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German Pages 258 [260] Year 2015
Ralf Junkerjürgen, Isabella von Treskow (Hg.) Amok und Schulmassaker
Edition Kulturwissenschaft | Band 47
Ralf Junkerjürgen, Isabella von Treskow (Hg.)
Amok und Schulmassaker Kultur- und medienwissenschaftliche Annäherungen
Gefördert durch: Themenverbund Gewalt und Aggression in Natur und Kultur der Universität Regensburg
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Inhalt
Einleitung | 9
MEDIZINISCHE, KRIMINOLOGISCHE UND SICHERHEITSPOLITISCHE PERSPEKTIVEN Amok. Geschichte und Ergebnisse aus psychiatrischer Perspektive
Lothar Adler | 17 Anmerkungen zum Schulmassaker aus kriminologischer Sicht
Henning Ernst Müller | 51 Amokalarm an der Schule – die große Herausforderung für die Polizei
Wilhelm Schmidbauer, Andreas Neumair | 69 Führen und Leiten als Auftrag. Polizeiliches Einsatzhandeln zur Vermeidung und Abwehr von Aggression und Gewalt
Bernd Körber | 83
LITERATUR - UND MEDIENWISSENSCHAFTLICHE ANALYSEN Der Fall „Breivik“ in den Massenmedien. Gesellschaftliche Verarbeitungspraktiken von Phänomenen entgrenzter Gewalt
Daniel Ziegler | 101 Der „Amok-Opa“. Populärkulturelle Deutungsmuster in der Darstellung von Gewalttaten
Brigitte Frizzoni | 121
Form und Ethik in spielfilmischen Inszenierungen von School Shootings. Reflexionen zu Elephant (2003), Polytechnique (2009) und We Need to Talk About Kevin (2011)
Ralf Junkerjürgen | 141 Amok spielen. Super Columbine Massacre RPG!
Sven Schmalfuß | 167 We Need to Talk About School Shootings. Funktionen von School Shooting-Literatur am Beispiel von L. Shrivers We Need to Talk About Kevin
Silke Braselmann | 189 First-Person-Shooter. Täterprofilierung in Amok-Darstellungen von E. Carrère, M. Rhue, N. Niemann und C. Meyer (2000-2010)
Isabella von Treskow | 211 Autorinnen und Autoren | 253
Einleitung R ALF J UNKERJÜRGEN , I SABELLA VON T RESKOW
Es widerstrebt uns, massive Gewaltanwendung als Form von Kommunikation anzusehen, da Kommunikation im Allgemeinen als konstruktiv und konsensorientiert aufgefasst wird. Gewalt hingegen, im Besonderen exzessive Gewalt, wirkt jedoch destruktiv und setzt einen gravierenden Dissens voraus. Dennoch ist auch massive Gewalt ein – wenngleich schockierender und entsetzlicher – Akt der Kommunikation, der weitere Kommunikationen auslöst, die sich in Teilsysteme ausdifferenzieren und politischer, journalistischer, juristischer, medizinischer, wissenschaftlicher oder künstlerischer Natur sein können. Die konkrete zerstörerische Gewalt dient folglich paradoxerweise dazu, eine Verbindung zwischen Menschen herzustellen, die sie gleichzeitig zerstört, und sie ist zusätzlich ein Akt, der in einer zweiten Welle zu unzähligen Reaktionen führt. So wie wir nur zögernd den kommunikativen Charakter von Gewalt verstehen, so widerstrebt es uns, anzuerkennen, dass extreme Gewalt ein kommunikationstechnisch besonders produktiver Akt ist. Innere Widerstände gegen solche Annahmen sind emotional zwar verständlich, erweisen sich aber als Hindernisse im Prozess der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit plötzlicher bzw. scheinbar plötzlicher Gewalt, wie Amok und Schulmassaker bzw. School Shootings sie darstellen. Die Geschichte des Amoklaufs erscheint daher, wie Heiko Christians es formuliert hat, als „Geschichte einer Ausbreitung“, und zwar in Form einer medialen Expansion, die zu einer beachtlichen Präsenz der Rede über das Phänomen geführt hat, dies bei gleichzeitig – glücklicherweise – empirisch eher niedriger Frequenz der Taten selbst.
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Die Gründe dafür, dass verheerende Zerstörungstaten kommunikativ produktiv sind, liegen wie gesagt darin, dass sie Kommunikation beenden wollen. Gerade diese Absicht scheint besonders irritierend und das heißt stimulierend auf die Kommunikation der Gesellschaft zu wirken, darunter auch in der Form der Kommunikation über Kommunikation. Über Gewalt zu kommunizieren bedeutet also immer eine Kommunikation zweiten Grades, sowohl wenn es darum geht, die Ursachen und Motive der Amok- oder Schulmassakergewalt zu erfassen, als auch in der ebenfalls ätiologisch gestellten Frage nach den Problemen kommunikativer Art in der Gesellschaft. Nicht selten taucht nämlich die These auf, das Umfeld (Familie, Freunde, Nachbarn) oder die Gesellschaft (in Gestalt etwa von Lehrerinnen und Lehrern) habe versäumt, mit den späteren Täterinnen oder Tätern in positivem Kontakt zu sein. Derlei Fragen nach der Verantwortung und auch kritische Selbstreflexionen verlangen ihrerseits nach Aufklärung; zu fragen ist außerdem, in welchen Formen, mit welchen Mitteln, von welcher Seite und mit welcher Wirkung sie verbreitet werden. In Massenmedien, d. h. Printmedien wie Zeitung und Zeitschrift und technischen Massenmedien wie Internet oder Fernsehen, in Film, Literatur und Computerspiel wird jedenfalls die als Amok und spezieller als Schulmassaker oder auch School Shooting eingestufte Gewalt seit Jahren verstärkt thematisiert, bewertet und diskutiert. Die hier versammelten Beiträge gehen mehrheitlich noch einen Schritt weiter, wenn sie journalistische, literarische oder filmische Diskurse analysieren und kommunikative Entwürfe zur Gewalt reflektieren, d. h. auf einer dritten Stufe kommunizieren, denn sie beobachten nicht Gewalt selbst, sondern wie über Gewalt kommuniziert wird. Auch wenn Kommunikation per se immer wieder neue Kommunikation generiert, so hat die Kommunikation über Gewalt eine besondere ethische Qualität, weil sie sich gegen das Vergessen wendet, einen Moment der einfühlenden Mittrauer darstellt oder ganz konkret Präventionsmaßnahmen einleiten will. Kommunikation über Gewalt ist daher aus ethischer Sicht außerordentlich wichtig. Denn in der Kommunikation über Gewalt und Aggressivität besinnt sich die Gesellschaft auf sich selbst, indem sie einen ihrer moralischen Grundwerte – die Ablehnung von zerstörerischer Gewalt – praktiziert und bestätigt. Zugleich ist aber das irritierende Potential der Kommunikation über Gewalt auch deswegen sehr hoch, weil sie sich oft ausschließlich um den Täter (seltener sind es Täterinnen) dreht. Die prominente Rolle, die er ein-
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nimmt, ganz gleich, ob er sich nach der Tat stellt oder das Leben nimmt, löst gewiss Widerwillen aus, ist kommunikationslogisch aber unvermeidlich. Wenn ein Täter sich das Ziel setzt, mediale Präsenz zu erlangen, dann ist massive Gewalt dazu ein sicheres Mittel. Der Rezeptionsaspekt wird zum Teil der Tat. Man darf dies nicht als Belohnung der Tat missverstehen, vielmehr ist die zirkuläre Bewegung unvermeidbar in einem System, das primär auf Kontrolle und Sicherheit basiert und von jeder Störung hochgradig provoziert wird. Der Täter ist allerdings zumeist, unabhängig von Fragen in Bezug auf seine Tat (v. a. auf die technische Durchführung) nur wenig als Subjekt interessant, sondern in erster Linie als Leerstelle kausaler Zusammenhänge. Die Öffentlichkeit benötigt ein Motiv, damit sie die Tat kategorisieren kann, denn Tatmotive deuten auf Schwächen in ihrem Werte- und Sicherheitssystem hin, die es zu beheben gilt. Indem die Gesellschaft über die Tat reflektiert, infiziert sie sich jedoch zugleich auch mit ihr. Die Suche nach Gründen bedeutet zwar kein Schuldeingeständnis, aber sie ist doch zumindest von der Annahme begleitet, dass das soziale Gefüge in irgendeinem Segment versagt hat. Die prominente Rolle kommt dem Täter also nur deshalb zu, weil die Gesellschaft sich für einen Moment in ihm spiegelt. Er ist ein Warnsignal, ein Symptom, ein Indiz von Fehlern im System – und die Tat ist das sichtbare Zeichen dieses Fehlers. Dass es hier Unterschiede zwischen verschiedenen Kulturen gibt – Deutschland, USA, Kanada, Schweiz, Frankreich – wird in den jeweiligen Debatten deutlich. An dieser Stelle sei auch darauf hingewiesen, dass „Schulmassaker“ und School Shooting nicht deckungsgleiche Termini sind. „Schulmassaker“ macht im Vergleich zu School Shooting deutlicher, dass die Bildungsinstitution und die darin befindlichen Menschen von einer Person aufgesucht werden, die sie selbst besucht hat und dort mit extrem aggressiven Mitteln vorgeht, die auch andere sein können als Schusswaffen. Im US-amerikanischen Kontext wird vielfach der Begriff des School Shootings benutzt. Er bezieht sich einerseits stark auf das Mittel der Schusswaffen, erfasst andererseits nicht zwingend die im Deutschen gemeinte AmokGewalt im Sinne der massiven, tödlichen Gewalt einer einzelnen Person gegen viele, einer Gewalt, die in diesem Zug auch den eigenen Tod mitbezweckt. Der Selbstmord ist dabei kommunikationslogisch konsequent und erhöht die kommunikative Irritation noch, da der Täter nicht mehr befragt
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werden kann. Paradoxerweise bestätigt gerade der Selbstmord die rationale Planung der Tat, denn sie zieht als Abschluss eine Konsequenz, in der die vorangehende Gewalt auf sich selbst gewendet wird und damit bestätigt, dass die Taten in ihrer Tragweite einschätzbar waren. Nimmt sich der Amokläufer hingegen nicht das Leben, dann kommt es zu einer Diskrepanz zwischen Tat und Person. Im ersten Teil des Buches stellen zwei Aufsätze die medizinischen und kriminologischen Grundlagen dar, die notwendig sind, um die Kommunikation über massive Gewalttaten, die im zweiten Teil im Vordergrund steht, einschätzbar zu machen. Der einleitende Aufsatz von Lothar Adler entwirft ein umfassendes Panorama des medizinischen und soziologischen Felds „Amok“, das auf der soliden Grundlage von dreißig Jahren Forschungsarbeit ruht. Der Bogen spannt sich dabei von frühen historischen Zeugnissen über spätere Kasuistiken, mit denen die wissenschaftliche Auseinandersetzung beginnt, bis hin zur empirischen Datenerhebung der Gegenwart. Adler zeigt die gravierenden Probleme auf, die sich für die Forschung aus der Seltenheit der Fälle ergibt, weil sie die Interpretation der Daten erschwert, deren Erhebung an sich schon eine große Herausforderung darstellt. Ein eindeutiges profiling der Täter ist auf Basis der bisherigen Forschung zwar nicht zu erstellen, der Beitrag resümiert den Forschungsstand jedoch mit der Hypothese, dass es sich beim Amok um ein komplexes Zusammenwirken psychischer Erkrankung mit soziologischen und biologischen Faktoren handeln dürfte. Auch aus kriminologischer Sicht gilt es, die unterschiedlichen Formen der Gewalt in einem ersten Schritt zu klassifizieren, da Amok und Schulmassaker bzw. Gewalt an Bildungsstätten trotz Ähnlichkeiten nicht gleichzusetzen sind. Henning Ernst Müller liefert dementsprechend zunächst eine phänomenologische Beschreibung des Typus „Schulmassaker“ und der Täterpersonen, um sich dann der Ursachenforschung zu widmen, die abschließend in einen plausiblen Zusammenhang gebracht werden: Individuelle Konstellationen, Ausleben von Phantasien, der Anreiz, durch die Tat bekannt zu werden, und ein letztes Auslöseereignis sind mögliche Faktoren und Stationen auf dem Weg zur Gewalt. Da die Täter oft introvertiert veranlagt sind, fällt Prävention auf ihrer Seite schwer. Im Umgang der Medien mit diesen Taten wären jedoch Einschränkungen denkbar, ohne gegen die Pressefreiheit zu verstoßen. Ebenso könnten an den Schulen präventive
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Maßnahmen getroffen werden, zu denen auch die sensible Reaktion auf Leaking-Signale gehört. Damit ist bereits die Rolle der politischen und behördlichen Verantwortungsträger angesprochen, die trotz der relativen Seltenheit der massiven Gewalttaten präventive Maßnahmen ergreifen und Einsatzpläne vorbereiten müssen. Wilhelm Schmidbauer, Landespolizeipräsident in Bayern, und Andreas Neumair legen dar, welche Maßnahmen (nicht nur) in Bayern nach den Taten von Winnenden und Ansbach ergriffen wurden, um Polizeieinsätze zu optimieren, im Hinblick auf jugendliche Täter präventiv zu agieren, den Zugang zu Waffen zu erschweren, Richtlinien für den Umgang mit Medien festzulegen und im schulischen Raum Sicherheitskonzepte zu entwickeln. Die Autoren machen deutlich, dass nur eine gesamtpolitische Perspektive im Verbund mit einem ganzheitlichen Ansatz Erfolg versprechend ist, auch wenn es bei dieser Form massiver Gewalt keine vollkommene Sicherheit geben kann. Bernd Körber bezieht die Reflexion auf die Einsatzmöglichkeiten der Polizei und konzentriert seine Ausführungen auf die Wahrnehmungsschulung. Mit der Entwicklung von Strategien des aktiven Sehens können Polizeibeamte lernen, Gefahren früh zu erkennen und deeskalierend zu wirken. Vor diesem Hintergrund widmet sich der zweite Teil des Bandes der Kommunikation über massive Gewalttaten in verschiedenen Medien, deren Bogen sich über die Presse, Blogs, Spielfilme und Computerspiele bis hin zur Literatur spannt. Anhand der Berichterstattung über den Massenmord von Utøya im Juli 2011 durch Anders Breivik arbeitet Daniel Ziegler mediale Diskurse über den Gewaltexzess heraus und zeigt, wie versucht wird, wieder Normalität herzustellen. Eine entscheidende Rolle spielte dabei die Typisierung des Täters zum Rechtsterroristen oder Psychopathen, womit die Medien zugleich tunlichst vermieden, Gewalt nicht aus sich selbst heraus zu erklären, obwohl gerade darin das eigentlich Verstörende solcher Gewaltakte zu sehen sei. Die journalistische Darstellung dieser Tat verdrängt damit einen zentralen Aspekt in der guten Absicht, eine gesellschaftliche Ordnung wiederherzustellen, die auf dem Wunsch nach totaler Sicherheit basiert. In eine völlig andere Richtung lief die Berichterstattung von Boulevardpresse und Blogs über den Fall des Schweizer „Amok-Opas“ Peter Kneubühl im Sommer 2010, die eine positive Umdeutung des Täters vornahm und damit auf einer popkulturellen Ebene ein breites Echo fand.
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Brigitte Frizzoni zeigt auf, wie die dramaturgischen Versatzstücke einer steigenden Demütigung Kneubühls im Vorfeld der Tat sowie der relativ geringe Schaden, den er anrichtete, und v. a. seine wiederholte Flucht trotz hohem Polizeiaufgebot dazu führten, dass er im Elementardiskurs von Blogs und Kommentaren als Gegenfigur zu unfähigen Behörden heroisiert wurde. Dies führt Frizzoni abschließend zu der Frage, ob ein Amoktäter zu einer populären Figur werden kann. Ein struktureller Vergleich zeigt, dass zwar tatsächlich punktuelle Übereinstimmungen möglich sind, die im Falle Kneubühls auch durchschlugen, sich die Täter generell aber letztlich nicht dazu eignen. Nach dem School Shooting von Littleton erregten auch Spielfilme die öffentliche Aufmerksamkeit und ernteten teilweise hohes Lob von Seiten der Kritik, wobei Gus Van Sants Elephant (2003) die Goldene Palme in Cannes erhielt und in vieler Hinsicht als stilbildend angesehen werden kann. An diesem und weiteren Beispielen untersucht Ralf Junkerjürgen, wie die Regisseure versuchen, eine ethische Formensprache zu entwickeln, die der äußerst heiklen spielfilmischen Inszenierung von massiver Gewalt angemessen ist. Im Vordergrund stehen dabei die Fragen, wie die Filme die Taten kontextualisieren und den Tod selbst darstellen. Sven Schmalfuß’ Beitrag zum Computerspiel schließt an das audiovisuelle Medium Film an, fragt aber ebenso wenig danach, welchen Einfluss Ego-Shooter-Spiele auf tatsächliche Gewalttaten haben, sondern wirft einen Blick auf die moralischen und ethischen Implikationen einer ludischen Umsetzung des School Shootings von Littleton in dem Rollenspiel Super Columbine Massacre RPG!. Schmalfuß demonstriert, wie das Spiel über eine prozedurale Rhetorik Konventionen unterläuft und kritische Denkanstöße ermöglicht. So wird deutlich, dass auch ein Computerspiel unmittelbar in den gesellschaftlichen Diskurs nach der Tat eintreten und sich als Spiel selbst infrage stellen kann. Dazu hat der Spielemacher Ledonne Bilder vom realen Tatort punktuell eingebaut und eine hybride Ästhetik geschaffen, die auch auf der semantischen Ebene mehrdeutig wird. Dies gilt auch für die Grundstruktur des Spiels selbst, dessen zweite Hälfte mit dem historischen Rahmen bricht und die Täter in die Hölle versetzt, wo der Spielablauf wieder konventionellen Regeln folgt. Mit dem Beitrag von Silke Braselmann wendet sich der Band der Rolle zu, die literarische Darstellungen im Diskurs über massive Gewalttaten spielen können. Auch dabei wird der Blick über die notorische Diskussion
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um den Vorbildcharakter von Fiktionen für Nachahmungstäter hinaus auf andere Fragestellungen erweitert. Die Autorin beobachtet, dass sich das kulturelle Skript dieser Form der Gewalt seit der Jahrtausendwende von fiktionalen Entwürfen zu realen Tatabläufen hin verschoben hat und es somit zu neuen Formen von Re-Inszenierungen kommt, die sich sowohl an fiktionalen als auch an faktualen Modellen orientieren. Dabei schöpft die Perspektive auf den Täter das Wirkpotential literarischer Texte nicht aus, was Braselmann am Beispiel von Lionel Shrivers Roman We Need to Talk About Kevin (2003) nachweist. Der Text, der explizit als Erinnerungstext aus der subjektiven Sicht der Mutter eines jugendlichen Täters angelegt ist, zeigt die bisher vernachlässigte Bedeutung des Erinnerungsnarrativs für diese Thematik auf, das sich aufgrund der Regelmäßigkeit der Taten langsam herausgebildet hat. Aber nicht nur das, der Roman kratzt v. a. auch an dem gesellschaftlichen Tabu, eine Mutter könne ihren Sohn nicht lieben und mitschuldig an der Tat werden – wo in der öffentlichen Wahrnehmung bisher v. a. Waffen besitzende Väter im Fokus standen. An einem erweiterten Korpus aus vier literarischen Texten von Emmanuel Carrère, Morton Rhue, Norbert Niemann und Clemens Meyer zeigt Isabella von Treskow abschließend, dass es darin in erster Linie um eine kritische Diagnose sozialer Rahmenbedingungen und im realistischauthentifizierenden Stil um Verständnis für die Täter geht. Ästhetisch geschieht dies z. T. im Rückgriff auf Einfühlungstechniken und auf die erprobten Gattungen des Kriminal- und Entwicklungsromans, die u. a. als literarischer Ausdruck für das bürgerliche Bedürfnis nach Sicherheit und Ordnung fungieren. Die Kombination der Techniken und Paradigmen erlaubt sowohl kriminologische Rekonstruktionen als auch psychologische Introspektionen. Damit schreiben sich die Texte einerseits in aktuelle Modi der Wirkungsästhetik (Identifikation, Schauder, Spannung) und andererseits in die kulturell dominanten Diskurse über die spezifische Form von AmokGewalt ein. Das Panorama des Bandes reicht von praxisorientierten Ansätzen, so dem zu den Präventionsmaßnahmen des bayerischen Innenministeriums, über medizinisch-psychiatrische und kriminologische Bestandsaufnahmen und Forschungsfragen hin zur kritischen Betrachtung der medialen Kommunikation in verschiedenen Formen und Rezeptionsgemeinschaften. Deutlich wird, wie primordial die Funktion der Medien für die Wahrnehmung von
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Amok- und School Shooting-Gewalt als skandalisierenden und faszinierenden „impulsiv“-zerstörerischen Gewaltformen ist. Von hoher soziokultureller Bedeutung sind dabei nicht nur die schnell reagierenden, sondern auch die langfristig wirkenden Medien wie Literatur und Filme. Bestseller wurden etwa die Romane von L. Shriver und E. Carrère, die Filme Elephant und Polytechnique erreichten ein Millionenpublikum. Einfache Erklärungsmuster werden durch die fiktionalen Darstellungen und Deutungen teils gebrochen, teils jedoch auch verstärkt. Letzteres ist z. B. im Buch von M. Rhue der Fall, das Schullektüre geworden ist. Über die virulenten Vorstellungen von Amok und Schulmassakern zu sprechen, ohne die Funktion sowohl der Massenmedien inkl. Blogs und die der Fiktionalisierungen zu bedenken, zu denen auch zahlreiche weitere Artefakte zu rechnen sind, ist gar nicht möglich, denn diese Erscheinungen exzessiver Gewalt sind durch die Art, in der sie ausgeführt, und die, in der sie aufgefasst werden, allzu eng mit dem Kommunikationssystem westlicher Gesellschaften verbunden. Die Beiträge von L. Adler, H. E. Müller, B. Körber, B. Frizzoni, R. Junkerjürgen und I. v. Treskow gehen auf die Tagung Amok, Schulmassaker, Gewaltexzess – Gesellschafts- und Medienanalyse zurück, die im Herbst 2010 an der Universität Regensburg stattfand. Hinzugekommen sind der Beitrag von W. Schmidbauer und A. Neumair sowie jene von D. Ziegler, S. Schmalfuß und S. Braselmann. Ausdrücklich gilt der Universitätsstiftung Hans Vielberth unser Dank für die finanzielle Unterstützung der Tagung und der damit verbundenen Autumn School. Für Korrekturarbeiten danken wir Zacharias Heil und Catherine Schilling. Ganz besonders geht unser Dank an Jonas Hock, der versiert Korrekturen und formale Anpassungen handhabte und mit Engagement und Gewandtheit so umsichtig wie zielorientiert wichtigen redaktionellen Beistand leistete. Unterstützung für die Drucklegung kam von Seiten des BMBFProgramms Qualität in der Regensburger Lehre (QuiRL) und von Seiten des Themenverbunds Gewalt und Aggression in Natur und Kultur an der Regensburger Universität – auch hierfür sprechen wir unseren Dank nachdrücklich aus.
Amok Geschichte und Ergebnisse aus psychiatrischer Perspektive L OTHAR A DLER
1. E INLEITUNG Phantasien von Gewalt gegen sich und andere sind wohl jedem einmal gekommen, natürlich auch meinen Patienten: als Furcht, „durchzudrehen“, „auszurasten“, wenn „alle einen mal können“. Die Vorstellung, was das heißen kann, war bestimmt durch den Amoklauf des Hauptlehrers Wagner. Das mag dahingesagt sein, kann aber auch ernst oder nicht einschätzbar sein – spätestens dann wird es zu einem schweren Problem der Behandlung oder im Umgang mit dem Betroffenen generell. Jedenfalls stand dieses klinische Problem am Anfang meines Interesses als Arzt für Amok. Das war Anfang der 1980er Jahre. Am 5. September 2013 jährte sich zum hundertsten Male der lange Zeit modellhaft wichtigste deutsche Amok. Der Täter Hauptlehrer Wagner aus Degerloch/Enz hatte zunächst seine Frau und seine vier Kinder getötet und begann dann in Mühlhausen/Enz mit dem bis dahin schlimmsten Amoklauf der deutschen Geschichte, bei der er vermummt die Häuser in Mühlhausen nach Art eines Rambo-Killers anzündete und auf die aus den Häusern herausstürzenden Menschen mit zwei Mauserpistolen und einem Revolver schoss. Er tötete weitere acht Menschen und verletzte elf Menschen schwer, ehe er, als er seine Waffen leer geschossen hatte, schwer verletzt überwältigt werden konnte. Er wurde u. a. von Robert Gaupp (1938) begutachtet,
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der ihn bis zum Lebensende weiter untersuchte.1 Bei dem ansonsten wenig auffälligen Mann wurde ein Verfolgungswahn diagnostiziert; in schriftlichen Zeugnissen bezeichnete er sich als Sodomit, der 17 Jahre lang Unvorstellbares erlitt, weil man in Mühlhausen heimlich über einen sodomitischen Vorfall spottete – obwohl niemand davon wusste − sprach von seinem „Größenwahn“ und dokumentierte einen lange gefassten Tatplan. Seine Tat wurde in Amerika dem Amok des Charles Whitmann (1.8.1966, Student, Tatort University of Texas, 17 Tote, 29 Verletzte) an die Seite gestellt2; auch er tötete zunächst seine Ehefrau und die Mutter, benutzte mehrere Schusswaffen und schoss dann wahllos vom Campus-Turm der Universität auf die Passanten, ehe er selbst getötet wurde. „Amok“ bedeutet auf Malaiisch „zornig“ bzw. „rasend“ (Duden) und wies die erste Forschungsrichtung: Das namengebende Phänomen stammt aus Südostasien. Es interessierte aus konkreten Gründen Kolonialbeamte, später auch Soziologen und renommierte Psychiater. Beschrieben wurden je nach Fall unterschiedliche, teils kulturspezifische Motive, psychische Erkrankungen und persönliche Eigenschaften allgemein. Im westlich akkulturierten amerikanisch-europäischen Raum fanden sich bei der Literatursuche teils mehrfach analysierte Kasuistiken sehr spektakulärer Amokläufe. Jahrzehntelang war „unser“ deutscher Amok der des „Hauptlehrers Wagner“, ähnlich wie der US-amerikanische der des „Charles Whitman“ war. Vermutungen über Gründe gingen in Richtung narzisstischer, sensitiver und paranoider Störungen. Spätestens seit dem sogenannten „Erfurter Ereignis“ (26.4.2002, Robert St., 16 Tote) ist Amok für jeden in Deutschland als Realität im Hier und Jetzt präsent. Die Schulen in Deutschland müssen sich mit einer neuen Gefahr auseinandersetzen: dem School Shooting. Genoss Amok allein schon immer höchstes öffentliches und politisches Interesse, steigerte sich dies beim School Shooting nahezu unerträglich. Der mediale Tumult in Winnenden (11.3.2009) hatte eine neue Qualität. Das Gesicht eines völlig Unbeteiligten wurde allein wegen der Namensgleichheit mit dem Täter auf die
1
Vgl. Gaupp, Robert, „Krankheit und Tod des paranoischen Massenmörders Hauptlehrer Wagner“, in: Zentralblatt für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 163 (1938), S. 48-82.
2
Vgl. Bruch, Hilde, „Mass murder: The Wagner Case“, in: American Journal of Psychiatry 124 (1967), S. 693-698.
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Schlagseite gesetzt, falsche Tränen mit echtem Geld finanziert und selbst vor der Beerdigung der Opfer dank monströser Teleobjektive nicht Halt gemacht, nachdem das Betreten des Friedhofes untersagt wurde. Die Tat spülte Experten in die Medien – in jede Anstalt einen eigenen − die oft nicht mehr als eine Meinung hatten. Sie ließ einen Innenminister Gründe erfinden, die er hastig widerrufen musste, eine kinderreiche Bundesgesundheitsministerin über frühe Bindungsstörungen plaudern und Kriminologen über Einsamkeit sprechen. Natürlich gibt es auch jenseits von Sensationslust und Helfergestus echtes Interesse und es fragen nicht nur Therapeuten nach dem „Warum“ dieses sinnlosen Mordens und Sterbens und zunehmend auch, was man gegen diesen Wahnsinn tun kann. Davon handelt einführend dieser Artikel aus medizinischer Sicht.
2. H ISTORISCHER AMOK Im Folgenden ist weniger beabsichtigt, die zahllosen Differenzen in der Darstellung des historischen Amoks herauszuarbeiten, sondern eher, auf das Übereinstimmende zu rekurrieren. Interessierte dürfen auf die Studie über den historischen indisch-malaiischen Amok von John C. Spores von 1988 und auf meine Übersicht verwiesen werden.3 Gruppengebundener indisch-malaiischer Amok Amoklauf dürfte primär ein gruppengebundenes kriegstaktisches Verhalten gewesen sein, bei dem sich eine besondere religiös und sozial hervorgehobene Elite unter den Soldaten zum bedingungslosen Kampf unter Inkaufnahme ihres Todes verpflichtete (ähnlich wie japanischer „Kamikaze“, Waffen-SS „Todesschwadron“). Die erste Beschreibung kriegerischen Amoks aus Südindien lieferte der Portugiese Gaspar Correa anlässlich eines Krieges zwischen den Königen von Cochin und Calicut im Jahre 1503. Zwei Prinzen des Königs von Cochin wurden dabei getötet. Deren überle-
3
Vgl. Spores, John C., Running Amok: A historical Inquiry. Athens: Ohio Univ., Center for Internat. Studies, 1988; Adler, Lothar, Amok – eine Studie. München: Belleville, 2000.
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bende Krieger erklärten sich wegen ihrer Schande, überlebt zu haben, zu „amoucos“. Sie rasierten sich die Haare und schlichen sich in das feindliche Calicut ein, wüteten wahllos mordend unter der Bevölkerung, bis sie selber alle getötet waren. Correa betonte, dass sich ihre rituelle Selbstwidmung zum „amoucos“ in Übereinstimmung mit den sozialen Erwartungen befand. Im Regelfall dürften „amoucos“ aber eher eine Elitetruppe aus einem ohnehin kriegerischen Volk (Nayros) gewesen sein, die sich in Kriegen auf Befehl des Königs zu bedingungslosem Einsatz bereitfanden und rituell an ihn gebunden waren. Gegner vermieden die Tötung oder Verletzung des Königs der Gegenpartei, um nicht der bedingungslosen Rache der „amoucos“ anheimzufallen. Ansehen und Macht eines Königs hatten unmittelbar Bezug zu der Anzahl derartiger Kämpfer. Nach dem 16. Jahrhundert entwickelte sich mit der Kolonialisierung ein kriegerisches Verhalten auch kleiner Gruppen für weniger bedeutsame Institutionen und Personen. Die ersten Erwähnungen des malaiischen Amok als militärtaktisches Verhalten finden sich im Zusammenhang mit Berichten über den Fall von Malacca 1511, andere meinen, dass Kapitän Cook als erster Europäer den „Amok“ im Rahmen seiner Weltumsegelung 1770 kennenlernte. Im Rahmen der Islamisierung erhielt der militärtaktische Amoklauf eine religiösfanatische Färbung als Kriegshandlung, der „Intifada“, dem Heiligen Krieg. Diese Art des Kampfes ist aber auch nicht neu gewesen, sie trat bei der Befreiung von Jerusalem von den Kreuzrittern (Hassan, der „Alte vom Berg“, Assassine) bereits im 12. Jahrhundert auf und beschäftigt nach dem Wirken der „Allianz der Gutwilligen“ des Präsidenten George W. Bush4 noch heute viele – sicher unter anderen Vorzeichen − in dieser wahrhaft unglücklichen Region. Individueller malaiischer Amok Im malaiischen Archipel traten zeitgleich zum Gruppenamok individuell motivierte Amokläufe auf. Die erste Erwähnung des individuellen malaiischen Amok stammt vom Portugiesen Nicolo di Conti. Er beschrieb Amok im frühen 15. Jahrhundert als homizidal-suizidales Verhalten, mit dem sich
4
Vgl. Adler, Lothar, „Das Böse und der Fanatismus. Beispiel Amok“, in: NeuroTransmitter Sonderausgabe 2 (2006), S. 51-55.
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ein zahlungsunfähiger Schuldner seiner unweigerlich drohenden Versklavung entziehen konnte. Duarte Barbosa bezeichnete 1512 mit „amuco“ Menschen, die sich nach überstandener Krankheit als Dank an die Götter mit Messer und Speer bewaffnet in die Menge stürzten und rückhaltlos jeden töteten, der sich vor ihrem Warn- und zugleich Kampfschrei „amuco“ nicht in Sicherheit bringen konnte, bis sie selbst getötet wurden. Die holländische Ostindien-Gesellschaft berichtete im Verlauf des 17. Jahrhunderts mehrfach über Amokläufe; teils sollen sie sehr häufig vorgekommen sein. John C. Spores zählte aber zwischen 1825 und 1925 nur etwa fünfzig Amokläufe.5 Auch wenn der Amok spätestens seit der Mitte des letzten Jahrhunderts seinen religiös-kriegerischen Bezug verlor, so behielt er seine spezifische kulturelle Prägung und Ritualisierung bei. Er wurde aber zunehmend als Ausdruck krankhaft abweichenden Verhaltens interpretiert und dementsprechend auch gesellschaftlich negativ bewertet.6 Zur Phänomenologie Von europäischen Reisenden, Kolonialbeamten und -ärzten, und später Ethnologen, Soziologen und Psychiatern wurden individuelle malaiische Amokläufe über die Jahrhunderte hindurch trotz einschneidender soziokultureller Veränderungen recht gleichförmig beschrieben. Typischerweise lassen sich vier Phasen unterscheiden: 1. 2.
5 6
Eine Kränkungen, Objektverlusten u. ä. nachfolgende Phase des intensiven Grübelns mit Rückzug von der Umwelt. Explosionsartiger, unvorhersehbarer Angriff mit rücksichtsloser Tötungsbereitschaft. Nicht selten begann der Amoklauf mehr oder minder gezielt bei der Familie und Verwandten, konnte initial aber auch Schlafgenossen, nähere Bekannte oder Konfliktpartner treffen und sich
Vgl. Spores, Running Amok, 1988. Vgl. Murphy, Henry B. M., „The affective disorders of comparative psychiatry“, in: ders. (Hrsg.), Comparative psychiatry: the International and Intercultural distribution of mental illness. Berlin/Heidelberg/New York: Springer, 1982, S. 108-114.
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3.
4.
dann wahllos auf Unbeteiligte bzw. Fremde ausweiten, aber auch von vornherein bei ihnen beginnen. Es folgte eine oft mehrstündig anhaltende, oft gänzlich ungesteuerte, mörderische Raserei, bis der Amokläufer entweder durch Fremd- oder Eigeneinwirkung getötet, kampfunfähig verletzt bzw. überwältigt wurde. Überlebende Täter verfielen gelegentlich in einen stunden- bis tagelangen Schlaf oder Stupor. Danach gaben sie vor, keine Motive und/oder keine Erinnerung an die Tat zu haben. Es wäre ihnen in irgendeiner Form schwarz oder rot vor Augen gewesen, sie hätten z. B. Tiger, Teufel oder anderes vor Augen gesehen.
Diese Phasenbildung setzt nähere Kenntnis der Umstände voraus; natürlich konnte rasche Überwältigung den Ablauf und die Anzahl der Opferzahl begrenzen. Geändert haben sich im Verlauf der letzten Jahrhunderte vor allem die Tatwaffen. Früher wurden traditionelle Waffen wie der messerähnliche Kris, der kurzschwertähnliche Parang oder Speere benutzt, die jeder Mann ohnehin zur Verfügung hatte. Heute kommen häufiger Schusswaffen, Handgranaten, Fahrzeuge u. ä. vor. Amokläufer töteten oft sich selber oder riskierten bereits durch den rituellen Ruf „amok“ ihre Tötung. Zeitzeugen berichteten, dass Amokläufer während der Tat mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpft wurden und „vogelfrei“ waren. An Straßenkreuzungen bzw. Polizeistationen wurden noch Anfang des letzten Jahrhunderts auf dem Lande z. T. spezielle Forken deponiert, mit denen Amokläufer auf Abstand gehalten und wohl auch aufgespießt werden konnten. Insofern ist Amok traditionell eine ritualisierte Form der Selbsttötung (Homizid-Suizid). H.B.M. Murphy vermutet, dass früher ca. die Hälfte der Täter während des Amoks verstarben7; summiert man die bekannten Fälle auf, lag die Zahl eher bei einem Drittel.8 Die moralische Bewertung von Amokläufern variiert in der Darstellung von Autor zu Autor. Sie reicht vom sozial hochgeachteten Kämpfer, der wohl in Analogie zum heldenhaften, religiös-militärisch motivierten Gruppenkampf der „amoucos“ eingeschätzt wird, bis hin zur Verurteilung als
7
Vgl. Murphy, „The affective disorders“, 1982.
8
Vgl. Adler, Amok, 2000.
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feiger Mörder Unschuldiger. Erst 1893 kam es unter dem Einfluss der kolonialen Rechtsprechung zu einer eindeutigen Pathologisierung und Kriminalisierung. Soziodemographischer Hintergrund Frühe Berichte und soziologische Untersuchungen der letzten Jahrzehnte in Malaysia, Indonesien und Laos zeigen, dass es sich bei den Amokläufern zumeist um Männer zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr handelte. Die Täter sollen meist aus ländlichen Gegenden stammen, nur über ein niedriges Bildungsniveau verfügen und z. B. aufgrund des Militärdienstes häufig weit entfernt von ihrer Familie und Heimat gelebt haben. Möglicherweise geht es dabei um eher neue Trends; die konkrete Analyse älterer Kasuisten beschrieben Amok bei eher hochrangigen Personen bis hin zu Prinzen. Motive Die auslösenden Motive für individuelle Amokläufe waren und sind sehr vielfältig und betreffen alle denkbaren Belastungen des Lebens. Wie bei militärischem Amok ging es aber vornehmlich um Situationen, bei denen subjektiv die Ehre bedroht war oder das Gefühl der Ausweglosigkeit vorherrschte. Die Bedeutung des Amoks als ein kulturspezifisches Äquivalent zum europäischen (erweiterten) Suizid wurde schon von Sir Henry Middleton während seiner Reise 1604-1606 beschrieben.9 Diese Einschätzung lässt sich durchgehend bis heute nachweisen. Andere Autoren finden Eifersuchts- und sonstige Partnerschaftsprobleme überrepräsentiert, beschreiben vorausgehende Todesfälle, Konflikte mit Autoritäten und am Arbeitsplatz etc.; letztlich gibt es kaum ein ernsthaftes Problem, das nicht genannt werden würde. Wichtiger mag umgekehrt sein, dass es Fälle ohne erkennbaren Grund gibt. Von vornherein geht es auch darum, welche Persönlichkeiten − wie auch immer konfliktbelastet − zu einer solchen Reaktion neigen. Genannt werden Eigenschaften wie rigid, zurückhaltend, stolz, wenig fähig, Gefühle zu zeigen und/oder vergessen zu können, kriegerisch, jähzornig, impulsiv etc., die dann teils als krankhaft, teils als kulturbedingt interpretiert werden.
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Vgl. Forster, William, The Voyage of Sir Henry Middelton to the Moluccas 1604-1606. London: Hakluyt Society, 1943.
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Von modernen Autoren werden sie öfter als narzisstisch (im Sinne der umgangssprachlichen Bedeutung) bezeichnet. Psychiatrische Erkrankungen Erste psychiatrische Untersuchungen zum Amok im malaiischen und dem angrenzenden südostasiatischen Raum liegen bereits aus der Mitte des letzten Jahrhunderts vor. Heute ungewohnte Krankheitskonzepte wie z. B. „flüchtige psychopathische Minderwertigkeit“ machen eine Interpretation schwer. Emil Kraepelin schuldigte aber 1904 unter anderem „Katatonien“ im Sinne der modernen Diagnose der Schizophrenie an.10 Affektive Störungen im Sinne einer „Melancholie“ wurden erstmals von John Oxley 1849 als typische psychische Ursache erwähnt.11 Amokläufe bei Epilepsie oder im Rahmen von körperlichen Erkrankungen, die das Gehirn in Mitleidenschaft zogen − speziell Malaria und Neurosyphilis − wurden ebenfalls früh beschrieben. Dieses Spektrum psychiatrischer Krankheiten, das von Persönlichkeitsstörungen bis hin zu Hirnstoffwechselstörungen oder Hirnsubstanzstörungen reicht, wurde dann auch in kleineren Fallserien mit unterschiedlicher Häufigkeit wiedergefunden.12 Diese neueren Studien fanden auch noch Alkoholintoxikationen gehäuft, die in weniger säkularen Zeiten in dieser islamischen Welt wohl keine Rolle spielten. Culture-bound-Syndrom Die Bedeutung des religiös-kulturellen Hintergrundes bei Amok ist ethnopsychiatrisch Gegenstand von Kontroversen.13 Verkürzt geht es um die
10 Vgl. Kraepelin, Emil, „Vergleichende Psychiatrie“, in: Zentralblatt für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 27 [=N.F. 15] (1904), S. 433-437. 11 Vgl. Oxley, John, „Malay amoks“, in: The Journal of the Indian Archipelago and Eastern Asia 3 (1849), S. 532-533. 12 Vgl. Westermeyer, Joseph, „Grenade amok in Laos: a psychosocial perspective“, in: International Journal of Social Psychiatry 19 (1973), S. 251-260; Schmidt, Karl/Hill, Lee/Guthrie, George., „Running Amok“, in: International Journal of Social Psychiatry 23 (1977), S. 264-274; Carr, John E./Tan, Eng Kong, „In Search of the true Amok: Amok as viewed with the Malay culture“, in: American Journal of Psychiatry 133 (1976), S. 1295-1299. 13 Vgl. Carr, John E., „Ethno-behaviorism and culture-bound-syndromes: the case of amok“, in: Culture, Medicine, and Psychiatry 2 (1985), S. 269-293.
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prinzipielle Frage, ob Amok ein spezielles, an die malaiische Kultur gebundenes, letztlich gesellschaftskonformes Verhalten ist oder auf überall vorhandenen Krankheitsbildern beruht, die allenfalls durch kulturelle Einflüsse überformt werden. Dazu ist zu sagen, dass das Wort „Amok“ zwar malaiischen Ursprungs ist, das Phänomen aber auch schon historisch nicht nur die Malaien, sondern auch andere ihnen ethnisch und sprachlich nahestehende Völker in den modernen Staaten Malaysia, Indonesien, Singapur, Brunei und Teilen von Thailand, den Philippinen sowie Südindien betraf. Bereits diese weite Verbreitung lässt auch den historischen „Amok“ nicht als ein regionales Phänomen erscheinen. Amokähnliches Verhalten wurde in Trinidad bei den „Coolies“ beschrieben, als „Crazy Dog“ bei den Krähenfußindianern, als „Berserkergang“ bei den nordischen Völkern etc. Im Glossar über kulturabhängige Syndrome des amerikanischen Diagnostischen und Statistischen Manuals IV von 1996 werden weitere Amokformen aufgeführt; einzelne Forscher summieren ganze Listen analoger Verhaltensweisen auf. Natürlich ergibt sich dann die Frage, ob das ähnlich Beschriebene auch wirklich vergleichbar ist. Der einzige Autor, der meines Wissens Amok in verschiedenen Kulturen beobachten konnte, war Burton G. Burton-Bradley (1968);14 er fand keine wesentlichen Unterschiede bei malaiischen Amokläufen und dem „negri, negri“ der Bena im heutigen Papua-Neuguinea, so dass letztlich der Eindruck entsteht, dass Amok im malaiischen Archipel zwar besonders prägnant und insofern namengebend war, interkulturell aber keine Ausnahmestellung innehat.
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S CHOOL S HOOTING
Definition „Amok“ und „School Shooting“ sind in westlich akkulturierten Ländern weder definierte Diagnosen, Straftaten oder allgemeingültige Begriffe; sie wurden und werden z. B. in der Presse gern zur Dramatisierung belangloser Vorfälle missbraucht. Umgekehrt ist nicht überall der Begriff „Amok“ ver-
14 Burton-Bradley, Burton G., „The Amok Syndrome in Papua New Guinea“, in: Medical Journal of Australia 1 (1968), S. 252-256.
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breitet. Die Literatursuche musste ein breites Spektrum von Begriffen für Mord-Selbstmord-Fälle einschließen. Systematische Studien lagen in den 1980er Jahren, als wir mit unseren Untersuchungen begannen, nicht vor; einzelne Untersuchungen an „Massenmördern“ oder zum erweiterten Selbstmord mit größeren Fallzahlen gingen von definierten Opferzahlen, von sehr wechselnd definierten Gruppen und methodisch unterschiedlichen Ansätzen aus.15 Es war also für empirische Forschung zunächst zu definieren, was unter „Amok“ oder „Amoklaufen“ verstanden werden soll. Für eine sinnvolle Operationalisierung des Begriffs bot sich der namengebende klassische malaiische Amok an: tateinheitliche Angriffe auf mehrere Menschen in eindeutiger Tötungsabsicht mit zumindest billigend in Kauf genommener Gefahr der eigenen Tötung. Diese Definition ist gewissermaßen die Mindestforderung an eine Handlung, damit sie Amok genannt werden kann. Fehlt Tateinheitlichkeit, suizidale oder homizidale Intention, kann nicht von Amok gesprochen werden. Umgekehrt werden kriminell und politisch motivierte Taten ausgeschlossen. Wie dargestellt, ist neben diesem intentionalen Aspekt auch der vierphasige Ablauf typisch, soweit sich der Amok voll entfalten kann. Anders als beim Amok wurde die Diskussion über School Shooting von zunächst amerikanischen Sicherheitsexperten getragen. Sie machen aus ihren professionellen Bedürfnissen heraus den Ort der Tat – die Schule – zum wesentlichen Kriterium. Die übliche Definition für School Shooting ist deshalb weiter als die von Amok: School Shooting ist ein tödlicher Angriff von Schülern auf Personen der eigenen Schule.16 Bestimmte Ablauferwartungen an School Shooting gibt es nicht. Die weitere Definition des School Shooting lässt gewöhnliche Tötungen und Tötungsversuche zu.17 Gleichwohl verlaufen sehr viele Fälle wie ein Amok. Das Thema School Shooting wird im Weiteren nur ergänzend erörtert.
15 Vgl. Adler, Amok, 2000. 16 Vgl. z. B. Robertz, Frank J., School Shootings. Über die Relevanz der Phantasie für die Begehung von Mehrfachtötungen durch Jugendliche. Frankfurt a. M.: Verlag für Polizeiwissenschaft, 2004. 17 Vgl. Hoffmann, Jens/Roshdi, Karoline/Robertz, Frank, „Zielgerichtete schwere Gewalt und Amok an Schulen“, in: Kriminalistik 4 (2009), S. 196-204.
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Forschungsprobleme Für die Forschung kann man die Bedeutung einer klaren Definition des Amoks nicht hoch genug einschätzen. Kleine Änderungen führen sehr schnell zu deutlichen Unterschieden nicht nur in der Fallzahl, sondern auch bei den anderen Ergebnissen z. B. bei diagnostischer Verteilung, Gefährlichkeit und machen Studien kaum noch vergleichbar.18 Ein gutes Beispiel sind die so genannten „Amokfahrten“. „Amokfahrten“ werden z. B. sehr gern Fluchten angetrunkener Autofahrer genannt. Sie sind auch geeignet, sich und andere tödlich zu gefährden. In der Regel besteht aber keine Tötungs- oder Selbstmordabsicht; ähnliches gilt für die meisten „Geisterfahrer“. Zählte man sie z. B. zum Amok, wäre Amok sehr häufig. Es gibt aber durchaus Fälle, bei denen die Täter z. B. gezielt in den Gegenverkehr fahren und somit dem Amokspektrum zuzuordnen sind. Erweiterte Suizide stellen ein anderes Abgrenzungsproblem dar; in der ersten Studie hatten wir Handlungen in der Familie zugelassen, die an verschiedenen Orten geschahen.19 Meist ließen sich die Hintergründe nicht ermitteln, weil alle Beteiligten tot waren. Nach Ausschluss dieser Fälle − einem Vorschlag Ulrich Eisenberg folgend20 − hatte sich die Fallzahl fast halbiert. Ein weiteres Problem ist die extreme Seltenheit, die die übliche wissenschaftliche Methodik nicht zulässt. Zudem stirbt ca. ein Drittel der Täter, Überlebende geben Amnesien an, sind in prozesstaktische Manöver eingebunden oder werden in Gefängnissen oder geschlossenen Abteilungen psychiatrischer Krankenhäuser (Maßregelvollzug nach § 63 StGB) untergebracht und von der Öffentlichkeit abgeschirmt.
18 Vgl. Adler, Lothar/Marx, Dagmar/Apel, Heino/Wolfersdorf, Manfred/Hajak Göran, „Zur Stabilität des ‚Amokläufer‘-Syndroms. Kontentanalytische Vergleichsuntersuchungen von Pressemitteilungen über deutsche Amokläufer der Dekaden 1980-1989 und 1991-2000“, in: Fortschritte der Neurologie, Psychiatrie 74, 10 (2006), S. 582-590. 19 Vgl. Adler, Lothar/Lehmann, Karin/Räder, Klaus/Schünemann, Karl-Friedrich, „‚Amokläufer‘ – kontentanalytische Untersuchung an 196 Pressemitteilungen aus industrialisierten Ländern“, in: Fortschritte der Neurologie, Psychiatrie 61,12 (1993), S. 424-433; Adler, Amok, 2000. 20 Vgl. Eisenberg, Ulrich, „Buchbesprechung zu Adler, L. Amok − eine Studie“, in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, 85 (2002), S. 391.
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Alle möglichen Forschungszugänge haben enge Limitationen. Kasuistiken wie bei dem Hauptlehrer Wagner können genau sein, die Generalisierung der Ergebnisse ist aber problematisch. Immer wieder finden sich Autoren, die schon immer gewollten Intentionen folgend nun dankbar spezielle Schuldzuweisung vornehmen. Götz Eisenberg findet, dass der „Amok des Kapitals“ dem „Amok der Kinder“ entspricht,21 der Kriminologe Christian Pfeiffer erklärte nach Winnenden öffentlich die Computerspiele der Jugendlichen für (teil-) verantwortlich, und Ines Geipel klagt nach Erfurt Schule und Familien an.22 „Psychologische Autopsie“ ist aus ähnlichen Gründen problematisch, aber auch, weil nach der Tat niemand mehr neutral Auskunft geben kann. Jüngst kam es sogar zur Verurteilung eines Vaters, weil er dem Sohn zu leicht Zugang zu seinem Waffenschrank ermöglicht hätte − als ob der Tod des Kindes und der zahlloser anderer Menschen nicht schon Strafe genug ist. Wir haben uns erstmals zu einer kontentanalytischen Untersuchung von Medienberichten entschlossen,23 um die kasuistische Phase der Amokforschung zu überwinden. In der „1. Dekade“ (1.1.1980-30.8.1989) ermittelten wir die Fälle durch Nachrichtenagenturen, Archive etc., für die „2. Dekade“ (1.1.1991-31.12.2000) und „3. Dekade“ (1.1.2001-30.12.2010) stellte uns der Spiegel sein computerisiertes Archiv zur Verfügung. Parallel sammelten wir in den beiden letzten Dekaden deutsche Amokläufe prospektiv aus allen Medien und kamen zu weitgehend identischen Fällen. Dies macht wahrscheinlich, dass alle relevanten Fälle erfasst wurden und epidemiologische Aussagen mit diesen „Totaluntersuchungen“ möglich sind, die freilich nur für Deutschland gelten. Das Material wurde bezüglich 72 Items ausgewertet. Grundlage für die Auswahl relevanter Items war die Kenntnis des malaiischen Amoks und der westlichen Literatur. Wesentliche Mängel aller
21 Vgl. Eisenberg, Götz, Amok – Kinder der Kälte. Reinbek b. H.: Rowohlt, 2000. 22 Vgl. Pfeiffer, Christian, Redebeiträge in: PHOENIX RUNDE. Nach dem Amoklauf - Wie gefährlich sind ‚Killerspiele‘? Ausgestrahlt am 17.3.2009 auf Phoenix, z. B. ab 00:07:00; Geipel, Ines, ‚Für heute reicht’s!‘: Amok in Erfurt. Berlin: Rowohlt, ²2004. 23 Vgl. Adler/Lehmann/Räder/Schünemann, „‚Amokläufer‘ – kontentanalytische Untersuchung“, 1993.
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drei Studien entstehen aus „missing data“; das Problem des Materials wurde mehrfach diskutiert und soll hier nicht wiederholt werden.24 Diese drei Untersuchungen, eine Fallsammlung der New York Times 1990-2000,25 eine Studie von Armin Schmidtke, Sylvia Schaller, Ingrid Müller, David Lester und Steven Stack aus dem Jahr 2002 zur Frage eines möglichen Werther-Effektes26, eine neuere Untersuchung an 27 überlebenden und verurteilten Amokläufern in Deutschland von Eileen Peter und Bernhard Bogerts27 und die drei erwähnten Studien aus Südostasien sind neben den Kasuistiken weltweit Grundlage für das, was man derzeit über Amok weiß. Zu den Kasuistiken gehören bis 2012 auch etwa 150 Fälle von School Shooting. Fakten Häufigkeit, Geschlecht und Alter Murphy schätzt die Inzidenz südostasiatischer Amokläufer im 19. Jahrhundert auf unter 1:1 Millionen/Männerjahre; eine vergleichbare Häufigkeit lässt sich dort auch für die Mitte des 20. Jahrhunderts ermitteln.28 Deutsche Amokläufe wurden im Dekadenvergleich in der Post-Wende-Zeit etwas seltener und nun wieder häufiger, ohne dass dies statistisch bedeutsam ist. Orientiert man sich an Mittelwerten der Bevölkerung, ergibt sich bei Männern für die 1. Dekade eine Prävalenz von ca. einem Fall auf 5,8 Mill. Männerjahre, für die 2. Dekade eine Prävalenz von ca. 7,6 und für die 3. Dekade eine von 6,8. In der 2. Dekade waren in Deutschland zwei, in der 3.
24 Vgl. ebd.;, Adler, Amok, 2000; Adler/Marx/Apel/Wolfersdorf/Hajak, „Zur Stabilität des ‚Amokläufer‘-Syndroms“, 2006. 25 Vgl. Fessenden, Ford, „Rampage killers. Part one: a statistical portrait“, in: New York Times, 8. April 2000, S. 1. 26 Schmidtke, Armin/Schaller, Sylvia/Müller, Imke/Lester, David/Stack, Steven, „Imitation von Amok und Amok- Suizid“, in: Wolfersdorf, Manfred/Wedler, Hans (Hrsg.), Terroristen-Suizide und Amok. Regensburg: Roderer, 2002, S. 91-112. 27 Vgl. Peter, Eileen/Bogerts, Bernhard, „Epidemiologie und Psychopathologie des Amoklaufs“, in: Nervenarzt 83 (2012), S. 57-63. 28 Vgl. Murphy, „The affective disorders“, 1982; Adler, Amok, 2000.
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aber vier Frauen beteiligt; zuvor waren einzelne Frauen-Amokläufe aus dem Ausland bekannt. Wegen der spektakulären Schulamokläufe entsteht der Eindruck, dass Amokläufer jünger werden. Dies lässt sich nur begrenzt objektivieren. In allen Dekaden gibt es eine bimodale Altersverteilung mit einem ersten Gipfel bei 20 bis 25 Jahren und einem zweiten bei 40 bis 45 Jahren. Die Mittelwerte (nur Männer) der drei Dekaden (34,4/35,9/37,0 Jahre) unterscheiden sich nicht signifikant. In der 1. Dekade ist der jüngste Täter 17 Jahre, in der 2. und 3. sind die Jüngsten nur 14 Jahre alt. Dies entspricht einem Trend zu jüngeren Tätern, der sich überall für auto- und heteroaggressive Handlungen bei Jugendlichen zeigt, was auch für die Zunahme von Frauen zutrifft. Neu ist, dass in der 3. Dekade die eigene Schule häufiger (n=6) zum Ort der von Jugendlichen begangenen Amokläufe wird, generell sind Schule und Universität auch zuvor öfter Schauplatz von Amokläufen gewesen. Gefährlichkeit und Waffen Bei 50 Amokläufen in der 1. Dekade sind 52 Menschen getötet (1,06 Tote/Tat) und 107 verletzt (2,18 Verletzte/Tat), in der 2. Dekade von 54 Amokläufern 70 Menschen getötet (1,3 Tote/Tat) und 124 (2,3 Verletzte/Tat) verletzt und in der 3. Dekade von 63 Amokläufern 94 Menschen (1,25 Tote/Tat) getötet und 291 (5,07 Verletzte/Tat) verletzt worden. School Shooter töten im Schnitt 1,3 Menschen und verletzen 3,2 Opfer,29 aber auch malaiische Amokläufer sind im Mittel etwa genauso gefährlich.30 Einige besonders spektakuläre Amokläufe mit hohen Todes- und vor allem sehr hohen Verletzten-Opferzahlen prägen die Dekade von 2000-2010. Statistisch werden deutsche Amokläufe im Dekaden-Vergleich nur im Bereich der Verletzten in der 3. Dekade signifikant (p>0,05) gefährlicher, die Unterschiede bei den Tötungsopfern sind nicht signifikant, wenngleich in der 2. Dekade besonders viele Todesopfer gezählt werden mussten. Grund dafür ist, dass unmittelbar nach der Wende signifikant mehr Täter Schusswaffen (1. Dekade: 18, 2. Dekade: 28, 3. Dekade: 11 [im Folgenden nur durch (Wert 1./Wert 2./Wert 3.)] dargestellt) und Waffenarsenale
29 Vgl. Robertz Frank J./Wickhäuser, Ruben P., Der Riss in der Tafel. Amoklauf und schwere Gewalt in der Schule. Heidelberg: Springer, 2007. 30 Vgl. Adler, Amok, 2000.
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(6/15/11) einsetzten, die mit höherer Opferzahl verbunden und gezielt vorbereitet worden waren. Diese Waffen sind nach der Wende zunächst leichter, in der 3. Dekade aber mit den verschärften Waffengesetzen schwerer beschaffbar gewesen. Dafür sind wieder andere übliche Waffen wie Messer (17/11/16) und atypische, zu Waffen entfremdete Gegenstände häufiger geworden (9/2/25), die mit erhöhten Verletzten-Zahlen einhergehen. An sich könnte ein Amokfahrer mit einem Auto, Bagger, Panzer o. ä. ungeheure Blutbäder anrichten, was aber sehr selten passiert. Damit ist auch eine signifikante Zunahme der Sachschäden (18/20/48 %) verbunden. Diese spezielle Gefährlichkeit mag ein Argument für die intentionale Steuerung selbst während des Amoklaufs sein. Die Veränderung der Waffenwahl in Abhängigkeit von ihrer Verfügbarkeit wird auch in den südostasiatischen Amokländern beschrieben. Soziodemographische Daten Auch wenn so massive soziale Umwälzungen wie die Wende von 1989 zumindest keinen signifikanten negativen Effekt bei der Häufigkeit, Gefährlichkeit und dem Alter der Täter zeigten, so sind soziale Faktoren doch nicht unbedeutend. Das Ausbildungsniveau ist überdurchschnittlich gut, aber die Arbeitslosenquote ca. 2-5mal so hoch wie im Durchschnitt. Es gelingt Amokläufern anders als „normalen“ Gewalttätern offenbar zunächst eine relativ gute berufliche Entwicklung, ehe sie im Vorfeld des Amoks dekompensieren. Auch School Shooter besuchen überwiegend mittlere oder höhere Schulen, sollen aber konkret öfter Leistungsprobleme haben bzw. ihren Geschwistern in der Leistung unterlegen sein.31 Annahmen, dass eine psychosoziale Entwurzelung wie Migration bei Amok eine besondere Rolle spielt, lassen sich nicht zuverlässig stützen. Eindeutig abweichend ist die gefundene Geschlechtsrelation. In Südostasien laufen Frauen angeblich überhaupt nicht Amok; Frauenbeteiligung ist auch nach unseren Untersuchungen auf Einzelfälle beschränkt. Bei School Shootern werden Geschlechterrelationen (Frauen zu Männer) bis zu 1:20 angegeben. Als Vergleich: Bei geisteskranken und -gesunden Gewalttätern werden Relationen zwischen 1:4 bzw. 1:10 genannt. Monika Lübbert widmete 2002 dieser auffallenden Geschlechterverteilung eine Monogra-
31 Vgl. Robertz, School Shootings; Hoffmann/Roshdi/Robertz, „Zielgerichtete schwere Gewalt“, 2009.
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phie.32 Die sonstigen kontrollierten sozialdemographischen Faktoren unterscheiden Amokläufer kaum von der übrigen Bevölkerung. Primäre Persönlichkeitsauffälligkeiten Die von Ernst Kretschmer33 und Robert Gaupp34 herausgearbeiteten Charaktereigenschaften der sensitiven Persönlichkeit am Beispiel des Hauptlehrers Wagner findet sich in der Literatur weltweit gehäuft, ohne immer als „sensitiv“ benannt zu werden, oft ist von narzisstischen Zügen oder Störungen die Rede. Bei School Shootern finden sich phasenbedingt als analog anzusehende „narzisstische“ Adoleszenten-Krisen. Den meisten Tätern werden über alle drei Dekaden hinweg psychopathische Eigenschaften zugeschrieben. Am häufigsten werden genannt: mit zunehmender Tendenz impulsiv bis massiver Jähzorn (20/37/43 %), vorbestraft (22/35/31 %). Abnehmend werden querulatorisch und/oder paranoid (22/20/8 %) genannt. Bei deutschen Amokläufern sind expressives oder passiv-scheues Verhalten, sexuelle Abstinenz oder ungewöhnliche sexuelle Praktiken, frühere depressive Verstimmungen und Suizidversuche eher selten; letztere sind bei School Shootern sehr häufig. Signifikant zugenommen haben in der 3. Dekade die Waffennarren wie z. B. Waffensammler (6/11/27 %), während die aktiven Sportschützen (18/15/14 %) und die, die in sozial unüblichen Situationen schossen (6/7/5 %), eher leicht abgenommen haben. Militärische Sonderausbildungen hatten in jeder der Dekaden zwei Amokläufer absolviert. Vor dem Amok waren bei knapp einem Viertel (16/15/27 %) psychiatrische Erkrankungen bekannt, krankhaft-auffällige Verhaltensveränderungen vor der Tat wurden im Trend abnehmend bei gut einem Drittel (42/37/32 %) registriert. Motive Journalisten scheinen daran interessiert, aktuelle Konflikte als auslösende Gründe zu recherchieren; nur bei 18 % aller Fälle fanden sich dazu keine
32 Lübbert, Monika, Amok. Der Lauf der Männlichkeit. Frankfurt a. M.: Verlag der Polizeiwissenschaft, 2002. 33 Kretschmer, Ernst, Der sensitive Beziehungswahn. Berlin: Springer, 1918. 34 Vgl. Gaupp, „Krankheit und Tod“, 1983.
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Aussagen. Insgesamt unterschieden sich die Angaben über auslösende Motive in den 3 Dekaden nicht. Bei 23 % konnten ausdrücklich keine Gründe ermittelt werden. Die Gründe werden unverändert angeführt von Scheidungen und anderen Objektverlusten (18/28/19 %). Es folgen in der Reihung Gerichtsprozesse (12/9/13 %), Partner-Konflikte (6/9/14 %) und Entlassungen (6/11/8 %). Einzelfälle werden mit „pseudo-politischen/-rassistischen Motiven“ und neuerdings mit Obdachlosigkeit begründet. Bei den mittelbis längerfristig wirkenden Motiven dominieren unverändert chronische Partnerkonflikte. Eine interessante Frage ist, ob es auch beim Amok einen „WertherEffekt“ gibt, was an sich wegen seines suizidalen Aspektes zu erwarten wäre. Ein methodischer Zugang ist u. a. die Überprüfung der Ähnlichkeiten aufeinander folgender Amokläufe („Imitation“),35 dafür lassen sich Hinweise z. B. durch ein Cluster von drei Panzer-Amokfahrten in Deutschland, Häufungen von Granaten-Amok in Laos und häufige „Imitationen“ bei School Shootern finden. Das besagt letztlich aber nur, dass das „Wie“ imitiert wird; ob damit eine echte Zunahme verbunden ist, ist offen. Armin Schmidtke, Sylvia Schaller, Ingrid Müller, David Lester und Steven Stack versuchten, Ansteckungseffekte durch Triggern der Taten durch vorausgehende Amokläufe statistisch zu belegen. Ihr positives Ergebnis ist u. a. problematisch,36 weil sie Fälle unsystematisch sammeln.37 Einen ähnlichen Nachweis versucht auch Robertz bei School Shootern in Nachfolge der Tragödie an der Colombine High School (2.4.1999. Eric H., Dylan K., 13 Tote, 24 Verletzte).38 Von seinen Nachfolge-Fällen erfüllt – soweit nachvollziehbar – nur einer die Kriterien eines Amoks, ist aber kein School Shooting. Werden Imitationstäter, die geplante Racheakte gegenüber z. B. einem Lehrer mit einem vorausgehenden School Shooting rationalisieren, oder die häufigen Trittbrettfahrer miterfasst, die angesichts der Taten ihr Geltungsbedürfnis nur durch Drohungen, Imitation von Kleidung oder Verfassen analoger Texte im Internet agieren, hat Amok sicher einen Werther-
35 Vgl. zur Methode Adler, Lothar, „Amok im Spektrum homizidal-suizidaler Handlungen“, in: Wolfersdorf, Manfred/Wedler, Hans (Hrsg.), TerroristenSuizide und Amok. Regensburg: Roderer, 2002, S. 60-72. 36 Schmidtke/Schaller/Müller/Lester/Stack, „Imitation von Amok“, 2002. 37 Vgl. hierzu Adler, „Amok im Spektrum“, 2002. 38 Vgl. Robertz, School Shootings, 2004.
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Effekt; diese Nachfolgetaten sind aber kein Amok oder School Shooting und selten real gefährlich. Die Tatzeit-Motiv-Beziehung ist nur lose. Amok tritt, soweit bekannt, unverändert manchmal vor der auslösenden Belastung (7 %), unmittelbar danach (30 %) und am meisten binnen einiger Tage (33 %) auf. Taten im Abstand von Monaten (6 %) oder Jahren (4 %) sind konstant selten. Im Tatvorfeld fielen fast alle deutschen School Shooter anderen als bedrohlich auf oder sollen von ihrer Absicht („leakage“) gesprochen haben, zum Teil fanden sich Ankündigungen der Tat über viele Monate bis zu 1-2 Jahren im Internet. Eingehend bekannte Kasuistiken wie die des Hauptlehrers Wagner zeigen, dass es um z. T. jahrelange Entwicklungen gehen kann. Insofern ist die Suche nach dem Motiv öfter die Suche nach dem „letzten Tropfen“, der das Fass zum Überlaufen bringt, ohne dass dieser Tropfen ein besonderer sein muss. Zudem ist bei vielen Amokläufen wohl eher das subjektiv-krankhafte Erleben von Belastungen entscheidend, so dass insgesamt die geringe Bedeutung der erfassbaren Motive nicht verwundert. Psychische Störungen Psychiatrische Untersuchungen zum Amok im malaiisch-südostasiatischen Raum zeigten, dass psychische Störungen zwar überrepräsentiert sind, das Spektrum aber von Psychosen als Hirnfunktionsstörungen bis zu akzentuierten Persönlichkeiten reicht. Unsere Totalerhebung bestätigt dies. Oft sind diagnostische Einschätzungen der Täterpersönlichkeit möglich (83 %). In der Reihung unverändert häufig, aber im Trend zunehmend, überwiegen Hinweise für schizophrene und/oder nahestehende Psychosen (18/15/27 %), gefolgt von Persönlichkeitsstörungen inkl. Wahnstörungen (12/15/30 %), Alkohol- (16/11/16 %) und Drogenintoxikationen (2/6/5 %) sowie Affekttaten (12/4/18 %). Abnehmend häufig sind Amokläufer ausdrücklich unauffällig (14/6/5 %). In der ersten Studie39 kamen bei weiterer Amokdefinition noch vermutlich depressive Störungen bei Familiendramen hinzu (15 %). Peter und Bogerts fanden 2012 als Vorerkrankungen bei 27 überlebenden und begutachteten Amokläufern, dass 29,6 % der Personen Depressionen und Ängste, 22,42 % eine Schizophrenie, 14,8 % ein Alkohol- und 3,7 %
39 Vgl. Adler, Amok, 2000.
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Drogenprobleme hatten.40 Diese Angaben bestätigen auf Gutachten-Basis unsere nur aus Presseberichten abgeleiteten Diagnosen. Ein ähnliches Spektrum und vergleichbare Häufigkeiten fanden wir bei den südostasiatischen Amokläufern, wenn man die Fälle der kleineren Studien addiert.41 Bei genauerer Kenntnis der Person – meist bei herausragenden Taten – korrigiert sich die Diagnose Persönlichkeitsstörung wie bei Hauptlehrer Wagner öfter in Richtung wahnhafter Störungen oder Psychose. Bei Fällen ohne jede sich bestätigende Auffälligkeit wird man in Übereinstimmung mit Peter und Bogerts an Vorstadien einer Schizophrenie denken müssen, die auch sonst bei unmotivierten Tötungsdelikten eine erhebliche Rolle spielen. Tatausgang für den Amokläufer Der Ausgang der Tat für den Täter bei den deutschen Amokläufern entspricht den internationalen Daten, 31 % sterben, wobei sie sich im Wesentlichen selber richten (n=13/19/20) und selten von Polizeibeamten erschossen (n= 3/1/4) werden. Die Schwere des vorausgehenden Angriffs ist ein Prädiktor dafür, ob der Täter am Ende stirbt. Suizidenten sind im Mittel ca. 40 Jahre alt und begehen die gefährlichsten Amokläufe. Dazu kontrastieren in der 3. Dekade sechs Amokkriterien erfüllende School Shooter, die sehr jung und sehr gefährlich waren und ausnahmslos sterben. Suizidversuchende Amokläufer oder Selbststeller kontrastierten deutlich damit; sie töten nur ausnahmsweise, sind ca. 25 Jahre alt und oft intoxikiert. Insofern bedarf es besonders zurückhaltender Interpretation, wenn von überlebenden Tätern,42 Gruppen mit geringer Gewaltanwendung oder auch nur Gewaltphantasien auf Amokläufer bei tödlich verlaufenden Amok geschlossen werden soll. Amokläufertypen Diese Ergebnisse machen klar, dass es weder den malaiischen noch den westlich akkulturierten Amokläufer gibt, aber das Spektrum der auslösenden Ursachen, der Persönlichkeitsauffälligkeiten, psychischer Erkrankungen, Gefährlichkeit, Altersverteilung und Ausgang für den Täter – um nur
40 Vgl. Peter/Bogerts, „Epidemologie und Psychopathologie“, 2012. 41 Vgl. Adler, Amok, 2000. 42 Vgl. Peter/Bogerts, „Epidemologie und Psychopathologie“, 2012.
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einige wesentliche Aspekte zu benennen – letztlich international sehr ähnlich und über 30 Jahre in Deutschland auffallend konstant ist. Das hat zu Versuchen geführt, umschriebene Typen herauszuarbeiten und sie innerhalb des Spektrums der Amokläufer abzugrenzen. Man kann sich z. B. am Ort der Amokläufe orientieren (z. B. Schulamok), die Art der Handlung zugrunde legen („Rambo-Killer“, „Autoamokfahrer“), sich am Tatausgang für den Täter orientieren (Überlebende versus im Verlauf sterbende Amokläufer) oder eine klinische Typisierung nach Diagnosen versuchen. In der Regel lassen sich aber keine Eigenschaftsmerkmale finden, die für alle oder wenigstens für die ganz überwiegende Anzahl der Täter innerhalb der Gruppen zutreffen, günstigenfalls sind die Eigenschaften 1/3 zu 2/3 verteilt. Wieder muss man feststellen: den schizophrenen Täter, den Rambo-Killer, den Schulamokläufer und den sterbenden Amokläufer gibt es nicht.
4. H YPOTHESEN Die vielen, weit streuenden Einzeldaten verlangen wohl nach einer Hypothese, die den inneren Zusammenhang zumindest als begründete und nachprüfbare Vermutung herzustellen versucht. Dass es häufig um psychisch kranke Menschen in psychosozialen Belastungen geht ist klar; nicht selten kann bei Psychosen die Störung selbst zur auslösenden Ursache werden. Klar ist, dass dies und keine der hier gefundenen Konstellationen Amok im Sinne umkehrbar eindeutiger Beziehungen kausal erklären kann. Psychische Erkrankungen sind zweifellos weit überrepräsentiert, aber allgemein häufig (Lebenszeiterkrankungswahrscheinlichkeit: 1-2 % Schizophrenie, 1-2 % Manisch-Depressive Psychosen, 15-25 % Monopolare Depressionen, 5-10 % Persönlichkeitsstörungen, 0,1-3 pro Mille Wahnhafte Störungen). Diese Patienten haben oft erhebliche persönliche und soziale Probleme, die sie in lebensverändernde Krisen bringen. Psychische Erkrankungen und damit oft verbundene Krisen sind also sehr häufig, aber Amok ist extrem selten, was auch für das Homizid-Suizid-Spektrum insgesamt gilt. Die Hoffnung ist, dass Amok als Extremtat in diesem Spektrum vielleicht besonders geeignet ist, klare Aussagen zur Frage sinnloser Gewalt zu ermöglichen.
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Spezielle Psychodynamik Amok nimmt im Spektrum homizidal-suizidaler Handlungen eine zentrale Position ein.43 Amok ist in diesem Spektrum die Extremtat, bei der die vom Psychoanalytiker Karl Menninger 1938 formulierte Trias, der Wunsch zu töten, der Wunsch zu sterben, der Wunsch getötet zu werden,44 als allen selbstmörderischen und mörderischen Handlungen gemeinsame Phantasie tatsächlich ausagiert wird. Das idealtypisch phasenhaft verlaufende Amokläufersyndrom hat mit einer Kränkung, Objektverlusten u. ä., nachfolgender Grübelphase und nachfolgendem klaren Tatentschluss große Ähnlichkeit mit dem Ablauf des „präsuizidalen Syndroms“ von Ringel, der „intermittent explosive disorder“ des Diagnostischen und Statistischen Manuals IV von 1996 in Nachfolge der Werthamschen „katathymen Krise“ und dem Ablauf von Affekttaten allgemein. Frederic Ignace Wertham griff dabei auf Vorstellungen zurück, die aus der ersten Begegnung von Psychiatrie und Psychoanalyse stammten.45 Es geht vereinfacht um die von Carl Gustav Jung mit dem Begriff „Komplex“ bezeichneten, emotional intensiv besetzten, zum Teil unbewussten, früh verankerten, entsprechend tiefgreifenden GefühlsVorstellungs-Konstellationen, die, durch assoziative Prozesse mobilisiert, scheinbar persönlichkeitsfremde und irrationale, einem Vulkanausbruch gleichende Handlungen auslösen können. Menninger und andere differenzierten später diese Vorstellungen unter Ich-psychologischen Gesichtspunkten. Verkürzt handelt es sich für Menninger bei der episodic dyscontrol um einen Abwehrmechanismus im Sinne der psychoanalytischen Metapsychologie als Ausdruck einer gestörten narzisstischen Homöostase bei
43 Vgl. hierzu Adler, Lothar, „Amok und School Shooting“, in: Bronisch, Thomas/Sulz, Serge K. D. (Hrsg.), Psychotherapie der Aggression – Keine Angst vor Wut. München: CIP-Medien, 2009, S. 64-85, dort auch weiterführende Literatur. 44 So die Titel dreier Unterkapitel in Menninger, Karl A., Selbstzerstörung. Psychoanalyse des Selbstmordes. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1974. S. 39, 65, 87. 45 Vgl. Wertham, Frederic, „The Catathymic Crisis“, in: Archives of Neurology and Psychiatry 37 (1937), S. 974-978.
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Ich-Funktionsstörung, wobei die begleitende Amnesie bzw. Bewusstseinsstörung Ausdruck der Ich-Desintegration ist. Andere Autoren nähern sich den Borderline-Konzeptionen von O. F. Kernberg an. Gegen diese Abwehrkonzeption ist einzuwenden, dass sie aus den Beobachtungen viel häufigerer und weniger gravierender Taten und Täter aus dem Homizid-Suizid-Spektrum stammen und insofern nicht spezifisch sind; die damit verbundene Diagnose „intermittent explosive disorder“ (nach dem Diagnostischen und statistischen Manual psychischer Störungen, DSM-IV) soll eine Einjahresprävalenz von 3,8 % haben. Um mehr als eine Hypothese kann es nicht gehen; Behandlungen bei Amokläufern wurden meines Wissens nie publiziert. Wenn es um eine spezielle Abwehrform ginge, muss zumindest die Frage der zeitlichen Entwicklung kritisch aufgeworfen werden; um die kurzfristige zusammenbrechende Abwehr unerträglicher Affekte auf dem Hintergrund infantiler Vorerfahrungen allein geht es nicht oder nicht oft. Bei einem kleinen Teil der Täter kann man eine allmähliche Zuspitzung beobachten, die nach Art der klassischen Tragödie unaufhaltsam auf die Katastrophe zutreibt, bis es zur „alienation“46 − Fremder in einer fremden Welt − kommt. Dabei fällt eher die Rigidität auf, die einem Gemisch von Kränkbarkeit, Nicht-Vergessen-Können und Perfektionismus zu entspringen scheint, ohne dass die Belastungen extrem wirken. Sie stauen sich aber quasi auf, weil bei diesen Menschen die Zeit keine Wunden heilt. Spezielle Abwehr-Konzepte wären weiterhin angesichts der Heterogenität der zugrundeliegenden psychiatrischen Störungen nur soweit nachvollziehbar, wie sie auf psychogene Störungen bei Amokläufern zielen. Im Konzept des sensitiven Beziehungswahns als psychogen ausgelöste Psychose fände sich eine Art Übergangsform. Es ist bis heute bei weit besseren Untersuchungsmöglichkeiten nicht gelungen, andere Taten aus dem Homizid-Suizid-Spektrum auf eine einheitliche Psychodynamik zurückzuführen; auch bei ihnen findet sich ein ähnli-
46 Vgl. Arboleda-Florez, Julio, „Amok“, in: Simons, Ronald C./Huges Charles C. (Hrsg.), The Culture Bound Syndromes. Dordrecht u. a.: D. Reidel Publishing Company, 1985, S. 251-262.
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cher Ablauf, aber eben auch ein ähnlich weites Spektrum von Diagnosen und Motiven.47 Soziologische Hypothesen Amok ist vielfältig unter mehr oder minder seriösen soziologischen Gesichtspunkten diskutiert worden. Einige soziologisch-hypothetische Untersuchungen haben eine fatale Tendenz, dem „Wahren und Guten“ zu dienen. Entgegen ethno-soziologisch geprägten Auffassungen ist Amok kein kulturgebundenes Syndrom bei Schamkulturen, sondern tritt mit unterschiedlichen Bezeichnungen in allen westlich akkulturierten und auch älteren Kulturen auf.48 Die Entwurzelungs-Hypothese in Anlehnung an Emile Durkheim ist kaum relevant; die sozialen Verwerfungen der Wende bewirkten keine wesentlichen Veränderungen, auch wenn Hinweise für eine psychosoziale Desintegration der Täter im Vorfeld des Amoks nachzuweisen sind. Unsere Ergebnisse stützen soziologische Entwurzelungshypothesen im Sinne von Durkheim nicht, weil kein Stadt-Land-Gefälle erkennbar ist und es eindeutig nicht um eine niedrig gebildete, „entwurzelte“ Landbevölkerung oder bevorzugt um Migranten geht. Die sozialen Erschütterungen der Wende 1989 hatten kaum Einfluss auf Amokläufe in Deutschland. Sowohl bei Amokläufern als auch School Shootern besteht eher ein hohes Bildungsniveau, andererseits ist der Anteil der Arbeitslosen bei Amokläufern höher als im statistischen Durchschnitt; daraus mag man hohes Anpassungsbemühen und gehäuftes Scheitern ableiten. Ganz sicher ist nämlich, dass es nicht nur um junge Männer geht, sondern um eine breite Altersverteilung mit einem Maximum im mittleren Altersbereich, und dass Frauen, wenn auch selten, ebenfalls Amokläufe begehen können. Der Ursprung des Amok bietet Spielraum für einen anderen, einen teleologisch-soziologischen Ansatz. Der historische Amoklauf war ein gruppengebundenes Verhalten von Männern, die rituell an den König gebunden
47 Vgl. Adler, Lothar, „Amok im Spektrum homizidal-suizidaler Handlungen“, in: Wolfersdorf, Manfred/Wedler, Hans (Hrsg.), Terroristen-Suizide und Amok. Regensburg: Roderer, 2002, S. 60-72; Adler, „Amok und School Shooting“, 2009. 48 Vgl. Adler, Amok, 2000.
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waren und nur dann in Aktion traten, wenn es zu Ehrverletzungen des Volkes, der Region oder des Königs kam. Auch bei Individuen mag es so etwas geben, dass, wenn jemand sich existenziell bedroht oder seiner Würde beraubt sieht, es ein letztes Zurückschlagen gibt, das auch dem Übermächtigen Grenzen setzt. Bei Kindern kann man das recht schön beobachten. Kleinere greifen Größere an, wenn sie sich zu sehr bedrängt und geärgert fühlen; trauen sie sich nicht, werden sie leicht zu Mobbing-Opfern. So gesehen mag Amok einen gewissen sozialen Sinn haben: Sensibilisierung für den Zustand des Einzelnen und Schutz seiner Rechte nicht nur als humane Forderung, sondern auch als Folge der Gefahr, dass der Erniedrigte sonst möglicherweise „ausrastet“ – Amok läuft. Biologische Hypothesen Neurologische Erkrankungen sind für Amok, soweit bekannt, ohne Bedeutung.49 Organische Krankheiten des Gehirns wie Anfallleiden, Hirnschäden durch Malaria- oder Syphiliserreger sollen in Südostasien vorgekommen sein; in westlich akkulturierten Ländern spielen sie als behandelbare Erkrankungen keine Rolle. Hauptlehrer Wagner hatte im Bereich der linken parahypokampalen Rinde, die u. a. für Affektregulation zuständig ist, einen umschriebenen Defekt, Charles Whitman hatte im rechten Mandelkern einen walnussgroßen Tumor. Es geht aber nur um Einzelfälle; bei keinem Fall sonst wurden hirnpathologische Abweichungen mitgeteilt.
49 Vgl. Adler, Lothar, „Neurogenese des Amok“, in: Müller, Jürgen (Hrsg.), Neurobiologie forensisch-relevanter Störungen. Stuttgart: Kohlhammer, 2010, S. 222-230.
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*nach Ringel **nach Wertham
Orientierender Vergleich epidemiologischer, klinischer und biologischer Parameter
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Synopse: Amok im Homizid-Suizid-Spektrum
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Die einzelnen Ergebnisse und Teilbestätigungen von Hypothesen und die zumindest wahrscheinliche Annahme einer in etwa weltweit gleichen Häufigkeit wirft die Frage nach einem weiteren wichtigen Faktor auf, der offenbar nicht unmittelbar beobachtbar ist. In der Synopse (siehe S. 41) ist das Homizid-Suizid-Spektrum bzgl. orientierender Eckdaten dargestellt. Es fällt auf, dass im Spektrum zwischen Suizidversuch, erweitertem Suizid, Amok, Totschlag-Delikten („domestic murder“) und „Mord aus niedrigen Motiven“ interessante Beziehungen bestehen. Ein Hinweis auf genetische Aspekte liefert die Tatsache, dass Handlungen aus dem Kern des HomizidSuizid-Spektrums (Erweiterter Selbstmord, Totschlag im häuslichen Milieu) im Wesentlichen kulturunabhängig etwa gleichbleibende Häufigkeiten aufzuweisen scheinen. Am besten ist dies belegt für den erweiterten Suizid und Tötungen im häuslichen Milieu. Die Einjahresprävalenz für erweiterten Suizid liegt offenbar bei 0,2-0,3/100000,50 ein Zehntel davon sind Mehrfachtötungen: Sie bilden so etwas wie den Rahmen für die Häufigkeit des Amok (0,02-0,03/100 000 Einwohner/Jahr). Tötungen von Intimpartnern im häuslichen Milieu mit nachfolgender hoher Suizidalität haben ebenfalls eine recht konstante Einjahresprävalenz um 0,5/100 000. Auch bei Amok scheint sie weltweit konstant zu sein, wenngleich die Datenlage unbefriedigend und nur für Deutschland für dreißig Jahre gesichert ist. Insgesamt ist dies als ein Hinweis auf eine genetische Komponente des Homizid-SuizidSpektrums und auch für Amok und School Shooting zu werten. Sieht man sich den Ablauf des Amoks „klinisch“ an, so ist der vierphasige Ablauf eigentlich nichts Besonderes und ähnelt sehr dem präsuizidalen Syndrom nach Erwin Ringel oder der Catathymic-Crisis von Wertham (1937), die wohl beide auf die Jungsche Komplexreaktion zurückgehen. Auch das Spektrum der typischen Diagnosen nach der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD 10) ist auffallend ähnlich. Der entscheidende biologische Befund mag sein, dass Impulskontrollstörungen unabhängig von der Richtung – hetero- oder autoaggressiv – proportional mit einer statistisch bedeutsamen Absenkung des Abbauprodukts des Serotonins, der 5-Hydroxyindolessigsäure im Hirnwasser verbunden sind.
50 Vgl. Coid Jeremy, „The epidemiology of abnormal homicide and murder followed by suicide“, in: Psychological Medicine 13 (1983), S. 855-860; Adler, „Neurogenese des Amok“, 2010.
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Hirnaktivität wird von Nervenzelle zu Nervenzelle durch so genannte Neurotransmitter vermittelt. Dopamin ist ein Glückshormon, Noradrenalin aktiviert und Azetylcholin ist für Ruhe wichtig – so weiß die Laienpresse. Serotonin, ein weiterer dieser Überträgerstoffe, wird wissenschaftlich die Funktion eines übergeordneten Puffers für alle Affekte zugesprochen. Verminderte Aktivität des Neurotransmitters Serotonin soll eine einheitliche Ursache für Impulssteuerungsstörungen sein, die diagnoseunabhängig ist und einen „trait“ sowohl bei schwerwiegenden Fremd- als auch bei Eigenaggression darstellt. Zunächst wurden direkt niedrige Serotoninspiegel im Gehirn von Suizidenten gemessen, heute werden 5-Hydroxyindolessigsäure-Spiegel (=5-HIES) als Abbauprodukt des Serotonins gemessen, was Untersuchungen an Lebenden ermöglicht. 5-HIES im Liquor korreliert negativ mit höherer Ausprägung von auto- und heteroaggressivem Verhalten und Impulskontrollverlusten, aber auch mit Rigidität und anderen hier gehäuft gefundenen Eigenschaften. Konkret wurden aber nur vereinzelt Untersuchungen bei Verursachern von an Amok angrenzenden Taten durchgeführt, in Bezug auf Amok und School Shooting selbst bisher keine. Genetische, aber auch frühe Umweltfaktoren (Bindungsstörungen) scheinen für die Ausbildung des serotonergen Systems verantwortlich.51 Ein konkretes Argument für einen „trait“ wäre hier, dass sich alle genannten Persönlichkeitseigenschaften bei allen Diagnosen wiederfinden. Wenn man sie auf der Grundlage eingehend bekannter Fälle und der Literatur interpretierend ordnet, kann man vieles um die Pole rigid/impulsiv, passiv/aggressiv und defensiv/narzisstisch ordnen. Diese Eigenschaften werden in der Amokliteratur bisher mit Diagnosen, mit kulturellen Denk- und Erziehungsstilen in Verbindung gebracht.52 Denkbar wäre eine andere Interpretation, nämlich dass sie teilweise Manifestationen des „trait“ eines Serotoninmangelsyndroms sind. – Amok könnte als exemplarische Tat im Homizid-Suizid-Spektrum verstanden werden, bei der psychische Störungen und die sich daraus ergebenden sozialen Konflikte deshalb die Schwelle der ubiquitären Phantasie „auszurasten“ überschreiten, weil eine defizitäre Affektverarbeitung und -steuerung im Rahmen eines Serotoninmangelsyndroms vorliegt. Deren alltägliche Auswirkung bildete bereits als „trait“ die Grundlage für die Fehlanpassung. Die Ursache der Fehlanpassung wäre
51 Vgl. Adler, Amok, 2000; Adler, „Neurogenese des Amok“, 2010. 52 Vgl. Adler, Amok, 2000.
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gleichzeitig auch der Grund für den letzten Kontrollverlust. Künftige genetische Untersuchungen und solche mit bildgebenden Verfahren werden diese Fragestellung zu beantworten haben, die möglicherweise über die klinische Relevanz des Serotoninmangelsyndroms entscheidet: Wenn nicht bei Amokläufern, bei wem sonst sollten die Befunde eindeutig sein? Behandlung Konkrete Behandlungen von Amokläufern vor und nach der Tat sind nicht bekannt. Die Tatsache der Vorbehandlungen von Tätern ist nur vereinzelt bekannt geworden; klar ist, dass sie gescheitert sind. An sich ist auch die Behandlung nach dem Amok ein Thema, weil zumindest die überlebenden jugendlichen Täter irgendwann entlassen werden. Die Frage der Wirksamkeit wird aber offen bleiben; mir ist nur ein Fall aus Südostasien bekannt, bei dem ein Mann zweimal Amok lief. Aus den 1970er Jahren liegen Behandlungsberichte von Patienten vor, die unter der Befürchtung litten, Amok laufen zu müssen. Diagnostisch gehen diese Autoren u. a. von Borderline-Persönlichkeitsstörungen aus, im Übrigen fanden sich die bekannten Konstellationen wie relative Ich-Schwäche, unsichere männliche Identifikation, Introversion und Neigung zum aggressiven acting-out wieder. Aus gruppentherapeutischen Behandlungen wurde berichtet, dass diese Patienten Ängste haben, Gefühle zu äußern und einem rigiden männlichen Ideal nachstreben, Befunde also, die auch bei Amokläufern beschrieben werden. Neuere Metaanalysen zeigen bei Behandlungen von Patienten mit aggressiven Impulskontrollverlusten einen üblichen Therapieerfolg mit 2/3 Besserung durch kognitive Verhaltenstherapie. Insgesamt bleibt aber offen, ob solche Therapien auch Amokläufer erreichen könnten, weil es um die Behandlung minderschwerer Fälle geht. Für die meisten Amokläufer mit psychiatrischen Diagnosen wie Schizophrenie, Depressionen oder Suchterkrankungen stünden natürlich die erfolgreichen Behandlungsansätze der Psychiatrie zur Verfügung – wenn sie sich denn in Behandlung begeben würden. Das ist eher selten der Fall und vermutlich Ausdruck und Folge der Stigmatisierung psychischer Krankheiten. Für erwachsene Amokläufer wäre die Aufhebung des Stigmas wohl die beste Vorbeugung. Dass damit auch geleichzeitig sehr viel mehr Leid verhindert werden würde, scheint noch wesentlicher. Die Auflösung des Stig-
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mas „psychische Krankheit“ ist ein Prozess, der noch lange Zeit in Anspruch nehmen wird. Diese grundsätzlichen Probleme gelten auch für School Shooter, bei denen aber jugendtypisches Kontaktverhalten und ein umschriebener Ort andere Möglichkeiten der Prävention im Sinne der Risikoeinschätzung eröffnet. Auch bei School Shootern ist es trotz intensiver Bemühungen nicht gelungen, so etwas wie ein „Profiling“ wirksam zu generieren. Schulen haben aber, anders als das oft unstrukturierte oder zufällige Umfeld von erwachsenen Amokläufern, spezielle Chancen, rechtzeitig gezielt zur reagieren. Als Institution kann sie sich mit speziellem Krisenmanagement, Evakuierungsplänen etc. vorbereiten.53 Fast regelmäßig nehmen vor School Shooting nahestehende Mitschüler irgendein Gefühl von Bedrohung oder spezielle Androhungen durch den Täter wahr. Möglicherweise altersbedingt neigen School Shooter häufig dazu, ihre Pläne offen zu kommunizieren. Erreichen die Schulleitung solche Pläne oder Mitteilungen über bedrohliche Veränderungen eines Schülers, kann in einem ersten orientierenden Schritt untersucht werden, ob sich der Jugendliche in einer selbst- oder fremdgefährdenden Situation mit subjektiver Aussichtslosigkeit befindet. Zentral ist immer eine Beurteilung des realen Bedrohungsgehaltes. „Substantielle Drohungen“ gegenüber anderen enthalten oft spezielle Detaillierungen, wie Tattag, wiederholte Drohungen und konkrete Ausgestaltung in der Phantasie (welche Waffe, welche Todesart etc.). Je konkreter die Homizid- und/oder Suizid-Phantasien oder konfrontativer oder einschüchternder die Äußerungen von Gewaltanwendungen gegen andere sind, desto ernster ist die Gefahr. Bedeutsam ist auch die extreme Verehrung realer oder fiktiver Gewalttäter (insbesondere von School Shootern). Wichtig ist, wie stark der Jugendliche interaktiv in eine Gruppe Gleichgesinnter (auch via Internet) einbezogen ist, die sich im Sinne eines selbstverstärkenden Regelkreises gegenseitig „aufschaukeln“ und enthemmen – bislang eine Besonderheit bei Jugendlichen. Liegen „substantielle Drohungen“ vor, wird man kaum umhin kommen, die Polizei einzuschalten, um die weitere Aufklärung gesichert vornehmen zu können. „Flüchtige Drohungen“ gehören zur Kommunikation zwischen Jugendlichen. Mit etwas Abstand distanzieren sich die Jugendlichen davon, können sich entschuldigen etc. Bei ihnen sind zumeist protektive Faktoren, wie
53 Siehe hierzu den Beitrag von Neumair/Schmidbauer in diesem Band.
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stabile Beziehungen zu einer Freundin, zu Freunden oder Erziehern, bedeutsame Hobbys und schulische Erfolge wirksam. Geht es „nur“ um solche sehr viel wahrscheinlicheren Krisen mit noch deutlichen kompensatorischen Möglichkeiten, ist es zentral, mit den Jugendlichen ins Gespräch zu kommen, die Eltern zu kontaktieren u. ä. Ziel ist es, den sich anbahnenden negativen Entwicklungsprozess der sich selbst verstärkenden „Grübelphase“ zu unterbrechen. Dabei ist die Anbahnung einer Umorientierung das, was Schule leisten kann; öfter ist das Hilfesystem einzuschalten. Der 16-jährige School Shooter Luke Woodham (1.10.1997) antwortete auf die Frage nach seinem Motiv: „The world has wronged me“ und auf die Frage, was er Erwachsenen empfehlen würde, um künftige Taten zu verhindern: „I think they should try to bond more with their students… Talk to them... Just have some kind of relationship with them.“
5. Z USAMMENFASSUNG Der heutige Kenntnisstand über Erwachsenenamok lässt Konturen erkennen, wie sie im Homizid-Suizid-Spektrum auf viel breiterer Basis gesichert worden sind. Individueller Amok scheint ein zu allen Zeiten und in allen Kulturen vorkommendes Extremverhalten zu sein, bei dem psychische Probleme bis hin zu umschriebenen psychiatrischen Krankheiten mit den damit oft einhergehenden psychosozialen Problemen deutlich überrepräsentiert sind, ohne dass sie umkehrbar eindeutig Amok und amokähnliches Verhalten erklären könnten. Psychische Krankheiten und kulturelle Stile wirken formend auf den Amoklauf. Die Taten werden ganz überwiegend von Männern begangen, die im Mittel um 35 Jahre alt sind; das Altersspektrum reicht aber von pubertären Jungen bis zu Greisen. So wenig wie es den Amokläufer gibt, so wenig scheint es die Ursache dafür zu geben, was auch für andere Taten aus dem Homizid-SuizidSpektrum gilt. Bei dem nicht psychotisch kranken Täter könnten Störungen der Affektabwehr bestehen, die in Bezug zu den psychoanalytischen „Komplex-Reaktionen“ gestellt wurden und heute eher mit Impulskontrollstörungen bei Ich-Schwäche begründet werden. Weit streuende soziologische Hypothesen können nur begrenzt bestätigt werden. Die weltweit etwa gleich häufigen 1-Jahres-Prävalenzen des Homizid-Suizid-Spektrums bei erweitertem Selbstmord, Amok und Tötungen von Intimpartnern machen
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wahrscheinlich, dass genetische Ursachen eine Rolle spielen. Eine biologische Ursache könnte das Serotoninmangelsyndrom sein; die Hypothese wäre zu falsifizieren. Derzeit beschäftigt sich die Forschung allerdings zunehmend mit den Folgen der Taten für die Opfer und deren Prävention.
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Anmerkungen zum Schulmassaker aus kriminologischer Sicht H ENNING E RNST M ÜLLER
1. Z UR B EZEICHNUNG
DES
P HÄNOMENS
In der Alltagssprache steht das Wort „Amok“ für alle Taten, bei denen ein Täter in unmittelbarer Folge wahllos viele Menschen tötet oder versucht zu töten. Da das Wort in der Umgangssprache klangvoll ist – das gilt für Sensationsberichterstattung wie für Literatur –, tendiert man dazu, viele Phänomene, die gewisse äußere Ähnlichkeiten aufweisen, unter „Amok“ einzuordnen. Für eine kriminologische Betrachtungsweise mit dem Ziel, Phänomene entlang tatsächlicher Grenzen zu klassifizieren, ihre Ursachen zu erforschen und Präventionsansätze aufzuzeigen, kann aber eine solche Grobeinteilung in Amok/Nicht-Amok eher hinderlich oder sogar irreführend sein. Das in der öffentlichen Diskussion hauptsächlich so benannte Phänomen „Amoklauf an Schulen“ weist zwar Überschneidungen mit Beschreibungen in der Amokforschung auf, jedoch erscheinen die Spezifika dieses Phänomens bedeutsamer. Die sprachliche Herkunft des Worts „Amok“ (aus dem malaiischen für „wütend, rasend“) ist für das Verständnis der hier besprochenen Ereignisse an Ausbildungsstätten unpassend. Liest man Arbeiten zu diesem Thema, so beginnen diese oft mit einer Etymologie des Wor-
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tes „Amok“1 und müssen dann betonen, dass beim untersuchten Phänomen an Schulen eben die durch das Wort implizierten Merkmale nicht im Vordergrund stehen. Der so veranlasste Distanzierungsdiskurs2 soll hier nicht wiederholt, sondern ein anderes Wort verwendet werden. Die englischsprachige wissenschaftliche Diskussion – durch häufigere Taten in den USA und Kanada veranlasst – kennt das Wort der „School Shootings“3, begrifflich sind dann allerdings jegliche Schießereien an Schulen – etwa unter Gangs – oder auch gezielte Einzeltötungen eingeschlossen und zugleich andere Waffengattungen ausgeschlossen. Um Ersteres zu präzisieren wird nun häufiger von „rampage school shootings“4 geschrieben. Andere Waffen werden durch die Bezeichnung „school killing spree“5 erfasst, allerdings ist das Wort „spree“ (primäre Übersetzung ist „Orgie, Spaß, Trinkgelage“) wieder mit rauschhaftem Vorgehen konnotiert und damit Teil einer Ursachenbenennung, die ja erst geleistet werden soll. Eine neutrale und kriminologisch auch angemessene, jedoch phänomenologisch etwas unspezifische Bezeichnung ist „Mehrfachtötungen mit unklarem Motiv“6. Doch kaum jemand in der Öffentlichkeit assoziiert hier spontan die verhandelten Fälle. Ich plädiere deshalb für die Bezeichnung „Schulmassaker“, die weder verharmlosend klingt, noch phänomenologische Einschränkungen mit sich bringt. Das Wort kann deshalb auch in einem nicht-wissenschaftlichen Kontext gebraucht werden, beschränkt sich nicht auf Schusswaffengebrauch und man assoziiert unproblematisch den sonst so genannten Amoklauf an Schulen bzw. Ausbildungsstätten.
1
Bergmann, Christian, Drohungen junger Täter mit einem Amoklauf – eine kriminologische Analyse zur Beurteilung von Gefahrenlagen. Hamburg: Kovač, 2012, S. 5 f.
2
Vgl. Robertz, Frank J., School Shootings. Über die Relevanz der Phantasie für die Begehung von Mehrfachtötungen durch Jugendliche. Frankfurt a. M.: Verlag für Polizeiwissenschaft, 2004, S. 17 ff.
3 4
Vgl. ebd., S. 19. Vgl. Rocque, Michael, „Exploring school rampage shootings: research, theory, and policy“, in: The Social Science Journal 49, 3 (2012), S. 304-313, hier 304 f.
5
Vgl. Robertz, School Shootings, S. 17.
6
Bannenberg, Britta, Amok – Ursachen erkennen – Warnsignale verstehen – Katastrophen verhindern. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2010, S. 28.
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2. Z UR P HÄNOMENOLOGIE a) Prävalenz Entgegen dem durch die oftmals schweren Folgen erregten öffentlichen Interesse handelt es sich beim Schulmassaker um ein sehr seltenes Phänomen. Um überhaupt auf eine Anzahl von Ereignissen zu kommen, die eine kriminologische Beschreibung sinnvoll machen, muss man viele Jahre und mehrere Weltregionen einbeziehen. Als erstes Schulmassaker in dem hier verhandelten phänomenologischen Bezug wird regelmäßig ein Ereignis aus dem Jahr 1974 in Olean im US-Bundesstaat New York genannt.7 Seither ereigneten sich weltweit etwa 100 Schulmassaker (ca. 3 pro Jahr),8 ca. 2/3 davon seit 1999. So kommt man von 1974 bis 1999 weltweit auf 1,5 Fälle pro Jahr, von 1999 bis 2009 weltweit auf ca. 6 pro Jahr. In den einschlägigen Untersuchungen ergeben sich allein in den USA drei Fälle pro Jahr seit 1999, allerdings schon seit 2002 mit etwas rückläufiger Tendenz.9 In Deutschland lässt sich seit 1999 weniger als ein Fall pro Jahr nennen. Das bedeutet eine Ereignisrate von weniger als 0,02 pro 100.000 männlicher Jugendlicher im relevanten Alter zwischen 15 und 19 Jahren. Zum Vergleich: Einen erfolgreichen Suizid begehen ca. 6,6 pro 100.000 männlicher Jugendlicher dieser Altersgruppe,10 das ist die 325-fache Anzahl. Im April 1999 fand an der Columbine High School in Littleton, Alabama, ein Schulmassaker statt, das eine enorme weltweite Aufmerksamkeit erreichte. In Deutschland kann dieses Ereignis als Auslöser für eine Reihe von Massakern vermutet werden, da sich die Mehrzahl der Täter explizit darauf bezogen hat oder ihren Taten eine verstärkte Beschäftigung mit dem Schulmassaker an der Columbine High vorausging.
7
Vgl. Robertz, Frank J./Wickenhäuser, Ruben, Der Riss in der Tafel – Amoklauf und schwere Gewalt in der Schule. Heidelberg: Springer Medizin, 2007, S. 13. Allerdings finden sich vereinzelt auch frühere Schulmassaker.
8
Vgl. ebd.
9
Ebd., S. 15.
10 Für 2012; Datenquelle: Statistisches Bundesamt; nach Berechnungen von Georg Fiedler: „Suizide in Deutschland 2012“, in: http://suizidpraevention.wordpress. com/suizide-in-deutschland-2012 (2.9.2014).
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Die nachhaltige weltweite Bekanntheit des Geschehens an der Columbine High School verlief parallel zur Entstehung und Verbreitung des Internet als Massenmedium. Hinsichtlich der Entwicklung dieser Verbreitung bei den 14- bis 19-Jährigen markiert der Anfang der 2000er Jahre zugleich einen etwa hälftigen Verbreitungsgrad, der sich bis 2003 auf etwa 90 % gesteigert hat.11 Das Internet ist in etwa seit 2005 bei jungen Menschen weiter verbreitet als das Fernsehen. Diese Beobachtung gilt noch völlig unabhängig vom Netzzugang über das ständig verfügbare Smartphone in den letzten drei Jahren (64 % der Jugendlichen nutzten Ende 2013 einen mobilen Internetzugang).12 Das Ereignis „Schulmassaker“ an der Columbine High School kann im Internet recherchiert werden – dort sind die Originalvideos der Überwachungskameras, Augenzeugenberichte, aber auch eine Menge weiterer Informationen und Kommentare zusammengetragen worden: Filme und Lesestoff für viele Stunden. Zusammen mit der vorgetragenen „Coolness“, mit der die Täter ihre Taten ausführten, bot diese „Geschichte“ einen hohen Reiz zur Identifikation und Nachahmung und bietet ihn möglicherweise immer noch. b) Phänomenologie der Ereignisse Für die Feststellung von Gemeinsamkeiten verschiedener Taten und um einen Typus „Schulmassaker“ beschreiben zu können, sollte man eine Vielzahl von Taten betrachten, was nur gelingt, wenn die Taten in den USA berücksichtigt werden. Zwar gibt es erhebliche Unterschiede zwischen den USA und Deutschland, insbesondere im Schul- und Ausbildungssystem und in der Verbreitung und Bedeutung kultureller Symbole wie die des Sports und der populären Musik- und Filmangebote. Aber in den letzten fünfzehn Jahren, von denen hier die Rede ist, haben sich kulturelle Unterschiede zwischen Nordamerika und Europa weiter erheblich vermindert. Trotz noch vorhandener Unterschiede überwiegen mittlerweile die Über-
11 ARD/ZDF (Hrsg.), Online-Studie „Onlinenutzung, Internetnutzer 1997 – 2013“, in: http://www.ard-zdf-onlinestudie.de/index.php?id=421 (2.9.2014). 12 ARD/ZDF (Hrsg.), Online-Studie „Mobile Nutzung, Mobile Internetnutzung 2009 – 2013“, in: http://www.ard-zdf-onlinestudie.de/index.php?id=426 (2.9.2014).
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einstimmungen zwischen deutschen und amerikanischen Lebensweisen und Interessen junger Menschen; die verbleibenden Differenzen sind zu vernachlässigen. Es ergeben sich für Schulmassaker folgende phänomenologische Übereinstimmungen, die zumindest häufig in den entsprechenden Ereignissen beobachtet wurden: Zur Begehung wird die eigene (frühere) Schule oder Ausbildungsstätte als Tatort ausgewählt.13 Dieser befindet sich meist in Klein- oder Mittelstädten, selten in Metropolen, nicht an „sozialen Brennpunkten“.14 Es liegt eine langfristige, teilweise minutiöse Planung vor, es handelt sich nicht um eine spontan „ausbrechende“ Aktion.15 Die Täterperson rüstet sich meist mit mehreren Waffen, hauptsächlich mit Schusswaffen oder selbstgebauten Sprengsätzen aus, teilweise auch mit Messern und Schwertern.16 Die Tat wird oft in dunkler Kleidung, Tarnkleidung und bzw. oder Maskierung ausgeführt.17 Die Tat wird in äußerlich ruhiger und konzentrierter Art begangen, es findet kein unkontrollierter Wahnakt statt.18 Teilweise werden vorab zwar gezielt bestimmte Opfer aufgezeichnet („Todeslisten“), meist jedoch Opfer am Tatort relativ wahllos angegriffen, wobei aber eine gewisse Fokussierung auf weibliche Personen zu beobachten ist.19 Es findet sich eine Orientierung an einem „Skript“ in Nachahmung früherer Massaker oder
13 Vgl. Bannenberg, Amok – Ursachen erkennen, S. 61. 14 Vgl. Faust, Benjamin, School-Shooting. Jugendliche Amokläufer zwischen Anpassung und Exklusion. Gießen: Psychosozial-Verlag, 2010, S. 75. 15 Vgl. Bannenberg, Amok – Ursachen erkennen, S. 128 ff.; Scheithauer, Herbert/Bondü, Rebecca, Amoklauf – Wissen was stimmt. Freiburg i. Brsg.: Herder, 2008, S. 63 f. 16 Vgl. Robertz/Wickenhäuser, Der Riss in der Tafel, S. 21 f. 17 Vgl. Bannenberg, Amok - Ursachen erkennen, S. 90 f. 18 Vgl. Hoffmann, Jens/Roshdi, Karoline/Robertz, Frank, „Zielgerichtete schwere Gewalt und Amok an Schulen. Eine empirische Studie zur Prävention schwerer Gewalttaten“, in: Kriminalistik 63, 4 (2009), S. 196 ff., hier 196, 198. 19 Vgl. Bergmann, Drohungen junger Täter, S. 247; Bondü, Rebecca, School Shootings in Deutschland: Internationaler Vergleich, Warnsignale, Risikofaktoren, Entwicklungsverläufe. Berlin: Freie Universität (Dissertation, pdf-Datei von FUDISS_thesis_000000 037683), 2012, S. 94; dort auch weitere Nachweise.
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Filmvorbilder.20 In 80-90 % der Fälle lässt sich – retrospektiv – ein vorheriges leaking etwa gegenüber Mitschülern oder Geschwistern feststellen, also eine Ankündigung, Androhung bzw. ein Hinweis auf die geplante Tat.21 Unmittelbar vor der Tat findet sich als „Auslöser“ häufig ein persönlicher Statusverlust (Entlassung, Prüfungsversagen, Respektverlust).22 Häufig hinterlässt der Täter auch Nachrichten an die „Nachwelt“ (Videos, Briefe, tagebuchähnliche Aufzeichnungen).23 c) Phänomenologie der Täterpersonen Hinsichtlich der Täterpersonen lässt sich Folgendes feststellen: Zu 96 % sind sie männlich,24 der Mittelschicht angehörig, in den USA überwiegend weiße Vorstadtjugendliche. In Deutschland sind sie meist Besucher der mittleren oder höheren Schulformen, erzielten dort aber eher schwache Noten.25 Die Täterpersonen sind nicht vorbestraft und auch nicht als aggressive bzw. problematische Schüler bekannt.26 Vor der Tat sind sie weder positiv noch negativ besonders auffällig („invisible kid“27). Häufig, in etwa 70 % der Fälle, handelt es sich um Einzelgänger bzw. „failed joiner“, also
20 Vgl. Scheithauer/Bondü, Amoklauf - Wissen was stimmt, S. 55 f. 21 Vgl. Bannenberg, Amok – Ursachen erkennen, S. 93; Vossekuil, Bryan/Fein, Robert A./Reddy, Marisa/Borum, Randy/Modzeleski, William, The final report and findings of the Safe School Initiative: Implications for the prevention of school attacks in the United States. Washington: U.S. Secret Service and U.S. Department of Education, 2002, S. 25; zum Begriff vgl. auch Scheithauer/Bondü, Amoklauf – Wissen was stimmt, S. 67 ff. 22 Vgl. Bergmann, Drohungen junger Täter, S. 45 f. 23 Vgl. Robertz/Wickenhäuser, Der Riss in der Tafel, S. 103. 24 Vgl. Robertz, School Shootings, S. 62 ff. 25 Vgl. Bannenberg, Amok – Ursachen erkennen, S. 80. 26 Vgl. Pollmann, Elsa, Tatort Schule. Wenn Jugendliche Amok laufen. Marburg: Tectum, 2008, S. 75. 27 Vgl. Hoffmann, Jens, „Tödliche Verzweiflung – der Weg zu zielgerichteten Gewalttaten an Schulen“, in: Hoffmann, Jens/Wondrak, Isabel (Hrsg.), Amok und zielgerichtete Gewalt an Schulen. Früherkennung/Risikomanagement/Kriseneinsatz/Nachbetreuung. Frankfurt a. M.: Verlag für Polizeiwissenschaft, 2007, S. 28.
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Jugendliche, denen die Aufnahme in eine festere Gruppierung von Gleichaltrigen nicht gelungen ist.28 Häufig handelt es sich um als schüchtern beschriebene Personen, die Ablehnung durch das weibliche Geschlecht erfahren haben oder die sich in die Isolation zurückgezogen haben.29 Sehr häufig handelt es sich um Waffenliebhaber mit erleichtertem Schusswaffenzugang, z. B. durch waffenbesitzende Eltern oder die Mitgliedschaft im Schützenverein.30 Vor der Tat haben sie sich häufig intensiv mit früheren Schulmassakerfällen beschäftigt, etwa in Internetforen.31 In der Freizeit findet sich oft eine intensive Beschäftigung mit gewalthaltigen Computerspielen (insbesondere First-Person-Shooter-Spiele).32 Häufig zeigt sich auch darüber hinaus eine Faszination für Gewalt, Krieg und Söldnertum.33 Retrospektiv ergeben sich Berichte über erhöhte Kränkbarkeit, Hass- und Rachephantasien und Grandiositätsgefühle34 und damit Anzeichen für eine narzisstische Persönlichkeitsstörung bzw. depressive Neigungen.35 Regelmäßig wird der eigene Tod als Tatfolge eingeplant, teilweise wird Suizid im unmittelbaren Anschluss an die Tatausführung begangen oder ist sogar explizit beabsichtigt.36
28 Vgl. Bannenberg, Amok – Ursachen erkennen, S. 97. 29 Vgl. ebd., S.13. 30 Vgl. ebd. S. 85 f.; vgl. auch Verlinden, Stephanie/Hersen, Michel/Thomas, Jay, „Risk Factors in School Shootings“, in: Clinical Psychology Review 20, 1 (2000), S. 3-56, hier 45. 31 Vgl. Scheithauer/Bondü, Amoklauf – Wissen was stimmt, S. 53. 32 Vgl. Bannenberg, Amok – Ursachen erkennen, S. 98 33 Vgl. Bergmann, Drohungen junger Täter, S. 285. 34 Vgl. Bannenberg, Amok – Ursachen erkennen, S. 117 ff. 35 Vgl. Scheithauer, Herbert/Bondü, Rebecca, Amoklauf und School Shooting. Bedeutung, Hintergründe, Prävention. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2011, S. 50 f. 36 Vgl. Bannenberg, Amok – Ursachen erkennen, S. 107.
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3. ÄTIOLOGIE a) Methodische Problematik Was die kriminologische Ursachensuche angeht, ist die Seltenheit des untersuchten Phänomens, also die geringe Basisrate, das zentrale methodische Problem. Fast alle als mögliche „Ursachen“ oder „Risikofaktoren“ identifizierten Umstände treten sehr viel häufiger auf als das Ereignis „Schulmassaker“. Ein Zusammenhang mit anderen wesentlich häufigeren Jugendgewaltphänomenen ist unklar bis unwahrscheinlich. So gibt es kaum Überschneidungen zwischen allgemein durch aggressives Verhalten aufgefallenen Schülern und den Tätern von Schulmassakern. Es ist daher kriminologisch wenig zielführend, wenn Schulmassaker quasi als „Spitze“ eines zusammengehörenden Phänomens „Jugendgewalt“ eingeordnet und als solches erklärt werden sollen. Selbst wenn alle bislang beobachteten Faktoren für eine Person zutreffen, bleibt das Ereignis unwahrscheinlich. Ein präventiv nutzbares „Täterprofil“, um „Gefährdete“ rechtzeitig zu erkennen, ist deshalb nicht möglich. Möglich ist nur eine Einzelfallanalyse, ausgehend von den vorhandenen Fällen und ihren geschilderten Übereinstimmungen. Eine solche Analyse erlaubt eingeschränkt eine, wenn auch primär retrospektiv nützliche Erklärung einzelner Taten. Eine psychosoziale Aufklärung bleibt dennoch schwierig, wenn die Täterperson tot ist und Eltern bzw. Verwandtschaft nicht zur objektiven Auskunft bereit und in der Lage sind. Die psychologisch schwierige Verarbeitung des Ereignisses durch die Angehörigen der Täterperson hat oft nachträglich die Pathologisierung des Täters zur Folge, die jedenfalls dann, wenn nicht bereits vorher entsprechende Diagnosen vorlagen, kaum verifiziert werden kann.37 b) Kriminaltheoretische Erwägungen Von den kriminologischen Theorien scheinen Kontrolltheorien und die Kontrollbalancetheorie den passendsten Erklärungsansatz zu liefern. Die
37 Vgl. Online-Kommentar von Rene: „Polizei“, in: Bieler Tagblatt, 11.9.2010, in: http://www.bielertagblatt.ch/News/Region/184217/#ancContent (1.10.2010). Der Link ist mittlerweile nicht mehr aktiv.
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Täter verfügen nicht über hinreichend kontrollierende Bindungen, sie fühlen sich ausgeschlossen oder isoliert und weder äußerer Halt noch innere Selbstkontrolle können die Hassgefühle gegen ihre Umwelt unter Kontrolle halten. Unter dem Aspekt der Kontrollbalancetheorie wird ein abweichendes Verhalten dann wahrscheinlicher, wenn ein Mensch selbst unter einem Kontrolldefizit leidet, d. h. sich ohnmächtig fremder Kontrolle unterworfen fühlt und in seinem Leben zu wenig Möglichkeiten erkennt, selbst Einfluss auszuüben. Unter bestimmten Nebenbedingungen kann dieses Kontrolldefizit dann subjektiv durch eine Tat, die dem Täter in der Ausführung absolute Kontrolle oder Macht gibt, ausgeglichen werden. Dies sind allerdings relativ globale Theorien, die im Einzelfall mehr oder weniger plausibel erscheinen – gerade für seltene Phänomene müssen solche globalen Kriminalitätstheorien erheblich präzisiert werden. Weil das Phänomen so selten ist, liegt es nahe, am Individuum und dessen Konstitution unmittelbar anzuknüpfen. Die Seltenheit des Phänomens verweist auf Ursachen, die im Individuum selbst wurzeln. Aus Aufzeichnungen der Täterpersonen ergeben sich reale oder jedenfalls empfundene Kontroll- und Anerkennungsdefizite, schulische oder berufliche Perspektivlosigkeit, fehlende oder dysfunktionale engere Beziehungen zu Gleichaltrigen, fehlende Intimbeziehungen oder Intimfreundschaften, ein Defizit in der erwünschten „Männlichkeit“. Dabei zeigt sich auch eine mangelnde Ausschöpfung des selbst empfundenen Leistungspotentials. Möglicherweise liegt eine psychische Erkrankung bzw. Persönlichkeitsstörung vor, die die genannten (empfundenen) Defizite verstärkt bzw. eine angemessene Kompensation erschwert. Die entsprechenden Symptome oder Merkmale sind insbesondere aus der Suizidforschung bekannt.38 Insofern kann das Massaker als „Alternative“ zum bloßen Suizid phantasiert und letztlich in einigen wenigen Fällen auch ausgeführt werden und es stimmt insofern in der Ätiologie mit bekannten Suizid-Ursachen überein.
38 Vgl. dazu Huck, Wilfried, Amok. School Shooting und zielgerichtete Gewalt aus kinder- und jugendpsychologischer Sicht. Berlin: Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, 2012, S. 45 f.
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c) Schulmassaker Hier soll der Versuch unternommen werden, die erkannten möglichen Ursachen bzw. Faktoren in einen plausiblen Zusammenhang zu bringen. Dies geschieht ausdrücklich ohne die Behauptung, den „Schlüssel“ zur Erklärung gefunden zu haben. Den Ausgangspunkt bildet die besondere Persönlichkeitskonstitution eines späteren Täters. Ohne diese Konstitution – wobei keine Einigkeit darüber besteht, inwieweit Krankheitswerte vorliegen (müssen) oder nicht – gäbe es wohl kein Schulmassaker. Dass jemand ohne eine individuelle psychologische Problematik, quasi aus einer Laune heraus eine solche Tat begeht, weil ihn Computerspiele oder Filme und zufällig herumliegende Waffen dazu ermuntert haben, ist kaum plausibel. Wäre dies so, müsste das Phänomen sehr viel häufiger auftreten. Hier geht es um eine besondere individuelle Konstellation, in deren Mittelpunkt das bereits beschriebene Kontroll- bzw. Anerkennungsdefizit steht. Ob real oder nicht, der Täter fühlt sich abgelehnt, ungerecht behandelt, schlecht bewertet, verletzt. In ihm entstehen deshalb Rachegefühle und Hass. Er empfindet sich als Mobbingopfer. Das Umfeld der Schule als Tatort ist nur konsequent, denn dort wurde ihm aus seiner Sicht oder auch realiter der Boden unter den Füßen weggezogen, er wurde klein gemacht und an der Entwicklung seines Potentials gehindert. Die Schule, Lehrer und Mitschüler sind „schuld“ an dieser Situation, an ihnen soll Rache genommen und zugleich der ganzen Welt gezeigt werden, was in ihm steckt. Es findet sich in Beschreibungen und Psychodiagnostiken von Täterpersonen ein unbefriedigter Bedarf nach Bedeutung, Anerkennung und Ruhm. Zugleich sind die Täter meist intelligent und phantasievoll – Wut und Hass können sie daher zunächst auch über längere Zeit in der Phantasie ausleben. Da die genannten Gefühle auch in der normalen Pubertät auftreten, fallen sie auch in ihrer punktuellen Massivität nicht unbedingt auf, insbesondere nicht bei introvertierten Persönlichkeiten, um die es sich den Schilderungen nach meist handelt. Viele Jugendliche gehen durch solche Phasen, wenn sie bemerken, dass ihre kindliche Vorstellung von Kontrolle nicht realistisch ist. Dennoch führen entsprechende Gefühle in den allermeisten Fällen nicht zu derartigen Ambitionen bzw. zum realen Ausleben solcher Phantasien und Wünsche.
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Beim Ausleben von Phantasien helfen Computerspiele. Insbesondere First-Person-Shooter-Spiele (FPS) erlauben durch ihre Konstruktion die volle Kontrolle des Spielers über die virtuelle Umgebung und lassen ihn so in diese eintauchen, dass er seine unbefriedigende Realität zeitweise ebenso ausschalten kann wie die virtuellen Gegner. Seine Gedanken konzentrieren sich auf das Spiel und so können durch Erfolge im Spiel auch die von der äußeren Welt vorenthaltenen Glücksmomente entstehen. Es wird ein realistisches Waffenarsenal geboten und vom Spieler wird für den Erfolg eine Kriegermentalität verlangt: Schnelles, konzentriertes und rücksichtsloses Vorgehen führt am ehesten zum Ziel. Fast allen Spielern genügen das begrenzte Ausleben der Phantasie, der Erwerb von Geschicklichkeit und die Erfolgserlebnisse, die ein solches Spiel ermöglicht. Die wenigen potentiellen Täter von Schulmassakern empfinden die Spiele aber nicht nur als spannende Geschicklichkeitsspiele, sondern nutzen sie als Modelle einer wünschbaren Welt, in der sie mit einer echten Waffe Kontrolle ausüben. Spiele sind im Kern nicht verantwortlich für die Planungen und Motivationen, die zu Schulmassakern führen, aber sie können durch ihre Machart die Einstellung eines ohnehin gefährdeten Jugendlichen verstärken. Die psychischen Befindlichkeiten von männlichen Jugendlichen haben sich in den letzten Jahrzehnten nicht wesentlich verändert: Versagensängste, Druckgefühle, Unsicherheiten, Phantasien, Mobbing, Wut und Hass gehören nicht erst seit 1999 bei einigen Schülern zur psychischen Grundausstattung. Deshalb sind bei der Ursachensuche des spezifischen Phänomens „Schulmassaker“ auch kulturelle Entwicklungen mit einzubeziehen, die es wahrscheinlicher machen, dass sich solche Befindlichkeiten und Störungen junger (männlicher) Schüler mit einer höheren – aber längst nicht hohen! – Wahrscheinlichkeit in Schulmassakern manifestieren. Hierbei fällt der Blick auf die kulturellen Umstände, die sich seit Ende des 20. Jahrhunderts stark verändert haben: Weltweit haben sich Massenkommunikation und damit die nationale und internationale Verbreitung von Nachrichtenmeldungen verstärkt und beschleunigt, das gilt insbesondere für die westliche Welt. Die erhöhte Verfügbarkeit von Nachrichten kann wie bei anderen harmlosen oder sogar wünschenswerten Phänomenen, sei es Kleidung, neuartige Musikstile oder Sportarten, auch Moden schädlicher Verhaltensweisen auslösen. Extreme Gewalttaten sind Gesprächsstoff, sie heben denjenigen aus der Masse heraus, der sie begeht. Die Taten wirken einander verstärkend, indem Täter frühere Taten aufgreifen und sich an de-
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ren „Skript“ orientieren. Zunächst vielleicht nur als Entlastungsstrategie für die psychische Befindlichkeit werden frühere Schulmassaker intensiv studiert und die Erkenntnisse in die eigenen Planungen und Tatmodalitäten integriert. Im Internet verbreitete „Ranglisten“ zur Anzahl der Todesopfer können eine motivierende Wirkung auf tatbereite Jugendliche haben. Im Ganzen stellt sich daher die Frage, ob die Verbreitung von Schulmassakern auch als Extremform einer „Mode“ interpretiert werden kann.39 Der Täter gilt im Umfeld der Gleichaltrigen vielleicht als unfähig, schüchtern, schwach und langweilig, er hat keinen Einfluss und bekommt keine Anerkennung, erlebt diese allenfalls im Spiel. Was ihm fehlt, ist die reale Anerkennung. Nicht nur Wohlstand, ausgedrückt durch Verfügung über geldwerte Statussymbole, sondern auch „Berühmtheit“ hat in der Welt (nicht nur der der Jugendlichen) einen hohen Eigenwert – ein wichtiges Indiz dafür sind die seit einigen Jahren enorm populären und vielfältigen Fernseh-Casting-Shows für junge Menschen. Motivationshintergrund für eine „große Tat“ kann die öffentliche Aufmerksamkeit sein, die eine Vorbildtat erreicht hat: Mehr noch als durch die Auswahl in einer Casting-Show oder gar durch einen Olympiasieg kann ein Jugendlicher oder junger Mensch heute durch das Anrichten eines Massakers auf die Titelseiten überregionaler Zeitungen und Magazine und in die Hauptnachrichtensendungen gelangen. Die Tat kann auch deshalb als „Lösung“ der Probleme erscheinen, unter denen der Täter leidet: Er kann sein Bedürfnis nach medialer Verbreitung und Anerkennung stillen, indem er nicht schlicht Suizid begeht, sondern seine selbst empfundene Grandiosität durch die Aufsehen erregende Tat beweist: „Ich zeig’ euch, was in mir steckt!“, „Damit habt ihr nicht gerechnet!“, „Jetzt bekommt ihr die Quittung!“ – wobei die Adressaten, beginnend mit denen, die den Täter ausgeschlossen oder abgelehnt haben (peers), über diejenigen, die seine Leistung bzw. Intelligenz nicht gebührend anerkannten (Lehrer) bis hin zur ganzen Welt, die sein Genie nicht erkennen wollte, benannt werden können. Die Berichterstattung legt dem Täter eine solche Tat als Erfolgsmodell nahe: Der schwache, schüchterne, unmännliche, unauffällige, unsichtbare Junge – er kann durch einen einmaligen „großen Schlag“ aufsteigen zu jemandem, der auf den Titelseiten erscheint, er kann allein dafür sorgen, dass Hundert-
39 Der Höhepunkt dieser Mode könnte in Deutschland schon überschritten sein; in den vergangenen fünf Jahren sind Schulmassaker nicht mehr aufgetreten.
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schaften von Polizisten wie auch Hundertschaften von Journalisten sich auf dieses eine von ihm allein ausgelöste Ereignis stürzen. Er hat damit „gewonnen“, hat es allen gezeigt, auch wenn er dafür sein Leben einsetzen bzw. riskieren muss. Die Gefahr, dass die Berichterstattung über Schulmassaker reale Nachahmungstäter anregt, wird von Kriminologen als hoch angesehen:40 „Wenn ich könnte, würde ich jegliche Berichterstattung verbieten“, sagt etwa Frank Robertz.41 Fast immer gibt es kurz vor der Tat Hinweise des Täters – manche erst später als solche interpretiert: Warnungen oder Drohungen, gerichtet an Geschwister oder Mitschüler. Wer denkt, er sitzt auf einer Bombe, die er selbst zu zünden gedenkt, der will nicht die Interpretation seiner Tat den Überlebenden überlassen. Er will möglicherweise auch der Umgebung eine „letzte Chance“ geben, ihn noch vor dem Massaker anzuerkennen. Insofern können dies auch Signale einer Art vorweggenommenen Neutralisierungstechnik sein: Weil die Welt ihn mit seinen Hilferufen nicht hören will, erscheint es ihm legitim, die „große Tat“ durchzuführen. Auch hier finden sich Parallelen zum Suizid Jugendlicher. Fast immer findet sich ein Auslöser, ein Ereignis, das in der Retrospektive als „das“ Tatmotiv erscheint, als „die“ Ursache schlechthin. Der Schüler oder ehemalige Schüler wurde von der Schule verwiesen, er erhielt eine Strafe, er wurde – vielleicht nach einem Annäherungsversuch – von einer Mitschülerin gekränkt. Es gab irgendein Ereignis, das aus seiner Sicht „das Fass zum Überlaufen“ brachte. Aber dieser Auslöser ist nicht die entscheidende Ursache. Dieser Auslöser kann vielmehr beliebig sein.
40 Vgl. Bannenberg, Amok – Ursachen erkennen, S. 137 ff; Landesregierung Baden-Württemberg (Hrsg.), Expertenkreis Amok: Prävention, Intervention, Opferhilfe, Medien. Konsequenzen aus dem Amoklauf in Winnenden und Wendlingen am 11. März 2009. S. l.: Expertenkreis Amok, 2009, S. 59 ff. 41 Zitiert nach Dribbusch, Barbara, „Warnsignale erkennen“, in: taz, 20.11.2007, online unter: http://www.taz.de/Kriminologe-ueber-das-Phaenomen-Amoklauf/ !7855/ (2.9.2014).
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4. Z UR P RÄVENTION Präventionsüberlegungen42 können sich auf zwei Ebenen beziehen, nämlich einerseits auf die technische Prävention des Ereignisses des Schulmassakers selbst, andererseits auf Eingriffe in das den Täter motivierende Kausalnetz. Nach einigen Schulmassaker-Ereignissen und kritischer polizeilicher Analyse der Tatabläufe wurden insbesondere diverse technische Maßnahmen vorgeschlagen. Darunter waren Einlasskontrollen an Schulen, die Video-Überwachung des Schulgeländes, Detektoren und spezielle Alarmsysteme („Amokalarm“) sowie Türschließsysteme für Klassenräume. Die Installation solcher Präventionstechniken ist jedoch viel zu aufwändig für sehr seltene Ereignisse. Spezielle Einsatzpläne für Polizei und Rettungskräfte – bereits in Kraft oder in Planung – können allerdings das Ausmaß eines Schulmassakers eindämmen. Die kriminologische Ätiologie kann andererseits dazu dienen, Eingriffe in das geschilderte Kausalnetz als Präventionsmaßnahmen zu erwägen und zu evaluieren. Für ein Verbot von FPS-Computerspielen ist allerdings der Kausalzusammenhang mit den Schulmassakern zu schwach. Weitere Alters- und Vertriebsbeschränkungen von Computerspielen erscheinen zudem wenig effektiv, da die Spiele weltweit legal und illegal („cracking“) vertrieben werden. Der statistische Zusammenhang mit dem Zugang zu Schusswaffen ist zwar wesentlich stärker, doch sind auch hier effektive Präventionsmaßnahmen nur in beschränktem Umfang möglich. Als waffenrechtliche Maßnahmen kommen v. a. die strengere Überwachung der Aufbewahrungspflichten und ein Verbot großkalibriger Sportwaffen in Betracht. Ebenfalls wäre ein verbessertes Munitionsmanagement denkbar, etwa die getrennte Aufbewahrung von Waffen und Munition. Jedoch ist den potentiellen Tätern ein Ausweichen auf andere Waffen und Sprengkörper möglich. Wie geschildert, zeigt das Phänomen Anzeichen dafür, dass es sich bei Schulmassakern um eine Modewelle handelt. Eine Modewelle kann man nicht stoppen, aber man kann es unterlassen, sie noch zu fördern. Insofern sollten sich Medien, aber auch Schulen einer personenspezifischen Diskussion
42 Zum Ganzen eingehend: Landesregierung Baden-Württemberg (Hrsg.), Expertenkreis Amok, S. 15 ff.; vgl dazu auch den Beitrag von Schmidbauer/Neumair in diesem Band.
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über den Täter und seine Motive enthalten. Problematisch ist insbesondere eine Behandlung des Themas „Schulmassaker“ im Unterricht – etwa mittels des teilweise in Deutschland als Schullektüre empfohlenen Romans Ich knall euch ab! (Give a Boy a Gun) von Morton Rhue.43 Der Roman weckt das Verständnis für Tat und Täter, hierdurch zeigt er aber für Gefährdete zugleich Handlungsmotivationen und Neutralisierungstechniken auf. Der Roman ist damit möglicherweise selbst Teil der Modewelle, zu der er Stellung nimmt. Besonders problematisch erscheint die ausufernde Medienberichterstattung über einzelne Taten, die geeignet ist, das Motiv des Täters zu bestätigen und damit auch die Motivation für künftige Taten zu befördern. Einschränkungen der Berichterstattung als Präventionsmaßnahme stellen aber zugleich Eingriffe in die Pressefreiheit dar. Ein Komplettverbot der Berichterstattung oder der Bildberichterstattung über Ereignisse kommt deshalb rechtlich nicht in Betracht. Allerdings ließe sich ein Verbot der Nennung des Täternamens sowie des Verbreitens von Täter-Abbildungen in den Medien durchaus rechtfertigen. Ein solcher Eingriff wäre ohne Weiteres mit anderen Einschränkungen der Pressefreiheit (allg. Persönlichkeitsrecht, Datenschutzrecht; verbotene Mitteilungen über Gerichtsverhandlungen) vergleichbar und angesichts des damit verfolgten Zwecks auch verhältnismäßig.44 Die Effektivität freiwilliger Selbstverpflichtungen der Presseorgane45 ist demgegenüber fraglich, da in der Vergangenheit auch bewusste Verstöße aus wirtschaftlichem Kalkül erfolgten. Ein weiterer Präventionsansatz ist das „Threat Assessment“, das die rechtzeitige Interpretation von leaking-Signalen eines potentiellen Täters vorsieht. Dieser Präventionsansatz setzt voraus, dass man im leaking Risikofaktoren erkennen kann. Methodisch werden solche Risikofaktoren retrospektiv aus Mitteilungen oder Drohungen von Tätern hergeleitet. Aller-
43 Rhue, Morton, Give a Boy a Gun. New York: Simon and Schuster, 2000; dt. Ich knall euch ab! Ravensburg: Ravensburger Buchverlag, 2002. Vgl. dazu auch den Beitrag von I. v. Treskow in diesem Band, S. 229-232. 44 Vgl. Müller, Henning Ernst, „Prävention von Massakern an Schulen – sollte die Berichterstattung gesetzlich beschränkt werden?“, in: NJW-aktuell (Neue Juristische Wochenschrift) 43 (2009), S. XII-XIII. 45 Vgl. Landesregierung Baden-Württemberg (Hrsg.), Expertenkreis Amok, S. 60 ff.
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dings setzt die prospektive Abklärung voraus, dass an den Schulen möglichst flächendeckend qualifiziertes Personal zur Verfügung steht. Auch muss ein Schulklima bestehen, in dem isolierte unauffällige Schüler beachtet werden und leaking-Signale der entsprechenden Instanz (Schulpsychologin bzw. Schulpsychologe, Vertrauenslehrerin bzw. Vertrauenslehrer) gemeldet werden. Die Differenzierung zwischen „Scherz“ und „Ernst“ ist schwierig. Fehlalarme sind deshalb bei dieser Methode zu erwarten, wobei Falschverdächtigungen gegen Schüler für das wünschenswerte Schulklima gerade nachteilig sein können.
5. E IN F AZIT Das Phänomen Schulmassaker findet in der Kriminologie sowohl individualpsychologische als auch kultursoziologische Erklärungen. Es kann als eine besonders gefährliche Form des jugendlichen Mitnahmesuizids interpretiert werden, die sich seit der Jahrtausendwende über das Internet als „Mode“ verbreitet hat. Als Präventionsmaßnahmen aussichtsreich erscheinen Einschränkungen der Berichterstattung wie auch schulklimatische Veränderungen, die das rechtzeitige Erkennen einer bevorstehenden Tat ermöglichen.
L ITERATURVERZEICHNIS ARD/ZDF (Hrsg.), „Onlinenutzung, Internetnutzer 1997-2013“, in: http://www.ard-zdf-onlinestudie.de/index.php?id=421 (2.9.2014). ARD/ZDF (Hrsg.) „Mobile Nutzung, Mobile Internetnutzung 2009-2013“, in: http://www.ard-zdf-onlinestudie.de/index.php?id=426 (2.9.2014). Bannenberg, Britta, Amok - Ursachen erkennen – Warnsignale verstehen – Katastrophen verhindern. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2010. Bergmann, Christian, Drohungen junger Täter mit einem Amoklauf – eine kriminologische Analyse zur Beurteilung von Gefahrenlagen. Hamburg: Kovač, 2012. Bondü, Rebecca, School Shootings in Deutschland: Internationaler Vergleich, Warnsignale, Risikofaktoren, Entwicklungsverläufe. Berlin:
A NMERKUNGEN
ZUM
S CHULMASSAKER
AUS KRIMINOLOGISCHER
S ICHT | 67
Freie Universität (Dissertation, pdf-Datei von FUDISS_thesis_000000 037683), 2012. Dribbusch, Barbara, „Warnsignale erkennen“, in: taz, 20.11.2007, online unter: http://www.taz.de/Kriminologe-ueber-das-Phaenomen-Amoklauf /!7855 (2.9.2014). Landesregierung Baden-Württemberg (Hrsg.), Expertenkreis Amok: Prävention, Intervention, Opferhilfe, Medien. Konsequenzen aus dem Amoklauf in Winnenden und Wendlingen am 11. März 2009. S. l.: Expertenkreis Amok, 2009. Faust, Benjamin, School-Shooting. Jugendliche Amokläufer zwischen Anpassung und Exklusion. Gießen: Psychosozial-Verlag, 2010. Fiedler, Georg, „Suizide in Deutschland 2012“, in: http://suizidpraevention. wordpress.com/suizide-in-deutschland-2012 (2.9.2014). Hoffmann, Jens, „Tödliche Verzweiflung – der Weg zu zielgerichteten Gewalttaten an Schulen“, in: Hoffmann, Jens/Wondrak, Isabel (Hrsg.): Amok und zielgerichtete Gewalt an Schulen. Früherkennung/Risikomanagement/Kriseneinsatz/Nachbetreuung. Frankfurt a. M.: Verlag für Polizeiwissenschaft, 2007. Hoffmann, Jens/Roshdi, Karoline/Robertz, Frank, „Zielgerichtete schwere Gewalt und Amok an Schulen. Eine empirische Studie zur Prävention schwerer Gewalttaten“, in: Kriminalistik 63, 4 (2009), S. 196-204. Huck, Wilfried, Amok. School Shooting und zielgerichtete Gewalt aus kinder- und jugendpsychologischer Sicht. Berlin: Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, 2012. Müller, Henning Ernst, „Prävention von Massakern an Schulen – sollte die Berichterstattung gesetzlich beschränkt werden?“, in: NJW-aktuell (Neue Juristische Wochenschrift) 43 (2009), S. XII-XIII. Pollmann, Elsa, Tatort Schule. Wenn Jugendliche Amok laufen. Marburg: Tectum, 2008. „Rene“, Online-Kommentar zum Artikel „Polizei“, in: Bieler Tagblatt, 11.9.2010, in: http://www.bielertagblatt.ch/News/Region/184217/#anc Content (1.10.2010). [Der Link ist mittlerweile nicht mehr aktiv] Robertz, Frank J., School Shootings. Über die Relevanz der Phantasie für die Begehung von Mehrfachtötungen durch Jugendliche. Frankfurt a. M.: Verlag für Polizeiwissenschaft, 2004. Robertz, Frank J./Wickenhäuser, Ruben, Der Riss in der Tafel – Amoklauf und schwere Gewalt in der Schule. Heidelberg: Springer Medizin, 2007.
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Amokalarm an der Schule – die große Herausforderung für die Polizei Konsequenzen aus und Maßnahmen zur Vorbereitung auf Amoktaten im Bereich des Bayerischen Staatsministeriums des Innern, für Bau und Verkehr W ILHELM S CHMIDBAUER , A NDREAS N EUMAIR
1. D ER
GESAMTPOLITISCHE
ANSATZ
Die Amoktat eines Schülers in Winnenden und Wendlingen am 11. März 2009 erschütterte ganz Deutschland. Ein erst siebzehn Jahre alter Täter tötete in wenigen Stunden fünfzehn Menschen und erschoss sich anschließend selbst. Nur sechs Monate später kam es auch am Gymnasium Carolinum in Ansbach zu einer Amoktat. Ein achtzehn Jahre alter Schüler des Gymnasiums drang am 17. September 2009 in die Schule ein. Bewaffnet mit mehreren Molotowcocktails und einem Beil ging er wahllos auf seine Mitschüler los; es war seine Absicht, möglichst viele von ihnen zu töten. Der Täter verletzte neun Schülerinnen und Schüler und auch einen Lehrer des Carolinums zum Teil schwer. Aufgabe von Politik und Verwaltung ist es, gemeinsam die Hintergründe von Amoktaten zu analysieren, Schlussfolgerungen zu ziehen und Maßnahmen zu erarbeiten, um Risiken so weit wie möglich zu begrenzen. Diese schwierige Aufgabe übernahm für die Bayerische Staatsregierung die interministerielle Arbeitsgruppe „Konsequenzen aus den Amoktaten in Ans-
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bach und Winnenden“ unter Federführung des Bayerischen Staatsministeriums des Innern, für Bau und Verkehr (StMI). Der Bericht der Arbeitsgruppe zeigt auf, welche Schlussfolgerungen in Bayern gezogen wurden und gibt entsprechende Handlungsempfehlungen. Abgedeckt werden die Bereiche Prävention und Früherkennung/Umgang mit Amokdrohungen, Sicherheit an Schulen, sicherheitsrechtliche Maßnahmen, Rolle der Medien, Opferbetreuung und Nachsorge. Adressaten des Berichts sind in erster Linie Verantwortungsträger im staatlichen Bereich. Trotz der umfangreichen Aufarbeitung der Thematik weist die interministerielle Arbeitsgruppe bereits am Anfang ihres Berichts darauf hin, diesen in dem Wissen verfasst zu haben, „dass es angesichts der Struktur derartiger Taten auch hier keine vollkommene Sicherheit geben kann.“ Der Bericht zu den „Konsequenzen aus den Amoktaten von Ansbach und Winnenden“, den Herr Innenminister Joachim Herrmann am 13. April 2010 dem Ministerrat vorgestellt hatte, wurde im Anschluss im Internet veröffentlicht. Die folgenden Ausführungen dienen in Bezug auf diesen Bericht und damit verbundene Schritte v. a. dazu, die Konsequenzen und Maßnahmen im Bereich des Staatsministeriums des Inneren, für Bau und Verkehr näher darzulegen.
2. D IE V ORBEREITUNG AUF AMOKTATEN
DER
B AYERISCHEN P OLIZEI
Für die Bayerische Polizei stellten die eingangs dargestellten Amoktaten leider kein grundsätzlich neues Phänomen dar. Schon vorher kam es im Freistaat Bayern zu Ereignissen, die unter dem für die Polizei definierten Begriff „Amoklage“ zu subsumieren waren. •
Am 1. November 1999 verschaffte sich ein 16-Jähriger in Bad Reichenhall gewaltsam Zugriff auf die im Besitz seines Vaters befindlichen Waffen und schoss aus dem Haus heraus auf Personen auf der Straße und eine Personengruppe vor dem gegenüberliegenden Krankenhaus. Er tötete dabei zwei Personen sofort und verletzte drei weitere Personen schwer. Anschließend tötete er im Haus seine Schwester
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•
•
und sich selbst. Eine der getroffenen Personen erlag am nächsten Tag ihren Verletzungen. Am 19. Februar 2002 erschoss ein 22-Jähriger in Eching zwei ehemalige Vorgesetzte und begab sich danach zum Schulzentrum in Freising. Dort erschoss er in der Wirtschaftsschule im Sekretariat den Schulleiter, befestigte am Körper des Getöteten eine Rohrbombe und zündete sie. In der Folge schoss er auf dem Flur einem Lehrer ins Gesicht und verletzte ihn schwer. Nach weiteren Explosionen richtete sich der Täter selbst, nachdem er noch eine Handgranate gezündet hatte. In den Abendstunden des 30. Oktober 2005 betrat ein 49-Jähriger eine Gaststätte in Saltendorf (Landkreis Schwandorf) und eröffnete ohne Vorwarnung das Feuer mit seiner Pistole. Er erschoss dabei schon im Flur einen 67-jährigen Mann. Noch vom Flur aus gab der Täter weitere acht Schüsse in den Gastraum ab und verletzte dabei sechs Personen schwer und zwei leicht. Bei der Flucht schoss er vom Hofraum aus noch dreimal, ohne dabei jemanden zu verletzen. Am 31. Oktober 2005 wurde der Täter widerstandslos festgenommen.
Mit dem Begriff „Amok“ werden im alltäglichen Sprachgebrauch höchst unterschiedliche Situationen und Vorkommnisse umschrieben. Die Bayerische Polizei geht polizeitaktisch dann von einer Amoklage aus, wenn Informationen vorliegen, dass ein Täter • • • •
anscheinend wahllos oder gezielt, insbesondere mittels Waffen, Sprengmitteln, gefährlichen Werkzeugen oder außergewöhnlicher Gewaltanwendung, eine in der Regel zunächst nicht bestimmbare Anzahl von Personen verletzt oder getötet hat bzw. wenn dies zu erwarten ist und davon auszugehen ist, dass der Täter weiter auf Personen einwirken kann.
Bereits die Auswertung des Polizeieinsatzes bei der Amoktat in Bad Reichenhall im November 1999 hat gezeigt, dass Amoktaten wahrscheinlich die schwierigsten Einsatzlagen für die Polizei darstellen und die bisherigen konzeptionellen Vorbereitungen und die in den Dienstvorschriften der Polizei vorhandenen Regelungen dem Phänomen Amok angepasst werden müssen.
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Dies gilt umso mehr, als der Täter zumeist • • • • • • •
ohne zunächst erkennbare Vorankündigung, mit hoher Gewaltbereitschaft und unter Einsatz von Waffen, in relativ kurzer Zeit, mit hoher Dynamik und Entschlossenheit, in der Regel auch unter Inkaufnahme des eigenen Todes, auf eine Vielzahl von Personen einwirkt oder einwirken kann und insofern kaum Zeit für Eingriffsmöglichkeiten zur Unterbindung weiterer Tathandlungen besteht.
Vor diesem Hintergrund wurden für die Bayerische Polizei zur Vorbereitung auf Amoktaten bereits im Jahr 2001 Einsatzleitlinien beim Einschreiten gegen Amoktäter erlassen und nach den Amoktaten in Freising und Erfurt, beide Anfang 2002, fortgeschrieben. Neben Leitlinien und taktischen Zielen wurden darin unter anderem auch Einsatzgrundsätze formuliert. Schon damals wurde vorgegeben, den Themenkomplex „Amok“ in die Lehrpläne für die polizeiliche Aus- und Fortbildung aufzunehmen und fortzuschreiben sowie die zur Lagebewältigung erforderlichen besonderen taktischen Verhaltensweisen insbesondere im polizeilichen Einsatztraining und in Übungen zu trainieren. Parallel dazu hat eine gemeinsame Projektgruppe des Unterausschusses Führung Einsatz und Kriminalitätsbekämpfung (UA FEK) und der AG Kripo im Auftrag des Arbeitskreises II „Innere Sicherheit“ der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder (AK II) eine Analyse des Polizeieinsatzes in Erfurt (26. April 2002, Gutenberg-Gymnasium) und ähnlicher Ereignisse vorgenommen und einsatztaktische Konsequenzen aufgezeigt. Daraufhin wurde die Polizeidienstvorschrift (PDV) 100 Einsatz der Polizei (VS-NfD) um die Thematik „Amoktaten“ ergänzt. Unter Verweis auf die Regelungen der Polizeidienstvorschrift wurden die Präsidien der Bayerischen Polizei beauftragt, die bestehenden Konzeptionen zur Bewältigung von Amoktaten unter Berücksichtigung folgender Leitlinien fortzuschreiben:
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• • • •
Offensives, zielgerichtetes und koordiniertes Einschreiten ohne jeden vermeidbaren Zeitverzug mit allen sofort zur Verfügung stehenden Kräften und Einsatzmitteln bei niedrigster Einschreitschwelle Größtmöglicher Schutz für Unbeteiligte Inkaufnahme eines hohen, jedoch kalkulierbaren Eigenrisikos Ggf. bewusstes temporäres Zurückstellen taktischer Grundsätze, die bei anderen Lagen hohe Priorität haben Die Dauer der Absuche bis zum Lokalisieren, Isolieren und Herbeiführen der Handlungsunfähigkeit des Täters sowie bis zum Auffinden aller Verletzten und potentiellen Opfer ist so kurz wie möglich zu halten
Damit wurde von den Beamten ein Perspektivwechsel verlangt. Während z. B. bei Geiselnahmen die Lage „eingefroren“ und grundsätzlich auf die Lösung durch Spezialeinheiten gewartet wird, ist bei Amoktaten unverzügliches Handeln durch die zuerst am Einsatzort eintreffenden Beamten – und damit durch jeden Außendienstbeamten – gefordert. Die Bewältigung von Amoktaten wird mit den Streifenbeamten im Rahmen des polizeilichen Einsatztrainings oder bei besonderen Übungen trainiert.
3. D ER PRÄVENTIVE ANSATZ Die Aufarbeitung der Hintergründe und die Entwicklung wirksamer Maßnahmen der Prävention und des Schutzes vor Amokbedrohungen erfordern aufgrund der unterschiedlichen Tatverläufe eine differenzierte Betrachtung. So unterscheidet sich die Motivlage der Täter von Fall zu Fall. Oft erschließt sie sich nur im Ungefähren oder bleibt ganz verborgen. In den seltensten Fällen ist sie monokausal. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass Amoktaten den katastrophalen Schlusspunkt einer krisenhaften Entwicklung bilden, der häufig spezifische Persönlichkeitsstörungen und fast immer das Zusammenspiel verschiedener, sich gegenseitig beeinflussender Ursachen zugrunde liegen. Schon deshalb muss „Amokprävention“ eine sehr frühzeitig einsetzende, nachhaltige und ursachenorientierte Prävention mit einem breiten gesellschaftlichen Ansatz sein. Dabei ist von Bedeutung, dass es nach vorherrschender Meinung keine spezifische Amokprävention geben kann, sondern allenfalls nur allgemeinere Maßnahmen (z. B. zur Suizid- oder
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Gewaltprävention), die zugleich auf (potentielle) Amoktäter wirken können. Obwohl „Amokprävention“ vor diesem Hintergrund keine allgemeine Polizeiaufgabe sein kann, nahmen die polizeilichen Gremien auf Bundesebene schon die Tat eines 18-Jährigen im November 2006, als dieser in seiner ehemaligen Schule in Emsdetten/Nordrhein-Westfalen wahllos auf Schüler und Lehrer schoss und Rauchbomben zündete, zum Anlass, vor allem präventive Möglichkeiten zur Verhinderung von Amoktaten durch eine Projektgruppe prüfen zu lassen. Der Bericht der Projektgruppe kam im Wesentlichen zu dem Ergebnis, dass geeignete Ansatzpunkte zur Prävention und Früherkennung von schwerer Gewalt primär im schulischen Bereich und in der Jugend-, Familien- und Vereinsarbeit bestehen. Diese Einschätzung wurde im Nachhinein durch die Erkenntnis aus dem von der Landesregierung BadenWürttemberg herausgegebenen Bericht des „Expertenkreises Amok“ (Stuttgart 2009) gestützt, zumal bei den Tätern Parallelen hinsichtlich Verhalten, Persönlichkeitsstruktur, Familie und weiteren Faktoren erkennbar sind, die zwar in unterschiedlicher Ausprägung aufgetreten sind, aber als Risikofaktoren bzw. -indikatoren gelten können. •
• •
•
•
In der Regel sind Amoktäter eher Einzelgänger mit narzisstischen Zügen, die schon alltägliche Kränkungen und Niederlagen im Schulalltag als empfindlich verletzende Ereignisse erleben. Viele Amoktäter wählen ihre eigene aktuelle oder ehemalige Schule wegen schulischer Probleme als Tatort. Trotz relativ unauffälligen Elternhäusern sind Probleme in der ElternKind-Beziehung festzustellen, die zu einer narzisstischen Persönlichkeitsentwicklung beitragen können, gerade weil Leistungen erwartet werden, die das Kind oft nicht erbringen kann und deshalb zu Verzweiflung, Depressionssymptomen und Suizidgedanken neigt. Die klassischen Verhaltensweisen eines Gewalttäters werden zwar nicht gezeigt, aber abweichendes Verhalten etwa in Musik- und Kleidungsstil oder provokanten Äußerungen ist festzustellen; daneben werden meistens gegenüber Mitschülern Andeutungen von Hass- und Suizidgedanken sowie Äußerungen über frühere Amoktaten gemacht. Die meisten Täter befassen sich mit Rache, Gewalt, Amoktätern und prominenten Mördern, besitzen entsprechende Literatur und beschäfti-
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•
•
gen sich intensiv mit gewaltverherrlichenden Videofilmen und Computerspielen. In den meisten Fällen werden Andeutungen über frühere Amoktaten verbal oder nonverbal (z. B. durch bestimmte Kleidung an Jahrestagen) gemacht, zuweilen auch im Internet in Suizidforen oder Chats, um die Reaktion auf eine Amokandeutung vorsichtig zu testen. Die jungen Täter zeigten über Jahre hinweg eine ausgeprägte Affinität zu späteren Tatmitteln wie Waffen, Bomben, Sprengmitteln oder Schwertern und stellten diese oft auch sichtbar als Dekoration zur Schau. Meist gehörten die Tatwaffen Vätern oder männlichen Verwandten, die diese weit überwiegend in legalem Besitz, aber unzureichend gesichert aufbewahrten.
Für die Bayerische Polizei wurden unter Berücksichtigung der Projektgruppenergebnisse zur Beurteilung der Ernsthaftigkeit der Androhung einer Amoktat schon 2007 entsprechende Hinweise, Faktoren und Indikatoren formuliert und herausgegeben, die als Ansatzpunkte für eine Prüfung herangezogen werden können. Sofern nach erfolgter Einzelfallprüfung durch die örtlich zuständige Dienststelle die Ernsthaftigkeit einer AmokAnkündigung nicht hinreichend sicher eingeschätzt werden kann bzw. weiterer Beratungsbedarf besteht, wurde die Einbindung der Beratergruppe des Bayerischen Landeskriminalamtes (BLKA) und des Zentralen Psychologischen Dienstes der Bayerischen Polizei (ZPD) empfohlen. Um die Schnittstelle zum schulischen Bereich und der Jugend-, Familien- und Vereinsarbeit zu verbessern, wurden die Präsidien der Bayerischen Landespolizei gebeten, insbesondere ihre Ansprechbarkeit im Rahmen der bestehenden Kontakte zu Schülern, Lehrern und unterschiedlichen Jugendgruppierungen (z. B. Jugendbeamte, Verkehrserzieher, Schulschwänzerinitiative, etc.) zu erhöhen und die präventiven Möglichkeiten zur Verhinderung von Amoktaten zu berücksichtigen.
4. D IE V ERFÜGBARKEIT
VON
W AFFEN
Bei Amoktaten spielen die Faszination der Täter für unterschiedlichste Waffenarten sowie deren Verfügbarkeit eine erhebliche Rolle für den Verlauf der jeweiligen Tat. Die Tatwaffen gehörten in der Regel den Vätern
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oder männlichen Verwandten der Täter, waren unzureichend gesichert und wurden zusammen mit der Munition gelagert. Im Auftrag des Bundesministeriums des Innern und der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder (IMK) befasste sich deshalb nach dem Amoklauf von Winnenden und Wendlingen eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe mit der Analyse möglicher Schwachstellen im Waffenrecht. Auf der Grundlage des Berichts der Bund-Länder-Arbeitsgruppe wurde am 18. Juni 2009 vom Deutschen Bundestag ein Änderungsgesetz verabschiedet. Schwerpunkte der Änderung waren: •
•
•
Verbesserte Aufbewahrungssicherheit, um einen unberechtigten Zugriff durch Familienangehörige oder sonstige Dritte zu erschweren. Jeder Waffenerlaubnisinhaber hat die sichere Aufbewahrung gegenüber der Waffenbehörde nachzuweisen. Dieser Nachweis ist keine Holschuld der Waffenbehörde mehr, sondern eine Bringschuld des Waffenbesitzers und zwingende Voraussetzung für die Erteilung der Waffenerlaubnis. Zudem kann die Waffenbehörde auch vor Ort Kontrollen durchführen, ohne dass sie begründete Zweifel an der sicheren Aufbewahrung haben muss. Anhebung der Altersgrenze für Sportschützen von 16 auf 18 Jahre, um Kindern und Jugendlichen den Zugang zu großkalibrigen Waffen zu erschweren. Amnestieregelung für illegale Waffen und öffentlichkeitswirksamer Appell zur Abgabe legaler Waffen, gültig bis zum 31. Dezember 2009. Dadurch wurde ein Anreiz geschaffen, unerlaubt besessene Waffen unbrauchbar zu machen, einem Berechtigten zu überlassen oder der Waffenbehörde bzw. einer Polizeidienststelle zu übergeben. Insgesamt wurden bei den bayerischen Waffenbehörden im Amnestiezeitraum rund 33.000 Schusswaffen abgegeben, davon rund 28 % illegal und rund 72 % legal besessene Waffen. Des Weiteren haben 1.648 Personen illegale Waffen bei den bayerischen Polizeidienststellen abgegeben.
Daneben hat die IMK am 18. April 2008 in Umsetzung der EU-Waffenrechtsrichtlinie die Einsetzung einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe unter Federführung des Bundesministeriums des Inneren beschlossen, die die Errichtung eines nationalen elektronischen Waffenregisters vorbereiten sollte. Bayern war Mitglied der Arbeitsgruppe und deckte dort den Bereich der
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vollzugspolizeilichen Praxis ab. Zum 1. Januar 2013 wurde in Deutschland das Nationale Waffenregister eingerichtet. Hierdurch werden wesentliche Informationen zu erlaubnispflichtigen Waffen in Deutschland sowie Daten von Erwerbern, Besitzern und Überlassern dieser Schusswaffen erstmalig bundesweit elektronisch in einem Register erfasst. Das elektronisch abrufbare nationale Waffenregister soll u. a. für die Polizei eine sichere Tatsachengrundlage für polizeiliche Lagebeurteilungen und die Bewältigung entsprechender Einsatzlagen schaffen.
5. U MGANG MIT AMOKANDROHUNGEN Bei der Bayerischen Polizei gehen jedes Jahr entsprechende Hinweise ein, die zunächst als Amokandrohungen eingestuft werden müssen. Im Durchschnitt handelt es sich um 25 bis 30 Fälle pro Jahr. Nach aktuellen Taten (z. B. in Winnenden und Wendlingen) nehmen diese Zahlen deutlich zu (Nachahmungsphänomen). Die Polizei erhält in den meisten Fällen durch Mitteilungen von Lehrern, Eltern und Schülern Kenntnis von Amokandrohungen bzw. von Vorgängen, die Bedrohungssachverhalte mit Bezug zu Schulen aller Art zum Inhalt haben. Glücklicherweise stellen sich diese Meldungen zumeist als gegenstandslos heraus. Unabhängig davon wird jeder Sachverhalt geprüft und alle notwendigen Maßnahmen (Befragung, Durchsuchung von Person und Wohnung, Sicherstellung möglicher Waffen und Computer sowie Auswertung von Handys und bei Bedarf psychologische Begutachtung und Unterbringung) durchgeführt. Hinweise auf mögliche Amoktaten werden unter Ausschöpfung aller rechtlichen Möglichkeiten abgeklärt. Dabei ist eine enge Abstimmung mit den für waffenrechtliche Erlaubnisse zuständigen Sicherheitsbehörden ebenso selbstverständlich, wie auch die Einbindung der Schulen und Gesundheitsämter. Zudem werden diese Stellen nachrichtlich über relevante Sachverhalte für eine Prüfung etwaiger eigener Präventivmaßnahmen informiert. Bei Amokdrohungen kommt eine Strafbarkeit wegen Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten nach § 126 StGB in Betracht. Entsprechende Anzeigen werden von den Staatsanwaltschaften in Bayern auch bei möglichen Amokfällen konsequent verfolgt.
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6. D IE R OLLE
DER M EDIEN UND DER POLIZEILICHEN Ö FFENTLICHKEITSARBEIT
Die Bedeutung der Medien für Nachahmungstaten im Sinne des „Werther-“ oder „Copycat-Effekts“ ist unbestritten. Die meisten Amoktäter befassen sich in der Vortatphase mit Medienberichten über Amoktaten. Einer extensiven, täterzentrierten und detaillierten Amokberichterstattung wird eine katalytische Wirkung für Nachahmungsphantasien und -absichten amokgeneigter junger Menschen zugeschrieben. Deshalb sind die Medien, aber auch staatliche Pressestellen und Experten in einer besonderen Verantwortung. Für die Bayerische Polizei wurden aufgrund des großen Einflusses der Medien auf Nachahmungsstraftaten und -drohungen bereits auf Basis des Berichts der Projektgruppe „Präventive Möglichkeiten zur Verhinderung von Amoktaten“ vom 28. Februar 2007 für die polizeiliche Öffentlichkeitsarbeit fünf Prinzipien für den Umgang mit Berichterstattern formuliert − dies vor allem mit dem Ziel, den Täter und seine Phantasien sowie seine Motive nicht in den Mittelpunkt der Berichterstattung zu stellen, um zum einen die Mythenbildung und zum anderen die Identifikation potentieller Täter mit ihm zu verhindern und darüber hinaus die Distanz zum Täter zu wahren. Es werden deshalb keine Vermutungen zum Motiv und zur Rolle bestimmter Personen im Tathergang geäußert, keine zu konkrete Darstellung der Tat geliefert (z. B. Tathergang, Tathandlung, Kleidung, Waffen usw.) und vor allem kein emotionales Bildmaterial verfügbar gemacht (keine Tagebuchauszüge, Zeichnungen usw.). Diese Aufgabe gestaltet sich in der Praxis sehr schwierig, zumal Vereinbarungen, z. B. mit dem Presserat oder Medienorganisationen, scheitern, weil diese inhaltlich auf die journalistische Arbeit Einfluss nehmen und damit einen unmittelbaren Eingriff in den Schutzbereich der Pressefreiheit darstellen würden.
7. S ICHERHEIT
AN
S CHULEN
Im Freistaat Bayern wurde zur polizeilichen Gewaltprävention und zur Bekämpfung der Kriminalität an Schulen durch die Polizei unter Beteiligung weiterer betroffener Stellen (z. B. Bayerisches Staatsministerium für Bil-
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dung, Kultus, Wissenschaft und Kunst) ein ganzes Bündel von Maßnahmen ergriffen und unterschiedliche Projekte initiiert: So sind z. B. seit dem Jahr 2000 •
•
bei jeder Polizeiinspektion speziell ausgebildete Beamte mit der Aufgabe eines Schulverbindungsbeamten betraut und allen bayerischen Schulen namentlich benannt sowie Jugendbeamte dort eingesetzt, wo es aufgrund der aktuellen Lage und der Bevölkerungsstruktur erforderlich ist.
Mit Blick auf die Amoktat von Winnenden und Wendlingen hat der AK II im April 2009 die Bedeutung der Präventionsmaßnahmen des „Programms Polizeiliche Kriminalprävention (ProPK)“ unterstrichen. Er begrüßte die vorgesehene Aktualisierung der Handreichung Herausforderung Gewalt für Lehrkräfte und Erzieher um die Themenbereiche „Schwere Schulgewalt“ sowie die Ergänzung des Medienpakets „Abseits“ um das Thema „Handygewalt“. Der AK II sah es außerdem als sinnvoll an, die gewaltpräventiven Medien des ProPK weiterhin gezielt und umfassend für die Präventionsarbeit an Schulen zu nutzen. Für Bayern werden die Belange der ProPK durch das BLKA wahrgenommen. Besondere Bedeutung kommt wegen des bei Amoktaten häufigen Bezugs von Tat und Tatort zur Schule des Täters der schulischen Präventionsarbeit gegen Gewalt und Gewaltbereitschaft unter Kindern und Jugendlichen zu. Auch hier bringen sich die Präventionsexperten der Polizei bei der Entwicklung von Präventionsmodellen mit ein, z. B.: •
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PIT – Prävention im Team wird in Zusammenarbeit von Polizei und Schule als Rahmenstruktur für die Präventionsarbeit mit dem Ziel angeboten, richtiges Verhalten bei Konflikten bzw. eskalierenden Gewaltsituationen einzuüben. Die Initiative „Selbstsicherheit und Zivilcourage“ als ein unter polizeilicher Anleitung angebotenes Training von Deeskalationsstrategien und situationsangemessenem couragiertem Verhalten bei Gefahrensituationen.
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8. S ICHERHEITSKONZEPTE
AN
S CHULEN
Zur Gewährleistung einer möglichst umfassenden Sicherheit für die „Schulfamilie“ kommt gerade den Sicherheitsvorkehrungen an Schulen hohe Priorität zu. Sie müssen insbesondere die Themenfelder Krisenplanung, Verhaltensregeln, Zugangsregelungen, bauliche Maßnahmen sowie Zusammenarbeit, Kommunikation und Information im Krisenfall beinhalten. Unabhängig davon sind sich alle Beteiligten in diesem Zusammenhang einig, dass erhöhte Sicherheit an Schulen nicht dazu führen darf, dass Schulen zu Festungen werden. Die Handlungsmaxime sollte lauten: „Ein Wohlfühlraum für Kinder – vorbereitet für den Krisenfall“. Unter dieser Prämisse wurde das damalige Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus bereits im Jahr 2002 bei der Ausarbeitung der Anregungen und Empfehlungen zur Erstellung eines Sicherheitskonzeptes an Schulen durch das StMI, das Bayerische Landeskriminalamt und den Zentralen Psychologischen Dienst der Bayerischen Polizei unterstützt. Die Inhalte der Anregungen und Empfehlungen gliedern sich im Wesentlichen in drei Bereiche: • • •
Verhaltensorientierte Präventionsmaßnahmen Sicherungstechnische Maßnahmen Organisatorische Maßnahmen
Schon damals haben viele Schulen die Anregungen und Empfehlungen zur Erstellung eines Sicherheitskonzepts genutzt und für ihre Schule in enger Abstimmung mit der zuständigen Polizeidienststelle ein eigenes örtliches Konzept erstellt. Die Amoktat von Winnenden und Wendlingen sowie die Tat am Gymnasium Carolinum in Ansbach waren für die Bayerische Polizei Anlass, die vorgenannten, bisher vor allem auf örtlichen Konzeptionen beruhende Beratung und Unterstützung der Schulen für die gesamte Bayerische Polizei in einem bayernweit einheitlichen Muster zu regeln. Vor diesem Hintergrund wurden in enger Abstimmung mit den Polizeipräsidien und dem Bayerischen Landeskriminalamt die für die Polizei erforderlichen Inhalte und die für eine schnellstmögliche Lagebeurteilung notwendigen Daten eines örtlichen Sicherheitskonzepts von Schulen vereinbart, in den Empfehlungen der
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Bayerischen Polizei zur Erstellung von Sicherheitskonzepten an Schulen sowie Maßnahmen und Verhaltenshinweise bei Gefahrenlagen festgeschrieben und den Polizeidienststellen zur Verfügung gestellt. Für die im Ernstfall notwendige, schnellstmögliche polizeiliche Lagebeurteilung und -bewältigung ist den Empfehlungen der Bayerischen Polizei als Anlage ein „Erhebungsbogen“ beigegeben, der von den Schulen befüllt, bei der zuständigen Polizeidienststelle hinterlegt und aktuell gehalten wird. Im Rahmen der in diesem Zusammenhang geführten Sicherheitsgespräche und Objektbegehungen durch die zuständige Polizeidienststelle ist die Erhebung weiterer, erforderlicher Unterlagen, wie z. B. Baupläne, Lagepläne sowie die Feststellung der Erreichbarkeit Verantwortlicher von besonderer Bedeutung. Die Informationen über die Schulen werden in die polizeilichen Objektschutzpläne der Einsatzzentralen aufgenommen und sind in den Einsatzleitsystemen hinterlegt. Bei Bedarf stellt die örtliche Polizeidienstelle für die Schule den Kontakt zu den zuständigen kriminalpolizeilichen Beratungsstellen her. Zuletzt hat das Bayerisches Staatsministerium für Bildung, Kultus, Wissenschaft und Kunst die mit dem StMI abgestimmte „Bekanntmachung zur Krisenintervention an Schulen“ vom 10.7.2013 veröffentlicht. Damit erhält jede staatliche Schule die Aufgabe, in Abhängigkeit von den örtlichen Gegebenheiten in Zusammenarbeit mit dem Schulaufwandsträger und der Polizei ein Sicherheitskonzept, das sicherheitstechnische Maßnahmen und Verhaltenshinweise bei Gefahrenlagen einschließt, zu entwickeln und kontinuierlich zu aktualisieren. Jede Schule hat hierzu mit der Polizei Kontakt aufzunehmen, um sich bei der Erstellung ihres Sicherheitskonzepts unterstützen zu lassen. Für den Bereich der Bayerischen Polizei sind die Polizeidienststellen erneut gebeten worden, die Schulen bei der Erstellung und Aktualisierung ihrer Konzepte entsprechend zu unterstützen. Basis für die polizeiliche Beratung stellen auch hier die Empfehlungen der Bayerischen Polizei zur Erstellung von Sicherheitskonzepten an Schulen sowie Maßnahmen und Verhaltenshinweise bei Gefahrenlagen dar.
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9. H ANDLUNGSFELDER EINES GANZHEITLICHEN ANSATZES Die vorgehend dargestellten Maßnahmen im Bereich des Bayerischen Staatsministeriums des Innern, für Bau und Verkehr stellen nur einen Teil möglicher Präventions- und Reaktionsmaßnahmen dar, die für sich alleine die Gesamtproblematik nicht lösen können. Gerade die Erkenntnisse zu Ursachen, Hintergründen und Zusammenhängen der Amoktaten von Ansbach oder Winnenden und Wendlingen machen deutlich, dass eine Vielzahl verschiedener Ansatzpunkte für staatliches Handeln in den Blick genommen werden muss. Eine Diskussion allein über eine mögliche Verschärfung von Verbotsnormen oder die Erhöhung der Sicherheitsvorkehrungen an den Schulen würde ebenfalls zu kurz greifen. Notwendig ist vielmehr eine breit angelegte Diskussion über Risikofaktoren sowie Möglichkeiten, mit Instrumenten staatlichen und gesellschaftlichen Handelns auf diese Faktoren einzuwirken.
Führen und Leiten als Auftrag Polizeiliches Einsatzhandeln zur Vermeidung und Abwehr von Aggression und Gewalt B ERND K ÖRBER
Wenn die berufliche Tätigkeit vielfach Konflikte, Gewalt und im Vergleich zum normalen Alltag ein hohes Potential von Aggressivität mit sich bringt, wird in umgekehrter Perspektive die Begegnung mit Aggression nicht zum Einzelfall, sondern zur Regel. Der Beruf des Polizisten bzw. der Polizistin ist eine solche Tätigkeit. Unzweifelhaft sind allerdings Gewaltexzesse wie Schulmassaker oder Amokläufe auch innerhalb dieses beruflichen Umfelds exzeptionell, sie sind belastend und möglicherweise traumatisierend. Psychische Belastung folgt aber nicht nur auf solch seltene Ereignisse: Das direkte Erleben eines Schusswaffengebrauchs ohne eigene Beteiligung ist bereits ein belastendes Ereignis, das den meisten Menschen erspart bleibt, mit dem Polizistinnen und Polizisten jedoch während ihres Dienstes rechnen müssen.1 In diesem Beitrag soll es um die speziellen kognitiven Leistungen gehen, die für die adäquate Bewältigung von Situationen, in denen Gewalt – hier allgemein als Ausübung physischer Aggression verstanden – auftreten
1
Vgl. Ungerer, Dietrich/Ungerer, Jörn, Lebensgefährliche Situationen als polizeiliche Herausforderungen. Entstehung – Bewältigung – Ausbildung. Frankfurt a. M.: Verlag für Polizeiwissenschaft, 2008, S. 11-12.
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kann, von großer Relevanz sind. Diese Leistungen sind für Situationen plötzlich auftretender massiver Gewalt, wie Amokläufe es sind, elementar wichtig, aber nicht nur, denn die Anhäufung einer Vielzahl potentiell aggressionshaltiger Ereignisse bestimmt den polizeilichen Berufsalltag sehr oft. So kann die einfache Fahrzeugkontrolle als Beispiel für eine konfliktträchtige Begegnung zwischen Bürger und Polizei dienen, da für den Bürger die Maßnahme nicht notwendigerweise sofort einsichtig sein mag. Er möchte eigentlich zügig von einem Ort zum Zielort und wird dabei aufgehalten. Dass er auf eine Kontrollmaßnahme nicht begeistert reagiert, liegt auf der Hand. Ein weiteres Beispiel wäre ein Nachbarschaftsstreit, eine oftmals aggressionsgeladene Bürger-Bürger-Situation, zu der die Polizei in der Rolle des Schlichters hinzugezogen wird. Polizisten müssen beruhigend auf die Beteiligten einwirken und versuchen, die angespannte Lage ohne eigene emotionale Beteiligung zu entschärfen. Der ständige Wechsel solcher Ereignisse, der oft an einem einzigen Arbeitstag erlebt wird, hat eine hohe emotionale Belastung zur Konsequenz, der Polizisten und Polizistinnen mit professioneller Distanz, professionellem Denken und Handeln begegnen können müssen. Im Zusammenhang mit der Vermeidung von Gewalt wird es im Folgenden um erlernbare Blicktechniken gehen, die hier im Bezug auf das erlernbare Gesamthandeln präsentiert werden.
1. R AHMENBETRACHTUNG POLIZEILICHEN E INSATZHANDELNS Polizeiliches Handeln als das Handeln eines Exekutivorgans der Gesellschaft umfasst organisationsbezogene und operative Aufgaben. Letztere dienen im Besonderen dem Erhalt oder der Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit. Dies bedeutet sowohl die Gewährleistung objektiver Sicherheit, gemessen an der Kriminalitätsbelastung wie sie durch die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) reflektiert wird,2 als auch die Sorge um das subjektive Sicherheitsgefühl der Staatsbürger. Hierunter lässt sich die subjektive Wahrnehmung und Bewertung der persönlichen Sicherheit durch
2
Vgl. Bundesministerium des Inneren (Hrsg.), Die Kriminalität in der Bundesrepublik Deutschland. Polizeiliche Kriminalstatistik für das Jahr 2009. Rostock: Publikationsversand der Bundesregierung, 2010.
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die Bürger selbst verstehen.3 Abbildung 1 veranschaulicht den daraus resultierenden Prozess in einer Interaktionstrias und weist zugleich auf die damit in Wechselwirkung stehenden vielfältigen Bewertungsprozesse hin, die das Einsatzverhalten eines Polizisten bzw. einer Polizistin bei allen polizeilichen Situationen beeinflussen. In jeder (kritischen) Situation kann die Polizei als Organisation und jeder einzelne Beamte, jede einzelne Beamtin entsprechend der Gesetzeslage präventiv und im Rahmen der Kriminalitätsbekämpfung repressiv tätig werden. Diese berufsbezogenen Handlungen sind unmittelbar von Dritten beobachtbar, sie sind im Rahmen des exekutiven Amtes öffentliche Handlungen und aus diesen beiden Gründen auch vielfach bewertbar. Je nach Einstellungsrepertoire des Beobachtenden4, resultierend aus seinen spezifischen Einstellungen, seinen subjektiven Normen und seiner wahrgenommenen Verhaltenskontrolle, kann es folglich zu verschiedenen (auch voneinander abweichenden) Beurteilungen der einzelnen konkreten polizeilichen Handlung kommen. Daraus resultiert ein ständiges Spannungsfeld, weswegen deeskalative kommunikative, darunter rhetorische Verhaltensweisen im Vordergrund jedes polizeilichen Auftrags stehen. Konkret umfasst das sowohl ein auf Moderation zielendes Einsatzmanagement, beispielsweise bei Großveranstaltungen oder im Demonstrationsgeschehen, als auch Stress- und Konfliktmanagement im individuellen Polizeieinsatz.5 Deeskalation bedeutet für Polizeikräfte, das Verhalten der beteiligten Personen zu antizipieren, Beschleunigungsfaktoren von Gewalt zu erkennen und die Personen professionell zu führen und zu lenken.
3
Vgl. Noll, Heinz Herbert/Weick, Stefan, „Öffentliche Sicherheit. Objektive und subjektive Indikatoren“, in: Noll, Heinz Herbert/Habich, Roland (Hrsg.), Vom Zusammenwachsen
einer
Gesellschaft.
Frankfurt a. M.:
Campus,
2000,
S. 199-220. 4
Vgl. Aronson, Elliot/Wilson, Timothy D./Akert, Robin M., Sozialpsychologie. München: Pearson, 62008 (1994). S. 215-217.
5
Vgl. Hücker, Fritz, Rhetorische Deeskalation. Stuttgart: Boorberg, (1997).
3
2010
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Abb. 1: Interaktionstrias zur Aufrechterhaltung der Öffentlichen Sicherheit Öffentliche Sicherheit „Kritische“ Situation Differenzierung
Handlungskonzepte & Sicherheitsstrategien
beruhigt & beschützt Bürger
Polizeibeamte
bewertet
Subjektive Sicherheit
Professionalität & Effizienz
Objektive Sicherheit (PKS)
Graphik: B. Körber
Aktive Polizeiarbeit umfasst alle Maßnahmen zur Gewährleistung der inneren Sicherheit und Ordnung, wobei ein bedeutsamer Faktor der operativen Tätigkeit die aktive Präsenz vor allem in Form der bürgernahen Fußstreife ist, sowie die genannte Fähigkeit, potentielle Gefahrenmomente oder Eskalationsfaktoren zu erkennen und diesen nach Möglichkeit deeskalativ entgegenzuwirken.6 Liegen gar außergewöhnliche Einsatzlagen vor, zu denen Amoktaten und massive Gewalt zählen, müssen Polizisten und Polizistinnen sanktionierend unter Anwendung von Zwang einschreiten. Auch in einer solchen physischen und psychischen Belastungssituation, in der Regel
6
Vgl. Buchmann, Eike/Hermanutz, Max, „Der Umgang mit psychisch auffälligen Personen“, in: Stein, Frank (Hrsg.), Grundlagen der Polizeipsychologie. Göttingen: Hogrefe, 2003, S. 50-58. Vgl. auch Krauthan, Günter/Wagner-Link, Angelika, „Verkehrskontrollen. Konfliktbedingungen und Konflikt vermindernde Verhaltensweisen“, in: Stein (Hrsg.), Grundlagen der Polizeipsychologie, S. 37-49. Vgl. ebenso Schmalzl, Hans Peter, Einsatzkompetenz: Entwicklung und empirische Überprüfung eines psychologischen Modells operativer Handlungskompetenz zur Bewältigung kritischer Situationen im polizeilichen Streifendienst. Frankfurt a. M.: Verlag für Polizeiwissenschaft, 2008.
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beim Anblick eines großen Ausmaßes an Zerstörung und menschlichem Leid, folgt jedes polizeiliche Einschreiten einem Regelwerk, das bis zuletzt die Möglichkeit des Überlebens für alle Beteiligten anstrebt. Zielorientiertes, adäquates Handeln in derartigen Situationen bedarf der gezielten Schulung auf kognitiver, affektiver und physischer Ebene.
2. AUFGABEN DER P OLIZEIPSYCHOLOGIE Bedenkt man, dass die (präventive oder repressive) Gefahrenabwehr als zentrales Merkmal operativer polizeilicher Tätigkeit auch immer eine potentielle Konfliktsituation zwischen Polizei und Bürger darstellt, wird die Bedeutung aufmerksamkeits- und wahrnehmungsbezogener Leistungen im oben skizzierten polizeilichen Berufsalltag unmittelbar einsichtig. Diese können schließlich eine überlebenswichtige Dimension annehmen. Eine Antizipation sich entwickelnder Situationen ist nur durch die besondere Herausbildung dieser (neuro-)psychologischen Leistungen möglich. Die Polizeipsychologie als ein Anwendungsfach der Psychologie rückt unter anderem diesen Tätigkeitsbereich der Polizei in den Mittelpunkt ihres Interesses. Die Aufgabe der Polizeipsychologie besteht darin, polizeibezogen menschliches Verhalten zu beschreiben, zu erklären, vorherzusagen und zu kontrollieren sowie als Handlungslehre die Lebensqualität sowohl der Bürger und Bürgerinnen als auch der Polizistinnen und Polizisten zu verbessern. Eine Übersicht über die verschiedenen Tätigkeiten liefert Tabelle 1. Hier wird grob zwischen personalen und organisationalen Aufgaben sowie Einsatz- und kriminalpsychologischen Aufgaben unterschieden. Im Kontext der Einsatzpsychologie werden im Folgenden Befunde und experimentelle Studien vorgestellt, welche die besondere berufliche Expertise von Polizeibeamten bei der Erfassung von Situationen mit Gefährdungspotential herausstellen und einer gezielten Aus- und Fortbildung dienlich sind.
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Tabelle 1: Aufgabenfelder der Polizeipsychologie Personal- und organisationspsychologische Aufgaben
Einsatz- und kriminalpsychologische Aufgaben
Personalentwicklung: -Personalauswahl,-förderung
Konzeptionelle und empirische Beiträge zum polizeilichen Einsatzhandeln
Aus- und Fortbildung, Spezialschulungen, Trainings (auch Konzepte und Evaluationen) Einzel- und Gruppenberatung - Führungsberatung, Coaching - Teamentwicklung
Unterstützung und Fachberatung - bei Großeinsätzen - in Bedrohungslagen (z.B. Suiziddrohung) - Geisellagen - Amoklagen
Psychosoziale Beratung und Betreuung, Krisenintervention Organisationspsychologische Untersuchungen (z.B. Mitarbeiterbefragung) Untersuchungen zur Außenwirkung Experimentelle derPolizeipsychologie Polizei · Öffentlichkeitsarbeit Regensburg · 29.01.2010
Unterstützung der kriminalpolizeilichen Arbeit - Präventionskonzepte - Vernehmungen - Erpressungs- und Entführungsfälle - Operative Fallanalyse (z.B. bei sexuell motivierter Gewalttat) Einsatzbegleitende Öffentlichkeitsarbeit
Tabelle: H. P. Schmalzl, B. Körber
3. D ER G EWALT H ERR
WERDEN
Was tut die Polizei, um polizeiliche Situationen im Sinne maximaler Sicherheit für alle Mitglieder der Gesellschaft zu bewältigen? Welches Verhaltensrepertoire benötigt der einzelne Beamte, die einzelne Beamtin? Wie jede professionelle Tätigkeit braucht es berufliche Expertise, die zudem im Fall häufiger kritischer Ereignisse ein sehr hohes Maß an psychischer Stabilität verlangt. Was bedeutet eine solche Expertise für den Polizeiberuf und welchen Beitrag können die Psychologie und die psychologische Forschung hierzu leisten? Zentrale Elemente stellen Schulung und Training dar. Diese umfassen neben den polizeitaktischen Einsatztrainings unter anderem Trainings des kommunikativen Umgangs, des Konfliktmanagements sowie Verhaltenstrainings und Trainings sozialer Kompetenzen für einsatzspezifische Situationen. Diese Trainings führen in ihrer didaktischen Gesamtheit zu einem hohen Maß an professionellen Kommunikations- und Einsatzfertigkeiten, die von Hans Peter Schmalzl mit dem Begriff der „Einsatzkom-
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petenz“ beschrieben werden.7 Dabei ist ein wesentliches Ziel, konsensorientierte Kommunikation als erstes „Führungs- und Einsatzmittel“ (FEM) zu begreifen. In der Regel werden drei weitere FEM geschult, die gezielt auch zur Beruhigung einer kritischen Situation eingesetzt werden können, nämlich Reizgas, Einsatzstock und Schusswaffe, für deren Verwendungsbreite ein umfassendes Regelwerk vorliegt. Ein Zugriff erfolgt demnach erst, wenn alle Möglichkeiten einer Deeskalation erschöpft sind, also ein Führen und Leiten der Beteiligten nicht mehr möglich ist. In dem Moment, in dem eine Person von ihrer aggressiven Handlung zurücktritt, muss auch die Polizeikraft ihr Verhalten erneut anpassen und der Person alle Optionen einer friedlichen Lösung eröffnen. Es ist somit ein Höchstmaß an situativer kognitiver Flexibilität nötig. Damit überhaupt Führen und Leiten durch Polizeibeamte möglich wird, müssen diese – wie oben bereits erwähnt – befähigt sein, Verhaltensweisen des Interaktionspartners zu antizipieren. Sie müssen im Einsatz wissen, welche Eskalationspotentiale vorhanden sind. Es gilt daher, sowohl bestimmte Merkmale des Gegenübers und gewaltbeschleunigende Faktoren in der Situation zu erkennen als auch Beschleunigungsfaktoren im eigenen Verhalten zu kennen und zu vermeiden. In Bezug auf das Gegenüber müssen beispielsweise motivationale Erregung, Gewaltbeschleuniger wie Alkoholisierung oder ungewollte Körpersignale eingeschätzt werden. Situationsfaktoren beziehen sich auf die Örtlichkeit, auf Lichtverhältnisse und auch den Anlass der polizeilichen Tätigkeit. Beispiele für das Verhalten der agierenden Polizeikraft beginnen mit dem Erscheinungsbild, dem Auftreten und dem Kommunikationsverhalten,8 betreffen Informationsdefizite ebenso wie Eigensicherungs- und Koordinationsfehler. Sehr gute Kenntnisse dieser Faktoren und die Beherrschung angepasster Verhaltenstechniken können die Eskalation einer gewalthaltigen Situation verhindern. Die Vorwegnahme von möglichen Verhaltensweisen handelnder Personen in der sozialen Umwelt beginnt bereits mit dem Kennen und Erkennen der Umweltreize, die im Rahmen der polizeilichen Tätigkeit grundsätzlich bedeutsam sind. Dies sind zumeist solche Situationsfaktoren, die potentielle
7 8
Vgl. Schmalzl, Einsatzkompetenz, S. 35-41. Vgl. Hermanutz, Max/Spöcker, Wolfgang/Cal, Yasemin/Maloney, Julia, „Kommunikation bei polizeilichen Routinetätigkeiten“, in: Polizei & Wissenschaft, 3 (2005), S. 19-39.
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Gefahrenmomente für die Bürgerinnen und Bürger und den Polizisten bzw. die Polizistin selbst beinhalten. In diesem Kontext bezeichnet Gary Klein polizeiliche Professionalität als Ergebnis von Vorstellungskraft und Intuition,9 d. h., dass hier Prozesse der Wahrnehmung, der Informationsverarbeitung und Entscheidung zur Rede stehen. Uwe Füllgrabe prägte den Begriff des „Gefahrenradars“ und versteht darunter ein komplexes System aus Wahrnehmungs- und Denkstrukturen.10 Schmalzl schlägt den Begriff des „Psychologischen Frühwarnsystems“11 vor, dessen Bestandteile zur Fähigkeit beitragen, den Fokus der Aufmerksamkeit in sozialen Situationen zu wechseln sowie einen Wechsel von der Gesamt- zur Detailwahrnehmung und der Perspektive vorzunehmen. Festzuhalten ist, dass für einen gelungenen Polizeieinsatz zudem kognitive Flexibilität, das Wissen um Warnsignale sowie mentale Vorbereitung und Automatisierungsprozesse notwendig sind. Dietrich und Jörn Ungerer verlangen ergänzend die Förderung visueller und auditiver Informationsaufnahme im Hinblick auf Tätermerkmale sowie die Entwicklung einer Blicktechnik in Bezug auf Täterverhalten und peripheres Sehen.12 Zusammenfassend wird somit wissenschaftlich die Herausbildung und Stärkung wahrnehmungs- und neuropsychologischer Basisleistungen gefordert, die im beruflichen Kontext zum Tragen kommen sollen.
4. AKTIVES S EHEN ALS B ASISLEISTUNG DER D EESKALATION Das adaptive Verhalten von Menschen ist abhängig von der Fähigkeit, die Umgebung zu explorieren sowie Ereignisse, die biologisch relevant sind, zu entdecken und zu fokussieren. Eine Grundbedingung, diese (Such-)Leistungen zu erbringen, ist die Fähigkeit zu visueller Aufmerk-
9
Vgl. Klein, Gary, Sources of power. How people make decisions. Cambridge/MA: MIT Press, 1998.
10 Vgl. Füllgrabe, Uwe, Psychologie der Eigensicherung – Überleben ist kein Zufall. Stuttgart: Boorberg, 2002. 11 Schmalzl, Hans Peter, „Das Problem des ‚plötzlichen‘ Angriffs auf Polizeibeamte“, in: Polizei und Wissenschaft, 6 (2005) S. 8-18. 12 Vgl. Ungerer/Ungerer, Lebensgefährliche Situationen.
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samkeit. Hierunter ist die Selektion perzeptiver (hier: visueller) Inhalte zu verstehen, um diese dem Bewusstsein bzw. der Steuerung von Denken und Handeln zugänglich zu machen.13 Erst durch visuelle Aufmerksamkeit wird es dem Menschen möglich, in sinnhafte, auch prospektive, eben adaptive Interaktion mit dem Bild seiner Umgebung zu treten, wobei sowohl das sich darbietende Bild die Wahrnehmung und Kenntnisnahme des adaptierenden Menschen beeinflusst, als auch der Mensch das Bild seinem Anliegen gemäß beeinflussen kann. Man spricht von bildgeleiteter und kognitionsgeleiteter Betrachtung. Das sich darbietende Bild der Umwelt, die semantisch kohärente (und oftmals benennbare) Sicht einer realen Umgebung mit Hintergrundelementen und einer Anzahl einzelner Objekte, die sich in einem räumlich begrenzten Kontext befinden, wird als „komplexe visuelle Szene“14 bezeichnet. Man unterscheidet vage zwischen großskalierten Objekten, die nicht verändert werden können, und kleinskalierten Objekten, die „leichter“ vom Menschen manipuliert werden können. Neuropsychologische Augenbewegungsstudien zeigen, dass bei der Betrachtung komplexer visueller Szenen und Bilder überwiegend solche Anteile angesehen werden, die für den Betrachter besonders informativ sind. Bildanteile mit geringem Informationsgehalt werden dagegen nur wenig bis gar nicht betrachtet. Die Fixationen, die während einer Durchmusterung ausgeführt werden, um Bildanteile zu erkennen, häufen sich somit nicht gleichmäßig über eine Stimulusvorlage, sondern bilden in ihrer Verteilung inhaltsbezogene Schwerpunkte.15 In einer methodisch nicht unumstrittenen Untersuchung fanden Norman H. Mackworth und Anthony J. Morandi heraus, dass in den meisten Fällen be-
13 Vgl. Müller, Hermann, „Funktionen und Modelle der selektiven Aufmerksamkeit“, in: Karnath, Hans-Otto/Thier, Peter (Hrsg.), Neuropsychologie. Berlin: Springer, 2003, S. 245-258. 14 Henderson, John M./Hollingworth, Andrew, „High-level scene perception“, in: Annual Review of Psychology, 50 (1999), S. 243-271. 15 Vgl. Henderson, John M. „Regarding Scenes“, in: Current Directions in Psychological Science, 16, 4 (2007), S. 219-222; Buswell, Guy Thomas, How people look at pictures. Chicago/IL: University of Chicago Press, 1935.
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reits die erste Sakkade zu einem identifikationsrelevanten Bildanteil führt.16 Doch ist die menschliche Augenbewegungssteuerung nicht nur stimulusgeleitet (bottom-up), sondern ebenfalls abhängig von der Aufgabenstellung. Sie unterliegt damit auch den Kognitionen und somit den Gedächtnisleistungen, dem Wissen des Betrachters, seinen Einstellungen und erworbenen Schemata über die soziale Welt (top-down).17 „Bottom-up“ steht für den passiven Wahrnehmungsvorgang, sämtliche Einzelheiten einer Szene (Positionen und Bewegungen von Form, Farbe, Tiefe, Textur) zu verknüpfen und zu einem individuellen Bild zusammenzustellen.18 So richtet sich Aufmerksamkeit unmittelbar aus, wenn ein salientes Element innerhalb des Gesichtsfelds erscheint. Dies etwa sind unmittelbar biologisch relevante Reize, die eine Gefährdung unserer selbst bedeuten könnten – rasche Bewegungen auf uns zu, Farben mit Signaleigenschaften und auch solche Umgebungselemente, die sich deutlich von der übrigen Umgebung unterscheiden. Herausragend informationshaltige oder erkennungsrelevante Umgebungs- bzw. Objektanteile zählen ebenso dazu, so zum Beispiel Gesichter von anderen Menschen.19 Adaptive Top-down-Prozesse hingegen implizieren, dass der Mensch bereits ein Vorwissen und damit verbunden konkrete Vorstellungen von vertrauten Objekten seiner Umgebung hat. Diese erkennt oder antizipiert er bereits anhand weniger Anhaltspunkte. Ein Mensch ist also nicht nur passiver Bildempfänger, sondern auch Wahrnehmungsgestalter. Wir können willkürlich unsere Augen auf Anteile in unserem Gesichtsfeld ausrichten, die Umwelt willentlich explorieren und auch willentlich hinsichtlich bestimmter Eigenschaften oder bestimmter Objekte durchsuchen, um vorausschauend situative Entwicklungen vorweg zu nehmen. Bei einem solchen kognitionsgeleiteten Durchmustern des uns umgebenden Raums spricht
16 Vgl. Mackworth, Norman H./Morandi, Anthony J., „The gaze selects information details within pictures“, in: Perception and Psychophysics, 2, 11 (1967), S. 547-551. 17 Vgl. Yarbus, Alfred Lukyanovich, Eye Movements and Vision. New York: Plenum, 1967. 18 Vgl. Marr, David, Vision. San Francisco, CA: Freeman, 1982. 19 Vgl. Bülthoff, Heinrich H./Ruppertsberg, Alexa I. „Funktionelle Prinzipien der Objekt- und Gesichtserkennung“, in: Karnath, Hans-Otto/Thier, Peter (Hrsg.), Neuropsychologie. Berlin: Springer, 2003, S. 95-105.
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man zusammenfassend auch von Top-Down-Blicksteuerung20. Diese kognitiv geleitete Top-Down-Blicksteuerung kann den Verlauf einer Szenenbetrachtung maßgeblich mitbestimmen und ist im Kontext beruflicher Professionalisierung lern- und schulbar (vgl. Abbildung 2).21 Der Prozess selbst wird als „Aktives Sehen“22 bezeichnet und ist Grundvoraussetzung für zielgerichtete Handlungen, letztendlich für die Vermeidung von Eskalationen in polizeilichen Einsatzsituationen. In beiden Fällen, umgebungsgeleitet und kognitiv intendiert, ist für die Betrachtung eine Bildvorlage gegeben, die im sukzessiven Wechsel von Fixationen und Sakkaden durchmustert wird. So wechselt der Betrachter innerhalb dieses Durchmusterungspfades von einem zum nächsten erkennungsrelevanten Objekt oder Objektanteil.23 Der polizeiliche Proband in Abbildung 2 blickt entsprechend der vorab gegebenen Instruktion bei Erscheinen der photographischen Darstellung zunächst in die Mitte des Bildes (Fixationskreuz). Unwillkürlich wird sein erster Blicksprung (Sakkade) auf das Gesicht einer Person gelenkt. Dort verweilt er für einen kurzen Moment von minimal 90ms (erkennungsrelevante Fixation). Der vorab gestellten Aufgabe folgend, im Szenarium nach potentiell gefährlichen Objekten zu suchen, richtet der Proband seinen Blick anschließend über zwei SakkadenFixations-Wechsel in Richtung der Hände der Person. Dort entdeckt er eine Flasche, die im thematischen Kontext der dargestellten Situation (hier: Einlasskontrolle) eine potentielle Gefahr darstellt. Er führt weitere Fixationen aus, verharrt damit für einen bestimmten Zeitraum in der direkten Umge-
20 Vgl. Hanes, Doug P./Schall, Jeffrey D., „Neural control of voluntary movement initiation“, in: Science 274 (1996), S. 427-430; Milner, A. David/Goodale, Melvyn A., The visual Brain in Action. Oxford: Oxford University Press, 1995; Spelke, Elizabeth/Hirst, William/Neisser, Ulric, „Skills of divided attention“, in: Cognition, 4 (1976), S. 215-230. 21 Vgl. Körber, Bernd/Schmalzl, Hans Peter/Hammerl, Marianne, „Analyse automatisierter Prozesse visueller Informationsverarbeitung bei der Gefahrenerkennung. Der Einfluss von Priming und Expertise“, in: Polizei & Wissenschaft, 1 (2008), S. 2-18. 22 Findlay, John Malcom/Gilchrist, Iain D., Active Vision. The Psychology of Looking and Seeing. New York: Oxford University Press, 2007. 23 Vgl. Noton, David/Stark, Lawrence W., „Scanpaths in eye movements during pattern perception“, in: Science, 171 (1971) S. 308-311.
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bung des Objekts. Während dieser Zeit kommt er zu einem Handlungsentschluss und führt dann eine Handlung aus – im Experiment durch den einfachen Druck auf eine Signaltaste. Anschließend wird der Suchprozess bis zum Auffinden und Erkennen eines weiteren Zielobjektes fortgesetzt. Die Blickabfolge wiederholt sich. Der hier beispielhaft beschriebene Durchmusterungspfad unterliegt einem zentralen Abfolgesystem.24 Abb. 2: Aufgabenbezogene aktive Durchmusterung einer sozialen Szene am Beispiel Einlasskontrolle
Bildquelle: Körber, Bernd/Neuberger, Martin, „Visuelle Aufmerksamkeit und Informationsverarbeitung bei der Gefahrenerkennung im polizeilichen Einsatz – Erkenntnisgewinn und Sicherheit durch angewandte Wissenschaft“, in: Lorei, Clemens (Hrsg.), Eigensicherung und Schusswaffeneinsatz bei der Polizei. Beiträge aus Wissenschaft und Praxis 2009. Frankfurt a. M.: Verlag für Polizeiwissenschaft, 2009, S. 231-242, S. 237. Die Gesichter wurden nachträglich geschwärzt.
Die initiale Blicksteuerung folgt zunächst einem Bottom-up-Impuls. Die Gesichter von Personen liefern Beobachtern die meisten Informationen in
24 Vgl. hierzu Körber/Schmalzl/Hammerl, „Analyse automatisierter Prozesse“.
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einem Szenarium. Ähnliches Spontanverhalten gilt auch für Feuer oder rasche Bewegung.25 Das Loslösen des Blicks von solchen Objekten kann jedoch kognitiv intendiert erfolgen, bereits dieser Prozess ist schulbar. Auch das weitere Durchmustern der Szene kann dem Wissen und dem Können des Betrachters unterliegen. Polizeibeamte werden geschult, auf die Hände von Personen zu achten, da von diesen am meisten Gefahr ausgeht.26 Also werden sie entlang des Szeneninhalts einen schnellen Blickpfad suchen, um möglichst zügig die Hände in den Blick zu nehmen. Auch dieses Suchverhalten kann erworben werden: Ist ein Zielobjekt gefunden, benötigt eine Person zunächst eine Fixation von mindestens 90ms, um das Objekt bewusst benennbar zu machen. Danach kann eine Entscheidung für eine Handlung gefällt werden. Je sicherer diese ausgewählt werden kann, umso kürzer wird der Blick des Betrachters auf dem Zielobjekt verweilen und umso schneller kann er im Szenarium nach weiteren relevanten Zielobjekten suchen. Diese berufsbezogene visuelle Expertise kann ein vorzeitiges Erkennen sich anbahnender Eskalation und aktiver Gewalt verhindern. Sie ermöglicht dem Polizisten bzw. der Polizistin prospektiv, die Entwicklung einer Situation vorwegzunehmen und diese anschließend zu entschärfen.27 Abbildung 3 zeigt einen Durchmusterungspfad aus dem Themenfeld der Monitorüberwachung, der in ähnlicher Weise gedeutet werden kann. In diesem Beispiel liegt bereits eine von Aggressivität und physischer Gewalt geprägte Situation vor, bei der es darum geht, sehr schnell Entscheidungen für eine größere Anzahl von Polizistinnen und Polizisten zu treffen, um repressiv tätig zu werden und damit Schutz für unbeteiligte Bürger zu gewährleisten.28 In seiner Gesamtheit lässt sich der Erwerb dieser professionalisierten Blickführung als visuelle und kognitive Expertise der „Deeskalativen Verhaltenssteuerung“ beschreiben.
25 Vgl. Hasson, Uri/Nir, Yuval/Levy, Ifat/Fuhrmann, Galit/Malach, Rafael, „Intersubject synchronization of cortical activity during natural vision“, in: Science, 303 (2004), S. 1634-1640. 26 Vgl. Füllgrabe, Psychologie der Eigensicherung. 27 Vgl. Körber, Bernd, „Aufmerksamkeitssteuerung“, in: Schmalzl, Hans Peter/Hermanutz, Max (Hrsg.), Moderne Polizeipsychologie in Schlüsselbegriffen. Stuttgart: Boorberg, 32013 (1996), S. 38-44. 28 Vgl. ebd.
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Abb. 3: Aufgabenbezogene aktive Durchmusterung einer sozialen Szene am Beispiel Monitorüberwachung
Bildquelle: Körber/Neuberger, „Visuelle Aufmerksamkeit und Informationsverarbeitung“, S. 239.
5. F ÜHREN UND L EITEN DURCH „D EESKALATIVE V ERHALTENSSTEUERUNG “ Polizeiliche Expertise äußert sich bereits im Verhalten, bevor eine spezifische Handlungsweise geplant werden kann. Polizisten und Polizistinnen erwerben eine perzeptuelle Expertise, d. h. sie lernen, sich schneller von einem situationsirrelevanten Anteil in einer Gefahren bergenden Situation „lösen“ zu können. Dank dieser zusätzlichen kognitiven Fähigkeit können sie in der gleichen Zeit mehr Informationen aus einem Szenarium „abgreifen“ als ungeschulte Personen. Polizeiliche Experten zeigen implizit domänenspezifisches Blickverhalten, indem sie neben der Effektivität ihrer Tätigkeit gegenüber Laien auch einen ökonomischeren Umgang mit zeitlichen, räumlichen und aufmerksamkeitsbezogenen Ressourcen aufweisen. Diese Prozesse der Aufmerksamkeitslenkung und Wahrnehmungssteuerung sind lernbar! Für die polizeiliche Eigensicherung und für polizeiliches Einsatzverhalten sind folgerichtig (unbewusste) Wahrnehmungsprozesse vor einer Handlung wesentlicher Bestandteil der erfolgreichen Lagebewältigung. Sie schaffen für die einzelne Person im Polizeidienst ein höheres
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Maß an Handlungssicherheit und leisten damit einen Beitrag zu ihrer psychischen Stabilität, die erst ein ausgewogenes Stress- und Konfliktmanagement im Kontakt mit Bürgern und Bürgerinnen und auch gewaltbereiten Gegenübern möglich werden lässt. Das oben beschriebene „Aktive Sehen“ als wesentlicher Teil der visuellen Expertise von Polizistinnen und Polizisten darf als exemplarisch für einen Teil des modernen Verständnisses der Polizei gelten und zeigt, wie tief Polizeiforschung in den traditionellen wissenschaftlichen Disziplinen greifen kann. Führen und Leiten als Auftrag umfasst, wie eingangs dargelegt, selbstverständlich mehr als die Professionalisierung von Prozessen der Aufmerksamkeitssteuerung. Insofern sind die Forschungsergebnisse in Bezug auf die Praxis als lediglich beispielhaft für einen Verhaltensbereich polizeilicher Expertise zu betrachten. Jedoch machen die Ausführungen ebenso deutlich, dass polizeiliches Einschreitverhalten immer vor der von außen beobachtbaren Handlung beginnt. Wer anleiten will, muss nicht nur begründend wissen, warum er dies tut, er muss auch im Hinblick auf das in der Zukunft liegende Ziel wissen, wozu er es in der konkreten Situation tut: zum Schutz der Bürgerinnen und Bürger vor Aggression und Gewalt, zur Gewährleistung der objektiven Sicherheitslage und zur Förderung des subjektiven Sicherheitsgefühls aller Menschen in der Gesellschaft.
L ITERATURVERZEICHNIS Aronson, Elliot/Wilson, Timothy D./Akert, Robin M., Sozialpsychologie. München: Pearson, 62008 (1994). Buchmann, Eike/Hermanutz, Max, „Der Umgang mit psychisch auffälligen Personen“, in: Stein, Frank (Hrsg.), Grundlagen der Polizeipsychologie. Göttingen: Hogrefe, 2003, S. 50-58. Bülthoff, Heinrich H./Ruppertsberg, Alexa I., „Funktionelle Prinzipien der Objekt- und Gesichtserkennung“, in: Karnath, Hans-Otto/Thier, Peter (Hrsg.), Neuropsychologie. Berlin: Springer, 2003, S. 95-105. Bundesministerium des Inneren (Hrsg.), Die Kriminalität in der Bundesrepublik Deutschland. Polizeiliche Kriminalstatistik für das Jahr 2009. Rostock: Publikationsversand der Bundesregierung, 2010. Buswell, Guy Thomas, How people look at pictures. Chicago/IL: University of Chicago Press, 1935.
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Findlay, John Malcom/Gilchrist, Iain D., Active Vision. The Psychology of Looking and Seeing. New York: Oxford University Press, 2007. Füllgrabe, Uwe, Psychologie der Eigensicherung – Überleben ist kein Zufall. Stuttgart: Boorberg, 2002. Hasson, Uri/Nir, Yuval/Levy, Ifat/Fuhrmann, Galit/Malach, Rafael, „Intersubject synchronization of cortical activity during natural vision“, in: Science, 303 (2004), S. 1634-1640. Hanes, Doug P./Schall, Jeffrey D, „Neural control of voluntary movement initiation“, in: Science, 274 (1996), S. 427-430. Henderson, John M./Hollingworth, Andrew, „High-level scene perception“, in: Annual Review of Psychology, 50 (1999), S. 243-271. Henderson, John M. „Regarding Scenes“, in: Current Directions in Psychological Science, 16, 4 (2007), S. 219-222. Hermanutz, Max/Spöcker, Wolfgang/Cal, Yasemin/Maloney, Julia, „Kommunikation bei polizeilichen Routinetätigkeiten“, in: Polizei & Wissenschaft, 3 (2005), S. 19-39. Hücker, Fritz, Rhetorische Deeskalation. Stuttgart: Boorberg, 32010 (1997). Klein, Gary, Sources of Power. How people make decisions. Cambridge/MA: MIT Press, 1998. Körber, Bernd, „Aufmerksamkeitssteuerung“, in: Schmalzl, Hans Peter/Hermanutz, Max (Hrsg.), Moderne Polizeipsychologie in Schlüsselbegriffen. Stuttgart: Boorberg, 32013 (1996), S. 38-44. Körber, Bernd/Neuberger, Martin, „Visuelle Aufmerksamkeit und Informationsverarbeitung bei der Gefahrenerkennung im polizeilichen Einsatz Erkenntnisgewinn und Sicherheit durch angewandte Wissenschaft“, in: Lorei, Clemens (Hrsg.), Eigensicherung und Schusswaffeneinsatz bei der Polizei. Beiträge aus Wissenschaft und Praxis 2009. Frankfurt a. M.: Verlag für Polizeiwissenschaft, 2009, S. 231-242. Körber, Bernd/Schmalzl, Hans Peter/Hammerl, Marianne, „Analyse automatisierter Prozesse visueller Informationsverarbeitung bei der Gefahrenerkennung. Der Einfluss von Priming und Expertise“, in: Polizei & Wissenschaft, 1 (2008), S. 2-18. Krauthan, Günter/Wagner-Link, Angelika, „Verkehrskontrollen. Konfliktbedingungen und Konflikt vermindernde Verhaltensweisen“, in: Stein, Frank (Hrsg.), Grundlagen der Polizeipsychologie. Göttingen: Hogrefe, 2003, S. 37-49.
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Der Fall „Breivik“ in den Massenmedien Gesellschaftliche Verarbeitungspraktiken von Phänomenen entgrenzter Gewalt D ANIEL Z IEGLER
1. E INLEITUNG Am 22. Juli 2011 starben bei einem Bombenanschlag im Osloer Regierungsviertel acht Menschen. Kurze Zeit später wurden 69 Menschen auf der norwegischen Insel Utøya getötet, auf der zu diesem Zeitpunkt das Ferienlager der Jugendorganisation der norwegischen Arbeiterpartei stattfand. Als die Polizeikräfte auf der Insel eintrafen, ließ sich der Täter, der zum Tatzeitpunkt 32-jährige Anders Behring Breivik, widerstandslos festnehmen. Später bekannte sich Breivik sowohl zum Anschlag in Oslo als auch zum Massenmord auf Utøya. Am Tag der Anschläge versendete Breivik ein über 1500 Seiten umfassendes Manifest, das ihm u. a. zur Legitimation seiner Tat und zur Selbstdarstellung diente. Der Gerichtsprozess gegen Breivik begann am 16. April 2012. Im Mittelpunkt des Prozesses stand nicht etwa die Schuldfrage, die durch das Bekenntnis Breiviks bereits kurz nach den Anschlägen geklärt war, sondern die Frage nach der psychischen Verfassung des Täters, also seiner Zurechnungsfähigkeit. Das erste psychiatrische Gutachten attestierte Breivik eine paranoide Schizophrenie. Da das Gutachten jedoch auf öffentliche Kritik stieß, ordnete das Gericht ein weiteres Gutachten an, in dem die Psychiater zum Schluss kamen, Breivik leide lediglich an einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Am 24. August 2012 wurde Breivik schließlich für den
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Mord an 77 Menschen zu 21 Jahren Haft verurteilt. Der Gewaltexzess Breiviks hat in der Öffentlichkeit für große Irritationen gesorgt und die Frage aufgeworfen, wie es in generell befriedeten westlichen Gesellschaften zu solch einer Tat kommen konnte. In meinem Beitrag werde ich zunächst das Verhältnis von Gewalt und Medien skizzieren und dabei beleuchten, inwieweit es sich hierbei um eine symbiotische Beziehung handelt, im Zuge derer Medien nicht nur eine vermittelnde Funktion zwischen Tat, Täter und medialer Öffentlichkeit einnehmen, sondern darüber hinaus den kulturellen Rahmen bereitstellen, in dem sich unterschiedliche Gewalthandlungen formieren können. Anschließend werde ich anhand verschiedener Online-Berichte der Rekonstruktion des in der öffentlichen Wahrnehmung plötzlichen Gewaltereignisses nachgehen und in diesem Zusammenhang einige zentrale Aspekte des öffentlich-medialen Diskurses herausarbeiten. Im Vordergrund stehen dabei Berichte, die kurz nach den Anschlägen veröffentlicht wurden und die (mediale) Verunsicherung und Unordnung nach den Ereignissen illustrieren. Im letzten Abschnitt wird schließlich die Frage nach dem Tatmotiv diskutiert. Hierbei liegt das Hauptaugenmerk auf unterschiedlichen Erklärungsansätzen für den Gewaltexzess, die vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Selbstvergewisserung und Normalisierungspraktiken thematisiert werden.
2. G EWALT
UND
M ASSENMEDIEN
Gewalt kann in den unterschiedlichsten Formen und Ausmaßen auftreten und auf verschiedenste Motivlagen zurückgehen. Schließlich benötigt Gewalt, „um in Erscheinung zu treten, stets gewisser ‚Codes‘, gewisser Inszenierungs- und Darstellungsweisen […].“1 Diese Codierung von Gewalt variiert zum einen geschichtlich in der Weise, dass jede Zeitepoche spezifische Gewaltformen definiert und anerkennt, während andere Verhaltensweisen nicht als Gewalt erkannt werden. Zum anderen obliegt die Codierung von Gewalt immer auch dem jeweiligen Macht- bzw. Herr-
1
Wolf, Burkhardt, „Codierung von Gewalt“, in: Maye, Harun/Scholz, Leander (Hrsg.), Einführung in die Kulturwissenschaft. München: UTB, 2011, S. 74.
DER FALL „BREIVIK“ IN DEN MASSENMEDIEN | 103
schaftssystem, das bestimmte Taten unter Strafe stellt und gleichzeitig über das Gewaltmonopol als Staatsgewalt verfügt. Erst diese Verwaltung der menschlichen Gewaltfähigkeit, so der Mythos der Moderne, ermöglicht dem Individuum freie Subjektivität auf der Grundlage einer sicheren und vertrauten Lebenswelt. Obschon Gewalt in westlichen Gesellschaften weitgehend zurückgedrängt wurde, bleibt sie sowohl physisch als auch imaginär erfahrbar. So kommt Heinrich Popitz in seinen Überlegungen zum Zusammenhang von Macht und Gewalt zu folgendem ernüchterndem Schluss: „Der Mensch muss nie, kann aber immer gewaltsam handeln […].“2 Popitz’ basale Feststellung über die menschliche Gewaltfähigkeit als JedermannsRessource basiert auf der von ihm postulierten relativen Instinktentbundenheit des Menschen, die zusammen mit der Imaginationskraft, der Glorifizierung und Indifferenz gegenüber den Opfern und der technischen Perfektionierung von Waffen zur absoluten Gewalt mutiert sei.3 Aus dieser Potenzierung der Gewaltfähigkeit resultiert jedoch zuvorderst (nur) eine diffuse Bedrohungslage, die sich in einschlägigen soziologischen Gesellschaftsdiagnosen, von der Risikogesellschaft bis zur Sicherheitsgesellschaft niederschlägt. Denn die Wahrscheinlichkeit, tatsächlich Opfer physischer Gewalt zu werden, bleibt gering, verglichen mit anderen Risiken. Man könnte sogar so weit gehen zu behaupten, die Primärerfahrung mit Gewalt sei weitestgehend zurückgedrängt und durch eine medial vermittelte Sekundärerfahrung ersetzt worden. Die medial vermittelte Gewalt kann sich dabei sowohl auf fiktionale, z. B. filmische Gewalt beziehen als auch auf in Nachrichtenberichten aufbereitete tatsächliche Gewaltereignisse.4 Generell nehmen die Medien hierbei auf der Grundlage aufmerksamkeitsökonomischer Prinzipien eine vermittelnde Rolle zwischen dem Ereignis und dem Zuschauer ein. Gleichsam erzeugen die Medien durch ihre vermittelnde Funktion erst die diskursive Öffentlichkeit, die damit sowohl als politische als auch als kommunikativ-mediale Kategorie zu verstehen ist. Neben ihrer informierenden und zensierenden Funktion filtern und kanalisieren Medien die Informationsflut, die sich in Folge technischer Ent-
2
Popitz, Heinrich, Phänomene der Macht. Tübingen: Mohr, 1992, S. 50.
3
Ebd., S. 43-103.
4
Zur Unterscheidung verschiedener Gewaltdarstellungen und -formate siehe exemplarisch Keppler, Angela, Mediale Gegenwart. Eine Theorie des Fernsehens am Beispiel der Darstellung von Gewalt. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2006.
104 | DANIEL ZIEGLER
wicklungen weiter vervielfacht hat, und bieten auf diese Weise kommunikative Zugänge zur Welt. Diese medial vermittelten Weltzugänge sind in der Regel narrativ angelegt und können zur Komplexitäts- und Kontingenzreduktion beitragen oder aber erst Kontingenzen sichtbar machen, indem sie beispielsweise das gesellschaftliche Risikobewusstsein schärfen oder Ängste schüren. Die gegenwärtigen medialen Gewaltdiskurse, die im Folgenden thematisiert werden, sind maßgeblich durch zwei Zäsuren geprägt worden: zum einen durch das School Shooting an der Columbine High School am 20. April 1999, zum anderen durch die Anschläge vom 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Arlington. Diesen Ereignissen gemeinsam ist die Tatsache, dass sie beide als Angriffe auf die symbolische Mitte westlicher Gesellschaften gewertet werden können.5 Des Weiteren handelte es sich in beiden Fällen um plötzliche Gewalteinbrüche an zuvor als sicher geglaubten öffentlichen Orten von symbolischem Wert. Ein entscheidender Unterschied liegt jedoch darin, dass Columbine als Angriff von innen gewertet wurde, während die Terroranschläge vom 11. September als Angriff von außen rezipiert wurden. Der 11. September ließ sich folglich als Gewalt des Anderen externalisieren, der das Eigene bedroht. Der damalige US-Präsident George W. Bush reagierte auf die Anschläge mit dem ‚Global War on Terrorism‘. Das Schulmassaker an der Columbine High School ließ sich nicht gänzlich externalisieren, da es sich hierbei um einen Angriff aus der (sozial konstruierten) Mitte der Gesellschaft handelte, der gleichzeitig das eigene Zentrum angriff. Aufgrund dessen konnte die Gewalt nicht als Gewalt des Anderen abgewiesen werden. Als Reaktion wurde insbesondere über die Verfügbarkeit gewaltverherrlichender Medien, Waffengesetze und die Sicherheit an Schulen debattiert. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung wird für beide Phänomene eine enge Koppelung an massenmediale Strukturen sowie technische Möglichkeiten festgestellt.6
5
Brumme konnte beispielsweise in seiner Untersuchung von 14 School Shootern seit 1997 darlegen, dass ein Großteil der Täter aus der gesellschaftlichen ‚Mittelschicht‘ stammt. Vgl. Brumme, Robert, School Shootings. Soziologische Analysen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2011, S. 75-89.
6
Zur Verbindung von Gewalt und Medien siehe exemplarisch Grzeszyk, André, Unreine Bilder. Zur medialen (Selbst-)Inszenierung von School Shootern. Biele-
DER FALL „BREIVIK“ IN DEN MASSENMEDIEN | 105
Für den Terrorismus konstatiert Sonja Glaab, Terroristen seien auf die mediale Aufmerksamkeit angewiesen, denn „erst durch die Berichterstattung erfahren ihre Aktionen die gewünschte Resonanz in der Öffentlichkeit“7. Die Massenmedien wiederum spiegeln den Konflikt zwischen den Terroristen und den von ihnen wahrgenommenen Gegnern nicht einfach nur wider: Sie beteiligen sich aktiv an der Diskussion über den Terrorismus, sie wählen Meinung und Fakten aus, sie bewerten und gewichten. Sie handeln also aktiv innerhalb des Konflikts und sind damit selbst eigenständige Akteure.8
Hieraus lässt sich schließen, dass Terrorismus immer auch ein medialisiertes Phänomen ist, das erst auf der Grundlage technischer Verbreitungsmedien seine jetzige Form annimmt. Terroristen zweckentfremden Medien nicht einfach, sondern integrieren diese als festen Bestandteil ihrer Tatplanung. Es resümiert Andreas Ziemann, „dass die Öffentlichkeit (im Verbund mit den Massenmedien) die ‚vierte Gewalt‘ im Staat ist“9, so ließe sich für den Terrorismus sagen, dass er eine hyperbolische Form der Aufmerksamkeitsgenerierung und Öffentlichkeitserzeugung darstellt, die Stephan Alexander Weichert als Aufmerksamkeitsterrorismus bezeichnet, der „ohne das internationale Zusammenspiel von Mediennutzung und Publikumswirkung gegenwärtig nicht mehr denkbar“10 ist. Die Entgrenzung menschlicher Gewalt, die für Popitz auf die relative Instinktentbundenheit und Realitätsentbundenheit zurückgeht, potenziert sich durch die Medien, die einen Ermög-
feld: transcript, 2012; Christians, Heiko, Amok. Geschichte einer Ausbreitung. Bielefeld: Aisthesis, 2008; Glaab, Sonja, „Medien und Terrorismus – Eine Einführung“, in: dies. (Hrsg.), Medien und Terrorismus – Auf den Spuren einer symbiotischen Beziehung. Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag, 2007, S. 11-15. 7
Ebd., S. 11.
8
Ebd., S. 13.
9
Ziemann, Andreas, Soziologie der Medien. Bielefeld: transcript, 2012, S. 64.
10 Weichert, Stephan Alexander, „Die Propaganda der Tat – Zur Kommunikationsstrategie des modernen Aufmerksamkeitsterrorismus“, in: Glaab (Hrsg.), Medien und Terrorismus, S. 83-98, hier S. 97.
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lichungsraum bereitstellen, in dem das singuläre Gewaltereignis einer breiten Öffentlichkeit zugänglich wird.11 Neben dem allgemeinen Konsens darüber, dass Medien und Terrorismus eng miteinander verwoben sind, herrscht auch innerhalb der Amokforschung Einigkeit darüber, dass es sich beim Amoklauf wie auch bei einer seiner Unterkategorien, dem School Shooting, um ein medialisiertes Phänomen handelt. Dabei hat der Amok zunächst eine ganz eigene Mediengeschichte durchlaufen, die ihren Ursprung im malaiischen Kulturraum hat. Über Reiseberichte tradiert erreicht der Amok als Signum des Anderen die westliche Welt, um schließlich in seiner aktuellen Ausprägung vor allem als School Shooting das Fremde im Eigenen heraufzubeschwören.12 Im Anschluss an den Schulamoklauf an der Columbine High School hat sich ein kulturelles Skript entwickelt, das schließlich als Handlungsanleitung für nachfolgende Täter dient.13 Zu diesem Skript zählt u. a. auch der Selbstmord des Täters als Finale des Amoklaufs, der sich erst seit Columbine in das kulturelle Skript eingeschrieben hat. Für den Amok lässt sich indes dasselbe erkennen wie für den Terrorismus: „die perfide Kommunikationsstrategie von Terroristen – maximaler Störeffekt bei möglichst geringem Einsatz“14, wobei der geringe Einsatz nur im Kontext einer Zweck-MittelRelation tatsächlich als gering einzuschätzen ist. Die Kopplung von Amok und Medien geht allerdings noch über die besagte Kommunikationsstrategie hinaus. Im Amokdiskurs wird neben der moralischen Verantwortung der Medien in Bezug auf die Berichterstattung im Anschluss an die Taten, die zuweilen bei einer spektakulären Darstellung und der daraus resultierenden Popularisierung des Ereignisses eine Gefahr für potentielle Nachahmungstäter stellen würden, der möglicherweise tatsächlich Gewalt forcierende Medienkonsum der Täter sowie der
11 Popitz, Phänomene der Macht, S. 48-52. 12 Zur Begriffsgeschichte des Amok siehe Christians, Amok. Geschichte einer Ausbreitung; Carr, John E., „Ethno-behaviorism and the culture-bound syndromes: The case of amok“, in: Culture, Medicine, and Psychiatry 2, 3 (1987), S. 269-293. 13 Vgl. Brumme, School Shootings, S. 69 ff. 14 Weichert, „Die Propaganda der Tat“, S. 84.
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Umgang mit Verbreitungsmedien im Kontext von Selbstdarstellungs- und Inszenierungsmöglichkeiten diskutiert.15 Zusammenfassend ließe sich sagen, dass Gewalttäter Medien zur Distribution von Inhalten wie beispielsweise. Bekennerschreiben, persönliche Botschaften, schriftliche Legitimationen der Tat (Manifest, Pamphlet usw.) nutzen oder aber auch zur Selbstdarstellung und Inszenierung, die einer breiten generalisierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Dadurch erreichen Täter eine große Masse, nehmen an globalen Diskursen teil und finden Anerkennung ihrer Identität, der Organisation, Vereinigung oder politischen Strömung. Für die Subjektebene ist darüber hinaus die Autorenschaft von Bedeutung, als Möglichkeit, selbst zum Autor von Medieninhalten zu werden und damit in der Tat performativ ein eigenes Drehbuch mit eigenem Setting, eigener Narration usw. zu verwirklichen und sich in das mediale Gedächtnis einzuschreiben.
3. D ER F ALL „B REIVIK “ IN DEN M ASSENMEDIEN Am Tag der Anschläge in Norwegen veröffentlichte Zeit Online drei Artikel, in denen sie darum bemüht war, die Gewaltereignisse in einen kausalen Zusammenhang zu bringen und eine Ordnung wiederherzustellen, die durch die Anschläge aus den Fugen geraten war. Die erste Meldung wurde ca. vier Stunden nach dem Bombenanschlag in Oslo veröffentlicht und berichtete sehr knapp über die ersten Informationen zu dem Massaker auf Utøya. In der Eilmeldung hieß es: Ein Unbekannter hat in einem Sommerlager der norwegischen Jugendorganisation der Sozialdemokraten um sich geschossen und nach Angaben der Polizei vier Men-
15 Siehe hierzu exempl. Scheithauer, Robert/Bondü, Rebecca, Amoklauf und School Shooting. Bedeutung, Hintergründe und Prävention. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2011; Kellner, Douglas, Guys and Guns Amok. Domestic Terrorism and School Shootings from the Oklahoma City Bombing to the Virginia Tech Massacre. Boulder: Paradigm, 2008; Hoffmann, Jens/ Wondrak, Isabel (Hrsg.), Amok und zielgerichtete Gewalt an Schulen. Früherkennung/Risikomanagement/Kriseneinsatz/Nachbetreuung. Frankfurt a. M.: Verlag für Polizeiwissenschaft, 2007.
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schen getötet. Das berichten mehrere norwegische Medien. Die Polizei spricht von einem Zusammenhang mit dem Bombenanschlag in der Stadt Oslo.16
Wenige Minuten später erschien der Kurzbericht über den Anschlag in Oslo, in dem bereits über die Möglichkeit eines Terroranschlags oder Attentats spekuliert wurde.17 Erst am Abend wurden die ersten Einschätzungen über den Täter und das Tatmotiv publik gemacht. Im dritten Artikel zitierte Zeit Online den norwegischen Journalisten Kjell Arild Nilsen, der davon ausging, dass es sich um einen islamistischen Terroranschlag handle.18 Mögliche Motive für den islamistischen Anschlag könnten der Einsatz Norwegens in Libyen, der Einsatz in Afghanistan oder aber der Streit um die Mohammed-Karikaturen sein. Anders Børringbo, Mitarbeiter des norwegischen öffentlich-rechtlichen Rundfunksenders NRK, fasst die Spannungslage zwischen dem Islam und der norwegischen Gesellschaft vor den Anschlägen Breiviks wie folgt zusammen: In der Folge der Veröffentlichung von Mohammed-Karikaturen durch die dänische Jyllands Posten (Aarhus) und anschließend durch norwegische Blätter im Jahr 2006 kam es zu einer Protestwelle von Muslimen. An vielen Orten der Welt wurden dänische und norwegische Botschaften und Unternehmen angegriffen, in Oslo kam es zu Ausschreitungen. Diese Ereignisse veränderten die Diskussion über den Islam in Norwegen nachhaltig; plötzlich tauchten antiislamische Parolen in den Debatten in den Mainstreammedien auf. Es wurde argumentiert, dass der Islam als Religion das wahre Problem sei.19
16 Zeit Online, 22.7.2011, „Tote nach Schüssen auf Jugendliche in Ferienlager bei Oslo“, in: http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2011-07/schuesse-juge ndlager-oslo (14.8.2014). 17 Zeit Online, 22.7.2011, „Mehrere Tote durch Bombenanschlag in Oslo“, in: http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2011-07/oslo-explosion (14.8.2014). 18 Zeit Online, 22.7.2011, „Mehrere Menschen durch zwei Anschläge in Norwegen getötet“, in: http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2011-07/anschlae goslo-ferienlager-2 (14.8.2014). 19 Børringbo, Anders: „‚Internet-made Terrorists‘ – Das World Wide Web war ein Verstärker rechtsextremistischer Tendenzen“, in: Haller, Michael (Hrsg.), Rechtsterrorismus in den Medien. Der Mörder Breivik in Norwegen und die Terrorzelle NSU in Deutschland – Wie die Journalisten damit umgingen und
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Auch der US-amerikanische Terrorismusexperte William McCants forcierte das Gerücht, die Anschläge seien von einer islamistischen Terrororganisation namens Ansar al-Dschihad al-Alami als Antwort auf die Beteiligung Norwegens in Afghanistan verübt worden.20 Die Vermutung, es handele sich um einen islamistischen Terroranschlag, verdeutlicht, dass das terroristische Gefahrenpotential nach dem 11. September fast ausschließlich islamistischen Gruppierungen zugesprochen wurde. Die Gleichsetzung von Islamismus mit Terrorismus findet sich auch in einigen wissenschaftlichen Auseinandersetzungen nach 9/11 wieder.21 Andreas Bock beginnt entsprechend seine Übersicht zum Thema Terrorismus mit dem 11. September und kommt in Bezug auf die Gefahrenlage, die vom Terrorismus ausgeht, zu folgendem Fazit: Heute sehen sich die westlichen Demokratien nicht mehr nur allein mit einem islamistischen Terrorismus konfrontiert, der von außen kommt, sondern zunehmend auch durch einen ‚homegrown terrorism‘ bedroht: Scheinbar gut integrierte Einwandererkinder der zweiten und dritten Generation oder muslimische Konvertiten radikalisieren sich und fühlen sich zum gewaltsamen Kampf berufen.22
Umso überraschender und verstörender wirkte somit die Gewalttat Breiviks, denn zehn Jahre nach den Anschlägen auf die Vereinigten Staaten hatte man den Terrorismus, wenn schon nicht erfolgreich verbannt, so doch wenigstens gesellschaftlich verortet: als islamistischen Terrorismus, vornehmlich unter der Ägide von Al-Qaida. Dadurch wurde der gesellschaftliche Störfaktor Terrorismus insofern normalisiert, als er zu einem (medialen) Wissen geronnen war und dadurch einen Teil seiner Plötzlichkeit und Unberechenbarkeit einbüßte, aus der er seine Kraft bezog. Der eigentliche
was sie voneinander lernen können. Berlin – Münster: LIT, 2013, S. 71-75, hier S. 74. 20 Zeit Online, 22.7.2011, „Mehrere Menschen durch zwei Anschläge in Norwegen getötet“. 21 Vgl. Quadflieg, Dirk: „Der Terrorist“, in: Moebius, Stephan/Schroer, Markus (Hrsg.), Diven, Hacker, Spekulanten. Sozialfiguren der Gegenwart, Berlin: Suhrkamp, 2010, S. 396-407; Bock, Andreas, Terrorismus. Paderborn: Fink, 2009; Glaab, „Medien und Terrorismus“. 22 Ebd., S. 9.
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Schrecken der Tat resultiert also größtenteils daraus, dass sie den Rahmen der zu diesem Zeitpunkt sozusagen erwartbaren Gewalt verschiebt oder sogar aufsprengt und damit eine zielgerichtete Auf- und Verarbeitung der Ereignisse zunächst untergräbt. In der Berichterstattung konnte demzufolge nicht auf bekannte, ritualisierte und als verlässlich erprobte Narrationsstrategien zur Wiederherstellung der sozialen Realität zurückgegriffen werden. Diese Tatsache verdeutlichte sich einen Tag nach den Anschlägen, als Zeit Online vermeldete: Am Freitag noch mochte man die Bombenexplosion im Osloer Regierungsviertel für ein schlimmes, aber doch in einer an Terror gewöhnten Welt halbwegs erfassbares Attentat halten, das Ausmaß des Mordens im Sommerlager der Jungsozialisten war da noch unbekannt. Islamistische Gruppen schienen die wahrscheinlichsten, üblichen Verdächtigen. Doch dann kam am Sonnabend die neue, schreckliche Hiobsbotschaft: Der 32-jährige Attentäter der beiden Taten, Anders Behring B., ist ein rechtsradikaler Landsmann.23
Während sich ein islamistisch motivierter Terroranschlag bis dato längst in den medialen Haushalt eingeschrieben hatte und im Zuge dessen ein breites Repertoire an massenmedialen Reaktionsweisen und Erklärungsmodellen sowie politischen Reaktionen – wie beispielsweise die Verschärfung von Sicherheitsgesetzen – zur Verfügung stand, so war die Öffentlichkeit nicht gefeit vor einem rechtsextremen Täter, der einen Anschlag in dem Land verübt, in dem er selbst lebt. Eine ähnliche öffentliche Unfassbarkeit evozierten im selben Jahr, nur vier Monate nach den Anschlägen in Norwegen, die Morde der rechtsextremen Terrororganisation NSU (Nationalsozialistischer Untergrund) in Deutschland. Der norwegische Journalist Sven Egil Omdal konstatiert in Bezug auf die beiden Gewaltereignisse, dass „seit dem 11. September 2001 und den Bombenanschlägen vor allem in London und Madrid […] die norwegischen Journalisten – ähnlich wie die Medien in den meisten westeuropäischen Ländern – viel mehr mit dem Jihadismus und einem angeblich
23 Zeit Online, 23.7.2011, „Es war einmal Norwegen“, in: http://www.zeit.de/poli tik/ausland/2011-07/norwegen-attentat, (14.8.2014).
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immer stärker werdenden militanten Islam beschäftigt [waren], als mit dem Rechtsextremismus und den militanten Tendenzen im rechten Spektrum.“24 Dass es sich beim Terrorismus zuallererst um eine Gewaltform handelt, die im Sinne Popitz’ als Jedermanns-Ressource unabhängig von ethnischer Herkunft, religiösem Glauben oder Ähnlichem auftreten kann, geriet indes immer wieder in den Hintergrund. Die mediale Aufarbeitung des Falls Breivik gestaltete sich auch deshalb als schwierig und undurchsichtig, da es sich hierbei um eine hybride Gewalttat handelte: Lässt sich der Anschlag auf das Osloer Regierungsviertel in Bezug auf die Vorgehensweise Breiviks als Terroranschlag einstufen, so ähnelt das Massaker auf Utøya sowohl aufgrund der Waffenwahl als auch wegen der Vorgehensweise eher einem Amoklauf. Der große Unterschied zu den Amokläufen nach Columbine liegt allerdings in der Tatsache, dass sich Breivik nicht das Leben nahm, sondern auf die Festnahme durch die Polizei wartete. Bereits einen Tag nach den Anschlägen veröffentlichte Zeit Online sechs Artikel und drei Bilderreihen zu den Geschehnissen: Neben der Frage nach dem Mordmotiv des Täters, einer möglichen Komplizenschaft und seiner politischen wie auch religiösen Gesinnung, dominierten die affektiven Augenzeugenberichte der Überlebenden sowie emotionalisierte Trauerbekundungen die Berichte. Hierbei ist festzustellen, dass die Artikel darum bemüht waren, über narrative Techniken des Othering eine Grenze und Differenzierung zu Tat und Täter herzustellen. Das geschah zunächst durch die Selbstvergewisserung der norwegischen Gesellschaft und durch die Stärkung des gemeinschaftlichen Zusammenhalts durch Abgrenzung von der Tat: „Damals schützten die Mainstream-Medien die vorherrschende Schilderung vom friedlichen Volk, das von innen heraus angegriffen wurde – und das trotzdem nicht willens ist, sich auf das Niveau des Angreifers herabzulassen.“25 In einem Zeit Online-Artikel der am Tag nach den Anschlägen veröffentlicht wurde, zeigt sich, wie der Gewaltakt zur Abgrenzungsfolie einer
24 Omdal, Sven Egil, „Der Mainstream-Journalismus und die politische Kultur Norwegens“, in: Haller, Michael (Hrsg.), Rechtsterrorismus in den Medien. Der Mörder Breivik in Norwegen und die Terrorzelle NSU in Deutschland – Wie die Journalisten damit umgingen und was sie voneinander lernen können. Berlin – Münster: LIT, 2013, S. 43-51, hier S. 45. 25 Ebd., S. 45.
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bis dato friedfertigen, zufriedenen und ‚normalen‘ norwegischen Gesellschaft wird: Vor wenigen Tagen noch genossen die Menschen das unschuldig-wohlige Gefühl, in einem der glücklichsten Länder der Welt zu wohnen. Wo andere Staaten unter hohen Schulden oder Arbeitslosigkeit ächzen, ist Norwegen dank Öl und Gas schuldenfrei, die Wirtschaft floriert und sucht dringend Arbeitskräfte. Der Grundstücksmarkt boomt, Löhne und Gehälter steigen schneller als die Preise. Es war einmal ein Land ohne Feinde und ohne ernsthafte Sorgen. Dann kam der Attentäter.26
Norwegen wird hierbei zu einem Idyll verklärt, wodurch die Unfassbarkeit der exzessiven Gewalttat weiter verstärkt wird. Dennoch wird im selben Artikel versucht, den Riss, den die Anschläge in der norwegischen Gesellschaft hinterlassen haben, durch die Hervorhebung der persönlichen Nähe der Bewohnerinnen und Bewohner zu schließen und das Vertrauen der Bevölkerung in die öffentliche Sicherheit wiederherzustellen: Die Netze von Familie, regionaler Herkunft, Ausbildung und Beruf sind ungleich persönlicher, die Globalisierung und der neue Wohlstand haben sie zwar geschwächt, aber doch nicht aufgelöst. Die gemeinsame Liebe zu der oft dramatischen Landschaft und der Stolz auf die Eigenständigkeit der Regionen und Dialekte vom Nordkap bis zum Skagerrak bleiben ein starkes Bindeglied.27
Die mediale Kontrastierung des Gewaltereignisses in das von sozialer Nähe und Wohlstand geprägte ‚Land ohne Feinde und ohne ernsthafte Sorgen‘ auf der einen Seite, und den Attentäter auf der anderen Seite stellt einen ersten Schritt zur „(Wieder-)Herstellung geordneter Lebensverhältnisse nach dem Schreckensereignis“28 dar. Tobias Scholz hat in seiner Studie über die mediale Aufarbeitung von (Natur-)Katastrophen darauf verwiesen, „dass die Medien eine Krise nicht nur einer entfernten Öffentlichkeit kom-
26 Zeit Online, 23.7.2011, „Es war einmal Norwegen“. 27 Ebd. 28 Scholz, Tobias, Distanziertes Mitleid. Mediale Bilder, Emotionen und Solidarität angesichts von Katastrophen. Frankfurt a. M.: Campus, 2012, S. 13.
DER FALL „BREIVIK“ IN DEN MASSENMEDIEN | 113
munizieren, sondern dass sie zugleich die Rückführung zur Normalität und die Bewältigung der Katastrophe moderieren“29. Am Tag nach den Anschlägen von Oslo und Utøya waren die Medien noch weit davon entfernt, so etwas wie soziale Normalität wieder herzustellen; allerdings zeigt sich in der Kontrastierung bereits die Stoßrichtung für die folgenden Medienberichte, in denen immer wieder die Heldenerzählungen der Opfer im Vordergrund stehen. Unter Ausschluss des Täters wird dadurch das soziale Band auf emotionaler Ebene durch die geteilte Erfahrung des Leides wiederhergestellt.
4. W IEDERHERSTELLUNG VON N ORMALITÄT UND DIE P OSITIONIERUNG DES T ÄTERS Neben dem terroristischen Akt als solchem ist es vor allem der Täter Anders Behring Breivik, der in der öffentlichen Debatte immer wieder analysiert wurde. Die leitende Frage lautete zumeist: Was bringt einen Menschen dazu, in einem Gewaltexzess 77 Menschen zu töten? Die Frage nach den Motiven des Täters bedient das allgemeine Bedürfnis nach Sinn und Ordnung, das bei extremen Gewalttaten umso stärker hervortritt, als diese nicht mehr mit den Kategorien einer normalen, weil erwartbaren anomischen Handlung erklärt werden können.30 Entgrenzte Gewalt unterscheidet sich insofern von instrumenteller Gewalt, als sie ihre Motivation hauptsächlich aus sich selbst zieht und den Rahmen einer nachvollziehbaren ZweckMittel-Relation überschreitet. Jan Philipp Reemtsma bezeichnet diese Form der Gewalt als autotelisch, da ihr Ziel „sie selbst, das heißt die Zerstörung eines anderen Körpers“31 ist. Während sich lozierende und raptive Gewalt in westlichen Gesellschaften Reemtsma zufolge noch nachvollziehen lassen, da sie durch ein außerhalb der Gewalt selbst liegendes Ziel motiviert werden, stelle die kulturelle
29 Ebd. 30 Zur gesellschaftlichen Funktion von anomischen Verhaltensweisen im Kontext erwartbarer Abweichung siehe Durkheim, Émile, Die Regeln der soziologischen Methode. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1984, S. 141-164. 31 Reemtsma, Jan Philipp, Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne. Hamburg: Hamburger Edition, 2008, S. 117.
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Einhegung autotelischer oder entgrenzter Gewalt ein zentrales Problem westlicher Gesellschaften dar, denn: „Diese Gewalt ist uns fremd geworden, sie ist gleichsam der Einbruch irgendeines Teuflischen in die Weltordnung.“32 Auch im Fall Breivik schwang immer wieder die Metapher des Bösen, Teuflischen oder Dämonischen mit, die als ‚leerer Signifikant‘33 durch Breivik besetzt wurde.34 Eine Verortung des Täters und der Tat wirkt indes zumindest partiell kontingenzverringernd, da sie die Geschehnisse wenn schon nicht entschuldigt, so doch in einen chronologischen, nachvollziehbaren Sinnzusammenhang einbettet, der die diffuse Angst vor dem Terroranschlag an einen bestimmten Bedingungskontext rückbindet. Im Mediendiskurs wurden verschiedene Erklärungsmodelle diskutiert, in denen die Gewalttat einem speziellen Tätertypus zugeordnet wurden: Handelt es sich bei Breivik um einen christlich-fundamentalistischen Rechtsterroristen oder handelt es sich um einen Amokläufer? Gehört Breivik der Kategorie des sogenannten Lone Wolf Terrorism an oder ist er ein verrückter Einzeltäter? Als am 16. April 2012 im Osloer Gericht der Prozess gegen Breivik begann, stand genau diese Frage nach dem psychischen Gesundheitszustand im Fokus der Öffentlichkeit. In einem Artikel vom 16. Juni 2012, also kurz vor dem Ende des Prozesses, schrieb Zeit Online, Breivik sei wie ein Puzzle.35 Während der Tatverlauf und Breiviks Biographie ausführlich im Prozessverlauf rekonstruiert wurden, fehlen letztlich immer noch große Teile
32 Ebd., S. 119. 33 In seinen Überlegungen zur diskursiven Konstruktion des Bösen fragt Laclau nach der Möglichkeit, das Böse unabhängig von theologischen Bestimmungen über rein innerweltliche Kategorien zu erschließen. Laclau kommt dabei zu dem Schluss, dass sich erst durch die Kategorie des Bösen innerhalb des Verweisungszusammenhangs gesellschaftliche ‚Normalität‘ konstituieren kann. Vgl. Laclau, Ernesto, „Leere Signifikanten und die diskursive Konstruktion des Bösen“, in: Rötzer, Florian (Red.), Das Böse. Göttingen: Steidl, 1995, S. 182-192. 34 Der Spiegel (Ausgabe Nr. 31, August 2011) betitelte beispielsweise seine erste Printausgabe nach den Anschlägen in Norwegen mit „Die Spur des Bösen. Europas rechte Populisten und der Kreuzzug des Anders B. Breivik“. 35 Zeit Online, 16.6.2012, „Im Breivik-Puzzle klafft eine große Lücke“, in: http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2012-06/breivik-psychiater (14.8.2014).
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des Puzzles, denn: „Wir wissen nicht, warum er es getan hat.“36 Bezogen auf Breiviks Selbsteinschätzung heißt es im Artikel weiter, Breivik sage, er sei ein politischer Extremist, der, „mit der Waffe in der Hand […] gegen eine ‚unerträgliche Ungerechtigkeit‘ gekämpft“37 habe. Die Einstufung Breiviks als Rechtsextremist wurde vor Gericht sowohl von Experten als auch von Personen aus der rechten Szene bestätigt. Der ideologische Counterjihadismus, der Kampf Europas bzw. des Westens gegen den Islam, all das sind Diskurse, die in rechtsextremen Kreisen, aber auch in rechtspopulistischen Strömungen eine Rolle spielen und somit nicht das singuläre Gedankengut eines Verrückten darstellen. Die Rechtspsychiater Torgeir Husby und Synne Sørheim, die das erste psychiatrische Gutachten zu Breivik angefertigt hatten, sagten in Bezug auf Breiviks politisch-ideologischen Motive „seine Psychose habe ihn zu seinen Taten getrieben, die Politik sei nur ein Vorwand gewesen“38. Sowohl im Falle einer Pathologisierung Breiviks als psychotisches und paranoid-schizophrenes Subjekt als auch im Falle seiner Politisierung wird die Gewalt des Täters einer bestimmten Verhaltens- oder Persönlichkeitsdisposition zugeordnet, die hiernach entscheidend für die Ausführung der Tat war. Dadurch wird der eigentlich nicht nachvollziehbare Gewaltexzess in einen Kausalzusammenhang gebracht, so dass dieser als soziales Problem politisch, rechtlich und psychologisch handhabbar und nachvollziehbar wird. In Bezug auf die Wiederherstellung von Ordnung und Vertrauen in die Lebenswelt von in Gesellschaft interagierenden Individuen, die immer auch an die Frage nach dem Sinn solcher Taten gekoppelt ist, schreibt Reemtsma, gebe es zwei Möglichkeiten: das Tatgeschehen in vertraute Nähe zu bringen oder es in größtmögliche Ferne zu rücken. Im ersteren Falle versucht man ein nachvollziehbares Tatmotiv zu konstruieren und über die unkonventionelle Art und Weise der Tat selbst mehr oder weniger hinwegzusehen, im zweiten Fall erklärt man den oder die Täter für verrückt.39
36 Ebd. 37 Ebd. 38 Ebd. 39 Reemtsma, Jan Philipp, „Terroristische Gewalt: Was klärt die Frage nach den Motiven?“, in: Beuthner, Michael/Buttler, Joachim/Fröhlich, Sandra/Neverla, Irene/Weichert, Stephan A. (Hrsg.), Bilder des Terrors – Terror der Bilder?
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Beide Erklärungsversuche können jedoch das soziale Band nicht gänzlich flicken, da sie darum bemüht sind, die Gewalttat aus etwas anderem als aus ihr selbst zu erklären. Dadurch vernachlässigen sie entscheidende Motivationslagen, die in der Gewalt als ständig präsente Handlungs- und Kommunikationsoptionen angelegt sind. Reemtsma führt schließlich seine Analyse der Sinnzuschreibung von Gewalttaten weiter aus und kommt in Bezug auf die Motivation des Täters zu dem Schluss: Man kann von diesen gänzlich individualisierten (aber wenn man Pech hat, massenhaft vorkommenden) Terroristen und den organisierten Terrorkriegern in einer Hinsicht dasselbe sagen: Motiv und Tat fallen zusammen. Die Tat ist nicht dazu da, etwas zu erreichen, sondern ihr Vollzug ist das Erstrebte.40
Nun könnte man Reemtsma, der sich in seiner Untersuchung hauptsächlich auf Selbstmordattentäter zu beziehen scheint, entgegenhalten, dass Breivik sehr wohl die Tat benötigte, um den anschließenden Gerichtsprozess als Medienereignis zur Verbreitung seiner Gedanken zu nutzen. Dennoch ging es auch bei Breivik maßgeblich um das Machtgefühl des Tötens und die damit verbundene Subjektwerdung. Michel Wieviorka schreibt hierzu in seinen Ausführungen zum Verhältnis von Subjekt und Gewalt, dass man die Gewalt besser verstehe, wenn „man die Subjektivität des oder der Täter, seine oder ihre Selbsterfahrung in ihren sowohl erlebten als auch imaginären Dimensionen mit in Rechnung stellt“41. Im Fall Breiviks wäre sodann zu fragen, inwieweit sich Breivik ebenfalls wie die zuvor thematisierten Amokschützen an einem kulturellen Skript orientierte, das (mediale) Selbstverwirklichung durch die Ausführung der vorher akribisch geplanten Tat verspricht. Für die gesellschaftliche Selbstvergewisserung, die Wiederherstellung geordneter Lebensverhältnisse sowie sozialer Normalität gilt es, den Täter als „Grenzfigur des Sozialen“42 nach begangener Tat wieder zu reintegrieren, wenn auch als pathologisches Subjekt, in Form einer Inklusion des exkludierten Anderen. Denn sowohl Amokläufer als auch Terroris-
Krisenberichterstattung am und nach dem 11. September. Köln: Halem, 2003, S. 330-349, hier S. 331. 40 Ebd., S. 342. 41 Wieviorka, Michel, Die Gewalt. Hamburg: Hamburger Edition, 2006, S. 178. 42 Quadflieg, „Der Terrorist“, S. 396.
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ten entziehen sich bis zur Tat der Sichtbarkeit, weshalb Präventionsstrategien gegen solche Taten meistens wenig erfolgversprechend sind. Demzufolge ist die gesellschaftliche (mediale) Verarbeitung extremer Gewaltereignisse eine der größten gegenwärtigen Herausforderungen für das Vertrauen in die Sicherheit einer Gesellschaft, die sich als gewaltfreier Raum konstituiert; zudem zeigt sich hieran das normativ angelegte Verständnis von Gesellschaft als Gemeinschaft generalisierter Subjekte.
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Der „Amok-Opa“ Populärkulturelle Deutungsmuster in der Darstellung von Gewalttaten B RIGITTE F RIZZONI
Im Spätsommer 2010 ereignete sich in der Stadt Biel im Schweizer DreiSeen-Land eine Gewalttat, die während neun Tagen vom 8. bis 17. September national große mediale Aufmerksamkeit erlangte, international aber nur wenig zur Kenntnis genommen wurde.1 2013 erinnerte die Schweizer Presse anlässlich der erneuten Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit des Täters nochmals an den mittlerweile in Vergessenheit geratenen Fall.2 Dieser Fall, der in der Boulevard-Presse als Tat eines „Amok-Opa“3 bezeichnet wurde, ist ein Beispiel für Umdeutungen, Metaphorisierungen und Stilisierungen
1
Vgl. Brönnimann, Christian/Stadler, Lisa, „Nach neun Tagen war der Spuk vorbei“, in: Tages-Anzeiger, 18.9.2010; „Im Fadenkreuz des Amoks“, in: Blick am Abend, 9.9.2010, Frontseite.
2
Vgl. Wissmann, Reto, „Kneubühl führt seinen ‚Krieg‘ weiter“, in: TagesAnzeiger, 19.1.2013, S. 14; Jäggi, Simon, „Kneubühl leidet an Wahnvorstellungen – ob er sich therapieren lässt, ist fraglich“, in: Tages-Anzeiger, 9.1.2013, S. 12; „Kneubühl wähnte sich im Krieg“, in: 20 Minuten, 19.11.2013, in: http://www.20min.ch/schweiz/bern/story/23872216 (15.1.2014).
3
Vgl. „Polizisten in Biel in der Kritik: Warum kriegen sie den Amok-Opa nicht?“, in: Blick, 10.10.2010, in: http://www.blick.ch/news/schweiz/bern/ wa rum-kriegen-sie-den-amok-opa-nicht-id58641.html (15.1.2014).
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eines Täters zum Amokläufer und zur populären Kämpferfigur. Solche Umdeutungen mögen angesichts des Leids und des Schreckens, das reale Amokläufer über Familien, Schulen, Betriebe, ja ganze Gemeinschaften und Orte bringen, zynisch erscheinen, sie sind aber Indiz für die mannigfaltigen Austausch- und Feedbackprozesse zwischen realen Phänomenen, deren medialer Vermittlung, fiktionaler Bearbeitung und Verknüpfung mit virulenten Diskursen und populären Figuren, wie sie charakteristisch für die Populärkultur sind. Die Verflechtung von Amok und Unterhaltung hat lange Tradition, wie Heiko Christians in seiner Medien- und Kulturgeschichte des Amok von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart eindrücklich nachweist.4 Der reale Amoklauf ist ohne seine massenmediale Rekonstruktion nicht denkbar. Untrennbar verknüpft mit dem Phänomen ist denn auch die Diskussion darüber, ob solche massenmedialen Rekonstruktionen von Amoktaten ihrerseits vorbildhaft auf weitere Täter wirkten und deshalb medial nur zurückhaltend kommuniziert werden sollten.5 Kontrovers diskutiert wird in diesem Kontext immer auch, inwiefern Unterhaltungsangebote wie Ego-Shooter-Games, die das Töten als Geschicklichkeitsspiel ohne Empathie für die Opfer inszenieren, generell gewaltverstärkend wirkten, ja gar die Hemmschwelle zum Töten mindern würden.6 Das Interesse des vorliegenden Beitrags richtet sich also auf die populärkulturellen Vorstellungen, die mit einer als Amok wahrgenommenen Gewalttat einhergehen, nicht auf die reale Amoktat und deren Ursachen und Auswirkungen, nicht auf den realen Amoktäter und dessen allfälligen Wunsch nach Einschreibung in die „Geschichte der Sensationen“7. Als
4
Vgl. Christians, Heiko, Amok. Geschichte einer Ausbreitung. Bielefeld: Aisthesis, 2008.
5
Vgl. hierzu die Studie von Nils Böckler und Thorsten Seeger, die nachweist, dass mediale Täter-Eigendarstellungen, die im Internet zirkulieren, für eine kleine Gruppe gewaltbereiter Nachahmer relevant sind. Böckler, Nils/Seeger, Thorsten, Schulamokläufer: Eine Analyse medialer Tätereigendarstellungen und deren Aneignung durch jugendliche Rezipienten. Weinheim – München: Juventa, 2010.
6
Vgl. Patalong, Frank, „Debatte: Verbot für Ego-Shooter?“, in: Spiegel Online, 29.4.2002, in: http://www.spiegel.de/netzwelt/web/debatte-verbot-fuer-egoshooter-a-194086.html (7.2.2014).
7
Christians, Amok, S. 44.
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Quellen dienen mir nebst den journalistischen Berichterstattungen zum erwähnten „Amok-Opa“ und den Stimmen von Laien, die sich via Blogs, Facebook, YouTube, Online- und Printzeitungen zum Fall äußern, entsprechend auch kursierende Dokumentationen zu so genannten School Shootings jugendlicher Amoktäter, die international für Erschütterung sorgten, sowie Beispiele fiktionaler filmischer Gestaltungen von Amokläufen, die die Vorstellungen von Amok speisen. Ich stütze mich also hauptsächlich auf Quellen des Inter- und Elementardiskurses, nicht des Spezialdiskurses8, da nicht das Expertenwissen zu Amok zur Diskussion stehen soll, sondern die medial vermittelten Vorstellungen, das ‚Alltagswissen‘ zu Amok. Denn während im Spezialdiskurs der Begriff Amok deutlich von anderen Formen von Gewalt abgegrenzt wird9, wird Amok im Inter- und Elementardiskurs typischerweise übergeneralisiert und metaphorisch verwendet für jegliche Form von Reizbarkeit, Wut, gewalttätigem Angriff10, eruptiver Gewalt mit mehr oder minder wahlloser Schießerei, so auch im Fall des „Amok-Opa“ aus der Schweiz.
8
Zu Interdiskurs, Elementardiskurs und Expertendiskurs vgl. Waldschmidt, Anne/Klein, Anne/Korte, Miguel Tamayo/Dalman-Eken, Sibel, „Diskurs im Alltag – Alltag im Diskurs: Ein Beitrag zu einer empirisch begründeten Methodologie sozialwissenschaftlicher Diskursforschung“, in: Forum Qualitative Sozialforschung 8, 2 (2007), in: http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/ view/251/553 (20.1.2014).
9
Vgl. Böckler/Seeger, Schulamokläufer: Eine Analyse, S. 16-22; Sofsky, Wolfgang, Zeiten des Schreckens. Amok, Terror, Krieg. Frankfurt a. M.: Fischer, 2002, zit. nach Stein, Malte, „Amok. Fiktionale Annäherungen an eine Chiffre der Angst“, Habilitationsvortrag am 28.1.2011 an der Univ. Hamburg. Ich danke Malte Stein für die großzügige Überlassung seines Vortragsmanuskripts. Zur Worterklärung vgl. auch Kazis, Cornelia, „Amok. 100 Sekunden Wissen“, Radio SRF 2, 20.4.2009, in: http://www.srf.ch/sendungen/100-sekunden-wissen/ amok (10.1. 2014).
10 Vgl. Christians, Amok, S. 19 f.
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1. D RAMATURGIE DER ZUNEHMENDEN D EMÜTIGUNG IM B IELER ‚AMOKLAUF ‘ UND IN AMOKFILMEN Die durch Rundfunk, Presse und Internet vermittelte ‚Faktenlage‘ des Bieler ‚Amoklaufs‘ lässt sich folgendermaßen zusammenfassen11: Der 67jährige Peter Hans Kneubühl lebt zurückgezogen und alleine in seinem Elternhaus in Biel, in welchem er seine Eltern bis zu deren Tod pflegte. Das Elternhaus gehört einer Erbengemeinschaft, die das Haus seit Jahren verkaufen und den Erlös aufteilen will. Da keine Einigung erreicht werden kann, soll das Haus am 9. September 2010 zwangsversteigert werden. Der Besichtigungstermin für Interessenten wird auf den 8. September angesetzt. Doch Kneubühl verweigert den Zutritt und verschanzt sich, so dass es zum Einsatz einer Spezialpolizeieinheit12 kommt, die vergeblich zu vermitteln versucht und die umliegenden Häuser und Schulen evakuiert. In der Nacht vom 8. auf den 9. September eröffnet Kneubühl das Feuer und entkommt;
11 Brönnimann/Stadler, „Nach neun Tagen“; Aebi, Hans-Ueli, „Er zählte die Tage bis zum Tod“, in: NZZ am Sonntag, 12.9.2010, S. 15; ders., „Wie Kneubühl mit der Polizei Räuber und Gendarm spielte“ in: NZZ am Sonntag, 19.9.2010, S. 12; Bischoff, Christian, „Ein Rentner hält Biel in Schach“, in: Blick am Abend, 9.9.2010, S. 2-3; „Die versteckten Polizeibotschaften an Peter Kneubühl“, in: Blick am Abend, 17.9.2010, S. 2-3; Reinhardt, Sophie, „Meine Schwester will mich vernichten“, in: 20 Minuten, 7.1.2013, in: http://www.20min.ch/schweiz/ bern/story/-Meine-Schwester-will-mich-vernichten--11338035 (20.1.2013); „Chronik einer Blamage – der Fall Kneubühl“, 7.1.2013, in: http://www.srf.ch/ news/schweiz/chronik-einer-blamage-der-fall-kneubuehl (9.1.2014); Uster, Hanspeter, „Einsatz der Kantonspolizei im Fall P. H. Kneubühl. Bericht der Administrativuntersuchung im Auftrag der Polizei‐ und Militärdirektion des Kantons Bern“, in: http://www.bielertagblatt.ch/sites/bielertagblatt.ch/files/00/ 84/0084dc0d4669705c96f519e711617aaf.pdf (15.1.2014). 12 „Täter entwischt Polizei-Elite“, in: Berner Zeitung, 10.9.2010, in: http:// www.bernerzeitung.ch/region/Taeter-entwischt-PolizeiElite/story/30860001 (14.10.2010); Spöri, Jörg, „Elite-Polizisten fühlen sich eingeschränkt“, in: Berner Zeitung, 13.9.2010, in: http://www.bernerzeitung.ch/region/seeland-jura/ ElitePolizisten-fuehlen-sich-eingeschraenkt/story/114730 (14.10.2010).
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ein junger Polizist zieht sich dabei schwere Kopfverletzungen zu.13 Im Haus findet die Polizei mehrere Pistolen und Gewehre sowie eine Armbrust.14 Die Fahndung wird umgehend eröffnet, allerdings zeigt das zunächst veröffentlichte Photo nicht Kneubühl, sondern dessen Vater. Umgehend kursiert für dieses Missgeschick die (nicht vollends überzeugende) Erklärung, die Polizei habe bewusst das Bild des Vaters veröffentlicht, in der Hoffnung, der am Vater hängende Kneubühl würde nicht zulassen, dass dieser fälschlicherweise verunglimpft würde, und sich freiwillig melden.15 Ein Großaufgebot von Polizisten sucht erfolglos nach dem Flüchtigen. Kneubühl kehrt in der Nacht vom 10. September ins Quartier zurück, schießt erneut auf die Polizei und entkommt wieder. Nach neun Tagen wird er nach einem Hinweis aus der Bevölkerung gefasst, und zwar von Polizeihund Faro, der ihn ins Bein beißt.16 Kneubühl ist unbewaffnet und wehrt sich nicht, die Fahndung endet unblutig. Auffallend an der Berichterstattung ist das Framing, die Einbettung dieser Gewalttat in den Interpretationsrahmen „Amok“. So eröffnet das Boulevardblatt Blick eine Serie zum „Amoklauf in Biel“17, typisiert Peter Kneu-
13 „Warum kriegen sie den Amok-Opa nicht?“, in: Blick, 10.9.2010, in: http://www.blick.ch/news/schweiz/bern/warum-kriegen-sie-den-amok-opa-nicht -id58641.html (15.9.2010). 14 „Kneubühl versteckte Waffen, Munition und Geld“, in: Blick, 14.9.2010, in: http://www.blick.ch/news/schweiz/bern/kneubuehl-versteckte-waffen-munitionund-geld-id58900.html (15.10.2010); „Bieler Amok“, in: SF Schweiz aktuell, 14.9.2010, 19h, in: http://www.srf.ch/player/tv/schweiz-aktuell/video/bieleramok-ein-waffennarr?id=b8483301-1079-46e7-acda-708c713a59fe (1.2.2014). 15 „Die Wandlung des Amok-Opas aus Biel: Wieso sieht er plötzlich so anders aus?“, in: Blick, 13.9.2010, in: http://www.blick.ch/news/schweiz/wieso-siehter-ploetzlich-so-anders-aus-id58839.html (15.9.2010); Riklin, Fabienne, „Er spazierte am Stadtrand“, in: Blick am Abend, 17.9.2010, S. 2-3. 16 „Faro schnappt sich Kneubühl“, in: Blick am Abend, 17.9.2010, Frontseite; Brönnimann, Christian, „Täter gefasst, Fall aber noch ungelöst“, in: TagesAnzeiger, 18.9.2010, S. 3: „Dass trotz aller technischen Hilfsmittel – Helikopter, Wärmebildkamera, Bodenradar – schließlich ein Polizeihund im finalen Akt die Hauptrolle spielt, ist nicht ganz frei von Ironie.“ 17 „Amoklauf in Biel – Großeinsatz in Biel. Bevölkerung in Angst – Polizei ließ Peter K. davonkommen“, in: Blick, 8.9.2010, in: http://www.blick.ch/news/
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bühl zum „Amok-Rentner“18 und „Amok-Opa“, eine Bezeichnung, die von anderen Zeitungen aufgegriffen wird und fortan zirkuliert.19 Die Berichterstattung orientiert sich an bekannten medial vermittelten Choreographien von Amoktaten. Das Bieler Tagblatt berichtet: „‚Er hat alles vorbereitet, um die finale Tat gegen den Staat zu führen und dabei zu sterben‘ [...]. Die Polizei hat Kneubühls Tagebuch gefunden. In diesem hat er sein Leben zurückgezählt, bis auf den Tag X, an dem ihn die Polizei holen kommt. Kneubühl rechnete offenbar damit, dass er in der Auseinandersetzung mit der Polizei sterben wird.“20 Auch von den jugendlichen Amokläufern der Columbine Highschool in Littleton kursieren veröffentlichte Tagebucheinträge, die auf das Finale verweisen und die Interpretation des Amoklaufs als Form des Suizids nahelegen, eine Deutung, die auch vom Spezialdiskurs gestützt wird.21 Als Grund für den Bieler ‚Amoklauf‘ wird die zunehmende Bedrängnis und Demütigung durch drohende Enteignung genannt: „Sie wollten ihm das Liebste nehmen. Sein Elternhaus. Da griff Peter Kneubühl zur Waffe.“22 Kneubühl hätte sich am 8. September außerdem einer behördlich verordneten psychiatrischen Abklärung unterziehen müssen. Ihm sei
schweiz/bern/bevoelkerung-in-angst-polizei-liess-peter-k-davonkommen-id5852 1.html (2.10.2010). 18 „Der Polizeihund stellt heute um 6.09 Uhr den Amok-Rentner“, in: Blick am Abend, 17.9.2013, Frontseite. 19 Henckel, Elisalex, „Der ‚Amok-Opa‘ plante seine Tat minutiös“, in: Die Welt, 17.9.2010, in: http://www.welt.de/vermischtes/article9707491/Der-Amok-Opaplante-seine-Tat-minutioes.html (20.9.2010); „Schweiz: Schießwütiger AmokOpa gefasst“, in: Welt heute, 17.9.2010, in: http://www.heute.at/news/welt/ Schweiz-Schiesswuetiger-Amok-Opa-gefasst;art 414,414887 (20.9.2010). 20 „Kneubühl war minutiös vorbereitet und bereit zu sterben“, in: Bieler Tagblatt, 11.9.2010, in: http://www.bielertagblatt.ch/nachrichten/biel/kneubuehl-warminutioes-vorbereitet-und-bereit-zu-sterben (1.10.2010). 21 Vgl. Gaertner, Joachim, ‚Ich bin voller Hass – und das liebe ich‘. Dokumentarischer Roman. Aus den Original-Dokumenten zum Massaker an der Columbine Highschool. Frankfurt a. M.: Eichborn, 2009. Vgl. hierzu auch Bowling for Columbine von Michael Moore (USA 2002). 22 „Amokschütze von Biel. Sie wollten ihm sein Eltern-Haus wegnehmen“, in: Blick, 10.9.2010, in: http://www.blick.ch/news/schweiz/bern/hier-drehte-rentner -kneubuehl-durch-156241 (15.1.2014).
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bereits ein Beistand zugewiesen worden, dem die Kontaktaufnahme mit Kneubühl aber nicht gelungen sei. Solche massiven Kränkungen motivieren auch Amokhandlungen von Jugendlichen in filmischen Bearbeitungen, etwa in Bang You’re Dead von Guy Ferland (USA 2002), wo der Schüler Trevor zum Beinahe-Amokläufer wird, nachdem er von Kollegen brutal erniedrigt wurde, indem sie ihn zwingen, den eigenen Urin zu trinken (56:35-57:00), und ihn kopfvoran in einen Abfalleimer stecken (1:02:34-1:03:34). Zwar werden die Schüler vor Einlass mit Metalldetektoren auf Waffen überprüft, doch greift diese so genannte Zero-tolerance-Politik nicht bezüglich psychischer Gewalt. Dies zeigt sich beinahe identisch in der kanadische Fernsehserie Flashpoint (CAN 2008-2012), die auch im deutschen Sprachraum ausgestrahlt wurde.23 Der Vorspann der Episode Perfect Storm24 führt uns mitten in die Extremsituation hinein – die drohende Erschießung eines Schülers durch den jugendlichen Amokläufer Billy – und bricht im Moment höchster Spannung ab: Wir hören einen Schuss, wissen aber nicht, ob der Amokläufer den Schüler tatsächlich umgebracht hat. Dann wird drei Stunden zurückgeblendet, so dass wir die Eskalation nachvollziehen können: Ein Schüler, Scott, prügelt den sensiblen Billy in der Pause, stopft ihm Abfall in den Mund und zwingt ihn zu sagen: „I’m gay and I’m a piece of garbage“. Noch gravierender ist das „Happy Slapping“, also dass ein weiterer Kollege, Tony, diesen Vorfall via Handy filmt und mit Scott umgehend an die gesamte Freundesliste verschickt. Diese Demütigungsszene (03:13-05:35) wird als Sequenz auf YouTube heraufgeladen und von jugendlichen Zuschauerinnen schärfstens verurteilt: „if i ever saw this i would beat the shit out of_ Scott, and smash Tonyʼs phone“, schreibt ein User unter dem Pseudonym
23 Die Serie dreht sich um die Strategic Response Unit (SRU), eine Spezialeinheit der Polizei in der kanadischen Großstadt Toronto, die in Extremsituationen zum Einsatz kommt: bei Geiselnahmen, Bombendrohungen, Schwerbewaffneten und Amokläufen. 24 Flashpoint – Perfect Storm (S02E11), erste Ausstrahlung auf CTV am 1.5.2009. Eine Übersicht aller Folgen findet sich unter http://www.ctv.ca/FlashPoint/Episo des.aspx (5.1.2014).
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JohnSheppard339.25 Gedemütigt rennt Billy nach Hause – das sich mit einem gleichgültigen, alkoholkranken Vater als trist erweist –, greift zur Pistole, eilt zurück in die Schule, verletzt zwei Schüler lebensgefährlich, zwingt Tony mit der Pistole am Kopf in die Knie und verlangt eine Entschuldigung, wobei er den um Gnade bettelnden Tony mit dessen Handy ebenfalls filmt und den Film verschickt (24:43-28:44). Auch bei erwachsenen Amokläufern im Film führen permanente Demütigungen zur Tat: So verliert zum Beispiel William Foster (Michael Douglas) in Falling Down von Joel Schumacher (USA, F, UK 1993) Job, Frau und Kind, steht in der Hitze im Stau, verlässt sein Auto und macht sich auf den Weg zum Geburtstag seiner Tochter, trotz Hausverbot. Er wird von verschiedenen Personen provoziert, ungerecht behandelt und zunehmend gewalttätig. All diese Beispiele zeichnen sich durch eine Dramaturgie der zunehmenden Demütigung aus, wie sie auch in der Berichterstattung über den „Amok-Opa“ herausgestrichen wird: Nicht nur die Enteignung, auch die Bevormundung droht. Durch Referenzen auf Topoi des Amokfilms wird die Gewalttat Kneubühls als Amok plausibilisiert, was auch von Fachleuten in Pressekonferenzen unterstützt wird: „In seinen Handlungen sei der Mann, der vor seiner Isolation lange als Berufsschullehrer gearbeitet habe, perfektionistisch vorgegangen. Solche Verhaltensweisen kenne man sonst eigentlich nur aus Filmen“, zitiert der Tages-Anzeiger einen Sprecher der Polizei.26
25 „Flashpoint 2.11 Perfect Storm clip 1“, hochgeladen auf YouTube von bonjovi0810, http://www.youtube.com/watch?v=PzJMT8_VAGc (8.10.2010); die Sequenz wurde bis zum 8.10.2010 8725-mal aufgerufen. Das mit dem Video verbundene YouTube-Konto wurde mittlerweile aus Gründen der Urheberrechtsverletzung gelöscht. 26 Spirig, Jonathan, „Kneubühl hat die Tage bis zu seinem Tod gezählt“, in: TagesAnzeiger, 11.9.2010, in: http://www.tagesanzeiger.ch/panorama/vermischtes/Kn eubuehl-hat-die-Tage-bis-zu-seinem-Tod-gezaehlt/story/19668789 (15.1.2014).
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2. „W O R ECHT ZU U NRECHT WIRD , WIRD W IDERSTAND ZUR P FLICHT “ – DIE U MDEUTUNG DES ‚AMOKLÄUFERS ‘ ZUM S YMPATHIETRÄGER Der Amoklauf wird in den zitierten Filmen mit dem Diskurs über Mobbing, Unrecht, (legitime) Gewalt und (illegitime) Selbstjustiz verknüpft. Dieser Diskurs wird auch im Fall Kneubühl aufgegriffen: „Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht!“27, heißt es auf Facebook, wo man sich zum Kneubühl-Fan erklären kann: „Endlich mal jemand, der sich von den Behörden und dem System nicht mehr alles gefallen lässt“, fasst Journalist Daniel Foppa die Stimmen zu Kneubühl aus dem Elementardiskurs zusammen.28 Was am Fall Kneubühl denn auch augenfällig ist, ist die Heroisierung des Täters wahlweise als Freiheitskämpfer, Widerstandskämpfer, Nationalheld, Schelm oder „Held der kleinen Leute“. Eine solch provokative positive Umwertung des Amoklaufs zum Ausdruck der Rebellion, zum „Aus-der-Ordnung-Treten“, zur Chiffre der Befreiung lässt sich auch in der Zeit der beginnenden Avantgarde beobachten.29 Während sich in Presse und Rundfunk das Bild eines intelligenten, aber sozial isolierten und von Wahnvorstellungen geplagten Menschen durchsetzt, der den Behörden hundertseitige Briefe schrieb und sich hartnäckig Aussprachen entzog, wird Kneubühl im Elementardiskurs zum Helden des Alltags stilisiert. Dieser Prozess kommt wesentlich durch Internetcommunitys zustande. Auf Facebook bilden sich Fangruppierungen: „Peter K. in den Bundesrat“30, fordert eine Gruppe und knüpft damit an zeitgleiche Debatten rund um die Bundesratswahlen in der Schweiz an, die am 22. September 2010 stattfanden. Eine andere erhebt Kneubühl zum Nationalhelden: „Unser Nationalheld Peter
27 Facebook: „Rentner aus Biel“, https://www.facebook.com/pages/Rentner-ausBiel/154267664592316 (30.1.2014). 28 Foppa, Daniel, „Der Held aller Spießer“, in: Tages-Anzeiger, 15.9.2010, S. 9. 29 Vgl. Junkerjürgen, Ralf/v. Treskow, Isabella, Ausschreibetext zur Autumn School und zur Tagung ‚Amok, Schulmassaker, Gewaltexzess – Gesellschaftsund Medienanalyse‘ von 4.10.-8.10.2010, Regensburg. 30 Facebook: „Wir fordern: Peter K. in den Bundesrat“, https://www.facebook. com/pages/Wir-fordern-Peter-K-in-den-Bundesrat/153567871339261 (30.1.2014).
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Hans Kneubühl“31, wohl aufgrund der Armbrust, die man im Haus des Täters fand, ein impliziter Bezug auf den mythischen Nationalhelden Wilhelm Tell. Auf YouTube wird Peter Kneubühl – ‚Pesche‘, wie er nun kumpelhaft-vertraulich genannt wird – zum „Held der kleinen Leute“, der alles gab, kämpfte, nie die Hoffnung aufgab.32 Die Präsentation „Ein Andenken an unser Pesche“ ist mit dem Rap „Ich frag mich“ von Serk unterlegt, der folgendermaßen beginnt: Ich frag mich ständig, ob es reicht, was ich mache. Werd’ ich reich durch das. Mach ich es zur richtigen Zeit? Ich dachte nie darüber nach, doch seit einigen Monaten muss ich ständig kämpfen. Wie krieg ich den nächsten Monat hin?
Damit wird der Bieler Amoklauf zur Verzweiflungstat eines sozial und finanziell in die Enge getriebenen Menschen. Diese Interpretation des Amok als Zeichen von sozialen und familiären Missständen ist auch charakteristisch für den Amokdiskurs generell. 33 Kneubühl ist „Der Held aller Spießer“, wie der Journalist Daniel Foppa diese Heroisierung kritisiert. Er führt aus: Man kann den Kneubühl-Hype als Kuriosum abtun und ihm nicht zu viel Beachtung schenken. Die geschmacklose Sympathiewelle lässt jedoch das Gefühl zurück, dass es unter der Oberfläche unserer Gesellschaft erschreckender aussieht, als man vermuten mag. Manchmal genügt ein durchgeknallter Alter, der zur Waffe greift, um solch verstörende Einblicke zu ermöglichen.34
31 Häuptli, Lukas: „Mythenbildung: Irritierende Faszination für ‚Freiheitshelden‘“, in: NZZ am Sonntag, 19.9.2010, S. 12. 32 „Ein Andenken an Peter Hans Kneubühl“, in: https://www.youtube.com/watch? v=tmv6y20wjQY (7.2.2014). 33 Vgl. Junkerjürgen/v. Treskow, Ausschreibetext. 34 Foppa, „Der Held aller Spießer“.
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3. „C ATCH ME IF YOU CAN “ – L UST AN DER P ROVOKATION UND P OLIZISTENSCHELTE Was in dieser kritischen Kommentierung der „geschmacklose[n] Sympathiewelle“ unerwähnt bleibt, ist die offensichtliche Lust an der Provokation, die diese Aktionen motiviert und die nur möglich ist, weil die Gewalttat einigermaßen glimpflich verlief, jedenfalls nichts Konkretes über die Schwere der Verletzung des jungen Polizisten zu erfahren ist, sich diese also verdrängen lässt. Nicht die positive Deutung der Tat als Rebellion bildet die Parallele zur Avantgarde, sondern vielmehr diese Lust an der Provokation, an der Übertretung. So werden Spontandemos durchgeführt und T-Shirts zum Verkauf angeboten, die u. a. das Diskursmotiv „My home is my castle“ aufnehmen35, ein Motiv, das durch die Finanzkrise 2008-2009 und die zahlreichen Konkurse von Hauseigentümern besondere Aufladung erfuhr. Insbesondere jedoch die Tatsache, dass Kneubühl zweimal der Elitepolizei entkam, wird aufgriffen, mit Referenz auf den Film Catch me if you can von Steven Spielberg (USA 2002), der seinerseits auf dem wahren Fall eines Schelms und Gentlemanbetrügers auf der Flucht beruht; Bilder von jungen Männern mit T-Shirts mit dem Filmtitel und Kneubühls Konterfei illustrieren entsprechende Berichterstattungen.36 Diese Beamten- und Polizistenschelte hat Tradition, sie ist zum Beispiel auch konstitutives Merkmal von Krimis mit Amateur- und Privatermittelnden, die weit gewiefter als die schwerfällige Polizei sind; Miss Marple etwa empfiehlt den Polizeibeamten im Film Murder at the Gallop von George Pollock (UK 1963) dringend die Lektüre von Agatha-Christie-Krimis, um den Verstand zu schulen (06:2106:35). Auch die Tatsache, dass die Polizei zunächst falsche Fahndungsphotos in Umlauf setzt, nährt diesen Diskurs. Entsprechend kommentiert Leser ‚Rene‘ am 11. September 2010 die Berichterstattung zum entwischten Rentner im Bieler Tagblatt unter dem Titel „Täter entwischt Elitepolizei“: „Ist wieder mal Typisch. Im Parkbussen verteilen Sind Sie super. Kommt es aber mal zu einem Ernstfall so sieht man ja dass Sie nicht mal in der Lage sind mit 100 Mann einen Rentner aufzuhalten! [...] Also Freut
35 Vgl. http://shop.freearena.de/shops/s000755/?go=artikel&ps=7231&subid=7235 (31.1.2014). 36 Aebi, „Wie Kneubühl mit der Polizei“; „Falsche Solidarität mit einem Amok“, in: Blick am Abend, 14.9.2010, Frontseite.
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euch wieder auf eure Arbeit wie Parkbußen schreiben dem EHC Biel Geld abknöpfen oder Jungen Personen hinterher springen die ein Lied Downloaden! Toll!“37
4. D ER AMOKLÄUFER –
KEINE POPULÄRE
F IGUR
Die beschriebenen Umdeutungen von Kneubühl als sozial isoliertem Gewalttäter zum Amokläufer und schließlich zur positiven Figur werfen die Frage auf, ob der Amokläufer als prinzipiell verstörende Figur tatsächlich zur populären Figur werden kann oder eine marginale Figur im Mainstream der Populärkultur bleibt. Damit sich eine Figur als populäre Figur etablieren, also langfristig durchsetzen kann, muss sie zwingend folgende fünf Merkmale erfüllen: 1.
2.
3.
Populäre Figuren haben ein kulturelles Eigenleben, das heißt, sie lösen sich von ihrem jeweiligen fiktionalen ‚Text‘ und werden auch von Leuten erkannt, die die Texte kaum oder nicht kennen. Sie haben einen quasi „realen“ beziehungsweise einen „als-ob“-Status, werden behandelt, als ob sie echte Personen mit realen Lebensgeschichten wären, wie Tony Bennett und Janet Woollacott am Beispiel von James Bond zeigen.38 Wesentlich für populäre Figuren ist auch ihre Anpassungsfähigkeit, sie sind gewissermaßen „Zeichen der Zeit“, Diskursträger, Kristallisationspunkte zentraler Verhandlungen von Wünschen, Problemen, Grundfragen der jeweiligen Kultur, Zeit und Gesellschaft, und zwar auf allen Ebenen, im Inter-, Spezial- und Elementardiskurs. Populäre Figuren sind Abstraktionen, sie sind typisiert und haben überindividuelle Züge; eine singuläre fiktionale Figur oder ein reales
37 Online-Kommentar von Rene: „Polizei“, in: Bieler Tagblatt, 11.9.2010, in: http://www.bielertagblatt.ch/News/Region/184217/#ancContent (1.10.2010). Der Link ist mittlerweile nicht mehr aktiv. 38 Vgl. Bennett, Tony/Woollacott, Janet: Bond and Beyond. The Political Career of a Popular Hero. Basingstoke: Macmillan, 1987, insbesondere S. 11-21.
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5.
Individuum sind allenfalls geeignete Repräsentanten einer populären Figur, aber niemals selbst eine populäre Figur. Populäre Figuren sind zudem immer zentrale Handlungsträger (typischerweise eines populären Genres) mit langanhaltender Präsenz, sie tauchen nicht aktualitätsabhängig kurz auf und verschwinden dann wieder. Die Berichterstattung zu Kneubühl findet nach der Ergreifung schlagartig ein Ende. Auch als Serienfigur ist der Amokläufer kaum vorstellbar. Die kanadische Serie Flashpoint hat abgeschlossene Folgen, die Präsenz des Amokläufers beschränkt sich hier also auf die Dauer der Episode. Populäre Figuren dürfen die ethischen Grundwerte einer Gesellschaft, namentlich die Menschenwürde nicht verletzen.
Der Amokläufer teilt zwar durchaus gewisse Merkmale mit populären Figuren, auch er ist Diskursträger (Merkmal zwei), auch er wird typisiert (Merkmal drei), doch das fünfte Merkmal ist das eindeutige Ausschlusskriterien für den Amokläufer als populäre Figur. Denn populäre Figuren sind immer auch Angebote zur Selbstverständigung einer Gesellschaft über ihre ethischen Normen und Werte. Der Amokläufer aber, der wahllos Leben auslöscht, verletzt diese aufs Gravierendste. Wenn beispielsweise der Bieler Polizist gestorben oder wenn Konkretes über seine schwere Verletzung bekannt geworden wäre, wäre die Heroisierung als Schelm, der den staatlichen Organen ein Schnippchen schlägt, kaum möglich gewesen. Im Uminterpretationsprozess zum „Amok-Opa“ kommt populären Figuren allerdings eine produktive Rolle zu: Sie werden als sofort abrufbarer Deutungshorizont, als Vergleichsgröße, als Kristallisationszentrum und Repräsentant spezifischer Diskurse und Haltungen herangezogen und mit der realen Person Kneubühl assoziativ verknüpft. Diese assoziativen Verknüpfungen erlauben die Umdeutung des Täters zum „Botschafter“ unterschiedlicher Interessengruppen, zum Provokateur, zum Schelm, zum Rächer der Entrechteten, zum Widerstandskämpfer gegen einen ungerechten Staat, zum Freiheitskämpfer, zum Kämpfer für die kleinen Leute, zum Robin Hood. Der Amoktäter wird durch diese Anknüpfungen selbst aber nicht zum eigenständigen populären Figurentypus mit Prägkraft und Breitenwirkung, vergleichbar den Genrefiguren des Detektivs oder des Rächers der Entrechteten. Der Amokläufer ist zwar fraglos eine Figur der Sensation und
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somit zwangsläufig eine Figur der Populärkultur.39 Doch ist er weder eine positive noch eine populäre Figur. Mit Blick auf die bereits erwähnte Episode Perfect Storm der Serie Flashpoint lässt sich vielmehr feststellen, dass nicht der Amokläufer, sondern die Person, die den Amoklauf verhindert, zur Identifkationsfigur wird. Bezeichnenderweise gelingt dies weder Eltern, Lehrer noch Polizei, was im Elementardiskurs auch entsprechend kommentiert wird. Insbesondere die mangelnde Präsenz und Einmischung der Lehrerschaft wird von den jugendlichen Zuschauerinnen und Zuschauern moniert, die sich im Internet zur auf YouTube hochgeladenen Amoksequenz äußern (37:41-41:17): „Whereʼs a teacher when you_ need them?“, schreibt Stinkyfart, und KingNice92 reagiert darauf mit: „Exactly!!! But then, they wouldnʼt do more than say_ ‚Break it up, Guys‘“.40 Einem Mädchen, Ella, das Billy mag, gelingt es schließlich, ihn zur Vernunft zu bringen, so dass er die Waffe niederlegt. Sie widersetzt sich dem Befehl des Einsatzleiters, nichts zu tun. Als Billy die Waffe niederlegt, wird er von Tonys Vater, einem Polizisten, angeschossen, der glaubt, Billy habe seinen Sohn erschossen. Billy überlebt den Schuss schwer verletzt. Die Sequenz mit Billys Abtransport auf der Bahre nach der Deeskalation (37:41-41:17), unterlegt mit dem Song „All Roads Lead Home“ der Gruppe Golden State, wird auf YouTube rund 37.000-mal aufgerufen und kommentiert.41 Seargent Greg Parker, der den Einsatz leitete, nimmt Ella in die Arme und sagt: „You did great. You did everything right. [...] He’s gonna make it, because you were there to help him. Because you were there.“ Dieser Dialog zwischen Parker und Ella wird am meisten kommentiert: „I got chills when Greg smiles and says „‚you_ did great‘. Enrico Colantoni is such an awesome actor!“, schreibt Canadian 19. Auch boegeman072885 zeigt sich berührt: „‚You did great, you did everything right Powerfull mo-
39 Ich danke Hans-Otto Hügel für anregende Gespräche zum Thema und sein unveröffentlichtes Seminarprotokoll „Thesen zur Theorie nachhaltig populärer Figuren. Seminarergebnisse“ vom Wintersemester 2012/2013, Institut für Theaterund Medienwissenschaft, Univ. Hildesheim. 40 Kommentare zu „Flashpoint 2.11 Perfect Storm clip 1“. 41 „Flashpoint-Perfekt Storm Song-All roads lead home“, hochgeladen am 13.6.2009, http://www.youtube.com/watch?v=S1M2JlUqCpQ. (8.2.2014).
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ment :]“. Und trchwdspnfan80 stimmt zu: „Love Enrico’s line to the girl (‚you did great, etc.‘) to her as well!“. Der Wunsch nach Anerkennung und Wertschätzung der Erwachsenen sowie nach einer schützenden Hand ist unübersehbar. Doch die Erwachsenen, die Polizisten, die Lehrer, die Eltern sind in dieser Folge allesamt auffallend hilflos, können nichts ausrichten, ja aus ihren Reihen kommt zusätzliches Unheil, als Tonys Vater Billy beinahe tötet. Auch dessen Vater ist keine Stütze für den verzweifelten Sohn, nur eine zusätzliche Belastung: „Bring me a beer“, ist seine betrunkene Reaktion, als Billy aufgelöst nach Hause kommt. Es ist das Mädchen Ella, das die Rolle der Erwachsenen übernimmt und zu Billy durchdringt mit ihrer Empathie. So wird die Sehnsucht nach Schutz, Fürsorge und Anerkennung durch die Erwachsenen implizit als frommer Wunsch taxiert. Abgesehen von diesen Diskurssträngen über Mobbing und Verantwortung Erwachsener gegenüber Jugendlichen tauschen sich die Blogger über vieles aus, das nur lose mit der Handlung, dem Amoklauf verbunden ist: über die Serie generell, über die Musik in den Sequenzen, über die Schauspieler, über den Schauplatz, den einer kennt, weil er dort zur Schule ging, ein anderer klärt auf, man habe in verschiedenen Schulen gedreht, eine kennt den fiktionalen Amokläufer... bis hin zu Anbandelungsversuchen unter den Bloggern. Die Folge ist also primär Anlass für Anschlusskommunikation, die wesentlich ist für das Rezeptionsvergnügen. In diesen Anschlussdiskussionen steht nicht der Amokläufer im Zentrum, nicht einmal eine Spur von Faszination für die Rache, das gewaltsame Sich-RechtVerschaffen scheint auf. Im Gegenteil, die Verhinderung des Amoklaufs ist das attraktive Element. Ella, die Amokverhinderin, ist die zentrale, positiv besetzte Figur. Der Amokläufer erfüllt die Anforderungen an eine populäre Figur also nicht: Wenn er als solche erscheint, dann durch die Umdeutung eines Amokläufers im Verlauf des Rezeptionsprozesses, zum Beispiel zur populären Figur des Schelms, der der Elitepolizei entkommt wie im Fall Kneubühl. Die Resonanz auf medial vermittelte ‚reale‘ oder fiktionale Amokläufer ist außerordentlich heterogen und fokussiert keineswegs ausschließlich auf nachahmungsrelevante Aspekte wie drastische Gewaltausübung und wahlloses Auslöschen von Menschen. Ebenso wenig ist bei der Rezeption populärkultureller Gewaltdarstellungen von einfachen Kausalitäten auszu-
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gehen: Gewaltdarstellungen werden ebenso vielfältig rezipiert und in unterschiedliche Diskurszusammenhänge eingeordnet wie die hier analysierten Fälle von Amok. Implizite Kritik am Generalverdacht gegenüber medialer Gewaltdarstellung und am vermuteten Zusammenhang von Gewaltdarstellung und Gewaltausübung äußert auch eine Jugendliche im Zeit-Magazin vom 19. August 2010, das sich den 18-Jährigen widmet. Unter den 50 großen und kleinen Fragen, die sie an die Erwachsenen richtet, lautet ihre Frage Nummer 21: „Glaubt ihr, ich werde Amok laufen, weil ich Actionspiele mag?“42
Q UELLEN -
UND
L ITERATURVERZEICHNIS
Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften Berner Zeitung Spöri, Jörg, „Elite-Polizisten fühlen sich eingeschränkt“, in: Berner Zeitung, 13.9.2010, in: http://www.bernerzeitung.ch/region/seeland-jura/ ElitePolizisten-fuehlen-sich-eingeschraenkt/story/114730 (14.10.2010). „Täter entwischt Polizei-Elite“, in: Berner Zeitung, 10.9.2010, in: http:// www.bernerzeitung.ch/region/Taeter-entwischt-PolizeiElite/story/ 30860001 (14.10.2010). Bieler Tagblatt „Kneubühl war minutiös vorbereitet und bereit zu sterben“, in: Bieler Tagblatt, 11.9.2010, in: http://www.bielertagblatt.ch/nachrichten/biel/kneu buehl-war-minutioes-vorbereitet-und-bereit-zu-sterben (1.10.2010). Online-Kommentar von Rene: „Polizei“, in: Bieler Tagblatt, 11.9.2010, in: http://www.bielertagblatt.ch/News/Region/184217/#ancContent (1.10.2010). Der Link ist mittlerweile nicht mehr aktiv. Uster, Hanspeter, „Einsatz der Kantonspolizei im Fall P. H. Kneubühl. Bericht der Administrativuntersuchung im Auftrag der Polizei‐ und Militärdirektion des Kantons Bern“, in: http://www.bielertagblatt.ch/site
42 Straub, Melanie, „Wer seid ihr bloß? Eine 18-Jährige stellt große und kleine Fragen an die Erwachsenen von heute“, in: Zeit-Magazin, 19.8.2010 (Nr. 34), S. 14 f.
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s/bielertagblatt.ch/files/00/84/0084dc0d4669705c96f519e711617aaf.pdf (15.1.2014). Blick „Amoklauf in Biel – Großeinsatz in Biel. Bevölkerung in Angst – Polizei ließ Peter K. davonkommen“, in: Blick, 8.9.2010, in: http://www.blick.ch/news/ schweiz/bern/bevoelkerung-in-angst-polizeiliess-peter-k-davonkommen-id5852 1.html (2.10.2010). „Amokschütze von Biel. Sie wollten ihm sein Eltern-Haus wegnehmen“, in: Blick, 10.9.2010, in: http://www.blick.ch/news/schweiz/bern/hierdrehte-rentner -kneubuehl-durch-156241 (15.1.2014). „Die Wandlung des Amok-Opas aus Biel: Wieso sieht er plötzlich so anders aus?“, in: Blick, 13.9.2010, in: http://www.blick.ch/news/schweiz/ wieso- sieht-er- ploetzlich-so-anders-aus-id58839.html (15.9.2010). „Kneubühl versteckte Waffen, Munition und Geld“, in: Blick, 14.9.2010, in: http://www.blick.ch/news/schweiz/bern/kneubuehl-versteckte-waffe n-munition-und-geld-id58900.html (15.10.2010). „Polizisten in Biel in der Kritik: Warum kriegen sie den Amok-Opa nicht?“, in: Blick, 10.10.2010, in: http://www.blick.ch/news/schweiz/ bern/warum-kriegen-sie-den-amok-opa-nicht-id58641.html (15.1.2014). „Warum kriegen sie den Amok-Opa nicht?“, in: Blick, 10.9.2010, in: http://www.blick.ch/news/schweiz/bern/warum-kriegen-sie-den-amokopa-nicht -id58641.html (15.9.2010). Blick am Abend Bischoff, Christian, „Ein Rentner hält Biel in Schach“, in: Blick am Abend, 9.9.2010, S. 2-3. „Die versteckten Polizeibotschaften an Peter Kneubühl“, in: Blick am Abend, 17.9.2010, S. 2-3. „Falsche Solidarität mit einem Amok“, in: Blick am Abend, 14.9.2010, Frontseite. „Faro schnappt sich Kneubühl“, in: Blick am Abend, 17.9.2010, Frontseite. „Im Fadenkreuz des Amoks“, in: Blick am Abend, 9.9.2010, Frontseite. Riklin, Fabienne, „Er spazierte am Stadtrand“, in: Blick am Abend, 17.9.2010, S. 2-3. „Der Polizeihund stellt heute um 6.09 Uhr den Amok-Rentner.“, in: Blick am Abend, 17.9.2013, Frontseite.
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NZZ am Sonntag Aebi, Hans-Ueli, „Er zählte die Tage bis zum Tod“, in: NZZ am Sonntag, 12.9.2010, S. 15. Aebi, Hans-Ueli, „Wie Kneubühl mit der Polizei Räuber und Gendarm spielte“ in: NZZ am Sonntag, 19.9.2010, S. 12. Häuptli, Lukas: „Mythenbildung: Irritierende Faszination für ‚Freiheitshelden‘“, in: NZZ am Sonntag, 19.9.2010, S. 12. Tages-Anzeiger Brönnimann, Christian, „Täter gefasst, Fall aber noch ungelöst“, in: TagesAnzeiger, 18.9.2010, S. 3. Brönnimann, Christian/Stadler, Lisa, „Nach neun Tagen war der Spuk vorbei“, in: Tages-Anzeiger, 18.9.2010. Foppa, Daniel, „Der Held aller Spießer“, in: Tages-Anzeiger, 15.9.2010, S. 9. Jäggi, Simon, „Kneubühl leidet an Wahnvorstellungen – ob er sich therapieren lässt, ist fraglich“, in: Tages-Anzeiger, 9.1.2013, S. 12. Spirig, Jonathan, „Kneubühl hat die Tage bis zu seinem Tod gezählt“, in: Tages-Anzeiger, 11.9.2010, in: http://www.tagesanzeiger.ch/panorama/ vermischtes/Kneubuehl-hat-die-Tage-bis-zu-seinem-Tod-gezaehlt/story /19668789 (15.1.2014). Wissmann, Reto, „Kneubühl führt seinen ‚Krieg‘ weiter“, in: TagesAnzeiger, 19.1.2013, S. 14. Sonstige Zeitungen,Zeitschriften und Internetseiten „Chronik einer Blamage – der Fall Kneubühl“, 7.1.2013, in: http://www.srf. ch/news/schweiz/chronik-einer-blamage-der-fall-kneubuehl (9.1.2014). Henckel, Elisalex, „Der ‚Amok-Opa‘ plante seine Tat minutiös“, in: Die Welt, 17.9.2010, in: http://www.welt.de/vermischtes/article9707491/ Der-Amok-Opa-plante-seine-Tat-minutioes.html (20.9.2010). „Kneubühl wähnte sich im Krieg“, in: 20 Minuten, 19.11.2013, in: http://www.20min.ch/schweiz/bern/story/23872216 (15.1.2014, archiviert mit WebCite® als http://www.webcitation.org/ 6NFAu3fD7). Patalong, Frank, „Debatte: Verbot für Ego-Shooter?“, in: Spiegel Online, 29.4.2002, in: http://www.spiegel.de/netzwelt/web/debatte-verbot-fuerego-shooter-a-194086.html (7.2.2014, archiviert mit WebCite® als http://www. webcitation.org/6NDQ9ykKx).
POPKULTURELLE DEUTUNGSMUSTER | 139
Peter Hans Kneubühl Fanshop, in: http://shop.freearena.de/shops/s000755/ ?go=artikel&ps=7231&subid=7235 (31.1.2014). Reinhardt, Sophie, „Meine Schwester will mich vernichten“, in: 20 Minuten, 7.1.2013, in: http://www.20min.ch/schweiz/bern/story/-MeineSchwester-will-mich-vernichten--11338035 (20.1.2013). „Schweiz: Schießwütiger Amok-Opa gefasst“, in: Welt heute, 17.9.2010, in: http://www.heute.at/news/welt/Schweiz-Schiesswuetiger-Amok-Opa -gefasst;art 414,414887 (20.9.2010). Straub, Melanie, „Wer seid ihr bloß? Eine 18-Jährige stellt große und kleine Fragen an die Erwachsenen von heute“, in: Zeit-Magazin vom 19.8.2010 (Nr. 34), S. 14 f. Beiträge in Sozialen Netzwerken Facebook: „Wir fordern: Peter K. in den Bundesrat“, https://www.faceboo k.com/pages/Wir-fordern-Peter-K-in-den-Bundesrat/ 153567871339261 (30.1.2014). Facebook: „Rentner aus Biel“, https://www.facebook.com/pages/Rentneraus-Biel/154267664592316 (30.1.2014). Rundfunk und andere audiovisuelle Dokumente „Bieler Amok“, in: SF Schweiz aktuell, 14.9.2010, 19h, in: http://www.srf. ch/player/tv/schweiz-aktuell/video/bieler-amok-ein-waffennarr?id=b84 83301-1079-46e7-acda-708c713a59fe (1.2. 2014). Bowling for Columbine, Michael Moore, USA, 2002. „Ein Andenken an Peter Hans Kneubühl“, in: https://www.youtube.com/ watch?v=tmv6y20wjQY (7.2.2014, archiviert mit WebCite® als http://www. webcitation.org/6NF8CBEZX). Flashpoint – Perfect Storm (S02E11), erste Ausstrahlung auf CTV am 1.5.2009. Eine Übersicht aller Folgen findet sich unter http://www.ctv.ca/FlashPoint/Episodes.aspx (5.1.2014). „Flashpoint 2.11 Perfect Storm clip 1“, hochgeladen auf YouTube von bonjovi0810, http://www.youtube.com/watch?v=PzJMT8_VAGc (8.10.2010). „Flashpoint-Perfekt Storm Song-All roads lead home“, hochgeladen am 13.6.2009, http://www.youtube.com/watch?v=S1M2JlUqCpQ. (8.2.2014, archiviert mit WebCite® als http://www.webcitation.org/6NF0TSdWS).
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Form und Ethik in spielfilmischen Inszenierungen von School Shootings Reflexionen zu Elephant (2003), Polytechnique (2009) und We Need to Talk About Kevin (2011) R ALF J UNKERJÜRGEN
Die besondere Fähigkeit des Spielfilms liegt darin, mit seinen Bildern ein visuelles Nacherleben zu ermöglichen und mit seiner narrativen Struktur zugleich kognitive und emotionale Wege des Verstehens zu eröffnen, und gerade deshalb sind ihm bei der Inszenierung von School Shootings enge ethische Grenzen gesetzt. Visuelles Nacherleben kann in die Nähe eines makabren Voyeurismus geraten, narrative Argumentationszusammenhänge laufen Gefahr, Gräueltaten mit rationalen Erklärungen zu relativieren. Erschwerend kommt hinzu, dass spielfilmische Gewaltdarstellung in die Taten selbst verstrickt ist, wie bspw. Natural Born Killers (1994; Oliver Stone), auf den die Täter der Columbine High School wiederholt rekurrierten, abgesehen davon, dass sie von sich selbst Videoaufnahmen drehten, in denen sie – nach Art der Spiegelszene aus Taxi Driver (1976; Martin Scorsese) – Aggressionssituationen einübten. Es ist auch unübersehbar, dass der Tathergang eines School Shootings mit seiner Einheit des Raumes, seiner zeitlichen Konzentration, seiner eingleisigen „Handlung“ und seinem katastrophalen Ausgang zentrale Elemente mit der aristotelischen Poetik teilt, die bis heute den konventionellen Film prägt. Wenn der Spielfilm also unter dem Verdacht steht, massiven Gewalttaten vorzuarbeiten, dann ist es
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ethisch grundsätzlich bedenklich, den möglichen Teufelskreis aus Fakten und Fiktionen mit neuen Bildern weiter anzutreiben. Einen Ausweg aus diesem Dilemma scheinen dokumentarische Formen zu bieten, allerdings mit der Einschränkung, dass sich die Gewalttat aufgrund ihrer Nähe zur aristotelischen Struktur aus ethischen Gründen einer einfachen Übertragung in die Dokumentation widersetzt. Zwar haben sich viele Dokumentarfilmer gerade davon verführen lassen, um das Massaker von Littleton minutengenau nachzuerzählen und nicht-dokumentierte Lücken von Schauspielern nachstellen zu lassen, aber dies überschreitet nicht nur die Grenzen des Dokumentarischen, sondern kommt auch einer voyeuristischen Inszenierung gefährlich nahe.1 Wenn ein School Shooting einem aristotelischen Skript ähnelt oder, anders formuliert, selbst schon ein Narrativ ist, dann kann (künstlerische) Erkenntnis nicht dadurch gewonnen werden, dieses Narrativ zu wiederholen und gleichsam die Handlungslogik der Täter zu reproduzieren und die Tat zu einem düsteren Ritual werden zu lassen, sondern nur dadurch, es aufzubrechen, um so möglicherweise Übersehenes, Vergessenes und Vernachlässigtes sichtbar zu machen. Natürlich wirken die ethischen Ge- und Verbote dabei weiter. Im Gegensatz zu anderen Gewaltnarrativen wie dem Tyrannenmord oder dem bellum iustum herrscht beim School Shooting ein so großer gesellschaftlicher Konsens der Verurteilung, dass kontroverse oder polemische Darstellungen ebenso riskant sind wie der Rückgriff auf Stereotype Gewalt inszenierender Genres oder intertextuelle Referenzen, die als filmische Formen des Rituals die Tat banalisieren könnten. Wenn dem School Shooting-Spielfilm damit essentielle Ressourcen des Fiktionalen ebenso gefährlich werden können wie der plattgetretene Weg ins Dokumentarische, dann muss er eine hybride Formensprache entwickeln, die das Erkenntnis- und Wirkungspotential der Fiktion ausschöpft, ohne den Bezug zur historischen Wirklichkeit zu verlieren, denn ein Spielfilm über eine konkrete Gewalttat ist immer auch eine Form des Gedenkens, egal wie genau er die historischen Ereignisse respektiert. Nun ist es eine heikle Angelegenheit, auf dem schmalen Grat zwischen den strengen ethischen Tabus und den künstlerischen Möglichkeiten zu wandern.
1
Vgl. z. B. die Episode zu Columbine der Doku-Serie Killing Spree des Senders Channel5, in: http://www.channel5.com/shows/killing-spree/episodes/colum
bine-massacre (30.4.2014).
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Kommt der Spielfilm dem Dokumentarischen zu nahe, dann nutzt er seine empathischen Möglichkeiten nicht. Dies lässt sich etwa bei Zero Day (2003; Ben Coccio) beobachten, wo das Massaker von Littleton ästhetisch über eine Montage von (fiktionalen) Videoaufnahmen der Täter rekonstruiert und der Tathergang aus der Totalen der Überwachungskameras visualisiert wird. Dabei gelingt über die nachgestellten dokumentarischen Mittel der laienhaften Kameratechnik und der farblichen Verfremdungen zwar eine ästhetische Distanzierung von der Tat, aber der Blick auf das Ereignis bleibt eben an denjenigen der Täter gebunden. Folgt der Film hingegen narrativen Kausalzusammenhängen, dann erscheint das School Shooting schnell als ein von außen determiniertes Ereignis und kann bspw. zu einem Racheakt vereinfacht werden, wie in dem estnischen Film Klass (2007; Ilmar Raag), in dem zwei Schüler für schwere Misshandlungen durch Mitschüler Vergeltung üben und ihre Peiniger exekutieren. Fühlt sich der Film hingegen in den potentiellen Täter ein, dann darf es aus ethischen Gründen am Ende keine Opfer außer dem Täter selbst geben, so dass der homizidal-suizidale Komplex lediglich als Selbstmord realisiert wird. Konventionelle Produktionen erklären Gewalt hierbei leichtfertig als Schrei nach Liebe und Aufmerksamkeit, z. B. He Was a Quiet Man (2007; Frank Capello), in dem ein frustrierter Büroangestellter davon träumt, seine Kollegen umzubringen und sich schließlich selbst das Leben nimmt, oder die Episoden 16 und 17 aus der 3. Staffel der US-amerikanischen Highschool-Fernsehserie One Tree Hill (2005/06), in denen ein vereinsamter dicklicher Junge mit einer Pistole in die Schule kommt, um den bully der Klasse zu erschießen, ihn dann aber nicht trifft und stattdessen eine kleine Gruppe von Mitschülern als Geiseln nimmt. Im Gespräch werden die Gründe für sein Verhalten mehr als deutlich: die Isolation, das Desinteresse der anderen, ein ständiges Gefühl der Demütigung und das Gefühl, ein Loser zu sein, das ihn zu einem Loser macht. Kurz vor seinem Selbstmord gesteht er: „I wanted them to like me.“ Die Reduktion des homizidal-suizidalen Plans auf den Selbstmord gehorcht aber nicht nur den ethischen Anforderungen der Unterhaltungsindustrie, sondern impliziert auch eine perfide Doppelmoral: Der Außenseiter, der nicht in die Gesellschaft passt, muss am Ende sterben, eben weil er sich nicht integrieren lässt. Dass Selbstmord als narrative Lösung des Konflikts dargestellt wird, affirmiert genau jene soziale Kälte, die der Außenseiter eigentlich kritisiert hat.
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Aber nicht nur populäre Produkte scheitern notwendigerweise an der Darstellung eines so heiklen Themas, auch manche der längst zur Hochkultur gehörenden Avantgarden finden kaum überzeugendere Antworten darauf. Aus der Kenntnis von wirklichen Amokläufen und School Shootings heraus wirken etwa die provokativen Formeln der Surrealisten, mit der Pistole auf die Straße zu gehen und wahllos Menschen niederzuschießen, und deren filmische Inszenierungen wie in Luis Buñuels Le fantôme de la liberté (1974) reichlich naiv und bestätigen Susan Sontags These, dass in solchen Vorstellungen eher die Unzufriedenheit junger Bourgeois als ein universelles menschliches Bedürfnis zum Ausdruck komme.2 Wie der schmale Pfad zwischen dem Fiktional-Rituellen und dem Dokumentarisch-Reißerischen ethisch und künstlerisch überzeugend durchschritten werden kann, soll im Folgenden anhand von drei Beispielen untersucht werden, die jeweils eine besondere Formensprache entwickeln, um School Shootings filmisch darzustellen. Mit Elephant (2003), Polytechnique (2009) und We Need to Talk About Kevin (2011) wurden drei Filme ausgewählt, die in der Zeit nach dem Massaker von Littleton entstanden sind und dem Arthouse-Kino zugerechnet werden. Der Erfolg der Filme bei der Filmkritik und die zum Teil hohen Auszeichnungen, die sie erhalten haben, lassen hoffen, dass sie Antworten auf den oben entworfenen Fragenkomplex geben können.
1. E LEPHANT :
DIE EIGENEN MITREFLEKTIEREN
V ERSTRICKUNGEN
Als Elephant 2003 in Cannes nicht nur die Goldene Palme, sondern auch den Preis für die beste Regie gewann, erreichte der US-amerikanische Regisseur Gus Van Sant (*1953) den damaligen Höhepunkt seiner Karriere. Nachdem er sich mit Good Will Hunting (1997) und Finding Forrester (2000) zwischenzeitlich Mainstreamproduktionen gewidmet hatte, war er mit Gerry (2002) zum Autorenkino zurückgekehrt und hatte damit zugleich
2
Laut Sontag drehten sich die surrealistischen Skandalinszenierungen weitgehend um „those homely mysteries obscured by the bourgeois social order: sex and poverty.“ Gewaltexzesse wären in dieser Hinsicht noch zu ergänzen. Siehe Sontag, Susan, On Photography. London: Penguin, 2008 (Orig. 1977), S. 54.
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den ersten Teil seiner „death trilogy“ vorgelegt, die mit Elephant (2003) und Last Days (2005) abgeschlossen wurde. Alle drei Inszenierungen des Todes sind von realen Ereignissen der 1990er Jahre inspiriert und erproben eine minimalistische und dokumentarische Filmsprache,3 die sich im Falle von Elephant in der Verwendung von Laienschauspielern, deren Rollen sich (zumindest bei den Opferfiguren) am eigenen Leben orientieren, authentischen Drehorten (eine geschlossene Highschool in Van Sants Heimatstadt Portland) und der vordergründigen Darstellung von Alltagshandlungen äußert.4 Formal ist Elephant eine Gegenreaktion auf die sensationalistische Berichterstattung über das Massaker von Littleton in Presse und Fernsehen.5 An die Stelle der ethisch zu verurteilenden Ausbeutung der Tat durch die Medien setzt Van Sant einen Film, der die konventionellen Erregungsmomente filmischer Gewaltinszenierung – Special Effects, Aufnahmen lädierter Körper, Physiognomien des Leidens und Schmerzensschreie, Ästhetisierung von Waffen usw. – ausspart oder wenigstens reduziert und eine stille, fast meditative Atmosphäre kreiert. Zugleich ordnet sich der Film in ein bereits bestehendes künstlerisches Programm Van Sants ein, filmisch über Tod und Gewalt zu reflektieren. Ein wichtiger Aspekt ist bei Elephant dabei, rationale Erklärungen oder Deutungen des Massakers nicht nur zu vermeiden, sondern schon im Titel explizit abzulehnen: Denn Elephant bezieht sich einerseits auf den gleichnamigen Kurzfilm von Alan Clarke aus dem Jahre 1989 über den Nordirlandkonflikt und andererseits auf eine buddhistische Parabel, in der Blinde jeweils ein Körperteil eines Elefanten be-
3
Vgl. Myers, Holly, „Nothing Happens to No One: The Death Trilogy of Gus Van Sant“, in: N +, 2006, in: https://nplusonemag.com/online-only/online-only/ nothing-happens-to-no-one; und Little, William G., „Plotting Dead Time In Gus Van Sant's Elephant“, in: Film-Philosophy 17, 1 (2013), S. 115-133, hier S. 118.
4
Stubblefield hat den Film daher auch in eine Linie mit dem italienischen Neorealismus gestellt. (Vgl. Stubblefield, Thomas, „Re-Creating the Witness: Elephant, Postmodernism, and the Neorealist Inheritance“, in: Ruberto, Laura E./Wilson, Kristi M. (Hrsg.), Italian Neorealism and Global Cinema. Detroit, MI: Wayne State UP, 2007, S. 226-241, hier S. 228.)
5
Vgl. Joyard, Olivier/Lalanne, Jean-Marc, „Gus Van Sant : Je suis comme Colombo, je fais semblant de ne pas savoir“, in: Cahiers du Cinéma 57 (2003), S. 18-30, hier S. 28.
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rühren und jeder von ihnen fälschlicherweise meint, das eigentliche Wesen des Tieres erfasst zu haben. Ebenso macht der Film eine ganze Reihe von punktuellen, sehr heterogenen Erklärungsangeboten – klimatische Einflüsse, Mobbing durch Mitschüler, psychische Störungen, mögliche faschistische Neigungen, Mangel an Zärtlichkeit, Kommunikationsarmut im Elternhaus, Spaß an Waffen und Ego-Shooter-Spiele – die aber weder allein noch zusammen als Erklärung überzeugen können. Zudem widersprechen ihnen andere Eigenschaften der Täter, denn Alex – der Kopf der beiden School Shooter – zeichnet und spielt Klavier und repräsentiert damit zugleich auch einen bürgerlichen Bildungsbegriff, der nach allgemeiner Auffassung Gewaltinstinkte kanalisieren und sublimieren sollte. Dementsprechend entwickelt der Film auch nicht die Vorgeschichte zur Tat, sondern konzentriert sich auf die letzte Stunde vor Ausbruch der Gewalt, deren Darstellung allerdings immer wieder mit Rückblicken auf die praktischen Vorbereitungen der Mörder auf das Massaker unterbrochen wird. Die meisten der späteren Opfer werden dabei von der Steadicam auf ihren Wegen durch die Schule verfolgt und mit Zwischentiteln namentlich benannt. Sie repräsentieren laut Gus Van Sant Highschool-Archetypen6 und reichen vom attraktiven jock (Nathan), der vom Sportplatz in die Schule geht, über das verspottete Mauerblümchen (Michelle), das aus Scham über seine Figur keine kurzen Sporthosen tragen will, über „beste Freundinnen“, die in der Schulkantine essen gehen, um danach auf dem Klo synchron alles wieder auszubrechen, bis hin zum künstlerisch sensiblen Jugendlichen (Elias), der auf der Suche nach Motiven mit seiner Kamera durch die Schule streunt. Der stereotypisierende Ansatz verhindert Individualisierung und Psychologisierung und schlägt sich dementsprechend auch in den Gesprächen der Figuren nieder, die durchgehend alltäglich, vorhersehbar und banal anmuten. Trotz langer Einstellungen bleibt die Kamera letztlich auch nicht an einzelnen Figuren hängen, sondern verfolgt sie bloß vorübergehend von hinten durch die Korridore und dringt damit kaum bis zu ihrer Gefühlswelt vor. Obwohl Gus Van Sant hierin mit der konventionellen Figurendarstellung und Kameraperspektive absichtsvoll bricht, entwickelt er die Dramaturgie andererseits eng nach aristotelischen Prinzipien. Die zeitliche Rah-
6
Interview mit Gus Van Sant, in: Van Sant, Gus, Elephant, DVD. Leipzig: Kinowelt, 2007, 6’-7’.
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menbeschränkung auf eine Stunde erzählte Zeit wird zwar durch Rückblicke wiederholt überschritten, der Regisseur lässt aber nicht nur ziemlich genau 60 Minuten Erzählzeit vergehen, bevor das Massaker beginnt, sondern sorgt durch repetitives Erzählen auch dafür, dass der Zuschauer weiß, wann die Gewalt ausbrechen wird. Der mit einem gelben T-Shirt bekleidete John dient dabei als Orientierungsfigur. Er wird von Eli photographiert, verlässt die Schule und begegnet nach 36 Minuten vor der Tür Alex und Eric in militärischer Kleidung, die ihm raten, nicht zurückzukommen. Um diesen dramaturgisch zentralen Augenblick wiedererkennbar zu machen, werden die Mörder zunächst von dem Hund Boomer verdeckt, mit dem John spielt und dessen Sprung in die Luft durch eine Zeitlupe verlängert wird. Beide Momente werden bis zum Ausbruch der Gewalt als zeitliche Wegmarken fungieren, denn Van Sant geht nun zeitlich wieder zurück, um eine weitere Figur bis zum Moment des Massakers zu begleiten. Als die drei „besten Freundinnen“ bspw. später von der Kantine aus John mit dem Hund beobachten, weiß der Zuschauer, dass sich die Mörder nun im Gebäude befinden und die Gewalt bald ausbrechen wird. Die Strategie, die Diskontinuität durch Orientierungspunkte zu strukturieren und nachvollziehbar zu machen, gilt ebenso für den Raum. Denn obwohl die Wege der Steadicam durch die Schulkorridore einen labyrinthischen Eindruck erwecken, werden Räume, wo das Morden stattfinden wird, vorher visuell ausreichend eingeführt – in erster Linie die Kantine, die Bibliothek und die Schultoiletten – und können vom Zuschauer zugeordnet werden. Dramatisch wirken Zeit und Raum aber nicht allein wegen ihrer klassischen Verdichtung, sondern vor allem durch die ungleiche Wissensverteilung zwischen Zuschauer und Figuren. Das Schulgebäude repräsentiert einen geschlossenen Raum des Todes, während der Außenbereich für Rettung und Leben steht. Hinein- und Hinausgehen der Schüler kann daher zwischen Leben und Tod entscheiden. Der Hund Boomer markiert für den Zuschauer den Moment der Gefahr. Überhaupt können aufgrund der asymmetrischen Wissensverteilung unbedeutende Details zu Trägern dramatischer Ironie werden, so wie der rote Kapuzenpulli Nathans mit der Aufschrift Lifeguard. Die dokumentarische Ästhetik und die Ethik des Opfergedenkens täuschen einen leicht über solche dramaturgischen Aspekte hinweg, die den hybriden Charakter von Elephant aufzeigen. Denn es handelt sich hier nicht einseitig um ein neorealistisches oder pseudo-
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dokumentarisches Werk, sondern um einen Film, der bei der Inszenierung von Gefahren und Gewalt auf erprobte Strategien rekurriert. Neben der aristotelischen Poetik spielen auch intertextuelle Referenzen eine Rolle, die von der Forschung bisher kaum beachtet wurden. Der hybride Charakter des Films lässt sich bereits in den Namen der beiden Mörder Alex (Alex Frost) und Eric (Eric Deulen) ablesen. Während „Eric“ auf den wirklichen School Shooter Eric Harris verweist und damit der dokumentarischen Seite des Films Genüge leistet, klingt in „Alex“ eine Erinnerung an den gleichnamigen jugendlichen Mörder und Gewalttäter aus Kubricks A Clockwork Orange (1971) an, der wie sein Namensvetter aus Elephant Beethoven mag.7 Hintergründig reflektiert Elephant damit seine eigene Medialität und die Rolle, die audiovisuelle Medien bei der Ideenbildung über Gewalt spielen. So lässt der Hund Boomer wiederum an die Fernsehserie Here’s Boomer (1980-82; dt. Boomer, der Streuner) denken, in der der tierische Protagonist – „a hero to save the day“, wie es im Titellied heißt – den Menschen zur Hilfe eilt, wenn er gebraucht wird. Im Kontext Elephants entlarvt die Anspielung auf den vierbeinigen Helden irreführende Idealisierungen als Merkmal von Kinder- und Jugendserien und kehrt den realistischen Anspruch von Van Sant hervor, in dem es eben keine strahlenden Helden gibt. Gegen Ende des Films expliziert Van Sant dies am Beispiel des sportlichen Benny, der wie John mit einem gelben Shirt markiert ist und sich in der Highschool unerschrocken auf die Suche nach den Tätern macht. Für einen Moment ist der Zuschauer versucht, in ihm einen Retter zu sehen, der vielleicht Schlimmeres noch verhindern kann. Aber Benny wird von Eric einfach beiläufig erschossen, noch bevor er überhaupt wirklich in Aktion getreten ist. Mögen die genannten intertextuellen Referenzen zwar implizit und damit wenig intensiv sein, so zeigt spätestens das explizite Macbeth-Zitat („So foul and fair a day I have not seen“, 1’11), das Van Sant Alex beim Massaker in den Mund legt, dass Intertextualität dem Film weitere Bedeutungen erschließen kann, was sich an dem Bezug zu Kubrick kurz veranschaulichen lässt. A Clockwork Orange erzählt von einem jugendlichen Intensivtäter, der über eine kombinierte Therapie aus filmischen Gewaltbildern und Medikamenten eine Gewaltaversion entwickeln soll. So wie hier
7
Darauf verweisen auch Bouquet, Stéphane/Lalanne, Jean-Marc, Gus Van Sant. Paris: Cahiers du cinéma, 2009, S. 145.
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mediale Gewaltdarstellung im Medium selbst thematisiert wird, hat auch Van Sant eine selbstreflexive Ebene eingezogen, die an die Figur des jugendlichen Photographen Elias gebunden ist. Elephant suggeriert eine auf den ersten Blick verstörende Ähnlichkeit zwischen Kamera und Schusswaffen – akustisch, weil das Klicken der Kamera dem Spannen des Gewehrs angenähert wird, visuell, weil Elias von Alex noch ein Photo macht, bevor er selbst erschossen wird, metaphorisch, weil die Kamera traditionell mit Schusswaffen verglichen wurde, und sprachlich, weil das englische Verb ,to shoot‘ wie das deutsche ,schießen‘ in dieser Hinsicht doppeldeutig ist.8 Susan Sontag hat die Kamera sogar als sublimierte Waffe und das Photographieren als sublimierten Mord bezeichnet.9 Auch wenn solche Vergleiche im Kontext wirklichen Mordens naiv erscheinen mögen, verweisen sie darauf, dass Van Sant die Verstrickung des – seines – Mediums in die Gewalttaten mitreflektiert. Vor diesem Hintergrund lassen sich auch die zahlreichen Rückenaufnahmen der Figuren deuten. Sie wiederholen die Perspektive des Ego-Shooter-Spiels, bei dem Eric mit einem Gewehr von hinten an Figuren herankommt und sie ohne Weiteres erschießt – genauso wie er später dem Schulleiter in den Rücken schießen wird. Die Perspektive des Mörders ist derjenigen des Computerspiels und der Kamera gleichgesetzt. Indem Van Sant das Medium und damit sich selbst mit in die Gewalt einbezieht, widersteht er dem Reflex, das Böse einfach zu objektivieren. Die gängigen Strategien, es zu veräußerlichen, indem es historisch distanziert, politisch exterritorialisiert oder individuell stets bei anderen gesucht wird, erweisen sich in diesem Zusammenhang als Geste, eigene Verantwortung von sich zu weisen. Indem Van Sant sich zur ambivalenten Rolle seines Mediums im Teufelskreis der Gewalt bekennt, löst er spätestens hier den
8
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, wenn Gus Van Sant in einem Interview von den Dreharbeiten zu Elephant mit Jugendlichen erzählt und dies als „to shoot teenagers“ bezeichnet. (Interview mit Gus Van Sant, in: Van Sant, Gus, Elephant, DVD. Leipzig: Kinowelt, 2007, 7ʼ04)
9
„[T]here is something predatory in the act of taking a picture. To photograph people is to violate them, by seeing them as they never have; it turns people into objects that can be symbolically possessed. Just as the camera is a sublimation of the gun, to photograph someone is a sublimated murder – a soft murder, appropriate to a sad, frightened time.“ (Sontag, On Photography, S. 14.)
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hohen ethischen Anspruch ein, der an einen Film über School Shootings angelegt wird.
2. P OLYTECHNIQUE : B ILDER VOM V ERLUST DER O RDNUNG Am 6. Dezember 1989 kommt ein 25-jähriger Mann namens Marc Lépine mit einem Gewehr in die Ecole polytechnique (Technische Hochschule) von Montreal und erschießt vierzehn junge Frauen, bevor er sich selbst tötet. In seiner Kleidung findet man einen Brief, in dem er die Tat als Racheakt am Feminismus darstellt. Die kanadische Gesellschaft steht unter Schock und wird in den folgenden zwei Dekaden versuchen, eine Praxis des Erinnerns und Gedenkens an die Opfer zu entwickeln, die über eine Veränderung des Waffengesetzes, der Erklärung des 6. Dezember zum nationalen Gedenktag für Gewalt gegen Frauen, dem Anbringen von Gedenktafeln bis zur Errichtung eines Denkmals reicht. 2009, zum 20. Jahrestag der Tat, führt der Spielfilm Polytechnique (2009) des kanadischen Regisseurs Denis Villeneuve diese Erinnerungsarbeit fort und zeigt damit zunächst, dass das Massaker weiterhin traumatisch auf der kanadischen Gesellschaft lastet. Angesichts dieser hohen Sensibilität stellt das Thema eine große ethische Herausforderung dar, nicht zuletzt deshalb, weil die Tat von Montreal im öffentlichen Diskurs als emblematischer Ausdruck männlicher Gewalt gegen Frauen bewertet wurde. Da dies angesichts der Singularität des Ereignisses jedoch eine problematische Verallgemeinerung ist, trieb diese Einschätzung den Diskurs letztlich noch weiter an und führte zugleich dazu, dass die Öffentlichkeit das Ereignis nicht kategorisieren konnte und, wie Sharon Rosenberg überzeugend argumentiert, ein ambivalentes Verhältnis dazu entwickelte.10 Der Filmkritik nach zu urteilen, hat Regisseur Villeneuve diese komplexe Aufgabe eindrucksvoll gelöst, wurde der Film doch als „a stylish
10 Zu einer kulturwissenschaftlichen Deutung des Erinnerungsdiskurses siehe Rosenberg, Sharon, „Neither Forgotten nor Fully remembered: Tracing an Ambivalent Public Memory on the Tenth Anniversary of the Montreal Massacre“, in: Burfoot, Annette/Lord, Susan (Hrsg.), Killing Women. The Visual Culture of Gender and Violence. Waterloo (Ontario): Wilfrid Laurier, 2006, S. 21-45.
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work of art that is intellectually and emotionally mature“11, als „easily one of the best films of 2009“12 und von Zuschauern als „Meisterwerk“13 gefeiert, wobei auch die gegenseitige Durchdringung von Form und Ethik hervorgehoben wurde.14 Noch 2009 wurde er mit gleich neun Genie Awards ausgezeichnet, darunter auch demjenigen für den besten kanadischen Film. Der Film ist als audiovisuelles und künstlerisch ambitioniertes Denkmal konzipiert, wobei Villeneuve ähnlich wie Gus Van Sant einen hybriden Ansatz verfolgt und den Tathergang historisch zwar durchaus genau nachstellt, die Opfer in den Vordergrund rückt, jedoch bewusst fiktional gestaltet. Der tatsächlichen Opfer wiederum wird erst am Schluss des Films explizit und metaphorisch gedacht, explizit, indem im Nachspann alle einzeln namentlich erwähnt werden, metaphorisch mit einer abschließenden Kamerafahrt über Deckenlampen, von denen alle bis auf eine leuchten und somit als Gedenklichter für die Toten verstanden werden können, während die erloschene für den Täter selbst steht. Der Metaphorik der Lichter entspricht auch die Entscheidung, den Mörder als einzige Figur anonym zu belassen. Villeneuve kehrt hierbei die Verteilung der medialen Präsenz um, bei der die Täter in der Regel personalisiert, die Opfer hingegen anonymisiert werden. Dies geschieht zwar zum Schutz der Betroffenen, führt in der Öffentlichkeit aber zu einer ethisch verkehrten Gewichtung, die dem Täter eine hohe Bekanntheit sichert. Auch wenn Teile des Films aus der Sicht des Mörders (Maxim Gaudette) erzählt werden, kommt es nicht zu einer Einfühlung in ihn. Selbst sein im Film vorgelesener authentischer Abschiedsbrief, in dem er das Massaker zu rechtfertigen sucht, führt keinen Moment lang zu einer empathischen Reaktion, im Gegenteil, die Unverhältnismäßigkeit, angehende Ingenieurinnen zu erschießen, um den Feminismus zu bekämpfen, offenbart lediglich entweder seinen Wahn oder die Banalität des Bösen.
11 Anonym, „Polytechnique“, in: http://celluloidparadiso.wordpress.com/2013/01/ 31/polytechnique-2009/ (21.11.2014). 12 Small, Coutney, „Polytechnique Exams A Killer“, in: http://www.bigthoughtsfr omasmallmind.com/2010/01/polytechnique-exams -killer.html (21.11.2014). 13 Siehe Zuschauerkommentare auf http://f3a.net/polytechnique,reviews,1499.html (24.11.2014). 14 Marelli, Matteo, „Polytechnique“, in: http://uzak.it/cose-mai-viste/25-polytechni que.html (21.11.2014).
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Daneben verfolgt der Film den (Lebens-)Weg zweier Überlebender des Massakers, Valérie (Karine Vanasse) und Jean-François (Sébastien Huberdeau), und lässt die Dramaturgie damit nicht konventionell mit dem Tod des Mörders enden, sondern fragt auch nach den Wirkungen der Tat weit über ihr Ende hinaus. Jean-François, der sich im Hörsaal befand, als der Täter zu seinen ersten Morden ansetzte, wird sich später das Leben nehmen, wohl weil er sich Vorwürfe macht, nicht eingeschritten zu sein. Die beim Massaker angeschossene Valéry wiederum ist traumatisiert und muss sich als Persönlichkeit neu erschaffen, was der Regisseur darüber visualisiert, dass sich die Figur die Haare blondiert, sei es, um dadurch ihre Weiblichkeit zu affirmieren, sei es, um der in ihren Armen verstorbenen blonden Freundin zu gedenken. Am Ende des Films ist sie schwanger und denkt über die geschlechtsspezifische Erziehung ihres Kindes nach: Sollte es ein Junge werden, dann müsse er lernen zu lieben, sollte es ein Mädchen werden, dann werde sie lernen, dass die Welt ihr gehöre. Die expliziten Aussageabsichten des Films sind damit mehr als deutlich geworden: den Opfern ein filmisches Monument wider das Vergessen zu errichten und vor Sexismus zu warnen. Villeneuve versucht nun, von diesem grundsätzlichen Standpunkt aus eine bildliche Sprache zu entwickeln, die den ethischen und künstlerischen Anforderungen des Themas gerecht wird. Der Komplexität des Ereignisses, das das Leben vieler Menschen verändert hat, entspricht formal die Aufspaltung der Erzählung in die genannten drei Perspektiven. Der Regisseur hat dies darüber hinaus selbstreflexiv in den Film eingeschrieben, einmal über den Einsatz von Spiegeln und weiterhin über die intermediale Referenz auf Pablo Picassos Bild Guernica. Wiederholt gerät die Figur Valéry zwischen zwei Spiegel und kann daher aus mehreren Perspektiven zugleich gesehen werden. Jean-François seinerseits betrachtet im Kopierraum der Hochschule eine Reproduktion von Guernica, die mit einem langsamen Zoom vollständig eingeblendet wird (23ʼ). Im kubistischen Stil der Malerei spiegelt sich Villeneuves Versuch wider, mehrere Perspektiven auf denselben Gegenstand darzustellen, was im Film exemplarisch für die HörsaalSequenz zu Beginn des Massakers gilt, die aus Sicht des Mörders, von Jean-François und von Valéry erzählt wird. Nun ist Guernica als intermediale Referenz nicht allein wegen seiner Ästhetik signifikant, denn das Bild steht auch für den plötzlich hereinbrechenden Tod durch den Einsatz von Distanzwaffen und faschistischer Ge-
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waltausübung und weist daher auch inhaltlich Übereinstimmungen mit dem Massaker auf. Dass Villeneuve von einem Zusammenhang zwischen Sexismus und Faschismus ausgeht, legt auch eine weitere Sequenz nahe, in der Jean-François während des Massakers in einer düsteren Studentenkneipe Schutz sucht, in der sich nur Männer befinden, die als Dekoration im Hintergrund u. a. ein Hakenkreuz aufgehängt haben. Picassos weitgehend in Grautönen und Schwarz gehaltenes Bild nimmt zudem die Schwarz-Weiß-Ästhetik von Polytechnique vorweg, die weiterhin dazu dient, sich von der Gewalt zu distanzieren und das Blut der Opfer weniger realistisch erscheinen zu lassen. Zugleich entspricht sie farblich den klimatischen Metaphern des Films, der mit den Ansichten der verschneiten Stadt und etwas später eines vereisten Flusses immer auch soziale Kälte mitsymbolisiert. Sommerliche Bilder werden erst am Ende des Films mit der Schwangerschaft von Valéry eingefügt. Wenn man weiterhin bedenkt, dass die Komposition des Bildes Guernica auch das Chaos der Zerstörung widerspiegelt, dann erscheint es zudem als konzentrierte Metapher für den Zusammenbruch der Ordnung und der Sicherheit, der von den Schüssen des Täters ausgelöst wird und sich schnell über den gesamten Raum der Hochschule ausbreitet. Den Verlust räumlicher Orientierung markiert bereits die Eingangssequenz im Kopierraum der Hochschule, die den konventionellen Bildrahmen aufbricht, indem aus dem visuellen Off plötzlich auf die Figuren geschossen wird, ohne dass der Täter oder sein Handlungsraum sichtbar würden. Villeneuve desorientiert weiterhin durch ungewöhnliche Kameradrehungen, die unten und oben verkehren. Besonders verstörend wirkt dies bei der Helikopteraufnahme einer Flusslandschaft mit Eisschollen, die in Schwindel erregender Weise langsam in die obere Bildhälfte wandert und den Zuschauer damit physisch den Verlust der Ordnung nachempfinden lässt (44ʼ). In der bereits erwähnten Schlusssequenz kehrt die Kamera nochmals in den Raum des Todes zurück, kehrt in einer Kamerafahrt die Deckenbeleuchtung nach unten, um den Film mit Bildern einer Welt zu beenden, die buchstäblich den Boden unter sich verloren hat. Wie in Elephant nimmt die Raumdarstellung mit den zahlreichen Gängen, durch die die Steadicam die Figuren verfolgt, für den Betrachter Züge eines Labyrinths an, in dem der Mörder jederzeit auftauchen kann. Im Unterschied zu Gus Van Sant arbeitet Villeneuve allerdings stärker mit Kontrasteffekten: Ruhige schmale Flure münden in weiten wie Amphitheater
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gestalteten Foyers, die mit New-Wave-Musik der 1980er Jahre beschallt werden, geordnete Verwaltungsbüros stehen versifften Studentenkneipen gegenüber und verlassene Gänge führen zu voll besetzten Hörsälen, ganz abgesehen von der auch hier grundsätzlichen Opposition von Innen und Außen. Was die Zeitstruktur des Films angeht, so entsteht beim ersten Sichten der Eindruck, dass die Chronologie ständig durch Vor- und Rückblicke unterbrochen wird. Bei einem genaueren Vergleich von Diskurs- und Ereignisstruktur wird jedoch offenbar, dass die zeitliche Grundachse wie bei Elephant aus dem Massaker besteht, das abgesehen von kleineren Verschiebungen in der zweiten Hälfte des Films lediglich von zwei größeren Prolepsen unterbrochen wird, in denen in einer unbestimmten Zukunft das weitere Schicksal von Jean-François und Valéry erzählt wird. Auch auf der Tonebene setzt Villeneuve vor allem auf Kontrastwirkungen. Wenn die Sprache der Gewalt „gellend und schrill“15 sein soll, dann geht es in Polytechnique wie in Elephant fast unheimlich still zu, wo während des Massakers vor allem die Schüsse, kaum jedoch Angst- oder Schmerzensschreie zu hören sind, wohingegen die synchron eingesetzten New-Wave-Titel wie Safety Dance der kanadischen Band Men without hats im Foyer der Hochschule überlaut erschallen und zugleich die 1980er Jahre dokumentieren. Ganz anders wiederum ist die asynchrone Ebene gestaltet, denn hier erklingt eine melancholische Instrumentalmusik aus Gitarrenund Klavierklängen, die leitmotivisch an die Opfer gebunden ist. Zusammengefasst strebt Polytechnique danach, den Rückfall der Ordnung in ein Chaos aus der Sicht der Opfer zu inszenieren und verwendet dafür eine Reihe von formalen Mitteln, die konventionellen Rezeptionsgewohnheiten zuwiderlaufen. Villeneuve kommuniziert seine Ästhetik auf einer selbstreflexiven Ebene neben der erwähnten intermedialen Referenz auf Picasso auch noch über das Bild der Entropie, einer thermodynamischen Zustandsgröße und mit ihr verbundenen irreversiblen Zustandsveränderungen, die von einem Studenten in der Seminarsitzung erklärt werden, kurz bevor der Mörder in den Hörsaal tritt, und die als physikalische Metapher für die verstörende Wirkung der Gewalt gelesen werden kann.
15 Sofsky, Wolfgang, Zeiten des Schreckens. Amok, Terror, Krieg. Frankfurt a. M.: S. Fischer, 2002, S. 36.
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Mit Ausnahme der Schwarz-Weiß-Ästhetik werden die formalen Mittel der Desorientierung allerdings nur punktuell und dabei behutsam (mitunter auch als Scharniere zwischen Sequenzen) angewandt und führen zu einer eher unterschwelligen Beeinflussung des Zuschauers. Nicht ihr massiver Einsatz, sondern die Summe ihrer Einzelverwendungen zeichnet den Film aus. Gewaltdarstellung wird dabei insgesamt abgeschwächt, lediglich in einer Szene wird Blut inszeniert, erlangt aber sofort metaphorischen Charakter: Als der Mörder sich erschossen hat, fließt das Blut aus seinem Kopf über den Boden und vermischt sich dort mit dem Blut einer vorher durch einen Schuss in die Brust getöteten Frau. Das Blut des Täters wirkt dabei wie eine viskose schwarze Masse, die in das Blut der Frau strömt, während die Kamera sich in einer kreisenden Obersicht langsam von der Szene zurückzieht. Verstörend ist hierbei die Mehrdeutigkeit, die sich aus der Vermischung des Blutes ergibt. Während der Film suggeriert, dass darin die gewaltsame Invasion des Täters zum Ausdruck kommt, gehen die visuellen Konnotationen doch ebenso in eine sexuelle Richtung und schließen an eine Sequenz aus dem Anfang an, in welcher der Täter durch das Fenster heimlich eine junge Frau von Gegenüber beim Umziehen beobachtet. Allein aus diesem Detail lässt sich eine ansatzweise Deutung des Frauenhasses lesen, nämlich als Ausdruck sexueller Frustration, die den Mord als befriedigendes Gefühl der absoluten Macht über den anderen erscheinen lässt. Während der Film die Gewalt damit zwar als männlich apostrophiert, verwehrt er sich zugleich gegen eine Vereinnahmung aus feministischer Perspektive, da mit Jean-François auch ein Mann als indirektes Opfer der Gewalt auftritt, das im Unterschied zur Frauenfigur Valéry an den Langzeitfolgen der Gewalt zerbricht.
3. W E N EED
TO T ALK A BOUT K EVIN : MANIERISTISCHER S TIL UND FRAGWÜRDIGE M ETAPHERN
Im Unterschied zu den anderen beiden Filmen basiert We Need to Talk About Kevin (2011; Lynn Ramsay) nicht auf realen Ereignissen, sondern auf dem gleichnamigen Briefroman der US-amerikanischen Autorin Lionel Shriver von 2003, in dem die Hauptfigur Eva Khatchadourian aus subjektiver Perspektive von den Ereignissen erzählt, die dem School Shooting ihres
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Sohns Kevin vorausgingen. Der sowohl beim Publikum als auch bei der Kritik erfolgreiche Roman wurde 2005 mit dem Orange Prize for Fiction ausgezeichnet, der als einer der angesehensten Literaturpreise in Großbritannien gilt. Indem das Versagen Evas als Mutter dargestellt wird, provoziert der Roman die weit verbreitete Gleichsetzung von Frau-Sein mit mütterlicher Fürsorge und rüttelt an der tabuisierten Vorstellung, Mütter könnten ihre Kinder nicht lieben.16 2011 wurde der Roman von der schottischen Regisseurin Lynne Ramsay verfilmt. Das Werk lief auf dem Festival in Cannes, gewann eine Reihe von internationalen Preisen und wurde von der Kritik breit wahrgenommen, wenn auch nicht durchgehend positiv beurteilt.17 Erzählt wird aus der Perspektive von Eva (Tilda Swinton), nachdem ihr 15-jähriger Sohn Kevin (Ezra Miller) mit seinem Bogen seinen Vater (John C. Reilly), seine Schwester und in seiner Schule zahlreiche Mitschüler getötet hat und jetzt im Gefängnis sitzt. Die zeitliche Gegenwart nach dem Massaker und die zahlreichen Anfeindungen, denen Eva in der USamerikanischen Provinzstadt ausgesetzt ist, werden ständig von Rückblicken unterbrochen, die Akzentlichter auf zentrale Augenblicke einer gescheiterten Mutter-Sohn-Beziehung werfen, bis zur Zeugung zurückgehen, um am Ende des Films die Gegenwart zu erreichen und so ein vollständiges Bild zu hinterlassen. Wie der appellative Titel bereits andeutet, will der Film zur Diskussion darüber anregen, wie es zu dem Massaker kam. Um dies argumentationsstrategisch zu ermöglichen, bietet Ramsay eine Reihe von konkurrierenden und sich ergänzenden Rationalisierungen der Tat an. Den größten Raum nimmt dabei eine psychologische Argumentation um die mangelnde Af-
16 Vgl. Jeremiah, Emily, „We need to Talk about Gender: Mothering and Masculinity in Lionel Shriver’s We Need to Talk about Kevin“, in: Podnieks, Elizabeth/O’Reilly, Andrea (Hrsg.), Textual Mothers / Maternal Texts. Motherhood in Contemporary Women’s Literature. Waterloo (Ontario): Laurier, 2010, S. 169-184. 17 Vgl. die fast unüberschaubar lange Liste der Filmbesprechungen in der Internet Movie Database: http://www.imdb.com/title/tt1242460/externalreviews?ref_=ttawd _ql_5 (27.9.2014). Eine Zusammenstellung des deutschen Presseechos findet
sich unter http://www.film-zeit.de/Film/22096/WE-NEED-TO-TALK-ABOUT-KE VIN/ Kritik/ (27.9.2014).
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fektbeziehung zwischen Mutter und Sohn ein, die von der Regisseurin vom Säuglingsalter Kevins bis zu seiner Tat immer wieder nach demselben Muster inszeniert wird: Die als Reiseschriftstellerin bekannt gewordene Eva empfindet ihrem Sohn gegenüber keine „normale“ Mutterliebe, sondern fühlt sich von dem als Baby ständig schreienden Kevin, der im Einschulungsalter immer noch Windeln tragen wird, eingeengt und kann sich nicht mit ihrer Rolle identifizieren, worauf Kevin von vornherein mit Provokation und unstillbarem Hass reagiert. Der Konflikt gipfelt, als Eva die Kontrolle verliert und ihrem noch kleinen Sohn den Arm bricht, was er später als ihre „ehrlichste“ Erziehungsmaßnahme bezeichnen wird.18 Kevin grollt der Mutter daher auch, weil sie nicht aufrichtig ist und ihre mütterliche Zuneigung nur vorspielt. In der Familie kann der Hass zwischen Mutter und Sohn nicht affektiv aufgefangen werden, da der Vater dem Sohn gegenüber eine kumpelhafte Haltung einnimmt und den Konflikt lange Zeit einfach verdrängt. Kevins Hass würde sich vor diesem Hintergrund aus dem Wunsch nähren, sich an der Mutter für die mangelnde Zuwendung zu rächen und ihr Leben zu zerstören. Dass sie als einzige am Leben bleibt, würde, Kevins Kalkül nach, der größten Strafe entsprechen, denn sie verliert nicht nur ihre Familie und ihre finanziellen Grundlagen, sondern auch noch jedes gesellschaftliche Ansehen – was so weit geht, dass Angehörige von Opfern ihr öffentlich ins Gesicht schlagen. Dies führt weiterhin dazu, dass Eva ihre Schuld so weit internalisiert, dass sie in einem Zustand ständiger Buße lebt, in dem sie jede Aggression und Demütigung widerstandslos hinnimmt. Hintergründig werden außerdem bestimmte Ideologeme des USamerikanischen Mittelstands in die Verantwortung gezogen. Der materielle Wohlstand der Familie, die in einem überdimensionalen freistehenden Haus mit großem Garten lebt, und die Verfügbarkeit von Geld, ohne dass je gezeigt würde, wie die Eltern dafür arbeiten, veranschaulicht eine idealtypische US-Familie. Kevins Vater repräsentiert die Vorstellung von einer heilen Familienwelt, in der die Probleme so lange negiert werden, bis sie zum
18 Solche Konzepte waren bisher eher zur Kritik an väterlicher Erziehung verwendet worden, z. B. bei Franz Kafka, der „Kronos, der seine Kinder auffraß“ als den „ehrlichste[n] Vater“ bezeichnete. (Kafka, Franz, Eine innere Biographie in Selbstzeugnissen. Hg. von Heinz Politzer, Frankfurt a. M.: S. Fischer, 1965, S. 174.)
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Zusammenbruch führen, d. h. bis Franklin Eva ankündigt, sich scheiden lassen zu wollen. Nach dem Vorbild von David Lynch nutzt Ramsay die perfekte Fassade von Ruhe, Ordnung und Glück, um sie mit den dramatischen Gewaltkonflikten, die sich dahinter abspielen, zu kontrastieren. Die Leistungsorientierung der Gesellschaft, die in der Schule u. a. im Sport zum Ausdruck kommt, wird nicht nur dadurch bloßgestellt, dass Kevin seine Mitschüler in einer Turnhalle ermordet, sondern auch explizit über ein Poster vermittelt, das an der Tür zur Halle hängt und die Werte „Pride“ und „Focus“ erklärt, wobei „Focus“ als „concentration of the mind such that nothing distracts you from your task“ definiert wird, was angesichts eines Bogenschuss-Massakers eine zynische Mehrdeutigkeit bekommt. Ramsay steigert dies noch dadurch, dass sie während des Massakers aufputschende Cheerleader-Parolen wie „Fight! Fight!“ und „Win! Win!“ (1’34) einspielt – so als würde Kevin nur auf seine Art die gesellschaftlichen Anforderungen umsetzen. In einer Videobotschaft macht Kevin weiterhin den Lebensstil seiner Gesellschaft für sein Verbrechen mitverantwortlich, denn die Menschen verbrächten ihre Zeit vor dem Fernseher, um sich jemanden wie ihn anzusehen, weil in ihrem Leben nie etwas passiere (1’00). Ramsay nimmt hier die bekannte Asymmetrie zwischen medialer Präsenz und ethischer Vorbildlichkeit auf, die jedem Kriminellen televisive Sichtbarkeit in Relation zur Schwere seines Verbrechens garantiert. Auch die unvermeidlichen Videospiele werden kurz thematisiert, als Kevin mit seinem Vater zusammen ein Kampfspiel absolviert und dabei laut „die, die, die“ schreit (36’). Und schließlich hat Kevin auch noch das Antidepressivum Prozac genommen. Die Frage ist jedoch, ob diese Liste wirklich Diskussionsstoff bietet, denn die Rationalisierungen sind nicht eigentlich kontrovers, sondern dürften wenn überhaupt partiell allesamt zutreffen, ohne jedoch selbst in ihrer Summe die extreme Tat erklären zu können. Und so steht der Zuschauer am Ende ebenso ratlos da wie Kevin selbst, der auf das „Why?“ seiner Mutter lapidar antwortet: „I used to think I knew. Now I am not so sure.“ (1’41) Dieser Diskurs wird formal auf eine aufdringlich stilisierte Weise umgesetzt, die etwas Manieristisches hat. Strukturell gesehen ist hier als erstes die Zeitdarstellung zu nennen, die aus einem ständigen Springen zwischen Gegenwart und Vergangenheit besteht und für den Zuschauer ein Puzzle entwirft, dessen Einzelteile erst gegen Ende des Films systematisierbar
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werden, wenn die Zeit um das Massaker mehr oder weniger chronologisch erzählt wird. Der bei Elephant und Polytechnique unternommene Versuch, den Verlust von Ordnung erfahrbar zu machen, findet sich in We Need to Talk About Kevin vor allem auf dieser Ebene wieder. Mit geradezu hämmernder Aufdringlichkeit wird außerdem die Farbe Rot als Metapher für Blut inszeniert. Der Film beginnt mit einem visuell reizvollen Slow-Motion-Bad im kniehoch stehenden roten Schlamm der Tomatina des spanischen Dorfes Buñol, in dem sich Eva wälzt, um dann von anderen auf Händen getragen zu werden und wie am Kreuz hängend die Arme auszustrecken, als sollte ihre Biographie in die Nähe einer Passionsgeschichte gerückt werden, deren symbolische Farbe bekanntlich auch Rot ist. Die Szenerie ist nicht nur bildlich überladen, in den Redundanzen kommt auch ein hyperbolischer Stil zum Ausdruck, der konträr zu Elephant und Polytechnique steht und sich eher Stereotypen des Horrorfilms annähert, wie etwa dem Blutschwall, der sich in Kubricks Shining (1980) aus einem Fahrstuhl über den Flur ergießt, oder den Rotfiltern, die Bram Stoker’s Dracula (1992) von Francis Ford Coppola farblich prägen. Rot sind zahllose Requisiten, und rot ist auch die Beerenmarmelade, die Kevin sich stets so dick auf das Sandwich schmiert, dass sie an den Rändern großzügig wieder heraustritt. Metaphern gründen jedoch nicht nur in bildlichen Analogien, sondern auch in ihrem inhaltlichen aptum, das heißt in diesem Fall in ihrer ethischen Angemessenheit. Und rote Marmelade als Vorausdeutung auf das Blut der Opfer zu setzen, kann wohl kaum als angemessen gelten, einmal weil es die Fiktionalisierung selbst in dem Sinne offenlegt, dass Marmelade gerne als „Filmblut“ hingestellt wird, und zweitens weil es sich bei Marmelade um einen alltäglichen Frühstücksaufstrich handelt, dessen Konnotate nicht annähernd dem mythisch aufgeladenen Blut entsprechen. Die banale Essensmetapher bricht mit der Tragik der Tat und fügt dem Film einen makabren Ton hinzu, dem Ramsay – dem hyperbolischen Stil entsprechend – auch noch in Form einer Litschi Genüge leistet, deren gallertartiges Fruchtfleisch Kevin genüsslich aus seiner kugelförmigen Schale heraus pult, als seine Eltern ihn verdächtigen, verantwortlich dafür zu sein, dass seine Schwester Celie ihr linkes Auge verloren hat (1’21). Solche Bilder gehen auch nicht mit den religiös aufgeladenen Verweisen einher, die biblische Intertexte aufrufen. Denn die selbstbezogene Eva wird in einer solchen Lesart aus ihrem Paradies vertrieben, um einen Leidensweg der Buße zu gehen, bis sie
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in der letzten Sequenz durch den Gefängnisgang auf eine Lichtquelle zugeht und der Film mit einer Weißblende aus Evas Perspektive beendet wird. Aber es sind nicht nur die unangemessenen Metaphern, die den Film in die Nähe unterhaltender Horrorgattungen rücken, sondern auch die mehrdeutigen intertextuellen Referenzen. Hatte Ramsay gerade noch Gus Van Sant gewürdigt, indem Eva mit ihrem Sohn das Wort „elephant“ (29’) übt, so zeigt sich doch bald, dass dies nur ein Lippenbekenntnis war, denn kurz darauf lässt sie ihre Protagonistin in der Halloween-Nacht mit dem Auto an zahlreichen Verkleideten vorbeifahren und damit auf den HorrorFilmzyklus Halloween (ab 1978) anspielen. In einem Interview betont Ezra Miller zwar, dass sie bei den Dreharbeiten darauf geachtet hätten, aus Kevin nicht ein satanisches Kind im Stile Damiens aus The Omen (1976) zu machen,19 allerdings wirkt der pausbäckige Damien, der stark hinter der massiven Präsenz der Filmstars Gregory Peck und Lee Remick zurücktritt, deutlich harmloser als Kevin, dem der attraktive Miller in Kombination mit seinem durchdringenden hasserfüllten Blick ein weitaus verstörenderes Gesicht verleiht. Und schließlich lässt sich auch über die zentrale literarische Referenz streiten. Seitdem Eva ihrem Sohn als Kind vorgelesen hat, wie Robin Hood Kunststücke mit Pfeil und Bogen vollbringt, steht das Buch in seinem Zimmer und verweist auf seine Identifikation mit dem „Rächer der Witwen und Waisen“. Solche „wishful idenfications“ mit Superhelden werden für gewöhnlich in Komödien über infantile Männer thematisiert, die sich vom Dach stürzen, weil sie glauben Superman zu sein und die Welt retten zu müssen. Kevins Identifikation hingegen bezieht sich gar nicht auf Robins Mission, sondern nur auf eine seiner Fähigkeiten. Die Tatsache, dass Robin Hood in erster Linie als Sozialrevolutionär gesehen wird, lässt ihn als Modell für einen School Shooter des digitalen Zeitalters nicht nur anachronistisch, sondern auch als unpassend erscheinen. An Interpretationsfähigkeit mangelt es Kevin jedenfalls nicht, denn er wird in anderen Situationen als herausragend intelligent dargestellt und ist in der Lage, Vater, Mutter sowie das gesamt Umfeld souverän zu manipulieren. Auf besonders komplexe Weise kombiniert Ramsay Bild- und Tonebene miteinander. Nicht nur die Musik wird häufig asynchron gesetzt, son-
19 Interview mit Ezra Miller, in: Ramsay, Lynne, We Need to Talk About Kevin, DVD. Geiselgasteig: Bavaria Media, 2012, 3’.
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dern auch die Dialoge, indem Bilder aus der Gegenwart mit Erinnerungen an Gespräche aus der Vergangenheit überlagert werden. Man kann dies als Versuch ansehen, die Subjektivität der Erinnerungen hervorzuheben und das Erzählen aus der Perspektive von Eva als unzuverlässig erscheinen zu lassen.20 Es ist allerdings mit Stefan Volk zu bedenken, dass sich filmisches Erzählen im Unterschied zum literarischen nicht ohne Weiteres subjektiv brechen lässt.21 Deutlich wird dies z. B. bei der Filmmusik, die auch die Erinnerungen begleitet und vom Zuschauer weniger als subjektive Wahrnehmung der Figur denn als auktoriale Geste verstanden wird. Ramsay bedient sich hierbei einer Reihe von bekannten Schlagern und Popsongs, deren deutlich vernehmbare Texte die Handlung zum Teil ironisch kommentieren. Als Eva in Kevins Zimmer eindringt, um dessen persönlichen Dinge auszuspionieren (1ʼ11), erklingt In my room von den Beach Boys und thematisiert explizit das Zimmer als Rückzugsraum für Jugendliche. Die bereits erwähnte nächtliche Fahrt durch das Halloweentreiben wird mit Buddy Hollys Everyday unterlegt, in dem von der großen Liebe gesungen wird. Der Liedtext steht hier zweifellos ironisch zur Situation, aber Musik und Bilder gehen darüber hinaus eine Verbindung ein, die noch ganz andere Wirkungen mit sich bringt. Denn die aus dem fahrenden Auto heraus gefilmten Halloween-Gestalten, die über die Straße und am Auto vorbeihuschen, wirken leicht und schwebend, während die kinderliedhafte Xylophonmelodie von Buddy Holly andere Geräusche überdeckt. Die ganze Szene hat daher etwas Unbeschwertes, das gar nicht zur Situation passen will, in der sich die völlig vereinsamte und an Schlaflosigkeit leidende Eva eigentlich befindet. Ein solches konträr zum Inhalt stehendes Amalgam aus Bild und Ton wird auch von weiteren Songs erzeugt, z. B. wenn sich Eva zu den peppigen Country-Klängen des klassischen Mule Skinner Blues resigniert auf Arbeitssuche begibt. Durch den inhaltlichen Bezug der Songtexte zur Situation, seien sie ironisch oder nicht, enthalten diese Sequenzen ein spielerisches Element und werden leichter rezipierbar. Offenbar wurde dabei auch beabsichtigt, dem Zuschauer kleine Entspannungspausen zu gönnen, denn die Jugendzimmer-
20 Vgl. dazu den Beitrag von S. Braselmann in diesem Band, S. 203 f. 21 Volk, Stefan, „Wir müssen über Kevin reden. Horrorsohn oder Rabenmutter“, in: Ramsay, Lynne, We Need to Talk About Kevin, DVD. Geiselgasteig: Bavaria Media, 2012, Booklet, S. 4-15, hier S. 12 f.
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sequenz folgt unmittelbar auf einen äußerst hasserfüllten Monolog Kevins, in dem er seine Mutter als Klischees verhaftete Erwachsene provokativ desavouiert. Wenn man bedenkt, dass sich weder in Elephant noch in Polytechnique vergleichbare komische Brechungen und Spannungspausen finden, dann hängt dies einerseits zwar damit zusammen, dass We Need to Talk About Kevin mit 1ʼ47 deutlich länger ist als seine Vorläufer (1’18 und 1’17), dürfte aber eben auch Ausdruck eines spielerischen Konzepts sein, in dem Entspannungsmomente ebenso wie Gattungselemente die an sich bedrückende Thematik auflockern sollen. Man mag auch die manieristische Form in dieser Hinsicht verstehen: Wenn ein Zoom auf Kevins rechtes Auge so detailliert herangeholt wird, bis man nur noch die Spiegelung einer Zielscheibe auf seiner Pupille erkennen kann, die er mit dem Bogen gerade anvisiert (58ʼ), dann entfernt sich diese Ästhetik weit von dem kühlen Minimalismus Elephants und lenkt den Blick auf die Kameratechnik, und wenn Eva nach dem Massaker im Supermarkt vor einem großen Regal steht, in dem nur Tomatensuppendosen stehen, dann thematisiert dies zwar die Eingeschlossenheit der Welt in der sie nun lebt, nachdem sie in Buñol noch in Tomatensaft gebadet hatte, zitiert zugleich aber auch Andy Warhols Dosenbilder und Verpackungsinstallationen, mit denen die Popart Ernst und Pathos hoher Kunst zu brechen suchte. Bilder so zu überladen, heißt sie vieldeutig werden zu lassen und die Kontrolle über sie zu verlieren, so dass sie leicht auch ethische Grenzen überschreiten können. Formal-ethisch unterscheidet sich We Need to Talk About Kevin vor allem in zwei Aspekten von seinen thematischen Vorläufern: Erstens kehrt mit der Aufnahme von Gattungselementen und dem Wechsel aus Ernst und Unernst ein unterhaltendes Prinzip in den Film ein, was im Falle einer Fiktionalisierung von School Shootings ethisch fragwürdig werden kann. Und zweitens schafft die symbolische Überladung der Bilder mit Metaphern, religiösen Symbolen und filmischen sowie literarischen Intertexten eine Vieldeutigkeit, die sich der auktorialen Kontrolle leicht entzieht und unangemessene Konnotationen implizieren kann.
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4. F AZIT : M IT DER S PANNUNGSDRAMATURGIE
BRECHEN
Film ermöglicht eine realistische Darstellung der Gewalt und ein audiovisuelles Miterleben des Sterbens, wobei in konventionellen Darstellungen Blut sowie Schmerz- und Schreckensschreie als dessen Marker fungieren.22 Gewaltdarstellung ist zudem eingebettet in eine komplexe Spannungsdramaturgie aus der Inszenierung imminenter Gefahren im Zusammenspiel mit zur Empathie geeigneten Figuren und einer zeitlichen Struktur, in der Ereignis- und Diskursstruktur parallel verlaufen und sich erzählte Zeit und Erzählzeit einander annähern.23 Alle drei Filme brechen damit, zunächst indem sie statt linearer Erzählweisen labyrinthische Strukturen entwickeln. Labyrinthisch sind die Gänge, durch welche die Kamera die Figuren in Elephant und Polytechnique verfolgt, labyrinthisch wirkt die Aufsplitterung in unterschiedliche Perspektiven durch ständige Fokalisierungswechsel, und labyrinthisch erscheint zudem die komplexe zeitliche Struktur aus Pro- und Analepsen. Wenn das Labyrinth zur zentralen formalen Metapher dieser Filme wird, dann überrascht es wenig, dass es auch Reminiszenzen an den Minotauros gibt, der in Elephant im Bild des Stiers auf dem gelben T-Shirt von John24 und in Polytechnique in Picassos Guernica auftaucht. Für die Inszenierung der School Shootings erweisen sich somit Rudimente des Mythos als kulturhistorische Deutungsmuster durchaus als relevant, auch wenn sie nur hintergründig präsent sind. Ebenso signifikant erscheint, welche Elemente fehlen: der Held, der sich im Labyrinth Orientierung verschaffen kann und das Monster besiegt. In den filmischen Inszenierungen hingegen scheint die räumliche Ordnung ins Chaos zurückzufallen und der Täter ubiquitär zu werden. Es geht gerade nicht um eine Orientierung nach Art von Plänen und Skizzen, die in polizeilicher Arbeit erstellt werden, um den Tatablauf nachzuvollziehen. Der Verlust an räumlicher und zeitlicher Orientierung
22 Zur allgemeinen Problematik der filmischen Darstellung des Todes siehe Sobchack, Vivian, „Inscribing ethical space: Ten propositions on death, representation, and documentary“, in: Quarterly Review of Film Studies 9, 4 (1984), S. 283-300. 23 Vgl. ausführlicher dazu Junkerjürgen, Ralf, Spannung – Narrative Verfahrensweisen der Leseraktivierung. Frankfurt a. M.: Lang, 2002, S. 61-74. 24 Darauf verweisen auch Bouquet/Lalanne, Gus Van Sant, S. 148.
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wird zum formalen Ausdruck der verstörenden Tat und verstört zugleich die Wahrnehmung des Zuschauers. Die perspektivische Aufsplitterung spielt in We Need to Talk About Kevin allerdings eine geringere Rolle, da fast durchgängig die Figur Eva fokalisiert wird, wobei sich hier das Problem zeigt, dass deren subjektive Perspektive, die Isabella von Treskow als besonderes Merkmal einiger aktueller literarischer Herangehensweisen an Amok-Darstellungen herausgearbeitet hat,25 im Film objektiviert wird, weil der Kamerablick von außen kommt. In der Romanverfilmung verwandelt sich die unzuverlässige Erzählweise daher leicht in eine Mischung aus interner und Null-Fokalisierung. Die ästhetische und erzähltechnische Grundsatzentscheidung, mit der üblichen Spannungsdramaturgie zu brechen, gilt auch für den heikelsten Aspekt spielfilmischer Inszenierungen von School Shootings: der Darstellung des gewaltsamen Todes selbst. Alle drei Beispiele gehen hier besonders vorsichtig vor und verwenden ähnliche Verfahrensweisen, und zwar die Ellipse und die Plötzlichkeit als zeitliche sowie die Ausblendung und der Verzicht auf physische Marker als visuelle Strategien. Im Unterschied zu den auf Vollständigkeit abzielenden Dokumentationen wird in den Spielfilmen nur ein Bruchteil der Morde gezeigt, andere hingegen einfach ausgelassen oder nur angedeutet. In We Need to Talk About Kevin wird das Sterben der Opfer gar nicht gezeigt, sondern lediglich indirekt über eine Nahaufnahme Kevins angedeutet, der seine Pfeile abschießt. Während konventionelle Spannungsdramaturgie im Kern davon abhängt, dass die Gewalt zeitlich genau vorhersehbar ist, wird in Elephant und Polytechnique wiederholt das Moment der Plötzlichkeit entscheidend, das eine besondere Schockwirkung erzielt, indem mehrere Figuren beim Sprechen, also mitten im Satz, erschossen werden, eine ungewohnt abrupte Darstellung des Todes, die mit der üblichen dialogischen Taktung filmischer Abläufe bricht. Dass die visuelle Ebene ohne all jene Special Effects auskommt, die Gewalt in Actionfilmen prägt, muss wohl nicht eigens gesagt werden. Die hier vorgestellten Filme verzichten sogar, wie erwähnt, weitgehend auf die grundsätzlichen sinnlichen Zeichen von Gewalt, wobei die Darstellung von Blut in We Need to Talk About Kevin geradezu massiv auf Metaphern verschoben wird. Polytechnique hingegen distanziert sich durch die Schwarz-
25 Vgl. dazu den Beitrag von I. v. Treskow in diesem Band, S. 216-232.
FORM UND ETHIK IN FILMISCHEN INSZENIERUNGEN VON SCHOOL SHOOTINGS | 165
Weiß-Ästhetik gleich grundsätzlich von der erregenden Wirkung der Farben. Mit der Darstellungsstrategie der Ausblendung ist hier gemeint, dass Opfer und Täter in der Regel getrennt gezeigt werden und im Moment der Gewalt nie gemeinsam im Bild zu sehen sind. Fasst man diese Beobachtungen noch einmal vergleichend zusammen, dann stellen sich die Filme gegen eine sensationalistische und erregende Inszenierung von Gewalt, gegen den Reduktionismus kausaler Erklärungsansätze, gegen eine Objektivierung des Bösen und gegen das Vergessen, gehen dabei aber unterschiedlich vor. Während Elephant und Polytechnique diese ethischen Anforderungen formal erfüllen, wirft We Need to Talk About Kevin diesbezüglich Fragen auf. Im Unterschied zu den anderen beiden ist er zwar auch als Erinnerungsnarrativ angelegt, bezieht sich aber nicht auf eine konkrete historische Tat und stellt somit keinen Moment des Gedenkens dar. Damit genießt er eine größere darstellerische Freiheit, die z. B. in den intertextuellen Referenzen auf die Horrorgattung, den manieristischen Kameraeinstellungen, narrativen Verschnaufpausen mit komischen Brechungen und metaphorisch fragwürdigen Verschiebungen zum Ausdruck kommt. Es stellt sich jedoch die Frage, ob ein Film über ein School Shooting angesichts des historischen Einschnitts seit Littleton nicht zwangsweise immer auch eine Form des Gedenkens darstellt. Wer dies bejaht, wird We Need to Talk About Kevin formal-ethisch im Unterschied zu Elephant und Polytechnique wahrscheinlich als weniger angemessen beurteilen.
L ITERATURVERZEICHNIS Anonym, „Polytechnique“, in: http://celluloidparadiso.wordpress.com/201 3/01/31/polytechnique-2009 (24.11.2014). Bouquet, Stéphane/Lalanne, Jean-Marc, Gus Van Sant. Paris: Cahiers du cinéma, 2009. Interview mit Gus Van Sant, in: Van Sant, Gus, Elephant, DVD. Leipzig: Kinowelt, 2007. Interview mit Ezra Miller, in: Ramsay, Lynne, We Need to Talk About Kevin, DVD. Geiselgasteig: Bavaria Media, 2012. Jeremiah, Emily, „We need to Talk about Gender: Mothering and Masculinity in Lionel Shriver’s We Need to Talk about Kevin“, in: Podnieks, Elizabeth/O’Reilly, Andrea (Hrsg.), Textual Mothers / Maternal Texts.
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Motherhood in Contemporary Women’s Literature. Waterloo (Ontario): Laurier, 2010, S. 169-184. Junkerjürgen, Ralf, Spannung – Narrative Verfahrensweisen der Leseraktivierung. Frankfurt a. M.: Lang, 2002. Marelli, Matteo, „Polytechnique“, in: http://uzak.it/cose-mai-viste/25-polyt echnique.html (24.11.2014). Myers, Holly, „Nothing Happens to No One: The Death Trilogy of Gus Van Sant“, in: N +, 2006, in: https://nplusonemag.com/online-only/onli ne-only/nothing-happens-to-no-one (24.11.204). Little, William G., „Plotting Dead Time In Gus Van Santʼs Elephant“, in: Film-Philosophy 17, 1 (2013), S. 115-133. Joyard, Olivier/Lalanne, Jean-Marc, „Gus Van Sant : Je suis comme Colombo, je fais semblant de ne pas savoir“, in: Cahiers du Cinéma 57 (2003), S. 18-30. Kafka, Franz, Eine innere Biographie in Selbstzeugnissen. Hg. von Heinz Politzer, Frankfurt a. M.: S. Fischer, 1965. Small, Courtney, „Polytechnique Exams A Killer“, in: http://www.bigthou htsfromasmallmind.com/2010/01/polytechnique-exams-killer.html (24.11.2014). Sobchack, Vivian, „Inscribing ethical space: Ten propositions on death, representation, and documentary“, in: Quarterly Review of Film Studies 9, 4 (1984), S. 283-300. Sofsky, Wolfgang, Zeiten des Schreckens. Amok, Terror, Krieg. Frankfurt a. M.: S. Fischer, 2002. Sontag, Susan, On Photography. London: Penguin, 2008 (Orig. 1977). Stubblefield, Thomas, „Re-Creating the Witness: Elephant, Postmodernism, and the Neorealist Inheritance“, in: Ruberto, Laura E./Wilson, Kristi M. (Hrsg.), Italian Neorealism and Global Cinema. Detroit, MI: Wayne State UP, 2007, S. 226-241. Rosenberg, Sharon, „Neither Forgotten nor Fully remembered: Tracing an Ambivalent Public Memory on the Tenth Anniversary of the Montreal Massacre“, in: Burfoot, Annette/Lord, Susan (Hrsg.), Killing Women. The Visual Culture of Gender and Violence. Waterloo (Ontario): Wilfrid Laurier, 2006, S. 21-45. Volk, Stefan, „Wir müssen über Kevin reden. Horrorsohn oder Rabenmutter“, in: Ramsay, Lynne, We Need to Talk About Kevin, DVD. Geiselgasteig: Bavaria Media, 2012, Booklet, S. 4-15.
Amok spielen Super Columbine Massacre RPG! S VEN S CHMALFUSS
I think the net effect the game has does exactly what I intended: open up discussions about the shooting at Columbine, of the role videogames play (or don’t play) in relation to school shootings, and how we can understand societal circumstances through unconventional means (IE [sic] a 16-bit videogame).1
Dies sind, Danny Ledonne, dem Autor des Spiels Super Columbine Massacre RPG! zufolge, die Ziele, die er mit eben jenem Videospiel über den Amoklauf an der Columbine High School im April 1999 erreichen wollte.2
1
Danny Ledonne in: Burch, Anthony, „Virtual School Shootings: Interviewing Two of the Most Hated Game Creators Alive“, in: Destructoid, 18.5.2007, in: http://www.destructoid.com/virtual-school-shootings-interviewing-two-of-themost-hated-game-creators-alive-31610.phtml (5.9.2014).
2
Die folgende Analyse wird sich auf das Spiel selbst konzentrieren. Zur Verbindung zwischen dem Spiel und dem Amoklauf am Dawson College in Montreal siehe: Dugan, Patrick, „Soapbox: Why You Owe the Columbine RPG“, in: Gamasutra, 13.3.2007, in: http://www.gamasutra.com/view/news/104 068/Feature_ Soapbox_Why_You_Owe_the_Columbine_RPG.php
(5.9.2014);
Ledonne,
Danny, „Dawson Shooting Statement“, in: http://www.columbinegame.com/ DawsonCollege.htm (5.9.2014); Ledonne, Danny, Playing Columbine: A True Story of Video Game Controversy, USA, 2008, DVD, Emberwilde Productions, 2008. Zur Kontroverse um das Spiel auf der Slamdance Guerilla Gamemaker
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Ob und inwiefern diese Ziele (eine Diskussion über das Columbine Shooting und dessen gesellschaftliche Umstände mit unkonventionellen Mitteln anzustoßen und die Rolle der digitalen Spiele zu diskutieren) bereits zum Zeitpunkt der Entstehung des Spiels von Ledonne intendiert waren oder er sie erst im Nachhinein als Reaktion auf die teils sehr harsche Kritik am Spiel, inklusive Morddrohungen,3 erfand, lässt sich ohne seine ehrliche Auskunft nicht klären. Unabhängig davon zeigt sich jedoch mit größerem zeitlichen Abstand zur Veröffentlichung des Spiels und zum Amoklauf selbst, dass das Spiel Ledonnes Zielen mal mehr, mal weniger gerecht wird. Es stellt ein anschauliches Beispiel für eine seit dem Jahrtausendwechsel steigende Tendenz dar, in digitalen Spielen verstärkt sozialkritische Themen zu behandeln. Aufgrund seiner exemplarischen Funktion für diesen Trend und der Komplexität von Super Columbine Massacre RPG! wird sich die Analyse ganz auf dieses Spiel konzentrieren. Im Wesentlichen wird die Frage untersucht, mit welchen Mitteln Ledonne es der Spielerin bzw. dem Spieler ermöglicht, den Amoklauf und dessen Hintergründe aus der Perspektive der Täter zu erleben und zugleich eine kritische Distanz zu bewahren. Es gilt zu hinterfragen, ob Super Columbine Massacre RPG! also als ein „persuasive game“4, ein überzeugendes Spiel im Sinne des Digitalspielforschers und Spieledesigners Ian Bogost angesehen werden kann. Bogost definiert „persuasive games“ in seinem gleichnamigen Buch als Spiele, die erfolgreich eine Form von prozeduraler Rhetorik verwenden, um bestimmte Aspekte interaktiv bzw. ludisch zu „erörtern“.5 Prozedurale Rhetorik folge dabei ähnlichen Strukturen wie mündliche oder visuelle Rhetorik, denn sie versuche, bestimmte Dinge auszudrücken und den Spieler oder die Spielerin von etwas zu überzeugen, arbeite aber mit anderen Mitteln, die durch die „älteren“ Rhetorikkonzepte nicht oder nur teilweise abgedeckt werden:
Competition 2006, siehe: Ledonne, „Playing Columbine“; Dugan, „Soapbox“; Owen, Dave, „I, School Shooter“, in: Polygon, 6.1.2014, in: http://www.poly gon.com/features/2014/1/6/5223440/super-columbine-massacre-rpg (5.9.2014). 3 4
Vgl. Owen, „I, School Shooter“. Vgl. Bogost, Ian, Persuasive Games. The Expressive Power of Videogames. Cambridge, MA – London: MIT Press, 2007.
5
Vgl. ebd., S. 46.
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Procedural rhetoric is a general name for the practice of authoring arguments through processes. Following the classical model, procedural rhetoric entails persuasion – to change opinion or action. Following the contemporary model procedural rhetoric entails expression – to convey ideas effectively. Procedural rhetoric is a subdomain of procedural authorship; its arguments are made not through the construction of words and images, but through the authorship of rules of behavior, the construction of dynamic models.6
Prozedurale Rhetorik hebt folglich das Zusammenspiel aus Regeln und der Dynamik der Interaktion hervor. Sie versucht durch das Aufstellen von Regeln und dem Verhalten des Gegenübers (z. B. dem Spieler bzw. der Spielerin) innerhalb dieses Rahmens selbiges Gegenüber zu beeinflussen oder sich ihm gegenüber auszudrücken. Durch die Interaktion entsteht eine diskursive Argumentation zwischen Regelkomplex (z. B. einem Digitalspiel) und dem Benutzer bzw. der Benutzerin. „Persuasive games“ vereinigen nun Elemente der mündlichen (d. h. sprachlichen), ästhetischen (nicht nur visuellen, sondern z. B. auch musikalischen) und prozeduralen Rhetorik, um einen bestimmten Umstand zu verhandeln. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass Super Columbine Massacre RPG! zwar einige wichtige Diskussionen anregen kann, in dem es überzeugende Argumente auf allen diesen Rhetorikebenen liefert, diese aber zugleich auf recht naive Weise wieder untergräbt.
1. E IN PRÄGENDES E REIGNIS
VERARBEITEN
Das im Jahr 2005 vom damaligen Studenten Danny Ledonne veröffentlichte Spiel Super Columbine Massacre RPG!7 stellt eine Aufbereitung des Amoklaufs an der Columbine High School in Littleton, Colorado, von 1999 dar. Ledonne publizierte das Spiel zuerst anonym unter dem Pseudonym
6 7
Ebd., S. 28 f. Ledonne, Danny, Super Columbine Massacre RPG!, Digitalspiel, 2005, im DVD-Rom Bereich von: Ledonne, Danny, Playing Columbine; oder in: https://docs.google.com/file/d/0BzKs3T6UTgrTYjk4NzY3NDYtOWZkYS00Y WMz-WI5NjUtNDM5MTA3OWQ3NzQx/edit?pli=1 (5.9.2014).
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„Columbin“.8 Erst als sein Name und seine Adresse ein Jahr nach dem Erscheinen des Spiels durch Roger Kovaks, einem Freund eines der Opfer, der Presse zugespielt wurde, beschloss Ledonne, zu seinem Werk zu stehen.9 Die Webseite, über die das Spiel zum Download angeboten wird, enthielt von Anfang an ein Forum, um über das Spiel und das Columbine School Shooting zu diskutieren. Auf Anraten von Ian Bogost,10 veröffentlichte Ledonne ein „Artist’s Statement“, in dem er seine Intentionen hinter Super Columbine Massacre RPG! erklärt.11 Sukzessive ergänzte er außerdem die Webseite um einen sogenannten „Press Room“ (eine Sammlung positiver und negativer Kommentare zum Spiel) und jeweils um ein Statement zu den Amokläufen am Dawson College in Montreal 200612 und am Virginia Polytechnic Institute 200713. Ledonne versuchte mit all diesen Maßnahmen und in Interviews, seine (vermeintliche) Absicht zu unterstreichen, mit dem Spiel nicht Aufmerksamkeit qua Tabubruch zu erregen, sondern zur Diskussion über das School Shooting anzuregen. Ledonne, der zum Zeitpunkt des Amoklaufs in Colorado in die 10. Klasse ging und ein Jahr jünger als Dylan Klebold und Eric Harris war,14 sah sich eigener Aussage nach, als er das Spiel entwarf, ähnlichen Umständen ausgesetzt wie die Attentäter.15 Ledonne konkretisiert diese Aussage nicht weiter, so dass nicht ersichtlich ist, ob er auf Mobbing-Erlebnisse oder andere vermeintliche Erfahrungen anspielt.
8
Zur Anonymität vgl. Ledonne, Playing Columbine, (00:02:55-00:02:58); zum Pseudonym vgl. Ledonne, Danny, „Artist’s Statement: A Mediation on Super Columbine Massacre RPG!“, in: http://www.columbinegame.com/statement.htm (5.9.2014).
9
Ledonne, Playing Columbine, (00:03:52-00:05:20).
10 Ledonne, Danny, „Questions and Answers with Danny Ledonne: Reflections on the Game and Film after a screening on a Collage Campus“, im Bonusmaterial von: Ledonne, Playing Columbine, (15:02-15:30). 11 Ledonne, „Artist’s Statement“. 12 Ledonne, „Dawson Shooting Statement“. 13 Ledonne, Danny, „Virginia Tech Shooting Statement“, 17.4.2007, in: http://columbinegame.com/vtechstatement.htm (5.9.2014). 14 Ledonne, Playing Columbine, (00:01:09-00:01:25). 15 Vgl. Owen, „I, School Shooter“.
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Das Spiel selbst ist, wie der Titelzusatz RPG (Role Playing Game) andeutet, ein Rollenspiel, genauer gesagt ein JRPG (Japanese Role Playing Game), das die Spielerin bzw. den Spieler in der ersten Hälfte die Vorbereitung und Durchführung des Amoklaufs nacherleben lässt und die Figuren „Dylan Klebold“ und „Eric Harris“16 im zweiten Teil in ein fiktives Höllenszenario versetzt. An bestimmten Orten werden kurze, nicht-interaktive Rückblenden eingespielt, in denen Ledonne die Vorgeschichte der Attentäter beleuchtet. Als Hintergründe bzw. Zwischeneinblendungen fungieren digitalisierte Bilder und Sprachaufnahmen aus den Medien und den von den Tätern gefilmten Videos. Ledonnes ausdrückliches Ziel war, ein Spiel über eine Gewalttat von zwei jugendlichen Männern, die selbst Digitalspieler waren, zu entwickeln, für die größtenteils auch digitale Spiele verantwortlich gemacht wurden.17 Er bedient sich für diese binnenspielerische Reflexion digitalspiel-ästhetischer Mittel, ludischer Argumente und einer inhaltlichen Melange aus soziopolitischer Kritik und Satire. Während die Balance zwischen Erkenntnisgewinn und Ironie im ersten Teil überzeugend gelingt, kippt der zweite Teil – die Höllensequenz – völlig in Satire um und stellt Ledonnes Intention damit wieder infrage.18
2. ÄSTHETIK
DES
G RAUENS
Die Gewalt bei einem Amoklauf erscheint Außenstehenden oft als unverständlich und entzieht sich vermeintlich jeglicher sprachlicher Fassbarkeit. Filme über Amokläufe, wie etwa Elephant19, Polytechnique20 oder We Need to Talk About Kevin21, versuchen dieses Vakuum durch filmsprachliche d. h. ästhetisierende Mittel zu füllen und die Tat „sinnlich“ erfassbar zu
16 Im Folgenden werde ich die Spielfiguren „Harris“ und „Klebold“ in Anführungszeichen setzen, um sie von den realen Personen zu unterscheiden. 17 Ledonne, „Questions and Answers“, (06:24-06:35). 18 Vgl. Burch, „Virtual School Shootings“. 19 Van Sant, Gus, Elephant, 2003, DVD, Elephant Special Edition, Kinowelt, 2004. 20 Villeneuve, Denis, Polytechnique, 2009, DVD, Alliance Films, 2009. 21 Ramsay, Lynne, We Need to Talk About Kevin, 2011, Blu-Ray, Euro Video, 2012; vgl. zu den drei Filmen den Beitrag von R. Junkerjürgen in diesem Band.
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machen. Auch in Super Columbine Massacre RPG! findet sich eben jene ästhetische Überhöhung in Form einer minimalistischen graphischen Darstellung. Diese ist zwar den begrenzten Möglichkeiten der RPG-MakerSoftware geschuldet, die zur Erstellung des Spiels verwendet wurde, und dadurch den ökonomischen Zwängen des Entwicklers Ledonne, führt aber auch zu einer Annäherung durch ästhetische Mittel wie die graphische Darstellung und die Musik des Spiels an die beiden Täter bei gleichzeitiger Erhöhung der Distanz zur Tat. Abb. 1: Standbild aus Super Columbine Massacre RPG! – eine verzerrte Welt
Screenshot: Sven Schmalfuß
Im RPG-Maker lassen sich Rollenspiele erstellen, die sich ästhetisch und spielerisch an „klassische“ japanische Rollenspiele der frühen bis mittleren 1990er Jahre anlehnen. Auf der visuellen Ebene wird das Spielgeschehen aus einer leicht schrägen Top-Down-Perspektive dargestellt, in der man sich von Quadrat zu Quadrat bewegt. Dadurch entsteht eine aus Bodenkacheln zusammengesetzte virtuelle Welt und werden Gegenstände, Gebäude und vor allem Figuren verzerrt. Diese werden verniedlicht, indem der Kopf im Vergleich zum restlichen Körper überdimensional groß erscheint. Ledonne scheint „Harris“ und „Klebold“ für das Spiel selbst entworfen zu haben und hat sie als Figuren an den vorherrschenden ästhetischen Standard der
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1990er Jahre angeglichen. Anscheinend hat er für die Opfer-Figuren auf Vorlagen des RPG-Makers zurückgegriffen.22 Aufgrund dieser, durch den RPG Maker vorgegebenen, visuellen Konvention, die oft als Referenz auf eine vermeintliche Phase qualitativ hochwertiger japanischer Rollenspiele Anfang der 1990er Jahre verwendet wird, ähneln sich thematisch grundverschiedene Spiele wie Super Columbine Massacre RPG!, To the Moon23 und Polymorphous Perversity24 auf einer rein visuellen Ebene stark. Diese Spiele verweisen auf eine Generation von Spielerinnen und Spielern, die wie die beiden Attentäter und Ledonne in den frühen 1980er Jahren geboren wurden und mit dieser Ästhetik aufgewachsen sind.25 Ledonne gehört zu dieser Generation, die in den Nullerjahren begann, eigene spielerische Ideen umzusetzen, dabei aber immer die ästhetische Anbindung an vergangene, „einfachere“ Zeiten suchte und somit eine „Indie“-Spielebewegung stiftete.26 Mag die Wahl des RPG-Makers für Ledonne auch aus ökonomischen Gründen und dem Wunsch nach Bedienungsfreundlichkeit erfolgt sein, in jedem Fall erlaubt diese Entscheidung zugleich eine Identifizierungmöglichkeit mit dieser Altersgruppe, die stark durch das School Shooting an der Columbine High School geprägt wurde.27
22 Vgl. Abb. 1. 23 Freebird Games, To the Moon, Digitalspiel, Freebird Games, 2011. 24 Chaud,
Nicolau,
Polymorphous
Perversity,
Digitalspiel,
2012,
in:
http://gamejolt.com/games/polymorphous-perversity/download-distribution/829 4/?os=windows (5.9.2014). 25 Die Popularität des RPG-Makers und die damit verbundene relative ästhetische Homogenität muss der vergleichsweise einfachen Struktur der Software zugeschrieben werden, die eine niedrige Einstiegshürde für potentielle Spieledesignerinnen und Spieledesigner darstellt. 26 Vgl. Juul, Jesper, „High-tech Low-tech Authenticity: The Creation of Independent Style at the Independent Games Festival“, in: Proceedings of the 9th International Conference on the Foundations of Digital Games, 2014, in: http://www.jesperjuul.net/text/independentstyle/independentstyle.pdf (5.9.2014). 27 Vgl. Owen, „I, School Shooter“.
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Abb. 2: Photographien aus der Columbine High School bilden den Hintergrund des virtuellen School Shootings
Screenshot: Sven Schmalfuß
Ledonne stellt nun den Verlust der Unschuld dieser spezifischen spielerischen Kindheitserinnerung sowie das Einbrechen der Schuld in den Schutzraum Schule dar, indem er sich einer komplexen Collagentechnik bedient und reale Tatortphotos und Stills aus den sogenannten „basement tapes“ der Attentäter in das Spiel integriert. Diese Brüche lassen die tödliche Realität hinter der oberflächlich „niedlichen“, verharmlosenden Spielwelt zu Tage treten. Denn die Schule, wie sie im Spiel modelliert ist, hat recht wenig mit der eigentlichen Columbine High School zu tun. Zwar werden alle für das Shooting wichtigen Örtlichkeiten dargestellt, etwa die Cafeteria28, die Bibliothek29 und einige Klassenräume, deren räumliche Anordnung entspricht jedoch nur sehr vage dem Vorbild. Sobald es aber in einem dieser Räume oder den Gängen zum „Kampf“ kommt, ist im Hintergrund jeweils ein Pho-
28 Folgendes Video zeigt eine komplette Partie des Spiels: Anonymus, _Super Columbine Massacre RPG!_ full run-through.flv, in: https://docs.google.com/file/ d/0BzKs3T6UTgrTNmNkNzgyYmEtZTZkYi00NjM4LTgzNjItNzkwZWNkZT JhYjRm/edit?num=50&sort=name&layout=list&pli=1 (5.9.2014), im Folgenden zitiert als Run-through. Vgl. Run-through (07:20-07:57). 29 Vgl. Run-through (26:00-31:10).
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to des realen Schauplatzes zu sehen, vor dem die Figuren agieren.30 An einer Stelle bricht das Spiel sogar mit der Perspektive der beiden Attentäter als Fokalfiguren und blendet auf einen Fernseher vor schwarzem Hintergrund um, auf dem ein Still der kurzen Ansprache des Präsidenten Bill Clinton zu sehen und ein Ausschnitt zu hören ist, mit dem er die Nation noch während des Amoklaufs darüber informierte.31 Auch hier führt dieser Perspektivenbruch zum Kurzschluss der virtuellen Spielwelt mit der Erfahrung des Spielers bzw. der Spielerin, der bzw. die eben jenen TVAusschnitt selbst gesehen haben könnte. Auf der anderen Seite erlaubt die stark abstrahierende Graphik eine erhöhte emotionale Distanz zu den Ereignissen. Auch die Musik des Spiels knüpft an vergangene Traditionen an, während sie gleichzeitig diese Nostalgie wieder aufbricht. Schon im Titelbildschirm,32 der ein Still aus den Überwachungskamera-Aufnahmen der beiden Attentäter in der Schulkantine zeigt, ist Marilyn Mansons Song „The Nobodies“ zu hören, der häufig als Kommentar zum Amoklauf an der Columbine High School betrachtet wird.33 Marilyn Manson-Songs finden sich auch im restlichen Soundtrack des Spieles, da Manson direkt nach der Tat vor allem in den US-Medien oft fälschlich als Inspirationsquelle für die beiden Attentäter dargestellt wurde.34 Ledonne bindet die Songs nicht direkt ein, sondern kreiert mit dem Computer generierte Instrumentalversionen, die wie der Soundtrack zu einem digitalen Spiel aus den 1990er Jahren und wie auf Hardware aus dieser Zeit abgespielt klingen. Die Musik trägt zur gleichen vielschichtigen Ästhetik bei, wie sie schon die graphische Darstellung vermittelt. Der weitere Soundtrack enthält ebenfalls verfremdete Lieder der beiden deutschen Industrial-Bands KMFDM und Rammstein, von denen die Attentäter Fans wa-
30 Vgl. Abbildung 2 sowie z. B. Run-through (13:16-13:42). 31 Vgl. Run-through (13:46-14:13). 32 Vgl. Run-through (00:00-00:09). 33 Vgl. u. a. den Wikipedia-Eintrag zum Song: http://en.wikipedia.org/wiki/The_N obodies_%28song%29 (5.9.2014). 34 Vgl. Manson, Marilyn, „Columbine: Who’s Fault is It?“, in: Rolling Stone, 24.6.1999, in: http://www.rollingstone.com/culture/news/columbine-whose-fault -is-it-19990624 (5.9.2014).
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ren und deren Liedtexte sich häufig in ihren Aufzeichnungen finden.35 Enthalten sind außerdem ausgewählte Songs bekannter Indie- und GrungeBands der 1990er Jahre, etwa Nirvana, The Smashing Pumpkins und Radiohead, sowie Musik aus dem Digitalspiel Doom. Allen Liedern ist gemein, dass sie entweder die Gefühlssituation von Außenseitern beschreiben, etwa Radioheads „Creep“, oder direkt mit dem Amoklauf in Verbindung gebracht wurden. Als Zwischentitel bei Kapitelwechseln verwendet das Spiel Auszüge aus einigen der Songtexte und aus dem Gedicht „The Hollow Men“ von T. S. Eliot. Dieser Auszug, der die berühmten letzten Zeilen des Gedichts – „This is the way the world ends / Not with a bang but a whimper.“36 – enthält, findet sich am Ende einer Sequenz die bei Verlassen der Cafeteria einsetzt, in der sich „Dylan Klebold“ an Ausgrenzungen, Einsamkeit, aber auch Allmachtsphantasien erinnert. Seine Mitschülerinnen und Mitschüler erscheinen ihm als „hohle“ Gestalten, die über Unsinn „plappern“ oder Lügen verbreiten. Er selbst fühlt sich moralisch überlegen und möchte sie alle töten. Ledonne kontrastiert die Worte „Klebolds“ mit Eliots Gedicht, das die Perspektive dieser „hohlen Menschen“ annimmt − „We are the hollow men / We are the stuffed men“ − und stellt (unterstützt durch die melancholische Musik während dieses Rückblicks, nämlich eine wie erwähnt retroästhetisch veränderte Fassung des Songs „Fake Plastic Trees“ der Band Radiohead, der ebenso eine „falsche“, „hohle“ Welt und den Versuch aus dieser zu entkommen beschreibt)37 den Amoklauf, den Worten Eliots folgend, weniger als einen „Knall“ als ein „Wimmern“ da.38 Die poetische Ästhetik schafft eine emotionale Annäherung und gleichzeitig eine sprachliche Überhöhung und folglich eine reflexive Distanz.
35 Vgl. Jefferson County Sheriff’s Office (Hrsg.), Columbine Documents JC-001025923 through JC-001-026859, in: http://denver.rockymountainnews.com/pdf/ 900columbinedocs.pdf (14.7.2014), S. 272, 582, 638-641, 671-675, 677 f., 785-795 [Link nicht mehr aktiv]. 36 Vgl. Eliot, T. S., „The Hollow Men“, in: ders., Collected Poems 1909-1962. London: Faber and Faber, 2002, S. 77-82, hier V. 97 f. 37 Vgl. Radiohead, „Fake Plastic Trees“, auf: The Bends, Parlophone, 1995. 38 Vgl. Eliot, „The Hollow Men“, 2002, V. 98; vgl. für die gesamte Sequenz Runthrough (15:46-17:39).
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3. AMOK SPIELEN Die Stärke der ersten Hälfte des Spiels liegt darin, dass Ledonne die Spannung zwischen dem Versuch einer empathischen Annäherung an die Situation der Täter und einer nötigen kritischen Distanz nicht nur auf der ästhetischen Ebene beibehält, sondern diese auch auf die spieltechnische Struktur überträgt. Bogost verweist darauf, dass Interaktivität in Spielen ein prozedurales Ethymem schaffen kann: „The enthymeme […] is the technique in which a proposition in a syllogism is omitted; the listener (in the case of oratory) is expected to fill in the missing proposition and complete the claim.“39 Durch dieses Enthymem stellen die Spiele einen gewissen diskursiven Rahmen, in dem die Spieler bzw. Spielerinnen interaktiv selbst das prozedural-rhetorische Argument erarbeiten müssen.40 Das Spiel stellt die Spielwelt, die Spielfiguren, die Spielregeln und die ästhetischen Elemente bereit, es ist jedoch der Spieler oder die Spielerin, der bzw. die sich im Handeln in der virtuellen Welt einen eigenen Weg durch den „Möglichkeitsraum“ des Regelwerks finden muss. „This is really what we do when we play videogames: we explore the possibility space its rules afford by manipulating the game’s controls.“41 Wenn die Spielerin oder der Spieler bestimmte Räume im Spiel nicht betritt, wird sie bzw. er bestimmte Sequenzen nicht sehen und bestimmte Informationen nicht bekommen bzw. bestimmte Erfahrungen nicht machen. Auch liegt es in den Händen des Spielers bzw. der Spielerin, wie viele Menschen er bzw. sie im Spiel tötet. Somit gleicht keine Spielerfahrung der anderen, obwohl das Spiel stets dasselbe ist. Diese Auslassung, bzw. dieser innerhalb der Regeln bestehende Möglichkeitsraum, zeigt sich ebenso in der entstehenden paradoxen Situation aus Nähe und Distanz. Die wichtigste Entscheidung für eine ludische Argumentation findet sich bereits im Titel: Super Columbine Massacre RPG!. Die Umsetzung des Amoklaufs als Rollenspiel unterscheidet diesen Titel von anderen auf Amokläufen basierenden Spielen, etwa den beiden von Ryan Lambourn
39 Bogost, Persuasive Games, S. 43. 40 Ebd. 41 Ebd.
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entwickelten Spielen V-Tec Rampage42 und The Slaying of Sandy Hook Elementary.43 Die letzten beiden Spiele sind Action-Spiele, die wenigstens ein Mindestmaß an Geschick des Spielers bzw. der Spielerin voraussetzen, um die virtuellen Opfer erschießen zu können. Sie berufen sich damit auf bestimmte Digitalspielstereotypen, die Super Columbine Massacre RPG! in der ersten Hälfte als Rollenspiel konsequent unterläuft. Rollenspiele oder genauer gesagt Japanese Role Playing Games, stellen meist die Heldenfahrt eines oder einer Gruppe von vermeintlichen Nobodies dar, der/die sich durch eine lange Reise und viele Kämpfe moralisch und kämpferisch gestärkt einem ultimativ Bösen stellen muss bzw. müssen. Eines der zentralen Elemente ist dabei der Erfahrungsgewinn, der sich spieltechnisch dadurch abbildet, dass der Spieler bzw. die Spielerin mit ihrer Heldengruppe gegen immer stärkere Gegner antreten muss und hierfür „Erfahrungspunkte“ bekommt, die wiederum die Angriffs-, Verteidigungs- und Magiewerte erhöhen. Folglich werden die Helden zu immer mächtigeren Spielfiguren, die wachsende Gefahren bewältigen müssen. Digitale Rollenspiele haben diese Funktionsweise von analogen Rollenspielen, sogenannten „Pen&Papers“ wie Dungeons & Dragons oder Das Schwarze Auge, übernommen. Im Hintergrund simuliert das Programm einen Würfelwurf gegen die Angriffsund Verteidigungswerte der am Kampf beteiligten Figuren und ermittelt daraus, ob eine Figur getroffen hat oder nicht. Betrachtet man nun nur die erste Hälfte von Super Columbine Massacre RPG!, dann werden hier diese Spielmechanismen ad absurdum geführt, denn die Protagonisten sind den Opfern haushoch überlegen. Bei Berührung einer anderen Figur schaltet das Spiel in einen sogenannten „Kampfbildschirm“ – ein weiteres typisches Element aus JRPGs – und wechselt dabei aus der Außensicht in die subjektive Perspektive der Angreifer. Es erhöht dadurch die Identifikation zwischen den Spielern bzw. Spielerinnen und den Protagonisten.44 „Klebold“ und „Harris“ sind immer die ersten, die
42 Lambourn, Ryan Jake, V-Tec Rampage: RIAA Edition, Digitalspiel, in: http://www.newgrounds.com/ portal/view/378086 ( 5.9.2014). 43 Lambourn, Ryan Jake, The Slaying of Sandy Hook Elementary, Digitalspiel, 2013, in: http://gamejolt.com/games/shooter/the-slaying-of-sandy-hook-element ary/19695 (5.9.2014); vgl. Burch, „Virtual School Shootings“ für ein Interview mit Lambourn und Ledonne; vgl. außerdem Owen, „I, School Shooter“. 44 Vgl. Abb. 2.
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angreifen dürfen. Ihre Schuss- oder Explosivwaffen töten die Opfer meist sofort. Die Wahl der Waffe ist irrelevant, da genügend Munition vorhanden ist. Falls es das Opfer schafft auszuweichen – dies geschieht oft mit der moralisch äußerst fraglichen, da die Bluttat trivialisierenden Beschreibung „dodges Matrix style!“45, etwa: „Weicht im Matrix-Stil aus!“– oder sich durch göttliche Unterstützung in sehr geringem Umfang zu heilen, kann er oder sie sich nur mit unzureichenden Mitteln gegen die, den automatischen Waffen geschuldete, Feuerkraft der Angreifer wehren und verursacht bei den beiden Tätern so gut wie keinen Schaden. Fast keiner der „Kämpfe“ in der Schule dauert daher länger als zwei Runden, mit dem immer gleichen Ergebnis, dass die Opfer als blutige Leichen zurückbleiben46 und „Klebold“ und „Harris“ eine bestimmte Punktzahl an „combat experience“ bekommen, die aber bis zum Tod der Protagonisten eigentlich unbedeutend ist. Die „Kämpfe“ stellen keine Herausforderung für die Spielerin bzw. den Spieler dar, wie bei den oben genannten Action-Spielen, sondern laufen dramaturgisch ins Leere und verschaffen bis zum späteren Abschnitt in der Hölle keinerlei spielerische Gratifikation. Das Spiel gratuliert dem Spieler bzw. der Spielerin nach jedem „Kampf“ auf zynische Art mit dem Satz „Another victory for the Trench Coat Mafia!“47, entfernt aber Elemente wie Geschick oder Taktik, die im klassischen Digitalspiel-Sinn „Spaß“ bereiten könnten. Die einzige spielerische Herausforderung in der ersten Hälfte des Spiels findet sich in der Sequenz, in der die beiden Täter die Bomben in der Cafeteria platzieren.48 Hier müssen die Spieler Überwachungskameras, Gangaufsichten und Hausmeistern aus dem Weg gehen, um nicht erwischt zu werden und die Sequenz wiederholen zu müssen. Allerdings spiegelt der Kontrast zwischen der kurzen Bombensequenz und dem weiteren Shooting in gewisser Weise die realen Machtverhältnisse wider. Liefen Klebold und Harris wirklich Gefahr, entdeckt zu werden, als sie die Bomben unter den
45 Vgl. Run-through (23:03). Etwas gezwungen könnte man Ledonne hier eine unbeholfen formulierte Anspielung auf Medienberichte nach dem Amoklauf attestieren, die eine Verbindung zwischen der Ästhetik des einen Monat vor dem Ereignis erschienen Films The Matrix und der Gewandung der Attentäter zogen. 46 Vgl. Abb. 1. 47 Vgl. z. B. Run-through (23:11). 48 Vgl. Run-through (07:03-08:13).
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Tischen der jocks49 versteckten, war diese Vorsicht ab dem Moment, als sie die Waffen zogen und wahllos auf Schüler bzw. Schülerinnen und Lehrer bzw. Lehrerinnen schossen, gleichgültig. Nun waren alle anderen ihrer Willkür ausgeliefert. Auch diese Willkür ist im Spiel umgesetzt. Super Columbine Massacre RPG! greift nicht auf das häufig in JRPGs anzutreffende Element der „Zufallsbegegnungen“ – Kämpfe gegen nicht im Level oder auf der Karte sichtbare Gegner – zurück, obwohl diese Mechanik einer Situation bei einem Amoklauf wohl auch nahe gekommen wäre. Klebold und Harris hatten im Vorfeld eine Todesliste erstellt, aber nur einen Schüler davon während des Angriffs verletzt. Die restlichen Opfer wurden zufällig und willkürlich ausgewählt. Das Spiel setzt dies dadurch um, dass die Opfer keine richtigen Namen haben, sondern nur generische Gruppenbezeichnungen wie „Jock Type“ oder „Church Girl“ tragen. Sie verlieren durch diese Verallgemeinerung in den Augen der Attentäter ihre Individualität und werden zu „gegnerischen“ Vertretern einer Gruppe, die sie hassen.50 Das Spiel folgt diesem Muster sogar bei den Opfern, die sich namentlich identifizieren lassen. So führt „Klebold“ in der Bibliothek eine Glaubensdiskussion mit einem Mädchen, das lediglich als „Church Girl“ bezeichnet wird, obwohl die Figur eindeutig auf das Opfer Valeen Schnurr verweist.51 Nun lässt sich diese Verallgemeinerung durchaus als Schutz der Anonymität verstehen, zugleich verlieren die Opfer aber ihre Identität und werden austauschbar. Verstärkt wird dieser Effekt dadurch, dass der Schüler Brooks Brown unter seinem richtigen Namen im Spiel anzutreffen ist und die Täter ihn wie in der Realität verschonen.52 Dies zeigt, dass die Protagonisten mit Brown befreundet sind und ihn daher als Individuum gegen-
49 Amerikanische High Schools zeichnen sich durch ein „Kastensystem“ aus, das Schüler und Schülerinnen in bestimmte Gruppen einordnet, bzw. sie sich selbst diesen Gruppen als zugehörig bezeichnen. Es finden sich dabei Gruppen wie jocks, männliche Schüler, die Mitglieder der wichtigsten Sportteams der Schule sind, oder z. B. geeks/Nerds, Sammelbegriffe für alle Schüler, die sich z. B. für Technik, Informatik etc. interessieren. Vgl. auch Larkin, Ralph W., Comprehending Columbine. Philadelphia: Temple UP, 2007, S. 62-81. 50 Burch, „Virtual School Shootings“. 51 Vgl. Run-through (26:22-26:45). 52 Vgl. Run-through (11:20-11:27).
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über einer Masse aus „Gegnern“ wahrnehmen, aber es führt trotz allem zu einer weiteren Abwertung der 13 Todesopfer und 24 Verwundeten des tatsächlichen Amoklaufs. Zwar lässt das Spiel dem Spieler bzw. der Spielerin freie Wahl, wen er bzw. sie angreift, doch laufen die Spielfiguren der Mitschülerinnen und Mitschüler, Lehrerinnen sowie Lehrer und der Hausmeister mit schnellen und plötzlichen Richtungswechseln durch die Gänge, so dass es oft von dem Spieler oder der Spielerin ungewollt zu einem „Kampf“ kommt. Abgesehen davon erlaubt das Spiel wie einige andere „Amok“-Spiele (The Slaying of Sandy Hook Elementary, Postal2 53 oder die „No Russian“ Mission in Call of Duty: Modern Warfare 254), selbst zu entscheiden, wie viele Opfer er/sie töten will. Prinzipiell ist es möglich, sofort zur Bibliothek zu gehen und dort Selbstmord zu begehen, ohne eine andere Person zu töten. Durch die spielmechanische Kehrtwende der zweiten Hälfte des Spiels wird diese moralische Entscheidungsfreiheit ad absurdum geführt. Es ist diese Entscheidungsfreiheit zusammen mit der Ich-Perspektive während der Kämpfe, die eine stärkere ludische Anbindung an die beiden Attentäter erlaubt, wohingegen die beschriebenen Unterwanderungen üblicher Spielstile eine stärkere kritische Distanz zu ihnen aufbauen. Das Spiel bedient sich noch einer weiteren Rollenspiel-Trope, um das Verhältnis zwischen Macht und subjektiv erfahrener Ohnmacht der Täter gegenüber dem Mobbing ihrer peers bzw. der vermeintlich „schlechten“ Welt darzustellen. Digitale Rollenspiele bedienen sich häufig nichtinteraktiver Rückblenden, um eine Handlung zu erzählen, die vor der erzählten Zeit des Spiels angesiedelt ist. In Super Columbine Massacre RPG! wird diese Handlungsunfähigkeit auch auf die Protagonisten übertragen, die hier meist nur Opfer sind. Dies gilt noch nicht für die erste Rückblende auf Klebolds und Harris’ Sprengexperimente,55 jedoch für alle in der Schule ausgelösten Gedankensequenzen. Diese finden sich in der Cafeteria, in der Turnhalle und im Technikraum des Schultheaters. Die Cafeteria-Sequenz
53 Running With Scissors, Postal2 Complete, Digitalspiel, Running With Scissors, 2003. 54 Infinity Ward, Call of Duty: Modern Warfare 2, Digitalspiel, Activision, 2009. Xbox360-Version. 55 Vgl. Run-through (02:36-03:50).
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beschreibt „Klebolds“ Erfahrungen von Ausgrenzung,56 und in der Turnhalle erzählt „Harris“ von Mobbing und Misshandlung durch jocks.57 Selbst die Sequenz im Theater, die „Klebold“ bei einem Erfolgserlebnis als Theatertechniker bei einer Aufführung von Mary Shelleys Frankenstein zeigt, wendet sich schlussendlich in die Erkenntnis, dass die Attentäter „Monster“ sind, die die Gesellschaft geschaffen hat.58 Der Hass, der sich in den Protagonisten durch diese Erfahrungen bildet, wird im Spiel durch den Erhalt weiterer „combat experience“ ausgedrückt. Das Spiel verwandelt diese Erfahrungen sogar ganz konkret in eine Machtphantasie, wenn „Klebold“ und „Harris“ in der Männertoilette Zeugen werden, wie ein Junge von mehreren anderen Schülern verbal und durch tätliche Angriffe gemobbt wird. Sie greifen ein und erschießen die Angreifer. Darauf dankt ihnen der Junge und schenkt ihnen eine Medizintasche.59 Das Spiel belohnt also das gewalttätige und tödliche Vorgehen gegen die Mobbing-Aggressoren.
4. G ESELLSCHAFTSKRITIK VS . S ATIRE In dieser Belohnungssequenz zeigt sich, dass das Spiel die MobbingErfahrungen der beiden Täter als Hauptursache für den Amoklauf hervorhebt.60 Zwar werden auch andere Ursachen angesprochen, diese werden aber durchgehend ironisiert. Dies beginnt damit, dass „Harris“ im Keller seines Elternhauses eine Marilyn Manson-CD und eine Kopie des Spieles Doom finden kann und beide die Kampfwerte der Protagonisten erhöhen, wenn man sie „einsetzt“. Im zweiten Teil des Spiels schwingt dann das Pendel endgültig in Richtung Satire. Es finden sich schon vor dem Selbstmord der Spielfiguren satirische Elemente. Das „Super“ und das Ausrufezeichen des Titels, verweisen auf Spiele wie Super Mario Bros61; des Weiteren die oben zitierten Einblendungen „Another victory for the Trench Coat Mafia!“ und „brave
56 Vgl. Run-through (15:48-17:05). 57 Vgl. Run-through (24:21-25:32). 58 Vgl. Run-through (19:44-21:31). 59 Vgl. Run-through (17:54-18:43). 60 Vgl. Owen, „I, School Shooter“. 61 Nintendo SRD, Super Mario Bros., Digitalspiel, Nintendo, 1985, NES-Version.
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boys“ oder der Sterbebildschirm: das Bild eines „Todesengels“, der nur aus einem Trenchcoat und einer umgedrehten Schirmmütze besteht, Schwingen aus Gewehren besitzt und eine Maschinenpistole „hält“. All diese satirischen Spitzen machen es dem Spieler bzw. der Spielerin schwer zu entscheiden, ob das Spiel zynisch ist oder ob Ledonne die Tat der beiden Amokläufer glorifizieren will.62 Allerdings wird dies durch die prozedurale Rhetorik, d. h. die Subversion bekannter Spielelemente, wieder abgeschwächt. Nachdem die Figuren „Eric“ und „Dylan“ Selbstmord begangen haben, finden sie sich in der Hölle wieder und müssen dort Dämonen und andere Gegner aus Doom bekämpfen.63 Sie treffen auf Friedrich Nietzsche64 und eine eklektische Gruppe von Popkultur-Ikonen und politischer sowie religiöser Figuren wie Bart Simpson, Darth Vader, Mega Man, Pikachu, Santa Claus, Super Mario, Konfuzius und Ronald Reagan, die alle von Gott des Himmels verwiesen wurden oder im Falle des Weihnachtsmannes Urlaub in der Hölle machen.65 „Eric“ und „Dylan“ müssen sich bis zu Satan, der als die Figur „Satan“ aus der satirischen Zeichentrickserie South Park dargestellt wird, vorkämpfen und diesen besiegen, um sich seiner würdig zu erweisen.66 Durch diesen Sieg werden sie somit sogar „böser“ als Satan selbst, der ihnen danach Respekt zollt und vor ihnen errötet. In all das mischt sich geek-Naivität, die Erheiterung daran findet, Super Mario in die Hölle zu werfen, verbunden mit harscher Satire, der durch diese Gemengelage die Schärfe genommen wird. Noch stärker wird die Ironisierung am Ende des Spiels, wenn Satan „Eric“ und „Dylan“ erlaubt, eine Versammlung vor der Schule zu beobachten, auf der der Schulleiter, ein Vater eines der Opfer, ein Politiker, ein Schüler, der mit „Harris“ aufwuchs, und ein konservativer Pfarrer zur
62 Vgl. hierzu vor allem Burch, „Virtual School Shootings“ und Elliott, Fraser, „Robot Geek Series – History Lesson: Super Columbine Massacre RPG!“, in: The Vibrant Popular, 14.12.2011, in: http://vibrantpopular.com/2011/12/14/robotgeek-series-history-lesson-super-columbine-massacre-rpg (5.9.2014). 63 Vgl. Run-through ab 36:54. 64 Vgl. Run-through (49:13-50:33; 53:35-53:57). 65 Vgl. Run-through (43:33-46:43). 66 Vgl. Run-through (50:59-51:55; 54:03-54:41).
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Schulfamilie und den Medien sprechen.67 Sie alle funktionieren als Avatare für die vorherrschenden Diskussionspositionen nach der Bluttat. „Satan“ leitet diesen Erden-Blick mit den Worten ein: „The silly mortals … always chattering/but never really saying very much.“ Ledonne macht in dieser Sequenz sehr deutlich, welche Diskussionsbeiträge er für abwegig und welche er für ernstzunehmend hält. Der Vater des Opfers argumentiert sehr ausgewogen für eine umfängliche Betrachtung der Situation, aber vor allem will er die Zuhörerinnen und Zuhörer für eine stärkere Kontrolle von Schusswaffen gewinnen. Der Schüler drückt das allgemeine Entsetzen vor den „Monstern von nebenan“ aus. Während diese beiden Redner noch ausgewogen dargestellt werden, zielt die satirische Überspitzung auf die drei Würdenträger ab und arbeitet deren Zynismus und Doppelmoral heraus. Der Schulleiter folgt ähnlichen Argumenten wie sie der reale Direktor der High School zur Tatzeit, Frank DeAngelis, vorbrachte, und widerspricht der Existenz eines von Mobbing geprägten Klimas an der Columbine High School:68 Die Ursache liege bei den Tätern selbst und könne wegen ihres Selbstmords nicht mehr eruiert werden. Die Argumentation des Politikers, dass medial vermittelte Gewaltdarstellungen die Täter dazu brachten, die Tat zu begehen, wird schon dadurch ironisch gebrochen, dass diese Aussage in einem Digitalspiel geäußert wird, das einen Amoklauf abbildet.69 Der Priester, der eine konservative evangelikale Richtung vertritt, spricht nur in Kirchenenglisch („hath“ statt „has“ usw.) und sieht den Amoklauf als ein Zeichen für den Untergang einer dekadenten Kultur: „[A] culture that kills its unborn, euthanizes its elderly, and tolerates sodomy.“ Es ist die Perspektive der extremen christlichen Rechten, die Ledonne mit dem zweiten Teil des Spieles in der Hölle persiflieren will. Diese Interessengruppe übernahm Ralph W. Larkin zufolge die Trauerfeier, die eigentlich als konfessionsungebunden geplant war.70 Es gelang ihr, die Tat als gottlos, sogar als teuflisch darzustellen. Dies vermischt Ledonne mit der
67 Vgl. Run-through (54:33-57:25). 68 Vgl. z. B. Larkin, Comprehending Columbine, S. 95, 98, 218. 69 Wobei Owen richtig feststellt, dass das Spiel so gut wie keine explizite Gewaltdarstellung enthält, sondern diese hinter Spielmechanismen „versteckt“. Vgl. Owen, „I, School Shooter“. 70 Vgl. Larkin, Comprehending Columbine, S. 41-53.
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Tatsache, dass Harris und Klebold Fans des Spiels Doom waren, in dem Dämonen aus der Hölle eine Menschenkolonie auf dem Mars überfallen.71 Ledonne schwenkt nun völlig von seinem quasi-dokumentarischen Stil der ersten Spielhälfte, der bei allen Vereinfachungen und Überspitzungen auf den öffentlich zugänglichen Fakten zum Columbine Shooting beruht, auf einen zynischen Kommentar über, der sich mit einem vermeintlichen ludischen Geschenk an diejenigen, die das Spiel durchgespielt haben,72 vermengt und so auch auf spieltechnischer Ebene das vorher Etablierte untergräbt. In der Hölle entspricht das Spiel wieder einem ganz normalen Rollenspiel. Nur wer seine Avatare während des Schulmassakers „aufgelevelt“ hat, wer also möglichst brutal vorging und möglichst viele Schüler getötet hat, kann hier überhaupt bestehen. Erst jetzt zeigt sich, wofür das Spiel „combat experience“ vergeben hat. Nun ließe sich dies als (negative) Referenz an die christliche Vorstellung lesen, dass, wer Schlechtes auf der Welt begeht, in der Hölle von höherem Rang ist. Auch hier verwässert die Satire die vorher erspielte prozedurale Argumentation, denn während das spielerische Moment des „Auflevelns“ im ersten Teil ins Leere läuft, da es völlig sinnlos, da nicht zielführend ist und folglich bestehende Rollenspielklischees hinterfragt, wird es nun überlebenswichtig.73
5. E IN ÜBERZEUGENDES S PIEL ? Kann das Spiel dennoch als ein „persuasive game“ angesehen werden? Auf einer Meta-Ebene lässt sich diese Frage bejahen. Das Spiel hat in den letzten neun Jahren teilweise mehr mediale Aufmerksamkeit erhalten als die meisten „großen“ Spiele, die von hunderten Entwicklern unter Kosten, die zweistellige Millionensummen erreichen, programmiert werden. Auch 2014 finden sich noch Publikationen, die vorliegende eingeschlossen, die sich mit dem Spiel auseinandersetzen. Dies zeigt auch, dass es über bestimmte Bedeutungsebenen verfügt, die z. B. dem Actionspiel V-Tec Rampage fehlen. Das Spiel benutzt eine ästhetische und prozedurale Rhetorik, um den
71 Vgl. Owen, „I, School Shooter“; Burch, „Virtual School Shootings“. 72 Vgl. Burch, „Virtual School Shootings“. 73 Vgl. ebd. sowie Elliott, „Robot Geek Series“; Owen, „I, School Shooter“.
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Spieler bzw. die Spielerin mit der Frage zu konfrontieren, wie weit er bzw. sie gehen würde, wenn er oder sie diese Jugendlichen mit dieser Vorgeschichte spielt. Würde er, würde sie ähnlich brutal oder vielleicht sogar noch blutrünstiger in der virtuellen Welt vorgehen, als die Täter in der echten? Kann er oder kann sie vielleicht auch Einsichten in die Situation der beiden jungen Männer gewinnen? Und wenn ja, bis zu welchem Punkt folgt er oder sie Ledonnes „Argumentation“? So sehr Ledonne die Höllensequenz auch zu verteidigen sucht, sind es gerade deren von ihm angesprochene ambivalente Botschaften,74 die der ersten Hälfte einen moralisch fraglichen Beigeschmack geben.75 Trotz allem sind es gerade die Brüche und die vermeintlich paradoxen Gefühlszustände des Spielers oder der Spielerin zwischen Einfühlung und kritischer Distanz, die das Spiel auszeichnen. Hier ist der Spieler bzw. ist die Spielerin gefordert, die durch die ästhetischen und ludischen Brüche entstandenen Leerstellen, das prozedurale Enthymem, zu füllen. Ledonne eröffnet durch den collagenartigen ästhetischen Charakter des Spiels, die spielhistorischen und soziokulturellen Anspielungen und das Unterwandern von spieltechnischen Standards, der Spielerin bzw. dem Spieler eine komplexere Auseinandersetzung mit dem Amoklauf, als dies einfacher gestrickte Spiele können, wie etwa V-Tec Rampage oder The Slaying of Sandy Hook Elementary. Das Spiel regte, schon allein durch die mediale Kontroverse, die es heraufbeschwor, die Diskussion über School Shootings an. Es bereichert somit sowohl die Diskussion um Amokläufe von männlichen Jugendlichen als auch die Diskussion darüber, was Spiele ausdrücken können und dürfen.
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74 Vgl. Burch, „Virtual School Shootings“. 75 Vgl. ebd. sowie Elliott, „Robot Geek Series“.
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We Need to Talk About School Shootings Funktionen von School Shooting-Literatur am Beispiel von L. Shrivers We Need to Talk About Kevin S ILKE B RASELMANN
1. E INLEITUNG : Z UM V ERSTÄNDNIS FIKTIONALER D ARSTELLUNGEN VON S CHOOL S HOOTINGS Im Verlauf der letzten Jahre begannen Literatur, Film, Fernsehen und Theater zunehmend, sich auf unterschiedliche und oftmals sehr differenzierte Weise mit dem zeitgenössischen und brisanten Gewaltphänomen der School Shootings auseinanderzusetzen. Doch da sich die öffentliche und wissenschaftliche Diskussion noch stets um möglichst einfache Erklärungsund Verständnismöglichkeiten bemüht, werden auch diese fiktionalen Auseinandersetzungen mit dem Thema meist im Hinblick auf ihr Erklärungspotential betrachtet. Dabei tragen die Werke viel mehr zum Verständnis der Taten bei, als lediglich individuelle Motive der Täter zu vermitteln oder mögliche gesellschaftliche Gründe darzulegen: Es sind die durch die aktiven künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem Thema entstehenden Verständnisalternativen, die als ihr besonderer Beitrag zum Diskurs verstanden werden können.1
1
Hier sei der Diskursbegriff Foucaults zugrunde gelegt. Zum Diskursbegriff im Zusammenhang mit School Shootings siehe z. B. Beyer, Christof, Der Erfurter
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In der „diagnostischen Überaktivität“2, von welcher die Diskussion nach jeder neuen Tat geprägt ist, werden fiktionale Darstellungen von School Shootings regelmäßig aufgrund ihrer möglichen Beeinflussung potentieller Nachahmungstäter kritisiert, da diese sich die Repräsentation der Täter, aber auch der Tatplanung und -durchführung, zum Vorbild nehmen könnten. Diese Kritik hat Tradition, denn die mögliche Wirkung fiktionaler Gewaltdarstellungen auf die Rezipienten wird bekanntlich bereits seit Jahrhunderten debattiert.3 Und so werden auch im School Shooting-Kontext Filme, Musikvideos, Computerspiele und auch Romane mit gewalttätigen Inhalten – meist ungeachtet ihrer gattungs- und medienspezifischen Möglichkeiten – bezüglich ihres eventuell negativen Einflusses auf potentielle Täter untersucht.4 Dabei ist sich die Mediengewaltforschung bisher keinesfalls einig, wie stark der Einfluss fiktionaler Gewaltdarstellungen auf die als vulnerabel verstandenen Jugendlichen tatsächlich ist.5 Vielmehr scheint die Diskussion häufig „auf grob vereinfachte Ursache-WirkungsSpekulationen beschränkt“6 zu sein, wie Medienforscher Michael Kunczik konstatiert. Immer wieder finden sich also vereinfachende Kausalketten, wie z. B. die wiederholten Beschuldigungen von Natural Born KillersRegisseur Oliver Stone7 oder übereifrige Verhandlungen über Gesetzesän-
Amoklauf in der Presse. Unerklärlichkeit und die Macht der Erklärung – Eine Diskursanalyse anhand zweier ausgewählter Beispiele. Hamburg: Kovač, 2004. 2
Vogl, Joseph, „Krieg im Frieden“, Interview von Thomas Assheuer, Zeit Online, 2009, in: http://www.zeit.de/2009/13/Interview-Amok (11.3.2014).
3
Vgl. hierzu: Andree, Martin, Wenn Texte töten. Über Werther, Medienwirkung und Mediengewalt. München: Fink, 2006.
4
Für einen konzisen Forschungsüberblick zur Mediengewaltforschung im Bezug auf School Shootings siehe: Böckler, Nils/Seeger, Thorsten/Sitzer, Peter, „Media Dynamics in school shootings: A Socialization Theory Perspective“, in: Muschert, Glenn W./Sumiala, Johanna (Hrsg.), School Shootings: Mediatized Violence in a Global Age. Bingley: Emerald, 2012, S. 25-47, hier S. 27 f.
5
Zur Kontroverse der Experten vgl. Otto, Isabell, Aggressive Medien. Zur Geschichte des Wissens über Mediengewalt. Bielefeld: Transcript, 2008, S. 13 ff.
6
Kunczik, Michael/Zipfel, Astrid, Gewalt und Medien. Ein Studienhandbuch. Köln: Böhlau, 52006 (1987), S. 17.
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Die angeblichen Nachahmungstaten, die sich an Oliver Stones Natural Born Killers orientierten, haben es sogar zu einem eigenen, umfangreichen Wikipe-
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derungen zu Zensurmaßnahmen nach School Shootings in Deutschland.8 Dass sich diese skeptische Haltung der kulturpessimistischen Fraktion der Medienforscherinnen und Medienforscher von den allgemeinen Gewaltbildern auf fiktionale Darstellungen von School Shootings ausdehnen würde, war demnach nur eine Frage der Zeit.9 Doch auch die wenigen kulturwissenschaftlichen Studien zu School Shootings setzen sich oftmals vereinfachend mit den Taten auseinander und fragen immer wieder, ob und wie fiktionale Darstellungen von School Shootings einen Einfluss auf gefährdete Rezipienten haben könnten. Meist werden hierbei zwei Ansätze als Verständnisgrundlage gewählt: Zum einen die Rolle der Phantasie, wie sie bei Frank J. Robertz thematisiert wird, zum anderen das kulturelle Skript, welches maßgeblich von Katherine S. Newman, Cybelle Fox, David J. Harding, Jal Mehta und Wendy Roth herangezogen wird. Im Hinblick auf Fiktionen teilen beide Ansätze die Fokussierung auf die Täterebene und prägen somit auch das momentan noch vorherrschende Verständnis der Rolle fikti-
dia-Eintrag mit dem Titel „List of alleged Natural Born Killers copycat crimes“ gebracht. Nach dem School Shooting in Erfurt wurde Stone darüber hinaus auch in deutschen Medien heftig diskutiert, siehe z. B. Wefing, Heinrich, „Noch kann Oliver Stone ruhig schlafen“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Ausgabe Nr. 100, 30.4.2002. 8
Zur Diskussion über eine strengere Gesetzgebung zu gewalthaltigen Computerspielen siehe z. B. Mosel, Michael/Waldschmidt, Christian, „‚… und wir sagen immer noch ‚Killerspiele‘‘. Der Diskurs um Computerspiele im Zusammenhang mit school shootings“, in: AugenBlick. Marburger Hefte zur Medienwissenschaft 46 (2010), S. 86-99. Ein einsichtsreicher Beitrag zum Thema Computerspiele und School Shootings findet sich außerdem bei Ferguson, Christopher J./Ivory, James D., „A Futile Game: On the Prevalence and Causes of Misguided Speculation about the Role of Violent Video Games in Mass School Shootings“, in: Muschert/Sumiala (Hrsg.), School Shootings, S. 47-67.
9
So werden fiktionale Darstellungen von School Shootings häufig im Zusammenhang mit Identifikationsprozessen mit dem durch die Präsenz in kulturellen und medialen Produkten vermuteten Protoyp des „superstar killers“ besprochen. Vgl. dazu Robertz, Frank J., School Shootings. Über die Relevanz der Phantasie für die Begehung von Mehrfachtötungen durch Jugendliche. Frankfurt a. M.: Verlag für Polizeiwissenschaft, 2004, S. 183 und Böckler/Seeger/Sitzer: „Media Dynamics“, S. 38 ff.
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onaler Gewaltdarstellungen allgemein und fiktionaler Darstellungen von School Shootings im Speziellen. In diesem Beitrag soll sich jedoch von dieser als zu eng gefasst verstandenen Perspektive gelöst und ein breiterer rezeptionstheoretischer Ansatz verfolgt werden. Das bedeutet: Während das Interesse bisher hauptsächlich auf der Frage liegt, ob fiktionale Darstellungen von School Shootings vulnerable Jugendliche zu School Shootern machen können, wird hier vielmehr gefragt, wie diese Darstellungen das gesellschaftliche Verständnis des Phänomens und die Bewertung des Diskurses beeinflussen. Ausgehend von den vorherrschenden Ansätzen zu fiktionalen Gewaltdarstellungen und ihrer Überprüfung auf Übertragbarkeit auf die Repräsentationen von School Shootings soll die Perspektive hier auf ihre Rolle für die gesellschaftliche Diskussion erweitert werden.10 Hierbei liegt der Schwerpunkt auf der Ausprägung einer gemeinschaftlichen Erinnerung an School Shootings durch ihre literarischen Darstellungen. Am Beispiel von Lionel Shrivers Roman We Need to Talk About Kevin soll gezeigt werden, dass School Shooting-Literatur – als maßgeblicher Teil des sich etablierenden Erinnerungsnarrativs von School Shootings – beachtliches gesellschaftliches Funktionspotential hat. Diese postulierte gesellschaftliche Relevanz der Literatur11 wird somit zum eigentlichen Gegenstand der Untersuchung, um so eine differenzierte und umfassende Auseinandersetzung mit zeitgenössischer School Shooting-Literatur anzuregen.12
10 Wenn hier von gesellschaftlicher oder öffentlicher Diskussion die Rede ist, wird sich stets auf die vorherrschende mediale und (populär-)wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema bezogen. 11 Mit Winfried Fluck ist hier ganz bewusst von der ‚postulierten Relevanz‘ die Rede, denn: „Im strengen Sinne einer empirisch nachprüfbaren gesellschaftlichen Wirkung scheint der Begriff Funktion auf die Literatur überhaupt nicht anwendbar zu sein. Seine Verwendung muss daher spekulativ bleiben und dient in der Regel auch eher dazu, einen Gesellschaftsbezug der Literatur zu postulieren oder einzuklagen als tatsächlich zu belegen“. Fluck, Winfried, Das kulturelle Imaginäre. Eine Funktionsgeschichte des Amerikanischen Romans 1790-1900. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997, S. 12. 12 Unter anderem wird auch dieser Gedanke in meinem derzeitigen Forschungsprojekt zur fiktionalen Dimension von School Shootings im Detail ausgeführt.
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2. D IE B EWERTUNG
FIKTIONALER G EWALT DARSTELLUNG IM S CHOOL S HOOTING -D ISKURS
Selbstverständlich kann in einem derart komplexen und kontroversen Diskurs wie dem über School Shootings nicht von einem vorherrschenden Verständnis oder einer vorherrschenden Forschungsmeinung gesprochen werden. Doch gerade im Bezug auf die Rolle fiktionaler Gewaltdarstellungen im Zusammenhang mit School Shootings sind die Ansätze von Frank J. Robertz und von Newman, Fox, Harding, Mehta und Roth besonders einflussreich und sollen deshalb auch hier kurz erläutert werden. Grundlegend für die Theorie von Frank J. Robertz ist die Annahme, dass School Shooter ein besonders spezifisches Phantasieerleben haben, das einerseits „von besonders gewalthalthaltigen Inhalten gefüllt“13 und andererseits besonders intensiv ausgeprägt ist. „Im Extremfall“, so seine These, „kann die Wahrnehmung ihrer Phantasie sogar so intensiv werden, dass sie zum kurzzeitigen Verlust der Kontrolle über die eigene Vorstellungswelt führt.“14 Dieser Kontrollverlust, der nach Robertz’ Annahme vor allem für Jugendliche mit einer defizitär ausgeprägten Identität gefährlich werden kann, liegt insbesondere darin begründet, dass sie eine größere Autonomie bzw. größeren Kontrollüberschuss anstreben.15 Erleben diese Jugendlichen in der realen Welt Kontrollverlust, z. B. durch Demütigungen, ziehen sie
13 Robertz, Frank J., „Erfurt – 5 Jahre danach“, in: Hoffmann, Jens/Wondrak, Isabel (Hrsg.), Amok und zielgerichtete Gewalt an Schulen. Früherkennung/Risikomanagement/Kriseneinsatz/Nachbetreuung. Frankfurt a. M.: Verlag für Polizeiwissenschaft, 2007, S. 9-23, hier S. 14. 14 Robertz, Frank J./Wickenhäuser, Robert, Der Riss in der Tafel. Amoklauf und schwere Gewalt in der Schule. Heidelberg: Springer, 2007, S. 76. 15 Die Bildung der Identität sei hier als die primäre Entwicklungsaufgabe der Lebensphase Jugend nach Hurrelmann verstanden, welche niemals ohne Wechselwirkungen mit der Umwelt – zwischenmenschlich, medial oder durch kulturelle Artefakte – entstehen kann. Mit dieser Entwicklungsaufgabe, welche neue Bewältigungsstrategien auf Seiten des Individuums benötigt, geht ein Spannungsfeld zwischen Individuation und Integration einher, welches von den Jugendlichen ausgehalten werden muss. Vgl. Hurrelmann, Klaus, Lebensphase Jugend. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Jugendforschung. Weinheim: Juventa, 2005, S. 67.
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sich – unfähig, diesen mit ihren persönlichen Verarbeitungsressourcen zu kompensieren – immer weiter in eine Phantasiewelt (auch als Nebenrealität bezeichnet) zurück. In ihrer immer mächtiger werdenden Phantasiewelt üben sie die Kontrolle aus, die ihnen im ‚wahren Leben‘ (ihrer Hauptrealität) immer weiter zu entgleiten scheint. Ihre Nebenrealität speist sich dabei, so Robertz’ Annahme, aus Rollenvorbildern und Identifikationsfiguren, die oftmals in übermaskulinen Heroencharakteren gefunden werden.16 Ein endgültiger, durch einen triggering cause17 hervorgerufener und nicht zu kompensierender Kontrollverlust führt schließlich zu einem vollständigen Rückzug des Jugendlichen in seine von Gewaltinhalten gefüllte Phantasie, der im schlimmsten Fall in deren Realisierung enden kann. In den Kulturwissenschaften greift Heiko Christians in seiner viel beachteten Studie dieses Phantasieverständnis auf und schließt dabei die Rolle fiktionaler Darstellungen direkter mit ein. Christians spricht in diesem Zusammenhang von einer ‚Überidentifikation‘ mit den Figuren, die „irgendwann, nach langer Inkubation“18 unumgänglich sei: Der Konsument und der Held tauschen die Plätze. Sowie bei Robertz als auch bei Christians verschwindet der Jugendliche also in bzw. hinter seinem mehr oder weniger fiktional aufgeladenen Phantasieerleben. Dieses Phantasie- und Fiktionsverständnis stellt jedoch eine eher schwammige Kategorie in der Untersuchung von School Shootings dar, de-
16 Vgl. z. B. Robertz, School Shootings, S. 139; zur Rolle der Männlichkeit siehe auch: Kellner, Douglas, Guys and Guns Amok: Domestic Terrorism and School Shootings from the Oklahoma City Bombing to the Virginia Tech Massacre. London: Boulder, 2008, S. 118 ff.; Newman, Katherine S./Fox, Cybelle/Harding, David J./Mehta, Jal/Roth, Wendy, Rampage. The Social Roots of School Shootings. New York: Basic Books, 2005, S. 148 ff; Böckler; Nils/Seeger, Thorsten, Schulamokläufer. Eine Analyse medialer TäterEigendarstellungen und deren Aneignung durch jugendliche Rezipienten. Weinheim: Juventa, 2010, S. 68 f. 17 Dieser Auslöser macht in seiner Alltäglichkeit einen großen Teil des schockierenden Moments von School Shootings aus: Causa aequat effectum trifft auf School Shootings nicht zu. Vgl. dazu: Vogl, Joseph, „Beliebige Feindschaft. Zur Epoche des Amok“, in: Brehl, Medardus/Platt, Kristin (Hrsg.), Feindschaft. München: Fink, 2004, S. 211-225, hier S. 217. 18 Christians, Amok, S. 49.
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ren Mehrwert für die Analyse der Rolle und Möglichkeiten von fiktionalen Darstellungen für die Debatte darüber hinaus wenig ertragreich scheint. Die Problematik liegt dabei vor allem in der Schicksalshaftigkeit der Ansätze,19 denn nicht nur wird die Frage nach der Verantwortlichkeit des Täters unzulänglich behandelt,20 sondern auch die spezifischen Wirkweisen der fiktionalen Produkte bleiben unbeachtet. Einen fruchtbareren Ansatz bietet das Konzept des kulturellen Skripts von School Shootings, wie es maßgeblich von Newman, Fox, Harding, Mehta und Roth ausgearbeitet wurde. Auch in ihrer grundlegenden Studie Rampage. The Social Roots of School Shootings, in der sie an einigen Stellen die Einflüsse fiktionaler Inhalte auf potentielle und reale School Shooter kommentieren, wird die Relevanz von Identifikationsfiguren an einigen Stellen hervorgehoben. Das kulturelle Skript, auf das sich die School Shooter laut der Autorinnen und Autoren beziehen – und hierbei ergibt sich ein Anknüpfungspunkt für die oben genannten Theorien – speist sich zu einem großen Teil (wenngleich nicht ausschließlich) aus Fiktionen, die Heroencharaktere hervorbringen, die sich allzu sehr als Identifikationssubjekt für marginalisierte Jugendliche eignen. Die Idee des kulturellen Skripts als Werkzeug – als „prescription for behavior“21, das eine Blaupause für die Identität bietet – fokussiert sich dabei auf zwei Aspekte: die Handlungs- und die Gestaltungsoption. Das Skript als Handlungsoption suggeriert „potentiellen Tätern eine Auswahl an möglichen Lösungen für ihre Probleme“22; als Gestaltungsoption kann es wiederum den modus operandi eines School Shootings bereitstellen und prägen. Gleichzeitig kann mithilfe der Idee des kulturellen Skripts die performative Ebene von School Shootings erfasst werden. School Shooter beziehen also kulturelle Produkte in ihre Identitätskonstruktion ein und prä-
19 Vgl. hierzu auch Andree, Wenn Texte töten, S. 24 ff. 20 Robertz lässt bei diesem kritischen Punkt beide Deutungsmöglichkeiten zu: Der Konsument kann die Einschätzung von Realität und Phantasie verlieren oder aber bewusst in seine Nebenrealität abtauchen, um sich so auf die Tat vorzubereiten. In beiden Fällen bliebe die Einschätzung seiner Verantwortlichkeit jedoch problematisch. Vgl. Robertz/Wickenhäuser, Der Riss in der Tafel, S. 76. 21 Newman/Fox/Harding/Mehta/Roth, Rampage, S. 230. 22 Böckler/Seeger, Schulamokläufer, S. 72.
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gen gleichzeitig neue kulturelle Produkte, während die Tat performativ den sozialen Raum verändert.23 Während in den 1990er Jahren ein kulturelles Skript für School Shooter noch als allgemeines, Hollywood-basiertes Skript der Aggression, Gewalt und dominanten Männlichkeit verstanden werden konnte, muss mittlerweile von einem kulturellen Skript von School Shootings gesprochen werden. School Shooter in den 1990er Jahren bezogen sich auf Hollywoods bad assHelden und macho villains, die besonders marginalisierten Jugendlichen auf ihrer Suche nach einer neuen, notorischen Identität als Vorbild dienen konnten. Seit den frühen 2000er Jahren beziehen die Täter sich nun vielmehr auf ihre realen Vorgänger, deren Selbstdarstellungen relativ problemfrei im Internet verfügbar sind.24 Dieses neue kulturelle Skript, als eine der von Newman, Fox, Harding, Mehta und Roth herausgearbeiteten „five necessary but not sufficient conditions“25, verändert sich dynamisch mit den ihm zugrundeliegenden Artefakten und Quellen. Durch die Präsenz in Medien und Fiktion bedarf es für potentielle Täter keines größeren Aufwandes mehr, sich Inspiration für die Ausgestaltung einer eigenen Tat aus medialen Vorbildern zu ziehen: After Westside and Columbine, few students had not heard of rampage school shootings. Rather than find inspiration in a Terminator movie, Natural Born Killers or Stephen King’s Rage, adolescents could simply use the pathways taken by previous
23 Vgl. Kiilakoski, Tomi/Oksanen, Atte, „Soundtrack of the School Shootings: Cultural Script, Music and Male Rage“, in: Young 19, 3 (2011), S. 247-269. 24 Zu jüngeren School Shootings und deren Bezüge auf Vorgängertaten vgl. auch: Newman, Katherine S./Fox, Cybelle, „Repeat Tragedy: Rampage Shootings in American High School and College Settings, 2002-2008“, in: American Behavioral Scientist 52, 9 (2009), S. 1286-1308. Zu Perspektiven auf die Täterdarstellungen im Internet vgl. z. B. Paton, Nathalie E., „Media Participation of School Shooters and their Fans: Navigating between Self-Distinction and Imitation to Achieve Individuation“, in: Muschert, Glenn W./Sumiala, Johanna (Hrsg.), School Shootings: Mediatized Violence in a Global Age. Bingley: Emerald, 2012, S. 203; und Böckler/Seeger, Schulamokläufer. 25 Newman/Fox/Harding/Mehta/Roth, Rampage, S. 229.
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school shooters. With each new shooting, the script becomes ever more widely available.26
Genau dort, wo die Täter beginnen, das kulturelle Skript aktiv mitzugestalten und auszuprägen, gewinnt schließlich auch die Beachtung der Darstellungen von School Shootings zunehmend an Relevanz. Die Täter sind sich ihres Status als Figur in Film, Fernsehen und Literatur durchaus bewusst und beziehen sich gezielt auf ihre realen und fiktionalen Vorbilder.27 School Shooter imitieren diese Vorbilder dabei nicht einfach, sie inszenieren sie, „mit aller symbolischen Kraft“28, die sich aus medialen und fiktionalen Darstellungen speist. Sie schließen sich aktiv einer Tradition von School Shootings an, verehren öffentlich ihre ‚Idole‘, konsumieren dieselben kulturellen Produkte – dieselbe Musik, dieselben Filme, dieselben Computerspiele.29 Sie nutzen dasselbe Vokabular für ihre Selbstnarration und ergänzen es wo nötig durch neue Strategien der Selbstinszenierung, durch neue Schwerpunkte ihrer Narrative.30
26 Ebd., S. 252. 27 So schaute Jeffrey Weise, der School Shooter aus Red Lake, Minnesota, Berichten zufolge wiederholt Gus Van Sants Elephant. Vgl. Newman, Repeat Tragedy, S. 1289. 28 Vogl, „Krieg im Frieden“. 29 Tomi Kiilakosi und Atte Oksanen stellen in einem Aufsatz über die Rolle von Musik bei School Shootings z. B. fest, dass bestimmte kulturelle Produkte – wie z. B. Filme oder Musik – unter School Shootern zirkulieren und eine aktive Teilhabe am kulturellen Skript manifestieren. Vgl. Kiilakosi/Oksanen, Soundtrack, S. 264. 30 So kann aus der von Allmachtsphantasien geprägten Erzählung der ColumbineTäter das Narrativ einer politischen oder gar revolutionären Tat werden: PekkaErik Auvinen, der School Shooter aus dem finnischen Jokela, inszenierte sich als politscher Terrorist, dessen Shooting eigentlich ein Anschlag auf die gesamte Gesellschaft und dessen Ziel eine Revolution sei. Seine Erklärung für die Tat hinterließ er in einem Manifest, zusammen mit Videos und Bildern. Er kannte das kulturelle Skript nicht nur, er spielte damit, indem er es für seine mediale Darstellung post mortem nutzte. Durch seine Medienstrategie und seinen pseudo-politischen Schwerpunkt verlieh er seinem Narrativ eine neue Richtung. Vgl. Kiilakosi/Oksanen, Soundtrack, S. 256.
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Kulturelle Produkte spielen bei F. Robertz wie auch bei K. Newman und Kollegen – und in den kulturwissenschaftlichen Verwendungen dieser Ansätze – eine bedeutende Rolle für School Shootings: Sie füllen das Subjekt mit Phantasien, sie liefern Identifikationsfiguren und Identitätsalternativen, Handlungsoptionen oder zumindest Ideen zur Ausgestaltung eines bereits geplanten Shootings, sie bieten Konventionen, denen es zu folgen gilt, und ein Vokabular, welches die Selbsterzählung vereinfacht. In ihrer tatsächlichen realen Umsetzung nehmen sie wiederum unmittelbaren Einfluss auf das öffentliche Verständnis von School Shootings, indem sie in den Re-Inszenierungen des Skripts die Erinnerungen der Öffentlichkeit direkt ansprechen. All dies, so scheint es, wurde so oder so ähnlich schon einmal beobachtet – und anstelle eines Abflauens des Grauens, anstelle einer Abstumpfung, kann im School Shooting-Diskurs somit eine stärker werdende Reaktion auf diese Wiederholungen, die Re-Inszenierungen, beobachtet werden. So aufschlussreich vor allem das kulturelle Skript für die Untersuchung von School Shootings ist: Die auf der Täterebene verweilende Sicht wird dann zu einer besonderen Einschränkung, wenn diese einfach auf fiktionale Darstellungen von School Shootings übertragen wird. Auch wenn ein Roman oder ein Film, der einen Täter porträtiert und psychologisiert oder eine Tat im Detail darstellt, direkten Einfluss auf potentielle Täter haben kann,31 so ist dies nur ein äußerst geringer Teilausschnitt des gesamten Funktionspotentials eines solchen Werks. Anstatt sich also immer wieder auf diesen Teilaspekt zu beschränken, hat gerade die Literaturwissenschaft die Möglichkeit, den Fokus zu erweitern und sich auf die Funktions- oder Wirkungspotentiale fiktionaler (an dieser Stelle: literarischer) Auseinandersetzungen mit School Shootings innerhalb des Diskurses zu konzentrieren. Durch diesen Perspektivenwechsel von der Täterebene auf die Ebene der gesellschaftlichen Verhandlung, Erinnerung und Bearbeitung kann die bestehende Diskussion so um neue Verständnisformen und eine neue Perspektive auf literarische Texte ergänzt werden.
31 Newman, Fox, Harding, Mehta und Roth sagen hierbei selbst, dass ihre Idee des kulturellen Skripts und dessen Einfluss auf vulnerable Jugendliche der am schwersten überprüfbare Aspekt ihrer Studie sei. Vgl. Newman/Fox/Harding/ Mehta/Roth, Rampage, S. 246.
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3. B ESONDERHEITEN UND M ÖGLICHKEITEN VON S CHOOL S HOOTING -L ITERATUR Literatur, so eine grundlegende Annahme der kulturwissenschaftlich und -geschichtlich ausgerichteten Ansätze in der Literaturwissenschaft, hat die Möglichkeit, gesellschaftliche und soziale Funktionen über ästhetische und literarische Strukturen zu verwirklichen.32 Hiermit kommt der Literatur eine einzigartige Funktion innerhalb der Gesellschaft zu, wenngleich diese aufgrund ihrer mangelnden Überprüfbarkeit immer nur als potentielle Funktion eines Textes ausgedrückt werden kann.33 Literarische Texte zeichnen sich dabei immer durch ihre semantische Offenheit aus; ihre möglichen Wirkungen können niemals allgemein formuliert werden, da sie stets von den Voraussetzungen des Rezipienten abhängen34 und in einer Wechselwirkung von Text und Kontext existieren. Die konstruktivistischen und mentalitätsoder kulturgeschichtlichen Ansätze, die „den Blick verstärkt auf den Zusammenhang von fiktionalen Wirklichkeitsentwürfen und kollektiv geteilten Wirklichkeitserfahrungen“35 richten, ermöglichen daher auch im School Shooting-Diskurs einen produktiven Blick auf die aktive Rolle der Literatur. Laut Wolfgang Iser bringt das Ästhetische in der Literatur „etwas hervor – ein Urteil, eine Idee, eine Erweiterung der Einbildungskraft […]“.36 Und gerade Urteile sind es, die im School Shooting-Diskurs so angestrengt gesucht werden. School Shooting-Literatur kommuniziert Motive und Gründe, sie beschreibt die Suche nach eben diesen auf vielfältige Weise
32 Vgl. Fluck, Das kulturelle Imaginäre, S. 10 ff. 33 Vgl. hierzu Gymnich, Marion/Nünning, Ansgar, „Funktionsgeschichtliche Ansätze: Terminologische Grundlagen und Funktionsbestimmungen von Literatur“, in: Gymnich, Marion/Nünning, Ansgar (Hrsg.), Funktionen von Literatur. Theoretische Grundlagen und Modellinterpretationen. Trier: WVT, 2005, S. 3-27, hier: S. 8 ff. 34 Zu verschiedenen Rezeptionstheorien im Zusammenhang mit Mediengewalt vgl. Andree, Wenn Texte töten, S. 33 ff. 35 Gymnich/Nünning, Funktionsgeschichtliche Ansätze, S. 14. 36 Iser, Wolfgang, „Von der Gegenwärtigkeit des Ästhetischen“, in: Geppert, Hans Vilmar/Zapf, Hubert (Hrsg.), Theorien der Literatur: Grundlagen und Perspektiven. 5 Bde., Bd. 1. Tübingen: Francke, 2003, S. 9-28, hier S. 16.
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und könnte somit eine Urteilsbildung vereinfachen. Doch wenngleich sich oftmals auch an einfachen Antworten versucht wird: Viele Texte bieten einen besonders substantiellen Beitrag zur Thematik, indem sie das Erinnerungsnarrativ differenziert und innovativ ausprägen und mitgestalten. Es ist dabei besonders die zeitgenössische Natur des Diskurses, seine Aktualität und Unabgeschlossenheit, welche die Auseinandersetzung mit den literarischen Darstellungen so interessant macht. Werke über School Shootings können diverse Grade der Historizität aufweisen: Texte, die auf Taten der späten 1990er Jahre basieren und klar auf mediale Berichterstattung und Täterdarstellung rekurrieren,37 greifen auf einen anderen Bearbeitungsstand und Erinnerungsmodus zurück als literarische Darstellungen jüngerer Taten es könnten. Aufgrund der Aktualität des Phänomens haben Akte des Erinnerns und des Vergessens weder in der Literatur noch in der Gesellschaft bisher einen festen Platz gefunden. Durch die Möglichkeit einer Wiederkehr, das Bedrohungspotential, das trotz der relativen Seltenheit38 der Taten die Aktualität des Phänomens immer neu bekräftigt, bleiben Erinnerungen an vergangene Taten gerade in der medialen Praxis äußerst einflussreich. Besonders durch die Wahrnehmung von School Shootings als Regelmäßigkeit prägen die Taten nicht nur Schulpolitik und Waffenrecht, sondern erschüttern auch die gesellschaftliche Wahrnehmung von Schule als sicherer, vertrauenswürdiger Institution. Auf ganz verschiedenen Ebenen prägt sich das Phänomen School Shootings daher langsam in das kulturelle Gedächtnis Amerikas und Deutschlands ein. Auch wenn im verhältnismäßig jungen und spezifischen School Shooting-Diskurs nicht von einer Erinnerungskultur gesprochen werden kann, wie sie z. B. im Zusammenhang mit Kriegen und kulturellen Umbrüchen entsteht, ist das Phänomen School Shootings von einem sehr starken Erinnerungsnarrativ geprägt: Erinnerungen an vergangene Taten werden immer wieder hervorgerufen, Gedenktage beginnen, sich von der lokalen auf die nationale Ebene auszudehnen, die Wissenschaft und – zumindest zeitweise – auch die Politik setzen sich öffentlichkeitswirksam mit vergangenen Taten auseinander. Und auch der Eingang von School Shootings in Film, Fernsehen, Theater und nicht zuletzt auch in die Literatur zeigt, dass
37 Wie z. B. Morton Rhues Give a Boy a Gun. 38 Zur Häufigkeit von School Shootings siehe z. B. Böckler/Seeger, Schulamokläufer, S. 25 ff.
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die verschiedenen Erzählungen dieses Erinnerungsnarrativ langsam verfestigen. Hier wird davon ausgegangen, dass die Erinnerung an School Shootings auch durch den Rezeptionsprozess fiktionaler Darstellungen geprägt und um neue Perspektiven auf die Vergangenheit bereichert wird.39 Dieser gesellschaftliche Einfluss der Literatur ist dabei keineswegs nur kanonisierten Werken der Hochliteratur zuzuschreiben, sondern auch populäre Romane und Jugendbücher können als maßgebliche kulturelle Kraft verstanden werden. Im Zusammenhang mit bestehenden Erinnerungskulturen argumentiert Astrid Erll, dass auch „Auseinandersetzungen im Feuilleton, Bestsellerlisten, Formen der Institutionalisierung, etwa die Aufnahme der Werke in Lehrpläne, ihre Kanonisierung [...] oder der Eingang von Zitaten in die alltägliche Redeweise“40 als Indizien für den Eingang eines literarischen Texts in das kulturelle Gedächtnis gelten. Überträgt man diese Feststellung der Cultural Memory Studies nun auf den School Shooting-Diskurs und die darin zirkulierenden literarischen Texte, kann argumentiert werden, dass School Shooting-Literatur aufgrund ihrer Popularität durchaus eine wichtige Rolle in der Erinnerung und somit auch im Verständnis der Taten spielt. So schaffte es Jodi Picoults 19 Minutes in Amerika und Deutschland auf die Bestsellerlisten, DBC Pierres Vernon God Little gewann den Booker Prize, Morton Rhues Give a Boy a Gun wird häufig im Englischunterricht verwendet und Shrivers We Need to Talk About Kevin wurde – erst als Roman, dann als Film – im internationalen Feuilleton viel besprochen. Auf unterschiedliche Weise setzen die Texte sich dabei mit dem Phänomen – und mit der Erinnerung an dieses – auseinander und archivieren dabei nicht nur die bestehende gesellschaftliche Diskussion, sondern bringen durch herausfordernde Darstellungsverfahren auch neue Impulse in diese ein.
39 Zur Erinnerungsfunktion von Literatur (hier mit besonderem Fokus auf Erinnerungsliteratur) vgl. Neumann, Birgit, „The Literary Representation of Memory“, in: Erll, Astrid/Nünning, Ansgar, A Companion to Cultural Memory Studies, Berlin: De Gruyter, 2010, S. 333-343, hier S. 341. 40 Erll, Astrid, „Literatur und kulturelles Gedächtnis: Zur Begriffs- und Forschungsgeschichte, zum Leistungsvermögen und zur literaturwissenschaftlichen Relevanz eines neuen Paradigmas der Kulturwissenschaft“, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 43 (2002), S. 249-276, hier S. 274 f.
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4. S CHOOL S HOOTINGS ERINNERN : L IONEL S HRIVERS W E N EED TO T ALK A BOUT K EVIN In Lionel Shrivers Roman We Need to Talk About Kevin geht es ganz unmittelbar um das Erinnern und um die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit: In 28 langen Briefen an ihren Mann rekapituliert Eva Khatchadourian die Tat ihres Sohnes Kevin, der kurz vor seinem sechzehnten Geburtstag sieben Mitschüler, eine Lehrerin und einen Mitarbeiter der Cafeteria in der Sporthalle seiner High School einsperrt und systematisch mit Pfeil und Bogen erschießt.41 Doch erst auf den letzten Seiten des Romans wird das volle Ausmaß der Tat bewusst: Die Erzählerin schreibt ihre Briefe ins Leere, denn ihr Mann wurde, ebenso wie ihre jüngste Tochter, von ihrem Sohn getötet. In ihren somit adressatenlosen Briefen begibt sich die Erzählerin auf eine kathartische Reise42 in ihre eigene Vergangenheit; getrieben von dem Wunsch, die Tat ihres Sohnes zu verstehen und ihre eigene Mitschuld bestimmen zu können. Doch „rooting around in her mental attic“43, das Wühlen im undurchdringbaren Gerümpel ihrer Erinnerungen, konfrontiert die Erzählerin immer weiter mit ihrer Unfähigkeit, eine Erklärung für das Geschehene zu finden. Ihre Suche beginnt vor ihrer Entscheidung, ein Kind zu bekommen, und nähert sich, immer wieder unterbrochen von Schilderungen ihrer gegenwärtigen Situation als Mutter eines im Gefängnis sitzenden Mörders, dem Tag von Kevins School Shooting. Diese briefliche Suche nach Erklärungen erinnert zum einen an Vogls Gedanken der ‚diagnostischen Überaktivität‘, denn alles wird nachträglich als Zeichen für die spätere Tat gedeutet. Zum anderen wird genau diese Suche auf der gesellschaftlichen Ebene, wie sie
41 Shriver kommentiert mit der ungewöhnlichen Waffenwahl des Täters explizit das ständige Überbieten und den festgelegten modus operandi von School Shootings: „[B]eing ‚the crossbow kid‘ would mark his little prank in popular imagination.“ Shriver, Lionel, We Need to Talk About Kevin, London: Serpent’s Tail, 2003, S. 422. 42 Latham, Monica, „Breaking the Silence and Camouflaging Voices in Lionel Shriver’s We Need to Talk About Kevin“, in: Guignery, Vanessa (Hrsg.), Voices and Silence in the Contemorary Novel in English. Newcastle: Cambridge Scholars, 2009, S. 130-147, hier S. 132. 43 Shriver, Kevin, S. 30.
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im Roman durch Medienvertreter, Gerichtsverhandlungen oder durch genannte Berichterstattung über reale Taten repräsentiert wird, als sinnlos und irreführend kritisiert. Es sind insbesondere zwei Faktoren, welche Shrivers Roman für den School Shooting-Diskurs und für seine Rolle innerhalb des Erinnerungsnarrativs so interessant machen: Die herausfordernden Darstellungsverfahren – die narrative Technik der unzuverlässigen Erzählung, die Erzählperspektive der Mutter des Täters, die Genrewahl des Briefromans – und die auffallend starke Integration der außertextuellen Diskussion in den Text, durch welche der Roman nicht nur einen archivierenden Charakter, sondern auch sein diskursprägendes Funktionspotential erhält. In We Need to Talk About Kevin lernen die Leser eine Erzählerin kennen, die bereit ist, alles offenzulegen – ihre tiefsten Emotionen, ihr größtes Versagen und die vielen Details, anhand derer sie ihre Mitschuld einerseits erforschen, andererseits auch widerlegen will.44 Die Erzählerin will sich ihrer Geheimnisse entledigen und schreibt nun ihre bisher unsäglichen Gedanken auf – „words spew out like vomit“, wie sie ihre Geständnisse beschreibt.45 Eva Khatchadourian kratzt dabei an dem großen gesellschaftlichen Tabu der fehlenden Mutterliebe, denn sie wollte, so gesteht sie sich und den Rezipienten ein, das Kind niemals bekommen. Ihre Entscheidung für die Mutterschaft bezeichnet sie rückblickend als „outrageous gamble“46. Mit der Frage nach nature vs. nurture greift der Roman ein wiederkehrendes Thema in der öffentlichen und medialen Suche nach Erklärungen für School Shootings auf: Wurde das Kind böse geboren oder haben die Umstände es zum Mörder gemacht? Auch wenn die Erzählerin ihre Mutterrolle stets hinterfragt, stellt sie ihren Sohn bei jeder Gelegenheit als unnormal und monströs dar. In seinem Schreien als Säugling hört sie blinde Wut, in seinem Gesicht sieht sie „the I’m gonna-get-you-expression of a convict who’s already started digging a tunnel with a nail file“47. Shrivers Roman lebt von der großen Nähe zum Rezipienten, die im Genre des Briefromans durch den Fokus auf das Innenleben der Erzählerin verankert ist und die hier durch ihre Geständnisse noch weiter verstärkt
44 Vgl. Shriver, Kevin, S. 15. 45 Ebd., S. 192. 46 Ebd., S. 14. 47 Ebd., S. 106.
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wird. Gleichzeitig lebt er von der Nähe zur Wirklichkeit, die durch die klare Datierung der Briefe, durch den Einbezug außertextueller bzw. historischer Ereignisse, durch typographische Variationen48 und durch die ungewöhnlich häufige Verwendung direkter Rede suggeriert wird. Durch diese Nähe zum Rezipienten wird der Effekt der Verunsicherung, den die unzuverlässige Erzählung erreicht, noch vielfach verstärkt. Im Hinblick auf die gesellschaftliche Verhandlung von School Shootings kann die durch Darstellungsverfahren und Genre erzielte emotionale Involvierung einen besonderen Effekt erzielen, denn mit der ‚Enttarnung‘ Evas als unzuverlässige Erzählerin durch das Berichten vom Tod ihres Mannes bekommt nicht nur das bis dahin Gelesene eine völlig neue Interpretationsgrundlage (denn: Wenn uns dieser Fakt vorenthalten wurde, was noch?). Vielmehr müssen aufgrund dieser Erkenntnis auch die vielen im Text aufgegriffenen Erklärungsversuche für die Tat, die sich so nah an der extratextuellen gesellschaftlichen Diskussion realer Taten orientiert, neu bewertet werden, denn auch diese wurden letztlich durch eine unzuverlässige Erzählerin vermittelt. Heiko Christians bezeichnet Lionel Shrivers Roman als „ganz aus [...] Kommunikationen der Täter und ihrer Sympathisanten im WorldWideWeb“, bestehend, woraus der Text auch seine „bedrückende Wirklichkeitsnähe“49 ziehe. Doch We Need to Talk About Kevin stellt tatsächlich viel mehr als nur eine Montage dieser vorangegangenen Dokumente und Figuren dar. Der Roman bezieht diverse diskursive Elemente ein, rekurriert auf reale vergangene Taten und stellt so – ganz der Konvention entsprechend durch Nennung von Täter- und Ortsnamen, Opferzahlen und möglichen Motiven – Bezüge zu diesen realen School Shootings her. Die fiktionale Tat Kevins wird so in die Tradition, in die Abfolge der Geschehnisse eingebettet, welche rückblickend für die Erzählerin ganz neue Bedeutung gewinnen. Ihr früheres Verständnis von School Shootings bekommt im Lichte der Tat ihres Sohnes ganz neue Gewichtung: „They’re [...] imitative boys [...]“, argumentiert Eva noch vor Kevins Tat in einer Diskussion über School Shootings: „Think they didn’t hear about Moses Lake and West Palm Beach? About Bethel, Pearl and Paducah? [...] Mark
48 Vgl. Heyd, Theresa, „Understanding and handling unreliable narratives: A pragmatic model and method“, in: Semiotica 162 (2006), S. 217-243. 49 Christians, Amok, S. 53.
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my words, every well-armed temper tantrum that goes down only increases the likelihood of more.“50 Wann immer es jedoch um eine öffentlich diskutierte Schuldfrage geht, wie bei dem Prozess, bei dem sie sich – wie die meisten Eltern realer School Shooter – verantworten muss, nimmt die Erzählerin abgeklärte Distanz ein. Die Motive, wie sie von Anwälten, und immer wieder auch von Journalisten, abgefragt werden, tut sie eher als trivial ab. Zu stereotyp erscheinen ihr die Fragen nach Mobbing, Misshandlung oder Depression – „A victim? Are we talking about the same boy?“51 Im Roman versucht Eva so, die Deutungshoheit über die Tat ihres Sohnes zu behalten. Die gängigen Motive werden zwar nahezu vollständig aufgezählt, doch für sie können diese bei ihrem Sohn gar nicht ausschlaggebend gewesen sein. Durch den so immer präsenten Fokus auf die Mutter-Kind-Beziehung werden die vielen bestehenden Motive – Medienkonsum, Waffenaffinität, psychische Prädispositionen – stets negiert. Eine eindeutige Erklärungsalternative bietet We Need to Talk About Kevin jedoch nicht. Genau wie bei realen Taten, bleibt die Schuldfrage, um die es sich letztlich auch in diesem Text dreht, unbeantwortet.52 Genau wie bei der Bewertung medialer Berichterstattung nach School Shootings gilt hier: „The verdict is the readers job“53, wie Shriver selbst sagt. Doch trotz der Negierung der Motive ist ihre Aufzählung, ihre Nennung und Diskussion im Roman so wichtig für seine Stellung innerhalb des gesellschaftlichen Erinnerungsnarrativs. Im ständigen Rückbezug auf reale School Shootings wird die Suche nach Motiven nicht nur wiedergegeben, sondern auch durch die erzählerische Suche literarisch dargestellt und somit archiviert. Durch popkulturelle und politische Referenzen werden Elemente des School Shooting-Diskurses aufgegriffen und mit vergangenen realen Taten in Bezug gesetzt. Shriver thematisiert Erinnerung nicht nur, sie verdeutlicht sie auf allen Ebenen des Texts, durch Genre und narrative Technik, durch Symbolik und
50 Shriver, Kevin, S. 370. 51 Ebd, S. 113. 52 Vgl. Ebd., S. 84. 53 Shriver, Lionel, Interview von Andrew Lawless, „We need to talk about Kevin – Lionel Shriver in interview“, 2005, in: http://www.threemonkeysonline.com/als/ _we_need_to_talk_about_kevin_lionel_shriver_interview.html (4.3.2014).
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Reflektion der erzählerischen Subjektivität. Darüber hinaus reflektiert der Roman in seiner Struktur die gesellschaftliche Suche nach Motiven und Gründen nicht nur, sondern zeigt schließlich auch ihre Unmöglichkeit auf, indem er keine Antworten liefert. Stattdessen wirft er Fragen auf, er nennt zwar Motive und Gründe – doch alle bleiben undeutlich und unbeantwortet. Seine Leistung liegt dabei in der simultanen Verdeutlichung des Bedürfnisses nach dem Reden über das Geschehene, das so symptomatisch für diese Gewaltphänomene zu sein scheint, und der Sprachlosigkeit, die ein derartiger Gewaltakt auslösen kann. Er archiviert und interpretiert die Diskussion über School Shootings und stellt letztlich ihre Unzulänglichkeit dar. Nicht nur bleibt die Katharsis, wie sie auf der individuellen Ebene der Erzählerin gefunden wird, den Rezipienten verwehrt, sondern im Ästhetischen wird gleichzeitig die Unbeantwortbarkeit der allgegenwärtigen Frage nach dem Warum erlebbar gemacht.
5. AUSSICHTEN : S CHOOL S HOOTINGS , IHRE LITERARISCHEN D ARSTELLUNG UND IHRE GESELLSCHAFTLICHE D ISKUSSION Shrivers Roman ist ein passendes Beispiel für die Möglichkeiten, die ein literarischer Text im School Shooting-Diskurs entfalten kann. Im Gegensatz zu multiperspektivischen und multimodalen Romanen wie Walter Dean Myers Shooter oder Morton Rhues Give a Boy a Gun verzichtet We Need to Talk About Kevin auf komplexe Perspektivenstrukturen; der Effekt der Erzählung wird hier durch die Unzuverlässigkeit der Erzählung erreicht, da so die Möglichkeit einer objektiven Herangehensweise an die Thematik radikal hinterfragt wird. We Need to Talk About Kevin archiviert School Shootings darüber hinaus durch ihre literarische Darstellung. Wenngleich die dargestellte Tat fiktiv ist, werden School Shootings kulturell als ein genuin zeitgenössisches – und hier auch als ein genuin amerikanisches – Phänomen eingebettet, mit Eigendynamiken, die es noch zu durchschauen gilt. Durch das eigene Ästhetische, durch die narrative Technik und die suggerierte Nähe von Text und Lesern, kann We Need to Talk About Kevin die aufgegriffenen Themen – die Suche nach Motiven, die Schuldfrage, die bestehenden gesellschaftlichen Bewertungskategorien – infrage stellen. Besonders durch die Wirklichkeitsnähe und durch die Nähe zum Leser kann
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der Roman seine Rolle innerhalb des Diskurses entfalten: Nicht nur das Hinterfragen der bestehenden Ideen der Rezipienten, sondern auch eine Neubewertung des tatsächlich Erlebten oder Beobachteten werden zu einer Möglichkeit, die der Text eröffnet. Neben We Need to Talk About Kevin setzen sich auch andere Werke explizit mit der Wahrnehmung, Diskussion und Verarbeitung von School Shootings auseinander. Und da diese gesellschaftliche Rolle von School Shooting-Literatur durchaus eine Bereicherung für den Diskurs bietet, stellt es ein Versäumnis dar, dass bisher hauptsächlich die Täter- und Tatdarstellungen auch interdisziplinäre Aufmerksamkeit erregen. Zwar stellte sich die Wirkung eines fiktionalen Werks auf potentielle Täter, insbesondere in der Idee des kulturellen Skripts, als ein interessantes Element für die Auseinandersetzung mit School Shootings heraus, doch für die Literaturanalyse zeigte sich dieser individualpsychologische Ansatz wenig fruchtbar. Die reine Fokussierung auf die mögliche Lesergruppe der potentiellen Täter und der daraus resultierende Schwerpunkt auf die Betrachtung der Gewalt- bzw. Tatdarstellung würde die Entfaltung der Funktionspotentiale der literarischen Texte zu sehr einschränken. Ein rezeptionsästhetischer Ansatz mit Fokus auf die gesellschaftliche Diskussion von – und Erinnerung an – School Shootings ist wesentlich gewinnbringender, da Literatur, so kann festgehalten werden, sich auf eine äußerst bereichernde Weise mit der Thematik auseinandersetzen und das Gewaltphänomen abseits medial vorbereiteter Pfade bearbeiten kann. Eine Vielzahl literarischer Genres – Kriminalromane, Fantasy oder Komödie – fördern die Integration des Themas in die literarische Welt, die Verbreiterung der Leserschaft und, auf gesellschaftlicher Ebene, schließlich die Herausbildung von unterschiedlichen Herangehensweisen an die Thematik, während herausfordernde Perspektivenstrukturen und Fokalisationsfiguren neue Sichtweisen auf die Taten erlauben. Auch wenn eine einfache Erklärung der Taten von der Öffentlichkeit gewünscht wird, da „Gründe, auch angesichts dieser Katastrophen, die Welt zusammenhalten und wenigstens nachträglich die Verstörung minimieren“54, wie Joseph Vogl es treffend formuliert: Für School Shootings gibt es keine einfachen Gründe und Erklärungen, und auch School ShootingLiteratur kann die Taten nicht begreifbar machen. Sie kann jedoch ein neu-
54 Vogl, „Krieg im Frieden“.
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es Verständnis des Phänomens ermöglichen – abseits der Suche nach individuellen Motiven und gesellschaftlichen Gründen – und dadurch seine gesellschaftliche Bearbeitung ermöglichen. Aufgabe der Literaturwissenschaft kann es folglich sein, School Shooting-Literatur in ihrer Entwicklung zu beobachten – nicht, um die Täter weiter zu analysieren, sondern vielmehr, um den Diskurs in seiner ganzen Dynamik zu begreifen.
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First-Person-Shooter Täterprofilierung in Amok-Darstellungen von E. Carrère, M. Rhue, N. Niemann und C. Meyer (2000-2010) I SABELLA VON T RESKOW
1. E INLEITUNG Literatur handelt von Gewalt. Von Gewalt handeln die ältesten noch bekannten Texte, das Gilgamesch-Epos, die Bibel, die Ilias, die Aeneis. Sie bilden Gewaltakte nicht wirklichkeitsgetreu ab, sie bieten keine realistischen Schilderungen, sie konfrontieren mit aus heutiger Sicht archetypischen Konstellationen und Szenen wie dem Brudermord von Kain an Abel oder dem Mord in Raserei, so in der Aeneis. Dort ermordet Turnus in Furor und „blindem Hass“ Pallas und bringt Aeneas in den letzten Zeilen in enthemmtem Zorn Turnus um, was als unverhältnismäßige Grausamkeit gesehen wurde. Diese Literatur, die exzessive Gewalt in kriegerischen und zivilen Situationen vorführt, zielt in ihrer Grundausrichtung, im Stil und mit ihren Deutungsangeboten nicht auf emotionale Einfühlung und liefert nur bedingt soziologische Erklärungen. Erst neuere Literatur kennt solche Ziele. In beiden Fällen ist die Faszination für das Phänomen maßloser Gewalt greifbar, aber sie wird im Fall der Amok-Gewalt als neuartig empfunden,1
1
Dass Amok-Gewalt als plötzliche Massentötung durch Einzelne nicht neu und nicht beispielsweise auf Schulmassaker einzugrenzen ist, sondern auch in Autoraserei und auf andere Art vorkommt, wurde immer wieder hervorgehoben; vgl.
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als unangemessen im Umfeld befriedeter, demokratischer, moderner Gesellschaften. Die Ängstigung durch diese Gewaltausbrüche und der Wunsch nach Schau in die Psyche der Täter sind heute untrennbar. Literatur als Medium, das dem „Inneren“ des Menschen besonders nahe kommen kann, ist deswegen sehr gut geeignet, das Heldisch-Antiheldische der Täter mit der Figur des „bürgerlichen“ Protagonisten gemäßigter Art zu verbinden: zwar „aus der Mitte der Gesellschaft“ kommend, aber von der Kräfteentfaltung her den archetypischen Protagonisten vergleichbar, die das Ursprüngliche verkörpern sollen. Betrachtet werden Täter und Ereignisse literarisch in der Regel mit Blick auf die Gesellschaft: Sie oder präziser soziale Missstände seien es, die die Ursache der eigentlich unerklärlichen Gewaltausbrüche bilden. Götz Eisenberg diagnostiziert „Amok“ als „Einbruch der Gewalt in eine aggressionsgehemmte Kultur“2. Der Titel einer einschlägigen Publikation aus den USA lautet Rampage – The Social Roots of School Shootings.3 Ähnlich wie für die Literatur des 20. Jahrhunderts zu innergesellschaftlicher kollektiver Gewalt festgehalten wurde, dass die Darstellung von Aggressionen gegen Verwandte oder Mitglieder derselben Gruppe zum Symbol von dysfunktionalen Gesellschaften wird bzw. als codiert dazu dienen kann, über die konkret beschriebenen Vorkommnisse hinaus andere Problemkomplexe zu erfassen,4 ist auch in der hier analysierten Literatur der Einzelne – selbst im
z. B. Christians, Heiko, Amok − Geschichte einer Ausbreitung. Bielefeld: Aisthesis Verlag, 2008; Adler, Lothar, Amok. Eine Studie. München: Belleville, 2000. 2
Eisenberg, Götz, … damit mich kein Mensch mehr vergisst! Warum Amok und Gewalt kein Zufall sind. München: Pattloch, 2010, S. 28. Ähnlich ist die Frage von Birgitta Mogge-Stubbe, „was Konformitätsdruck, Hass, Vorurteile und Machtausübung in und mit Menschen anrichten“ („,Ich knall euch ab!‘“, in: Mogge-Stubbe, Birgitta (Hrsg.), Gewalt macht keine Schule: Ursachen, Sensibilisierung, Gegenstrategien. München: Olzog, 2002, S. 60-64, S. 60).
3
Newman, Katherine S./Fox, Cybelle/Harding, David J./Mehta, Jal/Roth, Wendy, Rampage. The Social Roots of School Shootings. New York: Basic Books, 2005 [2004].
4
In der Analyse von Literatur zu innergesellschaftlicher Gewalt stellen sich viele Konstellationen als Repräsentationen heraus, die historische Vorkommnisse fixieren wollen, v. a. jedoch Missstände einer Gemeinschaft sowie Faktoren für
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engsten individuellen Bezug wie im französischen Roman L’Adversaire – Repräsentant als Mitglied der Gesellschaft. Das Repräsentative zielt auf die Probleme des Einzelnen in einer schwierigen Welt, wobei tatsächlich individuelle Begründungen, z. B. Fehlwahrnehmungen und psychische Erkrankungen, eine untergeordnete Rolle spielen. Sollte aus dieser Sicht der unvernünftige Amok das Zeichen einer buchstäblich letzten (da selbstmörderischen) Vernunft sein, die eigentlich im Recht ist, da sie mit den unmenschlichen Forderungen einer Erfolgs- und Leistungskultur tabula rasa machen will, die das Verlassensein des Menschen bündelt, ja inkarniert, wo die Welt Korruption und Egoismus ist, Lieblosigkeit und grausamer Hochmut? Der Fokus in der Fiktion zu Amokläufen und School Shootings ist auf die Figur der Einzeltäter im Rahmen von Erklärungsmustern konzentriert, die sich eng an aktuelle soziopolitische Diskussionen anschließen, in deren Modellen das Individuum an der sozialen Umwelt scheitert, die Aggressivität jedoch nur bedingt auch an den Personen selbst festgemacht wird. Im Zentrum dieser Literatur, die Gewaltausbrüche und Mehrfachmord an Verwandten und Nahestehenden, an Mitschülern, Lehrern und Schulpersonal behandelt, stehen die Verzweiflung der meist jungen, männlichen Täter und deren soziale Isolierung, die Gefährlichkeit von Computerspielen sowie mangelnde Zuwendung oder mangelnde Offenheit in Familie und Schule. Aggressionsstau, sozialer und schulischer oder beruflicher Misserfolg und Fragen der Möglichkeit, Amoklauf im persönlichen Umfeld der Täter zu verhindern, werden mit Blick auf gesellschaftliche Übel und zivilisatorische Schieflagen diskutiert, so dass die eigene Verantwortung der Täter in diesen Konstellationen in den Hintergrund gerät – so lässt es sich für die hier untersuchten Erzähltexte sagen. Insgesamt dient „Amok“ als ordnender Topos dem Bedürfnis, sich über soziale Missstände auszutauschen, psycho-
gesellschaftspolitischen Dissens aufzeigen und individuelle wie kollektive Mechanismen zur Sprache bringen, die zu Gewalt führen; vgl. hierzu Bandau, Anja/Buschmann, Albrecht/von Treskow, Isabella, „Literaturen des Bürgerkriegs – Überlegungen zu ihren soziohistorischen und ästhetischen Konfigurationen“, in: Bandau, Anja/Buschmann, Albrecht/von Treskow, Isabella (Hrsg.), Literaturen des Bürgerkriegs. Berlin: Trafo Verlag, 2008, S. 7-18. Vgl. darin besonders Milkovitch-Rioux, Catherine, „Der Algerienkrieg im Spiegel der Literatur. Ambiguitäten eines Konflikts“ (ebd., S. 59-73).
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logische und psychiatrische Erkenntnisse werden kaum integriert. Amok ist sehr selten. Dass die in westlichen Gesellschaften erheblich häufigere Problematik der Depression ohne Gewaltausbruch viel weniger zum literarischen Gegenstand gemacht wird als ein so vereinzeltes Phänomen wie exzessive, persönlich motivierte Gewalt, „Amok-Gewalt“, verdankt sich, so eine These, weniger dem aufmerksamen Blick auf die Realität als einem Gespür für die symbolische Kraft eines Stoffs, der sichtbare Gewaltakte, Gewalt in sozialer Nähe, die Krisendiagnose der bürgerlichen Gesellschaft und die Konzentration aufs Individuum miteinander verbindet. Amoktaten in Form des erweiterten Selbstmords und des Schulmassakers sind das Thema von Emmanuel Carrères L’Adversaire (2000, dt. Amok), Morton Rhues Give a Boy a Gun (2000, dt. Ich knall euch ab!), Norbert Niemanns Schule der Gewalt (2001) und der Erzählung German Amok von Clemens Meyer, veröffentlicht 2010. Inwiefern auf diese Erzähltexte zutrifft, was Heiko Christians in seiner Literatur- und Medienanalyse Amok – Geschichte einer Ausbreitung schrieb, dass nämlich die Literatur immer noch wesentlich versuche, „in der Tradition der Einfühlungsästhetik das Innenleben, die Psyche eines Amokläufers zu erkunden“5, wird im Folgenden anhand ihrer narrativen Techniken in Hinblick auf Gattungsmuster, Stilmittel, die Aneignung kursierender Informationen zu Amoklauf, exzessiver Gewalt und Schulmassakern untersucht und dabei zugleich die Problematik der psychologisierenden Einfühlungsästhetik erläutert. Der überall hohe Grad an Referentialität führt teils zur Übernahme traditioneller Gattungsprämissen, teils zu neuen Formen, bestimmt in jedem Fall aber merklich eine erzählerische Vermittlung, die sich der Simulation des Authentischen verdankt – das sei vorweggenommen. Das Maß an Symbolisierung oder Verfremdung ist im Korpus gering, Einfühlung ist tatsächlich eine Wirkungsabsicht. Sie wird durch eine „Verständnis-Ästhetik“ intensiviert. Diese ästhetische Doppelung macht sich auf unterschiedliche Weise geltend: Carrère wirbt um Verständnis für einen Helden, der einem Familienvater nachgestaltet ist, welcher 1993 einen „erweiterten Suizid“6 in
5
Christians, Amok, S. 290.
6
Zur psychiatrischen Beschreibung des Phänomens vgl. Adler, Lothar, „Amok“, in: Wolfersdorf, Manfred/Bronisch, Thomas/Wedler, Hans (Hrsg.), Suizidalität. Verstehen. Vorbeugen. Behandeln. Regensburg: Roderer, 2008, S. 51-62.
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Form eines Serienmords mit „Abkühlungsperioden“7 zwischen den Taten und dem Ziel der „Familienauslöschung“8 verübte, und verwischt die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion. Norbert Niemann dringt zu den Fragen von Medienwirkung, kollektiver und individueller Aggressivität im bundesdeutschen Bildungssystem und subjektiver Unsicherheit vor, Clemens Meyer nimmt den Begriff First-Person-Shooter wörtlich, Morton Rhues Ich knall euch ab! schlägt als pseudodokumentarische Fiktion ähnlich Amok (L’Adversaire) einen ambivalenten Weg ein, ist geradezu ein Aufruf zu Wahrnehmungsverzerrung. Gemeinsam ist diesen Erzähltexten die Täterzentrierung und das Wirkungsziel des Schauders. Das Paradox beruht auf der Überlagerung von Einfühlung und Absehung: Die Täter sollen sowohl vertraut wie nicht ganz verstanden werden, ihr Unnahbarkeitsnimbus bleibt als Amok-Charakteristikum erhalten − daher rührt womöglich der blinde Fleck in der Frage individueller Disposition. Auffällig ist in dieser Literatur, wie gesagt, der Konnex von Einfühlungsästhetik und Gesellschaftskritik, welche auch Medienkritik beinhalten kann. Die soziologische Forschung betont für Schulmassaker die Möglichkeit eines engen Zusammenhangs mit der massenmedialen Darstellung von Gewalt. Der Gesellschaftsbezug, der u. a. in der Medienkritik bezüglich adoleszenter Amokläufe hervortritt – Kritik an medialer Berichterstattung, Kritik an Medienkonsum, Kritik an Videospielen –, wird in die Darstellungen eingeblendet. Wie gehen nun die erzählliterarischen, die „langsamen“
7
Scheithauer, Herbert/Bondü, Rebecca, Amoklauf und School Shooting. Bedeutung, Hintergründe und Prävention. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2011, S. 22. Der Begriff „Serienmord“ bezieht sich dabei auf die Klassifikation von Massenmorden durch das Crime Classification Manual des FBI.
8
Bannenberg, Britta, Amok. Ursachen erkennen – Warnsignale verstehen – Katastrophen verhindern. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2010, S. 28. Elsa Pollmann unterscheidet zwei Gruppen von Tätertypen. Zur von ihr erst genannten kann die Person hier zugeordnet werden: „Die eine Gruppe ist dadurch charakterisiert, dass sie mit tödlicher Präzision ausschließlich Familienmitglieder mit vorbereiteten Schusswaffen tötet. Es sind typischerweise ältere, verheiratete, berufstätige, zuvor unauffällige Täter.“ (Pollmann, Elsa, Tatort Schule. Wenn Jugendliche Amok laufen. Marburg: Tectum, 2008, S. 37). Zum Zusammenhang zwischen Männlichkeitsbild und Amok vgl. Gregor, Elisa, Amok. Wenn Väter durchdrehen. Wien: Ueberreuter, 2005.
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Medien mit den Erwartungen an die Suche nach Auskünften zu sozialen Ursachen und an Einfühlung um, da die Psyche des Täters als „unbegreiflich“ gilt? Auf der Anklagebank sitzen ja auch sie, zumindest heißt es, dass einige zu Amok-Handlungen Tendierende Give a Boy a Gun kannten.
2. G ATTUNGSSTRUKTUREN UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG L’Adversaire, deutsch Amok, handelt vom realen Fall des „Mediziners“ Jean-Claude Romand, welcher am 9. Januar 1993 scheinbar grundlos zuerst seine Frau erschlug und die beiden Kinder erschoss, dann seine Eltern und deren Hund, anschließend nach Paris fuhr und versuchte, seine Geliebte bzw. Ex-Geliebte und Noch-Freundin zu erwürgen, sich schließlich zurück ins Jura begab, sein Eigenheim anzündete, Schlafmittel nahm, sich ins Bett legte und durch den Brand ins Koma fiel, wenn auch nicht starb. Der Roman berichtet sowohl vom schwierigen Schreibprozess, den der AutorErzähler durchläuft, als auch vom Leben des Täters. Romand kommt aus einer Forstmeister- und Bauernfamilie und wächst im Jura auf, der französischen Hochebene an der Grenze zur Schweiz, bekannt für Kälte und Verlassenheit. Er ist Einzelkind, sehr gut in der Schule, besucht kurz eine classe préparatoire, beginnt dann ein Medizinstudium in Lyon. Zu den Abschlussprüfungen des zweiten Jahres erscheint er nicht. Er fingiert ab da vor seinen Freunden und Eltern die Fortsetzung des Studiums, besucht auch alle Vorlesungen, kann nur keine Prüfungen ablegen. Nach „offiziellem“ Studienende behauptet er, in Genf bei der WHO zu arbeiten. Er gründet eine Familie, kauft ein großes Haus, große Autos. Den Lebensunterhalt finanziert er, indem er simuliert, ihm überantwortete große Summen von Familienmitgliedern gewinnbringend auf Schweizer Konten unterzubringen, das Geld aber für die Vorspiegelung seines Gehalts verwendet. Da die Konten auf seinen Namen laufen, ist den Familienmitgliedern und der Freundin Corinne eigener Zugriff nicht möglich. Als Corinne ihre Einlage zurückverlangt, droht Romands Scheinidentität aufzufliegen. Er zögert den Moment der Eröffnung noch über Weihnachten 1992 hinaus, um dann aus Angst vor Entdeckung die nächsten Verwandten umzubringen. Da er zum Schluss den eigenen Tod herbeiführen will, ist, wie gesagt, an erweiterten
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Selbstmord zu denken.9 Das Gewaltmuster erinnert zudem an die von Eisenberg als „Auftakt einer nicht mehr abreißenden Welle von Amokläufen in der westlichen Welt“10 bezeichnete Gewalttat von Charles Whitman 1966 in den USA. Jean-Claude Romand wurde 1996 zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Der zweifellos interessante Fall wird von Carrère im Stil zweier Gattungen, des Kriminalromans und des Entwicklungsromans, in einem so genannten dokumentarischen Roman unterbreitet. Die Darstellung ist folglich dreifach dem Realismus verpflichtet.11 Aus dem technischen Arsenal des Kriminalromans12 finden wir im ersten Viertel praktisch alle gängigen In-
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Romands Selbstmordabsichten wurden allerdings im Prozess infrage gestellt, da die Schlafmitteldosis zu gering und die Brenntechnik zu halbherzig ausgeführt worden sei, so dass das Finale auch lediglich einer Vertuschung habe dienen können. Die Argumentation übersieht einige Widersprüche, darunter, dass damit die Frage des Todes der Eltern nicht geklärt werden kann. L’Adversaire geht auch solchen Vermutungen nach und gibt der Lebensdarstellung viele Kommentare bei, die sowohl aus der Teilnahme des Autors am Gerichtsverfahren als auch aus von ihm berichteten Gesprächen mit Freunden und Bekannten resultieren.
10 Eisenberg, … damit mich kein Mensch mehr vergisst!, S. 16. 11 Zum Problem, den Text einer Gattung zuzuordnen, vgl. Baude, Jeanne-Marie, „La conversion indicible dans la production littéraire de la fin du vingtième siècle“, in: Brucker, Nicolas (Hrsg.), La conversion. Expérience spirituelle, expression littéraire. Bern: Lang, 2005, S. 371-376, S. 375 f.; Huglo, MariePascale, Le sens du récit. Pour une approche esthétique de la narrativité contemporaine. Villeneuve d’Ascq: Presses universitaire du Septentrion, 2007, Kap. „Hantise de la fiction dans L’Adversaire d’Emmanuel Carrère“, S. 86 ff. 12 Im Zentrum des Kriminalromans stehen traditionell der Mord und seine Aufdeckung. Die zentrale Figurentriangulation bildet sich aus Leiche(n), Mörder/in und Ermittler/in bei gleichzeitiger Abwesenheit von Zeugen für den Mord. Der Handlungsaufbau ergibt sich aus der Suche nach dem Mörder oder der Mörderin bzw. der fortschreitenden Fall-Aufdeckung mit dem Ziel der Überführung desselben, die das Ende definiert. Der Figurenkreis ist geschlossen, das Handlungsmilieu homogen. Zum engsten Figurenkreis kommen Störpersonen wie auch Gehilfen der Detektivin oder des Detektivs, zur richtigen Fährte treten falsche. Das Opfer hat einen geringen personalen Stellenwert, Ermittlerfiguren sind
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strumentarien: Die Leichen werden sofort benannt, d. h. die Ehefrau, die Kinder, damit einige, nicht alle. Die Eltern bleiben im Hintergrund, was der Verrätselung, der Spannungssteigerung und Überraschungseffekten hin zum Erschrecken dient. Die Handlung beginnt nach der Wiedergabe eines Telefonanrufs mit dem Bild des brennenden Hauses, dem Abtransport der Toten und dem des überlebenden Familienvaters Jean-Claude. Die Suche nach der Ursache für den Brand beginnt. Sie liefert romantechnisch den Anlass für falsche Fährten: Nach der Vorstellung eines zufällig ausgebrochenen Feuers wird an Diebstahl, Raubmord und potentielle Feinde der eigentlich unbescholtenen Familie gedacht. Erste Verdachtsmomente auf menschliche Gewalteinwirkung keimen, als Auffälligkeiten am Kopf der Ehefrau vom Pathologen als Spuren gedeutet werden, die vom Brand nicht herrühren können. Nach und nach wird die Vorfallskette aufgedeckt und verdichtet sich zum „Fall“. Ein Anruf bei der WHO genügt schließlich, um festzustellen, dass dort nie ein Jean-Claude Romand, geschweige denn als Mediziner gearbeitet hat. Indizien werden aufgeführt, Motive benannt und verworfen. Die Morde sind ohne Zeugen geschehen, bis der Mörder als Zeuge überführt ist. Das Kriminal-Element „Verhör“ wird in späteren Abschnitten zum Gerichtsprozess verwendet. Da es keine Verfolgungsjagd nachzuerzählen gibt, greift der Autor zum Mittel der Metaphorik. So heißt es über Jean-Claude Romand: „Ohne zu wissen, wo genau sie ihn zu fassen kriegen würden, spürte er, dass die Meute ihm dicht auf den Fersen war.“13 Die Forschung hat sich vielfach mit der Erzählerfigur beschäftigt, mit der Metapoetik des Texts und der Selbstreflexion des Erzählers bzw. Autors Emmanuel Carrère.14 Hier soll der Fokus auf der Funktion der Erzäh-
Heldenfiguren, die, um Helden zu sein, zahlreiche Hindernisse überwinden. Die Erzählung der Aufdeckung beinhaltet die Suche nach Motiven, das Auftauchen von Indizien, die zunehmende Reduktion der Verdächtigen bei gleichzeitiger Verstärkung des Geheimnisses; an Handlungsphasen beinhaltet sie körperlichen Einsatz, Befragungen, Verhöre und Verfolgungen hin zur plausiblen Erklärung des anfangs Undurchschaubaren. 13 Carrère, Emmanuel, Amok. Frankfurt a. M.: Fischer, 2011, S. 124; Carrère, Emmanuel, L’Adversaire. Paris: Pol, 2000, S. 146. 14 Dies gilt für Baude, „La conversion indicible“, 2005, und Huglo, Le sens du récit, 2007, aber auch für Mecke, Jochen, „Le roman nouveau: pour une esthétique du mensonge“, in: Lendemains 107/108 (2002), S. 97-116; Viart, Dominique,
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lerfigur und der des Sympathieträgers Luc Ladmiral liegen, die als literarische Instanzen gedeutet werden, mit denen der Verstehensprozess als Kriminalroman anschaulich gemacht wird. Der Handlungsaufbau folgt dem Muster der Detektion und Aufhellung. Da es hierfür erst einmal dunkel sein muss, schafft Carrère eine breite Zone des Nicht-Wissens und streut viele Indizien. Der Erzähler geriert sich sowie den „besten Freund“ Romands, Luc Ladmiral, als Ermittelnde, die indes die Wahrheit oft nicht wahrhaben wollen. Störend sind dadurch keine weiteren Figuren, sondern ihr eigener Verstand. Mithilfe der Parameter des klassischen Detektivromans, zu denen hier auch ein geschlossener Personenkreis und ein homogenes Handlungsmilieu gehören, überführt Carrère typische Reaktionsweisen auf Familienamok-Meldungen ins Literarische. Die Kriminalgattung erlaubt, ein langsames Einsickern ins Bewusstsein nachzubilden. Das Element der Befragung wird umgedeutet: Die ehemaligen Freunde befragen sich und die anderen, nicht ein Detektiv potentielle Täter und Zeugen. Langsames Suchen ist in der Kriminalgattung hervorragend aufgehoben, hier ist die Suche nach dem Mörder, dann nach dessen Intention und Gründen oberstes Darstellungsziel. Das Genre stellt damit für die gesellschaftskritische AmokFiktion den Rahmen für ein Spiel mit Wissen und Unwissen, Sicherheit und Unsicherheit her, in dem sich die Verstörungen der upper class für diese selbst abbilden lassen. Isabelle Pitteloud hat zurecht festgehalten, dass es in der Rezeption auch darum ging, sich daran zu erfreuen, dass eine als unberührbar geltende soziale Klasse beschädigt werde.15 Dass der Held unverständlich bleibt, stützt das Unverständlichkeits-Klischee von Amoktäterfiguren.
„Fictions en procès“, in: Blanckeman, Bruno/Mura-Brunel, Aline/Dambre, Marc (Hrsg.), Le roman français au tournant du XXIe siècle. Paris: Presse Sorbonne Nouvelle, 2004, S. 289-303; Marion, Esther N., „The Narrator-Perpetrator and the Infectious Crime Scene: Emmanuel Carrère’s L’Adversaire“, in: Day, James (Hrsg.), Violence in French and Francophone Literature and Film. (FLS, vol. 35). Amsterdam – New York: Rodopi, 2008, S. 59-70. 15 Vgl. Pitteloud, Isabelle, „Faits divers et engagement. Quelques remarques sur l’affaire Romand“, in: Kaempfer, Jean/Florey, Sonya/Meizoz, Jérôme (Hrsg.), Formes de l’engagement littéraire (XVe - XXIe siècles). Lausanne: Editions Antipodes, 2006, S. 205-218, S. 209.
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Die literarisierte Verwandlung eines „normalen Bürgers“ zum rasenden Mörder, technisch durch das Prinzip der emotional-empathischen Annäherung bei gleichzeitiger Vernebelung der Ursachen realisiert, stellt ein Pendant zur psychologischen Auseinandersetzung mit individueller Aggressivität und Gewaltfähigkeit in einer Annäherungs- und Ablehnungsbewegung dar. Sich in das, wovor man sich fürchtet, hineinzuversetzen, gehört prinzipiell zum ästhetischen Angebot der Kunst. In Amok führt der Weg nun zum mystifizierten Nichtkommunikablen. Die während der Haft erlebte Konversion Romands zum tiefen Glauben und die eigene Schreibtätigkeit verschiebt der Erzähler in den Bereich des „indécidable“ und „indicible“16, des Unentscheidbaren und Unsagbaren: „C’est sur ce seuil que s’arrête le livre“17, schreibt Jeanne-Claude Baude passend zweideutig zum Ende des Adversaire. L’Adversaire verharrt in einer Stille, die den Fall buchstäblich zum Mysterium macht. Einfühlung und Rätsel koalieren. Ohne dass der Fall in die Klasse der jugendlichen Urheber von Mehrfachtötungen und Schulmassakern (die nicht zwingend School Shootings sein müssen) gehört, für die im französischen Kulturraum gar kein Bild und kein Topos existieren, wird doch das Moment des Irrationalen im Sinne des Unverständlichen evoziert und mit einer eigenen Aura umgeben. Marie-Pascale Huglo erklärt, der Autor eröffne einen „espace visionnaire“, der ihm als Erzähler eine unanfechtbare Position als „Medium“ sichere.18 Damit bleibt noch zu eruieren, ob die Erzählfigur als mehrwissend oder lediglich transportierend gedacht ist. Die Idee der Unfasslichkeit des Amoklaufs und der Motivik bleibt in jedem Fall unberührt. In Bezug auf Amokläufe und individuelle Gewaltexzesse schwankt die öffentliche Wahrnehmung zwischen Täter- und Opferzuschreibung. Im Prinzip als Täter zu definieren, erscheinen in den Medien viele als Opfer, vernachlässigte Jugendliche, frustrierte Frauen, narzisstische Persönlichkeiten, denen Anerkennung fehlt. Im klassischen Detektivroman ist nun „der Verbrecher selten interessant und fast nie sympathisch“19. Anders im Pro-
16 Baude, „La conversion indicible“, S. 377. 17 Ebd. 18 Huglo, „Hantise“, S. 89. 19 Mary Hottinger, zit. nach Heißenbüttel, Helmut, „Spielregeln des Kriminalromans“ [1966], in: Vogt, Jochen (Hrsg.), Der Kriminalroman. Zur Theorie und
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zessbericht, dem sich L’Adversaire annähert. Das Problem des Romans im Vergleich zu Massenmedien wird hier deutlich. Eine gute Kenntnis des Täters, besonders die Mittel von Innensicht und Nachvollzug, führen zur Entschärfung des Täterprofils und über den Weg von Solidarisierung und Empathie des Lesers zur Profilierung des Mörders als Opfer. Ist der aus einer einfachen Forstfamilie im französischen Jura stammende Jean-Claude Romand nicht Opfer der Stadtgesellschaft? Sind es nicht auch seine stumme Mutter und seine Sensibilität,20 die ihn in die Rolle des erfolgreichen Mediziners und treusorgenden Familienvaters getrieben haben? Sind nicht dem sozialen Erwartungsdruck alle daraus resultierenden Handlungen geschuldet? Um diese Motive zu suggerieren, greift Carrère zum Modell des Entwicklungsromans. Im klassischen Entwicklungsroman steht der Held fast allein im Zentrum, auch in L’Adversaire. Zwar bedient der Roman nicht die Prämisse der Ich-Erzählsituation, aber der Erzähler geht personal so weit wie möglich an die Figur heran. Hier ein Beispiel aus der Schilderung eines Diners mit Corinne in Paris: „Während er den Dr. Romand spielte, dachte er bei sich, dass es das letzte Mal war, dass er bald tot sein würde und deshalb nichts mehr von Bedeutung war.“21 Sehr häufig kommt Romand direkt selbst zu Wort, z. B. in Zitaten aus dem Gerichtsprozess, in dem auch seine
Geschichte einer Gattung. 2 Bde., Bd. 2., München: Fink, 1971, S. 356-371, S. 359. 20 Vgl. z. B. als Darstellung, wie Romand aus dem Gleichgewicht gerät, Carrère, Amok, S. 110 (Carrère, L’Adversaire, S. 129). Im Gefängnis plant Romand erneut seinen Selbstmord, für den 1. Mai 1993. Einer eigenen Aussage nach, die die Psychiater festhalten, durchkreuzt Pierre Bérégovoy, abgewählter Premierminister Frankreichs, mit seinem Selbstmord am 1. April 1993 diesen Plan. Bérégovoys Selbstmord wurde in Frankreich u. a. als Folge der Unlösbarkeit des Anspruchs des aus dem Arbeitermilieu stammenden Premierministers interpretiert, mit der Korruption der regierenden Klasse zurechtzukommen, ohne selbst darin (symbolisch) aufgenommen worden zu sein, und als Reaktion eines Mannes, der sich in der großbürgerlichen Schicht der Staatsfunktionäre und GrandeEcole-Diplomaten nicht akzeptiert fühlte. 21 Carrère, Amok, S. 125; Carrère, L’Adversaire, S. 147: „Il a joué le Dr Romand en pensant qu’il était la dernière fois, mais qu’il était bienôt mort et que rien n’avait plus d’importance.“
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Kindheit und Jugend breiten Raum finden. Aus dem Gattungsrepertoire übernommen werden außerdem das chronologisch fortschreitende Zeitgerüst, detailgenaue Milieubeschreibungen, differenzierte Personenpsychologie und die Intention, dass Sozialkritik sich implizit über die Zeichnung von Individuen und ihrer gesellschaftlichen Einbindung einstellen solle. Die Funktion der Kombination aus Kriminalroman und Entwicklungsbzw. psychologischem Roman dürfte sein, dass sich die Motivsuche von außen mit der Suche nach Gründen verbindet, die in der individuellpsychologischen Entwicklung des Protagonisten vermutet werden. Kriminalgattung und Entwicklungsroman legen nahe, dass Welt ein lösbares Rätsel sei, dass Individuum und Umwelt in Einklang geraten können und dass, wo dies nicht der Fall ist, Gründe für Diskrepanzen doch dingfest werden. Carrère führt uns die Problematik des Außenblicks vor, inszeniert die Suche, zeigt einen vermutlich psychopathischen Fall und lässt in Zitaten aus dem Prozess und in langen Briefen den vormals eher ruhigen und wortkargen Protagonisten zu Wort kommen.22 Eine plausible Darstellung scheitert indes womöglich gerade daran, dass der Held nach der Tat eine Version der Dinge formuliert, die den Tathergang gar nicht erklären kann. Und viel mehr als eine äußere Bestandsaufnahme, die sich in Vermutungen ergeht, liefert die „dokumentarische“, „faktuelle“23 Seite des Romans nicht. Nahsicht und Innenperspektive wählen auch Norbert Niemann und Clemens Meyer. Norbert Niemanns Schule der Gewalt ist ein Briefroman, in dem der Protagonist, ein Gymnasiallehrer, in einem fiktiven Brief an einen Bekannten tagebuchartig seine Gedanken in den Computer drischt. Die Wahl der homodiegetischen Ich-Erzählposition bewirkt ein hohes Maß an Nachvollziehbarkeit des Innenlebens. Eine zweite Strategie besteht in der Wahl einer Erzählsprache, die Mündlichkeit imitiert, um Nähe zur Leser-
22 Die persönliche Zurückgenommenheit des Protagonisten entspricht dem Bild und auch den wissenschaftlichen Befunden zu Amoktätern, die als häufig unauffällig beschrieben werden (vgl. z. B. Adler, Lothar, „Amok im Spektrum homizidal-suizidaler Handlungen“, in: Wolfersdorf, Manfred/Wedler, Hans (Hrsg.), Terroristen-Suizide und Amok. Regensburg: Roderer, 2002, S. 71-85, S. 78). 23 Vgl. Viart, „Fictions en procès“, S. 291; vgl. hierzu auch Olivier, Annie, „Fictions du réel. Carrère, Ernaux, Daeninckx“, in: Rubino, Gianfranco (Hrsg.): Voix du contemporain. Histoire, mémoire et réel dans le roman français d’aujourd’hui. Roma: Bulzoni, 2006, S. 125-140.
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schaft herzustellen. Erzählt werden die Ereignisse eines Dreivierteljahres von Sommer 1998 bis Frühjahr 1999, in dem eine Eskalation der Gewalt stattfindet, an deren Ende der Lehrer selbst hoch gewaltbereit nachts mit gezücktem Messer loszieht, die auf ihn wartenden, aggressiven Jugendlichen zu besiegen oder von ihnen besiegt zu werden. Das Grundproblem der Hauptfigur Frank Beck ist die Zuneigung zu einer 17-jährigen Schülerin einer anderen Klasse, eine Zuneigung, die ansatzweise erwidert wird. Dieses Liebesthema wird zusehends mit dem Gewaltthema zusammengeführt. Der Lehrer, ein Einzelgänger, in Probleme mit Ex-Frau und pubertierender Tochter verstrickt, ausgesprochen selbstkritisch, anfangs geschätzter Kollege eher sonderlicher Art, beobachtet Ausgrenzung und Prügeleien von Schülern, wird dann selbst zusammengeschlagen, als er zwei Schüler beim Drogendeal erwischt, schreitet allerdings nie ein, meldet nichts, hält keine Gewalt auf. Dies betrifft besonders den schwierigen Schüler Kevin Meier, Sonderling, Außenseiter, depressiv, unsicher, stotternd, von Mädchen abgewiesen, von den Jungen mit Mühe geachtet, dann verprügelt. Kevin Meier ist dazu prädestiniert, als MobbingOpfer zum Extremtäter zu werden. Er wird es nicht. Der Roman entspricht nicht dem Klischee. Kevin fängt sich, die Gruppe akzeptiert ihn wieder. Mit dem Lehrer hingegen geht es bergab. Er ist „unzuverlässig“ als Berichterstatter, aber der literartechnische Trick des unreliable narrator hilft, eine Vielzahl von Hypothesen zu Gewalt einzusammeln. Dabei spiegeln seine kulturkritischen Worte das Schwanken zwischen Wissen und Unwissen, hier über die Aggressivität von Jugendlichen allgemein und die Motive von Schulmassakern im Besonderen. Das Konzept der Verunsicherung ist folglich ähnlich wie in L’Adversaire. Frank Beck interessiert sich für amerikanische School Shootings und sammelt dazu Material. Sein eigener Kommentar: Absurd der Glaube, mein Verständnis von dem, was ist, was abläuft, was hinter den Abläufen steckt, durch solche, nennen wir’s mal, Schürfungen vertiefen zu können. Aber es gibt ja gar nichts zu schürfen, liegt doch alles ständig offen zutage, ist für alle zugänglich, neben, zwischen dem anderen Schwachsinn, dem restlichen Datenmüll.24
24 Niemann, Norbert, Schule der Gewalt. Roman. München – Wien: dtv, 2003 [2001], S. 138.
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Seine Reflexionen und die anderer über die Situation von Gymnasiasten und über Amoklauf gehen in viele Richtungen: zum einen Anpassungszwang der Schüler, Gruppendruck, Ausländerfeindlichkeit, keine Hoffnung auf ein erfülltes Erwachsenendasein, zerfallende Familien, Konsumgesellschaft, Liberalismus und Grenzenlosigkeit, zum anderen das gewagte Spiel der Umsetzung von Wunschwelten in reale Welten,25 also vom Computerspiel in die Realität, auch Kommunikationsbrüche zwischen den Generationen. Keine Ursache wird als einzig einleuchtend oder hinreichend präsentiert. Der Briefroman dient dem Autor allerdings dazu, die Frage des aktuellen mitmenschlichen Umgangs zu fokussieren, denn die Gattung wird ad absurdum geführt: Es gibt kein Gegenüber der Hauptfigur Frank Beck, das seine Computereinträge lesen würde. „Innerer Monolog“ meint damit auch das Einzelgängerische seiner Überlegungen und das fehlende Interesse seiner Umwelt, die mit Urteilen schnell bei der Hand ist, aber eine aktive Hinwendung scheut. Der Schritt vom inneren Monolog zum Bewusstseinsstrom ist nicht weit. Ihn finden wir in German Amok von Clemens Meyer. German Amok ist Teil eines „Tagebuchs“, einer Textsammlung mit dem Titel Gewalten, halb-dokumentarisch präsentiert, als Einzelgeschichte ist es eine Short Story. Das Genre suggeriert Modernität. Meyer spricht, noch zeitgemäßer, von „Shortcut“, der Begriff für „Abkürzung“, aber auch „Tastenkombination“ – hier erkennen wir die Nähe zur EDV-Sphäre und IT-Welt. Die Kurzgeschichte kennt gattungsgemäß keine plötzliche Wende und hat keine Auflösung nötig; auch hier bleibt das Ende offen. Die Handlung beginnt mit einem mehr oder minder misslingenden Schulmassaker in einem Gymnasium. Gewählt wird folglich der klassische „Tatort Schule“26. Wie sich herausstellt, ist das Massaker erfunden, ist Part eines fiktiven Computerspiels vom Typ Ego-Shooter bzw. First-PersonShooter namens German Amok. Die Erzählung greift mit dieser Mise-enabyme-Technik inhaltlich und formal die Frage nach dem Zusammenhang zwischen den Tötungsakten und exzessivem Computerspiel, gewaltverherr-
25 Ebd., S. 197. 26 Bannenberg, Amok, S. 61. Dass Gymnasien am meisten betroffen seien, lässt sich wissenschaftlich nicht belegen (vgl. Scheithauer/Bondü, Amoklauf, S. 47). Gleichwohl ist das Gymnasium in der öffentlichen Wahrnehmung zum typischen Tatort avanciert.
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lichenden Medien, Eintauchen in mediale Scheinwelten und Medienwirkung auf.27 Aus der Perspektive des Spielers werden die Spielvorgänge und einzelne Spielzüge geschildert. Ziel ist die Tötung von Figuren in der Welt
27 Vgl. zur Diskussion der Zusammenhänge z. B. Bannenberg, Amok, Kap. 9. Ursachen und tatfördernde Umstände von Amokläufen; Robertz, Frank, Wenn Jugendliche morden. Forschungsstand, Erklärungsmodell und präventive Möglichkeiten. Hamburg: Rogun Verlag, 1999, S. 73 ff.; Robertz, Frank J., School Shootings. Über die Relevanz der Phantasie für die Begehung von Mehrfachtötungen durch Jugendliche. Frankfurt a. M.: Verlag für Polizeiwissenschaft, 2004, S. 196 ff.; Robertz, Frank J./Wickenhäuser, Ruben (Hrsg.), Der Riss in der Tafel. Amoklauf und schwere Gewalt in der Schule. Heidelberg: Springer Medizin, 2007, Kap. 4. Neue Medien; Hoffmann, Jens, „Tödliche Verzweiflung – der Weg zu zielgerichteter Gewalt an Schulen“, in: Hoffmann, Jens/Wondrak, Isabel (Hrsg.), Amok und zielgerichtete Gewalt an Schulen. Früherkennung, Risikomanagement, Kriseneinsatz, Nachbetreuung. Frankfurt a. M.: Verlag für Polizeiwissenschaft, 2007, S. 25-34; Robertz, Frank J./Wickenhäuser, Ruben (Hrsg.), Orte der Wirklichkeit. Über Gefahren in medialen Lebenswelten Jugendlicher. Killerspiele, Happy Slapping, Cyberbulling, Cyberstalking, Computerspielsucht … Medienkompetenz steigern. Heidelberg: Springer Medizin, 2010; Scheithauer/Bondü, Amoklauf, Kap. 5.5. An empirischen Untersuchungen vgl. Kunczik, Michael, Gewalt – Medien – Sucht: Computerspiele. Berlin: LitVerlag, 2013, u. a. Kap. 4.3. Habitualisierungs- und Desensibilisierungsthese, Kap. 4.4. Die Kultivierungsthese, sowie Lukesch, Helmut/Bauer, Christoph/Eisenhauer, Rüdiger/Schneider, Iris, Das Weltbild des Fernsehens. Eine Untersuchung der Sendungsangebote öffentlich-rechtlicher und privater Sender in Deutschland. 2 Bde. Regensburg: Roderer, 2004; Lukesch, Helmut/Kischkel, Karl-Heinz/Amann, Anne/Birne, Sieglinde/Hirte, Mechthild/Kern, Rainer/ Moosburger, Renate/Müller, Luise/Schubert, Bärbel/Schuller, Hans, Jugendmedienstudie. Verbreitung, Nutzung und ausgewählte Wirkungen von Massenmedien bei Kindern und Jugendlichen. Regensburg: Roderer, 1989; Lukesch, Helmut, Medien und ihre Wirkungen. Eine Einführung. Sammelwerk Medienzeit. Donauwörth – Leipzig – Dortmund: Auer, 1997; Lukesch, Helmut, Video im Alltag der Jugend. Quantitative und qualitative Aspekte des Videokonsums, des Videospielens und der Nutzung anderer Medien bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Regensburg: Roderer, 1989. Kritisch-nachfragend äußert sich Adler in „Amok“, S. 57 ff.
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eines Schülers, die aus Familie, Schulweg und Schule besteht, nach dem Ablaufplan eines School Shootings. Ein solcher Ablaufplan entspricht strukturell dem kulturellen Skript, worunter psychologisch die mentale Repräsentation eines zeitlich geordneten Handlungsgefüges verstanden wird, welche Informationen über stereotype Handlungssequenzen, SchemaWissen, Rollenerwartungen und Zielsetzung bereithält.28
28 Die Idee des kulturellen Skripts entstand in Anwandlung des Skript-Konzepts von Roger C. Schank und Robert Abelson (Scripts, Plans, Goals and Understanding: Inquiry into Human Knowledge Structures. Hillsdale: Erlbaum, 1977). Robert Brumme stellt in seiner Studie zu Schulmassakern das kulturelle Skript mit Verweis auf die Forschung („,School Shooting‘-Skript“) in Zusammenhang mit „kollektiven Wissensbeständen“, mit denen das Individuum versorgt sei und das „Handlungsoption[en]“ liefere (School Shootings. Soziologische Analysen. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 2011, S. 69). Eisenberg spricht von „Verhaltensschablone“ (… damit mich kein Mensch mehr vergisst!, S. 37 f.). Zum Zusammenhang von Skript-Theorie und Lerntheorien vgl. Kunczik, Gewalt, S. 56. − Zu wissenschaftlichen Versuchen, Ablaufmuster und Phaseneinteilungen von School Shootings zu erstellen, vgl. z. B. Scheithauer/ Bondü, Amoklauf, S. 71 ff.; zu Vorphasen z. B. Bannenberg, Amok, S. 135 f. Das Beschaffen von Waffen ist ebenso zentrales Element der Vorbereitung von Mehrfachtötungen (vgl. Mogge-Stubbe, Birgitta, „Interview mit Christian Pfeiffer – Brutale Kids?“, in: Mogge-Stubbe, Gewalt macht keine Schule, S. 19-24, S. 23 f.; Bannenberg, Amok, S. 85 ff., S. 142 ff.; Robertz/Wickenhäuser, Riss, S. 34) und einer der im Kontext auch von Waffenfanatismus in den Massenmedien am meisten diskutierten Punkte wie ein unausgesprochener Konflikt mit den Eltern, v. a. Entwicklungen hin zu Vermeidung von Kommunikation. Denn an sozialen und psychischen Hintergründen wird als typisch auch das Gefühl, abgelehnt
zu
werden,
genannt,
die
„subjektive
gefühlte
Isolation“
(Robertz/Wickenhäuser, Riss, 2007, S. 33). Zum Rückzug vgl. auch Eisenberg, Götz, Amok – Kinder der Kälte. Über die Wurzeln von Wut und Hass. Reinbek b. H.: Rowohlt, 2000; Eisenberg, … damit mich kein Mensch mehr vergisst!, S. 22 f.; Newman/Fox/Harding/Mehta/Roth, Rampage; Scheithauer/Bondü, Amoklauf, S. 48 ff.; Bannenberg, Amok, S. 74 ff., zum Zusammenhang von Mobbing und Isolierung darin z. B. auch S. 124, sowie den Beitrag von L. Adler in diesem Band.
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Die durchdachte Konzeption, zu der konkrete Einzelhandlungen wie die Herstellung und Beschaffung von Waffen, der Konflikt mit den Eltern, ein bestimmtes Rollenverhalten und das Gewinnziel gehören, trägt zum Erfolg des Spielers bei, der sich u. a. im bodycount bemisst, der Zahl der Getöteten. Meyers Kurzgeschichte hat zwei Ebenen, die Ebene des Spiels und die Ebene der Lebensrealität des Spielers, die teilweise miteinander verwoben werden. Der Ich-Erzähler namens Meyer berichtet, dass auch er, ähnlich wie Robert Steinhäuser in Erfurt, Demütigungen in der Schule ertragen musste, von Mädchen abgewiesen und von Schulkameraden gehänselt wurde. Seine Mutter versteht ihn nicht, von einem Vater ist nicht die Rede. German Amok greift implizit und explizit das Columbine-Massaker auf, den „Punkt der Verdichtung, an dem Amokläufe an Schulen endgültig zu einer bewusst vorgeführten Verhaltensform gerinnen“29, und erweist sich geradezu als Fundgrube für Amok-Stereotypen und rhetorische Versatzstücke des gängigen populären und wissenschaftlichen Schulmassaker-Skripts: sich selbst überlassener Einzeltäter, der sozial isoliert und verschroben ist („Eigenbrötler“30), eine erhöhte Kränkbarkeit aufweist,31 in dessen Haushalt sich ein Waffenschrank befindet und der in unbefriedigender Verbindung mit den Eltern steht. Es fällt auch der Begriff des Schützenvereins, eine deutsche Komponente,32 die als neuere Prototypen fungierenden Eric Harris und Dylan Klebold sind erwähnt,33 der Ort Winnenden wird genannt,34 Computerfanatismus wird suggeriert – um nur einige zu nennen. Die Ebene der einzelnen Spielschritte und die der privaten Enthüllungen des offensichtlich jugendlichen und männlichen Spielers durchkreuzen sich, ohne sich zu mischen. So kann er über sich selbst erschrocken sein
29 Grzeszyk, André, Unreine Bilder. Zur medialen (Selbst-)Inszenierung von School Shootern. Bielefeld: transcript, 2012, S. 403. 30 Meyer, Clemens, „German Amok“, in: ders., Gewalten. Ein Tagebuch. Frankfurt a. M., Fischer: 2010, S. 59-71, hier S. 66. 31 Vgl. Hoffmann, „Tödliche Verzweiflung“, S. 28. 32 Vgl. Meyer, „German Amok“, S. 62; vgl. hierzu z. B. Bannenberg, Amok, S. 142. 33 Für die deutsche Perspektive ist hier stets der Zusammenhang von Tattag und dem Geburtstag von Adolf Hitler bedeutsam, vgl. z. B. Eisenberg, … damit mich kein Mensch mehr vergisst, S. 29, S. 35 ff. 34 Vgl. Meyer, „German Amok“, S. 60.
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und die Leserschaft mit ihm. Die Innenperspektive, die Deckung von erzählendem und erlebendem Ich sowie die Deckung von Erzählzeit und erzählter Zeit sollen die Leserinnen und Leser unmittelbar an dem teilnehmen lassen, was das Ich erlebt. Fiktion erlaubt hier, gefahrlos ein gewalttätiges Computerspiel zu spielen, sich im abgesicherten Modus in einer Phantasiewelt zu bewegen, die den „gesamten inneren Horizont“ eines Menschen ausfüllt und „ihn ganz“35 beherrscht. Zur Unterstützung setzt Clemens Meyer viel wörtliche Rede, Verben des Nachdenkens und emotionaler Bewegungen ein: „wundere mich“36, „das erinnert mich an irgendwas“37, „bin ein bisschen erschrocken“38, „Manchmal denke ich“39. Auch spricht der Protagonist mit sich selbst: „Du musst auch aufpassen, dass dein Ag[g]ressionsbarometer nicht zu sehr absinkt, sonst nämlich GAME OVER“40, fingiert eine Sprache ähnlich der von Selbstgesprächen. Die elliptische Grammatik soll einen Effekt der Realitätsnähe erzeugen. Denken findet nicht in grammatikalisch perfekten und vollständigen Sätzen, sondern mit Auslassungen, Fehlstellungen und anderen Mitteln statt, welche auch als Kennzeichen von Alltagssprache gelten. Dieses Denk- bzw. Sprechverhalten imitiert der Text: „Obwohl, ich hab das schon gemacht“41. Sehr häufig fehlt – literarästhetisch klug – das Personalpronomen „ich“: „Hab ja gelernt aus meinen Fehlern.“42 Meyer ist am Puls neuerer grammatikalischer Entwicklungen der Umgangssprache. Der Leser wird automatisch Sätze und Syntagmen vervollständigen und damit in die Position der Figur, in die Rolle des ego-shootenden Jugendlichen geraten, bis es soweit ist, dass er selbst Pronomina, vor allem ich, und Verben ergänzt: „Und dann ab durch die Gänge, bei jedem Schritt scheine ich zu wachsen, in die Breite und Höhe. Die Kanone im Anschlag. Tunnelblick.“43 Durch die Möglichkeit, in der Phantasie selbst grausam zu handeln, mit der
35 Eisenberg, … damit mich kein Mensch mehr vergisst, S. 40. 36 Meyer, „German Amok“, S. 59. 37 Ebd. 38 Ebd. 39 Ebd., S. 66. 40 Ebd., S. 65. 41 Ebd. 42 Ebd., S. 70. 43 Ebd.
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eine emotionale Erschütterung aufgrund der Überwindung der Tötungshemmung einhergeht,44 die der Text aufbereitet, steht German Amok durch die Ausgestaltung der Parameter „Erzählinstanz“, „Zeit“, „Raum“ und „Personen“ zeittypisch vor allem im Dienst der von Heiko Christians genannten Empathie. Morton Rhue gestaltet Ich knall euch ab! als Dokument. Es handelt sich folglich um ein Pseudo-Dokument. Autor und Verlag geben keinen Hinweis darauf, dass es sich um einen Roman handelt. Indirekt geben nur die Reihe und die jugendorientierte Aufmachung eine Auskunft, die Käufer und Leser interpretieren müssen. Der Text gibt sich dabei nicht nur dokumentarisch, sondern partiell auch wissenschaftlich (Gehirn-Beschreibung; „Ein Arzt hat das mir gegenüber als ‚Erdbeben im Kopf‘ bezeichnet“45). Dies ist Teil einer (auch verlegerisch zu verantwortenden) Dramaturgie, die den Eindruck einer Irreführung erweckt und bei unzureichender Lesekompetenz zu Fehlinterpretationen führt. Für junge Leserinnen und Leser, an die das Buch sich richtet, ist wegen der Verschleierungsstrategie nicht klar erkennbar, dass die Schilderungen und der Geschehenskern völlig fiktiv sind. Da das Nachwort sozialwissenschaftliche Fragen, nicht die literarästhetische Gestalt thematisiert, ist ohne literaturanalytische Kenntnis nicht zu wissen, dass die Stilmittel traditionelle Stilmittel der Abenteuer-, Kriminal- oder Thriller-Literatur und dass sämtliche Aussagen in Briefen, Sachtexten, E-Mails usw. ästhetisch stark reduktiv und in der Sache simplifizierend konstruiert sind. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die Herausgeberin eine Erfindung ist, lediglich die Doppelung von Autorname Rhue und Herausgeberin-Name Shipley irritiert, der unter dem Vorwort steht (das damit für Kenner als fiktiv gekennzeichnet ist, nicht aber für jede/n). Ein Inhaltsverzeichnis fehlt, obwohl eine Kapiteleinteilung vorliegt – auch dies ein Teil der Verschleierungstechnik. Ich knall euch ab! entstand in Reaktion auf den seither zur narrativen Ikone gewordenen Fall des Amoklaufs von Eric Harris und Dylan Klebold am Geburtstag von Adolf Hitler, 20.4., an der Columbine-Highschool 1999. Ich knall euch ab! handelt von zwei Jugendlichen, Gary Searle und
44 Zur Reduktion der Tötungshemmung vgl. Robertz/Wickenhäuser, Riss, S. 76 ff., bes. S. 79. 45 Vgl. Rhue, Morton, Ich knall euch ab!. Ravensburg: Ravensburger Verlag, 2002, S. 11.
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Brendan Lawlor, die in der 6. Klasse neu an eine Highschool in den USA kommen. Da sie nicht zu den tonangebenden sportlichen Schülern gehören, werden sie schlecht behandelt, schließlich massiv gemobbt, sowohl von Mitschülern wie von Lehrern. Sie rutschen in eigene Welten ab, für die Computerspiele und -technik eine erhebliche Rolle spielen, und entwickeln aus Rache an ihrer Umwelt Tötungsabsichten. Anlässlich des Abschlussballs planen sie das School Shooting, während dessen sie einen Mitschüler und einen Lehrer anschießen. Am Ende begeht Gary Selbstmord. Brendan wird überwältigt und von den Schul-„Kameraden“ verprügelt, bis er ins Koma fällt. Dieser Plot, speziell die Vorphase des Amoklaufs, bleibt indes über weite Strecken unklar, da z. B. immer wieder Teile der Abschiedsbriefe eingefügt werden, die die Chronologie durchbrechen. Der Handlungshöhepunkt wird sehr spät und eher verborgen geliefert. Britta Bannenberg hat festgehalten, dass die Mehrfachtötungen „fast immer lange geplant“46 seien, aber Spontaneität und Raserei als feste Kennzeichen angesehen werden. Ich knall euch ab! verbindet in diesem Sinn den Weg zur Tat und die Plötzlichkeit in einer Weise, die den westlichen Amok-Topos bestätigt: den der Unberechenbarkeit von Tat und Täter. Das Geschehen wird in extrem kurzen Textpartikeln präsentiert, welche zu großen Teilen mündliche Sprache, Jugendsprache bzw. Alltagssprache imitieren, eine Wahl, die eine Nähebeziehung zwischen Lesern und Aussageinstanzen herstellen soll. Diese Nähebeziehung wird durch die Integration der bruchstückhaft gebotenen Abschiedsgedanken verstärkt, mit denen die Handlung nach der genannten Mahnung einsetzt. Der Rest des Spannungsbogens wird am Ende der Handlung wieder aufgegriffen, als Garys Brief an seine Mutter zum zweiten Mal erscheint, diesmal nicht nur als Auszug des Anfangs, sondern in Gänze.47 Die Ich-Perspektive der Anfangszeilen des Briefs und die damit verknüpfte Erwartungshaltung der Leser, in Briefen spräche die Seele oder ein eigentliches Ich des Subjekts, stehen im Zeichen der Einfühlungsästhetik. Ziel ist, eine Identifikation mit den Gefühlen und Gedanken des Täters zu erreichen, der seiner Mutter schreibt,
46 Bannenberg, Britta, „Amok“, in: Christ, Michaela/Gudehus, Christian (Hrsg.), Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart – Weimar: Metzler, 2013, S. 99-204, S. 99. 47 Rhue, Ich knall euch ab!, S. 105.
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sie habe „immer versucht“, ihr „Bestes zu geben“48, und dieser Brief solle dafür als Beweis dienen. Das Pathos, mit dem der vermeintlich fatale Gang der Dinge eingeläutet wird, durchzieht das Buch. Wie wenig stichhaltig die Logik im Abschiedsbrief ist, kann unter Anspannung stehenden Lesern leicht entgehen. Ich knall euch ab! präsentiert die Handlung in Form der literarischen Montage. Über Texte von Personen, die dem Amokschützen nahe stehen, d. h. Schüler, Freunde, Lehrer, Direktor, Mutter und Nachbarn, wird multiperspektivisch, in allerdings wenig voneinander unterscheidbaren Stilebenen, die Sicht auf den Täter und die Umstände geboten. Sie sind vorgeblich zusammengestellt von der Stiefschwester, mittlerweile Journalistin, die als Herausgeberfigur fungiert und deren erste Einlassung im Übrigen auch mit einer Drohung endet.49 Als Gattung findet die Montage ihren Platz in der aktuellen Konjunktur von Textsorten, die die eigentlichen Sprecher oder Sprecherinnen bzw. die Erzähler- als Vermittlerfigur kaschieren, darunter Interview- und Zeugentexte. Die Gattungsentscheidung ist als solche nicht zu verurteilen. Sie ist im Gegenteil hervorragend geeignet, Widersprüchliches und schwer Greifbares vielschichtig zu vermitteln. Rhue nutzt diese Prämissen jedoch nicht, sondern arbeitet mit der Suggestionskraft von Pathos und Vereinfachung, welche von Lesern nicht gut eingeschätzt werden können, die zwischen real fiction und Dokument nicht zu unterscheiden wissen, da Formate simulierter Realität z. B. im Fernsehen ebenfalls mit Pathos und Sentimentalität operieren. Die Ästhetik zielt auf Überwältigung, eine typische Filmstrategie. Auf die Gattung Film bzw. Videoformate geht die Einteilung in kurze Abschnitte sicherlich auch zurück. Es gibt viele Sprünge, Informationen werden vorenthalten, Zusammenhänge bleiben undurchsichtig, es wird mit Ängstigung durch subtile Drohungen gearbeitet
48 Ebd., S. 10: „Liebe Mom,// Wenn du das liest, bin ich nicht mehr. Ich möchte nur, dass du weißt, dass auch du mich nicht davon hättest abhalten können. Ich weiß, du hast immer versucht, mir dein Bestes zu geben, und falls jemand wirklich daran zweifelt, zeig ihm diesen Brief. // Ich weiß nicht, ob ich wirklich erklären kann, warum ich das getan habe. Vielleicht, weil ich weiß, dass ich niemals glücklich sein werde. Ich weiß, dass jeder Tag meines Lebens mir wehtun würde und dass ich mich niemals richtig wohlfühlen werde. Es hat nur damit zu tun, dass das Leben für mich keinen Sinn mehr hat.“ 49 Vgl. ebd., S. 13.
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(z. B. der Niedergang der Gesellschaft behauptet, reißerisch ein offener Schluss präsentiert) und so ein permanenter Erregungszustand der Rezipienten erzeugt. Da die Collage die Entfaltung längerer Gedankengänge, nuancierter Argumentationen und die Ausbreitung der schwierigen Sachverhalte nahezu ausschließt, ist ein gedankliches Durchleben und Erkennen der Komplexität der Problematik in Ich knall euch ab! kaum möglich. Vielmehr besteht die Gefahr, dass die Leser nach dem Erschrecken auf der Stufe der Einschüchterung und eines diffusen Nachdenkens mit dem Gefühl der Passivität stehenbleiben, in die sie die ästhetische Machart manövriert, wo nicht „Allmachtsphantasien“ verstärkt werden. Dass das Buch als Gesprächsanlass in der Schule gute Dienste tut,50 tröstet über die Defizite ein wenig hinweg. Die erzählerische Begrenzung auf die Erfassung von Bewusstseinsprozessen, die konstante Innenperspektive auch bei Personenwechsel, das dadurch hohe Maß an Distanzlosigkeit, das Überwiegen von Darstellungen oder Anspielungen auf die Wahrnehmung von Personen, die Herstellung direkter Verbindungen zu Eigenschaften und Eigenheiten, wenn es um Figuren geht, sind die Basis einer psychologisierten Narration, die Verständnis für die Schwierigkeit zwischenmenschlicher Beziehungen heischt, ohne die Einseitigkeit der dargestellten Wahrnehmungs- und Bewusstseinsprozesse zu problematisieren.
3. ÄSTHETISCHE E FFEKTE : S CHOCK , S CHAUDER , S PANNUNG , ALLTAGSNÄHE Alle vier Autoren setzen die typischen Stilmittel der Gewaltdarstellung ein, vor allem das des Schocks – Niemann am wenigsten, Carrère in länger angelegten Bögen, Meyer mit Schnelleffekten, Rhue an oberster Stelle. Der literarische Schock transponiert die Erschütterung angesichts von Ereignissen, die das gewöhnliche emotionale Fassungsvermögen überschreiten. Der Schauder stellt dabei eine ambivalente Verbindung zwischen Leser-Ich und fremdem Ich her. Der Mehraufwand an imaginativer, geistiger Tätigkeit,
50 Vgl. Mogge-Stubbe, „,Ich knall euch ab!‘“, 2002.
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den die Spannungstechniken vom Leser verlangen, ist lustvoll.51 Er trägt zur Steigerung auch der psychologisch-investigativen „Pfadfinderlust“ bei, auf die vor allem L’Adversaire reagiert, und macht die Leser zu Komplizen. Es ist nicht nur der Schauder, der die Außenstehenden, wie Götz Eisenberg zur Medienpräsentation von Amok-Fällen meint, zusammenschmiedet, uns „kurzfristig ein panikinduziertes Gefühl der Zusammengehörigkeit beschert“52, sondern im Gegenteil nah an den Amoklauf heranführen. Eine weitere ästhetische Technik ist die Herstellung sprachlicher Nähe zwischen fiktiven Figuren und Lesern durch den Alltags- und Umgangsjargon. Jean-Claude Romands Freunde und Romand selbst werden indirekt über einen Sprachgebrauch charakterisiert, der sehr große Nähe zum französischen Durchschnittsbürger herstellt und eine echte Identifikationsvorlage ist. Norbert Niemann nutzt in Schule der Gewalt dasselbe Stilmittel, insofern Frank Beck in einer Mischung aus mündlichem Stil und einem für seine Altersgruppe der End-Dreißiger typischen, sehr lockeren Jargon schreibt.53 Ich knall euch ab! stellt als Titel eine Bedrohung aller dar, die diesen Satz lesen. Die erste Seite der deutschen Ausgabe vertieft unter der Oberfläche von Sorge und Warnung die Bewegung der Bedrohung, indem sie sie als gesamtgesellschaftliches Phänomen darstellt. Die graphische Zentrierung um eine optische Mitte nimmt das Muster von Grabbeschriftungen auf. Die Anapher Für, die abschnittweise Verlängerung der Sätze und Absätze, die Tautologie „unschuldiges Kind“, die Einfügung des bezuglosen „einmal mehr“, der Superlativ „auf das Erschreckendste“ erzielen die Verengung des Fokus von allgemeiner Jugendgewalt über viele Opfer auf ein individuelles Opfer hin und weiten sich dann zur Auffassung, dass (in den USA, was nicht gesagt bzw. vorausgesetzt wird) „Gebrauch“ und „Verfügbarkeit von Schusswaffen […] außer Kontrolle“ seien, eine Lösung also nicht möglich, d. h. das Problem größer als die Macht der vernünftigen Er-
51 Zu Spannungstechniken vgl. z. B. Junkerjürgen, Ralf, Spannung – Narrative Verfahrensweisen der Leseraktivierung. Eine Studie am Beispiel von Jules Verne. Frankfurt a. M.: Lang, 2002, S. 61-74. 52 Eisenberg, … damit mich kein Mensch mehr vergisst!, S. 40. 53 Schockeffekte treten in Schule der Gewalt weniger auf der formal-sprachlichen Ebene als in ausführlich geschilderten sexuellen Handlungen – und Gewalthandlungen – auf.
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wachsenen ist, die das Land bewohnen und dafür mit anderen verantwortlich sind: Für ein Ende der Jugendgewalt. Für alle jungen Menschen, die jemals durch eine Schusswaffe getötet oder verletzt worden sind. Für Kayla Rolland, sechs Jahre alt, die am 29. Februar 2000 während des Unterrichts im ersten Schuljahr von einem sechsjährigen Klassenkameraden erschossen wurde. Der Tod dieses unschuldigen Kindes zeigt einmal mehr, dass wir in einem Land leben, in dem der Gebrauch und die Verfügbarkeit von Schusswaffen auf das Erschreckendste außer Kontrolle geraten sind.54
Ich knall euch ab! schürt Angstgefühle. Dies ist nicht das Buch, das zum Nachdenken anregt, wenn man nicht zur Nachdenklichkeit neigt. Jugendliche, deren altersangemessene Haltung der Empörung gegenüber Gesellschaft und Autoritäten sich in Verbindung mit anderen individuellen und sozialen Faktoren zu stärkeren Aggressionen entwickelt hat, v. a. solche, die sich ohnehin mit Wut- oder Rachegedanken tragen, und seien sie diffus, können vieles bestätigt finden. Technisch wird dies durch die Übertragung der kinematographischen Überwältigungsästhetik ins Narrative möglich. Die Leserinnen und Leser werden hierfür auf einem Umweg, über die Position eines betroffenen Schülers und einer Lehrerin, Dustin und Beth Bender, in die Lage der Zuschauerin bzw. des Zuschauers versetzt, so dass die Rezeption aus der Sicht und mit den Gefühlen des zeitweiligen Opfers geschieht: Sie rannten schreiend herum und feuerten an die Decke. Überall zischten Kugeln durch die Luft. Glas klirrte. Es war das totale Chaos. Sie sagten, wir sollten uns auf den Bauch legen und die Hände über den Kopf nehmen. […] Dustin Williams, Mitschüler55
54 Rhue, Ich knall euch ab!, [S. 5]. 55 Ebd., S. 99 f.
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Die hatten das perfekt geplant. Wie sie schießend und schreiend da reingerannt sind. Wie sie als Erstes ein paar Football-Spieler und Lehrer gefesselt haben. Wie sie ihnen die Walkie-Talkies abgenommen haben, und wie sie ein paar Leute getreten und verletzt haben. […] Wir waren ungefähr sechzig und die zwei waren ganz allein. Beth Bender, Lehrerin56
Die Opfer bestätigen das Gelingen der Show – der mise en scène, wie es in Le Monde 2002 zum Handlungsverlauf in Erfurt hieß –,57 das Maß der Übermacht, zahlen- und effektmäßig. Der Täterwille, einmal beachtet und für Außergewöhnliches bewundert zu werden, einmal absolut alles, nicht nur sich selbst unter Kontrolle zu haben, ist realisiert. Ähnlich wie die Zahl von Showdowns in Filmen dramaturgisch und zeitlich begrenzt ist, muss der Amok-Täter mit der Begrenzung der Tat leben, die nur singulär sein kann, dies aber im doppelten Sinne. Ausgeglichen wird die Einmaligkeit durch das Ausmaß der materiellen, körperlichen und seelischen Zerstörung. Dabei spiegelt die pseudojournalistische Eingangspassage des Vorworts ein aktuelles Menschenbild: Gary Searle starb am Freitag, dem 27. Februar, gegen 10 Uhr abends [...]. Nachdem die Kugel ihm die linke Schädelhälfte zerschmettert und ihm das Gehirn zerfetzt hatte, lebte er noch etwa zehn bis fünfzehn Sekunden. Das Gehirn ist ein sehr empfindliches Organ, das in einer flüssigen Umgebung schwimmt. Eine Kugel vernichtet das Hirngewebe, durch das sie hindurchfährt, und die durch den Aufschlag ausgelösten Schockwellen zerstören das gesamte Organ, indem sie Millionen höchst zerbrechlicher Strukturen und Verbindungen mit einem Schlag auseinander reißen. In den Sekunden danach füllt sich das Gehirn mit Blut und anderen Flüssigkeiten. Die Teile des Gehirns, die Atmung und Herztätigkeit steuern, werden lahm gelegt. Ein Arzt hat das [...] als Erdbeben im Kopf bezeichnet.58
56 Ebd., S. 103. 57 Georges, Marion, „Un lycéen allemand“, in: Le Monde, 28.4.2002. 58 Rhue, Ich knall euch ab!, [S. 11].
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Nicht der Tod eines Menschen wird beschrieben, sondern der Tod eines Organs. Das Gehirn als Kern des Menschen zu fokussieren, entspricht einem derzeitigen Höhenflug der Tätigkeit und öffentlichen Wahrnehmung der Hirnforschung. In einer Zeit, in der innovative technische Untersuchungsmöglichkeiten täglich neue neurologische Erkenntnisse hervorbringen, Informationen hierzu schnell bekannt und popularisiert werden, ist der narrative Ansatzpunkt geschickt gewählt. Heutigen Denkweisen entsprechend wird das Gehirn nur materiell gesehen, ist nicht Sitz höherer Fähigkeiten. Zugleich wird ihm viel Aufmerksamkeit geschenkt: Wenn auch nicht (mehr) „Glanzstück in Gottes Schöpfung“59, steht es doch im Zentrum der Aufmerksamkeit. Die medizinischen Angaben erscheinen oberflächlich antipathetisch, das Antipathos ist jedoch Teil der pathetischen Gesamtwirkung. Dass nicht der Tod eines Menschen betrauert, sondern die physische Zerstörung detailliert beschrieben wird, provoziert gerade durch die Distanz, durch die Kühle. Nicht in Worte gefasst ist, dass ein Mensch als Gesamtheit tot ist. Natürlich ist der Mensch tot, wenn das Hirn in der Weise zerstört ist, wie der Text berichtet, aber dieser Denkschritt wird dem Leser auferlegt. Eine Denkanregung dazu, wie Menschsein in Zeiten der Technokratisierung definiert wird, ist in diesem Beginn des Vorworts enthalten. Der Schock-Effekt ist hierfür auslösendes Moment. In German Amok werden ebenfalls die ästhetischen Mittel von Überrumpelung, Schauder, Spannung und Alltagssprache benutzt. Die Erzählung führt rasch zum Schockeffekt: Auf das normal vorgebrachte, inhaltlich schwer haltbare Verkaufsargument des Dealers „Speed, damit bist du in Mathe immer fit! [...]“60 folgt eine detaillierte Beschreibung, wie es ihn zerfetzt. Der Schock entsteht nicht einfach durch die Beschreibung, sondern vor allem durch den Kontrast zwischen abgeklärter Rede des Täters und grausiger Szene: [...] aber einen Sekundenbruchteil später reißt es ihn von den Beinen, der Typ fliegt regelrecht durch die Luft, ein feiner Blutnebel stäubt auf beim Einschlag der Schrotladung, das donnert ganz schön, ich lade wieder durch, die ausgeworfene Patrone
59 Knaup, Marcus, Leib und Seele oder mind and brain? Zu einem Paradigmenwechsel im Menschenbild der Moderne. Freiburg i. Brsg. – München: Alber, 2013, S. 279. 60 Meyer, „German Amok“, S. 59.
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fällt aufs Pflaster, ich jage dem Typen noch eine rein, ein zweiter Donnerschlag, da die Drecksau sich noch rührt [...].61
Die Personen sind bis auf den Erzähler so schwach konturiert, dass ein Mitleidseffekt kaum eintreten kann, wenn der Täter auf sie zielt – eine Ausgleichsmaßnahme angesichts der hohen Gewaltintensität des Textes und eine Literarisierung der Regeln des gewaltorientierten Computerspiels. Menschen zählen nicht. Eine Szene ist allerdings auf den empathischen Schock hin geschrieben, da sie besonders die Qual des Opfers und den Sadismus des Täters veranschaulicht: […] sag mir noch einer, so was geht nur im Film, ein Bulle rennt brennend und schreiend an mir vorbei, und ich will ihm den Gnadenschuss geben, aber das Magazin ist leer, KLICK macht die Pumpgun, KLICK macht die Glock, und während ich noch zusehe, wie der Bulle sich brennend am Boden wälzt, [...].62
Die Spannungssteigerung durch Formalisierung des Inhalts in einem sehr langen Satz ist am Beispiel des Schock-Satzes deutlich geworden.63 Spannungssteigerung und, anders als bei Emmanuel Carrère, Spannungsbruch, gehören zu den sichtbar eingesetzten Stilmitteln in German Amok. Signum literarästhetischer Darstellung ist auch, dass durch Individualisierung der Schrecken am nachhaltigsten vermittelt wird. Das Leiden einer einzigen Person ist wirkungsvoller als das Leiden einer Gruppe, aus Sicht der Rezipienten. Eher moralische Schockeffekte erzielt Meyer beim gebildeten Leser durch den Einsatz von boshaften Bezeichnungen, etwa „Drecksäue“, „Schisser“, „Bullen“, „Arschloch“, „Schweine“, z. B. für Lehrer und den Direktor. Die Klimax gewalttätiger und pornographischer Handlungselemente wird allerdings zensiert: „da hat er den wirklich gezwungen, die dicke Sekretärin ...“ 64. Die Zensur-Wirkung ist doppelt: Die sittliche Bremse beweist die Dezenz des Ich-Erzählers, sie charakterisiert ihn als noch im Lot und zivilisatorischen Schamverhaltens bewusst. Sie schützt die Leser,
61 Ebd. 62 Ebd., S. 62. 63 Vgl. ebd., S. 59. 64 Ebd., S. 66.
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erlegt ihnen aber auch die Imagination der betreffenden Szenen auf. Der provozierte Voyeurismus kann den genretypischen Schaudermodus auslösen: Man will es wissen, aber so genau auch wieder nicht, man will es verstehen, geht dicht heran, weicht aber auch zurück. Solche Neugier- und Abwehrbewegungen sind kennzeichnend für die Beschäftigung mit Amok bzw. exzessiven Gewalttaten. Hervorzuheben ist schließlich die Adaption einer jugendlichen Umgangssprache. Wie in L’Adversaire und Schule der Gewalt soll diese Sprachverwendung die Figur „authentisch“ machen, um der Leserschaft zu erleichtern, sich in sie hineinzuversetzen. „Einfühlung“ bezweckt folglich überraschend auch die coole, sich distanziert und abgeklärt gebende Kurzerzählung. Ich knall euch ab! setzt stilistisch auf Schockeffekte und Dramatisierung, die dem aufklärerischen Ziel mindestens partiell entgegenstehen. Das demystifizierende Potential von Polyperspektivität hebt sich durch die Dramatisierungstechniken auf, die ästhetischen Maßnahmen, die zur Identifizierung mit den Tätern dienen und Schuldzuweisungen im Wesentlichen an die Gesellschaft richten, ergänzen die emotionale Ebene nicht. Gefährlicherweise werden die Täuschungstechniken bezüglich der Ambivalenz zwischen Dokument und Fiktion, das der Aufmerksamkeitsspanne von Internet-Usern angepasste Format der Collage aus Kleinstpartikeln und die damit verbundenen Lektürefallen in der didaktischen Forschungsliteratur nicht offen gelegt. Was das heißt, kann in diesem Rahmen nur angedeutet werden: Dass zum School Shooting auch eine selektive Wahrnehmung gehört,65 zählt nicht zum Erkenntnisziel der didaktischen Erläuterung von Christian Dawidowskis „,Ich knall euch ab!‘ – Narratologische Untersuchungen zum Themenkomplex Schule und Gewalt in ausgewählten Jugendromanen“ (2009). Darin heißt es zudem nicht nur, in Ich knall euch ab! verbinde Rhue „dokumentarische und prosaische Elemente“66, was die Frage nach der Besonderheit aufwirft, denn Dokumente können selbstverständ-
65 Vgl. Bannenberg, Amok, S. 103. 66 Dawidowski, Christian, „,Ich knall euch ab!‘ – Narratologische Untersuchungen zum Themenkomplex Schule und Gewalt in ausgewählten Jugendromanen“, in: Gansel, Carsten/Korte, Hermann (Hrsg.), Kinder- und Jugendliteratur und Narratologie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2009, S. 53-69, hier S. 60 („Diese Stimmen beziehen sich auf einen semi-dokumentarischen Vorfall an einer amerikanischen Highschool“).
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lich in Prosa verfasst sein und sind es zumeist. Auch erläutert Dawidowski, die Stimmen im Roman bezögen sich „auf einen semi-dokumentarischen Vorfall“67, was insofern falsch ist, als nur ein Text semi-dokumentarisch sein kann, nicht aber ein Vorfall. Insgesamt wird in dieser Deutung der Fiktionscharakter heruntergespielt, anders als in der Interpretation von MarieFelicitas Herforth, die die Fiktivität der Gesamterzählung hervorhebt und z. B. auch auf die Suggestion von Authentizität durch das Vorwort des Autors zur deutschen Ausgabe verweist.68 Die Wirkungsmacht des Textes wird von ihr zutreffend mit den Mitteln erklärt, die zur Identifikationsmöglichkeit führen (v. a. jugendlicher Sprachduktus, Innenperspektive, Unmittelbarkeit), retardierende Elemente zur Spannungssteigerung und die Ersetzung eines Erzählers durch die Collagetechnik.69 Das Fehlen einer interpretierenden Instanz hat in der Tat die Aktivierung des eigenen Sinnbildungsvermögens der Leser zur Folge. Deren Fallstricke wurden oben ausgeführt. Die Kombination aus Informationen zur Motivlage und Weltsicht aus der Innenperspektive der beiden Täter kann (verbunden mit der Überantwortung der Erkenntnisleistung an die Leser) die Verbindung von gefühlsmäßigem Nachvollzug und intellektueller Reflexion zur Konsequenz haben. Sie ist allerdings leicht ungleichgewichtig. Die plötzlichen Schockeffekte, die breite Darstellung von unbehaglichen Details im Vergleich zu sehr kurzen Darstellungen der Ursachen ist hierfür ein Faktor. Ein weiterer Faktor liegt in der Fokussierung auf der psychischen Verfassung der Täter. Da die Textteile zur Haltung und emotionalen Lage von Brendan Lawlor und Gary Searle inbegriffen deren verschobener Wahrnehmung und starker Ichbezogenheit sprachlich dramatischer gestaltet sind als andere, sie die Zentralfiguren sind, während die anderen Figuren durch die Textkonstruktion viel weniger Erzählraum erhalten – besonders ausgerechnet die Familienmitglieder –, da der Rahmen der Handlung in den Vorworten eine Perspektivierung vorgibt, die auf eine Entschuldigung der Täter hinausläuft, und Abschnitte aus Garys Abschiedsbrief so verteilt sind, dass die Seelenäußerungen v. a. dieses Täters momentweise entweder das
67 Ebd., S. 60. 68 Vgl. Herforth, Maria-Felicitas, Erläuterungen zu Morton Rhue Ich knall euch ab! (Give a Boy a Gun). (Königs Erläuterungen und Materialien, Bd. 429), Hollfeld: C. Bange Verlag, 32010 [2005], S. 36, S. 43. 69 Vgl. Ebd., S. 36-42.
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Gewissen oder das Empfinden eigener Defizienz der Leser ansprechen müssen, erhält eine Deutung am meisten Gewicht, die Innerlichkeit, Larmoyanz und Wehrlosigkeit akzentuiert. Auch der Abschiedsbrief des zweiten Täters, Brendan, zeugt von „emotional aufgewühlte[r] Innerlichkeit“70. Seine Aggressivität wird zusätzlich durch die Ich-Positionierung in verbale Aggression der Leser transformiert. Schwierig erscheint sowohl im Sinnangebot des Romans wie in den genannten Deutungen die implizite Legitimation der Gewalt als Rachegewalt. Für Ich knall euch ab! ist damit ein typisches Ziel von Amok-Diskussionen in Literatur, Medien und Soziologie symptomatisch, durch die Verschmelzung von Rezeptions-Ich und IchFigur vor allem Zivilisationskritik (Kritik an den Waffengesetzen, an einer „kalten“ Gesellschaft usw.) zu äußern.
4. D IE I NTEGRATION VON ARGUMENTEN DER AMOK -D ISKUSSION Alle drei Texte integrieren Elemente aktueller Diskurse zu Amoklauf bzw. erweitertem Suizid in der Familie und in Bezug auf Schulmassaker. Die Funktionalisierung der literarischen Integration ist jeweils anders. Emmanuel Carrère zeigt seinen Romanhelden als ernsten Menschen, der in einem Haushalt großgeworden ist, in welchem die Äußerung eigener Gefühle (nach retrospektiver Aussage des Straftäters und nach Aussage des Erzählers) nicht stattfand. L’Adversaire spiegelt damit insofern aktuelle Unsicherheiten in der Zuweisung von Verantwortung von Täterschaft, als der Protagonist auf der einen Seite als skrupelloser Betrüger, auf der anderen Seite als Opfer psychisch schwieriger Dispositionen und einer ungünstigen familiären Kommunikationssituation erscheint.71 Unterschwellig wird Romand auch, wie erwähnt, als Opfer der Erwartungshaltung der Eltern, des Freundeskreises und unausgesprochener Ansprüche und Statusforderungen der Gesellschaft skizziert.
70 Vgl. Ebd., S. 75. 71 Es herrscht eine Tradition des Schweigens und Verschweigens in der Familie, z. B. über abgebrochene Schwangerschaften der Mutter aus gesundheitlichen Gründen.
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Ob bewusst oder unbewusst, der Autor zeichnet, ja überzeichnet die Hauptfigur als tapsig, ungeschickt, kindlich. Er ist der „gutmütige[…] Eisbär[…]“72, den Studentinnen nicht attraktiv finden, den seine Frau, die erste und einzige Freundin, als solchen dann doch zu schätzen weiß. Das Einzelgängerische widerspricht der Handlung, denn isoliert ist er nur in seiner Doppelidentität, was jedoch literarisch nicht genutzt wird. Inwieweit psychologische Erklärungsmuster für Jean-Claude Romands Amoklauf ursächlich sind und inwieweit Carrère mit der Darstellung Jean-Claude Romands bestimmte Diskurselemente verstärkt, ist unentscheidbar. Das Argument der Schüchternheit, d. h. der problematischen Jugend und des guten Willens des verklemmten jungen Mannes, wirkt stark vereinseitigt. Der von Eisenberg thesenartig aufgeworfene Zusammenhang zwischen Aggressionshemmung und Aggression kommt nur indirekt zum Tragen. Es drängt sich der Eindruck auf, dass die Aggressionshemmung auch den Erzähler selbst betrifft. Die klinische Diagnose einer Mischung aus Narzissmus und Depression, die Romand aufgewiesen habe, wird verdrängt.73 Sie wird nicht in die Figurenpräsentation einbezogen und folglich nicht zugänglich gemacht. Diese Simplifizierungen und Ausblendungen werfen die Frage auf, was unter einem „dokumentarischen“ Roman gattungsmäßig zu verstehen ist, wenn wesentliche Faktoren zur Begründung und nicht nur oberflächlichen Erklärung der Gewalttat ausgelassen werden. Norbert Niemann wählt für Schule der Gewalt einen anderen Weg. Der Roman führt auf die Erkenntnis zu, dass jedes Individuum Täter wie Opfer werden kann. Der Lehrer wird am Ende lebendes Zeichen einer stets gewaltbereiten Gesellschaft. Gewalt ist in ihr nicht immer körperlich, körperliche Gewalt ist indes die äußerste Konsequenz. Die Gymnasiasten werden als Menschen präsentiert, die bereits aufgegeben sind, bevor ihr „Leben“ anfängt. Dass sie aggressiv sind, erscheint z. T. als Konsequenz der menschlich desinteressierten Konsum- und Erlebnisgesellschaft. Zu erkennen ist die Krise daran, dass die Lehrer miteinander schlecht umgehen: Erst sind es andere, über die Frank Beck sich lustig macht, etwa eine körperlich
72 Carrère, Amok, S. 55 (Carrère, L’Adversaire, S. 64: „[…] il tenait le rôle du polar pas très drôle, mais gentil.“). 73 Vgl. Toutenu, Denis, „Crime et narcissisme : A propos du passage à l’acte criminel“, in: Revue française de psychanalyse 67, 3 (2003), S. 983-1003. DOI: 10.3917/rfp.673.0983.
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kleine, verletzbare Musiklehrerin oder eine gewisse rabiate Frau Albright, über die er sich zusammen mit den Schülern mokiert. Schließlich wird er von den Kollegen auf den Verdacht der Pädophilie hin nicht mehr in Gespräche einbezogen, gemieden, verachtet. Aber Mobbing und subjektiv empfundene Zukunftslosigkeit werden nicht als einzige oder kardinale Ursachen für ein Entgleiten in manifeste Aggressionen präsentiert. Der Lehrer verzichtet von Beginn an auf autoritäres Verhalten. Am Ende treibt er die Passivität so weit, dass er zur leichten Zielscheibe seiner Kollegen und Kolleginnen wird, die Ablehnung der Gleichaltrigen und die Aggressivität der Schüler geradezu provoziert. An der Figur wird vorgeführt, wie man „Opfer“ werden kann. Der narrative Gang der Dinge macht Beck zu einem Erzeuger und Zeugen von Gewalt, der Protagonist wird zum Symbol: An ihm zeigt sich das Gewaltpotential und die Gewaltbereitschaft der Gesellschaft, zeigt sich, wie leicht und gerne Einzelne buchstäblich zu Prügelknaben werden, aber auch, welcher psychischen Prämissen es bedarf, dass es eine bestimmte Person trifft. Diese Erklärung geht über die expliziten Erklärungen im Text hinaus. Wörtlich hingegen wird infrage gestellt, wie allgemein in Modellen gedacht wird. Zu den Amokläufen schreibt Frank Beck: Zwar lassen sich, wie selbst du inzwischen zugeben wirst, noch immer Muster ausmachen, zwar legen die Leute, genau wie ich, immer noch Muster hinein in dieses Chaos, subjektive Muster, genau wie ich, die auf gespenstische Weise übereinstimmen, über die sie sich auf gespenstische Weise sogar miteinander verständigen können. Doch ihnen auf den Grund kommen zu wollen? Ein Witz. Sie haben keinen. – Denn, [...] was kann ich letztlich, nach all dem Aufwand, schon mehr und Genaueres und Triftigeres sagen darüber, warum zum Beispiel dieser dreizehnjährige Mitchell Johnson und sein elfjähriger Kumpel Andrew Golden sich eines Tages drei halbautomatische Gewehre, eine großkalibrige Jagdbüchse und neun weitere, kleinere Schußwaffen aus dem Großvaterkeller schnappen, in ihre Tarnanzüge steigen, sich in einem hundert Meter vor der Pforte ihrer Westside Middle School liegenden Wäldchen verbarrikadieren und, nachdem sie zuvor Feueralarm ausgelöst haben, ihre Mitschülerinnen wie aufgescheuchte Rebhühner abknallen? Kann ich es etwa besser verstehen? Bin ich auch nur eine Spur näher herangekommen an das, was sich da eigentlich abspielt in diesen Kinderköpfen?74
74 Niemann, Schule der Gewalt, S. 138 f.
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Der Roman steht im Grunde da, wo die meisten Leser stehen: mitten auf der Suche nach plausiblen Gründen. Statt Aufschluss liefert er die Innensicht des Amokschützen Mitchell in einer dem Haupterzählstrang gegengeschnittenen Passage: Wo doch eine einzige halbwegs konzentrierte Aktion reichte, daß alles nach Plan lief. Scheiße, ein falscher Feueralarm und schon liefen sie. Diese Lemminge. Sie kamen, und wir hatten alles im Griff. Andrew, sagte ich, siehst du, es ist genau, wie ich gesagt habe. [...] Ein geiler Hinterhalt diese paar Bäume direkt vor dem Tor wie extra für uns hingestellt. Fast identische Ausgangsposition wie im Trainingscamp letztes Jahr. [...] Bald, Baby, seid ihr ein Haufen aufgescheuchter Hühner. 75 Ich hatte zum Glück die Jagdbüchse mit, doch wo war das gottverdammte Miststück plötzlich hingeraten? [...] Fadenkreuz auf Pünktchenbluse, habe ich immer gehaßt, Pünktchenblusen, seh ich automatisch ne Schießscheibe drauf. Ich lud nach. Und die standen tatsächlich nicht mehr auf.76
Die ästhetischen Mittel sind in beiden Passagen auffällig gleich. Sie bestehen u. a. in der Elimination des Pronomens der ersten Person Singular, den sich verkürzenden Sätze und fehlenden Verben. Clemens Meyer hat dem Text German Amok das Datum 11. März hintangestellt, den Tag, als ein Amoklauf in Winnenden geschah. Ob der Tagebucheintrag in Form einer Kurzgeschichte an diesem Tag geschrieben wurde oder ob das Datum als Paratext Teil der künstlerischen Aussage ist, sei dahingestellt. Jedenfalls wird auf den Vorfall sowie die Vorkommnisse in Erfurt vielfach angespielt und gezeigt, dass einzelne Wörter (hier: Erfurt) genügen, unser Wissen über die Umstände zu mobilisieren. Der Spieler nennt seine Spielfigur bzw. Spielidentität im Ego-Shooter-Spiel „Robert“ nach dem Schüler, der in Erfurt an seine Schule zurückkehrte; von „Winnenden“ ist die Rede, weitere einschlägige amerikanische Personen- und Ortsnamen werden genannt. Zu finden sind des Weiteren eine Fülle der bekannten, oben z. T. bereits aufgeführten Diskurselemente des Schulmassakers: Männlichkeit, Versagen am Gymnasium, Abwertung durch Lehrer
75 Ebd., S. 243. 76 Ebd., S. 249.
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und Direktor, Schulprozess, begeistertes Computerspielen, DVDSammlung, darunter Filme von Luis Buñuel, Waffenkenntnis und -fanatismus, Waffenschrank des Vaters, Ablehnung durch gleichaltrige Jungen, Ablehnung durch Mädchen, verbale Abwertung anderer, Abschiedsbrief, Aggressionen („Ag[g]ressionsbarometer“77), langjährig aufgestaute Frustration, Identifikation mit der Spielfigur namens Robert,78 damit Distanzlosigkeit zum Computerspiel, was die Übernahme der dort erlernten Verhaltensweisen suggeriert. Der Text wird damit zur Parodie. Interessanterweise bricht darin die Ich-Perspektive die Plausibilität der Aussage, dass die subjektive Enttäuschung und die Ablehnung durch andere Ursachen der Aggressionen seien. Wenn der Ich-Erzähler in German Amok sagt, er sei von seiner Mutter nicht verstanden worden, dann kann das seine subjektive Wahrnehmung wiedergeben, muss es aber nicht. Wenn in L’Adversaire das Mutter-Sohn-Verhältnis des Täters als unglücklich dargestellt wird, gibt es darüber keinen Zweifel, denn der personale heterodiegetische Erzähler sichert die Aussage ab. Clemens Meyer zeichnet folglich in German Amok das vorläufige Ende eines Abstraktionsprozesses nach, der School Shootings in feste Vorstellungen und Sprachschablonen bannt. Mehr als deutlich wird, dass „Amok“ geradezu synonym für Mehrfachmorde an Schulen durch Schüler geworden ist. Die zahlreichen Anspielungen auf gängige Interpretationsansätze wirken als Provokation. Die Erzählung führt das Konglomerat der Debatten, ihre Unschärfe und Konkurrenz vor, v. a. die Darstellungen in den Medien, medizinische Diskussionen, psychologische und soziologische Erklärungsansätze. Das Identifikations- und Einfühlungsangebot hat daher nur für die Bestand, die die ironische Spiegelung nicht bemerken. Teil der Verfestigung medial präsentierter Vorstellungsmuster ist hingegen Morton Rhues Give a Boy a Gun. Nur kurz sei noch einmal auf die Funktion der Erzählsituation hingewiesen: Der (umgangssprachlichen) Diagnose der narzisstischen Störung79 wird durch die narrativen Techniken Vorschub geleistet. Die suggestive Darbietung der Innenperspektive der Protagonisten, die sich durchweg missverstanden fühlen, macht in ihrer
77 Meyer, „German Amok“, S. 65. 78 Ebd., S. 63. 79 Vgl. hierzu den Beitrag von L. Adler in diesem Band.
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Grobheit deren Rachegedanken nachvollziehbar und legitimiert sie zusätzlich durch Sentimentalität.
5. B EMERKUNGEN ZUM S CHLUSS Die Fiktion entspricht folglich in den Texten zu School Shootings der Erwartungshaltung: Im sicheren Raum der Kunst können Leserinnen und Leser in der Innenperspektive an meist fein konturierten Tätern mitvollziehen, wie sich Aggression anstaut und entlädt. Dem Wunsch, Gewalteruptionen von Einzelnen gegen viele, ja gegen eine numerische Übermacht von Menschen sowohl rational wie emotional zu verstehen, wird entsprochen. Die psychologische Ausgestaltung bedient v. a. den Anspruch auf Miterleben, während selbst für den leichter greifbaren Fall von Jean-Claude Romand einige Motive im Dunkeln bleiben. Die Wahl traditioneller Gattungen – Kriminalroman, Entwicklungsroman, Briefroman (auch von Carrère) – stützt das Anliegen. Im gewiss etwas heterogenen Korpus ist in Bezug auf die Integration aktueller Amok-Diskussionen eine chronologische Zunahme an Interdiskursivität zu konstatieren. In German Amok ist die Häufung von Diskurselementen sehr hoch, eine Spiegelung der kursierenden Skripte und Stereotype. Was allerdings erstaunt, ist, dass Emmanuel Carrère zu einer christlichen Argumentation greift und Nobert Niemann zu einem christlichen Modell. Der Titel L’Adversaire ist vieldeutig. „Adversaire“ bedeutet „Gegner“ und „Feind“, auch „Widersacher“, in der Großschreibung ist damit der Widersacher Gottes, ist „Satan“ gemeint. Im Text wird die Schlagzeile von Le Monde zitiert: On n’a pas tous les jours l’occasion de voir le visage du diable.80 Es wird außerdem suggeriert, dass nicht nur Jean-Claude Romand letztlich „Gegner“ seiner eigenen Familie gewesen sei und Gegner im übertragenen Sinne auch seiner selbst, sondern darüber hinaus, dass ein innerer
80 Carrère, L’Adversaire, S. 46; Carrère, Amok, S. 40. Dass die Gruppe auch nach der strafrechtlichen Verurteilung des Mörders weiterhin zusammenhält, wäre dem Selbstopfer von Romand zu verdanken gewesen, ist zu verstehen. Die Figuren sind entsetzt, als sie erfahren, dass er nicht tot ist. Wäre er tot, wären mit ihm alle Korruptionsgeschichten und der lebende Beweis, dass zwischen „besten Freunden“ Lebenswichtiges nicht zur Sprache kommen kann, aus der Welt.
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Widersacher ihn zu seinen schrecklichen Taten verleitet habe bzw. er selbst geradezu das Böse verkörpere.81 Als rationale Erklärung ist das etwas schwach. Dem Autor des Buches mag sie plausibler sein, der im Übrigen dieses Konzept von einer kommunistischen Figur im Roman kritisieren lässt, ohne sich selbst zum Dementi zu entschließen. Als Lösung im Kriminalroman ist die Idee außergewöhnlich, aufs Böse schlechthin zu verweisen, als Resultat von „Aufklärung“, die ein realistischer Kriminalroman ja verspricht, geradezu absurd. Der Protagonist in Schule der Gewalt kann als christlicher Platzhalter für die Irrungen der Gesellschaft gesehen werden. Er hält gewissermaßen seinen Körper hin, um seiner Umgebung ihre wahren Züge zu zeigen. Durch sein Auftreten entfalten sich die negativen, destruktiven Anlagen der anderen, wird latente zu manifester Gewalt. Die Haltung erinnert an die Konzeptkunst von Marina Abramovic, die in einer ihrer Performances an einem Tisch mit Gegenständen saß, darunter ein Messer, die die Besucher einer Vernissage an ihr ausprobieren konnten, was sie nach einer Weile auch taten. Literarhistorisch knüpft Niemann an Fjodor M. Dostojewskis Idiot an. Frank Beck stellt seinen Leib zur Verfügung, ohne aber auf eigene Aggression zu verzichten. Dass sein Protagonist im Prinzip „normaler“ Deutsch- und Geschichtslehrer ist, heißt auch: Gewalt und Verwundung kommen aus der Mitte und treffen die Mitte. Die „Einfühlungshypothese“ von Heiko Christians gilt, so lässt sich resümieren, in unterschiedlichen Facetten der Fiktion. Wenn nun viele Romane, Erzählungen und Filme im westlichen Kulturraum sich der Topoi und Diskurselemente des Amoks bedienen und diese damit affirmieren, dann fungieren sie als Hinweise für virulente Ängste. Nicht die Frequenz von Amoktaten leitet die Wahl, sondern die Auffassung, dass sich daran eine substantielle Schwachstelle der Gesellschaft erkennen ließe. Im Erzählstil des Realismus knüpft die Literatur am Beginn des 21. Jahrhunderts an die realistische, auch sozialkritische Tradition des 19. Jahrhunderts an, verstärkt jedoch den Aspekt der Subjektivität und der Unsicherheit der Weltwahrnehmung. Die einsamen Helden sind hierfür die Aufhänger. Bekannte
81 Vgl. zur Interpretation des Adversaire Rabaté, Etienne, „Lecture de L’Adversaire d’Emmanuel Carrère : le réel en mal de fiction“, in: Maiorano, Matteo (Hrsg.): Le goût du roman. La prose française, lire le présent. Bari: B.A. Graphis, 2002, S. 120-133.
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kulturelle Skripte werden mit den emotionalen Erwartungen des Lesepublikums zusammengeführt, Befunde der medizinischen, psychologischen bzw. psychiatrischen Forschung werden dabei eher vernachlässigt. Der Akzent liegt vielmehr auf der Sorge der Verletzung vermeintlicher Schutzräume – Familie und Schule. Die Unterhaltungsfunktion des Gewaltthemas wird in L’Adversaire bzw. Amok, „German Amok“, Schule der Gewalt und Give a Boy a Gun bzw. Ich knall euch ab! mit zivilisationskritischen Elementen verknüpft, die sich auf die konkreten Lebensbedingungen unserer Zeit beziehen.
L ITERATURVERZEICHNIS Adler, Lothar, Amok. Eine Studie. München: Belleville, 2000. Adler, Lothar, „Amok im Spektrum homizidal-suizidaler Handlungen“, in: Wolfersdorf, Manfred/Wedler, Hans (Hrsg.), Terroristen-Suizide und Amok. Regensburg: Roderer, 2002, S. 71-85. Adler, Lothar, „Amok“, in: Wolfersdorf, Manfred/Bronisch, Thomas/Wedler, Hans (Hrsg.), Suizidalität. Verstehen. Vorbeugen. Behandeln. Regensburg: Roderer, 2008, S. 51-62. Bandau, Anja/Buschmann, Albrecht/von Treskow, Isabella, „Literaturen des Bürgerkriegs – Überlegungen zu ihren soziohistorischen und ästhetischen Konfigurationen“, in: dies. (Hrsg.), Literaturen des Bürgerkriegs. Berlin: Trafo Verlag, 2008, S. 7-18. Bannenberg, Britta, Amok. Ursachen erkennen – Warnsignale verstehen – Katastrophen verhindern. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2010. Bannenberg, Britta, „Amok“, in: Christ, Michaela/Gudehus, Christian (Hrsg.), Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart – Weimar: Metzler, 2013, S. 99-204. Baude, Jeanne-Marie, „La conversion indicible dans la production littéraire de la fin du vingtième siècle“, in: Brucker, Nicolas (Hrsg.), La conversion. Expérience spirituelle, expression littéraire. Bern: Peter Lang, 2005, S. 371-386. Brumme, Robert, School Shootings. Soziologische Analysen. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 2011. Carrère, Emmanuel, L’Adversaire. Paris: Pol, 2000. Carrère, Emmanuel, Amok. Frankfurt a. M.: Fischer, 2011.
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Langmann, Peter, Amok im Kopf. Warum Schüler töten. Weinheim: Beltz, 2009. Lukesch, Helmut/Kischkel, Karl-Heinz/Amann, Anne/Birne, Sieglinde/ Hirte, Mechthild/Kern, Rainer/Moosburger, Renate/Müller, Luise/ Schubert, Bärbel/Schuller, Hans, Jugendmedienstudie. Verbreitung, Nutzung und ausgewählte Wirkungen von Massenmedien bei Kindern und Jugendlichen. Regensburg: Roderer, 1989. Lukesch, Helmut, Medien und ihre Wirkungen. Eine Einführung. Sammelwerk Medienzeit. Donauwörth – Leipzig – Dortmund: Auer, 1997. Lukesch, Helmut, Video im Alltag der Jugend. Quantitative und qualitative Aspekte des Videokonsums, des Videospielens und der Nutzung anderer Medien bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. (Medienforschung, 2), Regensburg: Roderer, 1989. Lukesch, Helmut/Bauer, Christoph/Eisenhauer, Rüdiger/Schneider, Iris, Das Weltbild des Fernsehens. Eine Untersuchung der Sendungsangebote öffentlich-rechtlicher und privater Sender in Deutschland. (2 Bde). Bd. 1: Ergebnisse der Inhaltsanalyse zum Weltbild des Fernsehens (Zusammenfassung). Expertise über die Gewaltwirkungen des Fernsehens und von Computerspielen (Medienforschung, 12/1), Regensburg: Beltz, 2004. Marion, Esther N., „The Narrator-Perpetrator and the Infectious Crime Scene: Emmanuel Carrère’s L’Adversaire“, in: Day, James (Hrsg.), Violence in French and Francophone Literature and Film. (FLS, vol. 35), Amsterdam – New York: Rodopi, 2008, S. 59-70. Mecke, Jochen, „Le roman nouveau: pour une esthétique du mensonge“, in: Lendemains 107/108 (2002), S. 97-116. Meyer, Clemens, „German Amok“, in: ders.: Gewalten. Ein Tagebuch. Frankfurt a. M.: Fischer, 2010, S. 59-71. Milkovitch-Rioux, Catherine, „Der Algerienkrieg im Spiegel der Literatur. Ambiguitäten eines Konflikts“, in: Bandau, Anja/Buschmann, Albrecht/von Treskow, Isabella (Hrsg.), Literaturen des Bürgerkriegs. Berlin: Trafo Verlag, 2008, S. 59-73. Mogge-Stubbe, Birgitta, „Ich knall euch ab!“, in: dies. (Hrsg.), Gewalt macht keine Schule: Ursachen, Sensibilisierung, Gegenstrategien. München: Olzog, 2002, S. 60-64.
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Newman, Katherine S./Fox, Cybelle/Harding, David J./Mehta, Jal/Roth, Wendy, Rampage. The Social Roots of School Shootings. New York: Basic Books, 2005 [2004]. Niemann, Norbert, Schule der Gewalt. Roman. München – Wien: dtv, 2003 [2001]. Olivier, Annie, „Fictions du réel. Carrère, Ernaux, Daeninckx“, in: Rubino, Gianfranco (Hrsg.), Voix du contemporain. Histoire, mémoire et réel dans le roman français d’aujourd’hui. Roma: Bulzoni, 2006, S. 125-140. Pitteloud, Isabelle, „Faits divers et engagement. Quelques remarques sur l’affaire Romand“, in: Kaempfer, Jean/Florey, Sonya/Meizoz, Jérôme (Hrsg.), Formes de l’engagement littéraire (XVe - XXIe siècles). Lausanne: Editions Antipodes, 2006, S. 205-218. Pollmann, Elsa, Tatort Schule. Wenn Jugendliche Amok laufen. Marburg: Tectum, 2008. Rabaté, Etienne, „Lecture de L’Adversaire de Carrère : Le réel en mal de fiction“, in: Majorano, Matteo (Hrsg.), Le goût du roman. La prose française, lire le présent. Bario: B.A. Graphis, 2002, S. 120-133. Rhue, Morton, Give a Boy a Gun. New York: Simon and Schuster, 2000. Rhue, Morton, Ich knall euch ab!. Ravensburg: Ravensburger Verlag, 2002. Robertz, Frank, Wenn Jugendliche morden. Forschungsstand, Erklärungsmodell und präventive Möglichkeiten. Hamburg: Rogun Verlag, 1999. Robertz, Frank J., School Shootings. Über die Relevanz der Phantasie für die Begehung von Mehrfachtötungen durch Jugendliche. Frankfurt a. M.: Verlag für Polizeiwissenschaft, 2004. Robertz, Frank J./Wickenhäuser, Ruben (Hrsg.), Der Riss in der Tafel. Amoklauf und schwere Gewalt in der Schule. Heidelberg: Springer Medizin, 2007. Robertz, Frank J./Wickenhäuser, Ruben (Hrsg.), Orte der Wirklichkeit. Über Gefahren in medialen Lebenswelten Jugendlicher. Killerspiele, Happy Slapping, Cyberbulling, Cyberstalking, Computerspielsucht … Medienkompetenz steigern. Heidelberg: Springer Medizin, 2010. Schank, C./Abelson, Robert, Scripts, Plans, Goals and Understanding: Inquiry into Human Knowledge Structures. Hillsdale: Erlbaum, 1977. Scheithauer, Herbert/Bondü, Rebecca, Amoklauf und School Shooting. Bedeutung, Hintergründe und Prävention. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2011.
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Toutenu, Denis, „Crime et narcissisme : A propos du passage à l’acte criminel“, in: Revue française de psychanalyse 67, 3 (2003), S. 983-1003. DOI: 10.3917/rfp.673.0983. Viart, Dominique, „Fictions en procès“, in: Blanckemann, Bruno/MuraBrunel Aline/Dambre, Marc (Hrsg.), Le roman français au tournant du XXIe siècle. Paris: Presses Sourbonne Nouvelle, 2004, S. 289-303. Wolfersdorf, Manfred/Wedler, Hans (Hrsg.), Terroristen-Suizide und Amok. Regensburg: Roderer, 2002.
Autorinnen und Autoren
Adler, Lothar, Dr. med., Chefarzt, Ärztl. Direktor und Geschäftsführer des Ökumen. Hainich-Klinikums, Mühlhausen. Prof. für Psychiatrie (apl.) Universität Göttingen, Facharzt für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie, Psychoanalyse, Forens. Psychiatrie. Schwerpunkte: Affektive Störungen, Psychotherapie. Publ. zum Thema: Amok. Eine Studie. München 2000; „Amok im Spektrum homizidal-suizidaler Handlungen“, in: Wolfersdorf, M./Wedler, H. (Hrsg.), Terroristen-Suizide und Amok. Regensburg 2002, S. 71-85; „Amok“, in: Wolfersdorf, M./Bronisch, Th./Wedler, H. (Hrsg.), Suizidalität. Verstehen. Vorbeugen. Behandeln. Regensburg 2008, S. 51-62. Braselmann, Silke, M. A., Doktorandin der Anglistik am International Graduate Centre for the Study of Culture und im International PhD Programme Literary and Cultural Studies, Universität Gießen. Studium der Anglistik, Germanistik, Theologie in Bonn. Interdisziplin. Dissertationsprojekt „The Fictional Dimension of the School Shooting Discourse“ über die Relevanz und Funktion von Fiktionen für den School Shooting-Diskurs. Frizzoni, Brigitte, Dr. phil., Geschäftsführerin und Dozentin am Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft der Universität Zürich. Studium der Germanistik, Europäischen Volksliteratur, Filmwissenschaft. Publ. zu populären Lesestoffen, Fernsehserien und Filmen, zum Thema: Unterhaltung: Konzepte – Formen – Wirkungen (Hrsg. zus. mit I. Tomkowiak, Zürich 2006); Verhandlungen mit Mordsfrauen: Geschlechterpositionierungen im ‚Frauenkrimi‘ (Zürich 2009); Macher – Medien – Publika: Beiträge der europäischen Ethnologie zu Geschmack und Vergnügen (Hrsg. zus. mit K. Maase, Chr. Bareither, M. Nast, Würzburg 2014).
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Junkerjürgen, Ralf, Dr. phil., Professor für romanische Kulturwissenschaft an der Universität Regensburg. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Kultur des 19. u. 20. Jahrhunderts, Körperdarstellung, Unterhaltungsforschung, spanisches Kino der Gegenwart. Literatur- und filmwissenschaftliche Publikationen u. a. Spannung. Narrative Verfahrensweisen der Leseraktivierung. Eine Studie am Beispiel der Reiseromane von Jules Verne (Frankfurt a. M. 2002); Haarfarben. Eine Kulturgeschichte in Europa seit der Antike (Köln 2009); Spanische Filme des 20. Jahrhunderts in Einzeldarstellungen (Hrsg.; Berlin 2012). Herausgeber der medienwissenschaftlichen Reihe Aproximaciones a las culturas hispánicas (Vervuert). Körber, Bernd, Dr. rer. nat., Professor an der Polizeiakademie Niedersachsen im Studiengebiet Sozialwissenschaften/Führung. Studium der Psychologie. Publikationen zur Polizei- und Einsatzpsychologie, Neuropsychologie und Wahrnehmungspsychologie, u. a. „Aufmerksamkeitssteuerung“ (in: Moderne Polizeipsychologie in Schlüsselbegriffen, Hrsg. von H. P. Schmalzl, M. Hermanutz, Stuttgart 2013); Bilder sehen, Perspektiven der Bildwissenschaft (Hrsg. zus. mit M. Greenlee, R. Hammwöhner, Chr. Wagner, Chr. Wolff, Regensburg 2013). Müller, Henning Ernst, Dr. iur., Lehrstuhl für Strafrecht, Kriminologie, Jugendstrafrecht und Strafvollzug an der Universität Regensburg. Studium der Rechtswissenschaft an der Freien Universität Berlin. Publikationen zu Themen aus dem materiellen Strafrecht und aus der Kriminologie; Habilitationsschrift: Falsche Zeugenaussage und Beteiligungslehre (Tübingen 2000). Sprecher des Themenverbunds Gewalt und Aggression in Natur und Kultur, Initiator des interdisziplinären Masterstudiengangs Kriminologie und Gewaltforschung an der Universität Regensburg. Neumair, Andreas, Erster Polizeihauptkommissar, Hundertschaftsführer der 24. BPH E/TEE bei der VI. Bereitschaftspolizeiabteilung Dachau, vorher Sachbearbeiter in der Polizeiabteilung des Bayerischen Staatsministerium des Innern, für Bau und Verkehr, mit Schwerpunkt Besondere Einsatzlagen (u. a. Amoktaten), Studium an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung und Rechtspflege in Bayern – Fachbereich Polizei.
A UTORINNEN
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Schmalfuß, Sven, M. A., Mitarbeiter für Gender Studies an der Universität Regensburg. Studium der Englischen Philologie und Politikwissenschaft an der Universität Regensburg und an der National University of Ireland, Galway, Abschlussarbeit über Genderrollen in verschiedenen AliceAdaptionen, inkl. des Digitalspiels American McGee’s Alice. Promotionsprojekt zu Männlichkeitsmodellen in digitalen Spielen. Publikationen zu Gender-Aspekten in der Literatur (Shakespeare, Sachs, Atwood) und in digitalen Spielen (God of War, BioShock). Schmidbauer, Wilhelm, Dr. iur., Landespolizeipräsident, Bayer. Staatsministerium des Innern, für Bau und Verkehr; Honorarprofessor an der juristischen Fakultät der Universität Regensburg; Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Regensburg. Publikationen: Enteignung zugunsten Privater (Berlin 1989); zus. mit U. Steiner und E. Roese: Bayerisches Polizeiaufgabengesetz und Bayerisches Polizeiorganisationsgesetz: Kommentar. München: C. H. Beck, 1999; 4. Auflage (nur mit U. Steiner) München: C. H. Beck, 2014. von Treskow, Isabella, Dr. phil., Lehrstuhl für Romanische Philologie, Institut für Romanistik, Universität Regensburg. Studium in Berlin (Freie Universität), Freiburg i. Brsg., Montpellier, Heidelberg. Publikationen zum Thema: Bürgerkrieg - Erfahrung und Repräsentation (Hrsg. zus. mit A. Buschmann, A. Bandau), Berlin 2005; Literaturen des Bürgerkriegs (Hrsg. zus. mit A. Bandau, A. Buschmann), Berlin 2008; Judenverfolgung in Italien (1938-1945) in Romanen von M. Ottolenghi Minerbi, G. Bassani, F. Burdin und E. Morante. Fakten, Fiktion, Projektion (Wiesbaden 2013);
Génocide, enfance et adolescence dans la littérature, le dessin et au cinéma (Hrsg. zus. mit S. Segler-Meßner), Frankfurt a. M. 2014. Ziegler, Daniel, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Universität Gießen. Studium der Soziologie, Psychologie und Erziehungswissenschaft in Gießen. Forschungsschwerpunkte: Soziologie der Gewalt, Subjekttheorien und Subjektivierungsstrategien in der Gegenwart, Filmsoziologie. Publikationen zum Thema: „Kämpfende Images. Zur medialen Inszenierung von Amokläufern“, in: J. Ahrens, L. Hieber, Y. Kautt (Hrsg.): Kampf um Images. Visuelle Kommunikation in gesellschaftlichen Konfliktlagen, Wiesbaden 2015.
Edition Kulturwissenschaft Rainer Guldin Politische Landschaften Zum Verhältnis von Raum und nationaler Identität 2014, 296 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2818-0
Thomas Kirchhoff (Hg.) Konkurrenz Historische, strukturelle und normative Perspektiven Mai 2015, ca. 360 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2589-9
Inga Klein, Sonja Windmüller (Hg.) Kultur der Ökonomie Zur Materialität und Performanz des Wirtschaftlichen 2014, 308 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2460-1
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Edition Kulturwissenschaft Gudrun M. König, Gabriele Mentges, Michael R. Müller (Hg.) Die Wissenschaften der Mode Mai 2015, 224 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2200-3
Elisabeth Mixa, Sarah Miriam Pritz, Markus Tumeltshammer, Monica Greco (Hg.) Un-Wohl-Gefühle Eine Kulturanalyse gegenwärtiger Befindlichkeiten Mai 2015, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2630-8
Christoph Wulf Bilder des Menschen Imaginäre und performative Grundlagen der Kultur 2014, 270 Seiten, kart., 27,99 €, ISBN 978-3-8376-2949-1
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Edition Kulturwissenschaft Kathrin Ackermann, Christopher F. Laferl (Hg.) Kitsch und Nation Zur kulturellen Modellierung eines polemischen Begriffs August 2015, ca. 230 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2947-7
Brage Bei der Wieden Mensch und Schwan Kulturhistorische Perspektiven zur Wahrnehmung von Tieren 2014, 332 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2877-7
Andreas Bihrer, Anja Franke-Schwenk, Tine Stein (Hg.) Endlichkeit Zur Vergänglichkeit und Begrenztheit von Mensch, Natur und Gesellschaft Juli 2015, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2945-3
Gabriele Brandstetter, Bettina Brandl-Risi, Kai van Eikels Szenen des Virtuosen Februar 2016, ca. 328 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1703-0
Gabriele Brandstetter, Maren Butte, Kirsten Maar (Hg.) Topographien des Flüchtigen: Choreographie als Verfahren Juli 2015, ca. 340 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2943-9
Regula Valérie Burri, Kerstin Evert, Sibylle Peters, Esther Pilkington, Gesa Ziemer (Hg.) Versammlung und Teilhabe Urbane Öffentlichkeiten und performative Künste 2014, 344 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2681-0
Fabian Deus, Anna-Lena Dießelmann, Luisa Fischer, Clemens Knobloch (Hg.) Die Kultur des Neoevolutionismus Zur diskursiven Renaturalisierung von Mensch und Gesellschaft 2014, 276 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2891-3
Christian Grüny, Matteo Nanni (Hg.) Rhythmus – Balance – Metrum Formen raumzeitlicher Organisation in den Künsten 2014, 214 Seiten, kart., zahlr. Abb.; , 27,99 €, ISBN 978-3-8376-2546-2
Insa Härtel Kinder der Erregung »Übergriffe« und »Objekte« in kulturellen Konstellationen kindlich-jugendlicher Sexualität (unter Mitarbeit von Sonja Witte) Januar 2015, 338 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2884-5
Werner Hennings, Uwe Horst, Jürgen Kramer Die Stadt als Bühne Macht und Herrschaft im öffentlichen Raum von Rom, Paris und London im 17. Jahrhundert September 2015, ca. 270 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2951-4
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Edition Kulturwissenschaft Heike Klussmann, Nicolai Kudielka, Lessano Negussie, Andre May (Hg.) MS IM-PORT//EX-PORT – Ein Schiff für Kunst und Wissenschaft in Kassel Eine Dokumentation Februar 2015, 286 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2934-7
Karin Riedl Künstlerschamanen Zur Aneignung des Schamanenkonzepts bei Jim Morrison und Joseph Beuys 2014, 248 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2683-4
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