Weltbildern« behandelt werden (Hallpike 1990; Dux 1989: 373ff.), während schon die Beschreibungen entsprechender, »kulturvergleichend« angelegter Experimente selbst zeigen, dass hier Antworten, die innerhalb eines artifiziell erzeugten Interaktionsrahmens ausgelöst werden, unter Kategorien subsumiert werden. Diese Kategorien selbst bleiben dabei möglichen Revisionen entzogen, die durch den praktischen Zugang zum »Gegenstand« und die Erfahrung, die mit diesem gemacht wird, angeregt werden könnten.12
11 | Diese Neigung ist keineswegs überwunden, sondern leitet fortwährend und aktuell hoch reputierte (und einflussreiche) »kulturvergleichende« Untersuchungen an. So läuft die Berücksichtigung »kultureller« Faktoren an der »Harvard Academy for International and Area Studies« auf die teleologische und binäre Gegenüberstellung von (zwanzig) entwicklungsfördernden oder -hemmenden Kulturmustern bzw. Einstellungen (Grondona 2000: 79ff.) hinaus, oder sie beschränkt sich beispielsweise auf die quantitative Einschätzung der Korrelationen zwischen »familistischen« oder »katholischen« (National-)Kulturen und (subjektiv eingeschätzter) Korruptionsintensität (Lipset, Lenz 2000: 149ff.). 12 | Die Mitarbeiter, die von Piaget entwickelte Experimente zum »Zeitbewusstsein« am Amazonas anstellen, beurteilen z.B. die »Antworten« von Macu-Indianern auf Piaget-Test-Fragen naiv als »richtig« oder »falsch«, obwohl sie in ihrer Beschreibung von Interaktionsrahmen und -prozedur z.B. explizit auf die Schwierigkeiten der Übersetzung des abstrakten (und höchst voraussetzungsvollen) Prinzips der »Gleichzeitigkeit« hinweisen. Die »Experimente« kämpfen mit dem Problem »[…] dass es einen unserem Begriff der Gleichzeitigkeit entsprechenden Begriff im nadeb entweder nicht gibt oder der dafür gebrauchte, recht eigenartige Begriff des »shaded moon« nicht bekannt war.« (Dux 1989: 380) Anstatt nun aber z.B. mehr über die praktische Bedeutung (konversationale Implikatur im Sinne von Grice 1975; pragmatische Wertigkeit) der kurz gestreiften Metapher (shaded moon) herauszubringen, bemühen sich die Experimentatoren um eine Übersetzung der Frage nach der Gleichzeitigkeit, die sie in Formulierungen des »vor dem anderen losgehen oder ankommen« zu finden glauben, um schließlich herauszufinden, dass die Indianer nicht »richtig« (sic!) antworten, kognitiv »nicht realisieren«, was sie »objektiv« vor Augen haben. Sie kommen damit bei dem an, was sie in der Einrichtung des Fragesettings schon voraussetzen, »dass es einen unserem Begriff der Gleichzeitigkeit entsprechenden Begriff nicht gibt«, schließen daraus aber nicht auf den problematischen Zug, genau diesen Begriff als Vergleichsparameter vorauszusetzen, sondern
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Die ethnozentrische Beschränkung, auf die jene zuvor angesprochene Vertiefung der Differenzvermutung aufmerksam macht, besteht hier in der Verwechslung von expliziten Abstraktionen eigener impliziter Horizonte (kognitiver Strukturen und genetischer Stadien) mit »objektiven« und »kulturneutralen« Tatsachen bzw. Strukturelementen. Das Problem ist dabei nicht die präsumptive Universalität einer nötigen Stufenfolge kognitiver Stadien selbst, sondern die Übertragung dieses Universalitätsanspruches auf die explizite Formulierung und die begriffliche Positivierung dieser Stadien.13 Diese Verwechslung übersieht erstens den Übersetzungscharakter der Selbstexplikation und dann zweitens den Übersetzungscharakter der Fremdrepräsentation (im Übergang von der Interaktion mit den »Befragten« zur begrifflichen Darstellung des propositionalen Gehaltes der Antworten, z.B. durch: »Stadienzuweisungen« oder auch durch die Subsumtion von »beliebig« gedeuteten ökonomischen Strategien unter dualistische Typologien wie bei: Schweizer 1999). Der Inkommensurabilitätsverdacht (so fundamentalistisch und inkohärent er mitunter zum Schaden seiner systematischen Relevanz auch vorgebracht wird) nährt sich aus der Erfahrung, dass nicht Varianten allgemeiner kultureller Kategorien von- einander abweichen, sondern dass diese Kategorien selbst ein historisch und sozial kontingentes Apriori darstellen könnten, nicht also als neutrales und über jeden Zweifel erhabenes tertium comparationis des Kulturvergleichs gelten können. Schon der Luhmann’sche Vorschlag, die Verwendung des Kulturbegriffs als Vergleichsmittel zu verstehen, das die Einheit des Differenten erlaubt, enthält die Vermutung, dass mit der Einführung dieser Semantik die Kontingentwerdung gleichsam unaufhaltsam in das Selbstverhältnis modernen Kulturverstehens eindringt (Luhmann 1999: 48). Genau darin besteht die selbstreferentielle Verunsicherung durch die Reflexion auf das Medium der Sprache, in dem Kulturen sowohl reproduziert als auch dargestellt und verglichen werden. Die Sprache selbst ist nicht neutral; Bedeutung ist abhängig von kulturellen Horizonten, so dass sprachliche Repräsentationen, die über sprachliche, praktische und kulturelle Grenzen hinweg referieren, den sortieren das indianische »Zeitbewusstsein« als defizitär, indem sie »Stadienzuweisungen« (ebd.: 397) vornehmen. 13 | Ein Problem, das auch sprachphilosophische Bemühungen betrifft, die das Reflexionsproblem der Bewusstseinsphilosophie durch den Wechsel zum Sprachparadigma für lösbar halten. Das beste Beispiel liefert dafür die Apel’sche Transzendentalpragmatik, denn sie verankert ihren starken Letztbegründungsanspruch im Prinzip der »Selbstaufstufung« der Sprache, d.h. mit einer familienähnlichen Übertragung der Universalität von unausweichlichen Präsuppositionen auf die Geltung der reflexiven Formulierung dieser Voraussetzungen (was sie zuvor durch die Trennung von Sinnkonstitution und Geltungsrechtfertigung vorbereitet hat), vgl. Apel 1995 und die Kritik an dieser Argumentation bei Habermas 1983: 107.
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Übersetzungscharakter erst der Darstellung und dann des Vergleichs von »Kulturen« nicht durch die vermeintliche Bedeutungskonstanz neutralisieren können.
III. V ertief te D ifferenz und die E rfahrung der U nüberse t zbarkeit Die Erfahrung der vertieften Differenz besteht also in der Kontingentsetzung historisch apriorischer Kategorien (d.h. der zum Teil sprachlichen Strukturen und der Möglichkeitsbedingungen von Verständigung und Repräsentation), die von einer Sprachpraxis ebenso in Anspruch genommen, reproduziert und (wenn auch nicht im selben Takt und auch nicht intendiert oder geplant) konstituiert werden. Diese Vertiefung der Differenzunterstellung (andere Kulturen sind ganz oder auch anders anders) besteht indessen nicht allein in der Kontingentsetzung vermeintlich apriorischer bzw. konstitutiver Kommunikationsbedingungen, die der frühe Kulturvergleich als (eigenes) unproblematisches Allgemeines, als tertium comparationis und damit als Bestandteil, Pfeiler und Gerüst von Kultur überhaupt betrachtet hat.14 Sondern sie stellt vor allem die Hierarchie in Frage, die zwischen einerseits konstitutiven Schemata, »conceptual schemes«, quasi-apriorischen Kategorien oder Regeln und andererseits davon abgeleiteten und voll-abhängigen (restlos determinierten) Verwendungen sprachlicher Darstellungs- und Verständigungs-Mittel bestehen soll. Das historische Apriori eines kulturellen backgrounds wechselt nicht nur im Foucault’schen Sinne im Takt diskontinuierlicher Epochenbrüche, sondern es ist in einem pragmatischen Sinne »historisch«, d.h. durch seine Versenkung in die Ebene des Vollzugs bzw. der Performanzen temporalisiert, sofern und soweit die konstitutiven Routinen, Regeln und Begriffe durch das Handeln und Kommunizieren, deren Spielraum sie konstituieren, selbst rekursiv konstituiert werden: Der »pragmatic turn« der Kulturwissenschaften (vgl. Bloor 1983; Bourdieu 1979; Turner 1994), dessen verschiedene Varianten sich samt und sonders auf (den späten) Wittgenstein (Wittgenstein 1984, 1969) berufen, verflüssigt die Konstitutionshierarchie (die noch in Foucaults Analysen von »epistemen« vo-
14 | So noch die Liste der Funktionen, die bei der Unterscheidung zwischen authentischen und entliehenen kulturellen Merkmalen hilfreich sein soll, im Malinowski’schen Funktionalismus, siehe: Malinowski 1975 und zur Kritik der Ambivalenz des Malin ows ki’schen Funktionsbegriffs (als universales tertium), der natürliche und sozial-kontingente Funktionen (sekundäre Funktionen) theoretisch und dadurch auch methodisch konf undiert: Parsons 1978 und Sahlins 1994.
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rausgesetzt wird).15 Die Priorisierung des Performativen unterstreicht, dass innerhalb der Sprachpraxis (im Unterschied zum rekonstruktiv abstrahierten Sprachsystem) einzelne Sätze und Begriffe zwischen der konstitutiven und der konstituierten Position wechseln können. Wittgensteins Bild von Sätzen als Flüssen und zugleich als Ufer relativiert die Unterscheidung zwischen empirischen Sätzen und konstitutiver Grammatik: Zwar muss in actu ein Bestand an konstitutiven Voraussetzungen in Anspruch genommen werden, es können aber diese Voraussetzungen thematisch problematisiert und variiert werden, während dann konstituierte (z.B. vormals empirische Sätze) in die Position der konstitutiven Voraussetzungen wechseln; damit drückt das Wittgenstein’sche Bild metaphorisch den Zweifel an der Analytizität von bedeutungsexplizierenden oder auch »grammatischen« Sätzen aus (vgl. Wittgenstein 1969: 15). Die Einheit der Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks ist die Gesamtheit der Fälle seiner situationsbezogenen Anwendungen, die untereinander in Ähnlichkeitsbeziehungen stehen – nicht primär die ideale Einheit, die die Vorkommnisse des Zeichens bzw. des Satzes zu tokens immer desgleichen types macht;16 ebenso wenig ist sie die Extension oder die »Realität«, die ein Ausdruck repräsentiert. Das folgt aus der Bestimmung der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke als die Gesamtheit ihrer Verwendungen (und der damit verbundenen möglichen Anschlüsse bzw. praktischen Implikationen) im Unterschied zu Theorien der Bedeutung, die sie einer idealen oder extensionalen Einheit bzw. den Wahrheitsbedingungen von Aussagen zuordnen. Die »Gebrauchs-Bedeutung« von sprachlichen Ausdrücken und von Handlungen ist relativ zu Praktiken partikularer kultureller Lebensformen. Sie ist nicht primär auf die deskriptive Funktion der Sprache oder auf »ideale« Bedeutungen bezogen; und diese Praktiken sind nicht allein durch Sprachstrukturen konstituiert, sondern beruhen (teilweise) auf außersprachlichen Routinen, impliziten Regeln und Normen, die ihrerseits konstitutiv für okkasionelle, situative und spezifische,
15 | Siehe zur späteren Rückkehr diskurstheoretischer Ansätze, die sich an Foucault anlehnen, zur »Performativität« des Diskurses (unter Anschluss an die Derridasche Unterstellungen der nicht-trivialen Unmöglichkeit von »Wiederholungen«): de Certeau 1988 und Butler 1998. 16 | Der »primäre« Status deutet an dieser Stelle nicht notwendig in Richtung einer empirischen These über die historische Genese abstrakter Bedeutung oder expliziter Typisierungen von Sprache und Handlungen, sondern ist handlungstheoretisch gemeint im Sinne der Rekonstruktion der faktischen Kompetenz der Sprecher, die um der Fähigkeit willen, einer Regel oder auch einer Norm zu folgen, vor der expliziten Repräsentation dieser Regeln und Normen über das implizite Wissen verfügen müssen, wie konversationale Implikaturen (Grice) und sprachliche Prototypen bzw. »prototypische Effekte« (z.B.: Lakoff 1985) vernetzt sind und werden (siehe auch: Bourdieu 1979: 248ff.).
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langfristig aber auch für relativ kontext-enthobene, handlungsferne (vgl. Srubar 2003b: 105ff.) und abstrakte Bedeutungen sind. Die Anwendung der Vermutung kultureller Kontingenz auf die konstitutive Ebene von Sprach- und Welthorizonten betrifft darum den Repräsentationscharakter der Sprache insgesamt. Der deskriptiven Darstellung von Sachverhalten oder gar von kulturellen Orientierungen kann dann nicht länger zugetraut werden, als neutrales, gläsernes Medium (Rorty 1984, 1989) Welt oder auch Kultur abzubilden. Der Kontextualismus schließt an die Tradition an, die der Sprache primär eine welterschließende Funktion zuspricht (vgl. Taylor 1985) und so die »Welt«, in der ein Kollektiv, eine Sprachgemeinschaft lebt, als Funktion zuerst der Praxis, dann und damit: der Sprache, die diese Gemeinschaft verbindet, begreift.17 Der Zugang zu einer anderen Kultur kann dann nicht über ein objektives oder neutrales tertium comparationis vermittelt sein, d.h., es lassen sich fremdkulturelle Ausdrücke oder Praktiken nicht in die eigene Sprache »übertragen«, indem schlicht eine identische Bedeutung oder identische Referenzgegenstände (etwa die »objektive« Welt oder universale »Strukturen« oder »Funktionen«) unterstellt werden, die dann ebenso gut in der eigenen Sprache repräsentierbar wären.18 Die andere Kultur ist zunächst eine performativ andere Kultur oder kulturelle Lebensform. Die Differenz und entsprechende Kommunikationsbarrieren liegen nicht zuerst auf der Ebene differenter Deutungsschemata, die die objektive Welt anders einteilen oder auf unterschiedlichen »kognitiven Niveaus« semantisieren, sondern auf der Ebene impliziten Wissens, praktischer Routinen und »rhetorischer Strategien« (Gumperz, Roberts 1991), zu denen Gestik, Prosodie, der Einsatz nonverbaler Mittel und die Fertigkeiten im Umgang mit einer zuhandenen Umgebung gehören (Renn 2004: 233ff.).
17 | Die (kulturell relevante) Welt ist nicht, was der Fall ist, oder was als eine natürliche und äußere »Grundlage« kultureller Lebensformen objektiv repräsentierbar wäre, sondern das Resultat von praktisch strukturierten Rastern, Unterscheidungen, Klassifikationen, die ein selektives und arbiträres Netz von Schemata knüpfen. Die Differenz zwischen Sprachen ist eine Differenz zwischen Welten, und dies, so die kontextualistische Auffassung, gilt für die »objektive« Welt, die sachliche Umwelt, die nur diese Kultur als diese Umwelt haben kann, und es gilt um so mehr für soziale Regeln, Rituale, Normen wie intentionale Gegenstände, Affekte und »Selbstkonzepte«. 18 | Darum kann auch eine (bezeichnender Weise englischsprachig artikulierte) Repräsentation von angeblich elementaren Bedeutungen in einer neutralen Metasprache (etwa einer »natural semantic metalanguage«, so: Wierzbicka 1991, vgl.: Hasada, 1997: 84ff.) das Problem der partiellen Unübersetzbarkeit nicht kompensieren, denn der vermeintlich metasprachliche Ausdruck ist nur im Horizont der zielsprachlichen Sprachkompetenz (die implizit Konnotationen ergänzt) überhaupt intelligibel.
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Genau auf diesen Zusammenhang berufen sich Einwände gegen ethnozentrische Begriffsverwendungen, wenn z.B. wiederholt versichert wird, dass für die Beschreibung (gewisser) asiatischer Kontexte westliche Konzepte wie »Respekt« (Hasada 1997) oder vor allem »Religion« zutiefst unangemessen und irreführend sind (Aoki 1992; Matthes 1993; Shimada, Straub 1999). Allerdings drücken gerade diese Klagen das Problem der Übersetzung auf zweischneidige Weise aus: Gerade wenn der Begriff der Religion, etwa in seinem Bezug zur Unterscheidung zwischen immanenter und transzendenter Sphäre, für fremdkulturelle Orientierungen unangemessen ist, so kann dies nur entweder bedeuten, dass fremde Praktiken oder Vorstellungen gar nicht unter die Kategorie einer Religion fallen, oder aber, dass »Religion« dort etwas anderes »bedeutet« als hier. Im ersten Fall handelt es sich gar nicht um ein Übersetzungsproblem, sondern schlicht um eine Fehlinterpretation (bzw. fälschliche Subsumtion) gegebener Praktiken und Vorstellungen – womöglich treffen andere Kategorien durchaus zu; im zweiten, interessanteren Fall zeigt sich, dass der generalisierte Begriff »Religion« in der Anwendung auf fremdkulturelle Phänomene erst jenen Kontrast erzeugt, der erstens den Abstand zwischen den Kulturen, zweitens den Abstand zwischen expliziter Beschreibung und pragmatisch zugänglichem Phänomen sichtbar macht. Das bedeutet drittens aber, dass auch im eigenkulturellen Kontext der generalisierte Begriff »Religion« mit den partikularen Erscheinungen des Religiösen, aus denen er im Zuge der Abstraktion gebildet ist, nicht zusammenfällt. Es gibt eine »Gebrauchsbedeutung« des Terminus, die nicht nur die Applikation des Begriffs auf vertraute, aber spezifischere Phänomene, vielfältige Formen der Religiosität, vermittelt, sondern die Projektion auf andere kulturelle Kontexte ermöglicht. Nur durch die praktische Erfahrung des Scheiterns einer solchen Projektion, durch die im interaktiven Un- und Missverständnis sichtbare Überdehnung der Gebrauchsbedeutung wird viertens eine Revision und Erweiterung des Konzeptes von Religion durch jene Kontrasterfahrung möglich.19
IV. D ie gemeinsame menschliche H andlungsweise und performative K ultur Es muss also unterschieden werden zwischen der exaltierten Version der Inkommensurabilitäts-Annahme und der These einer partiellen (möglicherwei19 | Die Erfahrung kann dann entweder dazu führen, den eigenen Begriff der Religion ex negativo explizit »kennenzulernen«, also etwa die Unterscheidung zwischen immanenter und transzendenter Sphäre als konstitutives, aber historisch-global betrachtet als partikulares und kontingentes Merkmal zu erkennen, oder aber den Begriff schlicht zu erweitern, zu flexibilisieren, in Typen zu differenzieren etc.
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se nur temporären) Unübersetzbarkeit, die auf die Bedingung der Möglichkeit, den Abstand zu erfahren und zu artikulieren, reflektiert. Die Hypostasierung der Inkommensurabilität beruft sich allerdings ihrerseits auf Wittgenstein (so: Lyotard 1989): Seine Analyse der Lebensformen und der Sprachspiele habe gezeigt, dass Lebensformen füreinander unerreichbar sind, weil die für sie jeweils grundlegenden Kategorien, Regeln etc. kein gemeinsames Maß teilen, also inkommensurabel sind, sofern das Maß, an dem regelkonformes Reden und Handeln intern gemessen wird, ein jeweils immanentes sein muss. Wittgensteins eigene, kursorische Bemerkungen etwa zum Phänomen der Religion (Wittgenstein 1968: 89f.) scheinen in diese Richtung zu weisen: D.Z. Phillips erinnert an die verstreuten Auslassungen Wittgensteins, z.B. über die Deutung einer Krankheit als Strafe für sündiges Handeln. Die ideologiekritische Bezugnahme auf überlegenes medizinisches Wissen verfehlt das Phänomen, sofern es die konstitutiven Regeln des religiösen Sprachspieles missachtet und das eigene (rationale) Maß anlegt. Das Beharren auf die rationale (etwa: empiristische) Deutung der Wahrheitsbedingungen von Existenzaussagen verfehlt im gleichen Sinne die Bedeutung religiöser Behauptung der »Existenz« Gottes. Demgegenüber insistiert Wittgenstein darauf, dass der Gläubige nicht »falsch«, sondern »anders« denkt (vgl. Phillips 1965). Doch auch diese Beispiele, von Wittgenstein selbst vorgebracht, zeigen eben nicht einfach evidente Inkommensurabilität, sondern sie sind nur nachvollziehbar, solange man über einen wenigstens intuitiven oder impliziten Zugang zu beiderlei Maß verfügt, also weiß, was es praktisch, d.h. in seinen pragmatischen Konsequenzen bedeutet, dass Gott in einem nicht empirischen Sinne »existieren« soll. Gegen die relativistische Position (die de facto einen Universalismus der reziproken Verschlossenheiten darstellt) steht allerdings Wittgenstein selbst. Die Gebrauchstheorie spricht von unscharfen Kriterien, ausfransenden Rändern und räumt damit systematisch nicht nur die Möglichkeit der Transformation von Sprachspielen, sondern auch der Übergänge von einer Lebensform in die andere ein (dazu: Schneider 1999). Gegen die Annahme der »radikalen Alterität« spricht sich Wittgenstein schließlich in einem berühmten Satz deutlich selbst aus: »Die gemeinsame menschliche Handlungsweise ist das Bezugssystem, mittels dessen wir uns eine fremde Sprache deuten.« (Wittgenstein 1984, Nr. 206: S. 346) Die Pointe dieses Satzes erschließt sich indessen erst, wenn sie auf die Unterscheidung zwischen pragmatischer Zugänglichkeit und expliziter Beschreibung bezogen wird: Dann nämlich ist als die gemeinsame menschliche Handlungsweise nicht eine natürliche Grundlage jedweder kulturellen Lebensform zu verstehen, sondern die (von jeweils differenten Deutungen und entsprechenden Missverständnissen begleitete und getragene) gemeinsame Praxis innerhalb einer faktisch geteilten Situation. Gemeinsam ist die Handlungsweise also nicht im Sinne
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einer expliziten Anthropologie und ihrer Artikulation des Allgemein-Menschlichen, sondern im Sinne der Faktizität einer Begegnung von Angehörigen unterschiedlicher performativer Kulturen, die zwar interagieren, dabei aber durchaus einander gar nicht oder missverstehen können. Wieder ist die Repräsentation im Medium expliziter Beschreibungen und generalisierter Begriffe nicht zu verwechseln mit der faktischen Gemeinsamkeit zwischen Lebensformen, die sich bei realer Begegnung, im Teilen einer (kognitiv und semantisch – noch – nicht gemeinsamen) Situation erst einstellt. Eine solche pragmatisch geteilte, aber semantisch und intentional different gedeutete Situation (Sahlins 1986, vgl.: Renn 1999) wird zunächst jeweils intern aus der Perspektive der konfrontierten Lebensformen kulturspezifisch interpretiert oder auch expliziert. Aufgrund der beiderseitigen Erfahrung der Differenz zwischen diesen Deutungen, die sich im praktischen Scheitern der eigenen Unterstellungen einstellen kann, kann die Transformation der jeweils eigenen Artikulationen der Situation (die Negation eigener Normalitätsunterstellung und ihre Differenzierung) zur kooperativen pragmatischen Konstitution eines tertium comparationis des Vergleichs führen. Zunächst ist die »gemeinsame Handlungsweise« also nicht mehr als die Gemeinsamkeit der Situation, in der im Horizont unverständlicher Deutungsmuster gehandelt wird und in der Erfahrungen des Scheiterns von Sinnunterstellungen an der Reaktion des Gegenübers gemacht werden können. Diese Erfahrungen können über den allmählichen praktischen Zugang zur performativen Kultur der anderen Seite (etwa durch funktionale Umwertung eigener Konzepte, Sahlins 1986) die partielle Unübersetzbarkeit des anderen Situations- und Selbstverständnisses in die eigene Sprache sichtbar werden lassen, und das kann – qua Transformation der Artikulationsformen, in denen das Handeln gedeutet wurde – schließlich zu einem rudimentären und sukzessiv ausgebauten, expliziten tertium comparationis führen. Mit dieser Auslegung des Ausdrucks »gemeinsame menschliche Handlungsweise« zeigt sich, dass die Unmöglichkeit strikt äquivalenter Übersetzung (d.h. restlos bedeutungserhaltender Übertragung) nicht prinzipielle Unzugänglichkeit bedeutet, sondern nur, dass der Zugang zu einer Kultur über eine kulturelle Grenze hinweg eine sukzessive praktische Annäherung entlang von Erfahrungen des Scheiterns von Identitäts- bzw. Normalitätsunterstellungen erforderlich macht. Denn wegen der genannten Kritik an der Hierarchisierung zwischen konstitutiven Regeln oder Typen und konstituierten Akten des Sprechens und Handelns, folgt aus dieser prima facie kontextualistischen Auffassung von sprachlichen und kulturellen Horizonten ganz und gar nicht, dass Kulturen oder auch Wittgenstein’sche Sprachspiele und Lebensformen als holistische Container selbstgenügsam und gegeneinander abgeschlossen sind. Im Gegenteil: Gerade der primär performative Charakter einer kulturellen Lebensform hat zur Folge, dass erstens die unscharfe Gebrauchsbedeutung
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von sprachlichen Ausdrücken und Handlungen in wechselnden Situationen variieren können muss (vgl. dazu: Schneider 1999) und somit die Einheit der familienähnlichen Einzelfälle (die einen Typus bilden) transformiert werden kann. Es bedeutet deshalb zweitens, dass die praktische Erfahrung mit einer anderen kulturellen Lebensform dieser Transformation eigener Horizonte eine Richtung geben kann, so dass dadurch erst ein tertium comparationis zwischen den Kulturen konstituiert wird, das eben nicht ex ante kognitiv verfügbar war. Entscheidend ist dabei, dass dieses tertium comparationis nicht explizit, propositional oder begrifflich sein muss, also nicht in einer dritten Sprache bestehen muss, dennoch aber in gewisser Weise vorausgesetzt werden muss, wenn die Erfahrung der partiellen Unübersetzbarkeit überhaupt gemacht und artikuliert werden können soll. Erst dadurch wird verständlich, warum Autoren, die sich teilweise explizit zu einem relativistischen Kulturbegriff bekennen, Phänomene der Unübersetzbarkeit beschreiben können: Wiederholt berichten Feldforscher von der Erfahrung, nach langwieriger praktischer Annäherung an einen fremdkulturellen Kontext, und d.h. an die sprachliche und praktische Kompetenz eines Angehörigen der untersuchten Lebensform, bald zwar tendenziell aus der Teilnehmerperspektive »verstehen« zu können, nun aber dieses Verständnis nicht mehr in der eigenen Sprache, in der zunächst für das wissenschaftliche Publikum beschrieben, im wissenschaftlichen Diskurs eventuell »verglichen« werden soll, auszudrücken vermögen. Beliebte Beispiele für die derartig beschriebene empirische Unvergleichbarkeit der Kulturen sind die Zusammenhänge zwischen: Gefühlskonventionen und den Netzen der Termini in denen sie ausgedrückt werden (Hasada 1997; Röttger-Rössler 1997). Entsprechende Darstellungen bestätigen aber keineswegs, dass die konfrontierten Kulturen – hier bezogen auf Affekt-Schemata und ihre performativen Realisierungen – tout court inkommensurabel sind, denn die Hinweise auf partiell unübersetzbare Gehalte gehen auf eine praktische Vergleichung zurück, auch wenn ein expliziter Maßstab und die positive Charakterisierung des anderen Sinnes nicht (sofort) verfügbar sind. Diese und andere Beispiele sowie das empirische Faktum der Folgen von kulturellen Erstbegegnungen (Burke 2000, und selbst: Todorov 1985) zeigen, dass der praktische Zugang zu vermeintlich unübersetzbaren Kulturen nicht unmöglich ist. Sie zeigen darüber hinaus, dass die Erfahrung der erheblichen Differenz an den Erwerb der Kompetenz aus der Teilnehmerperspektive gebunden ist – also personal betrachtet an den Erwerb einer Fremdsprache (und der Kenntnis der sie tragenden sozialen Routinen). Die Frage: woher wir (ex post) von der Unübersetzbarkeit wissen, scheint also auf die Basis der Zweisprachigkeit hinzuweisen, die den erheblichen Abstand zu erkennen erlaubt. Doch der Begriff der Zweisprachigkeit evoziert das falsche Bild des Problems der Übersetzung, wenn sie auf die Fähigkeit reduziert wird, zu sagen, wie »dasselbe« in einer anderen Sprache »heißt«; sie besteht vielmehr in der prak-
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tisch fundierten Einsicht, dass es – wenn es eine andere Kultur ist – für diesen und jenen Ausdruck kein vollständiges Äquivalent in der anderen Sprache gibt (jedenfalls gemessen an einem anspruchsvollen Begriff der Äquivalenz, der die Gesamtheit möglicher Anschlüsse, Implikationen und Verwendungsweisen einschließt). Der Erwerb der anderen Sprache ist ein praktischer Übergang in die andere performative Lebensform. Er macht den Mangel an Äquivalenz sichtbar, indem er die Differenz zwischen Gebrauchsbedeutungen explizit zwar nicht unbedingt einzuholen, pragmatisch aber zu »erkennen« erlaubt. Das heißt: Wer mit einigem pragmatisch hinreichenden Erfolg die Sprache der anderen Kultur erlernt hat, hat sich nicht allein explizites grammatisches und lexikalisches Wissen zueigen gemacht, sondern verfügt über die praktische Kompetenz, Gebrauchsbedeutungen zu kennen (vgl. Pinxten 1991). Er vermag auf der Grundlage relativ vertrauter Praktiken, Routinen und impliziter Normen die situationsadäquaten Verwendungsweisen von Ausdrücken von unangemessenen zu unterscheiden, auch wenn er kein explizites Kriterium artikulieren könnte. Und darum ist diese Kompetenz ein implizites Wissen, ein praktisches Können (Ryle 1971; Polanyi 1985), für das die empiristische Vorstellung der kontrollierten Anfertigung eines ausdrücklichen Übersetzungsmanuals (Quine) eine irreführende Beschreibung darstellt. Denn diese Vorstellung unterstellt zwei statische Sprachen, aus denen heraus und vermittels derer die jeweils andere Sprache »beobachtet« würde. Wenn »übersetzen« nach diesem Bilde bedeutete, dasselbe in der einen wie in der anderen Sprache auszudrücken, bleibt Übersetzung unmöglich. Verschlossen sind kulturelle Lebensformen füreinander indessen nicht, denn die Erfahrung der Differenz und die Möglichkeit des Vergleichs zwischen zwei Kulturen müssen und können auf der pragmatischen Übersetzung auf bauen, die den transitorischen Charakter sprachlicher Praktiken nutzt: Die generalisierte Unterstellung der Unübersetzbarkeit, die sich auf die Inkommensurabilität zwischen den Kulturen versteift, bleibt deshalb inkonsistent, solange sie darauf verzichtet, an die Erfahrung zu erinnern, die der Behauptung unübersetzbarer Alterität überhaupt erst das Material, den Anlass und mögliche Plausibilität verleiht. Diese Erinnerung legt den Schluss nahe, dass die Erfahrung der partiellen Unübersetzbarkeit auf eine Zugänglichkeit rekurrieren muss, die den Vergleich mit den Mitteln einer Sprache, in die übersetzt wird, transzendiert (und nur darum sekundär ermöglicht). Aus der Behauptung, etwas ließe sich nicht übersetzen, folgt eben gerade nicht, es wäre nicht zu vergleichen, denn der zweisprachige Übersetzer, der wie Walter Benjamin (1955) als Kenner der fremden Ausgangssprache versichert, es fände sich in der Zielsprache kein Äquivalent, muss offensichtlich über einen Vergleichspunkt verfügen, auch wenn dieser Vergleichspunkt in keiner der
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beiden Sprachen auszudrücken ist.20 Die intentional realisierte Vergleichung transzendiert in diesem Fall die lexikalische und grammatische Explikation beider beteiligten Sprachen, indem und weil sie genau diese expliziten syntagmatischen und paradigmatischen Gehalte im Medium der praktischen Kenntnis von Gebrauchsbedeutungen reflektiert. Um dieser Erfahrung der partiellen Unübersetzbarkeit also gerecht zu werden, um auszudrücken, was für den Kulturvergleich aus der Entdeckung der Grenze der Identitäten zwischen zweierlei Sprachen und Horizonten folgt, ohne dabei in inkonsistente Generalisierungen gegenseitiger Verschlossenheit auszuweichen, muss eine Unterscheidung zwischen Modi der Kultur in Anspruch genommen werden (als Steigerung der Reflexion auf Kulturen zur Reflexion auf die Reflexion der Kulturen): Performative und explizite Kulturen unterscheiden sich dadurch, welche Funktion der expliziten Sprache (semantischer Struktur und Typik) zukommt. Im weiteren Sinn kognitive Kulturbegriffe lassen sich bezogen auf die Referenzebene unterscheiden: So wird »Kultur« als Wissen auf Intentionalität, als symbolisches System auf sprachliche und textuelle Struktur, schließlich als System von Institutionen und Normen auf Regeln zugerechnet (so: Dworschak 1998: 72). Die entscheidende systematische Pointe der Übersetzungsproblematik besteht indessen darin, den Unterschied zwischen praktischem oder implizitem Wissen (bzw. Können) und der expliziten Artikulation dieses Wissens in Begriffen, propositionalen Ausdrücken und ausdrücklichen Typisierungen oder Schemata selbst als eine Übersetzung zu betrachten (Renn 2004). In diesem Übergang überschreitet das Wissen nicht nur die Grenze zwischen einem thematischen und einem unthematischen Sinn, sondern es ändert sich die Form des Wissens von der habitualisierten impliziten Kompetenz (Ryle 1971; Bourdieu 1979) zur Fähigkeit, explizit zu sagen, worin dieses Wissen, z.B. also worin die kulturelle Bedeutung einer bestimmten Handlung, eines bestimmten Ausdrucks bzw. Symbols, besteht. Der irreführende Charakter kognitivistischer Kulturbegriffe liegt in der Voraussetzung begründet, die Explikation impliziten Wissens wäre die Repräsentation eines nur unthematischen Wissens. Die Abstraktion, die eine explizite Bedeutung und eine explizite Regel artikuliert, wird dabei nicht hinreichend als ein Selektionsprozess begriffen, bei dem erstens notwendig mannigfaltige implizite Gehalte verloren gegeben werden müssen und der zweitens keine ad20 | Dabei ist es natürlich entscheidend, wie die Grenze einer Sprache bestimmt wird, je nach Gesichtspunkt kommt einerseits die Differenzierung zwischen Sprecherbedeutung und Satzbedeutung (im Sinne von: Grice 1968 oder aber als Differenz zwischen Intention und semantischem Wert) oder auch andererseits die Differenz zwischen medialen Realisierungen (Schrift und orale Sprache) einer »Sprache« in Betracht (vgl. dazu: Stetter 1999).
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äquate Repräsentation des Wissens im Sinne der kulturellen Kompetenz des Angehörigen einer kulturellen Lebensform sein kann. Letzteres liegt einfach daran, dass – wie schon Wittgenstein und Quine auf je ihre Weise plausibilisiert haben – die abstrakte Kenntnis von Regeln und stereotypen Bedeutungen (Putnam) die Verwendung von Ausdrücken, die Anwendung von Regeln und allgemein die situationsspezifische Handlung nicht leiten oder gar determinieren können, bestenfalls »instruieren«.21 Das Entscheidende an der impliziten Gestalt des Wissens ist im Unterschied zur reflexiven und abstrakten Kenntnis kultureller Normen und Bedeutungen, dass das implizite als für die Praxis konstitutives Wissen, um seine Aufgabe zu erfüllen, unformulierbar sein muss. Das liegt darin begründet, dass die Fokussierung des Wissens auf dem Wege der Explikation, die Übersetzung in ein »knowing that« nur wieder neues »knowing how«, nämlich das implizite Wissen, wie (genau) hier und jetzt das explizite Wissen in concreto anzuwenden ist, erforderlich macht.22 Soziales Handeln greift immer auch auf implizites Wissens zurück, denn explizites Wissen allein kann das konkrete Handeln nicht anleiten. Das Wissen, wie man etwas macht, wie die Angehörigen einer Sprachgemeinschaft (»normalerweise«) handeln, enthält notwendig mehr als nur das, was man sagen, ausdrücken und explizieren kann. Es ist abhängig von der Zugehörigkeit zu einer praktisch integrierten Kollektivität, die (je nach Differenzierungsgrad der Gesellschaft) entweder als ein kulturelles Milieu neben anderen oder prinzipiell als kulturelle Lebensform bezeichnet werden kann. Dieses Merkmal charakterisiert den Typus einer »performativen Kultur«, von dem der Typus einer expliziten Kultur als Gesamtheit des nun (d.h. im Zuge einer institutionalisierten Übersetzung, Renn 2003) abstrahierten, ausdrücklichen und begrifflich organisierten kulturellen Wissens unterschieden werden muss: Im Zuge der Kodifikation ritualisierter Praktiken (religiöse, rechtliche Normartikulationen), der »Rationalisierung der Lebenswelt« (Habermas), die die Ausdifferenzierung von Geltungsdimensionen, von Wissenschaft, Recht oder Moral und Kunst (etc.) einschließen kann, nimmt das vormals performativ in Anspruch genommene Wissen explizite Form an, bildet sich der reflexive (Kontrast-)Begriff der »Kultur«; verändert sich der Plausibilitätsmodus von der pragmatisch bean-
21 | Genau darauf insistiert mit Verweis auf Quines Unterscheidung zwischen »guiding« und »fitting« – die Regelartikulation kann auf eine Praxis »passen«, ihre Kenntnis allein kann die Praxis aber nicht anleiten oder »erzeugen« – Bourdieu in seiner Kritik an dem von ihm so genannten »juridischen Vorurteil«, das die logische Form der expliziten Norm mit der praktischen Logik (die implizit und habituell integriert wird) verwechselt, siehe: Bourdieu 1979: 246ff. und vgl. Bloor 1983 bzw. Turner 1994. 22 | Das ist die Pointe, die die Beschreibung des impliziten Wissens schon bei William James (1950: 221ff.) und später bei Michael Polanyi (1985: 25ff.) hatte.
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spruchten und bestätigten Gewissheit zur diskursiv legitimierungsbedürftigen Geltung. Doch dieser Formwandel performativer Kultur ist weder als eine neutrale Thematisierung zuvor »an sich« isomorpher aber unreflektierter Überzeugungen anzusehen (eher, wie gesagt, als selektive Übersetzung), noch aber als eine vollständige Ersetzung (was bis vor Kurzem sowohl der modernisierungstheoretische Optimismus als auch der entfremdungskritische Pessimismus suggerierte). Mit der Explikation performativer Kultur treten rationale und institutionell geprüfte, verwaltete und pädagogisch vermittelte Kulturen nicht an die Stelle von performativen Kulturen, sondern neben sie, so dass nun das praktische Wissen der Angehörigen performativer Kulturen sowohl Gegenstand expliziter Beschreibung und Vergleichung von »Kulturen« werden kann, als auch als »Applikationswissen« zu einer nötigen Ressource für die Übersetzung expliziter Kultur in konkretes Handeln wird. Erst vor diesem Hintergrund lässt sich das Problem des sozialwissenschaftlichen Kulturvergleichs schließlich angemessen analysieren. Denn dann wird deutlich, dass der Vergleich zwischen den Kulturen nicht nur die Übersetzung zwischen zwei impliziten Horizonten oder pragmatisch integrierten Lebensformen erfordert, sondern zudem, wenn nicht vor allem, die Übersetzung zwischen Handlungsgewissheiten und explizitem Wissen bzw. rationalisiertem, argumentativem Diskurs. Der Unterschied zwischen der impliziten Vergleichung und der expliziten Übersetzung lässt sich dann erklären durch den Unterschied zwischen pragmatischer Zugänglichkeit eines praktischen Horizontes und der selektiven Explikation dessen, was durch diesen Zugang erfahren wird, denn erst diese Explikation verdichtet das Ergebnis einer dichten Praxis über die Zwischenstufe einer dichten Beschreibung (Geertz 1987, vgl. aber die Kritik bei Ackermann 2004) zur expliziten, d.h. begrifflichen und theorie-affinen Vergleichung identifizierter Kulturen als »Kulturen«. Die Erfahrung der partiellen Unübersetzbarkeit ist erst dann keine epistemologische Chimäre, die sich begriffslogisch als inkonsistent erweisen muss (als Behauptung von Inkommensurabilität aufgrund eines Vergleichs), wenn sie auf das Problem des Übergangs zwischen praktischem Zugang und expliziter Beschreibung bezogen wird. Die Erfahrung partieller Unübersetzbarkeit ist Ergebnis mindestens zweier Übersetzungsbemühungen: Zunächst muss als Folge der sukzessiven Erschließung einer anderen performativen Kultur eine pragmatische Vergleichsoperation möglich werden, erst der wenigstens annähernde praktische Erwerb des »anderen« impliziten Wissens eröffnet die Einsicht in den Abstand zwischen vertrauten begrifflichen Kategorien und den Phänomenen, die mit ihrer Hilfe beschrieben und begriffen werden sollen. Der zweite Schritt, der die Grenzen des Vergleichs und die Begrenztheit der Übersetzung (im Sinne der Explikation) erfahrbar macht, besteht dann in den Versuchen, den im Feld, als teilnehmender Beobachter oder auch nur als
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halbwegs aufgeschlossener Nachbar in »multikulturellen« Wohnquartieren gewonnenen Einsichten Ausdruck in der Sprache der expliziten (Herkunfts-) Kultur zu geben, also auch: in der Sprache des sozialwissenschaftlichen Diskurses und der Kulturtheorie.
V. Ü berse t zung z wischen D iskurs und P r a xis stat t Pathos des D ialoges Die Gleichzeitigkeit von pragmatischem Zugang und der Erfahrung der begrenzten Übersetzbarkeit beruht auf der Möglichkeit des impliziten Vergleichs zwischen performativen Kulturen und ihrer expliziten Repräsentation: Die teilnehmende Beobachtung beispielsweise wird als methodischer Zugriff auf eine andere, vormals unvertraute, womöglich ganz unbekannte performative Kultur verständlich. Dann ist es auch – frei von Inkonsistenzen – möglich zu vertreten, dass eine kulturelle Differenz auf der Ebene dieses Vergleiches zugänglich bzw. erfahrbar, zugleich aber in der Form einer partiellen Unübersetzbarkeit auffällig wird, denn der Vergleich zwischen einer anderen performativen Kultur und den expliziten Ausdrucksmitteln der eigenen Kultur, vor allem einer Wissenschaftskultur und ihren semantischen und pragmatischen, besonders argumentativen Regeln und Routinen, ist deutlich etwas anderes als der Vergleich zwischen zwei expliziten (etwa durch den begrifflichen Vergleich erst konstituierten) Kulturen. Die propositional expliziten Theologien zweier Buchreligionen zu vergleichen, unterscheidet sich von dem Vergleich zwischen einer theoretischen Semantik der Religionswissenschaften und der Gebrauchsbedeutung von Symbolen in »animistischen Religionen« ebenso, wie die exakte Ermittlung des Kontrastes zwischen zweierlei Tonfrequenzen sich von dem Vergleich zwischen der Frequenz eines Kammertons und seiner »Artikulation« vermittels einer Klarinette unterscheidet, bei dem es darum geht, ›zu wissen, wie eine Klarinette klingt‹ (Wittgenstein 1984, Nr. 78: 284). Wenn auf diese Weise zwischen Stufen des Vergleichs parallel zur Ebenendifferenz zwischen der performativen Einstellung und dem expliziten, in extremis theoretischen Diskurs unterschieden werden muss, dann ist das primäre Problem des wissenschaftlichen Kulturvergleichs nicht eine vermeintlich prinzipielle Unzugänglichkeit zwischen allen möglichen Kulturen, ebenso wenig aber das Problem der angeblichen Kontamination wissenschaftlicher Begriffe, Theorien und Methoden durch eine westliche, damit partikulare aber imperialistische Kultur. Das Problem ist nicht primär auf die Differenz zwischen westlichen und östlichen oder anderen Kulturen bezogen, sondern vielmehr auf die fundamentale Differenz zwischen expliziter und performativer Kultur. Und diese Unterscheidung ist logisch von der historischen Dominanz »westlicher« Wissenschaft ganz unabhängig, auch wenn die spezifische Form der Ex-
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plikation performativer Kultur, die sich in der Repräsentation von »Kultur« im eigens wissenschaftlichen Diskurs ausgebildet hat, historisch der Selbsttransformation »okzidentaler« Kultursphären zuzuordnen ist. Unabhängigkeit besteht jedenfalls dann, wenn wir Genesis und Geltung der wissenschaftlichen, d.h. an Wahrheitsansprüchen orientierten und auf Prüfung von Behauptungen angelegten Argumentations- und Erfahrungsverarbeitungsform trennen müssen. Auch diese Trennung wird natürlich im Kontextualismus bezweifelt, doch für sie sprechen mutatis mutandis die gleichen Argumente, die zur Einschätzung des universalistischen Relativismus der verallgemeinerten Inkommensurabilitäts-These, d.h. eines radikalen Kontextualismus als inkonsistenter Position zwingt.23 Zur Explikation verpflichtet, ist es der Reflexion auf den argumentativen Diskurs durch diesen Diskurs selbst (unter Ausnutzung der polyzentrischen Perspektiven, die diesen Diskurs motivieren) möglich, die partielle Uneinholbarkeit einer performativen Kultur24 in einen fallibilistischen Vorbehalt zu übersetzen: Die Explikation von »Kulturen« und der Vergleich der diese Explikation befördert und auf ihr auf baut, können keine letztgültigen, objektiv mit dem Gegenstand »korrespondierenden« Repräsentationen darstellen, und sie müssen sich dauerhaft durch Erfahrungen irritieren lassen, die nicht allein aus der begrifflich schon gerüsteten, externen Beobachtung stammen, sondern methodisch im pragmatischen Anschluss an die Teilnehmerperspektive einer performativen Kultur gewonnen werden. Wenn der Übergang von der performativen Ebene der Erfahrung mit einer anderen Kultur in die Argumentation, die diese Erfahrungen in Argumente und Aussagen umformt, eine Übersetzung ist, dann schließt sie einen erheblichen Bedeutungsbruch ein: den Übergang von der implizit verständlichen Gebrauchsbedeutung von Symbolen, Handlungen und Situationen zur expliziten Bedeutung von Ausdrücken, die auf diese Elemente Bezug nehmen. Das aber bedeutet, dass zwischen der Praxis und dem Diskurs (in den Wissenschaften, die diese Praxis rekonstruieren) eine Grenze überschritten wird und dass die explizite Bezugnahme auf Erfahrungen, durch die der Diskurs zur »empiri23 | Der argumentative Diskurs über die Begrenzungen des begrifflich expliziten Kulturvergleichs – an dem wir uns hier beteiligen – kann sich nicht selbst als partikularer kognitiver und kultureller Stil beschreiben, ohne damit einen Standpunkt von außen in Anspruch zu nehmen. Er kann sich jedoch nicht gleichzeitig von innen wie von außen betrachten, nicht zuletzt, weil die Betrachtung von außen selbst als selektive Explikation eine Übersetzung in einen anderen – womöglich ebenfalls argumentativen – Diskurs bedeutete. Die Bezugnahme auf die eigene Begrenzung kann darum nur indirekt die – dann bereits übersetzte – praktische Erfahrung der Grenzen der Explikation seiner Gegenstände in die interne Begrenzung des Repräsentationsanspruches ummünzen. 24 | Auch der »eigenen«, die im impliziten Fundament von Paradigmen hinterlegt ist, Kuhn 1967.
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schen« Wissenschaft wird, keine bedeutungserhaltende Repräsentation ist. Praxis und Diskurs folgen unterschiedlichen Geltungskriterien und Bedeutungsbestimmungen: Aussagen können nur durch Aussagen und nicht direkt durch Tatsachen bestätigt oder widerlegt werden; der wissenschaftliche Diskurs ist aber über das »rechtfertigungs-transzendierende« Moment des Wahrheitsanspruches (Habermas 1999: 53) wieder auf die pragmatische Gewissheit erstens der Sprachpraxis der Wissenschaft, dann der erfolgsorientierten Praxis externer Kontexte angewiesen. Die Explikation ist keine Abbildung, genauso wenig aber eine rein diskursinterne Konstruktion, sie ist eine Übersetzung, die komplexe Referenzbeziehungen einschließt. Der Übergang von der rationalen Geltung einer Behauptung über »etwas« zur Gewissheit der darin »implizierten« Erwartungen in der performativen Einstellung im Umgang mit einem vermeintlich entsprechenden »etwas« wird auch in der revidierten Habermas’schen Wahrheitstheorie als eine »Übersetzung« aufgefasst: »Wie der Wahrheitsbegriff auf der einen Seite die Übersetzung von erschütterten Handlungsgewißheiten in problematisierte Aussage erlaubt, so gestattet andererseits die festgehaltene Wahrheitsorientierung die Rückübersetzung von diskursiv gerechtfertigten Behauptungen in wiederhergestellte Handlungsgewißheiten« (Habermas 1999: 263). Allerdings ist der Übersetzungsbegriff in dieser Beschreibung mehrdeutig.25 In der Habermas’schen Fassung bildet die Identität der Referenzgegenstände eine wichtige Voraussetzung für die universalistische Rationalitätstheorie, die Unterstellung einer solchen »Identität« bleibt 25 | Damit korrigiert Habermas die vorherige Beschränkung seiner Rekonstruktion des Sinnes der Wahrheitsgeltung auf den rein diskursimmanenten Sinn rationaler Akzeptabilität. War in der Diskurstheorie der Rationalität zuvor allein die idealiter angestrebte Übereinstimmung (wirklich) aller Diskutanten das Kriterium angestrebter Geltung, führen die Analysen in »Wahrheit und Rechtfertigung« ein Element der Verbindung zwischen rationaler Geltungsprüfung und pragmatischer Anbindung überprüfter Gewissheiten an die Praxis ein. Die Revision rationaler Überzeugung wird dann nicht allein durch diskursimmanente Einwände, sondern durch negative Erfahrungen in der Verwendung geprüfter Gewissheiten in ihrer performativen Rolle als Grundlage des Handelns motiviert (Habermas 1999: 50ff, 164ff.). An dieser systematischen Stelle wird der Übergang von der geprüften Behauptung zur praktischen Bewährung dieser Behauptung in der performativen Einstellung als eine »Übersetzung« bezeichnet. Das Problem ist dann die Bedeutung des Übersetzungsbegriffs: Denn es wird nicht geklärt, was »Übersetzung« hier bedeuten mag, vor allem ob – angesichts der »Unbestimmtheit« der Übersetzung – beim Übergang vom Diskurs in die Praxis die universalistische Ausrichtung von Geltungsansprüchen erhalten bleibt, bzw. ob es überhaupt die in diesem starken kognitiven Sinne hypothetisch aufrechterhaltene Überzeugung ist, die im Zuge der doppelten Übersetzung einer Prüfung unterzogen wurde, ob also das Modell einer solchen Übersetzung die Revisionskraft der Praxis für die reflexive Argumentation stützt.
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aber gebunden an die Assimilation des impliziten Wissens, wie mit »etwas« umgegangen wird, an das explizite Wissen »über etwas« (Renn 2004: 246f.). Die Möglichkeit der Erfahrung der partiellen Unübersetzbarkeit ist jedoch, wie gezeigt, erst durch den Abstand zwischen performativem Zugang und begrifflicher Explikation gegeben. Darum ist die Übersetzung zwischen Diskurs und Praxis mehr als eine neutrale Umformulierung von performativer Gewissheit in explizites Wissen. Denn die Identität der Bezugnahme ist nicht durch die objektive Identität des »etwas«, das einmal Gegenstand einer Aussage, dann aber »Gegenüber« einer Handlung ist, gesichert. Durch den Übersetzungscharakter dieses Überganges wird uneindeutig, was genau im Vollzug dieses Überganges erhalten bleibt, ob nicht also etwa im Zuge der Übersetzung von Behauptungen und Überzeugungen in »Handlungsgewißheiten« der Sinn der Geltung sowie der implizite Vorentwurf über die Welt und den Charakter der Objektivität und schließlich der bestimmte Bezugsgegenstand unter der Hand ausgetauscht werden. Genau darin besteht das Problem der Applikation vermeintlich neutraler oder objektiver Kategorien wie »Person«, »Religion« oder auch »kognitives Entwicklungsstadium« in der expliziten Beschreibung performativer Kulturen, die dann mit ebensolchen Beschreibungen anderer Kulturen verglichen werden können. Forschungspragmatisch Erfahrung zu generieren, bedeutet also einen Revisionsanstoß für die diskursive Prüfung von Begriffen, Hypothesen und Beschreibungen vorzubereiten. Die Revision kann an der sichtbar gemachten Inadäquatheit diskursiv konstituierter und konstitutiver Kategorien ansetzen, doch diese Sichtbarkeit stellt sich zuerst überhaupt nur performativ in der Praxis ein, als implizite Gewissheit, dass neu erschlossene Handlungsgewissheiten (praktische Überzeugungen) nicht angemessen in den vertrauten expliziten Kategorien einer vergleichenden Wissenschaft und ihres Diskurses auszudrücken sind. Zum diskursinternen Argument wird diese Erfahrung jedoch erst nach dem Übergang in die Argumentation als nun theorie- und begriffsabhängige, propositional auf bereitete und das heißt: durch Explikation umgeformte Erfahrung. Diese Umformung ist die Übersetzung von performativ gewonnenen Erschütterungen praktischer Gewissheiten (die wiederum Übersetzungen von rational begründeten und geprüften Überzeugungen in praktisches Wissen sind) in diskursinterne Argumente gegen begriffliche und theoretische Konventionen bzw. Überzeugungen. Das aber heißt: Zur empirischen Wissenschaft wird der Sondertypus einer expliziten Kultur, der in der Praxis der rationalen Argumentation der Wissenschaft und ihrer expliziten Semantik besteht, nur durch den Anschluss an die performative Ebene der praktischen Erfahrung mit ihrem Gegenstand. Dieser Anschluss aber ist notwendig ein indirekter, da er durch die hin- und zurücklaufenden Übersetzungen zwischen Praxis und Diskurs hindurchführen muss. Im Falle der kulturvergleichenden Diskurse ist das nicht überraschend:
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Die ethnologische Methode, die durch die Schule Malinowskis und die Geschichte der Repräsentationskritik hindurchgegangen ist (Fuchs 2001: 21ff.; Ackermann 2004, vgl. auch Amann, Hirschauer 1997), erfordert es de facto, den Zugang zum »Objekt«, damit zu empirischen Anlässen für die Revision begrifflicher Voraussetzungen, über eine »dichte Praxis« (Geertz 1987), d.h. über die Interaktion auf der Ebene der performativen Einstellung »in« einer anderen Kultur »gegenüber« ihren Angehörigen zu wählen (Pinxten 1991). Wenn der praktische Zugang zu einer anderen performativen Kultur über das Teilen einer gemeinsamen Handlungssituation (bei divergierenden Deutungen) prinzipiell mindestens möglich ist, und wenn sich auf diesem Wege im Zuge des annähernden Erwerbs einer »fremden« praktischen Sprach- und Handlungskompetenz ein tertium comparationis konstituieren lässt, so wird dieser Weg methodologisch notwendig. Dann aber kann der Kulturvergleich, der gegenüber seinen eigenen begrifflichen Voraussetzungen kritisch ist bzw. der auf die Suche nach Revisionsanstößen durch empirische Erfahrungen geradezu verpflichtet ist, der zu vergleichenden anderen Kultur nicht primär in objektivistischer, observationalistischer oder subsumtionslogischer Attitüde begegnen. Die sozialwissenschaftliche Vergleichsunternehmung muss – primär oder mindestens »irgendwann«26 – nicht nur über sondern auch mit den Angehörigen einer anderen performativen Kultur handeln und sprechen. Allerdings wird damit – entgegen dem möglichen Anschein – dasjenige Plädoyer zugunsten einer dialogischen Methode gerade nicht unterstützt, das die gesamte Unternehmung des sozial- und kulturwissenschaftlichen Kulturvergleichs auf symmetrische Interaktionsverhältnisse zwischen kulturvergleichenden Forschern und »erforschten« Angehörigen einer performativen Kultur verpflichten will (Matthes 1992; Shimada, Straub 1999, vgl. auch Fuchs in diesem Band): Die Metapher des Dialoges steht hier für die Partizipation an einer symmetrischen Interaktion, die an die Stelle einer objektivierenden Einstellung des wissenschaftlichen Kulturvergleichs treten möge, um »dem anderen eine Stimme zu verleihen«. Trotzdem ist die Metapher des Dialoges als Titel für die gesamte doppelte Übersetzung des Kulturvergleiches gerade angesichts der soeben gegebenen Begründung des Anschlusses an der Teilnehmerperspektive irreführend. Denn der in dieser Metapher gebündelte Vor26 | Nicht jeder sozialwissenschaftliche Kulturvergleich ist notwendig unmittelbar in konkrete Feldforschung verstrickt – schon zeitlich distanzierte Kulturen, die nur über Quellen zugänglich sind, wären dann unerreichbar – aber auch im Falle der indirekten Rekonstruktion z.B. vergangener kultureller Lebensformen muss die – dann anderweitig gewonnene – Unterscheidung zwischen expliziter und performativer Kultur in Rechnung gestellt werden, etwa wenn aus der Erfahrung der Distanz zwischen theologischen Texten und Alltagsreligiosität auf den Abstand zwischen überlieferten Texten und den Praktiken, die in ihnen »artikuliert« werden, geschlossen wird.
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schlag verwechselt das generelle Problem der Übersetzung zwischen der diskursiven Ebene der Explikation von Kultur und der performativen Ebene des pragmatischen Zugangs und entsprechender Übersetzungsschritte mit dem (partikularen) Problem einer subsumtionslogischen Methodologie: Diese überspringt in der Tat die hermeneutisch pragmatische Dimension des forschungspraktischen Zugangs zum Gegenstand – wie auch ein beobachtertheoretischer Konstruktivismus, der an die Stelle der pragmatischen Erfahrung mit einer performativen Kultur die selbstreferentielle Verwendung einer Unterscheidung setzt. Aber auch qualitative Methoden stoßen – gerade dann wenn sie forschungspraktisch der Maxime einer Symmetrie zwischen Forscherinnen und »Beforschten« folgen27 – auf das Problem der Rückübersetzung von handlungspragmatisch gewonnenen Erfahrungen in diskursiv explizierte Erkenntnisse. Das Verhältnis zwischen performativer Ebene und reflexiver oder rekonstruktiver Explikation kann – wenn die Explikation das Problem der partiellen Unübersetzbarkeit nicht überwindet, sondern gerade anstößt – nicht einfach nach dem Muster eines symmetrischen Dialoges konzipiert (d.h. gedacht und eingerichtet) werden. Die diskursiv wissenschaftliche Explikation und damit der spezifisch begriffliche und methodisch reflektierte explizite Kulturvergleich können nicht als »Selbstreflexion« des Forschungsgegenstandes, einer anderen performativen Kultur, gedacht werden, sie bleiben die übersetzende Überschreitung einer Grenze, gerade dann, wenn die wissenschaftliche Repräsentation einer anderen Kultur prinzipiell – und eben nicht aus dem kontingenten Grund des vermeintlichen, ethnozentrischen Bias einer Wissenschaftskultur – keine »Abbildung« des entsprechenden Selbstverständnisses ist. Das vehemente Beharren auf einem dialogischen Verhältnis zum Gegenstand votiert implizit für eine Entdifferenzierung von wissenschaftlichem Diskurs (indem Begriffe, Beschreibungen und Behauptungen im Medium der kritischen Argumentation und im Horizont theoretischer Traditionen auf de27 | Diese forschungspragmatische Symmetrie muss gegenüber »der Wissenschaft« nicht extern sein, sie wird aber dem Übergang in den explikativen Diskurs nicht gerecht, der selbst intern (idealiter) an der Symmetrie zwischen den Argumentierenden orientiert ist, das externe Verhältnis zur außerwissenschaftlichen sozialen Welt aber kaum im Sinne der selben Symmetrie konzipieren kann. Die explizite Rekonstruktion eines performativ beanspruchten Sinnes kann sich nicht an das Urteil dieser performativen Perspektive binden (im Sinne so genannter »kommunikativer« Validierung), sofern die interne Überprüfung der Plausibilität wissenschaftlicher Explikationen von der externen Zustimmung unabhängig bleiben muss – andernfalls wären Forschungsresultate, die in der scientific community vorläufige Akzeptabilität erlangen, aufgrund möglicher Mehrheits- oder Machtverhältnisse in der externen sozialen Welt trotz dieser Akzeptabilität zu verwerfen.
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skriptive und analytische Gültigkeit hin überprüft werden) und performativer Kultur (in der implizite Gewissheiten als »taken for granted« ermöglichende Bedingung der Kommunikation sind und in der der Schutz solcher Gewissheiten vor handlungsentlasteter, argumentativer Problematisierung eine pragmatische Ressource darstellt). Diese Entdifferenzierung muss in ihren Konsequenzen den normativen Aspirationen der Verfechter dialogischer Symmetrie zuwiderlaufen. Denn sie entzieht der doppelten Übersetzung zwischen performativen Kulturen und dann zwischen performativer Ebene und Diskurs die Möglichkeit der Einsicht in den Abstand zwischen Explikation und Explikat. Und damit führt diese Aufhebung nicht zur normativ ersehnten Symmetrie zwischen »Subjekt« und »Objekt« der Forschung, sondern sie beraubt die fallibilistische Selbstbeschränkung des begrifflichen und theoretischen Kulturvergleiches des Rückhaltes in der Erfahrung der partiellen Unübersetzbarkeit. Auf diese Weise würde nicht der Abstand zum »Objekt«, die nüchterne, objektivierende, womöglich imperialistische Distanzierung von den Angehörigen einer anderen Kultur überwunden, sondern die selbstkritische, interne Distanzierung des wissenschaftlichen, kulturvergleichenden Diskurses von repräsentationalistischen und objektivistischen Selbstmissverständnissen.
IV. P r agmatische U nschärferel ation Die kulturwissenschaftliche Explikation dieser beiden Stufen der Übersetzung – der interkulturellen Pragmatik und der spezifisch wissenschaftlichen Explikation von Lebensformen – stößt innerhalb der sozialtheoretischen Analyse der Motive für die Annahme einer erheblichen Differenz zwischen den Kulturen (oben: Teil 1.) auf ihren eigenen Standort. Sie entdeckt sich selbst als Variante der sozialen Explikation von kulturellen Lebensformen, die sich im Horizont des spezifisch wissenschaftlichen Sprachspiels auf die reflexive und rekonstruktive Beschreibung »anderer« Lebensformen spezialisiert hat. Diese bleiben aber, gerade weil die Forschung Phasen des pragmatischen Anschlusses an andere Praktiken einschließt, von der Übersetzung zwischen den Kulturen, zwischen Wissenschaft und Gegenstand, nicht unbeeinflusst. Methodologisch führt die Analyse des Abstandes zwischen implizitem Wissen und seiner selektiven Explikation deshalb zum Prinzip einer »sprachpragmatischen Unschärferelation«: Das methodische und kulturwissenschaftliche Verstehen fremder Kulturen (und fremder Abteilungen der »eigenen« Kultur, siehe: Amann, Hirschauer 1997) muss forschungspraktisch durch die pragmatische Kontextverschränkung hindurch, die Zugänge zu einem anderen impliziten Wissen freilegt. Die performativen Kulturen, die hierbei zum »Gegenstand« der Forschung um eines eventuellen Vergleiches willen werden – nachdem sie in der Übersetzung zwischen Praxis und Diskurs vom Gegenüber zum
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Gegenstand werden – bleiben ihrerseits von der pragmatischen Kontextverschränkung nicht unberührt. Nicht nur die kulturwissenschaftliche Interpretation greift auf die praktisch angeregte Revision vormaliger eigener Gewissheiten oder Vermutungen zurück, sondern der Reflexionsanstoß der praktischen Übersetzung zwischen den Kulturen strahlt auf die untersuchte und verglichene Kultur aus. Der praktische Zugang zu einer anderen performativen Kultur ist auf die wenigstens in Teilen reziproke Revision von Horizonten angewiesen. Die kulturvergleichende Forschung kann also nicht nur ihre eigenen analytischen Kategorien in praktischen Kontexten der Untersuchung erfahrungsoffen auf den Prüfstand legen; sie muss dabei in Rechnung stellen, dass der Gegenstand, den sie untersuchen will, sich selbst im Prozess der Untersuchung verwandelt (Fuchs 1997; Ackermann 2004), weil die praktische Forschungsarbeit und ‑interaktion ihrerseits zur Kontextbedingung im pragmatischen Forschungsfeld wird und damit zu einem Reflexionsanstoß für »das Erforschte«.28 Die pragmatische kulturwissenschaftliche Forschung stößt im Feld durch die partielle Reziprozität eines kooperativen Welterschließungsprozesses Kontrasterfahrungen und Transformationen an. Darin besteht der konstruktive Aspekt kulturwissenschaftlicher Forschung, nicht einfach in einer notwendig konstruktivistisch zu erläuternden Projektion eigener Unterscheidungen, Begriffe und Horizonte auf ein nur fiktives Gegenüber. Der pragmatische Zugang zum Gegenstand der Forschung wirkt an der »Erzeugung« dieses Gegenstandes mit, weil er zu einem realen Faktor der Selbsttransformation einer kommunikativ berührten Lebensform wird (Renn 1998, 1999). Gleichwohl bzw. gerade darum bleibt auch die pragmatische Kulturwissenschaft auf die objektivierende Explikation verpflichtet und kann sich nicht in vermeintlich mimetischer und rein ideographischer Beschreibung eines und nur dieses einen Kontextes erschöpfen (was auch Clifford Geertz, auf dessen Begriff der dichten Beschreibung sich Beschränkungen auf den Einzelfall berufen, nie angestrebt hatte, Geertz 1987: 30). Das liegt nicht allein in der Eigenlogik der Wissenschaft begründet, sondern bereits in der Logik der Kontexttranszendierung, die notwendige Folge des Kontrastes ist, der sich in der Begegnung performativer Kulturen aus deren eigener Perspektive ergibt. Die kulturwissenschaftliche Untersuchung von kulturellen Lebensformen ist – nolens volens – Teil eines Geschehens der Kontingenzerzeugung. Die normative Dimension der Anerkennung differenter kultureller Lebensformen und Horizonte betrifft darum den Grad der Symmetrie, die in der dichten Praxis der Forschung (und 28 | Das entsprechende Motiv, dass die Optimierung des methodischen Bewusstseins der Erforschung fremder Kulturen notwendig von dem Verlust der »Ursprünglichkeit« vermeintlich pristiner Ethnien und Lebensformen begleitet wird bringt Claude Lévi-Strauss mit der Metapher der »traurigen Tropen« zum Ausdruck (Lévy-Strauss 1978).
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danach in der argumentativen Prüfung ihrer Ergebnisse) zwischen den Beteiligten besteht (oder eben nicht besteht). Das aber heißt nicht, dass innerhalb des Diskurses, in den die pragmatischen Erfahrungen aus symmetrischen Interaktionsbeziehungen übersetzt werden, genau die gleiche Symmetrie im Verhältnis zum »Gegenstand« angestrebt werden sollte. Das Erkenntnisstreben in der Begegnung mit anderen Lebensformen mag historisch (und gegenwärtig) durchmischt sein mit »externen«, politischen und ökonomischen Imperativen, so dass die kommunikative Symmetrie allzu oft mehr oder weniger majorisierenden oder assimilativen Interessen zum Opfer fällt. Die objektivierende Haltung, die in der Explikation der pragmatisch gewonnenen Erfahrung eingenommen wird, ist jedoch nicht selbst schon das Element, das die Verweigerung von Anerkennung konstituiert, im Gegenteil: sie ist, wenn sie selbstkritisch auf die Grenzen der Übersetzung und der Repräsentation achtet, Ressource der Kritik an assimilativen Asymmetrien. Diese lassen sich gewiss nicht dadurch vermeiden, dass man auf Kontakt verzichtet, um Reflexionsschutz zu gewähren, allein schon weil der autochthone Charakter kultureller Lebensformen zweifellos nicht primär durch wissenschaftliche Forschung und Kulturvergleich gefährdet wurde und wird. Performativ ist eine empirische, also praktisch intervenierende Kulturwissenschaft unausweichlich in die »Politik der Identität« verstrickt. Methodisch wird sie den Rechten ihres Gegenstandes aber primär dadurch gerecht, dass sie die eigene Revisionsbereitschaft und Erfahrungsoffenheit kultiviert und verteidigt.
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3. Der Tod des Kapitän Cook
Formen des Verstehens und die Dynamik
interkultureller Kollisionen
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deuten. Eine solche Deutung lässt sich durch eine Untersuchung der Umstände des Vorfalls stützen, die ethnologische, historische und soziologische Überlegungen einschließt. Eine Pointe dieser Überlegungen besteht also darin, dem problematischen Begriff der Verständigung etwas von seinem bieder-gutgläubigen Ruf zu nehmen. Es hat sich eingebürgert, den Begriff der Verständigung auf einen naiven Konsensoptimismus einzuschränken und damit ad absurdum zu führen. Wer Konsens zum Prinzip sozialer Integration macht, so heißt es, überschätzt die Tragfähigkeit friedlichen Einverständnisses und zugleich die Möglichkeit reziproken sprachlichen Verstehens auf der Grundlage vermeintlich identischer Bedeutungszuschreibungen (so bekanntlich: Luhmann 1983). Ich will auf die Feinheiten gerade des zuletzt bezeichneten Problems, der Identität sprachlicher Bedeutung, indirekt eingehen, indem ich das Problem des gegenseitigen Verstehens, das zwischen Identität und Differenz oszilliert, auf die Dimension des faktischen Vollzuges sozialer Integration beziehe. Das Problem des gegenseitigen Verstehens wird hier also unter dem Gesichtspunkt der Pragmatik sozialer Integration – und dies an einem Beispiel interkultureller Begegnung – aufgenommen. Soziale Integration, so lautet der Ausgangspunkt, vollzieht sich mindestens in einer basalen Form (nicht unbedingt auf der Ebene ausdifferenzierter abstrakter Formen der Koordination des Handelns) in dynamischer Hinsicht durch Interaktion, zu der das Verstehen gehört, wobei allerdings – immer noch, trotz mannigfaltiger Theorien der Interaktion – näher zu klären ist, in welchem Sinne es »dazugehört« und was das heißt: »Verstehen«. Der Begriff des Verstehens teilt mit dem der Verständigung das Schicksal, Gegenstand ausgedehnter, oft gut begründeter, mitunter auch herablassender Zweifel zu sein (Kneer, Nassehi 1991). Dabei sind es die Identitätsunterstellungen, die zu den Voraussetzungen des gelingenden oder gar richtigen Verstehens gezählt werden, welche bereits in der klassischen hermeneutischen Reflexion ins Schwanken geraten sind. In welchem Ausmaß ist die vorgängige Identität der Bedeutung sprachlicher Verständigungsmittel und der Deutungshorizonte, die diesen Mitteln den Hintergrund geben, erforderlich, und in welchem Ausmaße muss das gegenseitige Verstehen als Vollzug sozialer Integration zu Bedeutungs- und Deutungsidentität führen? Die heute wohletablierten radikalen Gegenpositionen – Poststrukturalismus, Konstruktivismus bzw. ihre prominenten Vertreter Lyotard, Derrida oder Luhmann – negieren solche Identitätsvorgaben – sowohl als Bedingung der Möglichkeit als auch als Zielgröße des Verstehens. Sie gehen, vereinfacht ausgedrückt, von Differenz, von der Unmöglichkeit adäquaten Verstehens aus.1 1 | Dass eine Hermeneutik zwischen diesen Polen ebenso möglich wie nötig ist, prüfen, begründen und vertreten: Jürgen Straub und Shingo Shimada (Straub, Shimada 1999).
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Diese Antithese zehrt indessen von der Vereinfachung der These, auf die sie zu reagieren vorgibt. Derrida z.B. musste sich auf Husserl spezialisieren und der Sprachfrage eine rein semiotische Fassung geben, um einen Vertreter reiner Univozität der sprachlichen Ausdrücke finden und desavouieren zu können (Derrida 1978). Luhmann braucht den naiven Realisten als Opponenten, der indessen innerhalb der »scientific community« im Bereich epistemologischer Positionsbestimmungen seit langer Zeit schon eine Randerscheinung geworden ist. Die Hermeneutik fristet seit den Tagen postmoderner Kontingenz-Universalisierung zwischen den Bastionen der Identitäts- und der Differenzkonzeptionen ein eher bescheidenes Dasein. Philosophisch tritt sie als exegetische philosophia perennis oder als Rohstoff für Anti-Repräsentationalisten in Erscheinung, wie in Richard Rortys Variante des Neopragmatismus (Rorty 1984). In der Soziologie meldet der selektive Rekurs auf ihre Traditionsbestände vornehmlich forschungspraktische Ansprüche an, denen zufolge das methodische Verstehen aus ebenso dichtem wie begrenztem Material allen selbstformulierten Einwänden zum trotz Generalisierungen zu gewinnen vermag (vgl. etwa: Honer 1993). Die Crux des Verstehens, theoretisch zwischen Identität und Differenz zerrieben zu werden, liegt ironischerweise in einer individualistischen und konkretistischen Prämisse der Kritiker begründet: Die oben genannten Identitätsunterstellungen erscheinen nur dann unverzichtbar und damit sogleich auch aufdringlich fragwürdig, wenn Akte des Verstehens im Sinne vollständiger und abgeschlossener Verstehensprozeduren auf personale Akteure und unmittelbare Interaktionssequenzen zugerechnet werden. In diesem Sinne denkt man in differenztheoretisch verankerten Vulgarisierungen des Gegners bei Konsens an die Versöhnung zwischen zerstrittenen Brüdern oder andere konkrete Harmonien. Der Gedanke gelingenden Verstehens klebt genau dann an einer altehrwürdigen Subjekt-Objekt-Dichotomie, wenn Akteure als Einheiten behandelt werden, denen die Herstellung von Identität als konkrete Einigung zugerechnet werden kann. In dieser Optik verlangt die Prämisse der Identität immer zu viel, denn wahre Identität findet sich nirgends; gleichzeitig aber besagt die Prämisse der Differenz zu wenig, denn Differenzen sind überall, wenn man nur hinreichend spezifisch unterscheidet. Gegenüber dieser konkretistisch-individualistischen Prämisse ist es ratsam, Prozesse des Verstehens bescheidener als Prozesse der Steigerung von Ähnlichkeit zu betrachten und sie daraufhin so zu rekonstruieren, dass die Identität der Bedeutung bezogen auf »alter« und »ego« und die Identität der Deutungsschemata verstehender Personen überhaupt nicht vorausgesetzt werden muss: Prozesse und Sequenzen der performativen Verständigung lassen sich als das reziprok motivierte, aber explizit undurchschaute Einspielen der Annäherungen zweier different bleibender Verständnisse begreifen, so dass
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die Ungleichheit der Horizonte der Beteiligten eingeschlossen bleibt, die Sequenzen dieser Art der Verständigung aber dennoch nicht als anonyme, autopoietische oder dissiminative Prozesse betrachtet werden müssen. Sie sind, obgleich sie durch ihre repräsentationale Unerreichbarkeit durch die beteiligten Intentionalitäten eigensinnig bleiben, doch in dem Sinne »allo-poietisch« bzw. heteronom, dass sie als Prozesse gerade von der unvollkommenen Intentionalität, von Fehldeutungen der Beteiligten und der Differenz zwischen diesen Deutungen, die nur als Missverständnis bezeichnet werden können, vorangetrieben werden. Und dies ist möglich, sobald die Sensibilität für die performative Dimension »interkultureller« Kommunikation auf die Möglichkeit der Gleichzeitigkeit gemeinsamen Handelns und vollständigen Missverstehens aufmerksam macht. Gerade das individuelle ›Falsch‹-Verstehen ist ein kraftvoller Motor der Verständigung, weil Missverständnisse Folgen zeitigen, die in der nächsten Runde wechselseitig interpretationsbedürftiger Ereignisse zu nicht-intendierten Transformationen von Deutungshorizonten anregen. Zugespitzt formuliert: Es vollzieht sich Verständigung nirgends so einschlägig (soll heißen Horizont ›ent-selbstverständlichend‹ und darum verändernd) wie im Falle von hermeneutischen Katastrophen, die nicht das Ende, sondern eine Etappe innerhalb einer ausgedehnten Sequenz wechselseitiger Irritation bilden. Eine solche ›Katastrophe‹ ist der Tod des Kapitän Cook. Dieser Vorfall eignet sich als Beispiel für die Pragmatik nicht-intendierter und undurchschauter »interkultureller« Verständigung, weil dieser Tod und seine Umstände ausgezeichnet exemplifizieren, wie inter- und intrakulturelle Integration auf der Schiene einer von den Beteiligten faktisch geteilten, aber intentional unverstandenen Praxis durch eklatante und folgenreiche Missverständnisse hindurch performativ konstitutiert wird.
II. H e terogene G eschichten und H orizontdifferenzen Der Tod des James Cook ist, wie jeder unvertretbare Tod, für »sich selbst« das abrupte Ende eines intentionalen Selbstverhältnisses, zu dessen spezifisch existentieller Bedeutung wir keinen Zugang haben; aber er erhält überdies unterscheidbare Bedeutungen als ein historisches Ereignis, das vor dem Horizont von mindestens drei unterscheidbaren Geschichten eigentlich drei Ereignisse »ist«. Erstens sind jene Geschehnisse als Ereignis in das historische Selbstverständnis der europäischen Kultur des 18. und 19. Jahrhunderts eingebettet. Zu diesem Selbstverständnis gehört z.B. eine schon von Rousseau vorbereitete und durch die etablierte Gattung der Reisetagebücher – unter denen die Beschreibungen der Cook’schen Entdeckungsfahrten einen hervorragenden Platz einnehmen (Cook 1983; Wiedmann 1789; Forster 1983a; vgl.: Scurla
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1983: 19f. und Kaufmann 1995) – beförderte Vorstellung vom faszinierenden Wilden, ebenso jedoch der rationalistische und kolonialistische Hintergrund europäischer Expeditionsunternehmungen.2 Zu diesen Reisen gibt eine gemischte Motivation den Anlass: In der Verschränkung von anthropologischer, botanischer und geographischer Wissenschaft mit kolonialistischer Ökonomie und Politik drückt sich eine bereits komplexe soziale Differenzierung aus. Die Fahrten des James Cook, finanziert und organisiert durch die Royal Society und durch die Britische Admiralität, sind bereits weitgehend rationalisierte Unternehmungen, die sich durch technische, wissenschaftliche und organisatorische Rationalität wie durch das frühromantische Motiv des glücklichen Naturzustandes deutlich z.B. von den ein- oder zwei Jahrhunderte älteren Eroberungen und Verwaltungen Südamerikas unterscheiden. Diese waren in einer Mischung aus – im Weber’schen Sinne – abenteuerkapitalistischer Edelmetall- und Menschenausbeutung und christlicher Mission sozusagen Folgen vormodern undifferenzierter Interessenlagen. Die bedeutenden ethnographischen Beobachtungen etwa jesuitischer Missionare, die sich später in den Jesuitenreduktionen einem »alternativen« Umgang mit den »Indianern« widmeten – allen voran die des späteren Dominikaners Las Casas – waren noch »Abfallprodukte« eines missionarischen Blicks (Bitterli 1992: 91ff.). Dieser Blick fand aus dem krassen Widerspruch zwischen christlichem Auftrag und brutaler Ausbeutung in die Nische einer emphatischen Aufmerksamkeit für eine andere Kultur. Die Organisation des dabei hilfreichen Reflexionswissens war allerdings nicht weit genug fortgeschritten, um die Gunst der Stunde des Kontaktes zu bislang unberührten Kulturen vollständig auszunutzen. Cook fuhr demgegenüber unter der Regie weit ausdifferenzierterer Interessen aus, technisch zugerüstet durch eine der ersten wirklich genauen Uhren (nach Plänen des John Harrison). Sie erlaubte eine genaue Bestimmung der Längengrade und somit eine raffiniertere Navigation.3 Wissenschaftlich begleitet wurde Cook z.B. von berühmten Reiseschriftstellern und Naturforschern wie Georg Forster (Forster 1983a) und dem hoch reputierten Joseph Banks. Teil dieses europäischen Kontexts ist dessen narrative Konstitution der Nachgeschichte. Der frühromantische Zug, der eine Steigerung der Reflexivität im Sinne einer Idealisierung des anderen der Zivilisation bedeutet (die für Cortez undenkbar gewesen wäre, vgl. Luhmann 1999: 38ff.), drückt sich bereits in 2 | Vgl. zur Besonderheit gerade der Reisen des Kapitän Cook, die gegenüber vergleichbaren Unternehmungen, z.B. von Bougainville, ausdrücklich systematische Forschungsinteressen – etwa die Aufklärung des im 18. Jahrhunderts wirkungsmächtigen Mythos von der terra australis incognita – zum Ziel hatte: Bitterli 1992: 182ff. sowie Kaufmann 1995: 51ff.). 3 | Siehe dazu das literarische Protokoll dieser feinmechanischen Revolution bei: Sobel 1998.
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Cooks Tagebüchern aus: Von »glücklichen Wilden« ist in der Beschreibung der australischen Ureinwohner zu lesen, die Cook als erster gesichtet, wenigstens beschrieben hat (Cook 1983). Das ausgehende 18. Jahrhundert sieht zum einen die Morgenröte einer nüchternen erkenntnistheoretischen Reflexion über das Verhältnis zwischen Begriff und empirischer Anschauung im Umgang mit »fremden« Kulturen: Georg Forster selbst disputiert mit Kant über die Kraft der empirischen Erfahrung zur Revision der Begriffe mit Bezug auf die Variationsbreite menschlicher »Rassen« (Forster 1983b: 3ff.; Kant 1968: 89ff, vgl. Kaufmann 1995: 54ff.). Zum anderen beflügeln die Entdeckungsfahrten gerade durch den (auch in der Forster-Kant-Debatte) bereits institutionalisierten Kontrast zwischen exakter Beschreibung und mythischer Verklärung die Phantasie. Die Tendenz zum romantisierenden Zugang nutzt dann die Tragödie des später hochverehrten Kapitäns als Angelpunkt für eine doppelseitige Legendenbildung. Sie ist als Fiktionalisierung der Selbst- und Fremdbeschreibung höchst instruktiv (als Umweg der Reflexion kultureller Identität und Differenz durch das Medium literarischer Fiktion, so dass als weiterer Gesichtspunkt der Differenzierung die Autonomie des Ästhetischen ins Spiel kommt). Legenden entstehen über die janusköpfige Natur der »Wilden«, die den glücklichen Naturzustand ebenso wie die »Menschenfresserei« repräsentieren (vgl. Kaufmann 1995: 62f.), und an Cook entzünden sich Phantasien über das individuelle Heldentum der Entdecker- und schließlich der Forscherperson,4 das dann gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch von einem Zeitungsmann wie Stanley auf der Suche nach den Quellen des Nils inszeniert werden kann. Seinerseits und faktisch war James Cook ein wahrer Aufsteiger, ein frühes Beispiel vertikaler Mobilität in einer Zeit des Übergangs zwischen stratifikatorischer und funktionaler Inklusion der Menschen in die soziale Ordnung. Der Sohn eines Tagelöhners hatte sich durch ›Leistung‹ und Disziplin, durch Tugenden, die Organisationen und nicht nur Familien voraussetzen, bis in den Rang eines Mitgliedes der Royal Society, eines Post Captain der Royal Navy hochgedient und damit schon eine moderne Karriere durchlaufen. Die zweite Geschichte, die dem Tod des Kapitän Cook einen ganz anderen sozialen Sinn gibt, erzählen sich (und später anderen) die Hawaiianer.5 Jedenfalls geht die neuere Aufmerksamkeit für die Ereignisse im Umfeld der 4 | Als nur ein Beispiel für das bemerkenswert frühe, europaweite Interesse an den Reisen des Kapitän Cook und an ihren »ethnologischen« Befunden, aber auch für die Faszination der Person des »Entdeckers«, ist Johann Heinrich Wiedmanns »Leben und Schicksale des Capitains James Cook« zu nennen, das schon 1789 in Erlangen erschienen ist (Wiedmann 1789). 5 | Was sich die indigenen Bewohner Hawaiis erzählten, was anderen, und welche problematische Frage darin liegt, wie genau und ob überhaupt die Hawaiianer »Geschichte« erfahren, erzählt, kulturell realisiert haben mögen, das macht der Streit um die »Kon-
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Erstinklusion Hawaiis in das weltgesellschaftliche Netz kommunikativer Beziehungen (»Erstkontakt«) davon aus, dass die Kultur der Bewohner Hawaiis – wie auch sonst außereuropäische »Kulturen« – nicht als »statische« Kultur zu deuten ist, für die die Begegnung mit Europa ausschließlich das katastrophale Herausreißen aus dem Schlummer der Geschichtslosigkeit dargestellt habe (Stannard 1989; Moorhead 1966). Das Ereignis des Februar 1779 wird seinerseits kohärentes Element der mythisch strukturierten Selbstbeschreibung der Geschichte der hawaiianischen Gesellschaft, es wird integriert in die mythische Konstruktion eines notorischen Götterkonfliktes und bald darauf rituell befestigt in dem periodischen, zeremoniellen Gebrauch der Relikte des Cook’schen Körpers – der Knochen, die eine Rolle in Prozessionen und als Herrschaftsinsignien spielen.6 Die narrative Integration der tödlichen Begegnung ist damit ein Element der kulturellen Reproduktion der hawaiianischen Gesellschaft, die Kontinuität sichert und dabei zugleich tiefgreifende Transformationen auslöst. Die mythisch gedeutete Begegnung mit den Engländern an Bord der »Resolution« und der »Discovery« ist damit Kontinuierung und Zäsur der Alltagspragmatik, des praktischen Umgangs mit rituell geregelten sprachlichen Praktiken, in einem. Die Herrschaftspraxis der Hawaiianer ist habituell verankert und gesichert in den Regeln der Tabubehandlung und in der Definition des ökonomischen Austausches in den Konzepten von Opfer und legitimer, ja rituell notwendiger Okkupation. In dieser Semantik (und den entsprechenden pragmatischen Schemata) werden das Treiben und der Tod des Kapitän Cook auf eine handlungspraktisch »anschlussfähige« Weise begriffen, so aber, dass die innere Umstellung der Semantik diese in the long run in die Richtung einer Verschränkung zwischen der traditionellen Güterzirkulation und den Handelsbeziehungen mit den Europäern bewegt (dazu weiter unten Genaueres). Die dritte Geschichte ist jene, die die beiden zuerst genannten nacherzählt und im doppelten Sinne synchronisiert. Zunächst bemüht sie sich schlicht um die Feststellung von Ereignisidentität, indem sie die christliche, formalisierte Zeitrechnung mit dem zyklischen Mondkalender Hawaiis abgleicht (unter Verwendung von computergestützten Mondphasenrekonstruktionen), um die Zeitangaben der Logbücher mit der Zeit des Ritus und der Mythen ins Verhältnis setzen zu können. Dann aber synchronisiert sie in dem Sinne, dass zwei Geschichten als »koreferentielle« Varianten einer identischen Sequenz erzählbar werden. Dabei sind aber Bedeutungshorizonte, nicht nur Chronologien zu vergleichen, denn nur so kann – retrospektiv vom Standpunkt der in struktion« geschichtsloser Kulturen deutlich, dazu: Obeyesekere 1992 und Kaufmann 1995. 6 | Für diese und die meisten Details der Geschichte dieser Begegnung vgl. Sahlins 1986.
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Kontinuität zur ersten Geschichte reflexiv gewendeten Selbstauslegung – die pragmatische Einheit der symbolischen Differenz zwischen zwei Kulturen als Prozess einer langfristigen Integration gedeutet werden (Sahlins 1986: 37). Den Anstoß zu solch einer Geschichtsschreibung hat Marshall Sahlins vorgelegt. In seiner Arbeit »Der Tod des Kapitän Cook« interessiert er sich vor allem für die zweite Geschichte – die Deutung der Ereignisse aus der Perspektive der Hawaiianer (die auch jetzt nur mühsam entschlüsselt, aber unter Gesichtspunkten befragt werden kann, die gegenüber der ersten Geschichte eine Differenz bedeuten), um von hier aus jene dritte Geschichte zu rekonstruieren, von der aus schließlich theoretische Probleme der Ethnologie beleuchten werden. Dabei kann es keineswegs als unumstritten gelten, dass diese Perspektive, die eine dritte Geschichte über zwei andere zu rekonstruieren versucht, in jeweils gleicher Distanz zu diesen beiden ersten Geschichten steht. Zwischen Marshall Sahlins und Gananath Obeyesekere, einem aus Sri Lanka stammenden Ethnologen, der in Princeton lehrt, ist ein Streit ausgetragen worden, in dem letzterer nicht nur die Sahlins’sche Rekonstruktion der hawaiianischen Tradierung bestreitet, sondern sie mit einem Ethnozentrismusverdacht zweiter Ordnung belegt (Obeyesekere 1992, vgl. hierzu auch: Kaufmann 1995 und Wirz 1997). Angesichts einer mitunter an propriophobe Selbstzerknirschung grenzenden Betonung der radikalen Differenz zwischen den Kulturen ist dabei besonders bemerkenswert, dass der Vorwurf des Ethnozentrismus, den Obeyesekere gegen Sahlins erhebt, gerade die Unterstellung kulturell differierender Rationalitäten beklagt und dagegen einen Universalismus der kulturübergreifenden strategischen Kalkulation geltend machen will. In diesem Sinne beansprucht Obeyesekere für die hawaiianische Perspektive, dass ihre Vertreter die Situation weitaus ›aufgeklärter‹ durchschaut hätten, als es der vermeintlich wohlwollende abendländische Respekt vor dem mythischen Denken zugestehen will (Obeyesekere 1992: 19ff.). Wenn dieser Streit die Frage betrifft, was genau sich die Vertreter der einheimischen Seite »gedacht« haben mögen, so kann er aufgrund der komplizierten Quellenlage wohl kaum endgültig beigelegt werden. In der Sache ist allerdings gerade der Versuch von Sahlins, eine reflektierte Geschichte der ethnozentrischen Selbsttäuschungen des traditionellen Diskurses über die »Wilden« und den Typus »primitiver« bzw. »kalter« Gesellschaften (Lévi-Strauss 1986: 68ff.) zu erzählen, schon als selbstbezügliche Dezentrierung der eurozentrisch ethnographischen Perspektive zu bewerten. Nicht die selbst indirekt kolonialistische Behauptung, die kolonialisierten Ethnien wären, wenn auch bedauerlicherweise gewaltsam, aus geschichtsloser Dumpfheit gerissen worden, ist Ausgang und Ziel von Marshal Sahlins, sondern die ganz gegenteilige Vermutung, dass sich auf performativer Ebene eine hochgradig historische Transformation auf beiden Seiten des Kulturkontakts vollzogen habe.
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Die Geschichte des allmählichen semantischen Wandels hawaiianischer Mythenerzählung und ihrer Bedeutung als historisch vertiefende Selbstbeschreibung soll bei Sahlins exemplarische Aufschlüsse über das Verhältnis zwischen Struktur und Praxis in so genannten »primitiven« Gesellschaften geben. Sahlins versucht nachzuweisen, dass der pragmatische Umgang, in dem eine polynesische Gesellschaft rituelle Regeln und mythisch gebildete Kategorien durch ihre rein performative Instanziierung ständig (um-)interpretiert, Historizität, Transformation und Annäherung an eine Kontaktkultur implizieren bzw. vorbereiten kann. Gegen strukturalistische Abstraktionen der Statik von Regeln und der Determiniertheit sozialer Praxis durch differentielle Zeichensysteme zeichnet er das Bild einer stetig und performativ vollzogenen, allmählich transformierenden Alltagsinterpretation von kultureller Erfahrung. Es handelt sich hierbei um den dritten Typus von Geschichte, die Erzählung des Verhältnisses zwischen zwei ganz unterschiedlichen Erzählungen des »selben« Ereignisses, insofern hier drei Bezugsgrößen sozialer Integration angesprochen werden: die semantische und pragmatische Integration des Todes des Kapitän Cook in das Selbstverständnis der hawaiianischen Kultur als Element der transformierenden Integration der Gesellschaft der Inselbewohner; die semantische Integration des Todes in den untereinander differenzierten sozialen Systemen europäischer Gesellschaft, wo die Signifikanz der Einzelperson aus Gründen der Größenordnung allerdings in der Menge vergleichbarer Erfahrungen nahezu untergeht; schließlich die soziale Integration in Gestalt eines interkulturellen Verständigungsprozesses, zu dem die von den »Trägern« dieses Geschehens weder intendierte noch durchschaute Steigerung von sprachlicher Übersetzbarkeit und praktischer Kooperationsfähigkeit gehört. Dabei spielt die pragmatische Dimension für Sahlins die entscheidende Rolle. Der Abstand zwischen sozialer Praxis und semantischer Struktur, die Differenz zwischen der impliziten Gebrauchsbedeutung und der expliziten Fassung von Konzepten und Schemata öffnet den Spielraum für die performative Veränderung typisierten Sinnes. Innerhalb dieses Spielraums erhält die faktische Praxis – als Umgang mit Worten und als Anwendung der Worte in Handlungssituationen – den Charakter einer alltäglichen Bedeutungskonstitution durch die stets situativ verankerte Interpretation typisierter Ausdrücke. In dieser permanenten Interpretationspraxis vollzieht sich eine geradezu unumgängliche Variation des sozialen Sinnes sprachlicher Konzepte und ritueller Regeln (vgl. Renn 2006: 317ff.).7 Aus den anti-strukturalistischen Argumenten 7 | Vgl. dazu Schiffauer (1997 S. 148ff.), der gegenüber den statischen Vorstellungen über die Einheit einer Kultur, die aus der Herdertradition stammen, Kultur als ein Diskursfeld beschreibt, das ständigen Transformationen unterliegt.
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von Sahlins lassen sich Schlussfolgerungen für die Frage des interkulturellen Verstehens ziehen: Die pragmatische Kooperation geht dem reflexiven Verstehen voraus und stellt damit eine basale Ebene ›vorsprachlicher‹, zumindest vorkonzeptueller Verständigung dar, auf die das reflexive Verstehen angewiesen ist. Nicht also eine kognitive Horizontverschmelzung (Gadamer),8 sondern die stumme Verschränkung von Praktiken gibt primär den Anstoß, bildet die Brücke zu interkulturellen Austauschbeziehungen und ermöglicht die Steigerung der Ähnlichkeit von Deutungsmustern als eine unbeabsichtigte und undurchschaute Annäherung. In diesem Sinne kann von einer nicht-intendierten Verständigungspraxis gesprochen werden. Der Tod des Kapitän Cook zeigt exemplarisch, auf welchen Kanälen sich diese dreistellige soziale Integration des Kulturkontaktes pragmatisch vollzieht.
III. U nbemerk te G leichzeitigkeit und A nverwandlung Dass der Tod des James Cook zum Kulminationspunkt und zum Auslöser einer besonders dichten, folgenreichen Dynamik wurde, verdankt sich einem höchst unwahrscheinlichen historischen Zufall – einem timing, das nachträglich (in der gegenwärtigen Vergangenheit zweier Sequenzreihen) als solches rekonstruiert werden kann, in actu (in den vergangenen Gegenwarten dieser Sequenzen) jedoch als ein blindes Geschehen von den beteiligten intentionalen Realisierungen und Deutungen der Situation unerkannt geblieben ist. In diesem timing kommt ein Abschnitt der linearen Zeit der Engländer mit einer Sequenz der zyklischen Zeit des hawaiianischen Mythos (de facto, nicht aber »symbolisch«) zur Deckung. Die Expeditionsschiffe »Resolution« und »Discovery« treffen am Ende einer Reise, die gar nicht den polynesischen Gewässern, sondern der Nordwestküste Amerikas galt, im Januar 1779 in Hawaii ein (Cook 1983: 367f.), während dort ein jährlich wiederholter Zyklus des Götterkampfes in eine entscheidende Phase eintritt. Sobald die Pleiaden unmittelbar bei Sonnenuntergang am Horizont aufgehen, begannen auf Hawaii die Makahiki-Feiern (Sahlins 1986: 34ff.). Der mit dem regierenden Oberhäuptling verbundene Gott Ku wird symbolisch für die Dauer von 23 Tagen gestürzt, die ihm gewidmeten Kulte werden ausgesetzt, der Häuptling wird symbolisch entthront, und die zuständigen Priester erhalten Hausarrest, ihre Augen werden verbunden. Es werden strenge Tabus verhängt, denn jetzt herrscht der Gott Lono, von dem in der Regenerationsphase des Fruchtzyklus Fruchtbarkeit erbeten wird, stellvertreten durch eigene 8 | Siehe hierzu die kritischen Einwände von Straub und Shimada (1999), die das Prinzip der Horizontverschmelzung auf allzu voraussetzungsvolle Weise an einen monolithischen Traditionsbegriff gebunden sehen.
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Priester, die die vorübergehende Inbesitznahme der Insel durch gesonderte Riten, vor allem aber durch eine feierliche Prozession vornehmen. Bei dieser Prozession wird die gesamte Insel im Uhrzeigersinn umwandert und dabei ein Lono-Idol herumgetragen, das in seiner äußerlichen Erscheinung recht genau einem Segel, das an Rahe und Mast hängt, entspricht. Die Zeit des Lono endet unter umfangreichen rituellen Prozeduren, mit Scheinkämpfen und der Rückerstattung der Herrschaft an den Gott und die untergeordneten Götter des Häuptlings und der Unterhäuptlinge. In der Symbolik dieses Götteraustausches auf Zeit drückt sich die rituelle Reinszenierung der mythischen Arché der aktuellen Herrschaftsstruktur aus. Im Sinne von Durkheim und Eliade kann man sagen: Die nur verschwommen erinnerte Vorgeschichte der Okkupation der Herrschaft auf Hawaii durch ein von jenseits des Meeres stammendes Geschlecht von Eroberern wird in mythischer Symbolik wiederholt und befestigt (Durkheim 1981; Eliade 1986: 30ff.). Darin findet die hawaiianische Gesellschaft einen Ausdruck ihrer Struktur und legitimiert das Geschlecht der Regenten in den semantischen Bahnen einer sakralen Eroberungs- und Vertreibungsgeschichte. Auf- und Abtritt des Lono haben also den doppelten Bezug einmal auf die mythische Reinszenierung der Struktur und der Genealogie hawaiianischer Sozialordnung, und zudem auf die handfest materiell bedeutsame Jahr für Jahr reinszenierte Eroberung der aktuellen Herrschaft durch die regierenden Häuptlinge. Zur Vollständigkeit und zur Funktion des Zyklus gehört also mit Notwendigkeit der Rücktritt Lonos. Er muss im Dienste der allgemeinen (Mensch wie Flora und Fauna betreffenden) Fruchtbarkeit die zyklische Erneuerung durch »rituelle Kohärenz« (Assmann 1999) sicherstellen, vor allem muss er also beizeiten wieder verschwinden. Die Expeditionsschiffe »Resolution« und »Discovery« gingen auf ihrer Rückreise von der Nordwestküste Amerikas am 26. November 1778 vor Hawaii vor Anker. Die Insel wurde jedoch erst am 17. Januar 1779, nicht zuletzt aufgrund widriger Strömungen, nach einer vollständigen Umsegelung in der Kealakekua-Bucht betreten. Diese Umsegelung geschah in ungewollter Entsprechung zur Umwanderung der Insel durch Lono bzw. durch seine rituellen Stellvertreter. Räumlich, zeitlich und symbolisch erstaunlich parallel umrundeten die Schiffe, die gleichsam schwimmenden Lono-Idolen glichen, Hawaii in der ›richtigen‹ Richtung, zur ›richtigen‹ Zeit und landeten des günstigen Ankerplatzes wegen zu allem Überfluss in unmittelbarer Nähe einer LonoKultstätte. Cook, offenkundig als Oberhaupt der Ankömmlinge erkennbar, wurde mit einer beispiellosen zeremoniellen Würde und begeisterten Gastfreundlichkeit empfangen und augenblicklich zum Ehrendarsteller einer Zeremonie im großen Tempel von Hikiau gemacht, was dieser, wie die Logbucheintragungen des Leutnant King verraten, bereitwillig über sich ergehen ließ, bis es mög-
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lich wurde, das Schauspiel ›dezent‹ zu beenden.9 Das Ritual entsprach bis ins Detail den gewohnten Huldigungen, die bislang vor dem Lono-Idol vollzogen wurden, einschließlich der Körperhaltung des Kapitäns, seiner Salbung durch Kokosöl, der Verabreichung vorgekauten Fruchtbreis, des Verzehrs von Opferspeisen und der Aufführung von Wechselgesängen. Darin drückt sich aus, was die Mannschaft der englischen Schiffe nur dunkel ahnte und in den Schemata christlicher Religiosität zur Notiz nahm, dass Cook – wenn auch nicht sofort – mit Lono selbst identifiziert wurde. Die Bereitwilligkeit der Briten, ihren Part zu übernehmen, erleichterte es den Hawaiianern, mithilfe der Deutungsmuster des Lono-Kultes (wenn auch fiktional begründete) Erwartungssicherheit gegenüber den Fremden herzustellen. Der Mythos gab zumindest die groben Linien vor: Lono würde – in welcher Form auch immer – Fruchtbarkeit bringen und nach gehöriger Frist das Terrain wieder räumen. Schon hier zeigt sich, dass die situationsspezifische Interpretation der mythischen Konzepte Spielraum für die pragmatische Einarbeitung von Unbekanntem eröffnete. Es war ja ganz offensichtlich überhaupt nicht üblich, dass Lono in persona und mit großem Gefolge erschien, sowenig wie die Waren und Dinge bekannt waren, mit denen die Briten, nun wieder in ihren Augen, eine Vorform des Handels anbahnten. Auch wenn die ersten tastenden Wechselgaben – Fische und kleine Schweine gegen Nägel – schon bald durch die Freizügigkeit der Insulaner vom Verdacht eines »Äquivalententausches« befreit wurden (so dass beispielsweise sehr schnell das Bleilot der »Discovery« und das Hackbeil des Schiffskochs ohne Aushändigung etwaigen Gegenwertes verschwunden blieben). Die präzedenzlose – aber durch flexible Assimilation vertrauter Schemata in diese eingearbeitete – Manifestation des Gottes führte auf symbolischer Ebene zur praktisch motivierten Spezifikation der mythisch strukturierten Situationsdeutung. Die Gegenwart sprengte also nicht den semantischen Rahmen, insofern dieser die vage Möglichkeit der Erfüllung einer Verheißung einschloss und als semantischer Rahmen prinzipiell situationsbezogene Flexibilität bedeutet. Entscheidend und exemplarisch an dieser symbolischen Flexibilität des Mythos im Falle des Kapitän Cook ist darum das Verhältnis zwischen einer praktisch verwendeten Semantik und einer semantisch in groben Zügen vorentworfenen Praxis. Und dies ist der entscheidende Punkt, auf dessen generalisierte Relevanz Sahlins aufmerksam machen will. Die Semantik der hawaiianischen Kultur ist keine statische symbolische Ordnung aus miteinander verzahnten festen »Bedeutungen«. Die eher performative als theoretisch explizite Verarbeitung der Erscheinung der Briten entspricht darum keiner subsumierenden Einordnung in distinkte kulturelle 9 | So geht es aus den Schilderungen hervor, die den Tagebuchaufzeichnungen bzw. dem Logbuch zu entnehmen sind, das Leutnant King nach Cooks Ableben weitergeführt hatte; zitiert nach Beaglehole 1967, (vgl. auch: Cook 1983: 434ff.).
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Kategorien, bei der diese Kategorien unverändert bleiben. Denn die Bedeutung jener Kategorien (was selbst schon eine abstrahierend-verfremdende Bezeichnung darstellt) wird generell – nicht nur anlässlich der kognitiven Dissonanz bei ungewohnten Erscheinungen wie dem Auftauchen britischer Schiffe – in der Praxis ihrer Anwendung transformiert. Das ›wilde Denken‹, so kann vorgreifend theoretisch formuliert werden, ist der typische Fall, in dem die generelle Logik des sprachlich strukturierten Handelns, nämlich die situationsabhängige Kreativität der pragmatischen Bedeutungskonstitution, offen zutage liegt.10 Das Auftauchen von Cook und seinen Begleitern lässt diese prinzipielle pragmatische Transformation im Zuge einer durch Kontrastintensität angeregten Variationsbeschleunigung besonders deutlich werden. Die Dinge eskalieren und bleiben gerade darum auch nach dem Ende der tragischen Episode in Bewegung. Zunächst schien alles ›gut zu gehen‹, denn nach Ablauf der Periode des Lono, von der die Engländer auch nach einem knappen Monat nicht die leiseste Vorstellung ausgebildet hatten,11 erkundigten sich die ›Priester‹ mit steigender Unruhe nach der Abreise der Gäste. Die ungeplante Übereinstimmung zwischen der Zeit des Lono und der Zeit des Besuches der Entdecker blieb tatsächlich zuerst einmal intakt, da die Briten sich tatsächlich aus den ihnen eigenen Gründen anschickten, die Segel zu setzen. In seinen Aufzeichnungen deutete Leutnant King das Interesse der Insulaner an der Abreise der Engländer als Zeichen der Erschöpfung der Nahrungsressourcen der Insel durch die Verköstigung der Engländer, was nicht ganz falsch, aber doch weit entfernt von der symbolischen Bedeutung ihres Aufenthaltes und der damit verbundenen Aufwendungen war. Ziemlich exakt am Ende der Makahiki-Pe10 | Es liegt nahe, hier auf Bourdieus (1979, 1988) Begriff einer praktischen Logik zu verweisen. In der Tat ähnelt die hier verwendete Unterscheidung zwischen pragmatischem und reflexivem Verstehen (siehe weiter unten) der Bourdieu’schen Unterscheidung zwischen einer praktischen und einer theoretischen Logik; allerdings kommt es bei der Beschreibung des Problems der Interkulturalität im Grenzbereich zwischen moderner und vormoderner Kultur auf ein besonderes Strukturgefälle an: Für Bourdieu unterscheiden sich die kabylische und die französische Sozialordnung nicht wesentlich, was die Logik der Inkorporation sozialen Sinnes und die machtspezifische Signifikanz des Habitusbegriffs angeht (siehe zur Kritik an dieser Differenzierungstheorie: Renn 2006: 357ff.). Die Geschichten, die sich um den Tod des James Cook ranken, zeigen dagegen, dass je nach Differenzierungsgrad der Gesellschaft pragmatisch-situatives Verstehen und reflexives Verstehen in vollkommen unterschiedliche Verhältnisse zueinander geraten, und es sind diese unterschiedlichen Konstellationen, die als Signaturen der Moderne entschlüsselt werden können. 11 | Dazu wieder: die Log- bzw. Tagebücher von Cook und Leutnant King (vgl. Beaglehole 1967 und Cook 1983).
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riode, am 4. Februar 1779, stachen die Schiffe in See, unbeabsichtigt getreu der mythischen Dramaturgie, die nun die Restitution der Ordnung des Ku und der regierenden Häuptlinge vorsah. Aber ein Sturm und der Bruch des Fockmastes – damit indirekt die mangelhafte Instandsetzung der »Resolution« vor der Reise in der Werft von Deptford – erzwangen die Änderung der Pläne und führten die Schiffe am 11. Februar zurück in die Kealakekua-Bucht. Von da an verschlechterten sich die Beziehungen rapide. Diebstähle, Unfreundlichkeiten, Prügeleien und eine Eskalation der nunmehr nicht länger synchronisierten Reaktionsmuster führten zuerst zu reziproken Beharrungsverstärkungen: Cook begann die Muster kolonialer Militäroperationen durchzusetzen, befahl Strafexpeditionen und die Festsetzung des Häuptlings. Die Hawaiianer steigerten die Durchsetzung ihres Anspruchs auf jegliches Hab und Gut und auf das nachhaltige Verschwinden des nun machtenthobenen Gottes – gegenläufige Motivationen und Handlungspläne, die sich aneinander bis zu jenem 17. Februar steigerten, an dem Cook – just während sich unter den in der Bucht versammelten Insulanern die Nachricht von der Tötung eines ihrer untergeordneten Häuptlinge ausbreitete – auf einen feindseligen Eingeborenen feuerte und daraufhin von einer Überzahl von mehr als hundert Hawaiianern niedergemacht wurde (übrigens den zuverlässigeren Berichten zufolge ausgerechnet in genau dem Moment, in dem er sich den vor dem Strand liegenden Booten zuwandte, um die Eröffnung des Feuers zu verhindern). Das Ende des großen und in der Folge ständig wachsenden James Cook war nicht das Ende der Geschichte.12 Es war der Zenit eines Kulturkontaktes, dem nicht ein Niedergang des gegenseitigen Verstehens folgte, sondern eine Transformation der Selbstdeutungen, die von jenem Zenit ausgehend die Übersetzbarkeit des fremden Kontextes in den eigenen steigerte. Der Tod des
12 | Es war die klassische aristotelische metabolé, der Umschlag von Glück in Unglück, der die Einheit der Geschichte als Konfiguration stiftet (vgl. dazu Ricoeur 1988: 73f.). Dieser kurze Hinweis auf die Narrativitätstheorie Paul Ricoeurs soll zumindest andeuten, dass der sozialtheoretische Vergleich synchronisierter Geschichten sich mit dem Problem der Referentialität historischer Darstellung auseinanderzusetzen hätte. Hier kann nur angedeutet werden, dass der Argwohn, auch die dritte, ethnologisch aufgeklärte Geschichtserzählung, könne dem Eurozentrismus nicht entkommen, mit einer komplexen Theorie der ›gekreuzten‹ Referenz beantwortet werden kann, d.h. mithilfe des Vorschlages von Ricoeur, den Geltungsanspruch der Narration auf der Basis eines internen Realismus (Putnam) zu verstehen, in dem sich die durch Archiv und Quelle zugängliche Datenbasis und Chronologie mit der hermeneutischen Konstruktivität der Rezeptionsbedingungen vermischen – anders übrigens als in einem Luhmann’schen Modell der immer selbstreferentiell abgekapselten ›eingebildeten‹ Synchronisation von Ereignissen unterschiedlicher Systemreferenz (vgl. Luhmann 1990).
3. Der Tod des Kapitän Cook
Kapitän Cook war der Höhepunkt eines langfristigen Prozesses der sozialen Integration. Diese Integration vollzieht sich zunächst als jeweils interne semantische Integration des Ereignisses in die symbolisch-kulturellen Horizonte. Auf europäischer Seite gehören dazu die wissenschaftlichen, ökonomischen und romantischen Auswertungen der Cook’schen Entdeckungsreisen, von denen eingangs die Rede war. Auf Hawaii setzt sich die kulturelle Reproduktion in der Einsetzung eines Cook-spezifischen Kultes fort. Die Transformation, die die Einsetzung dieses Kultes bedeutet, stellt eine langfristige Übersetzung (und d.h. eine von der anderen Seite angestoßene Steigerung der Feinkörnigkeit des Bildes von dieser Seite, nicht aber eine vollständige »Horizontverschmelzung«) zwischen den Kulturen dar. Denn diese Einarbeitung der besonderen Erfahrung der Ermordung Cooks nutzt den Variationsspielraum der mythischen Selbstbeschreibung der hawaiianischen Ordnung in Richtung einer Öffnung für die europäische Kultur. Diese Annäherung an Europa, das Anwachsen der Übersetzbarkeit13 zwischen der Semantik späterer Handelspartner und der symbolischen Repräsentation der hawaiianischen Gesellschaft in ihrer rituellen und mythischen Interpretation, stellt keine Diskontinuität in der Reproduktion der hawaiianischen Kultur dar, weil der Variationsspielraum eine kontinuierende Integration der Erfahrung mit Cook zuließ. Cook wurde – ganz buchstäblich – dem Eroberer- und Siegesgottesmythos einverleibt. Seine Leiche wurde der Behandlung unterzogen, die eine bestimmte, nämlich die situationsresonante Variation der Interpretation der rituellen Vorschriften gewährleistete: Der erstrangige Häuptling Kalaniopou verteilte einige Knochen des Leichnams, die durch bewährte Beschleunigung der Verwesung freigelegt wurden, an untergeordnete Häuptlinge und reservierte für sich Röhrenknochen und Unterkiefer, die fürderhin als Reliquien der mythisch interpretierten und dadurch sozial legitimierten Rückeroberung der Herrschaft dienten. Dieses Verfahren bestätigt 13 | Nur soviel an dieser Stelle zum Begriff der Übersetzung: Hier ist damit ein pragmatischer Austauschprozess gemeint, der im Sinne der radikalen Übersetzung von Willard van Orman Quine (1980) die Instanz des Übersetzers, der beider Sprachen mächtig ist, ausschließt. Im Gegensatz zur eher (trotz der Kritik am Empirismus) empiristischen Anlage der Quine’schen Untersuchung, die von Reizbedeutungen ausgeht und die Erstellung von expliziten Übersetzungsmanualen ins Zentrum rückt, steht hier allerdings die implizite Verschränkung von Praktiken, denen Veränderungen der symbolischen Deutung folgen, im Vordergrund. Anders gesagt: An Stelle einer Naturalisierung steht ein Rückgriff auf Wittgensteins Strategie, die Übersetzbarkeit zwischen Sprachspielen weder an die Rationalität (und Begründbarkeit) expliziter Beobachtungsterme, noch an eine biologische Anthropologie (die z.B. Malinowski folgen könnte) zu binden (vgl. dazu auch Renn 1998 und ausführlicher: Renn 2006: 157ff.).
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die fortgesetzte Geltung der gewohnten Begräbnisrituale für Häuptlinge, deren Ablösung ihre Nachfolger stets in die symbolische Form der Eroberung zu bringen hatten. Jeder Häuptling hatte bei Übernahme der Macht das Ende des Vorgängers als Resultat gewaltsamer Überwindung zu behandeln – ob es nun den Tatsachen entsprach oder nicht. Cook wurde damit nach seiner Identifikation mit der Gestalt des Gottes Lono in Personalunion Gott und überwundener Häuptling, was dem Schicksal gewöhnlicher Regenten entsprach – nur in umgekehrter Reihenfolge, denn jeder vorgeblich durch seinen Nachfolger vergiftete oder erschlagene Häuptling stieg post mortem zu einer rechtmäßigen Gottheit auf.14 Über den Wellen der semantischen Irritation durch das plötzlich leibliche Erscheinen Lonos glättete sich also zunächst das symbolische und rituelle Wasser. Semantiken und Gewässer sind indessen fließend. Schon 1793 bekam Captain Vancouver (ein Teilnehmer auch der letzten Fahrt Cooks) bei seinem Besuch der Insel eine Erzählung der Ereignisse vorgelegt, die Cook zu einem Tabuübertreter erklärte (obwohl 14 Jahre zuvor der später angelastete Tabubruch nachweislich keine Rolle spielte). Damit aber ward keine Rechtfertigung der Tötung als Behandlung eines »Sakrilegs« gegeben, sondern es wurde im Gegenteil Cooks Avancement zum mächtigsten der persönlichen Götter von Kamehameha, dem Nachfolger von Kalaniopou, zum Ausdruck gebracht. Die semantische Variation, die der Person Cooks eine anschlussfähige Bedeutung im hawaiianischen Mythos gibt, öffnet zugleich das kulturelle Selbstverständnis Hawaiis für den komplexeren Umgang mit den Europäern. In den Worten von Sahlins: »Vermittelt durch die Opferung Cooks war das mana der Oberschicht Hawaiis nunmehr britisch geworden« (Sahlins 1986: 48). Häuptling Kamehameha war Nutznießer der Tötung Cooks – dies aber nur auf dem Wege einer symbolischen Integration in ritueller und kultureller Kontinuität – und dadurch Sachwalter einer Politik, die ganz im Gegensatz zu einer möglicherweise erwartbaren Feindschaft zwischen den Kulturen einer Befriedung künftiger Begegnungen und damit dem Handel zuträglich war. Diese Beförderung des Handels – zunächst mit britischen, dann mit amerikanischen Händlern – ist zunächst durch die Anreicherung der Fruchtbarkeitserwartungen an Lono durch Elemente eines Cargokultes motiviert. Dieser Cargokult ist die Form, in der die materielle Spezifikation allgemeiner Erwartungen an Lono durch die Gastgeschenke von Seiten Cooks und seiner Begleiter symbolisch eingearbeitet werden konnte. Das, was wir in 14 | An dieser Stelle, nicht aber bezogen auf die gesamte Geschichte, weicht die Rekonstruktion von Obeyesekere, dessen Disput mit Sahlins weiter oben erwähnt wurde, von der Sahlins’schen Erzählung ab: Obeyesekere stimmt darin überein, dass Cook im Laufe der Entwicklung den Status eines Gottes erhalten habe, dies allerdings post mortem, nachdem das Oberhaupt der europäischen Besucher zunächst ganz »säkular« als möglicher Bündnispartner betrachtet worden sei (vgl. auch Wirz 1997: 162).
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unseren Begriffen die ökonomische Seite der Begegnung der Kulturen nennen, stellt eine der wesentlichen Dimensionen des pragmatischen Verstehens dar, das von auf beiden Seiten völlig abweichenden expliziten Deutungen begleitet wurde. Die anthropologische Intuition der Engländer war noch nicht in den später entwickelten Begriffen, z.B. dem der »Gabe« (Mauss 1968) als reziprozitätsstiftender Institution, organisiert, so dass Cook, Leutnant King und andere Kommentatoren der Ereignisse dort die vertrauten Kategorien des Geschenkes bzw. des Warentausches bemühten, wo – wie sich retrospektiv feststellen lässt – die hawaiianische Seite den Transfer von Gegenständen in ganz anderen symbolischen Formen deutete. Zu diesen Formen gehört zum einen die ›Kategorie‹ des Opfers – das situationsflexible Schema, das zwischen religiöser, politischer und ökonomischer Sphäre keine Unterscheidungen zu treffen erlaubt – und zum anderen eine ›subsistenzwirtschaftliche‹ Ausgangslage, die durch die Verkopplung von Selbsterhaltung und sozialer Prestigeordnung unsichtbar bleibt. So wenig Ökonomie, mythische Religiosität und weltliche soziale Reziprozität in der Semantik Hawaiis differenziert waren, so wenig ist es auch adäquat, von einer als Sonderpraxis begriffenen politischen Sphäre zu sprechen. Zwar werden in der Ethnologie, besonders in den Theorien über die Entstehung staatlicher Organisation, gerade Häuptlingsgesellschaften als Übergangssphären zwischen einer segmentären und einer solchen stratifizierten Ordnung, die die Ausdifferenzierung politischer Institutionen vorbereitet, betrachtet (so z.B. Eder 1980). Die Rekonstruktionen des hawaiianischen Selbstverständnisses sprechen jedoch dafür, dass die Häuptlinge und ihre Untertanen nicht z.B. zwischen Taburegeln und politischen Geboten unterschieden. Nur unter dem Vorbehalt der retrospektiven Unterscheidung kann man also sagen, dass die Stabilisierung der durch den Tod des Kapitän Cook initiierten Selektion kultureller Variation15 sich auch ihrem politischen Nutzen 15 | Die Triade: Variation, Selektion, Stabilisierung darf als Konsens evolutionstheoretischer Betrachtungsweisen veranschlagt werden, ohne dass damit allzu große Verbindlichkeiten gegenüber ihrer derzeit prominenten Verwendung durch Luhmann eingegangen werden. Dafür spricht unter anderem, dass Klaus Eder (1980) diese Begrifflichkeit mit einer für Luhmann ganz befremdlichen Vorstellung über moralische Lernprozesse verknüpft hat. Es wurde deutlich – in der Beschreibung der kulturellen Reproduktion der hawaiianischen Gesellschaft –, dass die Logik der Praxis (Bourdieu) bzw. die situationsresonante Flexibilität der praktischen Anwendung nur unscharfer semantischer Konzepte auf eine soziale Ordnung hinausläuft, in der der Modus pragmatischen Verstehens relativ geringe Konkurrenz durch reflexiv geregelte Praktiken vorfindet. Das kann wiederum so verstanden werden, dass der analytische Unterschied zwischen Variation und Stabilisierung nur geringen empirischen Rückhalt findet. Je flüssiger die Semantik, desto verschwisterter sind Variation und Stabilisierung.
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verdankte. Die Häuptlinge konnten als symbolische Konkurrenten des Lono durch ihren periodischen Rücktritt die Segnungen der Fruchtbarkeit wirken lassen und sich ihre Resultate als symbolische Beute mit Legitimationseffekt aneignen. Die augenfällige Wirksamkeit der Huldigung des gestürzten Rivalen stützt damit das persönliche Mana des Regenten. Diese Logik (im Sinne des »wilden Denkens«) wird durch die Schätze, die aus britischen Händen stammten, allem voran Eisenwaren jeder Art, mobilisiert und führte, vermittelt durch die kulturelle Übersetzung, zu einer europhilen Außenpolitik, schließlich in einer weiteren Schleife nicht-intendierter evolutionärer Transformationsverstärkung zu einer erfolgreichen Unterwerfung der Inseln des hawaiianischen Archipels durch Kamehameha. Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts steigerten sich die Intensität und die Geschwindigkeit kultureller Interferenzen. Die Oberschicht Hawaiis übernimmt im Bereich der klassischen Distinktionsbereiche – Nahrung, Wohnung, Kleidung –, also auf der Ebene der fundamentalen Repräsentation von NaturKultur-Unterschieden, europäische Attribute. Kamehameha erbat sich bereits 1793 von Captain Vancouver Bett, Teller, Messer und Gabeln16 als Abschiedsgaben. Hier sind Routinen, Praktiken und auch sprachliche Verständigungsmöglichkeiten zwischen Europäern und Hawaiianern schon so weit aufeinander zugegangen, dass die pragmatischen Ausgangsbedingungen der gegenseitigen Durchdringung von füreinander fremden Kulturen nicht mehr deutlich zutage treten. Denn das Bedeutsame des Todes des Captain Cook ist die Tatsache, dass trotz oder gerade wegen eines reziproken Unverständnisses beider Seiten auf jeder Seite Variationen des Selbst- und Fremdverständnisses zu gesteigerter Übersetzbarkeit führen. Die Grundlage dieser nicht-intendierten und undurchschauten Verständigung ist nun eben die Pragmatik des Handelns, nicht die Reflexion der Kontingenz jeweils eigener kultureller Horizonte.
IV. P erformative G rundl agen des »V erstehens « Die ›verständnislose‹ Verständigung vollzieht sich in Interaktionen, wenn auch darüber Unklarheit herrscht, was damit genau gemeint ist. Wir ›wissen‹ nicht kontextfrei, was eine Handlung genau ist, bestenfalls können wir sagen, dass wir je nach theoretischer oder auch alltäglicher Gewissheit Handlungseinheiten typisierend zuschreiben und zumeist unbemerkt auf den Gleisen dieser Typisierung identifizieren. Kapitän James Cook, Häuptling Kamehameha und Marshall SahIins haben – so wie wir auch – jeder auf seine Weise das gleiche Problem: eine Handlung in ihrer Bedeutung verstehen zu müssen oder 16 | Bezeichnend sind die Gabeln. Dass der Gebrauch der Gabel nahezu einen zivilisatorischen Meilenstein bedeute, vertritt z.B. Norbert Elias (vgl. Elias 1976).
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zu können. Sahlins und unsere Perspektive hat demgegenüber zusätzlich das Problem, eine Handlung als einzelne Handlung identifizieren zu können; anders lässt sich der Begriff der Interaktion nicht theoretisch verwenden. Theoretische Definitionsschärfe führt zu Dekompositionsmöglicheiten ad infinitum.17 Die Alltagspragmatik ist von dieser Dekompositionsdrohung nicht betroffen, denn hier genügen unscharfe Konzepte und vor allem die Eingebundenheit in eingespielte pragmatische Routinen, denen gegenüber kulturelle Semantiken immer den Charakter der abstrakten und abstrahierenden Artikulation einer Praxis haben, die auch ohne Theorie funktioniert. Die Lösung des Problems der Theorie kann angesichts dieses Unterschiedes zwischen Theorie und Praxis darin bestehen, genau diesen Unterschied zum theoretischen Prinzip zu machen: Das pragmatische Verstehen muss dann unterschieden werden von einem identifizierenden Erkennen – hier bezogen auf die Identifikation einer Handlung und dann erst ihrer Bedeutung (in der Reihenfolge drücken sich Institutionalisierung bzw. Regelexplikation aus). Ebenso muss das pragmatische Verstehen aber von dem abgegrenzt werden, was man mit der Systemtheorie Luhmanns das Beobachten nennt. Die Operation der Beobachtung (die autopoietische Anwendung einer Unterscheidung, bei der Fremdreferenz immer nur systemintern sinnvoll, und d.h. anschlussfähig, ist) wird oftmals dem Begriff des Verstehens gegenübergestellt (Kneer, Nassehi 1991), allerdings immer einem Verstehen, das als Erkennen konzipiert ist. Die differenztheoretische Kritik an der Hermeneutik missversteht diese als eine objektivistische Theorie der Sinnentschlüsselung. Das war sie indessen schon bei Gadamer nicht. Die pragmatische Dimension der Hermeneutik macht den abgeleiteten Status des reflexiven Erkennens vom praktischen Umgang mit sinnhaft aufgefassten Gegenständen deutlich. Abgeleitet ist dieses Erkennen von einem vortheoretischen, begriffslosen Verstehen, dem praxeologisch beschriebenen (Bourdieu 1979), habituellen Umgang mit Gegenständen und Personen, das auf die Kategorisierung dieses Gegenübers nicht angewiesen ist, also gar nicht von Personen und Gegenständen redet, sondern sich mit dem beschäftigt, was die existentialanalytische Beschreibung des »Daseins« (Heidegger 1984) – wie wir heute empfinden: etwas exaltiert – »Zeug« nannte (vgl. auch Dewey 1988; Ryle 1949). Das Modell der Beobachtung sowie das Modell des Verstehens als eines distanzierenden Erkennens unterscheiden sich von der Konzeption des pragmatischen Verstehens im Sinn einer phänomenologischen Nahaufnahme, die den primären Bezug der »Gegenstands«-Auffassung anspricht, durch 17 | Vgl. dazu die jeweils ganz unterschiedlichen Einwände von Donald Davidson (1985) sowie von Alfred Schütz (1974) gegen die Handlungstheorie Max Webers, die auf den Vorschlag hinauslaufen, das Konzept eines intentionalen Gegenstandes an die Theoriestelle der Einheit eines Handlungssinnes zu stellen.
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einen notorischen Kognitivismus. Charakteristisch für diesen Kognitivismus ist die methodische Voraussetzung, dass das Beobachten oder das Verstehen von sinnhaften Gegenständen sekundär auf der Grundlage immer schon intern und im Voraus explizierter Typisierungen, Kategorien oder Leitunterscheidungen vollzogen wird. Dieser Kognitivismus ist der Preis einer Strategie der Rekonstruktion von Handlungen, die der Akteursperspektive (oder aber einem System) eine explizite Orientierung an theoretischen Idealisierungen zuschreibt, um sie erklären zu können. Kurz gesagt: Handeln ist hier Resultat von Kognition. Pragmatistische Modelle kehren demgegenüber die Reihenfolge um: Kognition wird aus dem vorgängigen Handeln abgeleitet. Mit Bourdieu lässt sich dies am Beispiel Quines erläutern: Die kognitivistischen Modelle des subsumierenden Verstehens schreiben den verstehenden Akteuren die nicht rekursive Verwendung von allgemeinen Idealisierungen (Typisierungen) zu. Daraus folgt die methodisch folgenreiche Unterstellung, dass explizite und allgemeine Regeln des sprachlichen Gebrauchs das Sprechen, das Wahrnehmen und das Handeln direkt leiten. Quine macht demgegenüber darauf aufmerksam, dass das »Passen« von Regeln, gemessen an der Konsistenz der Zuschreibung, nicht auf das faktische Wirken von Regeln zu schließen erlaubt.18 Aber diese Bemerkungen sind nur skizzierte Einordnungen des pragmatischen Verstehens, die hier nicht vertieft, sondern am Beispiel des Todes des Kapitän Cook erläutert werden sollen. Bisher sind die vorstehenden Überlegungen davon ausgegangen, dass der Tod des Kapitän Cook ein zentrales Ereignis in drei verschiedenen Geschichten war – einer polynesischen, einer britisch-kolonialistischen und einer retrospektiven sozialwissenschaftlichen; und dass alle drei Geschichten unterschiedliche Bezugsgrößen sozialer Integration bezeichnen – die semantische und strukturelle Integration der hawaiianischen Gesellschaft, die entsprechende Integration auf der europäischen Seite, die kulturübergreifende Integration beider Geschichten, ebenfalls semantisch in der ethnologischen Reflexion und strukturell in der Koordination des kulturverbindenden Handelns. Auf welcher Basis aber vollzog sich die darin wirksame dreifache Übersetzungsleistung? Anders gesagt, was bedeutet hier konkret das pragmatische Verstehen? 18 | Die für bestimmte Zwecke legitime theoretische Rekonstruktion von konstitutiven Regeln wird genau dann zu einer Verzeichnung, wenn sie den Akteuren selbst eine bewusste Ausrichtung nur an den rekonstruierten Regelexplikationen zuschreibt. Bourdieu beruft sich selbst auf die Quine’sche Unterscheidung zwischen »fitting« und »guiding«: Rekonstruktiv explizierte Regeln, die auf das Handeln »passen«, müssen dieses noch nicht faktisch »leiten« (Bourdieu 1979: 162). Vom Quine’schen Argument kann die Soziologie noch immer lernen, dass der Weg von der Rekonstruktion allgemeiner Regeln aus der beobachtbaren Praxis eben nicht reversibel ist. Eine Praxis, die man auf den »Begriff bringen« kann, kann man nicht allein aufgrund dieser Begriffe ausüben.
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Naheliegend wäre die Antwort, dass beide Seiten der Begegnung – mithilfe von Dolmetschern vielleicht – aus eigenen Stücken partiell die Sprache des jeweiligen Gegenübers zu sprechen vermochten. Dem entspricht in der klassischen ethnologischen Literatur die Figur des Informanten. Wenn die klassischen Autoren sich überhaupt detailliert über die Startbedingungen der Arbeit im Felde äußern, erhalten die Leser allerdings zumeist Auskünfte, die das prinzipielle Problem der Bedeutungssicherung überspringen. Edward E. Evans-Pritchard z.B. erwähnt eher en passant, dass zunächst Monate vergehen, die nur dem Erlernen der Sprache gewidmet sind, ohne aber auf Feinheiten zu sprechen zu kommen, die die Subtilität z.B. Quine’scher oder Ryle’scher Nachfragen erreichen (vgl. Pritchard 1978: 326ff.). Dem Prinzip der »dichten Beschreibung«, das Clifford Geertz zur Maxime ethnographischer Arbeit erhoben hat, muss – soviel darf vermutet werden – eine Annäherung an die dicht zu beschreibende Praxis vorausgehen und zugrunde liegen, die als teilnehmende Bestandsaufnahme einer ›fremden‹ Lebensform in den vorkonzeptuellen Bereich implizit geregelter Kooperation fällt. Die Annahme einer übersetzenden Person, die diesen Umweg abzukürzen erlaubte, liefe darauf hinaus, sich auf das erkennende Verstehen zu berufen, das über die Identität der sprachlichen Bedeutung und damit über die Identität von Deutungsmustern vermittelt ist. Wir wissen aber mittlerweile aufgrund theoretischer und empirischer Befunde, dass das partielle Erlernen der fremden Sprache selbst bei scheinbar funktionierender Verständigung radikale systematische Missverständnisse nicht ausschließen kann, was im Übrigen das Ende des Kapitäns drastisch bestätigt. Die theoretischen Befunde betreffen neben philosophischen Erörterungen wie der Quine’schen Analyse der Unbestimmtheit der Übersetzung am Beispiel des »gavagai« (Quine 1980: 79) z.B. ethnologische Debatten um die Angemessenheit von Schlüssel-Kategorien der Beschreibung (vgl. z.B. Aoki 1992 und Shimada 1998). Also auch trotz partieller Sprachkenntnis ist hier die konstruktivistische Vorstellung, dass beide Seiten in vollständiger Unabhängigkeit vom Selbstverständnis des Gegenübers ein Modell dieses Gegenübers anfertigen, im Sinne einer Nahaufnahme in Grenzen angemessen. Während der Aufführung der Makahiki-Rituale weiß Cook, der die Hauptrolle spielt, nichts von der Bedeutung dieser Rolle, so wie die Lono-»Priester«, die dieser Rolle Bedeutung geben, nichts darüber wissen, wie der Träger der Rolle sich und diese Rolle deutet. Und doch spielt sich in gewisser Hinsicht eine funktionierende Interaktion ab – noch kommt es zu keinem Eklat. Was noch bedeutender ist: Trotz der nachträglich erkennbaren Unverträglichkeit der Situationsdeutungen vollzieht sich in the long run durch sie hindurch eine Verständigung, was sich in der Per-
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spektive eines Beobachtungskonstruktivismus nicht erklären lässt.19 Dass sich die Verständigung trotz, oder gerade wegen, der falschen Deutungen vollzieht, ist möglich, weil das pragmatische Verstehen in relativer Unabhängigkeit von den bewusst realisierten Deutungen Interaktionen in Gang hält (also trotz unzureichender »Deutung« anschlussfähige Akte motiviert, die eben deshalb anschlussfähig sind, weil sie polysem sind und also in heterogene Ketten integriert werden können). Der Austausch von materiellen Gegenständen (und was »bedeuten« Nägel?) zwischen Europäern und Insulanern bedeutet die Eröffnung einer pragmatischen Sozialbeziehung, die von den sie begleitenden Interpretationen ihrer Bedeutung relativ unabhängig ist – anders wäre sie nicht zu initiieren, wenn, wie im vorliegenden Fall, die Deutungen der Akteure vollkommen auseinandertreten. Engländer deuten die Vorgänge in den Kategorien des Gastgeschenkes, der Ehrenbezeugung, schließlich des Warentausches, so dass sie Akte des Übergriffes, z.B. enthusiastische Versuche der Hawaiianer von ihren Kanus aus die heiß begehrten Eisennägel aus den Schiffsrümpfen zu ziehen, als Diebstahl typisieren, woraufhin situationsspezifisch graduelle Übergänge zwischen Handlungsregeln vollzogen werden: von der Zurechtweisung bis zur Strafexpedition. Hawaiianer deuten die Vorgänge im Horizont ritueller Regeln als Opfergaben oder Manifestationen göttlicher Leistungen, sie nehmen die Körper der Engländer als wundersame Erscheinungen wahr, denn die Engländer haben Türen in ihren Körpern (Taschen), durch die sie allerlei zauberhafte Gegenstände hervorholen (Dibble 1909: 23). Nicht die Deutungen, aber die gedeuteten Vorgänge konvergieren. Es wandern Dinge von Hand zu Hand, was von Gesten der Billigung oder der Missbilligung begleitet wird (aber wie sicher kann man sich sein, womit »Billigung« ausgedrückt wird?), wobei sich nicht bewusst realisierte Perspektiven verschränken, sondern Praktiken, auf die diese Perspektiven bezogen sind. Gleiches gilt für den zentralen Interaktionsbereich der Sexualität. Was in europäischen Augen eine bedenkliche oder auch willkommene Freizügigkeit hawaiianischer Frauen darstellte (Cook 1983: 370ff.), war von der anderen Seite aus gesehen entweder eine strikt regulierte Praxis des Umgangs mit göttlichen 19 | Anscheinend lassen sich im Fahrwasser des Luhmann’schen Konstruktivismus solche Annäherungen als strikt monadische Komplexitätssteigerungen entzaubern. Strukturelle Kopplung und selbstreferentielle Beobachtung von Irritationen führen dann zu einer ›Anpassung‹, die immer nur Anpassung an die spezifische eigene Umwelt ist. Was dabei allerdings nicht einsichtig wird, ist der integrative Effekt, bei dem Systemgrenzen versetzt werden: Vormals kulturelle Differenzen werden durch funktionsspezifische Grenzen überlagert und ersetzt, die sich mit den ersten Grenzen nicht zur Deckung bringen lassen. Das Problem einer radikalen System/Umwelt-Unterscheidung liegt allerdings tiefer – mutmaßlich auf der Ebene der Ereignissynchronisation, was hier nicht näher verfolgt werden kann.
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Ressourcen und der Sicherstellung des eigenen Anteils daran, oder aber – was auf den Variationsspielraum der semantischen Vorgaben verweist – eine situationsspezifische, freie Interpretation von Taburegeln (Sahlins 1986). Die relative Unabhängigkeit des pragmatischen Verstehens von der expliziten Deutung führt zu entsprechenden handlungstheoretischen Voraussetzungen: Sahlins bildet aus der Analyse des Todes von Cook ein Argument gegen ein deterministisches Verständnis der Festlegung konkreter Handlungen durch sprachliche Strukturen und Regeln. Damit schließt er an die Tradition eines Sprachmodells an – ohne es zu nennen –, demzufolge die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke und Regeln sowie sozialer Kategoriensysteme wie Verwandtschafts-Bezeichnungen konkrete Handlungen nicht eindeutig bestimmen, sondern in ihnen von Fall zu Fall situationsspezifisch ausgelegt werden. Das pragmatische Verstehen und die explizite Deutung von Konzepten und Regeln führen demnach jeweils ein relativ autonomes Leben. Diese Autonomie ist jedoch – anders als die Metapher der Autopoiesis vermuten lässt – in dem Sinne relativ, dass die Praxis und ihre Artikulation in the long run aufeinander einwirken. Explizite Deutungen beschränken und eröffnen Spielräume des pragmatischen Verstehens, um nachträglich durch solche pragmatischen Interaktionen, die im Sinne der Abweichungsverstärkung Bedeutungsgrenzen verschieben, transformiert zu werden. Eine solche Transformation vollzog sich mit den Deutungshorizonten der Hawaiianer: Die semantische Variation ihrer symbolischen Selbstbeschreibung ist eingebettet in einen langfristigen Prozess der Verständigung mit den Europäern, weil die pragmatische Interaktion mit ihnen zu einer Bedeutungsvariation der eigenen kulturellen Kategorien und zu deren Verstärkung führte, die einer nicht-intendierten Übersetzung zwischen zwei Sprachen entspricht. Bei Sahlins ist nicht von Übersetzung die Rede, vielleicht weil ethnologische Forscher diesen Ausdruck für Techniken der Datengewinnung reservieren, doch Sahlins erklärt das Gelingen einer Annäherung von Deutungen, trotz und gerade wegen eklatanter Deutungsunterschiede, dadurch, »dass die im praktischen Handeln entstandenen Beziehungen zwar von herkömmlichen Mustern des Selbstverständnisses motiviert sind, in Wirklichkeit aber dieses Selbstverständnis gewissermaßen funktional umwerten« (Sahlins 1986: 60). Und, so ist hinzuzufügen, nicht nur umwerten, sondern – über den Umweg der pragmatischen Gemeinsamkeiten – an den Deutungshorizont des Gegenübers annähern. Die Unbestimmtheitsgrade der Interaktionssituation legen fest, bis zu welchem Maße Erfahrungen zu dauerhaften Variationen führen können. Das »wilde Denken« der Hawaiianer bezeichnet gleichsam eine größere Irritierbarkeit traditioneller bzw. mythischer Schemata, denn hier leiten mangels kognitiver und sozialer Ausdifferenzierung ungleich weniger stabile Regelexpli-
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kationen die soziale Praxis, während die europäische Kultur in folgenreicher Asymmetrie zur Zeit des Kontaktes schon ein solches Maß an Durchrationalisierung aufweist, dass Irritationen der Praxisdeutung durch kulturelle Differenzerfahrungen vergleichsweise spurlos integriert werden können. In diesem eingeschränkten Sinne sind so genannte primitive Gesellschaften ungleich formbarer, und d.h. weniger resistent als die europäische Moderne (natürlich ›an sich‹ und nicht ›für sich‹). Und dies kann schließlich auf eine differenzierungstheoretische Weise dazu beitragen, zu erklären, weshalb auf den Wegen der asymmetrischen globalen Konfrontation der Kulturen die Verwestlichung der Weltgesellschaft einen so unwiderstehlichen Sog entfalten konnte.
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3. Der Tod des Kapitän Cook
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Per formative Kultur und multiple Differenzierung
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4. Differenz der Religion
Implizite religiöse Gewissheit zwischen
Milieu und Organisation
Der Dialog »zwischen den Religionen« und der Dialog zwischen religiös und säkular motivierten Teilnehmern an öffentlicher Deliberation (Habermas 2005) bewegen seit geraumer Zeit und in der jüngeren Vergangenheit aus zeithistorischen Gründen vermehrt die Gemüter. Das gilt für die Agenda globaler Politik, für die scheinbar immer dringlichere Herausforderung liberaler Ordnungsprinzipien durch religiöse Fundamentalismen; und das gilt für die theoretische Reflexion: Nicht nur weil trotz widerständiger Stellungnahmen (Pollack 2009) die Gleichung, Modernisierung bedeute Säkularisierung (Pollack 2003), zunehmend in Zweifel gerät. Sondern auch weil im Angesicht schwindender Gegenkräfte gegen die Vorherrschaft zweckrational-funktionaler Prinzipien der globalen Handlungskoordination die Religion als eine Quelle dissentierender Normorientierung attraktiver zu werden scheint (so: Habermas 2012). Religion kann kaum mehr als Restbestand vormoderner Kultur gewertet werden, sondern eher als eine Ressource sozialer Bindungskraft, die allerdings für ihre Wirkung in säkularen Kontexten in eine eigene Form gebracht werden muss. Jürgen Habermas (2005) markiert die Stellung der Religion in den Grenzen diskursiver Vernunft durch den Hinweis auf die Schwelle eines Übersetzungsvorbehalts. Religiöse Gewissheit muss argumentationsempfindlich werden. Was aber zeichnet den Übergang zwischen religiöser Gewissheit und argumentativ begründeter Überzeugung, was die Transformation von vergleichsweise dogmatischem Glauben in eine konkurrenzfähige Stellungnahme aus, und wie ließe sich bezogen darauf also erklären, warum der Dialog mit der Religion, zwischen den Religionen und auch innerhalb der Religionen so schwerfällig, so paradoxiegeladen und so festgefahren erscheinen muss? Die folgenden Überlegungen behandeln diese Fragen weniger mit Rücksicht auf spezielle religionswissenschaftliche oder religionssoziologische Befunde. Sie entfalten vielmehr Schlussfolgerungen aus handlungs- und gesellschaftstheoretischen Analysen der Bedeutung der Differenz zwischen Formen der »Gewissheit«. Solche Analysen, so die Annahme, erlauben eine vorsichtige
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Per formative Kultur und multiple Differenzierung
Annäherung an die Binnenperspektive auf ein in entscheidenden Punkten Inkommunikables, auf das Phänomen der »religiösen Gewissheit«, um ein grundlegendes Problem des »Dialogs zwischen den und mit den Religionen« sichtbar zu machen. Ohne den Bezug auf dieses gewissermaßen Inkommunikable1 wäre der Ausdruck »Religiosität« nur eine äußere, tote Schale um den leeren Bezugspunkt abstrakter Zuschreibungen; die spezifisch religiöse Gewissheit drohte im Sinne falsch verstandener Aufklärung in soziologistischen wie psychologistischen Reduktionen aufgelöst zu werden. Eine Soziologie der Religion macht es sich zu leicht, wenn sie schon in die Sprache der Beschreibung des Phänomens der Religion eine funktionalistische Erklärung hineinsteckt, denn dann erklärt sie durch die Isolierung einer spezifischen Funktion nur den Gebrauchswert ihrer Beschreibung, nicht aber das angeblich Beschriebene. Die Soziologie der Religion und eine durch sie womöglich beförderte Reflexion interreligiöser Dialoge müssen es sich zuerst einmal schwer machen und die relative Unzugänglichkeit des religiösen Glaubens – von der rationalen und argumentativen Rekonstruktion dieses Glaubens aus gesehen – in den Vordergrund stellen. Ein erster Gesichtspunkt ist die große Entfernung des religiösen »Wissens« (des »Gegenstandes« eben jener Gewissheit) von der propositionalen Struktur begründeter Überzeugungen. Was die Gläubige »weiß«, lässt sich nicht in der gleichen Form ausdrücken wie das Wissen über »Tatsachen«. Die sachliche Schwierigkeit des »Dialoges zwischen den Religionen« zeigt sich erst, sobald sie von einer Betrachtung des Verhältnisses zwischen expliziten Religionen, die von der abgeleiteten Konkurrenz zwischen Systemen expliziter und propositionaler Gehalte des Wissens ausgeht, nicht schon verdeckt wird. Denn der Glaube – so die Annahme – ist verankert in einer bestimmten Form impliziter kollektiver Gewissheit; und diese Form (nicht nur der jeweils spezielle »Glaube«) wird aufgelöst, womöglich entstellt durch die Transformation des Glaubens in ein Wissen über Geglaubtes. Entscheidend für das Problem interreligiöser Kommunikation ist darum die in Teilen inkommunikable »religiöse Gewissheit«, weil sie eine spezifische Form impliziter Selbstverständlichkeit darstellt, die konstitutiv ist für religiöse Sprachspiele und für die Plausibilität von weitgehend existentiellen Selbstverhältnissen. Natürlich gerät der Begriff des Inkommunikablen schnell und zu 1 | Es muss an dieser Stelle vorläufig als »gewissermaßen« inkommunikabel bezeichnet werden, weil es vom Begriff der Kommunikation abhängt, was als kommunikabel gelten kann – denn nur wenn der Begriff (gelingender) Kommunikation die Kriterien der Verständlichkeit und der Mitteilbarkeit an die Transparenz möglicher Begründungen von Ansprüchen auf die Geltung des Gesagten und des Aussageaktes bindet, fällt einiges aus dem Bereich des Mitteilbaren heraus, das erst unter anderen Prämissen seinen Beitrag zur Kommunikation zu erkennen gibt.
4. Differenz der Religion
Recht unter Verdacht. Jede Berufung auf ein Unsagbares erscheint zunächst als uneinlösbare Behauptung (man ist gewohnt zu sagen: als Metaphysik), schon weil sie eine Aussage über etwas ist, das ausgerechnet über die Unmöglichkeit der Repräsentation definiert sein soll. Aber doch ist es möglich, die Grenzen der diskursiven Repräsentation zuerst performativ zu erfahren und dann diskursiv zu repräsentieren, wie Paul Ricœur an Kierkegaards Modell einer notwendig »indirekten Mitteilung« zeigt (Ricœur 1979: 586) und was Jürgen Habermas am Fall der »Übersetzung zwischen Handlungsgewissheit und diskursiv geprüftem Wissen« diskutiert (Habermas 1999). Gelebte Religiosität lässt sich mit einigem Recht betrachten als ein Spezialfall des von Gilbert Ryle so genannten »knowing how«, der praktischen Gewissheit, deren Artikulation und Explikation immer eine Formtransformation, eine »Übersetzung« (Renn 2006a: 120ff.) darstellt, die durch das repräsentationalistische Modell der Abbildung eines (angeblich schon propositional gebauten) Gehaltes von Elementen des »Hintergrundwissens« durch explizite Aussagen verzeichnet wird.2 Zwischen der Gewissheit des Glaubens (aber auch der Gewissheit eingespielter Praxis im Sinne von: Wittgenstein 1969) und der Geltung propositionalen Wissens besteht eine Differenz, an der sich die Grenzen der Repräsentation bilden und schließlich praktisch zeigen (Renn 2004 und 2006b). Die Grenzen der Repräsentation einer impliziten Gewissheit sind im Fall des religiösen Dialoges interessant, wenn man Religiosität primär als Element einer kulturellen Lebensform, als eine pragmatische Form impliziten Wissens betrachtet. Erst auf dieser Ebene erscheinen die problematischen Konsequenzen der Eigenarten des interkulturellen und des interreligiösen Dialoges: Denn die Differenz zwischen Horizonten impliziten Wissens ist nicht von vornherein aufgehoben in der Identität einer für zwei pragmatische Horizonte jeweiliger »Welterschließung« gleichermaßen adäquaten Form des expliziten (diskursiv rationalen) Diskurses. Unterschiedliche Lebensformen haben bestenfalls das Eine notwendig gemeinsam, dass sie im Übergang zur Form diskursiver Selbstbeschreibung und Selbstrechtfertigung einer Transformation unterzogen werden, die ihnen in dann allerdings unterschiedlicher Weise eine verzerrende Artiku2 | Wegen dieser Unterstellung der propositionalen Struktur »lebensweltlichen« Hinter grundwissens (Habermas 1981, Band 1: 376) empfiehlt es sich, die hier relevante Form der Gewissheit auf den Begriff der »Lebensform« zu beziehen, denn hier ist ein implizites Wissen konstitutiv, das sich als vorprädikatives von dem bloß nicht thematischen Wissen unterscheidet. Der Unterschied betrifft die Bedeutung: Für propositional strukturiertes Hintergrundwissen gilt die Verbindung zwischen Bedeutung und Geltung (was ein Zeichen bedeutet, hängt ab von rationalisierbaren Geltungsbedingungen), während implizites Verstehen von Symbolen analogisch und metaphorisch, vermittelt über Familienähnlichkeiten und konversationale Implikaturen (unscharfe Inferenzen), abläuft, vgl. Renn 2012.
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Per formative Kultur und multiple Differenzierung
lationsweise, eine selektive Übersetzung aufnötigt. Das wird im Fall der Religion gerade im Kontrast zu institutionalisierten Rationalitätskriterien einer säkularen Ordnung von »Wertsphären« (M. Weber) besonders deutlich, denn das Religiöse bewahrt auch unter modernen Bedingungen die Spur der Transzendierung empirischer Bestätigung eines für gültig genommenen Wissens.3 Durch den Rekurs auf die implizite Basis der Gewissheit verschärft sich zunächst das Problem der Verständigung in der Richtung des Problems radikaler Übersetzung und unbestimmbarer Referenz (Quine 1980), der radikalen Interpretation (Davidson 1986). Radikal stellt sich die Herausforderung der Interpretation dar für eine Hermeneutik, die den Dialog zwischen erheblich unterschiedlichen Sprachspielen nicht als Folge oder als Leistung eines gemeinsamen Bodens der Verständigung versteht, sondern die umgekehrt die übersetzende Praxis als Vorbedingung und Realisierungsmedium eines solchen gemeinsamen Bodens betrachtet (Gadamer 1975: 342; vgl. Rorty 1989). Horizonte verschmelzen nicht vollständig, und die erste Erfahrung der radikalen Interpretation ist nicht die Identität der Wirkungsgeschichte, sondern die Differenz der Horizonte. Erst wenn kenntlich gemacht wird, dass der religiöse und interkulturelle Dialog – wenn er denn ein Gespräch zwischen ernsthaft und erheblich differenten Horizonten ist – prinzipiell eine paradoxe Anforderung an mögliche Protagonisten stellt, lässt sich zeigen, dass »eine« Religion sich zuerst teilen muss in zwei heterogene Artikulationsformen des für sie charakteristischen Glaubens, bevor sie das Risiko der Kontingent-Setzung des Glaubens in Kauf nehmen kann. Nötig für das Moment der Dezentrierung innerhalb tatsächlich ergebnisoffener »Dialoge« ist eine spezifische Form der Arbeitsteilung: die soziale Differenzierung von religiöser Organisation und religiösem Milieu, die eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung darstellt für die Lösung des Problems, dass die konstitutive Rolle der Glaubensgewissheit ihre Relativierung erschwert. In einem ersten Schritt führt die Analyse der religiösen Gewissheit deswegen zu einer skeptischen Einschätzung des religiösen Dialogs – sie macht deutlich, dass solche Dialoge mit ihrem Appell an Dezentrierung und Kontingentsetzung eine Überforderung transportieren. Dieser erste Schritt erzwingt und ermöglicht jedoch zugleich die Unterscheidung zwischen »Aggregatzuständen« (Renn 2006a: 349ff.) religiösen Wissens – zwischen impliziter Gewissheit und organisiertem, diskursivem z.B. theologisch-kirchlichem Wissen. Daran kann ein zweiter Schritt ansetzen, der das Verhältnis zwischen diffe3 | Darauf weisen auch die fragmentarischen Hinweise Wittgensteins zum religiösen Sprachspiel hin, denen zufolge der religiöse Mensch mit der Behauptung der Existenz Gottes keine unhaltbare empirische Aussage trifft, sondern ein »anderes« Sprachspiel spielt, auf einem alternativen Boden praktisch verankerter Gewissheit operiert, siehe: Wittgenstein 1968: 89f. und Phillips 1965.
4. Differenz der Religion
renten kollektiven Institutionalisierungen von »Religion« als eine historische Arbeitsteilung zwischen praktisch-kulturell integrierten Gemeinschaften bzw. Personen (Lebensformen) und formalen bzw. rationalisierten Organisationen interpretiert. Erst diese besondere Arbeitsteilung – das ist die zentrale These, die hier plausibilisiert werden soll – erklärt die empirische Möglichkeit jenes existentiellen Selbstzweifels, ohne den der Dialog zwischen Religionen wie zwischen Lebensformen in zwei synchrone Monologe zerfallen bliebe.
I. Z ur E igenart von religiöser G e wissheit als Teil einer » performativen K ultur « Wenn der »Glaube«, z.B. die mehr pragmatisch ausagierte als theoretisch geprüfte »Frömmigkeit«, auf impliziter Gewissheit beruht und auf »Implizitheit« angewiesen ist, dann bildet das Gefälle zwischen religiöser Gewissheit und diskursiver Prüfung ein Hindernis für den Eintritt in den ernsthaft offenen Dialog, denn dieser Eintritt bedeutet das Risiko, »den Glauben zu verlieren«. Deshalb kann diese Schwelle für die Gläubigen, die ihren Glauben im Modus einer »performativen Kultur« (Renn 2004) vollziehen, zu hoch sein. Der Eintritt in den Dialog ist riskant, weil die Infragestellung (das Kontingent-Setzen) der Gewissheit, wenn sie konstitutiv für personale Identität im Feld kollektiver habitueller Gleichsinnigkeit (gemeinsamer Praxis und Routine) ist, den möglichen Verlust der sozialen Identität impliziert. Dieses Hindernis ist durch diesen Übergang gerade im Fall religiöser Gewissheit erheblich. Historisch aber haben sich dennoch religiöse Dialoge entfaltet und kulturelle Dezentrierungen entwickelt. Dafür war entscheidend, dass neben die Form praktischer Gemeinschaft (Milieu) die Organisation der Religion treten konnte. Für die Person erscheint der Unterschied zwischen diesen kollektiven Formen als Differenz von Zugehörigkeit und Mitgliedschaft. Die Entstehung einer Kirche und ihre theologische und administrative Rationalisierung garantieren aber noch keinen symmetrischen und vernünftigen Dialog, wie »wir« ihn »heute« verstehen. Das Problem zeigt sich im historischen Beispiel: Verhöre, die im Verlauf der zwischen 1318 und 1325 durchgeführten Katharerinquisition in Pamier durchgeführt wurden (durch ein neu eingerichtetes Ketzergericht, das neben der dominikanischen Zuständigkeit operierte), enthalten den Quellen zufolge über weite Strecken erstaunliche Elemente von Disputation und Überzeugungsversuch, sie erweisen sich aber am Ende nicht als rechte Dialoge: Nach der Vereidigung begann das Verhör. Jacques Fournier [Bischof von Pamier] stellte Fragen, ließ den Angeklagten reden, hörte aufmerksam zu, stellte, dunkle Punkte die Aussagen betreffend, weitere Fragen, ließ den Angeklagten reden, manche Aussagen
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Per formative Kultur und multiple Differenzierung füllen zehn, zwanzig und mehr der großen zweispaltig beschriebenen Folioseiten des Registers der Verhöre. […] Wo er Widersprüche in der Aussage eines Zeugen entdeckte, […] ruhte er nicht, bis er sich diese Widersprüche zu seiner Zufriedenheit erklärt hatte; und er war anspruchsvoll, denn er wollte nur die Wahrheit wissen. War ein Angeklagter der Verbrechen überführt, die ihm zur Last gelegt wurden, begnügte sich der Bischof nicht damit, ihn bestrafen zu lassen, sondern scheute keine Mühe, den Betreffenden zur Reue zu bewegen, um sein Seelenheil zu retten. Zu diesem Ende führte er lange Gespräche mit den Delinquenten und versuchte, sie mit philosophischen und theologischen Argumenten von der Irrtümlichkeit ihrer Anschauungen zu überzeugen. Vierzehn Tage seiner kostbaren Zeit wandte er daran, den vom Katholischen Glauben (zu dem er freilich unter Zwang bekehrt worden war) wieder Abgefallenen […] mit dem Geheimnis der Dreifaltigkeit zu versöhnen, eine Woche, ihn von der doppelten Natur Christi zu überzeugen, und nicht weniger als drei Wochen verstrichen bei der Erörterung der Identität Christi mit dem verheißenen Messias. Zuletzt freilich wurde das Urteil gesprochen und Strafe verhängt. (LeRoy Ladurie 1982: 28f.) 4
Auch das ist ein Dialog der Religionen; doch der moderne Betrachter zögert, hier Dialogizität zu attestieren, denn die Interaktion weist eine entscheidende Asymmetrie auf, wenn Richter und Opponent identisch sind, was eine Seite in ungehörigen Vorteil bringt. In diesem Zögern des Betrachters verraten sich indirekt die normativen Implikationen, die ein typisch moderner Vorbegriff von einer akzeptablen Form des Dialoges zwischen den Religionen enthält.5 Das Privileg des Inquisitors verletzt ein diskurstheoretisch ausführlich expliziertes Prinzip (Habermas 1983) von selbst moralischer Dignität: das Prinzip der Symmetrie bzw. der Reziprozität von wechselseitig zugestandenen Autonomieansprüchen, die weder den einseitigen Zwang, die Drohung mit Strafe noch die ungleiche und monopolistische Verteilung von Autorität in der Position des Richters verträgt. Die denkbaren Korrekturen der jeweils eigenen, zuvor gewissen Überzeugungen haben sich de jure keinem anderen Druck zu beugen als dem »zwanglosen Zwang des Argumentes«. Dem »Glauben« erscheint aber womöglich nicht erst dieses oder jenes Argument als »zwingend«, sondern schon vor dieser Prüfung kann bereits die Pflicht zur argumentativen Probe auf Haltbarkeit im Kontrast zur lebenspraktisch konstitutiven Gewissheit als Zwang erscheinen. Das Problem des religiösen Diskurses, der etwas anderes 4 | Hervorhebungen: J.R. 5 | Von »einem« modernen Vorbegriff des Dialoges zu schreiben, ist natürlich eine grobe Vereinseitigung, die einem unreflektierten Universalismus verpflichtet scheint. Denn dieser moderne Vorbegriff steht längst selbst unter dem Verdacht, partikular zu sein. Der vernunftkritische Kontextualismus sieht in der universalistischen Explikation eine Verschleierung partikularer Traditionen, wenn nicht selbst religiöser Prinzipien. Hier wird diese Kritik nicht unterschlagen, sondern nur kurzfristig zurückgestellt.
4. Differenz der Religion
ist als eine Debatte über Religion(en), unterscheidet sich in einem zentralen Punkt von der allgemeinen Bestimmung, wann ein Dialog »fair« strukturiert sei. Was, so lautet nämlich die Frage, gilt im Lichte religiöser Gewissheit als ein »zwingendes« Argument, wenn denn die Gewissheiten auf der konstitutiven Ebene einer Lebenspraxis liegen, von der abhängt, was als überzeugende Begründung zählt? Das Gefälle zwischen Richter und bedrohtem Diskutant im zitierten Beispiel ist mit Rücksicht auf die Frage der Konstitution von Plausibilitätskriterien nur die augenfällige Asymmetrie. Es gibt eine zweite: Das Medium der argumentativen Rede (dahinter steckt auch im gewählten Beispiel das Medium der Schrift und über die Form der Aktenführung das formalisierte Sprachspiel einer Organisation) unterscheidet sich vom Medium der pragmatischen Reproduktion einer performativen Kultur bzw. der spezifisch habituellen impliziten Gewissheit, die in rituellen Formen und Auslegungsroutinen kollektive Gestalt erhält. Und die Gewichtung dieser Sprachspieltypen fällt einseitig aus zugunsten der inquisitorischen Argumentation. Der Bischof Fournier sucht die »Wahrheit«,6 nicht ausschließlich, nicht einmal zuerst das »Verständnis« der anderen Überzeugung, und er legt einen Maßstab der Widerspruchsfreiheit an, vermittels dessen er versucht zu überzeugen, obwohl die Kriterien der Plausibilität autoritär (d.h. nicht selbst »verhandelbar«) durch das System und das Medium seiner Theologie definiert werden. Der Glaube aber, der sich hier vor dem Tribunal einer (spezifischen) argumentativen Rationalität behaupten soll, besteht nicht in einem System überprüf barer Behauptungen, sondern er besteht in einer von außen schwer zugänglichen, weil nur indirekt aus der Artikulation, die schon eine Übersetzung ins Diskursive bedeutet, erschließbaren subjektiven Gebundenheit und Getragenheit. Nicht das »Geglaubte«, als Bezugsobjekte eindeutiger assertorischer Sätze, die wahr oder falsch und in Relation zu weiteren eindeutigen Sätzen kohärent oder nicht sein können, sondern der »Glaube« steht auf dem Spiel. In der Arena einer diskursiven Prüfung schon der Bedeutung von Artikulationen des Glaubens, die die Geltung auch expressiver Sprechakte an die adäquate Repräsentation propositionaler Einstellungen bindet, bietet sich die Glaubensgewissheit dar als ein Inkommunikables. Viel später (gegenüber der Inquisition des 14. Jahrhunderts) wird diese negative Erscheinungsweise einer »authentischen« inneren Bindung an das religiös Gewisse von Martin Buber dramatisiert: 6 | So ist nach Foucault die technologische Zurüstung des »Willens zum Wissen« in Gestalt der »Pastoralmacht« älter als das moderne Disziplinardispositiv. Es entwickelt sich lange vor der spätmodernen Koalition zwischen Staatlichkeit und Sorge um die Existenz schon im christlichen »Pastorat«, das bereits das Seelenheil des Individuums und damit eine Form seiner Innerlichkeit hegt, so Foucault 1994: 248.
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Per formative Kultur und multiple Differenzierung Der wirkliche Glaube – wenn ich denn das Sichstellen und Vernehmen so nennen darf – fängt da an, wo das Nachschlagen aufhört, wo es einem vergeht. Was mir widerfährt, sagt mir etwas, aber was das ist, das es mir sagt, kann mir durch keine geheime Kunde eröffnet werden, denn es ist noch nie zuvor gesagt worden und es setzt sich nicht aus Lauten zusammen, die je gesagt worden sind. Es ist undeutbar, wie es unübersetzbar ist, ich kanns nicht erklärt bekommen und ich kanns nicht darlegen, es ist ja gar nicht ein Was, es ist ja mir in mein Leben hinein gesagt […] (Buber 1978: 29).
Diese indirekte Annäherung an die positive Gestalt des Glaubens ruft auf expressive Weise die unzugängliche Innerlichkeit der Einzelperson in Erinnerung. Sie überlässt dabei den Begriff der Übersetzung dem Reduktionismus, der sie als Übertragung behandelt, als inhaltsbewahrende Repräsentation einer bestimmten Proposition im Übergang von einer Sprache zur anderen, in denen jeweils »das Selbe« gesagt werden kann. Bubers Zuspitzung übertreibt mit beiden Zügen die Ausschließlichkeit der Alternative zwischen innerem Erlebnis und der intersubjektiven Öffentlichkeit propositionaler Gehalte. Im Kontrast zu beiden Modi steht jedoch als ein dritter Modus die für das religiöse Empfinden konstitutive intersubjektive Gewissheit, die der vergemeinschaftenden Erfahrung einer geteilten Praxis der Verwendung von Symbolen und des Vollzugs von rituellen Handlungssequenzen entstammt. Der Abstand dieser Glaubensgewissheit zu einem kognitiven »Für-Wahr-Halten« entspricht keineswegs der Unterscheidung zwischen einer privaten Sprache (bzw. existentieller Innerlichkeit) und öffentlich intelligibler (und überprüfbarer) Bedeutung. Dass es sich auch auf der Seite der Gewissheit um einen kollektiv abgesicherten, eingespielten Modus handelt, zeigt der Bezug auf die pragmatistische Tradition. So wendet sich Hans Joas auf der Suche nach der Entstehung der Werte zuerst an William James, mit dem die spezifisch religiöse Erfahrung als Selbstentgrenzung gedeutet werden kann. Sie wird auch hier zuerst von innen beschrieben als […] der Verlust aller Sorge, das Empfinden, dass es letztlich gut mit einem steht; der Friede, die Harmonie, die Daseinsbereitschaft, auch wenn sich die äußeren Lebensbedingungen nicht ändern […]. Eine Leidenschaft des Wollens, des Ergebens, des Bewunderns ist das glühende Zentrum dieses Geisteszustands (James 1997: 263).
Joas erläutert mit diesem Zitat (Joas 1999: 80f.) den Begriff des religiösen »Sicherheitszustands«, der allerdings nicht mit James in der Überverallgemeinerung einer historisch kontingenten, vornehmlich bürgerlichen Introspektion psychologisiert werden muss. Joas selbst entziffert mithilfe von Durkheim die James’sche Beschreibung als Ausdruck der Innenansicht, der intentionalen Seite eines kollektiven Aggregatzustandes affektiver Selbsttranszendierung. Sie ist eine in der »kollektiven Efferveszenz« (Durkheim 1984; siehe: Joas 1999:
4. Differenz der Religion
94f.), in der gemeinsamen Ekstase, begründete intersubjektive Gewissheit außerordentlicher, transzendenter Bindungen des Einzelnen und der Gemeinschaft, die nur der Soziologismus auf die verzerrte Selbstdarstellung einer Gesellschaft reduziert. Die religiöse Gewissheit ist gerade weil und wenn sie eine kollektiv beglaubigte Selbstverständlichkeit angenommen hat, kein geprüftes Wissen, sondern sie beruht auf der kooperativen, rituell und metaphorisch bestätigten Gleichsinnigkeit in der praktischen Verwendung von Symbolen (Renn 2006a: 286ff.). Die Überzeugungskraft der Religion ist dann primär an die Vitalität einer eingespielten Praxis gebunden, die auf die argumentative Bewährung von wahrheitsfähigen Aussagen gar nicht angewiesen sein darf, weil sie ihre konstitutive Funktion vor aller Explikation und Rationalisierung impliziten Wissens schon entfaltet haben muss. Die religiöse Gewissheit verträgt sich darum schlecht mit der diskursiven Form argumentativer Rede, bei der Überzeugungen als wahrheitsfähige Behauptungen oder als normative Sätze behandelt werden, die beide der Probe der argumentativen Einlösung propositionaler Geltungsansprüche ausgesetzt sind. Dieser Befund ist dabei – trotz der Ausblicke auf Buber und James – nicht angewiesen auf das Argument, dass religiöse Gewissheiten sich dem propositionalen Ausdruck und der argumentativen Probe, die eines solchen Ausdrucks bedarf, aufgrund ihrer privaten Innerlichkeit entziehen. Entscheidend ist vielmehr, dass die performative Form der intersubjektiven Gewissheit eine andere Verbindlichkeit bedeutet als die diskursiv eingelöste oder einlösbare Geltung, weil der Übergang zur Form der argumentativen Prüfung einen Medienwechsel impliziert. Die Explikation der gewissen Glaubensgehalte geht notwendig den Weg von einer impliziten performativen Kultur mit ihrer eigenen Form der Reproduktion von Gewissheit in das Medium expliziter propositionaler Argumentation – auf dem gerade die theologisch komplexe Religion, die das Erbe der prädikativen Logik antiker Philosophie integrieren will (Thomas v. Aquin), den Weg ihrer eigenen Entzauberung durch die Metamorphose des Religiösen in die kohärent reflektierte »Religion« eröffnet (vgl. Blumenberg 1996). Wenn die spezifische Form der religiösen Gewissheit, der individuelle und kollektive Glaube, als Bestandteil, als Element und als Folge einer »performativen Kultur« begriffen wird, zeigt sich das Schwellenproblem der Motivation und der Bereitschaft zu einem »echten« religiösen Dialog erst in der ausreichenden Schärfe. Denn die passende Motivation zur dialogischen Verständigung müsste im Übergang von der impliziten, praktisch bewährten Gewissheit zum Austausch von Argumenten zugleich schon vorausgesetzt und noch erzeugt werden. Zum einen kann nämlich das Regime der Begründung eben jenen Kriterien, die der Glaube selbst impliziert, zuwiderlaufen. Zum anderen aber verlangt der Eintritt in das Spiel einer diskursiven Prüfung von Geltungsansprüchen danach, auch die normative Grundlage zur Disposition zu stellen, die eben jene Bereitschaft zum Eintritt motivieren müsste. Zudem bedeutet
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die Bereitschaft, eigene implizite Gewissheiten zur Disposition zu stellen, im Falle erheblicher kultureller und religiöser Differenzen, die konstitutiven Voraussetzungen performativer Kultur, d.h. das eigene Sprachspiel und die Sicherheit personaler und kollektiver Identität zu verlassen. Die Differenz liegt nicht erst auf der Ebene konkurrierender »Glaubensinhalte« und »religiöser Vorschriften«, die auf einem einheitlichen Spielfeld der kriterial geordneten Konkurrenz von Argumentationen liegen. Es steht vielmehr der Übergang in ein rationalisiertes Selbstverhältnis an, das aber den Rückgriff auf ein anderes konstitutives Fundament als eben jene religiöse Gewissheit erforderlich macht, so dass nur über diejenige Gewissheit diskutiert werden kann, zu der man bereits Distanz hat, weil eine alternative Quelle konstitutiver Voraussetzungen der eigenen Überzeugungen schon erschlossen ist. Im Übergang zur Prüfung wechselt der Glaube aus der Position des pragmatischen Hintergrundes in die Position expliziten Wissens, und dabei hat er entweder seine konstitutive Funktion eingebüßt, oder aber als fraglicher Glaube wird im Dialog etwas verhandelt, was den existentiellen Bezug der Gläubigen zu dem für sie Gewissen in keiner Weise angemessen wiedergibt. Der Glaube geht verloren (weil die funktionale Latenz seiner Funktion durch dysfunktionale Manifestation verunmöglicht wird), oder aber er bleibt verborgen hinter der Fassade einer mehr oder weniger strategisch rationalisierten Version, über die zu verhandeln man bereit ist, weil sie einen nicht »wirklich betrifft«. In der Debatte um die Verpflichtung, religiöse Vorbehalte und Motive in einer modernen deliberativen Demokratie in eine säkulare Form zu bringen, kommt darum auch Jürgen Habermas auf eine entsprechende Übersetzungsnotwendigkeit zu sprechen. Es könnte sein, dass sich Glaubensgewissheiten nicht ohne Verlust in explizites, rationales Wissen oder rationale Gründe umformen lassen, denn es ist möglich, dass »[…] die normative Erwartung, dass sich religiöse Bürger bei ihrer Stimmabgabe letztlich von säkularen Überlegungen leiten lassen sollen, an der Realität eines frommen Lebens, einer aus dem Glauben geführten Existenz vorbei (gehe)« (Habermas 2005: 134). Habermas mildert diesen Einwand unter Hinweis auf die Argumentation von Thomas Schmidt, d.h. mit Bezug auf die Differenzierung zwischen Sphären heterogener Kommunikation in der modernen Gesellschaft, ab zu einem »institutionellen Übersetzungsvorbehalt« (Habermas 2005: 136). Jenseits institutioneller Schwellen bzw. diesseits der Grenzen zu Foren der Deliberation öffentlicher Regeln und politischer Zielsetzungen zählen nur säkulare Gründe bzw. säkularisierte religiöse Ansprüche (die in diesbezüglich salonfähiger Form auf ein Recht auf Anerkennung pochen dürfen). Das ist ein Hinweis auf die Übersetzungsproblematik, die aus der Sicht der säkularen Norm eines vernünftigen Dialogs der religiösen Gewissheit einen Außenbezirk zuweist in den Grenzen eines ethischen Selbstbezuges, die ihrerseits durch universalisierbare Normen der Normenfestsetzungs-Verfahren gezogen werden.
4. Differenz der Religion
In der Tat wird die normative Theorie spezifisch moderner Diskursformen begründete Vorbehalte gegenüber fundamentalistischen Grenzüberschreitungen kaum leichtfertig aufgeben können. Es wird jedoch durch das Zugeständnis eines Übersetzungsproblems zwischen religiöser Orientierung und rationaler Verständigung zugleich markiert, dass der Diskursbegriff einer prozeduralisierten Vernunft bestenfalls die Aussprache über Religionen bzw. die metaphorische Übersetzung religiöser Erfahrungen in die Sprache säkularer Dialoghaltungen berührt. Indirekt aber zeigt sich ebenso, dass der »Dialog der Religionen« als Gespräch aus religiöser Gewissheit heraus normativ, empirisch und historisch in den Begriffen des rationalen Diskurses allein nicht aufgeklärt werden kann. Denn wie ist dieser Dialog möglich, wenn der institutionelle Übersetzungsvorbehalt zwischen der aus dem Glauben geführten Existenz und der Rolle des Teilnehmers an rationalen Diskursen eine starke Grenze zieht, und wenn zudem in der modernen dialogischen Attitüde erhebliche Momente religiöser Einbettung der »Existenz« verloren gehen?
II. D ie U nwahrscheinlichkeit des interreligiösen D ialoges Wie immer wir Religion also definieren – ob mit Bezug auf die Transzendenz, auf das Heilige, auf einen Gott oder auf die Jenseitigkeit – die angedeutete Rekonstruktion religiöser Erfahrung und entsprechender Gewissheit macht darauf aufmerksam, dass der (auch von Joas zuerst aufgegriffene) individuelle Charakter der religiösen Gewissheit, die sich vom geprüften Wissen unterscheidet, einem kollektiven Typus der gemeinsamen Überzeugung entstammt.7 Die soziale Bindung der Person an das Kollektiv, die auf der Bindungskraft 7 | Das Problem der »Individualität« in einer performativen Kultur gibt Anlass, das orthodoxe Individualisierungs-Narrativ in der Soziologie zu relativieren. Denn es ist ja nicht die faktische Entfaltung subjektiver Innerlichkeit mit der sich die Moderne von allen vermeintlich traditionalen Konstellationen unterscheidet, sondern eher eine andere Koppelung zwischen Semantik der Innerlichkeit und subjektiver Selbstbeziehung. In einer performativen Kultur hebt sich das Selbstverhältnis des Einzelnen nicht als die »Ineffabilität« des Individuums gegen den Hintergrund expliziter Sprachspiele ab: Die Person kann ihre religiöse Erfahrung als intentionale Selbsttranszendierung im Medium performativer Kultur und dem Aggregatzustand entsprechender Sprachspiele kollektiv hinreichend verständlich artikulieren, weil hier Metaphern, unsichere Analogien, Transduktionen (Piaget) und die Gebrauchsbedeutung den primären Modus der Verständigung bilden. Das Individuum und seine Kommunikabilität wird erst ein Problem, wenn sich abstrakte Kommunikationsformen gegenüber dem Typus eines habituell integrierten Sprachspieles ausdifferenzieren.
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geteilter praktischer religiöser Gewissheit beruht, ist als »Zugehörigkeit« (im Unterschied zur Mitgliedschaft) zu begreifen. Zugehörigkeit charakterisiert den Modus der sozialen Integration eines Kollektivs, der für den Typus eines »Milieus« spezifisch ist. Es ist als soziale Lebensform nicht auf der kognitiven Basis intersubjektiven propositionalen Wissens bzw. expliziter kultureller »Normen« und »Werte« integriert, sondern zunächst praktisch.8 Intersubjektiv geteilte Religiosität ist in diesem Sinne ihrerseits ein kollektives System von Überzeugungen, Geboten und Praktiken, das sich nicht zuerst in der expliziten Form einer theologisch rationalisierten und verwaltungsmäßig durchstrukturierten Organisation zeigt – sondern zunächst als performative Kultur, deren Struktur auf der impliziten Gleichsinnigkeit in der »Regelanwendung« beruht: Der Zusammenhang zwischen generalisierten Vorstellungen, Symbolen und Geboten und einzelnen Handlungen, intentionalen Einstellungen und interaktiven Sequenzen ist hier durch die Übereinstimmung des impliziten Wissens zwischen Angehörigen eines »Milieus« habituell gesichert. Der Glaube besteht nicht im Wissen über die Merkmale der Gottheit, sondern im impliziten Wissen über die pragmatischen Implikationen eines kollektiven religiösen Habitus. An Gott glauben, heißt nicht, »wissen, dass er existiert«, sondern in der Gewissheit seiner Existenz wissen, wozu diese Gewissheit hier und jetzt verpflichtet bzw. auf welche Weise sie über dieses und jenes effizient hinweg trösten kann. Auch in der durch die Quellen vermittelten Figur des oben erwähnten Bischofs Jacques Fournier macht sich diese implizite intentionale Ebene bemerkbar. Er findet keine Ruhe, solange es ihm nicht gelingen will, die Seelen der Befragten zu retten. Zum Subtext des Diskurses, den er inszeniert, gehört deshalb unterhalb der ausdrücklichen Argumentation der performative Charakter der Seelsorge. Nicht allein die kognitive Beurteilung, die juristische Form und eine an einem formalisierten Verfahren ausgerichtete strategisch beschränkte »Verständigung« leiten den Diskurs. Die Form der Debatte, vor allem ihre Eindringlichkeit und ihre Länge erklären sich erst hinreichend durch das starke affektive Motiv, dem anderen, sich selbst und einer höheren Macht den ernsthaften Rettungsversuch schuldig zu sein. Dieser Faktor ist selbst Anzeichen 8 | Stichworte zur Analyse der »Logik der Praxis«, in der sich eine kollektive Identität als habituelle Übereinstimmung bildet und reproduziert, liefert Bourdieu 1979. Das religiöse Gebot regelt die Praxis auf dieser Ebene habitueller Übereinstimmung nicht im Sinne der Ableitung von Handlungen aus allgemeinen Sätzen mit klaren Applikationsbedingungen. Das »Milieu« eines habituell und praktisch integrierten Kollektivs löst im Gegenteil das hermeneutische Problem der Anwendung von Regeln und von abstrahierten Ausdrücken, das keine Kasuistik hinreichend bewältigt (Gadamer 1975), mithilfe des impliziten Wissens, wie Regeln situativ »angemessen« anzuwenden sind. Siehe zu der damit vorgeschlagenen Verwendung des Milieubegriffs: Renn 2006a: 410ff.
4. Differenz der Religion
der Verankerung eines rationalen Disputes in einer Gewissheitsgrundlage, die ihrerseits mit den Mitteln dieses Disputes nicht begründet werden kann, weil sie die performative Gewissheit darüber, was ein guter Grund ist, trägt. Über dieses Motiv selbst kann der Bischof im Beispiel ebenso wenig (ergebnisoffen) diskutieren wie über die expliziten Glaubensinhalte, ohne die Grundlage seines zweischneidigen Engagements, die Verankerung seiner Agency in der schon ambivalenten, impliziten und explizierten religiösen Gewissheit zu gefährden. Darin zeigt sich die Höhe der Schwelle zu einem solchen Dialog der Religionen, der mehr sein will als ein Diskurs über Religion(en). Der Eintritt in den Dialog bedeutet ein Risiko, gerade wenn die religiöse Gewissheit auf einem kollektiven Habitus der Zugehörigen zu einem Milieus beruht, denn dann bedrohen die Relativierung und die pragmatische Ent-Selbstverständlichung kollektiver habitueller Gleichsinnigkeit die gesicherte Zugehörigkeit und damit die individuelle und soziale Identität. Es ist darum zunächst historisch höchst unwahrscheinlich, dass die Angehörigen verschiedener Religionen, d.h. verschiedener religiöser Lebensformen mit jeweils eigenen habituell verankerten Formen religiöser Gewissheit, zu einem symmetrischen und dialogischen Austausch von Überzeugungen finden. Die Grenze zwischen Kulturen und Religionen liegt auf der Ebene der konstitutiven Voraussetzungen von Verständigungen aller Art. Das bedeutet auch, dass differente religiöse Gemeinschaften – wenn sie wirklich unterschiedlich sind – über keine gemeinsame Auslegung dessen verfügen, was ein »echter und offener Dialog« sei. Auf der Ebene performativer Kulturen, auf der die religiöse Bindung über Gewissheit anzusiedeln ist, weichen die praktischen Auslegungen voneinander ab, in denen implizit gesichert wird, was als eine korrekte Regelanwendung gilt, worin Zurechnungsfähigkeit besteht, was als ein guter Grund gilt. Vom spezifischen Netz der sich gegenseitig stützenden impliziten Überzeugungen hängt jeweils intern ab, was Symmetrie bedeutet, was gegenseitiger Respekt, Achtung, Ehre praktisch bedeuten, was das Heilige fordert und welche Rolle Geschlecht, Stand, Klasse oder »ethnische« Zugehörigkeit spielen. Der Dialog der Religionen ist darum zweifach paradox. Ein Paradox besteht erstens – wie bei jeder »interkulturellen« Kommunikation – darin, dass eine komplexe dialogische Aushandlung gemeinsamer Deutungen der Situation über erhebliche Grenzen hinweg erst hervorbringen kann, was diese Aushandlung schon voraussetzen muss: das Einverständnis über die (akzeptablen) Bedingungen der Möglichkeit gemeinsamer Verständigung angesichts problematischer Differenzen.9 Zweitens verlangt der interreligiöse Dialog eine Dezent9 | Von einem inter-religiösen Dialog kann nur dann die Rede sein, sofern in Fällen der Begegnung zwischen den Vertretern von ›erheblich‹ differenten Religiositäten Standardbedingungen der jeweils internen Kommunikation außer Kraft gesetzt sind. Diese
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rierung, eine Abstandnahme gegenüber der impliziten Selbstverständlichkeit, die mit der Gewissheit des Glaubens seine Verbindlichkeit und damit die habituell eingespielte Integration des Milieus in Auflösung versetzt. Deshalb ist der »interreligiöse« wie der interkulturelle Dialog historisch oder genetisch gesehen zuerst gar nicht anders möglich als assimilativ, nostrifizierend (im Sinne von J. Matthes; vgl. dazu: Srubar 2002: 332ff.) und projektiv. Die Kohäsionsbedingungen einer performativen Kultur, die als kollektives Milieu einen sozialen Verbund bildet, unterlegen die religiöse Gewissheit mit einem Ausschließlichkeitsanspruch, aus dem in der Konfrontation mit alternativen Religiositäten die Neigung zum konfliktreichen Antagonismus folgt. Der Bezug auf die andere Religion, der den Horizont der jeweils eigenen religiösen Gewissheit unbeschadet lassen soll, nimmt deshalb mit großer Wahrscheinlichkeit die Form der exkludierenden Stereotypisierung an. Er bleibt zentriert, d.h. je nach Lage ethno- oder kulturzentrisch, und eine mögliche Inklusion von Zugehörigen einer anderen Religion kann zunächst nur über die abstrakte Erweiterung des Geltungsbereiches der eigenen Überzeugungen in eine communitas aller Zurechnungsfähigen laufen, die materialiter aus »unseresgleichen« bestehen muss und bestenfalls »noch nicht« so weit ist. Auch für die tendenziell universal inklusive monotheistische Religion hängt die Persistenz des performativen Unterbaus religiöser Gewissheit ab von dem begrenzten Zugeständnis, dass die »Heiden«, wenn sie nicht als Tiere zählen, wie Kinder an das Ziel der eigenen Version von Zugehörigkeit herangeführt gehören. Der Universalismus einer Ausdehnung der Gemeinde auf tendenziell »alle« ist dabei dem Ethnozentrismus der assimilativen Projektion – wenn man den kritischen Kommentatoren folgt – eher förderlich, dann nämlich, wenn erst die monotheistische Zuspitzung jene freundliche archaische Vereinnahmung fremder Götter als bloß alternativ getaufte Erscheinungen der eigenen Götter durch die »mosaische« Unterscheidung zwischen falschem und rechtem Glauben ersetzt hat (so: Assmann 2003). Im ernsthaften Dialog der Religionen, der nicht nur dem Protokoll folgt, bei dem die beteiligten Seiten nur ins Spiel der Verständigung investieren, was das konstitutive Fundament des eigenen Glaubens eben nicht berühren Bedingungen stützen die Kommunizierenden unbefragt, reibungslos und im Hintergrund. Eine »erhebliche« Differenz liegt erst dann vor, wenn die Aussetzung dieser Standardbedingungen spürbar wird. Erhebliche Differenzen und damit religiöse Differenz muss sich in Gestalt von Störung und Unmöglichkeit von Kommunikation zeigen. Die Differenz zwischen Religionen, um deren Dialog es geht, ist deshalb immer zunächst auf die performative Einstellung (Teilnehmerperspektive) zu beziehen. Das Merkmal erheblicher Differenz ist nicht die in einem objektivierenden Vergleich aus einer Beobachterperspektive repräsentierbare Unterschiedlichkeit von expliziten religiösen »Lehren«, sondern die in der Teilnehmerperspektive erfahrbare Kommunikationsstörung.
4. Differenz der Religion
muss, stehen Überzeugungen auf dem Spiel, die ein existentielles Gewicht haben, weil sie zu den sozialintegrativen und identitätsbedeutsamen Gehalten der Zugehörigkeit gehören. Diese Funktion beruht auf der performativen Tauglichkeit einer Übereinstimmung zwischen intentionaler Gewissheit und kollektiver Routine. Die indirekte Kommunikation muss auf eine praktisch hinreichende Resonanz bei den Gleichgesinnten stoßen, weil der Umweg über die genaue Explikation dunkler und metaphorischer Auskünfte über die eigenen Beweggründe, Sicherheiten, Gebote und Erleuchtungen nicht zur Verfügung steht. Der religiöse Habitus, der expliziert wird, ist kein Habitus mehr. Denn die habituelle Übereinstimmung erfüllt ihre Funktion nur unter der Bedingung eines gewissen Latenzschutzes. Sie können nur um den Preis der Erosion von personaler und kollektiver Identität und der Integration entsprechender Praxis unter Artikulationsdruck einschließlich von Kontingenzvorbehalt und Rechtfertigungszwang gestellt werden. Eine rational durch ihre Explikation verteidigte implizite Gewissheit ist keine implizite Gewissheit mehr. Der Glaube, der zum Wissen geworden ist, verliert mit dem Zugewinn an Explizitheit und an fallibilistischem Selbstzweifel seine für Identität und Praxis konstitutive Kraft.
III. A rbeitsteilung : D ifferenzierung z wischen M ilieu und O rganisation (M itgliedschaf t und Z ugehörigkeit) Die Form eines Milieus, das durch die habituelle Gleichsinnigkeit religiöser Gewissheiten der Zugehörigen integriert ist, stellt jedoch nur eine Dimension religiöser Kollektivität dar. Gerade die monotheistischen und universalistischen Buch-Religionen haben wegen des Medienwechsels von einer rein performativen Routine der Bearbeitung des Außerordentlichen (Rituale) zur schriftlichen Fixierung von Erzählungen, Überzeugungen und Geboten den Weg von der »rituellen« zur »textuellen« Kohärenz beschritten (im Sinne von: Assmann 1999). Diese Entwicklung eröffnet den Varianzraum, in dem eine hermeneutische Praxis durch explizite Reflexion auf Auslegungsbedürftigkeit die Verlegenheit unsicherer Applikation symbolischer Ausdrücke beantwortet. Wenn der Text vom Status der Repräsentation des geoffenbarten Wortes sich öffnet zur Vielfalt der möglichen und nötigen Lesarten, reicht die habituelle Gewissheit nicht mehr aus, festzulegen, was die heiligen Texte bedeuten, welche pragmatischen Konsequenzen sie hier und jetzt im Unterschied zu damals und dort haben. Daraus erwachsen im Gegenzug gegen die Verunklarung der Applikation einerseits Formalisierung und andererseits Arbeitsteilung der religiösen Praxis. Die Rituale der Frömmigkeit kristallisieren sich in Ämtern und Hierarchien, die Gemeinde wird Kirche und das Milieu der Glaubensgemeinschaft differenziert eine formal integrierte Administration aus. Die einzelne
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Person ist als Gläubige nun immer noch Angehörige einer Gemeinschaft, sie ist aber auch schon Mitglied einer Organisation, in der Rollenformate, zumeist: Würdenträger und Laien getrennt sind, so dass aber auch den Laien eine »Rolle« zukommt, so dass neben der habituell gesicherten Zugehörigkeit die Mitgliedschaft an formalisierte Rollenbeschreibungen, an einen ausdrücklichen Kodex des Verhaltens gebunden wird. Erst unter dieser Bedingung, nur im Zuge der religiösen Arbeitsteilung, die zur Form der Organisation führt, erhält der »echte« Dialog der Religionen als Typus nicht assimilierender und nicht egozentrischer, sondern symmetrischer interkultureller Kommunikation auf lange Sicht eine Chance. Denn nur die Differenzierung zwischen Zugehörigkeit und Mitgliedschaft kann die oben analysierte Schwelle zur dialog-vermittelten Erfahrung des »anderen« senken, vor der die Angehörigen eines religiösen Milieus im anderen Falle zurückweichen. Das ist eine zumindest mögliche Nebenfolge des Übergangs von der existentiellen Bindung an ein Milieu (Zugehörigkeit) zu einer personen-internen Aufteilung (als subjektive innere Arbeitsteilung) zwischen der existentiell bedeutenden Zugehörigkeit zu einem Kollektiv geteilter religiöser Gewissheiten und einer formalen Mitgliedschaft in der kirchlichen Organisation. Wenn sich der Glaube an das Gebot und die Evidenz der performativen Religiosität auch nur in Teilen überträgt auf den Glauben an die Autorisiertheit der organisatorisch bestimmten Experten, an die administrativ formierten Sakramente und das »Amtscharisma« von bestallten Professionellen, so wird es möglich, dass sich die soziale Nötigung zur Bewahrung der impliziten Überzeugungen lockert. Es sinkt die Schwelle zur Bereitschaft, religiöse Gewissheit in der Konfrontation mit »anderen« zu riskieren, also pragmatische Ungewissheit in Kauf zu nehmen und Selbstzweifel in die Konfrontation mit anderen zu investieren, sofern und weil einem die formale Mitgliedschaft heilsbezogen wie lebenspraktisch stabile Garantien verspricht. Dafür ist die missionarische Bemühung um die Verbreitung des Christentums ein gutes Beispiel – obwohl in der skeptischen (poststrukturalistischen und -kolonialistischen) Diskussion der »Gewaltsamkeit« des hermeneutischen Verstehens die Mission geradezu als Wappentier der Assimilation und der Unterdrückung des »Fremden« und »anderen« herhält. Die Mission ist als praktische Anwendung universalistischer Prinzipien und Inklusionsprogramme in einer Hinsicht jedoch nicht weit entfernt von abstrakten Anforderungen an »interkulturelle« Kompetenz, denn sie entfaltet von Beginn an – als eine Art Hybride zwischen existentieller Motivation (inklusive Opferbereitschaft mit Seitenblicken aufs Martyrium) und administrativer Logistik – einen Spielraum alternativer Umsetzungen des Missionsprogramms. Das Beispiel der Mission zeigt, dass die Praxis, die aus der universalistischen Religion folgt, und prima facie assimilieren will, durch die Abstände, die jeweils zwischen theologischer Doktrin, bürokratischer Organisation
4. Differenz der Religion
und konkreter Situation liegen, an die Erfahrung der erheblichen Differenz zwischen den (praktisch vollzogenen) Religionen und an die Bereitschaft zum Selbstzweifel heranführen kann. Die Komplexität der Kirche und die Multiplikation von Übersetzungsschritten zwischen Doktrinen, Behörden, Stäben und entfernten Niederlassungen erzwingen die Streuung von Handlungsweisen, die gegeneinander bald einen scharfen Kontrast bilden. Diese Erfahrung machen Bartholomäus Las Casas und andere Missionare im Lateinamerika des 16. Jahrhunderts. Sie folgen nach Auskunft der Quellen sicher noch nicht dem spätmodernen Prinzip der Anerkennungswürdigkeit von Differenz (Taylor 1993) – wie sollten sie auch? Aber einige von ihnen geraten durch die Verzweigung von Praktiken, die jeweils als lokale Übersetzungen derselben Doktrin gelten wollen, in die Lage, jene grundlegende und folgenreiche Erfahrung zu machen, die das viel spätere Ethos eines symmetrischen interreligiösen Dialoges und das Prinzip »interkultureller Kompetenz« voraussetzt: die Erfahrung, dass der andere wirklich »anders« ist. Die universalistische Mission sucht diese Erfahrung nicht offensiv. Sie folgt keinem »differenzsensiblen« interkulturellen Ethos – entwickelt sich dieser doch erst viel später u.a. in Reaktion auf die Gewaltsamkeit des »Missionarischen«. Sie wird vielmehr durch die Erfahrung der inneren Differenzierung der eigenen Kultur an einen Punkt gebracht, an dem die eigenen Voraussetzungen als kontingent erlebt werden. Dies geschieht durch den Zwang zur Übersetzung zwischen verschiedenen Medien der religiösen Artikulation und des rituellen bzw. administrativen Vollzuges und durch die Notwendigkeit der Streuung von möglichen Implikationen vermeintlich eindeutiger Regularien. Mit dem Ausbau zunächst der kurialen, der klösterlichen, später der inquisitorischen und schließlich der missionarischen Administration wird es im organisierten Christentum zunehmend unumgänglich, die Frömmigkeit in eine explizite kulturelle Semantik der Theologie bzw. in Recht zu übersetzen und diese dann in die Verfahrensweisen und Regeln der bürokratischen Organisation der Kirche umzumünzen. Dabei werden Zuständigkeiten verteilt, Rechte und Pflichten überwacht und Anweisungen sowie Regeln und spezifische Direktiven für die Missionen in fernen Kontinenten erlassen. Diese Regeln müssen dann vor Ort in eine eigene konkrete Praxis, in den faktischen Vollzug und die tägliche Mühe der Missionsarbeit und schließlich in die Horizonte des Gegenübers, der »Missionsbedürftigen«, übersetzt werden. Die pragmatische Auslegung der christlichen Botschaft »vor Ort« muss auf diese Weise – durch die unvermeidliche Streuung möglicher pragmatischer Implikationen von allgemeinen und kontext-entrückten Formeln – von anderen pragmatischen Auslegungen abweichen. Heterogene Auslegungen können schließlich in Konkurrenz zueinander treten, wenn die Kontrolle durch die Zentrale auf-
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grund großer Entfernung ausdünnt10 und verschiedene Akteure an einem Ort (in einer Kolonie) sich mit unterschiedlichen Interessen auf die gleiche legitimatorische Semantik berufen. Bartolomé deLas Casas ist zu Beginn des 16. Jahrhunderts. vom Vollstrecker kolonialer und missionarischer Praxis in Cumaná (im heutigen Venezuela) zum Kritiker der Ausbeutung der indigenen Bevölkerung geworden (Bitterli 1992: 91ff.; Todorov 1985: 202ff.). Er bereitet, wie einige andere, eine »heterodoxe« Deutung (Bourdieu 1979) des offiziellen kolonialen Auftrags vor. Denn er kritisiert nicht die explizite Doktrin, sondern die Formen ihrer Umsetzung im Lichte einer friedlichen, wahrhaft christlichen Mission. Die kritische Distanzierung von der vornehmlich weltlich administrierten Praxis der »Nutzung« der Kolonien versteht sich als authentische Befolgung der Regeln der eigenen Kultur, doch sie mündet in die Abstandnahme vom assimilativen Programm und legt den Keim zu der Einsicht in die Heterogenität der anderen Kultur. Weltliche wie kirchliche Behörden betrachten die »Indianer« nicht als Zugehörige einer anderen performativen Kultur, sie projizieren den eigenen Horizont auf die anderen und weisen ihnen einen inferioren Status zu. Doch die »Theorie« der »Indianer« ist eine abstrakte Semantik aus der Ferne, die trotz aller assimilatorischen Implikationen nicht Handlungen programmiert, sondern in Übersee, zeitlich und räumlich dem Zugriff der Zentrale und dem Auge der Autorität weit entrückt, Spielräume für differente Praktiken unter dem gleichen Namen eröffnet. Die Handlungen, Strategien und Kampagnen von Militärs und Missionaren stellen den Anspruch, den allgemein formulierten und hierarchisch gedeckten Regeln zu folgen, doch sie konkurrieren dabei, indem sie heterogene Interessen und differente Praktiken als Anwendungen derselben Regel anerkannt wissen wollen. Dadurch wird nicht schon die Regel selbst, das christliche Credo der Missionsbedürftigkeit inferiorer Geschöpfe, aber doch die praktische Form der Umsetzung dieser Regel kontingent. Las Casas kritisiert weder die christliche Botschaft und ihren Auftrag noch die kolonialistische »Ideologie«, aber manifeste Ausbeutung und grobschlächtigste Gewalt11 sowie den Versuch, sie unter Berufung auf den inferioren Status der Indianer und die Superiorität der Christen zu rechtfertigen und dadurch als 10 | Zur Rationalität der spanischen Kolonialverwaltung im 16. und 17. Jahrhundert gehörte das Prinzip: »ich gehorche, aber ich führe es nicht aus«. Dadurch ließen sich Reibungsverluste und Blockaden lindern, die eine unweigerliche Folge des Nebeneinanders von redundanten parallelen Weisungsketten durch die »Audiencia«, die Gouverneure und Vizekönige und schließlich die Kirchenverwaltung waren; vgl. Phelan 1971. 11 | In den überlieferten Schriften von Las Casas spielen Massaker (»Blutbad von Caonao« 1512) eine – wenn auch genrespezifisch stilisierte – große Rolle für die Genese seiner kritischen Haltung, siehe: Las Casas 1995: 255ff.
4. Differenz der Religion
praktische Umsetzung des Missionsauftrages zu legitimieren (Todorov 1985: 211). Die »philanthropische« Einstellung des Kritikers ist dabei alles andere als die Folge einer außerordentlichen individuellen Empfindsamkeit (auch wenn es diese Seite der biographisch geformten Intentionalität gegeben haben mag); die Andeutung des Selbstzweifels christlicher Mission und der sie tragenden religiösen Gewissheit ist Nebenfolge der langwierigen Transformation eines milieuspezifischen Glaubens in die komplexe Konstellation aus expliziten Glaubens- und Regelsystemen, Organisationsstrukturen und lokalen Stäben ihrer pragmatischen Applikation. Ein kulturelles oder religiöses Selbstverständnis, das der semantischen Explikation unterzogen wird, das in Konzilen systematisiert, autoritativ dekretiert und in einer durch den kulturellen Transfer griechischer Philosophie rationalisierten Theologie in der Scholastik in das Medium der argumentativen Begründung verpflanzt worden ist, das schließlich in der Adaption des römischen Rechts eine komplexe bürokratische Kasuistik ausgebildet hat, bildet eine Orthodoxie auf abstraktester Ebene. Sie versucht noch die praktischen Konsequenzen ihrer Glaubenssätze zu organisieren. Dabei aber muss ihre Distanz zu den pragmatischen Kontexten der Umsetzung wachsen, bis die Differenz zwischen den formalen Handlungsanweisungen der Organisation und der Praxis der Person für die Person im lokalen Kontext erfahrbar wird. Die flammende Anklage der unchristlichen Behandlung der Indianer durch die Christen, für die Las Casas noch heute berühmt ist (Kontroverse von Valladolid 1547), drückt deshalb eine Figur des strukturell vorbereiteten und ermöglichten Selbstzweifels religiöser Gewissheit aus. Dieser Selbstzweifel ist eine Nebenfolge der sozialen Differenzierung von Glaube und Kirche, von Milieu und Organisation, schließlich von Mitgliedschaft (im System der Behörde) und Zugehörigkeit (zum Milieu der lokal operierenden Missionare und ihres indigenen Klientel).12 Die Mission (als Einheit der Differenz zwischen Behördenprogramm und lokaler Praxis) ist darum keine starre und lineare Umsetzung assimilatorischer Prinzipien in eine ebensolche Praxis, 12 | Dies entgeht der ihrerseits nicht wenig gewaltsamen Todorov’schen Lesart, die Las Casas als unterdrückenden Hermeneutiker, der sein Objekt verkennt, d.h. als den eigentlichen Kolonisatoren beschreibt, während sie Cortés in Schutz nimmt, weil dieser alltagspraktisch gewitzt die aztekischen Besonderheiten zu lesen verstand. So heißt es bei Todorov: »Liegt nicht schon Gewalt in der Überzeugung, man selbst besitze die Wahrheit?« (Todorov 1985: 202). Dieses Bedenken zeigt durch die unmittelbare Nähe zur Analyse der brutalen Konquistadoren eine gewisse Verselbstständigung der Hermeneutik des Verdachts. Todorov resümiert: »Las Casas kennt die Indianer weniger als Cortés und liebt sie mehr; doch in der gemeinsamen Assimilationspolitik finden sie wieder zusammen« (Todorov 1985: 221).
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sondern sie wird als komplexe Unternehmung selbst Ausdruck der internen Differenzierung einer kulturellen Lebensform. Denn die Erfahrung der Missionare richtet sich nicht zuerst auf die Eigenheit der indigen Bevölkerung, sie ist zunächst Erfahrung mit der internen Differenzierung der eigenen Kultur. Die Doppelstellung als Mitglied von Kirche und Missionsbehörde und als Zugehöriger eines nun differenzierten, lokalen Milieus macht die Unterschiede zwischen performativer Kultur und expliziter kultureller Semantik, den Abstand zwischen religiöser Gewissheit und kirchlicher Glaubensautorität erfahrbar. Vor der horizontalen Differenz zwischen den Religionen (oder Kulturen) wird die vertikale Differenz zwischen der Praxis und der abstrahierten Organisationsform der eigenen Religion auffällig. Und erst von dort aus öffnet sich der Spielraum für Selbstzweifel und Selbstdistanz, der die Schwelle zum Eintritt in eine Interaktion mit dem Fremden als ein Fremdes senken kann. Auf diesem strukturell vorbereiteten Wege wird die christliche Mission zu einer historischen Voraussetzung für die Erfahrung der interkulturellen Differenz. Somit führt der Universalismus des Missionsgedankens zur Revision eigener Voraussetzungen, weil die Mission ein organisiertes Unternehmen ist. Durch den hohen Organisationsgrad der Kirche und ihrer Bürokratie entwickeln sich zwischen Glaubenslehre, Organisation und individueller Praxis »Übersetzungsverhältnisse« (Renn 2006a: 443ff.). Und nur dadurch eröffnet sich ein Spielraum dafür, die praktisch erfahrbare Abweichung des Fremden von den eigenen Projektionen zu realisieren. Erst Differenzierung schafft Dezentrierung. Die missionarische Projektion des Bartolomé deLas Casas besteht darin, in der »indianischen« Bevölkerung wesensgleiche, potentielle Christenmenschen und Gotteskinder zu »erkennen«. Ein erster Schritt der Abwendung von orthodoxen Projektionen ist die Kritik an der instrumentalistischen Identifikation der Indianer mit Tieren. Das bedeutet bereits eine interne Differenzierung der westlichen Typisierung der Einwohner Lateinamerikas (vgl. Bitterli 1992: 91ff. und Todorov 1985: 196ff.). Doch auch das bleibt eine Projektion bis die jesuitische Missionsbestrebung auf das Mittel der Übersetzung des Glaubens in die eingeborenen Sprachen zurückgreift und dabei auf tief greifende Differenzen der jeweiligen symbolischen Ordnungen stößt. Sie entdecken, dass in den »indianischen« Sprachen keine begrifflichen Äquivalente für die scholastisch explizierten Eigenschaften der christlichen Gottheit zu finden sind – und damit nähern sie sich dem durch Kontrasterfahrung induzierten Selbstzweifel der religiösen Gewissheit. Der Effekt der Selbsttransformation des Glaubens als Folge der Interaktion mit dem Fremden und ernsthafter Übersetzungsbemühungen ist bereits für die nestorianische China-Mission im 7. und 8. Jahrhundert überliefert. Hier kam es zur »Pfropfung« christlicher Texte mit buddhistisch-taoistischer Semantik (Gott als »reine Leere«), worauf die Autoritäten schließlich mit dem Vorwurf der Assimilation der Missionare reagierten
4. Differenz der Religion
(Rosenkranz 1977: 126ff.).13 Vergleichbares gilt für die jesuitische China-Mission Matteo Riccis und anderer im 16. und 17. Jahrhundert, die »sich in jeder Hinsicht dem Mandarinat und der konfuzianischen Lebensart anzupassen« versuchten (Nelson 1977: 72ff.). Die Bemühung, die »indianischen« Sprachen zu verstehen, zu dokumentieren und in sie zu übersetzen, war zunächst der Verkündung der universalen Botschaft untergeordnet. Doch diese Bemühung verselbstständigt sich wie in der »Historia general de las cosas de la Nueva Espaňa« des Bernardino de Sahagún (Todorov 1985: 262f.). Angesichts der Erfahrung des Scheiterns linearer Übertragung entstehen Versuche der ›getreuen‹ Wiedergabe der alten Religion der Mexikaner. Der Dominikaner Diego Durán, schon als Kind in der Mitte des 16. Jahrhunderts in Mexiko aufgewachsen und wie kaum ein anderer mit der aztekischen Kultur vertraut, kritisiert die Praxis eines Diego de Landa und des ersten Bischofs von Mexico Zumárraga, bildhafte Darstellungen indianischer Bräuche zu verbrennen, da jede Evangelisierung zuerst eine tiefe Kenntnis der anderen Kultur erfordere. Zwar ist der ethnographische Eifer eines Durán noch instrumentell auf das Ziel ausgerichtet, synkretistische Verschmelzungen indianischer Bräuche mit christlichen Ritualen und Zeichen zu erkennen und dann verhindern zu können. Dennoch transportiert die Praxis der detaillierten Dokumentation der anderen Religion die pragmatische Annäherung des Missionars an die Lebensweise seiner »Studien- und Missionsobjekte«. Todorov selbst zitiert aus der Historia de las Indias de Nueva Espana (e Islas de la Tierra Firme) des Dominikaners Diego Durán, zwischen 1576 und 1581 verfasst: Sie wurden Tiere unter Tieren, Indianer unter Indianern, Barbaren unter Barbaren, Menschen, die ihrem eigenen Wesen und Volk fremd wurden. […] Diejenigen, die von außen davon sprechen, weil sie sich nicht die Finger verbrennen wollen, verstehen davon herzlich wenig.
Aus der pragmatischen Annäherung folgt die intimere Kenntnis der praktischen Kultur der anderen, schließlich der Umschlag der Investigation nach Synkretismen in die eigene Mestizierung (Todorov 1985: 251) und den eigenen 13 | Aus den Spuren (Steindenkmal von Sianfu) der »Nestorianermission« im China des 7. Jahrhunderts lassen sich »Hybridisierungen« rekonstruieren. Die Missionstexte (Alopen-Schriften) stellen Mischungen dar aus christlichen Botschaften und buddhistisch-taoistischen Vorstellungen; Gott wird zu Buddha übersetzt und das Wesen Gottes in Begriffen der »reinen Leere« erläutert. Um die christliche Verkündigung verständlich zu machen, haben die Nestorianer wesentliche Elemente »unbesehen von den vorhandenen Religionen übernommen« (Rosenkranz 1977: 128), und sie wurden schließlich trotz – oder eben gerade wegen – der kritisierten »Aufsaugung der Nestorianer in China durch die einheimischen Religionen« (Saeki 1937: 50) 845 Opfer der Buddhistenverfolgung.
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Synkretismus, der beginnt, die christliche Botschaft mit indianischen Metaphern und Gesängen zu verschmelzen. Ein rationaler Dialog zwischen den Religionen ist das nicht; doch die Verschmelzungen und Übergänge, die Annäherungen an den Sinn der fremden religiösen Gewissheiten geht hier den Weg der pragmatischen Annäherung an eine andere performative Kultur.
IV. S chluss : L ob der B ürokr atie Das Bemerkenswerte an der missionarischen Erfahrung besteht in der Andeutung der Möglichkeit eines Dialoges der Religionen, der – ohne ein Diskurs des Austausches von Argumenten zu sein, ohne Präferenzordnung zwischen Arten von Gründen, von der nur eine Seite überzeugt ist – auf der Ebene impliziter Routine und praktischen Wissens abläuft, so dass religiöse Gewissheiten nicht explizit bezweifelt werden, ihre pragmatischen Implikationen aber in einer interkulturellen und –religiösen Interaktion ineinander geblendet und somit als »unterschiedliche« überhaupt erst erfahrbar werden. Die christliche Mission als Praxis kann als spezieller Typus der Operationalisierung einer weltzugewandten universalistischen Religion gelten, bei der die Übersetzung einer abstrakten Semantik, des rationalisierten christlichen Glaubens, in einer faktisch interreligiösen und -kulturellen Praxis zur Erfahrung »erheblicher« Differenz führen kann. Der Selbstzweifel an der (eigenen) religiösen Gewissheit geht dabei notwendig den Umweg über die Übersetzung performativer Kultur und ihres habituellen Hintergrundes in einen explizierten und theoretisierten, schließlich bürokratisierten Glauben und die Rückübersetzung dieser Semantik in lokale Kontexte. Denn auf diesem Wege differenzieren sich Mitgliedschaft und Zugehörigkeit im Zuge der Differenzierung komplexer institutioneller Ordnungen zwischen Milieu und Organisation. Die Differenz der symbolischen Ordnungen unterschiedlicher Religionen ist dabei nicht nur eine Frage der »Glaubenssysteme«, sondern vor allem des Abstraktionsgrades der symbolischen Artikulation des Glaubens (der »Theoretisierung«, Kodifizierung und Axiomatisierung) und – damit verbunden – auch eine Frage des Mediums der semantischen Ordnung und des kulturellen Gedächtnisses, d.h. des Unterschiedes zwischen oralen und Schrift verwendenden kulturellen Lebensformen (z.B.Mesoamerikas; vgl. Scharlau, Münzel 1986).14 Organisierte Religion vollzieht sich innerhalb eines rationalisierten Systems religiöser Überzeugungen, das in einer bürokratischen Organisation 14 | Der Unterschied zwischen oralen und Schrift-»Kulturen« ist nicht ohne weiteres eine symmetrische Differenz zwischen Lebensformen, insofern Schriftlichkeit als Medium der Integration kulturellen Wissens und des Gedächtnisses der Kommunikation (vgl. Assmann 1999) mit höherer Differenzierung gekoppelt ist, Explikation einschließt und
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arbeitsteilig in die Praxis umgesetzt wird. In ihr ist die performative Kultur, aus der ein explizierter und organisierter Glaube einmal hervorgegangen ist, nurmehr ein Teilbereich. Und diese Aufteilung der Religion einerseits in die Bereiche rationaler Systematisierung und Verwaltung, andererseits in die von religiöser Gewissheit getragene religiöse Praxis teilt sich der Person mit, sobald und sofern sie zugleich Mitglied und Zugehörige ist. Das Risiko des religiösen Selbstzweifels wird in dieser personalen Resonanz institutioneller Arbeitsteilung vermindert. Wenn die Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft im Kontext interkultureller und interreligiöser Praxis relativiert und kontingent zu werden droht, können die Mitgliedschaft und die Delegation der Sorge um das Heil an institutionelle Ordnungen den notwendigen Rückhalt beschaffen, ohne den die Öffnung für die ganz andere religiöse Gewissheit der anderen zu bedrohlich wäre. Der Dialog der Religionen, der (wie im ersten Abschnitt ausführlich diskutiert) keine Diskussion »über« Religionen ist, sondern religiöse Gewissheit ins Spiel bringt und zugleich dabei riskiert, entfaltet sich auf der Basis einer zunächst internen Differenzierung. Der im genannten Sinne »echte« (weil nicht monologische, sondern ergebnisoffene) Dialog findet primär auf der Ebene geteilter Praxis statt, in der durch den Hintergrund einer komplexen institutionellen Ordnung das Risiko der Folgen von performativ vermittelten Erwartungsenttäuschungen für die Person vermindert wird. Insofern brauchen Dialoge zwischen Mitgliedern und Angehörigen verschiedener Religionen, aber auch Übersetzungen aus dem Horizont religiöser Gewissheit in die säkularen Foren deliberativer Demokratie, die Kirche oder andere Formen der religiösen Organisation. Diese Dialoge und Übersetzungen finden aber nicht in diesen Kirchen und Organisationen statt, sondern sie werden vollzogen in Kontexten der Interaktion zwischen Vertretern heterogener performativer Kulturen und institutioneller Ordnungen. Aus diesen strukturellen Überlegungen zu den Nebenfolgen der Komplexität »organisierter« Religion am Beispiel der Mission folgt am Ende ein vielleicht überraschendes »Lob der Bürokratie«. Denn eine ihrer ungeplanten Konsequenzen ist die Dezentrierung der Perspektive im Umgang mit anderen Religionen und die Freisetzung von Zonen pragmatischer Übergänge zu anderen performativen Kulturen, zu einer erfahrungsoffenen Begegnung mit dem Fremden. Aber diese Zonen liegen an den Rändern der Organisation, dort wo die Extension des Zugriffs der »Pastoralmacht« (Foucault) aus Gründen ihres erzwungenen Abstraktionsgrades endet, in jenen allgegenwärtigen Nischen, die ihr allgemeiner Zugriff aus struktureller Notwendigkeit selbst fortwährend produziert. damit die Lebensform zu einem Milieu innerhalb komplexer Übersetzungsverhältnisse werden lässt, siehe Renn 2006a: Kap. IX und X.
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5. Traditionelle Rationalität und rationale Tradition
Max Weber, Preußen und der Mythos der Bürokratie
I. V orüberlegungen zur soziologischen F r age der R ationalität In Max Webers nach wie vor maßgebenden, weil Grund-Motive erschließenden, Analyse des »okzidentalen« Rationalisierungsprozesses hat die »rationale Bürokratie« einen ausgezeichneten Status. Sie ist das idealtypische Muster der Rationalisierungstendenz und ihrer Zielform im Felde der organisierten Herrschaft. Die organisationssoziologische Forschung nach Weber nötigt jedoch zu dem Resümee: Bürokratie »ist« kein formaler Apparat der linearen Durchreichung zentraler Entscheidungen und Programme auf die lokale Ebene multipler Situationen der Anwendung. Die Praxis jeder (verhältnismäßig effizienten und deshalb relativ überlebensfähigen) Verwaltung wird, wenn auch in fallspezifisch wechselnder Weise, stets durch nicht-formale Faktoren mitbestimmt (Roethlisberger, Dickson 1961). Aber diese Faktoren – darin liegt die entscheidende Pointe – sind der »Rationalität« der Verwaltung keineswegs abträglich, sondern sie sind vielmehr notwendige Ressourcen zur Kompensation komplexitätsbedingter Nebenfolgen und Abweichungen auf dem Weg von generellen Zielvorgaben zu lokalen Verwaltungsakten. Nach einiger Erfahrung mit bürokratischen Apparaten und ihren Modifikationen spricht vieles dafür: (Verhältnismäßig) Effiziente Verwaltungen weichen nicht nur empirisch vom Idealtypus der hierarchischen Determination massenhaften Verwaltungshandelns ab, sondern sie würden im Zuge von Reformversuchen im Sinne der geplanten Annäherung an den Weber’schen Idealtyp an Rationalität einbüßen, weil die Nebenfolgen der Durchsetzung linearer Steuerungsmechanismen das Ziel der hierarchischen Steuerung mit Notwendigkeit boykottierten (zu Nebenfolgen im Sinne des »moral hazard«: Spence, Zeckhauser 1971). Trotzdem könnte man versucht sein, im Sinne Webers an seiner idealtypisierenden Begriffsbildung festzuhalten, denn entlang des Abstands zwischen dem reinen Typus der rationalen, formalen Verwaltungsapparatur und den em-
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pirischen Fällen sollen ja gerade jene informellen und anderweitigen Faktoren, die in die Durchrationalisierung intervenieren, »vermessen« werden können (Gerhardt 2001: 223ff; Schluchter 2003: 54ff.). Wann – so muss man also hier mit Seitenblicken auf methodologische Probleme fragen – bietet die soziologische Erfahrung ausreichend Anlass, einen »Idealtypus« zu modifizieren? Die Beschreibung administrativer »Realtypen« kann schließlich einen Idealtypus nicht »widerlegen« (Weber 1981 und 1985). Bestenfalls – aber immerhin – kann die empirische Forschung den Anstoß geben, alternative Begriffe im Zuge der selektiven »Steigerung« von Eigenschaften vorzuschlagen, weil diese für die genannte Abstandsvermessung geeigneter scheinen. Genau das muss einer soziologischen Theoriebildung klar sein, die diesseits der Kapitulation vor dem Aufruf zur Paraphrase sozialer Selbstdeutungen ihren kategorialen Haushalt empirisch motiviert soll revidieren können. Eine solche Revision wäre – auch bei einiger Distanz zur Begriffslogik der Idealtypen-Lehre (d.h. trotz Zweifel am theoretischen Nominalismus)1 – bezüglich der Bürokratietheorie Webers an der Zeit, wenn sich zeigen sollte, dass seine idealtypische Unterscheidung zwischen bereichsspezifischen Handlungsformen zwar heuristisch nach wie vor nutzbar ist, rationalitätstheoretisch jedoch in die Irre führt. Wenn nämlich z.B. die von Weber und in der Soziologie (aufgrund der vorausgesetzten Rationalitätskonzepte) bis heute als minderrational typisierten »traditionalen« Formen des Handelns innerhalb administrativer Praxis nicht Hindernisse, sondern ganz im Gegenteil notwendige Bedingungen der Effizienz von Verwaltungen darstellen, dann ist es an der Zeit, die Rationalitätsbegriffe und damit die von ihnen abhängigen Modellierungen von Prozessen der »Rationalisierung« (des individuellen Handelns und der institutionellen Arrangements) zu modifizieren. Webers Bürokratiemodell ist in der – inzwischen hoch ausdifferenzierten und spezialisierten – Organisationssoziologie nachhaltig einflussreich (vgl. Mayntz 1968), diente allerdings zunehmend als negative Folie für organisationssoziologische Analysen (Friedrich 1952; Burin 1952; Derlien, Szablowski 1993). Die kritischen Absetzungen von Weber korrigieren in der Mehrheit jedoch aus empirischen Gründen die Typologie realer Bürokratien, denen (mehr oder weniger) »realistisch« ein Mangel an Rationalität im Vergleich zu Webers heuristisch funktionalen Unterstellungen zugeschrieben wird. Das Problem liegt aber genauer betrachtet weniger in der empirischen Unangemessenheit der Weber’schen Beschreibung effizienter, hierarchischer und rein formaler Verwaltung als in der Rationalitätstheorie: Das fällt der Forschung zunächst nicht auf, solange sie ein individualistisches Konzept zweckrationalen Han1 | Hier könnte man genauer auf die Differenz zwischen Webers tatsächlicher Methode der Kulturanalyse und seinen eigenen, teils neukantianisch soufflierten, methodologischen Explikationen, die erstere nicht völlig einholen, eingehen (vgl. Schluchter 1980).
5. Traditionelle Rationalität und rationale Tradition
delns zwar verfeinert (z.B. spieltheoretisch raffiniert), nicht aber die Lebensfähigkeit vermeintlich »irrationaler« Arrangements zum Anlass nimmt, über »Rationalität« neu zu verhandeln. Schon deshalb wird Weber gern »empirisch widerlegt«, wobei diese Sorte von Kritik des Weber’schen Modells (bzw. die Hinweise auf seinen aus empirischen Gründen überholten Status) dann den Abstand zwischen idealtypischen Begriffen und möglichst adäquaten Beschreibungen realtypischer Phänomene mit einem Anlass zur »Falsifikation« im Horizont eines Hypothesen testenden Forschungsauf baus verwechselt (vgl. dagegen: Schluchter 2003: 61f.). Idealtypen sind aber keine Hypothesen, sondern begriffliche Instrumente mit »welterschließender« Potenz, die variiert gehören, sobald sie nachvollziehbar mehr verschließen, als sie erschließen. Deshalb ist jener Typus von Weberkritik problematisch, der es empirisch »besser weiß« als Weber, trotzdem aber an der falschen Stelle unbeirrt (und unbegründet) an Weber anschließt: in der Verengung des Rationalitätskonzeptes auf das Paradigma zweckrationaler Kalkulation und formal rationaler Institutionalisierung. Demgegenüber ist es handlungs- und rationalitätstheoretisch vielmehr geboten, aus den empirischen Differenzen zwischen Webers Bürokratiemodell und historisch gegebenen administrativen Organisationsstrukturen Konsequenzen für die Zuordnungen zwischen Handlungsformen und Rationalitätstypen zu ziehen. Denn es lässt sich schon am Beispiel der für Weber maßgebenden preußischen Verwaltung zeigen (siehe: weiter unten), dass die »traditionalen« Elemente des Realtyps der Verwaltung eine eigene Rationalität beigesteuert haben, die weder von dem Begriff der Zweckrationalität individuellen Handelns noch vom Konzept formaler Rationalität institutioneller Strukturen eingeholt wird. Das diesbezüglich wirklich relevante Problem der Weber’schen Rationalitätstheorie liegt in der Unterschätzung des für formale Organisation einschlägigen Problems der angemessenen Spezifizierung generalisierter, formaler Programme: Weber versteht den reinen Typus rationaler Verwaltung, zugespitzt formuliert, als eine triviale Maschine, in der generalisierte Inputs aufgrund der institutionellen Ausschließung »sachfremder« Motive der ausführenden Stäbe (»sine ira et studio«) zu fallspezifischen, aber homogen strukturierten Outputs führen (so noch: Norkus 2003: 137f.). Rationalisierung als eine Annäherung an diese Struktur der formalen Organisation ist in den Augen der späteren Organisationssoziologie gelinde gesagt eine »unrealistische« Erwartung (für viele: Luhmann 1975; 1976; Simon 1982). Aber diese Annäherung scheitert empirisch nicht an den historisch kontingenten Grenzen einer konsequenten Rationalisierbarkeit (etwa an egoistischen Eigeninteressen), sondern sie scheitert an der prinzipiellen Begrenztheit formaler Rationalität selbst, nämlich an den Grenzen linearer und hierarchischer Steuerung.
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Man kann in Reaktion darauf – wie der Großteil der aktuellen Soziologie – die Rationalitätserwartungen reduzieren (Luhmann 2000: 444ff.) oder solche Erwartungen als Illusionen von empirischen Akteuren auf Abstand halten (und zu Symptomen für unterschiedliche latente Funktionen erklären). Da nun aber Bürokratien seit Webers Zeiten sich zwar nicht als beeindruckend »rational« (im eingeschränkten Sinne), aber dennoch als erstaunlich persistent und überdies hoch expansiv erwiesen haben, ist man entweder zu der Annahme gezwungen, dass »Rationalität« für den Erfolg von Institutionen relativ belanglos ist (eine implikationsreiche und bei Lichte besehen inkonsistente Unterstellung von Seiten einer Wissenschaft mit selbstbezüglichen Rationalitätsansprüchen). Oder aber es wird konzediert, dass Zweckrationalität und formale Rationalität empirisch betrachtet offenbar nur die halbe Rationalität effektiver Institutionen darstellen. Besser also ist es – wenn die Soziologie philosophische Nachweise der qua Selbstreferenz gegebenen Unhintergehbarkeit eines substantiellen Rationalitätsbegriffs nicht allzu deutlich unterbieten will (Putnam 1989: 228) – die einschlägigen Befunde zum Anlass zu nehmen, das Problem der Rationalitäts-Kriterien zu überdenken.2 Während die Rede von einer »halbierten« Rationalität nun aber sofort Assoziationen an die normative Theorie, besonders an Habermas’sche Modifikationen des Weber’schen Tableaus von Rationalitätskriterien weckt (Habermas 1981: 377ff.), sprechen die empirischen Befunde der Organisationsforschung allerdings eine Sprache, die auf ein ganz anderes Rationalitätsproblem hinweist.3 »Wertrationale« Bedenken bezüglich der Ziele und Effekte formaler Organisation teilen mit der Weber’schen Zuschreibung von formaler und zweckrationaler Ausrichtung bürokratischer Apparate (und mit der Par2 | Dieses Argument impliziert – entgegen dem möglichen Anschein – nicht, dass der Erfolg von Institutionen bzw. Organisationen allein schon die (aus differenten Rationalitäten komponierte Gesamt-)Rationalität ihrer Struktur oder Praxis belegt. Das würde erstens Rationalität, wie auch immer sie komponiert ist, an Zweckrationalität (modifiziert zu »Viabilität«) assimilieren, zweitens als Interpretation »erster Ordnung« unterschlagen, dass die Rationalitätszuschreibung ihrerseits auf eine Perspektive zu beziehen ist – dazu unten Teil III. Drittens bleibt die Möglichkeit, dass der langfristige Erfolg einer Organisation mit Referenz auf die Gesellschaft als teilrationale Episode gelten könnte, die auf Kosten externer Kontexte und damit der »Rationalität zweiter Ordnung« im Sinne der rationalen Beziehung zwischen Teilrationalitäten (auch dazu: weiter unten Teil III) geht. 3 | Mit jeweils ganz unterschiedlichen Prämissen und Bezugsproblemen, in der Summe aber mit familienähnlichen Evidenzen, was die Betonung der Abweichungsverstärkung auf dem Weg von zentralen Organisationsplanungsprämissen zu lokalen Praktiken angeht: Meyer, Rowan 1977; Powell, DiMaggio 1991 und DiMaggio, Powell 1983; Naschold 1993; Pankoke 2001.
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sons’schen Lösung des Steuerungsproblems, Parsons 1996) immer noch die Unterstellung, dass »eine« Form der Rationalität eine Handlungssphäre im Ganzen durchdringt und hier durch die Einsinnigkeit des Rationalitätskriteriums einer »Wertsphäre« eine erwartungssichere homogene Handlungsweise erzeugt (Lepsius 1990; Habermas 1981: 226ff.). Orthogonal zu der Differenz zwischen zweckrationaler und wertrationaler Zielorientierung einer gesamten Handlungssphäre liegt demgegenüber das Problem der Beziehung zwischen generellen Prinzipien des Handelns und situativer bzw. lokaler Umsetzung dieser Prinzipien. Bürokratien sind interessant, weil an ihnen auffällt, dass der Grad der Rationalität ihrer Struktur sich nicht allein an der Reinheit formaler Prinzipien oder an der normativen Akzeptabilität der ihnen aufgegebenen Zwecke bemisst, sondern an der jeweiligen »Angemessenheit« von fallspezifischen Entscheidungen (siehe: Naschold 1995; Pankoke 2001) – weil bürokratische Apparate aufgrund der Komplexität von Handlungsketten und wegen der Eigenwerte vermittelnder Instanzen Abweichungen zwischen Programmen und Ausführungen erzwingen. »Angemessenheit« ist ein rationalitätstheoretisch unbequemes Kriterium, allein weil der Bezug auf spezifische Situationen ein indexikalisch-okkasionelles Element untermischt, das sich schwer generalisiert explizieren lässt (der bloße Hinweis auf Prinzipien wie das der »phronesis« bezeichnet nur die Einsatzstelle entsprechender Explikationen). Diese Schwierigkeit ergibt sich indessen aus der traditionellen Unterstellung, dass rationales Handeln explizite Überlegung und explizite Bezüge auf Gründe der Rechtfertigung von Annahmen und Unterstellungen (respektive Präferenzen) einschließen muss.4 Gerade die gegenüber dem Weber’schen Idealtypus skeptischen Einschätzungen des Anteils individueller Handlungsrationalität am Alltagsgeschäft moderner Institutionen impliziert jedoch, dass die Rationalität sozialen Handelns nicht auf der Ebene individueller Kalkulation und Reflexion liegen muss, sondern in trans-individuellen Arrangements von Handlungszusammenhängen hinterlegt sein kann. Dadurch kann vermeintlich irrationales (besser: a-rationales) bzw. unreflektiertes Handeln individueller Akteure auf der Basis sozial vorstrukturierter Gewohnheiten durchaus rationale Effekte (und eine Vorgeschichte der »Rationalisierung«) haben und deshalb rationalen Charakter zugeschrieben bekommen. Gegen die Zuschreibung des rationalen Charakters (nicht gegen die Zuschreibung der unintendierten rationalen Effekte) steht in der »traditionellen« Auffassung von Handlungsrationalität, die dem methodischen Individualismus und somit auch Weber geschuldet ist, die tief veran4 | Die auch für die Habermas’sche Anknüpfung an der Weber’schen Rationali sierungsfrage ganz entschieden konstitutiv ist, weil nur die soziale Explikation traditionaler Bindungskräfte (»rationalisierte Lebenswelt«) das Potential kommunikativer Rationalität faktisch entbinden können soll, Habermas 1981: 262ff.
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kerte Überzeugung, dass die Rationalität von Institutionen auf dem Wege der effektiven Disziplinierung von individuellen Motiven in der intentionalen Kalkulation oder Deliberation der Individuen erscheinen muss (so selbst: Parsons 1994). Formal rationale Arrangements sind aber offenkundig (nach Auskunft bedeutender organisationssoziologischer Untersuchungen) häufig effektiv nicht obwohl, sondern gerade weil Individuen innerhalb dieser Arrangements sich zu großen Teilen an »traditionales« Handeln halten (wieder: Simon 1982; Meyer, Rowan 1977). Bei nüchterner Betrachtung organisationssoziologischer Erfahrung erscheint ein Gutteil der faktischen Praxis bürokratischer Apparate – mit rationalen Effekten – getragen von dem impliziten und für ein soziales Milieu (Gurwitsch 1977) typischen und konstitutiven Wissen von handelnden Personen. Diese Form des Wissens gilt der traditionellen Rationalitätstheorie als minderrational, weil diese die Rationalität des Handelns individualistisch auf die intentionale Realisierung zweckrationaler Kalküle beschränkt (oder wie Habermas intersubjektivitätstheoretisch an reziproke explizite Geltungsorientierungen bindet). Darin liegt eine entscheidende rationalitätstheoretisch begründete Ausblendung, deren Korrektur auf die Rationalitätstheorie zurückwirken muss.5 Der nachstehende Rückblick auf die Weber’sche Bürokratietheorie verfolgt deshalb rationalitätstheoretische Absichten: Zum einen erweisen sich die Weber’sche Beschreibung des reinen Typus rationaler Herrschaft und die handlungs- wie rationalitätstheoretischen Implikationen der entsprechenden Typenbildung als gebunden an einen »traditionellen« Begriff der Rationalität, zum anderen zeigt sich: Das milieuspezifische implizite Wissen, das wider die Erwartung des reinen Typus formaler Rationalität die Funktionalität und Gesamtrationalität der Verwaltung steigert, ist nicht eine – wie noch Habermas in seiner Weberkritik konzediert (Habermas 1981: 383) – graduell weniger rationale Ressource und Bedingung (Motivation) des Handelns, sondern es ergänzt die Institutionalisierung von formaler Rationalität um die Form einer »rationalen Traditionalität« des Handelns. Erst die rationalitätstheoretische Konzession an die habituelle Gewissheit, die auf Milieuzugehörigkeit beruht, erlaubt es schließlich, »Angemessenheitsrationalität« in das Gesamtbild moderner Rationalisierungen aufzunehmen.
5 | Und darin liegt auch begründet, dass die hier skizzierte Argumentation von vornherein darauf verzichtet, den problematischen Charakter dieser Ausblendung in einer ansonsten zweifellos sinnvollen Auseinandersetzung mit der Traditionslinie, die von Weber über den Kritischen Rationalismus zur »Rational Choice« Theorie führt (siehe dazu: Esser 2003), eigens explizit auszuführen.
5. Traditionelle Rationalität und rationale Tradition
II. W ebers B ürokr atiemodell Den Kern von Max Webers Charakterisierung des reinen Typus der rationalen (legitimen) Herrschaft bildet die idealtypische Beschreibung der »reinen« Bürokratie (Weber 1981: 821ff.). Diese Beschreibung folgt der Prämisse, dass Wertfragen der Politik jenseits der formalen Rationalität von Mitteln der Durchsetzung politisch entschiedener Prinzipien und Entscheidungen liegen, so dass die Verwaltung als »bloßes« Instrument der Implementation von organisationsexternen Zielen (gut nietzscheanisch: eines ungebundenen »Willens«) gelten muss. Die Auflistung der bekannten diskriminierenden Eigenschaften – Trennung zwischen Verwaltungsmitteln und Stäben, klar definierte Zuständigkeiten, Aktenmäßigkeit, Hierarchien, Professionalisierung von Personal und Rekrutierung etc. – ist darum in der Summe an der Funktionalität einer komplexen Organisation als bloßes »Mittel« eines zweckrationalen Arrangements orientiert. Damit nähert sich Webers idealtypische Modellierung aufgrund der begrifflichen Orientierung an der »gedachten« Zweckrationalität von Verwaltungsstrukturen und ‑stäben (eben nicht im zeitgenössischen Sinne von »Organisationen«) der Charakterisierung einer »trivialen Maschine« an. Der Apparat bleibt – aufgrund des idealtypisch zugeschriebenen Mittelcharakters – berechenbar, weil die Struktur und die Wirkungsweise der formalisierten Handlungsketten bekannt sind und – bei entsprechend ausreichenden incentives zur Stabilisierung der Orientierungen des Personals – berechenbar bleiben. Eigenwerte komplexer Organisationen, systemische Verselbständigungen und das Problem der Eigeninteressen von autonomen Institutionen, die sich der Zweckprogrammierung widersetzen, sind nicht Webers Thema. Zwar enthält die viel diskutierte und folgenreiche Vision Webers, dass die modernen Menschen das Mittel (»die Geister«) nicht mehr los werden, das sie riefen, sondern ihm in mehrfachem Sinne »Untertan« zu werden drohen, d.h. das Menetekel des »Gehäuses der Hörigkeit«, Hinweise auf Prozesse der Verselbständigung bürokratischer Apparate (DiMaggio, Powell 1983). Doch vieles spricht dafür, dass Weber dabei weniger an eine Emergenz systemischer »Selbstläufer« unter den modernen Institutionen als an eine kulturelle Degeneration der zeitgenössischen Eliten gedacht hat, die der »herz-« und »geistlosen« Verfahrensrationalität bürokratischer Persönlichkeitsstrukturen nicht genügend entgegenzusetzen haben. Dafür sprechen sowohl grundlegende handlungstheoretische Prämissen wie der »methodische Individualismus«, dem man Weber wohl unwidersprochen zuschreiben kann (z.B.: Schluchter 1980; 1991; Habermas 1981), als auch Webers »politische Phantasien« wie die Vorstellung einer plebiszitären Führerdemokratie. Das plebiszitäre Moment setzt nach Weber an die Spitze eines »neutralen« Apparates der getreuen Ausführung von Anweisungen einen politischen Willen, dessen Repräsentant nicht »von«, sondern
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»für« die Politik lebt und schon darum Zwecke in das Mahlwerk einspeist, die nicht schon vorher zwischen den Mühlsteinen der bürokratischen Karrierepfade verschliffen wurden (Mommsen 1974). Das Argument Webers, dass die kommende bürokratische Parteiorganisation – deren Zukunft ihm das Beispiel der U.S.A. vor Augen zu führen schien – den Führungspersonen mit misslichen Konsequenzen ihren Stempel würde aufprägen können (vgl. auch: Michels 1976; Schluchter 1980: 117ff.), bestätigt gerade Webers gewissermaßen struktur-abstinente Hochschätzung der charakterstarken, individuellen bürgerlichen Persönlichkeit. Von ihrer verantwortungsethischen Standfestigkeit erwartete sich Weber Remedurpotenzen, denen seine materialen Analysen im Grunde den Boden schon entzogen hatten. Deswegen bestätigt auch Webers – durchaus treffende – Antizipation von Verselbständigungstendenzen eines »Instrumentes«, das als problemlösendes Arrangement selbst zum Problem wird, weil seine spezifische Funktionalität die Transaktionskosten seiner Abschaffung immens erhöht (siehe: Offe 1986), dass das erwartete Problem von Weber auf der Ebene individueller Handlungsmotivation und -rationalität lokalisiert wird. Weber zweifelt nicht am instrumentellen Charakter der formal rationalen Verwaltung, sondern allein an den Garantien für die Reproduktion hinreichender politischer Eliten, die sich bei der Verfolgung von autonom (im Horizont einer wertrationalen Dezision) gesetzten Zwecken des Instrumentes souverän bedienen (Mommsen 1974). Das Problem einer Herrschaft der Verwaltung – an Stelle einer Herrschaft »vermittels« der Verwaltung – bei der in der Aufteilung zwischen verbeamteter Administration und Parteiapparat technokratische Programme obsiegen und einmal gesetzte Ziele nicht mehr politisch zur Disposition gestellt sind, wird insgesamt von Weber nicht auf die Eigenwerte bürokratischer Organisation bzw. auf die durch institutionelle Komplexität prinzipiell verursachten Reibungsverluste bezogen. Eher traute Weber auch dem modernen Arrangement bürokratischer Apparaturen einen Rückfall in die vormoderne Fusion von Verwaltungsstäben und Verwaltungsmitteln zu: »Verselbständigung« der Verwaltung ist primär Verselbständigung der ausführenden Stäbe (Schluchter 1980: 87ff.), die Lücken der Kontrolle zur Arrondierung des eigenen Privilegs nutzen (»Ämter« degenerieren in »Pfründe«). Historische Evidenzen und organisationssoziologische Forschungen haben es im Abstand zu Webers Zeiten mittlerweile leicht gemacht, Einwände gegen die prinzipielle Möglichkeit eines neutralen und gefügigen Erfüllungsapparates zu formulieren, der sich von »charismatischen« Persönlichkeiten (oder – was nach Lesart W. Schluchters (1980) zu Webers Optionen gehört – durch parlamentarisierte Entscheidungsstrukturen) in die gewünschte Richtung zwingen lässt. Die soziologische Kritik an Webers Bürokratietheorie bzw. an dem spezifischen Idealtypus der bürokratischen und damit rationalen Herrschaft bezieht sich zumeist auf die Zeitgebundenheit Webers, darauf, dass – wie Stefan
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Breuer zusammenfasst (Breuer 1994: 1) – sein Modell den preußisch deutschen Machtstaat, damit ein militärisch ausgerichtetes Verwaltungswesen und eine historische Variante eines determinierten Sozialsystems übergeneralisiere (so: Wagner 1990: 169; Giddens 1986: 30).6 Von dieser Gegenargumentation aus verzweigen sich unterschiedliche Strategien der Revision der Weber’schen Vorlage, denn der Hinweis auf eine Übergeneralisierung des historischen Beispiels des preußischen Verwaltungsapparates konzediert ja immerhin, dass Webers idealtypisierende Abstraktion die Lage des deutschen politischen Systems in den vier Jahrzehnten nach der Reichsgründung auf adäquate Weise auf den Begriff gebracht, in Folge allerdings theoretisch »überzogen« habe. Die rationalitätstheoretische Auswertung der Probleme der Weber’schen Bürokratiethese geht demgegenüber weiter, denn sie muss die Unangemessenheit des Idealtypus (siehe oben: Teil I) auch mit Rekurs auf Webers Deutung der für ihn zeitgenössischen Entwicklung belegen. Wenn die späteren Formen der Verwaltungsorganisation zeigen, dass Weber die Möglichkeit, formale Zweckrationalität der Verwaltung effektiv zu institutionalisieren, im Allgemeinen überschätzt, dann sind vergleichsweise beachtliche Erfolge der preußischen Verwaltungsreformen und -geschichte Zeugen einer komplexeren Rationalitätskonstellation. Der Hauptstrang der Kritik richtet sich allerdings vornehmlich empirisch an den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts aus, in dem sich eine Pluralität nüchterner Organisationsformen mit bürokratischen Elementen in Politik und Wirtschaft, aber auch totalitäre Hypertrophien und Kollapse bürokratischer Systeme (z.B.: Pollack 1990; Pirker e. a. 1995) sowie moderne administrative Regime entwickelt haben. Dieser Hauptstrang hat zweifellos entscheidende Ergänzungen zur Analyse bürokratischer Organisation zusammengetragen: Bedeutsame Modifikationen der Gestalt bürokratischer Organisationen ergeben sich allein aus der Expansion ihres Umfangs und der Agenden ihrer Ziele bzw. Zuständigkeiten, die sich dem Ausbau wohlfahrtsstaatlicher Regime verdanken. Das Muster zentraler bzw. hierarchischer Programmierung des gesamten lokalen Verwaltungshandelns relativiert sich bezogen auf den administrativen 6 | Eine auf die spezifisch herrschaftssoziologische Begriffsbildung Webers ausgerichtete Kritik betont überdies, dass Webers Zusammenstellung von rationaler und »legitimer« Herrschaft den technischen mit dem Geltungsaspekt vermische. Die Legitimität der Herrschaft, die »kraft Satzung« Akzeptanz zu mobilisieren vermag, rekurriert prima facie gewiss auf einen Aspekt rationalisierter Geltung (die konstitutionelle Explikation rechts- und verfassungsstaatlicher Prinzipien), der von der formalen Rationalität der Entscheidungs-Ausführung unterschieden werden muss. Nach den oben stehenden Überlegungen liegt darin jedenfalls gemäß der Weber’schen Prämissen jedoch weniger eine problematische Vermischung als eine kohärente Ergänzung, gerade weil Weber das Instrument eben als das: als ein Instrument betrachtet.
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Sektor empirisch durch die in Folge soziologisch auf bereiteten Übergänge von der Regel- zur Ergebnissteuerung bzw. in neuer Zeit zur Implementation von Steuerungsformen, die organisationsintern in die Entscheidungskaskaden zwischen zentralen und lokalen Ebenen Dezentralisierungen und Analogien zu Marktmechanismen einbauen (vgl.: Naschold 1993; 1995; Lorig 2001; Schröter, Wollmann 2005; Pankoke 2001). Im Bereich »bürokratischer« Steuerung von Wirtschaftsorganisationen (Gouldner 1954) verliert das Modell hierarchischer Steuerung schon durch die Ausbildung der so genannten »postfordistischen« Produktionsregime und durch die Explosion von Reflexionsformen in Gestalt wechselnder Moden der Managementrezepte an Geltung, die in Reaktion auf entsprechende Komplizierungen von Produktionsprozessen und den Gestaltwandel der entsprechenden Produkte (z.B. durch Tertiarisierung) einander ablösen (Kühl 2002: 235ff.). In der abstrahierenden Organisationstheorie sind nicht zuletzt durch diese und verwandte empirische Evidenzen alternative Konzeptualisierungen der Struktur von Organisationen inklusive klassischen Bürokratien plausibel geworden, die vor allem die hierarchische Steuerung von »außen« entplausibilisieren. Diese Konzeptionen modellieren Organisationen mit Seitenblicken auf kybernetische Modelle der Rekursivität von Prozessen der Informationsverarbeitung als mehr oder weniger abgeschlossene Systeme (Weick 1985), die mit der Anpassung an wechselhafte Umwelten ein eigenes – externen Zweckvorgaben gegenüber unabhängiges – Organisationsziel ausbilden müssen (Luhmann 1983: 101). Deshalb heben die in einem weiteren Sinne systemtheoretischen Organisations- und Bürokratiemodelle gegenüber der oben erwähnten Weber’schen Version der »Verselbständigung« von Organisationen das Moment einer weniger dramatischen oder degenerativen als notwendigen Ablösung der »Selbststeuerung« von Organisationen gegenüber externen Zwecksetzungen hervor. Für Luhmann, dessen Systemtheorie mit Abstand die radikalsten Konsequenzen aus der Entwertung des politischen Steuerungsoptimismus zieht, verliert die bürokratische Organisation damit schließlich jeglichen zweckrationalen Charakter. »Zweckbegriffe« wandern in der organisationssoziologischen Beschreibung auf die Ebene der mehr oder weniger ideologischen, wenn auch funktionalen, nach außen wie innen gerichteten Inszenierung und Legitimation, während die Struktur organisatorischer Prozesse faktisch an latenten Richtwerten einer »Systemrationalität« ausgerichtet ist (Luhmann 1973). Diese Systemrationalität ist gleichweit entfernt von der individualistischen Handlungsrationalität der Mitglieder von Organisationen wie von der gesellschaftlichen Zweckrationalität, zu deren Gunsten Organisationen als Instrumente zur Erreichung allgemeiner (politischer) Zwecke eingespannt werden könnten. Zwar lässt sich auch die sekundäre, rein legitimatorische Berufung auf extern legitimierte rationale Instrumente von Seiten einer Organisation, die im Zuge des »de-coupling« zwischen talk und action, jene Inst-
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rumente offiziell einbaut, inoffiziell aber nicht nutzt, in the long run als eine sekundär rationale Strategie beschreiben (Meyer, Rowan 1977). Dabei werden jedoch zweckrationale formale Strukturen, die für Weber den Kern der Bürokratie ausmachten, eben nicht übernommen, sondern umgangen. Kurzum: Erfolgreiche Organisationen und Bürokratien verdanken ihren Erfolg nicht der Annäherung an die instrumentelle Zweckrationalität formaler Strukturen und ebenso wenig der Disziplinierung von Mitgliedermotiven zur »interesselosen« Ausführungsbereitschaft in hierarchisch determinierten Sozialsystemen. Auf die Konsequenzen dieser organisationssoziologischen Revisionen für die Rationalitätstheorie bzw. -begrifflichkeit wurde oben (Teil I) bereits eingegangen. Wenn man Weber zwar die empirischen Variationen komplexer Organisationen vorhält, gleichzeitig aber an der Typologie von Rationalitäten, an der methodologisch individualistischen Prämisse, dass Organisationsrationalität sich in individueller Handlungsrationalität realisieren muss, festhält, dann schwindet mit der Bedeutung rein formaler Struktur die Bedeutung organisationaler Rationalität. An dieser Stelle sind, wie gesagt, jedoch mit guten Gründen alternative rationalitätstheoretische Konsequenzen zu ziehen. Wenn formale Organisationen idealtypisch, d.h. analytisch als (gegenüber intentionaler Steuerung von außen wie von innen) prinzipiell verselbständigte Sozialsysteme betrachtet werden müssen, diese Strukturmomente administrative und ökonomische Realtypen aber zweifellos nicht erschöpfend auf den Begriff bringen, dann sind »reale« Bürokratien als Hybride zwischen formaler Organisation und anderen Vergesellschaftungsformen zu begreifen. Diesen Schritt gehen weite Teile der aufgeführten Kritiker an der Vorlage Webers mit. Der entscheidende Punkt liegt indessen in der rationalitätstheoretischen »Aufwertung« jener anderen Vergesellschaftungsformen, denen nur der restriktive Begriff expliziter und individueller bzw. gesellschaftlicher Zweckrationalität einen geringeren Grad an rationaler Orientierung zuzuweisen zwingt.7 Von entscheidender Bedeutung für jene Vergesellschaftungsform (der informellen Integration z.B. administrativer Praxis) sind die kulturellen Ressourcen, die eine Organisationspraxis diesseits der formalen Reglements stabilisieren und die für die Umsetzung allgemein gehaltener Programme angesichts komplexer und variabler Organisationsumwelten jeweils in situ entscheidend sind. Das habituelle Vermögen von ausführenden Stäben, Richtlinien und Re7 | Das gilt jedoch ebenso für die Habermas’sche Version der Steigerung von Rationalitätsgraden, die dem traditionalen Handeln im Weber’schen Sinne die lebensweltliche Orientierung im nicht-rationalisierten – d.h. nicht auf die Verpflichtung zur Angabe von Rechtfertigungsgründen umgestellten – Modus zuordnet und damit ebenfalls dem impliziten Wissen unnötig einen Mangel an Rationalität zuschreibt (Habermas 1981: 262ff.; vgl. dazu: Renn 2006: 243-249).
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geln zugleich im Sinne der Organisationsziele und fallangemessen (Pankoke 2001) in Einzelentscheidungen und kontextspezifische Kommunikation zu übersetzen (Renn 2006: 442ff.), gewährleistet erst jene Flexibilität, die bei wachsender Komplexität des Apparates zunehmend problematisch wird. Die Funktionalität und »Rationalität« der kulturellen Ressourcen von empirischen Bürokratien zeigt sich erst, wenn das Spezifikationsproblem auf die Frage der »Angemessenheitsrationalität« zugespitzt wird. Denn dadurch wird verständlich, dass jenes auf implizitem Wissen beruhende und im Modus von milieuspezifischen Gewissheiten vollzogene Handeln, das in Weber’scher Taxonomie als bloß »traditionales« Handeln erscheint, ganz im Gegenteil einen eigenen Rationalitätstypus repräsentiert, der nicht – wie die klassische Modernisierungstheorie glauben machte – im Zuge der Modernisierung institutioneller Arrangements als traditionelle Schlacke sukzessive abgebaut gehört. In der soziologischen Organisationsanalyse ändern auch die rekurrenten Hinweise auf die Rolle von »Organisationskulturen« nichts am angezeigten Negativbefund, solange sie darauf beschränkt bleiben, »Kultur« als weichen Faktor der Mobilisierung von zweckrationaler Loyalität qua Identifikation mit dem Unternehmen zu lesen. Kulturelle Ressourcen der Organisationsflexibilität sind im Unterschied dazu nicht in, durch und für die Organisation konstituiert, sondern sie bleiben auf ein gegenüber der formalen Struktur und den Grenzen der Organisation unabhängiges Milieu angewiesen. Damit ist die Rationalitätsfrage mit Bezug auf realtypische Bürokratien auf die Analyse einer spezifischen »Einbettung« formaler Strukturen verwiesen, die nicht auf die Untersuchung von Interferenzen zwischen Politik und Organisation zu beschränken ist. Bürokratien (als »Realtypen«) sind mit Rücksicht auf diese kulturelle Ressource ihres Funktionierens von Beginn der Entwicklung moderner Verwaltungen an zu beschreiben als »Hybride« aus performativ kulturellen Horizonten und formal abstrakter Handlungs- und Entscheidungsregulation. Das bedeutet für die retrospektive Revision der Einschätzung der Weber’schen Bürokratiethese: Weber hat bei der idealtypischen Generalisierung von vermeintlich signifikanten Charakteristika der preußischen Verwaltung nicht – wie der Hauptstrang der oben angeführten »empirischen« Kritik an Webers Bürokratietheorie wenigstens implizit unterstellt – ein »deterministisches Sozialsystem« (Preußens militarisierte Verwaltung), sondern auf einem basaleren begrifflichen Niveau die »Determinierbarkeit« von Sozialsystemen überhaupt überschätzt – entsprechend die Rationalität traditionalen Handelns unterschätzt. Entsprechend muss sich zeigen lassen, dass auch Preußen keineswegs ein Beispiel für eine zweckrational determinierbare Verwaltung abgibt, sondern dass die vergleichsweise erfolgreiche preußische Entwicklung seit dem 18. Jahrhundert, was die Rationalität angeht, auf andere Ressourcen hat zurückgreifen müssen: auf eine Form der kulturellen Grundlage der nicht formalisierbaren
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»Angemessenheitsrationalität«, die für die effektive (die Organisations-Einheit bewahrende) Bewältigung des Problems der Spezifizierung von allgemein gehaltenen Organisationszielen und -programmen sorgt.
III. E rweiterte R ationalitätsproblematik Bevor die Analyse wenigstens kursorisch historische Aspekte der Verwaltungsentwicklung und besonders Preußen als Weber’sches Referenzbeispiel betrachtet, müssen die rationalitätstheoretischen Absichten dieser Betrachtung noch einmal in abstracto vorbereitet werden, denn zur Frage soziologischer Rationalitätsbegriffe bleiben für das Argument relevante Aspekte noch hinzuzufügen. Die oben angesprochene Schlussfolgerung bedeutender Ansätze in der Organisationssoziologie, dass »Rationalität« bei der Analyse von Bürokratien ein nur untergeordnetes Prinzip sein mag, betrifft nicht allein die Charakterisierung formalisierter Sozialsysteme, sondern das Verhältnis der Soziologie zum Problem der Rationalität des Handelns bzw. gesellschaftlicher Konstellation im Ganzen. Denn es ist durch die »postmodernen« bzw. »postontologischen« Herausforderungen der jüngeren Theorieentwicklungen fraglich geworden, ob die Soziologie zwei Kriterien einer Rationalitätstheorie, die hinreichende Komplexität und die Einheitlichkeit des Rationalitätsbegriffs (so: Stachura 2006: 101), nach wie vor zugleich erfüllen kann. Möglicherweise geht nämlich die Komplexität dann auf Kosten der Einheitlichkeit, wenn die Differenzierung von Rationalitätstypen und -sphären aufgrund der Selbstbezüglichkeit der entsprechenden Unterscheidungsoperationen dazu zwingt, Rationalitätszuschreibungen auf die zuschreibenden Perspektiven zu beschränken, so dass ein einheitliches (normatives) Konzept der Vernunft problematisch wird (denn man muss sich bei der Unterscheidung von »Rationalitäten« fragen lassen, ob diese Unterscheidung »rational« ist – und zwar im Sinne welcher Rationalität). So werden die organisationssoziologischen Überlegungen zum Verhältnis zwischen Typen der Rationalität im Unterschied zu den Tagen Weber’scher Begriffsarchitektur mittlerweile dadurch in Verlegenheit gebracht, dass »Handlungsrationalität« nicht länger als operationaler, also unbefragter und vermeintlich selbstevidenter (bzw. philosophisch vorweg bereinigter), Begriff verwendet werden kann. Zwar lässt sich der soziologische Betrieb in weiten Teilen davon wenig irritieren und arbeitet weiter mit vermeintlich klaren Konzepten der »Zweckrationalität« oder der »rationalen Wahl«. Aber nicht nur die Differenzierung von Rationalitätstypen, sondern vor allem die »postontologische« Distanzierung vom konstitutiven Status des Begriffs der Rationalität, zwingen in der Konsequenz zu einer relationierenden Angabe, was man unter »Rationalität« (im Unterschied zu was und im Verhältnis zu wessen Pers-
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pektive) versteht.8 Unter »postontologische Distanzierungen« fallen hier vor allem jene großformatigen Theorieunternehmungen des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts., die Phänomene der rationalen Geltung soziologisch oder philosophisch samt und sonders auf die Seite des beobachteten Gegenstandes geschoben haben, um nun soziale Verwendungsweisen des Vernunft-Etiketts wahlweise »machtkritisch« oder »äquivalenzfunktionalistisch« als konstituierte, kontingente (ehemals: »ideologische«) Konstrukte zu beschreiben. Foucault variiert Nietzsche und geht gegenüber jeder Attribution von Rationalität auf Abstand, so dass für seine Beschreibungen jedes wissenschaftliche und politische Wissen seine soziale Geltung aus »Wahrheitsspielen« bezieht (Foucault 1974). Luhmann räumt die Vernunftprätention der hegelmarxistischen Tradition – personifiziert in Habermas – ab, woraufhin jedes Wissen sich den Bezugsgegenstand wie die Beobachtungskriterien (bzw. binäre Schemata) konstruiert, so dass Ansprüche auf »Rationalität« nur noch Schutzbehauptungen zur Überdeckung von Interessen darstellen (z.B.: Luhmann 2000: 444ff.). Zwar erscheint es gut möglich, beiden vernunftskeptischen Großtheorien (Luhmann und Foucault) neben anderen die klassischen Rückfragen bezüglich der Konsistenz skeptischer Argumentation entgegenzuhalten (wie: Putnam 1989 oder: Habermas 1985 und 1981: 25ff.). Aber selbst wenn man geneigt wäre, den Vernunftskeptizismus für eine höhere Art von Verdauungsstörung des philosophischen Diskurses der Moderne zu halten, so bleibt doch gerade dann die Soziologie aufgefordert, ihre fortschreitende Differenzierung von Rationalitätstypen und -sphären zu sortieren. Dabei hängen in der soziologischen Theorie, die gesellschaftliche Rationalität(-en) und die Rationalität der Gesellschaft relationieren muss, zwei Probleme eng zusammen: Die analytische Differenzierung von Rationalitätstypen und -sphären ist verwoben mit der Rationalitätsfrage zweiter Ordnung, die das Problem betrifft, was überhaupt unter einem rationalen Verhältnis zwischen ausdifferenzierten Rationalitätssphären zu verstehen sein kann? Denn es kann ja sein, dass nicht nur jede Sphäre ihre eigene Version »gesamtgesellschaftlicher« Rationalität bzw. der Rationalitätskriterien für Beziehungen zwischen Rationalitätssphären ausgebildet hat, sondern dass überdies diese Versionen sich nicht von einem einzigen neutralen Punkt aus kohärent vereinigen oder ineinander übersetzen lassen. Typen und Sphären unterschiedlicher Rationalitätsart sind dabei entgegen verbreiteter Neigung nicht deckungsgleich. Deswegen gehört zu den plau8 | Aus diesem Grund riskiert die hier vorgeschlagene Revision der Weber’schen Rationalitätstypologie, die im Titel (»traditionale Rationalität« und »rationale Tradition«) angezeigt wird, aus theoretischen, sprich begriffslogischen Gründen, mit der Einführung eines Begriffs der »Angemessenheits-Rationalität« nicht nur Typologien zu revidieren, sondern das Programm der Typologisierung selbst zu unterminieren.
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siblen Standardeinwänden gegen die gesellschaftstheoretischen Vorschläge der Habermas’schen »Theorie des kommunikativen Handelns« der Vorwurf der Reifikation von Handlungstypen. Instrumentelle (bzw. strategische) und kommunikative Vernunft können nur um den Preis der Verzerrung empirischer Gemengelagen eins zu eins den (eben nicht rein analytisch betrachteten) Bereichen von »System« und »Lebenswelt« (in älterer Fassung: »Arbeit« und »Interaktion«) zugeordnet werden. Differenzierungstheoretisch scheint diese enge Verknüpfung von Sphären und Handlungstypen zwar zunächst sinnvoll zu sein – erklärt sie doch auch in einer enger an Weber angelehnten Variante der Differenzierungstheorie, welche die »Wertsphärendifferenzierung« als Ausbildung von teilautonomen Handlungsfeldern begreift, in denen spezialisierte Rationalitätskriterien das Handeln bestimmen, auf welche Weise die Abkoppelung von externen Einflüssen interne Spezialisierungen und Steigerungen erlaubt (so: Lepsius 1990). Aber die Frage nach inter-institutionellen bzw. intersystemischen Beziehungen (oder auch: Übergängen zwischen »System« und »Lebenswelt«) ruft sehr bald das Problem der Perforation vermeintlich homogener Teilkontexte oder Subsysteme auf den Plan.9 Schon weil Bereiche, in denen eine typologisch bestimmte Sonderrationalität dominiert, mit dem Bezug auf externe Kontexte einen Bezug auf deren Rationalität verbinden müssen, ist davon auszugehen, dass die handlungstheoretische Unterscheidung zwischen Rationalitätstypen von der Frage nach institutionell/funktional und kulturell differenzierten Rationalitätssphären logisch unabhängig sein muss (weil sich Sphärendifferenzierung nicht ausschließlich entlang der Differenz zwischen Typen rationalen Handelns entfalten kann). Die Übergänge zwischen Rationalitätssphären haben für das Verhältnis zwischen Typen und Bereichen der Rationalität eine große Bedeutung. Das wird deutlicher, sobald die typologische Unterscheidung zwischen Handlungsrationalitäten, zwischen zweck- oder wertrationalem, formal oder material rationalem, instrumentell oder normativ rationalem Handeln und zwischen strategischer oder kommunikativer Rationalität sozialen Handelns, nicht allein mit Bezug auf einzelne Standardhandlungen getroffen wird. Denn wenn demgegenüber zusätzlich auf den Unterschied zwischen Graden der Konkretion von Handlungsprinzipien und -regeln gesehen wird, fällt auf, dass die Institutionalisierung von Sphären eigener Rationalität das Problem der Spezifikation 9 | Diese Frage ist mit der von Parsons bis Münch vertretenen Theorie einer gegenseitigen »Interpenetration« (Münch 1986) nicht beantwortet, sobald das Modell der »kybernetischen Kontrollhierarchie«, die für stabile Übergänge zwischen generalisierten Prinzipien und konkreten Handlungen in situ sorgen soll, mit den – hier am Beispiel der bürokratischen Organisation verhandelten – Abhängigkeiten der Spezifizierung allgemeiner Prinzipien von nicht formalisierbaren Ressourcen »angemessener« Anwendung konfrontiert wird.
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verallgemeinerter (rationaler) Handlungsprinzipien verschärft. »Angemessenheit« wird problematisch, wenn rationales Handeln in generalisierten Standardmustern explizit wird und in dieser Form die Struktur einer Sphäre des Handelns dominiert. Sobald also »rationales Handeln«, welchen Typs immer, durch Differenzierung an expliziten Kriterien und Standards gemessen wird, erhält die pragmatistische Unterscheidung zwischen Geltungsmodi Gewicht, der zufolge die implizite Gewissheit und die diskursive Geltung unterschiedliche Formen der Beziehung zwischen rationalen Prinzipien und konkreten Handlungen implizieren (vgl. Renn 2006: 260ff.). Implizite Gewissheit stellt dabei die notwendige Ressource der Rationalität von situations-angemessener Applikation expliziter Regeln und Normen (bzw. Werte) dar. Denn im Sinne der Wittgenstein’schen Einsicht, dass Regeln ihre Anwendung nicht regeln, sorgt die zur impliziten Gewissheit geronnene Praxis einer »Gemeinschaft« durch Gleichsinnigkeit des Habitus der Personen (Bourdieu) für stabile, wenn auch notwendig unartikulierte, Standards der Angemessenheit innerhalb der performativen Verbindungen zwischen generalisierten Normen und spezifischen Situationen. Die pragmatistische Unterscheidung zwischen Geltungsmodi muss quer zu den genannten Typisierungen von expliziten Teilrationalitäten liegen, weil sie der impliziten Gewissheit, die im »traditionalen« Handeln sich durch Mangel an rechenhafter Kalkulation (bzw. deduktiver Rechtfertigung) auszeichnet, einen rationalen Status zutraut. Der Übergang von abstrakten und generalisierten Regeln (Programmen und Typisierungen) zu Einzelhandlungen ist nicht durch logische Ableitungswege bestimmt und deswegen ein – alltäglich meist unauffälliges, weil vorweg implizit (!) gelöstes – hermeneutisches Problem: das Problem der »richtigen« Auslegung, zu dem die Unschärfe der Kriterien für diese Richtigkeit gehört. Der Übergang bedarf des impliziten Wissens der Regelanwendung, die faktische Applikation in Gestalt konkreter Performanz kann aber angemessen oder nicht, gelungen oder nicht, vollzogen werden. Und schon das deutet an, dass der praktische Vollzug der Spezifikation eine eigene rationale Dimension darstellt, dass er z.B. relativ zu einer eigenen Normativität bewertet wird, die sich vom expliziten Modus artikulierter Prinzipien fundamental unterscheidet.10
10 | In der normativen Theorie kommunikativer Rationalität hat Klaus Günther diese Dimension bearbeitet (Günther 1988); die »Rational Choice« Theorie in der Esser’schen Variante berührt das Problem an der Stelle, an der laut Modell Akteure über den »match« zwischen frame und situation innerhalb der »frame selection« entscheiden müssen (Esser 2003; vgl. Stachura 2006). Das Problem wird allerdings hier nicht entfaltet (bzw. nicht auf die Unhintergehbarkeit impliziten Wissens bezogen), weil die Vorstellung, dass Handlungssequenzen von Akteuren unter »scripts« subsumiert werden – und pragmatisch erfolgreich subsumiert werden können, dazu verleitet, den Übergang von Stan-
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Neben der Unterscheidung zwischen Rationalitätssphären wird deswegen für die Rationalitätsfrage die Differenzierung von Formen von Handlungszusammenhängen einschlägig. Nicht nur divergieren Geltungsräume expliziter Rationalitätskriterien, sondern es ist mit relevanten Konsequenzen für Rationalitäts-Arrangements zu unterscheiden zwischen entweder abstrakt oder habituell geregelten bzw. integrierten Handlungszusammenhängen. Praktiken unterscheiden sich von formal geregelten Verfahren dann nicht prinzipiell (empirisch vielleicht schon) im Grad, sondern in der Art der in ihnen maßgebenden Rationalität. Aus der Differenz zwischen der praktischen Gewissheit und der expliziten Geltung von Regeln kann die Differenzierungstheorie Kriterien für die Unterscheidung von typischen Formen der Integration von Handlungszusammenhängen gewinnen und bezogen auf diese Kriterien soziale Milieus von formalen Organisationsstrukturen unterscheiden. Diese Differenz ist nicht identisch mit der Differenz zwischen »Wert-« oder »Rationalitätssphären«, sie hat jedoch bedeutende Implikationen für das Problem der Sphärendifferenz und die Frage der Beziehung zwischen solchen Sphären. Die Differenzierung von Rationalitätssphären ist in der Folge Webers entweder institutionalistisch interpretiert (Lepsius 1990) oder in das Konzept funktionaler Differenzierung überführt worden (Parsons; Luhmann).11 Bei allen Unterschieden, die eine funktionalistische Anonymisierung des Problems der Handlungsrationalität bedeutet, unterlassen es doch beide differenzierungstheoretischen Stränge übereinstimmend, das Problem der Rationalität zweiter Ordnung (»rationale« Beziehung zwischen Rationalitätssphären) auf die Frage nach der eigentümlichen Rationalität praktischer Übergänge zwischen den Sphären zu beziehen.12 Die pragmatistisch vorbereitete Unterscheidung zwischen konkreter und abstrakter Handlungsintegrationen erlaubt es demgegenüber, kulturelle und institutionell/funktionale Differenzierung als zwei logisch voneinander unabhängige Differenzierungsweisen zu analysieren. Wenn die Moderne in diesem Sinne als Folge und Schauplatz der Differenzierung von Differenzierungsformen zu lesen ist, bedeutet das, zu unterscheiden zwischen einerseits in sich unterschiedlichen abstrakten Rationalitäten (Wertsphären, Systeme), andererseits unterschiedlichen kulturellen Lebensformen. Orgadardnormen und -modellen zu Einzelhandlungen als logische Ableitungsfunktion zu missdeuten. 11 | Die Habermas’sche Version liefert einen komplexen Sonderfall, sofern – wie schon angedeutet – die Abbildung der Sphärendifferenzierung auf der Unterscheidung von System und Lebenswelt das Problem der rationalen Beziehung zwischen Rationalitäten überspringt, weil hier Typen und Sphären der Rationalität in einem problematischen Ausmaß identifiziert sind (Renn 2006: 83ff.). 12 | Dazu – allerdings ebenfalls ohne Bezug auf die genannten praktischen Übergänge: Beck 1993; Offe 1986.
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nisationen haben dann aber zwei Gesichter: Analytisch sind sie bestimmbar durch die Dominanz formaler Strukturen, als »Realtypen« bleiben Sie jedoch »Hybride« zwischen formaler Struktur und sozialen Milieus (in jeweils unterschiedlicher bzw. charakteristischer Gemengelage). Kulturelle Lebensformen bzw. Milieus, die durch das habitualisierte und implizite Wissen der Angehörigen (einer geteilten Praxis) integriert sind, erhalten in dieser Perspektive ihrerseits eine Doppelstellung innerhalb des modernen Gefüges institutioneller Differenzierung: Sie tragen – anders als es in der Modernisierungstheorie einer (durch »Wertgeneralisierung«) abstrahierten und vermeintlich homogenen »Kultur der Moderne« zugetraut wurde – nicht die Integration rationaler Teilsphären zu einer »insgesamt rationalen« Gesellschaft, sondern sie treten als ihrerseits partikulare Horizonte performativer Selbstverständlichkeiten im Plural auf, und sie treten neben abstrakt integrierte Handlungszusammenhänge (etwa: Organisationen im genannten Sinne), denen explizite Rationalitätskriterien Einheit und Grenze geben. Andererseits liefern – aufgrund der begrenzten Reichweite performativer Kulturen notwendig: plurale – Milieus die unverzichtbare Ressource der »Anwendungsrationalität«, d.h. der an impliziten Kriterien bemessenen Fähigkeiten, »Übersetzungen« zwischen generalisierten, abstrakten Regeln und spezifischen Handlungen zu vollziehen, die gleichermaßen (bzw. in wechselhaften Ungleichgewichten) den Regeln und den Situationen, der Strukturkonstanz und der Individualität von Umständen und Personen »gerecht« werden können. Die pragmatische Revision der Rationalitätstypologie rechnet also zum einen die Überschreitung der Referenzebene des bloß individuellen kognitiven Bezugs zu Handlungen ein, und sie hat dabei neben der anonymen »Systemrationalität« formaler Arrangements die Sedimentierung rationaler Routinen »hinter dem Rücken« der individuellen Akteure und ihrer intentionalen Repräsentationen auf der Rechnung. Zum anderen geraten damit die Prämissen der Frage nach der Rationalität »zweiter Ordnung« in Bewegung. Das Problem besteht nun nicht mehr in der Verrechnung einer einheitlichen, womöglich angestrebten »Gesamtrationalität« mit nur einem dominanten, primären, qua Vernunftreflexion als eminentem Modus ausgezeichneten Typus expliziter Rationalitätskriterien. Das Problem stellt sich in »pluralisierter« Fassung angesichts eines Modells der Struktur moderner Vergesellschaftungs-Arrangements, in dem es verschiedene Typen von (»rationalen«) Übergängen zwischen heterogenen sozialen Einheiten gibt, die ihrerseits intern von unterschiedlichen »Rationalitäten« bestimmt werden. Modernisierungen produzieren weder eine homogene (in nur einem Sinne »rationalisierte«) Kultur der Moderne, noch aber eine fragmentierte Konstellation von Systemmonaden, deren »Rationalität« nichts als interne Konstruktion darstellt, sondern es entstehen komplexe »Übersetzungsverhältnisse« zwischen abstrakt konstituierten Handlungszusammenhängen mit ihren Rationalitätskriterien, formalen Or-
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ganisationen mit ihren Verfahrensrationalitäten und schließlich kulturellen Milieus mit ihren praktischen Rationalitäten konventionalisierten know hows (Renn 2006). Und diese Übergänge sind, je nach Typus der beteiligten Teilkontexte, auf jeweils andere Weise, die aber von diesen Teilkontexten nicht einseitig-souverän determiniert werden kann, mehr oder weniger »rational«. Wenn diese – noch sehr allgemeinen – Überlegungen zur Dimensionserweiterung der soziologischen Rationalitätstypologien auf das früher angesprochene Problem des »postontologischen« Vernunftskeptizismus (Luhmann 1997) bezogen werden, verliert die soziologische Reflexion auf die einsehbare »Grundlosigkeit« jeder operationalen Unterscheidung von Rationalitäten einiges an Dramatik. Denn der pragmatische Weg einer »bottom up« Analyse von konkreten Übersetzungsbeziehungen zwischen differenzierten Teilbereichen der Gesellschaft entlastet von der falschen Alternative, zu der traditionellen Idee der »bürgerlichen Gesellschaft« als Einheit rationaler Selbstbestimmung entweder »ja« oder »nein« sagen zu müssen. Die explizit artikulierten und letztbegründeten Prinzipien gesellschaftlicher Gesamtrationalität, die »vernünftige Identität der Gesellschaft«, bilden nicht die einzige Alternative zur skeptischen Reduktion der Geltung von »Rationalitätsansprüchen« auf die Innenperspektive beanspruchender Teilsysteme (oder »Akteure«). Eine weitere Alternative bietet sich für die Soziologie durch die Möglichkeit der Berufung auf den Typus impliziter Rationalitätskriterien an. Die Soziologie kann die Frage der Rationalität »zweiter Ordnung« also auch dann stellen und bearbeiten, wenn sie sowohl die Selbstbezüglichkeit ihrer Rationalitäts-Beobachtungen als auch die Uneinholbarkeit der damit implizierten »Rationalitätseinsprüche« eingesteht. Denn sie kann sich auf implizite und nur jeweils provisorisch explizierbare Kriterien der in Forschungspraxis und Argumentation performativ in Anspruch genommenen Rationalitätsunterstellungen berufen. Empirisch bedeutet das, ohne falsche Vernunftskepsis die Frage nach rationalen Beziehungen zwischen Teilrationalitäten nicht der reflexiven Begriffsexplikation zu überlassen, sondern in Analysen der praktischen Übergänge zwischen expliziten Rationalitäten auf der Basis der »rationalen« Performanzen zu überführen. Damit kommt die hier vorgelegte rationalitätstheoretische Argumentation schließlich bei der empirischen Frage nach dem Verhältnis zwischen formaler Organisation und Milieukontexten mit besonderem Bezug zur »Bürokratie« nicht zufällig bzw. illustrativ, sondern mit methodischer Konsequenz wieder an. Denn die Bürokratie zeigt, gerade weil sie ein Hybride aus Milieu und formaler Struktur sein muss, wie Übersetzungen zwischen Teilkontexten der Gesellschaft aussehen können, und dass die Rationalität der Organisationen nicht am Grad der Reinheit der Durchsetzung formaler Struktur allein gemessen werden kann.
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IV. F achbe amtentum und A nwendungsr ationalität Wenn Weber in seiner idealtypischen Beschreibung rationaler Verwaltungsstruktur die Professionalisierung der Stäbe und vor allem die Trennung zwischen Stäben und Verwaltungsmitteln besonders unterstreicht, dann reagiert dieser Zug auf das in allen Vorläufern moderner Verwaltung immer wieder auftretende Problem der Unzuverlässigkeit von Herrschaftsdelegation. Mit der Zunahme der Verwaltungsaufgaben und mit dem Anwachsen der räumlichen Distanzen zwischen zentraler Gewalt und lokalen Anwendungskontexten tritt die »Bürokratie« im Sinne der ursprünglich eindeutig pejorativen Bedeutung des Ausdrucks geradezu regelmäßig in Erscheinung in Gestalt der Ablösung entfernter Verwaltungsstäbe bzw. lokaler Spitzen von der direkten Bindung an die Zentralgewalt. Die Ausdehnung von sachlichem Umfang und räumlicher Reichweite der Herrschaft sprengt mit einer geradezu generalisierbaren Zuverlässigkeit die Klammern einer patriarchalischen Gewalt, bei der die Berechenbarkeit von hierarchisch geordneten Weisungsketten exklusiv auf interpersonale Bindungskräfte, traditionelle Abhängigkeiten und Loyalitäten inklusive patriarchalisch asymmetrischer Gegenseitigkeit (»Mund« als Leistungspflicht und Schutzanspruch) gestützt ist. Mit der vormodernen »Dienstbereitschaft«, Treue und Verlässlichkeit der Mitglieder eines »Standes« dominiert die Milieukomponente als Herrschaftsressource die traditionale, hierarchisch strukturierte Herrschaft. Das aber ist nur bei einseitiger Orientierung an zweckrationaler als formaler Rationalität als defizitär zu bewerten, denn unter den historischen Bedingungen geringer institutioneller Autonomie muss die habituelle Loyalität zwischen Personen als effizienteste Alternative zu langfristig kontraproduktiven Formen des »Dienst nach Vorschrift« gelten. Aber wie immer schafft die eingespielte Problemlösung (Delegation) allein durch die Veränderung der Bedingungen (Ausbreitung von Herrschaftsräumen) in Folge der Lösung von Problemen neue Probleme. Ausdifferenzierungen – nicht zuletzt aufgrund von Gebietszugewinnen – schwächen die zentrale Gewalt, solange sie sich allein auf den habituell (bzw. »traditional«) abgesicherten Hintergrund implizit gewisser interpersonaler Verpflichtungen stützt (solange den zuerst nur rudimentären Ansätzen zur Verrechtlichung weder eigene Durchsetzungsstäbe noch stabile Widerlager im Motivhaushalt der Beteiligten beigegeben sind). Denn mit der Differenzierung von Praktiken, Gruppen und Zuständigkeits-Räumen lockern sich die Beziehungen zwischen lokalen Situationstypen und habitualisierten Normen (weil diese ihre Bedeutung immer auch in situ erhalten). Vormoderne Herrschaft ist im wörtlichen Sinne abhängig von »Hausmacht«. Die Lockerung der Bande stößt – ganz unabhängig von zweckrationalen Interessenlagen – in Folge eingespielter lokaler Praxis die Entwicklung eigenständiger, partikularer Milieustrukturen an. Das Mittel der Herrschaft, die
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intentional auf vorreflexiver Ebene sedimentierte Gefolgschaft, kehrt sich vom Mittel zu einem Selbstzweck und damit gegen die übergeordnete Gewalt. Während die dauerhafte Unaufgelöstheit der Spannung zwischen zentralen Gewalten und lokalen Größen, zwischen der Krone und den Grafen, Herzögen, Erzbischöfen, für die Dynamik politischer Institutionalisierungen im »Abendland« in regional jeweils spezifischer Ausprägung von entscheidender Bedeutung war, bilden Ablösungen von Abhängigen, Untersassen oder Dienstmännern klassische und frühe Beispiele für die zuerst praktische und dann institutionell sanktionierte Loslösung vormals direkt abhängiger Ausführungsstäbe von ihren ursprünglichen Herren. Das gilt natürlich schon für die römischen Provinzialmagistrate (insbesondere sobald die Abschöpfung lokaler Ressourcen sich mit der Heranbildung persönlich getreuer Legionen verbindet), ebenso aber für die merowingischen Beamten wie für die »Ministerialen«, die den Unfreien entstammend, aus personenbezogener Mischlage zwischen expliziten Ansprüchen und impliziten Verpflichtungen über Generationen hinweg zu erblichen Amtsinhabern mit entsprechenden Privilegien und Widerständigkeiten aufsteigen. Es gilt – unter anderen Vorzeichen – für die ehedem bürgerlichen französischen Beamten, die gewohnheitsmäßig und rechtlich verbrieft nach kurzer Zeit in den Adelsstand aufsteigen (noblesse de robe) und sich in Justiz und Finanzverwaltung bald als eine »Magistratur« mit senatorischer Würde und als unabsetzbar verstehen, um gegen die Krone im Sinne des provinziellen, ständischen Partikularismus zu opponieren. Otto Hintze hatte schon zu Webers Zeiten als ein geradezu allgemeines okzidentales Charakteristikum ein für dieses Problem der Verwaltungsstäbe signifikantes Instrument der Gegensteuerung identifiziert: die Institution des »Commissarius« (Hintze 1981).13 Die »Kommissare« waren stets direkt von oben, durch die Krone, den König, später den absoluten Fürsten, vorbei an den tradierten Weisungsketten eingesetzte Sonderbeauftragte ohne lokale Bindung am Einsatzort. In direkter und entsprechend großer Abhängigkeit von der personifizierten Zentralgewalt, dafür ausgestattet mit großer Befugnis am Einsatzort, oblag den Kommissaren die Kontrolle der lokalen Beamten, ohne dass zumindest der Absicht und den Rechtstiteln nach dieser Auftrag auf Dauer erteilt worden wäre. Der Auftrag endet wenigstens de jure mit dem Tod des Auftraggebers oder mit der einmaligen Erfüllung, wie es für die karolingischen »Missi«, die parallel zu den päpstlichen Legaten gleicher Bezeichnung 13 | Der Kommissar passt nach Hintze nicht mehr zum modernen Rechtsstaat, denn zu seinen Charakteristika gehört der Mangel an rechtlicher Grundlage seines Auftrags und seiner Zuständigkeit (herrschaftliche Willkür), was sich durch die »Spontaneität« der Einsetzung und die Probleme der Zuständigkeitsbereiche bei den »Sonderbeauftragten« der nationalsozialistischen Herrschaft (z.B. Göring in seiner obskuren Zuständigkeit für den »Vierjahresplan«) bestätigt.
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unterwegs waren, ebenso wie für die in Frankreich eingesetzten »Intendanten«, später die »Präfekten« gelten sollte. Mit wachsender Unentbehrlichkeit aber steigerte sich stets die Selbständigkeit. So wurden in Frankreich die »Baillis«, im 12. Jahrhundert als königliche Kommissarien zur Beaufsichtigung der »Prévôts«, der älteren lokalen Vögte und Pfleger, ins Land gesandt, unter Phillip II Augustus (1190) schon selbst zu »lokal fixierten« ständigen Beamten, um später ihrerseits einer Kontrolle und Aufsicht durch reisende Kommissarien, durch die »inquisitores«, deren Titel wiederum auf die Zeit Ludwig des Heiligen zurückweist, unterzogen zu werden (Hintze 1981: 99ff.).14 Die Ablösung der ausführenden Stäbe von der direkten Kontrolle der sie ursprünglich einsetzenden Gewalt ist regelmäßig Folge der zeitlichen Ausdehnung ihres Mandats und der Zunahme von Komplexität ihrer Tätigkeit (in der französischen Verwaltungsgeschichte erhalten die Kommissare nicht selten das Recht der Subdelegation), und sie ist letztlich ironischerweise Konsequenz der kommissarischen Effizienz, denn gerade ihre Erfolge erschweren ihre Abschaffung und verführen zur Veralltäglichung der Sondereinrichtung. Kommissarien sind Hintze zufolge überall dort eingerichtet worden, wo neue Aufgaben die etablierten Beamtenstäbe und Verwaltungsstrukturen zu überfordern drohten. Doch aus den außerordentlichen Amtsträgern, die als Gesandte fungieren, werden meist im Laufe der Zeit ordentliche Beamte. Sie sind intendiert als Mittel der monarchischen Disziplin und dann der absolutistischen Staatsautorität. Sie entziehen sich allerdings regelmäßig der direkten Kontrolle, z.B. im Zuge von lehnsrechtlichen Übertragungen, bei denen mangels Zugriffschancen erst faktische, am Ende aber verbriefte Erblichkeit entsteht und sich zentrifugale Verflechtungen der allmählich fest ansässigen Stäbe mit »lokalen Sonderbestrebungen oder Klasseninteressen« (Hintze 1981: 105) ausbilden. Die strukturellen Möglichkeiten, diesen Verselbstständigungstendenzen erfolgreich zu begegnen, erscheinen im Lichte der Modernisierungstheorie verknüpft mit den Charakteristika der Durchsetzung moderner Staatlichkeit: 14 | Ihre Nachfolger im 14. und 15. Jahrhundert sind die bei Bodin erwähnten »Commissaires-enquêteurs réformateur«, schließlich im 16. Jahrhundert die »Maîtres des requêtes de l’hôtel«, die zwar ordentliche Beamte sind, aber auf Umritten (chevaucchées) als »Commissaires départis« wirken. Das Kommissariat fand zudem Verbreitung im Prozesswesen (königliche Kommissarien für spezifische Rechtssachen), auf dem Gebiet der Polizei (»Commissaires du Châtelet de Paris«), in der Finanzverwaltung, z.B. Steuererhebung (»collecteurs des tailles«). In Deutschland setzen die größeren monarchischen Herrschaften Hofkommissarien und Landkommissarien (die allerdings ehrenamtlich an lokal Eingesessene delegiert waren) ein; dauerhafte, lokale »Friedensrichter« gehen auf die ehedem befristeten Kommissariate der »conservatores« und der »custodes pacis« zurück (Hintze 1981).
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mit der Ablösung von »Sporteln« und Anteilsprivilegien durch entsprechende, von der lokalen Verwaltungsarbeit und ihren materiellen Erträgen abgekoppelte »Besoldungen« im Zuge der Durchsetzung von Geldwirtschaft und dann von Beamtenrecht, mit der Ersetzung von persönlicher Loyalität durch abstrakte Bindung an den Staat und beamtenrechtlich gewährte Sicherheiten (Unkündbarkeit, Aufstiegsgarantien, Pensionen), durch die Abstraktion der Pflichtmotive durch Disziplinierung und Professionalisierung, durch die Formalisierung der Rekrutierung im Zuge der Bindung an institutionalisierte Ausbildungswege. Die systematische Pointe der oben stehenden Überlegungen zur formalen Rationalität bürokratischer Organisationen besteht nun allerdings darin, dass diese Transformationen keineswegs bedeuten, dass die traditionale Delegation von Herrschaft auf der Basis von milieuspezifischen Gewissheiten der Trägerschichten und Stäbe restlos ersetzt würde durch die Anonymität der Rollenmuster und Motivlagen formaler Institution. So sind die vergleichsweise effektiven Reformen der preußischen Verwaltung im 18. und 19. Jahrhundert entgegen der Weber’schen Zuspitzung des Idealtypus rein rationaler Herrschaft im Gegenteil nicht als Ersetzung, sondern als Umformung und Rekontextuierung der milieuspezifischen, »traditionalen« Orientierung der tragenden Verwaltungsstäbe zu interpretieren. Preußen setzte sich auf dem vergleichsweise kurzen Weg von einer unbedeutenden zu einer europäischen Großmacht recht spät aus vielen ehemals selbständigen Territorien zusammen. So behält Schlesien bei der Eingliederung die eigenen Verwaltungsstrukturen, die 1793 und 1795 (kurzfristig!) angegliederten Teile Polens werden zum Teil nach Schlesiens Vorbild verwaltet (Bussenius 1960: 62ff.). Auch deshalb ist der Antagonismus zwischen Provinzialregierungen und Zentrale für die Eigenart der preußischen Verwaltungsgeschichte konstitutiv. Ende des 17. Jahrhunderts wurden auch in Preußen an die Seite der Provinzialregierungen kommissarische Beamte mit außerordentlichen und widerruflichen Amtsaufträgen gestellt, die aus den Kriegskommisarien hervorgegangen und schließlich 1723 mit den älteren Amtskammern (Domänenverwaltungsbehörden) zu »Kriegs- und Domänenkammern« verschmolzen sind (Hintze 1981, vgl. Süle 1988; Wunder 1986). Der informelle Charakter patriarchalischer Herrschaft in den alten Provinzialregierungen macht sich noch 1793 bemerkbar in den Klagen der Vertreter einer »alten ständisch-partikularistischen, von Provinzialgeist erfüllten Schicht« (Bussenius 1960) über die Umstellung der Landratstätigkeit auf sachliche und formal geregelte Praktiken: Die Verwaltungstätigkeit alten Schlages findet weniger auf der Amtsstube als unterwegs in informeller Interaktion innerhalb eines alteingesessenen Milieus statt, und sieht sich nun von der Zentrale zu Aktenführung und geregelten Zeiten des »Publikumsverkehrs« genötigt. Das ausgeprägte Problem der Vereinheitlichung territorialer Administration angesichts lokaler Widerstände ist mitverantwortlich dafür, dass die preu-
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ßische Verwaltung (als Aktivität) zugleich für relativ »fortschrittliche« und effiziente Reformen (»von oben«) wie für einen starken militaristischen Zug steht. Die prominente Stellung des Modells der hierarchischen Weisungskette in der Interpretation preußischer Verwaltung ist abhängig von der Selbstdeutung der preußischen Bürokratie nach dem Muster militärischer Befehlshierarchie (und Disziplin), die bestätigt wird durch enge institutionelle Verbindungen, wie die unter Friedrich Wilhelm I verbreitete Verwendung von Regimentsquartiermeistern als Verwaltungsbeamte und die noch im 19. Jahrhundert übliche Rekrutierung von Subalternbeamten aus dem Pool ausgedienter Unteroffiziere. Dass diese Selbstdeutung trotz nachhaltig militaristischen Gepräges selektiv und – mit Rücksicht auf die Faktoren der Effizienz von Verwaltungshandeln und -reformen – signifikant unvollständig ist, zeigen andererseits die »Modernisierungsoffensiven« Preußens. Dazu zählen neben den bekannten Liberalisierungen der Stein-Hardenbergschen Reformen die weniger prominenten wirtschaftspolitischen Initiativen der Administration des frühen 19. Jahrhunderts, die teils gegen Widerstände der frühen industriellen Entrepreneurs durchgesetzt wurden (so war die Einführung von Industriemessen Ziel staatlicher Initiative, wogegen die frühen Fabrikanten eher »Produktpiraterie« – womöglich angesichts des im Vergleich zu England schwachen Patentwesens – fürchteten, vgl. Ritter 1961). Die einschneidenden Strukturveränderungen – z.B. die Einführung von Examina für Juristen durch Cocceji (1755), für Beamte der Verwaltung durch Minister von Hagen (1770), das allgemeine preußische Landrecht, später das Reichsbeamtengesetz von 1873 (Ritter 1983; Wunder 1986; Süle 1988) – liegen zwar auf der Linie einer zunehmenden Formalisierung; sie sind jedoch gleichermaßen Ausdruck der nötigen Koalitionswechsel der Zentralregierung, vor allem der – im Falle Bismarcks ganz offenkundigen – strategischen Kooperationen mit ihrerseits tradierten bürgerlichen Trägerschichten und Milieus (Dittmer 1992). Schon deshalb bedeutet die Geschichte der Rationalisierung der preußischen Verwaltung keineswegs eine lupenreine Durchsetzung formaler Rationalität im Zuge des Abbaus der Bedeutung traditionaler Horizonte des Handelns. Vielmehr entwickelt sich auf der Basis der Auswechslung von »Trägerschicht-Mentalitäten«, die an ständische Milieus gebunden bleiben, eine rationale Verwaltung aus dem Gegensatz zwischen dem Interesse der Zentralgewalt (später des »Staates« oder der Öffentlichkeit) und den lokalen Potentaten oder traditional verankerten Eliten. Schon der alten Verwaltung (die noch kein Fachbeamtentum im Sinne der »Interpenetration« formalisierter Ausbildung und Besoldungsform darstellt) »fehlt« es nicht an sachlicher Kompetenz, sondern diese realisiert sich als eine soziale Kompetenz, die an soziales Kapital gebunden bleibt. »Traditional« ist diese Herrschaft nur dann, wenn damit nicht ein Mangel an Rationalität, sondern die Dominanz der milieutypischen Kompetenz für jeweils heteroge-
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nen und lokal spezifischen Bedingungen »angemessene« Verwaltungshandlungen und -entscheidungen – inklusive »mikropolitischer« Vorbereitung und Einbettung – bezeichnet wird. Auch die zu Webers Zeiten vergleichsweise durchrationalisierte, d.h. in Struktur, Ablauf und Legitimationsform formalisierte preußische Verwaltung bleibt angewiesen auf ein allerdings verändertes »Ethos« der Beamten und ihre soziale Kompetenz, auf der Basis eines milieueigenen impliziten Wissens, den preußischen Geist in »Treu und Redlichkeit« performativ in die Begegnungen mit wechselhaften Organisationsumwelten zu übersetzen. Die Entwicklung der Ausbildungsinstitutionen und die Bindung der höheren Lauf bahn an das Universitätsstudium implizieren deshalb eben nicht allein das sachlich rationale Element der Fachschulung und einer entsprechenden rationalen Betriebskompetenz, sondern sie stellen zugleich Zwischenglieder zwischen Berufsrollen, Berufsverbänden (später: Beamtenbund) und bürgerlichen Herkunftsmilieus dar. Die Universitäten eröffnen zwar Mobilitätschancen, die ständisch abgeschottete Sozialstrukturen in Bewegung bringen können, die Effekte der entsprechenden Professionalisierung sind allerdings weit entfernt von der vermeintlichen »Individualisierung« einer »zweiten Moderne«, so dass die Beamtenschaft Preußens – institutionell in Korporationen und Vereinen verbunden – ein modernisiertes Milieu als Stütze des Staates wird. Die Durchdringung der persönlichen Motivlagen mit der formal rationalen Attitüde des sachlich und unparteiisch agierenden Fachbeamten (»sine ira et studio«), die noch in Parsons »pattern variables« einen prägnanten Ausdruck findet, stellt zweifellos einen bedeutenden Aspekt dar – wenn auch die Berufung auf formale Regularien, auf klar bestimmte Zuständigkeitsbereiche und auf die unpersönliche Behandlung des Einzelfalls durch den einzelnen Beamten immer auch potentialiter (eher im psychoanalytischen Sinne) eine »Rationalisierung«, d.h. eine Deckartikulation zur Verschleierung von durchaus parteiischen, voreingenommenen, interessengeladenen Entscheidungen sein kann.15 Entscheidend ist jedoch, dass die preußische Beamtenmentalität eben 15 | So stellt der »Untertan« in Heinrich Manns gleichnamigem Roman nicht einfach eine pflichtorientierte preußische Loyalität gegenüber der unparteiischen Sache des Staates dar, sondern eine illusionsreiche Verwechslung von Partikularinteressen und chauvinistischen Ausgrenzungen mit der höheren Ehrbarkeit patriarchalischer Prinzipien, die zu einer tragisch unproduktiven Form der Unterwürfigkeit führt. Ebenso verhält sich der »Hauptmann von Köpenick« parasitär nicht nur gegenüber einer sedimentierten Achtung vor formal bestimmten Rängen und ihren äußeren Symbolen (Magie der Uniform), sondern auch gegenüber hierarchisch differenzierten impliziten Gewissheiten von Milieuhorizonten, die das Vertrauen in die zuverlässige Referenz des äußeren Symbols und die Adäquanz von konkreten Handlungen (Abkommandierung einer Streife und Beschlagnahmung einer Kasse) trägt.
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eine »Mentalität« ist, d.h. trotz der positiven Identifikationen mit formalen Regeln und mit der Autorität qua formalem Rang für die Funktion der Spezifikation (Übergang von Regeln zu Fällen) nur dann die ausreichende »Angemessenheitsrationalität« zur Verfügung stellt, wenn die halbwegs zuverlässige performative Sicherheit in der Applikation formaler Programme getragen wird durch den Habitus eines Milieus. Der preußische Beamte »lohnt« die formale Gewährleistung von Unkündbarkeit, relativ kommoder Absicherung (inklusive allmählich, in Preußen zögerlich gewährter, Witwenversorgung) und Statuszuweisung (Uniform, Briefadel, Ausbildungsprivileg) nicht mit der Ausschaltung milieuspezifischer Orientierungen. Er wird nicht zum reinen Werkzeug, sondern er entwickelt eine für die »Umweltkontakte« der preußischen Administration passende Applikationskunst auf der Basis des impliziten Wissens eines »neuen« Milieus, des »Standes« des Berufsbeamtentums, der sich nicht zuletzt aus Gründen der symbolischen Distinktion (Bourdieu) zwischen konkurrierenden Milieus mit einer »Politik« der staatstragenden und nationalistischen Zielsetzung verbindet. Zum preußischen Sonderfall gehört deshalb dazu, dass der milieuspezifisch-obrigkeitsstaatliche Habitus Applikationsprobleme komplexer Administration auf eine Weise kompensiert, die die formale Struktur linearer Weisungsketten zunächst komplettiert. Dadurch wird der Anschein unbegrenzter Möglichkeiten der hierarchischen Steuerung bürokratischer Organisation genährt, obwohl der Ausbau hierarchischer Strukturen die Ressourcen milieuspezifischer Anwendungsrationalität am Ende überfordern muss. Die Konsequenz besteht dann allerdings nicht in einer das Milieu auflösenden Überanpassung einzelner Beamter an eine tatsächlich rein zweckrational und formal determinierte Handlungsorientierung, sondern in einer schleichenden Einbuße von Umweltanpassungsfähigkeit der Gesamtorganisation. Flexibilitätsmängel versucht die preußische Administration immer wieder und zu Beginn des 20. Jahrhunderts schließlich in einem alles durchdringenden Kriegszustand durch Unterwerfung externer Kontexte (eben nicht nur des Militärs) unter die Befehlsstruktur auszugleichen. Der schleichende Realitätsverlust, der nicht nur totalitäre Verwaltungsapparate charakterisiert, sondern eben auch der in vielen Belangen so effizienten preußischen Verwaltung unterläuft, ist sicher keine hinreichende Erklärung für den Kriegsausbruch 1914. Die von der obersten Heeresleitung und später von der nationalsozialistischen Führung gerade »gegen Ende« gezeigten Versuche, missliche Entwicklungen der realen Verhältnisse zu leugnen und Zielerreichungen durch phantastische, jeder sachlichen Grundlage entbehrende, Appelle an Pflicht und Disziplin, an »Treue« und »eisernen Willen« zu erzwingen, sind allerdings auch Symptome für die speziellen »Übersetzungsverhältnisse« zwischen Organisation und Milieu in der preußischen Tradition.
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V. A nwendungsr ationalität und gesellschaf tliche R ationalisierung Die Ausbildung einer rationalen Verwaltung und eines fachgeschulten Personals kann die Milieubildung einer Trägergruppe als Basis einer habituell verankerten »Anwendungskultur« nicht restlos ersetzen. Ein Richter ist entgegen der Weber’schen Metapher auch bei getreuester unpersönlicher Pflichterfüllung nicht einfach ein »Paragraphenautomat« (Weber 1980: 826), der auf Fallinput standardisierte Urteile auswirft. Die effektive Institutionalisierung bürokratischer Verwaltung kann also nicht einfach als Bereinigung einer institutionellen Sphäre von traditionalen Elementen, von persönlichen ständespezifischen Bindungen und Voreingenommenheiten gesehen werden. Sie bedeutet vielmehr sowohl eine Entkoppelung formaler Integration als auch eine assistierende Umstellung von traditionalen Elementen (d.h. die formale Rationalität rechtlich kodifizierter Entscheidungen wird ergänzt durch eine kohärente milieuspezifische Praxis der Auslegung der formalen Rolle des Amtes). Die Spezifikation formaler Regeln und generalisierender politischer Entscheidungen im Kontakt mit wechselhaften »Organisationsumwelten« ist selbst nicht restlos formal programmierbar (trotz aller Kasuistik von Ausführungsbestimmungen). Sie erfordert immer schon eine Anwendungskompetenz und deshalb Milieubildung als Entwicklung einer performativen Kultur. In diesem Sinne bleibt die praktische Effizienz bürokratischer Herrschaft auf die »traditionalen« Elemente der habituellen Kompetenzen des Personals angewiesen, die in dem Maße »rational« erscheinen, wie die Flexibilitätszwänge komplexer Organisation »Systemrationalität« zu einer jeweils spezifischen Verbindung von formaler Rationalität und praktischer Rationalität performativen Charakters machen. Die kursorischen Bemerkungen zu ineffizienten Konstellationen zwischen Organisation (im Sinne formaler Struktur) und Milieu in bürokratischen Verwaltungen (Ende Teil IV) werfen ein Licht auf die Frage des Verhältnisses zwischen der »traditionalen« Rationalität (formale und Zweckrationalität) und der »rationalen Tradition« (implizite Gewissheit als Applikationsressource). Die (empirisch durchaus mögliche) Überanpassung der intentionalen Orientierung individueller Akteure an die formale Rationalität generalisierter Regeln und an die hierarchische Struktur der linearen »Übertragung« von abstrakten Entscheidungen auf die Einzelfälle (»Amtsschimmel« und formalistische Kuriositäten auf Sachbearbeiterebene aus der Sicht der Klienten) führt zu Einbußen der Organisationsflexibilität und damit zu Minderungen der »Gesamtrationalität« der Organisation. Der systematische Gehalt der Überlegungen bestätigt demnach die oben geäußerte Vermutung, dass eine halbwegs funktionierende Verwaltung ein »Hybride« aus performativ kulturellen Horizonten und formal abstrakter Handlungs- und Entscheidungsregulation sein muss.
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Die Institutionalisierung bürokratischer Verwaltung als Bereinigung von sachfremden Handlungsbedingungen hat deshalb generell zwei Seiten: Einerseits die Emergenz organisatorischer Autonomie (in Abhängigkeit von Verrechtlichung), durch die eine Verwaltung jenseits der intentionalen Orientierung der Individuen, gestützt auf das Medium aktenförmiger, schriftlicher Kommunikation, sich selbst organisiert und sich die entsprechenden Motive des Personal selbst schafft (Luhmann 2000); andererseits aber eine korrespondierende und von der formalen Organisation nicht selbst kontrollierbare Milieubildung. Mitgliedschaft, die organisationssoziologisch als zentrale Figur der formalen Struktur angesehen wird, erhält dadurch selbst einen zwiespältigen Charakter: Die »Identität« eines Mitglieds ist aus der Sicht der Organisation formal und rechtlich definiert. Zugleich aber wird die Identität als Mitglied aus der Sicht der Person habituell und in Abhängigkeit von einem spezifischen Milieu integriert. Verwaltungshandeln besteht deshalb nicht allein in abstrakten Entscheidungen, Programmen und Einzelfallbehandlungen, sondern auch in der »Übersetzung« zwischen jenen unterschiedlichen Mitglieds-Identitäten, über die (zum Teil) die Übersetzung zwischen der formalen Seite der Organisation und dem relevanten Milieu, schließlich die Übersetzung zwischen Organisationen und ihren Umwelten läuft (Renn 2006: 416ff., 432ff.). Die Umstellung der Verwaltung auf die sachliche Rationalität der Verwendung und »Bewirtschaftung« von Herrschaftsmitteln ist deshalb als bloße Durchsetzung von organisationaler Zweckrationalität allein nicht rational. Die »Rationalisierung« von Organisationen und auch die »Rationalisierung« von gesellschaftlichen Konstellationen zwischen Organisationen und anderen Teilsphären, kann darum – im Kontrast zur Weber’schen Version der Modernisierung entlang des Leitfadens eines »Rationalismus der Weltbeherrschung« (Schluchter 1980) – also nicht ausschließlich in der zunehmenden Anpassung von Organisationen (und von Milieueinheiten in ihrer »Umwelt«) an die formale Rationalität abstrakt integrierter Handlungszusammenhänge bestehen. Der – hier metaphorisch so bezeichnete – Unterschied zwischen einer (soziologisch!) »traditionalen Rationalität« und der »rationalen Tradition« von Handlungs- und Anwendungsroutinen hat deshalb Konsequenzen für die Frage nach der »Rationalität zweiter Ordnung«. Wann ist ein spezifisches Verhältnis zwischen Organisation und Milieu im Feld empirischer Institutionalisierungsprozesse selbst »rational«, und an welches Rationalitätskriterium ist dabei zu denken? Darin liegt ein komplexes Rationalitätsproblem, zumal weder die Rationalitätskriterien formaler Organisationen noch die praktischen Rationalitäten von Milieustrukturen für die Rationalität ihres Verhältnisses zueinander allein maßgebend sein können. Was (von wo aus) als eine vernünftige Beziehung zwischen expliziten Rationalitätskriterien und habituellen Konventionen »korrekter« Praxis gelten kann, lässt sich – wie oben in Teil III ausgeführt – angesichts der modernisierungsskeptischen Evidenzen der jüngeren
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Theoriediskussion kaum mehr eindeutig, explizit und abstrakt bestimmen, denn die Verwendung eines Rationalitätskriteriums muss sich selbst mit der Pluralisierung solcher Kriterien durch die Differenzierung von Rationalitätssphären konfrontieren. Es ist stattdessen Aufgabe einer »bottom up« Analyse konkreter Übersetzungsverhältnisse, möglicherweise typenspezifische Modi der reflexiven Einstellung auf Rationalitätsdifferenzen zu untersuchen. Damit bleibt die Frage, was gesellschaftliche »Rationalisierung« bedeuten könnte, vorerst offen, ohne allerdings in schroffer Gegenreaktion zur alten Vernunftteleologie als sinnlos verabschiedet werden zu müssen. Auch wenn der Erfolg nachhaltiger Institutionalisierungen nicht aus einer Zunahme »realistischer« Sachangemessenheit (denn die Sache selbst wandelt sich durch diese Institutionalisierungen) und noch weniger aus den Absichten der beteiligten Individuen (die »das« nicht gewollt haben) zu erklären ist, bleibt uns die alternative Möglichkeit eines positiv artikulierten Metanarrativs der Modernisierung verschlossen. Max Weber jedenfalls hat an zentraler Stelle seiner Rekonstruktion der okzidentalen »Entzauberung« sicher nicht ohne Hintersinn einen »Geist« des Kapitalismus beschworen. Und darin liegt eine amüsante Äquivokation: Die »Geister«, die man rief, dekliniert der methodische Individualismus herunter auf die Ebene der mentalen Orientierung wirklicher Menschen, d.h. der »Geist« ist Chiffre für einen idealtypischen subjektiven Sinn; andererseits hat der Geist einer rationalen Wirtschaftsordnung und der rationalen Verwaltung den Charakter eines objektiven Sinnes, der sich nicht in der Sachangemessenheit von rationalen Handlungsweisen erschöpft, sondern auf einen historischen Sog anspielt, der sich hinter dem Rücken der Akteure »selbst« verwirklicht, bis er schließlich die Form eines umgehenden »Gespenstes« annimmt, das denen, die dem »Geist« nun unterworfen sind, als fremde Macht entgegentritt. Dass darin etwas Unvernünftiges liegt, kann man getrost vermuten, auch wenn die soziologische Rationalitätstheorie ihren Stein auf ewig immer neu bergauf zu rollen haben wird.
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6. Vertraute Fremdheit und desperate Vergemeinschaftung
Ethnizität und die doppelte Normalisierung kultureller
Differenz in der Moderne
I. K onstruierte A lterität ? In der Moderne bilden das Vertraute und das Fremde keinen einfachen Gegensatz, sondern Fremdheit ist in bestimmten Formen alltäglich vertraut geworden (Nassehi 1990). In einfachen Verhältnissen (d.h. in verhältnismäßig undifferenzierten gesellschaftlichen Lagen) hebt sich der Tendenz nach das Vertraute vor dem Gegensatz zum Unheimlichen ab, und der Bezirk des »Eigenen« ist als dichte praktische Alltagswelt geformt, von äußeren Dunkelheiten wie von verdächtigen »Anderen« abgegrenzt (und sie ist gerade damit von dem Anderen abhängig, vgl. Kristeva 1990 und Janz 2001). In modernen, differenzierten und komplexen sozialen Alltagswelten treten hingegen mindestens zwei (normalisierte) Formen der Fremdheit auf und auseinander: die bloße Anonymität, die z.B. im Verhältnis zwischen abstrakt identifizierten und formal »integrierten« Mitbürgern und Konsumenten herrscht, und die polemogene kulturelle Fremdheit, die zwischen vermeintlich geschlossenen »Kulturen« gesucht und in diesem Verhältnis in der Form stereotyper Zuschreibungen materialer, womöglich bedenklicher bis bedrohlicher, Differenzen konstruiert wird. In der Moderne treffen nicht einfach »Kulturen« an sich aufeinander, sondern es werden Konfrontationen und Kontraste auf pragmatischer Ebene im Lichte semantischer oder auch diskursiv expliziter »Kulturkonstruktionen« ausgelegt, Zugehörigkeiten strategisch »konstruiert« und essentialistische Vorstellungen kultureller Eigenheiten wie Fremdheiten in die Arena »identitätspolitischer« Kämpfe getragen (vgl. Ha 1999; Beck-Gernsheim 1999: 102ff.). Der »Kampf der Kulturen« (Huntington 1996) ist zuerst ein rhetorischer Kampf um die kulturelle Hegemonie einer essentialistischen Auslegung konkurrierender »Kulturen«, die genau jene soziale Konstruktion geschlossener Kulturen, vor
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der sie zu mahnen vorgibt, befördert, indem sie sie als Tatsache ausgibt.1 Auf welcher Ebene und durch wen, mit welchen pragmatischen Folgen werden also »Kulturen« und entsprechende Differenzen wie Fremdheiten »konstruiert«? In jedem Falle sind Phänomene kultureller Fremdheit unter den Bedingungen der Moderne vielfältig gebrochen und treten in jeweils unterschiedlicher Gestalt, als jeweils unterschiedliche »Konstruktionen« in Erscheinung entlang der ihrerseits mannigfaltigen Grenzen zwischen differenzierten Handlungszusammenhängen, zwischen denen in unterschiedlichen Formen übersetzt wird (Renn 2006a). Eine entscheidende Differenzierungsfolge besteht deshalb darin, dass kulturelle Lebensformen in der Moderne strukturell auf den Weg einer reflexiven Distanzierung von der ungebrochenen Selbstverständlichkeit des »taken for granted« (Schütz) lebensweltlichen Hintergrundwissens gedrängt werden. Kulturen, worin immer ihre Substanz bestehen oder bestanden haben mag, müssen sich als explizite »Kulturen«, als von außen semantisch konstruierte und mit einem Namen belegte Handlungs- und Deutungszusammenhänge (die zu Personenverbänden substantialisiert werden), entdecken und entsprechend »von innen« explizieren. Die reflexive Haltung zu polyvalenten Fremdzuschreibungen der jeweils eigenen Identität ist so unausweichlich wie die Kontrasterfahrungen in pluralisierten Umgebungen. Kulturelle Fremdheit ist darum auf doppelte Weise »normalisiert«, sie ist strukturell in »multikulturellen«, multiethnischen durch Migration und Lebensstildifferenzierung polychrom gewordenen Konstellationen auf alltägliche Weise an der Tagesordnung, und sie wird in der Explikation pragmatischer Kontrasterfahrungen semantisch normalisiert, d.h. auf explizite Begriffe bzw. Stereotype gebracht, die stets einen essentialisierenden Sog ausüben, gegen den unter Umständen Praktiken der »Resignifikation« aufgeboten werden müssen (Butler 1998; Benhabib 2002: 12f.). Diese Reflexivität kultureller Differenzierung betrifft auch die soziologische Analyse auf doppelte Weise, da sie nun einerseits gezwungen ist, sich differenzierungstheoretisch zu positionieren, sofern sie unterschiedliche Ebenen der Fremdheitszuschreibung auf den Begriff bringen will, andererseits 1 | Die Analyse von Huntington (Huntington 1996 und 2000; vgl. kritisch: Riesebrodt 2000: 15ff.) kommt insofern selbst als ein soziales Phänomen in Betracht. Die implizite Aussage der auf politische Beratung gerichteten Kulturvergleiche der »Harvard Academy for International and Area Studies« steckt im methodischen Setting. Es lässt die Überprüfung der unterstellten klaren Abgegrenztheit und substantiellen Einheit von »Kulturen« gar nicht zu, denn diese Unterstellungen sind konstitutiv z.B. für die binäre Gegenüberstellung von (zwanzig) entwicklungsfördernden oder -hemmenden Kulturmustern bzw. Einstellungen (Grondona 2000) wie auch für die quantitative Untersuchung der Korrelationen zwischen »familistischen« oder »katholischen« (National-)Kulturen und (subjektiv eingeschätzter) Korruptionsintensität (Lipset, Lenz 2000: 149ff.).
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mit ihren Kategorisierungen kultureller Gruppen und Lebensformen selbst zu einer Stimme im sozialen Konzert der Fremdheitskonstruktion und ‑bearbeitung wird. Eine generalisierte, vielleicht sogar universalistische Analytik der »Konstruktion« kultureller Fremdheit, die sich der subjektiven Konstitution und der sozialen Konstruktion kultureller Differenz mit den vermeintlich allgemeingültigen Mitteln phänomenologischer oder anthropologischer Theoriebildung annehmen will (vgl. Nell 2012: 145ff.), steht vor dem Problem der sozialen Kontingenz von Fremdheitsformen. Sie muss die eigenen Generalisierungen davor bewahren, der sozialen Hypostase substantialistischer Dif ferenzunterstellungen und ‑zuschreibungen (sowie der darin angelegten »Exotisierungen« und Exklusionen) aufzusitzen und zuzuarbeiten. Anders gesagt: Sie muss es vermeiden, konstruierte Differenzen, vor allem semantische Abgrenzungen zwischen Gruppen zu reifizieren, was sie noch nicht dadurch leistet, dass sie allen Vorstellungen und Semantiken konstruktiven Charakter zuschreibt. Denn die Relativierung von vermeintlich substantiellen kulturellen Identitäten durch die Aufdeckung des konstruierten Charakters nimmt sich selbst zurück, sobald sie diese Konstruktion unter der Hand einer geschlossenen Gruppe, eben einer »Kultur« zuschreibt. Die soziologische Analyse wahrt also zwar dadurch Abstand zur Essentialisierung von »Kulturen«, die sich gegenseitig fremd erscheinen, dass sie die entsprechenden Erfahrungen von Fremdheit und Wahrnehmungen von Differenz als »Konstruktionen« betrachtet. Aber bei Lichte besehen besagt diese Relativierung wenig, wenn denn für die wissenssoziologische Analyse ohnehin alle soziale Realität als Konstruktion gilt und solche Konstruktionen nun wiederum als »real« gelten, wenn sie von den Beteiligten als real in ihren Konsequenzen definiert werden (»Thomas-Theorem«). Die Soziologie muss deshalb Formen und Typen der Konstruktion von Fremdheit unterscheiden, und das bedeutet, dass sie neben die allgemeine phänomenologische und handlungstheoretische Konstitutionsanalyse wenigstens Elemente einer Differenzierungstheorie stellen muss. Nur auf dieser Grundlage kann eine Untersuchung der doppelten Normalisierung von kultureller Fremdheit unter den Bedingungen der Moderne konsequent die implizite Affirmation einer gesellschaftlich verbreiteten Tendenz zur Essentialisierung von »Kulturen« mit all ihren pathologischen Folgen vermeiden. Die folgenden Überlegungen bemühen darum neben konstitutionsanalytischen Elementen die (bzw. eine) soziologische Differenzierungstheorie, um erstens das Phänomen »doppelter Normalisierung« als typisch modernen Effekt und zweitens die Figur einer »desperaten Vergemeinschaftung« als inadäquate und »pseudo-essentielle« aber wahrscheinliche Reaktionsform auf diese Normalisierungen beschreiben zu können.
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II. S ubtile R e -S ubstantialisierung Dieses zunächst abstrakt wirkende Problem eines verdeckten Essentialismus gewinnt Anschaulichkeit, wenn man es auf die gegenwärtige Renaissance ethnischer Deutungen kultureller Gruppen bzw. Gemeinschaften bezieht. Nicht nur muss die zeitdiagnostische Aufmerksamkeit den Zuwachs der sozialen Bedeutung des Schemas der Ethnizität konstatieren, sondern nicht wenige Theoretiker und Diagnostiker kehren im Zuge einer gewissen Erschütterung des »multikulturellen« Optimismus2 mehr oder weniger ausdrücklich zu einer soziologischen Substantialisierung ethnischer Gruppenbildungen und Identitäten zurück. Diese Wendung hat viele Gesichter. Es wird zum einen verhältnismäßig nüchtern zur Kenntnis genommen, dass bei Widerständen gegen Globalisierungseffekte (Appadurai 1996; Castells 2004) oder gegen Anerkennungsdefizite (Benhabib 2002) im nationalstaatlichen Rahmen in den letzten eineinhalb Jahrzehnten vermehrt die ethnische Karte gespielt wird, d.h. dass »Identitätspolitik« sowohl in der Selbst- wie in der Fremdzuschreibung einer Ethnisierung der Semantik kollektiver Identität zuarbeitet (Ha 1999: 90ff.; Bielefeld 2001; Schetter 2002). Die politikwissenschaftliche Analyse identifiziert auf dieser Schiene neue Konfliktlinien, die Verteilungsasymmetrien nicht mehr entlang älterer Gegensätze (Konfessionen, Kapital und Arbeit) zum Streitpunkt werden lassen (Leggewie 1997; vgl. Butterwegge 1996). In eine Substantialisierung schlägt die vermeintlich rein deskriptive Bestandsaufnahme aber um, sobald der Ausbruch ethnischer Konflikte und die Rückkehr zu ethnischen Selbstund Fremdbestimmungen als Formen der Wiederkehr des Verdrängten und dieses selbst als eine in der rationalistischen Tradition vergessene natürliche Identität von Personen und Gruppen behandelt wird (Huntington 1996 und 2000; vgl. erneut: Riesebrodt 2000). Die ethnische Gruppe erhält den Status 2 | In der Abwendung vom Modell »multikultureller Gesellschaften« laufen soziale und (manche) soziologische Distanzierungen in entgegengesetzte Richtungen auseinander: In der politischen Polemik und in alltagsweltlichen Semantiken wird die multikulturelle Lebensform mit Hinweis auf die vermeintliche Unterschätzung gleichsam naturwüchsiger Unverträglichkeiten zwischen den »Kulturen« und auf das Integrationsdesaster angeblicher »Parallelgesellschaften« für gescheitert und naiv erklärt. »Integration« wird darum wieder kompromissloser auf Anpassung festgelegt. Die normative politische Theorie der gerechten Koexistenz von kulturellen Gruppen in differenzierten Rechtsstaaten hat geradezu im Gegenteil dem Multikulturalismus (etwa: Taylor 1993; Kymlicka 1995) die implizite Essentialisierung von Kulturen vorgeworfen, um auf die Fluidität kultureller Identitäten und die komplexe Aufgabe der Bestimmung normativ akzeptabler Formen der Koexistenz hinzuweisen (siehe: Bhabha 1996; Benhabib 2002: 49ff; Frazer 1997).
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einer »natürlichen« Antwort auf ein universales Bedürfnis der vollständigen Person, sich als Angehörige einer kulturell homogenen Abstammungsgemeinschaft verstehen zu können. Diese Rückerstattung von Legitimität an die Adresse substantialistischer Deutungen von ethnischen und kulturellen Gruppenidentitäten liegt inzwischen in mindestens zwei unterscheidbaren Varianten vor. Die Hardliner-Fassung knüpft direkt an der zunächst romantischen Idee der Volksgeister und dann an der bei Toynbee und Spengler (auf allerdings verschieden moderate Weise) transportierten Vorstellung der Wesenseinheit von Kulturen als »Völkern« an (Toynbee 1970; Spengler 1963); sie drückt sich in rezenten Analysen aus in den direkten Behauptungen eines »clash of civilizations« oder in entsprechenden indirekten Kausalzuschreibungen. Diese führen ethnisierte Kämpfe und Greuel im ehemaligen Jugoslawien wie in Ruanda modo hydraulico auf langfristig unterdrückte und (im ersten Falle) bei postsozialistischem Druckabfall ausbrechende ethnische Antagonismen und Ressentiments zurück (vgl. Antweiler 1998). Für solche historischen Erklärungen sind ethnische Konflikte verursacht durch angeblich persistente Differenzen zwischen »Völkern«. Im Fall der Erosion staatlicher Ordnungskraft sollen dann zuvor langfristig unterdrückte substantielle ethnische Konflikte als das, was sie lange schon waren, wieder sichtbar werden. Fremdheit entsteht dann nicht im Zuge der Dramatisierung von Konflikten zwischen Gruppen, die sich und die anderen sekundär ethnisch identifizieren, sondern sie wird mit dem Rückzug pazifizierend wirkender Kontrolle, die dann als Fremdherrschaft gelten muss, aus dem Schlummer erweckt, verschafft sich als autochthoner Druck – einmal freigesetzt – Luft (vgl. Harvey 2000). Von dieser ganz ungehemmten Behauptung substantieller Einheiten, Grenzen und Differenzen der Kulturen ist eine moderatere Version zu unterscheiden. Sie nimmt die symbolischen Konstruktionen kultureller oder ethnischer, in jedem Falle aber partikularer und »dichter« Kollektividentitäten als legitime Ressourcen personaler Identität gegen das vermeintlich rationalistische Vorurteil der Modernisierungstheorie gegenüber traditionalen Bindungen in Schutz. Ein parsonianisches Bild gesellschaftlicher Modernisierung, für das sich die Zivilisierung von gesellschaftlichen Verkehrsformen und Identitäten in universalistischen Wert orientierungen und säkularisierten bzw. rationalisierten lebensweltlichen Gewissheiten ausdrückt,3 hat in diesem 3 | Hartmut Esser und Armin Nassehi gehen trotz unterschiedlicher theoretischer Zurüstung gemeinsam von der Voraussetzung aus, dass in der modernen, wahlweise primär funktional differenzierten oder vorzugsweise durch Modelle rationaler Wahl intelligiblen Welt ethnische Selbst- und Fremddeutungen tendenziell funktionslos werden, so dass diese, sobald sie trotz allem in Erscheinung treten, bestenfalls als Regressionen gelten können; siehe: Esser 1988; Nassehi 1990.
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Punkt unterschiedliche Gegner, die unterschiedliche empirische Evidenzen mobilisieren. Sie haben gemeinsam, dass sie partikulare kollektive Identitäten und eine entsprechende Eingebundenheit der Person gegen die Vorstellung eines universalistischen und nur aufgrund »verfassungspatriotischer« Einsichten gebundenen Individuums stark machen. Charles Taylor empfiehlt, den Gemeinschaftsaspekt der Demokratie abzuwägen (Taylor 2002) und legt der multikulturellen Gesellschaft nicht nur die Anerkennung von partikularen kollektiven Identitäten, sondern gar die kulturell legitimierte Partikularisierung von juridischen Geltungsräumen, d.h. von gruppenspezifischen Rechten nahe (Taylor 1993; Kymlicka 1995; vgl. Benhabib 2002: 63f.). Der Kommunitarismus hält der Modernisierungstheorie die vermeintliche Leere universaler und formaler Gerechtigkeitsprinzipien zugunsten einer gemeinschaftlichen (kulturell substantiellen) Idee des guten Lebens vor, und er kritisiert darum an einem formalistischen Liberalismus vor allem das verfehlte Modell einer »unencumbered person« (Sandel 1982: 175f.). Der »postkolonialistische« Diskurs opponiert schließlich gegen die liberale Vorstellung von Toleranz und gegen die multikulturalistische Idee der konstitutionellen Fixierung von kulturellen Grenzen, indem er Partei ergreift für flüchtige und hybride Identitätskonstellationen (Bhabha 1996). Die verzweigten normativen Implikationen dieser Diskussionen verweisen bei aller Komplexität auf ein gemeinsames Problem: das Problem der Referenz von Ausdrücken, die ethnische oder kulturelle Gruppen bezeichnen. Damit ist man wieder bei der Frage angelangt, was unter einer »Konstruktion« kollektiver Identität zu verstehen ist. Die Verbindung von kultureller und ethnischer Identität ist dabei von besonderer Bedeutung, da der Begriff der »ethnischen Gruppe« eine Bezugnahme auf objektive Verbindungen zwischen Personen, auf biologische Abstammung und Verwandtschaft, suggeriert, die jede »bloß« symbolische oder imaginäre Konstruktion von Gemeinsamkeit und Zugehörigkeit oder kontingente Entscheidungen zur Vergemeinschaftung zu transzendieren bzw. real zu unterfüttern scheinen. Dabei zeigen auch flüchtige Blicke in das weitläufige Material, mit dem die Kulturanthropologie die Vielfalt von möglichen und historisch oder regional realisierten Verwandtschaftssystemen belegt hat (Müller 2004: 443ff.), dass jeder Verweis auf die Abgrenzbarkeit einer Abstammungsgemeinschaft, der die historische Extension ethnischer Gruppenabgrenzungen belegen will, eine hoch selektive Symbolisierung bleiben muss. Und deshalb drängt sich schon an dieser Stelle die Vermutung auf, dass es gerade diese Verheißung von Substantialität und Interpretationsunabhängigkeit ist, in der ein (trügerisches) Versprechen auf die Zurückdrängung von Kontingenzerfahrungen liegt, die unter komplexen Bedingungen differenzierter, moderner Gesellschaft an der Tagesordnung sind. Die Ethnisierung von kollektiven Identitäten erscheint darum als eine besonders markante sekundäre »Normalisierung« von kulturellen Differen-
6. Ver traute Fremdheit und desperate Vergemeinschaf tung
zen, deren Pluralität und Kontingenz in der Moderne auf struktureller Ebene zu normalen Phänomenen geworden sind, und sie nimmt aufgrund dieser strukturellen Bedingungen den Charakter einer »desperaten« Form individueller und kollektiver Identitäts-»Konstruktion« an. Um diese Annahmen im Folgenden deutlicher werden zu lassen, sind mehrere Analyseschritte erforderlich: Zuerst ist in aller Kürze an die (unfruchtbare) Opposition zwischen substantialistischen und konstruktivistischen Begriffen der Ethnizität zu erinnern, um den Umweg durch handlungs- und differenzierungstheoretische Überlegungen zu legitimieren. Dieser Umweg erlaubt die genauere Rekonstruktion der genannten »doppelten Normalisierung« kultureller Fremdheit in modernen Konstellationen. Damit wird es schließlich möglich, »Ethnisierung« auf gesellschaftstheoretischer Grundlage – nicht auf der Basis eines fundamentalistischen anthropologischen Credos – als problematische Konstruktion von Fremdheit zu analysieren, die mit der Form einer »desperaten Vergemeinschaftung« einen engen Zusammenhang aufweist.
III. K riterien der »E thnisierung « Die Debatte pendelt – schon lange – zwischen der Unterstellung, Ethnizität sei eine autochthone sowie gewissermaßen »objektive« Identitätsdimension, und der Überzeugung, ethnische Fremd- und Selbstdeutungen wären prinzipiell »ideologisch«, d.h. Produkt selektiver und mehr oder weniger referenzfreier Selbst- und Fremdzuschreibung (eben: ein askriptives Merkmal). Dabei stehen sich – lange vor den Debatten des Multikulturalismus und des Postkolonialismus – die Position eines »Primordialismus« (vgl. Fenton 2003: 73) und das Paradigma der Betonung der »Umstände« gegenüber: Verfechter eines so genannten »Zirkumstantialismus« (Schetter 2002) verweisen, wie Fredrik Barth (Barth 1969) sowie Nathan Glazer und Daniel Moynihan (1963), die in den sechziger Jahren maßgeblich die Integrations-Metapher des »melting pot« in Zweifel gebracht haben, auf die Konstruiertheit ethnischer Identitäten. Nichts anderes bedeutet die Einführung eines umständlichen Begriffs wie der »Ethnizität« (Fenton 2003: 92). Mit der Ausbreitung konstruktivistischer Sozialtheorien verliert die bloße Aufdeckung konstruktiver Züge an ethnisierenden Zuschreibungen allerdings insofern an Trennschärfe (bzw. an ideologiekritischer Eindeutigkeit), als sich in den Zeiten nach der postmodernistischen Zuspitzung des Fiktionalitätsverdachtes eine gewisse Umwertung des »Imaginären« (siehe dazu: Anderson 1991; sowie: Castoriadis 1990) in seiner Rolle für die pragmatische Konstitution praktisch realer, weil wirksamer, Identitätsimagos vollzieht. So hat Arjun Appadurai die globale Diffusion medial vermittelter Identitätskonstruktionen als performativ reale Grundlage von »ethnoscapes« beschrieben
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und gewertet, wobei er die Kategorie des »Imaginären« als Ressource realer »Agency« gegen die reine Fiktionalität »eingebildeter« und »falscher« Identitätszuschreibungen abgegrenzt hat (Appadurai 1996). Eine verwandte Transfiguration des symbolisch interaktionistischen »Thomas-Theorems« findet sich in der Argumentation Manuel Castells. Er entkoppelt zuerst die Begriffe »Staat« und »Nation« voneinander, um schließlich die historische Einheit verschiedener Nationen, die sich nicht innerhalb staatlicher Organisation »verwirklichen« müssen, als autochthone Gemeinschaften zu skizzieren. Dabei genügt ihm der empirische Verweis auf Beispiele von Nationen ohne Staat (Katalonien) und Staaten ohne Nationen (Sowjetunion) als Widerlegung der Anderson’schen (und Gellner’schen) Charakterisierung imaginärer Gemeinschaft, der er die Gleichsetzung von »Imagination« und »Manipulation« zuschreibt (Castells 2004: 30ff.). Castells schließt dabei übermäßig optimistisch von der Abwesenheit effizienter, vor allem staatlich intendierter Manipulation ethnischer Selbstdeutungen auf die »Echtheit« und Fraglosigkeit der narrativen Symbolisierungen ethnischer, im Sinne von: »nationaler« Gemeinschaften. Abgesehen davon, dass es natürlich gleichwohl genügend empirische Beispiele – in Exjugoslawien (Bielefeld 2001), den Hindunationalismus in Indien (Panikkar, Muralidharan 2002; Puniyani 2003) oder in Ruanda (Behrend, Meillassoux 1994; Des Forges 2002) – für manipulative Strategien der Instrumentalisierung ethnisierender Semantik durch staatliche oder ökonomische Eliten gibt, bleiben dabei erhebliche Fragen offen. Woran soll die »Authentizität« ethnischer Deutung kultureller Fremdheit bemessen werden, wenn die Castell’sche Unterstellung des autochthonen Charakters »nationaler« Gemeinschaften sich allein auf die Plausibilität von narrativ begründeten Ansprüchen auf Tradition, Territorium und Brauch aus der Teilnehmerperspektive stützt, wo doch solche mentalen Gewissheiten ebenso in Fällen manipulierter und offenkundig rein phantasmagorischer Ethnisierung von Identitäten nachweisbar sind? Völkische Xenophobiker glauben ja nachweisbar nachhaltig an die Einheit und Überlegenheit der eigenen »Rasse«; und die historische Narration tausendjähriger Kontinuität einer katalanischen Nation hält der gewissenhaften historiographischen Probe auf die Reinheit der Linie auf keiner demgegenüber qualitativ überlegenen Weise Stand. Geklärt wird die Frage nach dem Status konstruierter Ethnizität in dieser Debatte also nicht; deutlich wird vorerst nur, dass die Aufdeckung konstruktiver Elemente in den Narrativen der Abstammung, des kollektiven Ursprungs und der Spezifizierung von Verpflichtungen qua Zugehörigkeit allein keinesfalls genügen kann, um zwischen verschiedenen Formen der »Ethnisierung« und gar zwischen Graden der »Legitimität« und Originalität ethnischer Auslegungen kollektiver Identitäten und kultureller Grenzen wie
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Fremdheiten zu unterscheiden.4 Nur solche Unterscheidungen aber gestatten es, ethnische Selbst- und Fremddeutungen, die eine pragmatische Faktizität und einen entsprechenden Differenzierungsstandard artikulieren, abzuheben von Praktiken und Folgen der »Ethnisierung« (von etwas »eigentlich« anderem). Nur im Ausgang von der Annahme einer zumindest graduell (was auch immer) verzeichnenden Konstruiertheit kollektiver Identitäten im Lichte rituell und symbolisch verwalteter Vorstellungen gemeinsamer Vergangenheit und Situiertheit sprechen wir von Ethnisierung. Erst wenn sich die Zuschreibung ethnischer Attribute beispielsweise in der unbelehrbaren und gegen jede (sachlich angemessene) Revision immunisierten Festnagelung von konkreten Personen auf abstrakte Kollektiveigenschaften vollzieht, durchleuchten wir entsprechende Selbstverhältnisse als Phänomene subtanzloser Zuschreibung und können spezifisch nach der kontrafaktischen bis zwanghaften Konstitution von Fremdheitsstereotypen fragen. Die konkrete Analyse gegenwärtiger Fremdheitskonstruktionen muss also ein Kriterium bzw. eine theoretische Grundlage für die Differenzierung zwischen Formen subjektiver und kollektiver Selbst- und Fremdauffassungen in Anschlag bringen, die es ermöglichen, adäquate von inadäquaten Konstruktionen zu unterscheiden, wenn sie Ethnisierung überhaupt noch in irgendeinem Sinne als »falsche«, dysfunktionale oder unangemessene Typisierung, oder eben: Stereotypisierung von kultureller Fremdheit beschreiben können soll. Dafür ist wenig gewonnen durch die eventuelle Entscheidung eines Grundlagenstreites darüber, ob nun ethnische Selbstbestimmungen und beigestellte Abgrenzungen von »Fremden« generell oder (in welchem Sinne?) prinzipiell fiktional, substanziell etc. sind. Es ist vielmehr relevant, nach spezifischen strukturellen Konditionen zu forschen, durch die ethnisierende Selbst- und Fremdverhältnisse sowohl in den Augen 4 | »Originalität« bemisst sich dabei eben nicht mehr an der substantialistischen Unterstellung des objektiven »Wesens« eines ethnischen oder kulturellen Kollektivs. Die gegenläufige Übergeneralisierung, die dem Dekonstruktivismus den Gedanken der stets verstellenden Supplementierung des Originals in jeder Bezugnahme auf dieses entlehnt, führt allein nicht weiter, da alle möglichen Katzen der kulturellen Fremdheitstypisierung in der Nacht verschollener Originalität gleichermaßen grau wären. Solche Metaphysikkritik gestattet es dann nur, grundsätzlich jede ethnische Abgrenzung von Gruppen als Verzeichnung zu verwerfen – welche (Art der) Abgrenzung dann aber nicht? »Authentische« kollektive Identitäten sind darum nur relational im Verhältnis zu den Konstellationen zwischen Organisationen, Milieus und Personen, die historisch und regional jeweils möglich sind, und stets nur graduell von anderen zu unterscheiden. Entscheidend ist nicht ein kulturhistorischer Nachweis »echter« Kontinuität, sondern die Form des praktischen Umgangs mit Typisierungen aus der Teilnehmerperspektive, die zwischen Stereotypisierung und Situationsflexibilität bzw. Erfahrungsoffenheit variieren kann.
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bestimmter Akteure praktische Signifikanz erhalten als auch einen desperaten, weil pragmatisch zum Scheitern verurteilten kontrafaktischen Status bekommen.
IV. B asale F remdheit und soziale D ifferenzierung Der strukturtheoretische Umweg wählt das Mittel der begrifflichen Generalisierung kultureller Differenzphänomene. Anonymisierung und reaktive Stereotypisierung lassen sich bei hinreichendem Abstraktionsgrad zunächst in Unabhängigkeit von historisch, regional oder soziostrukturell spezifischen Formen der Selbst- und Fremddeutungen rekonstruieren. Auf einer solchen generalisierten Basis lässt sich schließlich die ethnisierende Variante der Stereotypisierung von Fremdheit durch Kontrastierung bzw. vor der Folie differenzierungstheoretischer Eingrenzungen verständlich machen und bewerten. Das Interpretament einer »doppelten Normalisierung« kultureller Fremdheit zielt auf die Rekonstruktion von intentionalen Perspektiven, es bezieht die Konstitutionsbedingungen solcher Perspektiven aber auf die Formen und Folgen der Differenzierung zwischen Personen, Gruppen, Organisationen und »Systemen« in der modernen Gesellschaft zurück. Nicht eine universale subjektive oder lebensweltliche Struktur, sondern die für die Moderne typische Ausdifferenzierung von sozialen Integrationsformen (z.B. die Verzweigung von »Sozial-« und »Systemintegration«, siehe: Lockwood 1964; Habermas 1981) erzeugt und bedingt die genannten gegenläufigen Tendenzen der »Normalisierung« von kultureller Differenz. Dass die moderne (regional allerdings jeweils unterschiedliche) Konstellation von Integrationsformen und integrationsrelevanten Systemen, Medien, Organisationen bezogen auf die Konstruktion von Fremdheit im Vergleich zu einer allgemeinen konstitutionstheoretischen Rekonstruktion einen spezifischen Fall darstellt, lässt sich zunächst handlungstheoretisch zeigen. Soziale Praxis und Interaktion lassen sich im Allgemeinen als permanente Herstellung von Anschlussfähigkeit oder auch Fortsetzbarkeit innerhalb von jeweils spezifischen Situationen auffassen. Der Fluss sozialen Handelns spielt sich ab zwischen den Polen der konkreten Momente stets präzedenzloser Situationen und der nötigen typisierenden Selektivität jeder Fortsetzung angesichts endloser Möglichkeiten (auch wegen der »doppelten Kontingenz«, Luhmann 1984). So gesehen erfordert jede Kommunikation und jede Handlung eine basale Form der »Normalisierung« von je unvertrauten, sprich »fremden« Momenten einer konkreten Handlungssituation. Interaktion basiert (auch) auf dem habitualisierten impliziten kulturellen Wissen (Bourdieu 1979), wie eine Regel, ein Typus, eine Form des Handelns in einer spezifischen Situation »angemessen« (normativ akzeptabel, instrumentell erfolgreich und vor allem als
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Konkretion korrekt) angewendet werden muss; diese Spezifikation, die keine Regel und kein Typus selbst determinieren kann, ist – in Abwandlung einer Bezeichnung von Hans Joas (Joas 1996) – auf die Leistung einer »basalen Kreativität« in der pragmatischen Verwendung von Typisierungen angewiesen. Die Anschlusszwänge des Handelns, die Übertragbarkeit von konkret ausgebildeten Problemlösungen und Routinisierungen in andere Situationen sowie die allgemeine Fähigkeit zur reflexiven Artikulation des performativ gewissen und schließlich in praktischen Krisen ungewissen praktischen Wissens machen Generalisierung erforderlich. Sie setzen die Möglichkeit und die faktische Ausübung der Auslegung von Ereignissen, Objekten, Personen etc. als typische Ereignisse, Objekte, Personen voraus. Typisierung lässt sich in diesem Sinne als eine elementare Normalisierung der relativen Fremdheit von Situationsaspekten begreifen. Diese Normalisierung zieht in die type-token Dialektik der Typisierung5 Momente der Kontinuität als eine Form der Anschlusssicherung ein: Ereignisse, Personen etc. als typische aufzufassen, reduziert die Unsicherheit angemessener Fortsetzung durch eine normalisierende Einsortierung von fremden Aspekten der Situation in stabil gehaltene Erwartungsschemata. Das gilt für alle Formen sozialen Handelns, bei dem »Verhalten« durch die intervenierenden Instanzen kulturellen Wissens, normativer Einstellungen und intentionaler Entwürfe sowie durch die Ausrichtung auf ein soziales (selbst intentionales) Gegenüber zum Handeln wird. Wenn ein Handlungszusammenhang, d.h. primär eine Praxis als kulturelle Lebensform, zugleich relativ stabil und hinreichend flexibel innerhalb einer wechselhaften Umgebung (nicht: Umwelt im systemtheoretischen Sinne) sein soll, muss sowohl die Generalisierung von Ereignissen und Momenten zu Typen als auch die Spezifikation von Typen zu konkreten Gegenständen, Personen etc. auf die Intersubjektivität einer relativen Gleichsinnigkeit gemeinsamer Praxis und eines geteilten impliziten Wissens zurückgreifen können und zugleich diese Gleichsinnigkeit reproduzieren. Auf der Generalisierung und Typisierung bauen schließlich unterschiedliche Institutionen abstrakter Vergesellschaftung auf. Aus unscharfen Typisierungen (Analogien, Transduktionen, vgl. Piaget 1993: 292ff.) werden Kategorien, Klassifikationen, Begriffe; aus praktischen Routinen und impliziten Regelmäßigkeiten werden ausdrückliche Regeln, Vorschriften, Rechte und technische Normen. Diese Explikationen des impliziten praktischen Wissens verdichten sich – auf der Basis von Kommunikationsmedien – zu interaktionstranszendenten sozialen Systemen (Renn 2006a). Formen der sozialen Diffe5 | Gemeint ist hier das Ineinandergreifen von Typenbildung und Typenverwendung, die bei der praktischen Inanspruchnahme reflexiver Urteilskraft das Typisierte nicht ohne den Typus zu fassen bekommen, zugleich aber an den »nichtidentischen« Momenten des Typisierten entlang den Typus umzubilden in der Lage sind.
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renzierung affizieren deshalb die gesellschaftliche Funktion des kollektiven impliziten Wissens. Die Pluralisierung und die Abstraktion von Vergesellschaftungsformen führen in der modernen Gesellschaft zur strukturellen Einheit von Differenzierung und Interdependenz (nicht schon: Integration) zwischen abstrakten und konkreten Sphären sozialer Integration (funktionale, kulturelle und segmentäre Differenzierung stellt »Kulturen« als »Kulturen« neben »Kulturen« und zusätzlich alle diese neben, zwischen und in Märkte, Administrationen, Öffentlichkeiten etc.). Formalisierung und Abstraktion führen zu Organisation und zu »Systemen« verselbständigter Kommunikation bzw. zu autonomen »Rationalitätssphären« (Weber). Mit der Komplexität des sozialen Gefüges verwandelt sich auch das Verhältnis zwischen Person und Gruppe, denn Differenzierung (inklusive abstrahierter Integration) verändert den Sinn von Zugehörigkeit. Die »Inklusion« von einzelnen Personen wird partiell umgestellt und pluralisiert. Die Person gehört nun nicht allein und nicht einmal primär einem Milieu, einer Familie, einer Szene oder einem Netzwerk an, sondern sie taucht jetzt in je kontextspezifisch selektiver Form auf in der Verwaltung, auf dem Markt, in medialer Öffentlichkeit, als Konsument, Klient, Patient und Staatsbürger. Das zeigt sich u.a. als struktureller Übergang von Korporationen zu Organisationen, also als Ausdifferenzierung von formalen Rollen, schließlich in der Differenzierung von Mitgliedschaft und Zugehörigkeit. Diese Differenzierung wirkt sich durch die Identität der Person hindurch aus, indem sie heterogene Anforderungen an die Person und Bindungen der Person nach sich zieht. Die soziale Position des Einzelnen wird in komplexen, vorzugsweise »modernen« Sozialstrukturen nicht mehr nachhaltig durch Verwandtschaft und Zugehörigkeit bestimmt, sondern notwendig auch durch Mitgliedschaft und erworbene Merkmale (Nassehi 1990; Hahn, Bohn 1999; vgl. auch: Renn 2002).6
6 | Durch und in formaler Organisation verengt und spezialisiert sich der Zugriff auf Personen zur sozialen Typik von abstrakten Rollen. D.h. die soziale Referenz auf eine Person konzentriert sich hier auf abstrakte typische Eigenschaften (Leistungsberechtigte, Schadensersatzpflichtige, Gewerbetreibende) und auf die numerische Identität, die in Gestalt der Kategorien des bürokratischen »Personenstandswesens« Aussortierbarkeit einer einzelnen Person gewährleistet. Die numerisch identifizierte, typisierte Person teilt relevante Eigenschaften mit vielen anderen, muss dabei aber als einzelne Person für organisierte Zugriffe erreichbar bleiben. Die soziale Identität als klassifizierende Zuordnung folgt dann der numerisch besonderen Konjunktion von allgemein typisierten Prädikaten (vgl. zur Unterscheidung zwischen numerischer, sozialer und qualitativer Identität: Habermas 1988).
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V. D ie V er änderung von »H orizont-Triangul ationen « Diese Entwicklung – nur äußerst grob skizziert entlang der gängigen Charakterisierungen von Formen und Folgen funktionaler Differenzierungen – bedingt die Normalisierung von Fremdheitserfahrung, die sich in den unterschiedlichsten Handlungssituationen jeweils als Auffälligkeit kommunikativer Grenzen zeigt. Die erste Seite der doppelten Normalisierung besteht in der Tendenz der allgegenwärtig erhöhten Wahrscheinlichkeit von Interaktion zwischen Angehörigen erheblich, d.h. kommunikativ auffällig, differenter kultureller Milieus. D.h., Personen treffen notorisch auf Personen, die anderen (und vielleicht mehreren) »Habitusgemeinschaften« pragmatisch hinreichend geteilten impliziten Wissens angehören. Der Kulturunterschied macht sich hier als kommunikative Hürde intentional und sequentiell – in der Einstellung der Akteure und in der Fortsetzung von Interaktion – bemerkbar. Diese kulturelle Differenz hat primär gar nichts mit den gewöhnlich präsentierten Beispielen für »interkulturelle Kommunikation« zu tun, bei der unter der Hand von einer holistischen Kulturkonzeption aus immer schon »geschlossene« kulturelle Großgruppen oder gar »Nationen« in Opposition zueinander gebracht werden. Nicht erst der vermeintliche Repräsentant einer schon als fremd typisierten Gruppe (der »Kurde«, der »Sikh«, die »Lombardin« etc.), sondern schon der einzelne Nachbar, die Kollegin, der zuständige Sachbearbeiter oder die Ärztin gehören in diesem Sinne einer »anderen« Kultur an, sobald sie in der Kommunikation mir fremde implizite Gewissheiten voraussetzen; und diese Erfahrung wird hochwahrscheinlich und damit »normal« – weil abstrakte Integration (d.h. generalisierte Inklusion in funktional differenzierte und jeweils spezialisierte Kommunikationsräume) die Koexistenz und die Berührung vieler verschiedener konkret (praktisch) integrierter Milieus und Identitäten wahrscheinlicher macht. Diese Erfahrung von Fremdheit ist keine Minoritäten-Spezialität. Sie ist nicht exzeptionell wie im Fall des Schütz’schen Fremden (Schütz 1972; vgl. dazu: Nell 2012), der indirekt an der kulturellen Homogenität einer Gesellschaft orientiert bleibt und sozusagen einen Antrag auf Aufnahme an die Majorität stellt (vgl. Janz 2001), sondern sie ist generelles Charakteristikum einer durch Abstraktionen ermöglichten Kooperation zwischen anonymen Gegenübern. Moderne Formen der Vergesellschaftung – das ist Standard der soziologischen Klassik und beispielsweise von Simmel schon ausführlich beschrieben (Simmel 1992) – erzeugen Fremdheit zwischen alltäglich nahen Personen als Folge von Differenzierung und gleichzeitiger Abstraktion von Integration, d.h. aufgrund von Formalisierung und Standardisierung von Kommunikation, die durch »symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien« Chancen auf Kooperation gewähren. Derart strukturierte Begegnungen zwischen Personen erlauben es, weitgehend auf substantiell ge-
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teiltes, spezifisches und in gemeinsamer Praxis erworbenes und bestätigtes »lebensweltliches Hintergrundwissen« zu verzichten. Die Pluralisierung von Integrationsweisen macht sich bemerkbar in der Auswechslung von Horizonten, auf deren Grundlage Personen in der direkten Interaktion kommunizieren können: Innerhalb gering differenzierter, beispielsweise in segmentär gegliederten Gesellschaftskonstellationen beruhen Verständigung und wechselseitige Erwartungserwartungen weitestgehend auf geteiltem implizitem Wissen: Über die Triangulation zwischen den intentionalen Horizonten (mindestens) zweier Personen und einem geteilten kulturellen Milieu kann praktisch hinreichend gemeinsames implizites Wissen zur Handlungskoordination genügen. Es lohnt sich, an dieser Stelle den Begriff der »Triangulation« einzuführen und etwas genauer zu erläutern, da die erste Normalisierung (die ubiquitäre Anonymisierung) strukturtheoretisch als Tendenz zur Auswechslung typischer Triangulationselemente verständlich gemacht werden kann. Mit dem Begriff der »Triangulation« wird hier auf die basale Form der praktischen Konstitution hinreichend übereinstimmender, »gleichsinniger« Intersubjektivität Bezug genommen (nicht auf gleichlautende methodologische Konzepte): Die Intention von ego lässt sich auf der Ebene der Interaktion in die Intention von alter (durch ego oder alter) »übersetzen«, indem der pragmatische Horizont eines Milieus, die praktische Einheit einer kulturellen Lebensform als ein drittes »Sinnsystem« mit den intentionalen Horizonten von ego und alter trianguliert wird. Wenn nämlich die jeweiligen intentionalen Sinnzuschreibungen (respektive »Konstitutionen«) foro interno personenspezifisch sind (vgl. Schütz 1974: 140), muss jener Milieuhorizont von den Deutungen, die die Personen von diesem Horizont ausbilden, unterschieden werden – nur dann lässt sich die »Intersubjektivität« der Bedeutung wie auch die praktisch hinreichende Übereinstimmung von Typisierungen in situ als interaktiv erzeugte, nicht aber schon als gegebene und dann genutzte Intersubjektivität rekonstruieren. Die Differenz von Bedeutungen einer Handlung (für einerseits ego, andererseits alter) wird durch die Triangulation von Milieuhorizont und personalen Übersetzungen überbrückt. Die Handlungen und Äußerungen verschiedener Personen können aneinander anschließen, einander fortsetzen, auch wenn man – anders als in repräsentationalistischen Handlungs- und Kommunikationsmodellen – bei der Rekonstruktion dieser Möglichkeit von der Identität der Bedeutung als intersubjektiver Ressource nicht ausgehen kann. Was ego und alter in ihrem intentionalen Horizont mit einer Handlung verbinden, bleibt different; die Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen Milieu (habituelle Verankerung in der gemeinsamen Praxis im Sinne von: Bourdieu 1979) garantiert
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aber pragmatisch hinreichende Ähnlichkeit des jeweiligen impliziten Wissens.7 Triangulation bedeutet dann beispielsweise mit Bezug auf das Schütz’sche Problem des »Fremdverstehens« (Schütz 1974), dass sich ego die Intention von alter im Zuge des übersetzenden Rückgriffs auf ein drittes, von beiden Intentionen unterscheidbares Element, die semantisch-pragmatische Einheit des Milieus (als Einheit einer Praxis), hinreichend klar machen kann.8 Die Normalisierung von Fremdheit durch moderne Konstellationen zwischen integrierten Teilzusammenhängen beruht nun im Wesentlichen auf der Differenzierung von typischen oder paradigmatischen Triangulations-Elementen. Die Anonymisierungsschübe, die in der Ausdifferenzierung abstrakter Medien der Koordination von Handeln und Kommunizieren begründet liegen, bedeuten gegenüber der paradigmatischen Milieuabhängigkeit der Kommunikation eine Tendenz zur häufigen und dauerhaften Auswechslung des dritten Elements der praktischen Triangulation: Nicht Milieu- bzw. kultureller Horizont, sondern formale Organisation und abstrakte Systeme bilden den (zu übersetzenden) gemeinsamen Bezugshorizont einander fremder Gegenüber. »Verständigung« im schlichten Sinne einer anschlussfähigen und pragmatisch erfolgreichen Kommunikation setzt dann geringere spezifische Kenntnis des personalen Gegenübers und vor allem weniger ausführliche gemeinsame praktische Vergangenheit voraus. Das soziale Handeln lässt sich über die Triangulation zwischen getrennten Intentionalitäten und formalen Handlungszusammenhängen abwickeln. Das heißt z.B., dass die Person ihre Deutung der kommunikativen Züge des Gegenübers abkürzend über die formalen Charakteristika einer standardisierten Rolle abwickelt, auf Details verzichtet und gewissen abstrakten Stereotypisierungen vertraut. »Systemvertrauen« (siehe Luhmann 1973 und Endreß 2001) nimmt in der Interaktion zwischen Personen die Form des Zutrauens in Rollenkonformität des konkreten aber doch abstrakten anderen an. Diese Abstraktion des Gegenübers, das mir in der 7 | Dabei ist an Wittgensteins »Familienähnlichkeit« zu denken, die als Alternative zur Identität der Exemplare eines Typus die vage und ausfransende Einheit von (auf wechselhafte Weise) praktisch analogisierten Einzelheiten unterstreicht. 8 | Diese Unterscheidbarkeit zwischen dem Milieu und den intentionalen Horizonten bedürfte weiterer Erläuterungen (siehe: Renn 2006a, Kap. VI). Der Anlass für eine solche Unterscheidung liegt in der handlungstheoretischen Kritik an der Unterstellung identischer Bedeutungen; nicht nur ist sie plausibel zu bestreiten (siehe etwa: Waldenfels 1980), sondern bei Lichte besehen würde Bedeutungsidentität (ego und alter »lesen« Handlungsereignisse in kompletter Übereinstimmung) Handeln und Kommunikation verhindern. Die Konsequenz daraus lautet, dass die Einheit einer Lebensform, das »lebensweltliche« Wissen in einem Milieu und dessen performative Einheit, sprich: Praxis, von den Versionen, die die individuellen Akteure intentional »repräsentieren«, abweichen muss.
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Interaktion – aber auch medial »repräsentiert« – begegnet, zum sozial identifizierten Exemplar eines aus abstrakten Bestimmungen und ihrer Konjunktion gewonnenen Typus (z.B. »eine« arbeitslose Anästhesistin mit sozialdemokratischem und esoterischem Hintergrund) ist die intentionale Realisierungsform sozialer Anonymisierung.
VI. D ie z weite N ormalisierung : R e ak tion auf A nonymisierung Kulturelle Differenzen fallen im Zuge der beschriebenen Anonymisierung zunächst pragmatisch durch die Begrenztheit der Reichweite impliziten (performativ kulturellen) Wissens auf – man weiß an dieser Grenze dann nicht, worauf man sich verlassen kann. Diese Kulturdifferenzen sind als solche zunächst noch ganz neutral gegenüber sekundären Explikationen von habituell integrierten Kollektiven zu »Ethnien«, »Nationen«, »Religionsgemeinschaften« oder »Völkern«. Doch bei dieser Anonymisierung bleibt der Umgang von Personen in modernen Koexistenzräumen nicht stehen. Die Identitätsdimension expliziter Zugehörigkeit und die entsprechende Zuordnung von Einzelmenschen zu kollektiven Identitäten, die nur in einer »dichten Beschreibung« artikulierbar sind, verschwinden nicht im Sog einer Formalisierung von modernen Integrationsformen. Implizites praktisches Wissen bleibt überdies sozial funktional (denn auch abstrakte Regulierung muss in Situationen »übersetzt« werden). Allein der Status von Zuschreibungen solcher Identitäten ändert sich. An die Stelle traditionaler Milieueingebundenheit tritt in Reaktion auf die erste Normalisierung von Fremdheit sensu Anonymisierung eine zweite Normalisierung, die als Reaktion auf die verunsichernden Effekte der ersten Normalisierung verständlich wird, wenn diese erste Normalisierung aus der Teilnehmerperspektive als problematische Fremderfahrung aufgefasst wird. Fremderfahrung kann – vor dem Hintergrund des oben beschriebenen Triangulationswechsels – problematisch werden (oder erscheinen) aufgrund der Inkongruenz zwischen der Differenzierung von Integrationsformen einerseits und der räumlichen Strukturierung von wahrscheinlicher Interaktion andererseits. Die Grenzen zwischen sozialen Gruppen sind nicht kongruent mit den Grenzen zwischen formal und abstrakt differenzierten Kommunikationssphären. Modernisierung bedeutet dann bezogen auf kulturell integrierte Gruppen, dass relativ geschlossene Lebensformen nun als Milieu erscheinen, idealtypisch gesprochen: dass »Gemeinschaften« immer weniger für sich selbst den Anschein aufrecht erhalten können, dass (die jeweils eigene) Gemeinschaft mit Gesellschaft, mit der umfassenden Gesamtheit aller funktionalen Institutionen, kongruent bzw. koextensiv sein kann. Die »kulturelle Gruppe« oder die »ethnische Gemeinschaft« kann bezogen auf ihre Funktion für die eige-
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nen Angehörigen nicht mehr alle relevanten sozialen Aufgaben erfüllen, nicht mehr alles relevante Wissen verwalten und vermitteln, nicht mehr alle relevanten normativen Fragen beantworten. Die Auslagerung solcher Funktionen erzwingt eine Vermehrung von Kontrasterlebnissen und Fremdheitserfahrungen sowohl im Verhältnis zwischen kulturellen Gruppen als auch im Verhältnis zwischen ihnen und Einzelpersonen und schließlich zwischen ihnen und Organisationen. »Ethnische« Gruppen sind deshalb von der Diversifizierung und Abstraktion der Vergesellschaftungsformen in modernen Konstellationen allein schon über die Übersetzungsverhältnisse betroffen, in die individuelle Zugehörige einer ethnisch identifizierten Gruppe durch Bildungsinstitutionen, das Militär und Arbeitsmärkte, vielleicht durch Nachbarschaften, sicher aber wenigstens über massenmedial vermittelte Konsum- und Lebensstil-Angebote geraten. Zugehörigkeit ist hier auf der Strukturebene, potentialiter und zum Teil explizit, d.h. de jure, wenigstens der Tendenz nach bereits optional, indem z.B. milieuinterne Normen und Werte subjektiv Alternativen bekommen und angesichts solcher Kontraste begründungspflichtig werden können.9 Grenzen zwischen Milieuzugehörigkeiten kreuzen Grenzen, die von Organisationen und anderen abstrakten Handlungszusammenhängen gezogen werden. Personen sind nicht eindeutig und exklusiv mit einer durch Milieugrenzen bestimmten sozialen Position zu identifizieren, sondern sie werden strukturell und dann auch subjektiv von heterogenen sozialen Differenzierungsweisen gleichzeitig in verschiedene jeweils spezifische Lagen versetzt. Mit hoher Wahrscheinlichkeit dringen deshalb in die Interaktion auch zwischen Personen, die mehr oder weniger intensiv der gemeinsamen praktischen Lebensform eines Milieus angehören, Elemente kommunikativ auffälli-
9 | Deswegen hat die Habermas’sche »Rationalisierung der Lebenswelt« (Habermas 1981) mehrere Bedeutungen. Sie meint nicht nur großflächig die Entzauberung der Welt (Weber) und die »Entkoppelung« von System und Lebenswelt, sondern betrifft auch die internen Verhältnisse kulturell integrierter Kollektive. Solche Gruppen, die über eine gemeinsame Praxis, ein geteiltes implizites Wissen bzw. ein entsprechendes »kollektives Gedächtnis« verfügen (vgl. Halbwachs 1985), können auf die wachsende Konkurrenz durch andere Integrationsinstanzen (Schule, Märkte, Massenmedien, Parteien aber auch andere Milieus) mit der Transformation ihrer internen Kommunikationsform reagieren. Rationalisierung lebensweltlichen Wissens kann dann die milieuinterne Explikation und Legitimation von Werten, Traditionen und Gewissheiten einschließen, sowie die Umstellung ihrer Inklusionsform, die dann z.B. Mehrfachmitgliedschaften und -zugehörigkeiten ihrer eigenen Angehörigen tolerierbar macht (auf diese »Liberalisierung« des Selbstverständnisses kultureller Gruppen, die ein Recht auf Anerkennung ihrer Eigenart dann »begründen« können sollen, setzt mehr oder weniger implizit die multikulturalistische Demokratietheorie, vgl. dazu die oben unter »II« stehenden Ausführungen).
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ger Fremdheit ein (etwa: Generationenkonflikte).10 Gemessen an der relativen Überschaubarkeit und entsprechender Vertrauensressourcen der typischen milieubasierten Triangulation, begegnen sich in modernen, differenzierten Arrangements von sich kreuzenden Grenzen unentwegt »Fremde«. Und das kann – je nach individueller oder auch kollektiver Lage, also je nach Status und Ressourcenausstattung von Individuen und Milieus – mehr oder weniger unbequem sein. Vor allem im Motivhaushalt solcher Personen, die in den Kategorien abstrakter, formaler und leistungsbezogener Positionierung relativ schlecht abschneiden bzw. exkludiert sind und die deshalb ein Interesse an der Re-Traditionalisierung (Giddens 2001: 51ff.) sozialen Vertrauens haben, öffnet sich dadurch die Pforte zur zweiten Form der »Normalisierung« von Fremdheit. Diese zweite Normalisierungstendenz besteht in der unvollkommenen, selektiven und einem konkreten Gegenüber abstrakten Stereotypisierung »anderer« so genannter Kulturen. Sie wird von der ersten Tendenz (Anonymisierung) provoziert, sofern sie den zentrifugalen Kräften der Fremdheits-Erfahrung erster Art in spezifischen Situationen das Beharrungsvermögen der Stereotypen entgegen zu setzen anbietet. Die erhöhte Wahrscheinlichkeit, dass in der Interaktion und Kommunikation Vorannahmen und kommunikative Voraussetzungen fehlen oder scheitern, und schon deshalb permanent revidiert werden müssen, also als unzuverlässig und kontingent offenbar werden, setzt die Idealisierungen der zuverlässigen Kontinuität und Stabilität eigener Vorannahmen und Gewissheiten (Schütz) unter Druck, so dass Unsicherheiten anwachsen. Das wird durch die semantische Normalisierung von Fremdheits-Typen (zwanghaft aber funktional notwendig) kompensiert. Die »zweite Normalisierung« stellt als Stereotypisierung von »fremden« Gruppen (aber auch als Selbststereotypisierung zum »Fremden«) unter der Bedingung der ersten Normalisierung eine hoch wahrscheinliche Reaktionsform dar. Stereotype Deutungen bilden ein imaginäres Substitut der Kenntnis des konkreten kulturellen Hintergrundes des Gegenübers. Das Substitut wird erforderlich, soweit die formale Zuschreibung anonymer Eigenschaften des anderen nicht genügend erscheint, zugleich aber die interaktiv gewonnene praktische Kenntnis des anderen nicht erreichbar ist, schon weil die dafür erforderliche Dauerinteraktion mit allen potentiellen Gegenübern unmöglich ist. Die zweite Normalisierung tritt der Verunsicherung durch die erste Normalisierung entgegen. Verunsicherung herrscht vor allem dort, wo den Personen die Interaktion mit anonymisierten anderen und auf der Basis rein abstrakter Typisie10 | An dieser Bruchstelle zwischen eindeutiger Zugehörigkeit (man ist »einer von uns, oder einer von den anderen«) und individualisierten Personen, die ihre eigenen »blends« kultureller Muster ausbilden, setzt der sozialtheoretische »Hype um Hybridität« an (so: Ha 2005; vgl. Bhabha 1994).
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rungen unzureichend oder gar nachteilig erscheint, so dass hier der Rückzug auf die Identifizierung von Personen durch eindeutige Milieupositionen nahe gelegt wird – erstens durch einen (empfundenen) problematischen Status der eigenen Person (etwa durch mangelnde Inklusion), zweitens aber auch durch semantische Verlockungen und Suggestionen einer von Eliten propagierten substantiellen kollektiven Identität, die weitreichende Übereinstimmung zwischen den Insidern und zweifelsfreie Geltung der internen kognitiven und normativen Horizonte verspricht. Die semantische (politisch, publizistisch transportierte) Ethnisierung von Zugehörigkeiten versteht es, das Wasser der alltäglichen Verunsicherung angesichts von Marginalisierung und Anonymisierung auf die Mühlen strategischer Mobilisierung zu leiten. Ethnische Zugehörigkeit stellt, wenn sie als substantielle organisiert und artikuliert wird, in einer Umgebung normalisierter Fremdheit eine Suggestion einfacher Verhältnisse und Zugehörigkeiten wie klarer Unterscheidungen und übersichtlicher Eigenschaften der jeweils anderen dar. Normalisiert werden angesichts der normalen Fremdheit anonymer anderer die Stereotype anderer »Kulturen«, die eine Einschätzbarkeit jener vertraut-fremden anderen suggeriert. Gerade weil solche Suggestionen aber angesichts der Pluralisierung von individuellen Personen wenig Aussicht auf Bewährung haben, verlangt die zweite Normalisierung nach der kontrafaktischen Aufrechterhaltung von Stereotypen auch angesichts widerstreitender Erfahrung mit Handlungen und Personen, die ex ante aufgrund solcher Typisierungen vordefiniert wurden. Solche stereotypen semantischen Konstrukte und ihre stereotype Verwendungsweise werden für Personen wie für Organisationen, politisch und privat zugleich zu Ressourcen der Abkürzung und zu Hürden der Flexibilität der Kommunikation – als Ressourcen sichern sie Erwartbarkeit, als Hürden wälzen sie die Kosten dieser Erwartbarkeit als Anpassungs- und Normalisierungsdruck auf die schwächere Seite ab.11 Die dabei eingespannte zuerst »hermeneutische Gewaltsamkeit« der Zuordnung von Personen zu stereotypisierten Kollektiven muss dabei aber nicht unbedingt die offenkundige Form der Volksverhetzung annehmen, sie geht in weltgesellschaftlichen Regionen, die einen hohen Standard zivilgesellschaftlicher Institutionen und Strukturen aufweisen, auf vergleichsweise leisen Sohlen vermittelt über die organisatorische und behördliche Klassifikation, die die numerisch identifizierte Person in formal begrenzte Gruppen, Ethnien oder 11 | Gewalt im Zuge und als Folge von Ethnisierungsstrategien wie in Serbien, Indien oder Ruanda (Harvey 2000; Panikkar, Muralidharan 2002; Des Forges 2002) ist über diesen Zusammenhang auch zuzurechnen auf die indirekt wirksame Strategie von politischen oder literarischen »Ethnopreneuren« (Gupta 2004), ohne dass dabei die vollständige Passivität individueller Akteure vorausgesetzt werden muss, die aus der semantischen Suggestion eine triviale Manipulation machen würde.
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Religionsgemeinschaften einordnet (vgl. Benhabib 2002: 72). Die damit erzielte formale Eindeutigkeit erlaubt es dann, abstrakte Rechte und Pflichten in der Sprache der Jurisdiktion konsistent und jeweils eindeutig zuzuteilen. Die juristischen Begründungen von Abschiebungen gelten zwar dem Einzelfall, subsumieren diesen jedoch unter Bedingungen, die für stereotypisierte Kollektive gelten (etwa: die Lage »der« Homosexuellen in Afghanistan).
VII. D esper ate F ormen kultureller S elbst- und F remdauslegung Personale Identität, die auf die Ressource einer stereotypisierenden Konstruktion der »eigenen Gruppe« wie der »Fremden« zurückgreift und diese zur konstitutiven Grundlage alltäglichen Handelns und Kommunizierens zu machen versucht, wird aufgrund dieser strukturellen Lage »desperat«. Sie bedeutet, sofern sie suggerierte Gemeinschaften als imaginäre Ressource zu mobilisieren versucht und dabei streckenweise durch stereotype Verwendung von Fremdheitskonstruktionen die Eskalation der Fehldeutungen anheizt, eine »desperate Vergemeinschaftung«. Die Suggestion der Übersichtlichkeit und Aufgehobenheit, die den Kern von Ethnisierungen (von eigenen und anderen Identitäten und von Konflikten) bildet, bedeutet vor dem Hintergrund differenzierter Verhältnisse die Aspiration, die Pluralität und Interdependenz von verschiedenen Integrationsformen in komplexer Gesellschaft zurück in die pragmatische Reichweite und unter die praktische, vornehmlich hierarchische Kontrolle eines soziokulturellen Milieus bzw. seiner Normen und Regulierungskraft zu bekommen. Diese Aspiration richtet sich gegen den Zweifel (die Kontingenz des Wissens), gegen die exit option der Person und ihre relative Autonomie auch innerhalb eines kulturellen Milieus. Sie nimmt aus Selbsterhaltungsgründen Anstoß an differenzierten und reflexiven Formen der Perspektivenübernahme, der »Rollenambiguitätstoleranz« und einer gewissen interkulturellen Kompetenz, aber auch an der Abstraktion sozialen Handelns, sozialer Normen und personaler Identitäten durch Markt, Politik und Recht. Der Affekt gegen die (erste) Normalisierung von Fremdheit und Unsicherheit folgt dabei nicht notwendig einer üblen, in der Regel nicht einmal einer sich selbst transparenten Absicht, sondern er stellt sich ein unter dem seinerseits auferlegten Zwang, Kontrasterfahrungen zu unterdrücken. Desperate Vergemeinschaftung kann je nach Lage »von oben«, wie »von unten« motiviert sein: als Rückzugsmanöver von Flüchtlingen und Arbeitsmigranten erster wie zweiter Generation, als Versuch der Selbstethnisierung im Zuge der Bemächtigung von Ressourcen in Anerkennungskämpfen, z.B. im Zuge einer »Identitätspolitik« (Ha 1999; Beck-Gernsheim 2004: 32ff.) oder aber als semantisches Programm von Ethnopreneuren (Gupta 2004), von politischen Eliten, die unter
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dem Banner der »communal politics« (Puniyani 2003) oder des Rechtspopulismus mit der imaginären Prämie auf einfache Verhältnisse um Rückhalt werben (Butterwegge 1996; Bielefeld 2001). Der desperate Charakter einer Ethnisierung als stereotyper Konstruktion von kultureller Eigen- und Fremdheit mit dem Ziel der Wieder- oder Neuvergemeinschaftung ergibt sich nicht allein aus dem »fiktiven« Charakter der semantisch konstruierten kollektiven Identität. Desperat werden solche Identifizierungsangebote vor allem dadurch, dass eine vermeintlich »kollektive« Identität im modernen Falle vom Individuum in Regie genommen und ausgelegt werden muss, gerade weil die imaginäre kollektive Einheit über die pragmatische Basis einer tatsächlich geschlossenen und abgeschlossenen Gemeinschaft nicht verfügt, weil also die affektiv besetzte Imagination ihre soziostrukturelle Referenz eingebüßt hat, so dass die Aufrechterhaltung des Gemeinschafts-Imagos kontrafaktische Dauerbemühung vereinzelter Personen bleiben muss. Verkünden können die kulturelle Konstruktion ethnischer Stereotype Organisationen und Eliten; praktisch gegen alltägliche Gegenevidenzen und aufdringliche Zweifel aufrechterhalten müssen sie aber Individuen in ihren alltäglichen Identitäts- und Ressourcenkonflikten. Gerade die »ethnische« Gemeinschaft bleibt darum zugleich eine jeweils individuelle Fiktion, da dem imaginierten ethnischen Kollektiv nicht wirklich (soll heißen: nicht in performativer Faktizität) eine geschlossene kollektive Praxis entsprechen kann. Die ethnisierte Identität ist dann doppelt fiktiv, wenn das kollektive Muster erstens auf die phantasmagorisch konstruierte, sprich fingierte Geschichte einer Gruppe (als Abstammungsgemeinschaft) gegründet ist, und zweitens die Individuen auf ihrer individuellen Imagination einer ethnischen Gemeinschaft sitzen bleiben, sobald unter den Bedingungen moderner Pluralisierung kein kulturelles Milieu die semantisch konstruierte Geschlossenheit pragmatisch durchhalten kann. Die Individuen müssen das Phantasma ihrer konkurrenzlosen Zugehörigkeit gerade deshalb umso zwanghafter gegen Widerlegungen verteidigen. Anlässe zur Widerlegung sind in der modernen Konstellation pluralistischer Vergesellschaftung die Regel, denn hier lässt sich das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft nicht auf die dichte Bindung einer Gemeinschaft zurückdrehen. In dieser Analyse zeigt sich die Leistung eines struktur- und differenzierungstheoretisch gewonnenen Kriteriums der Unterscheidung zwischen imaginär-desperaten und pragmatisch adäquaten Fremdheitskonstruktionen: Die strukturelle Differenz zwischen einfachen Lebensformen bzw. sozialen Differenzierungsmustern, die zwischen Lebensformen und Habitusgemeinschaften auf allen Ebenen streng segregieren, und komplexen, modernen Konstellationen macht die zwanghafte Stereotypisierung als Verweigerung der Anerkennung von Übersetzungsverhältnissen verständlich (Renn 2006a). Milieuhorizonte müssen innerhalb solcher Übersetzungsverhältnisse von den
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Personen im Sinne flexibler Typisierungen in Situationen übersetzt werden. Und das bedeutet, dass sie die Differenz zwischen individualisierten Personen und »typischen Angehörigen« typischer kultureller Gruppen wahrnehmen und bearbeiten. Das Angebot ethnischer Vergemeinschaftung suggeriert demgegenüber die Erfüllung des Versprechens auf die Rückkehr zu den – imaginierten – Sicherheiten vorpluralistischer Zeiten, sie ist gerade darum in Situationen steigender ökonomischer Unsicherheit, sinkender Zuverlässigkeit personaler Bindung und Vertrauenswürdigkeit und subjektiv erlittener Marginalisierung oder Abwertung attraktiv. Mit dem Interesse des Individuums an der Reduktion von Unsicherheit, an der Wiederherstellung von Einfachheit, Zuverlässigkeit und gesicherter Anerkennung, steigt der Widerstand gegen die Revision ethnisierter Selbst- und Fremddeutungen. Die imaginäre Prämie auf klare Zugehörigkeit senkt die Bereitschaft, angesichts von Kontrast- und KontingenzErfahrungen entlastende Stereotypen zu prüfen und zu revidieren. Das Versprechen auf Sicherheit lässt sich indessen nicht halten.12 Denn das Problem einer desperaten Vergemeinschaftung sind die untilgbaren »Gegenevidenzen«. Zu ihnen gehört die pragmatisch begegnende Individualität des ethnisch stereotypisierten anderen, der faktisch keines der Merkmale des projizierten Genotyps des anderen, fremden ethnos aufweist, oder die aufdringliche Erfahrung, dass administrative Leistungen, Marktinteraktion, massenmediale Kommunikation, Ausbildungswege und auch schon ethnische »Organisationen«, nicht der Solidaritätsform ethnischer Bindung entsprechen. Das heißt nicht, dass der modernen Differenzierungsform ausschließlich hoch individualisierte Einzelgänger, ohne jede gruppenspezifische und partikulare Milieubindung entsprechen. Die Beck’sche Individualisierungsthese (Beck 1994) sieht beispielsweise durchaus »aufgesuchte« kollektive Bindungen für wahrscheinlich an. Ihnen entspräche allerdings der Charakter der »reflexiven«, optionalen und mehr oder weniger provisorischen Zugehörigkeit, die mit einer so genannten »kommunitären Individualität« (Keupp 12 | Die hier vorgetragene differenzierungstheoretische Rekonstruktion des »desperaten« Charakters ethnisierender Identitätskonstruktionen zeigt äußerliche Verwandtschaft zum klassischen Modell des »autoritären Charakters«, mit dem zunächst die Kritische Theorie Vorurteilsstrukturen und spezifisch Antisemitismus auf charakterologischer Basis zu erklären versuchte (vgl. Adorno 1973). Allerdings ist die gesellschaftstheoretische Erläuterung der Verbreitung des vorurteilsbeladenen Sozialcharakters bei Adorno ungleich einsinniger – setzt sie doch die vollzogene Totalvermittlung individueller Identität durch den Identitätszwang der verwalteten Welt und das psychoanalytische Konstrukt einer manipulierbaren »Ich-Schwäche« voraus, wogegen das hier vertretene Argument psychoanalytisch zurückhaltender und differenzierungstheoretisch variantentoleranter bleibt.
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1997) kompatibel bliebe. Die affektive Seite der Zugehörigkeit, zu der Loyalität und Geborgenheiten gehören, wird in einer Semantik der »Ehre« und entsprechenden Praktiken demgegenüber auf »anachronistische« Weise artikuliert. Sie bleibt aus strukturellen Gründen unausweichlich belauert von der aufdringlichen Einsicht in die Kontingenz und die Verpflichtung zu pragmatisch flexiblen Vollzugsformen von sozialen Bindungen. Die moderne Inklusion von Individuen in kulturellen Milieus reflektiert den Pluralismus der Kontexte in der Anerkennung des fluiden Charakters der praktischen Form von Zugehörigkeit der Person zu einer Gruppe. Die kognitive Unterdrückung von Gegenevidenzen durch selektive Wahrnehmung muss im Vergleich zu dieser reflexiven und protheischen Form von Zugehörigkeit die Häufigkeit und Aufdringlichkeit der praktischen Inadäquatheit von Stereotypisierungen ihrerseits steigern; und damit steigt wiederum die Wahrscheinlichkeit, dass die Bereitschaft und der Zwang, selektive Wahrnehmungen und Stereotypisierungen zwanghaft und schlussendlich gewaltsam zu verteidigen, zunehmen. Diese Eskalation wird unterstützt, sobald ein erklärter Gegner – die andere vermeintlich ethnische Gruppe – den gleichen Zwängen folgt, so dass Selbst- und Fremdstereotypisierungszwänge sich auf zwei Seiten ergänzen (im Sinne eines »Sicherheitsdilemmas«, siehe: Posen 1993).13
VIII. V on kulturellen S tereot ypen zu stereot ypisierenden P r ak tiken Die vorstehenden Analysen einer »doppelten Normalisierung«, eines strukturellen »Triangulations-Wechsels« und einer »desperaten Vergemeinschaftung« haben dem Versuch zugearbeitet, die Frage nach Kriterien für eine Unterscheidung zwischen »adäquaten« und »inadäquaten« Konstruktionen der eigenen und der fremden Identitäten zu beantworten. Es ist deutlich geworden, dass ein solches Kriterium, wenn es überhaupt sinnvoll rekonstruiert werden kann, nicht aus einer abstrakten Entscheidung für oder gegen eine 13 | In diesem Sinne stellt also auch das Ziehen der »terroristischen« Karte etwa von Seiten fundamentalistischer oder rechtsradikaler Gruppen eine Externalisierung der Kosten einer kontrafaktischen Identitätsstereotypisierung und ihrer Aufrechterhaltung dar. Das Phantasma ethnischer (und strukturell affiner religiöser) Zugehörigkeit lässt sich leichter vor Gegenevidenzen schützen, wenn die jeweils Fremden, denen man stereotype Grenzziehungen gewaltsam aufzwingt, schließlich selbst die Reifizierung dieses Phantasmas besorgen und auf die Zwänge desperater Vergemeinschaftung mit der Semantik des Kampfes der Kulturen antworten (darum sind »Aussteiger-Telefonadressen« für die De-Eskalation bedeutsamer als Wachdienst-Verstärkungen).
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substantielle oder eine konstruktivistische Vorstellung von Ethnizität gewonnen werden kann, sondern nur mit Rücksicht auf das Verhältnis zwischen semantischen Konstruktionen und pragmatischen Formen des Umgangs mit solchen Konstruktionen und zudem nur unter Bezugnahme auf spezifische Konstellationen gesellschaftlicher Differenzierung. Der Unterschied zwischen einer problematischen Ethnisierung und einer vergleichsweise adäquaten Bezugnahme auf ethnische Artikulationen kollektiver Zusammengehörigkeit zeigt sich vor dem Hintergrund weitreichender Differenzierung zwischen Personen, Milieus und Organisationen als Differenz von Formen des praktischen Umgangs mit ethnischen Selbst- und Fremdheitskonstrukten, anders gesagt: als Differenz zwischen stereotypen Verwendungen von Stereotypen (inklusive der Verdrängung von Gegenevidenzen) und der flexiblen, situations- und personenspezifischen Verwendung von Typisierungen. Dieser Befund hat Konsequenzen für den theoretischen Typus einer Konstitutionstheorie, die es auf generelle Bedingungen der Konstruktion kultureller Fremdheit abgesehen hat. Denn die Unterscheidung zwischen einer erfahrungsoffenen Typisierung von Fremdheit und einer stereotypen Orientierung innerhalb »desperater« Vergemeinschaftung stützt sich auf die Untersuchung von strukturabhängigen interaktiven Verwendungsweisen von Typisierungen, nicht aber von Typen der Typisierung als solchen; diese Unterscheidung (mithin das fragliche Kriterium) entzieht sich darum einer Konstitutionsanalyse, die sich exklusiv auf die Phänomenologie einer intrasubjektiven Sinnkonstitution bezieht. Differenzierungstheoretische Analysen können sich nicht auf die Interpretation subjektiver Reflexe struktureller Konstellationen beschränken (auf die Verteilung subjektiven Wissens). Das zeigt sich bereits in der Bedeutung, die der Prozess der Triangulation für Interaktion überhaupt hat, in der nötigen Differenz zwischen Milieu- oder eben Organisationsperspektiven bzw. -semantiken und subjektiven Deutungen oder Übersetzungen der entsprechenden Sinnhorizonte. Deswegen wird eine phänomenologische Zugangsweise jedoch keineswegs überflüssig; ihr Status innerhalb komplexer Erklärungen muss allerdings präzise angegeben werden können, und dazu kann eine genauere Unterscheidung von Dimensionen des Konstitutionsbegriffs nützlich sein: In der Tradition der Schütz’schen Handlungstheorie ist der Konstitutionsbegriff zweifellos auf den Bezug zu subjektiven Sinnsynthesen festgelegt (Schütz 1974). Schütz übernimmt – und transformiert – den Husserl’schen Konstitutionsbegriff.14 Das Problem des Husserl’schen Konstitutionsbegriffs 14 | Schütz selbst kommentiert diesen Konstitutionsbegriff kritisch, siehe: Schütz 1971; aber zugleich bringt er den Begriff mit der methodischen Wendung zur mundanen Analyse der Lebenswelt im »Sinnhaften Aufbau« selbst in eine problematische Äquivokation, die derjenigen ähnlich ist, die er Husserl vorwirft; Schütz 1974; vgl. Renn 2006b.
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ist nicht allein die exklusive Referenz auf subjektive Innerlichkeit, auf das Medium der Intentionalität, sondern die Neigung, die »Konstitution« in die Nähe der Erzeugung des Sinnes einer Handlung zu rücken. Erzeugung ist gerade im handlungstheoretischen und mundanen Bereich aber ein äquivoker Ausdruck, denn es muss klar unterschieden werden zwischen der »Auslösung« oder auch dem Anstoß (Motiv) zu einer Handlung und der identifizierenden Bestimmung des Sinnes einer Handlung. Hier meint Konstitution dann jeweils Verschiedenes. Die ethnische Auslegung kultureller Fremdheit, die pragmatisch zuerst als kommunikative Ungewissheit erscheint, ist einerseits sozial oder semantisch »konstruiert«, also in intersubjektiver Praxis oder auch in z.B. organisationaler Kommunikation vorentworfen, andererseits wird sie subjektiv »übernommen«. In der Art und Weise dieser Übernahme verzweigen sich stereotype und flexible Vollzugsformen subjektiver Konstitution, wenn Konstitution hier die intentionale Auslegung von konkreter Erfahrung im Lichte der in subjektive Typisierungen übersetzten semantischen Konstruktionen meint. Darüber hinaus muss unterschieden werden zwischen der Konstitution des (subjektiv und sozial unterschiedlichen) Sinnes einer bestimmten Handlung, bei der einem Ereignis unter Verwendung eines Schemas ein bereits typisierter Sinn zugeschrieben, die Handlung also identifiziert oder subsumiert wird, und der ereignistranszendenten Konstitution solcher Schemata bzw. des Typus, dem typengleiche tokens zugeordnet werden. Die (flexible oder stereotype) Verwendung ethnischer Fremdheitskonstrukte bei der Auslegung konkreter Situationen ist nicht identisch mit der Konstruktion solcher Typen, die je nach Referenz (Milieu, Person, Organisation) eine andere Form und einen anderen Abstand zu den intentionalen Perspektiven der Individuen hat. Und auch wenn im nicht stereotypen Falle die Verwendung selbst zum Moment der interaktiven Konstruktion von Typisierungen kultureller Fremdheit (als »Resignifikation«) wird, so ist auch hier zu unterscheiden zwischen den intentionalen Übersetzungen semantischer Konstrukte und diesen selbst. Schon daraus erhellt sich, dass »die« Sinnkonstitution mit Rücksicht auf kulturelle Fremdheit (und ebenso auf anderes) nicht erschöpfend durch die allgemeine Form der introspektiven Analyse subjektiver Reflexion und Antizipation aufgeklärt werden kann. Die Intersubjektivität der Schemata und der »Konstrukte« kann soziologisch nicht wie bei Husserl durch Hinweise auf die universale Idealität von Bedeutungen, die dem Subjekt qua transzendentaler Subjektivität »gegeben« sind, beantwortet werden – das hatte Schütz selbst nicht mehr im Sinne. Wenn die Genese der Typen und Schemata in der pragmatischen und kommunikativen Interaktion vollzogen wird (vgl. Srubar 1981 und 1988), dann ist die Praxis konstitutiv für den Sinn der Handlungen (im Sinne der Genese von Typen). Für die praktische Sinnkonstitution sind dann neben Hermeneutik und Pragmatik auch differenzierungstheoretische Analysen von Übersetzungsver-
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hältnissen zu konsultieren. Schemata wie kulturelle Typisierungen oder Stereotype, die sich auf Gruppen beziehen, sind als konstruierte konstitutiv für die Möglichkeit der Zuordnung von Personen zu kulturellen oder ethnischen Stereotypen. Sie bilden ein regionales, historisches und vergängliches Apriori der Grammatik einer Lebensform. Darüber hinaus aber sind kraft sozialer Differenzierung explizite Semantiken abstrakter sozialer Systeme von milieuspezifischen Typisierungen zu unterscheiden. Subjektive Reflexionen sind dann – wenn sie nicht als passive Ausführungen »diskursiver« Strukturen missverstanden werden – konstitutiv für die individuierende und kontextuierende Auslegung des allerdings anderweitig schon konstituierten generalisierten Sinnes, sie konstituieren den konkreten Sinn einer bestimmten Handlung, das aber in Abhängigkeit von der gesellschaftsspezifischen Dominanz bestimmter Triangulationsformen. Dabei ist der Spielraum, der sich jenseits der stereotypen Verwendung von Stereotypen eröffnet, in nicht unwesentlichem Maße auf die Freiheiten der Übersetzung von sozialen, milieu- oder organisationsbasierten Konstruktionen in intentionale Horizonte zurückzuführen. Denn diese Übersetzungen bestehen nicht einfach in einer Umdeutung allgemeiner Typen in einen intentional individuellen Typus, sondern in der pragmatischen Applikation generalisierten Sinnes, der im Modus der Erfahrungsoffenheit rezeptiv bleibt für das »Nicht-Identische« an kulturellen Fremden. An dieser Stelle ist die phänomenologische Analyse subjektiver Sinnkonstitution als Rekonstruktion intentionaler Übersetzungsleistungen anzulegen. In der Moderne verzweigen sich schließlich Typen der subjekttranszendenten Konstruktionen kultureller Fremdheit. So stellt die bürokratische Konstruktion von (politisch instrumentalisierbaren) Typen fremder Gruppen einen besonderen Typus dar. Ein zentraler Gesichtspunkt weitergehender Analysen ist darum »verrechtlichte Fremdheit«. Ihre praktische Bedeutung besteht in der spezifischen Übersetzung rechtlicher Kategorien in andere Kontexte. Eine Folge z.B. des Ausländerrechts ist die Interferenz und Applikation abstrakter (konstitutiver) Regeln in externen Kontexten, bei der für die Triangulation zwischen Personen formale Kategorien und Typen bereitgestellt werden, die sich als Stereotype geradezu anbieten. Und auch das ist nicht allein ein Problem von Gruppenidentitäten, denen man im Sinne der Modernisierungstheorie voreilig einen gewissermaßen »regressiven« Status zuzuschreiben geneigt ist. Es betrifft darüber hinaus die Frage nach der Einheit des kulturellen Horizontes eines komplexen politischen Gemeinwesens, die nach wie vor in den institutionellen Semantiken legitimer staatlicher und juridischer Ansprüche auf die Einheit des »Volkes« bezogen bleibt. Auf welche Grundgesamtheit aber bezieht sich das Selbstbestimmungsrecht der »Völker«, wenn der demos sich vom ethnos dadurch unterscheidet, dass er durch die politische Konstitution und die Praxis der durch diese Konstitution versammelten Staatsbürger erst geschaffen wird? Wie eine bestimmte, einzelne demokratische Kultur überhaupt
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innerhalb der Weltgesellschaft von anderen abzugrenzen wäre, wenn das Konzept der »Volkssouveränität« ohne ethnisierende Konstruktion der Gesamtheit der Staatsbürger auskommen muss, ist eine gute und noch offene Frage. In jedem Falle hätte eine desperate Vergemeinschaftung der Staatsbürger – ob auf nationaler oder europäischer Ebene – zu einem phantasmagorisch abgeschotteten »Volk«, wohlgemerkt aus strukturellen Gründen, bedenkliche Folgen.
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7. Von der anerkannten Ungleichheit zur ungleichen Anerkennung
Normative Implikationen multipler sozialer Differenzierung
I. D as gleiche R echt auf U ngleichheit Die soziologische Ungleichheitsforschung wird durch die Theorie eines »Kampfes um Anerkennung« (Honneth 1992) bereichert, sofern damit ihre Ausrichtung auf ungleiche Ressourcen-Verteilung zeitgemäß ergänzt wird. Zeitgemäß ist eine solche Erweiterung jedenfalls mit Rücksicht auf die Verschiebungen innerhalb des Diskurses normativer Theorien: Jetzt geht es nicht mehr nur ums Geld (oder um ›Besitz an Produktionsmitteln‹) und auch nicht mehr nur um Bildungs- oder andere Partizipationschancen, sondern zusätzlich geraten betont einzelne ›Identitäten‹ und ihr Anspruch auf Achtung und Entfaltungsfreiraum in den Fokus. Wenn homosexuelle Lebenspartnerschaften das Recht auf Adoption beanspruchen, streben sie nicht einfach nur nach Gleichbehandlung, sondern zudem nach Anerkennung von Ungleichheit im Sinne des geschuldeten Respekts gegenüber ihrer eigenen, nur für sie geltenden und damit partikularen Bestimmung des guten Lebens. Wenn ethnische Gruppen um ihrer kulturellen Identität willen gar rechtliche Exemption aus allgemeinen Regelungen einfordern,1 so ist ein solcher Anspruch auf Anerkennung gar nicht interessiert an der gleichen Zuteilung von Rechten ohne Ansehen der Person (bzw. der Gruppe), sondern er ist auf ungleiche Behandlung von ungleichen Lebensformen aus.2 Die Ungleichheit von Lebensformen umfasst 1 | In diesem Sinne spricht Will Kymlicka von »cultural rights« (Kymlicka 1995), die auf »group-differentiated citizenship rights« (Kymlicka 1996) hinauslaufen. Zur kritischen Untersuchung der in dieser Konzeption implizierten problematischen Substantialisierung von ›Kulturen‹ bzw. Gruppen, siehe: Benahbib 2002: 59 und Phillips 1996. 2 | Hier scheint zunächst der Einwand angebracht zu sein, dass die ungleiche Behandlung ungleicher Adressaten im Sinne kompensatorischer Asymmetrie letztlich auf Gleichheit aus ist (so wie Geschlechts-Quotierungen als sozialtechnologische Kompensationen historischen Unrechts legitimiert werden – was erstens voraussetzt, dass die
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nun aber nicht nur exotische Sitten und mehr oder weniger exotische Vorlieben, sondern auch die Ungleichheit von gruppenspezifischen Auffassungen der ›Gesellschaft‹. Die Ergänzung der Ungleichheitsfrage um Probleme der Anerkennung von individuellen oder kollektiven Identitätsansprüchen muss darum die Effekte der multiplen Differenzierung einer modernen Weltgesellschaft in Rechnung stellen. Das, so wird sich zeigen, bringt die anerkennungstheoretische Kritische Theorie in erhebliche Schwierigkeiten und setzt das gesamte Geschäft einer normativen Soziologie unter großen Revisionsdruck. Wenn innerhalb einer Lebenspartnerschaft die Statusgleichheit der Partner gleichzeitig im Medium heterogener Anerkennungsdimensionen verhandelt wird, wenn, anders gesagt, die Reziprozität romantischer Liebe mit der Differenz der Geschlechter und mit der Asymmetrie von Karrierechancen balanciert werden muss (Wimbauer 2012), dann oszilliert die Anerkennungsfrage hier nicht nur zwischen Gleichheit und Ungleichheit, sondern zwischen ungleichen Horizonten problematischer Gleichheit. Die Wendung der Gerechtigkeitstheorie von der Ausrichtung auf ›Verteilung‹ zur Problematisierung von ›Anerkennung‹ von Identitäten ist deshalb mehr als eine bloße Ergänzung der Agenda. Sie entzieht der Homogenität der Hintergrundgewissheiten Plausibilität, die Ungerechtigkeit als solche überhaupt erst erfahrbar und theoretisch identifizierbar machen. Die folgenden Überlegungen versuchen deshalb einen Aspekt der sozialen und der theoretischen Differenzierung von normativen Horizonten auszuleuchten, der in den Debatten über Formen und Anspruchsgehalt sozialer ›Anerkennung‹ stärkere Aufmerksamkeit verdient. Dieser Aspekt ist die soziale Pluralisierung und Fragmentierung von Auslegungspraktiken. Sie ist zurückzuführen auf die empirische Entplausibilisierung von theoretischen wie sozialen und politischen Vorstellungen einer kulturell homogenen (meist nationalen) »Gesellschaft«. Diese Pluralisierung ist relevant für die theoretischen Grundlagen des normativen Modells einer ›gesellschaftlichen Anerkennungsordnung‹ und für dessen empirische Bezüge,3 da jene kulturellen AuslegungsVerteilung von Positionen auf die Geschlechter dem Anteil von Frauen und Männern an der Grundgesamtheit entsprechen müsse, und zweitens impliziert, dass Quotierungen zu beenden sind, wenn das angestrebte Gleichgewicht erreicht sein sollte, was drittens aber unvollständig bliebe, solange mit der Typisierung ganzer Professionen als »Frauenberufe« eine Abwertung verbunden ist). Im Verhältnis zu Minderheiten dreht sich allerdings die normative Ausrichtung auf Ungleichheit, sobald Sonderregelungen für Unterprivilegierte nicht der Assimilation von Gruppen, sondern der Persistenz kultureller Differenzen dienen sollen – und das ist der Fall bei den Fällen, auf die Kymlicka sich bezieht. 3 | Zu diesen empirischen Bezügen gehört die deskriptive Angemessenheit des zugrunde liegenden Gesellschaftsmodells ebenso wie die normative Einschätzung der Abstän-
7. Von der anerkannten Ungleichheit zur ungleichen Anerkennung
praktiken sich nicht nur auf sich selbst – auf die je eigene »Identität«, sondern auf die umfassende Landschaft beziehen, in der sie sich bewegen, so dass partikulare Identitäten eben auch aus partikularen Versionen des »Ganzen« einer Anerkennungsordnung bestehen. Deswegen steckt im scheinbar nebensächlichen Phänomen der Auslegung normativer Prinzipien ein folgenreiches Problem für die von Axel Honneth vertretene anerkennungstheoretische Variante einer Kritischen Theorie: die Paradoxie eines allgemeinen Anspruchs auf Anerkennung für nicht verallgemeinerungsfähige Versionen einer allgemeinen Anerkennungsordnung. Nicht die auf das Besondere zielenden Ansprüche auf Anerkennung von sauber nebeneinander geltenden partikularen Sitten und Präferenzen verschiedener Gruppen stellen also das Problem dar (obwohl es auch in dieser Hinsicht genug Anlass zum Kopfzerbrechen gibt), sondern die Vervielfältigung der Gesamtkonstellation der unterscheidbaren Anerkennungsdimensionen: ›Liebe‹, ›Recht‹ und ›Leistung‹ (so bei: Honneth 1992) in partikularen Auslegungen dieser Konstellation. Mit dieser Pluralisierung (nicht mit dem ›multikulturellen‹ Facettenreichtum bunter Nachbarschaften) gerät das Geschäft der normativen Stellungnahme zu sozialen Ungleichheiten in Bewegung und letztlich unter Druck. Denn das Problem sozialer Ungleichheit hat sich im Zuge fortgeschrittener sozialer Differenzierung – mit entsprechenden Reflexen im soziologischen Diskurs – zu einem einigermaßen unhandlichen Phänomenbereich entwickelt. Mit der Konjunktur von Ansprüchen auf ein Recht auf Differenz treten in auffälliger Weise verschiedene Ungleichheiten in Konkurrenz um soziale und theoretische Aufmerksamkeit.4 Auffällige klimatische Verschiebungen der politischen Debatten in Deutschland 5 bezeugen nicht einfach diskursive, de zwischen empirischen Lagen und begründbaren Ansprüchen sowie schließlich die aus diesen deskriptiven und normativen Befunden abgeleiteten Remeduren. 4 | Die soziologische und also nüchterne, weil weniger an partikulare Interessen gebundene, Werbung für akzeptable Ungleichheit betont gern die Trivialität, dass es doch darauf ankäme, welche Art von Ungleichheit problematisiert würde. Unter der allgemeinen Prämisse grundsätzlicher Kontingenz aller sozialen Festlegungen und Einrichtungen wird daraus schließlich die ihrerseits von Kontingenzverdacht ausgenommene Maxime, dass eine ganze Menge von Ungleichheiten für soziale Systeme geradezu konstitutiv und also normativ nicht zweifelhaft sein könne. Versteckt hinter Tugendappellen an das Führungspersonal zeigt sich dieses relative neue Bekenntnis auch ›kritischer‹ Sozialwissenschaftler zu Hierarchien z.B. im Diskurs über Eliten (so etwa bei: Münkler 2000: 86). 5 | Es ist leichter geworden, für die Akzeptanz von gewissen Ungleichheiten und die Privatisierung der damit verbundenen Lasten einzutreten. So konnte der ehemalige Vorsitzende einer liberalen Partei in Deutschland ohne vernehmbaren Widerspruch rechtlich garantierte Verpflichtungen auf sozialstaatliche Transferleistungen mit se-
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ideologische Versuche der Restauration hierarchischer Differenzierung (das in manchen Fällen vielleicht auch), sondern es äußert sich darin zunächst die Pluralisierung von normativen Gesichtspunkten und eine reflexive Zuwendung zu der Frage, wie Formen und Arten der (Un-)Gleichheit zu vergleichen wären. Damit ist das eigentliche Problem der neueren Ungleichheitsdebatten berührt (vgl. Berger, Schmidt 2004: 7ff). Denn auch, wenn eine normative Theorie moderner Gesellschaft an der Richtschnur einer wenigstens regulativ idealen Symmetrie der Verteilung von Chancen, Rechten und Ressourcen festhalten will, so sorgt doch die soziale und diskursive Pluralisierung von normativen Horizonten auch in einer solchen Perspektive für neue Unklarheit.6 Dafür ist die Differenz zwischen Verteilungsgerechtigkeit und Ansprüchen auf Anerkennung symptomatisch. Das Geschäft der Identifizierung und Bewertung sozialer Ungleichheit wird gerade durch die Aufmerksamkeit für die Dimension der Anerkennung zugleich verfeinert und erschwert. Denn die Beachtung eines Rechts auf ›Anerkennung‹ von Identitäten (Taylor 1991 und 1993) sowie auf eine entsprechend symmetrische Zuteilung von Würdigung, Respekt und institutioneller Gewährleistung partikularer Lebensformen kann zwar verborgene Versagungen von Anerkennung, z.B. Formen der Unsichtbarkeit, aufdecken (Honneth 2003a), sie wertet dabei jedoch scheinbar nebenbei die Ungleichheit von Identitäten auf. Identitätspolitik ruft deshalb normative Unklarheit nicht nur in der Perspektive der Beteiligten, sondern auch bei einer vermeintlich robusten, nicht nur formal argumentierenden Kritischen Theorie der Anerkennungsordnung hervor. Das systematisch entscheidende Moment ist hierbei der Zusammenhang zwischen einer angemessenen Differenzierungstheorie und den normativen Implikationen der Ungleichheitsfrage. Ich will die diesbezüglichen Überlegungen hier in drei Schritten entfalten: Zuerst betrachte ich etwas ausgiebiger die Bedeutung des Problems der Auslegung von Normen für eine normative Theorie der Gesellschaft (Abschnitt 2). Danach untersuche ich Axel Honneths Theorie als einen Kampf um einen hinreichend materialen und zugleich allgemein gültigen Begriff der ›Anerkennung‹ (Abschnitt 3). Schließlich führt die differenzierungstheoretische Skepmantischem Handstreich in ›karitative‹ Großzügigkeiten verwandeln, die dann nicht Sache des Staates, sondern Privatsache sind. Aber solche Verschiebungen sind für die genannte Verkomplizierung nur ein – wenn auch ausgesprochen relevantes – Symptom neben anderen. 6 | Für die Legitimation der ungleichen Verteilung von Ressourcen durch das Kriterium »ungleicher Leistung« bedeutet die Pluralisierung von Auslegungspraktiken dann ein Problem, wenn Leistung eben nicht »objektiv« messbar ist bzw. im binären Code der Exklusionsrhetorik verhandelt werden kann, sondern eine graduelle Größe darstellt, die ihrerseits in Abhängigkeit von kulturell typisierten Gradzumessungen umkämpft bleibt, siehe dazu: Neckel, Dröge, Somm 2004.
7. Von der anerkannten Ungleichheit zur ungleichen Anerkennung
sis gegenüber dem diskutierten Konzept einer einheitlichen ›Anerkennungsordnung‹ als Modell der Gesellschaft zur Skizze einer alternativen Version multipler Differenzierung und ihrer Folge: einer nicht homogenisierbaren Pluralisierung von kulturell und milieuintern entworfenen Anerkennungsordnungen (Abschnitt 4). Den Abschluss bilden kurze Überlegungen zum Problem normativer ›Übersetzungsverhältnisse‹ (Abschnitt 5).
II. K onkre te K ritische Theorie und die P lur alisierung von A uslegungshorizonten Die Frage, was als ungerechtfertigte Ungleichheit gelten muss, hängt mit der moralischen Rechtfertigung von Normen zusammen, denn auf der Ebene nur partikularer Einschätzungen gilt: deine ›Ungleichheit‹ ist nicht meine ›Ungleichheit‹. Die Ausweisung der Geltung moralischer Prinzipien hat aber einen notorischen Doppelcharakter: Sie betrifft einerseits die Begründung, andererseits die Bestimmung der Bedeutung präskriptiver Sätze – und diese Hinsichten fallen nur dann zusammen, wenn die Artikulation und die Auslegung eines allgemeinen Gebotes in konkreten Situationen sich von selbst verstehen. Sie verstehen sich nur von selbst innerhalb des Horizonts einer einheitlichen kulturellen Auslegungspraxis. Eine solche Praxis bildet nun wieder einen partikularen Kontext – sonst würde sie sich nicht als ›kulturelle‹ Praxis im Kontrast zu anderen verstehen, und es gäbe auch nichts ›anzuerkennen‹. Und deshalb ist mit der allgemeinen Begründung eines abstrakten Prinzips, aus dem sich die Einschätzung (d.h. die Identifizierung und die Bewertung) sozialer Ungleichheiten ableiten lassen soll, für eine normative Integration von Gesellschaft noch nicht viel gewonnen. Denn Bestimmungen der Bedeutung 7 eines solchen allgemeinen Prinzips zerstreuen sich in heterogene Auslegungen, deren Unterschiede nun aber bei Anerkennung des Rechtes auf kulturelle Differenz nicht abzuarbeiten, aufzulösen oder zu überwinden sind. Vielmehr werden diese Unterschiede als solche ›anerkennungswürdig‹. So mögen recht7 | An dieser Stelle zählt als ›Bedeutung‹ einer expliziten Norm die Gesamtheit der inferentiell an ihre abstrakte Formulierung gebundenen pragmatischen Implikationen (was genau folgt aus der Norm hier und jetzt?). Diese inferentiellen Beziehungen folgen allerdings im Kontext pragmatischer kultureller Kontexte der Logik der »konversationalen Implikatur« (Grice 1975; Wright 1993), d.h. die Norm muss in konkreten Situationen und auf der Basis partikularen impliziten Wissens in Handlungen ›übersetzt‹ werden. Und sofern diese habituellen Ressourcen der Verbindung zwischen Norm und Anwendung partikular bleiben müssen, streuen die Konsequenzen allgemeiner Normen auf der Ebene konkreten sozialen Handelns relativ zum Grad der Vielfalt von pragmatischen Kontexten (Renn 2006a: 443ff).
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liche Programme (wohlfahrtsstaatliche Ressourcenzuteilung) und institutionalisierte Normen (als hegemoniale Auslegungen eines vermeintlichen gesellschaftlichen Konsenses) zwar den Anschein erwecken, dass sie – ob nun mit Zustimmung aller oder nicht – als allgemein verbindliche Ordnung wirken. Und die Pluralisierung von Auslegungspraktiken ändert zwar (kurzfristig!) nichts an der Höhe von Transferzahlungen, sie beeinflusst aber die Legitimität jener verallgemeinerten Regeln und damit ihre Wirksamkeit für die Sicherstellung reziproker Erwartungssicherheit (Integration). Die Pluralisierung von Auslegungspraktiken ändert also (kurzfristig) nichts an der Umrechnung von Arbeitsleistung in Rentenansprüche, sie untergräbt aber die Homogenität der Grundlage möglicher Zustimmung und damit die reziproke Verlässlichkeit jener in allgemeinen Normen hinterlegten Erwartungen an das konkrete Handeln (was dann etwa in Phänomenen wie dem Grad der kollektiven Akzeptanz von Versicherungsbetrug sichtbar wird). Darum stoßen wir bei dem Vorschlag, ›Anerkennung‹ zur Basis moralischer Beurteilung komplexer gesellschaftlicher Lagen zu befördern, auf Schwierigkeiten: Wenn die, in der Kritischen Theorie oft genug unterschätzte, hermeneutische Frage nach der praktischen Bestimmtheit von Normen auf die Pluralisierung kultureller Horizonte bezogen wird – und nicht einfach auf Anwendungsdiskurse, die, wie bei Habermas (1992: 141ff.) Spezialisten überlassen werden – dann zeigt sich, dass die Bereicherung der normativen Perspektive um die Dimension der Anerkennung (von Differenzen!) bei Lichte besehen auf eine Paradoxie zuläuft. Sie setzt das Gesamtunternehmen einer Kritischen Theorie der Gesellschaft unter Druck, denn plurale Auslegungspraktiken führen zu pluralen – milieuspezifischen – Interpretationen gesellschaftlicher Anerkennungsordnungen (im Plural). Eine Erweiterung der Begründung ›kritischer Maßstäbe‹ durch Hinzufügung der Dimension der Integrität kultureller Selbstverständigung stößt deshalb nolens volens auf die allgemeine Anerkennungswürdigkeit nicht verallgemeinerbarer Bewertungen des ›Ganzen‹ einer Anerkennungsordnung und auf ihre Übersetzung in viele ›Anerkennungsordnungen‹. Die Kritische Theorie bemüht sich auf unterschiedlichen Wegen um die Einarbeitung von empirischen Befunden kultureller Pluralisierung und Diversifizierung (als Moment ›postnationaler‹ Vergesellschaftung) in die normative Modellierung. Sie gerät aber bei dem entsprechenden Versuch der Modifikation des kritischen Maßstabes, der Explikation des gesellschaftlich relevanten »moral point of view« 8, an die Grenzen der zugrunde liegenden normativen Intuition. Die Figur eines ›verallgemeinerungsfähigen‹ Interesses als Ausgangs8 | Dazu gehört zum einen die Habermas’sche Erweiterung in Richtung der Fragen nach der »Einbeziehung des anderen« (Habermas 1996), zum anderen die Anerkennungssemantik von Axel Honneth.
7. Von der anerkannten Ungleichheit zur ungleichen Anerkennung
punkt und die Unterstellung der Einheit einer Gesellschaft als normativ integriertes Produkt kooperativer und kollektiver Selbstbestimmung vertragen sich schlecht mit der Einsicht in die Erosion allgemein verbindlicher Auslegungshorizonte. Jedenfalls dann, wenn die gut begründete Alternative: die Neutralisierung des Problems der Auslegungspluralität durch den Formalismus einer Diskurstheorie prozeduraler Vernunft (Habermas) explizit verworfen wird (Honneth). Man muss demgegenüber nicht notwendig in die typisch soziologische Haltung zurückfallen und den Bezug auf Normen auf eine trübsinnige, rein deskriptive Bestandsaufnahme von bloß sozialer Geltung reduzieren. Die moralisch ambitionierte Alternative zum Formalismus stellt sich allerdings selbst unlösbare Aufgaben. Das Problem zeigt sich in Honneths Programm der Ergänzung einer formalistischen Gerechtigkeitskonzeption um die Dimension sozial ungleich gehaltvollerer Anerkennungsfragen. Denn auch wenn das Spektrum unterschiedlicher Modi und Formen sozialer Ungleichheit theoretisch in einem konsistenten Modell als eine konzentrische Ordnung von Anerkennungsdimensionen rekonstruiert werden könnte (was schon auf Zweifel stößt), so besteht das Problem einer einzigen gesellschaftlichen ›Anerkennungsordnung‹ doch nicht in der theoretischen Verrechnung von z.B. materiellen Ressourcen, formalen Rechtsansprüchen und kulturellen Selbstachtungschancen, sondern eher in den Folgen der Pluralisierung von jeweils spezifischen, für Sondermilieus und Organisationen intern verbindlichen Versionen der Kriterien, der Materien und der Konsequenzen sozialer Anerkennung. Die beunruhigende Implikation dieser Art von Pluralisierung (einer anderen Lesart von ›Multikulturalität‹) besteht darin, dass zwischen den partikularen normativen Orientierungen von heterogenen Milieus und Organisationen »Übersetzungen« erforderlich werden (Renn 2006a: 157ff.). Die vielen Teilordnungen, Milieus und anderes, was sonst noch Ansprüche auf kollektive Anerkennungschancen erheben kann, kommen nicht in der Form abgekapselter holistischer Einheiten als mögliche Gegenstände der Tolerierung in Betracht (Benhabib 2002: 25ff.). Sie konkurrieren eher um Deutungen der ›Gesamtordnung‹ auf einem unklaren, weil nicht durch neutrale Regeln geordneten Terrain.9 Es ist ja denkbar und möglich, dass alle identitätspolitisch konkurrierenden Gruppen in einer gegebenen staatsbürgerlichen Arena z.B. einem abstrakten Grundgebot friedlicher Koexistenz namens ›Toleranz‹ Verbindlichkeit zugestehen (Forst 2000). Dann kollidieren zwar nicht notwendig 9 | Das bedeutet auch: ›Öffentlichkeiten‹ sind – wie Vertreter der Kritischen Theorie selbst konstatieren – keine Spielplätze interessenlosen Austausches guter Argumente, sondern sie drücken durch die Selektivität der dort verhandelten Interessen und Ansprüche bereits subkutane Ungleichheiten des Zugangs bzw. der Chance aus, zur »voice« zu gelangen (siehe dazu Honneth 2003b: 141; Kettner, Schneider 2000).
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abstrakte Haltungen zu einer wohlfeil formulierten Norm, aber doch sehr schnell die praktischen Inferenzen aus einer solchen Normexplikation: Nicht dass, sondern was genau zu tolerieren sei und was Tolerierung bedeuten soll (Ermutigung, Respekt, Leugnung, Indifferenz oder Zurückhaltung?), ist dann Stein des Anstoßes. Der Taschenspielertrick, liberalistische Grundmotive als kulturneutrale Universalstandards auszugeben, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass hinreichend vielen Bürgern gerade die Kritik von Praktiken, die für sie existentiell sind, als himmelschreiende Verletzung von Toleranzgeboten, ja selbst als unerträgliche Intoleranz erscheinen kann. Und auch wenn sie sich darin irren können, so macht es die Maxime der Anerkennung kultureller Differenz doch schwer, hier kulturell neutrale Kriterien für die Unterscheidung zwischen Irrtum und Berechtigung zu formulieren, die selbst von der Anerkennung des kulturellen Hintergrundes, der die Formulierung solcher Kriterien stützt, unabhängig wären. Wenn ›Übersetzungen‹ normative Orientierungen nicht neutral und unverändert von einem in den anderen Habitus (Bourdieu 1979) ›transportieren‹, gibt es für den (idealiter ›fairen‹) Abgleich der praktisch erforderlichen Anwendungen normativer Prinzipien keine gemeinsame oder neutrale Sprache. Nicht die logische Konsistenz des Modells einer Anerkennungsordnung, in der ›Umverteilung‹ und ›Anerkennung‹ balanciert oder auch aufeinander abgebildet sein könnten, ist deshalb das Problem. Entscheidend ist vielmehr die einer normativen Rekonstruktion zugrunde gelegte Differenzierungstheorie und das, was aus ihr über die relative Inkommensurabilität von normativen Prinzipien und Ansprüchen auf der Bühne sozialer Konflikte (auch) um Deutungshoheit folgt.
III. M ultiple D ifferenzierung oder stabile A nerkennungsordnung ? Das Projekt einer Kritischen Theorie baut nach wie vor (und vielleicht notwendig) mehr oder weniger implizit auf einer Differenzierungstheorie auf, die dem Erbe der hegelmarxistischen Totalitätskategorie10 trotz aller nötigen Um10 | Adorno präsentiert in seiner Einleitung zur Soziologie den äußerst eigenwilligen Spezialfall einer Gesellschaftstheorie, die das moderne Arrangement als lückenlose Integration ohne Differenzierung ausweist (Adorno 2003; siehe entsprechend Marcuse 1979). In der Habermas’schen Version nimmt die Teilung der Gesellschaft gegenüber dieser monolithischen Figur dann wieder politische Formen an; Zielgröße bleibt aber auch hier die gesellschaftliche Einheit (wenigstens als eine regulative Idee). Das zeigt indirekt sein Einwand gegen eine Gesellschaftstheorie fragmentierter Funktionssysteme: »Es liegt ja in der Logik der funktionalen Differenzierung einer Gesellschaft, dass die ausdifferenzierten Teilsysteme auf einem höheren Niveau der Gesellschaft im gan-
7. Von der anerkannten Ungleichheit zur ungleichen Anerkennung
stellungen verpflichtet bleibt. Es modelliert ›Gesellschaft‹ als eine Einheit und zeichnet diese Einheit als eine politische, indem es die Figur des »Subjekts der Geschichte« in der vernünftigen Einheit einer deliberativ »selbstbestimmten« Gesellschaft (dreifach) aufzuheben versucht. Aber die (normative und kontrafaktische) Einheit der Gesellschaft lässt sich nicht durch die Angabe einer Reihe konkreter verallgemeinerungsfähiger Interessen bestimmen. Bei Habermas schrumpfen solche über jedem partikularen ethischen Selbstverständnis thronenden Interessen darum auf formale Standards zusammen: Autonomiezusicherung bedeutet nur mehr den Anspruch auf Zurechnungsfähigkeit in rationalen Geltungsprüfungssequenzen.11 Axel Honneth macht gegen diese ebenso begründete wie spröde Zurückhaltung eine anthropologisch und empirisch aufgeladene Konzeption des guten Lebens stark (Honneth 1985: 307ff., 1992 und 2000: 294ff.). Aber je praller die Ausdeutung des humanen Minimums gerät, desto schlechter stehen ihre Chancen auf Universalität. Die Erweiterung des formalen Programms um die Dimension der (eben auch affektiv besetzten und »bedeutsamen«) Anerkennung ruft das erwähnte Applikationsproblem zurück auf den Plan. Die von Honneth verfolgte Absicht, dem Habermas’schen Formalismus einer kantianischen Diskurstheorie der Moral die dichte Struktur, die leibliche Dimension und die affektive Komponente der Identität von Subjekten hinzuzufügen (Honneth 1985: 307ff.; 1992: 148ff.), ist ein trojanisches Pferd. Denn einerseits soll dieser Zug Probleme des Formalismus lösen, die sich aus der Sicht kommunitaristischer Einwände gegen das Modell der Person stellen (z.B. Sandel 1982). Der Hinweis auf die Unverzichtbarkeit eines dichten, konkreten und je kulturell spezifischen »web of interlocutors« (Taylor 1989: 36; Benhabib 2002: 55f.) soll durch die Analyse der »moralischen Grammatik« von Identitätsvoraussetzungen aufgenommen werden. Die Bestimmung der universalen Form »gelungener Sozialisation« soll damit sowohl das Problem moralischer Motivation (Ohnmacht des »bloßen Sollens«, vgl. die parallele Unternehmung bei: Joas 1999) als auch das Prozen wieder integriert werden. Wenn die dezentrierte Gesellschaft ihre Einheit nicht mehr wahren könnte, würde sie vom Komplexitätszuwachs ihrer Teile nicht profitieren und fiele als ganze deren Differenzierungsgewinn zum Opfer.« (Habermas 1992: 416f.) 11 | Selbstverwirklichungsfragen (die umgemünzt in konkrete Identitätsprojekte dann anerkennungswürdig sein könnten) müssen als ›ethische‹ Selbstkonzeptionen in den Grenzen operieren, die nun wieder durch eine vergleichsweise formale, zivilgesellschaftlich konzentrierte Aufteilung in öffentliche (verallgemeinerungsfähige) und private Belange gezogen werden. So behandelt Habermas religiöse Motive als Kandidaten für öffentlich relevante normative Argumente; sie gelten als irreduzible Quellen für wertvolle Einsichten, müssen sich aber vor ihrem Eintritt in rationale Diskurse eine säkularisierende ›Übersetzung‹ gefallen lassen, wobei nicht deutlich wird, was genau bei einer solchen Übersetzung erhalten bleibt (Habermas 2005: 140).
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blem »anthropologischer« Grundlagen kritischer Maßstäbe klären (wogegen bei Habermas das positive Recht, als eine indirekt kommunikativ legitimierte Zwangsordnung die Lücken der Motivation durch ein bloß moralisches Prinzip füllen soll, so: Habermas 1992: 141ff.). Aber dabei wird andererseits die hermeneutische Dimension der Differenz zwischen Deutungshorizonten (als performativ wirksamen Kontexten) wieder als verzerrender Faktor relevant, derer sich die Habermas’sche Theorie in hellsichtiger Selbstbeschränkung gerade durch jenen Formalismus entledigt,12 der das Modell der Verständigung an »Standardbedingungen« der Kommunikation bindet (Habermas 1981, I: 400). Für die formale Theorie beginnt die paradigmatische Situation der Verständigung immer schon auf dem Boden eines zwischen den Partnern »hinreichend übereinstimmenden lebensweltlichen Hintergrundwissens« (Habermas 1981, I: 385). Das Bild ändert sich deutlich, wenn »Gerechtigkeit« nicht nur durch »Anerkennung« bereichert, sondern in eine gestufte Theorie von Anerkennungsdimensionen als Spezialfall eingefügt werden soll, wie es bei Honneth vorgesehen ist. Nun werden nämlich nicht nur individuelle und kollektive Identität in den Rang moralischer Güter gehoben, sondern im Gegenzug wird der Sinn moralischer Ansprüche in die Auslegungsspezifik von partikularen Identitäten hinein versenkt. Damit wird die Begründung moralischer Ansprüche von den Deutungshorizonten abhängig, die erst ein Leiden an versagter Anerkennung bestimmbar machen. Und diese Verbindung kann mit dem Anspruch auf Verallgemeinerungsfähigkeit nur verträglich sein, wenn eine konkrete Auslegung von Fällen und Formen des Leidens an versagter Anerkennung einen gesellschaftsweiten (eigentlich sogar: universalen) Konsens darstellt. Denn jede Artikulation der affektiven Qualität des Leidens an versagter Anerkennung ist auf die spezifische Sprache einer solchen Artikulation verwiesen, und in diese Sprache gehen in Fällen des Leidens notwendig partikulare Horizonte der Deutung ein, etwa die kollektive Identität von sozialen Bewegungen. Eine 12 | Wegen dieser ›Bereinigung‹ der Rekonstruktion kommunikativen Handelns von den Ungereimtheiten, die auf abweichende kulturelle Horizonte eventueller Diskursteilnehmer zurückzuführen wären, kann die rein formale Explikation eine Universalität beanspruchen, zu der eine materialere Pragmatik keinen Zugang findet. Entscheidend ist dabei das Problem einer ›Verständigung‹ über die Voraussetzungen der ›Verständigung‹ im Falle der ›Unverständlichkeit‹, vor der eine Prüfung von bestimmten Geltungsansprüchen sinnlos ist. Denn Argumente haben wohl eine propositionale Struktur, doch diese ist nicht geltungsfähig unabhängig vom kulturspezifischen Kontext der Äußerung, sondern verlangt zur hinreichend bestimmten Umsetzung in situiertes Handeln nach einem impliziten Wissen im Hintergrund (einer »performativen Kultur«, siehe Renn 2004). Hier unterscheiden sich eben jene dichten sozialen Kontexte in genau der Dimension, um die es bei der Anerkennung (von Differenzen!) geht.
7. Von der anerkannten Ungleichheit zur ungleichen Anerkennung
verallgemeinerungsfähige Empörung gegen versagte Anerkennung ihrer konkreten Antwort auf die Frage nach dem guten Leben muss sich implizit berufen auf die moralisch gebotene (hegemonialisierende) Ausdehnung ihres eigenen Ethos auf das Ganze einer Arena der gewährten Anerkennung. Das Honneth’sche Programm kann nur dann die Last der materialen Anreicherung moralischer Gründe schultern und damit das allgemeine Mandat einer Theorie der Anerkennung einlösen, solange dieses Programm unter der Hand die Beziehung zwischen Anerkennungsformen in das (problematische) Bild einer kulturell homogenen und normativ einsinnigen Gesellschaft bringt, bei der Folgen und Formen sozialer Differenzierung auf die Figur konzentrischer Kreise reduziert werden. Das zeigt sich beispielhaft in Honneths Diskussion mit Nancy Fraser (Fraser, Honneth 2003). Der Disput kreist um den Vorrang von Anerkennungsfragen vor der Verteilungsgerechtigkeit in einer normativen Gesellschaftstheorie, d.h. um die Tragfähigkeit einer monistischen Theorie der Anerkennung, die auch noch Verteilungsfragen als Formen der Versagung von Anerkennung auszuweisen versteht. Darauf zielt Honneths Beschreibung seiner Begründungsabsichten, die sich die Aufgabe geben, »etwas theoretisch Überzeugendes über jene normativen Erwartungen aussagen zu können, die die Subjekte im allgemeinen an die gesellschaftliche Ordnung richten.« (Honneth 2003b: 154) Neben dem frühen Hegel knüpft Honneth am jungen Marx an, der eine praxisphilosophische Version expressiver Selbstbestimmung zum Fundament der Kritik an gesellschaftlicher Entfremdung macht (Marcuse 1970). Honneth versucht auf eine damit verwandte Weise, die moralische Infrastruktur des klassischen Gegensatzes zwischen Kapital und Arbeit, also die Moralisierung politisch-ökonomisch bedingter Ungleichheiten, aus ihrer Verwurzelung in konfliktreichen Versagungen von Anerkennung zu erklären. E.P. Thompson (1980) und Barrington Moore (1974) dienen ihm als Gewährsmänner für eine Analyse, die soziale Konflikte, an die traditionell das Maß der Verteilungsgerechtigkeit angelegt wird, primär als »Verletzung von eigensinnig tradierten Ehransprüchen« zu sehen erlaubt (Honneth 2003b: 155) – Distributionskämpfe sind damit ebenfalls Anerkennungskämpfe (Honneth 2003b: 177ff.). Das moralisch Allgemeine, auf das soziale Bewegungen und Kritische Theorie sich in letzter Instanz berufen können, ist somit nicht die formale Symmetrie einer intersubjektiven Gleichheit (bzw. das inhaltlich indifferente Abstraktum subjektiver Rechte), die sich im Medium materieller Ressourcen als Verteilungsgerechtigkeit zum Ausdruck bringen lässt; es ist die anspruchsvollere Bedingung einer intersubjektiv ermöglichten, gewährten und gestützten Selbstverwirklichung als dynamische Form einer konkreten Identität. Honneth macht dabei selbst deutlich, dass die Allgemeinheit entsprechender Erwartungen, die die »Subjekte im allgemeinen an die gesellschaftliche Ordnung richten«, nicht einfach aus den Interessenartikulationen empi-
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rischer Trägergruppen abgeleitet werden kann: Gegen die Anbindung theoretischer Maßstäbe zur Beurteilung sozialer Ungleichheit an die Semantik bereits erfolgreicher sozialer Bewegungen (die erfolgreich sind, sofern sie bereits eine öffentlich vernehmbare Stimme haben) wendet Honneth ein, dass der Bezugspunkt für die kritische Rekonstruktion von Ungleichheit von faktischen Diskursen unabhängig sein muss, damit auch verborgenes Unrecht und stillschweigend vollzogene Versagungen von geschuldeter Anerkennung benannt werden können (Honneth 2003b: 141). Deshalb macht er ein vorpolitisches Leiden zum Bewertungskriterium, das durch den Kontrast zwischen faktischen Lagen und einem anthropologisch-entwicklungspsychologisch begründeten Modell gelingenden Lebens sichtbar gemacht werden kann.13 Den Begriff der »Anerkennung« gewinnt Honneth aus der Transposition von Motiven des frühen Hegel (»Selbstsein in einem Fremden«) zuerst in die Mead’sche Intersubjektivitätstheorie und dann in die Entwicklungspsychologie Winnicotts (Honneth 1992). Die Autonomie des Subjekts erscheint dann nicht allein in der kognitiven Figur einer (bei Habermas: kommunikativ strukturierten) Selbstbindung an verallgemeinerungstaugliche Prinzipien qua rationaler Einsicht. Sondern Autonomie wird darüber hinaus (bzw. davor) zum Ergebnis des primär affektiven Projektes einer durch gewährte und beantwortete Anerkennung »gebrochenen« Symbiose mit dem ursprünglichen »konkreten anderen«. An die nüchterne moralische »Achtung« (des Gesetzes und damit der moralischen Person) lagert sich die »Liebe« an, die zu verstehen ist als Einheit aus affektiver Bindung und Freigabe von Selbständigkeit und -vertrauen (Honneth 1992: 172ff.). Dieses Vorgehen bindet auf bemerkenswerte Weise eine kontrafaktische Perspektive an empirische Forschungsergebnisse: Während die formalistische Moraltheorie (jedenfalls die Habermas’sche) den Funken der Universalität aus der Unterscheidung zwischen Teilnehmer- und Beobachterperspektive und aus dem Abstand zwischen kontrafaktischen Idealisierungen und faktischen Bedingungen schlägt (Habermas 1983), macht Honneth die Begründung von 13 | Daraus erklärt sich auch die eher anspruchslose Übersetzung, die Honneth an anderer Stelle für den Lukacs’schen Begriff der »Verdinglichung« anbietet: Während die klassische Kritische Theorie Verdinglichung als entfremdende Einwanderung der Warenform und des Tauschprinzips in die subjektiven Selbstauslegungen behandelt, muss Honneth – wegen der Auflösung der systemischen Sphären in Interaktionsverhältnisse – »Verdinglichung« auf eine seltsame »Vergesslichkeit« der Person zurückführen: Die Objektivierung des andern liege daran, dass man selbst »das Gespür« dafür verliere, dass sich unsere Erkenntnisvollzüge »der Einnahme einer anerkennenden Haltung verdanken« (Honneth 2005: 69). Am Ende ist im Übrigen dann doch die »Ökonomisierung« von Interaktionen (Honneths Beispiel: Bewerbungs- als Verkaufsgespräche) verantwortlich (Honneth 2005: S. 105).
7. Von der anerkannten Ungleichheit zur ungleichen Anerkennung
Maßstäben der Kritik, die über den Verdacht des Kurzschlusses mit partikularen Teilnehmer-Perspektiven (z.B. von sozialen Bewegungen, die sich kontingenterweise Gehör verschaffen konnten) erhaben sein soll, von einem prekären Zutrauen in die Revisionsresistenz empirischer Bindungsforschung abhängig (Honneth 1992: 148ff; 2003b: 154ff.). Vorbehalte gegen solche Begründungsmanöver, die bedenkliche Seiteneffekte aufweisen,14 müssen sich keineswegs auf »transzendentale« Herleitungen moralischer Prinzipien berufen. Es genügt darauf hinzuweisen, dass jede empirische Rekonstruktion von Formen und Bedingungen des »guten Lebens« von partikularen Welterschließungen bzw. sprachlichen Kontexten abhängig bleibt.15 Und es sind ja gerade diese partikularen Entwürfe des guten Lebens, die in Gestalt eines Anspruchs auf Anerkennung spezifischer kollektiver und individueller kultureller Identitäten die identitätspolitisch umkämpfte Materie bilden. Auch deshalb muss Honneth über die Sphäre ethischer Selbstverständigung und intimer intersubjektiver Beziehungsformen hinausgehen. Das äußert sich einmal in der erwähnten Umdeutung von Verteilungskonflikten in Anerkennungsprobleme (Honneth 2003b: 154ff.), zweitens in der Erweiterung der Anerkennungssemantik um gesellschaftsweite Radien abstrakterer Intersubjektivität. Darin liegt der Sinn der Skizze einer für die moderne Gesellschaft strukturgebenden Anerkennungsordnung, in der sich die Sphären von »Leistung« und »Recht« wie konzentrische Kreise um den Bereich der intimen Anerkennung durch »Liebe« anlagern (Honneth 1992; 2003b: 162ff.). Eine anthropologische Persönlichkeitstheorie allein würde der Varianz institutioneller Ordnungen moderner Gesellschaften in synchroner und diachroner Dimension nicht gerecht werden. Darum greift Honneth die Hegel’sche Theorie der modernen (bürgerlichen) Gesellschaft auf, um der Moralisierung der Entwicklungspsychologie differenzierungstheoretischen Beistand zu verschaffen. Das Narrativ der »funktionalen Differenzierung« ist nicht die Sache der praxisphilosophischen Kritischen Theoretiker (siehe Joas 1990; Honneth 2000; vgl. Renn 2006b: 28f.). Ihre Distanz zur Habermas’schen Theorie drückt sich 14 | Z.B. die Pathologisierung von abweichenden Identitätsformationen durch eine klinische Aufladung des normativen Bezugspunktes. Was der Kritik standhält, ist dann nicht nur moralisch gerechtfertigt, sondern auch ›gesund‹. 15 | Die erhebliche Konsequenz aus diesem Einwand lautet, dass eine normative Theorie, die den Maßstab der Kritik an die Rekonstruktion von identitätsspezifischen Erfahrungen des Leidens an Missachtung bindet, darauf verzichten muss, für ihre Artikulation moralischer Standards Universalität zu beanspruchen. Das Honneth’sche Programm ist also nicht als Intersubjektivitätstheorie der normativen Infrastruktur von individueller und kollektiver Identität fragwürdig, sondern als Begründungsprogramm einer universalistischen Moraltheorie.
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nicht nur in der Empfänglichkeit für kommunitaristische Elemente der Moraltheorie aus, sondern auch in der Abneigung gegen systemtheoretische Vorstellungen einer gesellschaftlichen Differenzierung, die subjektlose Systeme und eigensinnige Kommunikationszusammenhänge jenseits intentionaler Steuerung vorsieht (siehe auch Joas 1986). Honneth beschreibt die für die Moderne typische soziale Differenzierung deshalb aus der Froschperspektive des Individuums.16 Die Erweiterung der Radien führt – entlang der Mead’schen Linie der Verallgemeinerung vom konkreten zum allgemeinen »anderen« – aus den Intimverhältnissen affektiver Bindung in die Sphäre der abstrakteren, an »Leistung« gebundenen Anerkennung von erworbenen Eigenschaften und Ansprüchen, und schließlich in die Sphäre der ganz abstrakten (von der spezifischen Identität abstrahierenden) Anerkennung des Status einer Person im Medium des Rechts. »Soziale Wertschätzung«, die über intime Bindungen hinausgeht, bezieht die Person Honneth zufolge in der okzidentalen Moderne aus der kulturellen Leitidee »individueller Leistung« (Honneth 2003b: 165). Die »Inklusion« der Person in den Markt und in konkrete Organisationen, zu der in anderen Gesellschaftstheorien die Trennung zwischen Individuum und Rolle, die Differenzierung zwischen Angehörigkeit und Mitgliedschaft gehört, übersetzt Honneth in die normative Gestalt eines speziellen kulturellen Wertmusters (»Leistung«). So kommt funktionale Differenzierung nur selektiv in der Struktur einer »hierarchisch aufgefächerten Wertskala« (Honneth 2003b: 165) zur Geltung. Aus dieser Sicht sind soziostrukturelle Asymmetrien der Verteilung von Ressourcen primär Folgen unbalancierter Wertskalen: »Objektive Lagen« und klassenförmige Positionierungen können nicht als unintendierte Effekte einer abgekoppelten Rationalität autonomer Wertsphären (Lepsius 1990) oder als Folgen systemischer Koordination (Habermas 1981) ins Spiel kommen. Verteilungseffekte bleiben vielmehr Phänomene versagter Anerkennung und damit normativ aufgeladene Resultate einer im Prinzip freien kollektiven Entscheidung. Die Sphären abstrakter Handlungskoordination – das Recht, der Markt, das administrative System – werden von Honneth (wie in der pragmatistischen Gesellschaftstheorie von Joas) reduziert auf Arenen intersubjektiver Interaktion (so auch – trotz aller historischen Anreicherung – in: Honneth 2011). Effekte 16 | Das ist zunächst überraschend: war doch Honneths Einwand gegen die pessimistische Sozialpsychologie Adornos, dass dessen Version gesellschaftlicher Vermittlung die intermediäre Struktur von Milieus ausblende (Honneth 1986: 89ff.). Es stellt sich aber heraus, dass dieser Hinweis auf die intermediäre Ebene nicht zur Erweiterung der Strukturmodelle führt, sondern Honneth an die Stelle der abstrakten Systemzusammenhänge nur mehr oder weniger abstrakte Interaktionsarenen setzt. Diese sind also streng genommen überhaupt nicht ›intermediär‹, weil sie nicht zwischen zwei anderen Ebenen vermitteln.
7. Von der anerkannten Ungleichheit zur ungleichen Anerkennung
funktionaler Differenzierung spannen über der zweidimensionalen Fläche der Nahverhältnisse interpersonaler Anerkennung jedoch eine dritte Dimension der Vergesellschaftung und damit erst den Raum moderner Gesellschaft auf.17 Diese dritte Dimension bleibt bei Honneth auf die Fläche normativer Konflikte erster Ordnung reduziert. Deshalb und nur dadurch ist es ihm möglich, trotz aller Steuerungskrisen und Anonymisierungseffekte moderner Vergesellschaftungsformen an der Idee der politischen Verhandelbarkeit der Sozialstruktur und des normativen Horizontes einer Gesellschaft festzuhalten. Die Durchsetzung wohlfahrtsstaatlicher Institutionen und damit, wie Honneth meint, die Institutionalisierung des Prinzips der rechtlichen Gleichbehandlung sollen zeigen, »inwiefern historische Veränderungen durch Innovationen bewirkt werden können, die ihren Ursprung in nichts anderem als der Überzeugungskraft oder besser: der jeweiligen Unabweisbarkeit moralischer Gründe haben.« (Honneth 2003b: 177; ebenso: Honneth 2011) Dieses Zutrauen in die fortschrittliche Potenz und den strukturdynamischen Primat moralischer Empörung ist Ausdruck einer Gesellschaftstheorie, die den empirisch unabweisbaren Phänomenen sowohl funktionaler als auch kultureller Differenzierung das normative Modell einer kollektiven Arena entgegensetzt, in der Wertskalen und die Zuteilung von Anerkennungen gemeinschaftlich ausgehandelt (eingeklagt, artikuliert, politisiert und gegebenenfalls institutionalisiert) werden können. Diese tendenzielle Gleichsetzung von Gesellschaft mit einer (um abstrakte Medien der Solidarität ergänzten) Gemeinschaft unterschätzt aber die Folgen einer multiplen Differenzierung. Dazu gehören Effekte der Abkoppelung abstrakter Koordination von der interaktiven Sphäre der Aushandlung identitätsrelevanter Interessen und Entscheidungen (Habermas 1981, und mit deutlich größerem Akzent auf der Differenz zwischen expliziten und impliziten Formen der Koordination: Renn 2006a). Doch das ist für die moraltheoretischen Ansprüche Honneths nicht der entscheidende Punkt. Zentral ist vielmehr das Problem einer Differenzierung von Perspektiven auf die Struktur der Gesellschaft, deren einheitliche »Repräsentation« in der Sprache einer gemeinsamen Wertordnung durch Differenzierungen unmöglich wird. Das wird für Hon17 | Dieses Bild einer komplexeren Dimensionierung der Gesellschaft durch abstrakte Koordinationsmechanismen (die in der Gesellschaftstheorie gebunden wird an ›symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien‹) verpflichtet nicht dazu, Markt und Administration oder überhaupt soziale Systeme im Luhmann’schen Sinne als »normfreie« Räume zu konzipieren (was Honneth und Joas Habermas zuerst zuschreiben und dann vorwerfen, vgl. Honneth 2003b: 167; Joas 1986). Das im Bilde der ›Dreidimensionalität‹ angedeutete Differenzierungsmodell verlangt allerdings, zwischen der konkreten Verhandlung anerkennungsbezogener Identitäten und abstrakten Koordinationen, die Strukturgewinn durch Identitäts-Indifferenz erzielen, zu unterscheiden.
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neth zum Problem, weil seine Anerkennungstheorie allgemein sein will, den Formalismus aber meidet, so dass sie unter der Hand einer einzigen kulturellen und identitätsrelevanten Semantik von Anerkennung und Identität gesellschaftsweite Geltung verleihen muss. Nancy Fraser wirft Honneth unter anderem18 »die Durkheimsche Annahme« vor, die Einheit einer kohärenten Anerkennungsordnung im Sinne einer homogenen öffentlichen Auslegung von Bewertungskriterien als eine Ordnung »gesellschaftlich institutionalisierter Wertmuster« im Singular zu behandeln (Fraser, Honneth 2003: 83).19 Dazu ist Honneth allerdings, wie gesagt, um der Universalisierung der Anerkennungstheorie willen gezwungen. Honneths Konzeption der normativen Struktur moderner Gesellschaft übergeht also notgedrungen das zentrale Problem der institutionellen Differenzierung und Heterogenität von »Anerkennungsordnungen«: Sie sind wegen der Pluralisierung von Kontexten ihrer Auslegung nicht im Singular wirksam, und sie können nicht als eine homogene Wertordnung gesellschaftsweit repräsentiert und verhandelt werden. Nicht nur die Anerkennungsordnung als Ganze kommt in Form von Deutungen mehrfach vor, da ihre Auslegungen so zahlreich sind wie jene Kontexte, Milieus oder »Kulturen«, die sich einen für ihre Identität spezifischen Reim auf »die« Gesellschaft machen. Sondern auch von den von Honneth unterschiedenen Sphären existieren vielfältige »Versionen«, 18 | Fraser bringt gegen Honneths Anerkennungs-»Monismus« die Unterscheidung zwischen »Statusgruppen« und »Klassen« ins Spiel und damit zweierlei Differenzierungsformen (Fraser, Honneth 2003). Ob damit der multiplen Differenzierung und dem oben genannten Phänomen der Interdependenzunterbrechung zwischen sozioökonomischen Lagen und subjektiv-milieuspeziellen Orientierungen hinreichend Rechnung getragen wird, steht jedoch auf einem anderen Blatt. 19 | Auf das Problem der Repräsentation der Einheit der Gesellschaft aber reagiert auch Frasers Gegenvorschlag einer Differenzierung von Gerechtigkeitsdimensionen noch nicht hinreichend: Auch für Frasers Prinzip einer »partizipatorischen Parität« (Fraser, Honneth 2003: 64) gilt, dass aufgrund der sozial eingebetteten Auslegung aller denkbaren normativen Prinzipien Anerkennungsdimensionen keine Inklusionshierarchie bilden, sondern lokal und strukturell widerstreitende Anspruchshorizonte. Eine vergleichbare Version der Vermittlung von Rechten auf Differenz durch Partizipation vertritt Carol Gould: »The best hope for the representation of differance – both individual and group difference – within a democratic polity, is the expansion of opportunities for participation in a diversity of common activities, wether in the discourse of the public sphere or in the social, economic, and smaler scale political institutions that constitute the rest of the public domain. In these contexts, difference can be directly expressed, recognized, and made effective.« (Gould 1996: 186) Hier ist die ›Repräsentation‹ das Problem: Symmetrische ›Parität‹ und adäquate Repräsentation von differenten kulturellen Horizonten ist ein kulturabhängiges, jeweils auslegungsbedürftiges Kriterium.
7. Von der anerkannten Ungleichheit zur ungleichen Anerkennung
wenn z.B. die Institutionen des Rechts ihre eigene rechtsspezifische Übersetzung von »Leistungskriterien« bei der Beurteilung von Verträgen anfertigen oder wenn Organisationen, die auf Personen in der Logik des Marktes zugreifen, juristische und »private« Konditionen durch Umrechnung von externen Bedingungen in Transaktionskosten in die Kapitalrechnung aufnehmen. Die Pluralisierung von normativen Hinsichten und entsprechenden Trägermilieus, in denen soziale Ungleichheit namhaft und schließlich geltend gemacht werden kann, führt zur Erosion einer unproblematischen Grundlage gesellschaftlich verallgemeinerbarer Interessen und Prinzipien – gerade dann, wenn die Abweichungen der Deutungen solcher verallgemeinerbaren Interessen identitätskonstitutiv sind und durch Ansprüche auf Anerkennung im normativen Diskurs Resonanz finden. D.h.: Ausdifferenzierte kulturelle Milieus (und auch: organisatorische Semantiken) verfügen über je eigene »Anerkennungsordnungen«, über jeweils für ihre »Identität« (im Falle abstrakter sozialer Einheiten wie Organisationen eher: für ihre Bestandserhaltung) relevante Versionen einer gesellschaftlichen Ordnung von Anerkennungsdimensionen. Die gesamte »Anerkennungsordnung« einer Gesellschaft als Verhältnis zwischen »Liebe«, »Recht« und »Leistung« (also als Verhältnis zwischen differenzierten Kommunikationsmedien) wird dann als diese selbst in ihrer objektiven und perspektivisch unverzerrten Realität nirgendwo sichtbar, sondern sie verteilt sich in den polykontexturalen Perspektiven gesellschaftlicher Teilsysteme und kultureller Milieus, in denen sie als Einheit der Differenz pluraler Versionen »dieser« Ordnung repräsentiert wird. Der politisch-moralische Konflikt, der über die Struktur einer solchen, in gebrochenen Facetten eher übersetzten als repräsentierten Ordnung (Renn 2006a: 481f.) geführt wird, macht darum zuerst eine Aushandlung oder einen Abgleich zwischen verstreuten und differenten Versionen einer umfassenden Anerkennungsordnung erforderlich. Das Problem ist nur: Die Preisgabe einer »eigenen« Übersetzung der Anerkennungsordnung kann eben jenen kulturellen Horizont verletzen, um dessen Anerkennungswürdigkeit es bei der Einigung auf eine gemeinsame »Anerkennungsordnung« (gerade im Sinne Honneths) letztlich geht. Diese Einwände gegen den Honneth’schen Begriff einer »Anerkennungsordnung« haben zwei Konsequenzen: Erstens ist es erforderlich, der Übervereinfachung des Gesellschaftsmodells eine alternative Version multipler Differenzierung und ihrer Bedeutung für die normativen Implikationen von Identitätspolitiken entgegen zu setzten. Zweitens kann wenigstens ein Hinweis darauf erwartet werden, was daraus für das Projekt einer normativen Theorie der Gesellschaft folgt.
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IV. M ultiple D ifferenzierung : A nerk annte U ngleichheit und ungleiche A nerkennung Das Fazit der bisherigen Überlegungen lautet: Honneth versucht, die Maßstäbe einer kritischen Perspektive auf die Gesellschaft mit den materialen Gehalten partikularer kultureller Selbstdeutungen aufzuladen. Er unterschätzt aber die Konsequenzen, die dieser Zug angesichts der komplexen Differenzierung moderner Gesellschaften nach sich zieht. Honneths Konzeption weicht dem Problem einer Pluralisierung von Auslegungen der gesellschaftlichen Anerkennungsordnung und der schwierigen Übersetzung zwischen diesen Auslegungen aus durch eine reduktionistische praxisphilosophische Konzeption, für die Gesellschaft eine (in Teilen abstrakte) Gemeinschaft bleibt. Dagegen sprechen das Prinzip und die Struktur der Differenzierung zwischen funktionaler und kultureller Differenzierung, wobei die Systemtheorie bekanntlich vorrangig (und ihrerseits eindimensional) die funktionale Perspektive hervorhebt. Der systemtheoretische Einwand gegen das praxisphilosophische Modell der Einheit der Gesellschaft als eines Selbstbestimmungskollektivs greift allerdings seinerseits zu kurz. Der Standardvorbehalt, die Gesellschaft sei nur mehr die dezentrierte und fragmentierte Gesamtheit von Differenzen zwischen autopoietischen Systemen, die sich intentionaler Einsicht und politischer Steuerung entziehen (siehe neben Luhmann 1997 z.B.: Nassehi 2006), hypostasiert die besondere Bauart und Konstellation von Funktionssystemen und deduziert folgerichtig die Struktur kultureller Praktiken und Milieus aus der begrifflichen Formel für Sozialsysteme im Allgemeinen,20 ohne der Multiplizierung von Differenzierungsformen gerecht zu werden. Kulturelle Differenzierung ist jedoch kein Epiphänomen funktionaler Differenzierung, sondern beide bilden zusammen komplexe Konstellationen von Differenzierungen zweiter Ordnung aus, d.h. von Konstellationen der Differenzierung zwischen funktionaler und kultureller Differenzierung (Renn 2006a: 105ff.). In der Sprache der Anerkennungsordnungen bedeutet dies: Die Pluralisierung von Auslegungspraktiken entspricht der kulturellen Differenzierung von normativen Einstellungen zur Gesamtheit der kulturell und funktional differenzierten Struktur einer Gesellschaft. D.h., »die« Gesellschaft ist nur von der partikularen Warte eines spezifischen Milieus aus in einer für die normative
20 | Daraus folgt dann erstens, dass ›Kulturen‹ als ›Semantiken‹ in die Raster der Unterscheidung zwischen Gesellschaft, Funktionssystemen, Organisationen und Interaktionssystemen eingetragen werden; zweitens, dass sie der konstruktivistischen Deutung sozialer Systeme zufolge ohnehin nur selbstreferentielle Projektionen einer fiktiven ›Gesamtordnung‹ sind, so dass eine moralische Intervention in die Gesamtgesellschaft oder gar ihre normative Integration ohnehin nicht in Frage kommen.
7. Von der anerkannten Ungleichheit zur ungleichen Anerkennung
Einschätzung der Berechtigung und der Einlösung von Anerkennungsansprüchen relevanten Weise erfahrbar. Der Differenzierungsgrad von alternativen sozialen Auslegungen von Normen wird nur dann scheinbar nicht zum Problem für eine normative Theorie, wenn diese Theorie durch Formalisierung eine Ebene entwirft, auf der generalisierte Normen zweiter Ordnung (Normfestlegungs-Normen) allen Lebensformen und Milieus, allen Auslegungshorizonten gemeinsam sein könnten.21 Die anspruchsstärkere Konzeption einer Moraltheorie, die materiale Bestimmungen – eine gehaltvolle Verbindung zu Konzeptionen des »guten Lebens« – anstrebt, muss demgegenüber an einem Muster normativer Integration einer Gesellschaft festhalten, für das es immer weniger Plausibilität gibt. Denn mit wachsendem Abstand zur nun schon klassischen Modernisierungstheorie (die Webers Kontingenzbewusstsein kassiert und aus Parsons’ Analysen Blaupausen der Entwicklungspolitik gemacht hat) sehen wir immer deutlicher, dass zunehmende soziale Differenzierung immer weniger mit entsprechender kultureller Integration oder Homogenisierung konvergiert. Gerade deshalb wird ja das Thema der Anerkennung von Differenzen in der Lebensführung und zwischen individuellen und kollektiven Selbstverständnissen auffällig. »Postmodernismus« bezeichnet in diesem Zusammenhang mittlerweile nicht mehr vordringlich die Preisgabe vernünftiger Kriterien des normativen Urteils über faktische Lagen, sondern eine gesteigerte Aufmerksamkeit für die Heterogenität zwischen den einzelnen Fasern eines nur dem Modell nach einheitlichen Projektes der Moderne. Und darum drängt sich für die normative Theorie die Frage geradezu auf, was Normen und Verfahrensregeln (auch womöglich universal gültige Diskursprinzipien) in heterogenen und in ihrer Besonderheit als solche berechtigten Kontexten jeweils bedeuten. Strukturell ist die Auffälligkeit dieser Frage darauf zurückzuführen, dass das Zusammenspiel von funktionaler und kultureller Differenzierung – entgegen der klassischen Auffassung der Modernisierungstheorie – nicht länger kongruente Muster der Verteilung von objektiven Lagen und subjektiven (individuellen wie kollektiven) Orientierungen ausbildet (Renn 2006a: 79ff.). Die Abstandsvergrößerung zwischen materiellen Lebensnöten und kulturellen Selbstverständigungs-Spielräumen hat individualisierende Folgen (Beck 1994) und befördert »postmaterialistische« Werte (Inglehart 1989), d.h. die fortgeschrittene Spreizung zwischen Fragen des täglichen Brotes und Prob21 | Die Habermas’sche Abstraktion der moraltheoretischen Ambition zur Analyse von prozeduralen Normen-Gewinnungs-Verfahrens-Normen (Diskurstheorie der Moral) verschiebt das Problem der partikularen Auslegungen allgemeiner Regeln auf eine Ebene zweiter Ordnung. Damit ist das genannte hermeneutische Problem sozialer Differenzierung nicht gelöst, sondern stattdessen der Standpunkt der Moraltheorie von den Konflikten innerweltlicher Normauslegung weit entrückt.
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lemen einer sublimierten Identitätssuche führt zu einer »Interdependenzunterbrechung«. Diese koppelt Schichtungsindikatoren als Repräsentationen von Mustern der Inklusion in funktionale Sphären ab von Mustern der milieukonstitutiven Wertorientierungen (Schulze 1996) – auch wenn diese Abkoppelung themenbezogen, etwa mit Rücksicht auf Bindungen an politische Parteien, unterschiedlich stark ausgeprägt ausfallen mag (Otte 2005).22 D.h., dass sich kulturelle Milieus in wachsender Unabhängigkeit von sozioökonomischen Positionierungen konstituieren und gegeneinander differenzieren, so dass eine Einteilung von Trägergruppen, die sich gemessen am Kriterium der »Verteilungsgerechtigkeit« gegenüber stehen, nicht mehr auf die Differenz zwischen Gruppen abzubilden ist, die durch geteilten Habitus integriert sind. Sozioökonomische Klassen (»an sich«) verteilen sich auf heterogen differenzierte Milieus, die wahlweise kulturelle, habituelle oder in bestimmten Fällen (u.a. im Kontext von Migration) ethnische oder religiöse Grenzen gegeneinander ziehen – entweder explizit oder auf der Ebene pragmatischer Routinen und performativer Verständnishorizonte. Auf diesen Wandel reagiert die Konjunktur des Lebensstilbegriffes im Feld der Sozialstrukturanalyse (Bertram, Dannenbeck 1990; Otte 2005) sowie die Parole einer durch »Individualisierung« (also durch die diachrone wie synchrone Lockerung der Zuordnungen zwischen Einzelpersonen und Kollektiven) angezeigten Tendenz in Richtung einer Situation »Jenseits von Stand und Klasse« (Beck 1994), die – so jedenfalls Ulrich Beck – auch durch immer noch an objektiven Lagen orientierte Schichtungsmodelle nicht mehr eingefangen werden. Konflikte, die in derart verkomplizierten gesellschaftlichen Lagen auf Ausgleich drängen – sofern sie Trägergruppen und Arenen finden – lassen sich dann nicht länger auf einer einzigen, zentralen Konfliktlinie abbilden und entsprechend abarbeiten (Leggewie 1997), sondern sie überlagern einander und können leicht in Dilemmata führen, etwa in die vordergründig unlösbare Spannung zwischen dem Recht auf Anerkennung kollektiv kultureller Praktiken und universalistisch begründeten Mindestrechten auf Selbstbestimmung einzelner Personen. So gehört es offenbar zur kulturellen Identität der »First Nations« in Kanada, dass die Möglichkeiten des Verlustes des Zugehörigkeitsstatus geschlechtsspezifisch ungleich verteilt werden. Frauen büßen z.B. im 22 | Gruppensolidarität und Identität sind auf eine Art integriert, die sich von der Organisation der Arbeit oder schließlich von der abstrakten (systemischen) Koordination wirtschaftlichen Handelns unterscheidet bzw. sukzessive abkoppelt, bis endlich objektive, soziostrukturelle Lagen (Einkommen, Ausbildungsstand) und subjektive oder milieuspezifische Orientierungen (Einstellungsmuster, Lebensstile, Präferenzen, siehe: Schulze 1996; Hradil 1992) sichtbar unabhängig voneinander geordnet und konstituiert werden.
7. Von der anerkannten Ungleichheit zur ungleichen Anerkennung
Gegensatz zu Männern ihren Status und damit Ansprüche auf kompensatorisch gewährte Sonderrechte durch Exogamie ein. In der Bewertung solcher Folgen des »Indian Act« von 1876 kollidieren also kollektive Ansprüche einer Gruppe auf Anerkennung mit kollektiv anerkannten Ansprüchen auf Gleichbehandlung der Geschlechter (Benhabib 2002: 54).23 Und auch in westeuropäischen Ländern, die Identitätspolitik kaum aus der Verhandlung der Anliegen indigener Bevölkerung kennengelernt haben,24 drehen sich zentrale Konfliktachsen aus einer Lage, in der ökonomischer Status und Parteibindung (und damit ordnungspolitisches Credo) korrelierten, so dass es zu einer Entkoppelung von traditionell verbundenen Positionen in einem klaren »rechts-links«-Spektrum kommt. So lässt die Verteilung zwischen »liberalistischen« oder aber »staatsdistributiven« Überzeugungen keine Schlüsse mehr zu auf die Haltung der jeweiligen Vertreter innerhalb des Spektrums zwischen einerseits »autoritären«, andererseits »libertär-individualistischen« Ausrichtungen (Kitschelt 2001). Dadurch eröffnet sich u.a. ein wachsender Spielraum für Formen der Ethnisierung von sozialen Konflikten im Sinne einer Überlagerung sozioökonomisch induzierter Exklusionseffekte durch Deutungsmuster, die nationale, religiöse und ethnische Selbst- und Fremdzuschreibungen ins Zentrum rücken. Wenn dann die asymmetrische regionale Verteilung von Flüchtlingsunterkünften auf Quartiere, die ohnehin von Prekarisierungseffekten bestimmt werden, von den Anwohnern mit xenophoben Ressentiments beantwortet wird, so werden dabei in der »TeilnehmerPerspektive« durch hoch selektive und verzerrende Kausalattributionen unbalancierte »Anerkennungsordnungen« auf Gruppenantagonismen reduziert. Diese Pluralisierung von normativen Hinsichten und institutionellen Kontexten, in denen Ungleichheiten sozial geltend gemacht werden können, befördert die Erosion eines zuvor in westlichen Wohlfahrtsstaaten einigermaßen unproblematischen sozialen Konsenses über die normativen Maßstäbe der Bemessung gerechter Verteilung von Ressourcen und Chancen entlang der historisch zunächst bewährten Differenz zwischen »Kapital« und »Arbeit« und ihren »sozialpartnerschaftlichen« Nachfolgesemantiken.
23 | Ein Problem, das im Zusammenhang mit liberalistisch begründeten Entwürfen einer normativ akzeptablen multikulturellen Ordnung (Kymlicka 1995) in der Frage des Umgangs mit illiberalen Gruppen beunruhigt. 24 | Vielleicht aber in Form kulturell und muttersprachlich geteilter Populationen, wie in Belgien und der Schweiz, oder in Gestalt kulturell stark integrierter (teils religiös separierter) Minderheiten, wie in Spanien und Großbritannien: Deutschland gilt trotz großer Migrationsströme der vergangenen Jahrzehnte (deren Löwenanteil auf Aussiedler‹ entfällt) im Vergleich als überdurchschnittlich »kulturell homogen« – auch wenn dies angesichts der Milieudifferenzierung eine Überdeutung darstellt.
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Der wohlfahrtsstaatliche Kompromiss einer wenigstens der Tendenz nach zustimmungsfähigen Kompensation von Verteilungs-Ungleichgewichten25 konnte breite und integrationsfördernde Anerkennung im nationalstaatlichen Rahmen finden. In diesem Sinne beruht eine (idealtypisch zugespitzte) Nachkriegs-Anerkennungsordnung der westlichen Industrienationen auf dem Prinzip einer anerkannten Ungleichheit. Der relative soziale Konsens über die normativen Maßstäbe für eine gerechte Verteilung bedeutet nicht, dass faktische oder als faktisch betrachtete soziale Ungleichheiten Akzeptanz fanden,26 impliziert jedoch eine für die Einigung auf institutionelle Kompromisse hinreichende Übereinstimmung in der Bemessungsgrundlage. Die Karriere identitätspolitischer Fragen und die Vermehrung von Arenen diverser Kämpfe um Anerkennung (zunächst in Kanada und den U.S.A) kündigen den Nachkriegs-Waffenstillstand nationalstaatlich gebundener Wohlfahrtsregime auf. »Klassische« soziale Ungleichheiten erhalten einerseits auch durch diese Verschiebung – nun unter anderen Titeln (»Exklusion«) – neues Gewicht, sie treten aber im Lichte komplexer institutioneller Kontexte jeweils andersartiger normativer Ansprüche auf identitätsrelevante Anerkennung nicht länger als »Grundwiderspruch« in Erscheinung. Das Grundproblem wird die ungleiche Anerkennung von Konfliktdefinitionen. Sofern in dieser Lage wesentliche normative Fragen unter der Oberfläche blieben (so z.B. die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, aber auch die Diskriminierung von minoritären Lebensformen), bedeutet die gewachsene Aufmerksamkeit für Fragen der Anerkennung einen Fortschritt an praktischer Einlösung des mit dem moralischen Anspruch auf Gleichheit verbundenen Universalitätsversprechens (Honneth 2011). Doch es ist zweifelhaft, ob dieser Fortschritt (der ja zudem eine Erosion normativer Übereinstimmung impliziert) auf die Politisierung und Institutionalisierung moralischer Ansprüche durch soziale Bewegungen als »Avantgarde« der Ausdehnung von Teilhabeansprüchen zurückgeführt werden kann (dieses Bild aber zeichnet die Rekonstruktion von Honneth in: 2003b und 2011). Es sind eher ungeplante und nicht auf normative Projekte zurückgehende ökonomische und kulturelle Grenzüberschreitungen, aufgrund derer poli25 | Jedenfalls im nationalen Rahmen, der nicht wenig von starken internationalen Asymmetrien profitiert hat, so dass strukturelle Arbeitslosigkeit als Folge der Globalisierung auch als eine aufholende Einlösung von Ansprüchen auf Verteilungsgerechtigkeit – nun zwischen ›erster‹, ›zweiter‹ und ›dritter‹ Welt – gewertet werden können (so jedenfalls: Münch 1998). 26 | Obwohl zu den retardierenden Momenten der ›ersten Moderne‹ – den ständischen Resten – Elemente traditionellen Einverständnisses mit hierarchischen Beziehungen und asymmetrischen Verteilungen sowie mit paternalistischen Arrangements (natürlich vor allem zwischen den Geschlechtern) gehört haben mögen.
7. Von der anerkannten Ungleichheit zur ungleichen Anerkennung
tische Institutionen in ihrer eingespielten Handlungsreichweite den Anschluss an regelungsbedürftige Handlungszusammenhänge verlieren, ihre klassischen Sicherheits- und Wohlfahrtsleistungen immer weniger erreichen und garantieren können und somit schließlich intern an Vertrauen verlieren (vgl. dazu: Streeck 2013). Dies ist ein wesentlicher Faktor bei der Auflösung eines gewissen Nachkriegsgleichgewichtes einer nationalstaatlich weitgehend homogenen (oder wenigstens homogen erscheinenden) Anerkennung von gleichen Maßstäben für soziale Ungleichheit. Dieses Gleichgewicht scheint sich bei der Extension und Verschiebung abstrakter Koordination auf eine höhere Ebene, beispielsweise im Zuge der Institutionalisierung der EU als Mehrebenen-Konstellation, nicht wiederherstellen zu lassen. Die funktionalen oder einfach technischen Probleme, die den Versuchen der EU anhaften, zugleich ihre Handlungskompetenz auszuweiten und demokratische Legitimation für eine erweiterte Mehrebenenpolitik zu institutionalisieren, beschreibt z.B. Michael Zürn als ein »Demokratiedilemma« (Zürn 1998: 235). Denn optimierende Innovationen, die in der einen Richtung Wirkungen entfalten (etwa: Vergrößerung von Handlungsreichweite und Regulierungskompetenz), verschärfen in der anderen Richtung das Problem (Verringerung von Transparenz und demokratischer Legitimation). Statt einer nachholenden Vereinheitlichung von legitimationstauglichen normativen Standards (»europäische Kultur« als Resonanzboden einer europäischen Öffentlichkeit) zeichnen sich Tendenzen der Fragmentierung ab.27 Von den Trägern separatistischer Interessen wird nicht länger an den Nationalstaat appelliert, um über die integrierte politische Steuerung des Gemeinwesens den eigenen Anteil an diesem zu optimieren (Verteilungsgerechtigkeit bei anerkannten gemeinsamen Maßstäben der Ungleichheit), sondern die Ablösung vom Zentrum angestrebt, das vor allem angesichts eigener Prosperität nurmehr als Verteiler zu eigenen Ungunsten wahrgenommen wird.28 Wenn dabei die kulturellen Differenzen, die ethnisch-religiöse Einheit und entsprechend konstruierte Narrative der eigenen diachronen Identität ins Feld geführt 27 | Sie kann sich einerseits in der ethnischen Umcodierung sozialer Konflikte und ›Anerkennungsmängel‹ als Rechtspopulismus oder Xenophobie ausdrücken, andererseits in separatistischen Regionalismen, für die in Europa die Lega Nord das beste Beispiel ist. Denn an ihr wird deutlich, wodurch eine Minorität separatistische Ambitionen ausbildet: Prosperität, starke Zentralisierung des ungeliebten Nationalstaates, ausgeprägte ökonomische und kulturelle Verbindungen über die nationalstaatlichen Grenzen hinweg (Zürn 1998: 260ff.). 28 | Es fällt auf, dass seit den 70er Jahren die abgrenzbaren Minoritäten, die in pauperisierten Regionen lokalisiert sind, »ruhiger« geworden sind, während nun regionale Ambitionen auf der Grundlage ökonomischer Prosperität hörbar werden, z.B. in Norditalien, Schottland, mittlerweile auch in Wales (Zürn 1998).
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werden, um Ambitionen auf Entsolidarisierung zu legitimieren, wird deutlich, dass hier (konstruierte) kulturelle Differenzen eine kollektive »exit option« (gegenüber »voice«, vgl. Hirschmann 1974) rechtfertigen sollen und zur Aufkündigung homogener normativer Standards instrumentalisiert werden. Der Wechsel von der sozial anerkannten Deutung von Ungleichheit zur ungleichen Deutung von Anerkennungsordnungen sowie von anerkennungswürdigen partikularen Identitäten und Interessen findet Resonanz im differenztheoretischen Denken in der politischen Theorie. Es beruft sich natürlich nicht allein auf empirische Beispiele für ethnisierte Konflikte und separatistische Identitätspolitik, sondern entstammt u.a. der Tradition der feministischen Kritik an den verschwiegenen maskulinen Vorannahmen der liberalen politischen Ideologie (Phillips 1996: 139). Hier geht die postmodernistische oder dekonstruktivistische Lektüre klassischer politischer und philosophischer Texte (Irigaray 1991) eine Verbindung mit der kommunitaristischen Kritik (z.B. Sandel 1982) ein, insofern beide Seiten – mit unterschiedlichen Zielvorstellungen – vor allem das liberale Paradigma des politischen, männlichen Individuums kritisieren.29 Die Dekonstruktion geht allerdings einen Schritt weiter als der Appell an Gemeinschaftlichkeit. Sie zeigt, dass in die theoretische Unterstellung einer normativen Homogenität komplexer (d.h. intern differenzierter und faktisch kulturell fragmentierter) Gesellschaften auf verschwiegene Weise spezifische kulturelle Charakteristika eingehen. Das liberale Modell des Staatsbürgers bringt dann eine durch abstrakte Institutionalisierung verschleierte kulturelle Hegemonie zum Ausdruck, nicht aber einen Kulturen übergreifenden normativen Konsens. Der theoretische Gewinn differenztheoretischer Analysen besteht indessen nicht allein in der Aufmerksamkeit für die verschleierte Hegemonie eines partikularen kulturellen Entwurfes, der sich als neutrale Klammer eines normativen Ganzen ausgibt (der »dritte« als der »allgemeine« Stand). Er besteht darüber hinaus darin, dass die ungleichen Deutungen gesellschaftlicher Anerkennungsordnungen zueinander unterschiedliche Arten von Differenzen aufweisen.30 29 | Die postmoderne Variante der normativen Alternative geht dabei zum Teil so weit, den Verzicht auf Identität und das kreative Spiel mit Differenzen zum politischen und persönlichen Modell zu erheben (Connolly 1991). Zur Vergesslichkeit solcher Konzeptionen in Bezug auf ökonomische Ungleichheit und politische Exklusion siehe Phillips (1996: 144). 30 | »The diversity most liberals have in mind is a diversity of beliefs, opinions, preferences, and goals, all of which may stem from the variaty of experience, but are considered as in principle detachable from this.« (Phillips 1996: 140) Dies, so Phillips, macht aus den fraglichen Differenzen kognitive Differenzen, die ohne große Verzerrungen repräsentierbar sind, so dass politische Repräsentation liberalistisch als unproblema-
7. Von der anerkannten Ungleichheit zur ungleichen Anerkennung
Die normativen Orientierungen habituell integrierter Milieus unterscheiden sich auf eine andere Weise (nämlich auf der performativen Ebene) von typengleichen, aber kulturell differenten Orientierungen als sie sich von expliziten, institutionellen oder gar systemischen Artikulationen normativer Regeln unterscheiden (Renn 2006a: 110ff.). So unterscheidet sich der Unterschied zwischen zwei divergenten Alltagsreligiositäten deutlich vom Unterschied zwischen praktisch gelebter Frömmigkeit und organisierter, professioneller Theologie. Zur kulturellen Differenz tritt hier das Ebenengefälle zwischen praktischer Routine und rationalisierter expliziter Kodifikation hinzu. Aus diesem Unterschied (aus dem Unterschied zwischen Unterschieden) – nicht schon aus kulturellen Differenzen, die auf einer Ebene liegen – folgt die normativ bedeutsame Heterogenität von gegeneinander nicht verrechenbaren Anerkennungsdimensionen. Das entscheidende Problem einer auch identitätspolitisch motivierten Differenzierung normativer Horizonte ist darum nicht die Form einer Anerkennungsordnung »erster Ordnung« (konzentrisch angeordnete Dimensionen im Sinne Honneths), sondern ein Problem »zweiter Ordnung«: die Frage nach je konkreten sozialen Bedingungen der praktischen Möglichkeit, heterogenen Ansprüchen auf die Bestimmung dessen, was Anerkennung (hier und jetzt, für mich und uns) bedeutet, Anerkennung zuteilwerden zu lassen.
V. A usblick auf normative Ü berse t zungsverhältnisse Die empirische Ungleichheitsforschung kann von der Ausweitung der normativen Theorie durch die Sprache der Anerkennungsprobleme profitieren – es ist gewiss besser, d.h. feinkörniger und phänomensensibler, soziale Konflikte mit den Mitteln einer Intersubjektivitätstheorie der Identität zu bearbeiten (Honneth), als die Differenzierung von Formen der sozialen Ungleichheit durch eine General-Semantik systemischer Exklusion zu verstellen (Systemtheorie). Der Honneth’sche Anspruch auf eine Gesellschaftstheorie ist mit seiner »flachen« Version einer homogenen und strukturell einfachen, nämlich konzentrischen Anerkennungsordnung jedoch nicht eingelöst. Eine adäquate Gesellschaftstheorie muss der Komplexität sozialer Differenzierung Rechnung tragen. Diese Komplexität liefert Hinweise auf eine äußerst facettenreiche Agenda der Ungleichheitsforschung. Zu ihren Aufgaben tisch gedacht werden kann. Repräsentierbare Differenzen werden so vornehmlich als individuelle Präferenzen, die das liberale Konzept des Individuums unterstellt, oder als artikulierte Gruppeninteressen im Sinne der rationalen Aggregation von Individualinteressen gedeutet (Dallmayr 1996: 282). Dallmeyer weist darauf hin, dass die Einheit kultureller Lebensformen auf andere, nämlich implizite und praktische Weise zustande kommt (vgl. Young 1990, und siehe auch Renn 2006a: 304ff.).
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gehört die Dechiffrierung von unterschiedlichen Übersetzungswegen, die zwischen individuellen Entwürfen der Lebensführung, milieuspezifischen normativen Horizonten (die in Gestalt performativer Routinen wirksam werden), organisationsinternen Regeln, institutionalisierten formalen Ansprüchen und systemischen Codes bestehen. Die Analyse von Formen der faktischen sozialen Aushandlung von widerstreitenden Auslegungen gesellschaftlicher Anerkennungsordnung(en) trifft auf jeweils interne Übersetzungen von externen Gerechtigkeitssemantiken, und sie muss entsprechend zwischen den jeweiligen Arenen, in denen solche Übersetzungen auf eigensinnige Weise verhandelt werden, differenzieren. Dabei könnte sie die jeweiligen Interferenzen (Renn 2006a: 445f.) sichtbar machen, die sich z.B. innerhalb des Mikromilieus einer Paarbeziehung als Übersetzungen der normativen Imperative aus Markt, Recht, Organisation und externen Milieus bemerkbar machen (in Gestalt der praktischen Bedeutung, die jene Imperative in situ erhalten). Die lokale »Anerkennungsordnung« der Beteiligten lässt sich dann – bezogen auf den Modus des dabei zur Geltung kommenden Wissens der Beteiligten – als ein intern gebildeter working agreement (Goffman 1981) verstehen. Dieser Konsens platziert die faktische Kooperation und Arbeitsteilung zwischen den Beteiligten auf eine milieuspezifische Weise zwischen den internen Anerkennungsansprüchen und der Resonanz für externe Imperative und Gewährleistungen. Eine allgemeine normative Theorie der moralischen Grundlagen spätmoderner Vergesellschaftung lässt sich auf dem Weg der Analyse solcher und anderer empirischer Anerkennungskonstellationen sicher nur schwer gewinnen. Aber die normative Theorie hat angesichts der Differenzierung von normativen Horizonten und wegen des nun ausführlich diskutierten Problems heterogener Auslegungshorizonte ohnehin nur zwei Möglichkeiten: Sie kann sich erstens auf die formale Ebene zurückziehen – und muss selbst dann eingestehen, dass die formale Artikulation von allgemeinen Prinzipien keine einfache Übertragung in materiale soziale Konflikte und Auseinandersetzungen oder gar deren Entscheidung erlaubt, sondern Wege der Übersetzung einrechnen muss, die sie nicht kontrollieren kann. Oder sie folgt zweitens Honneth auf dem Weg zu einer materialeren normativen Theorie berechtigter individueller und kollektiver Anerkennungsansprüche. Sie kann sich als eine Advokatin partikularer und in der Faktizität sozialer Rechtfertigungsansprüche endogen gewachsener Ansprüche verstehen (ganz im Sinne von: Boltanski und Thévenot 2007: 43ff.). Eine solche normative Theorie muss dann aber auf ihren Universalitätsanspruch verzichten und stattdessen sich selbst als partikulare Artikulation eines – allerdings sorgfältig überlegten – Entwurfes einer »Anerkennungsordnung« ins Spiel bringen. Damit aber wird die kritische Soziologie parteilich. Und auch wenn diese Parteilichkeit in Grenzen gegen die seinerseits missbräuchlich hypostasierte Maxime der »Wertfreiheit« verteidigt werden kann, so muss die soziologische Theorie und Analyse der Gesellschaft
7. Von der anerkannten Ungleichheit zur ungleichen Anerkennung
doch die Unterscheidung zwischen theoretisch begründeter Empörung und distanzierter Theoriebildung verteidigen. Das wäre ein wissenschaftsspezifischer Imperativ zur Verteidigung von Differenzierungsgewinnen.
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8. Gewalt und kulturelle Selbstbehauptung Die Bildung und die Aufrechterhaltung einer »kulturellen Identität« hängen in modernen, pluralistischen Verhältnissen auf vielfältige Weise mit Gewalt zusammen. Die Aspiration auf gesicherte Identität kann unter entsprechenden Bedingungen selbst zu gewaltsamen Formen der Selbstbehauptung führen. Eine entsprechende Identitätszuschreibung kann das Ziel aber auch der Auslöser von direkter oder indirekter Gewalt sein. Die mit jener Identitätszuschreibung adressierte performative Kultur wird ihrerseits schließlich eine eigene »Deutung«, was überhaupt »Gewalt« sei, ausbilden und gegebenenfalls artikulieren. Gerade durch den letzten Punkt – dadurch, dass »Gewalt« kein rein objektives Phänomen in Unabhängigkeit von kulturell inspirierten Interpretationen ist – wird angezeigt, dass in einer pluralistischen Gesellschaft nicht nur die Formen des interkulturellen Umgangs, sondern auch die Definitionen und Bewertungen der Gewalt umstritten sind. Darum müssen die folgenden Analysen, die der Frage der möglichen Gewaltsamkeit kultureller Selbstbehauptung nachgehen, zugleich die oft geforderte Beschränkung des Gewaltbegriffs auf die physische Gewalt problematisieren. Denn diese Forderung drückt zwar einerseits die legitime Vorsicht gegenüber inflationären Gewaltbegriffen aus, sie tendiert aber zu einer problematischen Naturalisierung und Verengung des fraglichen Begriffs. »Gewalt« gehört nicht ausschließlich ins Reich kausaler Beziehungen zwischen sinnfreien Entitäten, sondern sie muss, um als »Gewalt« gelten zu können, mit Notwendigkeit in das Licht symbolischer Beziehungen getaucht sein. Mit Bezug auf das Problem kultureller Pluralisierung – damit auch der Pluralisierung der symbolischen Schematisierungen von physischen Akten als »Gewalttaten« – wird in den folgenden Überlegungen eine komplexere Bestimmung des Gewaltbegriffs vorgeschlagen, die die Verschränkung von materieller Intervention und symbolischer Bedeutung auf das Kriterium der – niemals interpretationsunabhängigen – Autonomie der Person und das Moment der Erfahrungsoffenheit im interkulturellen Austausch bezieht.
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Per formative Kultur und multiple Differenzierung
I. G e walt und K ultur Die Diskussion um den Begriff der Gewalt und um die Methode sowie um die Theorie einer soziologischen Gewaltanalyse ist vor geraumer Zeit in Bewegung geraten. Der vormals etablierten Soziologie der Gewalt wird von einigen so genannten ›Erneuerern‹ vorgeworfen, sich zu sehr auf makrostrukturelle Ursachenzuschreibungen und eine konventionelle Formen der Handlungstheorie zu beschränken. Gefordert wird eine mikrologische Konzentration auf die konkrete Gewalterfahrung, in der das Phänomen der gewalttätigen Interaktion und die Erlebnisdimension auf Opfer- wie Täterseite nicht länger übersprungen werden. An die Stelle von Erklärungen, die sowohl das Erleben als auch das Erleiden und die Verantwortung unsichtbar zu machen drohten, solle z.B. eine dichte Beschreibung treten (Trotha 1997; Nedelmann 1997).1 Das Votum für einen mikrologischen Fokus zieht weitere Forderungen nach sich: Erstens die Kritik an den handlungstheoretischen Voraussetzungen der gewohnten Gewaltforschung, zweitens eine dezidierte Einschränkung des Gewaltbegriffs auf die physische Gewalt und drittens eine spezifische (zeitgemäß skeptische) Einschätzung des Verhältnisses zwischen Moderne und allgemeinem Gewaltniveau. Für alle drei genannten Tendenzen sind die Arbeiten von Wolfgang Sofsky besonders symptomatisch. In seinem Traktat über die Gewalt (1996) und anderen Schriften erscheint die Gewalt mitunter als ein autopoietisches Phänomen (siehe: Hüttermann 2000: 66), dessen Genese und Dynamik zwar interaktionslogisch beschrieben werden könne und solle, an das man mit Vernunftzumutungen jedoch nicht herantreten müsse. Das bedeutet zweierlei: Gewalt wird als sinnlos ausgezeichnet, was einen deutlichen Abstand von der traditionellen Zuordnung der Gewalt zum Modell des zweckrationalen Handelns markiert (auf der Grundlage dieses Modells grenzt man die Gewalt im Wesentlichen vermittels der Kriterien der Illegitimität von Zwecksetzung und Mittelwahl ein): Gewalt lässt sich nicht auf die Intention der Täter zurechnen, nicht aus deren Absichten, Motiven und Zielen »erklären«. Es ist dann kein »strategisches« Handeln, bei dem alter ego kalkuliert zum Mittel degradiert wird (Habermas 1981). Denn erstens entwickeln Gewaltinteraktionen eine situative und eskalierende Dynamik, die sich nicht auf Pläne der Personen zurückrechnen lässt und zweitens verbinden die Täter in den prominentesten 1 | Wie wenig die Berufung auf den Geertz’schen (von Gilbert Ryle übernommenen) Begriff der dichten Beschreibung (Geertz 1987), der eine Ursachen- oder Motivattribution vervollkommnen, nicht aber überflüssig machen soll, hier berechtigt ist, zeigt Jörg Hüttermann, der nachzuweisen vermag, dass sich die Erneuerer der soziologischen Gewaltforschung fortwährend gegen ihre erklärten Absichten in intentionalen, kausalen und funktionalen Erklärungen konkreter Gewalt üben (vgl. Hüttermann 2000).
8. Gewalt und kulturelle Selbstbehauptung
Fällen angeblich gar keine Absichten mit den Taten.2 Der weitere Aspekt der unangemessenen Vernunftzumutung betrifft das makrotheoretische Problem des Verhältnisses zwischen Moderne oder Modernisierung und Gewalt.3 Die Gleichung, dass die Moderne bzw. die Modernisierung als eine Verminderung der Gewalt in den zwischenmenschlichen Verhältnissen zu begreifen sei, wird mittlerweile stark in Zweifel gezogen. Die Zivilisierung auf der Schiene der Modernität wird von vielen nurmehr als eine Variation der Gestalt von Gewalt gewertet, bei der die Befriedung der nationalstaatlich eingegrenzten Innenräume durch das Gewaltmonopol des Staates auf einer vertiefenden Versenkung der Gewaltsamkeit in das Medium der »kapillaren« Macht (Fraser 1994: 31), der mikropolitischen »Selbst«-kontrolle, ruht (hier im Sinne Foucaults, aber auch von Norbert Elias). Auch Sofsky geht von der handlungs- und subjekttheoretischen Diagnose der Sinnlosigkeit der Gewalt zur anthropologischen These der Allgegenwärtigkeit von Gewalt in menschlichen Verhältnissen überhaupt über.4 Sein zivilisationskritisches Resümee lautet dann, alle Kultur, jede kulturelle »Ordnung«, sei durchdrungen von Gewaltsamkeit, die Zivilisierung der Verhältnisse verändere nur die Gestalt und steigere eher die Intensität der Gewalt (Sofsky 1996). Diese These fällt sehr allgemein aus, ein Unterschied zwischen mehr oder weniger gewaltsamen kulturellen Formen kommt nicht in Betracht. Diese schroffe Position richtet sich natürlich vordergründig gegen ein fortschrittsoptimistisches modernes Selbstverständnis. Sie hat aber, näher betrachtet, mindestens auch eine ganz andere argumentative Funktion. Sie steht im Zusammenhang mit der Begrenzung des Gewaltbegriffes auf das Phänomen physischer Gewalt. Denn dass alle Kultur und jedwede kulturelle Ordnung ein Gewaltverhältnis sei (Gewalt zum Ursprung habe, fördere, legitimiere, raffi2 | Hier liegt eine gewisse Verwandtschaft zu Enzensbergers Beobachtung der Subjektlosigkeit der neueren Attentäter und Bürgerkrieger vor (Enzensberger 1993). 3 | Vgl. dazu zum einen die klassische Problemstellung der impliziten Gewaltsamkeit der (instrumentalistischen) Rationalisierung bei Zygmunt Baumann (Baumann 1996) und die eher modernisierungstheoretische Auseinandersetzung zwischen Hans Joas und Edward A. Tiryakian (Joas 2000; Tiryakian 2000). 4 | Hier, wie in den – gegenüber Sofsky weitaus sorgsameren – Analysen von Trothas, ist der Einfluss der Popitz’schen Anlehnung an die (skeptische Variante der) philosophischen Anthropologie spürbar (vgl. Popitz 1992). Die kritische Auseinandersetzung mit der optimistischen Fanfare der Aufklärung, die Vernunft – zum Prinzip sozialer Institutionen erhoben – schaffe die Gewalt ab, greift zurück auf die konservative Naturalisierung des Konkurrenzprinzips (homo homini lupus; und das soll erst recht der Fall sein, wenn er kultiviert ist), erklärt Gewalt zur Bedingung der Stabilität jeglicher sozialer Ordnung und kann dann in der Konsequenz nur die Entscheidung zwischen Anarchie oder kraftvoller Autorität anempfehlen.
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niere etc.), lässt sich nur konsistent behaupten, wenn das Phänomen der Gewalt naturalistisch identifiziert wird. Anderenfalls fiele nämlich schnell auf, dass die entlarvte Kultur auf beiden Seiten der Gleichung auftreten müsste: Zum einen als propositionaler Bestandteil der anthropologisch naturalisierenden Behauptung, Gewalt sei und bleibe formvariable Konstante menschlicher Lebensverhältnisse, zum anderen auf der konzeptionellen Seite, die den semantischen Hintergrund dafür gibt, etwas überhaupt »Gewalt« zu nennen. Die normative Imprägnierung der Bezeichnung physischer Interaktion als Gewalttat setzt einen seinerseits kulturell konstituierten Bezugsrahmen der Zuschreibung voraus, von dem nur auf paradoxale Weise gesagt werden könne, dass er selbst eine unausweichlich gewaltimprägnierte Interpretationsfolie sei. Es wäre deshalb ein kulturneutraler Gewaltbegriff notwendig, wenn die allgemeine Formel, alle Kultur sei Gewaltverhältnis, nicht inkohärent, weil gültig nur relativ zu einem partikularen kulturellen Horizont, sein soll. Das erste Indiz für dieses begriffliche Problem ist deswegen die normative Neutralisierung des Gewaltbegriffs. Gewalt als das Unerlaubte von normativ neutralen oder legitimen physischen Interventionen (wie dem lebensrettenden Luftröhrenschnitt) zu unterscheiden, setzt einen normativen Maßstab voraus, der im Fall der durchgängig skeptischen Beschreibung der Moderne nicht der normative Horizont der Moderne selbst sein kann. Man muss dann anders vorgehen: man kann sich dazu durchringen, die Gewaltphänomene und -varianten in einer »rein deskriptiven« Einstellung zu identifizieren. Dann enthält man sich der Stellungnahme darüber, ob denn nun Gewalt an sich normativ bedenklich, verpönt, unmoralisch sei,5 und hält sich dabei an die Schemata der Innenperspektive eines untersuchten Kontextes. Dann bleibt die Heuristik, die es ermöglicht, Gewalt von kraftvoller physischer Interaktion im Allgemeinen zu scheiden, normativ imprägniert. Nur sind es die Sitten und Normen einer beobachteten Lebensform, eines beschriebenen Kontextes, die für die Unterscheidung leitend sind. Dann aber ist Gewalt immer nur, was als »Gewalt« gilt und beschrieben wird. Und damit öffnet sich das bekannte historistische Dilemma, dass gleichzeitig Unvergleichbarkeit und Vergleichbarkeit zwischen 5 | Die Unterscheidung zwischen legitimer und illegitimer Gewalt, die mit der Monopolisierung der Gewaltausübung durch den Staat verwoben ist, stellt sicher mehr als nur eine Variation dieses Problems dar. Man kann allerdings an Walter Benjamins klassischem Aufsatz über die rechtssetzende und die rechtserhaltende Gewalt – und an Derridas Aufnahme der Motive – zeigen, dass der vermeintliche Nachweis der Grundlosigkeit der Legitimität monopolisierter Gewalt durch die Beschreibung der »rechtssetzenden« Gewalttat von gewissen Ebenen-Konfusionen durchsetzt ist, denn nur eben jenes Recht, das zwischen unrechter und rechter Gewalt zu unterscheiden gestattet, kann zwischen unrechter und rechter Rechtseinsetzung differenzieren – wir können darauf an dieser Stelle nicht näher eingehen (vgl. Benjamin 1981; Derrida 1991: 77).
8. Gewalt und kulturelle Selbstbehauptung
kulturellen Gewaltkonzepten behauptet werden muss. Anders gesagt: Die universalisierende Behauptung entzöge sich propositional der Verpflichtung zur Angabe der Einheit der Differenz zwischen kulturspezifischen Gewaltkonzepten, die sie performativ (durch den Universalitätsanspruch der Behauptung) eingegangen ist. Stärker ist darum die Strategie, Gewaltakte unabhängig von jeder besonderen kulturellen Semantik zu identifizieren. Dabei enthält man sich also auch der normativen Kennzeichnung zweiter Ordnung, dann aber erzwingt die scheinbar vereindeutigende Reduktion der Gewaltsemantik auf das Kriterium der physischen Gewalt eine naturalistische Strategie. Symptomatisch ist dafür eine Beschreibung der Gewalt als ein konstantes Überlebensmedium, zu dem »im übrigen auch Tiere Zugang haben« (Scheerer 2001: 148). Hier sind dann also auch Rohheiten im Reich der Nahrungsketten plötzlich Gewalttaten. Ist aber das Raubtier ein Gewalttäter? Die Folgen naturalisierender Beschreibung werden vielmehr schon in der Bezeichnung »Raubtier« verschleiert, sofern die implizierte Bezugnahme auf die illegitime Aneignung fremden Eigentums (des Lebens des »Beutetiers«) bereits einen Anthropomorphismus darstellt. Die Naturalisierung des Gewaltphänomens besteht also darin, zum einen zu behaupten, Gewalt sei quasi von Natur aus – vor aller Verzweigung kultureller Interaktionsformen – ubiquitär, zum zweiten aber vor allem darin, zu suggerieren, es gäbe eine Möglichkeit den Begriff der »Gewalt« und damit die Regeln der Identifikation von spezifischen Interaktionen als Gewalthandlungen kulturindifferent zu verwenden. Jede Bezeichnung einer Handlung oder einer Handlungssequenz als Gewaltakt oder -interaktion, so muss man demgegenüber festhalten, bleibt jedoch erstens kulturell imprägniert – besteht in der Verwendung kultureller Hintergrundschemata der Unterscheidung – und impliziert normative Kriterien. Die erste Beziehung zwischen »der« Gewalt und »der« Kultur ist damit zwar eine elementare, aber das bedeutet eben nicht eine anthropologische, sondern eine begriffliche Beziehung: Der Satz, dass es in jeder Kultur Gewalt gäbe, bedeutet dann im Gegensatz zu der naturalisierenden Strategie, dass von Gewalt überhaupt nur die Rede sein kann, wo spezifische kulturelle Standards die Typisierung von Interaktionen entlang der Unterscheidung zwischen Gewaltsamkeit und Gewaltfreiheit erlauben.6 Die weiterführende Frage, ob es kulturell differente Niveaus der Gewaltsamkeit gibt (z.B. besondere Kulturen oder Kulte der Gewalt 7), muss dann zugleich
6 | Dann aber ist die naturalistische Klage gegen die zivilisatorische Hybris, die von der Reduktion der Gewalt ausgeht, inkonsistent, denn sie muss die Standards eben jener ›selbstgefälligen‹ Semantik zur Anwendung bringen. 7 | Die Frage, ob »das bürgerliche Zeitalter« einen »Kult der Gewalt« darstellt (Gay 1996), muss zugleich die Frage hervorrufen: in wessen Augen? Fairerweise gehört aber
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die Frage nach der Gültigkeit der Standards der Identifikation und Beurteilung von Interaktionen oder Interaktionsformen sein. Damit ist auf die problematische Frage der Generalisierbarkeit normativer kultureller Standards angespielt, und schließlich auf das Moment der kulturellen Pluralisierung im Verhältnis zwischen kulturellen Lebensformen innerhalb moderner Gesellschaften.8
II. D ie z weifach doppeldeutige »B ehaup tung « kultureller I dentität Unter der Bedingung der Polykontexturalität von Beschreibungen – eben auch des Gewaltphänomens, die für die moderne Gesellschaft typisch ist, tauchen kulturelle Pluralität und kulturelle Konkurrenz eben nicht nur auf der Objektseite der Untersuchung von Gewalt auf, sondern auch auf der Rückseite der Zuschreibung z.B. von Gewaltaffinitäten, dort also, wo über die Typisierung von Interaktionen (quasi vor-)entschieden wird. Das Problem der Identifikation und dasjenige der Erklärung von Gewalt sind also miteinander verwoben, denn auf dem Terrain symbolischer Kämpfe wird in der Moderne auch um die Definition der Grenze zwischen Gewalt und Nicht-Gewalt gekämpft. Die Beschränkung auf die physische Seite der Gewalt ist dabei eine nur scheinbare Lösung, denn sie suggeriert eine kulturelle Neutralität des Gewaltbegriffs, die schon darum nicht erreichbar ist, weil die Unterscheidung zwischen gewaltsamer und neutraler physischer Interaktion stets von kulturellen Schemata abhängig und deshalb notwendig umstritten, selbst mögliches Resultat symbolischer oder rhetorischer Gewalt, bleibt. Mit Bezug auf die symbolischen Kämpfe um ein Recht auf Differenz in der Arena politischer Öffentlichkeiten (Young 1990; Phillips 1996; Connolly 1991) kann die Beschränkung des Gewaltbegriffs auf die physische Gewalt beispielsweise als eine verdeckte kulturelle Aneignung des Rechts verstanden werden, die Spielregeln der multikulturellen Auseinandersetzung um Definitionsmacht (Dallmeyer 1996) festzulegen. Denn nicht nur die Legitimität von Formen der Gewalt, sondern schon die Legitimität der Unterscheidung von Gewalt ist umstritten. Die kulturelle Dimension des Gewaltbegriffs steht also in einem komplexeren Zusammenhang mit der Frage nach kultureller Identität, als dies bei der Beschränkung auf physische Gewalt sichtbar würde. Es ist mehr im Spiel hinzugefügt, dass die erwähnte Arbeit im Original den Titel: »The Cultivation of Hatred« trägt. 8 | Sofern wir an dieser Stelle provisorisch von einer Pluralität von Gesellschaften ausgehen wollen (man kann der Pluralisierung der Formen der Moderne zustimmen (Eisenstadt 2000) und dennoch von einer Weltgesellschaft sprechen).
8. Gewalt und kulturelle Selbstbehauptung
als nur das epistemische Problem des Relativismus der Begriffe: nämlich die Formen der Auseinandersetzung um diese Begriffe, die selbst – in komplexer Selbstbezüglichkeit – erst im Lichte dieser Begriffe beurteilt werden können. Denn Gewaltbegriffe sind selbst Teil der »Identitätspolitik«, einerseits als Materie, die diskursiv und performativ »umstritten« ist, andererseits als mögliches Medium, in dem dieser Streit ausgetragen werden kann. Zu den Bedingungen, die für die moderne Gesellschaft typisch sind, zählt die Pluralisierung von kulturellen Lebensformen, d.h. vor allem die Kontingentsetzung vertrauten kulturellen Hintergrundwissens.9 Sie bedeutet eine Dramatisierung der Aufgabe, eine kulturelle Identität in (personal und kollektiv) hinreichend orientierender Dichte auszubilden und zu behaupten. Gewalt ist unter diesen Bedingungen ein semantisch umkämpftes Thema, zugleich aber eine mögliche Folge der unausweichlichen Konfrontation zwischen kulturellen Lebensformen, d.h. auch: der möglicherweise unwillkommenen oder bedrohlichen Konfrontation von Lebensformen als praktischen Alternativen der Lebensführung, und damit ein mögliches Mittel der Selbstbehauptung von kultureller Identität im Kontext der notorischen und alltäglichen »Entselbstverständlichung«. »Gewalt« wird somit zum Teil durch die modernen Umstände kultureller Selbstbehauptung zunächst definiert, dann aber auch motiviert und ausgelöst, und sie kann schließlich durch eben diese Umstände erklärt werden. So wie die Gewalt als Konzept oder Deutungsschema und als Medium der Auseinandersetzung zugleich ins Spiel kommt, so ist der Begriff der »Selbstbehauptung« in vergleichbarer Form doppeldeutig: Diese Doppeldeutigkeit des Begriffs einer kulturellen »Selbstbehauptung« besteht in der gleichzeitigen Beziehung zur Form der Aussage und zu den Formen der Durchsetzung der Geltung einer solchen Aussage. In der ersten Hinsicht steht die Behauptung eines Selbst im Vordergrund, d.h. die deskriptiv vermeinte Unterstellung einer faktisch bestehenden Identität; in der zweiten Hinsicht dagegen die auf den deskriptiven Gehalt bezogene praktische Durchsetzung und Bewahrung dieses Selbst. Im Falle der kulturellen Identität ist zudem zwischen der Unterstellung und Verteidigung einer kollektiven Identität, der symbolischen oder interaktiv reproduzierten Identität einer Gruppe, und den kulturellen Gehalten der Identität einer einzelnen Person zu unterscheiden. Beides hängt indessen eng miteinander zusammen, insofern die kommunikative und praktische Reproduktion einer kulturellen Lebensform über die interaktive Praxis zugehöriger aber einzelner Personen läuft, die selbst ihre
9 | Das bedeutet einmal die individuell erlebte Erosion biographisch ererbter Vertrautheiten (z.B. im Falle der Migration), zum anderen aber die strukturelle Umstellung der Bedingungen für die Ausbildung einer kollektiven Identität im Sinne abgrenzbarer kultureller Lebensformen.
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Identität aber im Geflecht der kulturellen Lebensform absichern, bestätigen und bewähren.10 Die »Selbstbehauptung« steht für gewöhnlich für die kämpferische – z.T. sowohl manifest als auch latent gewaltsame – Erhaltung der Position, elementar der existentiellen Grundlage, einer Person (oder auch, ethologisch: einer Population) gegenüber bedrohlichen Umständen oder Konkurrenten.11 Sich zu behaupten bedeutet hier zunächst, sich durchzusetzen, aufrechtzuerhalten, gegen Widrigkeiten zu bestehen. Mit der Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno (1982) haben wir gelernt, auf die Rekursivität dieses Ausdrucks zu hören. Selbstbehauptung bedeutet dann nicht allein die Aufrechterhaltung und Verteidigung des Status eines Subjektes, sondern die erzwungene Konstitution dieses Subjektes im Zuge der Unterwerfung anderer und der Umstände, der Dinge sowie der (inneren wie äußeren) Natur. Das Subjekt – verstanden als einzelnes Individuum – erzwingt die eigene Identität im Spiegel der gewaltsamen Identifizierung des sachlichen und personalen Gegenübers und gibt sich selbst »gewaltsam« die Form einer Selbständigkeit, die Substantialität vortäuscht, wo de facto Unselbständigkeit des ego und seiner »Objekte« Voraussetzung bleibt (wobei hier an die Psychoanalyse zu denken ist, vgl. Bürgin 2001). Die Kritik am identifizierenden Denken hat überdies auf die sprachliche Seite der instrumentellen Vernunft aufmerksam gemacht. An dieser Bezugsstelle nimmt sie die Form einer Kritik an der Gewaltsamkeit der Subsumtion des »Nicht-Identischen« unter das Allgemeine des Begriffs an. Damit ist auf die sprachliche Ausdrucksgattung der Behauptung im Sinne von propositional-deskriptiven Bezugnahmen auf einen »Gegenstand« (bzw. entsprechender Sprechakte) angespielt, so dass der Ausdruck der »Selbstbehauptung« zusätzlich zu der Implikation der selbsterhaltenden Handlung den Klang einer selektiven und gewaltsam identifizierenden sprachlichen Bezugnahme auf einen Gegenstand annimmt, dessen Existenz und Identität durch die referentielle Beziehung und die illokutionäre Kraft der Behauptungshandlung unterstellt, wenn nicht »erzeugt« wird (auf dieser Linie argumentiert: Butler 2007: 30ff.). In diesem Horizont meint schließlich Selbstbehauptung, die Behauptung, da sei ein Selbst und zwar dieses, die von diesem Selbst (oder von anderen) an sich selbst und an andere adressiert wird. Diese Formulierung kann für kollektive, sprich kulturelle, wie für individuelle Identitäten auf je verschiedene Weise aufschlussreich sein. Denn die Behauptung der eigenen Identität hat 10 | Vgl. zur praktischen »Seinsweise« kultureller Einheiten: Schiffauer 1997 und 2000, sowie zum hier verwendeten Begriff der soziokulturellen Lebensform, Renn 2002. 11 | Die Dimension der Konkurrenz und der ihr entspringende Primat strategischen Operierens in der Interaktion wird kultursoziologisch bei Bourdieu unterstellt (Bourdieu 1987: 148ff.).
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im individuellen wie im kollektiven Falle dann nicht allein den Charakter der – möglicherweise gewaltsamen – Durchsetzung je eigener Interessen auf Kosten anderer. Sie hat viel eher (der Interessendurchsetzung gegenüber) primär die Bedeutung der Erzwingung einer zugeschriebenen substantiellen Identität, auch in Reaktion auf provozierende, infrage stellende und Kontingenzbewusstsein auslösende Erfahrungen. Wenn die Identität eine strukturelle Entselbstverständlichung von vermeintlichen Gewißheiten und eine Revision des Selbstverständnisses, die die Erfahrungen einer interkulturellen Umgebung verarbeitet, nicht erlaubt, dann muss die – nun fiktive – Identität unter Umständen mit Gewalt durchgesetzt werden. Und diese »Gewalt« betrifft zuerst die kontrafaktisch und fiktive, aber für eine gültige Repräsentation ausgegebene sprachliche Behauptung der eigenen oder einer anderen Identität, d.h. mit Rücksicht auf die Spannung zwischen dem propositionalen Gehalt einer Behauptung des »Selbst« und den performativ aufdringlichen Gegenevidenzen, die »Enttypisierungen« begründen würden, wird die Typisierung einer Identität zu einer erfahrungsresistenten Stereotypisierung. Vor der gewaltsamen Durchsetzung eines schwer zu verteidigenden Anspruchs auf eine vermeintlich authentische »Selbst«- Darstellung liegt die Insistenz auf die referentielle Adäquatheit dieser Darstellung. Ein Hauptanlass für die Beunruhigung kultureller Identitäts-Behauptungen ist unter modernen Bedingungen indessen nicht erst die Präsens »anderer« Kulturen, sondern die Konkurrenz, die der kulturellen Identität durch die abstrakte Inklusion von Personen in formale Bereiche der Personen-Identifikation erwächst: Im Kontext der strukturellen Komplexität einer modernen Gesellschaft wird die materielle, kommunikative »Behauptung« der bloßen Existenz einer Person oder eines Kollektivs und ihrer allgemeinen Eigenschaften mehrheitlich durch die standardisierten Formate der Marktvergesellschaftung, abstrakter Rechtsverhältnisse und administrativer, formaler Organisation gesichert. Personen werden (mehr oder weniger gleichverteilt) in die Leistungs- und Verpflichtungsnetze funktional differenzierter Subsysteme inkludiert (nicht als »Menschen«, aber als »Adressen«). Und auch wenn im Falle unvollkommener Inklusion (illegale Migration, Exklusion) verwandtschaftliche oder kulturell geknüpfte Netzwerke in die Lücken der Inklusion »einspringen«, steht die dadurch mögliche Intensivierung traditionaler kultureller Bindungen indirekt unter dem Druck der alltäglich präsenten differenzierten Identitäts- und Personalitätskonzepte.12 Die symbolische Behauptung der Identität einer kultu12 | So lässt sich eine »fundamentalistische« Erfindung vermeintlich ursprünglicher Religiosität in Migranten-Communities als Reaktion auf direkt und indirekt wirksame Folgen differenzierter Vergesellschaftung in der unmittelbaren Umgebung verstehen (Schiffauer 2000: 190ff.).
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rellen Lebensform und der persönlichen Identität derer, die sich primär über die Zugehörigkeit zu einer solchen Lebensform verstehen, wird gerade durch die erfolgreiche abstrakte Integration über generalisierte Koordinationsmedien (Parsons 1980: 229ff.) prekärer. Denn im modernen Geflecht heterogen integrierter Kommunikationsformen verliert die kulturelle Identität einer Lebensform funktional an Substanz, denn nicht mehr sie, mindestens nicht mehr sie allein trägt die gesellschaftliche Integration und damit die aus dieser Integration resultierende Identifizierung (und Sozialisation) von Personen. Die Einheit und die Vollzuständigkeit einer implizit gewissen und habituell integrierten Lebensform werden relativiert durch die verstetigte Begegnung mit alternativen Lebensformen im kommunikativen und praktischen Geflecht einer Gesellschaft. Diese Konfrontationen rufen nicht allein die äußere formale Organisation der Koexistenz von z.B. residentiell abgeschotteten Lebensformen auf den Plan, die für die Diskussion einer multikulturellen Gesellschaft und in liberalistischen Toleranzmodellen (Kymlicka 1995) das Muster bildet. Obgleich auch diese äußerliche Verhältnis-Bearbeitung sehr bedeutsam ist, denn sie veranlasst performative Kulturen als soziokulturelle Lebensformen dazu, explizit, also im Medium sprachlich propositionaler Artikulation, »Lebensformen« zu werden, d.h. sich einen Namen, eine Adresse, eine explizite Beschreibung ihrer Einheit und ihrer Charakteristika zuzulegen. Kultur, die einen vormals unthematischen Boden und Horizont der Interaktion (als ein praktischer lebensweltlicher Hintergrund) geliefert hat, wird expliziert, wird »Kultur« genannt und damit zu einem Vergleichs- und Anspruchsbegriff abstrahiert (Luhmann 1999). Die Binnenstruktur implizit integrierter kultureller Lebensformen13 (Vergemeinschaftung) ist selbst zutiefst affiziert von Individualisierungsprozessen und Kontrasterfahrungen, durch welche die Individuen in eine reflexive Einstellung gegenüber ihren implizit regulierten Herkunftskontexten gebracht werden.14 Personen sind eben, wenn auch nur fragmentarisch, in vielerlei Organisationen inkludiert – über Ausbildung und formale Rollen, Beruf und Konsumpraxis – so dass ihre eigene Lebensführung nicht ausschließlich im kulturellen Verstehenshorizont und im praktischen Raum einer geschlossenen soziokulturellen Lebensform vollzogen werden kann (in diesem Sinne ist die Vorstellungen von »Parallelgesellschaften« ein Mythos). Die Einzelnen erlangen gegenüber und innerhalb von Lebensformen 13 | Die Einheit einer kulturellen Lebensform entspricht hier der impliziten Grammatik ihrer Sprachpraxis im Sinne Wittgensteins und ist kongruent mit den sprachspielrelativen Grenzen zwischen sinnvollen und sinnlosen Kommunikationen (Wittgenstein 1969). 14 | Hier ist an das Mannheim’sche Beispiel des (Land-Stadt-)Migranten zu erinnern, das schon sehr früh die Dynamik der Auflösung traditionaler Einstellungen (impliziter Gewißheiten) als einen Prozess der kontrastinduzierten Aufforderung zur Reflexion vormals selbstverständlicher Identitätsgehalte beschreibt (Mannheim 1995: 241).
8. Gewalt und kulturelle Selbstbehauptung
nun eine »Exit-Option«. Sie können, ohne durch Ächtung und Sanktion vom Verlust jeglicher sozialen Existenz bedroht zu sein, sich einer anderen Existenzoption zuwenden.15 Schon dadurch verlieren die impliziten Regeln der Praxis einer Lebensform an normativer Alternativlosigkeit. Nicht allein die unbefragbare Gewissheit der impliziten Normen einer Lebensform bildet länger die Grundlage der Geltung von Regeln des Zusammenlebens, sondern im Kontext formaler Organisation und Rationalisierung diffundiert die explizite kulturelle Konvention der Rechtfertigung von Normen in die interpersonalen, z.B. innerfamiliäre Kommunikation hinein, so dass sich die Berufung auf selbstverständliche implizite Regeln nach expliziten Begründungen fragen lassen muss (Habermas’sche »Rationalisierung« der Lebenswelt). Kulturelle Identität selbst ist damit freigegeben. Sie wird zum Gegenstand einer reflexiv gewordenen Bemühung um Identitätsgewissheiten. Erst diese Kontingentsetzung kultureller Identitäten macht entweder für einen äußeren Standpunkt oder aber von der jeweiligen Innenperspektive aus »Kulturen« zu einem expliziten Gegenstand der Aufmerksamkeit der aktiven Bearbeitung und gegebenenfalls der Verteidigung, Durchsetzung und Legitimation.16 Kulturen müssen sich dann unter veränderten Bedingungen behaupten (aufrechterhalten) und darum sich als »Kultur« »behaupten« (aussagen). Bei Charles Taylor wird das Thema der kulturellen Identität und ihrer Beziehung zur kulturellen Differenz von vornherein mit der Anerkennungsfrage verbunden. Das Problem einer kulturellen Selbstbehauptung ist deshalb unter modernen Bedingungen auch aus der Innenperspektive kultureller Lebensformen mit der kommunikativen Identität von Personen und Kollektiven verwoben, bei der die spezifische Form der jeweiligen Identität und die normative Frage der Integrität einer Lebensform von der Form des Umgangs mit Kontrasterfahrungen, mit kulturellen Differenzen bzw. mit konkreten anderen kulturellen Lebensformen abhängt. Denn die Bewahrung der Identität einer 15 | Diese Exit-Option besteht natürlich »der Tendenz nach«. Es ist nicht auszuschließen, dass sich dichte kollektive Identitäten, sowie z.B. Religionszugehörigkeiten und Berufstätigkeit innerhalb engmaschiger Netzwerke (z.B. kleinstädtischer Lebenswelten) zu einem hochverbindlichen Rahmen der individuellen Lebensführungen verdichten, aus dem »auszubrechen« für den Einzelnen mit allzu hohen Kosten verbunden wäre. Dennoch: Die Möglichkeit, den Platz zu verlassen, besteht in moderner Gesellschaft überall in einem Maße, dass in archaischen und vormodernen Vergesellschaftungsformen undenkbar ist, und diese Möglichkeit wirkt permanent auf die mitunter verzweifelten Versuche, lokale Strukturen als substanziell zu behandeln, so dass Riten der Authentizität zur Folklore werden müssen. 16 | So betont Luhmann nicht als einziger, aber vielleicht in besonders zugespitzter Form, dass Kultur – wenn es denn ein Begriff ist – von Beginn an ein Vergleichsbegriff ist (Luhmann 1999: 31ff.).
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Person, aber auch eines Kollektivs, das sich als kulturell konstituierte Gruppe versteht, ist ebenso wie die Konstitution dieser Identität auf die bestätigende Kraft der Anerkennung durch ein kommunikatives Gegenüber angewiesen (Taylor 1997). Wenn also personale und kollektive Identitäten im Horizont kultureller Semantiken von vornherein nicht als substantielle Einheiten in Betracht kommen,17 dreht sich die Frage nach der Angemessenheit und nach den Bestandsaussichten der Behauptung einer Identität nicht einfach um die »Traditionsbewahrung« oder um einen paternalistischen, »kulturellen Artenschutz« (Habermas 1996: 263). Das Problem liegt vielmehr in der Frage, wie angesichts beschleunigter und vervielfältigter kultureller und individueller Austauschgelegenheiten und Kontrasterfahrungen eine »transitorische« Identität (Renn, Straub 2002) von Personen und Kollektiven aufrechterhalten und transformiert werden kann, ohne sich durch die Flüchtigkeit stets wechselnder Horizonte in vollständiger Fragmentierung aufzulösen. Eine Bedingung moderner kultureller Selbstbehauptung ist darum die gesteigerte Bereitschaft explizite wie implizite Selbstverständnisse dauerhaft von außen angeregten Revisionen zu unterziehen, d.h. die Fähigkeit, für die eigene Identität konstitutive Voraussetzungen normativer und kognitiver Art permanenten Überprüfungen im Austausch mit alternativen Lebensformen und nicht zuletzt mit formalen Prinzipien der demokratisch-prozeduralen Koexistenz auszusetzten. Die notorische Kontrasterfahrung, die sich vor allem in Situationen des Konflikts einstellt, erzwingt also eine Art der kulturellen Selbstbehauptung, die die Form eines ständigen und in Teilen bewusst vollzogenen Erneuerungsprozesses annimmt. Eine reflexive und transitorische kulturelle Identität muss sich im Medium erfahrungsoffener Selbstverständigungsdiskurse stets im Zuge der Überarbeitung reproduzieren und gleichzeitig auf eine Kontinuität gewährende Weise transformieren. Solche Anforderungen entspringen mit struktureller Notwendigkeit aus der Pluralisierung von »Inklusionsprofilen«, die ihrerseits mit Referenz auf individuelle und kollektive »Identitäten« die Makrolagen einer multiplen Differenzierung der Gesellschaft zum Ausdruck bringen. Aber solche Anforderungen lassen sich nicht ohne weiteres mit allen kulturellen Selbstverständnissen vereinbaren, vor allem nicht mit solchen, die auf den impliziten und latenten Charakter der konstitutiven Gewißheiten einer Identität angewiesen sind. Ob sie nun wollen oder nicht, derartig verfasste performative Kulturen werden in der multipel differenzierten Gesellschaft dem grellen Licht der Kontrastierung ausgesetzt, so dass tradierte habituelle Gewissheiten von außen betrachtet schnell den Charakter des z.B. religiösen Fundamentalismus zugeschrieben bekommen. Von dieser Zuschreibung aus ist der Weg nicht weit zur (selbst wie17 | Worüber sich die neueren Kulturtheorien einig sind (vgl. dazu: Fuchs 2001: 29ff. und Schiffauer 1997: 148ff.).
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der substantialisierenden) Unterstellung einer Affinität zur (direkten) Gewaltsamkeit. Wenn der »Fundamentalismus« einer kulturellen Lebensform, die sich in Reaktion auf den Druck der Kontrasterfahrung explizit auf das beruft, was ehedem implizite Grundlage einer unbezweifelten Praxis gewesen sein mag, kann diese Insistenz auf eine Vergangenheit, die so nie bestanden hat, als eine modernisierungskritische, bis -feindliche Erfindung einer Tradition gelesen werden. Zu ihren Charakteristika gehören dabei weniger die inhaltlichen Gehalte einer kulturellen Tradition als der Modus einer nachgeahmten Traditionalität, die den Geltungsmodus vormoderner kultureller Lebensformen beschwört, obwohl die – einer kritischen Prüfung und möglicher Begründung entzogene – Gewissheit und Autorität qua Überlieferung ihre Unschuld nachhaltig verloren hat (Riesebrodt 1990). In diesem Sinne fundamentalistische Behauptungen einer kulturellen Identität sind so gesehen Reduktionen der Komplexität moderner Vergesellschaftungs- und Lebensverhältnisse in Richtung der kontrafaktisch insistenten Behauptung einer kulturellen Identität, anders gesagt der Verweigerung einer für die Moderne typischen Reflexivität der eigenen Identitätskonstruktion.18 Der Schluss liegt scheinbar nahe, fundamentalistische Feindschaft gegenüber der Moderne und ihren kulturellen und organisatorischen Erscheinungsformen als Ursache von Gewalt zu interpretieren. In dieser allzu einfachen Form haben die Zuschreibung der Ursachen und die Identifikation der Charakteristika von Gewalt mit der dem Fundamentalismus vorgehaltenen Reduktion allerdings selbst allzu viel gemeinsam. Die Schwierigkeit, den Attentätern des 11. September 2001 in New York (World Trade Center) schlicht eine vormoderne, traditionale etc. Einstellung zuzuordnen, ist ein Symptom dafür, dass der Begriff des Fundamentalismus selbst ein Produkt der reduktiven Behauptung (fremder und indirekt eigener) kultureller Identität sein kann, indem er als Vehikel der Selbstvergewisserung einen antimodernen »Gegenspieler« projiziert19 (Schiffauer 2000: 316). Auf dieser wie auf jener Seite kann also die kontrafaktische Beharrung auf die Substantialität der eigenen kulturellen Identität eine gewaltsame Identitätsbehauptung sein, die eine mögliche vereinfachende Reaktion auf »anomische« Tendenzen moderner Vergesellschaftung darstellt und schließlich mit direkter Gewalt (die trotzdem nicht einfach als »physische Gewalt« unabhängig von den kulturellen Bezugsrahmen ist) in Verbindung stehen kann. Die Überfor18 | In selbst orthodoxer Selbstverständlichkeit des damit verbundenen Modells moderner, nämlich reflexiver Religiosität, kommt dann z.B. Bassam Tibi zur pauschalen Kritik an jeglicher traditionalen islamischen Richtung (Tibi 1992, kritisch: Schiffauer 2000: 316). 19 | Und dann eben paradoxerweise als einen Ausdruck »moderner« Kultur ausgerechnet die Unterscheidung zwischen »guten und bösen Staaten« anbietet.
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derung eines substantialistischen Identitätskonzepts (oder eben: -konstrukts) durch widerstreitende Erfahrungen und vor allem durch Begründungsherausforderungen20 stellt sich ein, sobald die Form der Behauptung der kulturellen Identität ein relevantes Maß an Revisionsbereitschaft verhindert, und sie kann je nach kontextspezifischen Kräfteverhältnissen zu gewaltsamen Interaktionen führen. Die essentialistische Interpretation kultureller Identität, d.h. die erfahrungsresistente Behauptung einer substantiellen Einheit kultureller Lebensformen, stellt in dieser Hinsicht eine Form des gewaltsamen Verstehens von Alterität dar: diese Form des Verstehens kann aus der Perspektive der Fremd- wie auch der Selbstzuschreibung erfolgen. Ob es sich dabei um eine Form der Gewalt (eben des gewaltsamen Verstehens) handelt, oder nur um eine identitätsrelevante Hermeneutik der Stereotypisierung, die dann sekundär Gewaltakte zur Folge haben kann, ist wieder eine Frage, die von der Definition des Gewaltbegriffs abhängt. Diese Definition, davon ist unsere Argumentation ausgegangen, ist selbst aber Gegenstand kultureller Auseinandersetzung und Zuschreibung. Darum sind Definitionen der Gewalt im Falle des interkulturellen Verstehens im Umgang zwischen kulturellen Lebensformen in pluralen Gesellschaften selbst möglicherweise gewaltsame Verengungen; und dies mag gerade für die definitorische Beschränkung der Gewalt auf die physische Gewalt gelten. Das Problem der mangelnden Erfahrungsoffenheit bei der Behauptung einer kulturellen Identität betrifft nicht nur die Innenperspektive vermeintlich vormoderner kultureller, z.B. religiöser Gemeinschaften, sondern ebenso die Interpretation fremder Identitäten durch Vertreter der Majorität, durch bürokratische Organisationen und politische Programme. Dies kann sich als Zwang zur Assimilation zeigen,21 der durchaus auf physische Auseinander20 | Diese können sowohl alltäglichen als auch institutionellen Charakter annehmen, z.B. sich im Streit unter Nachbarn im Treppenhaus oder in Bürgerversammlungen und vor Gericht in Szene setzen. 21 | In diese Richtung zielen die zugespitzten Kritiken an der Operation des Verstehens überhaupt, die jede Bemühung um Übersetzung zwischen kulturellen Horizonten unter den Pauschalverdacht des Assimilationszwanges stellen. Vgl. dazu Waldenfels 1999, 74: »Die Überwindung des Fremden durch Verstehen entpuppt sich als Gewaltakt, wenn Fremdheit mehr besagt als relative Unverständlichkeit.« Die darin enthaltene Unterstellung einer absoluten Unverständlichkeit kann mit Bezug auf die Inkohärenzen des Inkommensurabilitätsbegriffs (Putnam 1990: 156ff.) stark bezweifelt werden. Putnam hat am Beispiel Kuhns, dem die theoretische Aufwertung der Inkommensurabilität zu verdanken ist, vorgeführt, dass hier erstens der Unterschied zwischen einem Begriff und seiner Verwendungsweise eingezogen wird (radikal kontextualistische Bedeutungstheorie), zweitens aber und vor allem die These der Unvergleichbarkeit durch den Vergleich des angeblich Unvergleichbaren (stillschweigend positivistisches Krite-
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setzungen verzichten, trotzdem aber als eine Form der »strukturellen« Gewalt in Betracht kommen kann. Hier wird man allerdings sorgfältig gleichermaßen einen allzu engen und einen zu weiten Begriff einer »strukturellen« Gewalt vermeiden müssen. Es kann weder hilfreich sein, alle nur denkbaren Formen der Verhinderung von Entfaltung humanen Potentials schon Gewalt zu nennen, noch aber, Identitäts- und Autonomieeinschränkungen, die nicht auf dem Weg direkt körperlicher Intervention zustande kommen, auszuschließen (man denke an den Begriff der »weißen Folter«, vgl. Nedelmann 1997: 77). Die Beziehung zwischen »Gewalt« und strukturellen Bedingungen der Wahrscheinlichkeit assimilativer Verstehenspraktiken ist zwar zumeist eine indirekte: Die asymmetrische Oktroyierung z.B. behördlich behaupteter Identität kann Gewalt motivieren, provozieren, ohne selbst also schon Gewalt genannt werden zu müssen oder zu dürfen; es ist jedoch keineswegs ausgemacht, ob gerade die strukturelle Verhinderung und Verweigerung von Inklusion (im oben genannten Sinne) nicht nur Gewaltaffinität schafft, sondern selbst als eine »weltgesellschaftlich« besonders bedeutsame Sonderform der Gewalt bezeichnet werden kann. Dabei ist die Verknüpfung zwischen der Anerkennungsabhängigkeit personaler und kollektiver Identität und der leiblichen Seite der entsprechenden Form der Verletzung von Integrität ein Indiz dafür, dass nicht erst Schläge und Vergewaltigungen, sondern bereits verbale Interventionen und »stumme« Formen erheblicher Marginalisierungen Gewalt auch im Sinne einer (dann eben sinnvoll erweiterten) Begrenzung auf »physische« Gewalt darstellen (Butler 1998: 47ff.). Wieder ist hier das Argument entscheidend, dass »physische« Gewalttaten nur im Horizont symbolischer Schematisierung physischer Akte überhaupt Gewalt sind. Es gibt keine neutrale Gewaltdefinition, so dass die theoretische und soziologische Begrenzung des Gewaltbegriffs sich selbst erfahrungsoffen zeigen muss gegenüber modernen und damit pluralen Formen der symbolischen Schematisierung von »physischen«, besser eben: leiblichen Verletzbarkeiten. Die Pointe der Beschreibung kultureller Lebensformen im Rahmen moderner Gesellschaft besteht deshalb darin, auf die Strittigkeit eben jenes Kriteriums der Gewalt hinzuweisen. Im Horizont der Frage etwa nach der Anerkennung und Anerkennungswürdigkeit kultureller Differenz wird der Streit um dieses Kriterium ein Hinweis darauf, die sinnvolle Beschränkung des Gewaltbegriffs nicht objektivistisch misszuverstehen, sondern der sozialen Auseinandersetzung um Gewaltbegriffe gegenüber resonant zu halten.
rium der Kommensurabilität) plausibilisiert wird und werden muss. Es empfiehlt sich darum, nicht das Verstehen zu verwerfen, sondern zwischen Formen des Verstehens zu unterscheiden.
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Darum bleibt die Beobachtung möglicherweise »gewaltsamer« Folgen formalrationaler Organisation unverzichtbar. Denn sehr unterschiedliche Interpreten (fremd-)kultureller Selbstverständnisse: Nachbarn, Gesprächspartner, Sachbearbeiterinnen und Familienrichter aber auch Ethnologinnen und Modernisierungstheoretiker können sich dem Aufruf zur Revision ihrer Verstehenshorizonte, der von widerstreitenden Erfahrungen oder auch Personen ausgeht, verweigern, entziehen oder ihn verkennen und das Gegenüber in stereotyp verwendete Schemata des Verstehens einordnen.22 Das hat unter Bedingungen entsprechender Machtasymmetrien für die schwächere Seite notwendig zur Folge, sich dem Imperativ der erzwungenen Stereotypisierung der kulturellen Selbstbehauptung ein- und unterzuordnen (vgl. dazu Scheffer 1997). Man kann also zwei Typen der Reaktion auf differente kulturelle Lebensformen voneinander unterscheiden: das pragmatische erfahrungsoffene, von einem subsumtionslogisch zentrierten, Stereotypisierungen zäh verteidigenden »Verstehen« des anderen. Auf zweifache Weise ist die defizitäre Hermeneutik des zweiten Verstehenstypus mit der handfesteren direkten körperlichen Gewalt verwoben. Zum einen natürlich durch das Kontinuum, kraft dessen Verstöße gegen den Imperativ der Subsumtion über die semantische Legitimation dieses Imperativs mit physischen Sanktionsdrohungen verbunden sind (der bürokratischen Zuordnung zu einer Kategorie wie »Asylberechtigter« kann sich der Adressat nur um den Preis des legalen Entzugs der Leistungsberechtigung entziehen. Gewalt kommt hier als Staatsgewalt ganz unmittelbar zum Zuge). Die Gewaltforschung kennt zahlreiche Analysen der impliziten Gewaltsamkeit mit der nicht nur Sanktionen, sondern bereits die Legitimität von Sanktionsandrohungen durchgesetzt werden (für den kolonialistischen Kontext z.B.: Trotha 1994, 32ff, zu entsprechenden Diskursformen: Schwab-Trapp 1997 und Knöbl 1999). Der zweite Aspekt der direkten Gewalt, der an dem Abbruch der Erfahrungsoffenheit des pragmatischen Verstehens auffällig wird, ist für eine handlungs- und kommunikationstheoretische Nahaufnahme des Phänomens der Gewalt interessanter. Das »pragmatische« Verstehen bezeichnet dabei die teils implizite, teils explizite, auf praktische Kontextüberschneidung basierte Interpretation des fremden und eigenen Selbstverständnisses durch die beteiligten Kommunikations-»Partner«. Die Handlungsbezogenheit des pragmatischen Verstehens macht von vornherein den Ausbruch von Gewalt als Verengung der Kommunikation auf einen Aspekt deutlich, der im pragmatischen Verstehen stets mitenthalten ist: die Leiblichkeit. 22 | Joachim Matthes hat für diese auch soziawissenschaftlich vollzogene Assimilationsform den Ausdruck der »Nostrifizierung« vorgeschlagen (Matthes 1992, vgl. auch Straub 1999: 29ff.).
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III. D as pr agmatische V erstehen und die fle xible S elbstbehaup tung Der Begriff der Erfahrungsoffenheit charakterisiert eine flexible Form der Identitäts- oder Selbstbehauptung, die den dynamischen kommunikativen Anerkennungsverhältnissen in modernen pluralen Gesellschaften besser zu entsprechen scheint als die Praxis der Stereotypisierung. Das Medium der Reproduktion und Revision der Interpretation eigener und fremder kultureller Identität ist das »pragmatische Verstehen« (von anderen und von sich selbst). Die Behauptung des eigenen und des anderen kulturellen Selbst muss – nicht unbedingt im normativen Sinne, sondern eher unter dem »funktionalen« Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit – also in modernen pluralen Verhältnissen flexibel sein können, und diese Flexibilität setzt innerhalb von alltäglichen Interaktionsverhältnissen die im pragmatischen Verstehen eröffnete Transformationsbereitschaft kultureller Identität voraus . Das pragmatische Verstehen, das seine kognitive und sprachliche Seite hat, ist stets verwoben mit dem praktischen Umgang zwischen leiblichen Personen bzw. Gegenständen. Wie Wittgenstein mit der Einführung des Begriffs des Sprachspiels deutlich macht, ist das Verstehen der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke an die Kenntnis der pragmatischen Verwendungsweisen dieser Ausdrücke innerhalb einer Lebensform gebunden. Und diese sind nicht nur linguistische Praktiken, sondern das Verstehen des Gebrauchs der Ausdrücke ist primär – und stets mindestens implizit – ein praktisches Verstehen leiblicher Handlungen. Für diese Einsicht lassen sich die unterschiedlichsten Referenzen nennen, von Merleau-Ponty über Wittgenstein bis eben zu Dewey und James.23 Der leibliche Bezug ist konstitutiv für die Möglichkeit der Revision von Verstehenshorizonten, denn nur die Einheit aus Differenz und Identität zwischen leiblicher Erfahrung des Gegenübers und sprachlicher Artikulation dieser Erfahrung, erlaubt es, das Leibliche auch sprachlich zu verstehen und das sprachliche Verstehen durch leibliche Erfahrung zu testen und zu revidieren (Renn 1999: 23ff.).24 Das Ineinandergreifen von leiblichen, semantischen und intentionalen Horizonten der Bedeutung kommunikativer Akte ist auf elementarer Ebene für jede Interaktion konstitutiv (Renn 2006: 283ff.). An23 | Es ist vor allem die pragmatistische Handlungstheorie, die im Begriff der Erfahrung (Dewey 1988) ein Modell des Verstehens vorlegt, bei dem die Enttäuschung von impliziten Erwartungen zur Reflexion und Rekonstruktion des eigenen Vorverstehens führt, nicht einfach zur Assimilation des Erfahrungsgegenstandes, aber auch nicht nur zu einer Akkommodation der eigenen Schemata. 24 | Und dies ist ein Gesichtspunkt den gerade Habermas an die zentrale Stelle seiner Wahrheitstheorie und seiner Konzeptualisierung des Verhältnisses zwischen Handeln und Diskurs stellt (Habermas 1999: 51, 134ff., 261f.).
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ders wäre der Abstand zwischen den biographisch variierenden Horizonten der Interaktionspartner25 ebenso wie die Kluft zwischen semantisch generalisierter Standardbedeutung von sprachlichen Ausdrücken und situationsspezifischer Bedeutung nicht zu überbrücken (Joas 1996). Während diese Vermittlungsleistungen unter Standardbedingungen der Alltagskommunikation durch hinreichend homogenes (wenigstens: hinreichend ähnliches) habitualisiertes Hintergrundwissen der Akteure gesichert sind, steigert die Differenz zwischen kulturellen Lebensformen die Unzuverlässigkeit des impliziten Wissens. Der kulturelle Hintergrund des Verstehens fällt als kulturelles Vorurteil ins Gewicht und damit als »kulturell« auf. Die interkulturelle Begegnung, also auch die Konfrontation zwischen kulturellen Lebensformen innerhalb einer polykontexturalen Gesellschaft ist deshalb auf zweierlei Bedingungen angewiesen: Erstens auf die Bereitschaft, in gemeinsamen praktischen Kontexten zu interagieren oder gar zu kooperieren, zweitens auf die Bereitschaft, in diesen Kontexten das eigene Vorverständnis der Situation, des Gegenübers und der eigenen Identität (in Maßen) zur Disposition zu stellen. Der Abbruch der Erfahrungsoffenheit – also der flexiblen und reflexiven Aufmerksamkeit für den variablen Abstand zwischen Artikulation und Handlungsvollzug – kann deshalb als eine Aufspaltung des Kontinuums zwischen Sprache und nichtsprachlicher Interaktion verstanden werden. Dem Übergang in die Gewaltsamkeit stehen nach dieser Aufspaltung zwei entgegengesetzte Wege offen: Das Verstehen kann aus der Einheit des pragmatischen Verstehens erstens ausbrechen in eine den Besonderheiten der konkreten Praxis gegenüber resistenten Sprache, hier wird das Verstehen wegen des Erfordernisses der Generalisierung zu einem das andere verfehlenden Subsumieren von Widerständigem. Die Ausbildung relativ stabiler sozialer Ordnungen durch Abstraktion und Standardisierung, zu der die Ausbildung symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien gehört, errichtet je nach Niveau der Ordnungsbildung bestimmte Schwellen der Variationsbereitschaft oder -fähigkeit.26 Diese Schwellen beschränken den Spielraum der pragmatischen Aushandlung von für- einander fremden Verstehenshorizonten. Das können mehr oder weniger enge Grenzen sein, die z.B. im Falle der formalen Organisation vom Grad des Standardisierungszwanges der ausführenden Institutionen abhängen. Ein Sachbearbeiter im Sozialamt muss individuelle Interessenlagen, 25 | Damit ist das Problem der doppelten Kontingenz (Parsons), und anders – bzw. in anderer Tradition – ausgedrückt, der Intersubjektivität der Bedeutung angesprochen. 26 | Eine gewisse Universalisierung dieser Schwellenkonstitution liegt bekanntlich in den Popitz’schen Gewaltdefinitionen vor, insofern Popitz im Rahmen der Machttheorie soziale Institutionen erstens genetisch an die Gewalt bindet und zweitens Gewalt als jederzeit ausbrechende Möglichkeit (Aktionsmacht) begreift (Popitz 1992: 61ff.).
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die subjektiv innerhalb spezifisch kultureller Verstehenshorizonte gedeutet werden, letztinstanzlich in das Medium des Geldes und vor allem in die Falltypiken des Rechtes übersetzen. Die funktionale Differenzierung, die u.a. eine mehrgleisige systempluralisierende Distanzierung von den Nahkontexten unmittelbarer Interaktion darstellt, ist also selbst natürlich nicht per se strukturelle Gewalt (was eine Entfremdungsperspektive vielleicht nahelegen möchte), aber sie macht den Typus symbolischer oder gewaltsamer Assimilation, die in der Ausbildung eines kontextenthobenen Verstehens von Fällen anstelle von Personen und Situationen liegt, möglich und wahrscheinlich.27 Institutionelle und soziale Ordnungen sind dann aber nicht automatisch bloß Gestaltwandel oder gar Intensivierungen und Raffinierungen von Gewalt (so meint: Sofsky 1996: 209ff.); sondern die Variabilität institutioneller Ordnungen, die eben mehr oder weniger situationsspezifischen Auslegungsspielraum zulassen können, erlaubt eine Gradualisierung von mehr oder weniger gewaltsam identifizierenden bzw. assimilierenden sozialen Ordnungen. Der zweite Ausbruch aus der Erfahrungsoffenheit des interaktiven pragmatischen Verstehens liegt in der Reduktion des Handelns auf rein körperliche Interaktion, bei der das Gegenüber zu einem Körper als einem Gegenstand physischer, instrumenteller oder affektueller Manipulation schrumpft. Die Einheit des pragmatischen Verstehens – man könnte in Abwandlung der Habermas’schen Formulierung sagen: die performative Einheit der Sequenz, in der man sich mit jemandem darüber verständigt, sich gemeinsam auf etwas zu verstehen28 – kann also innerhalb der Interaktion von einer oder von mehreren der beteiligten Seiten aufgespalten und auf ein isoliertes Element der primär komplexen Grundstruktur verengt werden. Eine handlungstheoretische »Phänomenologie« der konkreten physischen Gewalt kann vor dieser Folie den Übergang zwischen kommunikativem zu gewaltsamem Handeln als die Reduktion der Situation und des Gegenübers auf die körperlich-materielle Seite der Interaktionssituation analysieren. Die 27 | Hier wäre an das Habermas’sche Motiv der Kolonialisierung von Lebenswelten zu erinnern, die den Prozess der symbolischen Generalisierung als Element der systemischen Handlungskoordinierung dem kommunikativen Alltagshandeln gegenüberstellt und am Beispiel der Verrechtlichung die Möglichkeit der Überformung lebensweltlicher Kommunikation – wir können stattdessen sagen: des kooperativen pragmatischen Verstehens – durch mediengesteuerte Kommunikation analysiert (Habermas 1981). 28 | In dem Element des sich gemeinsam auf etwas zu verstehen steckt zugleich die Heidegger’sche Beschreibung des prä-apophantischen Verstehens im Modus des Umgangs mit etwas (Heidegger 1986) und die soziale Erweiterung dieses vorprädikativen Verstehens zu einer kooperativen Unternehmung, wie sie etwa in Brandoms Analysen des impliziten Wissens einer Sprach- und Handlungsgemeinschaft vorgenommen wird (Brandom 1994; Habermas 1999: 166ff.).
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Reduktion des Gegenübers zeigt sich bezogen auf die Binnenstruktur von Kommunikation insbesondere in der zeitlichen Dimension. Das pragmatische Verstehen zeichnet sich u.a. durch die komplexen zeitlichen Horizonte der kooperativen Interaktion aus (Schütz 1974; Luhmann 1984). Die Zeit des Handelns ist mehr als die lineare Kontinuität aufeinander folgender Ereignisse. Das Verstehen der Bedeutung im konkreten Handeln und Sprechhandeln ist eingebettet in zeitliche Horizonte der Antizipation von Handlungsfolgen, der Retention und Rekonstruktion von Vorgeschichten und der zeitlichen Spezifikation der Bedeutung der Gegenwart (Schütz 1974; Renn 1997). Der Unterschied zwischen einem personalen Gegenüber und einem instrumentell genutzten Gegenstand drückt sich u.a. darin aus, dass das Gegenüber mit seinem Verstehenshorizont einen eigenen Zeithorizont ins Spiel bringt, so dass im Handeln mindestens zwei Zeithorizonte aufeinander abgestimmt, d.h. symbolisch synchronisiert werden müssen.29 Das ist der zeitliche Aspekt des Beitrags, den das Gegenüber zur Unbestimmtheit der Situation leistet, auf die das pragmatische Verstehen aus der Perspektive eines Beteiligten reagieren muss. Denn die Revision des eigenen Vorverständnisses der Situation, der einzelnen Handlungen sowie meiner und seiner Identität, setzt bei der Erfahrung an, dass die aktuelle Situation vom Gegenüber offenbar im Licht einer anderen zukünftigen Vergangenheit und einer anderen vergangenen Zukunft gedeutet wird, als es für mich gilt.30 Es ist einleuchtend, dass der Aufwand dieser Verstehensbemühung mit dem Grad der kulturellen Verschiedenheit der Beteiligten steigt, und ebenso plausibel, dass im Kontext der kulturellen Selbstbehauptung der Bereitschaft zur permanenten Revision des eigenen Selbstverständnisses Grenzen gesetzt sein können. Wie es mehr oder weniger erfahrungsresistente institutionelle
29 | Alfred Schütz beschreibt das handlungsbezogene Ergebnis dieser Abstimmung im »Sinnhaften Aufbau« als die »lebendige Gegenwart«, in der sich zweierlei durée verschränken (Schütz 1974: 143ff.). 30 | Die Differenz der Zeithorizonte der Situationsdeutungen ist schließlich bezogen auf die narrative Struktur der Identität (Ricoeur 1990: 167ff.) in letzter Instanz immer verwoben mit der Differenz der kulturellen Identitäten. In die kooperative Situationsdeutung ist deshalb das Problem der gegenseitigen Anerkennung und Behauptung der Identität eingeschrieben. Denn auch wenn die Identität der Personen nicht in jeder Interaktion Thema ist, so bilden die narrativen Strukturen der Identität doch einen impliziten Bedeutungshorizont von Interaktionssequenzen (Renn 1997: 295ff.). Die propositionalen Gehalte der kommunikativen Rede können darum jederzeit umgedeutet werden zu identitätsrelevanten Themen, indem die konstativ vermeinten Sprechakte von ego durch alter auf ihre impliziten illokutionären Bezüge zur Person alters abgetastet werden.
8. Gewalt und kulturelle Selbstbehauptung
Ordnungen gibt, so gibt es auch mehr oder weniger Resistenz förderliche öffentliche – kulturelle – Typen der Selbstbehauptung. Dies ist aber weniger eine inhaltliche als eine praktische Frage, insoweit für die Erfahrungsoffenheit des Verstehens nicht in erster Linie bedeutsam ist, durch welche symbolischen Formen oder Prinzipien, Regeln und Vorschriften eine kulturelle Identität sich artikuliert, sondern welchen praktischen Umgang mit den entsprechenden Inhalten die Form der Selbstbehauptung (Aussage und Aufrechterhaltung) programmiert oder zulässt (und deswegen ist keine »Religion« als solche »gewalt-affin«, sondern immer nur und höchstens, wenn überhaupt, eine spezifische Religiosität als eine performative Übersetzung von Religion in praktische Modi der Lebensführung). Die essentialistische kulturelle Selbstbehauptung ist nicht auf der Ebene von einzelnen Glaubenssätzen, Vorschriften und ihres systematischen Zusammenhangs problematisch, sondern durch das Verhältnis, das deren Verbindlichkeit gegenüber heterodoxen (im Sinne von Bourdieu 1979: 318ff.) Erfahrungen und Standpunkten zur Auflage bzw. subjektiv zur Selbstverständlichkeit macht. Kulturelle Verstehenshorizonte, die durch Prinzipien substantieller Autorität geprägt sind, stellen auf der Ebene ihrer alltagspragmatischen Operationalisierung die Orthodoxie über die Flexibilität der Auslegung. Sie werden dann als kulturelle Horizonte personaler Identität zu Ressourcen der individuell funktionalen Erfahrungsresistenz. Im Konfliktfalle kann darum die essentialistische Selbstbehauptung leicht in die Reduktion des kontrastierenden und vermeintlich provozierenden Gegenübers auf die physisch-leibliche Seite der Interaktion münden. Gewalt realisiert sich dann als die Reduktion sinnhafter Kommunikation auf ihre materiell-pragmatische Basis, bei der die mühsame, normalerweise kulturell vorentworfene Abstimmung von Bedeutungs- und Zeithorizonten suspendiert wird, so dass auf die temporale Unmittelbarkeit körperlicher Interaktion umgeschaltet wird (Gehring 1999). Dies erklärt sowohl die Plötzlichkeit, die aus der Perspektive der Erfahrung der Beteiligten bestimmten Formen des gewalttätigen Handeln eigen ist, als auch die besondere Qualität dieser Plötzlichkeit, die als ein Heraustreten aus der emergenten Ebene leiblich verankerter aber sinnhafter, zeitlich komplexer und reversibler Kommunikation erscheint. Die substantialistische Behauptung einer kulturellen Identität ist in diesem Szenario von zwei Seiten von Gewalt betroffen: Die aufwendige und oft bzw. für manche überfordernde Pluralisierung von Kontrasterfahrungen in »multikulturellen« Gesellschaften bildet ebenso wie institutionelle Imperative zur Stereotypisierung und Standardisierung von Identitätstypen ein Motiv bzw. einen Zwang zur gewaltsamen Behauptung (im Sinne der Aussage) einer stereotypen kulturellen Identität. Diese Form der Selbstbehauptung ist durch eben jene Faktoren, die sie antreiben, in ihrer Behauptung im Sinne der Aufrechterhaltung bedroht. Und dies führt zur Resistenz gegenüber einem
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erfahrungsoffenen und revisionsbereiten Umgang mit der polykontexturalen Herausforderung dynamischer Anerkennungsverhältnisse. Diese Resistenz lässt sich in vielen Fällen wieder nur behaupten, also durchsetzen und aufrechterhalten, wenn in Kontexten der intragesellschaftlich-interkulturellen Begegnung von der Kommunikation auf die rein leibliche Interaktion umgeschaltet wird, das Gegenüber zum Gegenstand leiblicher Manipulation also der Gewalthandlung wird.
IV. D ie not wendig symbolische S truk tur der angeblich physischen G e walt Was aber, so muss sich nun auch die vorstehende Argumentation fragen lassen, heißt in den beiden genannten Varianten des Überganges von der erfahrungsoffenen Kommunikation zur Gewalt überhaupt »Gewalt«. Im ersten Teil dieser Überlegungen wurde auf die Abhängigkeit der expliziten und impliziten Gewaltdefinition vom symbolischen Hintergrund kultureller Verstehenshorizonte hingewiesen, die die Beschränkung des Begriffs der Gewalt auf »physische« Gewalt als Scheinlösung erkennbar macht. Das Problem des Begriffs der physischen Gewalt besteht in der Unhintergehbarkeit der symbolisch strukturierten Validierung einer körperlichen Interaktion als »Gewalt«. Die vielerorts empfohlene Beschränkung auf die physische Gewalt ist zum Teil, wie oben ausgeführt wurde, Teil einer naturalistischen Strategie, die das kulturelle Programm der Zivilisierung, besonders der Modernisierung sozialer Verhältnisse entzaubern will. Sie ist überdies aber auch ein Ausdruck der berechtigten Vorbehalte gegenüber einer Überdehnung des Gewaltbegriffs, der durch die Ausweitung in Konzepten der symbolischen oder der strukturellen Gewalt (Galtung 1978) inflationär zu werden droht. In der hier vorgestellten Unterscheidung zwischen zwei Wegen aus der identitätsrelevanten Erfahrungsoffenheit der Kommunikation in die Gewalt, wird die assimilierende und stereotypisierende Zuschreibung und Behauptung von Identität als eine Form der Gewalt (-samkeit) gewertet. Eine solche – vorsichtige – Erweiterung31 des Gewaltbegriffes bedarf gegenüber der Festlegung auf die faktische Gewalttätigkeit der Körperverletzung, die selbst alles andere als eindeutig ist, der Begründung. Diese Rechtfertigung kann sich nicht nur auf 31 | Die Grenze dieser Erweiterung ist nicht einfach zu ziehen, gerade wenn diese Limitation im Bewusstsein der Horizontabhängigkeit der Identifikation von physischen Aspekten der Interaktion als »Gewalt« vorgenommen wird. Sie deutet sich aber an in der Einsicht, dass Generalisierung, Abstraktion und Standardisierung notwendige Elemente der »Systembildung« in komplexen Gesellschaften darstellen, die nicht per se »Entfremdung« bedeuten.
8. Gewalt und kulturelle Selbstbehauptung
die fragwürdige Eindeutigkeit des restriktiven Gewaltbegriffes stützen, sie muss sich auf das symbolische Charakteristikum berufen, dass auch in der zweiten Form der Gewalt, der Reduktion der Kommunikation auf die körperliche und manipulative Interaktion, im Hintergrund wirksam bleiben muss, um diese Form als »Gewalt« zu bezeichnen. Und sie muss dabei die Einheit der Differenz zwischen institutionellen Stereotypisierungen und regressiven Vereinseitigungen der Kommunikation auf leibliche Manipulation bezeichnen können. Dieses gemeinsame symbolische Charakteristikum ist der Bezug auf die Autonomie der Personen. Denn nur im normativen Horizont der Autonomie von Tätern wie Opfern, kann der Gewaltbegriff, gerade wenn er auf physische Gewalt begrenzt werden soll, von bloßer körperlicher Interaktion, bei der Aktiva und Passiva ungleich verteilt sind, unterschieden werden. Wenn dieser Bezug nicht universal ist, sondern einem modernen oder auch nur westlichen Verständnis von Personalität, Verantwortlichkeit und Handlungsfreiheit zugehört, so kann die Identifikation von Gewaltsamkeit, mindestens aber die genaue Extension möglicher Bedrohungen der Autonomie von Personen oder auch Kollektiven kulturell stark variieren. Damit steht die Gewaltanalyse vor einem eminenten Übersetzungsproblem. Denn was andere Kulturen Gewalt nennen, lässt sich nicht ohne translatorische Verzerrung einfach identifizieren.32 Hier gibt es keine objektiv eindeutigen Akte, die von differenten kulturellen Symbolsystemen nur unterschiedlich repräsentiert werden, also Gewalttaten, die in unterschiedlichen Sprachen immer als Gewalttaten interpretiert werden, sondern die Kulturen konstituieren den normativen Horizont, vor dem erst physische Interaktionen (oder eben auch andere) als gewaltsam erscheinen. Physische Gewalttaten sind insofern bedeutungstheoretisch betrachtet Zwitterwesen: Sie müssen, wenn sie sich von Zwang oder Macht noch unterscheiden sollen, das physische oder auch somatische Moment der körperlichen Interaktion enthalten und sich gegenüber allen möglichen anderen Handlungen gerade dadurch auszeichnen, dass sie den leiblichen Charakter, der ein Moment direkter Interaktion zwischen Anwesenden und der Kommunikation (Indexikalität, Expressivität, leiblich vermittelte Koreferentialität) ist, auf das körperliche Register reduzieren. Die komplexe Struktur der Kommunikation, bei der mehrere Kanäle einander interpretieren (Semantik, indexikalischer Situationsbezug, Intention), wird abgekürzt und das leibliche Engagement, die Beteiligung der Person, die ein Leib ist und als solcher kommuniziert, schrumpft auf das körperliche Agieren, bei dem der andere zum Objekt der physischen Intervention verdinglicht wird. 32 | Vgl. zur Problematik des Übersetzens zwischen kulturellen Kontexten Renn, Straub, Shimada 2002.
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Zugleich aber, das ist die zweite Seite des Zwitterwesens, kann diese Reduktion auf die Körperlichkeit nur dann als »Gewalt« gelten, wenn die entsprechende Handlung nach wie vor in einem Horizont konstitutiver normativer Erwartungen und Regeln interpretiert wird, gemessen an denen die Handlung eben eine Gewalttat und nicht einfach ein physisch, naturkausales Ereignis ist. Die Gewalthandlung ist deshalb eine symbolisch evaluierte Desymbolisierung des Handelns. Die Gewalttat reißt eine Lücke in die Kette der Kommunikation, sie verändert die Zeitlichkeit des Handelns, sie kürzt den implizit narrativ organisierten Bedeutungshorizont der einzelnen Handlung ab zur Augenblicklichkeit des diskontinuierenden, physischen Ereignisses. Und sie kündigt die Erfahrungsoffenheit der Kommunikation auf, indem die Interpretation des Geschehens und des Gegenübers ausgesetzt wird. Dies aber geschieht im Horizont eben der symbolisch-zeitlichen Struktur, die unterbrochen oder verletzt wird, an der das Ereignis aber gemessen werden muss, um als »Lücke« gedeutet werden zu können. Die physische Verletzung der Person ist nur Gewalt, sofern sie durch den symbolischen Bezug auf den Anspruch der Autonomie der beteiligten Personen als mehr als nur eine physische Verletzung angesehen werden kann. Dieser Bezug muss mindestens von einer Seite hergestellt werden, von Opfern, Tätern oder von Dritten. Das bedeutet, die vermeintlich physische Gewalt muss auf spezifische Weise symbolisch interpretiert werden. Die Lücke der Kommunikation muss zugerechnet werden können auf Personen, die als solche weiterhin kommunikativen Ansprüchen ausgesetzt werden dürfen. Nicht nur die Verletzung der Autonomie des Opfers muss symbolisch und auf dem Boden von Erwartungen und Ansprüchen auf die reduzierte physische Aktion ausstrahlen, sondern auch die Zuschreibung der Alternative, die der Täter gehabt hätte. Die Handlung, die die Tat bis hinter die Grenze der Definition einer sozialen Handlung verschiebt, muss angemessener Weise mit den Ansprüchen an eine Handlung konfrontiert werden können. Die etablierte Form, in der dieser Doppelcharakter der Gewalthandlung schematisiert wird, ist darum die Verantwortungszuschreibung. Die Gewalthandlung ist nur dann eine solche, wenn es Täter- und Opferpositionen gibt. Opfer sind Personen, deren Anspruch auf Autonomie und freie Zustimmung oder Einwilligung in Handlungen, die ihre Leiblichkeit und auch ihre psychische Unversehrtheit betreffen, vorausgesetzt werden muss, um entsprechende Handlungen als Verletzungen dieses Anspruchs interpretieren zu können. Nur dann ist die Reduktion der leiblich-semantischen Komplexität der Kommunikation auf körperliche Intervention und Manipulation »Gewalt«. Die Täterposition hingegen muss als zurechnungsfähig und verantwortlich behandelt werden. Die Gewalttat ohne Täter wäre höhere Gewalt, die nicht normative Empörung, sondern Bedauern und Tröstung auf den Plan riefe. Unter dieser
8. Gewalt und kulturelle Selbstbehauptung
Voraussetzung erscheint dann eine mögliche »strukturelle« Gewalt notwendig gebunden an die Position von Opfern und Tätern, denen ungeachtet der strukturellen Bezüge zu formalen, bürokratischen und »rationalen« Handlungskoordinationen Autonomie und Verantwortlichkeit zugeschrieben werden kann. Der Doppelcharakter der Gewalttat behält also notwendig einen Bezug auf den Horizont eines kulturellen Vorverständnisses; zugleich aber stellt die Gewalt (nur im Lichte eines solchen Verständnisses) eine spezifische Form der Transzendierung dieses und jeden vergleichbaren Horizontes dar. Die Gewalttat ragt heraus aus dem symbolischen Netz der pragmatischen Sprachspiele, in die Kommunikationen eingebettet sind. Sie ist damit eine Kontexttranszendierung eigener Art. Sie unterscheidet sich von der klassischen universalistischen Form der »Horizontverschmelzung« (Gadamer 1960); d.h. sie sucht nicht auf dem Weg der Generalisierung der Regeln des eigenen vertrauten (konstitutiven) Kontextes in den universalisierbaren Formen der Interaktion ein Gemeinsames über allen Differenzen der Kontexte hinweg, das diese verbinden kann. Sondern sie ist eine Reduktion der Kontextspezifität des Handelns innerhalb einer kulturellen Lebensform auf die nackte Physis der Tat, auf die eine Seite des Handelns: das materielle Register, in dem die Handlung eine Beziehung zum naturkausalen Ereignis hat. Die Gewalthandlung springt aus dem Kontext. Sie bleibt aber nur Gewalthandlung, wenn dieser Sprung kontextimmanent noch als illegitimer Sprung aufgefasst werden kann. Die Gewalt ist gegenüber der explizierenden und reflexiven Kontexttranszendierung genau in entgegengesetzter Richtung unterwegs. Sie ist damit allerdings ein häufiger Modus der interkulturellen Begegnung, denn sie springt auf eine Ebene, die kulturelle Differenzen zeitweise relativ unerheblich macht, und erlaubt damit – sehr schnell – Handlungen über kulturelle Grenzen hinweg. Die Differenz zwischen den symbolischen Kontexten wird dabei nicht durch vermeintlich universale Explikate überbrückt, aber auch nicht durch die allmähliche reziproke Selbsttransformation im Zuge einer praktischen Kontextverschränkung der Praktiken kultureller Lebensformen, sondern durch die Reduktion des Gegenübers zum Gegenstand der Manipulation. Diese letzte Beschreibung des Phänomens der (interkulturell relevanten) physischen Gewalt zeigt wiederum, das auch Praktiken, die vordergründig nicht als Beispiele physischer Gewalt erscheinen, mit von der auf diese Weise komplexeren Beschreibung der direkten Gewalt betroffen sein können: Die Gewalt ist nur im Lichte der kulturellen Schemata »Gewalt«, sie transzendiert aber diese Schemata im Sinne der Lücke der Kommunikation. Gerade im Falle der konflikthaften Behauptung eigener und fremder kultureller Identität, also im Kontext der umstrittenen kulturellen »Selbst«-behauptung, kann nun diese Transzendierung des kulturellen Kontextes auch in der Reduktion der
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interkulturellen Kommunikation auf nur einen, den eigenen kulturellen Kontext bestehen. Die in der körperlichen Gewalt vollzogene Unterbrechung und Verhinderung der kommunikativen Transzendierung von kulturellen Kontexten verbindet darum die direkte körperliche Gewalttat mit der assimilativen Verstehensform: Die institutionalisierten und kulturelle durch Stereotypen bedingten assimilativen Formen der Behauptungen einer fremden kulturellen Identität überspringen ebenfalls die Pragmatik der reziproken erfahrungsoffenen Kommunikation über die Grenzen kultureller Horizonte hinweg. Und sie können damit im Lichte der symbolischen Charakterisierung direkter Gewalt, nämlich bezogen auf das Kriterium der Autonomie der beteiligten Personen, ebenso als Formen der gewaltsamen Reduktion fremder kultureller Selbstverständnisse gelten. Sie vollziehen sich zwar nicht im Medium der Reduktion von Kommunikation auf physische Interaktion; die Reduktion der pragmatischen kommunikativen und reziproken Revision eigener Horizonte auf die Asymmetrie der Durchsetzung stereotyper Selbstbehauptungen hinterlässt jedoch gemessen an der Anerkennungswürdigkeit kultureller Selbstverständnisse durchaus leiblich inkarnierte Verletzungen (Taylor 1997: 34). Die Erfahrungsoffenheit und Revisionsbereitschaft einer modernen kulturellen Identität33 drückt sich darum – gerade mit Bezug auf das Problem der kommunikativen Selbstbehauptung kultureller Lebensformen – auch darin aus, dass sie zu selbstkritischen Erweiterungen und Dauerrevision des Begriffs der Gewalt bereit ist.
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8. Gewalt und kulturelle Selbstbehauptung
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9. Zur Form des Milieus
Performative Kulturen im Horizont von Gesellschaftstheorie
und Sozialstrukturanalyse
Performative Kulturen sind in der modernen, komplexen Gesellschaft eingebettet in eine hochgradig heterogen differenzierte soziale Umgebung, und das hat Konsequenzen für ihre konkrete Gestalt und für ihre Rolle in dieser Umgebung. Für die Analyse dieses Zusammenhangs wäre es allerdings äußerst irreführend, sich »performative Kulturen« einfach als geschlossene Gruppen mit besonders ausgeprägter Neigung zur Pflege von tradierten Routinen vorzustellen. Die Sache ist komplizierter. Die gesellschaftstheoretische Analyse performativer Kulturen bedarf deshalb – vielleicht bedauerlicher Weise – weitreichender Umwege durch die Abstraktion: Der Begriff einer »performativen Kultur« ist im ersten analytischen Zugriff als handlungstheoretisch gewonnener Typus der Integration von Handlungszusammenhängen zu verstehen (Renn 2006: 341f, 362f. und 444ff.). Im Unterschied zu abstrakten Formaten einer standardisierten Handlungstypik (formale Organisation, theoretische Diskurse oder systemische Codierungen) leisten – gemäß einer pragmatistischen Interpretation des Wittgenstein’schen Begriffs einer »Lebensform« – performative Kulturen die Integration von Handlungszusammenhängen im Medium der Interaktion und dabei auf der Grundlage eines hinreichend gemeinsamen impliziten, gleichsinnigen und habitualisierten kulturellen Wissens der »Angehörigen«. Dieses Wissen unterscheidet sich in seinem Modus als »implizites« Wissen grundlegend von der expliziten und propositionalen Form eines »lebensweltlichen« Hintergrundwissens (Habermas 1981). Es ist als ein praktisch erworbenes, habitualisiertes Wissen (Bourdieu 1982) eine Form des »knowing how« (Ryle); und eben deshalb verdienen die kollektiv geteilten »Wissensbestände« (besser die implizit geregelten Performanzen, die auf ein solches Wissen rückschließen lassen), d.h. der gemeinsame praktische Hintergrund der Fähigkeit zu wissen, wie in spezifischen Situationen jeweils gesprochen, gehandelt und geurteilt wird, den Titel einer »performativen Kultur«.
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Per formative Kultur und multiple Differenzierung
Das kulturelle knowing how ist niemals frei von »Proto-Generalisierungen« (denn sonst läge zwischen zwei unterscheidbaren Situationen ein Abgrund der Bedeutungsunsicherheit). Nur verdichten sich solche Generalisierungen noch nicht zur expliziten Form idealtypischer Allgemeinheit (der Bedeutung von Ausdrücken), propositionalen Wissens und abstrakter Regelkodifikation. Das Gedächtnis der Kommunikation, damit die Ressource der den Augenblick übergreifenden Generalisierung, besteht im Falle einer performativen Kultur im inkorporierten Habitus. Es drückt sich semantisch in »unsicheren Abstraktionen« (Bourdieu), d.h. in Explikationen erster Stufe (in Metaphern, Sprichwörtern, Narrativen und Mythen) aus, die analogisch Ereignisse mit Ereignissen verbinden, und dieses nicht über den Umweg der Subsumtion unter zuvor aus der Praxis abstrahierte Kategorien und Gesetze. Die Integrationseinheit »kulturelle Lebensform« vollzieht, stabilisiert und transformiert sich im Medium konkreter Interaktion. Dadurch sind ihre pragmatische Reichweite (die mögliche Ausdehnung in Raum und Zeit) sowie der mögliche Komplexitätsgrad der Verknüpfung von Handlungen durch die Kapazität des (z.T.) körperlichen Gedächtnisses der Angehörigen auf die maximale Dehnbarkeit eines möglichen Netzes von konkreten Interaktionen und (indirekt) auf das Fassungsvermögen leiblicher Intentionalität beschränkt. Durch diese Kapazitätsbeschränkung (komplexe Gesellschaften lassen sich nicht exklusiv »performativ-kulturell« integrieren) entwickelt der analytische Begriff der performativen Kultur im Rahmen der Gesellschaftstheorie einen intrinsischen Bezug zur Einheit der sozialen Gruppe. Performative Kulturen sind dann nicht nur Einheiten des praktischen Wissens, sondern sie können als durch die pragmatische Gleichsinnigkeit dieses Wissens abgegrenzte (abgrenzbare) Kollektive betrachtet werden. An dieser Stelle bekommt der Zusammenhang zwischen performativen Kulturen und der multiplen Differenzierung der Gesellschaft für die Analyse solcher kulturellen Gruppen, für ihre Infrastruktur und ihre Beziehungen über ihre Grenzen hinweg, eine zentrale Bedeutung. Performative Kulturen sind, was sie sind, immer in Abhängigkeit von dem, was sie nicht sind: vom komplexen Kontext einer multiplen Differenzierung, der auch die performativen Kulturen selbst ihre Gestalt verdanken. Als Typus einer konkreten und impliziten Vergesellschaftung gerät die praktische Einheit einer praktisch integrierten kulturellen Lebensform durch die für eine komplexe oder für die moderne Gesellschaft typischen Differenzierungsvorgänge unter »Konkurrenz«. Das bedeutet, dass kulturelle Lebensformen im Sinne performativer Kulturen (vor allem in modernen Verhältnissen) nicht »Gesellschaften«, nicht autochthone Gemeinschaften sind, sondern auf spezifische Weise gebaute Integrationseinheiten neben anderen, durch die sie auf konstitutive Weise beeinflusst werden (Renn 2006: 410ff.). Und das impliziert des Weiteren, dass der allgemeine Typus einer »performativen Kultur« durch die Differenzierungsform moderner Gesellschaft selbst differenziert wird, und das heißt auch: einen speziellen Ty-
9. Zur Form des Milieus
pus ausbildet. Mit guten Gründen (siehe unten) kann man sagen: sie werden zu einem »sozialen Milieu«. Diese begriffliche Wendung (die der Begründung bedarf) erlaubt es, die handlungstheoretische und kultursoziologische Analyse performativer Kulturen systematisch und konsistent mit der Gesellschaftstheorie und der Sozialstrukturanalyse zu verschränken. Eine mögliche, durchaus begrüßenswerte Nebenfolge dieses Manövers der Theoriebildung könnte darin liegen, durch diese spezielle Verklammerung zwischen Mikroebene (kulturelle Praxis) und Makroebene (Gesellschaft und Sozialstruktur) die in der Soziologie füreinander weitgehend schwerhörigen Traditionen der Gesellschaftstheorie und der Sozialstrukturanalyse ineinander übersetzbar zu machen.
I. V on der F orm des M ilieus zur multipel differenzierten G esellschaf t Soziale Milieus sind nicht einfach nur »Teile« der Gesellschaft, sie bilden keine autarken Sozialformen, keine selbstgenügsamen und abgeschlossenen »Gruppen«, die sich erst nachträglich zu einem größeren Ganzen komponieren. Sondern sie sind in einem solchen Maße von der gesellschaftlichen Konstellation zwischen ausdifferenzierten »Teilen«, von der Differenzierungsform der Gesellschaft, durchdrungen, dass es eben ganz selbstverständlich erscheint, dass die historisch jeweils typischen oder auch wahrscheinlichen (wenn nicht gar möglichen) Formen sozialer Milieus mit dem Typus der Gesellschaft variieren. Die Struktur bzw. die Differenzierungsform der Gesellschaft gibt dem Aufbau und den Innenverhältnissen von sozialen Gruppen Bedeutung, Funktionen, Spielraum und Ressourcen. Aber ebenso richtig ist, dass der Zugang zur Analyse der Gesellschaft über das Verständnis, über die rekonstruktive Analyse »ihrer« Milieus führt. Allein schon deshalb, weil abstrakte Makroregime ihre Koordinationswirkung im Durchgang durch die konkrete Ebene kultureller Praktiken entfalten müssen. Strukturen oder Differenzierungsmuster sind zwar abgehoben von der Ebene der situierten Praxis, aber ihr Einfluss auf das situierte Handeln ist nicht deterministischer Natur, sondern er muss zumeist durch die milieuspezifischen Selektions-Filter der Interpretation und der Übersetzung hindurch zur Wirkung kommen. Darin liegt, ganz der Sache angemessen, die Andeutung einer zirkulären epistemologischen Lage. Auch wenn sich Milieus und Gesellschaft gewiss nicht nach dem Muster der Beziehung zwischen Ganzem und Teil zueinander verhalten (weil z.B. die Differenzierung der Weltgesellschaft nicht nach dem »Dekompositions-Prinzip« verfährt, siehe: Luhmann 1975 und 1997 sowie Schimank 1996), so stößt die Analyse doch auf das Problem des hermeneutischen Zirkels. Hier gibt es keine Hilfe durch den Kunstgriff einer vergleichsweise willkürlichen Festlegung von »abhängigen« und »unabhängi-
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gen« Variablen. Denn bei zirkulären Konstitutionsbeziehungen sind unreflektierte Festlegungen der analytischen Einstiegsprämissen der Königsweg zur Produktion methodisch induzierter Artefakte. Diese Zirkularität wäre auf den ersten Blick nicht mal ein großes Malheur, zumal die Milieuanalyse die Maxime einer »verstehenden« Soziologie, erst komme die Sinndeutung und dann die Erklärung, in breiter Front als Verpflichtung zu einer hermeneutischen Methode auslegt, und bei diesem Geschäft drängt sich der hermeneutische Zirkel ganz von allein auf (Soeffner 1999 und Giddens 1984). Allerdings muss eingestanden werden, dass in der gegenwärtigen Lage der soziologischen Milieuforschung die zirkuläre Beziehung zwischen Milieu und Gesellschaft in der Regel methodisch-analytisch unterbrochen und auf einen Halbbogen reduziert wird, der dann ein hierarchisches Konstitutionsgefälle suggeriert. Entweder liefert die Sinn rekonstruierende Mikroanalyse subtile Beschreibungen von partikularen Deutungshorizonten, verliert dabei jedoch den Bezug zur Makroebene; oder aber eine quantifizierende Auffassung von Sozialstruktur verleitet zur Identifizierung der Gesellschaft mit Verteilungsmustern und zur Beschränkung der Arbeit der Sinndeutung auf das Auszählen der Treffer beim subsumierenden Einsatz von Einstellungsindikatoren. Im ersten Falle »konstituieren« milieueigene Sinnhorizonte »die« Gesellschaft; im anderen Falle steht hinter den zusammengefassten Einstellungsmustern eine »objektive« Struktur, die durch konstituierte Deutungsschemata reproduziert wird. In beiden Fällen wird ein zu einfaches Bild des Zusammenhangs zwischen Milieu und Gesellschaft gezeichnet. Diese Gegenüberstellung könnte nun zwar auf den ersten Blick als grob unfair gelten, zumal seit schon längerer Zeit auf den Spuren P. Bourdieus Versuche ausgebaut werden, die Sozialstrukturanalyse mit Makroextension durch eine Rekonstruktion habitueller Einstellungshintergründe zu verfeinern (Vester 1997; Vester e. a. 2001: 162ff.; Bremer, Lange-Vester 2006). Allerdings ist die klassentheoretische Insistenz dieser Ansätze (z.B.: Vester e. a. 2001: 157ff.), gerade weil sie Bourdieu treu bleibt (Bourdieu 1982 und 1985),1 ein Indiz dafür, dass die Ergänzung der Einstellungsvariablen in Richtung habitualisierter Klassifikationsschemata die Vorentscheidung zugunsten des Primats vertikaler Differenzierung in Klassen und Schichten selbst nicht berührt und sie damit einer Überprüfung entzieht. Hermeneutische Verfahren müssen demgegenüber berücksichtigen, dass Sinnhorizonte als Milieucharakteristika sich keineswegs primär entlang vertikaler Strukturmuster im »sozialen Raum« verteilen. Vor allem muss deshalb das klassentheoretische Vorurteil, das seit 1 | Die klassentheoretische Orthodoxie Bourdieus, die ihre Plausibilität zu großen Teilen aus den Sonderbedingungen Frankreichs bezieht, kritisierte Stefan Hradil als eine überholte Strukturhypothese der Sozialstrukturanalyse schon vor 25 Jahren (Hradil 1989).
9. Zur Form des Milieus
Th. Geiger2 ohnehin zu einem Prinzip der objektiven Ressourcenverteilung vermindert ist (Goldthorpe e. a. 1968), zugunsten einer induktiven (besser: abduktiven) Erschließung des intersubjektiven – milieuspezifischen – Sinnhorizonts ausgesetzt werden. Subjektive Rangordnungen und eben solche Bewertungen von Ressourcenverteilungen können in der Analyse nicht von objektiven Verteilungsstrukturen deduziert werden – jedenfalls dann nicht, wenn, wie es seit den 90er Jahren in der Sozialstrukturanalyse wahrgenommen wird (Müller 1989; Bertram, Dannenbeck 1990; Hradil 1987 und 1992), objektive Lagen und Einstellungsmuster bzw. »Lebensstile« (Hörning, Michailow 1990) »entkoppelt« sind. Stildifferenzen (Hradil 1989; Otte 2004) können Einkommensunterschiede in den Selbstkonzepten, die Gruppen intern verbinden, ohne weiteres überlagern und ausstechen. Stil und Alter könnten Bildungsund Finanzressourcen bei der »Signifikanz« von Milieuunterschieden verblassen lassen und damit horizontalen Differenzierungen Vorrang vor vertikalen geben (Schulze 1996). Die hermeneutischen Zugänge zu »lebensweltlichen« Deutungs- und Selbstdeutungsroutinen (Schütz 1974; Matthiesen 1983; Soeffner 1999; Hitzler e.a. 2008), haben hier den Vorteil der ergebnisoffeneren und vor allem dichteren Rekonstruktion von sinnhaften »Mikrolagen« auf ihrer Seite. Aber die wissenssoziologische, vor allem phänomenologische Tradition der Milieuanalyse (Gurwitsch 1977; Grathoff 1989) kommt über die äußerliche Anlehnung an makrosoziologischen Theoremen (z.B.: »objektive Individualisierung«) hinaus nicht bei einer wissenssoziologischen Theorie der Gesellschaft an. Die phänomenologische Wissenssoziologie wollte in Teilen den Weg zur Gesellschaft als einem Gesamthorizont (Luckmann 1980) über die am Ende möglichst flächendeckende Untersuchung »kommunikativer Gattungen« gehen (Luckmann 2007: 291f.). Sie ist diesen Weg jedoch nie zu Ende gegangen, nicht etwa aufgrund der Übergröße des entsprechenden Forschungspensums, sondern weil die sozialtheoretische Obsession für die Exklusivzuständigkeit subjektiver Sinnkonstitution den Eigenwert von entkoppelten Handlungskoordinationen (d.h. etwa: von Systemen entweder im Sinne von: Luhmann 1975 und 1985 oder von: Habermas 1981) systematisch verfehlen muss (siehe: Renn 2006: 349ff.). Gesellschaftliche Strukturmuster bleiben bei ausschließlich phänomenologischer Instrumentierung der Analyse an den Begriff der intentional gestützten 2 | Diese Verminderung des Anspruchs, bei dem ein greifbares, von den »Akteuren« selbst realisiertes »Klassenbewusstsein« nicht mehr konstitutiv sein muss (so dass die für die Kritische Theorie initialisierende Frage nach dem Grund der entfremdeten Selbstverkennung im Sinne von Georg Lukacs vom Tisch ist), war bei Geiger selbst in ihren Konsequenzen entschärft gedacht aufgrund der Vermutung, dass objektiven Schichtungseffekten die subjektiven Einstellungen folgen würden (Geiger 1962; vgl.: Geißler 1985 und 1990: 81ff.).
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Institutionen und seine Reichweite gefesselt. Und das ist ein Problem für die Gesellschaftstheorie, weil diese es sich angesichts spezifischer Komplexitäten nicht mehr leisten kann, »Gesellschaft« auf das kulturelle Wissen Einzelner von Institutionen zu beschränken (Habermas 1981). Das systematische Problem der Milieuanalyse verlagert sich mit dieser methodisch-sozialtheoretischen Beobachtung auf das Problem einer hermeneutischen Gesellschaftsanalyse und -theorie (Renn 2010). Es genügt nicht, in der Breite auszuzählen und gelegentlich an die dabei gemessenen Schichtungseffekte typische Globalorientierungen anzuheften, aber es ist auch nicht ohne weiteres zu sehen, wie man die komplexen Differenzierungsmuster der Gesellschaft aus der verstehenden Nahaufnahme milieuspezifischer, vor allem: praktischer und impliziter Sinnhorizonte (Bohnsack 2007; Renn 2006: 410ff.) erschließen können soll. An diesem Punkt wird die Analyse sozialer Milieus zum Scharnier zwischen Hermeneutik und Gesellschaftstheorie, bleibt als solches aber erst einmal Desiderat. Die Feinkörnigkeit und Ergebnisoffenheit der hermeneutischen Milieurekonstruktion mit der Reichweite makroanalytischer Strukturuntersuchungen verbinden zu wollen, ist aber nicht notwendig ein unmögliches Vorhaben. Es kommt darauf an, den Begriff des »sozialen Milieus« zugleich differenzierungstheoretisch und sinnrekonstruktiv anzulegen. Dafür muss die theoretische Seite der empirischen Milieuforschung sich sowohl von der strukturanalytischen Ableitung wie vom phänomenologischen Intentionalismus distanzieren und sich auf die spezifische »Form« des Milieus konzentrieren. Soziale Milieus als eine »Form« der Handlungskoordination zu begreifen, öffnet sowohl den Weg zur sinnverstehenden empirischen Rekonstruktion von Mikrolagen als auch den Übergang zu einer Untersuchung multipel differenzierter Makrokontexte, in denen Milieus nur eine spezifische Form der sozialen Integration, d.h. der situationstranszendierenden Koordination des Handelns, unter anderen realisieren.
II. V ok abul are und K ategorien der M ilieuforschung Die Suche nach der Form des Milieus muss bei den soziologisch etablierten Milieubegriffen beginnen. Was ein »soziales Milieu« ist, wodurch es sich von anderen Formen der Vergesellschaftung unterscheidet, was seine Grenzen definiert, worin genau die Zugehörigkeit der Person zu einem Milieu besteht, welche Varianten es hier in Abhängigkeit von was gibt, schließlich: wie Milieus analytisch und empirisch erschlossen werden können; all diese Fragen werden in der soziologischen Milieuforschung höchst unterschiedlich beantwortet, weil der Begriff des sozialen Milieus, in Abhängigkeit von untereinander konträren theoretischen und methodologischen Optionen, auf unterschiedlichste und in vielen Hinsichten geradezu widerstreitende Weise verwendet wird.
9. Zur Form des Milieus
Im Ausgang von der phänomenologischen Wissenssoziologie und ihrer Konzentration auf den sozialtheoretischen Primat der subjektiven Sinnkonstitution (Schütz 1974 und 2003; Berger, Luckmann 1974) wird der Typus eines sozialen Milieus bestimmt als eine Gruppenbildung auf der Basis von übereinstimmenden, lebensweltlichen (vgl. Eberle 2000) und d.h.: intentionalen Horizonten, die sich bei hinreichender Differenzierung zwischen Milieus in einer dennoch gemeinsamen gesellschaftlichen Umgebung empirisch z.B. in der Übereinstimmung eines (Differenz setzenden) kulturellen Stils bemerkbar macht (Hitzler e.a. 2005 und Hitzler e.a. 2008). Die phänomenologische Tradition stellt in ihrer Perspektive vor allem das Konzept eines mehr oder eben doch weniger explizit verfügbaren Sinnhorizontes lebensweltlicher Wahrnehmungs- und Deutungsschemata in den Vordergrund (Grathoff 1989). Gerade Aron Gurwitsch schloss diesbezüglich, in Auseinandersetzung mit dem älteren Milieubegriff Max Schelers, an der »Hermeneutik der Faktizität« (Heidegger) und damit an der Konzeption einer vergemeinschaftenden »Geworfenheit« an, die eher praktisch als theoretisch-kognitiv tradiert wird (Gurwitsch 1977: 179ff.). Ein Milieu wäre demnach keine auf expliziten »Einstellungen« und Präferenzen oder z.B. eindeutiger Parteien-Bindung beruhende Gemeinschaft, sondern geradezu konträr dazu eine Einheit, die durch die Grenzen übereinstimmenden impliziten Wissens (Polanyi 1985) gebildet wird, das historisch und pragmatisch gewachsen, also weitgehend unverfügbar und thematisch verborgen ist.3 Das unterscheidet diese Tradition der Milieuanalyse entscheidend auch von solchen Konzeptionen, die zwar auf subjektive Stiloptionen und auf die kulturelle Seite der milieuspezifischen Einstellungstypen Bezug nehmen, die methodisch und strukturtheoretisch allerdings doch auf dem Boden der quantifizierenden Sozialstrukturanalyse und ihres Instrumentariums bleiben. Der Zwang zur Operationalisierung zum Zwecke einer den Gegenstand quantifizierenden Messbarkeit macht es hier zur Pflicht, sich an standardisierte Variablen expliziter Einstellungen zu halten. Schon die Methode supponiert hier dem milieuspezifischen Sinnhorizont bzw. Wissen eine explizite, begriffliche Form. Die – durch ihre strukturtheoretische Kreativität und methodische Komplexität bemerkenswerten – Milieuanalysen Gerhard Schulzes (Schulze 1996: 94ff. und 127ff; siehe dazu: Endruweit 2000: 21) definieren soziale 3 | Entscheidend an diesem Hinweis auf die Differenz zwischen implizitem und explizitem Wissen ist, dass ein »starker« Begriff des impliziten Wissens (der die notwendige »Nicht-Explizierbarkeit« zu einem bestimmenden Charakteristikum macht), erhebliche methodische Konsequenzen hat (vgl. Loehnhoff 2012; Renn 2012: 162ff.). Die Implizitheit sozialen Sinns erschwert (oder sogar: delegitimiert) es, den Zugang zum handlungsrelevanten »Wissen« über inhaltsanalytische Paraphrasen und eine repräsentationalistisch gestimmte Subsumtion unter Variablen zu suchen.
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Milieus bekanntermaßen als reale Gruppen, die sich durch ihre spezifische Interaktionsdichte, d.h. durch die in ihnen anfallende erhöhte »Binnenkommunikation«, und die übereinstimmenden Stilpräferenzen integrieren und unterscheiden. Damit wird die Obsession der Sozialstrukturanalyse für das Apriori vertikaler Schichtung (wenn nicht Klassendifferenzierung) zwar der Tendenz nach überwunden. Denn es wird hier von einer an die »Zweite Moderne« erinnernden Drift zur dominant horizontalen Differenzierung entlang von vermehrt optionalen Geschmackslagen ausgegangen. Trotzdem bleibt das spezifische Profil eines sozialen Milieus nach Schulze bestimmt durch die Konjunktion von Indikatoren der Lage, nur dass es nicht mehr Einkommen, Bildung und Beruf sein sollen, die für die Beteiligten evidente und zugleich signifikante Anzeichen der Zugehörigkeit bilden, sondern demgegenüber Alter, Bildung und Stil (Schulze 1996).4 Die Form des Milieus im Kontext der Untersuchung einer »Erlebnisgesellschaft«5 bleibt also im Unterschied zur phänomenologisch-hermeneutischen Wissenssoziologie eine über explizit abfragbare Einstellungen, die auf Indikatoren zurechenbar sind, abgegrenzte Menge von Personen mit gleicher kultureller »Theorie« über sich und ihresgleichen. Es gibt also mindestens zwei begriffliche und eben dann methodische Probleme mit den Milieu konstituierenden »Einstellungen«: erstens die Frage nach Form und Grad ihrer Abhängigkeit von »objektiven Lagen« (darin: nach dem Ausmaß der Kongruenz zwischen Lagegrenzen und Milieugrenzen) und zweitens die Frage nach der Form dieser Einstellungen bezogen auf die Differenz zwischen implizitem (habituellem oder praktischem) und explizitem Wissen (an der die Zugänglichkeit bzw. der Grad der Adäquatheit einer Subsumtion unter Variablen hängt.) Eine andere Hinsicht in der sich etablierte Milieubegriffe deutlich unterscheiden, ist im Unterschied zu der genannten Differenz die Frage nach der Bindung des Status einer realen Gruppe an die faktische Interaktion bzw. an 4 | Für diesen Befund spricht dann die jüngst beobachtbare Explosion der Bildungsforschung, da es nurmehr die Bildungsunterschiede angesichts der bei Schulze symptomatischen Entkoppelung von sozioökonomischer Lage und Einstellung der traditionellen Sozialstrukturanalyse leicht machen, am Primat vertikaler Ungleichheit sowie an Schichtungsmodellen festzuhalten und z.B. Milieudifferenzen auf subkulturelle Devianzen von einer fingierten homogenen Kultur der Gesellschaft zuzurechnen (wie: Endruweit 2000). 5 | Die »Erlebnisgesellschaft« hat zwar, gerade wegen dieses geschickt gewählten Titels die Arbeiten von Schulze zu einem viel beachteten Kandidaten für eine Antwort auf die popularisierende Frage, »in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben«, gemacht. Es lag aber nachweislich und erklärtermaßen nicht in der Absicht von Schulze mit der regional begrenzten Studie über erlebnisorientierte Milieus schon eine ganze »Gesellschafstheorie« vorzulegen, auch wenn diese von den Einsichten Schulzes erheblich profitiert.
9. Zur Form des Milieus
den praktischen Modus der Milieuintegration: In der Tradition von K. Mannheim hält z.B. Ralf Bohnsack dafür, dass die Einheit eines Milieus in Unabhängigkeit von der dauerhaften und wiederholten interaktiven Nähe zwischen den Angehörigen bestehen kann. Die Alternative zur Dauerinteraktion besteht hier in der habituellen Wissensform eines »konjunktiven Erfahrungsraums«, der exemplarisch illustriert wird durch den Hinweis auf Mannheims Konzept der »Generation« (das eine historisch epochale Homogenität der Lebenserfahrung von Gesamtkohorten »einer« Gesellschaft unterstellen muss). Der Begriff des »konjunktiven Erfahrungsraumes« beruht bei Bohnsack aufgrund der starken Akzentuierung habitueller Muster eher auf dem impliziten Wissen, das ein Milieu definiert (Bohnsack 2007). Der Erfahrungsraum verbindet dennoch die Angehörigen eines Milieus nicht aufgrund ihrer pragmatisch geteilten Lebenspraxis, auch wenn der »Habitus« auf der Ebene praktischen Wissens, Urteilens und Handelns liegt. Sondern habituelle Übereinstimmungen zwischen Personen bestehen aufgrund von homogenen (hinreichend ähnlichen), genetischen Ausgangsbedingungen. Aber solche Bedingungen können dann doch wieder nur aufgrund von »objektiven« Lagerungen im sozialen Raum einheitlich sein – dann jedenfalls, wenn die Vereinheitlichung des praktischen Wissens einer ganzen Generation als exzeptionell gelten muss. Das paradigmatische »Erlebnis« eines Weltkrieges kann zweifellos als ein Faktor gelten, dessen Wirkungen sämtliche Lagen und Milieus mit Macht durchdringen; ein solches Gesamtkohorten zusammenschmiedendes kontingentes Großereignis wird im Falle von Pluralisierung und Heterogenisierung kultureller Orientierungen allerdings zum untypischen Fall, gerade weil sich kulturelle Pluralisierungen erst von einem gesellschaftlichen Hintergrund milieu-unspezifischer Koordinationsformen, die Lebensformen entlasten, als kulturelle Differenz abheben (vgl. Luhmann 1999).6 Nicht von ungefähr berufen sich Verfechter der »dokumentarischen Methode« der Milieuanalyse neben K. Mannheim auf Bourdieu, so dass die Bestimmung kohärenter Ausgangslagen im sozialen Raum, diesen Raum als einen durch die Verteilung von Kapitalien (Bourdieu 1985) vertikal strukturierten Hintergrund habitueller Typiken begreift, nicht aber als einen Raum, in dem sich reale Interaktionsnetze und milieuspezifische Praktiken
6 | Und das ist kein kontingenter Zusammenhang, denn es liegt auf der Hand, dass die homogenisierende Wirkung von generationsspezifischen Erfahrungen gerade darauf angewiesen ist, dass es sich bei entsprechend signifikanten Prägungen im Vergleich zu Alltagsroutinen um exzeptionelle Ereignisbündel handelt, weil sie anders sich nicht als durch Differenzierung integrierende Kontraste bemerkbar machen würden. Die »Generation« bildet also nur dann (ausnahmsweise) ein Milieu, weil und wenn sie es in der Regel eben nicht bildet. Schon diese Paradoxie zeigt, dass Mannheims Generationenbegriff auf die pluralisierte Spätmoderne nur schwer abzubilden ist.
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zumindest auch als Muster handfest materieller Milieuabgrenzungen verstehen lassen (Matthiesen 1998). Mit den Varianzen der soziologischen Vorstellungen über den »Raum«, in dem Milieus »sich befinden« (?), kommen schließlich unverkennbar die in der Milieuforschung einflussreichen makrotheoretischen Alternativen in Sicht. Einerseits methodische Zwänge, andererseits ordnungspolitische Sensibilitäten präjudizieren in der Milieuforschung die Einschätzung der Relevanz der vertikalen Differenzierung (der Schichtung, oder radikaler gesagt: der Klassenstruktur) der Gesellschaft: Kommt ihr nach wie vor der Primat zu, ist sie ein Teilaspekt, bloß noch ein Überbleibsel oder sogar nur noch ein soziologischer Mythos? Indirekt hängen nun diese Fragen zum Verhältnis zwischen Milieu und sozialem Raum zusammen mit der Frage nach der Beziehung zwischen Milieus und Institutionen. Denn der soziale Raum ist jeweils ein anderer, je nachdem, ob Milieus nun Institutionen sind, aus ihnen bestehen (z.B. in der Form einer »Kultur«), oder aber ihnen auch gegenüber stehen können. In einem Fall ist der »soziale Raum« (als eine extensionale Modellierung der Gesellschaft als einem Behälter) die Gesamtheit von ungleichen (personal besetzten) Positionen (Bourdieu), die vielleicht noch in »Felder«, jedenfalls aber vertikal in Strata untergliedert sein soll. Institutionen sind hier verfestigte und verbindliche Sinnformate, die Verteilungen kanalisieren und legitimieren. In einem anderen Fall ist der »Raum« untergliedert in aufeinander schon nicht mehr abbildbare Achsen der Unterscheidung, so dass vertikale Gliederungen nicht bis in die Sinnhorizonte von Akteuren »durchregieren«, Stil und Einstellung lageentkoppelt sind und Institutionen zumindest unterschiedlichen Charakter und widerstreitende Effekte haben können. In einem weiteren Falle, bei dem die Raummetapher allmählich zu versagen beginnt, ist die Gesellschaft kein Container, in dem auf Milieus verteilte Individuen »enthalten« sind, sondern der »soziale Raum« wird von verselbständigten Institutionen, z.B. von funktional differenzierten Kommunikationsordnungen durchzogen (die sich allerdings nicht aneinander »stoßen« können, weil sie wie Funkfrequenzen in den gleichen Raumpunkten synchron präsent sein können, das wird überdeutlich betont bei: Luhmann 1997). Was also unter »Institutionalisierung« verstanden wird (ob nun »kulturelle Sedimentierung« oder aber z.B. Systembildung), hat Einfluss darauf, wie Milieus im sozialen Raum bzw. in der Gesellschaft »liegen« können. Neben der typischen Form des Wissens, dem Verhältnis zur faktischen Interaktion und dem Verhältnis zur vertikalen Differenzierung sozialer Lagen ist es deshalb das Verhältnis zum Begriff und zur Bedeutung von »Institutionen«, an dem sich soziologische Milieukonzepte in relevanter Hinsicht differenzieren. Was eine soziale »Institution« sein soll, ist seinerseits nicht eindeutig homogen in der ganzen Breite des Fachs bestimmt, auch wenn sich
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die Hinweise auf Gehlen als verbindende Klammer erweisen sollten. Mindestens die Unterscheidung zwischen einerseits intentional konstituierten sowie reproduzierten Institutionen (als kristallisierten Typisierungen, siehe: Berger, Luckmann 1974), und Institutionen, die sich zu transintentionalen Formen der Selbstregulation entkoppelt haben (Luhmann 1975 und 1985), macht einen erheblichen Unterschied für die Bestimmung eines sozialen Milieus (siehe hier auch: Renn 2006: 400ff.). Denn in einem Falle sind Milieus selbst Institutionen oder wenigstens Bündel von institutionalisierten Typiken und Schemata (beliebt ist hier dann wieder: »Kultur«), im anderen Falle stehen sie gewissen Institutionen gegenüber, so dass Milieuintegration mit der Abgrenzung des Milieus von Institutionen zusammenfallen kann. Entsprechend variieren die Milieubegriffe mit Bezug auf das Konzept der Institutionen. Klassisch akteurszentrierte Ansätze bestimmen das soziale Milieu durch die übereinstimmende Fokussierung von Akteuren auf institutionelle Kernbereiche; in diesem Sinne können Milieus entweder als kleine, flüchtige (Hitzler 2005) oder aber als großformatige und dauerhafte (Lepsius 1973), jedenfalls als institutionalisierte Lebensformen erscheinen, während die klassische Sozialstrukturanalyse auf diese Verbindung verzichten kann, weil sie Verteilungen in einem vermeintlich homogenen Medium (im »Raum« der Chancen- und Ressourcenverteilung z.B.) misst. Aber erst mit der Berücksichtigung der Möglichkeit, dass Institutionen sich verselbständigen und damit den Milieus entrückt und entzogen sein sowie ihnen gegenüber treten können, werden z.B. die Analysen der Entwicklung typischer Bindungen an politische Parteien trennscharf. Wenn Parteien keine »Repräsentationen« von Milieus bzw. von entsprechenden Interaktionsverbänden sind, Parteien also keine Einstellungen »ausdrücken« und keine institutionelle Form des Milieus »selbst« sind, weil Organisation und Milieu jeweils eine andere Koordinationsform darstellen (Luhmann 1975; Renn 2006: 417ff. und 2012), dann ist der Wandel von der milieuumfassenden Kompaktbindung an nur eine Partei (Lepsius 1973) zur Unsicherheit der Parteienpräferenz (Otte 2004) nicht einfach die Folge der Hedonisierung und Postmaterialisierung bzw. Individualisierung persönlicher Einstellungen (Vester e.a. 2001), sondern Ausdruck und Folge der Ausdifferenzierung von Milieu und Organisation und Funktionssystemen. Die Wählerschaften teilen sich dann in – diachron volatile – Milieuzusammenhänge, deren Bindung an die Institution einer Parteiorganisation mit dem Charakter des Milieus (und mit dem Angebot der Parteien, Milieuhorizonte in Programme zu übersetzen, wenn auch unter anderen Prämissen: Otte 2004) variiert. Institutionalisierung als nachhaltige Verselbständigung (z.B. in Gestalt der Genese der Parteiorganisation als »Andocken« an funktional ausdifferenzierter politischer Rationalität) bildet für eine solche begriffliche Optik den Hintergrund der Entkoppelung von Milieus und strukturellen Lagen, weil Institutionalisierungen dann nicht »Artikulationen«
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von Kulturen, sondern Teilprozesse einer multiplen Differenzierung sind, d.h. weil sich nicht nur Lagen und Einstellungen diversifizieren, sondern weil sich Formen der Differenzierungen (funktionale, kulturelle, regionale) und Formen der Integration von handlungskoordinierenden Sinnhorizonten (Milieu, Organisation, System; vgl. Renn 2006) differenzieren. Im Kern der Heterogenität von soziologischen Milieukonzepten stoßen wir also auf die Agenda der Differenzierungstheorie.
III. D ifferenzierungstheore tische H orizonte Die genannten Aspekte: Wissensmodus, Interaktionsrelevanz, soziales Raumkonzept und das begriffliche Verhältnis zum Konzept der Institutionen bilden sicher keine vollständige Reihe. Aber schon diese Reihe ist hinreichend umfassend, um anzudeuten, dass sich innerhalb des Faches in Anspruch genommene soziologische Milieubegriffe in mehreren Hinsichten gegenseitig ausschließen. Der systematische Aspekt, der eine gewisse Ordnung dieser heterogenen Zugänge zu sozialen Milieus erlaubt, und der überdies die oben angezeigte Frage nach der zirkulären Beziehung zwischen Milieu- und Gesellschaftsanalyse aufnimmt, liegt auf der Ebene der jeweils zugrunde gelegten, mehr oder weniger expliziten Modelle der wesentlichen Struktur der modernen Gesellschaft, d.h. in der differenzierungstheoretischen Dimension. Ein entscheidender Faktor für die theoretische »Lokalisierung« und damit für die begriffliche Bestimmung von Milieus im Gefüge gesellschaftlicher Strukturkonstellationen ist die Option für oder wider den Primat der vertikalen bzw. stratifizierten Anordnung von Milieus (bzw. von Personen). Die Tradition der sozialstrukturanalytischen Ungleichheitsforschung präjudiziert jedoch schon durch die quantifizierende Methode und die konzeptuelle Voraussetzung der prioritären Relevanz sozialer Ungleichheit, dass soziale Milieus als vertikal differenzierte soziale Aggregate in Betracht kommen müssen, die man wie in den Sinus-Milieu-Studien entlang abstrakter Weltanschauungsdifferenzen noch einmal unterteilen muss entlang eines horizontalen Spektrums zwischen mehr oder weniger »traditionalen« oder eben »avancierten« Grundeinstellungen. Wenn damit wie bei Michael Vester (Vester e.a. 2001) – trotz der methodischen Raffinierung durch die Einschaltung einer Rekonstruktion des milieuspezifischen Habitus – die Skepsis gegenüber Individualisierungs- und Pluralisierungsthesen als hinreichend begründet gelten soll, dann kann die Milieuforschung ohne empirische Probe aufs Exempel bei der Theorie und der Methode der klassischen Schichtungsanalyse und bei einem entsprechenden Aggregatbegriff sozialer Milieus stehenbleiben (vgl. Vester e.a. 2001: 23ff.). Fragen nach milieuspezifischen, aber nicht aus »Lagen« erklärbaren individuellen und kollektiven (kulturellen) Identitäten und auffälligen Verschiebungen
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zu »postmaterialistischen«, handlungsrelevanten Einstellungsorientierungen (Vester e.a. 2001: 45ff.) werden damit zu Epiphänomenen verkleinert, ohne dass ihre Relevanz für die eventuelle Revision gesellschaftstheoretischer Modellierungen überprüft würde. Belegt werden kann die objektive Klassenstruktur allerdings kaum dadurch, dass die empirische Forschung erst beginnt, nachdem – lieber mit J. Goldthorpe als mit Marx (Goldthorpe e.a. 1968) – durch Festlegung der unabhängigen Variablen und damit der möglichen Zurechnungsrichtungen bei der Deutung von überzufälligen Korrelationen die Klassenstruktur als primär relevante Achse der Raumteilung schon unterstellt ist (vgl. Rössel 2009: 118ff.).7 Die methodische Konstruktion des sozialen Raums bei Bourdieu (1985) soll an diesem Punkt zusätzliche Belege liefern, mindestens dadurch, dass die »Korrespondenz« zwischen den Verteilungsmustern meritokratisch indizierter Ressourcen (Bildung und Einkommen) und den Distinguiertheits- bzw. Respektabilitätsgrenzen in Geschmacksdingen eine Umkehrbarkeit der Relation nahelegt (Bourdieu 1982; vgl. Vester e.a. 2001 und dagegen: Hradil 1989). Wenn Einkommen und Bildung (milieutypisch) den Geschmack zu prognostizieren erlauben, dann gestattet die Korrespondenzanalyse die Umkehrung, dass (habitualisierte) Geschmackspräferenzen den Zugang zu Kapitalien kanalisieren. Dominante Klassen haben den dominierenden Geschmack, weil der Geschmack der Dominierten sich an den Dominierenden – auch bei »Gegenentwürfen« (siehe: Fiske 1999) – orientiert, denn eben darin liegt die Dominanz. Das ist offenkundig eine »analytische« Behauptung, die den Ausdruck »Dominanz« erläutert, nicht aber empirisch belegt, dass Dominanzverhältnisse, also Klassenherrschaft inklusive kultureller Hegemonie den Kern der modernen Sozialstruktur bilden, vor allem deshalb nicht, weil methodisch taugliche Klassifikationen hier Aggregate der Population abgrenzen, denen auf der intentionalen Seite der Mentalitäten und Orientierungen keinerlei Verbindung entspricht. Nichts anderes als die rein konzeptuell fundierte Behauptung der objektiven Reproduktion vertikal differenzierter Verhältnisse drückt die Bourdieusche Bestimmung des »Habitus« als einer »strukturierten und zugleich strukturierenden Struktur« aus. Diese Bestimmung ist weniger empirisch fundiert als theoretisch zirkulär, sofern die von Bourdieu behauptete allgemeine Korrespondenz zwischen Habitus und objektiver Feldstruktur zunächst eine begriffliche Definition darstellt und Bourdieus herrschaftssoziologisch voreingenommene Übertragung eines ur7 | Und diese Konstruktion der unabhängigen Variablen in der Habitus-»Hermeneutik« von M. Vester und anderen führt überdies dazu, dass man den Milieucharakter der »Klassen« mit dem Argument bestreiten kann, dass es sich aufgrund der an abgefragten Wertorientierungen entlanggezogenen Grenzen zwischen Gruppen bei diesen Grenzziehungen um reine Klassifikationen handelt, denen »Vergemeinschaftungs- und Vergesellschaftungselemente« fehlen (so: Rössel 2009: 119).
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spünglich ethnologisch motivierten Konzepts (siehe: de Certeau 1988) auf differenzierte Verhältnisse zwischen heterogenen Feldern die Folgen »funktionaler Differenzierung« herunterspielt (vgl. Renn 2006: 358ff.). Die Milieuanalyse kann und muss überhaupt nicht bestreiten, dass es in der Weltgesellschaft und besonders in besonderen Regionen signifikante und auch zunehmende, wenn nicht gar explodierende soziale Ungleichheit an Ressourcen und Chancen gibt. Allerdings gibt die allzu auffällige Tatsache, dass die weltweite Zunahme an sozialer Ungleichheit seit der »neoliberalen« Offensive in Gestalt einer atemberaubenden Umverteilung von »unten« nach »oben« (Streeck 2013: 84ff.) keinerlei adäquate Entsprechung auf der Ebene kollektiver Identitäten und Interessenartikulation gefunden hat, hier doch zu denken. Die kulturelle Pluralisierung, die Entkoppelung der Mentalitäten von relativen ökonomischen Lagerungen, die Differenzierung zwischen einerseits Marktinklusion und formaler politischer Teilhabe (Interessenvertretung) und andererseits Milieuintegration (alltagspragmatisch fundierte Zugehörigkeit zu hinreichend konkreten Identitätsvorlagen) lassen sich kultursoziologisch und gesellschaftstheoretisch gewiss in einen (losen) Zusammenhang mit den (globalen) Zuwächsen des objektiv möglichen und subjektiv adaptierten Konsumismus sowie – ganz andere »Kausalreihe« – mit der »Rückkehr« des Religiösen bringen. Sie lassen sich aber gewiss nicht durch eine überkompakte »KulturindustrieThese« als Ideologie auf die verschleiernde Legitimation vertikaler Differenzierung zurückrechnen. Eher darauf, dass sich Marktvergesellschaftung sowie formalisierte Administration und kulturelle Horizonte der Lebensführung (Weber) als Integrationsformen gegenseitig zunehmend ausdifferenziert haben. Deshalb unterschätzt die – im Übrigen sich selbst empirisch immunisierende – Übertragung des »Klassenbewusstseins« auf ein klassenspezifisches »Unbewusstes«, auf die von den Akteuren kraft der feldkonstitutiven »illusio« (Bourdieu 1987) gerade durch den »Spielsinn« blind reproduzierten Habitualisierungsform der Klasse – den Eigenwert der »funktionalen Differenzierung« und die Bedeutung dieses Eigenwerts für die Relevanz ökonomischer und auch »bloß« sozialer Klassen für die Ordnungen des Handelns. Es erscheint viel eher plausibel, dass z.B. Bourdieus Analysen der französischen Verhältnisse nicht »die« moderne Sozialstruktur einfangen, sondern dass sie eine regionale, historisch gewachsene (und in diesem Sinne »pfadabhängige«) Sonderkonstellation innerhalb der Weltgesellschaft übergeneralisieren. Die regional spezifische Einbettung funktionaler Differenzierung in Sonderverhältnisse der Rückübersetzung in konkrete Handlungssituationen kann unter Bedingungen historisch vererbter Hierarchisierungen zu auffälligen Kongruenzen zwischen den Mustern der vertikalen Differenzierung einerseits im Bereich der »Lagen«, andererseits im Bereich der »kulturellen« und GeschmacksOrientierungen führen. Gerade dann wäre es eine Verwechslung, Milieus als vertikal differenzierte Klassen zu betrachten, weil ihnen auch unter diesen
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(französischen) Sonderbedingungen die Unmittelbarkopplung zwischen ökonomischen Lagen, rechtlichem Status und mental-habitueller Gruppenintegration fehlt. Auch in Frankreich machen die Differenz zwischen ökonomischer und politischer Rationalität und die Differenz zwischen formaler Organisation und praktisch integriertem sozialem Milieu Unterschiede, die keine globale Rückführung des kompletten Differenzierungsmusters auf die kulturelle Dominanz einer »Oberklasse« gestatten. An dieser Stelle kann der Einwand gegen die Klassenoptik allerdings auch nicht so weit getrieben werden, dass nun, wie es A. Kieserling versucht hat, Bourdieus Kultursoziologie geradezu umgedreht und als eine Hilfswissenschaft der Systemtheorie adaptiert werden könnte (Kieserling 2008: 16ff.), indem die Theorie der Felder gegen den Strich Bourdieus als eine indirekte Bestätigung des Primats funktionaler Differenzierung in Gestalt der Strukturpriorität der autonomen Felder zu lesen sei (Kieserling 2008: 8ff.). Kieserling ist davon überzeugt, dass ab Eintritt in einen feldspezifizierten Kommunikationsraum funktional differenzierte Codes gegenüber schicht- oder klassenspezifischen Orientierungen der Personen die Führung übernehmen (vor allem weil er mit Luhmann davon ausgeht, dass intentionale Horizonte und also auch habituelles Wissen in der »Umwelt« von Organisationen verbleiben), auch und gerade, wenn es um Karrieren und Gratifikationszuteilungen geht, so dass Schichtungseffekte eben eine sekundäre und strukturirrelevante, weil »private« Begleitmusik funktional differenzierter Inklusionsbedingungen darstellten. »Oberschichten« treten dann angeblich nicht als intern integrierte Klassen in Erscheinung, sondern sie fungieren eher als Sachwalter von funktional autonomisierten Feldern bzw. von Systemrationalitäten (Kieserling 2008: 22f.). Diese systemtheoretische Perspektive dreht also das »Entkoppelungsargument«, das in der Milieuforschung die Bedeutung der »Lage« für den »Stil« relativiert, geradezu um, unterstreicht die Entkoppelung funktional getrennter Sphären von stratifizierten Gruppen sowie von kompakten habitualisierten Orientierungen der Individuen und erklärt Stildifferenzen zur Privatsache, weil die primäre Differenzierung der Gesellschaft nun einmal in der funktionalen Trennung codierter Kommunikation liegen soll, der gegenüber womöglich primär kulturell integrierte Milieus nur im Falle der Korrumpierung Einfluss auf die Strukturreproduktion oder ‑transformation der modernen Gesellschaft nehmen könnten.8 Aber auch diese Behauptung eines – nun gegenläufig formulierten – Primats funktionaler Differenzierung als Gegenthese zur Schichtungs- und Herr8 | Sinnveränderungen bei spezifizierender Anwendung standardisierter Codes sind aber nicht in jedem, sondern nur im Sonderfall »Korruptionen«, sie sind im Gegenteil eine notwendige Konsequenz der Interdependenzen zwischen durch Abstraktion entkoppelten Systemen und situierten Handlungssequenzen (Renn 2012).
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schaftssoziologie bleibt eine Primatsbehauptung und versteigt sich zu der ungedeckten Grundunterstellung, dass ein einzelnes Prinzip der Differenzierung hinreichend Aufschluss über die Struktur der Gesellschaft und damit über die makrotheoretische Bedeutung und »Lage« sozialer Milieus im »Raum« der Gesellschaft bzw. über einen entsprechenden Milieubegriff gibt.9 Die Systemtheorie kann wie keine zweite differenzierungstheoretische Option sichtbar machen, dass die klassentheoretische Perspektive auf die Gesamtgesellschaft dem komplexen Gefüge aus verselbständigten Institutionen, differenzierten Praktiken und pluralisierten Identitäten nicht hinreichend gerecht wird, weil die Klassenoptik eigenständig konstitutive Ordnungsebenen als abhängige Effekte auf die vermeintlich grundlegende vertikal differenzierte (Verteilungs‑) Ordnung reduziert (und dann an die Politik adressiert). Umgekehrt aber reduziert die Systemtheorie gesellschaftlich relevante Kommunikation auf die Form der Programme und der expliziten Reflexionstheorien von Funktionsbereichen (d.h. auf eine generalisierte Handlungstypik) bzw. von organisationalen Entscheidungstypiken, so als wäre im Unternehmen, in der Universität, vor Gericht und in der Partei (hier vorgestellt als »Realtypen« sozialer Arenen) ausschließlich eine kommunikative Selektionsordnung am Werk, die alle milieu- und personenspezifischen Sinnhorizonte aus der Anschlussvorsorge restlos heraus filtern würde. Dieser kybernetische Systemidealismus unterschätzt schon auf begrifflicher, d.h. auf »sozial-« und gesellschaftstheoretischer Ebene, dass gesellschaftliches Handeln in der Dimension der Spezifikation abstrakter systemischer Koordination auf Durchgänge durch das praktische Wissen und damit auf die spezifische Rolle milieueigener Sinnhorizonte angewiesen ist (Renn 2006: 443ff.). Die Gesellschaft ist spürbar funktional differenziert, wenn denn, wie in spezifischen Regionen besonders ausgeprägt,10 entkoppelte systemische Koor9 | Ein indirektes Indiz dafür, dass die Rolle von sozialen Milieus das Vertrauen in die These eines Primats funktionaler Differenzierung zu erschüttern vermag, besteht darin, dass die Systemtheorie aus Gründen der Theorie-Architektur mit dem Begriff des Milieus nichts anfangen kann (so wenig wie mit irgendeiner anderen Kategorie, die Personen-Verbände, Gruppen, Kollektive usw. bezeichnen könnte). 10 | Diese besondere Ausprägung besteht in der institutionellen, d.h. in der Form relativ autonomer, weil nach Eigenlogik laufender Organisation operationalisierten, Kristallisation der funktionalen Sphärentrennung, die sich – um nur Beispiele zu nennen – augenfällig materialisiert u.a. als »funktionierende«, d.h. hinreichend abgegrenzte und zuverlässige Staatlichkeit in der politischen Sphäre; als »relativ freie« Disponierbarkeit ökonomischer Entscheidungen; als Abkopplung personaler Karrieren von zugeschriebenen Merkmalen. Wo solche institutionalisierte Sphären-Autonomien regional gebündelt vorliegen, entsteht der Eindruck, dass funktionale Differenzierung als ein Sondermerkmal einer Reihe von – vorzüglich nordatlantischen – Ländern vorbehalten sei. Andere
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dinationsformen das Handeln und die Sinn-selektive Verkettung der Handlungen auch unabhängig von intentionalen Akteursperspektiven wirksam und folgenreich regulieren. Aber die Gesellschaft ist zudem geprägt von der Achse der kulturellen Differenzierung von Sinnhorizonten, die weder ein Epiphänomen vertikaler Lagedifferenzierung noch eine entkoppelte private Sphäre jenseits des funktionalen Kernbereichs der System-Koordination ist. Die Situation ist de facto komplexer, und so muss es die Differenzierungstheorie auch sein, was sich am Beispiel (das mehr als ein beliebiges Beispiel ist) der Milieuforschung veranschaulichen lässt. Wenn wie bei G. Schulze (1996, siehe oben) Milieus Stilgemeinschaften sind, die sich – relativ entkoppelt von materiellen Ressourcenverteilungen – in partikularen Erlebnispraktiken treffen, dann bedeutet diese Entkoppelung nicht die Freisetzung eines gesellschaftlichen Bereiches des Handelns aus dem Einflussbereich von ökonomischen Imperativen, politischen Entscheidungen und rechtlichen Regeln im Sinne der Einmauerung in ein privates, von externen Einflüssen bereinigtes Refugium. Anstelle einer nahtlosen Interdependenz-Unterbrechung bedeutet es, dass sich die soziale Integration einer eigenständigen Ressource der Übersetzung solcher hoch generalisierter Imperative, Entscheidungen und Regeln spürbar abgekoppelt hat von der Koordinationsform, die jene Imperative, Entscheidungen und Regeln als solche synthetisiert und reproduziert.11 Wenn Milieus also einen abgegrenzten Horizont realer Gruppen darstellen, zu deren Einheit die faktische Binnenkommunikation mit besonderem Akzent auf Stilpräferenzen gehört, so unterscheidet sich diese Kommunikation von einer systemisch codierten Anschlussordnung vor allem durch den Grad der Konkretheit, der symbolischen Dichte und zugleich Vagheit der verwendeten Sprache, damit auch durch das Gewicht, das dem impliziten, praktischen und habituellen Wissen zukommt. Die sozialstrukturanalytische Aufmerksamkeit für die Entkoppelung der Einstellungen von objektiven Lagen ist insofern gesellschaftstheoretisch betrachtet das soziologische Regionen der Weltgesellschaft sind diesem äußerlichen Eindruck einer nur partikular umgesetzten funktionalen Differenzierung zum Trotz, ungeachtet ungleich geringerer Institutionalisierungen der Trennung zwischen funktionalen Horizonten, jedoch ebenso deutlich, wenn auch anders, »beeinflusst« von der multiplen Differenzierung der Weltgesellschaft, sofern auch sie sich globaler Interdependenz nicht entziehen, sondern sie nur auf ihre eigene Weise in Spezialkonditionen übersetzen können. 11 | In einer normativen, bedeutungstheoretisch »optimistischen« Variante hat J. Habermas diese Ressourcenfunktion auf die Unterscheidung zwischen Sozial- und Systemintegration (Lockwood) bezogen und darauf bestanden, dass die systemische Koordination der Handlungsfolgen die normative Ressource kommunikativ reproduzierter Lebenswelt ausbeuten, nicht aber selbst sicherstellen und regulieren könne (Habermas 1981).
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Symptom nicht für einen wachsenden Hedonismus der Lebensführung in den oberen Etagen der avancierten postindustriellen »Nationen«, nicht der Belege für den wohlstandsinduzierten Aufstieg der Masseninteressen entlang der Maslow’schen Bedürfnispyramide, sondern für die Differenzierung von Differenzierungsformen. Klassentheorien, Theorien reflexiver Moderne, die »praxeologische« Theorie sozialer Felder und Theorien funktionaler Differenzierung, schließlich handlungstheoretische Unterscheidungen von Wertsphären (Schwinn 2001) stellen bezogen auf die multiple Differenzierung der Weltgesellschaft jeweils aspektbezogene Teiltheorien dar, sofern sie exklusiv auf die Prinzipien der Differenzierung einer ihrerseits ausdifferenzierten Koordinationsform und Integrationsweise unter anderen fokussieren. Eine solche ausdifferenzierte Form der Koordination des Handelns, die unter den Bedingungen multipler Differenzierung im Konzert ausdifferenzierter Differenzierungsformen sowohl von funktionaler, kultureller als auch regionaler Differenzierung eine besondere Rolle spielt, ist die Form des Milieus.
IV. M ilieu als F orm Weder Klassengesellschaft, noch funktional differenzierte Weltgesellschaft, noch »zweite« (weil »reflexive«) Moderne, noch Trennung von handlungsrelevanten Wertsphären stellen das »Wesen« der gegenwärtigen Gesellschaft (Adorno 2003) dar, weil diese kein Wesen hat, dass unabhängig von Relevanzen und Vokabularen der Beschreibung gegeben und wiederzugeben wäre. Die pluralen Vokabulare der Differenzierungstheorie haben allerdings, weit davon entfernt bloße »Beobachter-Konstruktionen« zu sein, einen referentiellen Bezug zu ihrem Gegenstand, der Gesellschaft. Sie können ihn nicht erschöpfen, aber Aspekte ans Licht bringen, so dass die Aufgabe der Differenzierungstheorie in der Ausdifferenzierung und Verknüpfung ihrer Vokabulare besteht. Denn das erlaubt es, die Differenzierung und das Zusammenspiel der Aspekte und Formen der Differenzierung, die in den genannten Teiltheorien hervorgehoben werden, zu analysieren. Ein Teil dieses Geschäftes betrifft den Milieubegriff. Der Begriff des sozialen Milieus und die Methode der Milieuforschung bedürfen im Zusammenhang mit dieser makrotheoretischen Herausforderung, die sich eben auch im makrotheoretisch motivierten Widerstreit der etablierten Milieubegriffe zeigt, ihrerseits der Abstraktion. Zwischen den alternativen Differenzierungsmodellen stehen ja nicht nur unterschiedliche Deutungen des »Wesens« der Gesellschaft, sondern alternative theoretische Festlegungen bezogen auf die Feinkörnigkeit der Grundbegriffe der Handlungstheorie. So ist ein Gutteil systemtheoretischer Differenzierungstheorie abhängig von der Auswechslung des Handlungsbegriffs durch den Begriff
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einer intentionstranszendenten Kommunikation (Luhmann 1985). Ausdifferenzierte Formen der Handlungskoordination sind im Lichte einer solchen, radikalen »Desubstantialisierung« des Handlungsbegriffs (vgl. Renn 2010b: 315ff.), nicht einfach Formen der Verknüpfung von substantiell selbständigen Entitäten, also auch nicht von »Handlungen«, die unabhängig von Deutungen wären, was sie sind (wie vermeintlich selbsterklärende »basic acts«). Und die Bedeutung einer konkreten »Handlung« ist auch nicht einfach umstandslos der intendierte Sinn, den eine handelnde Person (kraft »subjektiver Sinnkonstitution, vgl. Schütz 1974) mit dieser Handlung verbindet. Handlungskoordination umfasst auch und grundlegend die synthetische Arbeit der anschlussfähigen Individuierung und Typisierung eines Handlungsaktes im Horizont einer für diese Synthese erforderlichen Sprache. Soziale Differenzierung bedeutet deshalb (auch) Differenzierung von Sprachen, die sich in ihrer Handlungen formatierenden Kraft durch Grade der Explizitheit, der Abstraktion und der Generalisierung des (möglichen) Sinns unterscheiden, so dass einer sozialen Praxis, einer kulturellen Lebensform, aber eben auch einem sozialen Milieu, einer Organisation und einem systemisch koordinierten Kommunikationsraum jeweils andere Arten von Sprache zugeordnet werden müssen (vgl. ausführlich: Renn 2006: 362ff.). Den Begriff des sozialen Milieus zu abstrahieren kann deshalb heißen, die »Form« des Milieus als eine besondere Formatierung und Koordination des Handelns zu beschreiben. Milieus haben eine Form: die Gestalt einer performativ, durch einen gemeinsamen Habitus integrierten »Lebensform« (Wittgenstein 1984; vgl. Renn 2003 und 2012b). Eine solche sozio-kulturelle Lebensform wird durch ein kollektiv geteiltes implizites Wissen (Polanyi 1985) integriert, das selbst durch eine u.U. transitiv12 geteilte Praxis gebildet ist und weitere Praxis wiederum ermöglicht. Milieus haben in diesem Sinne eine differenzierungstheoretisch relevante Form, weil sie kraft dieser Form »Hand12 | Mit Bezug auf das Bohnsack’sche Argument, dass man mit K. Mannheim davon ausgehen könne, dass eine Mannigfaltigkeit von Personen auch ohne interaktive Verbindungen wegen strukturhomologer Sozialisations-Vorgeschichten einen gemeinsamen Habitus haben können (Bohnsack 2007, siehe oben), muss die Abhängigkeit der Integration einer »soziokulturellen Lebensform« präziser formuliert werden: Eine interaktive Verbindung zwischen zwei Personen muss nicht in jedem für die Genese eines wenigstens pragmatisch hinreichend ähnlichen impliziten Wissens relevanten Falle eine direkte Beziehung sein. Der transitive Charakter einer interaktiv fundierten Lebensform kann darin gesehen werden, dass eine Person a mit einer Person c einen geteilten Hintergrund praktischen Wissens auch dann bilden kann, wenn Person a und Person c niemals einander begegnet sind, dafür aber beide mit einer Person b hinreichend intensiv bzw. dauerhaft in interaktive Übersetzungsverhältnisse (Renn 2006: 260ff.) geraten sind.
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lungen« eine spezifische Form geben: die Form eines kulturspezifisch also partikular bestimmten, performativ synthetisierten Ereignisses, bei dessen Identifizierung und Anschluss sichernden Formatierung das milieuspezifische implizite Wissen die »Re-Indexikalisierung« typischen Sinns im Sinne der situationsinternen Anwendung einer situationstranszendierenden Regel (Wittgenstein 1984) bzw. einer Typik besorgt, die mehr (Luhmann 1985) oder weniger (Schütz 1974) generalisiert ist. Im Horizont einer performativen Kultur wird ein (in der Regel personal zuschreibbares) Ereignis zu einer sinnvollen (d.h. verständlichen, anschlussfähigen aber auch ablehnungsfähigen) Handlung aufgrund seiner Familienähnlichkeit mit anderen Ereignissen, die gemeinsam als Anwendung der gleichen unscharfen Regel gelten. Eine Handlung ist hier nicht schon »verstanden« und identifiziert vermittels einer subsumierenden Zuordnung des Ereignisses zu typischen bzw. zu Klassifikationen generalisierten Eigenschaften. Das ist dann schon eine andere Formgebung – nämlich die Einordnung in eine explizite Typik und in die mit dieser Typik verbundene explizite inferentielle Ordnung der Anschlussselektionen. Diese sinnbezogene Koordination des Handelns behandelt alle »tokens« eines »types« gleich und tilgt damit die Spezifika eines Ereignisses sowie diejenigen einer Situation und erlaubt dadurch die Subsumtion eines Handlungsereignisses z.B. unter syllogistische Kalküle.13 Eine solche abstrakt synthetisierende Handlungskoordination schafft Ordnung durch Etablierung rigider Selektionsfilter, so wie die juridische Subsumtion heterogener Akte unter Kategorien des Rechts durch Ausschluss externer Konnotationen jener Akte sie übersetzt (»verwandelt«) und in standardisierte Verfahren einspeist. Im Horizont eines Milieus ist der Sinn der Handlung demgegenüber nicht ausreichend standardisiert, um handlungsrelevant unter formal organisierte Regeln oder systemische Codes subsumiert zu werden. Aber dafür ist der Sinn hier konkret und verweisungsreich genug gehalten, um die hermeneutische Leistung der situationssensiblen Applikation generalisierten Sinns innerhalb des Radius eines praktischen Kollektivs zur Verfügung zu stellen. Es ist diese Leistung, die der Form des Milieus einen besonderen Platz in der komplexen Konstellation einer multipel differenzierten Gesellschaft gibt. Das wird deutlich, sobald man die Funktion habitualisierten Wissens nicht auf die Funktion der »Reproduktion objektiver Strukturen« (Bourdieu) einschränkt. 13 | Eine solche subsumtive (dann im Sinn gesteigerter Zweckrationalität ausbaufähige) Synthese des Handlungssinnes ist für technische Standardisierung, für rational ökonomisches Handeln und für Strategien im Raum des Rechts notwendig, aber sie bliebe ohne eine irgendwie zugängliche habituelle Basis blind für Anwendungsdiffizilitäten. Handlungstheorien rationaler Wahl setzen schon deshalb als vermeintlich basale Sozialtheorien genetisch gesehen zu spät an: bei der evolutionär späten Formgebung durch explizite Subsumtion.
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Die vom habitualisierten, impliziten Wissen (»wie« man sprachliche Formen in besonderen Situationen »angemessen« gebraucht) getragene performative Synthese des Handlungssinnes zeichnet die Reproduktionsform eines Milieus vor allem gegenüber abstrakteren Sprachspielen aus. Eine konkrete Handlung wird hier nicht durch Subsumtion unter kategoriale oder typisierende Generalisierungen bestimmt, sondern die Handlung wird für Angehörige desselben Milieus aufgrund der von ihnen hinreichend ähnlich aufgefassten implizit gewissen »Gebrauchsbedeutung« (Wittgenstein 1984) von Handlungszeichen anschlussfähig. Auf eben diese Funktion habitualisierter Deutungs- und Wahrnehmungsschemata macht natürlich Bourdieus Theorie der praktischen Logik aufmerksam (Bourdieu 1987; vgl. Renn 2006: 304ff.). Allerdings lässt nicht nur der von Bourdieu bemühte Begriff der »Disposition« einige Fragen offen (etwa zur Beziehung zwischen dispositionaler Notwendigkeit und Handlungsfreiheit; vgl. Ryle 1949 und Renn 2006: 312ff.), sondern die »praxeologische« Verflachung der Gesellschaftstheorie (vgl. Schmidt 2012) verführt zur Verkennung der möglichen gesellschaftlichen Rolle milieuspezifisch habitualisierter Handlungsregulation. Die klassentheoretische Zuspitzung der Analyse von Habitus und Feld ist hier viel zu einseitig (siehe: weiter oben), denn bezogen auf die Koordinationsform des Milieus vergibt die kurzsichtige Einbettung des Habitus in die (vertikal differenzierte) Sozialstruktur die Möglichkeit, die »übersetzende« Spezifikationsfunktion sozialer Milieus zwischen formalen Vergesellschaftungsinstanzen und konkreteren Praktiken zu sehen. Funktional differenzierte Systeme erfüllen (siehe: die Eingangsbemerkung weiter oben) ihre Koordinationsfunktion nur dann vollständig (im Sinne des »outputs«), sobald ihre hoch standardisierten und kontextunspezifischen Imperative bzw. Programme durch die Filter milieuspezifischer Übersetzungen in die Konkretion des Handelns überführt werden können. Das Recht muss zur Anwendung kommen, die bezahlte Arbeit muss »angemessen« und konkret geleistet werden. Die theoretische Abstraktion des Milieubegriffs hat also eine handlungstheoretische und eine differenzierungstheoretische Seite: einmal die Orientierung an einem de-substantialisierten Konzept der sozialen Handlung: Handlungen sind kontextspezifisch sinnvolle Ereignisse, der Sinn einer Handlung liegt nicht in ihr selbst, und nicht (exklusiv bzw. letztinstanzlich) in der Intention des Handelnden, sondern er hängt ab vom selektiven Horizont einer Koordinationsform, im Falle des Milieus vom Horizont einer implizit regulierten Sprachpraxis. Das differenzierungstheoretische Motiv lautet, dass solche Kontexte gegeneinander ausdifferenziert aber gleichwohl interdependent sind, so dass Handlungen polyseme Sinneinheiten sind. Die Form des Milieus hängt wegen dieser Polysemie der Einzelhandlung, weil sich in ihr Interdependenzen zwischen Koordinationsformen manifestieren, von der Konstellation einer multipel differenzierten Gesellschaft ab. Allein deshalb muss das soziale
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Milieu als Form in unterschiedlichen typischen Formen des Milieus zur Ausprägung kommen.
V. F ormen der F orm des M ilieus Die Form des Milieus im Rahmen einer Theorie multipler Differenzierung zu beschreiben, setzt eine Abstraktion des Milieubegriffs voraus, die begriffliche Brücken zu anderen Formen der Koordination des Handelns bauen hilft. Diese Abstraktion betrifft nicht allein den Grundbegriff der Handlung und das gesellschaftstheoretische Instrument der Unterscheidung von Koordinationsformen, die durch Handlungsformatierung jeweils unterschiedliche Selektionsordnungen auf bauen. Die Abstraktion defusioniert zudem den Milieubegriff und den Begriff der sozialen Gruppe, soweit unter einer »realen« Gruppe eine durch soziale Beziehungen verknüpfte Menge wirklicher Menschen verstanden werden soll. Als eine spezifische Form ist ein soziales Milieu nicht die Summe der Einzelmenschen, die ein Milieu »bilden«, sondern es ist ein Drittes neben den intentionalen Horizonten der »Subjekte«, die sich selbst und andere unter Rückgriff auf ihr implizites Wissen »von« einem Milieu als kompakte und selbstidentische Personen und als »Zugehörige« typisieren und vergleichbar typisiert werden. Für das theoretische Vokabular bedeutet diese Abstraktion, dass man zwischen den subjektiven Horizonten der Personen und der praktischen Lebensform noch einmal deutlich unterscheiden muss. Das Milieu ist nicht die Summe der Vorstellungen, die Personen von einem Milieu haben (Berger, Luckmann 1974), es ist ebenso wenig der gemeinsame »intersubjektive« (im Sinne von: Habermas 1981, II: 182ff.) Habitus, der bei »ego« und »alter« identisch ausfällt (was im Übrigen Bourdieu ganz »durkheimianisch« seinerseits suggeriert). Das Milieu ist die verknüpfte Gesamtheit der Praktiken und Routinen, die sich selbst in Reaktion auf Ereignisse des Ineinandergreifens der implizit gewissen Erwartungen der Angehörigen reproduziert (und transformiert). Das klingt als wäre das Milieu ein Quasi-Akteur, und so ist es auch, jedenfalls in dem Sinne, dass man die Integration und die praktische Abgrenzung sowie die Reproduktion eines Milieus nicht – methodisch individualistisch – reduzieren kann auf die intentionalen (und seien es impliziten) Strategien der jeweils einzelnen Milieu-Angehörigen. Denn auch wenn die Milieuform eine kollektiv verbindende und verbindliche Ressource zur Abarbeitung »doppelter Kontingenz« sein muss, so bleiben »Subjekte« doch prinzipiell nur selektiv, und nur durch die Übersetzung praktischer Routinen in subjektive Intentionen (auch das ist »Habitualisierung«) hindurch »in« Milieus inkludiert. Kein Mensch kennt sein eigenes Milieu ganz, und keinem Milieu (wohl gemerkt: nicht »kei-
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nem Angehörigen«) sind alle Angehörigen restlos transparent (siehe dazu ausführlich: Renn 2006: 432ff.).14 Gerade wenn man diese (verhältnismäßig kontraintuitive) Differenz zwischen Milieu und Person begrifflich als eine prinzipielle Spaltung zwischen intentionalen Horizonten und praktischen »Integrationseinheiten« (dazu: Renn 2006: 397ff.) einführt, bereitet ein bekanntes Problem der etablierten Milieubegriffe der Milieuforschung keine größere Überraschung mehr: das Problem der »Mehrfachzugehörigkeit«. Die rezenten Auflösungserscheinungen tradierter Kompaktbindungen an Milieus (Hitzler e.a. 2008; Rössel 2009: 258ff.) können als die empirische Offenlegung einer de facto stets wirksamen Grunddifferenz zwischen Milieu und Person gelten. In der klassischen Sozialstruktur-Analyse bereitet die Prämisse, dass die Grundgesamtheit aller Individuen eindeutig auf abgegrenzte Schichten oder Milieus verteilt werden soll, unnötige Problem, sobald Bewegung in die Sache kommt. Was nämlich hat es für Konsequenzen, wenn Personen mehreren Milieus zugleich zugehören und manchen nur für die Dauer begrenzter biographischer Episoden? Was bedeutet es, wenn Milieugrenzen die Einheit von Familien und die Sequenzlinien von Biographien schneiden (vgl. Rössel 2009: 258ff. und Hepp 2008)? Es bedeutet (abgesehen davon, dass der Ausdruck »Milieu« als reiner Klassifikationsbegriff wenig austrägt), dass die typischen Varianten der Form des Milieus in Abhängigkeit vom Differenzierungsmuster der Gesellschaft sich durch die Intensität, die Dauer und den Grad der Exklusivität der Inklusion von Personen voneinander unterscheiden. Nicht nur »andere« Milieus relativieren durch ihre mögliche Attraktivität die Bindung einer Person an »ihr« Milieu, sondern vor allem das von der Ausdifferenzierung alternativer Koordinationsformen, Organisationen und Systemen abhängige pluralisierte »Inklusionsprofil« der Einzelperson. Wenn sich durch die Auslagerung von Ausbildung, Religionsausübung und Berufsarbeit (sowie Militärdienst), schließlich von Jugendphasen, Szenezugehörigkeiten und Kurz14 | Und diese nur partiale Zugänglichkeit entspricht nicht dem Verhältnis einer Teilmenge zur Gesamtmenge, so als würde sich ein Milieu als Ganzes in Einzelteilen auf die Zugehörigen verteilen, sondern die Partikularinklusion und die Partikulartransparenz der Person besteht in der Konstitution von »Translaten« des Milieus »in der« Person und in »Translaten« der Person »in einem« Milieu. Es handelt sich bei diesen Translaten nicht um Teilmengen des Übersetzten, sondern um formverwandelte Versionen des Bezugsgegenstandes, die ihre Form und ihren spezifischen Sinn durch den Horizont, in den hinein übersetzt wird (in den intentionalen Horizont des Bewusstseins oder eben in den praktischen Horizont des Milieus), erhalten. Das ist vielleicht nicht leicht plausibel zu machen, bei anderer begrifflicher Strategie verstrickte sich die Differenzierungstheorie jedoch in alt bekannte Aporien einer methodisch individualistischen Gesellschaftstheorie.
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zeit-Partnerschaften aus der Dichte nur einer Lebensform Inklusionsprofile der Personen synchron und diachron differenzieren, dann lockern sich Formen der Zugehörigkeit. Es verblassen gegenüber lebenslangen Bindungsregimen die Sanktionsdrohungen und die Loyalitätsgewissheiten, die kognitive und weltanschauliche Autorität15 sowie die lebensweltliche Gesamtzuständigkeit der sozialen Milieus, wenn Personen der Tendenz nach die Zugehörigkeit jederzeit oder auch nur wiederholt quittieren können, weil sie andere Alternativen haben. Solche Alternativen können durch Formalisierung von Rollen anonymen Charakter annehmen. In solchen Rollen und entsprechend abstrakt gebauten Personenformaten als Zeichen und Folgen abstrakter Vergesellschaftung kristallisiert sich die Distanz der Person als Subjekt zum Milieu gesellschaftlich und institutionalisiert aus. Milieus sind deshalb entzifferbar als Prismen der multiplen Differenzierung moderner Gesellschaft, sofern ihr jeweils spezifischer Zugriff auf Personen durch die pluralisierte Inklusion des »Subjekts« in heterogene soziale Kontexte beeinflusst wird und dieser Einfluss Spuren in der Milieustruktur hinterlässt. Die Form des Milieus nimmt typische Formen an in Abhängigkeit vom Differenzierungsmuster der Gesellschaft. Das zeigt sich auf verdichtete Weise an den Personen, auf basaler Ebene aber bereits mit Bezug auf milieuspezifische Handlungsformierung. Praktisch integrierte und reproduzierte sozio-kulturelle Lebensformen werden im Zuge sozialer Differenzierung, d.h. auf dem Wege der kulturellen Differenzierung und der Ausbildung abstrahierter Handlungskoordination, bereits auf der Ebene alltäglicher Lebensführung in einen Kontext alternativer Handlungssynthesen eingebettet. Wenn daraufhin der Sinn einzelner Handlungen überdeterminiert ist, weil jetzt heterogene Formatierungen und Koordinationen der sozialen Handlung koexistieren und weil der konkreten Einzelhandlung simultan heterogene Sinnhorizonte zugeordnet werden, dann erhalten praktische Lebensformen Formgebungskonkurrenz, d.h. ihr Monopol auf Sinnsynthese (wie auf Personeninklusion) ist gebrochen, so dass sie sich selbst und anderen als partikulare performative Kulturen auffällig werden. Sofern mit dieser Partikularisierung und mit dieser Inklusionskonkurrenz nur manifest wird, dass Personen keine »Bestandteile« von praktisch integrierten Lebensformen sind, können wir den Typus einer praktischen Lebensform, die zur Reflexion ihrer Partikularität und der Differenz zwischen Lebensform und Person gedrängt wird, ein soziales Milieu nennen. Ein Milieu ist also eine kollektive kulturelle Lebensform, die angesichts anderer kollektiver Lebens15 | Was den klassischen wissenssoziologischen Fall der Enttraditionalisierung durch Mobilitätserfahrungen betrifft, den Karl Mannheim am Beispiel des Burschen vom Lande erläutert hat, dem die Augen in der Stadt aufgehen und der erst dadurch erfährt, dass seine primäre Lebenswelt eine kontingente Weltanschauung bedeutet (Mannheim 1929).
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formen und im Kontrast zu abstrakten Formen der Handlungskoordination wie formaler Organisation, Marktvergesellschaftung und bürokratischer Administration performativ an Grenzen ihrer Zuständigkeit geführt wird und sich deshalb symbolisch als ein bestimmtes Milieu repräsentieren oder auch symbolisch explizieren kann (Luhmann 1999).16 Milieu soll also heißen: Eine Lebensform als eine praktisch fundierte und praktisch fungierende Form der Lebensführung und Handlungskoordination, die in einem hinreichend komplexen gesellschaftlichen Kontext die eigene Differenz zu anderen sozialen Handlungshorizonten dieses Kontextes symbolisch »wiedereinführt« bzw. implizit oder explizit in Selbstabgrenzungen übersetzt, also schismogenetisch (Bateson) oder reflexiv ihre Grenzen symbolisiert, sich beschreibt als ein historisches Kollektiv, als ein »Wir-Bewusstsein«, als Gemeinschaft gleich welcher Art im Unterschied zu sozialen Alternativen der Vergesellschaftung. Zu diesen Alternativen gehören andere Milieus, aber auch soziale Formen der expliziten Subsumtion von Handlungen wie von Personen unter standardisierte, generalisierte Typiken, also formale Organisation im Allgemeinen, das Recht, der Markt und in gewisser Hinsicht das in seiner Koordinationsform ambivalente Bildungssystem. Die Form des Milieus als Form der Formgebung variiert mit ihrem jeweiligen Verhältnis zu alternativen Formen der Formgebung. Sie variiert mit gesellschaftlichen Differenzierungslagen: die Art der Grenzen, die Milieus von anderen Milieus und von anderen Formen der Handlungsformung trennen; die Form, in der durch Handlungen »Akteure« formatiert und in Milieus inkludiert werden; schließlich die Stabilität und der Grad der exklusiven Zuständigkeit für gesellschaftliche Problemlösungen und deswegen die Intensität des Zugriffs eines Milieus auf die individuelle Lebensführung der einzelnen Person – alle diese Spezialcharakteristika der milieueigenen Anordnung sozialer Beziehungen variieren in ihren konkreten Ausgestaltungen mit den Differenzierungsmustern von Makrokonstellationen, die Milieuumgebungen bilden. In der »klassischen« Phase der (»ersten«) Moderne konnte die nationalstaatliche Klammer um heterogene Formen der Koordination noch den Eindruck einer natürlichen Kongruenz von ökonomisch und politisch und kulturell induzierten Trennungslinien entlang einer vertikalen, vor allem klassenbildenden Differenzierung erwecken.17 Hier erscheinen Milieus in der von R. M. Lepsius 16 | Die religiöse Gemeinschaft versteht sich im Horizont säkularisierter Sozialsysteme und anderer Konfessionen nicht mehr implizit und performativ als »civitas dei«, sondern als lokale Gemeinde, der man beitreten kann oder eben auch nicht. 17 | Wenn Wirtschaft und Politik als national begrenzte Koordinationsarenen gelten, und ihre Autonomisierung im Sinne funktionaler Differenzierung noch durch traditionelle, teils ständische Elemente blockiert ist, legen sich ökonomische und politisch-rechtliche Differenzeffekte (ungleich verteilte subjektive Reche, Repräsentationsansprüche
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beschriebenen Form als großformatige »sozio-moralische« Milieus (Lepsius 1973). Die fortgeschrittene multiple, d.h. funktionale und kulturelle und regionale Differenzierung hat diese Kongruenz (bzw. die Hartnäckigkeit des entsprechenden Anscheins) aufgelöst. Darauf können Milieus unterschiedlich reagieren und diese Unterschiede konstituieren Typen und Sonderformen von Milieus. Eine Möglichkeit der Selbstumbildung tradierter Milieus besteht in der kontrafaktischen Insistenz auf der eigenen Substantialität und Exklusivzuständigkeit für Personen, z.T. für das, was im Lichte des Milieuhorizontes als »die« Gesellschaft gilt (die religiöse, die »rassische«, die ethnische, die »völkische« »Gemeinschaft«). Eine konträre Möglichkeit ist die Steigerung der Reflexivität, d.h. der entgegenkommende Einbau von Möglichkeiten, optionalisierte und fragmentierte Bindungen der Zugehörigen zu tolerieren, Personen gegenüber Angebote statt Verbote einzubauen. Der erste Reaktionstyp bedeutet eine halluzinatorische Verwechslung des Auftrags zur Übersetzung zwischen Milieu und externen Kontexten mit der Errichtung einer Exklusivzuständigkeit für die Gesamt-Koordination des Handelns und der interpersonalen Beziehungen, und diese Verwechslung motiviert den Typus einer »desperaten Vergemeinschaftung«. Desperat ist an dieser Art von Milieu das vorhersagbare Scheitern der Durchsetzung substantialistischer Ansprüche, das sich jeweils verschieden, nicht selten in unterschiedlichen Formen der Gewalt, auswirken kann. Dem zweiten Typus entsprechen demgegenüber »reflexive Milieus«, die den Übersetzungscharakter der Beziehung des Milieus zu Personen und zu mannigfaltigen weiteren Kontexten der Gesellschaft in die eigene Reproduktion und in das Format der Inklusion von Personen »einbauen«. Weitere Verzweigungen von Milieus ergeben sich aus den spezifischen Konstellationen, in die eine praktische Lebensform verstrickt ist. Eine im Vergleich größere Interdependenzdichte im Verhältnis zum wirtschaftlichen System nähert ein soziales Milieu an den Typ des »professionellen Milieus« an, größere Nähe zur Kunst (die mehr als ein Markt ist) führt in die Richtung spartenspezifischer »Szenen«. Aber eine solche Liste möglicher Ausprägungen von besonderen Formen der Form des Milieus ist Aufgabe der empirischen Forschung, die sowohl spezielle Milieus als auch regionale Konstellationen zwischen ausdifferenzierten Formen der Differenzierung zu untersuchen hat. In jedem Falle aber wirken relevante Komplexitätszunahmen der strukturellen Milieuumgebung durch multiple Differenzierung auf die Form des Milieus ein, deren Variation dann ihrerseits ein Faktor multipler Differenzierung wird, weil komplexe Milieus die gesellschaftliche Umgebung anderer Kontexte und Ressourcen) kongruent über die Schnittmuster der Grenzen zwischen Milieus. Sie erscheinen dann als Klassen, wenn auch der grobe Dualismus des Klassenantagonismus wie bei Lepsius historisch konkret relativiert werden muss.
9. Zur Form des Milieus
der Koordination verkomplizieren. Rekursive Beziehungen dieser Art verschaffen der multiplen Differenzierung ein Momentum, das einer Steigerungsdynamik zuarbeitet. Die theoretische Bestimmung der Form des Milieus muss deswegen zwischen einerseits begriffskonstitutiven Bestimmungen der (Einheit der Differenz zwischen) Formen und andererseits historisch spezifischen Varianten sozialer Milieus sowie ihrer Formausprägung unterscheiden können. Unabhängig von der Aufgabe einer Typologie »neuer« oder auch »alter« Formen des Milieus erinnert diese Beziehung zwischen der Typengenese und der (multiplen) Differenzierungsform schließlich daran, dass Milieus besondere Beziehungen zu Kontexten oder Einheiten abstrakter Koordination, zu formaler Organisation und Systemen haben bzw. in Reaktion auf diese ausbilden. Weil die Form des sozialen Milieus jene Form der Handlungskoordination gewährleistet, die auf geteiltem implizitem, d.h. praktischem Wissen beruht, können sich soziale Milieus zugleich parasitär und subsidiär zu formalisierten Koordinationsweisen und ihren Trägereinheiten (z.B. Organisationen) verhalten. Soziale Milieus haben eine unverzichtbare Funktion innerhalb der Konstellation, die eben auch von formalen Organisationen und Funktionssystemen (die z.B. über abstrakt generalisierte Kommunikationsmedien Handlungen koordinieren) gebildet wird. Diese Funktion besteht in der Übersetzung generalisierter Handlungsformatierung und -normierung in vergleichsweise konkrete, nicht-standardisierte und nicht standardisierbare Situationen. Man könnte sagen, eine Funktion der Form des Milieus (neben »Identität«) in der multipel differenzierten Gesellschaft ist die »Respezifikation« situations-entkoppelter Koordinationen (Renn 2006: 443f.). Systemische Codes und standardisierte Handlungsformate als »Währung« organisationaler Entscheidungen und Problemlösungen sind um der Stabilität von System und Organisation willen vergleichsweise blind und taub für Situations- und Personenspezifika. Mit Bezug auf das Problem z.B. der Elitenbildung als einem Standardargument für die Persistenz vertikaler Differenzierung kommt das Milieu beispielsweise im Moment der spezifischen Rekrutierung des Personals durch Organisationen ins Spiel. Die systemisch und organisational bestimmten Leistungs- und Personenprofile sind strukturnotwendig formal und gegenüber individuellen Biographien stumpf. Hier können informelle interpersonale Bindungen, schwache oder starke Kontakte, Netzwerke oder Seilschaften unterschiedlicher Art spezifizierende Übersetzungsleistungen tragen und zugleich »strategisch« kanalisieren. In diesem Sinne ist die milieubasierte Applikation funktional stabilisierter Kriterien bei der Personalauswahl zugleich subsidiär und parasitär. Das Milieu wirkt subsidiär, weil und insofern die praktische Effektivität funktional abstrakter Handlungskoordination auf die übersetzende Applikation durch milieuspezifisches implizites Wissen, wie denn »genau« einer Regel zu folgen ist, angewiesen ist, die Respezifikation also delegieren muss.
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Das Milieu agiert jedoch auch parasitär, weil der Spielraum konkreter Milieus, die Möglichkeit einräumt, dass tradierte Hierarchien, also vertikale Ungleichverteilungen von Chancen zwischen Milieus sich in den Spezifikationslücken funktional abstrahierter Handlungskoordination erhalten lassen, so dass privilegierte Milieus ihr Privileg durch Einnistung in den Lücken der Spezifikation sichern.18 An diesem Punkt zeigt sich eindeutig, dass der abstrahierte Begriff des sozialen Milieus eine Scharnierfunktion für eine Theorie multipler Differenzierung haben kann, denn gerade parasitäre Beziehungen von Milieus zu formal oder systemisch integrierten Kontexten sind ein Beispiel für die regional jeweils spezifische Verschränkung zwischen funktionaler und kultureller Differenzierung, und das heißt auch: für die ebenso regional variierende Verschränkung zwischen funktionaler Differenzierung und der vertikalen Strukturdimension sozialer Ungleichheit bzw. tradierter Schichtungseffekte (vgl. auch: Stichweh 2004). Funktionale Differenzierung hebt soziale Ungleichheit nicht auf, sondern gibt ihr als ein Faktor multipler Differenzierung eine andere Gestalt sowie hierarchisierte Schichtung und ungleiche Ressourcen- und Chancenverteilungen, die funktionale Differenzierung nicht neutralisieren, sondern sie um regional jeweils spezifische milieuvermittelte Konkretisierungen ergänzen.
VI. E mpirische Z ugänge zu performativen K ulturen Die Brückenfunktion einer Theorie performativer Kulturen und einer dann noch einmal differenzierungstheoretisch verkomplizierten Theorie »sozialer Milieus« zwischen Gesellschaftstheorie und Sozialstrukturanalyse fordert – das zeigen die vorstehenden Überlegungen – den Preis starker Abstraktion und verhältnismäßig unübersichtlicher Begriffsarbeit. Aber um vieles ungleich unübersichtlicher als diese analytische Mühe ist die multipel differenzierte Gesellschaft selbst. Das wird man zugestehen. Die Soziologie kann nicht anders, als ihr Auflösevermögen zu erhöhen und zugleich ihre Abbildungs-Ansprüche zu vermindern. Zwischen der Soziologie und möglichen gesellschaftlichen Zielkontexten ihrer kommunikativen Angebote muss übersetzt werden, und 18 | Elitennetzwerke kapern gehobene Positionen, indem sie in den Zonen funktional und formal ungeregelter Ressourcenallokationen der vertikal strukturierten kulturellen Differenzierung Wirkung verschaffen. Wo z.B. das Recht und der Markt nur formal abstrakte Egalität zur Pflicht machen, können sich durch die impliziten Routinen der konkretisierenden Regelapplikation hindurch Schichtungseffekte, die habituell durch Stildifferenzen markiert werden, durchsetzen. Das gilt für die soziale Vererbung im Bildungssystem, wie für Gendereffekte in der Rekrutierung von Organisationseliten.
9. Zur Form des Milieus
dabei ist davon auszugehen, dass mit eiserner struktureller Notwendigkeit »dort« immer etwas anders herauskommt als »hier« hinein gelegt wurde. Die Abstände zwischen alltagsweltlichen Perspektiven und soziologischem Vokabular werden dadurch nicht geringer. Dafür aber verringert der verstärkte theoretische Aufwand – wenn er denn die Bodennähe pragmatisch-praxeologischer Rekonstruktionen situierter Vollzüge in die Gesellschaftstheorie integriert (statt Letztere durch Ersteres zu ersetzen) – ironischerweise den Abstand zwischen Theoriebildung und empirischer Forschung. Wenn soziale Milieus – auf der Grundlage eines zugleich sinnrekonstruktiv und differenzierungstheoretisch gebauten Begriffs – als »Prismen« der multiplen Differenzierung der Gesellschaft gezählt werden dürfen (was weiter oben behauptet wurde), dann bedeutet diese in der Sache begründete Interdependenz zwischen Milieu und gesellschaftlicher Umgebung, dass auch die qualitative, hermeneutisch rekonstruktive Forschung einen – zwar indirekten, aber doch »im Material« selbst angelegten – Zugang zur Analyse der Gesellschaft freilegen kann. So wenig »Umgebungen« von sozialen Milieus in diese bzw. in die ihnen angehörenden Interaktionen und »Praxen« direkt hinein regieren, so notwendig lassen sich jedoch Spuren des auferlegten Zwanges zur Übersetzung dieser Umgebung in das Milieu hinein, in diesen Interaktionen und »Praxen« auffinden. Die Wirkung der multipel differenzierten Gesellschaft auf die und in den Milieus liegt dort in Form von »Translaten« (Renn 2006: 445ff.) vor. Diese müssen allerdings als solche mit einigem methodischen Aufwand (»Tiefenhermeneutik«) erschlossen werden, da sie in der manifesten Gestalt im Horizont einer performativen Kultur nicht sofort als solche erkennbar sind. Nichtsdestotrotz ist es möglich, der Übersetzung gesellschaftlicher Differenzierungslagen in die inneren Horizonte performativer Kulturen auf die Spur zu kommen. Und das ist ebenfalls eine Übersetzung. Im Rahmen der Soziologie immerhin: eine Übersetzung zwischen materialer empirischer Fallrekonstruktion und Analyse der Gesellschaft.
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Ullrich Bauer, Uwe H. Bittlingmayer, Carsten Keller, Franz Schultheis (Hg.) Bourdieu und die Frankfurter Schule Kritische Gesellschaftstheorie im Zeitalter des Neoliberalismus Mai 2014, 368 Seiten, kart., 19,99 €, ISBN 978-3-8376-1717-7
Silke Helfrich, Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.) Commons Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat (2. Auflage) Mai 2014, 528 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2835-7
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4) ANZ2469.p 373057056062
Sozialtheorie Franka Schäfer, Anna Daniel, Frank Hillebrandt (Hg.) Methoden einer Soziologie der Praxis Oktober 2014, ca. 360 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2716-9
Hilmar Schäfer (Hg.) Praxistheorie Ein soziologisches Forschungsprogramm Januar 2015, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2404-5
Rudolf Stichweh Inklusion und Exklusion Studien zur Gesellschaftstheorie (2., erweiterte Auflage) Dezember 2014, ca. 250 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-2294-2
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Sozialtheorie Brigitte Bargetz Ambivalenzen des Alltags Neuorientierungen für eine Theorie des Politischen
Zoltán Hidas Im Bann der Identität Zur Soziologie unseres Selbstverständnisses
Dezember 2014, ca. 340 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2539-4
November 2014, ca. 180 Seiten, kart., ca. 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2727-5
Philip Bedall Climate Justice vs. Klimaneoliberalismus? Klimadiskurse im Spannungsfeld von Hegemonie und Gegen-Hegemonie
Karin Kaudelka, Gregor Isenbort (Hg.) Altern ist Zukunft! Leben und Arbeiten in einer alternden Gesellschaft
August 2014, 460 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2806-7
Pradeep Chakkarath, Doris Weidemann (Hg.) Kulturpsychologische Gegenwartsdiagnosen Bestandsaufnahmen zu Wissenschaft und Gesellschaft Dezember 2014, ca. 226 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1500-5
Hanna Katharina Göbel, Sophia Prinz (Hg.) Die Sinnlichkeit des Sozialen Wahrnehmung und materielle Kultur März 2015, ca. 340 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2556-1
Hermann-Josef Große Kracht (Hg.) Der moderne Glaube an die Menschenwürde Philosophie, Soziologie und Theologie im Gespräch mit Hans Joas Juli 2014, 270 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2519-6
Oktober 2014, ca. 168 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-2752-7
Stephan Lorenz Mehr oder weniger? Zur Soziologie ökologischer Wachstumskritik und nachhaltiger Entwicklung Juni 2014, 144 Seiten, kart., 19,99 €, ISBN 978-3-8376-2776-3
Sophia Prinz Die Praxis des Sehens Über das Zusammenspiel von Körpern, Artefakten und visueller Ordnung August 2014, 394 Seiten, kart., 33,99 €, ISBN 978-3-8376-2326-0
Peter Streckeisen Soziologische Kapitaltheorie Marx, Bourdieu und der ökonomische Imperialismus Mai 2014, 328 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2624-7
Florian Süssenguth (Hg.) Die Gesellschaft der Daten Über die digitale Transformation der sozialen Ordnung Mai 2015, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2764-0
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